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In diesem Kapitel sollen jene Grundlagen erarbeitet werden, die das Pro-
gramm der Theorie der Wahrheit betreffen. Der in der philosophischen
Literatur der Gegenwart so geläufige Titel „Theorie der Wahrheit" ( = TW)
kann keineswegs als ein klarer Titel für eine klare Sache angesehen werden.
Ganz im Gegenteil: es bedarf einer eingehenden kritischen Bestandsauf-
nahme der Fragen, die unter diesem Titel abgehandelt werden, um ihm
einen präzisen und inhaltlichen Sinn zu geben.
Um das Programm der Theorie der Wahrheit zu entwerfen und zu charak-
terisieren, wären sehr viele Fragen und sehr viele Aspekte zu berücksichtigen.
Um nicht ins Programmatisch-Uferlose abzugleiten, soll im folgenden der
Versuch gemacht werden, die wichtigsten Gesichtspunkte auf drei große
Fragenkomplexe einzugrenzen. Zu klären ist erstens, was unter einer Theorie
der Wahrheit zu verstehen ist (1.1). Bei dieser Fragestellung handelt es sich
nicht um die Frage, was unter „Theorie" zu verstehen ist, sondern um die
Frage, was der Gegenstand (Inhalt) oder das Thema der Theorie der Wahrheit
ist. Die Frage nach Sinn und Struktur einer explikativ-definitionalen Theorie
wird im zweiten Kapitel behandelt, handelt es sich doch dabei um ein
Thema, das zu den begrifflich-methodischen Grundlagen gehört. Der zweite große
Fragenkomplex hat kritisch-polemischen Charakter: Es handelt sich um eine
eingehende Auseinandersetzung mit jenen Richtungen der Gegenwartsphi-
losophie, die einer „deflationistischen" Konzeption von Wahrheit das Wort
reden (1.2). Ein dritter Fragenkomplex schließlich betrifft den philosophisch-
systematischen Status der Theorie der Wahrheit: Ist diese Theorie eine
selbständige philosophische Disziplin oder Teil einer anderen philosophi-
schen Disziplin? (1.3). Um das Programm der Theorie der Wahrheit genau
zu umreißen, müßten auch die wichtigsten wahrheitstheoretischen Diskus-
sionspunkte, Ansätze und Konzeptionen seit Tarski skizziert werden; dies
soll aber in einem ANHANG am Ende des Buches geleistet werden. Dem
Leser sei daher die Lektüre dieses ANHANGS als Hinführung zur folgenden
Diskussion empfohlen.
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1.1 Was ist eine „Theorie der Wahrheit"? 15
1
Die Ausdrücke .Bedeutung', .Begriff u. a. sind sehr vage. Hier haben sie eine
rein intuitive Anzeigefunktion. Was mit deren Verwendung anvisiert ist, wird sich
im Laufe der weiteren Ausführungen ergeben.
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16 1 Programmatische Grundlagen
Für die entsprechenden Teil- oder Subtheorien sollen hier die folgenden
Bezeichnungen verwendet werden (eine Erläuterung wird an geeigneter
Stelle gegeben):
1'. Explikativ-definitionale TW
2'. Kriteriologische TW
3'. Evaluativ-extensionale TW
4'. Typologische TW
5' Metaphilosophische/metawissenschaftliche (metalogische, metamathe-
matische) TW 2 .
2 Damit wird das Konzept, das der Verfasser in der Einleitung zu Puntel [1987]
vorgelegt hat, teilweise modifiziert. Was dort als „paradoxologische TW" bezeich-
net und als vierte Subtheorie eingestuft wird, erhält hier die Bezeichnung „eva-
luativ-extensionale TW" und wird als dritte Subtheorie betrachtet. Der Grund für
diese Modifikation dürfte auf der Basis der im Haupttext angestellten Überlegun-
gen leicht einleuchten: Die Wabrbtitsparadoxit ist nur ein Aspekt einer allgemeineren
Problemstellung bzw. Aufgabe.
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1.1 Was ist eine „Theorie der Wahrheit"? 17
[1] Es entspricht einer weit verbreiteten Ansicht, daß man zwischen Begriff
und Kriterium unterscheiden muß. Demnach hat es der Begriff mit der
„Bedeutung" eines Ausdrucks oder dem „Wesen" einer Sache zu tun, wäh-
rend das Kriterium dazu dient, eine (rationale) Entscheidung über Annahme
oder Verwerfung einer den betreffenden Begriff involvierenden Behauptung
herbeizuführen. Sprachlich stellen sich Begriff und Kriterium als Antworten
auf zwei ganz verschiedene Fragen dar: Die natürliche Antwort auf die
Frage „Was heißt X?" ist der Begriff, die auf die Frage „Wie/wodurch/
warum p?" das Kriterium. Es ist nicht verwunderlich, daß diese Unterschei-
dung nicht nur in der ganzen Tradition der Philosophie, sondern auch in
der Gegenwart oft als ein allgemeines Schema für die Behandlung der
Wahrheitsthematik benutzt wird. 3
Mindestens tyvei Gesichtspunkte scheinen den grundsätzlichen Charakter
der Unterscheidung in Frage zu stellen.
[i] Der erste hat es mit dem Status eines „Kriteriums" überhaupt zu tun.
Wenn X Kriterium für Y ist, so muß zwischen X und Y irgendein Verhältnis
bestehen, andernfalls wäre nicht zu verstehen, wie X hinsichtlich Y gerade
jene „Leistung" erbringen können soll, die man ihm zuschreibt und von
ihm erwartet. Aber welcher Art ist dieses Verhältnis? Es scheint, daß je
stärker das Kriterium ist, desto „inniger" seine Verbindung mit der „Sache"
sein muß, für die es ein Kriterium ist. Im höchsten Fall, d. h. im Fall eines
wirklich adäquaten Kriteriums, scheinen Begriff (einer Sache) und Kriterium
nicht mehr unterschieden werden zu können.4 Ist damit die ganze Unter-
scheidung zwischen Begriff und Kriterium hinfallig? Nicht unbedingt! Man
muß nämlich, so scheint es, %wei Arten von Kriterien unterscheiden: innere
und äußere. Die soeben angestellte Überlegung betrifft das innere Kriterium.
Aber nichts hindert uns daran, hinsichtlich jedes Begriffs, jeder Aussage,
jeder Theorie usw. äußere Kriterien ausfindig zu machen. Diese äußeren
Kriterien, wie deren Qualifikation schon sagt, beinhalten nicht jenes Ver-
hältnis mit der Sache, wofür sie Kriterien sind, das im Endeffekt ein
Zusammenfallen von Begriff und Kriterium besagt oder impliziert. Ein
3 Vgl. dazu ζ. B. Rescher [1973] und [1985 b], Davidson [1983], Siegwart [1988],
4 Vgl. Blanshard [1939], bes. Kap. xv und xvi, Puntel [1978] S. 200 ff., Rescher
[1985],
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18 1 Programmatische Grundlagen
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1.1 Was ist eine „Theorie der Wahrheit"? 19
bzw. Beweisverfahren (u. ä.) unterscheiden muß. Ein inneres Verifikations- bzw.
Beweisverfahren kann als die Darstellung der „Sache selbst" aufgefaßt und
vom äußeren dahingehend unterschieden werden, daß ersteres die mehr
„strukturelle" (statische), letzteres mehr die „operationale" Seite in den
Vordergrund stellt. Es handelt sich aber um zwei Seiten ein und derselben
Sache. In diesem Sinne gibt es für eine Sache nur ein Verifikations- bzw.
Beweisverfahren (und natürlich nur einen „Begriff). Dieser Sachverhalt
müßte genau herausgearbeitet und mit Beispielen erläutert werden. Es dürfte
einleuchten, daß der eigentliche „Ort" dieses „inneren" Verfahrens die
Formalwissenschaften sind. Seine Tragweite ist kaum hoch genug einzu-
schätzen.
Man kann aber unter Verifikations- bzw. Beweisverfahren auch ein äußeres
Verfahren verstehen, in dem Sinne, daß es dazu dient, die Berechtigung der
Behauptung einer Aussage, einer These, einer Theorie u. ä. irgendwie ratio-
nal zu gewährleisten, ohne damit als die Darstellung der inneren Struktu-
riertheit der Sache selbst zu gelten. Versteht man so das Verifikations- bzw.
Beweisverfahren, so gibt es hinsichtlich einer Sache im Prinzip mehr als nur
ein Verifikations- bzw. Beweisverfahren. Und dann ist es offenkundig, daß
zwischen „Begriff" und (äußerer) Verifizierbarkeit/Beweisbarkeit zu unter-
scheiden ist.
Die Konsequenz für die anstehende Problemstellung dürfte klar sein:
Versteht man Kriterium als Verifizierbarkeit/Beweisbarkeit im erläuterten
inneren Sinn, so unterscheidet es sich nicht vom Begriff, „Explikation" bzw.
„Definition" des (inneren) Kriteriums und des betreffenden Begriffs fallen
zusammen. Versteht man aber Kriterium im äußeren Sinne, so handelt es sich
nicht um eine explikativ-definitionale Thematik.
(b) Eine zweite Unterscheidung erweist sich als von nicht geringerer Bedeu-
tung, nämlich die Unterscheidung zwischen prinzipiell möglichem oder ideali-
siertem und konkret möglichem oder wirklich verfügbarem (innerem oder äußerem)
Verifikations- bzw. Beweisverfahren. Man kann in diesem Kontext den
Begriff des „prinzipiell möglichen oder idealisierten Verifikations- oder
Beweisverfahrens" so bestimmen: Ein Verfahren ist als prinzipiell möglich
zu betrachten, solange dessen Unmöglichkeit nicht bewiesen ist. Auf letzteren
Begriff ist gleich einzugehen. Die hier gemeinte prinzipielle (idealisierte)
Möglichkeit ist also nicht ausgeschlossen durch Gründe der Begrenztheit
unserer Leistungsfähigkeit, sei es im „menschlichen" sei es im technischen
oder wie immer gearteten Bereich, auch wenn dieser Begrenztheit ein
prinzipieller Charakter zugeschrieben werden muß (prinzipielle Endlichkeit
aller unserer Unternehmungen).
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20 1 Programmatische Grundlagen
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1.1 Was ist eine „Theorie der Wahrheit"? 21
sequenz hat. Wie immer also eine Antwort auf die Frage, ob es überhaupt
sinnvoll oder möglich ist, auch (im erläuterten Sinne) prinzipiell unent-
scheidbaren Sätzen einen Wahrheitswert zuzuerkennen, ausfallen mag, muß
gesagt werden, daß eine solche Antwort nicht über das Schicksal der
Differenz zwischen den beiden genannten Subtheorien entscheiden wird. Sie
ist allerdings von Bedeutung für die konkrete Gestalt(ung) der beiden Sub-
theorien.
Dennoch sei hier — mit aller Vorsicht — zumindest eine Überlegung im
Hinblick auf eine mögliche Antwort auf die genannte Frage mitgeteilt. Der
Begriff der bewiesenen Unmöglichkeit einer Verifi^terharkeitjBeweisbarkeit müßte,
wie es scheint, weiter differenziert werden. Welcher Art ist der angespro-
chene Beweis der Unmöglichkeit einer Verifizierbarkeit/Beweisbarkeit? Es
scheint, daß man zwei Arten eines solchen Beweises unterscheiden muß: eine
beschränkte und eine unbeschränkte wahrheitsqualifizierende Prozedur. Was mit
der ersten gemeint ist, dürfte leicht einleuchten: danach wird ein solcher
Beweis unter ganz bestimmten (beschränkten) Voraussetzungen geführt,
etwa daß ein Satz eines (formalen) Systems mit den Ausdrucksmitteln dieses
Systems prinzipiell nicht entscheidbar ist; oder es werden ganz bestimmte
technische Beweismittel (ζ. B. die sog. Gödelzahl) angewendet, ohne die der
Beweis nicht durchführbar wäre u. a. m. Die Frage ist, welcher Stellenwert
einem so konzipierten Beweis zuerkannt werden sollte. Da es sich hier um
eine prinzipielle Charakterisierung handelt, werden absichtlich keine kon-
kreten Beispiele (etwa Gödels berühmtes Unvollständigkeitstheorem) erör-
tert; dies wäre nur dann sinnvoll und angebracht, wenn die Möglichkeit
bestünde, solche Beispiele genau zu interpretieren — was in diesem Rahmen
ausgeschlossen ist.
Die ^weite Art eines Beweises der oben genannten prinzipiellen Unmög-
lichkeit wäre eine solche, die frei von beschränkten Voraussetzungen, nur für
bestimmte Gebiete sinnvollen technischen Mitteln u. dgl. wäre. Ist eine
solche Beweisart überhaupt konzipierbar? Die Frage soll hier offen gelassen
werden. So irreal und spekulativ sie allerdings auch sein mag, sie ist nicht
nur wichtig, sondern von ausschlaggebender Bedeutung, wenn es sich darum
handelt, eine prinzipielle Antwort auf die allgemeine Frage zu geben, ob
„Wahr(heit)" überhaupt sinnvollerweise Sätzen6 zugeschrieben werden kann,
hinsichtlich deren der Beweis der Unmöglichkeit einer Verifizierbarkeit/
Beweisbarkeit geführt wird (oder werden kann). Im Lichte der angestellten
6
Entsprechendes gilt von Propositionen und kognitiven Instanzen (vgl. Kap. 4).
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22 1 Programmatische Grundlagen
Überlegungen scheint die Antwort zu sein: Wenn der Beweis der genannten
Unmöglichkeit ein beschränkter Beweis (im angegebenen Sinne) ist, so ist
nicht zu sehen, warum die Zuschreibung von ,,Wahr(heit)" zu den betref-
fenden Sätzen nicht sinnvoll, möglich, ja unabdingbar ist; denn ein Beweis
der genannten (beschränkten) Art kann nicht als mit Wahrheit schlechthin
deckungsgleich betrachtet werden. Handelt es sich allerdings um die unbe-
schränkte Art eines Beweises der in Frage stehenden Unmöglichkeit, so hätte
es keinen Sinn mehr, den in dieser imbeschränkten Weise als unentscheidbar
bewiesenen Sätzen noch ,,Wahr(heit)" zuzuschreiben. Es ist nämlich anzuneh-
men, daß ein solcher Beweis der unbeschränkten Art ein Beweis im Sinne
des oben erläuterten inneren Kriteriums wäre; er würde dann in nichts ande-
rem bestehen als in einer — in der Gestalt eines Beweises durchgeführ-
ten — „Explizitmachung" des „Begriffs der Wahrheit" für den einschlägigen
Satz.
Es ist zu betonen, daß es sich hier um rein tentativ-spekulative Überle-
gungen handelt. Immerhin ist damit ein wichtiger regulativer Rahmen für die
in diesem Buch in Angriff genommene Aufgabe geschaffen worden. Es hat
sich nämlich gezeigt, daß zwischen Begriff und Kriterium der Wahrheit
zumindest aus dem Grunde zu unterscheiden ist, weil es äußere Kriterien
gibt, die in jedem Fall nicht mit dem Begriff der Wahrheit identifiziert
werden können. Aber es wurde auch klar, daß diese Unterscheidung im
Falle eines inneren Kriteriums abzulehnen ist. Dies hat sehr wichtige Kon-
sequenzen für eine explikativ-definitionale Theorie der Wahrheit.
[2] Damit ist das erste Abgrenzungsproblem, dem die erste — die expli-
kativ-definitionale — Subtheorie der Wahrheit begegnet, geklärt: Die kri-
teriale (Sub-) Theorie der Wahrheit befaßt sich mit dem äußeren Kriterium
(bzw. den äußeren Kriterien) für Wahrheit. Es gibt aber ein %weites Abgren-
sytngsproblem, nicht minder schwierig und nicht minder wichtig, ja in gewisser
Hinsicht von noch größerer Aktualität als das soeben erörterte erste. Ge-
meint ist die Frage, ob, und wenn ja, wie, zwischen der explikativ-definitio-
nalen und der — wie sie in diesem Buch genannt wird — evaluativ-extensionalen
Subtheorie der Wahrheit zu unterscheiden ist. Die Klärung dieser Frage hat,
wie sich noch zeigen wird, bedeutende Konsequenzen hinsichtlich der in
der Gegenwartsphilosophie so intensiv behandelten wahrbeitstheoretischen The-
matik.
Was ist mit „evaluative Extensionalität" gemeint? Von der Tradition der
Philosophie und der Logik her ist die intuitiv sehr einleuchtende Unter-
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1.1 Was ist eine „Theorie der Wahrheit"? 23
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24 1 Programmatische Grundlagen
oder
Damit tut sich ein ungemein verwickeltes Problemfeld auf. Wie wichtig
dieser Problembereich für die Gegenwartsphilosophie geworden ist, kann
daran ersehen werden, daß der Ausdruck .Theorie der Wahrheit' heute
meistens als Bezeichnung einer Theorie gebraucht wird, die eine Lösung
der mit der evaluativen Extensionalität hinsichtlich des Ausdrucks/Begriffs
„Wahr(heit)" gegebenen Probleme präsentiert. Die so verstandene „Theorie
der Wahrheit" stellt sich als ein logisch-syntaktisch-semantisches System dar,
in dem — in welcher Weise und aufgrund welcher Kriterien oder Annahmen
auch immer — die genannten Probleme angeblich eine Lösung finden. Man
kann diese Theorie der Wahrheit eine evaluativ-extensionale Theorie der Wahrheit
nennen. 8
Fragt man nun, was gemäß einer solchen Theorie „Wahr(heit)" eigentlich
bedeutet, so ist die Antwort darauf merkwürdig vage und nichtssagend.
Entweder fragt eine so verstandene Theorie überhaupt nicht danach, sondern
befaßt sich von Anfang an explizit nur mit dem Phänomen der Wahrheits-
paradoxie, oder es werden einige wenigsagende und keineswegs überzeu-
gende allgemeine Bemerkungen gemacht oder es wird kurzerhand implizit
oder explizit unterstellt, Tarskis berühmte „Wahrheitskonvention", auf die
gleich Bezug zu nehmen sein wird, gebe die grundsätzliche Bedeutung von
„Wahr(heit)" wieder.
Hier geschieht folgendes: Eine Bedeutung (im Sinne von: Intension) von
„Wahr(heit)" wird in der einen oder anderen Weise vorausgesetzt und erst
auf dieser Basis oder unter dieser Voraussetzung wird versucht, die mit der
7
Daß man nicht nur selbstreferentielle Sätze, sondern auch selbstreferentielle Pro-
positionen anerkennen kann, ja muß, wird von Barwise/Etchemendy [1987] ge-
zeigt.
8
Man könnte auch von „Logik der Wahrheit" sprechen. Vgl. zu dieser Bezeichnung
den Titel eines Aufsatzes von M. Kremer „Kripke and the Logic of Truth" (Kremer
[1988]).
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1.1 Was ist eine „Theorie der Wahrheit"? 25
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26 1 Programmatische Grundlagen
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1.1 Was ist eine „Theorie der Wahrheit"? 27
Wie Tarski an anderer Stelle hervorhebt, ist die „allgemeine Definition" von
Wahrheit „in einem gewissen Sinne die logische Konjunktion all dieser
partiellen Definitionen".12
Was in diesem Buch explikativ-definitionale TW genannt wird, ist im Sinne
einer solchen partiellen Definition zu verstehen. Es ist zu bemerken, daß
„partiell" hier nicht besagt, es fehle der Definition ein „intensionales" Teil-
definiens, sondern nur, daß die ganze Extensionalität des „intensionalen"
Definiens nicht herausgearbeitet wird. Nimmt man die beiden erörterten
Gesichtspunkte zusammen, so erweist es sich als berechtigt und angebracht,
in der angegebenen Weise zwischen der explikativ-definitionalen und der
evaluativ-extensionalen Subtheorie der Wahrheit zu unterscheiden.
[1] Daß es verschiedene Typen von Wahrheit gibt, dürfte kaum zu bestreiten
sein. Ausdrücke wie .logische', »empirische', .notwendige', .apriorische' usw.
Wahrheit gehören zum festen Vokabular jeder einigermaßen entwickelten
Philosophie. Diese Thematik ist daher offensichtlich als Teil einer umfassen-
den Theorie der Wahrheit zu betrachten und es dürfte einleuchten, daß die
Bezeichnung „typologische TW" eine passende Bezeichnung ist. Es ist
hinzuzufügen, daß neben der evaluativ-extensionalen gerade diese typolo-
gische Wahrheitsthematik besonders intensiv im Rahmen der Gegenwarts-
philosophie behandelt wird.
Zur näheren Charakterisierung ist es erforderlich, einen doppelten Wabr-
heitstypus zu unterscheiden: einen formalen und einen materialen. Zum formalen
Typus gehören Wahrheiten mit dis^iplinübergreifendem Charakter, d. h. Wahr-
heiten, die in mehr als einer Disziplin (gegebenenfalls in mehr als einer
Gruppe von homogenen Disziplinen) vorkommen (können). Beispiele sind
leicht zu finden, etwa: notwendige — kontingente Wahrheit; apriorische —
aposteriorische Wahrheit; analytische — synthetische Wahrheit usw. Dem
materialen Typus zuzurechnen sind die Wahrheiten mit dis^iplingebundenem
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28 1 Programmatische Grundlagen
Charakter also die Wahrheiten, die nur für eine Disziplin (gegebenenfalls
für eine Gruppe von homogenen Disziplinen) oder — in einer eher objek-
tiven Perspektive — für einen Bereich spezifisch sind. Auch hier sind
Beispiele leicht anzuführen, etwa: logische Wahrheit, mathematische Wahr-
heit, philosophische Wahrheit, empirisch-wissenschaftliche Wahrheit ( = em-
pirische Wahrheit, wenn man „empirisch" mit „empirisch-wissenschaftlich"
identifiziert), theologische Wahrheit u. ä. Freilich ist es in einigen (mögli-
cherweise vielen) Fällen nicht leicht, vielleicht gar nicht möglich, eine genaue
Grenze zwischen den beiden Typen zu ziehen, solange nicht der genaue Status
der betreffenden Disziplin herausgearbeitet und charakterisiert wird. 13
Sind mit der Nennung der fünf beschriebenen Themenbereiche alle Fragen
und Gesichtspunkte erfaßt, die in der einen oder anderen Weise die Thematik
der Wahrheit betreffen? Dies kann nicht gesagt werden, denn es ist ein
Faktum, daß von „Wahrheit" in vielen weiteren Zusammenhängen die Rede
13 Wie zentral solche Probleme in der Gegenwart sind, kann man schon aus Titeln
von philosophischen Publikationen entnehmen. Ein Beispiel: „Logical and Analytic
Truths That Are Not Necessary" (Zalta [1988]). Übrigens illustriert diese Über-
schrift die im Haupttext vorgenommene Unterscheidung zwischen formalem und
materialem Wahrheitstypus.
14 Vgl. dazu Puntel [1987 a],
15 Frege, „Logik (1897)" in Frege [1983] S. 139.
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1.2 Möglichkeit und Unverzichtbarkeit einer Theorie der Wahrheit 29
ist. So etwa wird nur allzuoft von der Geschichte der Wahrheit16, von der
existentiellen, politischen usw. Bedeutung von Wahrheit, von der Pflicht, von
der Erziehung usw. zur Wahrheit u. v. a. m. gesprochen. So wichtig solche
Gesichtspunkte im Einzelfall und in bestimmten Kontexten auch sein mögen,
so sind sie doch im Hinblick auf eine philosophische Theorie der Wahrheit als
äußere Gesichtspunkte einzuschätzen. Sie sind nämlich als Inbeziehungset-
zungen von Wahrheit zu bestimmten Bereichen zu sehen und zu verstehen.
In diesem Sinne gibt es soviele solche Gesichtspunkte wie Bezugspunkte
für Wahrheit ausfindig gemacht werden können, d.h. im Prinzip endlos
viele. Wollte man sie alle berücksichtigen, so wäre eine Theorie der Wahrheit
mit einem totalen System gleichzusetzen, wodurch sie allerdings dann ihren
bestimmten und klaren Status verlöre.
Wie deutlich geworden sein dürfte, stellt das kurz beschriebene Programm
der umfassenden Theorie der Wahrheit immer noch eine gewaltige Aufgabe
und Herausforderung dar. Es entspricht der Überzeugung des Verfassers
des vorliegenden Buches, daß eine solche Aufgabe nur langsam und schritt-
weise in Angriff genommen werden kann. Hier sollen nur die Grundlagen
für die erste Subtheorie erarbeitet werden. Freilich ist anzufügen, daß diese
Subtheorie die fundamentale und damit die wichtigste ist.
Wie aus den Ausführungen im Abschnitt 1.1 hervorgeht, stellt die explikativ-
definitionale Theorie der Wahrheit das zentrale Stück der umfassenden
Theorie der Wahrheit dar. Doch eine solche Aussage kann heute nicht als
apriori unkontrovers bezeichnet werden. Es gibt eine Richtung innerhalb
der heutigen Philosophie, die die in dieser Aussage enthaltene Voraussetzung
bestreitet, die Voraussetzung nämlich, daß eine explikativ-definitionale Theo-
rie der Wahrheit überhaupt sinnvoll, geschweige denn unverzichtbar ist.
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30 1 Programmatische Grundlagen
Daß eine solche Theorie sinnvoll und unverzichtbar ist, hat seinerseits zur
Voraussetzung, daß sie überhaupt einen eindeutigen, spezifischen, positiv
angebbaren und behandelbaren „thematischen Gegenstand" hat. Diese dop-
pelte Voraussetzung wird heute in zunehmendem Maß in Frage gestellt. Die
von einigen Philosophen daraus gezogene Konsequenz lautet: auf eine
explikativ-definitionale Theorie der Wahrheit kann, ja muß verzichtet wer-
den. Diese Version der Verzichtbarkeitsthese kann man die starke Version
nennen, da sie die Forderung der Verzichtbarkeit ganz konsequent auf den
(angeblichen) Umstand zurückführt, daß die explikativ-definitionale Theorie
keine eigene, spezifische Aufgabe hat.
Die Verzichtbarkeitsthese tritt auch in einer Version auf, die man die
schwache Version nennen könnte. Diese Version bestreitet nicht, daß es einen
spezifischen thematischen Gegenstand gibt, mit dem sich die explikativ-
definitionale Theorie befaßt, erklärt aber diesen Bereich (also den „Begriff
der Wahrheit bzw. dessen Expücans/Definiens) dennoch für verzichtbar im
Bereich der Philosophie, der Wissenschaftstheorie, der Wissenschaften und
sogar des Lebens. Die „Wahrheitsfrage" wird als eine entweder antiquierte
oder als eine unlösbare oder als eine für die Entwicklung und Gestaltung
des theoretischen und praktischen Wissens irrelevante, in jedem Fall als eine
nicht sinnvolle Frage betrachtet, auf deren Behandlung also Verzicht geleistet
werden kann, ja muß.
In diesem Abschnitt soll nur die starke Version der Verzichtbarkeitsthese
erörtert werden. Diese Entscheidung findet ihre Begründung in dem Um-
stand, daß letztendlich nur die starke Version einen wirklich ernstzuneh-
menden Einwand gegen die explikativ-definitionale Theorie der Wahrheit
darstellt. Wird die schwache Version uneingeschränkt vertreten, wird also
behauptet, daß. der Wahrheitsbegriff etwa in allen Fächern oder Disziplinen
verzichtbar ist, so erscheint sie als äußerst unplausibel. Wie kann etwa eine
Logik ohne den Wahrheitsbegriff überhaupt konstruiert werden? Es ist
schwer einzusehen, wie man noch von Logik in unserem (eingebürgerten)
Sinne sprechen könnte. Wie dem auch sei, die schwache Version der Ver-
zichtbarkeitsthese gehört eindeutig in den Bereich des fünften Teils einer
allgemeinen, umfassenden Theorie der Wahrheit, also in den Bereich der
Problematik des Stellenwerts von „Wahrheit" in der Philosophie, in den
Wissenschaften und im Leben.1
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1.2 Möglichkeit und Unverzichtbarkeit einer Theorie der Wahrheit 31
[1] .Deflationismus' kann als die vielleicht allgemeinste Bezeichnung für die
verschiedenen Formen der starken Version der Verzichtbarkeitsthese ange-
sehen werden.2 Es kann im Rahmen dieses Buches nicht darum zu tun sein,
alle diese Formen vollständig darzustellen, zu charakterisieren und zu kri-
tisieren. Da die Diskussion in vollem Gang ist, könnte eine solche Aufgabe
in jedem Fall nur in einem sehr provisorischen Sinne in Angriff genommen
werden. Hier geht es vielmehr darum, die Argumente, auf die sich einige
der markantesten Formen der Verzichtbarkeitsthese stützen, einer kritischen
Prüfung zu unterziehen. In einer Hinsicht liegt die argumentative Last beim
Vertreter einer „substantiellen" Theorie der Wahrheit, behauptet er doch,
daß „Wahrheit" einen eigenen (substantiellen) Begriffsgehalt hat. Anderer-
seits kann der Verfechter der Verzichtbarkeitsthese (in ihrer starken Version)
nicht von jeder Beweislast befreit werden, steht doch seine These, die
explikativ-definitionale Theorie habe keinen eindeutigen, positiv angebba-
ren, thematischen Gegenstand, in schroffem Gegensatz zumindest zum in-
tuitiven Wahrheitsverständnis und zu einer bedeutenden Tradition der Theo-
rie^) der Wahrheit. Im Endeffekt muß sich der Verfechter einer explikativ-
definitionalen Theorie darum bemühen, sowohl positive Argumente vor-
zulegen als auch sich mit den „deflationistischen" Argumenten der Gegen-
seite auseinanderzusetzen.
Was ist unter „wahrheitstheoretischer Deflationismus" zu verstehen? Es
handelt sich um eine Tendenz, die nur allgemein charakterisiert werden
kann. Der bekannte Wahrheitstheoretiker H. Field schreibt in einer aus-
führlichen Abhandlung über dieses Thema:
„I take it to be the core of Neurath's and Ayer's view...that the answer is
that it [the correspondence theory] serves no useful purpose at all, and hence
that theorizing about correspondence truth is pointless at best. Any view
that adheres to this position while at the same time (contrary to Neurath)
preserving a use for the word .true* will be called a deflationary conception
of truth."3
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32 1 Programmatische Grundlagen
schreibt er:
„Quotation marks make all the difference between talking about words and
talking about snow. The quotation is a name of a sentence that contains a
name, namely .snow', of snow. By calling the sentence true, we call snow
white. The truth predicate is a device of disquotation."6
4 Vgl. Field [1986] S. 60 ff. Diese Deutung wird bestätigt durch ein postumes Werk
F. P. Ramseys mit dem Titel On Truth (vgl. Ramsey [1989]).
5 Eine ausgezeichnete und leider nicht sehr beachtete Behandlung dieser Fragen
findet sich in Heidelberger [1968].
6 Quine [1970] S. 12.
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1.2 Möglichkeit und Unverzichtbarkeit einer Theorie der Wahrheit 33
Das Merkmal (b) wird folgendermaßen erläutert und illustriert: der Satz
(c,) wenn Sprecher das Wort ,weiß* abweichend von der gewöhnlichen
Praxis verwenden würden, könnte ,Gras ist weiß' ein wahrer Satz sein
7
Vgl. a. a. O. S. 12 f.
8
Vgl. Tarski [1969] S. 64.
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34 1 Programmatische Grundlagen
(c2) wenn Sprecher das Wort .weiß' abweichend von der gewöhnlichen
Praxis verwenden würden, könnte Gras weiß sein.'
[3] Aber wenn dem so ist, hat es überhaupt einen Sinn, an der Verwendung
des dann „leeren" Wortes .Wahrheit' festzuhalten? Hier wird von den (mei-
sten) Disquotationstheoretikern auf die Nützlichkeit des Prädikats
.Wahr(heit)' hingewiesen, indem dieses als eine geschickte Prozedur erklärt
wird. Quine nennt diese Prozedur „semantischen Aufstieg" 10 . S. Soames
erklärt ihre wahrheitstheoretische Relevanz in seht klarer Weise.11 Dies
kommt besonders dann deutlich zum Ausdruck, wenn man eine Verallge-
meinerung vornehmen möchte oder gar genötigt ist, eine solche vorzuneh-
men. Ein logisches Beispiel: Wir sind geneigt, eine Verallgemeinerung des
folgenden Formzusammenhangs zu akzeptieren:
(3) a. Schnee ist weiß —» (Gras ist blau —• Schnee ist weiß)
b. Die Erde bewegt sich —• (die Sonne ist kalt —• die Erde bewegt sich)
Angenommen nun, wir wollen alle Sätze dieser Form behaupten, so zeigt
sich, daß dies nur möglich ist, wenn wir eine Quantifikation vornehmen,
was voraussetzt, daß die Sätze durch Variablen repräsentiert werden. Die
Quantifikation mit Satzvariablen stellt allerdings ein sehr schwieriges Pro-
blem dar. 12 Wenn diese Quantifikation doch vorgenommen wird, so wird
9
Field [1986] S. 58. Zur Problematik des Begriffs der unendlichen Konjunktion
vgl. Kripke [1976] S. 335.
10
Vgl. Quine [1970] S. 10 f.
11
Vgl. Soames [1984] bes. S. 258 ff. Vgl. auch Field [1986] S. 57 ff. Es ist anzufügen,
daß Soames selbst kein Deflationist ist. In einer anderen Arbeit definiert er die
Wahrheit der (singulären) Proposition relativ zu einem „Umstand" (in anderer
Terminologie: relativ zu einer „(möglichen) Welt") folgendermaßen:
Eine Proposition <<0i,...,0n>, P*> ist wahr relativ zum Umstand Ε genau dann,
wenn die Extension von P* in Ε <oi,...,on> enthält.
<<oi,...,o„X P*> ist die durch den Satz ,Pti,...t„' relativ zu einem Kontext C und
einer Zuordnung f ausgedrückte Proposition, wobei P* die durch das Prädikat Ρ
ausgedrückte Eigenschaft und Oi der semantische Gehalt von t, relativ zu C und f
ist (vgl. Soames [1987] S. 72 ff. und unten ANHANG 6.2.4 [3]).
12
Vgl. unten Abschnitt 3.5.3.1.2.
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1.2 Möglichkeit und Unverzichtbarkeit einer Theorie der Wahrheit 35
sie, wie bei Soames, „am einfachsten — wenn auch nicht unumgänglicher-
weise — als objektuale Quantifikation 1. Stufe konstruiert"13. Dieser Kon-
struktion zufolge laufen die Variablen über Sätze, d. h. ihnen werden Sätze
als Werte zugeordnet; sie sind daher Platzhalter für Namen fur Sätze. Dies
führt dazu, daß ein metasprachliches Prädikat benötigt wird, soll die Quan-
tifikation überhaupt vonstatten gehen. Die Autoren, die „Wahr(heit)" im
Sinne der erläuterten Prozedur verstehen, finden ziemlich problemlos das
benötigte metasprachliche Prädikat im Wahrheitsprädikat. Der „semantische
Aufstieg" erzeugt nach diesen Autoren folgende Quantifikation:
(4) Für alle Sätze p, q ( p ist wahr —* (q ist wahr —• p ist wahr)).
S. Soames bringt auch ein philosophisches Beispiel. Nehmen wir an, daß
der Philosoph, der den Satz (5) behauptet, als Vertreter des Realismus
anzusehen ist:
(5) Es gibt in irgendeiner Region des Weltraumes ein Duplikat unserer Sonne,
aber wir werden für dessen Existenz niemals (hinreichende) empirische
Belege finden.
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36 1 Programmatische Grundlagen
oder
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1.2 Möglichkeit und Unverzichtbarkeit einer Theorie der Wahrheit 37
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38 1 Programmatische Grundlagen
18 Wie in der Einleitung vermerkt wurde, sollen die Ausdrücke .Proposition' und
.Sachverhalt' bis auf weiteres als synonyme Ausdrücke betrachtet werden. Dies ist
eine rein terminologische (vorläufige) Festlegung.
19 Tractatus 1.1. (Wittgenstein [1969] S. 11).
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1.2 Möglichkeit und Unverzichtbarkeit einer Theorie der Wahrheit 39
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40 1 Programmatische Grundlagen
würde daraus nicht folgen, daß man den Ausdruck ,Wahr(heit)' für die
Bezeichnung bestimmter Zusammenhänge nicht heranziehen darf; würde
man diesen Ausdruck einführen, so würde man ihm nämlich — mehr im
Sinne einer „festsetzenden" (stipulativen) Definition — einen bestimmten
begrifflichen Inhalt geben. Man muß sehen, daß These (a) eine These über
das Verhältnis zwischen dem umgangssprachlichen Ausdruck ,Wahr(heit)' und
einem ganz bestimmten begrifflichen Inhalt besagt. Die These leugnet, daß
es ein solches Verhältnis überhaupt gibt. Abgesehen davon, daß aus (a) nicht
die Konsequenz gezogen werden kann, die der Deflationist zieht, muß noch
gesagt werden, daß der Deflationist (a) — gemäß der eben gegebenen
Erklärung — nur dann begründeterweise behaupten könnte, wenn er eine
Theorie über das Verhältnis zwischen „umgangssprachlicher Bedeutung"
(wie immer man „Bedeutung" verstehen mag) und (für theoretische Zwecke)
„rekonstruierter Bedeutung" entwickeln würde.
Versteht der Deflationist seine These im Sinne von (b'), so ist daran genau
dieselbe Art von Kritik zu üben, die an die Adresse von (a) gerichtet wurde.
Dies sei noch präzisiert. Entscheidend für eine Theorie der Wahrheit ist die
Frage, welcher „begriffliche Inhalt" dem Ausdruck ,Wahr(heit)' gegeben
oder welcher „Zusammenhang" durch diesen Ausdruck bezeichnet werden
soll. Nicht ausschlaggebend ist die Frage, ob der Ausdruck ,Wahr(heit)'
diesen begrifflichen Inhalt auch in der Umgangssprache (oder in der natürli-
chen oder realen Sprache) hat bzw. ob er einen „substantiellen Zusammen-
hang" auch in dieser Sprache bezeichnet. Wenn eine Theorie der Wahrheit
ein bestimmtes Verhältnis zwischen Wahrheitsdefinition und Verwendung
des Ausdrucks ,Wahr(heit)' in der „realen" oder „natürlichen" Sprache
behauptet, so handelt es sich um eine ganz bestimmte Theorie der Wahrheit.
Einzig entscheidend ist die Frage, ob ein „substantieller Zusammenhang"
aufgezeigt werden kann, den man dann mit dem Ausdruck .Wahrheit'
bezeichnen kann oder gegebenenfalls will. Sollte sich herausstellen — was
schwer vorstellbar ist —, daß dieser Ausdruck auf einen oder den aufge-
zeigten „substantiellen Zusammenhang" — aus welchen Gründen auch
immer — nicht anwendbar ist, so wäre zu sagen, daß man für diesen Zweck
eben einen neuen Ausdruck erfinden müßte.
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1.2 Möglichkeit und Unverzichtbarkeit einer Theorie der Wahrheit 41
artikuliert werden, und zwar in zwei Schritten: der erste Schritt hat vorbe-
reitend-illustrativen Charakter, der zweite stellt die entscheidende Argumen-
tation dar. Die nachfolgenden Ausführungen haben einen sehr komplexen
Charakter, insofern sie teils Argumentationen ad bominem und teils Aspekte
der im einzelnen erst in den nachfolgenden Kapiteln zu entwickelnden
wahrheitstheoretischen Konzeption enthalten; insofern sind sie in vielfacher
Hinsicht unbefriedigend. Sie verfolgen nur den Zweck, den Nachweis zu
führen, daß eine deflationistische Position im Hinblick auf die Theorie der
Wahrheit nicht haltbar ist.
(Dabei wird ,x* durch den Namen einer Aussage der Objektsprache und ,p'
durch eine Aussage ersetzt, die eine Übersetzung von ,x' in die Metasprache
darstellt.)
Zu diesen entscheidenden Schritten ist zu bemerken, daß erstens (8) als
eine treffende und gutgelungene Charakterisierung von zumindst einigen
zentralen Aspekten des „intuitiven Wahrheitsverständnisses" angesehen wer-
den muß,22 daß aber zweitens (9) in keiner Weise als eine adäquate (Teil-)
Formalisierung der in (8) artikulierten informellen Charakterisierung des
Wahrheitsverständnisses betrachtet werden kann, und zwar in mindestens
zweifacher Hinsicht bzw. aus mindestens %n>ei Gründen: (i) Das „Wahrheits-
schema" (9) läßt völlig unanalysiert und damit unbeachtet, was in (8) das
„Sichverhalten der Sachen" treffend genannt wird, (ii) Das „Wahrheits-
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42 1 Programmatische Grundlagen
schema" (9) thematisiert und erklärt überhaupt nicht die entscheidende Rolle,
die das unscheinbare Wörtchen .eben' in (8) spielt. Auf diesen zweiten Punkt
ist im gegenwärtigen Diskussionszusammenhang besonders einzugehen.
Ohne die explizite Nennung des im Wörtchen ,eben' zum Ausdruck
kommenden Gesichtspunktes wäre der Status des rechts von der Äquiva-
lenzformulierung stehenden Satzes völlig unbestimmt. Wie zu sehen sein
wird, ist dieser Punkt schlechterdings entscheidend. In der informellen
Formulierung ist der genannte Status explizit angegeben; aber die
(teil-)formalisierte Formulierung läßt diesen entscheidenden Gesichtspunkt
bezüglich der Bestimmtheit des Status der rechten Seite der Äquivalenzaus-
sage völlig im Dunkel, unexplizit. Es wird sich zeigen, daß dieser Umstand
das proton pseudos der ganzen im Gefolge Tarskis entwickelten Theorie(n)
der Wahrheit und geführten wahrheitstheoretischen Diskussionen ist.
Es ist außerordentlich aufschlußreich zu bemerken, daß Tarski selbst
diesen Punkt in gewisser Weise gesehen, dessen reale Bedeutung und Trag-
weite aber deutlich mißverstanden hat. An einer Stelle seiner zweiten wahr-
heitstheoretischen Arbeit23 befaßt er sich mit folgendem von F. Gonseth24
erhobenen Einwand gegen die semantische Theorie der Wahrheit: Diese
Theorie sei abzulehnen, weil sie einen „gänzlich unkritischen" Realismus
vertrete; in der Tat, so Gonseth, müsse man sagen: „Der Satz ,Der Schnee
ist weiß* muß fur semantisch wahr gehalten werden, wenn der Schnee
tatsächlich [en fait] weiß ist."25 Tarskis Antwort reduziert sich im wesent-
lichen auf die Feststellung, daß der Ausdruck ,in fact' (so gibt er im
Englischen das französische ,en fait* wieder26) ohne irgendwelche Konse-
quenzen weggelassen werden kann. Diese Behauptung erläutert und be-
gründet er folgendermaßen: Der Ausdruck ,in fact' erweckt den Anschein,
daß das Wahrheitsschema (9) einem erkenntnistbeoretiscben Faktor Rechnung
tragen will, also der Frage, unter welchen Bedingungen wir berechtigt sind,
eine Aussage zu behaupten. Das sei aber nicht die Absicht bzw. die Aufgabe
des Schemas (9) (und damit auch nicht der Formulierung (8)). Man könnte
den von Tarski genannten Gesichtspunkt in der Terminologie des vorlie-
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1.2 Möglichkeit und Unverzichtbarkeit einer Theorie der Wahrheit 43
Was heißt hier „Originalfassung"? Es ist sicher, daß Tarski Bezug nimmt
auf das Beispiel „ ,Es schneit' ist eine wahre Aussage dann und nur dann,
wenn es schneit", das er schon in seiner Dissertation Der Wahrheitsbegriff in
den formalisierten Sprachen benutzt, um sein berühmtes Wahrheitsschema: „x
ist dine wahre Aussage dann und nur dann, wenn p" zu illustrieren. In dieser
ursprünglichen Formulierung kommt ,in der Tat' (,in fact', ,eben', .tatsäch-
lich') in der Tat nicht vor. Aber Tarskis Bemerkung ist irreführend, denn sie
läßt den fundamentalen Sachverhalt außer acht, daß ihm selbst zufolge die
Aufgabe des Wahrheitsschemas und damit auch des es illustrierenden Beispiels
darin besteht, die Intention der Charakterisierung des allgemein intuitiven
Wahrheitsverständnisses (nämlich (8)) zu präzisieren und ihr eine korrekte
Form zu geben. 28 Aber in der Formulierung (8) kommt das Wort ,eben' an
entscheidender Stelle vor, wie gleich zu zeigen sein wird. 29 Tarskis Fehler
besteht darin, daß er es versäumt, das in diesem entscheidenden Wort
artikulierte intuitive begriffliche Potential in die — seiner Ansicht nach —
präzisierte und korrekte Formulierung (9), d. h. in das Wahrheitsschema,
einzubeziehen. Bedenkt man, daß, wie unter 1.1 gezeigt, konkrete Instanzen
des Wahrheitsschemas von Tarski als vollständige und adäquate Definitionen
27
Tarski [1944] S. 87.
28
Vgl. Tarski [1935] S. 450.
29
Auch in der ursprünglichen polnischen Fassung von Tarskis Dissertation kommt
der Ausdruck .wlasnie' vor, der in der von L. Blaustein besorgten deutschen
Übersetzung mit ,eben' wiedergegeben wird. Die Formulierung (8) lautet in der
polnischen Fassung (vgl. Tarski [1933] S. 4):
„zdanie prawdziwe jest to zdanie, ktore wyraza, ze tak a tak rzeczy sie maja,
i rzeczy maja sie tak wlasnie."
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44 1 Programmatische Grundlagen
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1.2 Möglichkeit und Unverzichtbarkeit einer Theorie der Wahrheit 45
Teil (die rechte Seite) von (8) muß eine Differenz zu „...eine Aussage, welche
besagt, daß die Sachen sich so und so verhalten" explizit artikulieren oder
zumindest implizit voraussetzen, andernfalls wäre dieser zweite Teil eine
reine, sinnlose Wiederholung. Es ist für die hier verfolgte Problematik
zunächst gleichgültig, welchen Ausdruck man verwendet, um die charak-
terisierende Differenz kenntlich zu machen. In jedem Fall ist die Formulie-
rung ,die Sachen verhalten sich so und so' ohne ein zumindest implizit
vorausgesetztes ,eben' (bzw. ein gleichbedeutendes anderes Wort) völlig
unbestimmt (vgl. unten).
Es ist überaus symptomatisch, daß auch andere Autoren diesen entschei-
denden Punkt so oder so ansprechen, allerdings ohne dessen Tragweite und
Konsequenzen aufzuzeigen. Ein beredtes Beispiel ist Quine. Bezugnehmend
auf Tarskis berühmtes .Schnee'-Beispiel für das Wahrheitsschema und gegen
den Philosophen polemisierend, der Propositionen annehmen möchte,
schreibt er:
„But he [the philosopher w h o favors propositions] is right that truth should
hinge on reality, and it does. No sentence is true but reality makes it so.
The sentence ,Snow is white' is true, as Tarski has taught us, if and only if
real snow is really white. The same can be said of the sentence ,Der Schnee
ist weiß'; language is not the point. In speaking of the truth of a given
sentence there is only indirection; we do better simply to say the sentence
and so speak not about language but about the world." 3 0
Was Quine sagt, ist nur allzu wahr; aber gerade der von ihm angesprochene
„Umstand" muß explizit gemacht und hinsichtlich seiner Konsequenzen
aufgeschlüsselt, nicht nur nebenbei erwähnt oder behauptet werden. Wo
kommt der Aspekt der „Realität" des Schnees und der „Realität" des
Weißseins von Schnee im Wahrheitsschema (9) ^um Ausdruck? Wollte man
sagen, daß das Schema so interpretieren ist, so wäre nichts dagegen
einzuwenden; aber gerade dieser Umstand zeigt, daß diese Interpretation
eben nicht explizit in (9) enthalten ist. Wird sie als darin implizit enthalten
behauptet, so sollte sie explizit gemacht werden. (9) hätte sich dann als eine
ungeeignete Formulierung herausgestellt.
In einem völlig anderen Zusammenhang schreibt Quine charakteristi-
scherweise:
„Whatever we affirm, after all, we affirm as a statement within our aggregate
theory of nature as we now see it; and to call a statement true isjust to reaffirm
/A"31
30 Quine [1970] S. 10 f.
31 Quine [1975] S. 327 (Hervorh. nicht im Original).
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46 1 Programmatische Grundlagen
Natürlich drängt sich hier sofort die Frage auf, was es heißt, eine Aussage
wiedenpbehaupten. Der Deflationist sieht sich hier mit einem Dilemma kon-
frontiert: Entweder interpretiert er die Wiederbebauptung als eine reine Repe-
tition, in welchem Fall er sich dem Einwand ausgesetzt sieht, daß dies keinen
Erklärungswert hat; oder aber er versteht unter Wiederbebauptung etwas
Positives, Neues, und in diesem Fall sieht er sich genötigt, eben diese
positive, neue, irreduzible, durch die Verwendung des Ausdrucks
,Wahr(heit)' artikulierte „Qualität" explizit zu machen. Diese Überlegungen
haben uns nicht nur zum %weiten, oben angekündigten Schritt, d. h. zur
entscheidenden Argumentation, übergeführt, sondern sind schon selbst ein
Teil dieser Argumentation. Diese ist im folgenden explizit zu entwickeln.
Wie ist ,S' bzw. S exakt zu verstehen?32 Am besten geht man von dem aus,
was diese Zeichen leisten sollen: sie sollen nämlich irgendwie konkret
erwähnte bzw. gebrauchte Sätze formal anzeigen, ob als Satzvariablen oder
als Satzbuchstaben ist vorerst nicht entscheidend. Entscheidend ist vielmehr,
daß sie von vornherein nicht als irgendwelche sinnlosen Zeichen genommen,
sondern daß sie auf (konkrete, „reale") Sätze abgebildet werden. Wenn man
,S' und S so nimmt, was heißt das genau? Daß man einen Satz in Anfüh-
rungszeichen setzen kann, zeigt, daß sozusagen die „ursprüngliche" oder
„normale" Form des Satzes der Satz ohne Anführungszeichen bzw. ohne
andere Zeichen ist, wie ζ. B.: Der Schnee ist weiß. Daß man den Satz in
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1.2 Möglichkeit und Unverzichtbarkeit einer Theorie der Wahrheit 47
seiner normalen Form in Anführungszeichen setzt, heißt, daß man ihn zum
Objekt einer Betrachtung macht, daß man ihn so oder so zu qualifizieren
beabsichtigt: ,S'... Die Disquotationstheorie behauptet nun, daß das Prädikat
,ist wahr', das zur Qualifikation des zum Objekt gemachten Satzes verwendet
wird, nichts anderes „bedeutet" als die „Zurückführung" des zum-Objekt-
der-Betrachtung-gemachten-Satzes auf den Satz-in-seiner-normalen-Form.
Wie leicht einleuchten dürfte, drängt sich jetzt die Frage auf, was der
Satz-in-seiner-normalen-Form ist. Was ist S rechts v o m Äquivalenzzeichen?
Es ist erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit seit Generationen
Tarskis „Wahrheitsschema" verwendet und wiederholt wird, als ob klar sei,
was mit S exakt gemeint ist. Das Wahrheitsschema ist nicht falsch o. ä.; es
ist einfach unbestimmt. Es hat keinen Sinn, ein solches Schema zu wieder-
holen, solange nicht gezeigt wird, wie es genau zu verstehen ist. Nun: S ist
zunächst der/ein Satz-insofern-er-nicht-angeführt-wird; aber was ist ein sol-
cher Satz soz. „positiv"? Was ist der Status eines solchen, Satzes? Man sagt:
ein verwendeter Satz, ein Satz der vorausgesetzten, verwendeten Metaspra-
che. Man kann an viele Formen des Status eines solchen Satzes denken: S
kann ein bestimmtes schriftlich bekundetes Sprachgebilde sein; S kann
aufgefaßt werden als ein lautlich geäußertes Sprachgebilde usw., wobei beide
Formen ohne irgendwelche weitere Qualifikation oder „ K r a f t " genommen
werden können.
[ii] Man tut einen wichtigen Schritt vorwärts, wenn man feststellt, daß (10)
die Voraussetzung macht oder die Einsicht beinhaltet, daß S als freistehender
Sat% aufgefaßt wird bzw. werden kann. Der Ausdruck .freistehender Satz'
kann in zweifacher Bedeutung genommen werden. Erstens: S ist freistehend in
dem Sinne, daß es ohne Verbindung mit einem Prädikat oder mit einem
nicht-wahrheitsfunktionalen Operator vorkommt; anders gesagt: S wird
nicht zu einem Namen (,S') gemacht (wie in „ ,S' ist wahr") noch mit einem
Operator (wie ,es ist notwendig, daß' [ „ • S"]) verbunden; wohl aber kommt
S in Verbindung mit einem wahrheitsfunktionalen Operator vor ( =
freistehendj). Zweitens: S ist freistehend in dem Sinne, daß es weder in
Verbindung mit einem Prädikat noch mit einem wahrheitsfunktionalen oder
nicht-wahrheitsfunktionalen Operator vorkommt ( = freistehend2).
Es ist klar, daß die Disquotationstheorie der Wahrheit behauptet, „ ,S' ist
wahr" sei äquivalent mit S, insofern S als freistehend 2 genommen wird. Das
wird durch das Beispiel mit dem ,Schnee'-Satz gut veranschaulicht. Darin
liegt nun das Problem, mit dem sich diese Theorie konfrontiert sieht, das
sie aber mit Hilfe der Unbestimmtheit und Bequemlichkeit der Tarskischen
Formel zu eskamotieren versucht. Wie ist das freistehende 2 S zu verstehen?
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48 1 Programmatische Grundlagen
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1.2 Möglichkeit und Unverzichtbarkeit einer Theorie der Wahrheit 49
wird man dazu geführt, den freistehendenι Satz auch als einen freistehenden2
Satz zu verstehen, da man ja annimmt, daß der auf der rechten Seite des
Äquivalenzzeichens vorkommende Satz S auch ohne Verbindung mit diesem
logischen Zeichen vorkommen kann; und damit ist man wieder dort ange-
langt, wo man gestartet war: die ganze Prozedur ist vollkommen zirkulär,
man hat nichts etklärt.
Offensichtlich wird hier etwas übersehen und übersprungen — mit ge-
waltigen Konsequenzen. Aber was? Jedenfalls etwas, was für die Wahrheits-
thematik von entscheidender Bedeutung ist.
[Iii] Die Frage ist: Welchen Status hat S, wenn es als freistehenden Satz
genommen wird? Wie sich aus den obigen Ausführungen ergibt, wird ihm
ein Wahrheitswert und der Status eines Negatum zugeschrieben. Schon daraus
ergibt sich, daß der freistehende2 Satz S dann als eine vollkommen unbe-
stimmte, nichtssagende (linguistische) Entität erscheint, wenn sein Status als
Negatum und sein Wahrheitswert nicht explizit beachtet werden. Diese
„ursprüngliche" Bestimmtheit des in der Gestalt eines freistehenden2 Satzes
vorkommenden Satzes ist herauszuarbeiten. Nun wird diese Bestimmtheit
— negativ, d. h. von der Negation her — als „Negatum" aufgefaßt. Aber
„Negatum" ist die Kehrseite eines „Positum", die Negation die Kehrseite
einer Position. Wie die Negation ein Operator ist, so sollte man konsequen-
terweise auch die Position als Operator betrachten. Dieser Positionsoperator
sei durch das Symbol ,<g>' angezeigt. Der genaue Status des freistehendem
Satzes S ist also explizit zu machen als: ,Position S' bzw.: ,<8> S'.
Wie ist dieser Positionsoperator zu deuten? In einer aussagenlogischen
Perspektive dient er als die Basis für die die (anderen) aussagenlogischen
Operatoren definierende Wahrheitswertfunktionalität; „in sich selbst" wird er
in diesem (sententialen/propositionalen) Kontext nicht expliziert, sondern
(implizit) vorausgesetzt. Das bisherige Ergebnis kann so formuliert werden:
Die sog. „Disquotations"formulierung: , ,S' ist wahr genau dann, wenn S'
hat nur dann einen Sinn, wenn S auf der rechten Seite als mit dem Posi-
tionsoperator ,<g>' versehen aufgefaßt wird, und dies zunächst — d. h. bis
auf weiteres — nur im Sinne einer notwendigen (nicht hinreichenden, noch
weniger im Sinne einer notwendigen und hinreichenden Bedingung); also:
(10') ,S* ist wahr nur dann, wenn ® S.
Die Frage ist erneut zu stellen: Wie ist ,<£)', der Positionsoperator; noch
genauer (jetzt im „inhaltlichen" Sinne) zu deuten? Eine der Deutungsmög-
lichkeiten besteht darin, ,<£>' pragmatisch-epistemisch als „ist behauptbar", als
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50 1 Programmatische Grundlagen
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1.2 Möglichkeit und Unverzichtbarkeit einer Theorie der Wahrheit 51
d. h. durch die Theorie, die die These aufstellt, „Wahr(heit)" sei keine
Eigenschaft eines Satzes, sondern die Anzeige einer Performanz, eines Voll-
zugs?33 Ob diese Theorie richtig ist oder nicht, wird sich daran entscheiden,
wie man „Behauptungssatz" weiter analysiert.
[iv] Ein weiterer einleuchtender Schritt ist damit getan, daß man feststellt,
mit der Assertibilität von S sei immer schon ein rationaler Anspruch ver-
bunden: einen Satz S behaupten, heißt, den Anspruch erheben, eine mit dem
Satz S verbundene Geltung mit rationalen Mitteln einzulösen; der Satz S
wird als rational assertibel betrachtet. Es ergibt sich, daß hier das Prädikat
,ist wahr' in Verbindung mit dem angeführten Satz ,S' in Bezug gesetzt
wird zu der herausgearbeiteten Qualifikation von S, nämlich den sog.
Assertibilitätsbedingungen (genauer: den Bedingungen für eine rationale
Assertibilität) von S. Heißt das, daß „Wahr(heit)" ein „epistemischer" Begriff
und daß die „richtige" Theorie der Wahrheit eine epistemische Theorie ist?
Ein solcher Schluß wäre vorschnell; denn die Analyse des Status des
freistehende^ Satzes S (auf der rechten Seite der Äquivalenzformel, die den
Ausgangspunkt für die hier entwickelten Überlegungen bildet) ist noch
nicht zu Ende.
Der freistehende2 Satz S hat mindestens den Status von „(rational) asserti-
bel". Der Vertreter der Disquotationstheorie müßte daher anerkennen, daß
das auf der linken Seite der Äquivalenzformel vorkommende Prädikat ,ist
wahr' mindestens einen solchen „Inhalt" oder eine solche „Bedeutung" hat.
Damit wäre diese Theorie als widerlegt anzusehen. Hieße dies aber dann
nicht, daß das Wahrheitsprädikat eine pragmatische bzw. epistemische Be-
deutung hätte? Dazu ist zu sagen, daß dies dann der Fall wäre, wenn man
es bei der bisher durchgeführten Analyse beließe. Aber man kann zeigen,
daß diese Analyse lediglich einen Aspekt eines größeren Zusammenhangs
herausgreift. Führt man die Analyse weiter und durch, so gelangt man zu
einem anderen Ergebnis, denn es stellt sich heraus, daß „Wahr(heit)" mehr,
weiteres und anderes als nur die Qualifikation „(rational) assertibel" bein-
haltet. Dies ist im folgenden skizzenhaft zu leisten.
Man kann ein entscheidendes Argument ins Feld führen, um zu zeigen,
daß das Prädikat ,ist wahr' (in Verbindung mit ,S') zwar in Beziehung zum
(möglichen) Behauptungsakt bezüglich S und zu den Bedingungen für die
rationale Assertibilität von S gebracht werden kann, ja muß, daß aber
„Wahr(heit)" auf einen dieser Aspekte oder auf beide nicht reduziert werden
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52 1 Programmatische Grundlagen
kann. Das Argument stützt sich auf den fundamentalen Umstand, daß der
Ausdruck .(rational) assertiber noch unbestimmt, unvollständig ist: es fehlt
die Präzisierung .(rational) assertibel als ...'. Die Füllung der Pünktchen ist
in der hier interessierenden Perspektive der entscheidende Faktor. Ein Satz
S ist (rational) assertibel als so und so qualifizierter Sat%. Beispiele sind etwa:
als wichtiger Satz, als mit großen Konsequenzen beladener Satz, als wahr-
scheinlich akzeptierbarer Satz, als sinnvoller/sinnloser Satz. Hier wird nun
der eigentliche Stellenwert von „Wahr(heit)" ersichtlich: ,,Wahr(heit)" ist
eines der Beispiele, eine der Instanzen für die Füllung der genannten Pünkt-
chen: Ein Satz S ist (rational) assertibel als wahr. Damit ist gezeigt, daß
„Wahr(heit)" nicht mit „(rationale) Assertibilität" identifiziert werden kann.
Und damit ist auch der methodisch-systematische Ort einer unverkürzten
und adäquaten, d. h. anti-deflationistisch orientierten Theorie der Wahrheit
aufgezeigt. Die Füllung der drei Pünktchen mit /tls wahr' ist der Gegenstand
und die Aufgabe einer explikativ-definitionalen Theorie der Wahrheit. Es
zeigt sich, daß „(rationale) Assertibilität" ein Faktor ist, ohne den der
freistehende2 Satz S nicht verständlich wäre, daß aber dieser Faktor nicht
als das Definiens von ,,Wahr(heit)" betrachtet werden kann. Er hat in
wahrheitstheoretischer Hinsicht so etwas wie eine „Vermittlerfunktion".
Später (im Kapitel 4) wird zu zeigen sein, welche genaue Rolle die
pragmatisch/epistemische Dimension in wahrheitstheoretischer Hinsicht
spielt.
Es hat sich somit gezeigt, daß der wahrheitstheoretische Deflationist
fundamentalen Vermengungen und konsequenzenreichen Mißverständnissen
erliegt. Was die „Nützlichkeitsthese" angeht, kann sie selbstverständlich in
einem wahrheitstheoretisch völlig harmlosen Sinne, d. h. ohne irgendwel-
chen argumentativen Bezug zum Deflationismus, vertreten werden. Es ist
nämlich klar, daß mit einer anti-deflationistischen, d. h. einer „substantiel-
len", Erklärung des Wahrheitsbegriffs die These ohne weiteres kompatibel
ist, derzufolge der Wahrheitsbegriff vorzüglich geeignet ist, Generalisierun-
gen der oben beschriebenen Art vorzunehmen. Daraus folgt keineswegs,
daß die ganze „Funktion" des Wahrheitsbegriffs nur in seiner Fähigkeit
besteht, solche Generalisierungen zu ermöglichen.
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1.3 Die Theorie der Wahrheit 53
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54 1 Programmatische Grundlagen
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1.3 Die Theorie der Wahrheit 55
1.3.2 Kriterien
Zunächst sollen die Kriterien kurz angegeben und erläutert werden; erst
danach soll ihre Anwendung auf die anstehende Frage erfolgen.
Ein erster Versuch, das ganze wahrheitstheoretische Panorama zu über-
blicken, führte zu der unter 1.1 dargelegten Bestimmung der umfassenden
Theorie der Wahrheit. Eine erneute Erörterung dieses immensen Gebietes
soll jetzt unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses zwischen der Wahr-
heitsthematik und den philosophischen Disziplinen erfolgen. Je nachdem,
wie sich dieses Verhältnis gestaltet, ergeben sich verschiedene Verhältnis-
weisen, denen verschiedene Disziplinen zugeordnet werden können bzw.
müssen. Dieser Versuch führt zu einer Unterscheidung von vier Kategorien
von (philosophischen) Disziplinen.
(i) Zunächst sind philosophische Disziplinen zu nennen, die Voraussetzungen
und joder Implikationen der Wahrheitsthematik (speziell der Erklärung des
Wahrheitsbegriffs) enthalten (= Kriterium,). Hier wird „Voraussetzung" im
Sinne Strawsons verstanden: eine Behauptung (oder ein Satz) A set^t eine
Behauptung (einen Satz) Β voraus dann und nur dann, wenn Α weder wahr
noch falsch ist, es sei denn, Β ist wahr; oder anders formuliert: die Wahrheit
von Β ist eine notwendige Bedingung für die Wahrheit oder Falschheit von
A. 1 Auf die Diskussionen, zu denen diese Bestimmung des Voraussetqmgs-
begriffs Anlaß gegeben hat, kann hier nicht eingegangen werden. Die
allgemeine intuitive Idee dürfte aber klar sein. Auch dürfte ersichtlich sein,
daß Voraussetzung und Implikation verschiedene „Verhältnisweisen" arti-
kulieren. Hinsichtlich der Anwendung des Voraussetzungs- bzw. Implika-
tionsbegriffs auf die anstehende Problematik ist zu bemerken, daß die
Ausdrucksweise ,eine Thematik bzw. ein Begriff bzw. eine Disziplin setzt
eine bestimmte (andere) Disziplin voraus' als eine elliptische Formulierung
zu verstehen ist; gemeint ist: alle Aussagen, die in der Behandlung (oder
Erklärung) einer Thematik bzw. Disziplin aufgestellt werden, sind wahr oder
falsch nur unter der notwendigen Bedingung, daß die Aussagen, die eine
bestimmte (andere) Disziplin macht, wahr sind.
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56 1 Programmatische Grundlagen
(ii) An zweiter Stelle ist die Kategorie jener Disziplinen zu nennen, die für
sie konstitutive „Instanzen" oder „Entitäten" in der Weise enthalten, daß
für deren Bestimmung der Wahrheitsbegriff unentbehrlich ist ( = Kriterium2)
(iii) Ferner gibt es Disziplinen, die Begriffe oder Instanzen oder Entitäten
enthalten, auf die (der) Wahrheit(sbegriff) (in nicht konstitutiver Hinsicht)
angewandt wird, mit dem Ergebnis, daß diese Begriffe/Instanzen/Entitäten
(weiter) qualifiziert werden und, möglicherweise, (neue) Probleme aufwerfen
( = Kriterium3).
2 Vgl. Einleitung S. 3.
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1.3 Die Theorie der Wahrheit 57
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58 1 Programmatische Grundlagen
5 Bis vor kurzem wurde die Auffassung vertreten, daß es (nur) Sätze sind, die, wenn
sie als wahr qualifiziert werden, die Wahrheitsparadoxie erzeugen. Aber Barwise/
Etchemendy [1987] haben gezeigt, daß auch die Anwendung des Wahrheitsbegriffs
auf Propositionen zur Wahrheitsparadoxie führt.
6 Vgl. dazu Puntel [1987 a],
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1.3 Die Theorie der Wahrheit 59
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60 1 Programmatische Grundlagen
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1.3 Die Theorie der Wahrheit 61
Dies führt dazu, daß die %u>eite Teilfrage akut wird: Welcher Disziplin ist
die Theorie der Wahrheit direkt zuzuordnen? Hier ist die oben getroffene
Unterscheidung genau zu berücksichtigen, nämlich die Unterscheidung zwi-
schen der faktischen Annahme, daß in der gegenwärtigen Situation und
gemäß der gegenwärtigen Terminologie nur die vier Disziplinen „Logik",
„Sprachphilosophie", „Erkenntnistheorie" und „Ontologie" als Kandidaten
fungieren, und der prinzipiellen Annahme, daß eine ganz andere (systema-
tische) Konstellation von Philosophie denkbar bzw. wünschbar (und viel-
leicht durchfuhrbar) wäre.
Zunächst sei die Frage auf der Basis der faktischen Annahme gestellt.
Wenn nur die vier genannten Disziplinen, so wie sie heute verstanden werden,
als Kandidaten in Betracht kommen, zu welcher sollte die Theorie der
Wahrheit gerechnet werden? Legt man einer Entscheidung das Kriterium2
zugrunde, so scheidet die als reiner Kalkül aufgefaßte formale Logik schnell
aus, da diese Disziplin nicht die „Heimatdisziplin" einer der Entitäten ist,
denen „Wahr(heit)" zugeschrieben wird. Macht man die (später ausführlich
zu behandelnde) Voraussetzung, daß die drei wichtigsten Wahrheitsträger
der Satz, die Proposition und die kognitive Instanz sind, so lassen sich zwei
dieser Entitäten eindeutig jeweils einer der drei Disziplinen zuordnen: der
Satz gehört in die Sprachphilosophie, die kognitive Instanz in die Erkennt-
nistheorie. Je nachdem, welcher dieser Entitäten man den Vorzug gibt, wird
man entsprechend sagen müssen, daß die Theorie Teil der entsprechenden
Disziplin ist. Es ist interessant zu bemerken, daß die traditionelle (im Sinne
von: vor der sprachlichen Wende vertretene) Philosophie die Theorie der
Wahrheit eindeutig als Teil der Erkenntnistheorie betrachtete, und daß die
moderne Philosophie, in deren Mittelpunkt die Sprache steht, die Theorie
der Wahrheit ebenfalls eindeutig der Sprachphilosophie (der Semantik) zu-
ordnet. Freilich kann heute nicht mehr gesagt werden, daß die Situation
eindeutig ist. In diesem Buch wird die Auffassung vertreten, daß dem Satz
(und damit der Sprachphilosophie) gegenüber der kognitiven Instanz (und
damit der Erkenntnistheorie) eindeutig der Primat zukommt; allerdings wird
dabei eine besondere Konzeption von Sprachphilosophie vorausgesetzt bzw.
entwickelt.
Zu welcher Disziplin gehört aber die Proposition? Diese Frage ist deshalb
schlechterdings zentral, weil in diesem Buch die Auffassung ausführlich
entwickelt werden soll, daß die Proposition der zentrale Wahrheitsträger ist.
Die Beantwortung der soeben gestellten Frage hängt natürlich entscheidend
davon ab, was unter Proposition verstanden wird. Die Meinungen gehen
diesbezüglich gewaltig auseinander, wie aus Abschnitt 6.2 des ANHANGS
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62 1 Programmatische Grundlagen
hervorgeht. Nimmt man die hier zu vertretende Position vorweg, so ist die
Proposition zumindest nicht eindeutig der Sprachphilosophie zuzuordnen;
der Grund liegt darin, daß die Proposition, wie diese Entität hier erklärt
werden wird, eine zwar spracbabbängige, aber dennoch nicbtspracblicbe Entität
ist. Heißt das, daß die Proposition in die Ontologie gehört? Dies erscheint
zunächst als sehr plausibel, da hier im Anschluß an Wittgensteins Tractatus
die Welt als die Gesamtheit der Tatsachen (d. h. der bestehenden Sachverhalte
oder — in der Terminologie dieses Buches — der bestehenden Propositionen)
verstanden wird. Andererseits ist die Proposition, insofern ihr allererst Wahr-
heit zugeschrieben wird (werden soll), (noch) nicht Bestandteil der Welt: sie
hat einen eigenartigen Zwischenstatus. Allerdings ist die wahre Proposition
die bestehende Proposition (die Tatsache in der Terminologie des Tractatus)
und diese ist Bestandteil der Welt. Wollte man die Proposition der Ontologie
zurechnen, so wäre die hier zu entwickelnde Theorie der Wahrheit grund-
sätzlich als Teil der Ontologie zu betrachten. Aber eine solche Auffassung
wäre auf der Basis der faktischen Situation zumindest miß verständlich. Unter
der gemachten Voraussetzung wäre es also besser; die Wahrheitstheorie als
den beiden Disziplinen, Sprachphilosophie und Ontologie, zugehörig auf-
zufassen.
Die letzte Formulierung ist zweifellos unbefriedigend. Dieser Umstand
weist darauf hin, daß eine wirklich befriedigende Antwort die gemachte
Voraussetzung (die faktische Situation) aufgeben muß und die prinzipielle
Frage nach einem Konzept einer systematisch orientierten Philosophie stellen
müßte. Der entscheidende Gesichtspunkt in dieser Hinsicht ist das Problem
einer Neubestimmung der Ontologie. Doch an dieser Stelle möge nur der
Hinweis auf diese Aufgabe genügen.
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