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Thomas Pogge, New York

Erscheinungen und Dinge an sich*

Der Gegensatz zwischen Erscheinungen und Dingen an sich ist der


kantischen Philosophie, wie kein anderes ihrer Elemente, zum Schicksal
geworden. Schon gleich nach Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft
sind ihre Leser an diesem Gegensatz irregeworden - so etwa Jacobi, der
»ohne jene Voraussetzung in das System nicht hineinkommen, und mit
jener Voraussetzung darin nicht bleiben konnte."' Ein wenig später
spottet Hegel: „Es sind da draußen Dinge an sich, aber ohne Zeit und
Raum; nun kommt das Bewußtsein und hat vorher Zeit und Raum in
ihm als die Möglichkeit der Erfahrung, so wie, um zu essen, es Mund
und Zähne usw. hat als Bedingungen des Essens. Die Dinge, die ge-
gessen werden, haben den Mund und die Zähne nicht, und wie es den
Dingen das Essen antut, so tut es ihnen Raum und Zeit an; wie es die
Dinge zwischen Mund und Zähne legt, so in Raum und Zeit. "2
Um beurteilen zu können, ob dieser für Kants transzendentalen Idea-
lismus so zentrale Gegensatz nun in der Tat unhaltbar oder gar lächer-
lich ist, müssen wir diesen Gegensatz jedoch zuerst einmal verstehen -
und zu diesem Verständnis möchte ich hier zweierlei beitragen. Erstens
möchte ich zwei Disjunktionen diskutieren, durch die vier verschiedene
Interpretationsmöglichkeiten voneinander abgehoben werden können.
Ich werde dann zweitens versuchen zu zeigen, daß eine zunächst ganz
wunderliche Möglichkeit dennoch systematisch recht attraktiv ausfällt.
Allerdings glaube ich nicht, wie ich schon jetzt gern zugeben will, daß
Kant selbst genau diese Variante des Gegensatzes zum Ausdruck bringen

* Dieser Aufsatz ist aus einem Vortrag am Philosophischen Seminar der Universität
Freiburg hervorgegangen. Ich bedanke mich herzlich bei meinen damaligen Hörern,
sowie insbesondere bei Henry Allison, Rüdiger Bittner, Eckart Förster, Otfried Höffe,
Pierre Keller, Sam Kerstein, Sidney Morgenbesser und Allen Wood, für vielfältige kri-
tische Anmerkungen, die ich zu berücksichtigen versucht habe.
Mit den Buchstaben A bzw. B gekennzeichnete Zahlen im Text beziehen sich auf die
Seiten der Erst- bzw. Zweitauflage von Kants Kritik der reinen Vernunft. „Ak" steht
für Kants Gesammelte Schriften in der Preußischen Akademieausgabe.
' Jacobi: „David Hume über den Glauben," 1787.
2 Hegel: Geschichte der Philosophie, Band III (Frankfurt, Suhrkamp 1971), 341.

Zeitschrift für philosophische Forschung, Band 45 (1991), 4


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wollte. Vielmehr meine ich, daß er verschiedene Interpretationen seiner


transzendentalen Theorie nicht klar unterschieden hat, daß es also auf
die Frage, welche Variante dieser Theorie Kant selbst vertreten hat,
keine eindeutige Antwort gibt. Selbst die wunderliche Interpretation,
die ich hier vorführen möchte, findet zu viel Rückhalt im Text - insbe-
sondere im Text der Zweitauflage - als daß man sie einfach übergehen
dürfte.

Der Begriff Erscheinung kommt sowohl zweistellig als auch dreistellig


vor. Im ersten Fall wäre Erscheinung einfach nur etwas, das jemandem
erscheint. In diesem Sinne wäre Kants Behauptung, daß wir es immer
nur mit Erscheinungen zu tun haben, trivial: Daß ich es mit etwas zu
tun habe, heißt eben, daß dieses Etwas mir erscheint. Für Kant wesent-
lich ist also der dreistellige Begriff - etwa: Alpha erscheint uns als Beta,
oder verkürzt: Beta ist eine Erscheinung von Alpha.
Was ist nun die Beziehung zwischen diesen beiden Relata der Erschei-
nungsrelation? Es gibt hier zwei Möglichkeiten, die ich an einfachen
Beispielen kurz einführen möchte. Stellen wir uns also einen Radar-
schirm vor, der zur Flugsicherung dient. Wann immer größere Flugkör-
per in den vom Radar bestrichenen Luftraum einfliegen, erscheint ein
Punkt auf dem Schirm. Und wir können dann sagen, daß ein solcher
Flugkörper auf dem Schirm als Punkt erscheint, oder daß es sich bei
einem solchen Punkt um die Erscheinung eines Flugkörpers handelt.
Dies ist Modell A: zwei numerisch verschiedene und (kausal) ein-ein-
deutig aufeinander bezogene Entitäten, von denen der kausal abhängi-
gen Entität (Beta-Relatum) der Rang einer bloßen Erscheinung zufällt.
Stellen wir uns zweitens ein Theaterstück vor, in dem Karl als Kreon
auftritt. Obwohl warmherzig und bescheiden, wird Karl, sofern er ein
guter Schauspieler ist, dennoch auf der Bühne kalt und herrschaftlich
erscheinen. Bloße Erscheinung ist hier Karl mit den ihm nur von einer
bestimmten Perspektive, oder in einem bestimmten Kontext, zukom-
menden Attributen (hartherziger Regent). Das Alpha-Relatum ist eben-
falls Karl, nun aber charakterisiert durch die ihm selbst wesentlich zu-
kommenden Attribute (wie das des guten Schauspielers). Dies ist
Modell B: eine einzige Entität mit verschiedenen Attributen von unter-
schiedlicher Wesentlichkeit.
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Beiden Modellen ist gemeinsam, daß die wahre Erklärung der Beta-
Relata auf die entsprechenden Alpha-Relata zurückgreifen muß (und
nicht umgekehrt). Die Punkte auf dem Schirm - daß, wann, und wo sie
auftreten - können nur unter Rückgriff auf Ereignisse im umliegenden
Luftraum erklärt werden. Und Karls Verhalten auf der Bühne läßt sich
letztlich nur dadurch erklären, daß er dort als Schauspieler eine be-
stimmte Rolle spielt. Im Modell A haben wir eine verdeckt zugrunde-
liegende Welt von Dingen, die für uns eine andere, zutageliegende Welt
weiterer Dinge hervorbringt. Im Modell B haben wir eine verdeckt zu-
grundeliegende Schicht wesentlicher Attribute, welche für uns eine an-
dere, zutageliegende Schicht oberflächlicher Attribute derselben Gegen-
stände hervorbringt.
Im Sinne welches dieser beiden Modelle ist nun der kantische Gegen-
satz zwischen Erscheinungen und Dingen an sich zu verstehen? Behaup-
tet Kant (wie etwa Vaihinger, Strawson und Guyer glauben), daß unsere
Gegenstandswelt von einer zugrundeliegenden Welt numerisch distink-
ter Entitäten hervorgebracht ist? Oder glaubt er (im Sinne z.B. von
Prauss und Allison), daß die Attribute, die wir empirischen Objekten
normalerweise zuschreiben, ihnen nicht wesentlich zukommen, sondern
erst von für uns verdeckt zugrundeliegenden Attributen hervorgebracht
werden? Dies ist eine Frage, über die die Kantforscher seit langem zer-
stritten sind. 3
Man könnte meinen, daß man in diesem Punkt weiterkommen kann
mit dem von Kant ja ebenfalls in Anspruch genommenen empirischen
Gegensatz von Erscheinungen und Dingen an sich. Aber diese Hoff-
nung ist aus mindestens zwei Gründen trügerisch. Erstens ist der em-
pirische Gegensatz ebenfalls nicht klar. Denn was man hier dem empiri-
schen Ding an sich (dem physischen Objekt) entgegenzusetzen hat
könnte einerseits eine Wahrnehmung (ein Perzept) desselben, anderer-
seits aber auch der Inhalt eines subjektiven Entwurfs desselben sein. Im
ersten Falle würde der empirische Gegensatz Modell A exemplifizieren,

3 In diesem Streit spielen die fünf genannten Autoren Hauptrollen. Siche Hans Vaihin-
ger: Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft Band 2 (Aalen, Scientia 1970,
11892), besonders 6 - 55; Peter F. Strawson: The Bounds of Sense (London, Mechuen
1966); Gerold Prauss: Kant und das Problem der Dinge an sich (Bonn, Bouvier 1974);
Henry E. Allison: Kant's Transcendental Idealism (New Haven, Yale University Press
1983), besonders Kapitel I und II; und Paul Guyer: Kant and the Claims of Knowledge
(Cambridge, Cambridge University Press 1987), besonders die Einleitung und Kapi-
tel Is.
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indem nämlich dem physischen Objekt ein psychischer Gegenstand, etwa


eine Teilansicht dieses Objektes, gegenüberstünde. Im zweiten Falle
würde der empirische Gegensatz Modell B exemplifizieren, indem At-
tribute, die das physische Objekt wirklich hat, kontrastiert würden mit
Attributen, die demselben physischen Objekt unseren subjektiven Ent-
würfen zufolge zukommen. Kants Beispiel vom Regenbogen (B 63) deu-
tet auf Modell A hin: Der Sonnenregen bringt in uns allerlei Perzepte
hervor, von denen - je nach Lage des Regens zu den Sinnen - einige
farbenprächtig sind und andere nicht. Kants Beispiel der Rose (B 45,
B 70 n) legt dagegen Modell B nahe: Ganz unabhängig von ihrer Lage
zu unseren Sinnen legen wir, in unserem Entwurf, der Rose die rote
Farbe als Attribut bei; wir sagen: „Die Rose ist rot." Tatsächlich ist die
Röte der Rose aber nur Erscheinung (für uns), zurückzuführen auf ein
zugrundeliegendes Attribut der Rose selbst, nämlich ihre selektive
Lichtreflektion. Es bleibt also unklar, was Kant im Sinne des empiri-
schen Gegensatzes als Erscheinung ansieht.
Ein weiterer Grund, warum uns der empirische Gegensatz von Er-
scheinung und Ding an sich nicht weiterhilft ist: Es läßt sich einfach ab-
streiten, daß die beiden Gegensätze (der transzendentale und der empi-
rische) demselben Modell gemäß zu rekonstruieren sind. So schreibt
etwa Prauss: „Empirische Erscheinungen und empirische Dinge an sich
sind numerisch-existenziell different. ... ‚Erscheinungen' und ,Dinge an
sich' [sind] im philosophischen Sinne numerisch-existenziell iden-
tisch. "4
Damit ist die erste Disjunktion eingeführt: Der transzendentale Ge-
gensatz zwischen Erscheinungen und Dingen an sich wird von einigen
nach Modell A, von anderen nach Modell B rekonstruiert. Wenden wir
uns nun also der zweiten Disjunktion zu.

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Wo Kant erklärt, warum er empirische Objekte für „bloße" Erschei-


nungen und nicht für Dinge an sich hält, weist er dabei immer auf die
Rolle der Sinnlichkeit in der Objektkonstitution hin. Empirische
Objekte sind Erscheinungen, weil ihr raumzeitlicher Charakter, Kant
zufolge, der Form unserer Anschauungsart zuzuschreiben ist. Dieser aus-

4 Prauss 52 (vgl. 22).


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schließliche Bezug auf die Sinnlichkeit ist überraschend. Denn bekannt-


lich schreibt Kant andere universale Charakteristika empirischer Ob-
jekte unserem Verstande zu, wodurch er ja auch von ihnen behauptet,
daß sie subjektiven Ursprungs sind. Raumzeitliche und kategoriale At-
tribute wären also gleichermaßen geeignet, die These von der Subjekt-
abhängigkeit von Objekten zu explizieren. Warum also erläutert Kant
dann seine These immer wieder unter Bezugnahme nur auf die Sinn-
lichkeit (und nicht auf Sinnlichkeit und Verstand)?
Während die meisten Kantforscher diese Frage ignorieren, erklärt
Prauss Kants Vernachlässigung des Verstandes in diesem Zusammen-
hang als „eine Art von Uberrest aus Kants Dissertation," wo Kant ja
tatsächlich ganz einseitig die Abhängigkeit empirischer Objekte nur von
der Form der Sinnlichkeit behauptet. War Kant also zu stolz oder zu
träge, sich neue Formulierungen einfallen zu lassen? Moniert Prauss zu
Recht, dals Kant, wenn er empirische Objekte Phänomena nennt, „eine
ganz einseitige Kennzeichnung wählt. ... Denn mit demselben Recht
und ebenso gut könnte man sachlich mit umgekehrter Einseitigkeit und
Willkür verfahren und zur Kennzeichnung dieser zweifachen Abhängig-
keit nur ihre andere Seite berücksichtigen" - sie also als „begrifflich Ge-
dachte," oder Noumena, den Dingen an sich gegenüberstellen. & Die
Vorwurf werden wir wohl akzeptieren müssen, wo doch die Kantfor-
schung einhellig die Dinge an sich als von Sinnlichkeit und Verstand
unabhängige Entitäten den von Sinnlichkeit und Verstand geprägten Er-
scheinungen entgegensetzt.? Zunächst sollten wir aber doch einmal ge-
nau untersuchen, was denn dabei herauskommen würde, wenn man
Kants eigene Formulierungen zu diesem Punkt ernstnähme.
Nun darf der Versuch, den transzendentalen Gegensatz von Erschei-
nungen und Dingen an sich in Bezug auf die Formen nur der Sinnlich-
keit zu rekonstruieren, allerdings nicht so verstanden werden, daß er mit
Kants Behauptung der Abhängigkeit empirischer Objekte von unseren
reinen Verstandesbegriffen kollidiert. Wenn der Verstand zum Gegensatz

5 Prauss 59 n 12. Diese Erklärung ließe sich leicht auch auf die Tatsache ausdehnen, daß
Kant seinen transzendentalen Idealismus ja auch immer unter Bezug nur auf die
Sinnlichkeit erläutert, nämlich als die These, daß empirische Objekte in ihren raum-
zeitlichen Attributen subjektabhängig sind.
6 Prauss 59.
So zum Beispiel auch Otfried Höffe: „ein Ding an sich [ist] ... das, was unabhängig
von Sinnlichkeit und Verstand an sich besteht" (Immanuel Kant [München, Beck
1983], 134).
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zwischen Erscheinungen und Dingen an sich nichts beiträgt, so kann


das also gewiß nicht daran liegen, daß Erscheinungen (wie Dinge an
sich) von unserem Verstande unabhängig sind (was Kant noch in seiner
Inauguraldissertation behauptet hatte), sondern vielmehr nur daran, daß
Dinge an sich (wie Erscheinungen) von unserem Verstande abhängig
sind. Genau dies legt Kant ja auch dadurch nahe, daß er Dinge an sich
immer wieder - insgesamt mindestens 18 Mal - als Verstandeswesen
oder Noumena bezeichnet.8 Die zweite Disjunktion, wie die erste,
betrifft also nicht den Status der Erscheinungen (der empirischen Ob-
jekte), sondern den der Dinge an sich. Die Frage ist, ob in Kants tran-
szendentalem Idealismus Dinge an sich (1) als Bestandteile einer völlig
subjektunabhängigen Letztrealität zu denken sind; oder ob sie (2) von
einem Verstand konstituierte Dinge sind, unabhängig davon, wie sie -
zufolge der Form der mit diesem Verstand verkoppelten Anschauungs-
art - erscheinen mögen.?

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beide Disjunktionen zusammennehmend, gelangen wir nun zu dem


versprochenen Schema von vier Interpretationsmöglichkeiten:

ANTWORT 1 ANTWORT 2

MODELLA 1A 2A
MODELL B 1B 2B

8 Nämlich A 249, A 251, B 306 f., A 254 f./B 310, A 256/B 312, A 257/B 313, A 259/B 315,
A 287 - 9/B 343 - 6, B 423 n, A 562 f./B 590 f.
9 Diese zweite Antwort findet sich z.B. bei Nicholas Rescher: „The Status of, Things-in-
Themselves in Kant" in s. Internationaler Kant Kongreß, Akten I.1 (Bonn, Bouvier
1981): "The thing-in-iself" is accordingly a creature of the understanding (Versta
wesen), arrived at by abstracting from the conditions of sensibility" (439). Jedoch ver-
wechselt Rescher diesen Gedanken dann sofort mit dem ganz anderen Gedanken,
daß „the conception of a thing in itself ... is a creature of the understanding" (440).
Dieser letztere Gedanke führt ihn dann zu der recht unplausiblen Idee, daß Kant
Dinge an sich als Noumena bezeichnet, weil der Begriff solcher Dinge allein im Ver-
stande seinen Ursprung hat.
Erscheinungen und Dinge an sich 495

Nun sind diese vier Versionen keineswegs gleichermaßen plausibel;


und es ist genau die Unhaltbarkeit von 1B, die mich daran interessiert
sein läßt, die Dinge an sich als Verstandesprodukte aufzufassen. Denn
auch ich teile die neuerdings beliebte Absicht, Kant von dem Verdacht
einer metaphysischen Hinterweltslehre (im Sinne von Modell A) freizu-
sprechen. Doch läßt sich m.E. ein solcher Freispruch kaum erwirken,
solange man die Dinge an sich noch, genau wie der transzendentale
Realismus, als völlig subjektunabhängige Letztrealitätsbestandteile kon-
zipiert.
Antwort 1 postuliert eine subjektunabhängige Welt an sich, die durch
Affektion unseres Rezeptionsvermögens in uns eine Mannigfaltigkeit
einfacher Daten hervorruft. Diese Daten werden durch Verstandeshand-
lungen zu Vorstellungen von empirischen Gegenständen und letztlich
zur Vorstellung einer empirischen Welt verbunden.
Hier ist zunächst festzustellen, dal Kant, Antwort 1 zufolge, nicht
hätte annehmen dürfen, daß jene subjektunabhängige Letztrealität aus
Dingen besteht. Denn daraus, daß unser Verstand bestimmte Daten zur
Vorstellung eines Gegenstandes verbindet, kann man nicht schließen,
daß diese Daten einen gemeinsamen Ursprung in demselben Stück
Letztrealität haben. Die in der Vorstellung von empirischen Objekten
geleistete Verbindung und Gruppierung von Daten ist nach Kant ja eine
Verstandesleistung des Subjekts, von welchem durch den Zusatz „an
sich" angeblich gerade abgesehen wird. 10
Nun könnte ein Proponent von Antwort 1 einfach zugeben, daß er
Kant hier einen dicken Fehler zumuten muß, dals Kant nämlich gar
nicht von (von Sinnlichkeit und Verstand unabhängigen) Dingen an sich
hätte sprechen dürfen, sondern bestenfalls nur - ohne Plural - von einer
Welt an sich, die unserem Erkenntnisvermögen als die uns vertraute, aus
Objekten bestehende empirische Welt erscheint.
Nach dieser Modifikation wäre 1B wie folgt umzuformulieren: Statt
zu behaupten, daß jeder beliebige empirische Gegenstand auch an sich
selbst betrachtet werden kann, und somit identisch ist mit einem Stück
Letztrealität, dessen Erscheinung er ist, wird nun behauptet, daß die
empirischen Gegenstände auch an sich selbst betrachtet werden können,

10 Noch viel weniger dürfen wir davon ausgehen, daß solche Dinge genau mit den Da-
tengruppen koinzidieren, die unser Verstand zu Vorstellungen empirischer Gegen-
ständen verbindet. Prauss übertüncht diese Schwierigkeit, indem er die charakteristi-
sche Aktivität unseres Verstandes immer als eine „Deuten," anstatt - wie Ka
ein Verbinden, bezeichnet.
496 Thomas Pogge
und somit identisch sind mit der Letztrealität, deren Erscheinung sie
sind."
Aber worin soll die Wahrheit dieser Behauptung bestehen? Kraft wel-
cher Umstände - mögen sie uns bekannt sein können oder nicht - soll
diese empirische Welt, deren Vorstellung wir durch Verbindung einer
Datenmannigfaltigkeit selbst hervorbringen, identisch sein mit jener
Letztrealität, welche in uns diese Datenmannigfaltigkeit hervorruft? Im
Falle des empirischen Gegensatzes von Erscheinung und Ding an sich
läßt sich eine solche Frage ohne weiteres beantworten: Die Identität der
Rose, der wir in unserem Entwurf die rote Farbe beilegen, mit der Rose,
die nicht an sich selbst rot ist, ist durch raumzeitliche Attribute gesichert
- denn solche kommen ja sowohl der Rose als Erscheinung wie auch der
Rose als empirischem Ding an sich zu. Die Rose unserer Vorstellung hat
(nahezu) dieselben geometrischen Proportionen, und steht auch in (na-
hezu) denselben geometrischen Relationen zu anderen Objekten, wie die
wissenschaftlich ermittelte Rose. 12 Im Falle des transzendentalen Gegen-
satzes stehen jedoch keinerlei überlappende Attribute zur Verfügung, die
die Identität von Erscheinungswelt und Letztrealität verbürgen könnten.
Man mag hier einwenden, daß im Falle des transzendentalen Gegen-
satzes auch keine Verschiedenheit von Erscheinungswelt und Letztrealität
konstatiert werden kann. Denn die Verschiedenheit zweier Entitäten
setzt voraus, daß sie unvereinbare Attribute haben. So kann man etwa
im empirischen Falle die Verschiedenheit von Regen und Regenbogen-
perzept unter Bezugnahme auf wechselseitig unvereinbare raumzeitliche
Attribute begründen: Das Regenbogenperzept tritt erst ganz kurz nach
Beginn des Regens auf, und zwar im Kopfe des Betrachters und nicht,
wie der Regen, über der Wiese. Die Letztrealität aber hat gar keine kom-
mensurablen Attribute, die sich als mit Attributen der Erscheinungswelt
vereinbar oder unvereinbar erweisen könnten. Deshalb - so der Ein-
wand - läßt sich die Verschiedenheit dieser beiden Welten ebensowenig
behaupten wie deren Identität.
"' Allison scheint diese Reformulierung zu befürworten. Siehe „Transcendental Idealism:
The , Two Aspect' View" in Bernard den Houden and Marcia Moen, Hrsg.: New Essays
on Kant (Peter Lang, New York 1987) 168-169.
12 Der Zusatz „(nahezu)" soll vage an verschiedene Forschungsergebnisse der nachkanti-
schen Physik erinnern, etwa deren Behauptung einer atomaren Mikrostruktur der
Materie, einer prinzipiellen Meßunschärfe, sowie einer nichteuklidischen Struktur
unseres Universums. Soweit ich sehe, untergraben diese Komplikatio
herkömmliche Redeweise, derzufolge der Eiffelturm in Paris identisch ist mit etwas,
was viele von uns sich vorstellen oder erinnern können.
Erscheinungen und Dinge an sich 497

Wenn dieses Bedenken stichhaltig wäre, würde es zu dem recht ra-


dikalen Resultat führen, daß wir bei Annahme von Antwort 1 nicht ein-
mal in der Lage wären, der Frage, ob die Welt an sich mit der empiri-
schen Welt identisch ist oder nicht, auch nur einen Sinn zu geben. Denn
um identisch sein zu können, müßten sie wenigstens eine Eigenschaft
oder Relation gemeinsam haben; und um verschieden sein zu können,
müßten sie kommensurable Attribute haben, die wechselseitig unverein-
bar sind. Die Frage hätte keinen Sinn, weil sie ihr zentrales Prädikat der
Identität bzw. Verschiedenheit außerhalb seiner eingeführten Anwen-
dungskriterien verwendet. Und damit wäre der ganze Streit zwischen
Doppelweltlern und Doppelaspektlern völlig bedeutungslos geworden.
Ohne zu diesem radikalen Resultat Stellung zu nehmen, möchte ich
hier nur das bescheidenere Ergebnis festhalten, daß man, wenn Antwort
1 richtig ist, Kants transzendentalen Gegensatz nicht im Sinne von Mo-
dell B rekonstruieren kann. Jene Rekonstruktion scheitert nicht einfach
daran, daß wir prinzipiell nicht in der Lage sind, eine Identität von Er-
scheinungswelt und Letztrealität zu begründen; wobei man immer noch
fragen könnte, was Kant denn - unbegründbar - darüber geglaubt oder
gelehrt hat. Sie scheitert, weil - mangels kommensurabler Attribute -
selbst ein allwissender Gott keinen Grund haben könnte, die empirische
Welt unserer Vorstellung mit der Letztrealität zu identifizieren. Deshalb
muß die Frage, ob die beiden Welten nach Antwort 1 identisch sein
können, wenn sie überhaupt sinnvoll ist, verneint werden.

$4

Lassen Sie uns nun die Antwort 2 entwickeln. Dabei ist mir klar, daß
meine Interpretation selbst in der Zweitauflage, um die es mir vornehm-
lich geht, auf textliche Schwierigkeiten stößt. Ich konzentriere mich hier
auf Antwort 2 begünstigende Textstellen, vor allem aus der zweiten
Hälfte der transzendentalen Deduktion.
Kant kündigt diese Deduktion an als die „Erklärung der Art, wie sich
Begriffe a priori auf Gegenstände beziehen können" (A 85/B 117). Es
geht ihm also - wie er auch sonst noch öfters andeutet!3 - um die Er-
klärung einer Möglichkeit. Ich verstehe das Wort ,Erklärung' hier in dem

13 Z.B. in der Einleitung zur Zweitauflage (B 19-21) und in den ersten beiden Sätzen
des § 26 (B 159 f.).
498 Thomas Pogge

Sinne, der auch wissenschaftlich gebräuchlich ist, etwa in „Erklärung


einer. Explosion." Man muß also unterscheiden zwischen Explanandum
und Explanans. Als Explanandum käme etwa in Frage: daß wir über Be-
griffe verfügen, die sich a priori auf Gegenstände beziehen (Q); oder
besser: daß dies wenigstens möglich ist (VQ). Das Explanans wäre Kants
Theorie unseres Verstandes als ausschließlichem Verbindungsvermögen
(P); bzw. das mögliche Zutreffen dieser Theorie (OP).
Will Kant eine Erklärung liefern, so muß er mindestens zeigen, daß
das Vorliegen seines Explanans tatsächlich eine hinreichende Bedingung
für das Vorliegen des Explanandums ist (letzteres durch ersteres tatsäch-
lich erklärt werden kann). Also: (1) P → Q; bzw. (5) 0P → 0Q. Aller-
dings könnte man von einer erfolgreichen Erklärung auch mehr verlan-
gen, nämlich (in aufsteigender Stärke) den Nachweis, daß: (2) P = Q
und Q; bzw. (6) VP → 0Q und 0Q (man darf nicht von einer erfolgrei-
chen Erklärung sprechen, wenn das Explanandum gar nicht wirklich
vorliegt). Oder den Nachweis, daß: (3) P → Q und P; bzw. (7) 0P →
0Q und VP (eine erfolgreiche Erklärung muß zeigen, daß das von ihr
angebotene Explanans - und folglich auch das Explanandum - wirklich
vorliegt). Oder sogar den Nachweis, daß: (4) P → Q und P und
(VR)[(R 8 (R → Q)) → (R=P)]; bzw. (8) 0P → 1Q und OP und
(VR)OR & (UR →) → (R=P)] (eine erfolgreiche Erklärung muß
zeigen, daß keine alternative hinreichende Bedingung für das Vorliegen
des Explanandums vorliegt, das Vorliegen des angebotenen Explanans
also für das Vorliegen des Explanandums allein verantwortlich ist).
Hinsichtlich ihrer Stärke sind diese Möglichkeiten wie folgt zu ord-
nen (wobei (4) die stärkste, (5) die schwächste Lesart ist):

(4) - → (3) → (2) * (1)

• (7) • (6) * (5)

Was will Kant in der B-Deduktion wirklich zeigen? Das stärkste mit
seinen Mitteln erreichbare Beweisziel ist, glaube ich: (7*) P→ Q und VP.
Diese - unmittelbar (7) implizierende - These ist schwächer als (1)-(4),
insofern Kant durch sie nur die Möglichkeit von Q erklärt. Natürlich
behauptet er auch, daß wir tatsächlich über Begriffe verfügen, die sich a
priori auf Gegenstände beziehen. In der B-Deduktion geht es jedoch
nicht um diese Behauptung selbst, sondern um die Ausräumung des
Erscheinungen und Dinge an sich 499

vornehmsten Grundes an ihrer Wahrheit zu zweifeln: Es geht hier um


die Frage, wie solch ein apriorischer Gegenstandsbezug unserer Begriffe
überhaupt nur möglich sein soll. Natürlich wird oft behauptet - auch
von Kant selbst - die Deduktion zeige, daß wir solche sich a priori auf
Gegenstände beziehenden Begriffe tatsächlich haben. Da ich nicht sehe,
wie und wo das bewiesen würde, halte ich mich jedoch lieber an Kants
bescheidenere Außerungen, nach denen die Deduktion nur jene Mög-
lichkeit aufzeigt.
(7*) ist schwächer als (8), insofern darauf verzichtet wird, Alternativ-
erklärungen auszuschließen. Kant zeigt bloß, daß das Explanandum
durch seine Theorie eines bestimmten, von der Sinnlichkeit auf be-
stimmte Art geschiedenen, Verstandes erklärt werden kann. Daraus folgt
nicht die Unmöglichkeit anderer Erklärungen.
Auch wenn Kant sonst ab und zu behauptet, in seiner Deduktion
mehr gezeigt zu haben, glaube ich, daß er innerhalb des Textes der B-
Deduktion sich dieser Limitation bewußt ist. Er postuliert dort also eine
- wenigstens nicht unmögliche - Theorie des menschlichen Erkenntnis-
vermögens, und versucht dann zu zeigen, unter Voraussetzung der Wahr-
heit dieser Theorie, dall wir wirklich über sich a priori auf Gegenstände
beziehende Begriffe verfügen. Damit ist erklärt, wie menschliche Be-
griffe sich a priori auf Gegenstände beziehen können. Diese Erklärungs-
leistung beweist zwar weder @ noch P, legt aber doch beide nahe: Kants
Möglichkeitserklärung stellt unsere (durch Humes skeptische Argu-
mente infragegestellte) Überzeugung, daß wir tatsächlich über sich a
priori auf Gegenstände beziehende Begriffe verfügen, wieder her. Und
weil es so enorm schwierig ist, überhaupt irgendeine Erklärung dieses
Besitzes beizubringen, ist Kant sicherlich berechtigt, den Erfolg seiner
Erklärung als ein wichtiges Indiz für die Wahrheit seiner Theorie unse-
res Erkenntnisvermögens anzusehen. Deshalb darf Kant schon für sich
in Anspruch nehmen, (3), und sogar (4), plausibel gemacht zu haben.
Bewiesen hat er aber bestenfalls nur (7).
Sobald wir die B-Deduktion in meinem Sinne verstehen, löst sich das
Problem der beiden im § 21 getrennten Beweishälften. Der erste Teil
zeigt nur ganz allgemein, daß ein Erkenntnisvermögen, mittels dessen
man den Besitz von sich a priori auf Gegenstände beziehenden Begriffen
erklären könnte, möglich/beschreibbar ist. Der zweite Teil konkretisiert
diesen Möglichkeitsbeweis. Er zeigt, daß unser Erkenntnisvermögen je-
ner Beschreibung möglicherweise entspricht, daß also, insbesondere, die
jetzt vorgelegte Theorie des Verstandes mit der bereits vorliegenden
500 Thomas Pogge

Theorie unserer Sinnlichkeit zusammenstimmt. Die im ersten Teil ge-


lieferte Beschreibung der Tätigkeit eines mit irgendeiner Anschauungsart
verkoppelten Verstandes muß spezifiziert werden können für den Son-
derfall eines Verstandes, der mit unserer Anschauungsart - nämlich der
(durch die Formen Raum und Zeit charakterisierten) Sinnlichkeit- ver-
koppelt ist. Der Kontrast zwischen den beiden Teilen entspricht somit,
in Kants eigenen Worten, dem Kontrast zwischen „einer Anschau-
ung(sart] überhaupt" und „unseren Sinnen" (B 159), zwischen irgend-
einer „sinnlichen Anschauung[sart]" und „Sinnlichkeit" d.i. unserer An-
schauungsart (B 143 f.). 14
Die Rolle dieses Kontrastes in der Trennung der beiden Beweishälften
wird verständlich, wenn wir die B-Deduktion als einen Möglichkeitsbe-
weis lesen. Der Fortschritt vom Allgemeinen zum Besonderen verstärkt
die Erklärungsleistung - es wird nicht bloß erklärt, wie Begriffe sich a
priori auf Gegenstände beziehen können, sondern auch wie das bei un-
seren (menschlichen) Begriffen möglich ist. (Vergleiche: Ich versuche zu
erklären, wie ein bestimmtes elektronisch gesichertes Kunstwerk gestoh-
len werden konnte. Zu diesem Zweck demonstriere ich zunächst ganz
allgemein eine Methode, nach der sich eine Alarmanlage von außen aus-
schalten läßt. Da die besonderen Umstände des Einzelfalles jedoch po-
tentiell die Anwendbarkeit meiner allgemeinen Erklärung gefährden, ist
weiter zu zeigen, daß diese Erklärung tatsächlich mit jenen Umständen
in Einklang steht. Erst diese zweite Beweishälfte zeigt, daß im vorliegen-
den Fall nach der postulierten Ausschaltungsmethode vorgegangen wor-
den sein konnte.) Hätte Kant, andererseits, im ersten Teil die Wahrheit
seiner Theorie unseres Verstandes bewiesen haben wollen, dann hätte er
im zweiten Teil nur noch direkt deduktiv vom Allgemeinen aufs Beson-
dere zu schließen gehabt, wozu - wie schon Thöle plausibel ausführtels
- kaum 25 Seiten notwendig gewesen wären.

14 In diesem Punkt stimme ich völlig überein mit Manfred Baum: Deduktion und Be-
weis in Kants Transzendentalphilosophie (Königstein, Athenäum 1986). Ich kann je-
doch, so hoffe ich, besser erklären, warum der zweite Teil - der Fortschritt vom All-
gemeinen zum Besonderen (von irgendeiner zu unserer sinnlichen Anschauungsart) -
für Kants Vorhaben unerläßlich ist.
15 Bernhard Thöle: „Die Beweisstruktur der transzendentalen Deduktion in der zweiten
Auflage der , Kritik der reinen Vernunft " in 5. Internationaler Kant Kongreß, Alten I.I
(Bonn, Bouvier 1981), 306. Vgl. auch Baum 11.
Erscheinungen und Dinge an sich 501

85

In seiner Einleitung in die transzendentale Deduktion betont Kant


mehrmals die Parallele zur Transzendentalen Ästhetik, die er hier noch
einmal zusammenfaßt: „da nur vermittelst solcher reinen Formen der
Sinnlichkeit uns ein Gegenstand erscheinen, d.i. ein Objekt der empiri-
schen Anschauung sein kann, so sind Raum und Zeit reine Anschauun-
gen, welche die Bedingung der Möglichkeit der Gegenstände als Er-
scheinungen a priori enthalten, und die Synthesis in denselben hat
objektive Gültigkeit" (A 89/B 122 f.; vgl. A 90/B 122 f. und A 93/B 125).
Es bietet sich daher an, die in der Transzendentalen Deduktion vorge-
schlagene Erklärung parallel wie folgt zu verstehen: Da uns nur vermit-
telst reiner Verstandesbegriffe ein Gegenstand erscheinen kann (P), sind
die Kategorien Bedingungen der Möglichkeit von Objekten als Erschei-
nungen, und haben diesbezüglich objektive Gültigkeit (Q). Beide Er-
klärungen ließen sich dann, wie gewünscht, so zusammenfassen: „die
Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Be-
dingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung, und haben
darum objektive Gültigkeit in einem synthetischen Urteile a priori"
(A 158/B 197).
Kant gibt sofort zu, daß es bei den reinen Verstandesbegriffen sehr
viel schwieriger ist (als bei den Formen der Sinnlichkeit) einzusehen,
wieso uns nur vermittelst ihrer ein Gegenstand soll erscheinen können.
»Denn es könnten wohl allenfalls Erscheinungen so beschaften sein, dal
der Verstand sie den Bedingungen seiner Einheit gar nicht gemäß
fände ... Erscheinungen würden nichts destoweniger unserer Anschau-
ung Gegenstände darbieten, denn die Anschauung bedarf der Funktio-
nen des Denkens auf keine Weise" (A 90 f./B 123). Kant muß eine
Theorie unseres Erkenntnisvermögens vorlegen, die diese Gegenthese
ausschließt.
Die Gegenthese malt folgendes Bild: Vermittelst der Sinnlichkeit sind
uns Anschauungen gegeben, durch welche der Verstand zur Bildung von
Begriffen angeregt wird, mithilfe derer er dann Anschauungen registriert
(einordnet) und zueinander in Beziehung setzt. Diese Aktivitäten des
Verstandes setzen überhaupt nichts darüber voraus, was uns vermittelst
der Sinnlichkeit gegeben ist.
In Opposition zu diesem Bild weist Kant auf die Leistung des Subjek-
tes hin, Mannigfaltiges überhaupt einmal in ein Bewußtsein zusammen-
zubringen, und postuliert diese Leistung als die wesentliche Funktion
502 Thomas Pogge

des Verstandes: „Allein die Verbindung .., eines Mannigfaltigen über-


haupt, kann ... nicht in der reinen Form der sinnlichen Anschauung zu-
gleich mit enthalten sein; denn sie ist ein Actus der Spontaneität der
Vorstellungskraft" (B 129) - also „eine Verrichtung des Verstandes, der
selbst nichts weiter ist, als das Vermögen, a priori zu verbinden" (B 135;
vgl. B 153 f.).
Diese Voraussetzung erlaubt es Kant zu erklären, wie reine Verstan-
desbegriffe (genau wie die Formen der Sinnlichkeit) in bezug auf Gegen-
stände der Erfahrung objektive Gültigkeit haben können. In Kurzfas-
sung: (1) Ich habe Erfahrung nur von dem, was in einem Bewußtsein
zusammenstehen kann (analytisch). (II) Mein Verstand ist das Vermö-
gen, welches Mannigfaltiges in ein(em) Bewußtsein vereinigt [kantisches
Theoriepostulat]. (III) Also ist Erfahrenes von meinem Verstande ab-
hängig, insofern ich nämlich nur das kenne, was mein Verstand in
ein(em) Bewußtsein vereinigt, und selbst dies nur so kenne, wie es von
meinem Verstand zu einem Bewußtseinsinhalt verbunden wird. (IV) Die
Funktionsweise meines Verstandes prägt somit meiner Erfahrung ihren
Stempel auf: „Die synthetische Einheit des Bewußtseins ist also eine ob-
jektive Bedingung aller Erkenntnis, ... unter der jede Anschauung ste-
hen muß, um für mich Objekt zu werden, weil auf andere Art, und ohne
diese Synthesis, das Mannigfaltige sich nicht in einem Bewußtsein verei-
nigen würde" (B 138). (V) Und so läßt sich synthetische Erkenntnis a
priori von den Gegenständen meiner Erfahrung im Rückgriff auf impli-
zite Kenntnis jener Funktionsweise meines Verstandes erklären. 16

16 Ich habe hier natürlich stark vereinfacht, und insbesondere vom Doppelcharakter der
Verbindungstätigkeit abgesehen. Kant zufolge treten dieselben Verstandeshandlungen
einmal als Kategorien bei der Verbindung von Mannigfaltigem in/zu einer Anschau-
ung und dann noch einmal als Urteilsformen bei der Verbindung von Vorstellungen
oder „Erkenntnissen" (d.h. Anschauungen und/oder Begriffen) in/zu einem Urteil auf
(A 79/B 104 f.). Er scheint auch sagen zu wollen, daß eine Anschauung mit anderen
Vorstellungen durch Urteile einer bestimmten Form (z.B.: kategorisch) nur dann ver-
bunden werden kann, wenn die korrespondierende Karegorie (z.B.: Substanz) in der
Verbindung von Mannigfaltigem zu dieser Anschauung konstitutiv mitgespielt hat
(B 128 f. und § 20; Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft Ak Band IV,
475 n).
Erscheinungen und Dinge an sich 503

56

Wie plausibel auch immer diese Erklärung im Allgemeinen sein mag,


so sieht es doch zunächst ganz hoffnungslos aus, sie mit der Transzen-
dentalen Asthetik in Einklang bringen zu wollen. Dort war ja behauptet
worden, daß alles Gegebene sich in einem Raume und in einer Zeit be-
findet, somit ja wohl qua Sinnlichkeit in einem Bewußtsein zusammen-
steht, und also nicht vom Verstand eigens zusammengebracht zu werden
braucht. Diesem drohenden Widerspruch gilt es im zweiten Teil der
Transzendentalen Deduktion zu begegnen. Kant muß hier zeigen: Die
im ersten Teil vorgetragene Erklärungshypothese eines zweistung verbin-
denden nicht-intuitiven Verstandes funktioniert nicht nur überhaupt
(allgemein), sondern auch speziell im Falle unseres Erkenntnisvermögens
(in welchem der Verstand mit einer ganz bestimmten sinnlichen An-
schauungsart verkoppelt ist).
Kants Lösung ist im Polysyllogismus des zweiten Teils (B 160 f.) recht
klar zusammengefaßt: Daß das Mannigfaltige in einem Raum und einer
Zeit zusammensteht, ist einer Verbindungsleistung unsererseits zu ver-
danken - welche von Kant als Synthesis der Apprehension (und an-
derswo auch als figürliche Synthesis und als transzendentale Synthesis
der Einbildungskraft) bezeichnet wird. Diese ist eine Leistung unseres
Verstandes, und zwar ein Sonderfall genau der Verbindungsleistung, von
der im ersten Teil allgemein die Rede war.'7 Diese Klarstellung der
Transzendentalen Ästhetik rettet Kants Erklärungshypothese: Wenn das
in Raum und Zeit zusammenstehende Mannigfaltige nur dank einer
Verbindungsleistung unseres Verstandes so zusammensteht, dann ist er-
klärt, wie die Kategorien für so Zusammenstehendes objektive Gültig-
keit haben können.

17 Das im ersten Satz des ersten Polysyllogismus (B 143) erwähnte „mannigfaltige in


einer sinnlichen Anschauung Gegebene" (lies: „das mannigfaltige in irgendeiner sinn-
lichen Anschauungsart Gegebene") taucht im vierten Satz des zweiten Polysyllogis-
mus (B 161) wie folgt wieder auf: „Diese synthetische Einheit [der Apprehension, in
Raum und Zeit] aber kann keine andere sein, als die der Verbindung des Mannigfal-
tigen einer gegebenen Anschauung überhaupt in einem ursprünglichen Bewußtsein,
den Kategorien gemäß, nur auf unsere sinnliche Anschauung angewandt." Vgl. auch:
„In der Folge (§ 26) wird aus der Art, wie in der Sinnlichkeit die empirische An-
schauung gegeben wird, gezeigt werden, dall die Einheit derselben keine andere sei,
als welche die Kategorie nach dem vorigen § 20 dem Mannigfaltigen einer gegebenen
Anschauung überhaupt vorschreibt" (B 144 f.).
504 Thomas Pogge

Soll diese Lösung plausibel sein, dann mull genauer gesagt werden,
was denn hier unter einem „Sonderfall" oder (in Kants Ausdruck:) einer
„Anwendung" (B 152) zu verstehen ist. Es gibt da nämlich zwei ganz ver-
schiedene Möglichkeiten, die zu recht unterschiedlichen Konzeptionen
der Einbildungskraft führen.
Erste Konzeption: Die Einbildungskraft ist von Verstand und Sinn-
lichkeit gleichermaßen abhängig. Ihre Synthesis verbindet Mannigfalti-
ges auf solche Art, daß es sowohl der Form des Verstandes als auch der
Form der Sinnlichkeit genügt. Man kann nach dieser Konzeption sagen
- wie Kant ja wohl sagen will (B 162 n) - die Einbildungsart sei der Ver-
stand. Man muß nur hinzufügen, daß es sich dabei handelt um den im
Bewußtsein der besonderen mit ihm verkoppelten Sinnlichkeit verbin-
denden Verstand. „Unter dem Namen der Einbildungskraft" (B 162 n),
gibt der Verstand dem, was er verbindet, nicht nur die von ihm selbst
antizipierte kategoriale, sondern auch die von der Sinnlichkeit antizi-
pierte raumzeitliche Einheit. Man möchte sagen: Die Einbildungskraft
ist der in einem bestimmten Medium (Raum-Zeit) kategorial verbin-
dende Verstand. „Da nun alle unsere Anschauung sinnlich ist, so gehört
die Einbildungskraft, der subjektiven Bedingung wegen, unter der sie al-
lein den Verstandesbegriffen eine korrespondierende Anschauung geben
kann, zur Sinnlichkeit, [jedoch ist] ihre Synthesis eine Ausübung der
Spontaneität ..., welche ... a priori den Sinn seiner Form nach der Ein-
heit der Apperzeption gemäß bestimmen kann" (B 151 f.). Dies scheint
zu heißen: Die Einbildungskraft bestimmt den Sinn gemäß sowohl der
Form der Sinnlichkeit als auch der Form des Verstandes.
Gleich im Anschluß an diese Stelle nennt Kant jedoch „die transzen-
dentale Synthesis der Einbildungskraft ... eine Wirkung des Verstandes
auf die Sinnlichkeit" (B 152). Wenig später sagt er, „die transzendentale
Handlung der Einbildungskraft" sei ein „synthetischer Einfluß des Ver-
standes auf den inneren Sinn" (B 154). Kurz darauf: „Der Verstand fin-
det also [im inneren Sinn] nicht etwa schon eine ... Verbindung des
Mannigfaltigen, sondern bringt sie hervor, indem er ihn affiziert" (B I55).
Diese Passagen legen eine konkurrierende Konzeption der Einbildungs-
kraft nahe.
Zweite Konzeption: Der Verstand verbindet Gegebenes ganz auto-
nom. Wir jedoch können solche Verbindungsprodukte unseres Ver-
standes nur so kennen, wie sie uns vermittelst der reinen Formen der
Sinnlichkeit erscheinen. Der raumzeitliche Charakter empirischer Ge-
genstände kommt also nicht dadurch zustande, daß Gegebenem im Ver-
Erscheinungen und Dinge an sich 505

bindungsprozeß diese Form aufgeprägt wird, sondern vielmehr dadurch,


daß das (bloß kategorial geprägte) Verbundene von uns nur als raum-
zeitlich rezipiert werden kann. Die Verbindungsprodukte unseres Ver-
standes erscheinen uns, vermittelst der Sinnlichkeit, als empirische Ob-
jekte (raumzeitliche Gebilde); und ebenso erscheint uns die Tätigkeit
unseres autonomen Verstandes als Einbildungskraft, ihre Synthesis (der
Apperzeption) als Synthesis der Apprehension (raumzeitliche Zusam-
mensetzung). Die „Synthesis (unseres Verstandes), wenn er für sich al-
lein betrachtet wird, [ist] nichts anderes, als die Einheit der Handlung
..., durch die er ... die Sinnlichkeit innerlich in Ansehung des Mannig-
faltigen, was der Form ihrer Anschauung nach ihm gegeben werden
mag, zu bestimmen vermögend ist. Er also übt, unter der Benennung ei-
ner transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft, diejenige Handlung
aufs passive Subjekt, dessen Vermögen er ist, aus, wovon wir mit Recht
sagen, daß der innere Sinn dadurch affiziert werde" (B 153 f.).
Ich bin keineswegs davon überzeugt, daß Kant der Unterschied
zwischen diesen beiden Konzeptionen der Einbildungskraft stets klar
vor Augen stand - geschweige denn, dals er der zweiten Konzeption den
Vorzug gegeben hat oder hätte. Doch scheint mir folgender Punkt noch
gegen die erste Konzeption zu sprechen. Kant sagt, daß die von den for-
malen Anschauungen, Raum und Zeit, erzielte Einheit selbst eine Ver-
bindungsleistung des Verstandes, nämlich „eine Synthesis, die nicht den
Sinnen angehört, durch welche aber alle Begriffe von Raum und Zeit
zuerst möglich werden, voraussetzt. ... Durch sie (indem der Verstand
die Sinnlichkeit bestimmt) [werden] der Raum und die Zeit als An-
schauungen zuerst gegeben" (B I61 n). Wenn ich Kant hier richtig ver-
stehe, dann wird durch diesen Gedanken die erste Konzeption der Ein-
bildungskraft ausgeschlossen: Denn Raum und Zeit können nicht
immer schon synthesisleitend sein, wenn sie selbst Synthesisprodukte
sind. Und die Behauptung, daß sie Synthesisprodukte sind, kann Kant
nicht einfach fallenlassen, weil damit untergraben wäre die für seine Er-
klärungshypothese zentrale Behauptung, daß komplexe Vorstellungen
notwendig einen Verbindungsakt des Verstandes voraussetzen (B 130).

$7

Auf der Basis dieser zweiten Konzeption der Einbildungskraft kann


ich nun folgende Neuinterpretation des Gegensatzes von Erscheinungen
506 Thomas Pogge

und Dingen an sich anbieten: Innerhalb von Kants Theorie sind Dinge
an sich unter Absehung von nur der Sinnlichkeit betrachtete empirische
Gegenstände. Sie sind, genauer gesagt, Verbindungsprodukte unserer
Verstandestätigkeit wie sie an sich selbst sind, und nicht wie sie (als em-
pirische Objekte nämlich) uns erscheinen. Kants Dinge an sich sind also
wirklich Noumena/Verstandeswesen und nicht die völlig subjektunab-
hängigen Letztrealitätsbestandteile, für die sich transzendentale Reali-
sten so brennend interessieren. 18
Diese Interpretation wird im Phänomena-und-Noumena Kapitel der
Zweitauflage bestätigt: „Wenn wir unter Noumenon ein Ding verstehen,
so fern es nicht Objekt unserer sinnlichen Anschauung ist, indem wir von
unserer Anschauungsart desselben abstrahieren: so ist dieses ein Noume-
non im negativen Verstande. Verstehen wir aber darunter ein Objekt
einer nichtsinnlichen Anschauung, so nehmen wir eine besondere An-
schauungsart an, nämlich die intellektuelle, die aber nicht die unsrige
ist, von welcher wir auch die Möglichkeit nicht einsehen können, und
das wäre das Noumenon in positiver Bedeutung. Die Lehre von der
Sinnlichkeit ist nun zugleich die Lehre von den Noumenen im negati-
ven Verstande" (B 307). 19 Also: Noumena oder Dinge an sich (von Kant
mindestens 18 Mal miteinander identifiziert) sind nicht Letztrealitäts-

18 Diese Behauptung gilt nicht für Stellen, an denen Kant sich mit seinen Gegnern aus-
einandersetzt und dann auch den Ausdruck „Ding an sich" in deren Sinne verwendet.
Vier Beispiele: Kant sagt, daß der transzendentale Realist „annimmt, unsere Erfah-
rungserkenntnis richte sich nach den Gegenständen als Dingen an sich selbst"
(B Vorrede S. 20). „Der Raum stellt gar keine Eigenschaft irgend einiger Dinge an
sich, oder sie in ihrem Verhältnis aufeinander vor" (A 26/B 42). „Dingen an sich
selbst würde ihre Gesetzmäßigkeit notwendig, auch außer einem Verstande, der sie
erkennt, zukommen" (B 164). „Sind Erscheinungen Dinge an sich selbst, so ist Frei-
heit nicht zu retten" (A 536/B 564). Die Zweitauflage, wenn ich sie richtig verstehe,
stellt dem Leser also erhebliche Schwierigkeiten entgegen, die auch Kant selbst wohl
nicht hinreichend klargeworden sind: Erstens wird ein Begriff, den Kant in positiv-
konstruktiver Absicht verwirft, dennoch in negativ-kritischer Absicht verwendet -
nämlich um zu sagen, daß physische Objekte nicht als Dinge an sich (d.h. Letztrea-
litärsbestandteile) zu verstehen sind. Und zweitens benutzt Kant denselben Ausdruck
Ding an sich in seiner eigenen Theorie in einem anderen Sinne (nämlich im Sinne
von Noumenon).
19 Gegenläufige Passagen der Erstauflage sind in B gestrichen. Zum Beispiel: „dasjenige
Etwas, welches den äußeren Erscheinungen zum Grunde liegt, was unseren Sinn so
affiziert, daß er die Vorstellungen von Raum, Materie, Gestalt etc. bekommt, dieses
Etwas, als Noumenon (oder besser, als transzendentaler Gegenstand) betrachtet ..."
(A 358).
Erscheinungen und Dinge an sich 507

bestandteile, sondern Gegenstände-für-ein-Subjekt. Der Begriff Nou-


menon involviert notwendig einen Subjektbezug: Die Lehre vom Nou-
menon in negativer Bedeutung ist das Korrelat einer Theorie von
Subjekten, die über ein von ihrer Anschauungsart unabhängiges Verbin-
dungsvermögen verfügen - von Subjekten also, wie wir es Kant zufolge
sind. Die Lehre vom Noumenon in positiver Bedeutung ist das Korrelat
der Annahme eines Subjekts mit einer intellektuellen Anschauungsart -
von Gott etwa, wie Kant ihn sich vorstellt. In beiden Fällen ist ein Nou-
menon ein Verstandesprodukt - in ersterem Falle aber nur in negativer
Bedeutung, weil es dem es durch Verbindung hervorbringenden Subjekt
selbst nur zugänglich ist wie es erscheint, nicht wie es an sich selbst ist.
Kants Theorie unseres Erkenntnisvermögens kann dann grob wie
folgt zusammengefaßt werden: Gegeben sind uns mannigfaltige sinn-
liche Daten (Materie der Erscheinung; Empfindung). Diese Daten mö-
gen material von unserer Anschauungsart (den Sinnen) abhängig sein,
insofern wir durch sie auf bestimmte Farbqualitäten, Tonqualitäten,
usw. eingeschränkt sind. Sie sind aber formal von unserer Anschauungs-
art (Sinnlichkeit) unabhängig, also nicht als solche raumzeitlich geord-
net.20 Sie werden erst von unserem Verstand zu kategorial geformten
Noumena und schließlich zu einer noumenalen Welt verbunden. Diese
Verstandesprodukte kennen wir jedoch nur so, wie sie uns vermittelst
der Form unserer Sinnlichkeit erscheinen, d.h. als empirische Gegen-
stände bzw. Natur.

$8

Es ist jetzt abschließend zu fragen, was denn durch diese Neuinterpre-


ration eigentlich gewonnen wäre. Haben wir nicht bloß einen kanti-
schen Ausdruck uminterpretiert, ohne an Kants Lehre irgendetwas zu
ändern? Muß Kant nicht in jedem Fall - unter welchem Namen auch
immer - eine Letztrealität anerkennen, als den Geber, sozusagen, des
Gegebenen? Kant stehen vier mögliche Antworten auf diese Frage offen:
Eine Letztrealität muß entweder existieren oder nicht existieren und (a)
wir wissen, daß sie existiert; (b) wir wissen, daß sie nicht existiert; (c)
wir können nicht wissen, ob sie existiert oder nicht. Viertens schließlich:

20 Kant scheint gelegentlich das Gegenteil zu behaupten, was aber, glaube ich, mit sei-
ner Theorie auf keinen Fall zusammenstimmt.
508 Thomas Pogge

(d) Der Begriff einer Letztrealität ist illegitim, usurpiert (vgl. A 84/B 117)
- ihm kann kein Sinn gegeben werden; und die Behauptung, eine Letzt-
realität existiere, hat deshalb keinen Wahrheitswert und kann nicht ein-
mal als Ausgangspunkt für hypothetische Spekulationen dienen.
Ich glaube, daß Kant manchmal in der Tat, im Sinne von (d), die
Rede von einer Letztrealität für sinnlos hielt. Besonders klar scheint mir
dies in folgender Passage zum Ausdruck zu kommen: „Wenn die Klagen:
Wir sehen das Innere der Dinge nicht ein, so viel bedeuten sollen, als, wir
begreifen nicht durch den reinen Verstand, was die Dinge, die uns er-
scheinen, an sich sein mögen: so sind sie ganz unbillig und unvernünf-
tig; denn sie wollen, daß ... wir ein von dem menschlichen ... gänzlich
unterschiedenes Erkenntnisvermögen haben, also nicht Menschen, son-
dern Wesen sein sollen, von denen wir selbst nicht angeben können, ob
sie einmal möglich, vielweniger, wie sie beschaffen seien" (A 277 f.l
B 333 f.). Indem Kant hier den Drang, das Innere der Dinge einzusehen,
als den Wunsch nach einem anderen Erkenntnisvermögen umdeutet
(nach einem intuitiven Verstand etwa, dessen Verbindungsprodukte uns
bekannt wären so wie sie an sich selbst sind), weist er implizit den
Wunsch, das Innere der Dinge unter Umgehung jedweden Erkenntnis-
vermögens einzusehen, als völlig sinnlos zurück.21 Von Dingen, Gegen-
ständen oder Objekten kann sinnvoll überhaupt nur in Bezug auf ir-
gendein wirkliches oder mögliches Subjekt die Rede sein. Kant besteht
hier auf dem Primat der Epistemologie gegenüber der Ontologie.
Diese Position (d) ist für Kant den Theoretiker äußerst attraktiv, weil
er durch sie den Begriff einer Letztrealität - und damit auch die Frage,
inwieweit selbige nun innen oder außen, Ich oder Nicht-Ich, sei - als il-
legitim zurückweisen kann. Solchen Begriffen und Unterscheidungen
kann einfach kein transzendentaler Sinn gegeben werden - obwohl es,
dank gewisser empirischer Analoga, so scheinen mag - „denn wir kön-
nen nichts verstehen, als was ein unseren Worten Korrespondierendes in
der Anschauung mit sich führet" (A 277/B 333).
Dieser Gedanke scheint mir auch in Kants Widerlegung des Idealis-
mus eine zentrale Rolle zu spielen: Kant zeigt dort, daß es Objekte
außer uns, d. h. im Raume, geben muß. Dieser Beweis hat aber mit dem

21 Von diesem letzteren, völlig sinnlosen Wunsch könnte man sagen - um Kants besten
Witz zu zitieren -, daß er „ohngefähr dem Versuche ähnlich sein würde, den jemand
mit geschlossenen Augen vor dem Spiegel zu machen gedachte, und auf Befragen,
was er hiemit wolle, antwortete: ich wollte nur wissen, wie ich aussehe, wenn ich
schlafe" (Fortschritte, Zweite Handschrift, Ak Band XX, 309).
Erscheinungen und Dinge an sich 509

wesentlichen Anliegen seines idealistischen Widersachers gar nichts zu


tun, weil Objekte im Raum, Kants Theorie zufolge, ja nur Vorstellungs-
gegenstände sind. Kant beantwortet also die eigentliche Frage des tran-
szendentalen Realisten gar nicht, sondern läßt sie einfach links liegen.
Als ob er damit sagen wollte: ,Du willst wissen, ob es da außer uns etwas
gibt oder nicht. Wenn Du außen im räumlichen Sinne meinst, dann ver-
stehe ich Dich, und kann Dir eine überzeugende (bejahende) Antwort
geben. Wenn Du jedoch darunter irgendetwas anderes verstehen willst,
dann weiß ich nicht, wovon Du sprichst. '22

89

Nun läßt sich allerdings bezweifeln, ob diese theoretisch so attraktive


Position in einem weiteren Rahmen für Kant akzeptabel sein kann.
Denn sie scheint doch zu kollidieren mit einem für seine ganze Philo-
sophie zentralen Anliegen: wenigstens die logische Möglichkeit von
Freiheit und Moral, Gott und Unsterblichkeit, unter Beweis zu stellen.
In Bezug auf dieses Anliegen war Kant das Ergebnis willkommen, daß
wir über die Letztrealität nichts wissen können. Aber - so wird man mir
entgegenhalten - er hielt es dennoch für notwendig, diese sich unseren
kognitiven Anstrengungen prinzipiell versagende Sphäre mithilfe eines
nichtkognitiven Vermögens auszufüllen: Die praktische Vernunft erzählt
eine Geschichte, wie es um jene transzendente Realität bestellt sein
möchte - eine Geschichte, die erklären soll, wie Willensfreiheit und mo-
ralisches Gebot, die wir in praktischer Reflektion immer voraussetzen
müssen, möglich sind. Diese praktisch motivierte Geschichte setzt je-
doch nicht nur voraus, daß wir von jener Letztrealität in theoretischer
Absicht keine (jene Geschichte potentiell gefährdenden) Kenntnisse ha-
ben, sondern auch, daß wir über jene Realität sinnvoll reden können.
Sobald Kant diese letztere Voraussetzung macht, begibt er sich der Op-
tion (d), die ich hier als die theoretisch attraktivste bezeichnet habe.
Und in diesem Fall ist durch meine Neuinterpretation des transzenden-

22 Ganz anders noch im entsprechenden vierten Paralogismus der Erstauflage, wo Kant


sagt, daß „der Ausdruck: außer uns, eine nicht zu vermeidende Zweideutigkeit bei
sich führt, indem er bald etwas bedeutet, was als Ding an sich selbst von uns unter-
schieden existiert, bald, was bloß zur äußeren Erscheinung gehört," (A 373) und d
die transzendentale Unterscheidung von außen und innen ausdrücklich anerkennt.
Vgl. auch die in der Zweitauflage stehengebliebene Passage A 494/B 522.
510 Thomas Pogge

talen Gegensatzes von Erscheinungen und Dingen an sich in der Tat


nichts gewonnen, weil Kant dann nicht in der Lage ist, das zentrale An-
liegen des transzendentalen Realisten zurückzuweisen.
Es ist klar, wie diesem Einwand zu begegnen ist: Wenn Kant in seiner
praktischen Philosophie von Gott, transzendentaler Freiheit, intelligib-
len Charakteren und der genauen Proportionalität von Tugend und
Glückseligkeit spricht, so will er damit nicht unentscheidbare Hypothe-
sen über die Letztrealität aufstellen. Es handelt sich dabei vielmehr um
das Bild einer Welt, die ebenso subjektabhängig ist wie die Erschei-
nungswelt. Nur reflektiert ihre Form nicht Sinnlichkeit und Verstand,
sondern praktische Vernunft: „Der Begriff einer Verstandeswelt ist also
nur ein Standpunkt, den die Vernunft sich genötigt sieht außer den Er-
scheinungen zu nehmen, um sich selbst als praktisch zu denken."23 Der
Gegensatz von mundus sensibilis und mundus intelligibilis ist also, wie
auch die Namen schon andeuten, der Gegensatz zweier menschlicher
Perspektiven, und nicht etwa der Gegensatz von einer menschlichen
Perspektive und der völlig subjektunabhängigen Letztrealität. 24
Man kann hier immer noch plausibel bezweifeln, ob wir jener ande-
ren Perspektive wirklich bedürfen; oder ob uns nicht die Erscheinungs-
welt zur Aufrechterhaltung unserer Selbstachtung und unserer Selbstver-
pflichtung zu moralischem Handeln sollte genügen können. Aber die
Frage, ob Kant durch seine Lehre von der praktischen Notwendigkeit ei-
nes „Vernunftglaubens"25 zur Anerkennung des Begriffs einer Letzt-
realität verpflichtet war, läßt sich - glaube ich - mit gutem Grund ver-
neinen.

23 Grundlegung Ak Band IV, 458. Vgl. Kritik der praktischen Vernunft Ak Band V, 97 f.
und 99.
24 Analoges würde ich von Kants Theorie des erkennenden Subjekts behaupten: Auch
sie ist keine Hypothese über die Letztrealität, sondern ein Bild, das unsere Erkennt-
nisleistungen (und damit auch die Leistung, zu einer Theorie unserer selbst zu gelan-
gen) uns begreiflich machen soll.
25 Siehe A 82g/B 857 und Kritik der praktischen Vernunft Ak Band V, 126 und 144-146.

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