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der beschreibt, auf welche Weise Wissen erster Ordnung objektiv

sein kann. Wenn ich etwas über ein modal robustes Faktum weiß,
wird eine Instanz dieses Begriffs realisiert, der aber auch andere Instanzen
hat, nämlich alle Fälle von Wissen erster Ordnung. Der
Begriff des Wissens erster Ordnung ist selbst kein Wissen erster
Ordnung, sondern Gegenstand der erkenntnistheoretischen Theoriebildung
und ihrer Wissensansprüche. Folglich ist er nach dem angegebenen
Kriterium kein Gegenstand, hinsichtlich dessen modal robuste
Fakten unterstellt werden dürfen. Anders gewendet, es ist absurd
anzunehmen,Wissen erster Ordnung sei eine natürliche Art.Wissen
erster Ordnung ist kein» extramentales Urgestein«, selbst wenn es
wahr sein sollte, daß wir extramentales Urgestein anerkennen müssen,
wenn wir verstehen wollen, auf welche Weise Instanzen des Begriffs
Wissen erster Ordnung objektiv sein können.
Zweitens impliziert der metaphysische Realismus einen mentalen
Repräsentationalismus. Wer etwas weiß, weiß demnach, was ohnehin
der Fall ist. Was ohnehin der Fall ist, kann nicht davon abhängen,
daß er es weiß. Sein Wissen kann bestenfalls nur erfassen, was
ohnehin der Fall ist. Zu demjenigen, was ohnehin der Fall ist, kann
man aber nur einen empirischen Zugang haben, da es unserer epistemischen
Aktivität ex hypothesi vorhergeht. Nun müssen epistemische
Ansprüche nicht notwendig erfüllt sein. Epistemische Ansprüche
stehen nämlich konstitutiv unter Erfolgsbedingungen. Aus
diesem Grunde sind wir empirisch fallibel. Wir können fehlgehen
und uns irren. Nun behauptet der metaphysische Realist aber a priori
zu wissen, daß die Welt die Totalität aller modal robusten Fakten ist.
Daraus folgt, daß er nur empirisches Wissen haben kann. Wenn er
aber nur empirischesWissen haben kann, kann er nicht a priori wissen,
daß er nur empirisches Wissen haben kann, da er eben nichts a
priori über die Welt wissen kann, was aus seinem Weltbegriff folgt,
der folglich dialektisch instabil ist. Die Voraussetzung, wir könnten
nur Ausschnitte der Welt erkennen, weil diese als die Totalität aller
modal robusten Fakten zu verstehen ist, vergißt, daß sie damit einen
Weltbegriff in Anspruch nimmt, ohne diesen epistemologischen Anspruch
zu reflektieren. Wenn die Welt, von der wir Ausschnitte erkennen
können, ausschließlich aus modal robusten Fakten besteht,
kann jedenfalls unser Wissen des Wissens nicht in ihr vorkommen.
Doch was soll es dann heißen, einen Wissensanspruch zu erheben?
Doch wohl nicht, daß es neben der Welt noch einen Raum gibt, an
dem sich epistemische Agenten »aufhalten«, um von dort aus Wis-
66
sensansprüche zu erheben. Wie sollten solche Wesen jemals imstande
sein, sich auf etwas in der Welt zu richten, ohne dadurch von der
Notwendigkeit überrascht zu werden, daß sie selbst zu demjenigen
Bereich gehören, von dem sie sich zuvor (ohne gute Gründe) ausgeschlossen
haben?
G. E. Moore hat gegen Kants Ersetzung des metaphysischen
Realismus durch seinen transzendentalen Idealismus eingewandt,
daß dieser selbst eine skeptische Position darstelle, da er behaupte,
daß es keine Welt an sich gibt. Moore wird dabei dem Weltproblem
zwar nicht gerecht, wenn er gegen Kant ihre bewußtseinsunabhängige
Realität dadurch beweisen will, daß er seine Hände in die Luft
streckt und aus der solchermaßen ostensibel ausgewiesenen Existenz
mindestens einiger physikalischer Objekte schließt, daß es physikalische
Objekte und demnach eine Außenwelt gibt, da das Kriterium
für die Existenz einer Außenwelt die Vorhandenheit mindestens
eines physikalischen Objekts sei.54 Moores explizit gegen Kant gewendeter
»Beweis« der Existenz einer Außenwelt verfehlt somit die
Kantische Formulierung des Weltproblems und ihre negativ-dogmatische
Pointe. Seine Einwände treffen dennoch Kants Widerlegung
des Idealismus, indem sie deren Argumentation untergraben. Moores
Argumentation soll uns daher weiterhelfen, die Grundeinsicht des
KantischenWeltbegriffs ex negativo besser zu verstehen.
Moore legt Kant zunächst auf die folgenden beiden Äquivalenzen
fest, die Kants Argumentation in der Widerlegung des Idealismus
zugrundeliegen.
1. »Die Existenz der Dinge außer uns« (the existence of the
things outside of us) ist äquivalent mit »die objektive Realität der
äußeren Anschauung/Vorstellung« (the objective reality of outer intuition).
55
2. »Dinge außerhalb unseres Geistes/Bewußtseins« (things external
to our minds) ist äquivalent mit »Dinge, die im Raum angetroffen
werden können« (things which are to be met with in space).56
Die beiden Äquivalenzen dienen Kant Moore zufolge als Übersetzungshilfe
für das Projekt, die Existenz der Außenwelt zu bewei-
67
Der metaphysische Realismus und die naive Einzeldingontologie
54 Vgl. Moore, G. E.: »Proof of an External World«, in: Ders.: Philosophical Papers.
London/New York 1959, 127–150.
55 Ebd., 128.
56 Ebd., 130. Kant definiert »empirisch äußerliche Gegenstände« in der Tat
umstandslos
als Dinge, »die im Raume anzutreffen sind.« (KrV, A 374)
sen.57 Gelingt es nämlich zu beweisen, daß eine der beiden Seiten der
Äquivalenz notwendig instantiiert ist, hat man gleichzeitig bewiesen,
daß es die andere auch ist. Gelingt es demnach, die objektive Realität
unserer Vorstellungen a priori durch transzendentale Argumente zu
beweisen, hat man Kant zufolge damit auch die Existenz von Dingen
außer uns bewiesen. D. h. gelingt es zu beweisen, daß es notwendig
Dinge gibt, die im Raum angetroffen werden können, wenn anders es
überhaupt Vorstellungen geben können soll, hat man damit die Existenz
von Dingen außerhalb unseres Bewußtseins bewiesen, da es
Vorstellungen von Dingen außer uns gibt. Kant schließt also aus
dem Faktum, daß es immerhin Vorstellungen von Dingen außer uns
gibt, darauf, daß es Dinge außer uns geben muß.
Durch seine Umdeutung des Begriffs einer Außenwelt will Kant
selbst zeigen, daß unseren Vorstellungen von Dingen im Raum etwas
entspricht, das wir nicht selbst hervorgebracht haben. Erreicht werden
soll dies dadurch, daß aufgezeigt wird, inwiefern es sich dabei um
eine Bedingung der Möglichkeit des Selbstbewußtseins, d. h. der reflexiven
Beschreibung der Aktivität der Synthesis handelt. Die Mannigfaltigkeit
des sinnlich Gegebenen soll als die Bedingung der Aktivität
der Synthesis thematisiert werden. Kant zeigt nun in diesem
Zuge, daß dasjenige, was unseren Vorstellungen von Dingen im
Raum entspricht, kein extramentales Substrat ist, das an sich in
Raumrelationen steht. Das dem Subjekt Gegebene ist vor dem Hintergrund
der kopernikanischenWende selbst als vorstellungsbezogen
zu denken: die Mannigfaltigkeit des in Raum und Zeit sinnlich Gegebenen.
In den transzendentalen Grundsätzen spricht Kant in diesem
Sinne vom »Realen der Empfindung« (KrV, B 207), im Postulat
der Wirklichkeit von der »Empfindung« (KrV, B 272). Die rezeptive
Endlichkeit des Erkenntnissubjekts gehört mithin konstitutiv zur
Subjektivität, deren Wirklichkeit lediglich ihre synthetisierende Aktivität
ist: Unseren Begriffen von Dingen im Raum korrespondiert
eine Mannigfaltigkeit aufseiten der Sinnlichkeit, die vom Subjekt
gesetzt ist als nicht von ihm gesetzt. Diese Mannifaltigkeit ist die
68
Die Funktion des Skeptizismus
57 Kant beabsichtigt natürlich nicht, die Existenz derjenigen Außenwelt zu
beweisen,
die im mentalen Repräsentationalismus letztlich auf eine mögliche Hypothese zur
Erklärung
unseres Passivitätsgefühls zusammenschrumpft. Seine eigenen Voraussetzungen,
insbesondere derWeltbegriff, gehen in seineWiderlegung mit ein. Damit hat diese
freilich ein ganz anderes Beweisziel als Moore. Moore stellt allerdings auch keine
exegetische
Frage, sondern fragt sich vielmehr, ob KantsWiderlegung des Idealismus und
deren Voraussetzungen das Außenweltproblem überhaupt angemessen
beschreiben
Bedingung der Möglichkeit des empirischen Selbstbewußtseins, d. i.
der Aktualisierung der Synthesis. Die Synthesis vermag sich nur an
gegebenem Material zu vollziehen, was Kant zufolge bedeutet, daß
aus dem Faktum des Selbstbewußtseins die Existenz einer gegebenen
Außenwelt folgt.
Moore läßt sich nun nicht auf Kants Voraussetzungen ein, sondern
fragt, ob es Kant ohne petitio principii gelingt, die Existenz von
Dingen außer uns zu beweisen. Dabei versucht Moore insbesondere,
die zweite Äquivalenz zu untergraben. Er attackiert Kants Identifikation
von Dingen außerhalb unseres Bewußtseins mit Dingen, die im
Raum angetroffen werden können. Denn, so Moore, Dinge, die im
Raum angetroffen werden können, sind nach Kant notwendig immer
schon Vorstellungen von Dingen, die im Raum angetroffen werden.
Kants eigene Prämissen verbieten tatsächlich die Annahme eines direkten
epistemischen Zugangs zu Dingen an sich, die eine bestimmte
Raum- und Zeitstelle auch unabhängig von unseren subjektiven Registraturen
einnehmen.
Nun gibt es aber Vorstellungen, als ob irgendetwas im Raum
angetroffen würde, z.B. Halluzinationen oder Nachbilder, die einem
erscheinen, wenn man auf helle Farbflecken geblickt hat usw. Es gibt
also viele »Dinge«, die so vorgestellt werden, als ob sie im Raum
angetroffen würden, die aber nicht im Raum angetroffen werden,
was man daran sehen kann, daß andere sie nicht sehen. Denn was
im Raum angetroffen werden kann, kann nicht nur von einer Person
gesehen werden, sondern ist notwendig öffentlich. Es wird zwar im
Raum bzw. genauer: räumlich vorgestellt, ohne aber im Raum angetroffen
werden zu können. Es gibt offenkundig einen Unterschied
zwischen Dingen, die »im Raum vorgestellt« (presented in space)
werden und Dingen, die »im Raum angetroffen« (to be met with in
space) werden; ein Unterschied, den Kant in der Widerlegung des
Idealismus nicht berücksichtigt.58 Während jene entweder veridische
Vorstellungen oder Halluzinationen/Illusionen sein können, sind
diese öffentliche Objekte (die Möglichkeit einer kollektiven Täuschung
vorerst ausgenommen).
Gelingt es Kant nicht, Moores Illusions-Argument zurückzuweisen,
scheitert die Widerlegung des Idealismus. Kant selbst ist
daher nicht zufällig bemüht, das Illusions-Argument zu entkräften.
Dabei begeht er aber eine unverblümte petitio principii. In der dritten
69
Anmerkung der Widerlegung des Idealismus argumentiert er nämlich
mit einer empiristischen Abstraktionstheorie des Gehalts von
Träumen und Wahnvorstellungen, indem er behauptet, daß die Einbildungskraft
ihre Gehalte niemals frei produzieren könne, sondern
»bloß durch die Reproduktion ehemaliger äußerer Wahrnehmungen
« (KrV, B 278). Da diese, wie die Widerlegung gezeigt habe, »nur
durch dieWirklichkeit äußerer Gegenstände möglich sind« (ebd.), sei
das Illusions-Argument abgewehrt. Kant setzt also das Gelingen der
Widerlegung voraus, um das Illusions-Argument zu entkräften. Dabei
unterstellt er a limine eine empiristische Abstraktionstheorie des
Gehalts von Träumen. Die Möglichkeit der Abstraktion von Gehalten,
die uns von einer Außenwelt gegeben werden, wird durch das
Illusions-Argument aber gerade in Frage gestellt. Kants Berufung
auf die empiristische Abstraktionstheorie von Träumen nimmt deshalb
bereits die Widerlegung des Illusions-Arguments in Anspruch,
da er Illusionen als Abstraktionen von veridischen Vorstellungen
auffaßt. Kants Argumentation gegen das Illusions-Argument ist
folglich zirkulär.
Allerdings entgeht Moore die negativ-dogmatische Pointe des
KantischenWeltbegriffs. Stattdessen faßt er dieWelt, deren bewußtseins-
transzendente Existenz Moore zufolge im transzendentalen
Idealismus aufgegeben wird, offenkundig als eine Menge physikalischer
(und folglich öffentlicher) Objekte auf. Moores Alternative
zum transzendentalen Idealismus ist allerdings wenig attraktiv, da
er ihn durch eine naive Einzeldingontologie, d. h. durch den Begriff
der Welt als Totalität alles dessen ersetzen will, was er als »physikalisches
Objekt« bezeichnet. Moore nennt als Beispiele für physikalische
Objekte: »my body, the bodies of other men, the bodies of
animals, plants of all sorts, stones, mountains, the sun, the moon,
stars, and planets, houses and other buildings, manufactural articles
of all sorts – chairs, tables, pieces of paper, etc.«59 Die genannten physikalischen
Objekte sind in der Tat in einem weiten Sinne öffentlich,
so daß man sie nicht mit Vorstellungen verwechseln darf. Tische sind
schließlich keine Vorstellungen, weil Vorstellungen keine Tische
sind. Meines Wissens gehören Hände, Tische, Stühle, Katzen usw.
allerdings nicht zum Gegenstandsbereich der Physik, die an den meisten
Universitäten und sonstigen Lehr- und Forschungsinstituten gelehrt
wird. Der Ausdruck »physikalisches Objekt« ist daher zumin-
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dest irreführend, weil Moores physikalische Objekte in der Physik
nicht vorkommen. An anderer Stelle räumt Moore selbst ein, er sei
nicht imstande, den Begriff »physical fact« zu definieren oder auch
nur anzugeben, was physikalische Fakten als solche ausmache.
Gleichwohl behauptet er, daß sich daraus kein Problem ergebe, da
jeder verstünde, was er meine.60
Außerdem kann man Moores Liste leicht mit dem Problem der
begrifflichen Relativität konfrontieren, das insbesondere zeitgenössische
Rehabilitationen Kantischer Einsichten bei Goodman und Putnam
motiviert hat. Wenn sich nämlich zwei hinreichend normierte
Beobachter (z.B. britische Common-sense-Philosophen zu Beginn
des zwanzigsten Jahrhunderts) gleichzeitig an einem Ort mit einer
sichtbaren Auswahl an physikalischen Objekten im Sinne Moores
befinden, sollten sie sich auf Nachfrage in der Antwort auf die Frage
einig sein, welche Objekte sich vor Ort befinden. Schwieriger wird
die Situation, wenn wir einen Physiker, einen Künstler und jemanden
hinzufügen, zu dessen religiöser Praxis es gehört, mindestens
eines der anwesenden Objekte als Fetisch zu behandeln. Fragte man
nämlich den Physiker, welche physikalischen Objekte sich an dem
Ort befinden, würden kaum Artikel aus Moores Liste in seiner Antwort
vorkommen. Der Künstler wird sicherlich Objekte sehen, die
kein anderer am Ort bemerkt hat, indem er seine Aufmerksamkeit
etwa auf die Feinstruktur am Ort befindlicher Materialien richtet,
und der Religiöse wird wieder andere Objekte in seine Liste aufnehmen.
Daraus folgt, daß zwar irgendetwas Öffentliches (mit Kant
gesagt = X) an dem Ort ist, das sich von Halluzinationen oder negativen
Nachbildern unterscheidet, daß es aber nicht möglich ist, anzugeben,
was es unabhängig von den begrifflichen Präferenzen einer
Gruppe oder vieler Einzelner ist.
Wer entgegnet, daß auch der Religiöse und der Künstler annehmen,
mit einem physikalischen Objekt konfrontiert zu sein, dem sie
lediglich andere Eigenschaften als Moore zusprechen, setzt voraus,
daß die Dinge derWelt, in der wir leben, zunächst physikalische Objekte
sind, die darüber hinaus auch noch weitere Eigenschaften auf-
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Der metaphysische Realismus und die naive Einzeldingontologie
60 Vgl. Moore, G. E.: »A Defence of Common Sense«, in: Ders.: Philosophical Papers,
32–59, hier: 46: »In the case of the term ›physical fact‹, I can only explain how I am
using
it by giving examples. I mean by ›physical fact‹, facts like the following: ›That
mantelpiece
is at present nearer to this body than the bookcase is‹, ›The earth has existed for
many years past‹ […]. But, when I say ›facts like these‹, I mean, of course, facts like
them in a certain respect; and what this respect is I cannot define.«
weisen, die von der Beschaffenheit des Betrachters abhängen.
Moores Hände oder sein Körper sind aber keine physikalischen Objekte,
sofern sie als Moores Hände oder als sein Körper betrachtet
werden. Allenfalls könnte man sagen, daß Moores Hände aus physikalischen
Objekten (aus Partikeln welcher Art auch immer) bestehen.
Der Begriff des »physikalischen Objekts«, den Moore in Anschlag
bringt, gehört zum Genre der philosophischen Fiktion einer
basalen Welt aus primären (und bei Moore auch sekundären) Qualitäten,
die uns alltäglich problemlos kognitiv zugänglich ist.61 In den
Erzählungen, die in dieser vermeintlichen Welt des Alltags spielen,
gibt es auffälligerweise niemals verwirrende Vorkommnisse wie
Kunstwerke, Galaxien, physikalische Partikel, Nervensysteme von
Elefanten oder Seminare über Erkenntnistheorie. Es wird eine Welt
des Alltags unterstellt, in der man es angeblich mit »langweiligen«
mesoskopischen Objekten zu tun hat, deren Bewußtseinsunabhängigkeit
niemand in Zweifel zieht, weil man zumeist und zunächst
nicht in einen Streit darüber verwickelt wird, was sie sind und ob sie
unabhängig von unseren begrifflichen Präferenzen so sind, wie sie
nun einmal sind.
Doch niemand (auch kein Physiker) lebt in der Konstruktion der
Alltagswelt des Common-Sense-Realismus, den Moore zu verteidigen
sucht. Nicht nur, daß ein großer Teil der Menschheit tagtäglich
fast ausschließlich mit Artefakten umgeht, die ohnehin nicht unabhängig
von unseren Begriffen und Interessen das sind, was sie sind
und so sind, wie sie sind. Überdies ist es eine keineswegs unzivilisierte
Überzeugung, daß das Leben nur ein Traum ist – eine Überzeugung,
die eine wichtige Rolle im Hinduismus spielt, um nur ein
Beispiel zu nennen.62 Die These vom Leben als Traum ist freilich
72
Die Funktion des Skeptizismus
61 Sellars nennt dieses Bild the manifest image, wovon er the scientific image
unterscheidet,
das in einem offenen Konflikt mit dem manifest image steht. Vgl. Sellars,W.:
»Philosophy and the Scientific Image of Man«, in: Ders.: Science, Perception and
Reality.
Atacadero 1991, 1–40.
62 Ein gläubiger Hindu etwa wird bspw. der Überzeugung sein, daß sein Leben ein
Schicksalszusammenhang ist, der Teil einer umfassenden Einheit ist, die über
Raum
und Zeit hinausgeht. Was er erlebt, ist für ihn eine Art Traum, den ein Gott eingibt.
Die Lehre von der Maya, der Illusion, in der wir leben, dürfte hinreichend bekannt
sein
und ist in der Romantik (insbesondere von Schopenhauer im Ausgang von Kant!)
verbreitet
worden. Wäre Indien repräsentativ für die gesamte Menschheit, sähen die Karten
für die Konstruktion eines Common Sense, der den Alltagsrealismus vertritt, also
schlecht aus. Der Common Sense ist offenkundig kein statistischer Begriff, zumal es
Bestandteil beinahe aller religiösen Überlieferungen und Traditionen.
Der philosophische Alltagsrealismus hat also keine empirische
Basis, da er irgendeinen Normalmenschen, den sogenannten »Common
Sense«, konstruiert, ohne sich umzusehen, was die Menschen
tatsächlich glauben. Der Common Sense ist ein Problem und kein
Datum, auf das man sich berufen könnte.63
Der in der zeitgenössischen Erkenntnistheorie aufgerufene
Common Sense ist wohl nichts weiter als eine philosophische Erfindung,
mit der man auf skeptische Paradoxien reagiert, um auf diese
Weise den Versuch zu motivieren, sie mithilfe einer antiskeptischen
Strategie zurückzuweisen. Schon Kant hat dagegen im Rückzug der
Common-Sense-Philosophie auf den vermeintlichen consensus gentium
zu Recht einen »Naturalismus der reinen Vernunft« erkannt,
hinter dem sich in seinen Augen nichts Geringeres als eine »Misologie
« verbirgt. Wie Kant zu Recht bemerkt, ist der Common-Sense-
Philosoph darauf verpflichtet, die Größe und Entfernung des Mondes
vom irdischen Betrachter nach dem Augenmaß zu bestimmen.64
Denn die Wissenschaft, die den Common Sense darüber belehrt,
daß die Welt gerade nicht so ist, wie sie ihm erscheint, impliziert
bereits die Möglichkeit der skeptischen Infragestellung der meisten
vorwissenschaftlichen Überzeugungen. Die wissenschaftliche Forschung
führt nämlich »in beträchtlichem Umfange zur Delegitimation
von Alltagswissen.«65 Gerade dieWissenschaft lehrt, daß dieWelt
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Der metaphysische Realismus und die naive Einzeldingontologie
nicht klar ist, wie genau man eine Umfrage darüber beginnen könnte, welche
Völker
und Gruppen der Überzeugung sind, in Moores Welt der öffentlichen
physikalischen
Objekte zu leben und welche nicht.
63 Mit Jay Bernstein kann man die Moderne geradezu durch einen Verlust des
sensus
communis definieren, der nur noch für Momente in der ästhetischen Erfahrung im
Modus der Abwesenheit erfahren werden kann. Bernstein versteht die moderne
Kunst
als Trauerarbeit, die den Verlust des Common Sense beklagt. Vgl. Bernstein, J. M.:
The
Fate of Art. Aesthetic Alienation from Kant to Derrida and Adorno. Cambridge 1992.
64 »Der Naturalist der reinen Vernunft nimmt es sich zum Grundsatze: daß durch
gemeine
Vernunft ohneWissenschaft (welche er die gesunde Vernunft [Common Sense!,
M. G.] nennt) sich in Ansehung der erhabensten Fragen, die die Aufgabe der
Metaphysik
ausmachen, mehr ausrichten lasse, als durch Spekulation. Er behauptet also, daß
man
die Größe undWeite des Mondes sicherer nach dem Augenmaße, als durch
mathematische
Umschweife bestimmten könne. Es ist bloße Misologie, auf Grundsätze gebracht,
und, welches das ungereimteste ist, die Vernachlässigung aller künstlichen Mittel,
als
eine eigene Methode angerühmt, seine Erkenntnisse zu erweitern.« (KrV, B 883)
65 Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, 653. Die Wirkungen
derWissenschaft
sind nicht zufällig mit denen des Skeptizismus verwandt, wie Luhmann ebenfalls
bemerkt.
»DieWissenschaft macht auf unsichtbare Bedrohungen aufmerksam, auf Radio
anders ist, als sie uns und insbesondere als sie dem »Common Sense«
erscheint.
Kant weist also auf die Inkompatibilität des sogenannten Common
Sense mit der wissenschaftlichen Erkenntnis hin. Wer einen
Common Sense konstruiert, um an ihm dieWahrheit oder Falschheit
philosophischer Theorien zu bemessen, scheitert an der Existenz der
Wissenschaften. Gerade die moderne Naturwissenschaft radikalisiert
die Differenz von Common Sense und Wahrheit. Der sogenannte
Common Sense lebt in unzähligen Illusionen und läßt sich allenfalls
als eine diffuse Menge von Überzeugungen verstehen, die nicht auf
einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können. Dabei sollte
eigentlich offenkundig sein, daß nicht alle Menschen unkritisch auf
eine naive Einzeldingontologie oder einen naiven direkten Realismus
oder gar auf den metaphysischen Realismus verpflichtet sind. Wer
den methodischen Skeptizismus unter Berufung auf den Common
Sense diskreditieren will, geht eo ipso der kritischen Distanz verlustig,
ohne die man nicht einmal bemerken könnte, daß die Welt
nicht notwendig so ist, wie sie einem vermeintlich rohen Betrachter
erscheint. Ohne eine minimale Differenz von Sein und Schein gäbe
es auch keine Wissenschaft.
Es stellt deshalb keine gute antiskeptische Strategie dar, dieWelt
als ein Aggregat physikalischer Objekte (im Sinne Moores) zu betrachten,
das sich in Raum und Zeit befindet. Eine solche Auffassung
kann man als naive Einzeldingontologie bezeichnen. Wer eine naive
Einzeldingontologie vertritt, rechnet tendenziell mit einer Normalperspektive
auf die Welt dergestalt, daß es genau eine wahre Beschreibung
der Welt gibt.66 Diese Normalperspektive reflektiert da-
74
Die Funktion des Skeptizismus
aktivität, auf sagenhafte Ozonlöcher, auf das Unbewußte im Menschen. Sie zerstört
den
Halt, den man vordem an der Welt zu haben glaubte. Sie reduziert das Normale auf
einen extrem unwahrscheinlichen Zufall. Sie relativiert, historisiert,
exzeptionalisiert
die vertrauten Bedingungen des Menschenlebens, ohne deren Vertrautheit durch
ein
funktionales Äquivalent ersetzen zu können.« (ebd., 654)
66 Eine wichtige Ausnahme stellt Anton Friedrichs Koch monumentaler Versuch
über
Wahrheit und Zeit (Paderborn 2006) dar, in dem Koch versucht, eine
Einzeldingontologie
mit der These einer notwendigen Unabschließbarkeit aller kognitiven Projekte zu
verbinden. Allerdings ist Kochs Position insofern von der hier in Frage gestellten
Einzeldingontologie
weit entfernt, als Koch zeigen will, daß es ein System von Einzeldingen
überhaupt nur dann gibt, wenn Subjektivität als Einzelding, d. h. als Subjektivität in
Raum und Zeit in ihm vorkommt, was Koch als »Subjektivitätsthese« bezeichnet.
Diese
geht weit über eine naive Einzeldingontologie hinaus, da sie Einzelding und
Subjektivität
ontologisch voneinander abhängig macht.
bei eine bestimmte metaphysische Auffassung der Welt und ihrer
Beschaffenheit, die durch die simple relativierende Beobachtung in
Frage gestellt werden kann, daß Moores Hände für Moore physikalische
Objekte (d. h. mesoskopische Einzeldinge), für den Physiker
eine Konfiguration von Partikeln, für den Künstler potentielle
Kunstformen und für den Religiösen ein Fetisch sein können.67 Was
Moores Hände unabhängig von dieser begrifflichen Relativität sein
mögen, läßt sich nicht sagen. Der Gehalt unserer Aussagen über die
Welt kann nämlich nicht kontextfrei bestimmt werden, wobei ein
Kontext durch eine Reihe begrifflicher Entscheidungen individuiert
wird, die innerhalb des Kontexts nicht notwendig durchsichtig sein
müssen (s. u. Kap. II). Die Quantenphysik, die Aristotelische Kosmotheologie,
Spinozas Ethik und die Kunst und Religion einer jeden
Epoche und Gemeinschaft sind zwar alle auf die Welt bezogen. Was
diese aber ist, läßt sich zumindest nicht geradewegs unabhängig von
einem begrifflichen Bezugsrahmen sagen, den Habermas als »lebensweltliches
Hintergrundwissen«68 bestimmt. Begriffliche Rahmen legen
allererst fest, als was die Welt aufgefaßt werden muß, indem sie
festelegen, was als ein Objekt gilt. Der begriffliche Rahmen lebensweltlicher
Hintergrundannahmen bestimmt immer schon, wie dasjenige,
was uns in der Welt überhaupt begegnen kann, beschaffen
sein muß.
75
Der metaphysische Realismus und die naive Einzeldingontologie
67 Heidegger wendet sich bekanntlich in Sein und Zeit gegen die naive
Einzeldingontologie,
in der er den Ursprung des Skeptizismus sieht, den diese als ihr vermeintlich
Anderes bekämpft. Die naive Einzeldingontologie ist seines Erachtens das Resultat
einer
Verallgemeinerung eines bestimmten Seinsbegriffs, der sich der natürlichen
Welteinstellung
nahelegt. Philosophisch folgt daraus eine komplexe Position, die Heidegger in
Anlehnung an Fichte in seiner Freiburger Vorlesung von 1929 über Der deutsche
Idealismus
(Fichte, Schelling, Hegel) und die philosophische Problemlage der Gegenwart als
Dogmatismus charakterisiert und folgendermaßen beschreibt: »Dogmatisches
System
der Metaphysik: für die Begründung und den Aufbau des Ganzen der Erkenntnis
des
Seins des Seienden und des Seienden im Ganzen dasjenige zugrunde legen, was
dazu als
das Selbstverständlichste und Natürlichste sich gibt. Das ist aber das Seiende selbst
in
der Bestimmtheit, die sich der nächsten und ständig sich erhaltenden Auffassung
nahelegt.
Das Seiende: die Allheit der Dinge – Naturdinge, Pflanzen, von den Menschen
angefertigte Dinge, die Menschen selbst, Dämonen, Götter [Dämonen und Götter
passen
nicht wirklich in diese Liste, M. G.] – das All des Seienden; und sein Sein ist eben
diese Dingheit. (Das so Gegebene und die Art der natürlichen Auffassung nur
verallgemeinern!).
« (Heidegger, M.: Der deutsche Idealismus (Fichte, Schelling, Hegel) und
die philosophische Problemlage der Gegenwart. Frankfurt/Main 1997, 127)
68 Vgl. Habermas, J.: »Handlungen, Sprechakte, sprachlich vermittelte Interaktion
und
Lebenswelt«, in: Ders.: Nachmetaphysisches Denken. Frankfurt/Main 1988, 90.

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