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Von Kant zu Hegel

Vorlesungszyklus gehalten von PD Dr. Tobias Dangel


im Wintersemester 2021/22 an der Universität Heidelberg

10. Vorlesung
Zu Hegels Wahrheitsbegriff

In der letzten Vorlesung hatten wir uns die Frage gestellt, wie sich die Hegelsche Philosophie
angesichts der Fülle der Gegenstände, die in ihr einer systematischen Betrachtung unterzogen
werden, am zutreffendsten charakterisieren läßt. Zu diesem Zweck hatten wir den § 1 der
Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften einer genauen Lektüre unterzogen und
einige Implikationen entfaltet, die sich aus Hegels Positionierung ergaben. In § 1 exponiert
Hegel nämlich seinen Begriff der Philosophie und sagt uns, was er unter Philosophie versteht.
Sein gesamtes System, wie es in der Enzyklopädie im Grundriß entfaltet wird, muß dann
zugleich als die Rechtfertigung eben dieses Philosophiebegriffs angesehen werden, der in § 1
ungerechtfertigt und somit ein bloß vorausgesetzter Begriff ist. So heißt es in § 1 – ich bringe
den Passus hier noch einmal:
„Die Philosophie entbehrt des Vorteils, der den anderen Wissenschaften zugute kommt,
ihre Gegenstände als unmittelbar von der Vorstellung zugegeben sowie die Methode des
Erkennens für Anfang und Fortgang als bereits angenommen voraussetzen zu können. Sie
hat zwar ihre Gegenstände zunächst mit der Religion gemeinschaftlich. Beide haben die
Wahrheit zu ihrem Gegenstande, und zwar im höchsten Sinne – in dem, daß Gott die
Wahrheit und er allein die Wahrheit ist. Beide handeln dann ferner von dem Gebiete des
Endlichen, von der Natur und dem menschlichen Geiste, deren Beziehung aufeinander und
auf Gott als auf ihre Wahrheit.“
In § 1 erklärt Hegel, daß die Philosophie und die Religion denselben Gegenstand haben und
daß dieser Gegenstand die Wahrheit ist. Die Wahrheit bildet den gemeinsamen Boden, auf
dem Philosophie und Religion stehen und durch die sie inhaltlich miteinander verbunden sind.
Hegel läßt uns ferner wissen – auch darüber haben wir beim letzten Mal schon gesprochen –,
daß Philosophie und Religion nicht nur überhaupt die Wahrheit zu ihrem Gegenstand haben,
sondern die Wahrheit in ihrem höchsten Sinne. Dieser höchste Sinn der Wahrheit aber ist, daß
Gott die Wahrheit und er allein die Wahrheit ist. Dabei impliziert Hegels Rede vom höchsten

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Sinn der Wahrheit, daß es auch einen niedrigeren, d.h einen nicht so hohen oder
eingeschränkten Sinn derselben gibt und daß die Wahrheit nach diesem ihren niedrigeren Sinn
gerade nicht Gott ist. Was folgt hieraus für Hegels Bestimmung der Philosophie? Als
Wissenschaft ist Philosophie Wissenschaft von der Wahrheit und dergestalt Wissenschaft von
Gott. Man könnte daher auch sagen, Philosophie ist Aletheiologie und in eins damit
Theologie, weil für Hegel der θεός eben der höchste Sinne der ἀλήθεια ist – ähnlich wie
übrigens für Aristoteles im XII. Buch der Metaphysik. Wir erfahren in § 1 ferner auch, daß die
Philosophie ebenso wie die Religion zuerst von der Wahrheit bzw. von Gott handelt und erst
im Anschluß hieran vom Endlichen, der Natur, dem menschlichen Geist und ihrer Beziehung
aufeinander sowie von der Beziehung der ganzen Sphäre des Endlichen auf Gott als auf ihre
Wahrheit. Die Wahrheit, von der Hegel gleich zu Beginn der Enzyklopädie spricht, muß
darum als eine unendliche und für sich selbständige Wahrheit verstanden werden, die darum
absolut ist, während die Natur, der menschliche Geist und ihre Beziehung aufeinander eine
Sphäre bilden, deren Wahrheit nicht nur von der unendlichen Wahrheit unterschieden ist,
sondern denen auch nur durch die unendliche Wahrheit überhaupt Wahrheit zukommt, was
heißt, daß sie als Momente der unendlichen Wahrheit und darüber als Momente Gottes,
genauer als Momente in Gott zu begreifen sind. Insofern die Sphäre des Endlichen – Natur
und menschlicher Geist – die von der unendlichen Wahrheit Gottes unterschiedene, obgleich
nicht getrennte Sphäre ist, stehen Natur, menschlicher Geist und ihre Beziehung aufeinander
für den niedrigeren Sinn der Wahrheit. Sie haben nicht aus sich selber Wahrheit, sondern
Wahrheit kommt ihnen nur in Beziehung auf die unendliche Wahrheit Gottes zu, was
impliziert, daß die Wahrheit des Endlichen, eine unselbständige Wahrheit ist.
Wenn Hegel in § 1 auf eine Wahrheit rekurriert, die nach ihrem höchsten Sinne Gott
ist, drängt sich allerdings die Frage auf – und damit wollen wir uns heute beschäftigen – was
Hegel eigentlich unter Wahrheit genau versteht und wie sein Wahrheitsbegriff beschaffen ist,
damit einerseits Gott als die Erfüllung dieses Begriffs verständlich werden und andererseits
die Wahrheit mit dem Gedanken von einer selbständigen Unendlichkeit, die ein
gegensatzloses, allbefassendes Ganzes ist, zur Deckung gelangen kann. Im Zentrum der
heutigen Vorlesung soll daher eine Profilierung von Hegels Wahrheitsbegriff stehen. Zu
diesem Zweck werde ich in drei Schritten vorgehen. Im ersten Schritt wird Hegels
Unterscheidung zwischen einer formellen und einer objektiven Wahrheit umrissen – eine
Unterscheidung, aus der ersichtlich wird, daß Hegels Wahrheitsbegriff im Kern ein
ontologischer ist. Im zweiten Schritt wird es sodann um die Frage gehen, inwiefern Hegel den
Begriff der Idee ins Zentrum seiner Ontologie der Wahrheit stellt, während ich im dritten

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Schritt fragen möchte, warum nur diejenige Bestimmung, die Hegel den absoluten Geist
nennt, seinen ontologischen Wahrheitsbegriff vollständig erfüllt, so daß der absolute Geist die
eine, selbständige und unendliche Wahrheit ist, die für Hegel den philosophischen Begriff von
Gott ausmacht.

I.) In der Enzyklopädie, aber auch in der Wissenschaft der Logik spricht Hegel an
verschiedenen Stellen von der Wahrheit. Vergleicht man diese Stellen, dann zeigt sich, daß
Hegel generell zwischen einer Wahrheit im eigentlichen Sinne, die er auch die philosophische
Wahrheit nennt, und einer bloß formellen Wahrheit, bei der es sich um die Wahrheit im
uneigentlichen Sinne handelt, unterscheidet. Die bloß formelle Wahrheit wird von Hegel
dadurch charakterisiert, daß sie Wahrheit in Bezug auf das erkennende Bewußtsein bzw. den
endlichen Geist ist, für den die Unterscheidung von Ich und einem dem Ich entgegengesetzten
äußeren Gegenstand, einem Nicht-Ich, konstitutiv ist. Für Hegel ist die Sphäre des
Bewußtseins diejenige Sphäre, die durch die Subjekt-Objekt-Trennung charakterisiert ist –
und es ist eigentlich auch nur diese Sphäre, wo diese Trennung angetroffen wird. So heißt es
im Zusatz zu § 413:
„Weil das Ich nur erst das ganz abstrakt Subjektive, das bloß formelle, inhaltslose Sich-
von-sich-Unterscheiden ist, so findet sich der wirkliche Unterschied, der bestimmte Inhalt
außerhalb des Ich, gehört allein den Gegenständen an.“
Darüber hinaus versteht Hegel die formelle Wahrheit adäquationstheoretisch als die
Übereinstimmung von Vorstellung und Gegenstand. Mit Blick auf die Kritik der reinen
Vernunft scheint sich Hegel hinsichtlich dessen, was er formelle Wahrheit nennt, durchaus an
Kants Namenserklärung der Wahrheit in der Transzendentalen Logik, genauer im Kapitel
über die Einteilung der Allgemeinen Logik in Analytik und Dialektik zu orientieren, wo Kant
schreibt, daß Wahrheit die „Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande“ ist.1
Als Übereinstimmung von Vorstellung oder, kantisch gesprochen, von Erkenntnis und
Gegenstand ist die formelle Wahrheit offenkundig eine Eigenschaft der Vorstellung. Das aber
heißt, daß es sich bei der Vorstellung letztlich um theoretische Urteile handeln muß, weil es
die theoretischen Urteile sind, in denen wir einerseits Wahrheitsansprüche erheben und denen
andererseits die Eigenschaft zukommt, wahr oder falsch zu sein, insofern sie objektiv gültig
sind. Dabei ist ein theoretisches Urteil genau dann wahr, wenn die Synthesis der begrifflichen
Merkmale im Urteil mit der synthetischen Einheit von Merkmalen im empirischen
Gegenstand übereinstimmt, auf den wir uns vermittels des Subjektbegriffs im theoretischen

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Vgl. KrV B 82.
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Urteil beziehen. Wenn Hegel sagt, daß die formelle Wahrheit die Übereinstimmung einer
Vorstellung mit ihrem Gegenstand ist, dann handelt es sich bei einer derartigen Vorstellung
also um ein theoretisches Urteil und die formelle Wahrheit ist Wahrheit als eine Eigenschaft
von Urteilen, für deren Vorliegen der Gegenstand das materiale Kriterium abgibt. Denn die
formale Logik – das hatten wir mit Blick auf Kant bereits gesehen – kann nur notwendige,
aber keine hinreichenden Kriterien der Wahrheit angeben. Ein hinreichendes Kriterium für die
Wahrheit eines Urteils kann nur der Gegenstand selber sein, auf den wir uns im Urteil
epistemisch beziehen. Denn es hängt, kantisch gesprochen, vom Gegenstand ab, ob eine
Synthesis von Begriffsmerkmalen im Urteil mit dem Gegenstand, der ja selber als eine
Komplexion von Merkmalen aufgefaßt werden muß, übereinstimmt oder nicht. Gemäß der
formellen Wahrheit entscheiden nicht unsere Urteile über die Wahrheit der Gegenstände,
sondern die Gegenstände über die Wahrheit unserer Urteile.
Für Hegel handelt es sich bei der formellen Wahrheit als Übereinstimmung von
Vorstellung und Gegenstand um das gewöhnliche Wahrheitsverständnis, das aber für ihn
zugleich das uneigentliche und in seiner Uneigentlichkeit unphilosophische ist, von dem er
den eigentlichen und philosophischen Wahrheitsbegriff abhebt. Auf dieses gewöhnliche
adäquationstheoretische Verständnis von Wahrheit geht Hegel z.B. im Zusatz zum § 213 der
Enzyklopädie ein, wo er innerhalb der enzyklopädischen Logik den Begriff der Idee darlegt.
„Unter Wahrheit versteht man zunächst, daß ich wisse, wie etwas beschaffen ist. Dies
ist jedoch die Wahrheit nur in Beziehung auf das Bewußtsein oder die formelle
Wahrheit, die bloße Richtigkeit. Dahingegen besteht die Wahrheit im tieferen Sinne
darin, daß die Objektivität mit dem Begriff identisch ist. Dieser tiefere Sinn der
Wahrheit ist es, um den es sich handelt, wenn z.B. von einem wahren Staat oder von
einem wahren Kunstwerk die Rede ist. Diese Gegenstände sind wahr, wenn sie das
sind, was sie sein sollen, d.h. wenn ihre Realität ihrem Begriff entspricht. So aufgefaßt
ist das Unwahre dasselbe, was sonst auch das Schlechte genannt wird. Ein schlechter
Mensch ist ein unwahrer Mensch, d.h. ein Mensch, der sich seinem Begriff oder seiner
Bestimmung nicht gemäß verhält. Ganz ohne Identität des Begriffs und der Realität
vermag indes nichts zu bestehen. Auch das Schlechte und Unwahre ist nur, insofern
dessen Realität noch irgendwie sich seinem Begriff gemäß verhält. Das durchaus
Schlechte und Begriffswidrige ist eben damit ein in sich selbst Zerfallendes. Der
Begriff allein ist es, wodurch die Dinge in der Welt ihren Bestand haben, d.h. in der
Sprache der religiösen Vorstellung: die Dinge sind das, was sie sind, nur durch den
ihnen inwohnenden göttlichen und damit schöpferischen Gedanken.“

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Die formelle Wahrheit, wie sie theoretischen Urteilen zukommt und die unter der Bedingung
steht, daß ein Subjekt in Bezug auf ein von ihm getrenntes Objekt epistemische Ansprüche
erhebt, wird von Hegel nicht nur formell genannt, sondern er geht letztlich sogar soweit, daß
er die formelle Wahrheit im Grunde für ein Verfehlung dessen hält, was Wahrheit überhaupt
ist. Denn das adäquationstheoretische Wahrheitsverständnis impliziert, daß sich eine
Vorstellung nach ihrem Gegenstand richten muß, um mit ihm übereinzustimmen, weshalb
theoretische Urteile für Hegel eigentlich gar nicht die Eigenschaft haben, wahr oder falsch,
sondern eher richtig oder falsch zu sein. Bei der formellen Wahrheit handelt es sich für Hegel
darum um Wahrheit als Richtigkeit, so daß der Gegensatz wahr/falsch zutreffender als der
Gegensatz von richtig/falsch benannt werden müßte.
Von der formellen Wahrheit als Übereinstimmung der Vorstellung mit ihrem
Gegenstand, deren Übereinstimmung laut Hegel die Richtigkeit einer Vorstellung, nicht aber
ihre Wahrheit ausmacht, unterscheidet er einen Wahrheitsbegriff, der die Wahrheit im
eigentlichen Sinne beinhalten soll und der vor dem Hintergrund der formellen Wahrheit
materiale oder objektive Wahrheit genannt werden kann. Eine solche objektive Wahrheit ist
die Wahrheit als Idee, die in der Einheit von Begriff und Objektivität bzw. in der Einheit von
Begriff und Realität besteht. Wenn Hegels philosophischer Wahrheitsbegriff sowohl in der
Wissenschaft der Logik aber auch in der Enzyklopädie darauf hinausläuft, daß die eigentliche
Bedeutung der Wahrheit die Idee ist, und es sich bei der Idee um die Einheit von Begriff und
Realität handelt, die gerade nicht die Übereinstimmung einer Vorstellung des Subjekts mit
einem Objekt meint, sondern eine objektive Einheit, dann verschiebt sich bei Hegel der „Ort
der Wahrheit“ weg von den Vorstellungen und den theoretischen Urteilen, weg vom
Bewußtsein hin zum Gegenstand selber. Wenn also für Hegel die Idee der philosophische
Begriff der Wahrheit ist, dann will die Rede von der objektiven Wahrheit im Unterschied zur
formellen Wahrheit nichts anderes besagen, als daß die Wahrheit keine Eigenschaft von
Vorstellungen oder theoretischen Urteile ist, sondern daß die Wahrheit den Gegenständen
selber zukommt und zwar insofern in ihnen die Einheit von Begriff und Realität wirklich ist.
Genauer muß man sogar sagen, daß die Gegenstände als Einheit von Begriff und Realität
Wahrheit gar nicht mehr als eine Eigenschaft besitzen, sondern vielmehr Wahrheit selber
sind, weshalb Hegel von einer Einheit, die Idee ist, auch als dem Wahren spricht. Alles, was
in der Weise der Einheit von Begriff und Realität existiert, existiert in der Weise der Idee und
das heißt für Hegel, es existiert als Wahres oder existiert in der Wahrheit.
Ein Verständnis von Wahrheit dergestalt, daß etwas als Wahres existieren kann, ist
laut Hegel kein ausschließlicher Besitz philosophischer Theoriebildung, sondern wird

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bisweilen durch den alltäglichen Sprachgebrauch angezeigt, der Formulierungen wie ein
wahres Kunstwerk oder einen wahren Staat kennt – Formulierungen, die unter der Bedingung
formeller Wahrheit im Verdacht stehen müssen, bedeutungslos zu sein. Hegel erinnert uns
also daran, daß Formulierungen wie ein wahres Kunstwerk oder ein wahrer Staat ein
Verständnis von der Wahrheit als Idee zugrundeliegt, weshalb die Alltagssprache mit dem
philosophischen Sinn der Wahrheit bereits vertraut ist. Ob ein Kunstwerk oder ein Staat wahr
ist, steht in keiner Beziehung zu unseren Urteilen über ein Kunstwerk oder einen Staat,
sondern ein Kunstwerk und ein Staat können als ein Wahres existieren, ohne daß wir ihre
Wahrheit überhaupt zu Kenntnis nehmen oder diese einer Beurteilung unterziehen. Ob etwas
als Wahres existiert, hängt einzig und allein davon ab, ob das Existierende in sich zur Einheit
von Begriff und Realität gelangt ist oder sich in dieser Einheit hält. So schreibt Hegel in der
enzyklopädischen Logik in § 213:
„Die Idee ist die Wahrheit; denn die Wahrheit ist dies, daß die Objektivität dem Begriffe
entspricht, - nicht daß äußerliche Dinge meinen Vorstellungen entsprechen; diese sind nur
richtige Vorstellungen, die ich Dieser habe. In der Idee handelt es sich nicht um Diesen,
noch um Vorstellungen, noch um äußerliche Dinge. – Aber auch alles Wirkliche, insofern
es ein Wahres ist, ist die Idee und hat seine Wahrheit allein durch und kraft der Idee.“
Was Hegels Lehre von der Wahrheit als Idee allerdings erheblich verkompliziert, ist der
Graduierung
in der Umstand, daß die Einheit von Begriff und Realität im Gegenstand eine Graduierung zuläßt.
Wahrheit
Etwas kann nicht nur als Wahres existieren, sondern es kann auch als mehr oder weniger
Wahres existieren, d.h. ein Gegenstand kann in seiner Objektivität mehr oder weniger seinem
Begriff entsprechen und somit mehr oder weniger die Verwirklichung seines Begriffs sein.
Mit Blick auf ein Kunstwerk oder einen Staat bedeutet dies, daß die Rede vom wahren
Kunstwerk oder vom wahren Staat zum Ausdruck bringen will, daß ein Kunstwerk oder ein
Staat seinen Begriff in uneingeschränkter Weise verwirklicht bzw. in seiner Objektivität
hinter seinem Begriff nicht zurückbleibt. Mit der Bestimmung der Wahrheit als Idee, durch
die Hegel Wahrheit als in das Objekt selbst fallende Wahrheit begreift, nähert er sich gegen
Kant wieder dem ontologischen Wahrheitsbegriff der klassischen Metaphysik an, wie wir ihn
paradigmatisch bei Aristoteles ausgebildet finden. Denn es war Aristoteles, der die konkreten
Einzeldinge als Substanzen (οὐσία) begriffen hat, die in sich selber eine Einheit von
begrifflich explizierbarer Wesenheit (εἶδος) und Materie (ὕλη) sind und zwar dergestalt, daß
die Wesenheit oder das εἶδος als formbestimmendes Prinzip der Grund der Substanzialität der
konkreten Einzeldinge selber ist, während es sich bei der Materie nur um das für die
Formbestimmung Zugrundeliegende (ὑποκείμενον) handelt. Die Materie trägt von sich aus

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nichts zur Form- oder Wesensbestimmung eines konkreten Einzeldinges bei. Darüber wird für
Aristoteles das konkrete Einzelding als Seiendes selber zu einem Wahren, das das Prinzip
seines Wahrseins in seiner Wesenheit bzw. in seinem εἶδος hat, so daß die begrifflich
explizierbare Wesenheit der Wahrheitsgrund des Seienden ist. Daß Hegel tatsächlich wieder
an den ontologischen Wahrheitsbegriff der klassischen Metaphysik anknüpft, wird besonders
deutlich in seiner Lehre vom Urteil in der Wissenschaft der Logik. Denn in der Lehre vom
Urteil zeigt Hegel, daß nicht jede Form des Urteils geeignet ist, Wahrheit zum Ausdruck zu
bringen, sondern nur die Form des von Hegel so genannten Begriffsurteils, weil im
Begriffsurteil das Prädikat von der Art ist, daß durch es auf die Einheit von Begriff und
Realität im Gegenstand, auf den wir uns im Urteil beziehen, rekurriert wird. So schreibt Hegel
über das Begriffsurteil in der Wissenschaft der Logik:
„Dieser [der Begriff, T.D.] ist darin zugrunde gelegt und, da er in Beziehung auf den
Gegenstand ist, als ein Sollen, dem die Realität angemessen sein kann oder auch
nicht. – Solches Urteil enthält daher erst eine wahrhafte Beurteilung; die Prädikate
gut, schlecht, wahr, schön, richtig usf. drücken aus, daß die Sache an ihrem
allgemeinen Begriffe als dem schlechthin vorausgesetzten Sollen gemessen und
in Übereinstimmung mit demselben ist oder nicht.“ (GW 12, 97)
Das Begriffsurteil ist insofern ein Urteil über die objektive Wahrheit seines Gegenstandes,
weil es vermittels seines Prädikats aussagt, ob der Gegenstand eine wahre oder unwahre
Existenz ist, d.h. das Begriffsurteil sagt aus, ob der Gegenstand in einem ontologischen Sinne
wahr oder unwahr ist, indem er mit seinem Begriff übereinstimmt oder nicht, mithin als Idee
existiert oder nur Idee in eingeschränkter Weise ist.

II.) Die Unterscheidung zwischen formeller und objektiver Wahrheit ist die Unterscheidung
zwischen Wahrheit als einer Eigenschaft von Vorstellungen bzw. theoretischen Urteilen, die
Hegel bloße Richtigkeit nennt, und Wahrheit als einer Existenzweise der Gegenstände selber,
die Hegel als Idee bestimmt. Dabei gilt: „Wenn von der Idee gesprochen wird, so hat man
sich darunter nicht etwas Fernes und Jenseitiges vorzustellen. Die Idee ist vielmehr das
durchaus Gegenwärtige […].“ (Enz. §213 Z.) Die Frage, ob ein Gegenstand als Idee existiert,
ist dabei näherhin die Frage, ob seine Realität seinem Begriff entspricht. Insofern der Begriff
die Bestimmung enthält, mit der die Realität des Gegenstandes übereinstimmen muß, um eine
wahre Existenz zu sein, bemißt sich die Wahrheit der Existenzweise des Gegenstandes an
seinem Begriff. Den Gegenstand in seiner Wahrheit zu erkennen, setzt somit die Erkenntnis
seines Begriffs voraus, weshalb Hegel in § 21 der Enzyklopädie ähnlich wie schon Aristoteles

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in der Metaphysik sagt, daß der Begriff als das Allgemeine „den Wert der Sache, das
Wesentliche, das Innere, das Wahre“ enthält.
Mit der Ontologisierung des Wahrheitsbegriffs, derzufolge erstens der Gegenstand
selber etwas Wahres ist und dessen Wahrheit zweitens davon abhängt, ob der Gegenstand
nach der Seite seiner Realität mit seinem Begriff übereinstimmt – eine Übereinstimmung, die
ein Mehr oder Weniger, mithin einen Komparativ zuläßt –, geht drittens einher, daß nicht
jeder Gegenstand, der als etwas Wahres existiert, in gleicher Weise erfüllte Wahrheit genannt
werden kann. Bereits in § 1 der Enzyklopädie haben wir ja gesehen, daß Hegel der Wahrheit
einen niedrigeren und einen höheren Sinn zugesteht. Wenn also der Begriff grundsätzlich das
Wesentliche oder Wahre eines Gegenstandes enthält, es aber nicht nur einen, sondern eine
Pluralität von Begriffen gibt, die Gegenstände oder Gegenstandsbereiche konstituieren, dann
kann es in Abhängigkeit von diesen vielen Begriffen auch ein erfüllteres und somit wahreres
Wahres geben bzw. es kann sein, daß ein Gegenstand in Abhängigkeit von seinem Begriff,
der die Bestimmung enthält, was der Gegenstand sein soll, ein wahrerer Gegenstand als ein
anderer ist, wenn der Begriff für ein höheres Wahres steht. Was aber soll das heißen?
Für Hegel läßt sich etwa der allgemeine Begriff der Natur dahingehend fassen, daß die
Natur, das Sich-selbst-äußerlich-Sein der Idee ist. Dieser allgemeine Begriff der Natur, der
Natur,
Organismus zunächst noch ganz abstrakt ist, gewinnt aber eine reichere Bestimmtheit und Konkretion in
, Leben den besonderen Naturbegriffen, die im Begriff vom Leben des tierischen Organismus ihren
höchsten Bestimmungsreichtum und ihre höchste Konkretion erlangen, so daß für Hegel der
allgemeine Begriff der Natur seine Erfüllung im Begriff vom tierischen Leben hat. Insofern
der Begriff dieses Lebens innerhalb der Sphäre des Natur der höchste und konkreteste ist,
können die Lebewesen, die als organische Systeme in sich ein lebendiges Verhältnis von Teil
und Ganzem ausbilden, wodurch die Teile zu Gliedern oder Organen eines Organismus
werden, als ein wahrerer Gegenstand der Natur betrachtet werden als Gegenstände, die noch
der Stufe des Unorganischen angehören und aufgrund einer nicht vorhandenen inneren
Organizität diejenige Leistungen nicht zu erbringen vermögen, in denen das Leben seine
Wirklichkeit hat. Für Hegel ist darum jedes Lebewesen ein Gegenstand, der innerhalb der
Sphäre der Natur von einer grundsätzlich wahreren Existenz ist als ein unorganischer
Gegenstand. Dabei muß die Tatsache, daß für Hegel der Begriff des tierischen Lebens der
gegenüber dem Begriff des Unorganischen wahrere Begriff ist, weshalb es sich für Hegel bei
Tieren gegenüber leblosen Gegenständen auch um wahrere Existenzen handelt, davon
unterschieden werden, daß ein Gegenstand in sich mit seinem Begriff mehr oder weniger
übereinstimmen kann. So ist die Krankheit eines Organismus Ausdruck einer eingeschränkten

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Übereinstimmung der Realität mit ihrem Begriff, weil der Lebensvollzug des Organismus
durch die Krankheit dem Begriff des Lebens nicht mehr uneingeschränkt entspricht. Letzteres
besagt jedoch nicht, daß eine solche Einschränkung die Einheit von Begriff und Realität im
Gegenstand gänzlich auflöst, weil ein solches vollständiges Auseinandertreten von Begriff
und Realität den Tod des tierischen Organismus zur Folge hätte. Ein Lebewesen, dessen
Realität gar nicht mehr in der Einheit mit dem Begriff des Lebens ist, ist auch kein Lebewesen
mehr, sondern nur noch ein unorganisches Ding. Für Hegels Ontologie der Wahrheit zeigt
sich mit Blick auf das Leben des tierischen Organismus, daß dessen Begriff der höchste,
konkreteste und somit wahrste Begriff innerhalb der Sphäre der Natur ist und daß einerseits
Lebewesen gegenüber leblosen Dingen, Gegenstände sind, bei denen es sich um eine wahrere
Existenz handelt und daß andererseits die wahrere Existenz eines Lebewesens in sich auch
noch einmal mehr oder weniger wahr sein kann. Denn der Begriff des Lebens ist gegenüber
dem Unorganischen der wahrere Begriff und für ein je einzelnes Lebewesen gilt, daß die
Übereinstimmung seines Begriffs mit seiner Realität eine eingeschränkte oder
uneingeschränkte Wirklichkeit haben kann, was im Falle eines Lebewesens seinen Ausdruck
in der Gesundheit oder Krankheit findet. Nicht nur ist das Leben gegenüber der Leblosigkeit
eine wahrere Existenzweise von Gegenständen der Natur, sondern für Hegel ist die
Gesundheit als die uneingeschränkte Übereinstimmung des Begriffs des Lebens mit der
Realität des Lebewesens selber noch einmal eine wahrere Existenzweise gegenüber der
eingeschränkten Übereinstimmung als Krankheit. Plastisch schreibt Hegel dazu in der
Wissenschaft der Logik:
„der Mensch, das Lebendige ist tot, wenn Seele und Leib sich in ihm trennen; die tote
Al
concepto Natur, die mechanische und chemische Welt, wenn nämlich das Tote für die unorganische
de
naturaleza Welt genommen wird, sonst hätte es gar keine positive Bedeutung – die tote Natur also, Interessa
la forma le nt.
viene wenn sie in ihrem Begriff und ihre Realität geschieden wird, ist nichts als subjektive
Denke
impuesta darüber
desde
Abstraktion einer gedachten Form und einer formlosen Materie.“ (GW 12, 207)
nach
fuera. Es Der Grund, warum für Hegel das Lebewesen, das in sich den Begriff des Lebens realisiert, die
una forma
pensada e höchste und darum wahrste Existenzweise der Natur selber ist, besteht aber darin, daß sich
impuesta
desde das Lebewesen als Ganzes in seinen Teilen auf sich selbst bezieht sowie jeder Teil nur
fuera por
el sujeto. dadurch derjenige Teil ist, der er ist, daß er sich auf jeden anderen Teil sowie auf das
En cambio lebendige Ganze bezieht. Im natürlichen Leben manifestiert sich für Hegel somit diejenige
al ser vivo
Leben
la forma le Selbstbeziehung im Verhältnis von Ganzem und Teil, durch die sich später einmal die und Geist
es
inherente. Subjektivität des Geistes auszeichnen wird, weshalb bereits das Leben des tierischen
Organismus eine Erscheinungsweise des geistiger Selbstbeziehung obzwar noch unter der

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Bedingung der Äußerlichkeit der Idee ist. Andererseits läßt sich laut Hegel aber bereits am
natürlichen Leben schon erkennen, daß aufgrund der im Leben verwirklichten Beziehung des
Ganzen auf sich selbst in seinen Teilen das Sich-selbst-äußerlich-Sein der Idee eine Rückkehr
der Idee zu sich aus ihrer Äußerlichkeit markiert. Denn das Leben des tierischen Organismus
ist nicht nur eine natürliche und ihrer selbst noch unbewußte Erscheinung der Innerlichkeit
der Subjektivität des Geistes, sondern das Leben markiert innerhalb der Sphäre der Natur
zugleich den Übergang von der Natur zum Geist und damit zu der von der Natur insgesamt
unterschiedenen Sphäre der Rückkehr der Idee zu sich, die die Sphäre des Geistes insgesamt
bildet. So heißt es im Zusatz zu § 381:
„Auch die äußere Natur, wie der Geist, ist vernünftig, göttlich, eine Darstellung der Idee.
Aber in der Natur erscheint die Idee im Element des Außereinander, ist nicht nur dem
Geist äußerlich, sondern – weil diesem, weil der das Wesen des Geistes ausmachenden an
und für sich seienden Innerlichkeit – eben deshalb auch sich selbst äußerlich. Dieser schon
von den Griechen ausgesprochene und ihnen ganz geläufige Begriff der Natur stimmt
vollkommen mit unserer gewöhnlichen Vorstellung von dieser überein.“
Insofern das Leben des tierischen Organismus den Übergang zum Geist markiert und der
Geist als die Rückkehr der Idee aus ihrem Sich-selbst-äußerlich-Sein ist, sind alle Weisen
geistiger Existenz für Hegel wiederrum wahrere Existenzweisen als diejenigen, die in der
Natur vorkommen. Das endliche Erkennen des subjektiven Geistes, das als Bewußtsein noch
auf der Unterscheidung von Ich und einem dem Ich entgegengesetzten äußeren Gegenstand,
dem Nicht-Ich, aufruht, ist ebenso eine ontologisch wahrere Existenzweise wie auch den
intersubjektiv geteilten Lebensvollzügen in den Ordnungen der Familie, der bürgerlicher
Gesellschaft und dem politischen Staat eine höhere Wahrheit innewohnt als der Sphäre der
Natur im Ganzen. Aber auch innerhalb der Sphäre des Geistes gilt, daß ein Gebilde wie etwa
der Staat, zu dessen Begriff für Hegel vor allem die Bestimmungen der Gewaltenteilung, der
Rechtstaatlichkeit und die Garantie subjektiver Freiheitsrechte gehören, in seiner Realität mit
seinem Begriff mehr oder weniger übereinstimmen kann. Ein Staat, der in seiner Realität mit
dem entwickelten Begriff des Staates übereinstimmt, wird darüber, zu dem, was für Hegel ein
wahrer im Unterschied zu einem unwahren (bzw. unwahreren) Staat ist, der seinem Begriff
nicht entspricht und folglich nur mit Einschränkung in der Weise als Idee existiert. Daß es für
Hegel Gegenstände gibt, die wahrer als andere Gegenstände sind, hat zur Voraussetzung, daß
die Begriffe, mit denen die Realität eines Gegenstandes übereinstimmen muß, um in der
Weise der Idee existieren zu können, hinsichtlich ihrer höheren oder niedrigeren Wahrheit
erkannt werden können. Es gibt für Hegel nicht nur viele Begriffe, sondern die Begriffe haben

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selber eine höhere oder niedrigere Wahrheit im Systemzusammenhang der Begriffe, der für
Hegel das objektiv Vernünftige ist.

III.) Was in der Weise der Idee und somit in der Weise der Übereinstimmung von Begriff und
Realität existiert, existiert als ein Wahres. Ob ein solches Wahres an ihm selber die Existenz
einer hohen oder sogar höchsten Wahrheit ist, hängt aber davon ab, welche Systemstelle sein
Begriff, der das Wesentliche oder Wahre des existierenden Gegenstandes und somit dessen
ontologische Norm ausmacht, innerhalb des Systems der Begriffe einnimmt. In der
Wissenschaft der Logik, wo Hegel ausführt, daß die Idee bzw. die Übereinstimmung von
Begriff und Realität die philosophische Bestimmung der Wahrheit ist, wird zugleich deutlich,
daß der Begriff der Idee selber noch nicht die in vollkommener Weise erfüllte Wahrheit ist.
Mit der Existenzweise als Idee ist nämlich zunächst noch gegeben, daß trotz der
Übereinstimmung von Begriff und Realität beide auch auseinandertreten können. Im Falle
eines Organismus handelt es sich hierbei nicht mehr um dessen Krankheit, sondern vielmehr
um seinen Tod. Im Falle eines Staates hingegen wäre ein solches Auseinandertreten nicht ein
Verlust an Sittlichkeit, sondern gleichbedeutend mit dem Untergang des Staates. Daß etwas in
der Weise der Idee existiert und dergestalt ein Wahres ist, schließt nicht aus, daß eine solche
Existenzweise noch endlich ist, das Wahre untergehen kann. Dabei besteht die endliche
Existenzweise der Idee für Hegel darin, daß sich Realität und Begriff im Gegenstand
vollständig trennen können, wodurch der Gegenstand als dasjenige vergeht, was er durch
seinen Begriff ist. Hegel erläutert dies in der Wissenschaft der Logik im Kapitel über die Idee
mit Blick auf den Staat sehr eindrücklich.
„Wenn aber ein Gegenstand, z.B. der Staat, seiner Idee gar nicht angemessen, das heißt,
vielmehr gar nicht die Idee des Staates wäre, wenn seine Realität, welche die [der]
selbstbewußten Individuen ist, dem Begriff ganz nicht entspräche, so hätten seine Seele
und sein Leib sich getrennt; jene entflöhen in die abgeschiedenen Regionen des
Gedankens, dieser wäre in die einzelnen Individualitäten zerfallen; [...] Der schlechteste
Staat, dessen Realität dem Begriff am wenigsten entspricht, insofern er noch existiert, ist er
noch Idee; die Individuen gehorchen noch einem machthabenden Begriff.“ (GW 12, 175f))
Ein Gegenstand, der in der Weise der Idee existiert, existiert genau dann als ein Endliches,
wenn sein Begriff und seine Realität vollständig auseinandertreten können. Das aber
wiederum besagt, daß trotz seines Status, Idee und in der Weise der Idee ein Wahres zu sein,
ein solcher Gegenstand an ihm selber immer nur ein endliches Wahres (im Unterschied zur
Richtigkeit) ist. Als Idee zu existieren, hebt nicht eo ipso die Endlichkeit dieser Existenzweise

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absolute Idee, absolute Wahrheit

und damit die Endlichkeit der Wahrheit des Gegenstandes auf. Letzteres impliziert, daß in der
Übereinstimmung von Begriff und Realität, ohne die ein Gegenstand nicht als das existieren
kann, was er seinem Begriff nach ist, der Begriff und die Realität nicht zu einer vollständigen
Identität gelangt sind. Wären nämlich der Begriff und die Realität zu einer vollständigen
Übereinstimmung und Identität gelangt, so daß der Begriff seine eigene Realität wäre und
umgekehrt die Realität ganz im Begriff aufginge, könnten beide nicht mehr auseinandertreten.
Eine solche Einheit von Begriff und Realität wäre dann nicht mehr Idee als ein endliches
Wahres, sondern sie wäre aufgrund der vollständigen Durchdringung von Begriff und Realität
Idee als ein unendliches Wahres bzw. als die unendliche Wahrheit selber. Der Begriff von der
Idee als der unendlichen Wahrheit, in der der Begriff und die Realität zu einer Einheit gelangt
sind, die in der vollständigen Durchdringung und Identität beider besteht, ist Hegels Begriff
von der absoluten Idee.
„Diese Einheit“, so heißt es in § 236 der Enzyklopädie, „ist hiermit die absolute und alle
Wahrheit, die sich selbst denkende Idee, und zwar hier als denkende, als logische Idee.“
Und § 237: „Für sich ist die absolute Idee, weil kein Übergehen noch Voraussetzen und
überhaupt keine Bestimmtheit, welche nicht flüssig und durchsichtig wäre, in ihr ist, die
reine Form des Begriffs, die ihren Inhalt als sich selbst anschaut.“
Im § 1, wie wir ganz zu Anfang gesehen haben, hat Hegel in der Form eines äußeren
Räsonnements vorweggenommen, daß die Natur, der menschliche Geist sowie ihre Beziehung
aufeinander überhaupt die Sphäre des Endlichen ausmachen, so daß in allen Gestalten, die
dieser Sphäre angehören, der Begriff und die Realität nicht zu einer vollständigen
Durchdringung gelangen. Die daraus resultierende endliche Existenzweise wird laut Hegel
jedoch im und durch den Geist genau dann überwunden, wenn der Geist seinen Begriff von
sich selbst erfaßt, so daß der Begriff des Geistes nicht nur für den Geist ist, sondern auch
seine Realität darin hat, daß der Geist das Wissen vom Begriff des Geistes ist. Die
vollständige Identität von Begriff und Realität hat ihre Wirklichkeit nur im Geist und zwar
Geist
genau in der und als die wissende Selbstbeziehung des Geistes. Mit anderen Worten: Nur im
Geist kann die endliche Existenzweise der Idee überwunden werden und der Geist existiert
genau dann nicht mehr auf endliche Weise, wenn er den Begriff von sich selbst erfaßt und
darin das Wissen seiner selbst ist. Der Geist, der das Wissen von sich selbst ist, kann in der
Folge kein endliches Wahres mehr sein, sondern er existiert in der Weise der unendlichen
Wahrheit, weil er in seinem Wissen von sich, d.h. in seiner denkenden Selbstbeziehung die
vollständige Identität des Begriffs des Geistes und der Realität des Geistes ist. Die

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Wirklichkeit der unendlichen Wahrheit ist für Hegel darum nur die Selbsterkenntnis des
Geistes selber.
Diejenige Gestalt des Geistes, die als dessen Selbsterkenntnis die vollständige Identität
von Begriff und Realität ist und in der der Geist nichts anderes als seine denkende
Selbstbeziehung ist, nennt Hegel den absoluten Geist. Eine Pointe der Hegelschen Lehre vom
absoluten Geist besteht darin, daß der absolute Geist nicht nur überhaupt in der Weise der
Idee bzw. als Übereinstimmung von Begriff und Realität existiert, sondern daß die denkende
Selbstbeziehung des Geistes die Existenzweise der absoluten Idee selber ist, weil in der
denkenden Selbstbeziehung der Begriff des Geistes vollständig für den Geist ist, der Geist
seine Realität somit in der denkenden Selbstbeziehung selber hat.
Hegel unterscheidet zwei maßgebliche Gestalten, wie der Geist für den Geist und
somit die Wirklichkeit der unendlichen Wahrheit sein kann. Die eine Gestalt ist die Religion,
genauer die wahrhafte Religion, die die Religion des Geistes ist. Und die andere Gestalt ist die
Philosophie. Dabei gilt nach Hegel, daß sich das Subjekt als religiöses Bewußtsein in der
Andacht Gott kultisch zuwendet, um im Kultus eins mit Gott, eins mit der unendlichen
Wahrheit zu werden – eine Einswerdung, die für Hegel das Wissen des absoluten Geistes ist
und bei der es sich für ihn in den religionsphilosophischen Vorlesungen um die unio mystica
des subjektiven Bewußtseins mit der objektiven Wahrheit bzw. mit Gott als dem absoluten
Geist handelt. Dabei versteht Hegel die unio mystica des menschlichen Geistes mit Gott im
Kultus als ein Wissen, in dem der menschliche Geist eins mit dem absoluten Geist wird, wie
umgekehrt der absolute Geist im Kultus des menschlichen Geistes für sich selbst ist. Man
kann daher sagen, daß sich für Hegel im Kultus der Mensch in Gott weiß und daß umgekehrt
in der kultischen Einheit des Menschen mit Gott Gott für sich selbst ist. Die wissende Einheit
von Menschen und Gott im Kultus, die von Hegel zugleich als das Wissen Gottes von selbst
sich selbst im Wissen des Menschen von Gott verstanden wird, ist in der wissenden Einheit
von Mensch und Gott das Sich-selbst-Wissen des Geistes und in diesem Sinne absoluter Geist
– ein Wissen, das die wahre Religion ist.
Das Sich-selbst-Wissen des Geistes hat aber seine dem Wissen entsprechende Form
nicht in dieser religiösen Vorstellung vom Geist, die zwar mit dem Geist über den wahren
Inhalt verfügt, diesen wahren Inhalt aber nicht in der wahren Form zu begreifen vermag. Die
wahre Form des Sich-selbst-Wissens des Geistes kann darum für Hegel nicht der an die
Vorstellung gebundene Kultus sein. Zwar hat die geistige Religion den wahren Inhalt, aber
weil sie ihren Inhalt nicht begreift, findet in der Religion auch nicht die wahre Einswerdung
des Subjekts mit der objektiven, unendlichen Wahrheit statt. Erst das begreifende Denken des

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wahren Inhalts bringt die vollständige Identität des Begriffs und der Realität des Geistes
hervor. Dieses Denken aber ist für Hegel in letzter Instanz die Philosophie selber, so daß das
philosophische Erkennen nicht nur den Begriff des Geistes zu seinem Inhalt hat, sondern es ist
auch als Erkennen eins mit dem Sich-selbst-Wissen des Geistes selber. In § 573 der
Enzyklopädie bestimmt Hegel das Verhältnis der Philosophie zur Religion denn auch
folgendermaßen:
„Dies Erkennen [gemeint ist das philosophische, T.D.] ist so das Anerkennen dieses Inhalts
[der Religion, T.D.] und seiner Form und die Befreiung von der Einseitigkeit der Formen
und Erhebung derselben in die absolute Form, die sich selbst zum Inhalte bestimmt und
identisch mit ihm bleibt und darin das Erkennen jener an und für sich seienden
Notwendigkeit ist.“
Die Erhebung der Vorstellung des Geistes, wie sie der Religion angehört, zur absoluten Form
ist das philosophische Erkennen des Begriffs des Geistes in der Weise des begreifenden
absolute
Form Denkens. Dieses begreifende Denken des Begriffs des Geistes ist aber identisch mit der
Erkenntnis seiner Genese als die Selbstbestimmung und Selbstentfaltung der absoluten Form
– eine Genese, die ihren Anfang im Logischen hat, das als die konkrete Totalität der reinen
Gedankenbestimmungen die absolute Idee ist, die sich in die Natur selbst entäußert, in den
Gestalten des endlichen Geistes für sich selbst wird, um im philosophischen Erkennen des
Begriffs des Geistes das Wissen des Geistes von sich selbst zu sein. Im philosophischen
Erkennen aber weiß der Geist sich selbst als die Einheit des Logischen, der Natur und des
Geistes. Für Hegel ist die wahre Einswerdung des Subjekts mit der objektiven Wahrheit, die
in ihrem höchsten Sinne Gott als absoluter Geist ist, die Philosophie, die im begreifenden
Denken zur Erkenntnis des Begriffs des Geistes gelangt.
Insofern im philosophischen Erkennen der Begriff des Geistes mit seiner Realität
vollständig übereinstimmt, ist die wissende Selbstbeziehung des Geistes im Erkennen der
Philosophie eine Existenzweise, die die Wirklichkeit der absoluten Idee und damit die
Wirklichkeit der absoluten Wahrheit ist. Der absolute Geist, der im philosophischen Erkennen
nicht bloß überhaupt als Idee existiert, sondern vielmehr als absolute Idee, ist der wahrste
Begriff, mithin der Begriff von der in sich erfüllten, weil alle Bestimmungen umfassenden
unendlichen Wahrheit selber. Ihre Erfüllung besteht nicht allein darin, daß das Subjekt
denkend mit ihr eins wird, sondern daß das Einswerden des Subjekts mit der objektiven
Wahrheit sich als das begreifende Denken der absoluten Idee vollzieht. Der absolute Geist ist
darum derjenige Gegenstand, dessen Existenz die unendliche Wahrheit der absoluten Idee

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selber ist und das ist Hegels philosophischer Begriff von Gott. Im 2. Zusatz zum § 24 der
Enzyklopädie heißt es darum:
„Gewöhnlich nennen wir Wahrheit Übereinstimmung eines Gegenstandes mit unserer
Vorstellung. Wir haben dabei als Voraussetzung einen Gegenstand, dem unsere
Vorstellung von ihm gemäß sein soll. – Im philosophischen Sinn dagegen heißt Wahrheit,
überhaupt abstrakt ausgedrückt, Übereinstimmung eines Inhalts mit sich selbst. [...] Gott
allein ist die wahrhafte Übereinstimmung des Begriffs und der Realität: alle endlichen
Dinge aber haben eine Unwahrheit an sich, sie haben einen Begriff und eine Existenz, die
aber ihrem Begriff unangemessen ist. Deshalb müssen sie zugrunde gehen, wodurch die
Unangemessenheit ihres Begriffs und ihrer Existenz manifestiert wird.“
Wenn Hegel Philosophie als Wissenschaft von der Wahrheit konzipiert, dann versteht er unter
Wahrheit keine formelle, sondern eine objektive Wahrheit, die eine Existenzweise der
Gegenstände selber ist. Der höchste Sinn dieser Wahrheit aber ist Gott als absoluter Geist,
insofern sich in Gott der ontologische Wahrheitsbegriff erfüllt. Mit diesem Wahrheitsbegriff
kehrt Hegel gegen Kant zum ontologischen Wahrheitsbegriff der klassischen Metaphysik
zurück. Denn bereits die antike Metaphysik begreift den θεός als das wahre Sein bzw. als das
im eminenten Sinne wahrhaft Seiende, von dem alles andere Seiende abhängig ist und der
darum der höchste Ursprung des Seienden und des Wahren ist. Insofern Hegel die objektive
Wahrheit als die Übereinstimmung von Begriff und Realität konzipiert, kommt er um eine
Theologisierung der Wahrheit nicht herum, weil die vollständige Identität von Begriff und
Realität nur als eine unendliche Einheit gedacht werden kann, in der sich Begriff und Realität
vollständig durchdringen und deren angemessener Name für ihn Gott ist. Der philosophische
Begriff von Gott aber ist der absolute Geist. Insofern die Lehre vom absoluten Geist zugleich
die Lehre von der in sich erfüllten unendlichen Wahrheit ist, ist für Hegel nicht nur Gott der
Inhalt alles philosophischen Erkennens, sondern auch umgekehrt ist das philosophische
Erkennen selber göttlich, weil es in der Einheit mit dem absoluten Geist das Sich-selbst-
Wissen des Geistes ist.
Entsprechend beschließt Hegel die zweite und die dritte Auflage der Enzyklopädie mit
einem Aristoteles-Zitat aus dem Buch Λ der Metaphysik, wo Aristoteles den tiefsten Einblick
in seine Theologie gewährt und sagt, daß der unser Geist (νοῦς) sich selbst denkt, wenn er
seinen Gegenstand denkt, weil der Geist im Denken identisch mit der gedachten Sache wird.
Denkt nun unser Geist Gott, so wird der Geist in seinem Denken für Aristoteles mit Gott
identisch. Das Sein Gottes aber ist das reine sich selbst denkende Denken des göttlichen

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Geistes selber, die νόησις νοήσεως, die reine Form, die sich selbst der Inhalt ist und die
bereits für Aristoteles unter allem Seienden das Wahrste, das ἀληθέστατον ist.
Alles Endliche, so können wir festhalten, existiert für Hegel in der Weise der Idee, d.h.
in einer Weise der Übereinstimmung von Begriff und Realität. Die Wahrheit einer endlichen
Existenz ist aber abhängig von dem Maß der Übereinstimmung der Realität mit ihrem Begriff
sowie von der Wahrheitsstufe des Begriffs selber, d.h. von seiner Stelle innerhalb des Systems
der Begriffe. Aber keine endliche Existenz vermag ihre Realität mit ihrem Begriff so in
Übereinstimmung zu bringen, daß die Realität und der Begriff schlichtweg nicht mehr
auseinanderzutreten vermögen. Erst wenn die Realität selber begrifflich ist und umgekehrt der
Begriff sich selbst seine Realität gibt, handelt es sich um keine endliche, sondern um eine
unendliche Existenz, die zugleich die unendliche Wahrheit ist. Diese unendliche Wahrheit
wird von Hegel Gott, absolute Idee oder absoluter Geist genannt. Dabei besteht für Hegel die
Pointe darin, daß die vollkommene Einheit von Begriff und Realität nur in einem Denken, in
dem der Begriff sich selber seine Realität gibt, statthaben kann. Ein solches Denken ist der
Begriff selber, der sich selbst bestimmt, d.h. eine Pluralität von Begriff selber gibt, dergestalt,
daß er seine Realität in diesen Begriffen hat, durch die er sich selbst bestimmt. Diese Struktur
sieht Hegel paradigmatisch zum Ausdruck gebracht in Aristoteles Bestimmung Gottes, dessen
Sein das Sich-selbst-denkende-Denken, die noêsis noêseôs ist, weshalb Gott dann auch das
das höchste Seiende und die höchste Wahrheit als die denkende Selbstbeziehung und
Selbstbestimmung des nous ist. Und weil in der noêsis noêseôs Gottes, Gott als Denkender
mit sich als Gedachter vollständig übereinstimmt, können im Denken Gottes das Denkende
und das Gedachte, Begriff und Realität, Subjekt und Objekt nicht mehr auseinandertreten.
Gott ist darum ein Einzelnes (Monade), das, weil es Denken ist, zugleich in sich allgemein ist.
In allem, was nicht Gott als er selber ist, sind das Allgemeinheit und Einzelheit, Begriff und
Realität nicht vollkommen übereinstimmend, so daß alles Endliche sich dadurch auszeichnet,
daß es vergänglich ist, ja daß die Realität und der Begriff, das Einzelne und das Allgemeine
notwendig auseinandertreten müssen, was in Gott gerade nicht der Fall ist, weshalb Gott nicht
in der Weise eines Endlichen existieren kann. Das Endliche ist für Hegel der existierende
Widerspruch zwischen Einzelheit und Allgemeinheit. Und eben weil das Einzelne und das
Allgemeine im Endlichen nicht vollkommen übereinzustimmen vermögen, ist alles Endliche,
obgleich es in der Weise der Idee existiert, zugleich eine unwahre, vergängliche Existenz, der
gegenüber Gott, die absolute Idee oder der absolute Geist allein die wahre, ewige Existenz ist.
Diese unwahre Existenz des Endlichen ist Existenz in der Weise des Urteils, genauer des
positiven oder bejahenden Urteils, wie Hegel sich ausdrückt. So heißt es in § 167:

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„Das Urteil wird gewöhnlich in subjektivem Sinn genommen, als eine Operation und
Form, die bloß im selbstbewußten Denken vorkomme. Dieser Unterschied ist aber im
Logischen noch nicht vorhanden, das Urteil ist ganz allgemein zu nehmen: alle Dinge sind
ein Urteil, - d.h. sie sind Einzelne, welche eine Allgemeinheit oder innere Natur in sich
sind, oder ein Allgemeines, das vereinzelt ist; die Allgemeinheit und Einzelheit
unterscheidet sich in ihnen, aber ist zugleich identisch.“ Und in § 168: „Der Standpunkt
des Urteils ist die Endlichkeit, und die Endlichkeit der Dinge besteht auf demselben darin,
daß sie ein Urteil sind, daß ihr Dasein und ihre allgemeine Natur (ihr Leib und ihre Seele)
zwar vereinigt sind, sonst wären die Dinge nichts, aber daß diese ihre Momente sowohl
bereits verschieden als überhaupt trennbar sind.“

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