Sie sind auf Seite 1von 17

Der Begriff des reinen Bildes bei Kant

Zum Übergang von den Deduktionen zum Schematismuskapitel


Mathias Birrer
Université du Luxembourg

Der vorliegende Text entspricht dem am 1. Februar 2013 im Rahmen der Tagung
Kant und der deutsche Idealismus an der Universität Wien Vorgetragenen und ist ein
Teil meiner Forschungsarbeit zum Dissertationsprojekt, welches sich der Analyse des
Schematismuskapitels von Kants Kritik der reinen Vernunft1 widmet. Das
Dissertationsprojekt wird finanziell durch den AFR des ‚Fonds National de la Recherche
(FNR) du Luxembourg’ ermöglicht.
Mit dem gegenwärtigen Text möchte ich eine Vorarbeit zum Verständnis des
Schematismuskapitels liefern, dadurch, dass ich die kantische Verwendung des
Ausdrucks „Bild“ in der Kritik der reinen Vernunft in den Mittelpunkt der Untersuchung
rücke. Der vorliegende Text ist folgendermaßen aufgebaut: Im ersten einführenden
Abschnitt wird die Relevanz der Frage, was Kant unter „Bild“ versteht, vor dem
Hintergrund einer Analyse des Schematismuskapitels aufgezeigt. In Abschnitt II. soll die
gegenwärtige Fragestellung ausdifferenziert und auf die exegetischen
Herausforderungen, welche die Kritik der reinen Vernunft aufgrund ihrer Ausarbeitung
in zwei unterschiedlichen Auflagen stellt, bezogen werden. In den weiteren Abschnitten
geht es sodann um ein Verständnis der Ausdrücke „Bild“ und „reines Bild“ gemäß der
kantischen Verwendung in Bezug auf die A-Deduktion (Abschnitt III.) und auf die
B-Deduktion (Abschnitt IV). Mit Hilfe der Erarbeitung eines solchen Verständnisses
will ich zeigen, wie das Schematismuskapitel argumentativ sowohl an die Deduktion
nach erster wie auch an diejenige nach zweiter Auflage der Kritik der reinen Vernunft
anschließen kann.

I. Einführung: Schema und Bild im Kontrast

Kant führt das Thema, wovon das Schematismuskapitel („Von dem Schematismus
der reinen Verstandesbegriffe“ A137/B176–A147/B187) den Lösungsansatz

1
Alle Zitate aus der Kritik folgen dem Textbestand nach: Immanuel Kant: Kant’s Gesammelte Schriften,
hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900 ff. Die Seitenzahlen
werden jedoch gemäß den Originalausgaben von 1781 (A) respektive 1787 (B) angegeben.
präsentieren soll, ein als das Problem der Subsumtion einer Anschauung unter einen
Begriff respektive der Anwendung der Begriffe auf Anschauungen. Das heißt, es geht
ihm um die Frage, ob der in der sinnlichen Anschauung gegebene Gegenstand auch
einem bereits gefassten diskursiven Begriffe entspricht oder nicht, was umgekehrt das
Problem mit sich zieht, ob ein bereits gefasster Begriff auch korrekt auf einen in der
Anschauung gegebenen Gegenstand bezogen respektive angewendet wird. Dabei
bespricht Kant drei verschiedene Begriffsarten, erstens den empirischen Begriff (als
Beispiel den Begriff des Hundes); zweitens den rein-sinnlichen Begriff (als Beispiel den
Begriff des Dreiecks) und die dritte Begriffsart sind die reinen Verstandesbegriffe oder
Kategorien, um deren Anwendung es Kant im Schematismuskapitel hauptsächlich geht
(vgl. A141/B180f.).
Der Begriff der Subsumtion nun, so wie ihn Kant im Schematismuskapitel
verstanden haben will, beinhaltet das richtige (rechtmäßige) Anwenden eines Begriffs
auf ein durch die Sinnlichkeit, d.h. in der Anschauung gegebenes Objekt. Die
Subsumtion wird von Kant als heranführende Idee zum Problem des transzendentalen
Schematismus der reinen Verstandesbegriffe eingeführt (vgl. A137/B176). Kant
verwendet bei der Erklärung dieser Subsumption im Folgenden die Ausdrücke
„Begriff“, „Schema“ und „Bild“ (vgl. A140/B179f.). Dem Schema kommt die Aufgabe
zu, Begriff und Bild zusammenzubringen, es vermittelt zwischen einer diskursiven
Allgemeinvorstellung, dem Begriff (vgl. „die Allgemeinheit des Begriffs“ A141/B180),
und einer sinnlichen, anschaulichen Einzelvorstellung, dem Bild (vgl. „irgend eine
einzige besondere Gestalt“ A141/B180). Das Schema fasst sozusagen das Anschauliche
unter einen Begriff und bringt gleichermaßen das Allgemeine des Begriffs in einen
anschaulichen Gehalt.
Betrachten wir nun die drei erwähnten Begriffsarten. Empirische Begriffe sind als
solche empirisch-sinnlich gegründet, das heißt sie basieren darauf, dass uns Gegenstände
in empirisch-sinnlichen Anschauungen gegeben werden, wodurch wir dann Begriffe
durch Abstraktion, Komparation und Reflexion erlangen können.2 Wir können mit Kant
also sagen: Empirische Begriffe haben ihren Ursprung in der Sinnlichkeit. Auch die
Begriffe der Geometrie sollen nach Kant ihren Ursprung in der Sinnlichkeit, der reinen
Sinnlichkeit, haben und sind somit rein-sinnliche Begriffe. Sie sind angewiesen auf

2
Vgl. Immanuel Kant: Kant’s Gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der
Wissenschaften. Berlin 1900 ff. (im Folgenden zitiert als AA mit Bandangabe). Hier: Kant, Logik (Logik
Jäsche), AAIX S. 94 unter anderem: „Um aus Vorstellungen Begriffe zu machen, muß man also
compariren, reflectiren und abstrahiren können“.
diejenige Handlung, die Kant Konstruktion der Begriffe nennt,3 ihre Geltung beruht nach
Kant also auf einer sinnlichen (nicht rein logisch-begrifflichen) Notwendigkeit. Bei den
beiden eben besprochenen Arten von Begriffen besteht durch die besprochene sinnliche
Gebundenheit nicht im selben Ausmaß ein Rechtfertigungsbedarf der Beziehung
zwischen sinnlichen Anschauungen und entsprechenden Begriffen, wie dies bei den
reinen Verstandesbegriffen der Fall ist. Den Ausdruck „Schema“ für die zwei erwähnten
Begriffsarten führt Kant folgendermaßen ein:

[Die] Vorstellung nun von einem allgemeinen Verfahren der Einbildungskraft,


einem Begriff sein Bild zu verschaffen, nenne ich das Schema zu diesem
Begriffe. (A140/B180f.)

Das Schema dieser Begriffe erklärt nach Kant also, dass und wie Anschauungen korrekt
unter Begriffe gebracht werden können respektive wie diese Begriffe richtigerweise auf
das sinnliche Mannigfaltige angewendet werden können.
Für die reinen Verstandesbegriffe besteht jedoch a fortiori Rechtfertigungsbedarf für
die Subsumtion. Denn diese Begriffe basieren nicht auf etwas in der Sinnlichkeit
Gegebenem und beziehen die Rechtfertigung ihrer Anwendung nicht aus dem sinnlich
Gegebenen. Sie kommen durch das reine Denken zustande. Da stellt sich die Frage nach
der Möglichkeit überhaupt (und nicht nur der Richtigkeit), wie sie sich – als Begriffe des
Denkens – auf in der Sinnlichkeit gegebene Objekte beziehen können. Dieses Problem
führt Kant auch als Gleichartigkeitsproblematik4 ein. Damit die ausdrückliche
Subsumtion des sinnlich gegebenen Gegenstandes unter den Verstandesbegriff möglich
wird, müssen die Verstandesbegriffe oder Verstandesfunktionen erst mit der Sinnlichkeit
vermittelt werden. Es muss eine solche Vermittlung bereits gedacht sein. Kant postuliert
an einer Stelle im Schematismuskapitel die transzendentale Zeitbestimmung als das
transzendentale Schema der reinen Verstandesbegriffe, als Vermittlerin zwischen
Verstand und Sinnlichkeit (vgl. A138/B177). Der vorliegende Text stellt eine Vorarbeit

3
„So ist in dem Begriffe einer Figur, die in zwei geraden Linien eingeschlossen ist, kein Widerspruch,
denn die Begriffe von zwei geraden Linien und deren Zusammenstoßung enthalten keine Verneinung
einer Figur; sondern die Unmöglichkeit beruht nicht auf dem Begriffe an sich selbst, sondern der
Construction desselben im Raume [...]“ (A220f./B268). Der Ansatz, den Kant mit dem
Konstruktionsbegriff verfolgt, ist hier jedoch nicht weiter Thema.
4
Dass der Begriff der „Gleichartigkeit“ im Zusammenhang des transzendentalen Schematismus selbst
einer weiteren Klärung bedürftig wäre und nicht einfach „als zur selben Gattung gehörig“ verstanden
werden kann, darauf weist Caimi hin: M. Caimi, Der Teller, die Rundung, das Schema, in: D. Fonfara
(Hg.), Metaphysik als Wissenschaft, Freiburg/München 2006, 211–220, S. 216f.
dar mit dem Ziel, ein besseres Verständnis davon zu erarbeiten, wie eine (wie auch
immer zu verstehende) Bestimmung der Zeit nach Kant die Vermittlungsrolle von
Verstand und Sinnlichkeit übernehmen könnte.
Die Subsumtion wird einführend konzipiert als ein Verhältnis zwischen Begriff,
Schema und Bild. Kant kontrastiert bei der Erläuterung des Schemas das Schema mit
dem Bild. Ich möchte zu Beginn kurz darauf eingehen, wie „Bild“ im
Schematismuskapitel verwendet wird.5
Das Bild ist ebenso wie das Schema ein Produkt der Einbildungskraft (vgl.
A140/B179). Das Schema kann etwas einem Begriff Entsprechendes zwar anschaulich
vorstellen, behält in dieser Anschaulichkeit aber dennoch einen allgemeinen Charakter,
als „einem allgemeinen Verfahren der Einbildungskraft“ (A140/B179).6 Das Bild
dagegen ist bei Kant in diesem Zusammenhang wohl am ehesten als Wahrnehmungsbild
zu verstehen. Uns zeigt sich in einem bestimmten Bild ein bestimmter Gegenstand in
seiner ihm eigentümlichen Gestalt in einem bestimmten Moment an (vgl. das berühmte
Bild der fünf Punkte: ..... A140/B179). Alles in einem Augenblick gegebene
Wahrnehmungsmannigfaltige geht in das Bild ein. Es ist in diesem Sinne vollständiger
als das Schema, reichhaltiger an Inhalt, es zeigt mehr Eigenschaften, als in einem
Begriff gedacht werden, ist selbst jedoch nie allgemein (nach Kant ist man durch den

5
In der Forschungsliteratur finden sich verschiedene Auseinandersetzungen mit dem transzendentalen
Schematismus, welche auch einen Beitrag zum Verständnis des kantischen Bildbegriffs leisten. Hier sei
auf drei Beispiele hingewiesen: 1. Heidegger versteht „Bild“ paraphrasierend als „Anblick“ und weist auf
verschiedene Aspekte des Bildbegriffs hin: „Bild kann zunächst heißen: der Anblick eines bestimmten
Seienden, sofern es als Vorhandenes offenbar ist. Es bietet einen Anblick. In der Ableitung von dieser
Bedeutung kann Bild weiterhin heißen: abbildender Anblick eines Vorhandenen (Abbild) bzw.
nachbildender Anblick eines nicht mehr Vorhandenen oder aber vorbildender Anblick eines erst
herzustellenden Seienden“. In: M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt a.M. 5.
Aufl. 1991, S. 92. 2. Dass das Bild angewiesen ist auf den Begriff und somit auch auf die
Verstandeshandlung, darauf weist Kaulbach mit seiner Emphase auf den „Vollzug der beschreibenden
Darstellung“ hin: „[...] das anschauliche Bild des Begriffes und seines Schemas, die besondere Linie z. B.,
[ist] nicht fertig gegeben, sondern [wird] durch eine Bewegung des beschreibenden Darstellers
produziert“, in: F. Kaulbach, Schema, Bild und Modell nach den Voraussetzungen des kantischen
Denkens, in: G. Prauss (Hg.), Kant: Zur Deutung seiner Theorie von Erkennen und Handeln, Köln 1973,
105–130, 106f. 3. Die Angewiesenheit auf begriffliche Einheit macht nach La Rocca das Bild zu einem
Zeichen: „Das Bild ist Zeichen zunächst in dem Sinne, dass es ein strukturierter Zusammenhang
verschiedener nur im Zusammenhang erscheinender sinnlicher Merkmale ist, die als Einheit verstanden
werden können. Dieser Zusammenhang kann nur dann, wenn ein Begriff hinzukommt, als eine solche
Einheit ausdrücklich gedacht und gedeutet werden [...]“. In: C. La Rocca, Schematismus und Anwendung,
in: Kant-Studien 80, 129–154, S. 136.
6
Das Schema eines Begriff mit seinen sowohl anschaulichen wie auch allgemeinen Charakteristika wird
von Düsing folgendermaßen umschrieben: „Es enthält die anschauliche Vorstellung einer variablen,
schwebenden Zeichnung, einer in den Einzelheiten offenen Skizze, die auf viele Einzelanschauungen, die
sie erfüllen, anwendbar ist; darin besteht seine Allgemeinheit.“ S. 43 in: K. Düsing, Schema und
Einbildungskraft in Kants Kritik der reinen Vernunft, in: L. Kreimendahl (Hg.), Aufklärung und Skepsis.
Festschrift für G. Gawlick, Stuttgart/Bad Cannstatt 1995, 46–71.
Bezug auf ein Wahrnehmungsbild punkto Allgemeinheit eingeschränkt, vgl.
A141/B180). Das Bild ist jedoch wohl nicht als eingeschränkt auf den Gesichtssinn zu
verstehen, sondern ist ein Wahrnehmungsbild, kann also auch die Wahrnehmung einer
Melodie in einem bestimmten Augenblick aus einem bestimmten Radio et cetera
meinen. Und das Bild ist auch immer als Bild eines Begriffs zu verstehen. Das heißt, in
einem Bild ist das gegebene Wahrnehmungsmannigfaltige für uns als etwas Bestimmtes
thematisch. Es ist ein wahrgenommener Hund, ein an die Tafel gezeichnetes Dreieck
und so weiter.

II. Fragestellung
Dieser Kontrast von Bild und Schema sollte vorerst reichen, um die Fragestellung für
das gegenwärtige Thema zu erörtern. Der Hintergrund der Fragestellung ist, dass wir im
Schematismuskapitel auf zwei zunächst zu unterscheidende Verwendungen von „Bild“
treffen. Wir haben als erstes den eben erörterten Bildbegriff vom Bild als
Wahrnehmungsbild. Dazu sagt Kant:

das Bild ist ein Product des empirischen Vermögens der productiven
Einbildungskraft [...]. (A141/B181)

Also ist der Ausdruck „Bild“ hier empirisch zu verstehen. Der davon zu unterscheidende
Ausdruck ist derjenige des reinen Bildes, Kant verwendet ihn an einer einzigen Stelle im
Schematismuskapitel:

Das reine Bild aller Größen (quantorum) vor dem äußern Sinne ist der Raum,
aller Gegenstände der Sinne aber überhaupt die Zeit. Das reine Schema der
Größe aber [...]. (A142/B182)

Hier werden Raum und Zeit als „reine Bilder“ bezeichnet. Diese Stelle ist daher
besonders relevant, weil auf diesen Satz die Aufzählung der Schemata der reinen
Verstandesbegriffe als transzendentalen Zeitbestimmungen gemäß Kants
Kategorienordnung folgt. Dieser Satz hat also eine Erklärungsfunktion für die Schemata
der Kategorien. Prima facie ist der Ausdruck des reinen Bildes jedoch schwierig zu
verstehen, da er nur ein weiteres Mal, in der Dialektik, verwendet wird (A320/B377),
und seine Bedeutung uns an diesen beiden Stellen nicht ohne weiteres ersichtlich ist. Die
Frage ist also: Wie ist dieser Ausdruck des reinen Bildes zu verstehen?
Bis zu dieser Stelle hin wird „Bild“ nur im Sinne eines empirischen Bildes
gebraucht. Wenn man aber diesen Ausdruck ernst nehmen möchte, muss man
untersuchen, wo eine mögliche Vorarbeit für ein besseres Verständnis geleistet wird.
Dazu nehme ich an, dass die Verwendungen von „Bild“ auch für den Ausdruck „reines
Bild“ hilfreich sein können, dass „Bild“ in beiden Verwendungsweisen also nicht
äquivok gebraucht wird. Ich nehme also an, dass es hier eine einheitliche Bedeutung
gibt.
Zu dem Problem, den Bildbegriff zu verstehen, kommt ein weiteres exegetisches
Problem hinzu, welches das Schematismuskapitel betrifft und in der Abbildung 1
dargestellt wird.

Abbildung 1.
Das Schematismuskapitel schließt direkt an die transzendentale Deduktion an.
Während die Ästhetik wie auch der Leitfadenabschnitt nicht prinzipiell überarbeitet
wurden, revidierte Kant die Deduktion in der zweiten Auflage von Grund auf. Das
Schematismuskapitel jedoch ist unverändert geblieben. Es müsste nach Aufbau der
Kritik der reinen Vernunft also argumentativen Anschluss an beide Deduktionen finden.
Ich werde also versuchen, eine Analyse des Begriffs des „reinen Bildes“ dadurch zu
liefern, dass ich die Vorarbeit untersuche, die in beiden Deduktionen für ein Verständnis
von Raum und Zeit als reinen Bildern geleistet wird. Durch diese Untersuchung will ich
gleichzeitig die exegetische Herausforderung des argumentativen Übergangs von den
verschiedenen beiden Deduktionen zum Schematismuskapitel meistern. Um dies zu
erreichen, werde ich in Abschnitt III auf die A-Deduktion, und in Abschnitt IV auf die
B-Deduktion zu sprechen kommen.

III. Empirisches Bild und reines Bild in der A-Deduktion

a) Bild als empirisches Bild

Im dritten Abschnitt der A-Deduktion, wo Kant nach eigenem Anspruch das


Deduktionsargument systematisch aufzeigen möchte, stellt er in einem zweiten Anlauf
den Deduktionszusammenhang, wie er sagt, „von unten auf“ (A119) dar. Diese Stelle in
A-Deduktion beginnt so:

Das erste, was uns gegeben wird, ist Erscheinung, welche, wenn sie mit
Bewußtsein verbunden ist, Wahrnehmung heißt [...]. (A119f.)

Er geht hier also aus von der Erscheinung – nach der Ästhetik der unbestimmte
Gegenstand einer empirischen Anschauung (vgl. A20/B34). Die Erscheinung wird hier
betrachtet als das Anschauungsmannigfaltige, insofern es für eine bestimmte
Anschauung gegeben wird. Kant fährt fort:

Die Einbildungskraft soll nämlich das Mannigfaltige der Anschauung in ein Bild
bringen; vorher muß sie also die Eindrücke in ihre Thätigkeit aufnehmen, d. i.
apprehendiren. (A120)

Der hier zitierte Satz, in dem der Bildbegriff zum ersten Mal in der ersten Auflage der
Kritik der reinen Vernunft auftaucht, wird ergänzt durch eine Fußnote, die ich hier
ebenfalls zitiere:

Daß die Einbildungskraft ein nothwendiges Ingredienz der Wahrnehmung selbst


sei, daran hat wohl noch kein Psychologe gedacht. Das kommt daher, weil man
dieses Vermögen theils nur auf Reproductionen einschränkte, theils weil man
glaubte, die Sinne lieferten uns nicht allein Eindrücke, sondern setzten solche auch
sogar zusammen und brächten Bilder der Gegenstände zuwege, wozu ohne
Zweifel außer der Empfänglichkeit der Eindrücke noch etwas mehr, nämlich eine
Function der Synthesis derselben, erfordert wird. (A120)

Diese Textstellen der Kritik der reinen Vernunft weisen alle auf den Zusammenhang von
Einbildungskraft und Wahrnehmung hin, und in diesem Zusammenhang steht Kants
Bildbegriff („in ein Bild bringen“, „Bilder der Gegenstände zuwege bringen“). Kant
bringt hier suggestiv die Vermutung an, dass die Notwendigkeit der Einbildungskraft für
die Wahrnehmung in den ihm bekannten Untersuchungen zum Thema nicht genügend
oder überhaupt nicht berücksichtigt respektive bedacht worden ist. Wir brauchen uns
hier nicht für die Berechtigung zu dieser Kritik zu interessieren, sondern achten bloß auf
den Punkt, den Kant klarstellen möchte. Er stellt sich auf den Standpunkt, dass das
Vermögen der Einbildungskraft notwendigerweise an der Wahrnehmung beteiligt ist. Es
ist keine Wahrnehmung ohne Einbildungskraft möglich. Für das Fehlen der
Berücksichtigung der Einbildungskraft macht Kant einerseits wohl eine Konnotation des
Ausdrucks „Einbilden“ verantwortlich. Nach ihr ist Einbildungskraft, wie Kant sie
beispielsweise auch definiert, das Vermögen, Gegenstände ohne ihre Gegenwart (also
ohne sie sinnlich zu erfahren) vorzustellen.7 Die so verstandene Einbildungskraft
beschäftigt sich vor allem mit Reproduktionen bereits wahrgenommener Gegenstände.
Andererseits sieht Kant einen weiteren (die erste Ansicht auch ergänzenden) Grund für
die Nichtberücksichtigung der Einbildungskraft: Dass die Sinnlichkeit nicht
ausschließlich rezeptiv, und also nicht nur als passiv, verstanden wurde. Dies ist nach
der kantischen Lehre der Sinnlichkeit eine nicht adäquate Auffassung, welche das
Gegebensein von Vorstellungen in seiner Kapazität, von sich aus Erkenntnisse
respektive gegenstandsbezogene Vorstellungen zu liefern, überschätzt. Dies weist uns
auf den ersten Kritikpunkt zurück, dem Kant dadurch entgegentritt, dass er die
Einbildungskraft als nicht nur reproduktives Vermögen einschätzt. Vielmehr weist er auf
ihren produktiven (will man hier den Gegensatz betonen) Aspekt hin. Die
Einbildungskraft ist ein synthetisches Vermögen, es beinhaltet eine „Funktion der
Synthesis“. „Bilder von Gegenständen“, in denen sich uns durch Wahrnehmung etwas in
seiner Eigenart darbietet, sind nach Kant keine Produkte der bloßen Rezeptivität.
Sondern damit sie „Bilder der Gegenstände“ sein können, die für uns das
Wahrnehmungsmannigfaltige als in einem bestimmten, sinnvollen Zusammenhang

7
„Einbildungskraft ist das Vermögen, einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung
vorzustellen“ (B151).
stehend repräsentieren können, ist gemäß der kantischen Lehre eben jene „Funktion der
Synthesis“ durch die Einbildungskraft vonnöten – Einbildungskraft als produktives8
Vermögen verstanden.
Das Bild ist nicht das Resultat eines bloßen Hinnehmens, sondern es ist sowohl
abhängig vom gegebenen Anschauungsmannigfaltigen (von der Erscheinung als an sich
unbestimmter Gegenstand empirischer Anschauung) wie auch von einer, wie Kant sagt,
„Funktion der Synthesis“. Wir können also einen rezeptiven und einen spontanen Aspekt
des Bildbegriffs unterscheiden. So ist das Bild einerseits abhängig von empirisch-
sinnlichen Eindrücken, von der Erscheinung, von einem empirisch Gegebenen, welches
eben als solches gegeben ist und nicht der freien Willkür zur Verfügung steht. Diesem
Anschauungsmannigfaltigen kommt daher ein gewisser anschaulicher Zwang, eine
Angewiesenheit oder anschauliche Gebundenheit zu. Dieser anschaulichen
Gebundenheit bleibt die Einbildungskraft verhaftet in ihrer Aufgabe, das empirische
Wahrnehmungsmannigfaltige in ein Bild zu bringen. Auch wenn in
Erfahrungssituationen Gewohnheiten und Assoziationen und andere reproduktive
Mechanismen eine Rolle spielen, erschließt sich die Rolle der Einbildungskraft nicht in
diesem reproduktiven Aspekt. Die „Funktion der Synthesis“, dass also das
Wahrnehmungsmannigfaltige im Objekt verbunden ist, und wie es objektiv
zusammengehört, d.h. wie die Eindrücke als zusammengesetzt und als
gegenstandsbezogene Vorstellung gedacht werden können, ist eine Handlung, die auf
einem rein-tätigen (nicht hinnehmenden) Vermögen beruht. Das
Wahrnehmungsmannigfaltige, um es in ein Bild zu bringen, muss aufgenommen werden
mit der Absicht, etwas Gegenständliches an ihm zu erkennen.9 Hier setzt die
Wahrnehmung eine Art Verständnis der Gegenständlichkeit überhaupt voraus. Dieser
Aspekt des Bildbegriffs lässt sich also als spontaner, oder rein-intendierter beschreiben.
Das – wie ich es genannt habe – Verständnis von Gegenständlichkeit, welches das Bild
voraussetzt, beschreibt Kant auch so:

8
„Die Einbildungskraft ist also auch ein Vermögen einer Synthesis a priori, weswegen wir ihr den Namen
der productiven Einbildungskraft geben“ (A123).
9
zur Absicht: „Die Einbildungskraft soll nämlich das Mannigfaltige der Anschauung in ein Bild bringen
[...]“ (A120 meine Hervorhebung) oder auch: „so fern sie in Ansehung alles Mannigfaltigen der
Erscheinung nichts weiter, als die nothwendige Einheit in der Synthesis derselben zu ihrer Absicht hat,
kann diese die transscendentale Function der Einbildungskraft genannt werden“ (A123), hier ist klar von
einem präskriptiven oder auch intendierten Aspekt die Rede.
[der Verstand] ist jederzeit geschäftig, die Erscheinungen in der Absicht
durchzuspähen, um an ihnen irgend eine Regel aufzufinden. (A126, meine
Hervorhebung)

Meiner Ansicht nach müssen wir Kants Sichtweise auf die Synthesishandlungen so
verstehen, dass Formen der Gegenständlichkeit logisch diesen Handlungen vorausgehen
oder von ihnen vorausgesetzt werden. Das regelhaft Zusammengehörige kann nur
„aufgefunden“ werden, wenn die Fähigkeit, dieses Zusammensein zu erkennen, schon in
der Voraussetzung mit enthalten ist. Soll etwas als im Gegenstand verbunden gedacht
werden, so setzt dies eine Absicht, eine „Geschäftigkeit“ des Verstandes und mit ihr ein
Verständnis von Gegenständlichkeit voraus. Der Verstand hat die Absicht, das
Mannigfaltige so zu finden, wie er es als zusammengehörig denken kann.
In der Hierarchie der kantischen Erkenntnisvermögen stellt sich dieser Sachverhalt
so dar: Für das Zustandekommen von einem Bild eines Gegenstandes übernimmt die
Einbildungskraft also die Aufnahme der Eindrücke und setzt sie auf eine solche Weise
zusammen, dass der Verstand das Gegenständliche darin auffinden kann (vgl. z. B.
A118).
Das Verständnis von Gegenständlichkeit und die Absicht, diese im
Anschauungsmannigfaltigen zu „erspähen“, beschreibt Kant wie folgt weiter:

[Es] müssen durchaus alle Erscheinungen so ins Gemüth kommen oder


apprehendirt werden, daß sie zur Einheit der Apperception zusammenstimmen,
welches ohne synthetische Einheit in ihrer Verknüpfung [...] unmöglich sein
würde. (A122)

Die von der Einbildungskraft im Anschauungsmannigfaltigen geleistete Einheit muss,


um Erkenntnis zu ermöglichen, die Einheit der Apperzeption ergeben, muss mit der
Apperzeption „zusammenstimmen“. Nur so wird es möglich, dass sich im Bild etwas in
einem bestimmten Zusammenhang zeigt, der durch Erkenntnis auch ausgedrückt werden
kann, Die Einbildungskraft ist einerseits sinnlich verhaftet, sie übt ihre Handlungen am
gegebenen Vorstellungsmannigfaltigen aus und stellt Inhalte anschaulich vor.
Andererseits steht dieses Zusammenstellen, wie dies im obigen Zitat zum Ausdruck
kommt, in einer Art Harmonie zum Verstand, zur transzendentalen Einheit der
Apperzeption. Die Handlung der Einbildungskraft muss demnach so sein, dass der Inhalt
des im Bild Vorgestellten sich in Urteilen als bestimmter Zusammenhang ausdrücken
lässt. Kant nennt diesen Aspekt der Einbildungskraft die „transzendentale Funktion der
Einbildungskraft“10, sie produziert die synthetische, objektive Einheit des
Wahrnehmungsmannigfaltigen gemäß der Einheit der Apperzeption. So zeichnet Kant
die Einbildungskraft als Vermittlerin von Sinnlichkeit und Verstand.

b) Bild als reines Bild

Ich möchte nun dazu übergehen, den Ausdruck „reines Bild“ verständlicher zu
machen. Dazu ist es, so denke ich, nötig, die bereits für den empirischen Begriff
erarbeiteten Aspekte im Auge zu behalten und zu fragen, ob und wie sich diese auf den
Begriff des reinen Bildes übertragen lassen. Dazu ist sicherlich eine Abstraktion von den
empirischen Aspekten notwendig, jedoch muss der anschauliche Charakter des Bildes
beibehalten werden. Der Ausdruck „reines Bild“ kommt in der A-Deduktion nicht vor.
Da aber im Schematismuskapitel die Vorstellungen von Raum und Zeit als reine Bilder
benannt werden, möchte ich stattdessen betrachten, wie Raum und Zeit, insofern sie
selbst als anschauliche Vorstellungen thematisch sind, in der A-Deduktion beschrieben
werden. Diese Vorgehensweise wird eine Vorarbeit dazu leisten, den Übergang von der
A-Deduktion zum Schematismuskapitel als eine argumentative Kontinuität verstehen zu
können.
Kant beschreibt in dem Abschnitt über die Synthesis der Apprehension in der
A-Deduktion neben den empirischen Aspekten ebendieser Synthesis, welche in jeder
Erfahrung enthalten sein soll (vgl. A99), noch einen zusätzlichen Aspekt:

Diese Synthesis der Apprehension muß nun auch a priori [...] ausgeübt werden.
Denn ohne sie würden wir weder die Vorstellungen des Raumes, noch der Zeit a
priori haben können: da diese nur durch die Synthesis des Mannigfaltigen, welches
die Sinnlichkeit in ihrer ursprünglichen Receptivität darbietet, erzeugt werden
können. (A99f.)

10
Vgl. A123: „so fern sie [die Einbildungskraft] in Ansehung alles Mannigfaltigen der Erscheinung nichts
weiter, als die nothwendige Einheit in der Synthesis derselben zu ihrer Absicht hat, kann diese die
transscendentale Function der Einbildungskraft genannt werden“.
Ich lese hier den Ausdruck des reinen Bildes mit hinein. Wir „haben“, nach Kants
Aussage, die Vorstellungen des Raumes und der Zeit a priori. Das heißt wohl, dass wir
uns eine Vorstellung vom Raume und eine Vorstellung von der Zeit machen können,
und dass die Eigenschaften, durch die wir diese Vorstellungen als konkrete respektive
bestimmte denken, nicht dadurch gerechtfertigt werden können, dass wir sie durch
Erfahrung lernen.11 Die Vorstellung des Raumes und der Zeit zu haben, bedeutet in der
Lage zu sein, Raum und Zeit für sich thematisch vorzustellen. „Also ist die
ursprüngliche Vorstellung vom Raume Anschauung a priori und nicht Begriff“ (B40).
Für Kant sind Raum und Zeit, a priori thematisch vorgestellt, reine Anschauungen. Wir
können Raum und Zeit als reine Bilder bezeichnen, insofern diese nicht nur als
Voraussetzung für jede empirische Vorstellung genommen werden (als Formen der
Sinnlichkeit respektive des äußeren und inneren Sinnes), sondern selbst Thema einer
Anschauung werden, insofern sie mit der strukturierten Zusammenfassung des
Anschauungsmannigfaltigen in ihnen thematisch vorgestellt werden.
Wenn wir Raum und Zeit auf diese Weise als reine Bilder verstehen, können wir die
bereits erarbeiteten Aspekte des kantischen Bildbegriffs auf die „ursprünglichen“
Vorstellungen der Anschauung von Raum und Zeit übertragen. Dementsprechend würde
sich hier ebenfalls ein rezeptiver von einem spontanen Aspekt trennen lassen. Dies ist im
Folgenden zu betrachten.
Analog zum empirisch gegebenen Mannigfaltigen beim empirischen Bildbegriff ist
nun auch für das reine Bild ein Mannigfaltiges der Sinnlichkeit gegeben. Kant nennt es
das „Mannigfaltige, welches die Sinnlichkeit in ihrer ursprünglichen Receptivität
darbietet“ (im obigen Zitat). Dieses ist ein nur Hingenommenes, etwas, dass der Willkür
nicht zur Verfügung steht, ein anschaulich zu bestimmender „reiner Zwang“. Er
beinhaltet also eine Gebundenheit, die nicht als eine begriffliche oder logische
Notwendigkeit angesehen werden kann. Dies macht die rezeptive Seite des reinen
Bildbegriffs aus. Der Aspekt der Spontaneität besteht darin, dass Raum und Zeit, um als
Bilder vorgestellt werden zu können, als ein Ganzes vorgestellt werden müssen. Ihr
Mannigfaltiges muss also als in einem bestimmten Zusammenhang stehend gedacht
werden können. Raum und Zeit müssen ebenso wie beim empirischen Bild als

11
Vgl. beispielsweise den ersten Raumartikel in der Ästhetik A23/B38: „Denn damit gewisse
Empfindungen auf etwas außer mir bezogen werden (d. i. auf etwas in einem andern Orte des Raumes, als
darin ich mich befinde), imgleichen damit ich sie als außer und neben einander, mithin nicht blos
verschieden, sondern als in verschiedenen Orten vorstellen könne, dazu muß die Vorstellung des Raumes
schon zum Grunde liegen“.
Vorstellung synthetische Einheit haben, soll diese als objektive Vorstellung angesehen
werden. Diese synthetische Einheit des Mannigfaltigen muss auch hier gemäß der
Einheit der reinen Apperzeption sein. Sofern Raum und Zeit in einer Anschauung, in
einem reinen Bild, thematisch werden, sind sie als einheitliche Vorstellungen ebenfalls
angewiesen auf die Handlung der Einbildungskraft. Diese bleibt, in Analogie zu den
zum empirischen Bildbegriff erarbeiteten Aspekten, einerseits dem Gegebenen der
„ursprünglichen Rezeptivität“ verhaftet, indem es dieses Mannigfaltige in Eins zu
bringen versucht, andererseits muss diese Einheit wiederum in der Lage sein, vom
denkenden Subjekt verstanden zu werden. Das heißt, ihre Einheit muss in
„Zusammenstimmung“ zur Verstandeseinheit, zur Einheit der Apperzeption stehen. Die
Einheit der reinen Vorstellungen von Raum und Zeit muss einerseits dem Verstand
gemäß sein, jedoch ist diese Einheit eine sinnliche, sie hat anschaulichen Charakter, aber
kommt ohne Empfindungsmannigfaltiges aus. Raum und Zeit sind uns daher als
Anschauungen, als reine Bilder gegeben.

IV. reines Bild in der B-Deduktion

In der B-Deduktion nun kommt weder der Ausdruck des reinen Bildes noch der des
empirischen Bildes vor. Um jedoch die Vorarbeit zu untersuchen, welche Kant im
Hinblick auf den Raum und die Zeit als reine Bilder in der B-Deduktion leistet, müssen
wir uns auch hier anschauen, wie Raum und Zeit als sinnliche Vorstellungsinhalte
thematisch werden. Dies geschieht prominenterweise in §26, wo Kant seinem eigenen
Anspruch nach (vgl. B145) den Deduktionszusammenhang abschließend entwickeln
möchte. Dort schreibt er:

Der Raum, als Gegenstand vorgestellt (wie man es wirklich in der Geometrie
bedarf), enthält mehr als bloße Form der Anschauung, nämlich Zusammenfassung
des Mannigfaltigen nach der Form der Sinnlichkeit Gegebenen in eine
anschauliche Vorstellung, so daß die Form der Anschauung bloß Mannigfaltiges,
die formale Anschauung aber Einheit der Vorstellung giebt. (B160)

Auch wenn dies Kant hier nicht ausdrücklich aufführt, so ist doch die synthetische
„Zusammenfassung in eine Vorstellung“ des sinnlichen Mannigfaltigen als Handlung
der Einbildungskraft zu verstehen.12 Wir können nun feststellen, dass Kant in der
B-Deduktion den Ausdruck „formale Anschauung“ benutzt, um damit diejenige
anschauliche Vorstellung zu bezeichnen, durch welche der Raum respektive die Zeit als
synthetische Einheit gegeben sind und thematisch vorgestellt werden („Einheit der
Vorstellung“). Die „formale Anschauung“ ist eine solche Einheit des „nach der Form
der Sinnlichkeit“ a priori gegebenen Vorstellungsmannigfaltigen, die durch die
Einbildungskraft zustande kommt, und den Raum respektive die Zeit als
gegenständliche Einheit vorstellt.13 Als eine ebensolche Vorstellung habe ich im
vorhergehenden Kapitel Raum und Zeit, von der A-Deduktion ausgehend, als „reine
Bilder“, dem kantischen Bildbegriff folgend, interpretiert. Dadurch scheint mir
genügend erwiesen zu sein, dass Kant die Ausdrücke „formale Anschauung“ und „reines
Bild“ im Zusammenhang mit den Vorstellungen von Raum und Zeit gleich respektive
als übereinstimmend versteht.
Ich möchte nun noch kurz darauf eingehen, welche Rolle die formale Anschauung
bei der Darlegung des Deduktionsarguments spielt. An der schon oben zitierten Stelle in
§26 präsentiert Kant zwei zunächst noch voneinander isolierte
Voraussetzungsverhältnisse. Das eine Voraussetzungsverhältnis betrifft die sogenannte
Verstandessynthesis oder Synthesis intellectualis (vgl. B151). Es besteht in der
Voraussetzung für den Objektbezug vom Verstand aus, insofern man den Objektbezug
von Vorstellungen isoliert von ebenso notwendigen sinnlichen Aspekten betrachtet. Das
heisst ohne den Raum und die Zeit als Formen der Anschauung zu berücksichtigen,
schaut Kant nur darauf, wie in einer Anschauung überhaupt (von deren Beschaffenheit
und Form abstrahiert wird) die Einheit des Anschauungsmannigfaltigen als objektive
zustande kommen kann. Kants Text lautet hier so:

Diese synthetische Einheit aber kann keine andere sein, als die der Verbindung des
Mannigfaltigen einer gegebenen Anschauung überhaupt in einem ursprünglichen
Bewußtsein, den Kategorien gemäß. (B161)

12
Den expliziten Bezug auf die Einbildungskraft in demselben Zusammenhang kommt in §24 zur
Geltung, vgl. B154: „[...] der innere Sinn [enthält] die bloße Form der Anschauung, aber ohne Verbindung
des Mannigfaltigen in derselben, mithin noch gar keine bestimmte Anschauung [...], welche nur durch das
Bewußtsein der Bestimmung desselben durch die transscendentale Handlung der Einbildungskraft [...],
welche ich die figürliche Synthesis genannt habe, möglich ist“.
13
Bei Düsing 1995 findet sich folgende Umschreibung der Zeit als einer formalen Anschauung: „Sie wird
thematisch als ein reines, apriorisches Ganzes mit allen ihren Teilen und Verhältnissen ohne empirisch-
reale Erfüllung angeschaut“, S. 68.
Dieses ursprüngliche Bewusstsein, von dem Kant hier redet, ist die reine Apperzeption.
Die Einheit der Synthesis eines Anschauungsmannigfaltigen muss also, um etwas für die
Erkenntnis zu sein, unter die Einheit der Apperzeption gebracht werden und so den
Verstandesbegriffen, den Kategorien, gemäß sein.
Das andere Voraussetzungsverhältnis betrifft die Seite der spezifisch menschlichen
Sinnlichkeit, nämlich, dass nur etwas sinnlich gegeben sein kann, wenn es in Raum und
Zeit gegeben wird. Kant sagt hier:

Wir haben Formen der äußeren sowohl als inneren sinnlichen Anschauung a priori
an den Vorstellungen von Raum und Zeit, und diesen muß die Synthesis der
Apprehension des Mannigfaltigen der Erscheinung jederzeit gemäß sein, weil sie
selbst nur nach dieser Form geschehen kann. (B160)

Damit also etwas in der empirischen Anschauung als objektiv zusammenhängend


wahrgenommen werden kann, muss das Anschauungsmannigfaltige sowohl gemäß der
Form der Anschauung apprehendiert werden (und somit unter den Bedingungen von
Raum und Zeit stehen), als auch unter die synthetische Einheit der reinen Apperzeption,
den Kategorien gemäß, gebracht werden.
In der B-Deduktion zeichnet Kant nun die Rolle der Einbildungskraft ebenfalls als
Vermittlerin von Verstand und Sinnlichkeit. Durch das Erkennen dessen, was sie leistet,
können beide Voraussetzungsverhältnisse als zwei Seiten derselben Handlung
angesehen werden. Diese Verhältnisse können sonach zusammen gedacht werden. Die
Einbildungskraft ist in der Lage, das Anschauungsmannigfaltige sowohl gemäß der
Einheit der Apperzeption wie auch gemäß der Form der Anschauung zu einer
anschaulichen Vorstellung zu verbinden. Wie dies Kant erklärt, soll im Folgenden kurz
betrachtet werden.
Kant nennt in §24 diese Synthesis der Einbildungskraft Synthesis speciosa (vgl.
B151, auch „figürliche Synthesis“). Dort beschreibt er die Vermittlerrolle der
Einbildungskraft so:

Da nun alle unsere Anschauung sinnlich ist, so gehört die Einbildungskraft [...] zur
Sinnlichkeit; so fern aber doch ihre Synthesis eine Ausübung der Spontaneität ist
[...], mithin a priori den Sinn seiner Form nach der Einheit der Apperception
gemäß bestimmen kann, so ist die Einbildungskraft so fern ein Vermögen, die
Sinnlichkeit a priori zu bestimmen, und ihre Synthesis der Anschauungen, den
Kategorien gemäß, muß die transscendentale Synthesis der Einbildungskraft sein,
welches eine Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit [...] ist. (B151f., meine
Hervorhebung)

Die Einbildungskraft stellt Vorstellungsinhalte gemäß unserer Form der Sinnlichkeit


anschaulich vor. Sie präsentiert Vorstellungsinhalte in einem Bild, in einer
anschaulichen Einheit. Und als spontanes Vermögen betrachtet, bestimmt sie die
Sinnlichkeit der Einheit der Apperzeption gemäß. In dieser zweiten Hinsicht ist ihre
Handlung eine „Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit“. Die Einbildungskraft
leistet so synthetische Einheit, den Kategorien gemäß, und vermittelt daher das
anschauliche Zusammenstellen (eine in der Sinnlichkeit verhaftete Tätigkeit) mit dem
Verstand, insofern das Zusammengestellte in einem denkbaren respektive durch Urteile
ausdrückbaren Zusammenhang steht.
Zuletzt möchte ich explizit machen, welche Rolle nun die formale Anschauung, das
reine Bild, in diesem Vermittlungszusammenhang spielt. Kant sagt in §26 der B-
Deduktion:

Aber Raum und Zeit sind nicht bloß als Formen der sinnlichen Anschauung,
sondern als Anschauungen selbst (die ein Mannigfaltiges enthalten), also mit der
Bestimmung der Einheit dieses Mannigfaltigen in ihnen a priori vorgestellt.
(B160)

Hier stellt Kant wiederum die Konzeption von Raum und Zeit als formale Anschauung
respektive als reines Bild dar. Diese Wiederholung erlaubt es Kant in einem nächsten
Schritt darauf einzugehen, welche Funktion nun Raum und Zeit haben, wenn sie mit der
„Bestimmung der Einheit des Mannigfaltigen in ihnen“ vorgestellt werden.

Also ist selbst schon Einheit der Synthesis des Mannigfaltigen außer oder in uns,
mithin auch eine Verbindung, der alles, was im Raume oder der Zeit bestimmt
vorgestellt werden soll, gemäß sein muß, a priori als Bedingung der Synthesis aller
Apprehension schon mit [...] diesen Anschauungen zugleich gegeben. (B169f.)
Raum und Zeit als reine Bilder, als formale Anschauungen, sind selbst a priori gegebene
Vorstellungen. Sie sind eine Art Paradebeispiel für die Wirkung des Verstandes auf die
Sinnlichkeit, für die Vermittlung von Verstandeseinheit und dem ursprünglich
Gegebenen der Sinnlichkeit. Denn das Mannigfaltige, das in ihnen vorgestellt wird, ist
durch die ursprüngliche Rezeptivität gegeben, es wird in alles sonst sinnlich gegebene,
soll es als bestimmte Anschauung gedacht werden, eingehen und kann somit als Form
der Sinnlichkeit bezeichnet werden. Und die synthetische Einheit, die durch diese reinen
Bilder uns gegeben ist, ist gemäß der Einheit der Apperzeption, also gemäß den
Kategorien. Durch den Raum und die Zeit als reine Bilder respektive formale
Anschauungen wird das Anschauungsmannigfaltige der ursprünglichen Rezeptivität
zusammenfassend strukturiert als reine gegenständliche Einheit vorgestellt. Sinnlichkeit
und Verstand sind dadurch durch eine ursprünglich-gegebene Vorstellung vermittelt.
Hiermit ist ein Anfang für ein Verständnis der Rolle des Ausdrucks „reines Bild“
gemacht. Es wurde nämlich aufgezeigt, wie ein „reines Bild“ als zwischen Verstand und
Sinnlichkeit vermittelnde Vorstellung gedacht wird. Somit ist auch eine Vorarbeit für
ein Verständnis der Vermittlung von Sinnlichkeit und Verstand geleistet, welche im
Schematismuskapitel ausführlicher zum Thema wird. Dort soll geklärt werden, welches
die Subsumtionsbedingungen für Verstandesbegriffe sind. Das Vermitteltsein von
Sinnlichkeit und Verstand lässt sich – wie ich zu zeigen hoffte – hermeneutisch in
beiden Deduktionen abstützen, und zwar durch den Ausdruck des reinen Bildes, der in
der A-Deduktion zwar nicht ausdrücklich wird, sich jedoch, wie gezeigt, implizit finden
lässt. In der B-Deduktion findet der Begriff des reinen Bildes seine Entsprechung im
Ausdruck „formale Anschauung“. Durch die Weiterentwicklung und Differenzierung
der kantischen Lehre der Vorstellungen von Raum und Zeit lässt sich also der Übergang
von beiden Deduktionen zum Schematismuskapitel als argumentative Kontinuität
verstehen. Nämlich als ein Fortgang von der Darstellung des ursprünglichen
Vermitteltseins von Verstand und Sinnlichkeit hin zu einer Lehre von den Bedingungen
einer ausdrücklichen Anwendung von Verstandesbegriffen auf durch die Sinnlichkeit
gegebene Erscheinungen respektive der ausdrücklichen Subsumtion von Erscheinungen
unter Kategorien.

Das könnte Ihnen auch gefallen