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Kapitel 3. Die logischen Axiome und das Seiende als Seiendes (bzw.
Wesenheit) als Gegenstand derselben Wissenschaft. Der Satz vom
Widerspruch als Grundaxiom
Worum geht es in dem Kapitel im Allgemeinen?
Struktur?
1. Es wird erklärt, dass die logischen Axiome für alles Seiende gelten und deren
Ermittlung derselben ersten Wissenschaft zukommt.
2. Präsentation des Satzes vom Widerspruch als Prinzip aller anderen Axiome
der Wissenschaft.
1. Die Axiome und das Seiende als Seiendes als Gegenstand einer Wissenschaft.
(a) Die logischen Axiome gelten für alles Seiende.
Weil die logischen Axiome für alles Seiende gelten…
→ Untersuchung der logischen Axiome der ersten Wissenschaft, also
der Philosophie zukommen
Warum?
Weil Philosophie nicht eine spezielle Gattung des Seienden als Thema ihrer
Untersuchung hat, sondern das Seiende in seiner Allgemeinheit
untersucht.
(d) Ergebnis.
„Dass es also dem Philosophen und dem, der das Wesen aller
Wesenheit betrachtet, zukommt, auch die Prinzipien des Beweises
(syllogistiká) zu untersuchen, ist hiernach klar.“ (S. 103)
Damit es klar ist:
Der Satz vom Widerspruch kann nicht aus einem Syllogismus, also einem
deduktiven Argument entnommen werden, er ist auch keine Prämisse in einem
Argument oder eine Ableitungsregel, sondern vielmehr Voraussetzung und
Prinzip des Beweises.
Die Aufgabe, die dem Philosophen nun also zukommt, ist die, die Prinzipien zu
finden, die der Beweisführung sämtlicher Spezialwissenschaften ihr Fundament
liefern wird.
(Syllogism, in logic, a valid deductive argument having two premises and a conclusion.
Aristotle defines the syllogism as "a discourse in which certain (specific) things having been supposed,
something different from the things supposed results of necessity because these things are so.")
2. Der Satz vom Widerspruch als das sicherste und letzte Prinzip.
(a) Die Philosophie als Erste Wissenschaft muss die letzte Voraussetzung allen
Wissens bestimmen.
Wiederholung der Aufgabe der Philosophie (1. d)
Aufgabe der Philosophie als erste Wissenschaft: das sicherste Prinzip von
allen finden, “bei welchem Täuschung unmöglich ist”.
2 weitere Bemerkungen:
1. Der Satz hat auch nur Geltung, wenn man dazu die Bestimmung der
Gleichzeitigkeit hinzufügt. Während es durchaus möglich ist, dass einem Ding
in dem aktuellen Moment x zukommt und später, also potenziell, eben dieses x
nicht zukommt, ist es unmöglich, dass diesem Ding zur selben Zeit x und ¬x
zukommt.
2. Zur Begründung (“denn es passt darauf die angegebene Bestimmung, da es
unmöglich ist, dass jemand annehme, dasselbe sei und sei nicht.”) lässt sich
noch sagen, dass Aristoteles wahrscheinlich nicht meint, dass es, rein
psychologisch, unmöglich ist inkonsistente, widersprüchliche Überzeugungen
zu haben, sondern, dass es unmöglich ist, widersprüchliche Überzeugungen zu
haben und dabei zugleich Anspruch auf Rationalität zu erheben.
→ Der Satz hat also einen normativen, nicht einen deskriptiven
Charakter.
(c) Der Satz vom Widerspruch als unhintergehbar letztes Axiom, auf das alle
Beweise zurückführen.
Die Leugnung des Satzes vom Widerspruch hat folgende Konsequenz:
Die, die nicht die Geltung des Satzes annehmen, können sich nie täuschen und
liegen nie falsch,
(Wenn jemand sagt, dass x zugleich F und ¬F zukommt, kann sein Satz
unmöglicherweise falsch sein.)
aber können sie aus ihrer Position auch keinen Beweis geben.
Der Satz des Widerspruch muss aber angenommen werden, wenn man eine
bestimmte Wahrheit beweisen will.
Er ist somit für die Beweisführung aller Sätze der Wissenschaften unentbehrlich
und Prinzip aller anderen Axiome.
Kapitel 4. Verteidigung des Satzes vom Widerspruch
Worum geht es?
Kapitel 4 ist eine Verteidigung des Satzes vom Widerspruch.
Es liefert indirekte Beweise für den Satz vom Widerspruch, die den
Standpunkt der Gegner des Satzes widerlegen sollen.
Der Ausgangspunkt für alle Beweise ist die Einsicht, dass der
Gegner, sobald er etwas sagt und verstanden werden will, selbst
seinen eigenen Standpunkt widerlegt.
0. Problemstellung
(a) Leugnungen des Satzes vom Widerspruch
Ausgangssituation:
Es gibt einige Leute, darunter einige Physiker, die den Satz des Widerspruchs
leugnen oder zumindest nicht für absolut notwendig halten.
Aristoteles geht von den Einsichten in Kapitel 3 aus und versucht diese Leute zu
widerlegen.
(b) Unmöglichkeit eines direkten Beweises für den Satz vom Widerspruch
Wenn die Leugner des Satzes vom Widerspruch einen Beweis für diesen
erfordern, antwortet Aristoteles darauf, dass eine solche Forderung
unberechtigt ist.
Warum?
Der Grund dafür ist, dass es nicht möglich ist für alles einen Beweis zu finden.
Würde man dies für den Satz vom Widerspruch versuchen, so würde “ein
Fortschritt ins Unendliche eintreten und auch so kein Beweis stattfinden”.
Aristoteles will einem unendlichen Regress ausweichen.
“Although PNC is not subject to demonstration, it is subject to “elenctic refutation” according to Aristotle. The
“elenchus” refers to the Socratic method of argument. When Socrates uses the elenchus, he gets his opponent
to refute himself out of his own mouth. The opponent makes a proposal that is shown to conflict with
other claims to which he agrees. To be consistent, the opponent must give up one of these claims, and
he usually abandons the original proposal. This is the method of reductio ad absurdum familiar to ancient Greek
geometers and modern formal logicians and mathematicians.
The idea of using an elenchus is at first sight very puzzling. The person claiming to reject PNC is not being consistent
and apparently does not want to be. Aristotle is not trying to catch the opponent in a formal contradiction. The opponent
purportedly does not care about that, and it would be begging the question. Instead, Aristotle’s trick is to draw the
opponent into saying something, without making a complete statement, that shows that he does accept that x is F and is
not at the same time not F, in spite of the words he previously said. In other words, Aristotle needs to show that his
opponent is committed to at least one thing that is not contradictory. The Socratic method is turned on
its head.” (Aristotle on Non-contradiction (Stanford)).
Der eigentliche Ausgangspunkt für die Widerlegung der Leugner des Satzes:
(d) Die Tatsache, dass der Redende etwas zu verstehen gibt
Wenn der Redende in seiner Rede, die Dinge für sich so bezeichnet wie für
einen anderen, dann ist schon etwas fest bestimmt, und man kann ihm die
Wahrheit des ersten Axioms zeigen.
In anderen Worten:
Kommunikation ist nur möglich, weil der Redende mir etwas zu
verstehen gibt, und zwar etwas Bestimmtes. Gäbe er mir zugleich eines und
sein Gegenteil zu verstehen, wäre Kommunikation sinnlos und unmöglich. Da
aber Kommunikation funktioniert und mir der Gesprächspartner Bestimmtes
mitteilt, kann dies als indirekter Beweis für den Satz vom Widerspruch
angenommen werden.
→Die Geltung des Satzes vom Widerspruch wird hier zur Bedingung
der Möglichkeit von sinnvoller und verständlicher Rede.
(Elenchische Widerlegung funktioniert also wie ein transzendentales
Argument).
Die Beweise (7 Beweise), die weiterhin gegeben werden, sollen diese letzte
Einsicht von 0. d) weiter ausführen und vertiefen.
1. Beweis (in vier Abschnitte gegliedert)
1. Beweis (a) Die Wörter “sein” und “nicht sein” haben eine bestimmte
Bedeutung, so dass sich nicht alles so und nicht so verhalten kann.
1. Beweis (b) Wörter wie “Mensch” bezeichnen ein bestimmtes Eines. (Vergleich
0. c. und d.)
Aristoteles vertritt die Ansicht:
Das Wesen des Menschen muss in einem Namen oder in einer begrenzten
Vielheit von Namen (wegen der Mehrdeutigkeit des Namens Mensch) enthalten
sein. Wäre dies nicht so, und bezeichne das Wort “Mensch” unendlich vieles,
dann wäre “gar keine Rede möglich, den nicht ein Bestimmtes bezeichnen
ist dasselbe wie nichts bezeichnen”.
Weitere Begründung:
“Bezeichnen aber die Worte nichts, so ist die Möglichkeit der Unterredung mit
andern aufgehoben, in Wahrheit auch die Möglichkeit der Unterredung mit sich
selbst. Denn man kann nichts denken, wenn man nicht Eins denkt; ist
dies aber der Fall, so würde man auch für diese Sache einen Namen setzen
können.”
Man kommt zu dem Schluss:
→ Das Wort (jedes Wort) bezeichnet somit etwas bestimmtes und es bezeichnet
Eines.
1. Beweis (c) Das Menschsein kann nicht dasselbe bezeichnen wie das Nicht-
Mensch-sein.
Warum?
“Dann ist es nicht möglich, dass Mensch-sein dasselbe bezeichne wie Nicht-
Mensch-sein, sofern nämlich das Wort Mensch Eines bezeichnet nicht
bloss als Prädikat von Einem, sondern als selbst Eins. (Denn nicht so
wollen wir das Eins-bezeichnen verstanden wissen, dass etwas Prädikat von
Einem sei; denn in diesem Sinne würde auch gebildet und weiss und Mensch
Eins bezeichnen, und alles würde Eins sein, weil alles gleichbedeutend
sein würde.)”
Erklärung:
→ Wenn Mensch-sein und Nicht-Mensch-sein Prädikate von Einem, einer
Ganzheit, sein würden, würden sie die gleiche Referenz teilen und ihre
Bedeutungen würden zusammenfallen. Dies ist aber nicht der Fall, denn
Menschsein und Nicht-Mensch-sein bezeichnen Verschiedenes und schliessen
einander aus. Sie müssen also selbst Eins sein und nicht beide Attribute
derselben Einheit. (Sie müssen Wesenheiten, nicht Akzidentien sein. Sie
müssen Subjekte, nicht Prädikate sein.)
iii) Die, welche behaupten, dass Wörter unendlich Vieles bedeuten und
dass alle Wörter Prädikate von Einem sind, heben damit die Wesenheit
auf und glauben nur an Akzidentien.
Beispiele Aristoteles:
Für Fall 1: „Sokrates ist gebildet“
Für Fall 2: „das Weiße ist gebildet und das Gebildete weiß, weil beides
Akzidenzien des Menschen sind“
Achtung Fehler: Aristoteles nennt das Beispiel „Sokrates ist gebildet“ und
bezieht sich später auf das Akzidens „weiß“.
Ergebnis:
• Nicht alles kann als Akzidens ausgesagt werden.
• Es muss einen Namen geben, welcher die Wesenheit bezeichnet.
• Damit ist die gleichzeitige Prädizierung von Widersprüchichem
von der Wesenheit ausgeschlossen und die Geltung des Satzes vom
Widerspruch sichergestellt.
Anhand dieses letzten Arguments wird klar, dass die Akzeptanz von der
Substanzlehre Aristoteles und die Akzeptanz des Satzes vom
Widerspruch Hand in Hand gehen.
→ Wenn man die Substanzlehre annimmt, dann auch den Satz vom
Widerspruch.
2. Beweis. Wenn alle Widersprüche vereinbar sind, wären alle Dinge eins.
„[W]enn zugleich alle Widersprüche (antipháseis) über denselben Gegenstand
wahr sind, so müßte offenbar alles Eins sein. Denn es würde dasselbe Schiff und
Mauer und Mensch sein, wenn man von jedem Dinge etwas bejahend oder
verneinend prädizieren kann, wie diejenigen notwedig zugeben müssen, welche
der Lehre des Protagoras beistimmen.“
Aus diesem Denken folgt, „dass nichts in Wahrheit existiert“ (wie bei dem
Allzusammen (apeiron) des Anaxagoras).
Aristoteles wendet gegen Protagoras ein/stellt den Vorwurf:
Protagoras, Anaxagoras und ihre Nachfolger reden über das Bestimmte,
beziehen sich aber unwillentlich auf das Unbestimmte und damit auf das Nicht-
Seiende.
Begründung: „denn was nur dem Vermögen (dynámei), nicht der Wirklichkeit
nach (entelecheía) ist, das ist das Unbestimmte.“ (S. 110)
→ Die beiden Begriffe werden im weiteren Verlauf nochmals auftauchen.
(“Sie müssen nun aber von jedem Dinge jede Verneinung oder
Bejahung aussprechen; denn es wäre unstatthaft, wenn einem jeden seine
eigene Verneinung zwar zukommen sollte, die Verneinung eines andern aber,
das ihm nicht zukommt, nicht zukommen sollte. Ich meine z.B., wenn es wahr
ist, vom Menschen zu sagen, dass er nicht Mensch ist, so ist es offenbar auch
wahr, dass er nicht Schiff ist.”)
3. Beweis. Wer den Satz vom Widerspruch leugnet, muss auch den
Satz vom ausgeschlossenen Dritten leugnen.
„Wenn es wahr ist, dass der Mensch zugleich nicht Mensch ist, so müsste er
offenbar auch weder Mensch noch nicht Mensch sein.“
Erklärung:
Im Normalfall (unter Geltung des Satzes vom Widerspruch) ist der Mensch
entweder Mensch oder nicht Mensch, Sätze wie „Der Mensch ist zugleich nicht
Mensch“ können nicht wahr sein. Unter diesen Bedingungen ist eine dritte
Möglichkeit „Der Mensch ist weder Mensch noch nicht Mensch“
ausgeschlossen. Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten gilt.
Nun, aber, indem man den Satz des Widerspruchs leugnet und
widersprüchliche Aussagen wie „Der Mensch ist zugleich nicht Mensch“ zulässt
und für wahr hält, gilt der Satz vom ausgeschlossenen Dritten nicht mehr und
der Mensch kann „weder Mensch noch nicht Mensch sein“.
Begründung:
„Denn jene zwei Aussagen haben zwei Verneinungen, oder wenn man dieselbe
als eine einzige aus beiden gebildet ansieht , so würde auch diese als eine einzige
entgegengesetzt sein.“ (S. 110)
Erklärung:
„Denn jene zwei Aussagen haben zwei Verneinungen“:
1. Der Mensch ist Mensch. Verneinung: Der Mensch ist nicht Mensch.
2. Der Mensch ist nicht Mensch. Verneinung: Der Mensch ist Mensch.
„Oder wenn man dieselbe als eine einzige aus beiden gebildet ansieht“:
Der Mensch ist zugleich nicht Mensch.
Tertium non datur, ein Drittes ist nicht vorhanden, lautet der Grundsatz vom
ausgeschlossenen Dritten (Principium exclusi tertii seu medii inter duo contradictoria), nach
welchem Urteile, die bei gleichem Subjekte kontradiktorisch einander entgegengesetzte
Prädikate haben (z.B. A = B, A ist nicht = B), nicht beide falsch sein können und nicht die
Wahrheit eines dritten Urteils zulassen, so daß eins von beiden wahr sein muß. Aus der
Falschheit des einen folgt daher die Wahrheit des anderen. Denn die Falschheit der Bejahung
ist gleichbedeutend mit der Abweichung der Vorstellungskombination von der Wirklichkeit,
folglich mit der Wahrheit der Verneinung. Der obige Satz gilt übrigens nur von
kontradiktorischen, nicht von konträren Prädikaten gleicher Subjekte; diese können beide
falsch oder beide richtig sein.
4. Beweis. Unsinnige Folgen der vollständigen und der teilweisen Leugnung des
Satzes vom Widerspruch.
Der vierte Beweis versucht zu zeigen, dass aus der vollständigen oder teilweisen
Leugnung des Satzes Unsinniges folgt.
Vollständige Leugnung: der Satz vom Widerspruch trifft auf alle Dinge.
Teilweise Leugnung: der Satz vom Widerspruch trifft nur auf einige Dinge.
6. Beweis. Ist es unrichtig zu sagen, dass etwas sich so verhält oder sich nicht so
verhält, und richtig, beides zugleich anzunehmen?
Der sechste Beweis gibt die auch unsinnigen Folgen an, die die Leugnung des
Satzes bei der Suche nach dem Wesens der Natur oder des Seienden mit sich
bringen würde.
Folgen:
(a) Aussagen über die Natur oder die Beschaffenheit des Seienden
werden sinnlos.
Aristoteles stellt eine rhetorische Frage um den Unsinn zu
verdeutlichen/offenzulegen:
“Ist der letztere in der Wahrheit, was ist denn dann damit gemeint, wenn man
sagt, die Natur des Seienden sei so beschaffen?”
Aristoteles will mit dieser Frage darauf aufmerksam machen, dass die, die den
Satz des Widerspruchs nicht anerkennen, gar keine Behauptung über die Natur
des Seienden aussprechen können. Weil sie damit zeigen würden, dass doch
eine Bestimmung zu treffen, möglich ist. Damit würden sie ihrer eigenen Lehre
widersprechen.
(b) Wenn es nicht der Fall ist, dann ist die Natur des Seienden in dieser Hinsicht
bestimmt, und der Satz vom Widerspruch wäre wahr und nicht zugleich falsch.
(c) Wenn Irrtum und Wahrheit überall zusammenfallen, kann man nichts
aussagen.
(d) Die Vertreter dieser Lehre widersprechen dieser Lehre durch ihre eigene
Praxis.
Alle nehmen an, dass sich etwas auf eine bestimmte Weise verhält, weil sie in
ihrem Handeln und in ihrer Suche nach Dingen, die ihre Bedürfnisse
befriedigen sollen, nicht alles für gleich halten und durchaus zwischen Dingen
unterscheiden. Menschen unterscheiden zwischen Dingen, die sich besser oder
schlechter für ihre Zwecke eignen.
Kritik an Aristoteles:
Dieses Handeln, das Aristoteles beobachtet, ist unabhängig von den
Beschreibungen und den Theorien, die man über dieses Handeln erstellt. Dieses
Handeln muss nicht mit der Idee, die Aristoteles von diesem Handeln hat,
übereinstimmen.
Man kann so handeln, als ob man bestimmte Überzeugungen hätte, ohne, dass
man sie wirklich hat.
7. Beweis. Auch wenn alles sowohl so und nicht so ist, gibt es Grade des Irrtums,
folglich eine Wahrheit, der man näher oder ferner ist.
Beispiel Aristoteles: “den nicht in gleicher Weise würden wir die Zwei ungerade
nennen und die Drei, und nicht in gleichem Irrtum befindet sich, wer vier für
fünf hält, und wer tausend dafür ansieht.”
“Irren also diese nicht gleich sehr, so irrt der eine weniger und hat daher mehr
Wahrheit.”
Auseinandersetzung mit:
1. Denjenigen, die aufgrund der sinnlichen Wahrnehmung an der
Gültigkeit des Satzes zweifeln.
(a) Erläuterung der Position.
„Einmal nämlich, dass die Widersprüche und Gegensätze zugleich existierten,
glaubte man darum, weil man aus demselben das Entgegengesetzte
werden sah; wenn es nun nicht möglich ist, dass etwas war ohne zu sein, so
war schon vorher die Sache beides.“ (S. 114)
(Dies ist die Lehre von Anaxagoras und Demokrit)
(b) Kritik
Die, welche so denken, erkennen nicht, dass das Seiende in zwei Bedeutungen
gebraucht wird:
1. Etwas, dass aus dem Nicht-seienden werden kann. (dem Vermögen nach)
2. Etwas, dass aus dem Nicht-seienden nicht werden kann. (der Wirklichkeit
nach)
Dies ist die entscheidende Unterscheidung, die den Vorsokratikern fehlte.
Sie verstanden deswegen folgendes nicht:
„[D]em Vermögen nach (dynámei) kann dasselbe zugleich Entgegengesetztes
sein, der Wirklichkeit nach (entelecheía) aber nicht.“ (S. 114)
→Die Unterscheidung zwischen Aktuellem (der Wirklichkeit nach) und
Potenziellem (dem Vermögen nach) ermöglicht es Aristoteles das Problem von
Anaxagoras und Demokrit aufzulösen. Ein Ding kann potenziell F und nicht F
sein, aber nicht aktuell, zur selben Zeit.
Auseinandersetzung mit
2. Denjenigen, die meinen, dass das Erscheinende das Wahre ist.
(a) Darstellung der Position
Aristoteles präsentiert ihr Argument:
1. Prämisse: Es gibt drei Fälle, bei denen es zu widersprüchlichen
Erscheinungen kommt:
a. Dinge erscheinen verschiedenen Menschen anders.
Aristoteles zieht das Beispiel heran, dass „dasselbe einigen beim Kosten
süß scheine, anderen bitter“ (S. 115).
b. Dinge erscheinen Individuen unterschiedlicher Spezies anders
(Vergleich zwischen der Wahrnehmung von Menschen und Tieren)
c. Dinge erscheinen selbst der Sinneswahrnehmung desselben
Individuums nicht immer gleich.
2. Prämisse: Es ist unklar was wahr und was falsch ist, denn jede
Sinneswahrnehmung von jedem Individuum besitzt dieselbe Geltung.
3. Schlussfolgerungen:
a. Nichts ist wahr. (Demokrit)
b. Wenn es etwas wahres gibt, bleibt es uns verborgen. (Demokrit)
c. Alles ist genauso wahr wie alles andere. (Alles was der
Sinneswahrnehmung erscheint ist wahr.)
(b) Erklärung
Demokrit, Empedokles, Heraklit halten nur das Sinnliche für die Wahrheit des
Seienden. Da sich in der Natur alles ständig verändert, ziehen sie den Schluss,
dass es keine wahren Aussagen über die Natur geben kann.
(c) Kritik
i) „Das Werdende, indem es eine Eigenschaft eben verliert, hat noch etwas von
dem, was es verliert, und muss schon etwas von dem sein, was es wird. Und
überhaupt: soll etwas untergehen, so muss es als ein Seiendes vorhanden sein,
und wenn dagegen etwas entsteht, so muss etwas sein, woraus und wodurch es
erzeugt wird, und dies kann nicht ins Unendliche gehen.“ (S. 116)
ii) Dinge mögen sich in der Quantität verändern, aber nicht in der Qualität.
Da wir aber die Dinge nach ihrer Form (eîdos), also nach ihrer Qualität,
erkennen, stellt die Veränderung der Quantität kein Problem für die Erkenntnis
des Seienden dar.
iii) Nur die sinnlichen Dinge verändern sich ständig. Sie machen aber nur einen
oder keinen Teil des Weltalls aus, denn das Weltall besteht eigentlich aus
unbewegten Dingen.
iv) Es gibt neben der sinnlichen Welt, eine unbewegte Wesenheit (akínetos
phýsis)
(b) Die den Satz vom Widerspruch mit Worten bestreiten, geraten in
Widersprüche, wenn sie sagen, dass das Erscheinende ist.
Sie können nicht einfach allgemeinernd sagen, dass das Erscheinende (wahr)
ist, sondern sie müssen noch ergänzen dass, „das Erscheinende für den ist,
dem es erscheint, und wann und inwiefern und wie es erscheint.“ (S.
120)
→Sie müssen also nähere Bestimmungen hinzufügen, damit sie nicht in
Widersprüche geraten.
→ Diese Modifizierung der Aussage erlaubt es ihnen, nicht mehr
gegen den Satz vom Widerspruch zu verstossen.
(Worin besteht der Widerspruch? Na ja, sie müssten dann
konsequent nicht nur sagen, dass das Erscheinende ist, sondern dass
es auch nicht ist.)
(c) Denen, die wirklich denken, dass etwas zugleich wahr und falsch sein kann,
kann man erklären, dass dies nicht für dieselbe Person zum selben Zeitpunkt
usw. gilt.
Weitere notwendige Bestimmungen: Demselben Sinne in derselben Beziehung,
derselben Weise und derselben Zeit.
(d) Die Gegner unter (b) müssten die Konsequenz ziehen, dass alles
Erscheinende wahr für jemanden ist, womit wiederum jedes nur in Beziehung
auf etwas ist.
Das Erscheinende ist “wahr für diesen, dem es erscheint”. Damit wird alles als
relativ erklärt. Alles existiert nur relativ in “seiner Beziehung auf Meinung und
Sinneswahrnehmung” jedes einzelnen Individuums.
(b) Zwei absurde Folgen der Annahme, dass alles, was eins ist, eins ist mit
Bezug auf etwas.
i) “Wenn nun dem Meinenden gegenüber Mensch und Gemeintes dasselbe ist,
so kann dann das Meinende nicht Mensch sein, da vielmehr das Gemeinte
Mensch ist.”
→ D.h. dass die Substrate mit der Wahrnehmung und der Vorstellung der Substrate im
Denken des Menschen zusammenfallen würden, was nicht sein kann, da das erste die
notwendige Bedingung des zweiten ist.
ii) “Und wenn jedes durch seine Beziehung zum Meinenden ist, so müsste das
Meinende zu der Art nach unendlich vielen Dingen in Beziehung stehen.”
Warum ist das ein Problem?
Beispiel:
Kontradiktorische Aussagen: “Alle Hunde sind lieb” und “Alle Hunde sind nicht
lieb”/ “Einige Hunde sind nicht lieb.”
Konträre Aussagen: “Alle Hunde sind lieb.” und “Kein Hund ist lieb.”
(Mit Privation der Wesenheit ist gemeint: “Kein Hund”.)
Weil im konträren Gegensatz bei einem Glied die Wesenheit verschwindet, kann
auch das Konträre nicht demselben Gegenstand zugleich zukommen.
→ Siehe Quadrat der Syllogistik