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Der Gegenstand, der nach der Lehre vom Schematismus

unter die Kategorien zu subsumieren ist


Mario Caimi

Der Text des Schematismuskapitels der Kritik der reinen Vernunft stellt dem
Leser mehrere Interpretationsprobleme; an erster Stelle gilt es, die Funk-
tion dieses Lehrstìckes im Ganzen der kritischen Beweisfìhrung zu be-
stimmen. Es f•llt aber gleich auf, dass die Funktion des Schematismus sich
ziemlich genau mit jener der transzendentalen Deduktion zu decken
scheint, sodass mehrere Kommentatoren dieses Kapitel als eine bloße
Wiederholung der transzendentalen Deduktion auslegen. Somit wird das
Schematismuskapitel fìr ìberflìssig erkl•rt, denn die Deduktion h•tte fìr
sich alleine die ihm zugewiesene Funktion bereits erfìllt.
Andere Interpreten halten umgekehrt dafìr, dass es die Deduktion ist,
die durch die Schematismuslehre entbehrlich gemacht wird.1 Noch andere

1 Alois Riehl (Der philosophische Kritizismus, Geschichte und System. Leipzig 31924, I.
Band, 524) ist der Auffassung, der Schematismus kçnne (und mìsse sogar) in-
nerhalb der Transzendentalen Deduktion behandelt werden; Prichard meint, die
Ergebnisse des Schematismus seien schon in der transzendentalen Deduktion
erreicht: „Ist der erste Teil [der transzendentalen Analytik] erfolgreich, so ist der
zweite Teil ìberflìssig“ (Prichard, H. A.: Kant’s Theory of Knowledge. Oxford 1909,
246 – 247, angefìhrt von Allison, Henry: Kant’s Transcendental Idealism. An In-
terpretation and Defense. New Haven – London 1983. Wir zitieren nach der
Spanischen ›bersetzung von Dulce Mar†a Granja Castro: El idealismo trascen-
dental de Kant. Una interpretaciûn y defensa. Barcelona – M¦xico 1992, 275). Kemp
Smith behauptet, dass das Schematismuskapitel sich erìbrigt (nach Detel, Wolf-
gang: „Zur Funktion des Schematismuskapitels in Kants Kritik der reinen Ver-
nunft“. In: Kant-Studien 69, 1978, 17 – 45, hier 18). Seel erkl•rt, dass in diesem
Kapitel der Kritik der reinen Vernunft – vorausgesetzt, es leiste seiner Funktion
genìge – die Anwendung der Kategorien erkl•rt werde, und somit erìbrige sich die
Deduktion (Seel, Gerhard: „Die Einleitung in die Analytik der Gruns•tze, der
Schematismus und die obersten Grunds•tze [A 130/B 169 – A 158/B 197]“. In:
Immanuel Kant. Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. von Georg Mohr und Marcus
Willaschek. Berlin 1998, 217 – 246, hier 245). Philonenko deutet den Schema-
tismus als eine Wiederholung der Deduktion vom Standpunkt des Empirismus aus
(Philonenko, Alexis: „Lecture du sch¦matisme transcendantal“. In: Zweihundert
Jahre Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. von Joachim Kopper und Wolfgang Marx.
Hildesheim 1981, 291 – 312, hier 301.

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148 Mario Caimi

wiederum behaupten, der Schematismus stelle kein fìr sich bestehendes


Beweisstìck, sondern eine Weiterentwicklung bzw. eine Vertiefung der
Deduktion dar.2
Ein weiteres vom Schematismustext aufgeworfenes Problem ist die
Eingliederung des Kapitels in die Analytik der Grunds•tze. Die ›berschrift
des Kapitels lautet: „Von dem Schematismus der reinen Verstandesbegriffe“.
Dies scheint eine Darlegung anzukìndigen, die sich auf reine Begriffe
bezieht; man h•tte also erwartet, dass das Kapitel eher in die Analytik der
Begriffe als in die Analytik der Grunds•tze gehçrt.
Wenn sich auch bezìglich des Textes noch andere Fragen stellen lassen,
werden wir unsere Untersuchung auf diese zwei beschr•nken. Wir werden
als Hypothese annehmen, dass die Lçsung des zweiten Problems (d. i. die
Erkl•rung der Eingliederung des Schematismuskapitels in die Analytik der
Grunds•tze und nicht in die Analytik der Begriffe) uns zur Lçsung des
ersten Problems (d. i. der Frage nach der Selbst•ndigkeit des Schematismus
gegenìber der Deduktion) fìhren wird, denn jene Erkl•rung gibt Auf-
schluss ìber die spezifische Funktion des Schematismus, durch die dieser
sich von der Deduktion unterscheidet, die er allerdings voraussetzt.
Genauer: Wir mçchten die These vertreten, dass 1. die Eingliederung
des Schematismus in die „Transzendentale Doktrin der Urteilskraft“ (d. i.
innerhalb der Analytik der Grunds•tze) eine bestimmte Auffassung dessen
verlangt, was unter dem zu subsumierenden Gegenstand im Schematis-
muskapitel zu verstehen ist, und dass 2. diese Auffassung des zu subsu-
mierenden Gegenstandes uns ein Mittel liefert, um einige der Probleme zu
lçsen, die uns der Schematismus stellt.
Wir werden also im Folgenden der Frage nachgehen, was eigentlich im
Schematismus der reinen Verstandesbegriffe unter letztere zu subsumieren
ist. Dadurch hoffen wir, einige Einsicht in die Natur und Funktion des
Schematismus zu erlangen.

2 W. Detel, a.a.O., 41. Nach Curtius ist der Schematismus nichts anderes als eine
Weiterentwicklung des § 24 der transzendentalen Deduktion (Curtius, Ernst
Robert: „Das Schematismuskapitel in der Kritik der reinen Vernunft. Philologi-
sche Untersuchung“. In: Kant-Studien 1914, 338 – 366, hier 342 ff.); Nach Fer-
rarin besteht die Funktion des Schematismus in der Erkl•rung „how […] pure
concepts can refer a priori to possible intuitions“ (Ferrarin, Alfredo: „Construction
and Mathematical Schematism. Kant on the Exhibition of a Concept in Intuition“.
In: Kant-Studien 86, 1995, 131 – 174, hier 156); demzufolge ist der Schematismus
mit der Deduktion identisch, wie diese in KrV, B 117 erkl•rt wurde; der einzige
Unterschied bestehe darin, dass der Schematismus sich auf mçgliche und nicht auf
wirkliche Gegenst•nde beziehe (Ferrarin, a.a.O., 156 f.).

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Der Gegenstand, der unter die Kategorien zu subsumieren ist 149

Vorl•ufige Bestimmung des Gegenstandes, der unter


die reinen Verstandesbegriffe subsumiert werden soll

Obwohl die Subsumtion eines Gegenstandes unter die reinen Verstan-


desbegriffe das Thema des Schematismuskapitels ausmacht, mìssen wir
gleich eingangs bemerken, dass die Subsumtion in diesem Kapitel noch
nicht durchgefìhrt wird. Sie wird vielmehr nur vorbereitet, indem die Be-
dingungen ihrer Mçglichkeit dargelegt werden.3 Unsere Aufgabe wird es
also sein, die Natur eines Gegenstandes zu bestimmen, dessen Subsumtion
unter die Kategorien durch den Schematismus erst vorbereitet wird. Nach
dieser Vorbemerkung kçnnen wir unsere Arbeit, d. h. die Bestimmung
eines solchen Gegenstandes, in Angriff nehmen.
Es w•re ìberflìssig, die Urteilskraft zu bemìhen, um zu entscheiden,
ob ein Gegenstand unter den allgemeinen Begriff eines Gegenstandes
ìberhaupt subsumiert werden kann. Denn jeder Gegenstand kann unter
den Begriff eines Gegenstandes ìberhaupt subsumiert werden. Um zu
entscheiden, ob ein Sonderfall von ,Gegenstand‘ unter den Begriff vom
Gegenstand gebracht werden soll, ist keine besondere Geschicklichkeit
heranzuziehen.
Also bezieht sich der Schematismus auf die Subsumtion von etwas
unter die Kategorien, das sich vom Gegenstand ìberhaupt unterscheidet,
indem es entweder etwas anderes als ein Gegenstand, oder mehr als ein
Gegenstand ist. Es kann sich jedoch nicht um etwas handeln, das anders als
ein Gegenstand ist; denn die Kategorien sind Begriffe von einem Ge-
genstand, und somit w•re es falsch, unter die Kategorien etwas zu sub-
sumieren, was eben nicht ein Gegenstand ist. Es bleibt uns also nur die
zweite Alternative: Es gilt, etwas unter die Kategorien zu subsumieren, das
mehr als ein Gegenstand ìberhaupt ist.
Mehr als ein Gegenstand ìberhaupt ist (in Anbetracht der Subsum-
tion) der bestimmte Gegenstand. Um die genaue Bedeutung dieser These zu
erfassen, empfiehlt es sich, den Passus der Kritik der reinen Vernunft, § 13
(A 85/B 117) n•her zu betrachten, in welchem Kant die transzendentale

3 Das Schema ist die Synthesis des anschaulichen Mannigfaltigen. Diese Synthesis
erfolgt a priori der Kategorie gem•ß. Durch sie wird das Mannigfaltige bearbeitet,
damit es unter der Kategorie subsumiert werden kann. Kant in einem Entwurf
eines Briefes an Tieftrunk vom 11. Dezember 1797: „Das a priori (nicht empi-
risch) Zusammengesetzte dieser Anschauung ist das Schema des Verstandesbe-
griffes, der Akt des Zusammensetzens des in der Anschauung ìberhaupt Gege-
benen der Kategorie gem•ß das Schematisiren“ (Br, AA 13: 468).

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Deduktion erkl•rt und ihre Funktion bestimmt. Der Text lautet: „Ich
nenne daher die Erkl•rung der Art, wie sich Begriffe a priori auf Gegen-
st•nde beziehen kçnnen, die transscendentale Deduction derselben […]“.
Wir mçchten diesen Text mit demjenigen vergleichen, der im Sche-
matismuskapitel steht und – ganz analog – die Erkl•rung und Funkti-
onsbestimmung des Schematismus zum Zweck hat. Dieser Text ist in A
138/B 177 zu finden. Er besagt, dass eine transzendentale Doktrin der
Urteilskraft notwendig ist, „um n•mlich die Mçglichkeit zu zeigen, wie
reine Verstandesbegriffe auf Erscheinungen ìberhaupt angewandt werden
kçnnen.“
Es f•llt auf, dass hier – im Unterschied zur eben angefìhrten Formel aus
der transzendentalen Deduktion – keine Gegenst•nde, sondern Erschei-
nungen erw•hnt werden.4
Vielleicht l•sst sich im Wortlaut dieser Bestimmung der Funktion des
Schematismus ein Hinweis finden, mit dessen Hilfe wir den Schematismus
von der Deduktion unterscheiden kçnnen. Dieser Hinweis ist in jener
scheinbar geringfìgigen Abweichung zu suchen, durch die die Formel des
Schematismus sich von jener der Deduktion unterscheidet: n•mlich im

4 Nicht wenige Kommentatoren deuten den Schematismus als eine Darlegung der
Mçglichkeit der Subsumtion der Erscheinungen unter die Kategorien. So erkl•rt
z. B. Hermann Cohen, dass die Deduktion sich auf den Gegenstand ìberhaupt
bezieht, w•hrend beim Schematismus die einzelnen, bestimmten Gegenst•nde
erreicht werden. Mittels der Schemata „wird der Begriff vom Gegenstande ìber-
haupt zum Begriff eines bestimmten Gegenstandes der Erfahrung“ (Cohen,
Hermann: Kants Theorie der Erfahrung. Berlin 31918, 495). Unter „bestimmter
Gegenstand“ versteht Cohen aber den Gegenstand, insofern er den Anschau-
ungsformen untersteht (ebenda); wir mçchten vielmehr diesen bestimmten Ge-
genstand als mitsamt seinen empirischen Bestimmungen gegeben verstanden
wissen. Auch Gerold Prauss legt den Gedanken nahe, dass die Deduktion sich auf
einen Gegenstand ìberhaupt, der Schematismus dagegen auf eine Erscheinung
bezieht (Prauss, Gerold: Erscheinung bei Kant. Berlin 1971, 103); Prauss’ Vorhaben
ist aber, „nur das Problem der mçglichen Gegenst•ndlichkeit der Erscheinungen“
(ebenda) zu erforschen; er behandelt also die Frage in einer anderen Absicht als wir
es hier tun. Claudio La Rocca findet das Neue des Schematismus (gegenìber der
Deduktion) darin, dass in der Deduktion die Anwendung der Kategorien auf eine
mçgliche Erfahrung, dagegen im Schematismus die Anwendung der Kategorien auf
eine wirkliche Erfahrung erkl•rt wird, deren Gegenst•nde empirische Gegenst•nde
sind. (La Rocca, Claudio: „Schematismus und Anwendung“. In: Kant-Studien 80,
1989, 129 – 154, hier 130). Fìr Wolfgang Detel bedeutet der Ausdruck „Ge-
genstand ìberhaupt“ im Kontext des Schematismus soviel wie „beliebige Ge-
genst•nde“; somit kann man die Spezifizit•t des Schematismus gegenìber der
Deduktion nicht auf diese Unterscheidung begrìnden (Detel, W.: „Zur Funktion
des Schematismuskapitels …“, 36). Siehe auch Ferrarin, a.a.O., 156 f.

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Der Gegenstand, der unter die Kategorien zu subsumieren ist 151

Wort ,Erscheinungen‘. Unter ,Erscheinung‘ ist „der unbestimmte Ge-


genstand einer empirischen Anschauung“ zu verstehen.5 So deutlich diese
Erkl•rung auch sein mag, bedarf sie in unserem Zusammenhang doch noch
einer Pr•zisierung.6
In der Tat unterscheidet Mellin in seinem Wçrterbuch beim Eintrag
„Erscheinung“ mehrere Bedeutungen dieses Begriffs.7 Einerseits versteht
Mellin unter ,Erscheinung‘ etwas, was „nur in unseren Sinnen sein Daseyn“
hat. Die Erscheinung hat aber das Eigentìmliche an sich, dass wir „durch
unsere Denkgesetze selbst gençthigt“ werden, es auf einen transzendentalen
Gegenstand zu beziehen, der nicht wiederum bloße Erscheinung ist.8
Andererseits stellt Mellin fest, dass „[i]n Kants transscendentalem Systeme
[…] jedes Object der sinnlichen Anschauung“ „Erscheinung oder Sinnenwe-
sen“ heißt.9 Vielleicht ist es eben dies, was wir suchen: vielleicht besteht die
Spezifizit•t des Schematismus n•mlich darin, dass im Schematismus die
Kategorien auf Erscheinungen, d. h. auf Gegenst•nde angewandt werden,
die in unserer Sinnlichkeit gegeben werden.
Man kçnnte meinen, dass wir mit dieser Feststellung keinen besonders
wichtigen Fortschritt gemacht haben. Der Schematismus bleibt immer
noch ìberflìssig, auch wenn wir ihn als Anwendung der Kategorien auf
Erscheinungen auslegen; denn seine Funktion wurde schon durch die
transzendentalen Deduktion erfìllt. Wird die Kategorie auf jeden Ge-
genstand ìberhaupt angewandt, so wird sie ja eben deswegen auch auf

5 KrV, A 20/B 34: „Der unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung


heißt Erscheinung“.
6 Nach Gerold Prauss dienen die Schemata der Anwendung der Kategorien auf das
empirische Mannigfaltige, damit dieses als Erfahrung gedeutet werden kann. Der
Gegenstand „entspringt“ erst durch die Schematisierung. Vgl. Prauss, Gerold:
Erscheinung bei Kant. Ein Problem der „Kritik der reinen Vernunft“. Berlin 1971,
103. Wir mçchten aber gerade das Neue entdecken und erkl•ren, das den Sche-
matismus von der transzendentalen Deduktion unterscheidet. Dieses Neue suchen
wir an dem Ausdruck ,Erscheinungen‘ festzumachen, der in der Formel des
Schematismus im Text der Kritik der reinen Vernunft zu finden ist. In Prof. Prauss’
Auslegung des Ausdrucks ,Erscheinung‘ finden wir jedoch keinen Ansatzpunkt, der
es uns ermçglicht, den Schematismus von der transzendentalen Deduktion zu
unterscheiden. Prauss’ Interpretation hebt auf einen einzigen Aspekt der Erschei-
nung, n•mlich auf ihre Subjektivit•t ab. Die Erscheinung hat jedoch ìberdies noch
andere Aspekte, die er u. E. unbeachtet l•sst.
7 Mellin, Georg Samuel Albert: Encyclop•disches Wçrterbuch der kritischen Philoso-
phie. Jena u. Leipzig 1796 – 1802, Eintrag „Erscheinung“, 2. Band, Abtheilung 1,
1799, 398 – 405.
8 Mellin, 401.
9 Mellin, 399; er verweist auf KrV, B XXVI und B 306.

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diesen oder jenen besonderen Gegenstand der Anschauung, d. h. auf die


Erscheinung angewandt. Betrachten wir allerdings diese Anwendung der
Kategorien auf Erscheinungen (d. h. auf „Gegenst•nde der sinnlichen
Anschauung“) genauer, so stellt sich uns ein Paradoxon dar: Einerseits
konstituieren die Kategorien erst den Gegenstand; andererseits werden die
Kategorien auf empirische Gegenst•nde angewandt. Wie ist dies zu ver-
stehen?10

Eine önderung des Standpunktes

Hier kommt uns ein weiterer Hinweis zur Hilfe, den uns der Text der Kritik
anbietet. Dieser Hinweis besteht darin, dass der Schematismuskapitel
seinen Platz in der „Analytik der Grunds•tze“ hat. Die „Analytik der
Grunds•tze“ tr•gt auch die ›berschrift „Transscendentale Doctrin der
Urtheilskraft“. Die Urteilskraft ist der Sitz der Intelligenz. Der Verstand ist
ein Gerìst von Bedingungen, die notwendigerweise erfìllt werden, ohne
dass dabei irgendeine Entscheidung oder Wahl getroffen wird. Dagegen
setzt sich die Urteilskraft stets einem Risiko aus, sie ist der Ort von ge-
wagten Entscheidungen, die richtig oder auch falsch sein kçnnen. Hier ist
es, wo Philosophie geschieht.
Der Verstand unterscheidet sich in seinem Gebrauch von der Ur-
teilskraft. Die intellektuellen Bedingungen der Mçglichkeit der Erfahrung
sind unvermeidlich; sie dulden keine Ausnahme. Ohne sie kçnnte nichts
zur Erfahrung gehçren. Deswegen kann man diese Bedingungen mit
Gewissheit ermitteln und a priori bestimmen. Das bedeutet aber, dass sie
notwendige und feste Bedingungen sind, die unumg•nglich erfìllt werden,

10 Dieter Lohmar hat auf dieses Problem hingewiesen. Siehe Lohmar, Dieter: „Kants
Schemata als Anwendungsbedingungen von Kategorien auf Anschauungen. Zum
Begriff der Gleichartigkeit im Schematismuskapitel der Kritik der reinen Ver-
nunft“. In: Zeitschrift fìr philosophische Forschung, Bd. 45, 1991, 77 – 92, insb. 89:
„Wie soll sich dasjenige, was durch die Anwendung der Kategorie allererst in die
Erfahrung hineingelegt wird, bereits zuvor als ,sinnliche Bedingung‘ der An-
wendbarkeit darin finden lassen?“ Die Kategorien haben eine doppelte Anwen-
dung; sie werden auf Erscheinungen angewandt, die schon (eben durch die An-
wendung der Kategorien) als Gegenst•nde konstituiert worden sind. Dieses
Paradoxon ist m. E. nur unter den Bedingung zu lçsen, dass man zwischen einer
grundlegenden Anwendung der Kategorien (einer Anwendung n•mlich, durch die
die Kategorien den Gegenstand konstituieren) und einer Anwendung zweiter
Ordnung unterscheidet, die der Urteilskraft zusteht und dem Gebrauch der Ka-
tegorien in Urteilen dient, wie es in KrV, A 248 erkl•rt wird.

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Der Gegenstand, der unter die Kategorien zu subsumieren ist 153

ohne dass das Subjekt mit irgendeiner Entscheidung an ihrer Erfìllung


teilnimmt. Dagegen bezieht sich die Urteilskraft auf etwas, was nicht
vorausbestimmt (nicht gelehrt) werden kann; ihre Handlungen lassen sich
nicht voraussehen. Diese Handlungen haben ihren Ursprung im Subjekt,
das die Urteilskraft ausìbt. Bei dieser Ausìbung ist das Subjekt an keine
andere Bedingung gebunden, als nur an seine eigene urteilende Intelligenz.
Die Eingliederung des Schematismus in die „transzendentale Doktrin der
Urteilskraft“ deutet hier also auf eine besondere Sichtweise bzw. auf eine
önderung der Sichtweise hin.
Thema der Analytik der Begriffe ist die Entstehung der Gegenst•nd-
lichkeit; d. h. der Gegenstand wurde dort nur insofern behandelt, als er
durch die logisch-transzendentale Konstitution erst zum Gegenstand wird.
In der Analytik der Grunds•tze dagegen wird der Gegenstand als „Na-
turding“ betrachtet.11 Die Konstitution des Gegenstandes (die konstitutive
T•tigkeit der Kategorien) wird nicht mehr in Betracht gezogen. ,Gegen-
stand‘ heißt in der Lehre von der Urteilskraft „Gegenstand der Anschau-
ung“. Die Fragen, die an diesen Gegenstand gestellt werden, gleichen nicht
mehr jener Frage nach seiner Objektivit•t, die in der transzendentale
Deduktion gestellt und gelçst wurde. In der Analytik der Begriffe wurde
das Gesetz festgelegt, das dem Gegenstand als solchen zugrunde liegt (d. h.
das Gesetz, nach dem der Gegenstand eben Gegenstand ist). Jetzt gilt es, in
den „Grunds•tzen des reinen Verstandes“ die Grundgesetze der Natur
festzulegen. Wir stehen jetzt also vor der Aufgabe, zu zeigen, dass die in der
Anschauung gegebenen Naturgegenst•nde sich notwendigerweise unter
allgemeinen Grunds•tzen vereinigen, die allgemeine Gesetze der Natur
sind. Der Schematismus geht der Lçsung dieser Aufgabe voran, denn er
stellt eine notwendige Vorbedingung dieser allgemeinen Vereinigung der
Erscheinungen dar.

Die Subsumtion, die im Schematismus erfolgt, ist derjenigen


nicht identisch, die in den Reflexionsurteilen durchgefìhrt wird

Die allgemeine Vereinigung der Erscheinungen, von der hier die Rede ist,
sollte nicht mit der durch Reflexion durchgefìhrten systematischen An-
ordnung der besonderen Naturgesetze verwechselt werden. Bevor die re-
flektierende Urteilskraft die einzelnen Erscheinungen in das System der

11 ›ber den Ausdruck „Naturding“ siehe EEKU, AA 20: 211.26.

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besonderen Naturgesetze eingliedert, muss die bestimmende Urteilskraft


dieselben Erscheinungen unter die allgemeine Gesetze der Natur (d. h. unter
die Grunds•tze des reinen Verstandes) bringen. Das ist es eben, was die
Schemata erst ermçglichen.
Die Funktion des Schematismus ist nicht die Reflexion ìber das Ein-
zelne, um es unter einen Begriff zu bringen (und zwar unter einen Begriff,
der allererst durch Reflexion entstehen muss); vielmehr besteht die
Funktion des Schematismus in der Ermçglichung der Bestimmung des
Einzelnen nach einem a priori gegebenen Begriff. Das durch den Sche-
matismus ermçglichte Urteil ist ein bestimmendes Urteil.12
Die Aufgaben des Reflexionsurteils beziehen sich auf die Einteilung in
Gattungen und Arten, auf die Herstellung der systematischen Einheit der
Natur und auf die Bildung von empirischen Begriffen. Diese Aufgaben
setzen eine vorangehende Subsumtion des Einzelnen unter die Kategorien
voraus. Ohne diese vorangehende Subsumtion verfìgte die reflektierende
Urteilskraft nicht ìber die zuf•lligen empirischen F•lle, welche sie hernach
in systematische Einheit zusamenbringen soll.
Die auf systematische Einheit gerichtete Aufz•hlung der einzelnen
F•lle ist nur unter der Bedingung mçglich, dass diese empirischen F•lle
bereits unter die Kategorien subsumiert worden sind. Der Verstand muss
zun•chst die einzelnen F•lle als zuf•llig anerkennen; erst dann wird es
mçglich, sie unter eine durch Reflexion zu erreichende Einheit zu brin-
gen.13

12 Nach Manfred Kugelstadt setzt die dem Schematismus eigene Determination ein
notwendiges Moment der Reflexion voraus. Durch ein solches Moment wird
festgestellt, dass das, worìber man reflektiert, eben ein Gegenstand ist. Vgl. Ku-
gelstadt, Manfred: Synthetische Reflexion. Zur Stellung einer nach Kategorien re-
flektierenden Urteilskraft in Kants theoretischer Philosophie. Berlin – New York 1998,
9.
13 Dass dies zwei voneinander unterschiedliche Handlungen sind, merkt man daran,
dass die erste (die Subsumtion unter die Kategorien) keine Lust bewirkt. Die Lust
entsteht erst durch die Befriedigung des subjektiven Bedìrfnisses, eine systema-
tische Ordnung herzustellen. KU (Einl. VI), AA 05: 187: „In der That, da wir von
dem Zusammentreffen der Wahrnehmungen mit den Gesetzen nach allgemeinen
Naturbegriffen (den Kategorien) nicht die mindeste Wirkung auf das Gefìhl der
Lust in uns antreffen, auch nicht antreffen kçnnen, weil der Verstand damit un-
absichtlich nach seiner Natur nothwendig verf•hrt: so ist andrerseits die entdeckte
Vereinbarkeit zweier oder mehrerer empirischen heterogenen Naturgesetze unter
einem sie beide befassenden Princip der Grund einer sehr merklichen Lust“.

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Der Gegenstand, der unter die Kategorien zu subsumieren ist 155

Der einzelne in der Anschauung gegebene Gegenstand

Der Schematismus hat nicht die Funktion, den Erscheinungen syntheti-


sche kategoriale Struktur zu geben. Er hat vielmehr die Funktion, die
Subsumtion der empirisch gegebenen Erscheinungen unter die Kategorien
zu ermçglichen, obgleich solche Erscheinungen nicht gleichartig (nicht
homogen, sondern heterogen) mit den Kategorien sind. Aus dieser Sub-
sumtion gehen dann die Prinzipien des reinen Verstandes hervor, die auch
allgemeine Gesetze der Natur genannt werden.
Von diesem neuen Standpunkt aus gesehen ist uns der in der An-
schauung gegebene Gegenstand etwas Fremdes; er ist etwas, das sich dem
Subjekt bietet, ohne dass man weiß, woher es kommt oder aus welchem
Grund es da ist. Wir kçnnen nicht umhin, den gegebenen Gegenstand
anzunehmen, und es ist auch notwendig, dass er gegeben wird, damit die
empirische Erkenntnis geschieht (d. h., damit die ursprìngliche Erwer-
bung der apriorischen Werkzeuge der empirischen Erkenntnis stattfindet).
Dasjenige, dessen Subsumtion unter die Kategorien der Schematismus
anstrebt, ist der von diesem neuen Standpunkt aus betrachtete Gegenstand.
Die Urteilskraft ist n•mlich bestrebt, die „Naturdinge“,14 welche die
Materie der besonderen Erfahrungen ausmachen, unter die Regeln des
Verstandes zu subsumieren. Die Urteilskraft schematisiert a priori die
reinen Verstandesbegriffe und sie „wendet diese Schemata auf jede empi-
rische Synthesis an“. „[D]er transscendentale Schematism […] dient ihr
[n•mlich der Urteilskraft, M.C.] zugleich zur Regel, unter der gegebene
empirische Anschauungen subsumirt werden“.15 Kant selber erkl•rt hier, was
unter die Kategorien subsumiert werden soll, n•mlich „jede empirische
Synthesis“ und die „gegebene[n] empirische[n] Anschauungen“.
Im Schematismus werden die Kategorien auf Erscheinungen ange-
wandt, wobei ,Erscheinungen‘ als „empirische Gegenst•nde“ verstanden

14 EEKU, AA 20: 232, s. auch ebd., 235.


15 EEKU (Abteilung V), AA 20: 212 (Hervorhebungen von mir). Der vollst•ndige
Text lautet: „In Ansehung der allgemeinen Naturbegriffe, unter denen ìberhaupt
ein Erfahrungsbegriff (ohne besondere empirische Bestimmung) allererst mçglich
ist, hat die Reflexion im Begriffe einer Natur ìberhaupt, d. i. im Verstande, schon
ihre Anweisung und die Urtheilskraft bedarf keines besondern Princips der Re-
flexion, sondern schematisirt dieselbe a priori und wendet diese Schemata auf jede
empirische Synthesis an, ohne welche gar kein Erfahrungsurtheil mçglich w•re.
Die Urtheilskraft ist hier in ihrer Reflexion zugleich bestimmend und der trans-
scendentale Schematism derselben dient ihr zugleich zur Regel, unter der gegebene
empirische Anschauungen subsumirt werden.“

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werden. Durch diese Anwendung der Kategorien auf empirische Gegen-


st•nde gliedern sich die subsumierten Erscheinungen in eine einzige zu-
sammenh•ngende Erfahrung ein. Die einzelnen Erscheinungen unterste-
hen somit denselben allgemeinen Gesetzen, die der Erfahrung ihre
gesetzm•ßige Form geben; d. h. den Grunds•tzen des reinen Verstandes:
„die Kategorien sind daher am Ende von keinem andern als einem mçg-
lichen empirischen Gebrauche, indem sie bloß dazu dienen, durch Grìnde
einer a priori nothwendigen Einheit (wegen der nothwendigen Vereinigung
alles Bewußtseins in einer ursprìnglichen Apperception) Erscheinungen
allgemeinen Regeln der Synthesis zu unterwerfen und sie dadurch zur
durchg•ngigen Verknìpfung in einer Erfahrung schicklich zu machen.“16
Der „Gebrauch“ der Kategorien ist etwas anderes als ihre spontane
Beteiligung an die Konstitution des Gegenstandes. Die Kategorien werden
gebraucht, wenn man durch sie eine Erkenntnis anstrebt.17 Diese Anwen-
dung der Kategorien (n•mlich ihr Gebrauch zur Erkenntnis des Gegen-
standes) w•re also eine Anwendung zweiter Ordnung, w•hrend bei der
Anwendung erster Ordnung die Kategorien ihre Funktion der Gegen-
standskonstitution ausìben.
Im selben Sinne lehren die Prolegomena, dass eine Zeitfolge der Er-
scheinungen, d. i. eine Begebenheit, allererst zugegen sein muss, wenn eine
Subsumtion unter die Kategorie der Ursache und Wirkung stattfinden soll:
„Daher mìssen Erscheinungen […] so fern eine Zeitfolge unter den Er-
scheinungen, d. i. eine Begebenheit, angetroffen wird, unter den Begriff einer
Wirkung in Beziehung auf Ursache […] subsumirt werden“.18 Anders
ausgedrìckt: Das, was unter eine Kategorie subsumiert wird, ist kein
formloses Mannigfaltiges, sondern ein schon als empirische Einheit (als
einheitliche Erscheinung) synthetisiertes Mannigfaltiges.
Auf dieser Grundlage kçnnen wir jetzt unseren Interpretationsvor-
schlag vorlegen: dass n•mlich mit dem Wort ,Erscheinung‘ (in jener
Formel, durch welche die Funktion des Schematismus erkl•rt wird)19 nicht

16 KrV, A 146/B 185.


17 Der Gebrauch der Kategorien ist die Anwendung derselben auf gegebene Ge-
genst•nde oder auf solche Gegenst•nde, die gegeben werden kçnnen („angebliche“
im Sinne von „dabile“, vgl. KrV, B 540). Solche Anwendung ist nichts anderes als
die Zusammenstellung von Urteilen, deren Pr•dikate eben die Kategorien sind
(KrV, A 248/B 305).
18 Prol, AA 04: 307 (Hervorhebungen von mir).
19 Eine transzendentale Doktrin der Urteilskraft sei notwendig, „um n•mlich die
Mçglichkeit zu zeigen, wie reine Verstandesbegriffe auf Erscheinungen ìberhaupt
angewandt werden kçnnen“ (KrV, A 138/B 177).

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Der Gegenstand, der unter die Kategorien zu subsumieren ist 157

die notwendige begriffliche Struktur gemeint wird, welche eigentlich der


Gegenstand ist. Unseres Erachtens bezieht sich das Wort ,Erscheinung‘ in
der genannten Formel vielmehr auf das wirkliche Vorhandensein eines
einzelnen sinnlichen Gegenstandes im Raume und in der Zeit;20 es bezieht
sich n•mlich auf das wirkliche Vorhandensein von sinnlichen Daten in der
Anschauung, die nunmehr in eine empirische synthetische Einheit verei-
nigt sind.
Wenn wir einen empirischen Gegenstand unter die Kategorie subsu-
mieren wollen, kçnnen wir nicht so verfahren, als ob wir bloß einen ein-
zelnen Fall des Gegenstandes ìberhaupt unter die Kategorie zu subsumieren
h•tten. Im Hinblick auf seine Subsumtion ist der empirische Gegenstand
weit mehr als ein bloßer einzelner Fall des Gegenstandes ìberhaupt. Die
Aufgabe besteht hier nicht darin, einen einzelnen Fall vom ,Gegenstand‘
unter den Begriff vom Gegenstand zu bringen, sie besteht vielmehr in der
Bestimmung und Erfìllung der Bedingungen der Mçglichkeit der Sub-
sumtion eines vorhandenen Gegenstandes, der tats•chlich in der An-
schauung gegeben ist. Das Vorhandensein des Gegenstandes ist hier von
seiner Einzelnheit (Singularit•t) unzertrennbar; denn der Gegenstand ist in
der Anschauung gegeben und die Anschauung bezieht sich immer auf einen
einzelnen Gegenstand.21

20 Gegen diese Deutung vgl. Zschocke, Walter: „›ber Kants Lehre vom Schema-
tismus der reinen Vernunft. Aus dem Nachlass von Walter Zschocke herausge-
geben von Heinrich Rickert“. In: Kant-Studien 12, 1907, 157 – 212, hier 166 f.
21 Mellin, Encyclop•disches Wçrterbuch der kritischen Philosophie, I. Band I. Abthei-
lung, Eintrag „Anschauung“, 258: „Anschauung ist die Vorstellung, die nur durch
einen einzigen Gegenstand (ein Individuum) gegeben werden kann, und ist einzeln
(individuell).“ Fìr die Leibnizsche Schule besteht das Individuationsprinzip in der
vollst•ndigen bzw. durchg•ngigen Bestimmung einer Sache. Siehe Leibniz,
Gottfried Wilhelm: Discours de m¦taphysique, § 8, ed. Gerhardt IV, 433 („notion
accomplie“). Der Begriff des einzelnen Gegenstands (Individuum) erhielt dann die
Bedeutung eines wirklichen Gegenstandes (Wolff, Christian: Philosophia prima,
sive ontologia, methodo scientifica pertractata, qua omnis cognitionis humanae
principia continentur. Francofurti & Lipsiae MDCCXXX, § 227, 188. Siehe auch
ebenda § 229; vgl. Wolff, Christian: Vernìnfftige Gedancken von GOTT, der Welt
und der Seele des Menschen, auch allen Dingen ìberhaupt: Den Liebhabern der
Wahrheit mitgetheilet von Christian Freyherrn von Wolff. Halle 1751, § 180, 98).
Baumgarten beruft sich auf dasselbe Kriterium, um das einzelne Wesen zu erkl•ren
(Baumgarten, Alexander Gottlieb: Metaphysica, editio IIII. Halae Magdeburgicae
1757, § 148). W•hrend Leibniz und seine Nachfolger dem einzelnen Gegenstand
die vollst•ndige Bestimmung (omnimoda determinatio) zuweisen, unterzieht Kant
den einzelnen Gegenstand einer unendlichen empirischen Bestimmung, die ohne
Ende fortschreitet, ohne je Vollst•ndigkeit zu erreichen (KrV, A 581/B 609. Vgl.

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158 Mario Caimi

Betrachten wir den zu subsumierenden Gegenstand aus diesem neuen,


der Urteilskraft eigenen Standpunkt, so sind die einzelnen sinnlichen Be-
stimmungen das, was sich als neu erweist. Unter diesen Bestimmungen ist
eine, die wir a priori festlegen und erkennen kçnnen: n•mlich die Zeit-
lichkeit. Auch die transzendentale Deduktion hatte die Zeitlichkeit der
Gegenst•nde in Betracht gezogen; aber in der Deduktion wird die Zeit-
lichkeit bloß als etwas betrachtet, das dem Gegenstand nur •ußerlich und
zuf•llig gehçrt. Das Hauptanliegen der Deduktion ist nicht die Zeitlich-
keit, sondern die notwendige begriffliche Struktur, durch die der Gegen-
stand eben zum Gegenstand wird. Beim Schematismus dagegen richtet sich
die Aufmerksamkeit auf jene Bestimmungen des Gegenstandes, die nicht
zu seiner notwendigen gegenst•ndlichen Struktur gehçren;22 auf jene
Bestimmungen also, die zwar vom Standpunkt der Apperzeption aus nicht
notwendig sind, die in der Tat aber gegeben sind. Zu diesen Bestimmungen
des gegebenen Gegenstandes z•hlt auch die Erfìllung der Zeit. Der
Schematismus ermçglicht die Subsumtion auch dieser zuf•lligen Aspekte
des Gegebenen unter die Einheit der Apperzeption.
Da solche materielle Bestimmungen der Gegenst•nde in der Zeit
enthalten sind, so wird es genìgen, um ihre Subsumtion zu ermçglichen,
die Schemata als apriorische Bestimmungen der Zeit aufzubauen. Auf diese
Weise wird es mçglich, den in der Zeit gegebenen Gegenstand samt allen
seinen Bestimmungen unter die Kategorien zu subsumieren. Die
Grunds•tze des reinen Verstandes drìcken eben die Subsumtion der Er-
scheinungen samt aller ihrer Eigenschaften unter die Kategorien aus. Der
Schematismus bereitet diese Subsumtion vor. Der Schematismus ist die
Antwort auf die Frage: Wie ist eine kategoriale Synthesis mçglich, die die

FM, AA 20: 302). In der Transzendentalphilosophie bietet die vollst•ndige Be-


stimmung kein Individuationsprinzip. Die durchg•ngige Bestimmung ist vielmehr
fìr die Transzendentalphilosophie ein regulatives Prinzip (vgl. KrV, A 573/B 601),
das einen unendlichen Fortschritt bei der Bestimmung des empirischen Gegen-
standes vorschreibt, ohne je die vollst•ndige Bestimmung zu erreichen. Eben dieser,
einer unendlichen empirischen Bestimmung unterzogene Gegenstand ist der im
Schematismus zu subsumierende Gegenstand.
22 Gegen diese Auffassung siehe Spindler, Josef: „Das Problem des Schematismus-
kapitels der Kritik der reinen Vernunft“. In: Kant-Studien 28, 1923, 266 – 282,
insb. 270: Bei der Subsumtion eines konkreten Gegenstandes wird nach Spindler
eben das subsumiert, was den Gegenstand zum Gegenstand macht, n•mlich die
„kategorial geordnete Anschauungsmannigfaltigkeit“ (ebenda).

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Der Gegenstand, der unter die Kategorien zu subsumieren ist 159

Besonderheit eines jeden Bestandteils des synthetisierten Mannigfaltigen


bewahrt?23

Eine mçgliche Auffassung des zu subsumierenden Gegenstandes

Wenn wir behaupten, dass die Aufgabe des Schematismus darin besteht,
den einzelnen bestimmten Gegenstand unter die Kategorien zu subsu-
mieren, so ist das nicht zu verstehen, als meinten wir dabei den Gegenstand
nur insofern er eben Gegenstand ist. Vielmehr besteht die Aufgabe des
Schematismus darin, den Gegenstand mitsamt allen seinen Bestimmungen
unter die Kategorien zu subsumieren. Das heißt aber, dass auch jene Be-
stimmungen unter die Kategorien zu bringen sind, welche als zuf•llige zu
denen hinzukommen, die dem Gegenstand notwendig angehçren.
Das Schematismuskapitel setzt die vorangehenden Darlegungen ìber
den Gegenstand und seine Konstituierung, die in der Deduktion ausge-
arbeitet worden sind, zwar voraus, tr•gt aber zu diesen Darlegungen nichts
bei. Die Urteilskraft fasst den in der Erfahrung gegebenen Gegenstand als
einen einzelnen Gegenstand auf, der schon deswegen subsumiert werden
muss, weil er gegeben ist. Dieser so aufgefasste, gegebene Gegenstand ist es,
was unter die Kategorien zu subsumieren ist; so erkl•rt ihn Kant selbst, als
er bei der Erçrterung der dynamischen Kategorien schreibt: „[…] wir
[kçnnen] uns nun von der Mçglichkeit der dynamischen Verknìpfung a
priori nicht den mindesten Begriff machen […], und die Kategorie des
reinen Verstandes [dient] nicht dazu […], dergleichen zu erdenken, son-
dern nur, wo sie in der Erfahrung angetroffen wird, zu verstehen“.24 Als ob er
sagte: das, was wir unter die Kategorie subsumieren, ist (in diesem Beispiel)
ein in der Erfahrung gegebener Fall von dynamischer Verknìpfung. Durch
die Subsumtion erzeugen wir den Fall nicht; vielmehr nimmt die Sub-
sumtion den Fall als gegeben an.
Die Subsumtion des empirischen Mannigfaltigen unter die Kategorie
ist unseres Erachtens nicht als eine bloße Wiederholung bzw. nicht als eine
bloße Spezifizierung derjenigen Verstandeshandlung zu verstehen, durch
die das Mannigfaltige synthetisiert und als Gegenstand erst konstituiert
wird. Nach unserer Auffassung ist die Subsumtion eine ganz andere
Handlung als jene konstitutive Handlung des Verstandes. Man kann die

23 So auch in KrV, A 219/B 266: „es fr•gt sich nur, wie es [das Objekt] sich (samt allen
seinen Bestimmungen) zum Verstande […] verhalte?“ (meine Hervorhebung).
24 KrV, B 798 (Hervorhebung von mir).

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160 Mario Caimi

Subsumtion so (n•mlich als eine solche Handlung, die sich von der
konstitutiven Handlung des Verstandes unterscheidet) nur dann auffassen,
wenn man den Standpunkt •ndert: wenn man n•mlich den Standpunkt des
Verstandes aufgibt, und den der Urteilskraft annimmt. Der Verstand
konstituiert n•mlich den Gegenstand, indem er ihn durch die Kategorien
synthetisiert. Die Urteilskraft richtet sich auf die „Naturdinge“, um sie als
einzelne F•lle unter den Verstandesbegriff zu subsumieren.

Eine Hypothese bezìglich dessen, was es beim Schematismus


unter die Kategorien zu subsumieren gilt

Das ist es also, was im Schematismus unter die Kategorien subsumiert


werden soll: der gegebene konkrete Gegenstand, der mitsamt seinen
konkreten Besonderheiten gegeben ist. Diese Besonderheiten treten zu der
bloßen Objektivit•tsstruktur hinzu und sind dieser fremd.
Wir haben es hier also nicht mit einer bloßen Erweiterung bzw. Ver-
tiefung der in der Transzendentalen Deduktion schon gelçsten Aufgabe der
Gegenstandskonstitution zu tun; es zeigt sich vielmehr ein Fortschritt zu
etwas Neuem, das in der Deduktion nicht vorweggenommen war: n•mlich
zu den einzelnen Gegenst•nden der Natur, die den Sinnen gegeben werden.
Die Erscheinung (aber nur insofern die Erscheinung Gegenstand ist)
unter die Kategorie zu subsumieren, ist die Aufgabe in der Transzenden-
talen Deduktion. Um die Erscheinung vollst•ndig (n•mlich als etwas
Einzelnes in der Anschauung Gegebenes) zu subsumieren, bedarf es des
Schematismus.
Der gegebene Gegenstand ist es, der zeitliche Eigenschaften besitzt.
Eben durch diese zeitlichen Eigenschaften ist der gegebene Gegenstand
heterogen in Bezug auf die Kategorie. Genau deshalb, n•mlich um diese
Heterogenit•t zu ìberwinden, bedìrfen wir des Schemas.
Sobald die Urteilskraft ins Spiel kommt, befinden wir uns auf einer
neuen Ebene der Transzendentalphilosophie. Diese neue Ebene ist ge-
kennzeichnet durch die önderung des Standpunktes bezìglich der Ge-
genst•nde. Von nun an untersuchen wir nicht mehr die Konstitution des
Gegenstandes, sondern wir nehmen diesen als etwas an, was uns gegen-
ìbertritt, indem es in der Erfahrung gegeben ist.
Die Kategorien werden nunmehr auf Gegenst•nde angewandt, die als
„Naturdinge“ aufgefasst werden. Es geht hier nicht mehr um die An-

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Der Gegenstand, der unter die Kategorien zu subsumieren ist 161

wendung der Kategorien auf Vorstellungen, die allererst zu Gegenst•nden


gemacht werden mìssen.
Jene Anwendung der Kategorien auf Naturdinge ist das, was wir vorhin
als eine „Anwendung zweiter Ordnung“ bezeichnet haben. Ihr Ziel ist es,
die Kategorien als Mittel zur Erkenntnis zu gebrauchen. Sie unterscheidet
sich von der kategorialen Synthesis erster Ordnung, durch die der Gegen-
stand als solcher (d. h. als Gegenstand) konstituiert wird.
Die Gegenst•nde, auf die sich der Schematismus bezieht, zeichnen sich
dadurch aus, dass sie in der Anschauung gegeben sind. Dies bedeutet, dass
sie Eigenschaften aufweisen, deren Ursprung nicht im Verstande, sondern
in der Sinnlichkeit und gar in den Sinnen liegt.
Nachdem die transzendentale Deduktion vollzogen ist, erweist sich
eine besondere Handlung der Urteilskraft, die die Gegenst•nde unter die
Kategorien zu subsumieren h•tte, als ìberflìssig, denn die Gegenst•nde
werden ja erst durch die konstituierende Anwendung der Kategorien zu
Gegenst•nden. Eine solche Handlung ist dagegen notwendig, wenn es
darum geht, nicht bloß Gegenst•nde (d. i. nicht nur das, was in der Er-
scheinung Gegenstand ist), sondern in der Sinnlichkeit wirklich gegebene
Gegenst•nde zu subsumieren. In diesem Fall bezieht sich die Subsumti-
onshandlung nicht nur auf den Gegenstand als solchen, sondern auch auf
die gegebenen Bestimmungen, die nur zuf•lligerweise dem Gegenstand als
solchen angehçren. Solche Bestimmungen dìrfen nicht von der Synthesis
ausgeschlossen bleiben, durch die das Ich sich der Erfahrung bem•chtigt
und sie konstituiert.
Bei der Subsumtion der Erscheinungen unter eine jede Kategorie
mìssen die Besonderheiten der einzelnen Erscheinung berìcksichtigt
werden; dabei darf keine Bestimmung ausgelassen werden. Nur so wird es
mçglich, die Erscheinungen unter eine jede Kategorie zu subsumieren.25
Fìr die Subsumtion solcher besonderen, nicht begrifflichen sondern an-
schaulichen Bestimmungen bedarf es eines besonderen Urteils, das sie an
die betreffende kategoriale Struktur anpasst. Dieses Urteil ist es eben, was
statt findet, wenn z. B. die beharrliche Materie einer r•umlichen Erschei-
nung als Substanz und nicht als Akzidenz bestimmt wird.

25 Auch Dieter Lohmar macht auf die Notwendigkeit aufmerksam, den zu subsu-
mierenden Gegenstand mitsamt seinen besonderen Bestimmungen in Betracht zu
ziehen. Er weist auf KrV A 246 hin: ,,Was das nun aber fìr Dinge sind, in An-
sehung deren man sich dieser Funktion vielmehr, als einer anderen bedienen
mìsse“ (Lohmar, a.a.O., 88).

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Im § 26 der Deduktion wird die Aufgabe gestellt: „durch Kategorien


die Gegenst•nde, die nur immer unseren Sinnen vorkommen mçgen, und
zwar nicht der Form ihrer Anschauung, sondern den Gesetzen ihrer Ver-
bindung nach a priori zu erkennen, also der Natur gleichsam das Gesetz
vorzuschreiben und sie sogar mçglich zu machen“.26 Nun setzt die Ver-
wirklichung dieses Vorhabens voraus, dass man nicht nur die Varianten
und Weisen des Ich Denke beachtet (d. i., dass man nicht nur die ver-
schiedenen Kategorien beachtet), sondern auch die Varianten und Weisen
der Erscheinungen als solcher heranzieht.
Man muss also die Erscheinungen in ihrer tats•chlichen Beschaffenheit
betrachten; sie annehmen, wie sie gegeben sind. Um den Zweck des
Schematismus zu erreichen, dìrfen wir unsere Aufmerksamkeit nicht
ausschließlich auf die kategoriale Struktur richten, durch welche die Er-
scheinungen zu Gegenst•nden gemacht werden.27

Zusammenfassung und Schluss


Mit diesem Erkl•rungsversuch in Bezug auf das, was im Schematismus-
kapitel unter ,Gegenstand‘ zu verstehen ist, haben wir bloß einem Hinweis
Kants Folge geleistet. Der liegt implizit in der Tatsache, dass der Sche-
matismus seinen Platz im Text der „Transscendentalen Doctrin der Ur-
theilskraft“ und nicht in der „Analytik der Begriffe“ hat. Das weist darauf
hin, dass eine önderung des Standpunktes vonnçten ist. Diese önderung
besteht darin, dass wir uns eine Auffassung von ,Gegenstand‘ vor Augen
halten, wie sie in der Urteilskraft (nicht im Verstande) ihren Ort hat. So
wurden wir dazu geleitet, den zu subsumierenden Gegenstand als den
einzelnen, konkreten, in der Anschauung gegebenen Gegenstand aufzu-
fassen. Ich hoffe, dass durch diese Auffassung des zu subsumierenden
Gegenstandes einige der Probleme gelçst werden kçnnen, vor die uns der
Schematismus stellt.

26 KrV, B 159.
27 Im selben Sinne fordert Manfred Kugelstadt auf zu bestimmen, „welche gegebene
Erscheinung jedoch unter welche schematisierte Kategorie zu subsumieren ist“.
Vgl. Kugelstadt, Manfred: Synthetische Reflexion, a.a.O., 14. Eine •hnliche Be-
merkung macht Dieter Lohmar, der das Bestehen eines „Zuordnungs-Problem[s]“
feststellt. Demnach ist zu bestimmen „ob eine ganz bestimmte Anschauung unter
einer ganz bestimmten ,gegebenen Regel‘ […] steht.“ Vgl. Lohmar, a.a.O., 88.

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