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5 SOPHIE WENNERSCHEID
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Literaturwissenschaft und Eigensinn
9 »Wer nur auf Apollo setzt,
10 verfllt in akademische Starre,
11 wer seinen Marsyas nicht schindet,
bleibt ein trunkener Dilettant.«
12
(Wyss 1996, 15)
13
14 Wer heute in Europa ein literaturwissenschaftliches Studium erfolgreich durch-
15 laufen hat, weiß, was von ihm bzw. ihr erwartet wird, wenn es eine literaturwis-
16 senschaftliche Arbeit zu verfassen gilt: die eigenstndige Erarbeitung einer Fra-
17 gestellung, die sich aus bestimmten Textlektren ergeben hat, und die unter
18 Bercksichtigung bisheriger Forschungsleistungen zu einer mçglichst konzisen
19 und innovativen Beantwortung dieser Frage fhren soll. Sodann: eine Reflexion
20 des eigenen Vorgehens wie die Klarlegung, welche theoretischen Prmissen diesem
21 Vorgehen zugrunde liegen. Erwartet wird zudem, dass diese Prmissen als solche
22 theoretisch nicht bereits ›berholt‹ sind, sondern auf der Hçhe des aktuellen
23 Reflexionsstandes. Ist der Grundstein solchermaßen gelegt, mssen Thesen auf-
24 gestellt und mit entsprechenden Belegen gesttzt werden. Als notwendig erachtet
25 wird eine differenzierte, also Gegenstimmen einbeziehende Argumentation, ein
26 logisch nachvollziehbarer Aufbau der Arbeit, der Nachweis, wie die eigenen
27 Gedanken mit den Gedanken anderer verflochten sind (blicherweise zu er-
28 bringen in Form eines sorgfltig ausgearbeiteten Anmerkungsapparats), sowie ein
29 gewisses stilistisches Niveau.
30 Auch wenn der ein oder andere Literaturwissenschaftler die Akzente sicher
31 etwas anders setzen wrde, kçnnen die angefhrten Punkte doch als gegenwrtig
32 geltender Mindeststandard einer akademisch disziplinierten Literaturwissenschaft
33 angesehen werden. Zumindest finden sie sich so oder in recht hnlicher Form in
34 zahlreichen Leitfden und Einfhrungen in literaturwissenschaftliches Arbeiten,
35 wie auch in Darstellungen dessen, was unter literaturwissenschaftlicher Methodik
36 zu verstehen sei. So erklrt z. B. Simone Winko in einem Lexikon-Artikel zu
37 ›Methode‹, dass es in der Literaturwissenschaft um das Erreichen eines mçglichst
38 klar formulierbaren und sodann methodisch verfolgten Forschungsziels gehe. Sie
39 konstatiert: Nçtig sind »explizierbare, im Rahmen einer Literaturtheorie zu for-
40 mulierende Ziele und verfahrenstechnische Annahmen, auf welchem Weg die
41 Ziele am geeignetsten einzulçsen sind, sowie eingefhrte Begriffe, mit denen die
42 Ergebnisse im wissenschaftlichen Text dokumentiert werden.« (Winko 2000, 581)
JLT 5:2 (2011), 251–262. DOI 10.1515/JLT.2011.023
252 Sophie Wennerscheid
1 Gegen dieses auf den ersten und zweiten Blick so einnehmende und ber-
2 zeugende Verstndnis von Literaturwissenschaft als zielorientierte Disziplin wende
3 ich mit der polemischen Zuspitzung Paul Feyerabends ein, dass nichts »den Geist
4 so ab[stumpft], wie eine Reihe vertrauter Begriffe« (Feyerabend 2005, 11). Statt
5 mit einem konzise erarbeiteten Inventarium an Begriffen und Definitionen lite-
6 rarisches und nicht-literarisches Material erst zu perspektivieren und dann zu
7 systematisieren, mçchte ich literaturwissenschaftliches Arbeiten als einen kreati-
8 ven und eigensinnigen Prozess behaupten, dessen Strke nicht primr in seiner
9 methodisch abgesttzten Analysekompetenz liegt, sondern in der Bereitstellung
10 einer kritischen gedanklichen Vielfalt, die subjektiv verbrgt ist, und die außer-
11 dem an einen Leser, eine Leserin adressiert ist – also auf Antwort hin geschrieben
12 ist.1
13 Da so zu arbeiten nicht heißt, auf eine der gedanklichen Vielfalt angemessene
14 theoretische Grundlage einerseits und eine entsprechend passende Formgebung
15 des eigenen Textes andererseits zu verzichten, ist es in gewisser Hinsicht sicher
16 nicht berflssig sich innerhalb der Literaturwissenschaften noch einmal neu
17 darber zu verstndigen, inwiefern ein solcher Text bestimmten Normen und
18 Standards zu entsprechen hat, damit er als ein qualitativ hochwertiger Beitrag fr
19 die Wissenschaftscommunity und darber hinaus betrachtet werden kann. Gerade
20 in einer Zeit, in der zahlreiche Reformen die universitre Landschaft stark ver-
21 ndern, Herausforderungen wie z. B. die des ›Exzellent-Seins‹ auftauchen, Stu-
22 dierende ganz anders als frher ›ausgebildet‹ werden wollen etc., wird diese Frage
23 dringlich. Und zu einer Herausforderung fr das eigene Selbstverstndnis wird sie
24 allemal dann, wenn man sie nicht nur auf die oben genannten Rahmenbedin-
25 gungen oder Grundvoraussetzungen literaturwissenschaftlichen Arbeitens be-
26 zieht, sondern sie zu der Frage zuspitzt, welche Methoden und Theorien einer
27 Literaturwissenschaft berhaupt adquat sind, was also berhaupt zur Grundlage
28 des eigenen Arbeitens gemacht werden kann, und welche Methoden und Theorien
29 dem literaturwissenschaftlichen Arbeiten so ›fremd‹ sind, dass sie die Literatur-
30 wissenschaft als Literaturwissenschaft unkenntlich machen wrden.2
31 Problematisch erscheint mir an dieser Art der Theorie- und Methodenreflexion
32 jedoch zweierlei. Zum einen kommt mir die Art der Fragestellung trotz der
33 skizzierten Dringlichkeit recht fremdbestimmt vor, d. h. sie scheint eine Reaktion
34 auf die von außen an die Literaturwissenschaft herangetragene Frage nach ihrer
35 wissenschaftlichen und gesamtgesellschaftlichen Kompetenz und Relevanz zu
36 sein. Gehen wir als LiteraturwissenschaftlerInnen aber auf diese Art von Anfrage
37
1
38 Eine schçne Darstellung und zugleich eine performative Umsetzung der Behauptung, dass Bcher
39 als ›dickere Briefe an Freunde‹ zu verstehen sind, bietet Sloterdijk in den Eingangspassagen seines
kontrovers diskutierbaren Aufsatzes ›Regeln fr den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu
40 Heideggers Brief ber den Humanismus‹. Vgl. Sloterdijk 2001.
41 2
Den komplexen ›Kampf‹ um eine treffende Definition dessen, was Literaturwissenschaft ist, erhellt
42 am Beispiel der Germanistik Bogdal 2004.
Literaturwissenschaft und Eigensinn 253
1 ein, bringen wir uns nicht in die Offensive, sondern geraten in die Defensive, sind
2 also gezwungen, aus einer Verteidigungsstellung heraus zu agieren. Zum zweiten,
3 und das ist mir der deutlich wichtigere Punkt, empfinde ich gegenber dem
4 Bedrfnis Normen und Standards neu zu etablieren, eine ausgeprgte Skepsis, da
5 Standardisierungen meiner Erfahrung nach nie ohne Verlust von Vielfalt
6 durchzusetzen sind. Und zwar deshalb nicht, weil Standardisierung immer eine
7 Verengung auf das vermeintlich Richtige impliziert, und mit dieser Verengung
8 tendenziell all das ausgeschlossen wird, was jenseits einer wissenschaftlichen DIN-
9 Norm liegt. Die Setzung von Standards kann es somit verhindern, Literaturwis-
10 senschaft als eine kreative, kritische und eigensinnige, d. h. auf die eigenen Sinne
11 setzende Auseinandersetzung mit Literatur zu betreiben.
12 Spitzt man die Frage nach Normen und Standards der Literaturwissenschaft
13 nun noch zustzlich auf die Frage nach Normen und Standards der methodischen
14 und theoretischen Grundlagen der Literaturwissenschaft zu, verdichtet sich die
15 ausgeprgte Skepsis zu einem ausgeprgten Unbehagen. Denn so wie schon die
16 normativen Grundvoraussetzungen auf ein bestimmtes Erscheinungsbild von
17 Wissenschaft hin drngen, verstrkt auch die Formulierung methodischer und
18 theoretischer Standards die Tendenz, dass sich literaturwissenschaftliche Arbeiten
19 von ihrer Anlage und Durchfhrung her immer hnlicher werden. D.h. zu viele
20 literaturwissenschaftliche Arbeiten orientieren sich a) zu stark an den oben skiz-
21 zierten normativen Erwartungen, und weisen b) in Bezug auf die jeweils zugrunde
22 gelegte Theorie und die daraus abgeleitete Methode zu wenig Varianz auf, greifen
23 also auf einen recht begrenzten Fundus an Theorien zurck, nmlich eben vor-
24 nehmlich auf die, die gerade hoch im Kurs stehen, bzw. als besonders innovativ
25 gelten. Dass der Kurs dabei starken konjunkturellen Schwankungen unterworfen
26 ist, also einmal vornehmlich streng textimmanent-hermeneutisch gearbeitet wird,
27 dann wieder ideologiekritische Anstze favorisiert werden oder auf einmal doch
28 wieder ein ›Jenseits des Poststrukturalismus‹ (vgl. Lepper et al. 2005) denkbar ist,
29 ndert an der Grundtendenz nichts – immer kommt es zu einer Verdichtung
30 bestimmter Prferenzen und damit zu einer sich verringernden Heterogenitt.
31 Nun kçnnte man natrlich sagen, dass gegen eine solche Verdichtung wenig
32 einzuwenden sei. Scheint sie doch zunchst einmal nur darauf hinzuweisen, dass
33 bestimmte in Umlauf gebrachte Denkanstze so berzeugend sind, dass sich viele
34 WissenschaftlerInnen an einer Auseinandersetzung mit ihnen beteiligen. Doch ist
35 das wirklich der entscheidende Grund?
36 Whrend ich diese Frage zu beantworten versuche und sich mir die Vermutung
37 aufdrngt, dass eine ›Mainstreamisierung‹ in der Wissenschaft auf intellektuelles
38 Trendsetting, auf Meinungsmache und Diskurszwnge zurckzufhren ist, muss
39 ich gleichzeitig an eine Fernsehsendung denken, in der gezeigt wurde, wie Ameisen
40 untereinander kommunizieren um bestimmte Aufgaben schnell und effizient zu
41 lçsen. Sie sondern, whrend sie laufen, ein Sekret ab, das die anderen Ameisen
42 wahrnehmen und an dem sie sich orientieren. Geht es nun z. B. darum, unter-
254 Sophie Wennerscheid
1 Gedanken stark machen. Dass ein solcher subjektiver Zugang etwas Eklektisches
2 hat, wird an meinem eigen Zugriff auf das methodenkritische Denken Paul
3 Feyerabends schnell deutlich werden. Denn auch hier geht es mir nicht um eine
4 differenzierte Erçrterung seiner Thesen, sondern um die Frage, welchen ge-
5 danklichen Spielraum seine Formel des ›anything goes‹ fr die Literaturwissen-
6 schaft erçffnet.
7 Wichtig ist in dem Zusammenhang vor allem die in seiner Arbeit Wider den
8 Methodenzwang (Feyerabend 1986)5 entwickelte berzeugung, dass die Orien-
9 tierung eines Wissenschaftlers, und Feyerabend denkt hier zunchst vornehmlich
10 an Naturwissenschaftler, an den gngigen, fr gut und richtig befundenen Me-
11
thoden seiner Disziplin das Entstehen neuer Erkenntnisse nicht befçrdere, son-
12
dern im Gegenteil behindere. Statt sich von dem leiten zu lassen, was sich bewhrt
13
hat, pldiert Feyerabend fr einen ›heiteren Anarchismus‹, d. h. eine weitgehende
14
Offenheit und situationistische Sprunghaftigkeit in Fragen der Methodenwahl.
15
Denn zwar scheint es vernnftig, bewhrten Methoden zu folgen, doch fhrt
16
dieser Weg der Vernunft nur dorthin, wo andere schon waren. Feyerabends
17
Methodenskepsis wird also von einer grundlegenden Vernunftskepsis begleitet.
18
19
Die »Gesetze der Vernunft«, so polemisiert er, htten eine »verdummende Wir-
20
kung« (ebd., 18). Und in einem Brief vom 14. Mrz 1970 erklrt er gar:
21 Gegen die Vernunft habe ich nichts, ebensowenig, wie gegen Schweinebraten. Aber ich mçchte
22 nicht ein Leben leben, in dem es tagaus tagein nichts anderes gibt als Schweinebraten; und ich
23
mçchte auch nicht ein Leben leben, in dem es tagaus tagein nichts anderes gibt als vernnftiges
Verhalten. Das wre in der Tat ein elendes Leben (siehe auch Plato, Philebus 21d-2). Das ist die
24 erste Bemerkung zur Vernunft. Meine zweite Bemerkung ist, dass die vernnftigen Bedin-
25 gungen, die wir an unser Wissen stellen, oft besser erfllt werden, wenn wir der Unvernunft
26 einen Eintritt in unser Verhalten erlauben.
27 (Baum 1997, 182)
28 Zugespitzt formulierte Aussagen wie diese legen es nahe, Feyerabend als anti-
29
rationalen Relativisten abzutun, oder aber sich pathetisch auf ihn zu berufen, um
30
»die Illusionen monistischer und monolithischer abendlndischer Rationalitt zu
31
zerstçren« (Sukopp 2007, 128). Dass Feyerabend jedoch weder unreflektiert der
32
Beliebigkeit das Wort redet, noch sich selbst in Nietzscheanischer Erbfolge als den
33
großen Wertezertrmmerer imaginiert, zeigt sein Hinweis darauf, dass der Slogan
34
›anything goes‹ nicht als immer und berall geltender Grundsatz zu verstehen sei,
35
sondern vielmehr den erschreckten Ausruf eines Rationalisten vorwegnehme, der
36
37
sich der von Feyerabend »zusammengetragene[n] Evidenz« nicht habe entziehen
38
5
39 Die Arbeit erschien in 1975 unter dem Titel Against Method. Outline of an Anarchistic Theory of
Knowledge im Verlag New Left Books. Fr die 1976 bei Suhrkamp erschienene Ausgabe hat
40 Feyerabend den englischen Text revidiert und erweitert. Fr eine weitere Neuausgabe im Jahr 1983
41 wurde dieser Text teils gekrzt, teils umgeschrieben. Zitiert wird nach der 1986 herausgegebenen
42 Taschenbuchausgabe, die der Fassung von 1983 folgt.
256 Sophie Wennerscheid
1 kçnnen. (Feyerabend 1986, 11)6 Evident aber sei, dass die ›Unvernunft‹ als in-
2 tegrativer Teil der Wissensproduktion aufgewertet werden msse. Lasse man
3 nmlich spontane, widersinnig anmutende Einflle zu, oder gehe man ›kontra-
4 induktiv‹ vor, dann kçnne man unter Umstnden zu Ergebnissen kommen, die
5 sich auf vernnftigem Wege nicht eingestellt htten. In seinem Aufsatz ›Wis-
6 senschaft als Kunst‹ erklrt Feyerabend: »Erfolge treten ein, nicht weil man sich an
7 die Vernunft gehalten hat, […] sondern weil man vernnftig genug war, unver-
8 nnftig vorzugehen.« (Feyerabend 1984, 69) Nur so kçnne Vielfalt erhalten und
9 wissenschaftlicher Chauvinismus untergraben werden und ›Neues‹ entstehen (vgl.
10 Kuhn 1977). Eine Konkretion und Verdeutlichung erfhrt diese These in seiner,
11 hier nicht rekapitulierbaren, komplexen Darstellung des so genannten Turmar-
12 guments, mit dem die Aristoteliker die Erde als unbewegte bestimmten und das
13 von Galilei widerlegt wurde, indem er sich weigerte scheinbar natrlichen Evi-
14 denzen zu folgen und allgemein anerkannte Grundstze ignorierte.
15 Untersttzung fr die Aufwertung des vermeintlich Unvernnftigen holt
16 Feyerabend sich in diesem Zusammenhang u. a. von dem schwedischen Schrift-
17 steller, Maler und Naturwissenschaftler, der Normverstoß und Regelverletzung
18 gleichsam zu seinem Programm erhoben hat: August Strindberg. Direkt im
19 einleitenden Kapitel von Wider den Methodenzwang verweist Feyerabend auf
20 Strindberg und zitiert dessen Kritik an der Wissenschaftshçrigkeit seiner Zeit:
21
22 Eine Generation, die den Mut hatte, sich von Gott loszusagen, Staat und Kirche zu zer-
schmettern, Gesellschaft und Moral umzustrzen, fiel vor der Wissenschaft immer noch auf
23
die Knie. Und in der Wissenschaft, in der Freiheit herrschen sollte, hieß die Parole: Glaube an
24 die Autoritten oder Kopf ab.
25 (zitiert nach Feyerabend 1986, 18)
26
Das, was Feyerabend hier an Strindbergs Aussage anspricht, ist offensichtlich
27
dessen explizite Infragestellung eines an Autoritten orientierten Denkens und die
28
daraus erwachsende Unabhngigkeit, sich den interessierenden Objekten so zu
29
nhern, wie man selbst es fr richtig, oder vielleicht auch einfach nur fr reizvoll
30
hlt. Inwiefern Strindberg dieses Vorgehen selbst praktiziert, davon erzhlt das
31
32
Buch, aus dem Feyerabend das Strindberg-Zitat entnommen hat. Es handelt sich
33
um die 1894 zunchst auf Deutsch publizierte Schrift Antibarbarus, in der
34
Strindberg von seinen mit verschiedenen chemischen Stoffen durchgefhrten
35
Experimenten berichtet, in denen er die Grenze zwischen Naturwissenschaft und
36
Alchemie bewusst niedergerissen hatte, um so zu neuen Erkenntnissen ber die
37 Ordnung der Natur zu kommen. Von Seiten der Naturwissenschaften wurde und
38 wird diesen Experimenten ihre wissenschaftliche Bedeutung abgesprochen.
39 Trotzdem ist ihnen ein durchaus innovativer Zug eigen, da Strindberg ber die
40 6
So im Vorwort zu der berarbeiteten Fassung von Against Method aus dem Jahr 1982. In diesem
41 Zusammenhang erklrt Feyerabend, dass er nicht glaube, »daß man ›Grundstze‹ unabhngig von
42 konkreten Forschungsproblemen aufstellen und diskutieren kann« (Feyerabend 1986, 11).
Literaturwissenschaft und Eigensinn 257
1 verstehen ist, sondern als Verweis darauf, dass zwar prinzipiell jeder Zugriff auf
2 bestimmte Probleme oder Phnomene zulssig ist, dieser Zugriff aber aus einer
3 inneren Beteiligung heraus erfolgen muss, d. h. der Einzelne sich als Einzelner mit
4 ins Spiel seines Denkens einzubringen hat. Sein Denken ist also kein beliebiges,
5 sondern eins, in dem sich das Menschliche als Existenz ausdrckt, also das
6 Menschliche als das Besondere und nicht systematisch Erfassbare Teil des Denkens
7 bzw. hier des literaturwissenschaftlichen Arbeitens ist. Das Besondere des Men-
8 schen ist aber nicht zu lçsen von seinen konkreten Lebensumstnden, von seiner
9 Biographie, von seinem Begehren und von seinen ngsten. Aufgabe einer krea-
10 tiven Literaturwissenschaft wre es insofern, eben diese Eigenheiten wieder strker
11 mit einzubringen und daraus in der Begegnung mit konkreten Texten Neues
12 entstehen zu lassen. Herauszuarbeiten wre das, was die ›Berhrung‹ mit einem
13 bestimmten Text an sinnlicher, intellektueller und emotionaler Wahrnehmung
14 ausgelçst hat. ›Eigensinnig‹ zu arbeiten kçnnte dann heißen, die Mçglichkeit eines
15 immer auch physisch-materiellen Kontaktes zwischen Text und Leser, mit Roman
16 Jakobson formuliert: die »Sprbarkeit der Zeichen« (Jakobson 2005, 93),8 ernst zu
17 nehmen und der eigenen Wahrnehmung ohne sofortige Rckendeckung durch
18 eingefhrte Begrifflichkeiten nachzugehen und zu einer eigenstndigen Textbe-
19
hauptung auszuarbeiten.
20
Recht hnlich formuliert es auch Karl-Heinz Bohrer, wenn er mit Verweis auf
21
Nietzsche konstatiert, dass »der traditionelle, der abgegoltene, der konventionelle
22
Gedanke« nur dann vermieden werden kçnne, »wenn der zuknftige Gedanke
23
Ausdruck eines bis dahin nicht gekannten Impulses ist, eines Lebenselixiers, of-
24
fenbar etwas autobiographisch Verbrgtes« (Bohrer 2010, 564). Etwas Neues, so
25
ließe sich Bohrers Gedanke hier wissenschaftstheoretisch weiterfhren, kommt
26
also nur dort in die Wissenschaft hinein, wo der einzelne Wissenschaftler sich als
27
subjektiver Denker und schçpferisches Subjekt einbringt und sich selbst, wie
28
sodann auch seinen eigenen Leser, mit etwas konfrontiert, das er nicht kennt.
29
Denn einen neuen Gedanken lçst beim Leser nicht das aus, was der zuvor be-
30
stehenden Erwartung entspricht, sondern im Gegenteil das, was diese Erwartung
31
bertrifft oder unterluft, also an ihr vorbeizielt und den Blick auf das so nicht
32
33
Erwartete umlenkt.
34
Ist wissenschaftliches Arbeiten aber in diesem Sinne als eigensinniges Arbeiten
35
zu verstehen, dann wird auch die Vorstellung eines wissenschaftlichen Fortschritts
36
brchig. Feyerabend argumentiert mit dem Kunsthistoriker Alois Riegl, dass es so,
37 wie es in der Kunst keinen Fortschritt gebe, sondern nur verschiedene, sich ab-
38 lçsende Kunstformen,9 es auch in der Wissenschaft keinen Fortschritt, sondern
39 nur verschiedene »Denkformen, Wahrheitsformen, Rationalittsformen« gebe. Er
40 8
Vgl. hierzu auch eine fr September 2011 angesetzte Konferenz zum Thema »Die Sprbarkeit der
41 Zeichen – Beitrge zu einer literarsthetischen Theorie der Berhrung« in Frankfurt a.M.
9
42 Feyerabend geht hier aus von den berlegungen Alois Riegls. Vgl. Riegl 1973.
Literaturwissenschaft und Eigensinn 259
1 resmiert: »Wohin wir uns auch wenden, wir finden nicht einen Archimedischen
2 Punkt, sondern weitere Stile, Traditionen, Ordnungsprinzipien.« (Feyerabend
3 1984, 44)
4 Dass es nach Feyerabend keinen archimedischen Punkt der Erkenntnis gibt,
5 mithin nichts, von dem aus Fortschritt messbar ist, muss aber nicht heißen, dass
6 damit die Notwendigkeit außer Kraft gesetzt ist, sich mit bestehenden und ver-
7 gangenen Stilen, Traditionen und Ordnungsprinzipien auseinanderzusetzen.
8 Subjektiv ist der Knstler-Wissenschaftler ja nicht deshalb, weil er solipsistisch aus
9 sich selbst schçpft, sondern weil er sich mit ins Spiel des Denkens bringt. Das Spiel
10 des Denkens ist aber kein Spiel, das alleine gespielt und vorangetrieben werden
11 kann, sondern eins, das immer in der Menge gespielt wird. Jedem Akt subjektiven
12 Denkens geht folglich die Auseinandersetzung mit anderen Denkern voraus. Weil
13 aber jeder Denker sich selbst bestimmte Maßstbe setzt, um ein seiner Ansicht
14 nach gutes und wichtiges Werk zu schaffen, ist jeder Auseinandersetzung mit
15 anderen wissenschaftlichen Arbeiten auch die Auseinandersetzung mit Normen
16 und Standards implizit. Insofern ist es auch nicht nçtig, sie extern zu formulieren.
17 Es reicht, dazu aufzufordern, sich von ihnen herausfordern zu lassen und ihnen
18 eigene Vorstellungen dessen, was ein Werk gut und stark macht, entgegenzusetzen.
19 Allerdings, nicht um Fortschritt zu erzielen, oder um sich der eigenen methodi-
20 schen Elaboriertheit zu versichern und ein besonders »karrierefçrdernde[s] Ge-
21 sellenstck« (Gumbrecht 2010, 984) zu vollbringen, sondern um die Bewegung
22 des Denkens in Gang zu halten und zu dem beizutragen, was Stephen Greenblatt
23 so treffend als »Zirkulation sozialer Energie« (Greenblatt 1993) beschrieben hat.
24 Whrend Greenblatt unter den zirkulierenden Energien allerdings vornehmlich
25 das versteht, was zur Entstehungszeit eines Textes an Impulsen, Vorstellungen,
26 Diskursfragmenten und kulturellen Praxen in ihn eingegangen ist und nun im
27 Verlauf seiner verschiedenen Rezeptionsphasen wieder aufgenommen werden
28 kann, wrde ich den Akzent gerne in Richtung Weiterfhrung setzen, also auf das
29 hin, was ein Einzelner nun aus dem Aufgenommenen macht. Da dieses Machen
30 aber eine individuelle, ganz eigene und eigensinnige Leistung sein soll, wre es
31 wenig hilfreich sich an die Wegmarkierungen bestehender Normen und Standards
32 zu halten. Statt sich den Weg vorgeben zu lassen, muss es darum gehen, ihn selber
33 zu finden. Nicht um alles in Chaos, Unvernunft oder gar trivialerweise in »den
34 eigenen plaudernden Charme« (Mller 2008) aufzulçsen, sondern um einer ei-
35 genen Idee eine eigene Form zu geben.
36
37 Sophie Wennerscheid
38 Institut fr Nordische Philologie und Skandinavistik
39 Westflische Wilhelms-Universitt Mnster
40
41
42
260 Sophie Wennerscheid
1 Literatur
2
3 Baum, Wilhelm (Hg.), Paul Feyerabend – Hans Albert. Briefwechsel, Frankfurt a.M. 1997.
4 Bogdal, Klaus-Michael, EIN(FACH)? Komplexitt, Wissen, Fortschritt und die Grenzen der
5 Germanistik, in: Walter Erhart (Hg.), Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder
Erweiterung?, Stuttgart et al. 2004, 104–127.
6
Bohrer, Karl Heinz, Welche Macht hat die Philosophie heute noch?, Merkur. Deutsche
7
Zeitschrift fr europisches Denken 64:7 (2010), 559–570.
8 Bricmont, Jean, Science of Chaos or Chaos in Science? The Flight from Science and Reason,
9 Annals of the New York Academy of Sciences 775 (1996), 131–175.
10 Fechner-Smarsly, Thomas, Die Alchemie des Zufalls. August Strindbergs Versuche zwischen
11 Literatur, Kunst und Naturwissenschaft, in: Henning Schmidgen et al. (Hg.), Kultur im
12 Experiment, Berlin 2004, 147–169.
13 Feyerabend, Paul, Wissenschaft als Kunst, Frankfurt a.M. 1984.
–, Wider den Methodenzwang, Frankfurt a.M. 1986.
14
–, Gegen die Vernichtung der Vielfalt. Ein Bericht, Wien 2005.
15
Greenblatt, Stephen, Die Zirkulation sozialer Energie, in: S.G., Verhandlungen mit Shake-
16 speare, bers. Robin Cackett, Frankfurt a. M. 1993, 9–33.
17 Gumbrecht, Hans Ulrich, Verstimmte Freiheit. Zehn Bilder aus der sozialdemokratischen
18 Universitt, Merkur. Deutsche Zeitschrift fr europisches Denken 64:9/10 (2010),
19 977–986.
20 Jakobson, Roman, Linguistik und Poetik, in: R.J., Poetik. Ausgewhlte Aufstze 1921–1971,
21 hg. Elmar Holenstein, Frankfurt a.M. 2005, 83–121.
Kierkegaard, Sçren, Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen
22
Brocken, Bd. 2, Gtersloh 31994.
23
–, Afsluttende uvidenskabelige efterskrift, (Søren Kierkegaards Skrifter Bd. 7) Kopenhagen
24 2002.
25 Knott, Marie Luise, Verlernen. Denkwege bei Hanna Arendt, Berlin 2011.
26 Kuhn, Thomas S., Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte,
27 Frankfurt a.M. 1977.
28 Lepper, Marcel/Steffen Siegel/Sophie Wennerscheid (Hg.), Jenseits des Poststrukturalismus?
29 Eine Sondierung, Berlin 2005.
Mingels, Annette, Drrenmatt und Kierkegaard. Die Kategorie des Einzelnen als gemeinsame
30
Denkform, Kçln 2003.
31
Mller, Burkhardt, Abgrund des Bekanntlichen. Jochen Hçrischs Sammelband segelt unter
32 falscher Flagge, Sddeutsche Zeitung (7. 3. 2008), abrufbar unter www.buecher.de/shop/
33 buecher/das-wissen-der-literatur/hoerisch-jochen/products_products/content/prod_id/
34 22808749 (26. 4. 2011).
35 Riegl, Alois, Sptrçmische Kunstindustrie [1901], Darmstadt 41973.
36 Sloterdijk, Peter, Regeln fr den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief
37 ber den Humanismus, in: P.S., Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger, Frankfurt a.M.
2001, 302–337.
38
Sukopp, Thomas, Anything goes? – Paul K. Feyerabend als Elefant im Popperschen Por-
39
zellanladen, Aufklrung und Kritik 14:1 (2007), 124–138.
40
41
42
Literaturwissenschaft und Eigensinn 261
1 Wennerscheid, Sophie, Upside down – Kaleidoskopische Kunst bei August Strindberg, John
2 Lennon und John Bock, in: Achim Hçlter (Hg.), Anstze zu einer universalen sthetik?,
3 Heidelberg 2011 (im Erscheinen).
Winko, Simone, Methode, in: Harald Fricke (Hg.), Reallexikon der deutschen Literatur-
4
wissenschaft, Bd. 2, Berlin 2000, 581–585.
5
Wyss, Beat, Der Wille zur Kunst. Zur sthetischen Mentalitt der Moderne, Kçln 1996.
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