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Zum Problem der Wahrnehmungsurteile in Kants

theoretischer Philosophie
von Jürg Freudiger, Bern

Die Einführung der sogenannten Wahrnehmungsurteile in den Prolegomena1 wird


von vielen Interpreten Kants mit dem Hinweis verworfen, daß seine diesbezüglichen
Auffassungen mit der Position der Kritik der reinen Vernunft nicht zu vereinbaren
seien. So kritisiert beispielsweise Allison Kants Behauptung, daß Wahrnehmungs-
urteile keiner Kategorien bedürften, indem er festhält, daß gemäß der Kritik jedes
Urteil qua Urteil die Kategorien voraussetze2, während etwa Guyer darauf auf-
merksam macht, daß Wahrnehmung Bewußtsein, damit die Einheit der Apperzeption
und somit die Kategorien voraussetze3. Bennett wiederum weist darauf hin, daß die
Bedeutung des Wortes „Urteil" in der zweiten Ausgabe der Kritik praktisch mit
derjenigen von „Erfahrungsurteil" zusammenfalle4. Mit dieser kurzen Aufzählung
— auf die einzelnen Punkte werden wir später eingehen — sind die wichtigsten und
oft wiederholten Einwände gegen die Wahrnehmungsurteile genannt. Lediglich
Prauss versuchte, ihnen in Kants System einen Stellenwert einzuräumen5. Doch ist
sein Ansatz — wie wir sehen werden - kaum haltbar.
Die vorliegende Studie weist anhand einer Analyse der entscheidenden Stellen von
Prolegomena und Kritik nach, daß die zweite Ausgabe der Kr. d. r. V. Wahrneh-
mungsurteile nicht nur zuläßt, sondern geradezu voraussetzt. Es geht uns dabei
ausschließlich um den Nachweis der internen Konsistenz des Kantischen Systems.
Die Frage nach der Richtigkeit desselben bleibt ausgeklammert.

I. Einige Termini

Die folgenden terminologischen Festsetzungen werden unsere Darstellung verein-


fachen. Wir erheben nicht den Anspruch, die entsprechenden Kantischen Termini
zu interpretieren, und wir werden für unsere Vorschläge auch nicht argumentieren.
Ihre Brauchbarkeit wird sich im Verlaufe unserer Erörterungen erweisen.
1
Auf die Werke Kants wird mit den Seitenzahlen der Akademie-Ausgabe verwiesen. Ebenso
auf die Logik-Nachschriften in Ak XXIV. Die Kr. d. r. V. wird mit den Seitenzahlen der
Ausgaben A und B zitiert.
2
H. E. Allison: Kant's Transcendental Idealism. An Interpretation and Defense, New Haven
& London 1983, S. 152.
3
P. Guyer: Kant and the Claims of Knowledge, Cambridge 1987, S. 100.
4
J. Bennett: Kant's Analytic, Cambridge 1966, S. 133. Urteile a priori sind von dieser Fest-
stellung natürlich nicht betroffen.
5
G. Prauss: Erscheinung bei Kant. Ein Problem der „Kritik der reinen Vernunft", Berlin 1971.
Wahrnehmungsurteile 415

Realität: Wir bezeichnen mit diesem Term die vom Subjekt völlig unabhängige
Welt der Dinge an sich6. Auf unerklärliche Weise wirkt die Realität auf das Subjekt
(intelligible Kausalität) und ruft in ihm Vorstellungen hervor. Unser Term ist nicht
mit der Kantischen Kategorie der Realität zu verwechseln!
Wirklichkeit: Dieser Term bezeichnet die Welt der Erscheinungw (eine bestimmte
Art von Vorstellungen, s. u.). Da die Realität für alle Subjekte die gleiche ist, die
Verarbeitung des Inputs7 bei allen Subjekten zudem die gleiche Struktur hat (reine
Anschauung, Kategorien), kann die Wirklichkeit als intersubjektiv bezeichnet wer-
den, obwohl sie aus Erscheinungenw, also Vorstellungen besteht. Kant spricht wohl
in diesem Sinne bisweilen von empirischer Realität (beispielsweise Kr. d. r. V. A 28/
B 44) oder betont, daß „der transscendentale Idealist ein empirischer Realist" ist (A
371). Die Wirklichkeit ist in gewissem Sinne gleichzeitig sowohl außer uns (da
nämlich die reine Anschauung Kaum involviert ist) als auch in uns, insofern sie ja
subjektintern konstituiert8 worden ist.
Erscheinung: Erscheinungen gehören zu den Vorstellungen. Wir unterscheiden
drei Versionen:
ErscheinungA: Das in einer empirischen Anschauung Angeschaute und als extern
Gesetzte9.
Erscheinung (simpliciter): Synonym mit empirischer Anschauung. Das Ergebnis
einer Anwendung der reinen Anschauungen10 auf Empfindung. Der Unterschied zu
ErscheinungA besteht darin, daß hier nicht das Vorgestellte, sondern die Vorstellung
selbst thematisch ist. Das, was in einer Erscheinung erscheint, ist vom Standpunkt
des Subjekts aus gesehen eine ErscheinungA, vom transzendentalphilosophisch-ex-
ternen Standpunkt aus betrachtet aber das Ding an sich11.
Erscheinungw: Die intersubjektiv gültige Version von ErscheinungA; das Ergebnis
von auf Erscheinung angewandten Verarbeitungsschritten (Kategorien oder, wie wir
sehen werden, Grundsätzen). Erscheinungw ist wohl gemeint, wenn Kant etwa von

6
Da jede Anwendung der Kategorien auf das Ding an sich untersagt ist, dürfte es auch keine
Rolle spielen, ob „es" im Singular oder im Plural angesprochen wird.
7
Termini wie „Verarbeitung", „Input" suggerieren erstens einen zeitlichen Erkenntnisprozeß
(wohingegen bei Kant Zeitlichkeit ja erst in diesem vermeintlichen Prozeß ins Spiel kommt)
und zweitens eine empirische Realität der von Kant aufgefundenen transzendentalphiloso-
phischen Strukturen. Beides bleibt letztlich inadäquat und dient nur der Anschaulichkeit.
8
Auch dieser Term darf nur metaphorisch aufgefaßt werden.
9
„Wir haben also sagen wollen: [...] daß die Dinge, die wir anschauen, [...] als Erscheinungen
nicht an sich selbst, sondern nur in uns existiren können" (A 42/B 59; unsere Hervorhebung).
Das Angeschaute („die Dinge, die wir anschauen") wird zwar als subjektextern angesehen,
bleibt aber nichtsdestoweniger Vorstellung und damit „in uns".
10
In $ 39 der Prolegomena ist von der „[...] reinen Form der Erscheinung (Raum und Zeit)"
(Pro/., Ak IV, 324) die Rede.
11
Nebenbei bemerkt unterstellen wir damit zwar eine duale Ontologie, aber keine Zwei-
Welten-Lehre. Die Antwort auf die Frage nach der Ontologie besteht lediglich relativ zu
einem Standpunkt. Eine absolute Antwort kann es nicht geben.
416 Jürg Freudiger

der Natur als dem Inbegriffe aller Erscheinungen spricht12. Erscheinungenw machen
das aus, was wir „Wirklichkeit" nennen (s. o.). Es sind die als extern gesetzten
Gegenstände der Erfahrung13.

II. Die Konzeption der Wahrnehmungsurteile

Wenden wir uns zuerst Kants Einführung der Wahrnehmungsurteile in den Pro-
legomena zu. Der Ausdruck „Wahrnehmung" taucht relativ früh, nämlich in § 5,
zum ersten Mal auf. Dort heißt es: „Die Möglichkeit synthetischer Sätze a posteriori,
d. i. solcher, welche aus der Erfahrung geschöpft werden, bedarf auch keiner
besondern Erklärung; denn Erfahrung ist selbst nichts anders, als eine continuirliche
Zusammenfügung (Synthesis) der Wahrnehmungen" (Pro/. 275). Kurz darauf scheint
Erfahrung selbst jedoch offenbar in einer Erweiterung eines Begriffes vermittelst
empirischer Anschauung14 zu bestehen. Wie hängen die beiden Stellen zusammen?
Könnten „Wahrnehmung" und „empirische Anschauung" dasselbe bedeuten?
Tatsächlich setzt Kant nur wenige Seiten später beide Termini explizit gleich: die
reinen Formen unserer Sinnlichkeit gehen, so Kant, „aller empirischen Anschauung,
d. i. der Wahrnehmung wirklicher Gegenstände" (Prol. 283) voraus. Wir können
demnach festhalten, daß „empirische Anschauung" und „Wahrnehmung" zumindest
ähnliche Bedeutungen haben.
Die entscheidende Thematisierung unseres Problemkreises erfolgt in den ersten
Paragraphen des Kapitels über reine Naturwissenschaft (§§ 17 ff.). Ohne den Begriff
explizit eingeführt zu haben, spricht Kant in § 17 nun erstmals vom Wahrnehmungs-
urteil. Zu Beginn des Paragraphen 18 trifft er dann jene umstrittene Unterscheidung,
die den Term „Wahrnehmungsurteil" allererst einführt. Da wir auf diese entschei-
dende Stelle des öftern zurückkommen werden, zitieren wir sie ausführlich:
Wir müssen denn also zuerst bemerken: daß, obgleich alle Erfahrungsurtheile empirisch
sind, d. i. ihren Grund in der unmittelbaren Wahrnehmung der Sinne haben, dennoch nicht
umgekehrt alle empirische Urtheile darum Erfahrungsurtheile sind, sondern daß über das
Empirische und überhaupt über das der sinnlichen Anschauung gegebene noch besondere
Begriffe hinzukommen müssen, die ihren Ursprung gänzlich a priori im reinen Verstande
haben, unter die jede Wahrnehmung allererst subsumirt und dann vermittelst derselben in
Erfahrung kann verwandelt werden.
Empirische Urtheile, sofern sie objective Gültigkeit haben, sind Erfahrungsurtheile; die
aber, 50 nur subjectiv gültig sind, nenne ich bloße Wahrnehmungsurtheile. Die letztern bedürfen

12
Beispielsweise B 163.
13
Vgl. etwa A 30/B 45, wo es heißt, daß der „transscendentale Begriff der Erscheinung" daran
erinnern soll, daß das, „was wir äußere Gegenstände nennen, nichts anders als bloße
Vorstellungen unserer Sinnlichkeit sind [B: seien]".
14
„[...] so wie die empirische Anschauung es ohne Schwierigkeit möglich macht, daß wir
unseren Begriff, den wir uns von einem Object der Anschauung machen, durch neue
Prädicate, die die Anschauung selbst darbietet, in der Erfahrung synthetisch erweitern [...]"
(Prol. 281).
Wahrnehmungsurteile 417

keines reinen Verstandesbegriffs, sondern nur der logischen Verknüpfung der Wahrnehmungen
in einem denkenden Subject. Die erstem aber erfordern jederzeit über die Vorstellungen der
sinnlichen Anschauung noch besondere, im Verstande ursprünglich erzeugte Begriffe, welche
es eben machen, daß das Erfahrungsurtheil objectiv gültig ist (Prol. 297 f.).

Wir wollen nun versuchen, diese zentrale Stelle zu interpretieren. Dabei richten
wir unser Augenmerk zuerst auf die Erfahrungsurteile.

Erfahrungsurteile
Zunächst gilt es festzuhalten, daß der wesentliche Unterschied zwischen einem
Erfahrungs- und einem Wahrnehmungsurteil offenbar darin besteht, daß im ersteren
eine Subsumtion unter reine Verstandesbegriffe erfolgt, im zweiten jedoch nicht.
Nun stellt sich die Frage: Was wird eigentlich subsumiert? Zwar ist vorerst etwas
allgemein von einem in der sinnlichen Anschauung Gegebenen die Rede, gleich
darauf hält Kant aber explizit fest, daß es Wahrnehmungen sind, die subsumiert
werden15. Dies könnte zunächst erstaunen, betont die Kritik doch immer wieder,
daß Erkenntnis aus Anschauung und Begriff bestehe. Wir haben jedoch schon
festgestellt, daß „Wahrnehmung" und „empirische Anschauung" zumindest sehr
ähnliche Bedeutungen haben. Ersetzen wir im obigen Kontext „Wahrnehmung"
jeweils durch „empirische Anschauung", so ergibt sich, was das Erfahrungsurteil
betrifft, kein Widerspruch zur Kritik. Da die Möglichkeit dieser Substitution unsere
Vermutung natürlich stützt, werden wir im folgenden probeweise davon ausgehen,
daß „empirische Anschauung" und „Wahrnehmung" dasselbe bedeuten.16
Weiter gilt es festzuhalten, daß gemäß dem letzten Satz der zitierten Textstelle
ein Erfahrungsurteil offenbar dadurch objektiv wird, daß Elemente der Sinnlichkeit
unter die Kategorien subsumiert werden. Bezüglich dieser Elemente verwendet Kant
zwar eine ganze Reihe von Ausdrücken17. Doch ist „Wahrnehmung" der am häufig-
sten verwendete Term und wir können die übrigen, ungenaueren Ausdrücke igno-
rieren. So werden wir im folgenden davon ausgehen, daß es sich bei dem, was im
Erfahrungsurteil subsumiert wird, um Wahrnehmungen handelt18.

15
Desgleichen gegen Ende des Paragraphen: die Allgemeingültigkeit des Erfahrungsurteils
beruhe auf dem Verstandesbegriff, „unter dem die Wahrnehmung subsumirt ist" (Prol. 298).
16
Da wir oben „empirische Anschauung" mit „Erscheinung" gleichgesetzt haben, ergeben
sich damit vorläufig drei Bezeichnungen für ein und dasselbe. Die Gleichsetzung von
„empirische Anschauung" mit „Wahrnehmung" findet sich auch bei R. Hanna: Kant's
Theory of Empirical Judgment and Modern Semantics, in: History of Philosophy Quarterly
7/3 (1990), S. 339.
17
Allein in § 19: „Wahrnehmung", „Vorstellungen der Sinnlichkeit", „Empfindungen in meinen
Sinnen", „das der sinnlichen Anschauung Gegebene". In den nächsten Paragraphen (§§ 20 ff.)
kommt noch „Anschauung" sowie „Erscheinung" hinzu.
18
Knapp und präzise drückt sich Kant in (oder besser: gemäß) der Jäsche-Logik aus: „Ein
Wahrnehmungsurtheil ist bloß subjectiv, ein objectives Urtheil aus Wahrnehmungen ist ein
Erfahrungsurtheil (Jäsche, Ak IX, 113; unsere Hervorhebung, drei Hervorhebungen Jäsches
getilgt).
418 Jürg Freudiger

Wie haben wir uns diese Subsumtion vorzustellen? In einer Anmerkung zu § 22


verweist Kant auf die Kritik: „[...] Erfahrung wird allererst durch diesen Zusatz des
Verstandesbegriffs [...] zur Wahrnehmung erzeugt. Wie die Wahrnehmung zu diesem
Zusätze komme, darüber muß die Kritik im Abschnitte von der transscendentalen
Urtheilskraft Seite 137 u. f. nachgesehen werden" (Pro/. 305).
Folgen wir diesem Verweis auf das Schematismus-Kapitel der Kritik, so fällt auf,
daß dort nicht von einer Subsumtion von Wahrnehmung, sondern von Erscheinung
bzw. Anschauung die Rede ist: „Nun sind aber reine Verstandesbegriffe in Verglei-
chung mit [...] Anschauungen ganz ungleichartig [...]. Wie ist nun die Subsumtion
der letzteren unter die erste, mithin die Anwendung der Kategorie auf Erscheinungen
möglich [...]?" (A 137/B 176). Auch hier zeigt sich, daß „Erscheinung", „(empirische)
Anschauung" und „Wahrnehmung" offenbar synonym verwendet werden. Wir wer-
den im letzten Abschnitt noch auf die Frage zurückkommen, worin die Subsumtion
genau besteht und welche Rolle die Grundsätze des reinen Verstandes (Prinzipien-
Kapitel, A 148ff./B 187 ff.) für das Erfahrungsurteil spielen.

Wahrnehmungsurteile
Den Hauptunterschied zwischen Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteil haben wir
bereits genannt: im Wahrnehmungsurteil findet zwar eine Verknüpfung, aber keine
Subsumtion statt. Da also keine Kategorien involviert sind, kann das Wahrneh-
mungsurteil keine objektive Gültigkeit beanspruchen. Es ergeben sich zunächst
folgende Fragen: (i) Was wird in einem Wahrnehmungsurteil verknüpft? (ii) Wie
wird verknüpft? — Wir werden nun versuchen, diese beiden Fragen anhand der
Erörterungen in den Prolegomena zu beantworten.
(i) Wenn wir die bereits zitierte Stelle aus Paragraph achtzehn19 konsultieren, so
finden wir die simple Antwort, daß ein Wahrnehmungsurteil lediglich in „der
logischen Verknüpfung der Wahrnehmungen in einem denkenden Subject" (Pro/.
298) bestehe. Dies scheint zunächst harmlos. Doch stellt sich die Frage, ob sich
diese Charakterisierung mit Kants sonstigem Verständnis von „Urteil" verträgt.
Ähnlich wie in der Kritik (auf deren Gebrauch von „Urteil" wir noch zu sprechen
kommen werden) ist in den Urteilsdefinitionen einiger Nachschriften von Kants
Logik Vorlesungen von Begriff s Verknüpfungen die Rede20. Hingegen lassen die Wie-
ner Logik und Jäsche, vielleicht auch die Logik Busolt21 etwas von der Art der
Wahrnehmungsurteile offenbar zu. In der Urteilsdefinition von Jäsche muß das
„oder" als Junktor aufgefaßt werden22. In der Wiener Logik finden wir folgende
19
Vgl. S. 416 f.
20
Und zwar in den folgenden (in Klammer jeweils eine Seitenangabe, die sich auf Band XXIV
der Akademieausgabe bezieht): Blomberg (273 ff.), Philippi (461 ff.), Pölitz (577f.) und
Dohna-Wundlacken (763).
21
Dort scheint allerdings einiges durcheinandergeraten zu sein. „Die Logik oder Vernunftlehre
von Herrn Professor Kant", Ak XXIV, S. 661.
22
„Ein Urtheil ist die Vorstellung der Einheit des Bewußtseins verschiedener Vorstellungen
Wahrnehmungsurteile 419

Formulierung: „Wenn man sich zwey Vorstellungen denkt, wie sie als Erkenntnisse
zusammen verbunden sind, und zusammen Eine Erkenntnis ausmachen; so ist es
ein Urtheil. In jedem Urtheil ist also ein gewisses Verhältniß verschiedener Vorstel-
lungen, so fern sie zu einer Erkenntnis gehören" (Diener Logik, 928). Das Auftau-
chen des Wortes „Erkenntnis" braucht uns hier nicht irrezuleiten, denn sein Gebrauch
an dieser Stelle entspricht der allgemeinen Verwendung dieses Termes in der Wiener
Logik-, abgesehen von Begriffen fallen auch Anschauungen darunter23. Wichtig ist
festzuhalten, daß Jäsche und Wiener Logik von Verknüpfungen von Vorstellungen
sprechen. Diese Ausdrucksweise läßt auch andere Verknüpfungsinstanzen zu als nur
gerade Begriffe24. Dementsprechend versucht Stuhlmann-Laeisz übrigens nachzu-
weisen, daß das, was im Urteil verknüpft wird, recht unterschiedlicher Natur sein
kann25. Dabei weist er zu Recht darauf hin, daß die Geschmacksurteile der Kr. d. U.
nicht ins transzendentallogische Urteilsverständnis Kants passen26. Leider kommt er
in diesem Zusammenhang auf die Wahrnehmungsurteile nur insofern zu sprechen,
als er auf die Arbeit von Prauss verweist, die wir noch diskutieren werden.
Kant seinerseits bleibt innerhalb der Prolegomena konsequent. Er hält fest: „Dieses
Urtheilen kann nun zweifach sein: erstlich, indem ich blos die Wahrnehmungen
vergleiche und in einem Bewußtsein meines Zustandes, oder zweitens, da ich sie in
einem Bewußtsein überhaupt verbinde" (Pro/. 300). Bezüglich der Wahrnehmungen
bedeutet dies, daß sich das Subjekt ihrer im Wahrnehmungsurteil bewußt ist. Aus

oder die Vorstellung des Verhältnisses derselben, sofern sie einen Begriff ausmachen" (Jäsche,
101; unsere Hervorhebung). Allison versteht dieses „oder" explikativ (Kant's Transcendental
Idealism, S. 69 sowie 71) und biegt so die Definition in Richtung der Kritik zurecht. Versteht
man es als Junktor, so kann im ersten Teil für „Vorstellungen" das Wort „Wahrnehmungen"
eingesetzt werden und wir erhalten eine Definition, die mit den Prolegomena kompatibel ist.
23
„Erkenntniß ist zweyfach, entweder Anschauung oder Begriff. Jene ist einzeln, diese allge-
mein" (Wiener Logik, 805).
24
Da Urteilsverknüpfungen ebenfalls Urteile sind (hypothetisches, disjunktives Urteil usw.),
muß mindestens dies ebenfalls zugelassen sein. Die Auffassung von Urteilen als Begriffs-
Verknüpfungen war die Standardauffassung der Logiker zu Kants Zeit, welche von ihm
bisweilen sogar attackiert wurde. Vgl. hierzu: R. Stuhlmann-Laeisz: Kants Logik. Eine
Interpretation auf der Grundlage von Vorlesungen, veröffentlichten Werken und Nachlaß-,
Berlin & New York 1976, S. 55.
25
„Während also nach der von Kant vorgefundenen Schullogik in jedem ,kategorischen' Urteil
ein Verhältnis von Begriffen ausgesagt wird, gilt dies nach Kants Theorie vom Begriff für
das singuläre Urteil nicht. Dieses drückt — wie alle Urteile nach Kant — ein Verhältnis
von ,Vorstellungen* aus, und zwar ein Verhältnis zwischen Anschauung und Begriff" (Stuhl-
mann-Laeisz, S. 80). Wie wir bereits gesehen haben, haben Erfahrungsurteile nach unserer
Interpretation allerdings eine andere Struktur. Wichtig bleibt jedoch festzuhalten, daß
Stuhlmann-Laeisz zum Ergebnis kommt, daß „Begriffsverknüpfung" nicht zur Charakteri-
sierung dessen ausreicht, was Kant „Urteil" nennt.
26
Er kommt zum interessanten Schluß, daß „der transzendentallogische Begriff eines Urteils
enger ist als der formallogische". Geschmacksurteile (und wie wir wohl ergänzen dürfen:
Wahrnehmungsurteile) genügen lediglich den formallogischen, nicht aber den transzenden-
tallogischen Bedingungen. Stuhlmann-Laeisz, S. 58 f.
420 Jürg Freudiger

der Vorstellungs-Stufenleiter27 wissen wir, daß auch Anschauung mit Bewußtsein


verbunden sein kann. Folglich kann der Unterschied zwischen Wahrnehmung und
empirischer Anschauung nicht darin bestehen, daß die erstere mit Bewußtsein
verbunden ist. Deshalb schlagen wir vor, den Unterschied folgendermaßen zu fassen:
Eine Anschauung ist genau dann Wahrnehmung, wenn sie als subjektsinterne Vor-
stellung thematisiert wird28. Auf diese Weise bleibt die grundsätzliche Gleichheit
von Wahrnehmung und Anschauung erhalten. Das „thematisiert" drückt aus, daß
sich das Bewußtsein auf die Anschauung richtet, um sie als solche zu verarbeiten29.
Wir haben gezeigt, daß das, was in einem Wahrnehmungsurteil verknüpft wird,
Wahrnehmungen, nach unserer Auffassung also thematisierte Anschauungen sind;
und wir haben auch gezeigt, daß sich dies mit Kants Urteilsverständnis in einigen
der Logiken offenbar vereinbaren läßt. Ob dies auch mit dem Gebrauch von „Urteil"
in der Kritik zu vereinbaren ist, bleibt noch zu klären. Zuvor aber wenden wir uns
unserer zweiten Frage zu.
(ii) Wie werden die Wahrnehmungen verknüpft? Auch hier mutet die Antwort
zunächst harmlos an: „Die letzteren [i. e. Wahrnehmungsurteile] bedürfen keines
reinen Verstandesbegriffs, sondern nur der logischen Verknüpfung der Wahrneh-
mungen in einem denkenden Subject", heißt es in der von uns bereits angeführten
Stelle30. Kant scheint also davon auszugehen, daß wir beliebige Vorstellungen so-
zusagen mechanisch gemäß der Urteilstafel miteinander verknüpfen können. Zwar
„klingt" das Resultat dann wie ein objektives Urteil31, es handelt sich aber lediglich
um einen Bericht über einen subjektsinternen Zustand.
Nun droht der Einwand, daß Wahrnehmungsurteile qua Urteile auch dann gemäß
der Urteilstafel verknüpft werden müssen, wenn sie nicht objektiv sind, und daß sie
daher die Kategorien voraussetzten32. Widerlegt dies die Möglichkeit der Wahrneh-
27
A 320/B 376.
28
Dies entspricht der folgenden Unterscheidung von Stuhlmann-Laeisz: „[...] subjektive und
objektivierte Vorstellungen unterscheiden sich also nicht als solche; die Transformation
vom Subjektiven ins Objektive vollzieht sich vielmehr dadurch, daß das Bewußtsein, den
Gegenstand X zu repräsentieren, zu einer subjektiven Vorstellung hinzutritt und sie objek-
tiviert" (R. Stuhlmann-Laeisz: Kants Thesen über sein Kategoriensystem und ihre Beweise,
in: Kant-Studien 78 (1987), S. 13).
29
Sehr deutlich ist die folgende Stelle aus der Jäsche-Logik: „Ein Urtheil aus bloßen Wahr-
nehmungen ist nicht wohl möglich als nur dadurch, daß ich meine Vorstellung, als Wahr-
nehmung, aussage [...]" (Jäsche, 113).
30
Vgl. S. 416 f.
31
Kant scheint sich nicht gefragt zu haben, ob ein Wahrnehmungsurteil überhaupt sprachlich
realisiert werden kann. Unser Ausdruck „klingt" ist nur metaphorisch zu verstehen, und
soll andeuten, daß hier wohl der Grund dafür liegt, daß alle Beispiele, die Kant zu geben
versucht, derart kläglich scheitern.
32
Obwohl der Zusammenhang zwischen Urteilstafel und Kategorientafel, auf den sich Kant
bisweilen mit dem Term „metaphysische Deduktion" (beispielsweise B 159) bezieht, reichlich
mysteriös anmutet, ist unbestreitbar, daß im Prinzip die Kategorien grundlegend, die
Urteilsschemata aber durch diese bedingt sind. Es ist nur der Weg, die Verstandesbegriffe
zu finden, der nach Kants Darstellung in § 39 der Prolegomena über die Urteilsfunktionen
führt, das Bedingungsverhältnis ist gerade umgekehrt.
Wahrnehmungsurteile 421

mungsurteile? Wohl kaum. Zwar zeigt dieses Argument, daß im Prinzip auch im
Wahrnehmungsurteil die Kategorien eine Rolle spielen; auch werden wir später
sehen, daß noch auf eine andere Art die Verstandesbegriffe versteckte Vorausset-
zungen für die Wahrnehmungsurteile sind33. Die Möglichkeit der letzteren bleibt
trotzdem erhalten. Denn das, was Erfahrungs- und Wahrnehmungsurteile vonein-
ander unterscheidet, ist keine der genannten fundamentalen Arten von Kategorien-
involviertheit, sondern eine dritte. Wir haben bereits auf jene unscheinbare Fußnote
hingewiesen, in der uns Kant offenbar den Schlüssel zum Verständnis dieser dritten
Art von Kategorienanwendung in die Hand gibt34. Dank dieses Verweises wissen
wir nämlich, worin der Unterschied in der Verknüpfungsart genau besteht: während
das Wahrnehmungsurteil bloß eine logische Verknüpfung beinhaltet, bedarf das
Erfahrungsurteil einer Verknüpfung gemäß der Analytik der Grundsätze, also durch
schematisierte Kategorien.
Damit wissen wir auch, daß das Erfahrungsurteil seinerseits gleich in dreierlei
Hinsicht von den Kategorien abhängig ist: erstens qua Urteil überhaupt, zweitens
durch die eigentliche Anwendung der schematisierten Kategorie und drittens da-
durch, daß die zugrundeliegenden Wahrnehmungen ebenfalls bereits die Kategorien
voraussetzen, was wir, wie gesagt, noch zeigen werden. Nur die zweite Art von
Kategorienabhängigkeit ist im Wahrnehmungsurteil nicht gegeben!
Wir können also jene Charakterisierung Kants, wonach das Wahrnehmungsurteil
keines Verstandesbegriffes bedarf, wie folgt präzisieren: das Wahrnehmungsurteil
setzt keinen schematisierten Verstandesbegriff voraus.

III. Schwierigkeiten

Damit sind wir bereits in der Lage, die grundlegenden Einwände, die gegen die
Wahrnehmungsurteile vorgebracht worden sind, abzuwehren. Da wir wissen, daß
das Erfahrungsurteil die Kategorien auf drei verschiedene Arten voraussetzt und
beim Wahrnehmungsurteil nur eine dieser drei wegfällt, sind sämtliche Einwände
gegenstandslos, die sich auf die beiden übrigen beziehen. So läuft der unter anderem
von Allison vorgebrachte Einwand35, jedes Urteil setze die Urteilstafel, damit die
Kategorien voraus, offenbar ins Leere. Auch die Tatsache, daß Wahrnehmungsur-
teile, als Berichte über subjektinterne Zustände verstanden, nach Kant Selbstbe-
wußtsein und damit die Kategorien voraussetzen36, kann die Möglichkeit der Wahr-
nehmungsurteile nicht widerlegen.
33
Es wird sich zeigen, daß Wahrnehmung die Synthesis der Apprehension voraussetzt, die
ihrerseits kategoriengeleitet ist.
34
Vgl. S. 418.
35
Allison: Kant's Transcendental Idealism, S. 151 f.
36
Dies ist beispielsweise ein Punkt Guyers: „It is often asked how the initial distinction [i. e.
von Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteilen] is to be reconciled with Kant's view that the
unity of apperception, thus apparently any form of self-consciousness itself, entails the use
of the categories. How can judgements of perception express any form of self-consciousness,
yet not use the categories?" (Guyer: Claims of Knowledge, S. 100).
422 Jürg Freudiger

Der wichtigste Einwand bezieht sich auf die von Kant in den Prolegomena
behauptete subjektive Gültigkeit der Wahrnehmungsurteile. Viele Autoren deuten
diese Behauptung dahingehend, daß es sich um Urteile über das urteilende Subjekt
selbst handle und wenden dann ein, daß auch ein solches Urteil objektiv gültig sei,
da das Objekt mit dem subjektinternen Zustand zusammenfalle37. Was aber meint
Kant mit „objektiv"? „Objektive Gültigkeit" ist gleichbedeutend mit „notwendige
Allgemeingültigkeit"38, und diese kann nur durch die Anwendung der Kategorien
erreicht werden39. Wenn aber „objektiv gültig" für ein Urteil dasselbe bedeutet wie
„notwendig allgemeingültig", so bedeutet das Gegenteil, „subjektiv gültig", dasselbe
wie „nicht (notwendig allgemeingültig)". Da aber ein notwendig allgemeingültiges
Urteil nur durch Kategorienanwendung erzeugt werden kann, bedeutet „subjektiv
gültig" genau dasselbe wie „ohne Kategorienanwendung". Mit anderen Worten: die
Bemerkung, daß das Wahrnehmungsurteil „nur subjectiv gültig" (Pro/. 298) sei, ist
gleichbedeutend mit: die Wahrnehmungsurteile „bedürfen keines reinen Verstandes-
begriffs" (ebd.). Damit ist auch diese Schwierigkeit auf die bereits behandelten
Einwände zurückgeführt und damit aus dem Weg geräumt.
Ein weiterer Kritikpunkt stützt sich auf die Annahme, daß Kant in der B-Version
der Kritik von der neuen Unterscheidung zwischen Wahrnehmungs- und Erfahrungs-
urteil Gebrauch machen würde, wenn er sie nicht wieder verworfen hätte40. Wir
werden im letzten Abschnitt zeigen, daß Kant die gewonnene Unterscheidung sehr
wohl verwendet und lediglich auf den Term „Wahrnehmungsurteil" verzichtet.
Doch wollen wir uns nun der einzigen namhaften Interpretation zuwenden, die
in jüngerer Zeit zugunsten einer Verteidigung der Wahrnehmungsurteile geltend
gemacht worden ist41. Die von Prauss zugrundegelegte Interpretation der Kritik
weicht von der unseren in vielen wesentlichen Punkten ab. Daher müssen wir
zumindest kurz den Kontext andeuten, in den Prauss die Wahrnehmungsurteile
stellt. Prauss glaubt, daß die erste Auflage der Kritik folgendes Problem zurückläßt:
es werden subjektinterne Objekte (empirische Erscheinungen)42 postuliert, die für
das Subjekt nie Objekt werden können, ohne sogleich ihren spezifischen Status zu

37
So beispielsweise Allison: „In fact, such judgements are objectively valid in precisely the
same sense and for the same reasons as judgements of experience: they are grounded and
can be known to be true or false. [...] That sugar tasted sweet to me at a particular time
is simply a fact about the world" (Allison: Kant's Transcendental Idealism, S. 151).
38
„[...] und so bedeutet die objective Gültigkeit des Erfahrungsurtheils nichts anders, als die
nothwendige Allgemeingültigkeit desselben" (Pro/. 298). „Es sind daher objective Gültigkeit
und nothwendige Allgemeingültigkeit (für jedermann) Wechselbegriffe [...]" (Pro/. 298).
39
„[...] wenn aber durch den Verstandesbegriff die Verknüpfung der Vorstellungen, die unsrer
Sinnlichkeit [...] gegeben sind, als allgemeingültig bestimmt wird, so wird der Gegenstand
durch dieses Verhältnis bestimmt, und das Urtheil ist objectiv" (Pro/. 299).
40
So betont etwa Bennett: „In fact, Kant merely denies that there are any judgements of
perception, or rather he tacitly restricts the meaning of judgement* to that of judgement
of experience4" (J. Bennett: Kant's Analytic, Cambridge 1966, S. 133).
41
G. Prauss: Erscheinung bei Kant. Ein Problem der „Kritik der reinen Vernunft", Berlin 1971.
42
Bei uns: ErscheinungA.
Wahrnehmungsurteile 423

verlieren (d. h. ohne sogleich als intersubjektive empirische Dinge an sich43 gedeutet
zu werden). Das heißt, daß die Objekte, die als etwas gedeutet werden, durch diese
Deutung auch gerade verschwinden. Nach Prauss sind aber genau diese Objekte für
die Kantische Theorie von fundamentaler Bedeutung. Gemäß seiner Interpretation
stellen nun die Wahrnehmungsurteile der Prolegomena einen ersten Versuch dar,
diese Objekte (empirische Erscheinungen) dem Subjekt zugänglich zu machen. Der
endgültige Durchbruch gelingt Kant nach Prauss allerdings erst in der zweiten
Auflage der Kritikl Hier setze Kant für die Wahrnehmung eine eigene Form von
Bewußtsein44 an, womit die Möglichkeit von Wahrnehmungsurteilen nicht mehr in
Frage stehe.
Prauss' Ansatz ist unserer Meinung nach in vielen Einzelheiten mit großen
Fragezeichen zu versehen. Auch scheint uns seine zugrundegelegte allgemeine Inter-
pretation nicht sehr einleuchtend zu sein. Wir wollen hier jedoch nur auf zwei
fundamentale Schwierigkeiten hinweisen, die mit Prauss' eigentlicher Analyse der
Wahrnehmungsurteile selbst zu tun haben.
Der erste Punkt betrifft Prauss' Versuch einer Unterscheidung von zwei verschie-
denen Arten von Kategorien-„Gebrauch". Er schreibt: „Auch in der zweiten Auflage
der Kritik hält Kant an dem Lehrstück fest, daß Erfahrung nur erklärbar ist, sofern
alle subjektiv-privaten Erscheinungen, durch deren Deutung sie zustande kommt,
dazu von vornherein nach der synthetischen Einheit des Bewußtseins in den sche-
matisierten Kategorien Buchstabiert* und damit von vornherein ,unter Kategorien*
in jener Beschaffenheit gegeben werden, in der sie diesen Kategorien gemäß sind**
(Prauss, S. 272). Prauss behauptet also, daß ErscheinungenA vom Verstand mittels
schematisierter Kategorien sozusagen zurechtgemacht worden sind, damit dann die
eigentliche Anwendung der Kategorien reibungslos vonstatten gehen kann. Dies hat
nun durchaus Ähnlichkeit mit dem von uns bereits mehrfach versprochenen Nach-
weis, daß Wahrnehmung grundsätzlich nur unter der Voraussetzung der Kategorien
möglich sei. Wir haben aber bereits festgestellt, daß der Unterschied zwischen
Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteilen darin besteht, daß nur in den letzteren die
schematisierten Kategorien angewendet werden. Gerade von diesen aber behauptet
Prauss, daß sie bereits bei ErscheinungenA und damit a fortiori bei Wahrnehmungen
beteiligt seien. Da sich unsere Interpretation auf eine sehr deutliche Stelle in den
Prolegomena stützt45, ist offensichtlich, daß Prauss' Interpretation in krassem Wi-
derspruch zu den Prolegomena steht.
Ein zweiter Kritikpunkt betrifft Prauss' Bemühungen um eine sprachliche Wie-
dergabe von Wahrnehmungsurteilen. Obwohl seine Identifikation der Wahrneh-
mungsurteile mit „Es scheint ..."-Urteilen46 durchaus einleuchten könnte, muß be-

43
Bei uns vermutlich Erscheinungw.
44
Die subjektive Einheit des Selbstbewußtseins (B 139) als Bewußtsein von empirischen
Erscheinungen; Prauss: Erscheinung bei Kant, S. 257.
45
Vgl. S. 418.
46
Prauss: Erscheinung bei Kant, 198 ff.
424 Jürg Freudiger

tont werden, daß damit nicht allzuviel geleistet ist. Denn der Nachweis der Mög-
lichkeit einer sprachlichen Realisierung des von Kant Intendierten ist nicht identisch
mit dem Nachweis der theoretischen Möglichkeit desselben. Die Tatsache, daß wir
„es scheint ..."-Urteile (vielmehr: -Sätze) formulieren können, kann in keiner Weise
belegen, daß Kants Theorie Wahrnehmungsurteile zuläßt; sie kann es auch dann
nicht, wenn diese so verstanden werden, wie Prauss sie verstanden wissen möchte47.
Angesichts der Tatsache, daß die beiden genannten Kritikpunkte sehr fundamen-
taler Natur sind, erübrigt sich eine weitere Diskussion des Praussschen Ansatzes.

IV. Das Wahrnehmungsurteil und die Kritik

Wenn unsere bisherige Interpretation mit der Kr. d. r. V. kompatibel sein soll,
müssen wir zwei Dinge nachweisen: erstens, daß Wahrnehmung auch in der Kritik
als subjektsinterne Thematisierung einer Anschauung verstanden werden kann, und
zweitens, daß die Kritik die (bewußte) Verknüpfung von Wahrnehmungen zuläßt.
Da die Wahrnehmungsurteile erst in den Prolegomena eingeführt wurden, liegt es
nahe, im folgenden vorzüglich B als jene Ausgabe zu berücksichtigen, die für den
Nachweis der Kompatibilität der Wahrnehmungsurteile mit der Kr. d. r. V. ausschlag-
gebend ist.
Da die transzendentale Ästhetik keinen prominenten Gebrauch des Wortes „Wahr-
nehmung" macht, wenden wir uns gleich der transzendentalen Analytik zu. Die
Tatsache, daß Wahrnehmung erst von der transzendentalen Analytik an thematisch
vertreten ist, können wir als Hinweis darauf verstehen, daß Wahrnehmung ein
Phänomen ist, das — ungeachtet seiner Verwandtschaft mit empirischer Anschauung
— bereits dem Verstand angehört.
Betrachten wir einmal folgende zentrale Stelle gegen Ende der transzendentalen
Deduktion der Kategorien: „Zuvörderst merke ich an, daß ich unter der Synthesis
der Apprehension die Zusammensetzung des Mannigfaltigen in einer empirischen
Anschauung verstehe, dadurch Wahrnehmung, d. i. empirisches Bewußtsein dersel-
ben (als Erscheinung), möglich wird" (B 160).
Halten wir zunächst fest, daß Wahrnehmung hier also empirisches Bewußtsein
einer empirischen Anschauung ist, was sich mit unserer Prolegomena-Interpretation
deckt. Weiter erfahren wir aber jetzt, daß dieses empirische Bewußtsein namens
Wahrnehmung durch eine Synthesis der Apprehension ermöglicht wird. Das heißt,
die Bewußtwerdung (Thematisierung) einer empirischen Anschauung ist nur durch
diese Synthesis möglich. Was hat es mit der letzteren auf sich? Um eine Antwort

47
Wir stimmen also Guyer zu, wenn er sagt: „But this solution works only by assuming
something that Kant never asserts, namely that there must be some way of expressing
judgements of perception" (Guyer: Claims of Knowledge, S. 435; Anmerkung 13).
Wahrnehmungsurteile 425

auf diese Frage zu erhalten, ist es unumgänglich, die Synthesis der Apprehension in
ihrem Kontext zu betrachten, das heißt, wir benötigen eine Interpretation der
transzendentalen Deduktion.

Die transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe


In Anlehnung an die gut nachvollziehbare Interpretation von Allison48 können
wir folgendes festhalten: Die Deduktion besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil
(§§ 15 — 21) weist nach, daß die Kategorien notwendige Bedingungen für Objekte
im schwachen Sinne des Wortes49 sind. Das sind sie deshalb, weil jede Vorstellung
eines solchen Objekts die transzendentale Einheit der Apperzeption voraussetzt,
welcher wiederum eine sehr fundamentale Art von Synthesis zugrunde liegt50. Diese
vorauszusetzende Synthesis51 wiederum kann nicht ohne Kategorien auskommen
(§ 20, B 143). Lapidar ausgedrückt könnte man Kants Argument so zusammenfassen:
damit es mir möglich ist, verschiedene Vorstellungen als zu meinem (durchwegs
identischen) Bewußtsein gehörig zu „erkennen", wende ich eine sehr fundamentale
Verstandeshandlung an, die ich ohne Kategorien nicht ausführen könnte.
Der zweite Teil der Deduktion (§§ 24 — 27) soll nachweisen, daß die Kategorien
auf die Vorstellungen der (menschlichen) Sinnlichkeit notwendig Anwendung finden,
und damit notwendige Bedingung für Objekte im starken Sinne des Wortes52 sind.
Das Argument sieht folgendermaßen aus: Zuerst wird gezeigt, daß die Formen der
reinen Anschauung, Raum und Zeit, eine neue Art von Synthesis voraussetzen, die
transzendentale Synthesis der Einbildungskraft, welche für die in Raum und Zeit
gedachte Einheit53 verantwortlich ist. Besagte Einheit muß aber, qua Einheit, unter
der transzendentalen Einheit der Apperzeption stehen54, und kann also nur unter
Voraussetzung der Kategorien entstehen. Das heißt nun nichts anderes, als daß die
transzendentale Synthesis der Einbildungskraft unter der transzendentalen Einheit

48
Es hätte auch die vorzügliche Darstellung von Stuhlmann-Laeisz (Kants Thesen über sein
Kategoriensystem und ihre Beweise, in: Kant-Studien 78 (1987)) herangezogen werden
können, deren Resultate unsere Interpretation in vielen Punkten ebenfalls stützen. Wir
werden im folgenden jeweils auf sie hinweisen.
49
Die einzige Restriktion für ein Objekt in diesem Sinne ist, daß sich ein Subjektsbegriff eines
Urteils darauf beziehen können muß. Vgl.: „Object aber ist das, in dessen Begriff das
Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung vereinigt ist" (B 137).
50
„Also nur dadurch, daß ich ein Mannigfaltiges gegebener Vorstellungen in einem Bewußtsein
verbinden kann, ist es möglich, daß ich mir die Identität des Bewußtseins in diesen
Vorstellungen selbst vorstelle, d. i. die analytische Einheit der Apperception ist nur unter
der Voraussetzung irgendeiner synthetischen möglich" (B 133).
51
Von ihr sagt Kant, daß sie den „höchste[n] Punkt, an dem man allen Verstandesgebrauch
[...] heften muß", darstelle. Das Vermögen der synthetischen Einheit der Apperzeption sei
sogar „der Verstand selbst" (B 134).
52
Kant würde von Objekten einer möglichen Erfahrung sprechen.
53
Raum und Zeit sind nicht nur Formen der reinen Anschauung, sondern ihrerseits auch
formale Anschauungen, erfordern also eine Synthesis. Vgl. B 161; Anmerkung.
54
Sonst könnte ich Raumvorstellungen haben, die nicht meine sind!
426 Jürg Freudiger

der Apperzeption steht55. So wird gezeigt, daß für Wahrnehmung ebenfalls eine
Synthesis vorauszusetzen ist. Denn das in einer empirischen Anschauung gegebene
Mannigfaltige muß vereinigt werden56. Das Resultat dieser Vereinigung ist ein
Bewußtsein von einer „Erscheinung"57. Dieses Bewußtsein, das Resultat der Synthesis
der Apprehension, nennt Kant Wahrnehmung58. Da nun alles, was in diesem Be-
wußtsein wahrgenommen wird, in Raum und Zeit stehen muß, Raum und Zeit
aber die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft voraussetzten, kann eine
Synthesis der Apprehension nur unter der Voraussetzung der transzendentalen
Synthesis der Einbildungskraft stattfinden. Da letztere ihrerseits eben die transzen-
dentale Einheit der Apperzeption und damit die Kategorien voraussetzt, muß auch
die Synthesis der Apprehension die Kategorien zum Grunde haben. Jetzt sehen wir,
was wir bereits mehrfach erwähnt haben, nämlich, daß Wahrnehmung als solche
indirekt nur unter der Voraussetzung der Kategorien möglich ist.
In einem weiteren Schritt verbindet nun Kant Wahrnehmung mit Erfahrung in
vertrauter Weise. Nachdem er nämlich für obiges in einem einzigen dichten Absatz
argumentiert hat (B 160f.), beschließt er denselben folgendermaßen: „Folglich steht
alle Synthesis, wodurch selbst Wahrnehmung möglich wird, unter den Kategorien;
und da Erfahrung Erkenntnis durch verknüpfte Wahrnehmungen ist, so sind die
Kategorien Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung und gelten also a priori
auch von allen Gegenständen der Erfahrung" (B 161).
Hier also, an prominenter Stelle, am Schluß der Deduktion, stehen die Auffas-
sungen Kants offenbar in deutlicher Übereinstimmung mit unserer Interpretation
der Prolegomena.
Die Frage, wie Wahrnehmungen zu Erfahrung werden können, wird von Kant in
der Deduktion nicht gelöst59. Diese Aufgabe verschiebt er ausdrücklich auf das
55
Kant sagt, daß die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft „den Sinn [seil. Sinnlich-
keit] seiner Form nach der Einheit der Apperception gemäß bestimmen kann [...]" (B 152).
56
Stuhlmann-Laeisz würde davon sprechen, daß ein Mannigfaltiges der ersten Art in ein
solches der zweiten Art überführt werden muß (Kants Thesen, S. 12). Zu Unrecht behauptet
er aber, daß das Kategoriensystem bei diesem Schritt nicht beteiligt ist (ebd., S. 15). Denn
die Einheit der Apperzeption (damit indirekt die Kategorien) ist vorausgesetzt!
57
Hier läßt sich nicht entscheiden, ob es sich um Erscheinung oder um ErscheinungA handelt.
Im ersten Fall wäre Wahrnehmung tatsächlich ein Bewußtsein eines subjektsinternen Zu-
standes als subjektinternen Zustande. Im zweiten Fall hingegen ein Bewußtsein eines (als
extern gesetzten) Objektes.
58
Stuhlmann-Laeisz spricht von einer Objektivierung von Vorstellungen. Und es wird „diese
Objektivierung vollzogen durch diejenige Synthesis, die die Mannigfaltigkeit der uns durch
unsere raum-zeitliche Anschauung vermittelten Empfindung in eine Mannigfaltigkeit von
Wahrnehmungen transformiert" (Kants Thesen, S. 18f.).
59
Genau in diesem Punkt sieht Allison die Deduktion scheitern (Allison: Kant's Transcendental
Idealism, S. 167f.). Es ist ihm aber entgegenzuhalten, daß die Deduktion durchaus zeigt,
daß die Kategorien, indem sie Bedingungen für Wahrnehmungen sind, auch Bedingungen
für Erfahrung sind. Denn wenn wir Kants Behauptung, daß Erfahrung nichts anderes ist,
als verknüpfte Wahrnehmungen ernstzunehmen, dann sind die Kategorien trivialerweise
Bedingungen der Erfahrung: ohne Kategorien keine Wahrnehmung und ohne Wahrnehmung
keine Erfahrung.
Wahrnehmungsurteile 427

zweite Buch der Analytik: „Wie sie [i. e. die Kategorien] aber die Erfahrung möglich
machen, und welche Grundsätze der Möglichkeit derselben sie in ihrer Anwendung
auf Erscheinungen an die Hand geben, wird das folgende Hauptstück von dem
transsc. Gebrauche der Urtheilskraft das mehrere lehren" (B 167).60
Die Hauptaufgabe der Deduktion ist also erfüllt: Sie weist nach, daß bereits
primitivste Verarbeitungen der Daten unserer Sinnlichkeit nicht unabhängig vom
Verstand stattfinden können. Dadurch ist nach Kant garantiert, daß alles, was wir
wahrnehmen, schon von vornherein den Kategorien gemäß ist, so daß diese jederzeit
darauf anwendbar sind61.
Fassen wir zusammen: In unserer Darstellung der Deduktion62 wurde deutlich,
daß die Gleichsetzung von Erfahrung mit verknüpfter Wahrnehmung eine entschei-
dende Rolle spielt. Wir finden also diesbezüglich eine deutliche Übereinstimmung
der Kritik mit den Prolegomena. Die Diskussion der angesprochenen Verknüpfung
wird von Kant vertagt, und auch wir verschieben diesen Punkt auf unseren letzten
Abschnitt. Doch können wir immerhin festhalten, daß Wahrnehmung in einem
Kernstück der Kritik so charakterisiert ist, wie wir uns das gemäß unserer Interpre-
tation der Prolegomena vorzustellen hatten.
Wie eingangs erwähnt, bleibt allerdings zu zeigen, daß die Kr. d. r. V. eine urteils-
mäßige Verknüpfung von Wahrnehmungen prinzipiell zuläßt. Kants Gebrauch des
Wortes „Urteil" scheint dies zunächst zu verunmöglichen63. Auch in dem für die
Ablehnung der Wahrnehmungsurteile oft herangezogenen S 19 der zweiten Ausgabe
spricht Kant von einem Urteil als „Verhältnis, das objectiv gültig ist" (B 142), was
das per definitionem nur subjektiv gültige Wahrnehmungsurteil von vornherein
auszuschließen scheint. Ähnlich heißt es kurz zuvor: „[...] so finde ich, daß ein
Urtheil nichts andres sei, als die Art, gegebene Erkenntnisse zur objectiven Einheit
der Apperception zu bringen" (B 141). Dieser objektiven (= transzendentalen)64
Einheit entspricht aber im vorangehenden Paragraphen eine subjektive (= empiri-
sche)65; und von dieser heißt es: „[...] die empirische Einheit der Apperception, die
wir hier nicht erwägen, und die auch nur von der ersteren unter gegebenen Bedin-
gungen in concreto abgeleitet ist, hat nur subjective Gültigkeit" (B 140). Wir könnten
daher in Analogie zum oben zitierten Satz aus B 141 nun sagen: ein Wahrnehmungs-
urteil ist nichts anderes als die Art, gegebene Wahrnehmungen zur subjektiven

60
Hier ist wieder jene Gleichsetzung von Wahrnehmung und Erscheinung implizit, welche
uns schon anläßlich des Prolegomena-Verweises auf das Schematismus-Kapitel begegnete.
Vgl. S. 418.
61
„Der reine Verstand ist also in den Kategorien das Gesetz der synthetischen Einheit aller
Erscheinungen und macht dadurch Erfahrung ihrer Form nach allererst und ursprünglich
möglich. Mehr aber hatten wir in der transscendentalen Deduction der Kategorien nicht
zu leisten [...]" (A 128).
62
Unsere Darstellung der wichtigsten Züge der Deduktion ist in vielen Punkten derjenigen
Allisons verpflichtet. Vgl. Allison: Kant's Transcendental Idealism, S. 133 -172.
63
Vgl. beispielsweise A 68/B 93.
64
B 139.
65
B 139.
428 Jürg Freudiger

Einheit der Apperzeption zu bringen66. Am Ende des Paragraphen 19 formuliert


denn Kant auch tatsächlich eine Art Wahrnehmungsurteil. Wir zitieren etwas aus-
führlicher:
Dadurch [durch den Bezug zur objektiven Einheit der Apperzeption] allein wird aus diesem
Verhältnisse [zwischen Vorstellungen] ein Urteil, d. i. ein Verhältnis, das objectiv gültig ist,
und sich von dem Verhältnisse eben derselben Vorstellungen, worin bloß subjective Gültigkeit
wäre, z. B. nach Gesetzen der Association, hinreichend unterscheidet. Nach den letzteren
würde ich nur sagen können: Wenn ich einen Körper trage, so fühle ich einen Druck der
Schwere; aber nicht: er, der Körper, ist schwer; welches soviel sagen will als: diese beide
Vorstellungen sind im Object, d. i. ohne Unterschied des Zustandes des Subjects, verbunden
und nicht bloß in der Wahrnehmung (so oft sie auch wiederholt sein mag) beisammen (B
142).

Zu dieser Stelle — sie wird in der Sekundärliteratur oft als Beweis dafür angesehen,
daß Kant in der Kritik die Wahrnehmungsurteile wieder verworfen habe — ist
folgendes zu sagen:
1. Kant definiert hier, wie bereits erwähnt, „Urteil" explizit als auf die objektive
Einheit der Apperzeption bezogen und dadurch als objektiv gültig. Wir könnten,
ohne dem zu widersprechen, etwas Urteilsartiges (das wir „Wahrnehmungsurteil"
nennen können) auf die subjektive Einheit der Apperzeption beziehen, wodurch es
per definitionem subjektiv gültig wäre.
2. Kant erwähnt ausdrücklich die Möglichkeit eines subjektiv gültigen Verhält-
nisses zwischen denselben Vorstellungen! Dies können wir als Hinweis darauf
verstehen, daß im Urteil nicht Wahrnehmungen, sondern das Verhältnis zwischen
ihnen unter die schematisierten Kategorien subsumiert werden wird67.
3. Wie immer scheitert auch hier Kants Versuch, ein Beispiel zu geben. Wir
ignorieren es aus bereits genannten Gründen.
4. „[...] diese beide Vorstellungen sind im Objekt [...] verbunden [...]" — da
außer dem Ding an sich jedes Objekt etwas Subjektsinternes ist, erstaunt diese
Aussage nicht. Sie besagt, daß im (Erfahrungs)urteil die Vorstellungen (deren Inhalte)
als etwas zum Objekt Gehörendes gedacht werden. Im Wahrnehmungsurteil hin-
gegen werden sie ohne diesen Zusatz verknüpft.
5. Indem Kant auf die Subjektivität einer gewohnheitsmäßigen Verbindung von
Vorstellungen in der Wahrnehmung (also auf ein wiederholtes Wahrnehmungsurteil)
hinweist, spricht er offensichtlich der Humeschen Version von Erfahrung68 den

66
Man beachte, daß Kant ausdrücklich darauf hinweist, daß er sich mit dieser subjektiven
(empirischen) Einheit „hier" nicht beschäftige. Ein Hinweis darauf, daß er sich anderswo
sehr wohl damit beschäftigt hat.
67
In V werden wir einen weiteren Beleg hierfür anführen. Siehe unten S. 430.
68
„But when many uniform instances appear, and the same object is always followed by the
same event; we then begin to entertain the notion of cause and connexion. We then feel a
new sentiment or impression, to wit, a customary connexion in the thought or imagination
between one object and its usual attendant [...]" (Hume: An Enquiry Concerning Human
Understanding, in: T. H. Green/T. H. Grose (Eds.): „The Philosophical Works of David
Hume", London 51907; Bd. 4, S. 65).
Wahrnehmungsurteile 429

Erkenntnischarakter ab. Hierin könnte zweifellos eine Erklärung für die vermeint-
liche Attacke gegen die Wahrnehmungsurteile liegen.
Zusammenfassend können wir nun sagen, daß die Konzeption der Wahrneh-
mungsurteile der Sache nach durchaus mit diesbezüglichen Äußerungen der Kritik
verträglich ist, auch wenn die Verwendung des Wortes „Urteil" die Anwendung
desselben auf eine Verknüpfung von Wahrnehmungen gerade ausschließt69. Wir
werden uns im weiteren also erlauben, in diesem etwas abgeschwächten Sinn von
„Wahrnehmungswrte/7" zu sprechen.

V. Dynamische Grundsätze: eine Anwendung

Bei unserer Prolegomena-Interpretation sahen wir, daß Kant bezüglich der Frage,
wie aus Wahrnehmung Erfahrung werden kann, ausdrücklich auf das zweite Buch
der Analytik70 verweist. Dort, im Schematismus-Kapitel, zeigt Kant, daß die Kate-
gorien nicht direkt auf die Vorstellungen der Sinnlichkeit angewendet werden kön-
nen. Vielmehr braucht es ein vermittelndes Drittes, welches „einerseits mit der
Kategorie, andererseits mit der Erscheinung in Gleichartigkeit stehen muß" (A 1387
B 177). Es ist das transzendentale Schema, ein „Product der Einbildungskraft" (A
140/B 179), welches diese Vermittlerrolle übernimmt. Doch wird, dem Anschein der
ersten Absätze des Kapitels71 zum Trotz, keine Anwendung des Schemas gezeigt,
weder auf Erscheinungen, noch auf empirische Anschauung, noch auf Wahrneh-
mung. Vielmehr faßt Kant zu Beginn des Prinzipien-Kapitels zusammen: „Wir haben
in dem vorigen Hauptstücke die transscendentale Urtheilskraft nur nach den allge-
meinen Bedingungen erwogen, unter denen sie allein die reinen [A: reine] Verstan-
desbegriffe zu synthetischen Urtheilen zu brauchen befugt ist. Jetzt ist unser Ge-
schäfte: die Urtheile, die der Verstand unter dieser kritischen Vorsicht wirklich a
priori zu Stande bringt in systematischer Verbindung darzustellen [...]" (A 148/B
187).
Das heißt, daß das Schematismus-Kapitel lediglich einen Hinweis darauf darstellt,
daß nicht die Kategorie selbst, sondern ein durch die Einbildungskraft geliefertes
Pendant angewendet wird. Die Darstellung der Anwendung behält sich Kant für
das Prinzipien-Kapitel vor.
Dort teilt Kant die Grundsätze in zwei Zweiergruppen auf (A 161/B 200). Die
Prinzipien der ersten beiden Gruppen heißen „mathematische Grundsätze"; sie

69
Um mit Bennett zu sprechen: „Kant gives no reason for denying what he clearly admits in
the Prolegomena, namely that there can be judgements of perception as well as of expe-
rience" (Bennett: Kant's Analytic, S. 133).
70
Vgl. S. 418.
71
„Wie ist nun die Subsumtion der letzteren [i. e. Anschauung] unter die erste [i. e. Kategorie],
mithin die Anwendung der Kategorie auf Erscheinungen möglich [...]" (A 137/B 176).
430 Jürg Freudiger

brauchen uns aus verschiedenen Gründen nicht zu beschäftigen72. Die sogenannten


dynamischen Grundsätze hingegen bedürfen unserer Aufmerksamkeit. Zunächst
formuliert Kant ein Prinzip der Analogien der Erfahrung: „Erfahrung ist nur durch
die Vorstellung einer nothwendigen Verknüpfung der Wahrnehmungen möglich" (B
218).73 Der Beweis dieses Prinzips setzt unter anderem voraus, daß „[...] Apprehen-
sion nur eine Zusammenstellung des Mannigfaltigen der empirischen Anschauung,
aber keine Vorstellung von der Nothwendigkeit der verbundenen Existenz der
Erscheinungen, die sie zusammenstellt im Raum und Zeit, in derselben angetroffen
wird" (B 219)74. In der Apprehension sind also Erscheinungen bereits verbunden,
die Verbindung enthält aber keine Notwendigkeit. Hier läßt Kant Wahrnehmungs-
urteile fast explizit zu.
Die Subjektivität beruht darauf, daß die zeitliche Abfolge der betreffenden Vor-
stellungen zufällig ist. Soll diese Abfolge objektiv sein, so „kann die Bestimmung
der Existenz der Objecte in der Zeit nur durch ihre Verbindung in der Zeit überhaupt,
mithin nur durch a priori verknüpfende Begriffe geschehen" (B 219). Hier wird
deutlich: nicht die Vorstellungen, also die Erscheinungen, werden objektiv, sondern
ihre Verknüpfung. Die sogenannte Subsumtion betrifft also eine bereits bestehende
Verbindung und bewirkt so den Übergang vom Wahrnehmungs- zum Erfahrungs-
urteil75; und wir können festhalten, daß Kant, indem er eine in der Apprehension

72
„They are largely concerned with the applicability of mathematics" (Strawson: The Bounds
of Sense. An Essay on Kant's Critique of Pure Reason, London 1966, S. 122). Dies ist
korrekt, obwohl das Wort „Wahrnehmung" im Titel der zweiten Gruppe fungiert. Wie der
betreffende Titel aber sagt, geht es um die Antizipation von Wahrnehmung, während uns
ja gerade der konkrete, tatsächliche Fall von Wahrnehmungen interessiert. Gegen diese
Argumentation würde wohl Bennett protestieren. Über die vier Titel der Grundsätze sagt
er: „All these daunting labels are best regarded as arbitrary, undescriptive, proper names"
(Bennett: Kant's Analytic, S. 165).
73
Die Tatsache, daß die A-Version dieses Prinzips von „Erscheinung" spricht, weist darauf
hin, daß Kant in der zweiten Auflage ein leistungsfähigerer Wahrnehmungs-Begriff zur
Verfügung stand. Dies könnte ein Beleg für eine Entwicklung sein. Es könnte sich aber
auch nur um eine terminologische Präzisierung handeln. Diesbezüglich interessant ist eine
Stelle aus der ersten Einleitung zur Kr.d.U., die beide Termini verwendet: „[...] denn die
Verbindung zwener verschiedenen [sie] Wahrnehmungen in dem Begriffe eines Objects (zum
Erkenntnis desselben) ist eine Synthesis welche nicht anders als nach Principien der syn-
thetischen Einheit der Erscheinungen, d. i. nach Grundsätzen wodurch sie unter die Cate-
gorien gebracht werden ein empirisches Erkenntnis d. i. Erfahrung möglich macht" (S. 203,
Anm.).
74
In der Terminologie Stuhlmann-Laeisz': Vorstellungen vom Typ Mannigfaltiges2 sind zwar
objektivierte Vorstellungen (vgl. unsere Anm. 56), mithin Wahrnehmungen, aber nicht
Erfahrung. Anders als wir interpretiert Stuhlmann-Laeisz Kant dann aber dahingehend, daß
die Schemata als Interpretationsregeln die endgültige Anwendung der Kategorien ermögli-
chen. Gemäß seiner Interpretation garantieren die Prinzipien dann, daß bestimmte Kate-
gorien auf jede Erscheinung anwendbar sind (Stuhlmann-Laeisz: Kants Thesen, S. 22).
75
Wir haben bereits hierauf aufmerksam gemacht. Vgl. S. 428. Offenbar ist Hanna zum
gleichen Schluß gelangt: „The overall judgment is thus a two-tired [...] synthesis, relating
intuitions at the first level, and concepts at the second level" (Hanna: Kant's Theory of
Empirical Judgment, S. 341; unsere Hervorhebung). Wie man sich sicher erinnert, setzt
Hanna empirische Anschauung und Wahrnehmung gleich (vgl. unsere Anmerkung 16).
Wahrnehmungsurteile 431

geschaffene Verbindung annimmt, die Existenz von Wahrnehmungsurteilen entgegen


den Behauptungen fast aller modernen Interpreten geradezu voraussetzt.
Was wir noch nicht wissen, ist, wie wir uns besagte Anwendung vorzustellen
haben. Diesbezüglich scheint sich Kant zu widersprechen. Zunächst hält er fest:
„Eine Analogie der Erfahrung wird also nur eine Regel sein, nach welcher aus
Wahrnehmungen Einheit der Erfahrung [...] entspringen soll, und als Grundsatz von
den Gegenständen (den Erscheinungen) [...] regulativ gelten" (A 180/B 222f.). Nach
dieser Stelle geschieht also die sogenannte Subsumtion mittels der Grundsätze, die
dafür als Regeln fungieren. Wir könnten uns demnach vorstellen, daß ein Wahrneh-
mungsurteil anhand der Grundsätze modifiziert, dadurch objektiv und damit zu
einem Erfahrungsurteil wird. Aber kurz darauf faßt Kant seinen Kommentar zum
Prinzip der Analogien folgendermaßen zusammen: „Wir werden also durch diese
Grundsätze die Erscheinungen nur nach einer Analogie [...] zusammenzusetzen
berechtigt werden und daher uns in dem Grundsatze selbst zwar der Kategorie
bedienen, in der Ausführung aber (der Anwendung auf Erscheinungen) das Schema
derselben als den Schlüssel ihres Gebrauchs an dessen Stelle, oder jener vielmehr
als restringirende Bedingung unter dem Namen einer Formel des ersteren zur Seite
setzen" (A 181/B 224).
Diese Stelle konfrontierte einige Interpreten Kants mit Schwierigkeiten76. Unsere
Interpretation hingegen findet hier keinen Anstoß und kommt mit ihr zurecht. Lesen
wir genau:
1. „Wir werden ... berechtigt werden": es sind die Grundsätze, welche einen
Erkenntnisanspruch der Verbindung rechtfertigen.
2. „das Schema derselben als den Schlüssel ihres Gebrauchs an dessen Stelle":
„dessen" kann sich nur auf „Grundsatz" beziehen. Das Schema würde also an Stelle
des Grundsatzes fungieren. Aber Kant findet eine genauere Formulierung:
3. „[wir werden das Schema] jener vielmehr als restringirende Bedingung unter
dem Namen einer Formel des ersteren zur Seite setzen": „jener" muß sich auf
„Kategorie" beziehen (was ja auch der Definition der Schemata entspricht), „erste-
ren" nur auf „Grundsatz". Diese endgültige Formulierung lautet also abgekürzt: in
der Anwendung auf Erscheinungen werden wir der Kategorie das Schema als Formel
des Grundsatzes zur Seite setzen.
Vereinfacht könnten wir also sagen, daß nach dieser zweiten Version die Subsum-
tion zwar durch das Schema erfolgt, dieses jedoch nur als Formel des Grundsatzes
fungiert, und daß damit der Grundsatz die eigentliche Instanz bleibt. Somit besteht
kein Widerspruch zum ersten Ansatz: durch die Grundsätze, also nur indirekt durch
die Kategorien, können Wahrnehmungsurteile zu Erfahrungsurteilen modifiziert
werden77. Wenden wir uns nun den Grundsätzen selbst zu.

76
Vgl. etwa die Lesarten, welche die Meiner-Ausgabe der Kr. d. r. V. anfuhrt. Philosophische
Bibliothek, Bd. 37 a, Hamburg 1956, S. 234, Anm. 3.
77
Unsere Interpretation wird auch durch die folgende Stelle aus Fortschritte sehr deutlich
gestützt: „[...] die Wahrnehmungen, aus denen, und der Form der Anschauung in ihnen,
432 Jürg Freudiger

Erste Analogie
„Bei allem Wechsel der Erscheinungen beharrt die Substanz, und das Quantum
derselben wird in der Natur weder vermehrt noch vermindert" (B 224).
Wir nehmen Veränderung wahr. Dieser Wechsel der Erscheinungen kann nur in
der Zeit wahrgenommen werden. Da die Zeit, als subjektive Zutat, natürlich nicht
wahrgenommen werden kann, „muß in den Gegenständen der Wahrnehmung, d. i.
den Erscheinungen, das Substrat anzutreffen sein, welches die Zeit überhaupt
vorstellt" (B 225). Dieses Substrat identifiziert Kant mit der Substanz, dem Beharr-
lichen: „Folglich ist das Beharrliche, womit in Verhältnis alle Zeitverhältnisse der
Erscheinungen allein bestimmt werden können, die Substanz in der Erscheinung,
d. i. das Reale derselben, was als Substrat alles Wechsels immer dasselbe bleibt"
(ebd.). Und etwas später: „So ist demnach die Beharrlichkeit eine nothwendige
Bedingung, unter welcher allein Erscheinungen [...] in einer möglichen Erfahrung
bestimmbar sind" (A 189/B 232). Bereits im Schematismus-Kapitel wurde als Schema
der Substanz „Beharrlichkeit des Realen" (A 144/B 183) angegeben. Nun sehen wir
sehr deutlich die eigentliche Anwendung sowohl des Grundsatzes als auch der
schematisierten Kategorie. Wir können uns dies so vorstellen: In einem Wahrneh-
mungsurteil wird ein Wechsel in den Erscheinungen festgestellt. Gemäß dem Grund-
satz der ersten Analogie kann ein Wechsel nur unter der Voraussetzung einer
Substanz erfolgen. Nun wird mittels des Schemas der Beharrlichkeit etwas in der
Erscheinung als Beharrliches identifiziert. Das Urteil wird somit zu einem Erfah-
rungsurteil. Dank der objektiven Gültigkeit der Kategorien ist es selbst objektiv
gültig und beschreibt also eine Tatsache der intersubjektiven Wirklichkeit. In diesem
Sinne ist Kant Realist78. Trotzdem hält er fest: „Diese Beharrlichkeit ist indes doch
weiter nichts, als die Art, uns das Dasein der Dinge (in der Erscheinung) vorzustellen"
(A 186/B 229). In unserer Terminologie: die durch die Kategorienanwendung „ge-
schaffene" intersubjektive Wirklichkeit ist nicht Realität.

Zweite Analogie
„Alle Veränderungen geschehen nach dem Gesetze der Verknüpfung der Ursache
und Wirkung" (B 232).
Diese zweite Analogie erhielt in der Literatur beträchtliche Prominenz. Zu Recht,
denn hier wird die Anwendung der wichtigen Kategorie der Kausalität diskutiert.
Kant lanciert seine Diskussion wie folgt: „Ich nehme wahr, daß Erscheinungen auf
einander folgen, d. i. daß ein Zustand der Dinge zu einer Zeit ist, dessen Gegentheil
im vorigen Zustande war. Ich verknüpfe also eigentlich zwei Wahrnehmungen in

wir nach Grundsätzen durch die Kategorien Erfahrung machen [...]" (Fortschritte, Ak XX,
609; unsere Hervorhebung). Und in der Kr.d.p.V. heißt es: „[...] man konnte beweisen
[i. e. in der Kr. d. r. V.], daß nur dadurch, daß diese Erscheinungen nach Maßgabe jener
Gesetze [seil. Grundsätze] unter die Kategorien gebracht werden, diese Erscheinungen als
Gegenstände der Erfahrung erkannt werden können [...]" (Kr.d.p. V., Ak V, 46).
78
Vgl. unsere terminologischen Setzungen S. 415 f.
Wahrnehmungsurteile 433

der Zeit" (B 233). Auch hier wieder bildet ein Analogen zum Wahrnehmungsurteil
den Ausgangspunkt79. Das Problem besteht nun darin, daß „die bloße Wahrnehmung
das objective Verhältnis der einander folgenden Erscheinungen unbestimmt" (B 234)
läßt. Wir bedürfen also einer Regel, um die objektive Abfolge festzulegen und um
unseren Vorstellungen gleichzeitig eine „Beziehung auf einen Gegenstand" (A 197/
B 242) zu verschaffen, mithin das Urteil objektiv werden zu lassen. Diese Regel ist
der bereits genannte Grundsatz, der berühmte Satz vom zureichenden Grunde: „Diese
Regel aber, etwas der Zeitfolge nach zu bestimmen, ist: daß in dem, was vorhergeht,
die Bedingung anzutreffen sei, unter welcher die Begebenheit jederzeit (d. i. noth-
wendiger Weise) folgt" (A 200/B 245 f.). Versuchen wir, uns das vorzustellen:
Gegeben sei ein Wahrnehmungsurteil, damit eine subjektive zeitliche Abfolge von
Wahrnehmungen. Um nun die objektive Abfolge herauszufinden und also festzu-
stellen, ob die subjektive Abfolge mit der objektiven zusammenfällt oder nicht,
suche ich im zeitlich ersten eine Bedingung für das zweite80. Finde ich keine solche
Bedingung, so ist die Abfolge meiner Wahrnehmungen nicht objektiv gültig und der
Versuch eines Erfahrungsurteils sozusagen mißlungen.
Kants Argumentation ist, wie die ausführlichen Diskussionen beispielsweise von
Allison oder Guyer81 zeigen, im Detail keineswegs unproblematisch. Unsere kurze
Darstellung hat jedoch gezeigt, daß sie unter Zugrundelegung unserer Interpretation
zumindest nachvollziehbar ist.

Dritte Analogie
„Alle Substanzen, so fern sie im Räume als zugleich wahrgenommen werden
können, sind in durchgängiger Wechselwirkung" (B 256).
Die Argumentation für diese dritte Analogie ist die weitaus kürzeste, da sie zu
einem großen Teil auf diejenigen der anderen beiden aufbauen kann. Hier geht es

79
Ganz ähnlich kurz darauf: „Jede Apprehension einer Begebenheit ist also eine Wahrneh-
mung, welche auf eine andere folgt" (A 192/B 237). Sehr deutlich auch der Hinweis, daß
die Objektivität darin bestehe, „die Verbindung der Vorstellungen [die also schon besteht]
auf eine gewise Art nothwendig zu machen und sie einer Regel zu unterwerfen" (A 197/B
242); das erinnert doch sehr an die Konzeption der Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteile
der Prolegomena.
80
Stuhlmann-Laeisz, der die Kategorien als Funktionen versteht, hält diesbezüglich fest: „Der
Anwendungsbereich dieser Funktion ist dann die Klasse aller Paare (X, Y) von Erscheinun-
gen in Raum und Zeit; das F von (X, Y) ist das objektive Zeitverhältnis der beiden
Erscheinungen" (Stuhlmann-Laeisz: Kants Thesen, S. 7, Anm. 6). Die im X aufzusuchende
Bedingung wird im konkreten Fall natürlich eine empirische sein. Die Analogie besagt
lediglich, daß, wenn die subjektive Abfolge objektiv sein soll, im zeitlich ersten eine
Bedingung vorgefunden werden muß.
81
Vgl. Allison: Kant's Transcendental Idealism, S. 216 ff. und Guyer: Claims of Knowledge,
S. 237 ff. Sehr aufschlußreich ist auch Brittans Darstellung der zweiten Analogie als Kants
Lösung des Humeschen Induktionsproblems (G. G. Brittan: Kant's Theory of Science-,
Princeton 1978, S. 188 ff.).
434 Jürg Freudiger

darum, eine in den Wahrnehmungen vorhandene zeitliche Abfolge als (in der
Wahrnehmung) umkehrbar herauszustellen und dadurch die entsprechenden Er-
scheinungen als gleichzeitig zu erkennen. Da die Erscheinungen gemäß zweiter
Analogie eine durchgehende Kausalkette bilden, ist „Umkehrbarkeit der Wahrneh-
mungen" gleichbedeutend mit „wechselseitiger Einfluß, d. i. eine reale Gemeinschaft
[...] der Substanzen" (A 214/B 261). Oder anders ausgedrückt: „Also kann das
Zugleichsein der Substanzen im Räume nicht anders in der Erfahrung erkannt
werden, als unter Voraussetzung einer Wechselwirkung derselben untereinander;
diese ist also auch die Bedingung der Möglichkeit der Dinge selbst als Gegenstände
der Erfahrung" (B 258). Damit also ein Erfahrungsurteil, welches die gleichzeitige
Existenz zweier Erscheinungen konstatiert, erfolgen kann, sind eigentlich vier Wahr-
nehmungen bzw. zwei Wahrnehmungsurteile vorauszusetzen. Das erste Wahrneh-
mungsurteil entsteht dadurch, daß eine Wahrnehmung A einer anderen Wahrneh-
mung B vorausgeht. Im zweiten zeigt sich die umgekehrte Reihenfolge. Wir benötigen
dann eine Regel, „um zu sagen, daß die wechselseitige Folge der Wahrnehmungen
im Objecte gegründet sei" (B 257). Auch hier also erkennen wir die Anwendung
der Analogie (oder des entsprechenden Schemas) auf Wahrnehmungsurteile.

Bezüglich der „Postulate des empirischen Denkens überhaupt" (A 218ff./B


265ff.)82 können wir festhalten, daß Kant der Wahrnehmung in der Diskussion des
zweiten Postulats einen außerordentlich hohen Stellenwert zuweist. So heißt es
beispielsweise: „Das Postulat, die Wirklichkeit der Dinge zu erkennen, fordert
Wahrnehmung, mithin Empfindung, deren man sich bewußt ist [...]" (A 225/B 272).
Dies zeigt, welch zentrale Bedeutung der Wahrnehmung bei der Konstitution inter-
subjektiver Wirklichkeit zukommt. Ähnlich heißt es wenig später: „die Wahrneh-
mung aber [...] ist der einzige Charakter der Wirklichkeit" (A 225/B 273). Diese
Stelle ist für Kants erkenntnistheoretische Position insofern typisch, als etwas grund-
sätzlich subjektives — Wahrnehmung — für etwas objektives (oder, in unserer
Terminologie: intersubjektives) prägend ist, nämlich Wirklichkeit. Der Weg zu einer
Erfahrungserkenntnis führt über Wahrnehmung: „Wo also Wahrnehmung und deren
Anhang nach empirischen Gesetzen hinreicht, dahin reicht auch unsere Erkenntnis
vom Dasein der Dinge" (A 226/B 273)83.

82
Strawson stellt einigermaßen enttäuscht fest: „[They] consist largely of instructions and
warnings about the employment of the concepts of possibility and necesssity, in application
to the natural world [...]" (Strawson: Bounds of Sense, S. 122).
83
Kant weist im selben Kontext nach, daß wir mittels bewährten empirischen Gesetzen „nach
dem Leitfaden jener Analogien von unserer wirklichen Wahrnehmung zu dem Dinge in der
Reihe möglicher Wahrnehmungen gelangen" (A 226/B 273) können. Zur Frage nach dem
Prozeß der Bildung einer empirischen Theorie vergleiche man R. Stuhlmann-Laeisz: Kate-
gorien, theoretische Begriffe und empirische Bedeutung. Überlegungen zu Kants Definition
des Wissenschaftsbegriffs, in: Erkenntnis 17 (1982), S. 381 ff. sowie jetzt M. Pascher: Kants
Begriff „Vernunftinteresse", Innsbruck 1991, insbesondere Kapitel II.
Wahrnehmungsurteile 435

Hiermit dürfte nachgewiesen sein, daß Kant auch in der Kritik der Wahrnehmung
und, mindestens implizit, den Wahrnehmungsurteilen einen hohen Stellenwert ein-
räumt. Dieses Ergebnis kann, da es den meisten modernen Interpretationen wider-
spricht, nicht genug betont werden. Auch steht fest, daß diese Hervorhebung der
Wahrnehmung bereits in der ersten Auflage vorhanden war, denn die meisten unserer
Belegstellen finden sich bereits in A. Die zusätzliche Hervorhebung — beispielsweise
in den B-Beweisen der jeweiligen Analogien — könnte aber durchaus darauf zu-
rückzuführen sein, daß Kant seit den Prolegomena ein wesentlich leistungsfähigerer
Wahrnehmungsbegriff zur Verfügung stand84.

84
Nach Abfassung vorliegender Studie erschienen ist R. Kotzin/J. Baumgärtner: Sensations
and Judgments of Perceptions. Diagnosis and Rehabilitation of some of Kant's Misleading
Examples, in: Kant-Studien 81 (1990). Diese Arbeit enthält eine relativ einfache Erklärung
für das Scheitern der Kantischen Beispiele (S. 401). Der darin geäußerten Auffassung, die
SS 18 — 20 der Prolegomena seien „unkritisch" (S. 411), muß jedoch, wie ich glaube gezeigt
zu haben, widersprochen werden. - Ich danke Prof. H. Lauener, Prof. G. Seel, Dr. A. Burri
sowie K. Petrus für fruchtbare Kritik und Verbesserungsvorschläge: desgleichen Prof.
A. Graeser, der die vorliegende Arbeit optimal gefördert und betreut hat.

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