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2018
1. In a nutshell
Können wir Lebensformen als Lebensformen kritisieren? Können wir von Lebens-
formen sagen, dass sie schlecht, misslungen, defizitär, unangemessen, irrational –
oder umgekehrt gelungen, rational oder angemessen sind? Wenn ich im Folgenden
für die Möglichkeit und Notwendigkeit einer krisendynamisch orientierten imma-
nenten Kritik von Lebensformen 2 plädiere, so ist dieses Plädoyer unmittelbar mit der
These verbunden, dass Lebensformen auf eine bestimmte Weise verfasst sind. Le-
bensformen, die kulturell und historisch geprägten sozialen Gebilde aus Praktiken
und Institutionen, in denen Menschen ihr Leben führen, lassen sich bewerten und
kritisieren, weil sie sind, was sie sind: Von Menschen gestaltet und gestaltbar, dabei
normativ und reflexiv verfasst und gezeichnet von Problemstellungen, Krisen und
(manchmal) Lern- und Erfahrungsprozessen. Kurz: Lebensformen sind, bei allen
Momenten von Gewohnheitsbildung und Unzugänglichkeit, dennoch nicht einfach
das unhinterfragbar Gegebene, sie sind nicht einfach nur „Tatsachen des Lebens“ 3,
die so sind, wie sie eben sind. Lebensformen erheben Ansprüche – und sie können
(an diesen) scheitern. Sie sind dynamische Gebilde, die, mit ebenso normativen wie
funktionalen Problemen und Krisen konfrontiert, auf diese reagieren (müssen). Und
eben das gibt Anlass für Reflexion, Verteidigung und kritische Bewertung. Auf eine
sehr kurze Formel gebracht: Lebensformen sind Instanzen von Problemlösungen.
Sie reagieren auf Probleme, die sich (mit) ihnen stellen und sind bewertbar anhand
der Angemessenheit dieser Reaktion.
Wie leicht zu sehen ist, sind mit meinem Ansatz eine ganze Reihe von nicht
selbstverständlichen Voraussetzungen über das verbunden, was Lebensformen sind,
wie die in ihnen implizite Normativität beschaffen ist, sowie über das, was ich hier
Kritik nenne. Diese will ich im Folgenden erläutern und zur Diskussion stellen 4.
1 Für hilfreiche Hinweise bei der Konzeption und Überarbeitung dieses Textes danke ich Lukas Kübler, Eva
von Redecker und Marvin Ester.
2 Ich habe dies ausführlicher in meinem Buch Kritik von Lebensformen (2014) entwickelt.
4 Das ist umso nötiger, als über den Begriff der Lebensform weder alltagssprachlich noch in der Philoso-
phie Einigkeit besteht. Zu einem Versuch, verschiedene Verwendungsweisen zu ordnen, siehe jetzt Fassin
2. Lebensformen
Verflochtenheit der unterschiedlichen Sphären betont und darauf beharrt, dass Lebensformen eine mate-
riale Grundlage haben.
9
Gehlen (1958), 113.
erfahren können“ 10, ist eine Einsicht, die Gehlen mit Marx teilt, wenn dieser sagt:
„Hunger ist Hunger, aber Hunger, der sich durch gekochtes, mit Gabel und Messer
gegeßnes Fleisch befriedigt, ist ein andrer Hunger, als der rohes Fleisch mit Hilfe von
Hand, Nagel und Zahn verschlingt [Hervorh. R. H.]“ 11, oder wenn er – bezogen auf
die historisch sich etablierende materielle Produktion des menschlichen Lebens –
bemerkt, dass die Produktionsweisen immer schon „eine bestimmte Art der Tätigkeit
dieser Individuen, eine bestimmte Art, ihr Leben zu äußern, eine bestimmte Lebens-
weise derselben“ [Hervorh. i. O.] 12 verkörpern.
Menschen sind also Produzenten ihrer eigenen Lebensform, sie sind Lebewesen,
die nicht nur eine Lebensform haben, sondern diese gestalten und sich reflexiv auf
sie beziehen. „Mensch sein“ bedeutet in dieser Perspektive, eine mit anderen geteilte
soziale Lebensform zu haben, in der dem „Leben“ eine „Form“ gegeben wird und in
der die aus dem „Leben“ (oder unserer natürlichen Existenz) resultierenden Bedingt-
heiten und Nötigungen, wie man sagen könnte, kulturell transformiert und bearbei-
tet werden. Es geht damit um die Schnittstelle zwischen erster und zweiter Natur des
Menschen – und anders als bei anthropologisch dichter oder auch neoaristotelisch
argumentierenden Ansätzen steht hier die Überzeugung im Zentrum, dass es sich
immer um ein historisch gewachsenes dynamisches Durchdringungsverhältnis han-
delt, dessen wesentliches Moment nicht nur die „Künstlichkeit“, sondern auch die
Reflexivität ist.
10
Ebd.
11 Marx (1971), 624, eigene Hervorhebung.
12 Marx (1970), 21, Hervorhebung im Original.
13 Hegel (1986), § 146.
14
Ferguson (1819), 222.
Genau dieses komplexe Verhältnis nun lässt sich am besten mit einem Ansatz
verstehen, der mit Praktiken als der Basiseinheit des Sozialen rechnet und den Be-
griff der Lebensformen als den Formen, die wir unserem Leben geben, mithilfe eines
praxistheoretischen Ansatzes erklärt. Meine These ist: Lebensformen sind träge oder
inerte Ensembles sozialer Praktiken, die normativ verfasst sind. Diese These möchte
ich schrittweise erläutern.
2.3 Praxis
Zunächst zum Begriff der sozialen Praxis. Soziale Praktiken sind Weisen, in de-
nen wir etwas tun. Praktiken betreffen den Umgang mit den anderen, der materiel-
len Welt oder mit sich selbst, wobei diese Dimensionen auf vielfältige Weise mit-
einander verwoben sind. Eine Abendgesellschaft oder ein Versteckspiel ist ebenso
eine Praxis wie das Einkaufen in einem Geschäft, das Schreiben einer Klausur oder
das Einbringen der Ernte. Praktiken sind dabei Sequenzen einzelner Handlungen,
die mehr oder weniger komplex und umfassend und (mehr oder weniger) habituali-
siert sind. Sie sind mehr oder weniger verbindlich und repetitiv: Etwas, das nur
einmal oder nur von einem einzigen Menschen getan und niemals wiederholt wür-
de, ist keine Praxis. Diese Praktiken sind ‚sozial‘, weil sie nur vor dem Hintergrund
sozial konstituierter Bedeutungsräume existieren und verstanden werden können,
nicht etwa, weil sie im engeren Sinne kooperative Tätigkeiten betreffen. Also: Nicht
erst das gemeinsame Fußballspielen, auch das (alleine) Kochen oder Einkaufen-
gehen ist in diesem Sinne eine soziale Praxis. Dabei sind Praktiken Handlungsmus-
ter, Muster, die uns das Handeln erst ermöglichen und die gleichzeitig durch unsere
Aktivität hervorgebracht und immer wieder aktualisiert werden müssen. Deshalb
können sie unserem Handeln Grenzen setzen, aber auch handlungsermöglichend
wirken.
Drei Aspekte des Begriffs der Praxis sind für unseren Zusammenhang hervor-
zuheben:
Erstens basieren Praktiken, sofern sie ein repetitives und habituelles Moment
beinhalten, nicht nur auf willentlich und mit Absicht getätigten Handlungen. In
einem gewissen Maß, und solange sie nicht gestört werden oder mit Problemen
konfrontiert sind, beruhen sie eher auf implizitem denn auf explizitem Wissen.
Dementsprechend werden Lebensformen nicht immer bewusst, geplant oder reflek-
tiert praktiziert. In eine Lebensform tritt man nicht ein wie in einen Fußballverein.
Besser gesagt: In den Fußballverein kann man mit einer Beitrittserklärung eintreten.
In die mit diesem verbundene Lebensform hingegen, das dichte Geflecht von Üb-
lichkeiten und Prioritäten und Deutungsmustern, das diese ausmacht, wird man
mehr oder weniger bewusst und mehr oder weniger explizit hineinsozialisiert oder
eingeübt. An einige der damit gesetzten Praktiken gewöhnen wir uns schlicht, neh-
men wir vielleicht sogar teil ohne in jedem Moment zu wissen, was wir da tun oder
dass wir es tun.
Zweitens: Praktiken sind keine „nackten Tatsachen“; sie müssen als etwas ver-
standen und interpretiert werden. Wenn ich jemanden hinter einem Baum stehen
sehe, kann es unklar sein, ob diese Person sich vor der Polizei versteckt oder aber mit
Kindern Verstecken spielt. Um das Verstecken hinter dem Baum als Teil eines Ver-
steckspiels zu verstehen, brauche ich zusätzliche Anhaltspunkte über den Umstand
hinaus, dass da jemand versteckt steht. Ich muss dazu das Spiel ‚Verstecken‘ kennen
(also seine Regeln) und es in dem beobachteten Geschehen identifizieren können.
Aber darüber hinaus verstehe ich, indem ich das Hinter-dem-Baum-Stehen als ‚Ver-
steckspiel‘ verstehen kann, auch implizit dessen Verhältnis zu anderen Praktiken
und entsprechenden Interpretationen. Ich verstehe dann das Konzept oder Interpre-
tationsschema ‚Spiel‘ (im Gegensatz zu Arbeit oder Ernst) und darüber hinaus mög-
licherweise das Konzept von ‚Kindheit‘ im Unterschied zum Erwachsensein und
vieles mehr. Dasselbe gilt für das Einkaufen, für das man basal mit den Regeln des
Warentauschs und des Geldverkehrs im Allgemeinen und mit den spezifischen Ab-
läufen im Supermarkt im Besonderen vertraut sein muss. Jemand, der nicht weiß,
dass man beim Einkaufen im Supermarkt erst an der Kasse zahlt, könnte das An-
häufen von Waren im Einkaufswagen als Diebstahl auffassen. Praktiken sind also
nur vor einem Deutungshorizont verständlich, der mit anderen Praktiken und Inter-
pretationen verbunden ist.
Drittens: Praktiken sind um die Kernidee der „Erfüllung“ der jeweiligen Praxis
herum organisiert; also dem Handeln gemäß den Erwartungen, die mit einer be-
stimmten Praxis einhergehen (wenn man nicht einmal versucht, sich zu verstecken,
dann wird sicherlich nicht Verstecken gespielt, wenn ich gar nicht erst den Versuch
mache, Waren in den Einkaufswagen zu häufen, sondern nur im Supermarkt he-
rumschlendere, gilt das nicht als Einkaufen). Damit haben Praktiken ein inhärentes
Telos. Sie sind auf ein Ziel gerichtet, das durch sie erreicht werden kann. An einer
Praxis teilzunehmen (wirklich teilzunehmen) setzt dann schon voraus, dass man mit
Blick auf ihr Ziel und ihre internen Maßstäbe der guten Realisierung des Ziels han-
delt. Dass Praktiken auf Ziele gerichtet sind, gilt selbst dann, wenn mehrere Ziele
mit einer bestimmten Praxis verfolgt werden und werden können, wenn diese also
überdeterminiert ist. Ich gehe einkaufen, um die Zutaten für das Abendessen zu
besorgen, aber auch, weil ich mit dem Ladenbesitzer plaudern möchte, da mir zu
Hause langweilig ist. Man kann also das Einkaufen unter dem Aspekt des Unter-die-
Leute-Kommens betrachten oder unter dem des Stillens von Hunger. Und die Vo-
raussetzung der Zielgerichtetheit gilt auch dann, wenn noch andere Praktiken zur
Erfüllung desselben Ziels denkbar wären, es also auch funktionale Äquivalente zu
seiner Erfüllung gäbe und dieses nicht lediglich durch diese eine bestimmte Praxis
erreicht werden kann.
2.4 Ensembles
Was bedeutet es nun, Lebensformen als Ensembles oder Bündel von Praktiken zu
verstehen? Die „Basiseinheit“ von Lebensformen sind Praktiken. Eine einzelne Pra-
xis macht aber noch keine Lebensform aus. An der Kasse bezahlen oder Versteck-
spielen alleine ist selbst keine Lebensform, aber es ist Bestandteil einer Lebensform
und wird, wie wir gesehen haben, auch aus dieser heraus – als einem Praxis- und
Interpretationszusammenhang – verstanden. Das, was wir eine Lebensform nennen
können, umfasst umgekehrt verschiedene und komplex aufeinander bezogene
15 Lebensformen transzendieren deshalb auch, oder liegen quer zu dem, was man manchmal in einem
essentialistischen Sinne „Kultur“ nennt.
lassen verhalten wir uns zu dieser nicht wie zu einem vollkommen transparenten
und wählbaren set von Optionen.
Diese Unzugänglichkeit oder Trägheit hat mehrere Aspekte. Praktiken und ent-
sprechend Lebensformen enthalten einerseits, wie bereits gesagt, sedimentäre Ele-
mente, Gewohnheiten und andere Praxiskomponenten, die nicht ohne weiteres in
jedem ihrer Momente zugänglich, explizit oder transparent sind. Sie enthalten aber
auch Dimensionen der historischen Überlieferung, die die verfügbaren Handlungs-
muster prägen. Sie sind außerdem geprägt von materiellen Bedingtheiten, seien es
die natürlich vorgefundenen oder auch die Artefakte, die wiederum zu bedingenden
Voraussetzungen von Praxis werden. Soziale Praktiken und Lebensformen materia-
lisieren sich also in Form von sozialen Strukturen und Institutionen und darüber
hinaus auch – noch materialistischer – in Architektur, Werkzeugen, Körpern und
materiellen Strukturen, die uns auf bestimmte Weise handeln lassen, auch wenn sie
selbst das Ergebnis unserer Handlungen sind. So ist, um diese Verflechtung zu illus-
trieren, die Anlage der Plätze in einer typischen italienischen Stadt einerseits Resul-
tat eines bestimmten Umgangs mit dem Öffentlichen; sie prägt aber andererseits
ihrerseits die aktuellen Möglichkeiten städtischen Lebens und Zusammenkommens.
Und auch die Interpretationshorizonte, vor denen wir unsere Praktiken interpretie-
ren, sind so tief eingelagert und so sehr in die Selbstverständlichkeit hinein natura-
lisiert, dass sie üblicherweise nur dann überhaupt als solche erkennbar werden,
wenn diese Üblichkeit in irgendeiner Weise gestört oder unterbrochen wird. Lebens-
formen, als Moment der zweiten Natur, verhalten sich in dieser Hinsicht wie Natur:
als etwas Gegebenes, uns Bedingendes. „Träge“ oder inert sind Lebensformen dann
im Gegensatz zur nicht fluiden Beweglichkeit mancher weniger eingelebter Praxis-
vollzüge. Aber: Die Praktiken, aus denen Lebensformen bestehen, und die Lebens-
formen als spezifische Verbindungen solcher Praktiken können unterschiedliche
Aggregatszustände annehmen, die von flüssig bis beinahe gänzlich fixiert reichen.
16
Lear/Stroud (1984), 385.
Wie aber passt das zusammen mit der Behauptung eines in unsere Lebensformen
eingelassenen reflexiven Moments? Wie lassen sich Lebensformen evaluativ vor
uns bringen, wenn wir nicht von unserem Eingelassensein in sie abstrahieren kön-
nen? Müssen sie sich dann nicht darstellen als etwas unhintergehbar Gegebenes,
das Leben wie es eben ist und sein muss? Meine These ist: Als Praxiszusammenhang
ist der Zusammenhang einer Lebensform prinzipiell reflexiv zugänglich. Er ist mit
Blick auf die Ziele, die wir in unseren Praxiszusammenhängen verfolgen bzw. denen
wir in diesen Ausdruck geben, hinterfragbar – auf Gründe befragbar – und damit –
mit Gründen – veränderbar. Lebensformen sind also vorgängige „Tatsachen des
Lebens“ 17. Daraus zu folgern, dass sie eine vor-reflexive, nicht nicht weiter recht-
fertigbare und in diesem Sinne unhintergehbare Grundlage unseres Handelns sind
beruhte allerdings auf einem verkürzten Verständnis dessen, was hier Reflexivität
bedeutet.
Zu den „Tatsachen“ unseres Lebens selbst gehört nämlich, dass wir in unseren
Handlungsvollzügen zu diesen Stellung beziehen. Auch wenn sie nicht in jedem
ihrer Momente zugänglich und transparent sind, und auch wenn sie nicht per-
manent Gegenstand unserer Reflexion sind, sind Lebensformen Resultate mensch-
licher Tätigkeit, die als solche ohne die prinzipielle Möglichkeit der reflexiven Be-
gleitung nicht denkbar ist. Es handelt sich um etwas, das Menschen ‚tun‘, und das
deshalb auch anders ‚getan‘ werden könnte; das Bewusstsein darüber ist unserem
Tun inhärent. Die Gründe für dieses Tun werden spätestens in dem Moment rele-
vant, wo es in Frage gestellt wird. Die Selbstverständlichkeit unserer Lebensvoll-
züge kann nämlich an innere oder an äußere Grenzen geraten und tut dies auch
regelmäßig, sei es in Form von unscheinbaren Problemen, die der Adjustierung
bedürfen, sei es in Form dramatischerer Infragestellung und Krisen. Solche Störun-
gen sind, das sollte man sich klar machen, nicht die Ausnahme, sondern die Regel.
Wo eine bestimmte Art von Praktiken und Selbstverständnissen sich nicht mehr
reibungslos vollzieht, sei es, weil andere (in der sozialen Welt) sie in Frage stellen,
sei es, weil ihre sachlichen Verwirklichungsbedingungen sich verändert haben, set-
zen Krisen unterschiedlichen Gewichts ein, infolge derer die entsprechende Praxis
und der entsprechende Zusammenhang von Praktiken zum Gegenstand von Refle-
xion wird. Das kann durch explizite und politische Thematisierung oder durch auf-
tretende Konfrontationen mit anderen Lebensformen verursacht sein, es kann aber
auch durch veränderte Hintergrundbedingungen oder die Veränderung in anderen
Praxiszusammenhängen motiviert sein. Männlich-chauvinistisches Verhalten und
männliche Rollenbilder können so zum Beispiel einerseits durch feministische Kri-
tik und den sich verbreitenden Widerstand von Frauen, herkömmlichen Rollen-
vorstellungen zu entsprechen, in die Krise geraten; sie können aber auch durch
veränderte Arbeitsbedingungen und Qualifikationsanforderungen allmählich un-
tergraben werden – und im Zweifelsfall spielen beide Faktoren zusammen. 18 Der
veränderliche und reflexive Charakter von Lebensformen wird dann offensichtlich,
selbst wenn es noch so schwer sein mag, Änderungen vorzunehmen, selbst also
wenn sich die hier eingespielten Vorgänge nicht willkürlich ändern lassen. 19
Bei aller Anerkennung eines nichtreflexiven Moments von Lebensformen lässt
sich dann behaupten, dass diese nicht nur einen Spielraum für Reflexivität lassen,
sondern dass dieser Spielraum sogar zu den Konstitutions- und Erhaltungsbedin-
gungen von Lebensformen gehört. Sich in einer Lebensform zu bewegen, ist von der
Reflexion und der Stellungnahme, für die sich letztlich auch Gründe geben ließen,
nicht abzulösen. Wir leben nicht einfach; wir beziehen uns als „self-interpreting
animals“, 20 wertend und stellungnehmend auf das, was wir da tun – auch wenn
das nicht in jedem Moment transparent und auch nicht in jedem Moment nötig ist.
Bewertung und Kritik, sowie das Erstellen und Bestreiten normativer Ansprüche ist
dann etwas, das wir in unseren Lebensvollzügen – und das bedeutet: indem wir eine
Lebensform sowohl reproduzieren wie auch produzieren und uns die Bedingungen
unseres gemeinsamen Lebens aneignen – immer schon tun.
Die Antwort auf die oben gestellte Frage, wie sich der nicht-objekivierbare Cha-
rakter mit der Behauptung eines reflexiven Moments verträgt lautet dann: Das ist
eine falsche Alternative. Die immanent-reflexive Haltung, die ich hier skizziere, ist
gerade nicht gleichbedeutend mit der Behauptung, dass unsere Lebensformen uns
gewissermaßen optional zur Disposition stehen. Sie ist nicht mit der Imagination
eines archimedischen Punkts außerhalb jeder Lebensform identisch. Wenn der ein-
zige Standpunkt, von dem aus Lebensformen intelligibel sind, ein interner Stand-
punkt ist, wir also aus diesem nicht sinnvoll heraustreten können, so ist dieser den-
noch nicht lediglich einer der internen Beschreibung („So sind wir“). Gerade weil
wir involviert sind, ist dieser Standpunkt von der aus der Teilnehmerperspektive
gestellten Frage „Warum machen wir das hier eigentlich?“ begleitet oder kann stets
von dieser begleitet sein. Wir (als Subjekte, die in einer Lebensform leben und diese
in unseren Praktiken reproduzieren) erheben in Bezug auf das, was wir tun, Gel-
tungsansprüche. Das bedeutet wohlgemerkt nicht, dass sie sich auf gute Gründe
beziehen. Es bedeutet aber, dass wir zum Beispiel in Fällen, in denen die eine oder
andere praktische Orientierung in Frage gestellt wird oder vor Problemen steht,
nicht lediglich sagen: „so leben wir eben“, sondern von der Angemessenheit unserer
Praktiken auf die eine oder andere Weise ausgehen und sie verteidigen – und damit
gegebenenfalls in einen Konflikt um Lebensformen eintreten.
Da aber, wo etwas so, aber auch anders getan werden könnte, da, wo wir etwas
richtig oder falsch, angemessen oder unangemessen tun und dazu Stellung nehmen
19 Was wir beispielsweise für „privat“ oder „öffentlich“ halten, aber auch was wir für den richtigen räum-
lichen Abstand im Umgang mit Fremden halten, steht so lange wie eine verblasste Metapher im selbst-
verständlichen Hintergrund unserer sozialen Bezugssysteme und Handlungsoptionen und unseren kör-
perlich eingeübten Habitusformationen, bis es durch die Konfrontation mit ungewohnten Praktiken oder
der expliziten Thematisierung aus dieser Selbstverständlichkeit geholt wird.
20
Taylor (1985).
können, sind wir in einem weiten Sinn im Raum des Normativen. Lebensformen
sind dann nicht nur (mit Wittgenstein) „Tatsachen des Lebens“ 21, sondern auch (mit
Hegel) Instanzen von Sittlichkeit. Damit kommen wir auf ein Merkmal zu sprechen,
das für mein Verständnis von Lebensformen, vor allem aber für ihre Kritisierbarkeit,
entscheidend ist: Lebensformen sind in einem anspruchsvollen Sinne normativ ver-
fasst. Dass Lebensformen überhaupt normativ verfasst sind, ist dabei eigentlich
selbstverständlich. Als Elemente des sozialen Lebens enthalten sie Regeln, Regulie-
rungen, normative Zugehörigkeitskriterien und implizite Annahmen darüber, was
richtig und falsch ist. Wenn Lebensformen sich als „lebendig wirksame Norm-
gefüge“ 22 verstehen lassen, so sind die hier angesprochenen Normen Bestandteil
alltäglicher Praxisvollzüge, drücken sich in diesen aus und realisieren sich in ihnen.
Meine These ist aber noch spezifischer: Lebensformen sind durch „sittliche“ Nor-
men bestimmt, die, im Unterschied zu Konventionen, einen Sachbezug haben und
ethisch-funktional auf das Bestehen und gute Funktionieren des jeweiligen Praxis-
zusammenhangs bezogen sind. Dass sie intern normativ verfasst sind, führt dazu,
dass sie (selbst) Ansprüche verkörpern, an denen sie auch scheitern können. Das soll
im Folgenden erläutert werden.
21
Wittgenstein (1982), § 630, 122.
22 Vgl. Flitner (1990), 11.
23 Dass dieses Wissen auch durch verdinglichende oder (eben!) verdinglichend-naturalisierende Lebens-
umstände verdeckt werden kann, ist ein Umstand, der bereits zum Thema des Scheiterns und der defizitä-
ren Form von Lebensformen führt.
sittlichen Institutionen, Praktiken und Einstellungen, in denen wir unser Leben füh-
ren: Wie wir arbeiten, wie wir lieben, wie wir wohnen, tauschen und vererben, wie
wir unsere Kinder erziehen oder unsere Toten beerdigen.
Wenn ich hier von „sittlichen Normen“ spreche, dann soll das aber nicht nur auf
den Thematisierungsbereich, sondern auch auf einen bestimmten und zu explizie-
renden Normtypus hinweisen. Die Normen, die Lebensformen konstituieren, wirken
nicht wie eine Anstaltsordnung auf die Anstalt oder die Schulordnung auf die Schu-
le. Von einer normativen Verfasstheit von Lebensformen zu sprechen bedeutet näm-
lich nicht, dass Lebensformen sich aus expliziten Vorschriften zusammensetzen. Für
eine Lebensform ist ein Geflecht aus mehr oder weniger ausdrücklichen Üblich-
keiten, Gebräuchen und Übereinkünften konstitutiv, das teils formell, teils infor-
mell, teils implizit, teils explizit, manchmal auch nur über Markierungen von Zu-
gehörigkeit und Intelligibilität das Verhalten der an ihr Teilhabenden lenkt und
formiert. Selten lässt sich hier ein distinkter Norm-Autor identifizieren, ein Großteil
der Normen ist anonym, wirkt qua Überlieferung und ist im Charakter viel zu selbst-
verständlich, als dass sie als Normen überhaupt auftreten und als solche erfahren
werden. Obwohl es für Lebensformen typisch ist, Zugehörigkeitskriterien (und ge-
nereller: den Raum des Intelligiblen) zu definieren – und obwohl sie als solche, wie
Normen es tun, auch Verhalten lenken – geschieht dies doch in einer Mischlage von
ausdrücklicher und unausgesprochener, beabsichtigter und unbeabsichtigter Len-
kung.
24
In meinem Buch Kritik von Lebensformen entwickle ich diese Überlegungen ausführlicher anhand einer
Auseinandersetzung mit Georg von Wrights Unterscheidung von Regeln und Vorschriften und den „Ge-
bräuchen“ (die meinen „sittlichen Normen“ nahekommen) als Mischform der beiden.
25 Raz (2006), 159.
26
Raz (2006), 166.
lungen gelingen dann, wenn sie die kollektiven Zwecke der Praxis ausdrücken. Ich
tue, in einem bestimmten Kontext, das Richtige, wenn ich das mit der Praxis gesetz-
te Ziel erreicht habe.
Die Normen (in ihrer Rolle als Gelingensbedingungen) haben also einen materia-
len Sachbezug, sie sind auf das Funktionieren eines Praxiszusammenhangs gerich-
tet und für dieses konstitutiv. Die normative Angemessenheit meines Praxisvollzugs
wäre dann gewissermaßen unter dem Gesichtspunkt der Konstitution und Erhaltung
eines Praxiszusammenhangs „funktional“ bestimmbar. Angemessen ist ein be-
stimmter Vollzug, wenn er zur Realisierung des Ziels beiträgt oder, weniger instru-
mentalistisch, sofern er als Ausdruck des hier erstrebten Ziels verstanden werden
kann 27. Soziale Praktiken und Institutionen sind dabei aber nicht nur funktional
hinsichtlich bestimmter Ziele; in ihnen verkörpert sich auch etwas, das man als das
„Ethos dieser Praktiken“ bezeichnen kann. Warum sollte man als Vater seinem Kind
vorlesen oder ihm Dinge erklären? Und warum soll man als Ärztin seine Patienten
gründlich untersuchen? Weil es gut ist, dies zu tun und weil nur dasjenige Set an
Praktiken und Einstellungen als gute Erziehung gelten kann, das solche (Teil-)Prak-
tiken des Vorlesens oder Erklärens beinhaltet. Das Ethos einer Praxis definiert also
die Bedingungen, unter denen diese als gute Praxis ihrer Art gelten kann, und die
ethische Begründung sagt entsprechend, dass eine Praxis so oder so ausgeübt wer-
den sollte, weil diese Art der Ausübung den ethischen Anforderungen an diese Pra-
xis entspricht. Meine Behauptung ist nun, dass in Bezug auf die sittlichen Normen,
funktionale und ethische Dimensionen nicht getrennt voneinander auftreten, son-
dern einander durchdringen, konstitutiv aufeinander bezogen sind. Das Funktionie-
ren und das gute Funktionieren, Praxis überhaupt und gute Praxis, lassen sich nicht
voneinander trennen. Es gibt im Bereich menschlicher Aktivitäten kein Funktionie-
ren per se, sondern allein ein immer schon mehr oder weniger gutes Funktionieren.
Wir bewegen uns – anders als bei der Bestimmung der Funktionstüchtigkeit eines
Messers – in einem Bereich, in dem schon das Funktionieren normativ beschrieben
werden muss und Gelingensbedingungen hat, die mit der Art des Funktionierens
zusammenhängen. „Zu funktionieren“ bedeutet immer, mehr oder weniger gut zu
funktionieren, es gibt kein „Funktionieren pur“, ohne Bezug auf die einer Praxis
immanenten Kriterien des Gutseins, genauso wenig wie es in Bezug auf menschliche
Lebensformen so etwas wie „rohe Fakten“ oder „reines Überleben“ gibt. Was eine
Praxis überhaupt zu einer bestimmten Praxis macht, scheint sich an den Qualifika-
tionen zu orientieren, die sich auf das gute Ausüben einer Praxis richten. Auf der
anderen Seite fallen ethische Normen nicht vom Himmel, sie beziehen sich auf eine
Aufgabe oder ein Ziel und dessen Gelingensbedingungen. Deshalb lässt sich davon
sprechen, dass sittliche Normen (als diejenigen Normen, die Lebensformen konsti-
tuieren) sowohl ethischen wie auch funktionalen Charakter haben, ja in einer
Durchdringung von beidem bestehen. Ich möchte diese Normen, die Praktiken aus-
richten und konstituieren, also ethisch-funktionale Normen nennen.
27 Angelehnt an v. Wrights „Idealregeln“: Ich untersuche nicht gründlich, um ein guter Arzt zu sein, so wie
ich eine Leiter nehme, um an die oberen Regale heranzukommen; vielmehr ist die Gründlichkeit das, was
es bedeutet, ein guter Arzt zu sein.
28 Siehe zu einer solchen normativen Auffassung von Stadt: Young (1990), 236–241.
29
Siehe dazu ausführlicher Jaeggi (2014), Kapitel 3–4.
30 Und, angesichts der mangelnden Fixiertheit der Eigenschaften und Funktionen, wie man sie bei natür-
lichen Gattungseigenschaften noch annehmen mag, natürlich auch nicht aus diesen selbst.
4.2 Der historisch, kulturell und normativ situierte Charakter der Probleme
Der immer schon historisch und kulturell situierte, aber auch der normativ ver-
fasste Charakter der Probleme, um die es in Bezug auf Lebensformen geht, lässt sich
hier anschließen. Man kann beispielsweise die Familie als Lösung des Problems der
sozialen Reproduktion auffassen, ein Problem, von dem sich behaupten lässt, dass
jede gesellschaftliche Formation es auf die eine oder andere Weise zu lösen hat. Nun
bedeutet Reproduktion im Zusammenhang menschlich-kultureller Lebensformen
aber nicht nur das Erzeugen und Erhalten von Nachwuchs im biologischen Sinn,
sondern dessen Einübung in die Praktiken, Gebräuche, Fähigkeiten, Fertigkeiten
und Institutionen einer je bestimmten Gesellschaft – in eine immer schon spezi-
fische und historisch als solche gewachsene Lebensweise also. Das (biologische)
Leben hat dann immer schon eine bestimmte – nämlich gesellschaftlich und his-
torisch konkrete – Form. Diese wiederum ist von den Bedingungen und Bedingt-
heiten des Lebens und der Natur nicht unabhängig, als Überformung derselben aber
eben auch nicht mit ihnen identisch. 31
Auf die Familie zurückbezogen: Es ist nicht die ewige Naturnotwendigkeit der
familiären Reproduktion, um die es hier geht, sondern diese in einer konkreten und
bestimmten Gestalt, die in einer je bestimmten sittlichen Konstellation immer wie-
der neu gestaltet wird. In die oben eingeführte Unterscheidung von Problem als
„Aufgabe“ und „Schwierigkeit“ eingetragen: Lebensformen, wie ich sie hier be-
trachte, sind nicht (jeweils) mit einer ewig gleichbleibenden Aufgabe oder überhis-
torisch gleichbleibenden Konstanten konfrontiert, für die ihre historisch sich ver-
ändernden Varianten von der erweiterten Großfamilie des ‚ganzen Hauses‘ über die
bürgerliche Kleinfamilie bis zur posttraditionalen, nicht mehr ausschließlich hetero-
sexuell codierten Patchworkfamilie oder der polyamourös organisierten Beziehung
(um im Beispiel zu bleiben) sich als jeweils neue Lösungen darstellen. Sie sind, im
Gegenteil, immer schon mit Problemen konfrontiert, die sich aus vorhergehenden
Problemlösungen ergeben haben – und sind damit immer auch eine Reaktion auf
die sich ergebenden Krisen und Transformationsprozesse, die diese in der Bewälti-
gung ihrer Aufgaben durchmachen. Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist dann
nicht der imaginäre Nullpunkt eines von kulturellen Lebensformen unabhängigen
oder diesen zugrundeliegenden „nackten Bedürfnisses“, sondern gleich die kulturel-
len Formationen selbst und mit diesen die Probleme, in die sie geraten und deren
Lösung sie verkörpern.
„Probleme“, wie ich sie in diesem Zusammenhang verstehe, sind also erstens
kulturell spezifisch und historisch wie sozial formiert. Sie treten nur im Kontext
einer immer schon gestalteten und je bestimmten, historisch situierten und sozial
instituierten Lebensform auf, entstehen aus einer bereits gestalteten und interpre-
31 Wenn ich nun vorschlage, das Verhältnis zwischen beiden Seiten als dynamisches aufzufassen, so be-
deutet das, dass die Seite des Lebens, der Reproduktion, der menschlichen Bedürfnisse (wie auch immer
man das nennen will) den Formen, in denen dieses geschieht, nicht abstrakt und gleichbleibend gegen-
übersteht, sondern dass beide Seiten sich wechselseitig durchdringen. Die Natur oder, genereller gespro-
chen, die materialen Bedingungen unserer Existenz ragen also nicht statisch in die Sittlichkeit hinein; sie
sind dynamisch mit ihr verflochten. Lebensformen bilden das „Material“ des Lebensprozesses – sie sind
keine äußerlich bleibende oder dazukommende Form und nicht eine Form im Sinne eines Gefäßes, das die
Problemstellungen/Lebenslagen „aufnimmt“, sondern sie sind Form im Sinne der Formierung und „geis-
tigen“ Durchbildung des Vorgefundenen. Auch das ist ein mit Marx und seiner „materialistischen Ge-
schichtsauffassung“ kompatibler Gedanke: Die Veränderung der Bedürfnisse und der Mittel zu ihrer Be-
friedigung ist ein historischer Prozess der Auseinandersetzung mit der Natur, in dem sich beide Seiten, die
Natur und die Gesellschaft, wechselseitig durchdringen, weil und sofern sie sich durcheinander verändern.
um ein ‚selbstgemachtes‘ Problem zweiter Ordnung handelt) ein Indiz für die Ver-
fehlung und das Scheitern einer Lebensform, mit dem die etablierten Institutionen
und Praktiken jener Gesellschaft fraglich werden.
Wohlgemerkt: Bei der Unterscheidung zwischen Problemen erster und zweiter
Ordnung geht es weniger um eine substanzielle Unterscheidung zwischen ‚objekti-
ver‘ Anforderung und den internen Problemen der Bewältigung. Vielmehr ist die
Unterscheidung analytischer Natur. Gesellschaften stellt sich das Problem der ersten
Ordnung selbst immer schon als interpretiertes. Die Unterscheidung von Problemen
erster und zweiter Ordnung ist in dieser Hinsicht eine lediglich analytische Unter-
scheidung; für uns fassbar sind die Probleme nur als Probleme zweiter Ordnung. Die
analytische Annahme einer Dimension erster Ordnung hält dabei allerdings offen,
dass es nicht nur immanent verfasste Probleme, sondern auch einen (in gewisser
Hinsicht) externen oder auch kontingenten Problemdruck geben kann.
Probleme sind dann aber immer auch schon normativ verfasst, die Problemwahr-
nehmung selbst von den normativen Erwartungen einer institutionellen Ordnung
geprägt. Hungern, als Resultat ungerechter Verteilung oder irrationaler Vorsorge
erkannt, ist ein Problem – bis hin zur Krise. Hungern, aufgefasst als Strafe Gottes,
ist Schicksal. Lebensformen geraten in Krisen oder stehen vor Problemen aufgrund
von normativ vordefinierten Situationsbeschreibungen.
32John Deweys differenzierte Auffassung des objektiv-subjektiv oder gleichzeitig konstruiert wie gege-
benen Charakters von Problemen, die sich den Weg aus der Unbestimmtheit in die Bestimmtheit des
Probleme sind, mit anderen Worten, weder einfach vorhanden, noch kann man
sie aus dem Nichts erschaffen. Eine angemessene Problemwahrnehmung muss auf
etwas basieren, das unabhängig von uns existiert und durch eine Störung der Nor-
malität auf sich aufmerksam macht. Deshalb können Probleme nicht einfach igno-
riert oder weggeredet werden. Ob ein Problem adäquat interpretiert und die angeb-
liche Lösung erfolgreich ist, lässt sich danach bemessen, ob der probleminduzierte
‚Druck‘ nachlässt. Und selbst, wenn es sich hierbei auch um eine Interpretations-
frage handelt, kann man doch den tatsächlichen Problemgehalt durch einen Anpas-
sungsprozess zwischen Problem und Problembeschreibung ermitteln.
Lösungsprozesses bahnen, ist hier instruktiv. Vgl. Dewey (2002), S. 131 ff. und meine Darstellung Deweys
in Jaeggi (2014), Kapitel 4.2 und 9.1.
33 Vgl. Neuhouser (2000).
34 Zur Kritik an der Vorstellung, hier handle es sich um lineare Entwicklungsprozesse, siehe Jaeggi (2018),
Kapitel 2, Berlin, i. E.
den Versuch der „Lösung eines Problems“ bezeichnen würde. Steht nicht ein viel
euphorischeres, positiv gefasstes und auch nicht weiter begründetes „so wollen wir
leben“ hinter der Affirmation bestimmter Lebensformen? Sind Lebensformen, wenn
ich sie als Problemlösungsinstanzen beschreibe, lediglich reaktiv, also: auf Pro-
blemstellungen reagierend, statt dass sie selbst positive Entwürfe setzen könnten?
Widerspricht das nicht meiner eigenen Auffassung von Lebensformen als Ausdruck
der Gestaltbarkeit der menschlichen Lebensbedingungen? Eine weitere Frage
schließt sich an: Kann die Problemlösungsauffassung wirklich dem Selbstverständ-
nis der Akteure (also der Perspektive der ersten Person) entsprechen oder handelt es
sich hier lediglich um die aus Sicht des Beobachters formulierbare Registrierung
von faktischen und funktionalen Effekten? Zum einen glaube ich, dass, selbst wenn
es nicht zum jederzeit präsenten Selbstverständnis einer Lebensform gehört pro-
blemlösend zu sein, diese Auffassung doch aktualisiert wird, sobald sich, anlässlich
einer Konfrontation oder Krise, die Notwendigkeit der Verteidigung einer bestimm-
ten Lebensform oder der Ablehnung einer anderen ergibt. Hier werden, wenn auch
manchmal im Nachhinein und nur in der Situation des krisenhaften „Ausdrücklich-
werdens“, Geltungsansprüche erhoben, die sich als Verteidigung der eigenen Praxis
als gegenüber anderen Varianten bessere Problemlösung verstehen lassen.
Hinter der Behauptung des reaktiven Charakters der Lebensform andererseits ver-
birgt sich gewissermaßen ein „materialistisches Element“. Immer auch reaktiv sind
Lebensformen, sofern sie auf etwas reagieren müssen und sich nicht im luftleeren
Raum einer Erfindung oder des ‚Einfach-anders-Lebens‘ entfalten. Indem wir Le-
bensformen mit bestimmten Zwecken haben, leben wir unser Leben (und gestalten
es dabei) immer in Auseinandersetzung mit Problemen, nicht, indem wir frei ir-
gendwelche Zwecke setzen. 35 Das aber widerspricht der Auffassung von Lebensfor-
men als gestalteten Lebensbedingungen nicht – und es bedeutet auch nicht, dass die
problemlösenden Lebensformen nicht in der Lage wären, menschliche Freiheit zu
realisieren 36. Jede Gestaltungsmacht trifft auf Bedingungen, ist eine Auseinander-
setzung mit Bedingungen, die für sie Ausgangspunkt und Grenze – und zwar gerade
einer verwirklichten Freiheit – darstellen. In abwandelnd-anverwandelnder Analo-
gie zu einer bekannten Marx’schen Phrase: Nicht nur die Anderen, auch das Andere
sind nicht (nur) die Grenze, sondern auch die Bedingung unserer Freiheit.
Dennoch ist bei der Rede vom Problemlösungscharakter der Lebensformen Vor-
sicht geboten: Sofern es sich bei Lebensformen um Praxiszusammenhänge handelt,
die vorgängig und nicht vollständig explizit sind und sofern wir in Lebensformen
immer schon verwickelt sind, darf man sich das Problemlösende an Lebensformen
nicht kognitivistisch, aber auch nicht instrumentalistisch und nicht voluntaristisch
vorstellen. Hier entscheiden sich nicht Individuen für eine bestimmte Praxis, mit der
sie einen bestimmten Zweck erreichen wollen. Nicht nur stellen sich die Probleme
immer schon in und aus der jeweiligen Praxis heraus, in der sich Problemstellungen
und Zwecksetzungen erst schrittweise konkretisieren und aus der heraus sie emer-
gieren. Auch sieht man, von den Ausnahmefällen des expliziten politischen Experi-
mentierens mit Lebensformen abgesehen, meist erst an den Effekten – und wieder-
um: erst in der Krise –, welche Probleme sich hier stellen und wie sie gelöst oder
nicht gelöst werden.
Wie lässt sich nun aber vom Ausgangspunkt dieser Auffassung von Lebensfor-
men als Problemlösungsinstanzen die normative Bewertung und Kritik von Lebens-
formen begründen? Auf den ersten Blick sieht es ja so aus, als entzöge die Histori-
sierung, Pluralisierung und Denaturalisierung des Lebensformenkonzepts diesem
gerade die Möglichkeit, als Maßstab für eine solche Kritik zu wirken. Wenn Lebens-
formen immer schon – kulturalistisch – im Plural aufgefasst und immer nur als
historisch-gesellschaftlich konkrete wie spezifische Formationen zugänglich wer-
den, dann lässt sich jedenfalls aus der Lebensform des Menschen nicht der Gegen-
part zu einer defizitären oder unangemessenen Instanziierung ableiten. Wenn um-
gekehrt die Probleme, mit denen Lebensformen konfrontiert sind, immer jedenfalls
auch konstruiert sind und wenn die Probleme selbst auch normativ verfasst sind,
dann wird es nicht nur häufig umstritten sein, ob eine Problemlösung gelungen ist;
die Beschreibung der Probleme selbst wird strittig und, ob so etwas wie eine Krise
oder ein normatives Scheitern von Lebensformen überhaupt zu verzeichnen ist,
wird tendenziell selbst zum Gegenstand der Debatte werden. Mein Ansatz versucht,
aus dieser Lage einen Ausweg zu finden. Es ist eine an den internen Krisendynami-
ken einer Lebensform ansetzende Form immanenter Kritik, die die Alternative zwi-
schen einer rein intern bleibenden Selbstkritik und einer bloß externen (bzw. sich
als extern missverstehenden) Kritik überwinden kann. Eine solche Kritik ist nicht
nur – im Modus interner Kritik – darauf gerichtet, die Übereinstimmung ihrer Prak-
tiken und Institutionen mit bereits vorhandenen Werten und Überzeugungen zu
überprüfen. Sie versteht sich aber auch nicht als externe Kritik miss, indem sie ver-
meintlich unabhängig gewonnene Maßstäbe an die existierenden Institutionen an-
legt. 37 Als immanente Krisenkritik setzt sie intern – bei den auftretenden systemati-
schen Problemen und Widersprüchen einer sozialen Konstellation – an und
entwickelt aus diesen die Kriterien einer kontextübergreifenden Kritik.
Meine These war: Lebensformen scheitern normativ, und sie scheitern als Lebens-
formen aufgrund ihrer normativen Defizienz. Diese normativen Defizite lassen sich
jetzt als Scheitern an der mit einer Lebensform gesetzten Problemstellung auffassen.
Die Schwierigkeiten, in die Lebensformen geraten können, ihre Krisen und das
37 Unterscheidet man in der Diskussion über Formen der Kritik häufig zwischen interner und externer
Kritik, so wäre angesichts der unausweichlichen normativen und historischen Eingebettetheit der Kritieren
externer Kritik danach zu fragen, ob es eine solche überhaupt geben kann oder ob diese nicht aus dem
Umstand heraus, dass sie sich nicht auf eine konkret existierende Gemeinschaft bezieht und dieser auf den
ersten Blick „extern“ oder unabhängig mit einem „Blick von Nirgendwo“ gegenübertritt den falschen
Schluss zieht. Oder anders: Es gibt eben keinen Blick von Nirgendwo und deshalb ist Kritik immer schon
in sozialer Realität verankert, sie weiß es nur manchmal nicht.
„Nichtfunktionieren“, wären dann immer auch ein normatives (nicht nur funktio-
nales) Problem; normative Krisen erscheinen, umgekehrt, immer auch als Probleme
der Dysfunktionalität. Lebensformen scheitern als normative Gebilde, und sie schei-
tern umgekehrt durch das Scheitern an ihren normativen Ansprüchen auch als Le-
bensformen. Das Scheitern ist also kein „rohes“, kein rein faktisches Scheitern, son-
dern eines, das mit der Bewertung der Situation zusammenhängt. Dennoch lässt es
sich als faktisches Scheitern einer Problemlösung und als Nichtfunktionieren iden-
tifizieren. Der Unterschied, auf den es mir ankommt, ist einerseits der zu einer Si-
tuation, in der eine Lebensform einfach nur schlecht im Sinne von moralisch ver-
werflich ist, und andererseits der zu einer Vorstellung von bloßer (prä-normativer
und interpretationsfreier) Dysfunktionalität.
Lebensformen sind dann mit wechselnden Veränderungs- und Konfliktdynami-
ken konfrontiert, die als Problemstellungen auf verschiedene Weise bewältigt und
überwunden werden müssen. Der Ausgangspunkt der Beurteilung und Kritik von
Lebensformen, so wie ich sie hier konzipiere, ist also das Problematischwerden von
Lebensformen, die möglichen Krisen, in die sie geraten können. Dabei sind Proble-
me oder sogar Krisen gewissermaßen der Motor einer Dynamik, die sich nun als
solche betrachten lässt. Aus dieser Dynamik selbst nun, als Dynamik des Problem-
lösungsverlaufs und der Rationalität der Konfrontation mit den entsprechenden
Krisen und Problemen, lassen sich angesichts der beschriebenen Schwierigkeiten
die Kriterien für Kritik entwickeln. Eine gelingende oder angemessene Lebensform
bemisst sich dann am (progressiven oder regressiven) Charakter der entsprechenden
Krisen- oder Problemlösungsprozesse selbst. Das beruht auf einer einigermaßen
gehaltvollen Beschreibung dessen, was sich in dem Prozess der Problemlösung, also
der gesellschaftlichen Entwicklungsdynamik, abspielt. Einem sich anreichernden
Erfahrungsprozess – als Muster des Gelingens – stehen dabei von Verwerfungen
und Erfahrungsblockaden gekennzeichnete regressive Verläufe gegenüber, bei de-
nen bereits die Problemwahrnehmung systematisch blockiert ist.
Auf eine sehr kurze Formel gebracht lautet die von mir vorgeschlagene „Lösung“
also folgendermaßen: Lebensformen sind komplex strukturierte Bündel (oder Ensem-
bles) sozialer Praktiken, die darauf gerichtet sind, Probleme zu lösen, die ihrerseits
historisch kontextualisiert und normativ verfasst sind. Die Frage nach der Rationali-
tät von Lebensformen lässt sich dann in einer kontexttranszendierenden Perspektive
als Frage nach der Rationalität der Entwicklungsdynamik der jeweiligen Lebensform
stellen. Zum Kriterium des Gelingens macht eine solche Perspektive damit weniger
inhaltlich-substanzielle Gesichtspunkte als vielmehr formale Kriterien, die sich auf
die Rationalität und das Gelingen des so beschriebenen Prozesses als ethisch-sozia-
lem Lernprozess, oder als sich anreicherndem Erfahrungsprozess richten.
Damit sollen, so das Ziel meiner Überlegungen, die mit der Debatte um Lebens-
formen verbundenen Konflikte als etwas sichtbar gemacht werden, das sich nicht
auf das Muster von Konflikten zwischen unhintergehbaren Wertüberzeugungen –
oder „Glaubensmächten“ – reduzieren lässt, und die mit Lebensformen verbunde-
nen sozialen Praktiken als etwas, das sich nicht als unhinterfragbar „Letztes“ dar-
stellt, sondern als von Menschen gestaltete und transformierbare Lebensbedingun-
gen, deren Angemessenheit sich an der Sache des Problems misst.
6. Schlussbemerkung
Ich hatte eingangs behauptet, dass wir Lebensformen kritisieren können, weil sie
sind, was sie sind, dass sich also aus ihrer internen Verfasstheit die Möglichkeit ihrer
Kritik ergibt. Die Implikationen dieser Behauptung sollten im Verlaufe meiner Über-
legungen deutlicher geworden sein: Sofern Lebensformen als „self-interpreting so-
cial entity“ 38 reflexiv verfasst sind, ist Kritik und Kritisierbarkeit nicht ein empirisch
kontingenterweise an Lebensformen herangetragener Anspruch, sondern Ausdruck
ihrer internen Verfasstheit. Die Prozesse der Infragestellung und des Fluidwerdens
von Lebensformen sind diesen nicht äußerlich, sondern gehören zu ihrer gelingen-
den Form und ihrer gelingenden Dynamik dazu. Formen einer verdinglichenden
„Praxisvergessenheit“ 39 von Lebensformen umgekehrt, in denen die Reflexivität
und die innere Pluralität ausgesetzt sind, erscheinen dann als eine defizitäre Form
von Lebensformen 40. Lebensformen können, zugespitzt gesagt, ihrem Charakter als
Lebensformen, und damit als Instanziierungen von Selbstbestimmung, mehr oder
weniger gerecht werden.
Ich gehe also von der Annahme aus, dass wir Lebensformen nicht nur kritisieren
können, sondern dass wir sie (und damit uns im Vollzug unseres Lebens) auch kri-
tisieren sollten, aber darüber hinaus, dass wir das, in den praktischen Vollzug unse-
res Lebens eingelassen, immer schon tun. Lebensformen sind, diesem Verständnis
zufolge, nicht nur der Gegenstand, sondern, vermittelt über die Individuen, die ihr
Leben in diesen Formen führen, auch das Subjekt von Kritik und damit immer auch
bereits Resultat der durch Reflexion und Kritik in Gang gesetzten Prozesse. Zu be-
werten und zu kritisieren ist dann Teil dessen, was es bedeutet, eine Lebensform zu
haben und dabei mit Problemen, aber auch mit anderen Lebensformen konfrontiert
zu sein. Dass Lebensformen kritisierbar sind, ist insofern selbst keine beliebige nor-
mative Position, die bewertende Haltung gegenüber (unseren „eigenen“ und ande-
ren) Lebensformen nicht eine Haltung, die wir konsequenzenlos einnehmen oder
verlassen können. Und es handelt sich auch nicht um eine empirische Beobachtung,
die sich soziologisch auf den erhöhten Reflexionsgrad von sogenannten „posttradi-
tionalen Gesellschaften“ und die große Thematisierungsdichte und Aushandlungs-
not postkonventioneller Lebensformen bezöge.
Dann aber ist die aus Sicht eines liberalen Antipaternalismus so vordringliche
Frage, ob wir Lebensformen kritisieren sollen, oder ob wir uns lieber in neutraler
Haltung „ethisch abstinent“ zurückhalten, den „epistemischen Rückzug aus der
Auseinandersetzung“ 41 suchen sollten, in entscheidender Hinsicht falsch gestellt.
Kritik, die Thematisierung von Lebensformen jenseits des „Dunkels“ ihrer episte-
mischen Einklammerung, ist Teil dessen, was es bedeutet, Lebensformen zu Lebens-
38 Ich formuliere hier in Anlehnung an Taylor (1985), der von Menschen als „self-interpreting animals“
spricht.
39
Zur Rekonstruktion von Verdinglichung und Entfremdung als „Praxisvergessenheit“ vgl. Jaeggi (2005/
2016) und Stahl (2013).
40 Einen ähnlichen Gedanken formuliert Thomas Khurana (2017), 520 ff. wenn er von der „Kompliziert-
formen zu machen und uns als Teil einer von uns gestaltbaren und transformier-
baren Welt verstehen zu können. In anderen Worten: Lebensformen als Lebensfor-
men zu kritisieren ist Teil dessen, was man als Prozess der Emanzipation bezeichnen
kann.
LITERATURVERZEICHNIS
Humboldt-Universität zu Berlin
Institut für Philosophie
Unter den Linden 6
10117 Berlin
rahel.jaeggi@staff.hu-berlin.de