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Protokoll zum Seminar Ästhetische Urteilskraft bei Dr.

Lucian Ionel
5. Sitzung vom 08.11.2023
Protokollant: Jon Goiri-Dittrich
Gegenstand: KU Einleitung allgemein, im besonderen die Abschnitte VIII und IX.

5. Sitzung

In der letzten Sitzung wurde auf Fragen eingegangen und es wurden Unklarheiten über einige
kantische Begrifflichkeiten ausgeräumt.

1. Das „Spiel der Erkenntnisvermögen“


Als erstes stellte Herr Ionel den Begriff vom „Spiel der Erkenntnisvermögen“ nochmals klar.
Es handelt sich nicht um das Spiel eines einzigen Erkenntnisvermögens, sondern stets mehrerer
Erkenntnisvermögen (der Einbildungskraft mit dem Verstand und der praktischen Vernunft),
welche in der reflektierenden Urteilskraft gleichzeitig tätig werden und in der Erfahrung von
Schönheit subjektiv miteinander übereinstimmen.
Um uns die Tätigkeit der Vermögen, die in der reflektierenden Urteilskraft im Spiel sind,
besser vorzustellen, benutzten wir folgendes Bild: die Vorstellung des Gegenstandes wird von
einem Vermögen einem anderen Vermögen zugespielt. Der Verstand versucht die Vorstellung
einem Begriff unterzuordnen, scheitert dabei und gibt die Vorstellung an die (praktische)
Vernunft weiter, welche ihrerseits vergebens versucht, einen Zweck darin zu finden, sodass die
Vorstellung wieder an den Verstand gelangt usw.
Es handelt sich daher um ein freies Spiel der Erkenntnisvermögen, das durch keinen
bestimmten Begriff, keiner besonderen Erkenntnisregel eingeschränkt ist. Trotzdem herrscht
hier kein Chaos, da das freie Spiel der Einbildungskraft mit der Gesetzmäßigkeit des Verstandes
und der Vernunft übereinstimmt.
Als Konsequenz dieser Harmonie zwischen Erkenntnisvermögen stellt sich das Gefühl der
Lust ein. Obwohl die ästhetische Erfahrung eine Synthesis ohne Zweck und ohne Begriff ist,
erscheint uns die Ordnung in bzw. an der Natur als zweckmäßig. Dies erlaubt uns, den Übergang
von der Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit der Natur zum Reich der Freiheit und der Zwecke
zu denken. Der praktischen Vernunft wird in der ästhetischen Erfahrung die Möglichkeit eröffnet,
ihre Zwecke in der Welt zu realisieren.

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2. Poiesis, „poetisch“ und die „poetische Ordnung“
Das Adjektiv „poetisch“ kommt von poiesis. Poiesis bedeutet auf Griechisch „hervorbringen“,
„erzeugen“. In der teleologischen Urteilskraft erfahren wir Gegenstände in der Natur als ob sie
von einem Verstand technisch hervorgebracht worden wären. Poiesis bedeutet aber auch
„dichten“. Die unergründliche Ordnung, die zwischen unseren Erkenntnisvermögen und der
Natur besteht, ist eine solche, die nicht einfach da ist, sondern eine zu deren Herstellung wir
auch aktiv beitragen, insofern wir in der ästhetischen Erfahrung dazu angeregt und
herausgefordert werden, diese Ordnung als Einheit selbst dichterisch zu deuten.

3. Warum werden die ästhetische und die teleologische Urteilskraft im selben Werk
abgehandelt?
Hierzu wurde erstmal eine Antwort nur angedeutet und zwar, dass die subjektive
Zweckmäßigkeit, welche die ästhetische Urteilskraft an der Natur empfindet, uns überhaupt
ermöglicht später Lebewesen in der Natur als objektiv zweckmäßig zu beurteilen und ferner die
Zwecke des menschlichen Willens in der Natur als realisierbar vorzustellen.
Zur Beantwortung dieser Frage wurde später auch der vorletzte Absatz des letzten
Abschnitts in der Einleitung herangezogen und kurz erläutert. Der Verstand befasst sich nur
mit der Natur als Erscheinung und lässt das „Ding an sich“ als das Übersinnliche „gänzlich
unbestimmt“1. Die reflektierende Urteilskraft mit ihrem Prinzip der Zweckmäßigkeit ermöglicht
es, den übersinnlichen Gegenstand, der durch den menschlichen Willen (die reine, praktische
Vernunft) bestimmt werden soll, erst als durch diesen bestimmbar zu denken. Das höchste Gut
als das a priori gegebene Objekt des moralisch bestimmten Willens erscheint somit nicht als ein
bloß von unserer Subjektivität Gesetztes, da die an der Natur erfahrene „Zweckmäßigkeit ohne
Zweck“ bereits auf die Möglichkeit eines solchen höchsten Guts hindeutet. Die ästhetische
Urteilskraft bringt die Urteilskraft vom bloß einseitig Subjektiven auf die Ebene der Rezeptivität.
Das Prinzip der Zweckmäßigkeit wird hier nicht mehr wie in der KrV bloß regulativ von außen
an die Natur herangetragen, sondern Zweckmäßigkeit wird in der Beziehung zwischen dem
Subjekt und der Natur erfahren. Auf diese Weise ermöglicht die Urteilskraft den Übergang vom
Gebiet des Naturbegriffs zum Gebiet des Freiheitsbegriffs.

4. Die „objektive Zweckmäßigkeit“ oder der „Naturzweck“


Es handelt sich hierbei nicht mehr um eine subjektive „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ sondern
um eine Zweckmäßigkeit mit Zweck, die auf ein Objekt bezogen ist. Wir betrachten sie an

1 Kant: KU, AA 5, S. 196.

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Organismen bzw. Lebewesen in der Natur. Kant bezeichnet Lebewesen als „Naturzwecke“,
weil in ihnen die Teile zweckmäßig auf die Erhaltung des Ganzen ausgerichtet sind und das
Ganze auch um der Teile willen existiert, sodass alles in einem Organismus Zweck und
wechselseitig auch Mittel ist.
Der Begriff der Zweckmäßigkeit ist nicht konstitutiv für die naturwissenschaftliche Erkenntnis
von Lebewesen, aber regulativ für unseren Verstand, insofern er damit beschäftigt ist, die Form
von Lebewesen für sich nachzuvollziehen. Weil der Verstand unfähig ist, die Form von
Organismen rein als Wirkung von mechanischen Naturgesetzen zu begreifen, bedient er sich
der teleologischen Beurteilung selbst in der Naturforschung, wenngleich auf problematische
Weise.2
Im dritten Kapitel der Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft behandelt Kant unter
Lehrsatz 3 das zweite Gesetz der Mechanik, welches besagt: „Alle Veränderung der Materie hat
eine äußere Ursache.“3 In der Anmerkung nennt er dieses Gesetz „das Gesetz der Trägheit (lex
inertiae)“4 und erläutert später, dass „die Möglichkeit einer eigentlichen Naturwissenschaft ganz
und gar“5 auf diesem Gesetz (neben dem der Beharrlichkeit der Substanz) beruht. D.h. eine
naturwissenschaftliche Erklärung der Bewegung und Veränderung der Materie muss nur das
Kausalgesetz voraussetzen. Alles muss im Bereich der Naturwissenschaft durch äußere
Ursachen erklärt werden und es darf niemals ein Zweck angenommen werden. Das Phänomen
des organischen Lebens widerspricht jedoch scheinbar diesem Gesetz. Hierzu sagt Kant:

„Leben heißt das Vermögen einer Substanz, sich aus einem inneren Prinzip zum Handeln, einer endlichen
Substanz, sich zur Veränderung, und einer materiellen Substanz, sich zur Bewegung oder Ruhe, als
Veränderung ihres Zustandes, zu bestimmen. Nun kennen wir kein anderes inneres Prinzip einer
Substanz, ihren Zustand zu verändern, als das Begehren, und überhaupt keine andere innere Tätigkeit,
als Denken, mit dem, was davon abhängt, Gefühl der Lust oder Unlust und Begierde oder Willen.“6
Wir betrachten Lebewesen nicht deswegen als zweckmäßig, weil es naturwissenschaftlich so
erforderlich wäre (die Wissenschaft sollte nur nach einer mechanistischen Erklärung suchen),
sondern weil wir selbst zweckmäßig handeln. Wir hätten auch gar keinen Begriff vom
Lebendigen, wenn unsere Tätigkeit (Denken, Begehren) nicht zweckmäßig wäre, denn der
Begriff eines Lebewesens, eines „Naturzwecks“ ist an sich ein Widerspruch. Dieser
Widerspruch besteht darin, dass etwas als natürlich (mechanistisch, nicht zweckmäßig) und
gleichzeitig als zweckmäßig (teleologisch) vorgestellt wird. (z.B.: Die Leber hat rein

2 Vgl. Kant: KU, AA 5, S. 360.


Der Tierarzt könnte beispielsweise, nicht beurteilen, dass die Flügel eines Vogels defekt sind, wenn er nicht den
Vogel bzw. die Organe in ihm als zweckmäßig betrachten würde.
3 Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 9, Frankfurt am Main 1977, S. 109.
4 Ebd.
5 Ebd. S. 110.
6 Ebd. S. 109–110.

3
mechanistisch betrachtet keinen Zweck und doch beurteilen wir sie im Ganzen des Organismus
als Ursache und Wirkung desselben, als Mittel und zugleich als Zweck.)
Am Ende der Sitzung wurde zur Klärung des Begriffs auf den ersten Absatz vom achten
Abschnitt der Einleitung aufmerksam gemacht. Kant spricht deshalb von „objektiver
Zweckmäßigkeit“, weil der Begriff der Zweckmäßigkeit in Organismen der Natur zur Darstellung
kommt. Zweckmäßigkeit ist dort nicht nur eine subjektive Lust, sondern der Begriff kann auf
der objektiven Seite angeschaut werden.7

7 Vgl. Kant: KU, AA 5, S. 192–193.

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