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* Dieser Aufsatz ist aus einem Vortrag am Philosophischen Seminar der Universität
Freiburg hervorgegangen. Ich bedanke mich herzlich bei meinen damaligen Hörern,
sowie insbesondere bei Henry Allison, Rüdiger Bittner, Eckart Förster, Otfried Höffe,
Pierre Keller, Sam Kerstein, Sidney Morgenbesser und Allen Wood, für vielfältige kri-
tische Anmerkungen, die ich zu berücksichtigen versucht habe.
Mit den Buchstaben A bzw. B gekennzeichnete Zahlen im Text beziehen sich auf die
Seiten der Erst- bzw. Zweitauflage von Kants Kritik der reinen Vernunft. „Ak" steht
für Kants Gesammelte Schriften in der Preußischen Akademieausgabe.
' Jacobi: „David Hume über den Glauben," 1787.
2 Hegel: Geschichte der Philosophie, Band III (Frankfurt, Suhrkamp 1971), 341.
Beiden Modellen ist gemeinsam, daß die wahre Erklärung der Beta-
Relata auf die entsprechenden Alpha-Relata zurückgreifen muß (und
nicht umgekehrt). Die Punkte auf dem Schirm - daß, wann, und wo sie
auftreten - können nur unter Rückgriff auf Ereignisse im umliegenden
Luftraum erklärt werden. Und Karls Verhalten auf der Bühne läßt sich
letztlich nur dadurch erklären, daß er dort als Schauspieler eine be-
stimmte Rolle spielt. Im Modell A haben wir eine verdeckt zugrunde-
liegende Welt von Dingen, die für uns eine andere, zutageliegende Welt
weiterer Dinge hervorbringt. Im Modell B haben wir eine verdeckt zu-
grundeliegende Schicht wesentlicher Attribute, welche für uns eine an-
dere, zutageliegende Schicht oberflächlicher Attribute derselben Gegen-
stände hervorbringt.
Im Sinne welches dieser beiden Modelle ist nun der kantische Gegen-
satz zwischen Erscheinungen und Dingen an sich zu verstehen? Behaup-
tet Kant (wie etwa Vaihinger, Strawson und Guyer glauben), daß unsere
Gegenstandswelt von einer zugrundeliegenden Welt numerisch distink-
ter Entitäten hervorgebracht ist? Oder glaubt er (im Sinne z.B. von
Prauss und Allison), daß die Attribute, die wir empirischen Objekten
normalerweise zuschreiben, ihnen nicht wesentlich zukommen, sondern
erst von für uns verdeckt zugrundeliegenden Attributen hervorgebracht
werden? Dies ist eine Frage, über die die Kantforscher seit langem zer-
stritten sind. 3
Man könnte meinen, daß man in diesem Punkt weiterkommen kann
mit dem von Kant ja ebenfalls in Anspruch genommenen empirischen
Gegensatz von Erscheinungen und Dingen an sich. Aber diese Hoff-
nung ist aus mindestens zwei Gründen trügerisch. Erstens ist der em-
pirische Gegensatz ebenfalls nicht klar. Denn was man hier dem empiri-
schen Ding an sich (dem physischen Objekt) entgegenzusetzen hat
könnte einerseits eine Wahrnehmung (ein Perzept) desselben, anderer-
seits aber auch der Inhalt eines subjektiven Entwurfs desselben sein. Im
ersten Falle würde der empirische Gegensatz Modell A exemplifizieren,
3 In diesem Streit spielen die fünf genannten Autoren Hauptrollen. Siche Hans Vaihin-
ger: Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft Band 2 (Aalen, Scientia 1970,
11892), besonders 6 - 55; Peter F. Strawson: The Bounds of Sense (London, Mechuen
1966); Gerold Prauss: Kant und das Problem der Dinge an sich (Bonn, Bouvier 1974);
Henry E. Allison: Kant's Transcendental Idealism (New Haven, Yale University Press
1983), besonders Kapitel I und II; und Paul Guyer: Kant and the Claims of Knowledge
(Cambridge, Cambridge University Press 1987), besonders die Einleitung und Kapi-
tel Is.
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5 Prauss 59 n 12. Diese Erklärung ließe sich leicht auch auf die Tatsache ausdehnen, daß
Kant seinen transzendentalen Idealismus ja auch immer unter Bezug nur auf die
Sinnlichkeit erläutert, nämlich als die These, daß empirische Objekte in ihren raum-
zeitlichen Attributen subjektabhängig sind.
6 Prauss 59.
So zum Beispiel auch Otfried Höffe: „ein Ding an sich [ist] ... das, was unabhängig
von Sinnlichkeit und Verstand an sich besteht" (Immanuel Kant [München, Beck
1983], 134).
494 Thomas Pogge
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ANTWORT 1 ANTWORT 2
MODELLA 1A 2A
MODELL B 1B 2B
8 Nämlich A 249, A 251, B 306 f., A 254 f./B 310, A 256/B 312, A 257/B 313, A 259/B 315,
A 287 - 9/B 343 - 6, B 423 n, A 562 f./B 590 f.
9 Diese zweite Antwort findet sich z.B. bei Nicholas Rescher: „The Status of, Things-in-
Themselves in Kant" in s. Internationaler Kant Kongreß, Akten I.1 (Bonn, Bouvier
1981): "The thing-in-iself" is accordingly a creature of the understanding (Versta
wesen), arrived at by abstracting from the conditions of sensibility" (439). Jedoch ver-
wechselt Rescher diesen Gedanken dann sofort mit dem ganz anderen Gedanken,
daß „the conception of a thing in itself ... is a creature of the understanding" (440).
Dieser letztere Gedanke führt ihn dann zu der recht unplausiblen Idee, daß Kant
Dinge an sich als Noumena bezeichnet, weil der Begriff solcher Dinge allein im Ver-
stande seinen Ursprung hat.
Erscheinungen und Dinge an sich 495
10 Noch viel weniger dürfen wir davon ausgehen, daß solche Dinge genau mit den Da-
tengruppen koinzidieren, die unser Verstand zu Vorstellungen empirischer Gegen-
ständen verbindet. Prauss übertüncht diese Schwierigkeit, indem er die charakteristi-
sche Aktivität unseres Verstandes immer als eine „Deuten," anstatt - wie Ka
ein Verbinden, bezeichnet.
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und somit identisch sind mit der Letztrealität, deren Erscheinung sie
sind."
Aber worin soll die Wahrheit dieser Behauptung bestehen? Kraft wel-
cher Umstände - mögen sie uns bekannt sein können oder nicht - soll
diese empirische Welt, deren Vorstellung wir durch Verbindung einer
Datenmannigfaltigkeit selbst hervorbringen, identisch sein mit jener
Letztrealität, welche in uns diese Datenmannigfaltigkeit hervorruft? Im
Falle des empirischen Gegensatzes von Erscheinung und Ding an sich
läßt sich eine solche Frage ohne weiteres beantworten: Die Identität der
Rose, der wir in unserem Entwurf die rote Farbe beilegen, mit der Rose,
die nicht an sich selbst rot ist, ist durch raumzeitliche Attribute gesichert
- denn solche kommen ja sowohl der Rose als Erscheinung wie auch der
Rose als empirischem Ding an sich zu. Die Rose unserer Vorstellung hat
(nahezu) dieselben geometrischen Proportionen, und steht auch in (na-
hezu) denselben geometrischen Relationen zu anderen Objekten, wie die
wissenschaftlich ermittelte Rose. 12 Im Falle des transzendentalen Gegen-
satzes stehen jedoch keinerlei überlappende Attribute zur Verfügung, die
die Identität von Erscheinungswelt und Letztrealität verbürgen könnten.
Man mag hier einwenden, daß im Falle des transzendentalen Gegen-
satzes auch keine Verschiedenheit von Erscheinungswelt und Letztrealität
konstatiert werden kann. Denn die Verschiedenheit zweier Entitäten
setzt voraus, daß sie unvereinbare Attribute haben. So kann man etwa
im empirischen Falle die Verschiedenheit von Regen und Regenbogen-
perzept unter Bezugnahme auf wechselseitig unvereinbare raumzeitliche
Attribute begründen: Das Regenbogenperzept tritt erst ganz kurz nach
Beginn des Regens auf, und zwar im Kopfe des Betrachters und nicht,
wie der Regen, über der Wiese. Die Letztrealität aber hat gar keine kom-
mensurablen Attribute, die sich als mit Attributen der Erscheinungswelt
vereinbar oder unvereinbar erweisen könnten. Deshalb - so der Ein-
wand - läßt sich die Verschiedenheit dieser beiden Welten ebensowenig
behaupten wie deren Identität.
"' Allison scheint diese Reformulierung zu befürworten. Siehe „Transcendental Idealism:
The , Two Aspect' View" in Bernard den Houden and Marcia Moen, Hrsg.: New Essays
on Kant (Peter Lang, New York 1987) 168-169.
12 Der Zusatz „(nahezu)" soll vage an verschiedene Forschungsergebnisse der nachkanti-
schen Physik erinnern, etwa deren Behauptung einer atomaren Mikrostruktur der
Materie, einer prinzipiellen Meßunschärfe, sowie einer nichteuklidischen Struktur
unseres Universums. Soweit ich sehe, untergraben diese Komplikatio
herkömmliche Redeweise, derzufolge der Eiffelturm in Paris identisch ist mit etwas,
was viele von uns sich vorstellen oder erinnern können.
Erscheinungen und Dinge an sich 497
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Lassen Sie uns nun die Antwort 2 entwickeln. Dabei ist mir klar, daß
meine Interpretation selbst in der Zweitauflage, um die es mir vornehm-
lich geht, auf textliche Schwierigkeiten stößt. Ich konzentriere mich hier
auf Antwort 2 begünstigende Textstellen, vor allem aus der zweiten
Hälfte der transzendentalen Deduktion.
Kant kündigt diese Deduktion an als die „Erklärung der Art, wie sich
Begriffe a priori auf Gegenstände beziehen können" (A 85/B 117). Es
geht ihm also - wie er auch sonst noch öfters andeutet!3 - um die Er-
klärung einer Möglichkeit. Ich verstehe das Wort ,Erklärung' hier in dem
13 Z.B. in der Einleitung zur Zweitauflage (B 19-21) und in den ersten beiden Sätzen
des § 26 (B 159 f.).
498 Thomas Pogge
Was will Kant in der B-Deduktion wirklich zeigen? Das stärkste mit
seinen Mitteln erreichbare Beweisziel ist, glaube ich: (7*) P→ Q und VP.
Diese - unmittelbar (7) implizierende - These ist schwächer als (1)-(4),
insofern Kant durch sie nur die Möglichkeit von Q erklärt. Natürlich
behauptet er auch, daß wir tatsächlich über Begriffe verfügen, die sich a
priori auf Gegenstände beziehen. In der B-Deduktion geht es jedoch
nicht um diese Behauptung selbst, sondern um die Ausräumung des
Erscheinungen und Dinge an sich 499
14 In diesem Punkt stimme ich völlig überein mit Manfred Baum: Deduktion und Be-
weis in Kants Transzendentalphilosophie (Königstein, Athenäum 1986). Ich kann je-
doch, so hoffe ich, besser erklären, warum der zweite Teil - der Fortschritt vom All-
gemeinen zum Besonderen (von irgendeiner zu unserer sinnlichen Anschauungsart) -
für Kants Vorhaben unerläßlich ist.
15 Bernhard Thöle: „Die Beweisstruktur der transzendentalen Deduktion in der zweiten
Auflage der , Kritik der reinen Vernunft " in 5. Internationaler Kant Kongreß, Alten I.I
(Bonn, Bouvier 1981), 306. Vgl. auch Baum 11.
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85
16 Ich habe hier natürlich stark vereinfacht, und insbesondere vom Doppelcharakter der
Verbindungstätigkeit abgesehen. Kant zufolge treten dieselben Verstandeshandlungen
einmal als Kategorien bei der Verbindung von Mannigfaltigem in/zu einer Anschau-
ung und dann noch einmal als Urteilsformen bei der Verbindung von Vorstellungen
oder „Erkenntnissen" (d.h. Anschauungen und/oder Begriffen) in/zu einem Urteil auf
(A 79/B 104 f.). Er scheint auch sagen zu wollen, daß eine Anschauung mit anderen
Vorstellungen durch Urteile einer bestimmten Form (z.B.: kategorisch) nur dann ver-
bunden werden kann, wenn die korrespondierende Karegorie (z.B.: Substanz) in der
Verbindung von Mannigfaltigem zu dieser Anschauung konstitutiv mitgespielt hat
(B 128 f. und § 20; Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft Ak Band IV,
475 n).
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Soll diese Lösung plausibel sein, dann mull genauer gesagt werden,
was denn hier unter einem „Sonderfall" oder (in Kants Ausdruck:) einer
„Anwendung" (B 152) zu verstehen ist. Es gibt da nämlich zwei ganz ver-
schiedene Möglichkeiten, die zu recht unterschiedlichen Konzeptionen
der Einbildungskraft führen.
Erste Konzeption: Die Einbildungskraft ist von Verstand und Sinn-
lichkeit gleichermaßen abhängig. Ihre Synthesis verbindet Mannigfalti-
ges auf solche Art, daß es sowohl der Form des Verstandes als auch der
Form der Sinnlichkeit genügt. Man kann nach dieser Konzeption sagen
- wie Kant ja wohl sagen will (B 162 n) - die Einbildungsart sei der Ver-
stand. Man muß nur hinzufügen, daß es sich dabei handelt um den im
Bewußtsein der besonderen mit ihm verkoppelten Sinnlichkeit verbin-
denden Verstand. „Unter dem Namen der Einbildungskraft" (B 162 n),
gibt der Verstand dem, was er verbindet, nicht nur die von ihm selbst
antizipierte kategoriale, sondern auch die von der Sinnlichkeit antizi-
pierte raumzeitliche Einheit. Man möchte sagen: Die Einbildungskraft
ist der in einem bestimmten Medium (Raum-Zeit) kategorial verbin-
dende Verstand. „Da nun alle unsere Anschauung sinnlich ist, so gehört
die Einbildungskraft, der subjektiven Bedingung wegen, unter der sie al-
lein den Verstandesbegriffen eine korrespondierende Anschauung geben
kann, zur Sinnlichkeit, [jedoch ist] ihre Synthesis eine Ausübung der
Spontaneität ..., welche ... a priori den Sinn seiner Form nach der Ein-
heit der Apperzeption gemäß bestimmen kann" (B 151 f.). Dies scheint
zu heißen: Die Einbildungskraft bestimmt den Sinn gemäß sowohl der
Form der Sinnlichkeit als auch der Form des Verstandes.
Gleich im Anschluß an diese Stelle nennt Kant jedoch „die transzen-
dentale Synthesis der Einbildungskraft ... eine Wirkung des Verstandes
auf die Sinnlichkeit" (B 152). Wenig später sagt er, „die transzendentale
Handlung der Einbildungskraft" sei ein „synthetischer Einfluß des Ver-
standes auf den inneren Sinn" (B 154). Kurz darauf: „Der Verstand fin-
det also [im inneren Sinn] nicht etwa schon eine ... Verbindung des
Mannigfaltigen, sondern bringt sie hervor, indem er ihn affiziert" (B I55).
Diese Passagen legen eine konkurrierende Konzeption der Einbildungs-
kraft nahe.
Zweite Konzeption: Der Verstand verbindet Gegebenes ganz auto-
nom. Wir jedoch können solche Verbindungsprodukte unseres Ver-
standes nur so kennen, wie sie uns vermittelst der reinen Formen der
Sinnlichkeit erscheinen. Der raumzeitliche Charakter empirischer Ge-
genstände kommt also nicht dadurch zustande, daß Gegebenem im Ver-
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und Dingen an sich anbieten: Innerhalb von Kants Theorie sind Dinge
an sich unter Absehung von nur der Sinnlichkeit betrachtete empirische
Gegenstände. Sie sind, genauer gesagt, Verbindungsprodukte unserer
Verstandestätigkeit wie sie an sich selbst sind, und nicht wie sie (als em-
pirische Objekte nämlich) uns erscheinen. Kants Dinge an sich sind also
wirklich Noumena/Verstandeswesen und nicht die völlig subjektunab-
hängigen Letztrealitätsbestandteile, für die sich transzendentale Reali-
sten so brennend interessieren. 18
Diese Interpretation wird im Phänomena-und-Noumena Kapitel der
Zweitauflage bestätigt: „Wenn wir unter Noumenon ein Ding verstehen,
so fern es nicht Objekt unserer sinnlichen Anschauung ist, indem wir von
unserer Anschauungsart desselben abstrahieren: so ist dieses ein Noume-
non im negativen Verstande. Verstehen wir aber darunter ein Objekt
einer nichtsinnlichen Anschauung, so nehmen wir eine besondere An-
schauungsart an, nämlich die intellektuelle, die aber nicht die unsrige
ist, von welcher wir auch die Möglichkeit nicht einsehen können, und
das wäre das Noumenon in positiver Bedeutung. Die Lehre von der
Sinnlichkeit ist nun zugleich die Lehre von den Noumenen im negati-
ven Verstande" (B 307). 19 Also: Noumena oder Dinge an sich (von Kant
mindestens 18 Mal miteinander identifiziert) sind nicht Letztrealitäts-
18 Diese Behauptung gilt nicht für Stellen, an denen Kant sich mit seinen Gegnern aus-
einandersetzt und dann auch den Ausdruck „Ding an sich" in deren Sinne verwendet.
Vier Beispiele: Kant sagt, daß der transzendentale Realist „annimmt, unsere Erfah-
rungserkenntnis richte sich nach den Gegenständen als Dingen an sich selbst"
(B Vorrede S. 20). „Der Raum stellt gar keine Eigenschaft irgend einiger Dinge an
sich, oder sie in ihrem Verhältnis aufeinander vor" (A 26/B 42). „Dingen an sich
selbst würde ihre Gesetzmäßigkeit notwendig, auch außer einem Verstande, der sie
erkennt, zukommen" (B 164). „Sind Erscheinungen Dinge an sich selbst, so ist Frei-
heit nicht zu retten" (A 536/B 564). Die Zweitauflage, wenn ich sie richtig verstehe,
stellt dem Leser also erhebliche Schwierigkeiten entgegen, die auch Kant selbst wohl
nicht hinreichend klargeworden sind: Erstens wird ein Begriff, den Kant in positiv-
konstruktiver Absicht verwirft, dennoch in negativ-kritischer Absicht verwendet -
nämlich um zu sagen, daß physische Objekte nicht als Dinge an sich (d.h. Letztrea-
litärsbestandteile) zu verstehen sind. Und zweitens benutzt Kant denselben Ausdruck
Ding an sich in seiner eigenen Theorie in einem anderen Sinne (nämlich im Sinne
von Noumenon).
19 Gegenläufige Passagen der Erstauflage sind in B gestrichen. Zum Beispiel: „dasjenige
Etwas, welches den äußeren Erscheinungen zum Grunde liegt, was unseren Sinn so
affiziert, daß er die Vorstellungen von Raum, Materie, Gestalt etc. bekommt, dieses
Etwas, als Noumenon (oder besser, als transzendentaler Gegenstand) betrachtet ..."
(A 358).
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20 Kant scheint gelegentlich das Gegenteil zu behaupten, was aber, glaube ich, mit sei-
ner Theorie auf keinen Fall zusammenstimmt.
508 Thomas Pogge
(d) Der Begriff einer Letztrealität ist illegitim, usurpiert (vgl. A 84/B 117)
- ihm kann kein Sinn gegeben werden; und die Behauptung, eine Letzt-
realität existiere, hat deshalb keinen Wahrheitswert und kann nicht ein-
mal als Ausgangspunkt für hypothetische Spekulationen dienen.
Ich glaube, daß Kant manchmal in der Tat, im Sinne von (d), die
Rede von einer Letztrealität für sinnlos hielt. Besonders klar scheint mir
dies in folgender Passage zum Ausdruck zu kommen: „Wenn die Klagen:
Wir sehen das Innere der Dinge nicht ein, so viel bedeuten sollen, als, wir
begreifen nicht durch den reinen Verstand, was die Dinge, die uns er-
scheinen, an sich sein mögen: so sind sie ganz unbillig und unvernünf-
tig; denn sie wollen, daß ... wir ein von dem menschlichen ... gänzlich
unterschiedenes Erkenntnisvermögen haben, also nicht Menschen, son-
dern Wesen sein sollen, von denen wir selbst nicht angeben können, ob
sie einmal möglich, vielweniger, wie sie beschaffen seien" (A 277 f.l
B 333 f.). Indem Kant hier den Drang, das Innere der Dinge einzusehen,
als den Wunsch nach einem anderen Erkenntnisvermögen umdeutet
(nach einem intuitiven Verstand etwa, dessen Verbindungsprodukte uns
bekannt wären so wie sie an sich selbst sind), weist er implizit den
Wunsch, das Innere der Dinge unter Umgehung jedweden Erkenntnis-
vermögens einzusehen, als völlig sinnlos zurück.21 Von Dingen, Gegen-
ständen oder Objekten kann sinnvoll überhaupt nur in Bezug auf ir-
gendein wirkliches oder mögliches Subjekt die Rede sein. Kant besteht
hier auf dem Primat der Epistemologie gegenüber der Ontologie.
Diese Position (d) ist für Kant den Theoretiker äußerst attraktiv, weil
er durch sie den Begriff einer Letztrealität - und damit auch die Frage,
inwieweit selbige nun innen oder außen, Ich oder Nicht-Ich, sei - als il-
legitim zurückweisen kann. Solchen Begriffen und Unterscheidungen
kann einfach kein transzendentaler Sinn gegeben werden - obwohl es,
dank gewisser empirischer Analoga, so scheinen mag - „denn wir kön-
nen nichts verstehen, als was ein unseren Worten Korrespondierendes in
der Anschauung mit sich führet" (A 277/B 333).
Dieser Gedanke scheint mir auch in Kants Widerlegung des Idealis-
mus eine zentrale Rolle zu spielen: Kant zeigt dort, daß es Objekte
außer uns, d. h. im Raume, geben muß. Dieser Beweis hat aber mit dem
21 Von diesem letzteren, völlig sinnlosen Wunsch könnte man sagen - um Kants besten
Witz zu zitieren -, daß er „ohngefähr dem Versuche ähnlich sein würde, den jemand
mit geschlossenen Augen vor dem Spiegel zu machen gedachte, und auf Befragen,
was er hiemit wolle, antwortete: ich wollte nur wissen, wie ich aussehe, wenn ich
schlafe" (Fortschritte, Zweite Handschrift, Ak Band XX, 309).
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23 Grundlegung Ak Band IV, 458. Vgl. Kritik der praktischen Vernunft Ak Band V, 97 f.
und 99.
24 Analoges würde ich von Kants Theorie des erkennenden Subjekts behaupten: Auch
sie ist keine Hypothese über die Letztrealität, sondern ein Bild, das unsere Erkennt-
nisleistungen (und damit auch die Leistung, zu einer Theorie unserer selbst zu gelan-
gen) uns begreiflich machen soll.
25 Siehe A 82g/B 857 und Kritik der praktischen Vernunft Ak Band V, 126 und 144-146.