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Helga Finter STI ‘s MMKORPERBILDER Ur. ~ ‘sprung ihre pingsmythen der Stimme und atisierung auf der Biihne Stir mmen zwii zwische . ischen Kérper und Text: TotengesP! Ba uc! hrednersoiréen NGENANN TEN, pn pines U ffentlicht, <. AUPZEICHNUNG etersburg Ver din in Sankt P er Stimmen, d Friedhof sein he man 7 men fir ihn haften ZU ge Melos, Kl ben dem Les EM ae ae Bobo n or Zei fecia Zz itschrift Grashnad tein Gesprich postmortal Ansck zihler im ie der Ich-E er Heimatstad| nit einem Kissen t be- hluss : lauscht. one cin Begribnis auf dem Vor dem M wohl er sie gedimpit, »als sp ited ste rnimmt, sind diese Stim ne subtile Aufzeichnung ihrer Figensch Sy Intonation, Di ¢ Notatj Otatione jonen von Hohe, Rhythmu Affekten erlau on zu imagi so gut horbar, 8. ben verm angfarbe, er, die "y imbr ey Gerd » Gera riuschen und suggerierten i jnieren und sic Stimmkér kérper dieser auditiven Hallwzinat nals Kon- ve noch drei bis Vier ie leezte Lebens- Lautakkumu- ‘Trans- Ke rpe tn vo n Personen zuzuschreiben- als letzte vitale gsentiert, welch behauptet: chdurch eine 1s bobok, der hahmt, der héren ist. In diesem Ti dasaiter 6 Text wird die Stimme Manifestat er Seele und des Bewusstseins P* 1 Ableben sich cigt si Lauten, 4 den Ton nae Monate iulerung nt dem physischer lition ie ist vokal, ihr Verstummen 7 kription a ein Blubbern von sinnlosen | r russischen OnomatoP’ be im PI atze! en von Luftblasen an det Obe art in die R aie, welche rfliche de eihe vor , Beispiel Edgar ie Fr sers ZU Dos stojewskis BOBOK geh ‘lfte de es 19, Jahrhunderts, dies rage nach wie zum nicht nut d Shapow cinem ne Alfred Jarrys PHONOGRAPHES lich wahrnehmbaren Uberleben der menschlichen stimme sferchnungstechiken aufwer- ausstellen: Als am V, orabe nd der Erfi ‘ der Erfindung auditiver A fen, ‘Pheatralitat Ergebnis Stimme eigen’ a minee . ; i Stimine, ora Dialektik von An- und Abwesenheit stellen menschliche len phy : i. 4 physisch Abwesende dar sndem sie ihnen el sines Lebens die Frage Klan, he : i Sprachkérper gebe™ anderer Schriftsteller, den ebenfalls zeit se berichtet i” einem ‘Tagebucheintt pielers Alex- s Schaus Seine timmkiin- b Sonde: dern auch die der nen hrbaren ag, vom der & Sti 28. | ee beschiftigte ~ Februar 7 ander a 1912 von einem Rezit oissi, dem Star von Max Rei abend de ations: Theate: nhardts BI Helga Finter ste—die bemerkenswerte polyphone Stimme mit einem der Stimme 2—werden hier von Franz Antonin Artauds vergleichbaren Ambitu Kafka mit einer Mischung aus Anzichung und Abstofung beschrieben. Moissi lisst den Prager Schriftsteller an einen Bauchredner denken: Der Kiinstler scheinbar unbeteiligt, sitzt so wie wir, kaum dai wir in seinem gesenkten Gesicht die Mundbewegungen hie und da sehen und Jit statt seiner tiber seinem Kopf die Verse reden.-Trotzdem soviele Melodien zu héren waren, die Stimme gelenkt schien wie ein leichtes Boot im Wasser, war die Melodie der Verse eigentlich nicht zu héren.-Manche Worte wurden von der Stimme aufgelést, sie waren so zart angefat worden, da sie aufsprangen und nichts mehr mit der menschlichen Stimme zu tun hatten, bis dann die Stimme notgedrungen irgend einen scharfen Konsonanten nannte, das Wort zu Ende brachte und schlo&.3 In beiden Fallen erscheint die Stimme unheimlich, da sie die supponier- te Einheit von Kérper und Stimme bzw. Text und Stimme auflést. Ihre sierung des Ursprungs der Stim- Theatralitt ist Ergebnis einer Dramati me: Sie wird durch ein Fehlen manifester Kérperlichkeit generiert. Tote KGrper oder der »widernatiirliche Anblick« eines rezitierenden Bauch- setzen jenes Unbehagen an der bedrohten Heimlichkeit redners tiber ciner Einheit, welche mit den Medien technischer Reproduzierbarkeit nun zur Grunderfahrung der Stimme gehéren wird. Die eigene aufge- zeichnete Stimme kann fremd, kann zu einem anderen, zum Anderen werden, der die imaginire Einheit mit dem K6rper oder mit der Sprache sprengt. Die Ortlosigkeit der Stimme, das Verhiltnis zur Absenz-von phy Tod wird von nun an ein we: altnis zum isch prasentem Kérper oder Text -, das ausgestellte Vert entlicher Bestandteil ihrer Theatralitat sein. Stimmen immer Hier wird deutlich, dass die Produktion von Kunst-S ten Dramatisierung des schon eng mit einer, wenn auch bis dahin impliz Ursprungs der Stimme verbunden war. Denn ihre Theatralitit zeichnet einen Raum, dessen antagonistische Pole das Bild eines physischen Korpers und das Bild cines Textkérpers besetzen. Die Stimme selbst is ¢ als cin raumliches Klangbild wahr, das a-topisch, doch wir nehmen s bei jeder Emission ihren Raum und ihre virtuellen Urspriinge zeichnet. Zum Interesse an der Stimme im Theater Mit der Entwicklung und dem Einfluss der Aufzeichnungstechniken, ihrer Omniprasenz im 6ffentlichen Raum, ist in den letzten Jahren auch Stimmkérperbilder im Bereich der Theaterwissenschaft das Interesse an solchen Kunst- Stimmen auf dem Theater gewachsen. Lange schien die Stimme im Theater selbstverstandlich. Untersuchungen zu ihrer vokalen Theatra- litat waren cher selten. Die wenigen Gesamtuntersuchungen privilegier- ten vor allem die Frage nach dem habitualisierten Ausdruck, der Rhe- torik, oder nach dem singuliren Ausdruck und den damit verbundenen Sprechtechniken.# Doch das Interesse an der Theatralitit der Stimme auf dem Theater ist nicht auf die Frage des Ausdrucks zu reduzieren. Denn der theatrale Raum wird nicht nur durch das, was das Auge wahrnimmt, geschaffen, auch was das Ohr hért, zeichnet den theatralen Raum. Ja, die Vokalita strukturiert gar die visuelle Perzeption, insofern die historische Vorgan- gigkcit der Stimme bei der Psychogenese entscheidende Bedeutung hat. Sie schafft nicht nur, lange vor der Spiegelphase (Lacan), eine erste Kor- pererfahrung als »Klanghiille« (Anzieu), sondern hat auch Auswirkun- gen auf die audiovisuelle Perzeption: Von dieser ersten vokalen Iden- titit hangt die affektive Be: ab, sie lenkt auch die Perzeption audiovisueller Phiinomene (Chion). etzung der spiter erlernten Verbalsprache Eine sthetische Befragung des ‘Theaters kann deshalb kaum die Frage nach der Stimme umgehen. Denn das vom Gehérten hervorgerufene Imaginire webt und determiniert gerade das Band zum Gesehenen. Als ich 1980 einen ersten Text, der die Vokalitit des postmodernen Theaters befragte, im Rahmen des Kolloquiums »L’Oralita« in Urbino prasentierte,> war dieses Interesse fiir die Stimme im Experimental- theater der siebziger Jahre nicht selbstverstindlich. Obwohl schon 70 diesem Zeitpunkt die Experimentalbiihne das Verhaltnis der Stimme zu Verbalsprache und visueller Darstellung seit einem Dezennium er- forschte—von Robert Wilsons DEAFMAN’S GLANCE und A LETTER TO QUEEN VicroriA iber die Sticke von Richard Foremans Ontologi al- Hysteric Theatre bis zu Meredith Monks Stimmopern zum Beispie! blieb noch wihrend zwei Jahrzehnten die Konzeption eines Theater of Images (Bonnie Maranca) fiir dieses neue Theater bestimmend. Bei den Untersuchungen zur Vorgeschichte des neuen Theaters, den Theaterutopien Mallarmés, Jarrys, Roussels und Artauds,® erwies sich jedoch gerade die Frage der Stimme als Angelpunkt jeder kritischen ‘Transformation von Theatralitit. Und sie zeigte sich besonders auch dann als zentral, wenn es darum ging, die Mutationen der Menschen- darstellung auf der Bihne zu begreifen: Als Zwischen von Kérper und Sprache (Guy Rosolato) hat die menschliche Stimme in der Tat im Th ter die Funktion zwischen den auf der Buhne visuell prisenten Gegen- 133 Helga Finter kann sie in ihrer Prasenz stinden und Kérpern zu vermitteln: § bestitigen oder aber ihre Wahrnchmung subvertieren. So ist die Stimme im Zentrum der Theatralitat der Biihne angesiedelt, sowohl einer analy- tischen und kritischen als auch einer konventionellen, eher spekta- kularen Theatralitat.” hin Die zahlreichen Untersuchungen zur Stimme im Theater, die i den letzten zwanzig Jahren verdffentlicht habe, tragen einerseits den Ergebnissen der Psychoanalyse-Guy Rosolato, Denis Vasse, D.W. Winnicott, Michel Poizat u.a.—und der Psychophonetik und Psycho- semiotik—Ivan Fonagy und Julia Kristeva—Rechnung, sind aber vor allem yon den Arbeiten Roland Barthes’ beeinflusst, die sich fiir eine sthetische Fragestellung am pertinentesten erwiesen. Denn bei ihm it, die ein Konzept fand sich nicht nur eine Konzeption der Theatrali des Subjekts beinhaltete, welches das Verhiltnis des Sprechers zu Kér- age der per und Sprache mitbedachte, sondern die zugleich auch die Fi und Abwesenheit und des Todes, das Verhaltnis der Sinne zum Ho: Sichtbaren zu denken suchte. Die Auseinandersetzung mit der Barthes- schen Konzeption der Theatralitat der Stimme im Kontext einer Thea- tralitét von Visuellem und Auditivem ist an anderer Stelle zu lesen.8 Hier sei nur kurz auf einige Punkte verwiesen, die fiir die heutigen Uberlegungen wichtig sind: Entgegen der weit verbreiteten Doxa hat Roland Barthes nicht nur die Theatralitit der Stimme in einer Theorie des vokalen grain—der materiellen Beschaffenheit der Stimme als Ergebnis ihrer Reibung mit einem musikalischen Text und einem verb len ‘Text-reflektiert. Vielmehr hat er auch in Ansitzen die stimmliche Theatraliti t konzeptualisiert, die aus der Reibung einer Stimme mit einer Sprache, mit einem verbalen Text hervorgeht und als Rauschen der Sprache-bruissement de la langue?—vernehmbar bzw. lesbar ist. Im Gegensatz zum grain, das auf eine Lust des Kérpers verweist, zugleich aber nicht in diesem zu verorten ist, denn es ist Ergebnis einer Drama- tisierung des singuliren Verhaltnisses eines Subjekts zu Verbal- und Musiksprachen, macht das Rauschen der Sprache eine Lust am Sinn hérbar. Wir finden es zum Beispiel in der signifikanten Semiotisierung des Verses, so bei Corneilles Li MENTEUR!® und Racines PHiDRE!. Auch die Polyphonie (post-)moderner ‘Texte, wie zum Beispiel Philippe Sollers’ Parabis,!? die das singulire Verhiltnis des Schriftstellers zur Sprache als Musikalitit in den Text einschreibt, lisst dieses Rauschen oder Knistern héren. Ein solches Rauschen der Sprache kann auf dem Theater die Stimmbearbeitung hérbar machen, welche die musikali- schen Strukturen des ‘Textes aus tellt, wie zum Beispicl manche Arbei- ten von Ronconi, Griiber, Straub/Huillet oder Goebbels: 134 Stimmkdrperbilder Die intimsten Markierungen einer Stimme-Timbre und singulires Melos!3—k6nnen so einen Stimmraum zeichnen, der sich zwischen den Polen des Kérpers und der Verbalsprache entfaltet, ohne dass er auf diese als ihren Ursprung zu reduzieren wire. Eine analytische Theat litat der Stimme, Erg ebnis eines von grain und singulirem Melos pro- duzierten Kérper- und Sprach-Rauschens, verweist so gleichermagen auf die Lust am Kérper wie auf cine Lust am Sinn: auf die Lust eines durch Lautartikulation produzierten Klangkérpers und auf die Lust eines Textkérpers, welcher die Funktion der Sprache, das Subjekt im Prozess als Sprachwesen zu konstituicren, ausstellt und zugleich seine durch cine Abwesenheit konstituierte Prasenz perspektiviert. Die Stim- persp me als Kérper- oder Textstimme erweist sich so immer als Ergebnis cines Prozesses der Verlautbarung, welcher mit seinen Angeboten cine Ursprungs der Stimme zugleich das Verhalmnis des Sprechenden zu Sprache und Kérper mitteilt. Dramatisierung von Ursprungsmythen der Stimme I: Die siebziger bis neunziger Jahre Die Experimente mit der Theatralitit der Stimme haben sich in den letz~ an die ten Jahrzehnten im Anschlus :xperimente Artauds, der konkre- ten Poesic und der neuen Musik vervielfacht. Sie oszillieren zwischen zwei Ursprungsmythen der Stimme: dem der Sprache als einer phoné nzheit. und dem des Kérpers—soma—als physische und biologische Ga Diese Arbeiten konfrontierten zuerst die Stimme mit dem jeweilig he und rhetorische Phoné Anderen Musik, Geriusch oder prosodi oder aber sie schufen neue Stimmen durch die Abwesenheit der Kom- ponenten der Sprechstimme. thr Mittel war die Trennung: Trennung, der Stimme vom Kérper durch Microport oder durch Abwesenheit einer, die Bedeutung unterstreichenden Prosodie—bei Richard Foreman und dem Robert Wilson der Anfiinge zum Beispiel!4—oder auch die ‘Tren- nung von der Verbalsprache durch eine Reduktion der Verlautbarung auf die Glossolalie wie bei Meredith Monk. In den zuerst die audiovisuelle Einheit der Person subvertiert, ebziger und achtziger Jahren hat so das postmoderne Theater indem es ex nega- tivo zugleich den Kérper des ‘Textes und des Wortes, der durch Proso- die und Elokution produziert wird, in Abwesenheit héren lie’. Wort und Text wurden hier als oktroyierte fremde Kérperlichkcit erfahren. So kénnte Laurie Andersons Burroughs-Zitat in UNITED Starrs IL als Uberschrift tiber diesem Theater der 1970er und 1980er Jahre stehe: Helga Finter Language is a virus. Es dekonstruierte die Prisenz, des noch im damali- gen zeitgendssischen ‘Theater als sich selbst identisch erfahrenen Ké immen auf. Di Emphati Timbre und Kérpergeriusche durch den Einsatz von technischen Stimmver- pers; diese léste sich in einem Raum souffli erung von Kérpercharakteristika wie Atemfihrun! starkern schuf so zuerst nicht Prasenz und Nahe, sondern irrealisierte mit diesen filmischen Mitteln das physisch Prisente zu einer imaginaren filmischen Projektion.!5 Diese Trennung mit Hilfe von Mikros und dank der Sound Designer hat nicht nur den Antagonismus zwischen dem auf der Bilhne pri en- ten visuellen Kérper und dem durch die Stimme projizierten Klangkér- en zwischen Kérper perbild unterstrichen, sie hat auch neue Solidari und Stimme geschaffen: So wird zum Beispiel fiir die Wahrnehmung dank Microport und Lautsprecher ein in der Ferne gesehener Kérper durch ein close up der Schauspiclerstimmen nahegeriickt oder ein an der Rampe prisenter Kérper durch die Ubertragung der Stimme in einem Lautsprecher auf der Hinterbithne auditiv in die Biihnentiefe katapul- tiert.!® Diese Verfahren profitierten in der Tat von dem verosimile kine- matographischer Erfahrung, konnten aber zugleich auch den Mechanis- mus der Audioyision durch die technische ‘Ir nnung von physisch entem Kérper und Stimme bewusst machen. Mit der Vervielfalti- h die Subverticrung der pris gung der Antagonismen zwischen visuellem Kérperbild und dur Stimme projiziertem Klangkrperbild geht auch di Wahrschcinlichkeit des sexuellen Genres oder sozialen ‘Typus einher. versetzt und Angenommene kérperliche Identititen werden in Proz: als gesellschaftlich und kulturell kodiert erfahrbar.!7 Dramat erungen des Ursprungs I: Angesichts des grofen Lirms Heute ten cine Pluralitit von schlagen cine Vielfalt von Stimmmodali Kérperbildern und mit ihnen verschiedene Urspriinge der Stimme vor:!8 Die imaginire Verankerung der Stimme in einer Physis drama- tisiert biologische und hysterische Kérper, die Verankerung in einer Muttersprache stellt emphatisch ethnische Sprachkérper aus. Die Dra- isentiert Kérper matisicrung der Musikalitat der Sprache des Textes pr der Sprachlust als Ergebnis singulirer oder gemeinschaftlicher Er- fahrung. Eine Dramatisierung des Mythos eines einzigen Ursprungs der Stimme bringt seit wenigen Jahren auch eine Intervokalitat ins Spiel,! die in ciner einzelnen Rolle den Vortrag durch den Wechsel punktueller Stimmaualitaten oder das Zitieren von durch Timbre und Melos charakterisierten historischen Stimmen oder gesellschaftlichen 136 Stimmkirperbilder und theatralen Elokutionstypen stratifiziert wie der Orlando von Isabelle Huppert, der Hamlet Robert Wilsons, der Arturo Ui oder Danton yon Martin Wuttke oder Sandro Lombardis Vei vanni Testoris Ambleto. sion von Gio- Neben dieser vertikalen Theatralit: , die den physisch prisenten K6rper des Schauspielers durch einen Tanz. seiner multiplen Stimmkér- per vervielfaltigt, findet sich auch eine horizontale Theatralitat, die Ergebnis der Konfrontation von /ive-Stimmen und aufgenommenen Stimmen ist, welche durch Vocoder und Sampler transformiert werden kénnen. Hier wire u. a. das Beispiel der Wooster Group zu nennen oder auch das Theater Heiner Goebbels?!. Die Schaffung solcher Stimmraume erweitert nicht nur die Grenzen des ‘Theaters zum Musiktheater, sondern dramatisiert zugleich die Mythen des Ursprungs der Stimme. Doch ein weiterer Aspekt tritt hinzu. Heute hat das Theater eine Antwort auf die in den letzten dreifig, Jah- ren zu ciner Soundlandschaft mutierte Umwelt zu geben, in der die Anweisungen der Bordcomputer, das Klicken der Videospiele, das Liu- ten der Handys, das Piepen der Laptops und die Gehdrbelistigung durch dudelnde oder mit Beat insistierende Hintergrundmusik die Gesellschaft des Spektakels in das betiubende Zwangsbad gemein- schaftlicher aquae maternae tauchen. Denn diese Gesellschaft insze- niert ihren phantasmatischen Ursprung als die gemeinschaftliche chora einer Gerauschkulisse. Das Theater, das die Biihne in ein cinheitliches Soundbad eintaucht, den elektronischen Sound ohne Alternative zur cinzigen Stimmmodalitat macht, ist lingst Teil eines solchen Spektakels geworden. Doch neben den schon genannten Formen der Stimmthea- tralitat ist hier eine weitere Antwort besonders hervorzuheben: Eine Reaktion auf diese gesellschaftlich oktroyierte und delegierte sprachlose sonore Lust zeigt sich nimlich auch als ein Experimenticren mit dem Rauschen der Sprache, mit der Lust am Sinn und der Stille. Hierfiir werden oft auch nicht professionelle Stimmen eingesetzt, die cin Verhaltnis zu Kérper und Sprache in singulirem grain und sin- gulirem Melos ausstellen. Andere nehmen die Herausforderung dieser lauten Sprachlosigkeit auf, indem sie die Theatralitit der Stimme von neuem in ihrer Bezichung zur Sprache und zum Text erforschen. Denn das Verhilinis zum ‘Text, dramatisiert als Fremdkorper (Hans-Thies sem Sound-Laby Lehmann), scheint einer der Wege, die wohl aus di rinth zu fiihren yermagen. . Eine solche Antwort scheinen mir die schon seit Jahren laufenden Recherchen von Claude Régy zu sein, die sich um die Epiphanie des 137 Helga Finter Wortes und des szenischen Bildes drehen, u. a. zuletzt mit MELANCO- LIA von Jon Fosse und 4.48 PsyCHOsE von Sarah Kane; ahnlich auch Francois Tanguy mit CHORALE oder Marthaler mit Was IHR WOLLT. ch strukturierten Verhaltene Stimmen driicken den in sich musikalis dramatischen Texten ein persénliches Melos auf und lassen, an der Grenze zum Horbaren, ein Rauschen des Kérpers und d. prache bzw. des Textes hdren. Zugleich machen sie auch mit einem grain der Stim- me, ihrer Klangfarbe den ohne Unterlass changierenden kérperlichen Ein auditiver poten- r das Ohr den Ande- Pol der Bezichung zur Stimme sinnlich erfahrba zieller Raum, ein anderer Raum transfiguriert so ren und das Andere hysterisch verkrampfter Identititen. Das Theater hat immer schon die Symptome der Gesellschaften son- e fiir die diert, Es scheint heute mit seinem immer gréferen Inter alten Rhetoriken der Eloquenz und des Ausdrucks auch vom fort- schreitenden Riickzug des 6ffentlichen Wortes zu zeugen. Denn das ‘Theater erhebt auch seinen Einspruch und Anspruch in einer Gesell- schaft, die seit mehr als zwanzig Jahren das integrierte Spektakulire (Guy Debord) zu ihrem movens gemacht hat und in der dem Geschwatz der Medien die Verarmung des Wortschatzes und der Gram- matik entsprechen. Selbst der Kérper der Sprache scheint beschadigt; heute lassen Kinder und Jugendliche Stimmen héren, deren Prosodie sich am sakkadierten Klicken, Piepen und Rasseln von Videospiclen und japanischen Comics modelliert. To You, THE Birpib! (PHEDRE) der New Yorker Wooster Group von 2002 scheint u. a. sehr wohl diese neue Rhetorik, die heute manch prosodischen Ausdruck modelliert, im Sinn gehabt zu haben, wenn mit clektronischen Klingen und Gongs der Text Racines punktiert wird. Denn heute formen auch die Medien die Stimmen yor. Die ‘Teilnehmer von ‘Talk Shows miissen sich so nicht mehr dem Medium anpassen, sie sprechen wie das Medium, das sie sozialisiert hat.2? So klingen viele Stimmen, die heute auf der Biihne zu ien, nach héren sind, wie die platten Synchronstimmen der Fernschs deren Vorbild sie sich ausformten. Im Anschluss an John Jesurun lisst zum Beispiel René Pollesch diese Stimmen héren, dramatisiert jedoch ihren TV-Ursprung, indem er durch Schreiarien den in ihnen abwesen- den Kérperaffekt zu injizieren sucht. Affekte bleiben jedoch sprachlos, solange die Sprechstimme keinen affektiven Bezug zum Gesagten zu entwickeln vermag: So werden paranoide Stimmausbriiche als Sympto- me inszeniert; Robert Wilson hatte sie schon 1978 mit | Was SrrTiNG ON My Patio, Tuts Guy Apprareb, | THOUGHT I WAS HALLUCINA- TING héren las en.23 Stimmkérperbilder Dieser noch dem Glauben an einen kérperlichen Ursprung der im Schrei sich auflésenden Stimme verhafteten Reaktion stehen Antworten gegeniiber, welche die Mutation der Miindlichkeit auch im Anschluss an Artaud als Ang iff auf den physischen srper dramatisieren. Die endo- skopische Projektion der Stimmorgane in Aktion bei Romeo Castelluc- cis GIULIO Crsark, die er der rhetorischen Rezitation mit beschadigten oder manipulierten Stimmorganen gegeniiberstellt, problematisiert eine emphatische Verortung des Ursprungs der Stimme im biologischen Kérper durch die ObszSnitit dieser Geste, die medizinische Operation S#08, TRAGEDIA ENDOGONIDIA, welche jiingst in Stra&burg zu sehen war, dramatisiert die Abwesenheit der vernehmbaren Stimme in Bilderratseln, fiir die Diirers MELANCOLIA mit ihrem Polyeder Pate gestanden hat. Doch dieses Bildertheater spricht nur fiir den, der seine zugrunde liegenden Texte als abwesende Stimmen mitzuhéren vermag: Dantes Vorhille mit ihren ziellos ren- nenden Verdammten oder die Choreographie der in Pearl Harbour nach Hiroshima von Soldaten wieder aufgerichteten Stars and Stripes-Flagge zum Beispiel, die mit einer nun roten Fahne von afrikanischen Rebellen im Battledress nachgespielt wird. Wie schon der zweite Akt seiner GENESI. FROM THE MUSEUM OF SLEEP von 1999, der die Stille und linguistisches Verfahren, italienisch operazione, gleichsetzt die achte ‘pisode seines work in progres: prachlo- ser Gewalt, die »Ruinen der Sprache« mit dem hebriischen Bereshit der Bibel konfrontiert, vorgetragen im Ton des Totengebets des Kaddish, sagt uns Ca stelluccis Theater, dass der Krieg gegen die Sprache nur die Monster der Gewalt und des Todes gebiiren kann. Alternative kénnte hingegen die stimmliche Gewalt sein wie in Castelluccis CONCERT SYM PHONIQUE INSTANTANE von Louis Ferdinand Célines VOYAGE AU BOUT DE LA NUIT in Avignon 1999: Hier wird die Lust der Stimmklangkérper zur Lust am vielfachen Sinn des Textkérpers vor dem Horizont des omniprisenten Todes transfiguriert. Dieser rahmt mit der reiterierten Filmprojektion eines erten Pferdekadavers tiber der Biihne und mit dem ausgestopften Pferdekadaver vorne auf dem Biihnenboden den visuellen Raum. Die Stimmen erscheinen hier als dem ‘Tod abgerungen, als das Leben, das auf der Folie des Todes erst zu sprechen beginnt. In einem Tagebucheintrag vom 5. November 1911 beschreibt Pranz Kafka den heimischen grofen Larm, gegen den er mit seinem Schreiben Widerstand zu leisten sucht. Der Schriftsteller und auch das ‘Theater haben heute gegen einen weiteren Lirm anzukimpfen, der dem Krieg, gegen die Sprache und mit ihm gegen das Sprachwesen entspringt. Das Rauschen der Sprache, das Kafka damals mit einer beunruhigenden Fas 19 Helga Finter zination in den Versen entdeckte, die anstelle des Schauspiclers Alexan- der Moissi sich verlauten lie&en, kiindet den notwendigen Widerstand gegen die kommenden Angriffe auf den Kérper der Sprache an. Nach dem ersten Weltkrieg brauchten dic Bithnen Moissis Stimmen-Kunst nicht mehr; schr bald nahmen die Stimmkérper politischer Akteure? ihren Platz. in den Herzen der Massen ein, um mit ihrem Larm den Krieg gegen die Kérper und die Schrift einzuliuten. Mit ihrem persénlichen Melos und ihrem schrecklichen ‘Timbre, verbunden mit einer geschickten Rhe- torik machten sie fiir viele den Kampf gegen das Volk des Buches im Namen cines einzigen biologischen Ursprungs des Menschen plausibel. Die obszéne Lust dieser Stimmen hatte fiir lange die vokale Theatralivit von den Biihnen verbannt. Doch grain und persénliches Melos einzel- ner Stimmen vermochten zu iiberleben und leben auch heute noch wei- ter—fast so wie Dostojewski es imaginierte-, um so das Weiterleben nach dem physischen Tod zu behaupten. Wir kénnen diese Stimmen zusammen mit den Stimmen von Lebenden manchmal heute auf der Bihne héren, wie zum Beispiel die Stimmen der jiidischen Kantoren timme von Heiner Miiller in Heiner Goebbels SCHWARZ AUF Weiss. So scheint mir die Herausforderung des heutigen Theaters eine oder die doppelte: Kinerseits geht es darum, Sprachwesen zu zeigen, die durch stimme und der Stimme der Sprache ent- cinen, zwischen einer Kirp falteten vokalen Raum projiziert werden; doch zugleich auch gilt es, das Gewaltpotenzial jeglichen Versuches hérbar zu machen, der die Stimme auf einen der beiden Pole zu reduzieren sucht. Das Schicksal einer kri- tischen und analytischen ‘Theatralitit der Stimme auf der Bihne wird vom Gelingen einer solchen Dramatisierung ihrer Ursprungsmythen abhiingen. Mit den Worten Luca Ronconis in einem kiirzlich gefiihrten G gegentiber dem Sprechenden, was mehr Freiheit fiir poetisch struktu- sprich kénnte die Devise lauten: Etwas mehr Freiheit fiir das Wort rierte Texte und damit fiir ein Verlauten des Textkérpers heifen kénnte. Dostojewski, E.M.: Bobok, S. 639, in: ders.: Der Spieler. Spate Romane und Novellen, Samtliche Werke in zchn Banden, aus dem Russischen dibersetzt von E.K. Rahsin, Minchen/Ziirich 1977/1988, S. 631-656. * So seine Aufzeichnung von Goethes Ertkdnig. Vgl. Finter, Helga: »Antonin Artaud and the Impossible Theatre. The Legacy of the Theatre of Cruelty, in: The Drama Review 41 (1997), S. 15—40. Kafka, Franz: Tagebiicher in der Fassung der Handschrift, hrsg. von Hans-Gerd Koch/Michael Miiller/Malcom Pasley, Frankfurt/M. 1990, S. 393-395: Vgl. Bernard, Michel: Mexpressivité du corps, Paris 1976. Er gehrt zu den wenigen, welche die Frage des Ausdrucks auf dem Theater schon sehr friih in den Vordergrund stellten. Vgl. auch Martin, Jacqueline: Voice in Modern Theatre, London/New York 1991; Géutert, Karl-Heinz: Geschichte der Stimme, Miinchen 1998; Meyer-Kalkus, 140 6 7 18 19 21 Stimmkérperbilder Reinhart: Stimme und Sprechkiinste im 20. Jahrhundert, Berlin 2001. Vel. Finter: »Autour de la voix au théatre: voie de texte ou texte de voix?«, in: Ovalita, Cultura, letteratura, discorso, Atti del convegno internazionale (Urbino 21-25 luglio 1980), hrsg. von Bruno Gentili/Giuseppe Paioni, Florenz 1982, S. 663-674; ebenfalls abgedruckt in: Performances, Text(e)s & Documents. Actes du colloque: Performance et multidisciplinarité: Postmodernisme 1980, hrsg. von Chantal Pontbriand, Montreal 1981, S. 1011095 vgl. auch: »'Théatre expérimental et sémiologie du theatre: La théatralisation de la voix«, in: Théatralite, écriture et mise en scone, hrsg, von Josette al, Quebec 1985, $. 141 ~ 164; sowie dic englische Ubersetzung: »Experimental ‘Theatre and Semiology of Theatre: The Theatricalization of Voices, in: Modern Drama 4 (1985), $. 510-517; sowie die gekiirzte deutsche Version: » Die Theatralisicrung der Stimme im Experimentaltheaters, in: Zeichen und Realitiét. Akten des 3. semiotischen Kolloquivms Hamburg 1981, hrsg. von Klaus Ochler, Tubingen 1984, S. 1007-1021. Finter: Der subjektive Raum, 2 Bde., Taibingen 1990. Vel. hierzu ebd., Bd. 1, S. 9-20; sowie Finter: »Theatre in a Society of Spectacles, in: Dramatized Media/ Mediated Drama, hrsg, von Eckard Voigts-Virchow, Trier 2000, 43~55; deutsch: »Kunst des Lachens, Kunst des Lesens: Zum Theater in einer Gesellschaft des Spektakelss, in: Moderne(n) der Jabrhundertwenden, Spuren der Moderne(n) in Kunst, Literatur und Philosophie auf dem Weg ins 21, Jahrhundert, hrsg. von Vittoria Borsd/Bjérn Goldhammer, Baden-Baden 2000, S. 439-451; Finter: »Especticulo de lo real o realidad del espectaculo? Notas sobre la teatralidad y el teatro reciente en Alemanias, in: Teatro al Sur 25 (2003), 8. 29-3 Finter: »Les corps de audible: Theatralités de la voix sur scenes, in: Théatralité et performativité, hrsg, von Josette Féral, Paris 2004 [im Druck]. Barthes, Roland: »Le bruissement de la lar Vers une esthétique sans entraves. Mélanges Mikel Dufrenne, Paris 1975. | Finter: »Komik des Sprachkdrpers: Corneilles >Le Menteur: und die Komik des Verses«, in: Der komische Kérper, hrsg. von Eva Erdmann, Bielefeld 2003, S. 230-238 Vgl. Dies.: »Sprechen, deklamieren, singen: Zur Stimme im franzésischen Theater des 17. Jahrhunderts«, in: Das Schone im Wirklichen— Das Wirkliche im Sebonen. Festschrift fiir Dietmar Rieger zum 60, Geburtstag, hrsg, von Anne Amendt-S u. a., Heidelberg 2002, $. 81-91, Barthes: Sollers, écrivain, Paris 1979; vgl. zu Sollers: Finter: »Die Videoschrift eines Atems. Philippe Sollers, Schriftstellers, in: Das Schreibheft 26 (1985), 8. 21-28. Vgl. zu Timbre und Melos: Finter: »Mime de voix, mime de corps: Lintervocalité sur scenes, in: Théatre: Espace sonore, espace visuel, hrsg. von Christine Hamon- Siréjols/Anne Surgers, Lyon 2003, 8. 71-87. . Vel. Finter: »Sinntriften vom Dialog zum Polylog. Uber Richard Foremans rémisches Stick »Luogo + Bersaglio««, in: Theater heute 9 (1980), 8. 23 ~25, dies.: »Die soufflierte Stimme. Klangtheatralik bei Schoenberg, Artaud, Jandl, Wilson und anderens, in Theater heute | (1982), 8. 45~51 Dies.: »Das Kameraauge des postmodernen Theaterss, in: Strdien zur Asthetik des Gegenwartstheaters, hrsg. von Christian W. Thomsen, Heidelberg 1985, S. 46— 70. Vel. Dies.: »Der Kérper und seine Doubles: Zur Dekonstruktion von Weiblichkeit auf der Biihnes, in: Forum Modernes Theater 1 (1996), 8. 1531; engl. Version: »The Body and its Doubles: On the (De)Construction of Feminity on Stages, Women & Performance. A Journal of Feminist Theory: Staging Sound 18 (1998), 8. 18~ 141 Ebd. Val. Dies.: »Corps proférés et corps chantés sur scenes, in: Puissances de la voix. Corps sentant, corde sensible, hrsg, von Sémir Badir/Herman Parret, Limoges 2001, $. 173-188 Vel. Dies.: »Mime de voix, mime de corps: Lintervocalité sur scenes sowie dies. »Intervokalititit auf der Buhnes, in: Stimmen, Klinge, Tone ~Synergien im szenischen Spiel, hrsg. von Hans Peter Bayerndrfer, Tubingen 2002, 8. 39-49. . Vgl. Siegmund, Gerald: »Stimm-Masken: Subjektivitat, Amerika und die Stimme im Theater der Wooster Groups, in: Stimmen, Klinge, Tone ~Synergien im szenischen Spiel, S. 68-79; vgl. auch den Vortrag von Schreiber, Daniel: »Die schiine Stimme, Vokale Signaturen von Asthetizitit, Faszination und Begehren«, gehalten am 26. Marz 2004 im Rahmen der Tagung »Kunst-Stimmen. Auditive Inszenierungen im Spannungsfeld von Live-Performance und Aufzeichnungs. . Finter: »Der imaginire Kérper: Test, Klang und Stimme in Heiner Goebbels’ Theaters, in: Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung, hrsg. von Wolfgang Sandner, Berlin 2002, S, 108-113. Vel. Winkels, Hubert: »zungenentfernung, Uber sekundire Oralitit, Talk-master, TV ‘Trainer und Thomas Klings, in: Das Schreibhefe 47 (1996), 8. 131= 138. Vel. Finter: »Die soutflierte Stimme. Klangtheatralik bei Schoenberg, Artaud, Jandl, Wilson und anderens Vgl. Schaper, Riidiger: Moissi. Triest. Berlin, New York, Eine Schanspielerlegende, Berlin 2000. utes, in: der schting 141

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