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Das Flow Prinzip

Perspektiven einer
Ökologie des Lebendigen

PS Kultur- und sozialanthropologisches Schreiben


LV-Leiterin: Dr. Aurelia Weikert

KSA 240010-4
WS 2016

Christophe Novak
1486448

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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung 3
2. Das Leben im Fluss: Eine Ökologie des Lebendigen 4
2.1. Philosophische Dimensionen von flow 4
2.2. Psychologische Dimensionen von flow 6
2.3. Soziale Dimensionen von flow 8

3. Conclusio 11
4. Literaturverzeichnis 12

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1. Einleitung
Flow kann als Universalie in der menschlichen Lebenserfahrung angesehen werden. Das

flow-Erlebnis durchdringt alle Lebensbereiche in allen Dimensionen und ist, unabhängig

von Kulturzugehörigkeit, sozialer Klasse, Bildungsgrad, beruflicher Tätigkeit oder persön-

licher Aktivität, gleichermaßen relevant und real erfahrbar für jeden Menschen. Intuitiv

gesehen ergibt es sich von selbst, dass der Mensch kraft seines Bewusstseins jede erden-

kliche Aktivität fokussieren kann und, unter den richtigen Bedingungen, vollständig darin

einzutauchen vermag. Flow ist jedoch auch eine Rarität. Es beschreibt einen Zustand der

optimalen Erfahrung, des resistenzlosen Fließens mit und innerhalb einer Aktivität und

steht in direktem Zusammenhang mit einer objektiv feststellbaren peak performance

sowie einer subjektiv wahrgenommenen peak experience. Letzterer Begriff wurde 1964

von Maslow entwickelt (vgl. URL 4). Die Gegenüberstellung von performance und experi-

ence soll die Realität von äußeren sowie inneren Aspekten von flow hervorheben, auf

welche ich später noch genauer eingehen werde.

In der modernen Gesellschaft hat der Mensch zwar mehr Gesundheit, mehr Besitz und

mehr Möglichkeiten als jemals zuvor, aber gleichzeitig beobachten wir einen rasanten

Anstieg chronischen Unglücklichseins, das sich in psychischen Erkrankungen wie Burnout

und Depression äußert. Meiner Wahrnehmung nach sind im modernen Arbeitskontext

viele institutionelle Strukturen so unzeitgemäß und verrostet, dass sie aufgrund der Rigid-

ität ihrer Rahmenbedingungen den menschlichen Grundbedürfnissen nach Abwechslung,

Autonomie und Kreativität nicht Rechnung tragen können. Die Forderung nach Flexibil-

ität, die so wichtig ist für die Gesundheit eines lebendigen Systems (sei es ein Mensch,

ein Grashalm oder ein Flusslauf) kann leider so oft im stressigen Lebensalltag der moder-

nen Welt nicht erfüllt werden.

Ich möchte im Rahmen dieser Arbeit versuchen aufzuzeigen, wie ein poetisches und holis-

tisches Verständnis der Wirkungsweisen der Prinzipien der natürlichen Selbstorganisation

Licht auf die selbst gemachten zivilisatorischen Probleme der Menschheit zu werfen ver-

mag. In dem Sinne versuche ich die Brücke zu schlagen zwischen diversen Weisheitssys-

temen antiker Vorzeiten und modernsten Erkenntnissen, welche die jahrtausendealten

Naturbeobachtungen unserer Vorfahren wertschätzen und sogar daraus zu schöpfen wa-

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gen, um sie neu zu interpretieren und mit dem Außen zu verweben. Die Idee von einem

„Kosmos“, d.h. der Vorstellung von der Welt als einem geordneten Ganzen, scheint un-

vereinbar mit unserem hoch technologisierten Zeitgeist, dessen Wirken mehr im Trennen

als im Verbinden besteht.

Ich werde versuchen, die philosophischen Intuitionen antiker Vorzeiten in Verbindung zu

setzen mit den neuesten Erkenntnissen aus der positiven Psychologie, um auf diesem

Fundament dann das sozio-ökologische Verhältnis von Mensch und Lebenswelt, sowie

Gesellschaft und Umwelt zu analysieren. Der Kern dieser Arbeit wird darin bestehen, im

Lichte des flow Prinzips die Formulierung einer „Ökologie des Lebendigen“ zu skizzieren:

Wie kann ein klareres Verständnis der Prinzipien des Natürlichen den Menschen, als

Lebensträger in der Gesellschaft, dazu inspirieren, bewusster mit der kreativen Gestaltung

seiner Lebenswelt umzugehen? So, dass die Strukturen die er schafft, ihm einen opti-

malen und nachhaltigen Rahmen für’s „Fließen“ bieten - für ein lebendiges, vitales,

wertschätzendes Verhältnis zu sich selbst und zur Umwelt, mit der er im Einklang lebt.

2. Das Leben im Fluss: Eine Ökologie des Lebendigen

2.1. Philosophische Dimensionen von flow

Heraklit sah das Wesen aller Dinge im ewig währenden Wandel. Ihm wird der berühmte

Ausspruch „panta rhei“ (alles fließt) nachgesagt. Obwohl diese ursprünglich von Platon

gemachte Zuschreibung in der heutigen Philosophie umstritten ist, ändert dies nichts an

der Aussagekraft der Formulierung, die darüber hinaus durchaus auch das Wesen seiner

Philosophie prägnant formuliert (vgl. URL 1). Sein Konzept veranschaulichte er mit der

Fluss-Metapher: Kein Mensch steigt zweimal in denselben Fluss. Denn der Mensch ist

nicht mehr derselbe Mensch, sowie der Fluss nicht mehr derselbe Fluss ist. Damit wird

nicht nur der temporäre Charakter alles Seienden unterstrichen, sondern auch die

Ganzheit, die allem Sein zugrunde liegt: So wie der Fluss an sich ein Konstantes aus-

drückt, eine Ganzheit, die seiner Charakteristik des Fließens zugrunde liegt, versteht Her-

aklit also das Sein als ein sich im ewigen Werden begriffener, dynamischer Prozess. Hinter

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dem steten Stoff- und Formwechsel steht „die Einheit in der Vielheit und die Vielheit in

der Einheit“ (vgl. URL 2).

Noch größere Prominenz als in der antiken europäischen Philosophie hat die Idee des

Fließens und des Wandels in der chinesischen Philosophie, welche tief im kulturellen Ver-

mächtnis Chinas verwurzelt ist. Die Konzeption eines steten Wandels, der allen Dingen

zugrunde liegt und alle Dinge bewegt, wird ausführlich im I Ging erläutert.

Dem I Ging wird nachgesagt, eines der ältesten Weisheitsbücher der Menschheit zu sein.

Seine Wurzeln liegen laut Richard Wilhelm in jahrtausendealten Beobachtungen und re-

ichen „in mythisches Altertum zurück“. Die Inhalte des I Ging haben im Verlauf der

Geschichte tiefen Einfluss auf die weitere Ideenentwicklung der chinesischen Philosophie

gehabt, wobei neue Einsichten wieder zurück in die Inhalte des Buches fließen konnten,

wodurch im I Ging „die reifste Weisheit von Jahrtausenden verarbeitet“ wurde (vgl. Wil-

helm 2011: 13). In dem Sinne kann das I Ging als ein „in sich lebendiges Werk“ und ein

buchstäbliches „Werk des Wandels“ verstanden werden, da es selber einem steten Wan-

del unterliegt, und so seinem Metathema in doppelter Weise gerecht wird.

Das unwandelbare, ewige Gesetz ist „der SINN des Laotse, der Lauf, das Eine in allem

Vielen“ (Wilhelm 2011: 20). Am Anfang aller Verwirklichung steht die Setzung, ein Akt der

Entscheidung, der Begrenzung - der Ururanfang Wu Gi, symbolisiert in Form des Kreises,

der den Rahmen bietet aus dem das Tai Gi hervorgeht, das für die beiden gegensät-

zlichen Urkräfte Yin und Yang steht (vgl. Wilhelm 2011: 20). Aus den Lehren des I Ging en-

twickelten sich die beiden Hauptströmungen der chinesischen Philosophie, der Konfuzian-

ismus und der Taoismus: die „Lehre des Weges“ (vgl. Wilhelm 2011: 13).

Das Wesen des Tao entzieht sich jeder begrifflichen Darstellung, da jeder Versuch das

Unbegrenzte zu definieren automatisch ein Akt der Begrenzung wäre. Als natürliches

Ordnungsprinzip, aus dem alles hervorgeht und wohin alles zurückkehrt, durchdringt sein

Wirken den Lauf der Welt, und wer im Einklang mit dem Tao lebt, lebt im Einklang mit der

Welt. Ein Leben in Harmonie mit dem größeren Ganzen zu führen ist nur möglich, wenn

der Mensch dem Prinzip von Wu Wei folgt, wie Laotse im Daodejing erläutert. Wu Wei

bedeutet bewusstes Nicht-Handeln, ein „spontanes und intuitives Handeln, das nicht bes-

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timmt ist durch Begehren, Absicht oder gesellschaftliche Konventionen“ (vgl. Buckingham

2011: 24f).

2.2. Psychologische Dimensionen von flow

Die flow-Forschung ist ein Teilgebiet der Positiven Psychologie, die ihren Fokus auf die

persönliche Entwicklung des Menschen legt und eine aktive Rolle in der Erforschung der

positiven Inhalte des Lebensalltags einnimmt, im Gegensatz zur konventionellen Psy-

chologie, die sich mit den pathologischen Aspekten des Menschseins beschäftigt (vgl.

URL 3).

Dabei ist die Idee von flow in Verbindung mit Glückszuständen alles andere als eine mod-

erne Entdeckung. Csikszentmihalyi betont, dass sich die Menschen schon „seit Anbeginn

der Zeit“ darüber bewusst waren, jedoch habe noch kein klar definiertes Konzept für psy-

chologische Zwecke vorgelegen. Seine Entdeckung bestand im Wesentlichen darin, dass

Glücklichkeit weniger mit äußeren Bedingungen zu tun hat als mit der inneren Einstellung,

mit welcher wir diesen Bedingungen begegnen (vgl. Csikszentmihalyi 1990: 2).

Zuerst möchte ich erläutern, was flow als Zustand ausmacht und wie er von Csikszentmi-

halyi definiert wurde. Flow beschreibt einen mentalen Zustand der optimalen Selbster-

fahrung - das Phänomen der totalen Absorption eines Menschen in einer Aktivität, das mit

dem Gefühl einer tief empfundenen Erfüllung einhergeht:

We have all experienced times when […] we do feel in control of our actions, masters of our own fate. On the rare

occasions that it happens, we feel a sense of exhilaration, a deep sense of enjoyment that is long cherished and that

becomes a landmark in memory for what life should be like. This is what we mean by optimal experience. (Csik-

szentmihalyi 1990: 3)

Csikszentmihalyi stellte neun Dimensionen von flow fest, die gleichzeitig als Kriterien für

die Messung des flow state gelten: 1) klare Ziele im Verlauf der Aktivität, 2) direktes, un-

missverständliches Feedback, 3) Gleichgewicht zwischen Herausforderung und Fähigkeit,

4) Verschmelzen von Aktivität und Gewahrsein, 5) volle Konzentration auf die Aktivität, 6)

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Gefühl der Kontrolle, 7) Verlust von Selbstzweifeln, 8) veränderte Zeitwahrnehmung und

9) autotelische Erfahrung beim Ausführen der Aktivität (vgl. Csikszentmihalyi 1990: P.S. 10-

14).

Nun möchte ich auf die Bedingungen der Möglichkeit von flow eingehen; Vorbedingun-

gen die, wenn sie erfüllt sind, das Eintreten in den Flow-Zustand besonders begünstigen.

Sind sie nicht erfüllt, so ist eine positive Erfahrung von flow unwahrscheinlich.

Eine erste innere Vorbedingungen für flow ist Selbstvertrauen. In seiner Studie mit Tennis-

spielerInnen weist Koehn eine starke Korrelation zwischen Selbstvertrauen und flow auf.

Dabei wirkt sich ein hohes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten nicht nur positiv auf die

potenzielle Erfahrung von flow aus, sondern scheint sogar eine „protektive Funktion“

gegenüber schwächenden Angstgefühlen zu haben (vgl. Koehn 2012: 548).

Eine zweite innere Vorbedingung für flow ist der persönliche Ressourcen-Reichtum. Ein

amerikanisches Forscherteam von der University of Illinois konnte in ihrer Studie über flow

im höheren Alter feststellen, dass Individuen mit höheren fluiden Fähigkeiten (fluid abili-

ties) höhere Level von flow in kognitiven Aktivitäten erzielen konnten, während sie jedoch

niedrigere Level von flow in non-kognitiven Aktivitäten erfuhren. Bei Individuen mit

niedrigeren fluiden Fähigkeiten verhielt es sich genau umgekehrt. Dies deutet darauf hin,

dass vorangegangene Erfahrungszustände dazu beitragen können, wieviel Gewinn ein In-

dividuum aus einer Aktivität potenziell ziehen kann. Befinden sich kognitive Kapazität und

intellektuelle Anforderung in Synchronisation, so macht das den Weg frei für die Er-

fahrung von flow (vgl. Jackson et al. 2011: 741).

Äußere Bedingungen beziehen sich auf die gesamte Infrastruktur (im weiten Sinn) des

Umfeldes, in dem das Individuum kurzfristig bzw. langfristig eingebettet ist. Dies ist der

Handlungsraum, in dem der Mensch seine täglichen Aktivitäten auslebt, und der ihm

einen Rahmen vorgibt, in dem er/sie sich zu bewegen hat. Die Tiefe der Flow-Erfahrung

ist stark davon abhängig, wie viel Handlungsfreiheit oder Spielraum dieser Rahmen dem

Menschen bietet, d.h. wie viel Autonomie ihm zugeschrieben wird. In seiner poetischen

Sichtweise auf das Leben lädt Csikszentmihalyi dazu ein, das Leben als einen Tanz

anzusehen, wo nicht der Mittelpunkt relevant ist, um den der Tanz sich dreht, sondern der

Tanz selber das Wesentliche verkörpert (vgl. Csikszentmihalyi 2010: 17). Das Geheimnis

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für ein glückliches Leben liege darin, das „Spielerische am Spiel“ wahrzunehmen und

freiwillig bestimmte Regeln zu befolgen, „aber in allem Ernst“, um dann im „Rahmen der

gegeben Spielregeln“ frei zu improvisieren (vgl. Csikszentmihalyi 2010: 21). Das

Wesentliche besteht also darin, „den Zusammenhang des Lebens als Spiel“

wahrzunehmen und, „dass etwas Neues und Frisches immer aus unserem Spieltrieb her-

aus entsteht und dass sich diese Erfahrung als etwas sehr Befreiendes darstellt.“ So stellt

sich das Gefühl der Freiheit ein, „gerade weil man gewisse Regeln befolgt“ (vgl. Csik-

szentmihalyi 2010: 23).

Äußere Bedingungen für flow müssen also auch bestimmte ethische Prinzipien und Ein-

stellungen erfüllen, wie die Anerkennung fundamentaler Grundbedürfnisse im Menschen

(gerade auch im Erwachsenenalter), die grundlegend für die intrinsische Motivation sind.

Dazu gehören Autonomie und lebenslanges Lernen sowie eine kontinuierliche Erfahrung

von Neuem.

2.3. Soziale Dimensionen von flow

Mein Anliegen besteht nun darin, das Flow-Konzept von seiner psychologischen Dimen-

sion auf eine gesellschaftliche Dimension zu erweitern. Äußere Bedingungen sind beson-

ders relevant im Hinblick auf Strukturen der institutionellen Organisation und die allge-

meine Vorstellung davon, was „Arbeit“ bedeutet. Die Rahmenbedingungen, unter denen

der Mensch in der heutigen modernen Gesellschaft funktionieren muss, sind in überwälti-

gender Mehrheit nicht flow-konform. Wir leben und agieren nach den Vorgaben dicker,

festgefahrener Strukturen, deren Aufbau im historischen Kontext selbstverständlich Sinn

machte. Im Laufe der Zeit drängt sich jedoch der Umstand dem Bewusstsein auf, dass der

Mensch nicht nach den alten Mustern längst vergangener Verhältnisse leben kann, da

sowohl die Menschen wie die Umwelt unter der Rigidität dieses Systems leiden, das

zunehmend Anforderungen stellt, die die Kapazitäten übersteigen - auf beiden Seiten.

Mit anderen Worten: Die fragile Flow-Zone, die sich um die goldene Mitte zwischen Über-

forderung und Unterforderung befindet, ist auf gesellschaftlicher Ebene aus den Fugen

geraten.

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Ich möchte nun auf die vorhin erwähnte Fluss-Metapher zurückkommen, um sie durch

eine zusätzliche Dimension in Form des Flussbetts zu erweitern. Im Sinne einer „Ökologie

des Lebendigen“ ist das Folgende als ein Gleichnis zwischen den Begriffspaaren Mensch/

Umwelt und Fluss/Flussbett zu verstehen:

Der Fluss in seiner natürlichen Umgebung sucht sich seinen eigenen Weg, während der

Fluss in seiner eingeschränkten Umgebung einen Lauf auferzwungen bekommt, den er so

nicht machen würde. Die Beschaffenheit des Flussbetts gibt dem Fluss vor, wie er zu

fließen hat. Wird das Flussbett aber durch menschliche Eingriffe so beschränkt (und im

schlimmsten Falle einbetoniert), dass er in seiner natürlichen, frei fließenden Ausdrucks-

form wesentlich behindert wird, so verliert der Fluss an Vitalität und wird seiner ureige-

nen, intrinsischen Energie enteignet. Es folgt eine Stagnation des Ökosystems Fluss, mit

drastischen Konsequenzen für seine Biodiversität sowie für die Stabilität seiner Kapazität

zur Selbstregulation.

Wenn der Mensch der „Fluss“ ist und sein Lebenskontext das „Flussbett“, so richtet sich

sein Lebensfluss nach der Beschaffenheit seiner Einbettung in die Welt. Die Kapazität für

flow ist abhängig sowohl vom Leben als auch vom Kontext, in dem dieses geführt wird.

Die Bürokratisierung hat zwar ihren fortwährenden Dienst geleistet, mehr Ordnung in eine

immer komplexer werdende Berufswelt zu bringen - aber zu welchem Preis? Ich be-

haupte, dass der Preis, den die Menschheit nun über Generationen dafür bezahlen

musste, von unschätzbar höherem Wert ist - denn es geht hier um das Prinzip der

Lebendigkeit, des freien, natürlichen Fließens. Die moderne Arbeitswelt ist ein zutiefst

geregeltes System. Was geschieht wenn ein Leben sich nur im Rahmen des Erwartbaren,

des Festgelegten, des Vorgesetzten bewegt? Der Lebensfluss wird unweigerlich innerhalb

dieser prädefinierten Leitlinien und Rahmenbedingungen stattfinden; der Mensch selber

fließt nicht mehr frei, sondern nur noch bedingt.  Bedingt durch die eiserne Hand

bürokratischer Umstände.

Das „Flussbett“ in dem Sinne wird einerseits von den gesellschaftlichen Verhältnissen

vorgegeben, andererseits aber auch vom Individuum selber bestimmt. Einschränkungen

die das Individuum selbst betreffen wären psychologische Prägungen und Denkmodi, im

Besonderen was das Sicherheitsbedürfnis und die Komfortzone angeht, sowie sozialisierte

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Konstrukte und dichotomische Vorstellungen wie das Heimische / das Andere, das

Bekannte / das Unbekannte und das Eigene / das Fremde.

Im folgenden Abschnitt skizziere ich nun, im Sinne einer „Ökologie des Lebendigen“, die

Rahmenbedingungen für optimalen flow in der menschlichen Lebenserfahrung. Diese

Metapher soll zur Veranschaulichung der Wechselwirkungen dienen, die das Verhältnis

von Mensch, Gesundheit und Lebenswelt regieren. Im systemischen Rahmen seiner

gesellschaftlichen Umgebung kann der Mensch sich also nur erfüllt fühlen, wenn ein

goldenes Verhältnis zwischen Rahmen und Fluss, zwischen Rigidität und Flexibilität, zwis-

chen Einschränkung und Bewegung besteht:

Im Menschen sind zwei Grundmotivationen veranlagt:

a. Das Sesshafte im Menschen sehnt sich danach festzuhalten, innezuhalten

und im Rahmen des Erwartbaren und Bekannten zu verweilen.

b. Das Fließende im Menschen sehnt sich danach loszulassen, sich zu

bewegen, das Unerwartete zu erfahren und das Unbekannte zu suchen.

Zwischen a. und b. muss ein harmonisches Verhältnis bestehen, das dem Prinzip

der Ökologie des Lebendigen folgt:

i. Freies Fließen ist Ausdruck von Lebendigkeit und Voraussetzung für Gesundheit.

ii. Damit ein Fluss fließen kann, bedarf es bestimmter Rahmenbedingungen.

iii. Werden diese zu eng und zu rigide, behindern sie das freie Fließen.

iv. Wird das freie Fließen behindert, so verliert der Fluss an Lebendigkeit.

Welcher Art müssen die äußeren (u.a. gesellschaftlichen) sowie die inneren (u.a. psychol-

ogischen) Rahmenbedingungen sein, so dass sie einerseits Struktur und Ordnung unter-

stützen aber trotzdem nicht so eng gestrickt sind, dass sie einen freien und gesunden

Fluss behindern? Dies scheint mir eine besonders wichtige Frage zu sein, ist sie doch gle-

ichermaßen relevant für gesellschaftspolitische top-down-Ansätze im Bereich der Stadt-

und Raumplanung, der Einrichtung von Bildungsinstitutionen und der Gestaltung von Ar-

beitsverhältnissen, sowie ein individualpsychologisches bottom-up-Verständnis der eige-

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nen Lebens-, Bedürfnis- und Motivationsgrundlage beim Individuum. Hier besteht,

meines Erachtens nach, ein hohes Bedürfnis nach Aufklärung auf beiden Seiten - und im

vollen Wissen um die Unmöglichkeit dieser Aufgabenstellung, muss der Versuch unter-

nommen werden, eine der modernen Ansprüche auf Selbstbestimmtheit, Sinnerfülltheit

und Synergie entsprechende Lösung der strukturellen Herausforderungen auszuhandeln.

Dies dürfte von besonderer Relevanz für weitergehende anthropologische Betrachtungen

der Thematik sein.

3. Conclusio
Der besonders in den großen europäischen und amerikanischen Metropolen aufsteigende

Konsum-Trend in Richtung organic, bio und vegan, der anhaltende Lifestyle-Trend einer

aufgeklärten und sensibilisierten modernen Kultur, der so diverse Aktivitäten wie Yoga,

Meditation oder Personal Development am Herzen liegen - alle diese Trends weisen da-

rauf hin, dass ein Bewusstseinswandel stattfindet. Der zeitgenössische Anspruch auf eine

bewusste Lebensführung und nachhaltige Zukunftsgestaltung ruft nach einer organischen

Sichtweise auf die menschlichen Lebensverhältnisse. Das Dorf, die Großstadt oder urbane

Megalopolen als Organismus wahrzunehmen, als organisches Ganzes, das durch die

Handlungen eines jeden Einzelnen getragen wird und durch die kollektive Zusammenar-

beit am Leben gehalten wird, führt die Abhängigkeitsverhältnisse, wie sie real existieren,

vor Augen und ermöglicht dieselben Ordnungsprinzipien in allen Dingen und auf allen

Skalen der Größenordnung anzuerkennen: als ökologische und ökonomische

Notwendigkeiten, die von fundamentaler Wichtigkeit für das gute Funktionieren von

„Leben“ sind.

Die Gesamtheit der Lebensträger (creatura) sowie die Gesamtheit der unbelebten Natur

(pleroma) koexistieren in einem sensiblen Gleichgewichtsverhältnis zueinander im Kos-

mos. Geht man von einer fundamentalen Einheit des Universums aus, so wird man un-

weigerlich zum Schluss kommen, dass jede Handlung im Einzelnen Konsequenzen auf das

Ganze hat, von dem man selber wiederum ein Teil ist. Das Wissen um die fundamentale

Eingebundenheit des Menschen in den Lauf des Kosmos, das vielen indigenen Kulturen

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eine so zentrale wie triviale Wirklichkeit gewesen ist, ging uns modernen Menschen fast

gänzlich verloren - und erklärt wahrscheinlich zu einem großen Teil die kurzsichtige Re-

spektlosigkeit, die dem Umgang des „zivilisierten“ und „rationalen“ Menschen mit seiner

Umwelt, der Welt, inne gelegen hat seit die Idee eines fundamentalen Dualismus zwis-

chen Geist und Materie ihren fatalen Lauf durch die Geschichte genommen hat.

Die gezielte Kultivierung einer absichtslosen Wahrnehmung der omnipräsenten Gesetze

des Wandels in offener, lernbereiter Geisteshaltung, wie die alten Weisen Chinas es mit

ihrem Prinzip des Wu Wei zu tun pflegten, könnte dem rastlosen und schnelllebigen Geist

unserer Zeiten sicherlich etwas Linderung verschaffen und ihm ein Quantum Sinn und Zeit

zurückgeben. Und so wird auch der Sinn für’s Wesentliche geschärft, und was Leben in

Koexistenz mit anderem Leben heißt. Alles Lebendige ist ein Spiegel seiner selbst. Es gilt,

die Codes des Lebens zu entschlüsseln - und mithilfe dieser Codes Räume für’s Fließen zu

schaffen und das Lebendige (im Menschen) wieder fließen zu lassen.

4. Literaturverzeichnis
BUCKINGHAM, Will et. al. 2011. Das Philosophie-Buch. München: Darling Kindersley

Verlag.

CSIKSZENTMIHALYI, Mihaly. 1990. flow: The Psychology of Optimal Experience. NY:

HarperCollins.

CSIKSZENTMIHALYI, Mihaly. 2010. Flow - der Weg zum Glück. Der Entdecker des Flow-

Prinzips erklärt seine Lebensphilosophie. Freiburg im Breisgau: Herder GmbH.

JACKSON, Joshua J. / PAYNE, Brennan R. / STINE-MORROW, Elizabeth A. L. / NOH, Soo

Rim. 2011. In the Zone: Flow State and Cognition in Older Adults, in Psychology

and Aging. Vol. 26, No. 3: 738-743.

KOEHN, Stefan. 2013. Effects on confidence and anxiety on flow state in competition, in

European Journal of Sports Science. Vol. 13, No. 5: 543-550.

WILHELM, Richard. 2011. I Ging. Das Buch der Wandlungen. Köln: Anaconda Verlag.

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URL 1: http://www.philosophie-woerterbuch.de/online-woerterbuch/?

title=Panta%20rhei&tx_gbwbphilosophie_main%5Bentry%5D=649&tx_gbwbphiloso-

phie_main%5Baction%5D=show&tx_gbwbphilosophie_main%5Bcontroller%5D=Lexicon&

cHash=c860952bba639582fd0d6fc4ba20d2b6 (Zugriff: 06.01.2017)

URL 2: https://de.wikipedia.org/wiki/Panta_rhei (Zugriff: 06.01.2017)

URL 3: https://de.wikipedia.org/wiki/Positive_Psychologie (Zugriff: 06.01.2017)

URL 4: https://en.wikipedia.org/wiki/Peak_experience (Zugriff 14.02.2017)

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