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Anhang 339
[1] Ein problematischer Aspekt von Tarskis semantischer Theorie wurde schon im
Abschnitt 1.2 im Rahmen der Kritik des wahrheitstheoretischen Deflationismus
ausführlich erörtert. Daraus geht hervor, daß gerade jenes Wahrheitsschema, das so
oft als Charakterisierung der Wahrheit verwendet wurde und wird, nicht als adäquate
(formale) Wiedergabe des von Tarski selbst mustergültig formulierten intuitiven
Verständnisses von „Wahr(heit)" gelten kann. Ferner wurde deutlich, daß es alles
andere als klar ist, wie der Satz ,p' auf der rechten Seite der Äquivalenzformel zu
nehmen ist. ι
Hier ist nun auf eine grundlegende Ambiguität oder sogar auf ein Dilemma in
Tarskis (Formulierungen seiner) Theorie der Wahrheit hinzuweisen. Es handelt sich
um einen Faktor, der auf subtile Weise der ganzen Entwicklung und Wirkungsge-
schichte der Tarskischen Konzeption zugrunde liegt. Wie R. C. Jennings gezeigt hat4,
kann man in den Schriften Tarskis zwei verschiedene, sich gegenseitig ausschließende
Interpretationen des berühmten Beispiels
(1) .Schnee ist weiß' ist wahr genau dann, wenn Schnee weiß ist
finden. Gemäß der ersten Interpretation behauptet (1), daß ,Schnee ist weiß' wahr
ist dann und nur dann, wenn Schnee weiß ist. Nach der zweiten Interpretation
behauptet (1), daß die beiden Sätze .»Schnee ist weiß« ist wahr' und .Schnee ist weiß'
äquivalente Sätze sind. Man kann leicht Texte finden, die einmal die erste, einmal die
zweite Interpretation stützen. Der Unterschied zwischen beiden Interpretationen
besteht darin, daß (1) gemäß der ersten eine „Übereinstimmung" zwischen einem
wahren Satz und einem Zustand der Welt, gemäß der zweiten aber eine Äquivalenz
zwischen zwei Sätzen (einem Satz der Objektsprache und einem Satz der Metasprache)
behauptet. Diejenigen — zahlreichen — Autoren, die Tarski eine Korrespondenz-
theorie der Wahrheit zuschreiben5, vertreten natürlich die erste Interpretation. Jen-
nings zeigt nun, daß diese Interpretation eine bedeutsame Implikation hat: nämlich
einen ontologischen Relativismus. 6 Wenn man es unternimmt, im Rahmen einer
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340 Anhang
Metasprache, die Beziehungen zwischen Sprache und Welt zu klären, ist ein Vokabular
nötig, das sich direkt auf die Welt bezieht, und ein (anderes) Vokabular, das sich auf
die Ausdrücke der Objektsprache bezieht. Aber nach Tarskis semantischer Theorie
der Wahrheit enthält die Metasprache kein Vokabular, das sich unabhängig vom
Vokabular der Objektsprache auf die Welt bezieht; m. a. W.: unser einziger Zugang
zur Welt verläuft über die Objektsprache. So muß gesagt werden: die Metasprache
bezieht sich auf dieselbe Welt wie die Objektsprache; daher ist die Welt der Meta-
sprache relativ zur Welt der Objektsprache. Jennings führt ein Beispiel aus der Chemie
des 18. Jahrhunderts an: .Phlogiston wird im Verbrennungsvorgang freigesetzt' ist
wahr dann und nur dann, wenn Phlogiston im Verbrennungsvorgang freigesetzt
wird. Dies zeigt, daß die Metasprache die Ontologie der Objektsprache übernimmt.
Diese Konsequenz wird von der zweiten Interpretation vermieden, aber um den
Preis, daß jede Bezugnahme auf die Welt unterbleibt.
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Anhang 341
[3] Tarski schreibt „Wahr(heit)" ausschließlich dem Satz zu. Entitäten wie „Propo-
sitionen", „Sachverhalte", „Tatsachen" u. ä. kennt er in seiner Theorie nicht. Dies
mutet um so eigenartiger an, als er in der informalen Charakterisierung des Wahr-
heitsbegriffs ausdrücklich vom „Sichverhalten der Sachen" spricht und auch sonst
den Ausdruck .Sachverhalt' verwendet.11 Es wird hier wieder bestätigt, was oben
und im Abschnitt 1.2 gezeigt wurde: Tarski gelingt es nicht, das von ihm selbst
formulierte intuitive Wahrheitsverständnis in seine formale Theorie der Wahrheit
einzufangen. Ist mit der Behauptung des Primats des Satzes nicht auch die Annahme
von „Propositionen", „Sachverhalten" u. dgl. verbunden? Auch diese Frage gehört
zu den zentralen Fragen der wahrheitstheoretischen Diskussion seit Tarski.
[4] Es gehört zu den wesentlichen Merkmalen der Tarskischen Semantik, daß Fragen
der Kognitivität, des Verständnisses, des Erlernens, des Gebrauchs u. ä. von sprach-
lichen Ausdrücken nicht als semantische Fragen angesehen werden. Es ist nun
symptomatisch, daß ein erheblicher Teil der Diskussionen über den Tarskischen
Wahrheitsbegriff um die Frage kreist, ob und wie er so „umfunktioniert" werden
soll, daß er in Verbindung mit den genannten Fragen gebracht werden kann. Die
Merkwürdigkeiten, denen man in diesem Rahmen begegnet, wurden noch nicht
ausreichend untersucht. Einen klärenden Beitrag hat Scott Soames in dem schon
mehrmals angeführten Aufsatz über Tarski geleistet.12
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342 Anhang
[5] Ein letzter Aspekt ist noch zu nennen. Bekanntlich war die Wahrheitsantinomie
einer der wichtigsten Faktoren, der die Entwicklung von Tarskis semantischer Theorie
der Wahrheit bedingt hat. Aus der Annahme, daß die natürliche Sprache eine
semantisch geschlossene Sprache ist und daß jede semantisch geschlossene Sprache
zu Paradoxien führt, zog Tarski die Konsequenz, daß es nicht möglich ist, den oder
einen Wahrheitsbegriff für die natürliche Sprache zu definieren. Seitdem haben die
Diskussionen über die Wahrheitsparadoxie nicht aufgehört und heute bilden sie die
Hauptthematik dessen, was im allgemeinen „Theorie der Wahrheit" genannt wird.
Dabei ist Tarskis Konzeption der selbstverständliche Ausgangs- und Bezugspunkt
für alle Versuche in dieser Richtung. Wie im Abschnitt 1.1 gezeigt wurde, gehört
diese Thematik zur dritten, der evaluativ-extensionalen Subtheorie der Wahrheit. Da
sich dieses Buch nicht direkt mit dieser Thematik befaßt, sollen die entsprechenden
Diskussionen unberücksichtigt bleiben.
[1] Quine hat oft hervorgehoben, daß dem Satz der semantische Primat zuzuweisen
ist. 15 Sicher wirkt sich diese These auf viele in Quines Philosophie vertretenen
Einsichten positiv aus. Aber man kann bei ihm kaum von einer konsequenten
Durchführung der genannten These sprechen. Bekanntlich vertritt Quine die Thesen
der Unerforschlichkeit der Referenz und der ontologischen Relativität. Wie immer
diese Thesen genau zu verstehen sind, eines setzen sie eindeutig voraus, nämlich
ontologische und semantische Annahmen, die, wenn überhaupt, so doch schwerlich
mit der These des Primats des Satzes in Einklang gebracht werden können. Die zwei
zuletzt genannten Thesen basieren auf der Annahme, daß die Welt die Gesamtheit
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Anhang 343
der realen Objekte (Individuen) ist und daß die sprachlichen Ausdrücke, mit deren
Hilfe wir auf diese Objekte Bezug nehmen, an erster Stelle die Komponenten des
Satzes sind. Zwar werden die singulären Termini eliminiert16, aber die Satzkomponen-
ten behalten doch den semantischen Primat, insofern die quantifizierten Individuenvariablen
nun als die Hauptträger der Referenzbeziehung angesehen werden. Der ganze onto-
logische und semantische Ballast der „analytischen Konzeption der Sprache" wird
nicht wirklich abgeworfen, sondern mitgeschleppt. Das einzige, was geschieht, ist
die Herausarbeitung aporetischer Aspekte dieser Sprachkonzeption. Insbesondere die
These von der Unerforschlichkeit der Referenz ist Ausdruck und Ergebnis einer nur
halbherzigen Akzeptierung des Primats des Satzes und damit des Kontextprinzips.
„Wahr(heit)" wird im Anschluß an Tarskis Wahrheitsschema als Disquotation, wenn
auch, wie unter 1.2 dargelegt, mit einer eindeutigen ontologischen Konnotation
aufgefaßt, wobei die Frage des Informationswertes des Satzes auf die Ebene der
Satzkomponenten reduziert und die Referenz (der Informationswert) dieser Konsti-
tuenten in die Dunkelheiten der „Unerforschlichkeit" hineingezogen wird. Die Frage,
ob die These des Primats des Satzes nicht die andere These notwendigerweise nach
sich zieht, daß der Satz einen eigenen semantischen Wert im Sinne eines Informations-
wertes hat, taucht gar nicht auf. Es ist ja bekannt, daß Quine ein erklärter Gegner
von Propositionen, Tatsachen u. ä. ist. 17
Aufschlußreich sind Quines Ausführungen zur Disquotationstheorie der Wahrheit
in dem Aufsatz „Truth and Disquotation" 18 . U. a. unternimmt er es hier, das Wahr-
heitsprädikat mit Hilfe von Schönfinkeis kombinatorischer Logik und Sprache zu
definieren. Während bei Tarski der vermittelnde Begriff „Erfüllung" ist, spielt hier
diese Rolle der Begriff „Designatum". Eine Metasprache wird eingeführt, die die
Objektsprache enthält und darüber hinaus nur eine Notation für die Benennung der
Ausdrücke der Objektsprache sowie das Definiens Δ . ,Δ(,...')' bezeichnet das
Designatum; so bezeichnet ,Δ(χ)' das Ding, das durch die Formel χ benannt wird.
Der Ausdruck ,ap(x,y)' wird in der Metasprache gebildet, um den komplexen Namen
zu bezeichnen, der durch die funktionale Applikation der Namen χ und y in der
Objektsprache gebildet wird. Mit der angestrebten Definition soll erreicht werden,
daß jede Gleichheit der Form
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344 Anhang
Δ(,···') = ...,
sich als wahr erweist (dabei sollen Namen für die Pünktchen eingesetzt werden).
Dieses Ziel wird durch folgende Induktivdefinition erreicht:
Δ GS') = S, A(,C) = C, Δ(,ί') = i,
A(ap(x,y)) = Δ(χ)(Δ(7)).
Damit ist nach Quine schon die Definition des Wahrheitsbegriffs erreicht:
„For, truth is the special case of Δ where the argument is a sentence. Where
χ is a sentence, , Δ ( χ ) ' amounts to ,x is true'. This is evident from the
schemata (1) and (2) 19 when we keep in mind that sentences now are names,
names of Tand l . " 2 0
Hier wird deutlich, daß das „Designatum" des Satzes der Wahrheitswert ist. 21 Soll
aber nun dem Satz dennoch ein Informationsgehalt zugeschrieben werden, so muß
auf die Referenten der Einzelkomponenten des Satzes rekurriert werden. Damit
tauchen jene Probleme auf, die mit dem damit angenommenen und angewandten
Kompositionalitätsprinzip gegeben sind und für die Quine mit seinen Thesen von
der Unerforschlichkeit der Referenz, der ontologischen Relativität, der Unbestimmt-
heit der Übersetzung u. a. eine Lösung zu finden versucht.
[2] Ähnlich wie Quine vertritt auch D. Davidson die These vom Primat des Satzes. 22
Tarski zufolge ist eine Theorie der Wahrheit für die Umgangssprache nicht möglich,
da ein solches Unterfangen in eine Antinomie führt. Es verdient hervorgehoben zu
werden, daß der Philosoph, der vermutlich am entschiedensten das Programm einer
Semantik der Umgangssprache zur zentralen Aufgabe der Sprachphilosophie (und
der Philosophie überhaupt) erhoben hat, nämlich D. Davidson, sich ausgerechnet auf
Tarskis semantische Theorie der Wahrheit stützt. Allerdings wird dabei eine Umkeh-
rung Tarskis vollzogen, die Anlaß zu vielen interessanten wahrheitstheoretischen
Diskussionen gegeben hat:
„Bei unserer Einstellung wird die Blickrichtung Tarskis umgekehrt: Wir
wollen ein Verständnis der Bedeutung oder Übersetzung erzielen, indem wir
davon ausgehen, daß der Wahrheitsbegriff schon erfaßt ist." 2 3
Diese Umkehrung kann als eine „epistemologische Wende in der Semantik" 24 auf-
gefaßt werden.
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Anhang 345
Eine Semantik für die natürliche Sprache ist nach Davidson eine Theorie der
Bedeutung. Diese Theorie basiert auf einer Theorie der Wahrheit oder, genauer,
nimmt die Gestalt einer Theorie der Wahrheit im Stile Tarskis an, allerdings mit
Modifikationen. Die wichtigste Modifikation betrifft gerade die Zielsetzung des
vorliegenden Buches: Während Tarski den Wahrheitsbegriff (für formalisierte Spra-
chen) zu definieren versucht, setzt Davidson den Wahrheitsbegriff als primitiven, im
voraus zu jedem theoretischen Unterfangen (ζ. B. einer Theorie der Bedeutung)
immer schon verstandenen Begriff voraus. Davidsons Theorie der Bedeutung bzw.
der Wahrheit ist eine empirische Theorie, deren Ziel es ist, das Funktionieren der
natürlichen Sprache zu erklären; formal hat sie die Gestalt einer endlich axiomati-
sierbaren Wahrheitstheorie.
Welche semantischen Probleme diese Theorie involviert, macht Davidson selbst
deutlich, wenn er ein „Dilemma" 25 bezüglich des Referenzbegriffs formuliert. Er
beschreibt spi/ei Ansätze zu einer Theorie der Bedeutung: einen atomistischen („building-
block method") und einen holistischen. Der erste beginnt mit den einfachen Elementen
und konstruiert daraus die weiteren (komplexen). Eine Theorie der Wahrheit im
Sinne Tarskis, bemerkt Davidson, zeigt sehr wohl, daß die Wahrheitsbedingungen
jedes Satzes eine Funktion der semantischen Merkmale der entsprechenden Elemente
in einem endlichen Vokabular sind. Aber er fügt hinzu, daß eine solche Theorie nicht
in der Lage ist, die semantischen Merkmale des endlichen Vokabulars selbst zu
erklären. Die Begriffe „Referenz" und „Erfüllung" bleiben unerkärt.
Der zweite (der holistische) Ansatz betrachtet den Satz als den Fokus der Bedeu-
tung. Davidson charakterisiert diesen Ansatz in einer Weise, die an Freges berühmtes
„Kontextprinzip" erinnert:
„Wörter haben, abgesehen von der Rolle, die sie in Sätzen spielen, keine
Funktion: Ihre semantischen Merkmale sind ebenso von den semantischen
Merkmalen der Sätze abstrahiert, wie die semantischen Merkmale der Sätze
von ihrem Beitrag abstrahiert sind, den sie zur Erreichung der Ziele oder
zur Verwirklichung der Absichten der Menschen leisten." 26
Sieht man vom letzten Nebensatz ab, der einen pragmatischen Sachverhalt artikuliert,
so dürfte Davidsons Formulierung dasselbe anvisieren wie Freges berühmter Satz:
„Nur im Zusammenhange eines Satzes bedeuten die Wörter etwas". 27
Zu diesem Ansatz bemerkt Davidson ohne weitere Begründung:
„Diese Methode scheint jedoch außerstande zu sein, eine vollständige Er-
klärung der semantischen Merkmale der Teile von Sätzen zu geben, und
ohne eine solche Erklärung sind wir anscheinend nicht in der Lage, die
Wahrheit zu erklären." 28
Davidson schlägt eine Lösung des Referenzparadoxes vor, die er als eine „Version
des holistischen Ansatzes" 29 versteht. Sein Lösungsvorschlag besteht in der Aufgabe
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nicht nut des Begriffs der Referenz (verstanden als ein für eine empirische Theorie
der Sprache basaler Begriff), sondern auch der Referenz selbst, was immer man
darunter verstehen mag 30 . Sein Argument ist das sog. Permutationsargument 31 :
,,[S]ofern es ein Verfahren gibt, Ausdrücken Entitäten zuzuordnen (ein
Verfahren zur Charakterisierung der .Erfüllung'), das mit Bezug auf die
Wahrheitsbedingungen der Sätze akzeptable Resultate liefert, wird es zahllose
andere Verfahren geben, die das gleiche leisten. Demnach gibt es keinen
Grund, irgendeine dieser semantischen Beziehungen .Referenz* oder .Erfül-
lung' zu nennen." 32
Aber diese Aufgabe der Referenz muß nach Davidson richtig verstanden werden. Sie
besagt nicht, daß auch die Semantik und die Ontologie aufgegeben werden. Zwar
kann den Relationen zwischen Namen (singulären Termen) bzw. Prädikaten einerseits
und Objekten andererseits kein empirischer Gehalt direkt zugeordnet werden; dadurch
ist aber eine indirekte Zuordnung nicht ausgeschlossen, wobei sich diese aus dem
Gehalt der Sätze ergibt, die dem Tarskischen Wahrheitsschema entsprechen.
Es dürfte schwer zu verstehen sein, was damit genau gemeint ist. Jedenfalls wird
deutlich, daß Davidson sowohl das Kompositionalitätsprinzip als auch das Kontext-
prinzip annimmt; diesem weist er keine semantische, sondern eine epistemische Rolle
zu: Es fungiert als Kriterium für die Auffindung und Festlegung der Wahrheitsbe-
dingungen der Sätze. Eine der Konsequenzen dieses Verständnisses des Kontextprin-
zips ist der Umstand, daß Davidson jener Kategorie von Entitäten, die im Rahmen
anderer semantischer Theorien in Beziehung zu Sätzen gesetzt werden (wie Propo-
sitionen, Tatsachen u. ä.), keinen Platz in seiner Theorie zuzuerkennen in der Lage
ist. 33
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Anhang 347
Begriff der Prosentenz wird in Analogie zum Begriff des Pronomens gebildet. Die
Prosentenz fungiert anaphorisch, d. h., sie ist bezogen auf einen Antezedenten; im
Gegensatz zum Pronomen aber nimmt sie immer eine sententiale oder Satzposition
ein. Die genannten Autoren vertreten die Auffassung, daß es in der normalen Sprache
solche Prosentenzen gibt, allerdings nicht in atomarer, sondern in komplexer Form
(d. h.: sie bestehen aus mehr als einem Wort). Ihnen zufolge sind (im Englischen)
,that is true' und ,it is true' Prosentenzen, wobei ,true' ein Fragment der Prosentenz
ist.
Die prosententiale Theorie der Wahrheit wurde in Deutschland von W. Franken
rezipiert und in bemerkenswerter Weise weiterentwickelt. Statt von „Prosentenz"
spricht Franzen von „Resentenz":
„Die Wendung ,ist wahr' macht aus der Bezugnahme auf einen Sachverhalt
die Behauptung dieses Sachverhalts. (...)... mit ,ist wahr' wird so etwas wie
eine Resententialisierung vorgenommen, indem aus der Bezugnahme auf einen
Satz gewissermaßen der Sat% selbst wiederhergestellt tvird."^
Die These vom Verschwinden der Referenz(beziehung) kann sowohl als eine der
prosententialen Theorie der Wahrheit zugrundeliegende als auch als eine von ihr
implizierte These aufgefaßt werden. Sie wurde insbesondere von R. Brandom36 und
T. Hartman37 herausgearbeitet und entwickelt. Als Pate dieser ganzen Konzeption ist
W. Seilars38 zu nennen, demzufolge Aussagen über Referenz aus dem Grund mit
Aussagen über Bedeutung gleichzusetzen sind, weil sie rein intralinguistischen Über-
setzungszwecken dienen. 39
Es dürfte schon hinreichend deutlich geworden sein, daß die Klärung des Wahrheits-
begriffs ein außerordentlich vielfältiges Unternehmen darstellt. Manche heute intensiv
diskutierte Themen sind sowohl historisch wie auch sachlich Aspekte der Wahrheits-
problematik. Oft verselbständigt sich aber die Diskussion so stark, daß diese Verbin-
dung nicht mehr gesehen wird. Das Ergebnis ist in den meisten Fällen, daß die große
Debatte im Sand verläuft. Manche Aspekte der in der Gegenwart geführten Realismus-
Debatte sind deshalb so unergiebig, weil der Zusammenhang zwischen Realismuspro-
blematik und Wahrheitstheorie nicht mehr oder nicht genügend gesehen wird. In
diesem Buch sollen diese Zusammenhänge explizit beachtet und herausgearbeitet
werden. Denn diese Zusammenhänge haben, wie sich gleich zeigen wird, unmittelbare
und direkte Konsequenzen für die Bestimmung des W a h r h e i t s b e g r i f f s selbst. Hier
sollen die beiden vermutlich wichtigsten Vertreter einer kognitiv-antirealistischen bzw.
-internrealistischen Position, nämlich M. Dummett und H. Putnam, insoweit dargestellt
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werden, als deren Position für eine neue Bestimmung des Wahrheitsbegriffs relevant
ist. 40
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Anhang 349
[2] Die Wahrheitstheorie H. Putnams (wenn man überhaupt eine solche Bezeichnung
für seine Konzeption gebrauchen kann) gehört zu den interessantesten Konzeptionen
der Gegenwart, nicht so sehr, weil sie etwa völlig neu und überzeugend wäre, sondern
weil sie ein symptomatisches Ergebnis der wahrheitstheoretischen Diskussionen seit
Tarski darstellt. Putnam berücksichtigt eingehend die Diskussionslage, wobei er seine
eigene Konzeption in den letzten Jahren stark modifiziert, ja gründlich geändert hat.
Im wesentlichen stimmt er mit M. Dummett überein, allerdings unter Betonung einer
starken Divergenz bezüglich eines Aspektes der kognitiv orientierten Wahrheitstheo-
rie, auf die gleich einzugehen sein wird. Die von Putnam abgelehnte Korrespon-
46 Für eine eingehende Diskussion vgl. bes. Devitt [1983] und die Gegenkritik von
George [1984],
47 Vgl. Putnam [1983] S. 272.
48 Vgl. Dummett [1984] S. 220 und Abschnitt 3.3.2 dieses Buches.
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denztheorie der Wahrheit wird von ihm in Verbindung mit jener Position gebracht,
die er metaphysischen Realismus nennt und deren Unhaltbarkeit er in zahlreichen
Publikationen und in immer neuen Anläufen nachzuweisen bemüht ist. Der meta-
physische Realismus ist nach Putnam jene Konzeption, die eine Welt von völlig geist-
bzw. theorie»»abhängigen Objekten oder Sachverhalten annimmt und die daher die
Annahme macht, letztlich könne es eine einzige wahre Theorie im Sinne einer auf
der Idee der Korrespondenzrelation basierenden vollständigen Beschreibung der Welt
geben. Putnams Argument gegen diese Theorie ist im wesentlichen das folgende:
Das Problem besteht nicht darin, daß es keine Korrespondenz zwischen Sprachge-
bilden und nicht-sprachlichen Entitäten gibt, sondern darin, daß wir es mit zu vielen
solchen Korrespondenzen zu tun haben. Auch wenn wir sehr weitgehende Restrik-
tionen für den faktischen Gebrauch unserer Sprache einführen, kann es nicht aus-
geschlossen werden, daß es unendlich viele Referenz- und Erfüllungsbeziehungen
(d. h. Korrespondenzbeziehungen) gibt, die alle Sprachausdrücke, wie eng „restrin-
giert" deren Gebrauch auch sein mag, zu erfüllen in der Lage sind. Dieses Argument
wird von Putnam durch eine philosophische Auswertung des berühmten Löwenheim-
Skolem-Theorems untermauert, dessen allgemeine Aussage er so formuliert: Eine
erfüllbare Theorie erster Stufe (in einer abzählbaren Sprache) hat ein abzählbares
Modell. 49 Die Konsequenz, die Putnam aus diesen Überlegungen zieht, ist, daß der
metaphysische Realismus unhaltbar ist. Die von ihm vertretene Gegenposition nennt
er internen Realismus.
Nach Putnam muß Wahrheit mit „(idealisierter) Rechtfertigung (idealized justifi-
cation)" identifiziert werden. Rechtfertigung' sagt dasselbe wie .Assertibilitätsbedin-
gungen' (dieser Ausdruck wird von Putnam immer im Sinne von „condition(s) of
warranted assertibility" verstanden) 50 . Putnam drückt sich auch so aus, daß er sagt,
„daß Wahrheit eine Idealisierung der rationalen Akzeptierbarkeit ist. Wir reden, als
gäbe es so etwas wie epistemisch ideale Bedingungen, und wir nennen eine Aussage
,wahr', wenn sie unter solchen Bedingungen gerechtfertigt wäre." 51 Von Dummett
unterscheidet sich Putnam bewußt dadurch, daß er von idealisierter Rechtfertigung
spricht. Wahrheit, so argumentiert er52, kann nicht einfach „Rechtfertigung" (ohne
nähere Qualifikation) meinen. Dafür gibt er mehrere Gründe an, besonders die beiden
folgenden: (i) Man setzt voraus, daß Wahrheit eine Eigenschaft einer Aussage ist, die
nicht verloren gehen kann, während Rechtfertigung sehr wohl verlustig gehen kann
(sie ist sowohl zeitbedingt wie auch personenrelativ): (ii) Rechtfertigung läßt Grade
zu, während Wahrheit dies ausschließt. Gegen Dummett macht er auch geltend, daß
Rechtfertigungsbedingungen für Sätze nicht ein für allemal durch eine rekursive
Definition festgelegt (fixiert) werden können. Mit Quine hält Putnam daran fest, daß
Rechtfertigungsbedingungen für Sätze sich in dem Maße ändern, wie sich unser
ganzes Wissenssystem ändert.
Putnam charakterisiert den Begriff der „idealisierten Rechtfertigung oder Akzep-
tierbarkeit" mit Hilfe des Begriffs der KobärenWahrheit ist demnach
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Anhang 351
Es gibt eine große Anzahl von wahrheitstheoretischen Versuchen, die sich in vielfal-
tiger Weise von einer epistemischen und/oder pragmatischen Perspektive leiten lassen.
An dieser Stelle sollen nur einige besonders markante Beispiele kurz charakterisiert
werden. Nicht dargelegt werden sollen zwei Varianten einer pragmatisch orientierten
Theorie der Wahrheit, die im deutschsprachigen Raum eine große Verbreitung ge-
funden haben: J. Habermas' Konsensus- oder Diskurstheorie der Wahrheit 56 und die
dialogische (konstruktivistische) Theorie der Wahrheit der sog. Erlanger Schule. Der
Verfasser des vorliegenden Werkes hat beide Theorien in einem anderen Buch
ausführlich dargelegt und kritisiert 57 , wobei seit der Veröffentlichung dieses Buches
keine neuen Gesichtspunkte aufgetreten sind, die eine erneute Darlegung rechtfertigen
würden. In dem genannten Buch ist u. a. auch Tarskis semantische Theorie, Reschers
Kohärenztheorie u. a. dargestellt worden, auf die auch in diesem A N H A N G einge-
gangen wird; der Grund dafür liegt darin, daß hinsichtlich dieser letzteren Konzep-
tionen bedeutsame Änderungen eingetreten sind. Es seien im folgenden Beispiele rein
epistemisch orientierter und „gemischter" (epistemisch-semantischer bzw. -ontologi-
scher) Theorien der Wahrheit vorgeführt.
[1] D. Wiggins hat eine Theorie vorgelegt 58 , die ihren Ausgang bei unseren vortheo-
retischen Erwartungen an (den Begriff der) Wahrheit nimmt und sich auf die „Na-
türlichkeit" des Gedankens stützt, daß der Wahrheitsbegriff Merkmale besitzt. Dabei
kehrt Wiggins das Verhältnis von Wahrheit und Bedeutung um: im Gegensatz etwa
zu D. Davidson versucht er, den Wahrheitsbegriff zu charakterisieren (bzw. seine
53
Putnam [1981] S. 75 f.
54
A. a. O. S. 82.
55
Vgl. Putnam [1987] S. 31.
56
Vgl. Habermas [1973],
57
Vgl. Puntel [1978] Kap. 4.
58
Wiggins [1987],
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352 Anhang
Merkmale aufzulisten) mit Hilfe (des als schon verstanden vorausgesetzten Begriffs)
der Bedeutung. Und so wendet er sich zunächst der Aufgabe zu, ein Prinzip für die
Auflistung dieser Merkmale ausfindig zu machen; zu diesem Zweck stützt er sich auf
die bekannte, auf Frege 59 zurückgehende Einsicht: Den Sinn eines Satzes kennen,
heißt wissen, unter welchen Bedingungen er wahr ist: „(s bedeutet, daß p) genau
dann, wenn (ob s wahr ist oder nicht, davon abhängt, ob ρ oder nicht p, und hängt
nur davon ab)". 60 Wiggins reformuliert die Restriktionen für zulässige Instanzen des
Tarski-Schemas im Hinblick auf eine Theorie der Interpretation folgendermaßen: Die
Theorie Θ sollte in der Lage sein, für jeden Satz s eine kanonische Äquivalenz der
Form r (s hat Φ) = p"1 zu liefern, wobei Φ eine Eigenschaft von Sätzen ist und Θ
alle anthropologischen Erfordernisse erfüllt. Die Eigenschaft Φ muß nicht schon im
Ansatz als „Wahrheit" aufgefaßt werden. Erst nachdem die Merkmale von Φ heraus-
gearbeitet wurden, wird zu zeigen sein, daß diese Eigenschaft dem entspricht, was
„Wahrheit" heißt. Wiggins nennt die Eigenschaft Φ Assertibilität (im rein technischen
Sinne dessen, was mit „anthropologisch eingrenzende Bedingung(en)" gemeint ist)
und arbeitet fünf Merkmale assertibler Sätze heraus:
(i) Assertibilität stellt die primäre Dimension der Beurteilung für konstative und
deklarative Äußerungen dar, d. h. für solche Sätze, die für die Kundgabe von
Überzeugungen verwendet werden können.
(ii) Der Satz s hat einen
„Inhalt ...dergestalt, daß im Hinblick auf diesen Inhalt unter günstigen Unter-
suchungsbedingungen, Meinungsverschiedenheiten die Tendenz haben sollten,
sich zu verringern, und die Meinungen entsprechend die Tendenz, sich kon-
vergierend auf Ubereinstimmung zuzubewegen, wobei die beste Erklärung
dieser Konvergenz gerade so beschaffen sein sollte, die tatsächliche Assertibilität
(oder Wahrheit) von s zu erfordern". 61
(iii) „Assertibilität ist eine Eigenschaft derart, daß jede Aussage, die sie besitzt
(/nicht besitzt), sie unabhängig davon besitzt (/nicht besitzt), ob irgend jemand
dahin gelangt, von ihr überzeugt zu sein." 62
(iv) „Jede Überzeugung, deren angemessener Ausdruck ein assertibler Satz ist, hat
diese Eigenschaft kraft von etwas." 63
(v) Jeder assertible Satz ist ko-assertibel mit jedem anderen assertiblen Satz.
Die kurz dargelegte Konzeption leidet darunter, daß sie den Stellenwert der episte-
mischen Ebene als solcher nicht klärt. Wenn Wahrheit und Assertibilität zusammen-
fallen, so wird Wahrheit auf eine Ebene reduziert, deren Status nicht klar ist. Hier
handelt es sich insbesondere um das Verhältnis von „anthropologisch"-epistemischer
und ontologischer Ebene. Solange dieses Verhältnis nicht geklärt ist, bleibt diese
Ebene unterbestimmt.
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Anhang 353
[2] Brian EllisM legt eine Konzeption vor, die in einer ganz bestimmten Hinsicht
rein epistemisch orientiert ist. Sie hebt auf den Begriff der Evaluation bzw. des
Evaluationsmodus ab. Darunter versteht Ellis eine Weise der Zustimmung oder Nicht-
Zustimmung. Ihm zufolge sind die Moral und die Ästhetik Evaluationsmodi in diesem
Sinne. Die fundamentale Prämisse, auf der Ellis' Theorie basiert, ist die These, daß
Wahrheit nicht mit einer „natürlichen Eigenschaft" von irgend etwas (Sätzen, Pro-
positionen, Äußerungen) identifiziert werden kann. Ellis führt ein Argument an, das
dieselbe Struktur hat wie das bekannte Argument, das angeblich zeigen soll, daß das
Gutsein keine Eigenschaft von irgend etwas (einer Handlung) ist.
Ellis vertritt in diesem Kontext einen epistemischen Naturalismus (in Analogie zum
ethischen Naturalismus), d. h. eine Theorie, derzufolge es Uberzeugungen gibt, die
die Menschen aufgrund einer natürlichen Disposition oder Neigung als wahr akzep-
tieren bzw. als wahr beurteilen (bewerten). Diese Theorie wird von ihm dahingehend
präzisiert, daß er sie als ontologisch subjektiv und als epistemisch objektiv charak-
terisiert. Ontologisch subjektiv ist sie, weil sie Wahrheit nicht als eine Eigenschaft
von irgendwelchen Entitäten, sondern als einen Modus der epistemischen Evaluation
versteht; epistemisch objektiv ist sie in dem Sinne, daß ein intersubjektiver Konsensus
über Wahrheit und Falschheit erreicht werden kann, und zwar „because we are all
innately programmed in much the same kind of way and responding to the same
reality". 65
Ellis betrachtet Propositionen als abstrakte, ewige („platonische") Entitäten, die
unmöglich mit einer Erklärung des Wahrheitsbegriffs in Verbindung gebracht werden
können. Auf der anderen Seite behauptet er, daß seine Theorie der Wahrheit nicht
anti-realistisch ist:
„To deny the ontological objectivity of the truth relationship, or the existence
of any Platonic entities which could serve as the bearers of truth, is not the
same as to deny that there is a unique reality of which we are all cognisant.
[...] For us to explain the fact that agreement can be achieved about so
many things, it is necessary for us to suppose that there is a common reality to
which we are all responding — not a featureless noumenon, but a rich physical
realm which is for us more or less as we should describe it." 66
Dazu sei kritisch bemerkt: In welcher Weise wird von dieser „uns allen gemeinsamen
Realität" gesprochen? In welcher Weise wird auf sie Bezug genommen? In welcher
Weise wird sie „erreicht", „artikuliert"? Wenn „Wahrheit" nicht als Ausdruck für
diesen „Bezug" zur Realität genommen wird bzw. werden darf, so muß bzw. müßte
man einen anderen Ausdruck finden, um diesen Bezug zu benennen. Es liegt hier so
etwas wie ein Trugschluß vor: Man reduziert Wahrheit auf einen rein epistemischen
Evaluationsmodus, beschreibt eine Welt und deren Unverzichtbarkeit, und läßt die
Frage völlig ungeklärt — ja, man stellt sie nicht einmal —, wie bzw. als was denn
diese Realität und unser Bezug auf sie zu konzipieren ist. Dabei läßt man den
fundamentalen Umstand außer acht, daß der Ausdruck ,Wahr(heit)' von alters her
für die Klärung dieser Frage verwendet wurde.
64 Ellis [1980],
65 A. a. O.S. 86.
66 A. a. Ο. S. 98 (Hervorhebung nicht im Original).
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354 Anhang
Abschließend soll noch auf Richtungen hingewiesen werden, die sowohl die
epistemische als auch die (semantisch-)ontologische Ebene berücksichtigen und in
einer Bestimmung des Wahrheitsbegriffs zu vereinigen versuchen. Es ist hier nicht
von jenen Richtungen die Rede, die, wie etwa die Davidsons, einen epistemischen
Faktor (Kohärenz) als Kriterium und einen semantisch-ontologischen Faktor (Korre-
spondenz) als Begriff Ae.t Wahrheit annehmen. 67 Hier geht es vielmehr um explikative
oder definitionale Theorien der Wahrheit.
[3] Das vielleicht interessanteste Beispiel einer solchen Synthese von epistemischer
und semantisch-ontologischer Dimension bei der Bestimmung des Wahrheitsbegriffs
ist N. Reschers letzte wahrheitstheoretische Position. In seinem 1973 veröffentlichten
bedeutsamen Werk The Coherence Theory of Truth68 hatte er eine definitionale Korre-
spondenztheorie und eine kriteriologische (kriteriale) Kohärenztheorie der Wahrheit
entwickelt. Die Dualität von Begriff und Kriterium war also damals entscheidend.
In einem neueren Aufsatz 69 revidiert er seine ursprüngliche Position. Er stellt die
übliche Unterscheidung (bzw. Trennung) von „Begriff und „Kriterium" in Frage,
indem er eine Kontinuitätsbedingung zwischen Kriterium und Definition einführt und
formuliert. Die auf den ersten Blick so natürliche und einleuchtende Distinktion
zwischen Begriff und Kriterium erweist sich bei näherem Zusehen als sehr proble-
matisch: Damit X Kriterium für Y sein kann, muß zwischen X und Y eine innere
Verknüpfung oder Kontinuität bestehen, die adäquat erst als Äquivalenz von Krite-
rium und Begriff erfaßt wird.
Ausgehend von seiner früheren Position, derzufolge der Kohärenzgedanke das
Kriterium und der Korrespondenzgedanke den Begriff der Wahrheit darstellt, gelingt
es Rescher aufgrund einer geschickten Einführung von Begriffen (Vollständigkeit,
Angemessenheit, optimale Kohärenz, vollständige Datenbasis usw.), die beiden fol-
genden Thesen zu beweisen: I. Wahr => ideal kohärent; II. ideal kohärent => wahr.
Wahrheit wird daher als ideale Kohärenz definiert. Rescher weist jedoch nach, daß
und inwiefern dieser Begriff der Wahrheit den alten Gedanken der adaequatio ad rem
nicht nur nicht ausschließt, sondern explizit aufnimmt. Dieser Nachweis erfolgt auf
der Grundlage des folgenden Definitionszusammenhangs: Den Begriff der optimalen
Kohärenz definiert der Begriff der perfektionierten (vollendeten) Datenbasis; dieser
letzte Begriff wird seinerseits unter Rekurs auf den Realitätsstatus der postulierten
Datenbasis bestimmt. Im Rahmen dieser Voraussetzungen wird klar, daß „Adäquatio-
nismus" (d. h. die sich auf den Gedanken der adaequatio stützende Theorie) und
Kohärentismus effektiv äquivalent sind. Dabei ist Rescher sehr bemüht hervorzuhe-
ben, daß es sich bei dieser Bestimmung des Wahrheitsbegriffs um ideale Kohären^
handelt, also um eine Kohärenz, die wir faktisch kaum oder überhaupt nicht erreichen
können.
Mit dieser letzten Entwicklung erhält Reschers Theorie der Wahrheit eine ein-
drucksvolle Geschlossenheit. Allerdings darf die Schwäche der Konzeption nicht
übersehen werden. Auf drei Gesichtspunkte sei hingewiesen, (i) In einer gewissen
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Anhang 355
[4] R. Tuomela erarbeitet im Anschluß an W. Seilars die Grundzüge einer Theorie der
Wahrheit, die eine andere Form einer Synthese zwischen epistemischen und ontolo-
gischen Faktoren darstellt. 71 Im folgenden soll nicht explizit auf die ursprüngliche
Theorie W. Sellars' als solche eingegangen werden. Tuomelas Konzeption bewahrt
die zentralen Einsichten dieser Theorie. Ihm zufolge ist der „vollständige" Wahr-
heitsbegriff die Synthese eines epistemischen und eines korrespondenz-relationalen
Wahrheitsbegriffs. Die epistemische Wahrheit (W c ) wird von ihm so definiert:
Ein Satz S ist wahr,, in der Sprache L genau dann, wenn S entsprechend
den semantischen Regeln von L (und der aufgrund dieser Regeln mögli-
cherweise erforderlichen kontextuellen Sonderinformation) korrekt asserti-
bel ist.
Kurz: Wahrheit^ ist korrekte Assertibilität.
Der andere Wahrheitsbegriff wird von Seilars als „Relation der Widerspiegelung"
(„relation of picturing") bestimmt, allerdings auf der Basis einer naturalistisch-
nominalistischen Konzeption: es handelt sich um eine Isomorphierelation zwischen
zwei Systemen von Objekten, dem System der naturalistisch-linguistischen und dem
System der naturalistisch-nichtlinguistischen Objekte. 72 Tuomela spricht von Wider-
spiegelung als einer kausalen (oder kausal fundierten) Relation zwischen Sätzen und
„jenen Ausschnitten der Welt, auf die sie sich beziehen". 73 Sowohl Sellars als auch
Tuomela lehnen Tatsachen als ontologische Entitäten (d. h. als Komponenten der
Welt) ab. Widerspiegelungswahrheit meint eine Isomorphierelation zwischen einem
naturalistisch-linguistischen relationalen System von Objekten und einem nicht-lin-
guistischen relationalen System von Objekten. Folgende Äquivalenz wird auf dieser
Basis formuliert:
S ist wahr w dann und nur dann, wenn s wahr c ist.
Im Aufsatz „Truth and Best Explanation" geht Tuomela einen Schritt weiter und
behauptet die Äquivalenz der folgenden Aussagen (T = Theorie):
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356 Anhang
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Anhang 357
6 Ontologische Perspektive
77 Mulligan/Simons/Smith [1984],
78 Die genaue Definition lautet:
α ist ein Moment genau dann, wenn α existiert und α ist de re notwendigerweise
von der Art, daß es entweder nicht existiert oder daß es zumindest einen Gegen-
stand h gibt, welcher nicht notwendigerweise existiert und welcher kein echter
oder unechter Teil von α ist (vgl. a. a. O. S. 219).
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358 Anhang
Die Annahme von Momenten basiert auf einer Objektontologie in der besonderen
Form der Substanzontologie. Aber damit handelt man sich jene Probleme ein, die
mit den ungeklärten Begriffen bzw. Entitäten „Objekt", „Substanz" u. ä. gegeben
sind. Darauf wurde ausführlich eingegangen. Mulligan/Simons/Smith verlieren kein
Wort darüber, wie denn das „Verhältnis" von Momenten und „selbständigen Gegen-
ständen" (den Substanzen) zu konzipieren sei. Hinsichtlich des spezifisch wahrheits-
theoretischen Erklärungswertes der „Moment"-Theorie ist festzustellen, daß ein recht
vager Begriff der Beziehung des Wahrmachens „definiert" wird. Der Wahrheitsbegriff
selbst wird nicht erklärt. Das zeigt sich u. a. darin, daß nicht erklärt wird, wie der
Satz durch ein Moment „wahr gemacht" wird.
6.2 Propositionale Perspektive
6.2.1 Einleitung
Lange Jahre galten jene Entitäten, die in der englischsprachigen Literatur „proposi-
tions" und/oder „states of affairs", „facts" u. ä. und im deutschsprachigen Raum
„Propositionen", „Sachverhalte" („Sachlagen"), „Situationen" u. ä. genannt werden,
als zuhöchst suspekt. In den letzten Jahren ist diesbezüglich eine deutliche Wende
eingetreten. Es gibt kaum einen neuen Ansatz in der Semantik und Wahrheitstheorie,
der nicht in der einen oder anderen Weise solchen Entitäten eine zentrale Stellung
einräumt: Diese überraschende neue Entwicklung hat die Ausgangslage für eine
Theorie der Wahrheit von Grund auf geändert. Dem soll in diesem Abschnitt
ausführlich Rechnung getragen werden.
Zuvor ist eine wichtige Bemerkung zur Terminologie am Platz. Von einer einheit-
lichen Terminologie ist man heute noch weit entfernt. Im englischsprachigen Raum
werden hauptsächlich fünf Ausdrücke verwendet, die manchmal als mehr oder weniger
synonyme, manchmal aber als bedeutungsverschiedene Ausdrücke verstanden werden:
„proposition", „state of affairs", „situation", „condition", „fact". Im Deutschen
dürften folgende Entsprechungen angemessen sein: „Proposition", „Sachverhalt",
„Situation" (oder „Sachlage"), „Zustand", „Tatsache".79 Wie diese Ausdrücke genau
verstanden werden bzw. in welchem Beziehungszusammenhang sie zueinander stehen
(wenn sie, wie meistens angenommen wird, nicht als synonyme Ausdrücke betrachtet
werden), hängt von der jeweiligen Theorie ab. Fest steht, daß alle diese Ausdrücke
in der einen oder anderen Weise Aspekte eines großen und einheitlichen Zusammen-
hangs artikulieren.
Hier drängt sich die Frage auf, wie dieser große und einheitliche Zusammenhang
global bezeichnet werden kann. Vermutlich kann auf diese Frage keine ideale, d. h.
allen Gesichtspunkten Rechnung tragende und alle Philosophen befriedigende Ant-
wort gegeben werden. Man könnte einen Neologismus bilden, um den globalen
Zusammenhang zu benennen; aber Neologismen sind in vielerlei Hinsicht proble-
matisch. Statt dessen wird in diesem Buch eine pragmatische Lösung bevorzugt: die
Ausdrücke .Proposition' und Sachverhalt' — einzeln oder zusammen genommen —
werden als synonyme und globale Termini verwendet, bis im Kap. 3 eine entspre-
chende Theorie explizit entwickelt wird. Dann wird der (partielle) Neologismus
79 Zur Geschichte dieser Ausdrücke bzw. Begriffe vgl. Nuchelmans [1973] und
[1980]; Smith [1988]; vgl. auch Olson [1987],
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Anhang 359
.Verhalt' eingeführt und bevorzugt verwendet. Wenn die in diesem Buch vertretene
Konzeption der „Proposition" gemeint ist, wird dieser Ausdruck fett geschrieben
(Proposition).
Im folgenden wird zunächst eine Auffassung referiert, die in ausgezeichneter Weise
weitverbreitete Intuitionen bezüglich der propositionalen Perspektive im Zusammen-
hang mit der Theorie der Wahrheit artikuliert und formalisiert. Sodann sollen die
drei klassischen Ansätze zur Bestimmung der hier anvisierten Entitäten dargelegt und
im Anschluß daran auf neue Ansätze hingewiesen werden. Damit ist die Aufgabe
verbunden, das immense Gebiet der neuen Propositionstheorien zu sichten. Dies soll
in der Weise geschehen, daß zunächst Kriterien für eine Typologie der gegenwärtigen
Propositionstheorien ausgearbeitet werden. Das Ergebnis der Anwendung dieser
Kriterien ist der Entwurf einer Typologie der gegenwärtigen Propositionstheorien.
80 Pendlebury [1986],
81 A. a. O. S. 177.
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360 Anhang
82 Dabei knüpft Pendlebury an Wittgensteins Tractatus („1.1: Die Welt ist die Ge-
samtheit der Tatsachen, nicht der Dinge.") an.
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Anhang 361
[2] Zur Terminologie ist eine wichtige Anmerkung zu machen. Einige Autoren
bestimmen die Proposition als Äquivalen^klasse eines Satzes (d. h. als Klasse der logisch
äquivalenten Sätze). So definiert P. Weingartner „Proposition" folgendermaßen:
„Die Proposition Prop(p) des Satzes ρ ist die (inferenzielle) Äquivalenz-
menge Äq(p) des Satzes p; d. h. die Klasse aller mit ρ (inferenziell) äqui-
valenten Sätze." 83
Weingartner legt eine ganze Reihe von äquivalenten Definitionen vor, so ζ. B.: „Die
Proposition Prop3(p) des Satzes ρ ist die Folgerungsmenge Fl(p) des Satzes p: Prop3(p)
= Df Fl(p)". 84 Dieser Autor definiert aber die Proposition auch als (Äquivalenz-)
Menge von Urteilen:
„Die Proposition Prop 2 (u) des Urteils u ist die (inferenzielle) Äquivalenz-
menge Äq(u) des Urteils u; d. h. die Klasse aller mit u (inferenziell) äqui-
valenten Urteile." 85
Diese Auffassung soll hier unberücksichtigt bleiben, und zwar aus dem Grund, weil
diese Verwendung des Ausdrucks .Proposition' völlig ungeeignet ist. Hier sollen nur
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362 Anhang
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Anhang 363
91 Diese Bezeichnung geht auf S. Shoemaker und P. Geach zurück (vgl. Bealer [1982]
S. 274 Anm. 2).
92 Vgl. Goodman [1955].
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364 Anhang
Die weitere hier noch zu berücksichtigende These betrifft das Verhältnis zwischen
den beiden Arten von Entitäten. Hier sei nur auf das Verhältnis zwischen Gedanken
und Zuständen eingegangen. Wie leicht zu sehen ist, hat Bealer keine größeren
Schwierigkeiten, dieses Verhältnis als strenge Korrespondenzrelation und diese „rein
logisch" als eine strukturelle Isomorphic zu charakterisieren. Und so erklärt Bealer
den Wahrheitsbegriff als diese strenge Korrespondcnzrelation im Sinne der strukturellen
Isomorphic. Zunächst definiert er den Begriff des Bestehens so:
„x obtains iffdf for some property which has an instance, χ is just the
condition that this property does have an instance.
In symbols, χ obtains iff df (3y)((3z)z Δ y & χ = |(3z)z Δ y|y)."93
Auf der Basis dieser Definition definiert Bealer den zentralen Wahrheitsbegriff wie
folgt:
„x is true iff d f χ corresponds to a condition that obtains." 94
[3] In einer bestimmten Hinsicht ist der von D. Kaplan unter Berufung auf B. Russell
entwickelte Begriff der singulären Proposition am klarsten ontologisch orientiert. 95 Im
Rahmen einer Theorie der direkten Referenz wird das reale Objekt oder Individuum
(und nicht irgendein Begriff oder eine begriffliche Charakterisierung desselben) als
Komponente der Proposition betrachtet. Singuläre Propositionen sind daher Entitä-
ten, die aus realen Komponenten bestehen. Sie werden repräsentiert als geordnete
Paare (oder allgemeiner: als geordnete n-Tupel) bestehend aus dem Objekt (bzw. den
Objekten), das (die) als Referent(en) des (der) singulären Terms (Terme) gilt (gelten),
und aus der Eigenschaft bzw. Relation (dem Attribut), die (das) von ihm (ihnen)
prädiziert wird. Auch wenn das Objekt/Individuum real und konkret ist, ist die
Proposition nach Kaplan eine intensionale und abstrakte Entität.
Scott Soames96 hat die von dieser Richtung vertretene Propositionstheorie genauer
herausgearbeitet. Gegeben sei eine Sprache erster Stufe L mit Lambda-Abstraktion
(mitgeteilt durch Terme der Form AvS'), einem intensionalen Prädikat (.Glauben')
und einer Reihe von semantisch einfachen singulären Termen, die alle direkt referieren.
Hinsichtlich des informational-semantischen Gehalts (Wertes) gilt dann gemäß dieser
Theorie folgendes:
— der semantische Gehalt einer (freien) Variablen ν relativ zu einer Zuord-
nung f von Individuen zu Variablen ist f(v);
— der semantische Gehalt eines geschlossenen (direkt referentiellen) Terms,
relativ zu einem Kontext, ist dessen Referent relativ zum Kontext;
— die semantischen Gehalte von n-stelligen Prädikaten sind n-stellige Ei-
genschaften und Relationen;
93 Bealer [1982] S. 204. Zur Erläuterung: , Δ ' ist bei Bealer ein 2-stelliges logisches
Prädikat, das die Prädikationsrelation ausdrückt (d. h. die in der natürlichen
Sprache durch die Kopula ausgedrückte Relation); ,|A|' steht für ,der Zustand
(daß) A' (,the condition that Α'); die hochgestellte Variable besagt, daß innerhalb
des ,Zustands' quantifiziert werden darf.
94 Ebd.
95 Vgl. insbesondere Kaplan [1975].
96 Vgl. zum folgenden insbesondere Soames [1987a], bes. S. 72 ff.
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Anhang 365
— der semantische Wert von ,&' und ,-i' sind Funktionen, nämlich KONJ
und NEG, von Wahrheitswerten in Wahrheitswerte.
Der semantische Gehalt der Sätze von L sind Propositionen. Einige Beispiele:
(1) Die durch den Atomsatz r Pti,...,t n " 1 relativ zu Kontext Κ und Zuordnung
f ausgedrückte Proposition ist ((oi,...,o„X P*), wobei P* die durch Ρ
ausgedrückte Eigenschaft und Oi der Gehalt von t„ relativ zu Κ und f,
ist.
(2) Die durch eine Formel r ^ v S ] t n relativ zu Κ und f ausgedrückte Pro-
position ist « o > , g ) ; dabei ist ο der Gehalt von t relativ zu Κ und f,
während g die Funktion von Individuen o' in Propositionen bezeichnet,
die durch S relativ zu Κ und einer Zuordnung f ausgedrückt wird
(wobei sich f von f höchstens durch die Zuordnung von o' als dem
Wert von ν unterscheidet).
(3) Die durch ""nS"1 und r S & R"1 relativ zu Κ und f ausgedrückten Propo-
sitionen sind <NEG, Prop S> bzw. <KONJ, (Prop S, Prop R » , wobei
Prop S und Prop R die durch S bzw. R relativ zu Κ und f ausgedrückten
Propositionen sind und NEG und KONJ die Wahrheitsfunktionen für
Negation und Konjunktion darstellen.
(4) Die durch r 3v S"1 relativ zu Κ und f ausgedrückte Proposition ist
(EINIGE, g>, wobei EINIGE die Eigenschaft repräsentiert, eine nicht
leere Menge zu sein, und g dasselbe wie in (2) meint.
[4] Ein völlig neuartiger Versuch, eine Theorie der Proposition im weitesten Sinne
zu entwickeln, wird seit einigen Jahren von J. Barwise und /. Perry im Rahmen der
Situation Semantics unternommen. Diese Konzeption liegt noch nicht in ihrer endgül-
tigen Gestalt vor. Es kann hier nicht auf die verschiedenen Entwicklungsphasen der
Situationssemantik eingegangen werden. Nachdem die beiden genannten Autoren
Anfang der 80er Jahre mehrere programmatische Aufsätze veröffentlicht hatten, kam
1983 das Buch Situations and Attitudes heraus, 97 das eine erste größere systematische
Darstellung bringt. Aber auch über dieses Buch ist die Entwicklung inzwischen
hinweggegangen. Für die Thematik des vorliegenden Werkes soll eine Arbeit von
J. Barwise aus dem Jahr 1985 mit dem Titel The Situation in Logic-Ill: Situations, Sets
and the Axiom of Foundation98 zugrunde gelegt werden. Dabei ist zu beachten, daß
die Terminologie im Laufe der Jahre bedeutenden Modifikationen unterzogen wurde.
Früher haben die beiden Autoren den Ausdruck „Proposition" häufig verwendet,
während er in den letzten Schriften kaum erscheint. Aber es steht außer Zweifel, daß
es sich um diese Thematik handelt.
Für die hier interessierende Zielsetzung sind zwei Grundzüge der Situationsseman-
tik hervorzuheben: (a) eine dezidiert realistische Grundannahme: ausgegangen wird
von realen Situationen-, (b) eine methodische Annahme: Situationen werden mit Hilfe
mengentheoretischer Mittel modelliert. Trotz gewisser Ähnlichkeiten ist die Situa-
tionssemantik keine Semantik der möglichen Welten. Die methodische Annahme ist
so zentral, daß Barwise/Perry ( = B/P) von gewissen Problemen, die im Rahmen der
97 Barwise/Perry [1983],
98 Barwise [1985],
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366 Anhang
99 A. a. O. S. 4.
100 Barwise/Etchemendy [1987],
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Anhang 367
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368 Anhang
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Anhang 369
ausgedrückt wird. Die durch den Satz a ausgedrückte oder repräsentierte Situation
ist S(a). Wenn „Situationen" real sind, sind sie Tatsachen. Eine Situation „besteht"
oder „besteht nicht". Diese Terminologie ist heute nicht mehr gebräuchlich.
105
Vgl. dazu Coffa [1987],
106
Carnap [1942],
107
A. a. O. S. 50 f.
108
A. a. O. S. 50.
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370 Anhang
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Anhang 371
als die Menge der Modelle Ζ mit m als erstem, i als zweitem Argument und j als
Wert: Pj"ai = Df {Z| Ζ e Ζ Λ Z(m, i) = j}. Für weitere Einzelheiten sei auf die
Darstellung bei Stegmüller verwiesen.
Der oben skizzierte Begriffsapparat sei begriffliches System Β genannt. Es handelt
sich um ein nicht-linguistisches System. Stegmüller zeigt skizzenhaft, in welcher Weise
ein diesem System entsprechendes semantisch interpretiertes Sprachsystem L einge-
führt werden kann. 113 Die Zeichenmenge von L enthält: Individuenkonstanten,
Prädikate und Prädikatfamilien, die den entsprechenden Entitäten aus Β eindeutig
zugeordnet sind, ferner Junktoren, Quantoren und das Identitätssymbol. „Satz in L "
wird rekursiv definiert und der semantischen Regel für Sätze unterzogen, dergemäß
jedem Satz S die Proposition zugeordnet wird, die S ausdrückt. In dieser linguistischen
Perspektive wird nun die Proposition als die Wabrheitsmenge W von S (also: W(S))
interpretiert. Die Wahrheitsmenge wird als die Menge der Modelle bestimmt, in
denen der Satz erfüllt ist. Damit ist klar, daß der so verstandene Begriff der Proposition
ein Begriff der extensionalen Semantik ist. Das rekursive Verfahren verläuft folgen-
dermaßen: Den atomaren Sätzen werden Modellklassen, den logischen Operatoren
(in Anwendung auf Sätze) mengentheoretische Operatoren (in Anwendung auf die
entsprechenden Wahrheitsmengen) zugeordnet. Die rekursive Definition sieht dann
so aus:
(a) Wenn S für beliebige Indizes m, i und j der Atomsat£ von L mit der
i-ten Individuenkonstante und dem j-ten Prädikat der m-ten Familie
ist, dann
W ( S ) = D f {Z| Z e Z λ Z(m,i) = j};
(b) W(-|S) = W(S):
(c) W ( S , ν S 2 ) = „ ^ ( S , ) υ W(S 2 );
(d) W (S, Λ S 2 ) = D, W (S,) η W (S 2 );
(e) wenn S ein Identitätssatz ist, in welchem rechts und links von , = '
dieselbe Individuenkonstante vorkommt, dann W (S) = Z\
(f) wenn S ein Identitätssatz ist, in welchem links von , = ' eine andere
Individuenkonstante vorkommt als rechts, dann W (S) = 0;
(g) wenn S aus einem Allquantor, gefolgt von der Aussageform S* besteht,
dann W (S) =DiC\ W (S ,*)(i läuft über alle Individuenindizes).114
[1] Im allgemeinen wird die Proposition als eine Menge möglicher Welten oder als
eine Funktion von der Menge der möglichen Welten in die Wahrheitswerte {1, 0}
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372 Anhang
bestimmt, wobei 1 für „wahr" und 0 für. „falsch" steht. Zunächst soll einiges zur
allgemeinen Motivation für die Einführung so verstandener Propositionen gesagt wer-
den. D. Lewis nennt vier Problemkreise oder Gebiete, die durch die Annahme von
Propositionen im angegebenen Sinne gelöst bzw. erklärt werden können,
(i) Der wichtigste Problemkreis ist der Bereich der Modalität(en). Wenn wir sagen,
daß unsere Welt wirklich (real) ist, so setzen wir voraus, daß es so etwas wie mögliche
Dinge oder Welten „gibt" (in welchem Sinne auch immer). „Notwendig" ist etwas
dann und nur dann, wenn es in allen (möglichen) Welten gilt (im Falle von Sätzen)
oder existiert (im Falle von nicht-linguistischen Entitäten). (ii) Der Problemkreis der
Kontrafakti^ität kann ohne die Annahme von möglichen Welten nicht erklärt werden,
(iii) Der Inhaltsbereich des Denkens (oder der sog. propositionalen Einstellungen)
schließt die Dimension der möglichen Welten ein. Stalnaker hebt den Problemkreis
der Intentionalität hervor, den er so umschreibt: Wie repräsentieren mentale Zustände,
linguistische Akte und Objekte die Welt? Die Antwort lautet: dieses Repräsentieren
beinhaltet in der einen oder anderen Weise eine weitreichende Unterscheidung zwi-
schen alternativen möglichen Zuständen der Welt; ein logischer Möglichkeitsraum
wird vorausgesetzt. 116 (iv) Lewis nennt noch einen vierten Gesichtspunkt, der für die
Zielsetzung des vorliegenden Werkes von nicht geringer Bedeutung ist: die Erklärung
dessen, was eine „Eigenschaft" ist. Lewis zufolge besteht die einfachste und beste
Erklärung darin, daß eine Eigenschaft als die Menge aller ihrer Instanzen aufgefaßt
wird, mit Betonung des Ausdrucks filier', was von ihm so verstanden wird: aller
„dieserweltlichen" und „anderweltlichen" Instanzen.117 Der Begriff der Proposition
wird von ihm folgendermaßen eingeführt und bestimmt:
„I identify propositions with certain properties — namely, with those that
are instantiated only by entire possible worlds. Then if properties generally
are the sets of their instances, a proposition is a set of possible worlds. A
proposition is said to hold at a world, or to be true at a world. The proposition
is the same thing as the property of being a world where that proposition
holds; and that is the same thing as the set of worlds where that proposition 118
holds. A proposition holds at just those worlds that are members of it." 119
Cresswell120 versucht zu zeigen, daß mögliche Welten in einem metaphysisch neutralen
Sinne eine unabdingbare Voraussetzung und Implikation bestimmter Phänomene
sind. Als Beispiel analysiert er ein Thermometer. Als System betrachtet, reagiert ein
Thermometer unterschiedlich auf unterschiedliche Umstände. Wenn nun ein Ther-
mometer etwa 15° C anzeigt, so geschieht folgendes: Es wird vorausgesetzt, daß ein
ganzes vollständiges physikalisches System w gegeben ist, das alle Tatsachen enthält,
einschließlich aller Tatsachen über den internen Zustand des Thermometers. Wie
immer wir ein Thermometer „lesen" („interpretieren"), in jedem Fall wird dabei die
Annahme gemacht, daß es eine Menge von Welten gibt, die das Thermometer
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Anhang 373
„richtig", und eine andere Menge von Welten, die das Thermometer „falsch" („un-
richtig") macht.
[2] Meistens werden die oben genannten Formulierungen der Definition von Pro-
positionen als äquivalent betrachtet, so daß einige Autoren nur die erste, andere nur
die zweite und wieder andere unterschiedslos beide verwenden. In Wahrheit handelt
es sich hier um eine sehr komplexe Problemlage.
Am besten geht man von der Bestimmung der Wahrheit des Satzes im Rahmen
(einer der Spielarten) der Semantik der möglichen Welten aus. Demnach ist ein Satz
S in einer Welt w wahr dann und nur dann, wenn S eine Proposition Ρ ausdrückt,
im Sinne einer Menge von möglichen Welten, und wenn w in Ρ ist. Von hier aus ist
es nicht mehr schwer, die durch den Satz S ausgedrückte Proposition P, d. h.
Propositions, als eine Funktion von der Menge aller möglichen Welten Μ in die Menge
der Wahrheitswerte {1, 0} zu bestimmen.
Wie ist es zu verstehen, daß Propositionen oft auch einfach als „Mengen von
möglichen Welten" bestimmt werden? Um diesen Sachverhalt zu erklären, definiert
G. Linkm zunächst folgende Funktionen:
(1) Ints: Λί —• {1, 0}.
Μ (Μ) : = B M (S)
(wobei Ints die Intension von S und B m (S) die Bewertung von S im Modell [oder in
der Welt] Μ bezeichnet). Dann schreibt er:
„Aus (1) geht hervor, weshalb Propositionen manchmal auch als Mengen
von Modellen bzw. .möglichen Welten' aufgefaßt werden: Jeder Intension
Int, eines Satzes S läßt sich nämlich in eindeutiger Weise ihre .Wahrheits-
menge'
(2) W s : = {M| Μ e Λί und Μ (Μ) = 1}
zuordnen. W s ist eine Menge von Modellen [ = Welten], deren Indikator-
funktion [ = charakteristische Funktion] gerade Ints ist. Das etabliert aber
eine Bijektion zwischen {Int, | S e F* } (der Menge der Propositionen [F*
bezeichnet die Menge der Sätze in L\) und der Potenzmenge von
Λί". 122
Manche Autoren, die die erste Formulierung als Definition der Proposition verwen-
den, kümmern sich überhaupt nicht um eine Klärung dessen, was mit {1, 0} gemeint
ist. So schreibt R. Stalnaker beispielsweise:
„There are just two truth-values — true and false. What are they: mysterious
Fregean objects, properties, relations of correspondence and noncorrespon-
dence? The answer is that it does not matter what they are; there is nothing
essential to them except that there are exactly two of them. We could
formulate the definition of proposition in a way that did not mention truth-
values at all without changing its essential character: a proposition may be
thought of as a rule for selecting a subset from a set of possible worlds.
The role of the values true and false is simply to distinguish the possible
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374 Anhang
worlds that are members of the selected subset from those that are not. But
is there not more to truth than this?" 123
Es dürfte aber fraglich sein, ob diese Position annehmbar ist. Es bleibt nämlich völlig
unverständlich, warum hier überhaupt von .Wahrheitswerten' die Rede ist. Wenn
deren Rolle hier die ist, zwischen möglichen Welten zu unterscheiden, so müssen sie
dazu in der Lage sein: entsprechend muß gezeigt werden, was an ihnen ist, wodurch
sie gerade diese Rolle spielen können. Ferner: Sind die Wahrheitswerte die einzigen
„Faktoren", denen diese Rolle zugeschrieben werden kann — oder gibt es noch
andere? Wenn ja, welche? Warum nennt man sie nicht?
Auffallend in dieser Definition ist — unter vielen anderen Dingen — das „gebro-
chene Verhältnis" zur Sprache. In mindestens %n>ei zentralen Hinsichten erweist sich
die Sprache für die vorgelegte Propositionsauffassung als irrelevant. 124 (i) Entspre-
chend der genannten Definition weist die Proposition keine Struktur auf, die in
irgendeiner Weise der Struktur des sie ausdrückenden Satzes entspricht. Weder kann
die Struktur der Proposition an der Struktur des Satzes abgelesen noch kann der Satz
als adäquates Darstellungsmedium der Proposition angesehen werden. Wie sich
herausstellen wird, ist dieser Umstand von entscheidender Bedeutung. Die Struktur
der Proposition als Funktion von der Menge der möglichen Welten in die Menge
der Wahrheitswerte ist sehr allgemein und global, eine Grobstruktur. Man vermißt
jene Feinstruktur, die eine Analyse der Sprache und speziell des Satzes ans Licht
bringen kann. Eine der Konsequenzen dieser Definition betrifft das Problem der
Identität von Propositionen. Aus der Definition ergibt sich, daß zwei Propositionen
identisch sind, wenn sie (notwendig) äquivalent sind, d. h. wenn sie dieselbe Extension
haben. Aber dies ist gänzlich unplausibel, da diese Theorie eine Differenzierung des
Informationsgehalts unserer Aussagen nicht mehr gewährleistet. 125 (ii) Ein zweites
Merkmal der hier behandelten Propositionsdefinition ist, daß die Proposition eine
nicht-linguistische, eine sprachunabhängige Entität ist. Dieser Aspekt als solcher ist
nicht charakteristisch für diese Konzeption, nur die Erklärung des nicht-linguistischen
Charakters unter Rekurs auf mögliche Welten ist ein Spezifikum der hier betrachteten
Richtung.
6.2.5.3 Mögliche Welten durch Propositionen definiert
Die zweite Richtung innerhalb der Semantik der möglichen Welten bestimmt Pro-
positionen als primitive Entitäten, um mit deren Hilfe den Begriff der möglichen
Welt zu definieren. Es gibt %wei Varianten, die sich hinsichtlich der Frage unterschei-
den, ob der Begriff der möglichen Welt unter Rekurs auf mengentheoretische Dar-
stellungsmittel oder mit Hilfe eines anderen logischen Instrumentariums definiert
wird. Die entsprechenden Definitionen wurden schon im Abschnitt 3.6.1 angeführt
und kommentiert. Im folgenden sind einige ergänzende Hinweise auf spezielle Formen
dieser beiden Richtungen zu geben.
[1] Nach R. M. Adams ist eine mögliche Welt eine „Weltgeschichte (World-story)"
im Sinne einer maximal konsistenten Menge von Propositionen. 126 Das Kriterium
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Anhang 375
für die Unterscheidung zwischen wirklicher („actual") Welt und nicht-wirklichen Welten
wird aus der Dualität von wahren und falschen Propositionen entnommen: Eine
bestimmte Welt ist wirklich, weil und indem sie alle wahren Propositionen enthält.
Diese Bestimmung des Begriffs der möglichen Welt basiert auf zwei Begriffen, die
als primitiv vorausgesetzt werden: dem Begriff der Wahrheit und dem Begriff der
Proposition. Der zugrundegelegte Begriff der Wahrheit ist ein absoluter Begriff, d. h.
ein Begriff, der nicht relativ-zu-einer-Welt definiert wird. Letzterer Begriff ist der
relative Wahrheitsbegriff, den Adams mit Konsistenz zwischen Propositionen iden-
tifiziert und als einen bezüglich des Begriffs der möglichen Welt abgeleiteten Begriff
betrachtet.127 Er deutet an, daß der absolute Wahrheitsbegriff als Korrespondenzre-
lation zu verstehen ist. Hinsichtlich des Begriffs der Proposition gesteht Adams ein,
er sei nicht in der Lage, ihn zu erklären, wobei er hinzufügt, man könne, müsse aber
nicht, ihn als primitiv nehmen; er selbst betrachtet ihn allerdings faktisch als primitiven
Begriff.
[2] Eine zweite Weise, wie der Begriff der möglichen Welt auf der Basis der als
primitiv angenommenen Propositionen konstruiert werden kann, rekurriert auf den
Begriff der komplexen Proposition: Eine Welt ist demnach eine komplexe Proposition.
Aber nicht alle komplexen Propositionen sind Welten, sondern nur diejenigen, die
maximal sind: Eine mögliche Welt ist eine maximale mögliche Proposition.
Obwohl viele maximale Propositionen oder Sachverhalte „existieren", ist nur eine
wirklich („actual"). Das Unterscheidungsmerkmal für Wirklichkeit oder Nichtwirk-
lichkeit wird im (Begriff des) Bestehen(s) („to obtain") der Propositionen/Sachverhalte
gesehen. Diese Konzeption wird besonders von A. Plantinga und A. McMichael
vertreten. 128 Plantingas Konzeption soll noch etwas präzisiert werden. Er klärt nicht,
was genau Sachverhalte („states of affairs") sind; er bringt nur Beispiele, etwa:
„Quine's being a distinguished philosopher", ,,9's being a prime number" usw.
Hinsichtlich der Frage, ob Propositionen und Sachverhalte zwei verschiedene Arten
von Entitäten sind, kann er sich zu einer klaren Antwort nicht entschließen; er „neigt"
zu der Ansicht, daß sie zu unterscheiden sind. Aufschlußreich ist seine Begründung:
Nach Plantinga sind Propositionen Entitäten, die wahr oder falsch sind, geglaubt,
behauptet usw. werden, während Sachverhalte nicht wahr oder falsch sind, sondern
bestehen oder nicht bestehen („to obtain"). Die Frage, ob „bestehen" nicht gerade
als Definiens für „wahr" angesehen werden kann — wie dies von vielen Autoren
vertreten wird 129 —, stellt sich Plantinga nicht. 130
Ein weiterer Punkt betrifft die Unterscheidung zwischen transienten und nicht-
transienten Sachverhalten. Ein Sachverhalt ist transient, wenn er manchmal besteht
und manchmal nicht besteht, wie ζ. B.: „daß Nixon sich um die Präsidentschaft
bewirbt". Nicht-transient ist ein Sachverhalt, wenn er zu jeder Zeit besteht, falls er
zu irgendeiner Zeit besteht, wie ζ. B.: „daß sich Nixon 1970 um die Präsidentschaft
bewirbt", oder: „daß sich Nixon zu irgendeiner Zeit um die Präsidentschaft be-
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376 Anhang
wirbt". 131 Nur nicht-transiente Sachverhalte gehen in die Definition der möglichen
Welt ein. Das Enthaltensein eines Sachverhalts in einem anderen Sachverhalt wird wie
folgt definiert (dabei steht , < ' für: ,ist enthalten in'; ,s', ,s*' für: Sachverhalte):
s < s* gdw. s und s* notwendigerweise derart sind, daß, wenn s* besteht,
dann auch s besteht.
Auf dieser Basis wird der Begriff der möglichen Welt formal so definiert:
s ist eine mögliche Welt gdw. s ein nicht-transienter Sachverhalt ist und für
jeden nicht-transienten Sachverhalt s* gilt: wenn es möglich ist, daß sowohl
s als auch s* bestehen, dann s* < s.
Bezeichnenderweise werden die Begriffe der (relativen) Wahrheit und des Bestehens
getrennt definiert:
Eine Proposition σ ist wahr-in-der-Welt-w gdw. σ und w notwendigerweise
derart sind, daß wenn w besteht, dann σ wahr ist.
Ein Sachverhalt s besteht in der Welt w gdw. s < w.
Das Bestehen jenes maximalen Sachverhalts, mit dem die wirkliche Welt identifiziert
wird, kann diesen Autoren zufolge nicht in dieser Weise definiert werden; es wird
als primitiver Begriff verstanden. 132
6.2.5.4 Eine mögliche Synthese?
In seiner unveröffentlichten Dissertation Worlds and Propositions. The Structure and
Ontology of Logical Space versucht Ph. Brtckerm die Grundzüge einer „Standardtheorie
der Welten und Propositionen" zu entwickeln, die den beiden dargelegten Richtungen
gegenüber in dem Sinne neutral ist, daß diese als (mögliche) „Reinterpretationen" 134
der Standardtheorie aufgefaßt werden. Nach einer sorgfältigen sachlich-begrifflichen
Analyse kommt er zum Ergebnis, daß weder mögliche Welten auf Propositionen
noch Propositionen auf mögliche Welten reduziert werden können bzw. sollen;
vielmehr sollten Welten und Propositionen als irreduzible Entitäten sui generis, die
eine spezifische Rolle in unserem begrifflich-ontologischen System spielen, betrachtet
werden.
Die Standardtheorie besteht Bricker zufolge aus fünf Thesen:
These 1: Die Propositionen bilden eine Boolesche Algebra bezüglich der Implika-
tion. 135
These 2: Jede Menge von Propositionen hat eine größte untere Schranke unter der
Implikation. 136
These 3: Für jede Welt w: die Menge der Propositionen, die in w wahr sind, ist eine
maximal konsistente Menge von Propositionen. 137
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Anhang 377
Aus den bisherigen Thesen geht hervor, daß Propositionen Eigenschaften von Welten
sind, da die Proposition, die die Konjunktion aller in einer Welt w wahren Proposi-
tionen ist, ihrerseits in w wahr ist. Eine solche Proposition stellt die vollständige
Charakterisierung (oder Beschreibung) der entsprechenden Welt dar. Erfüllt aber
diese Proposition die Einzigkeitsbedingung, d. h. ist sie die einzige, die die Welt w
charakterisiert? Anders formuliert: Ist diese Proposition falsch in jeder von w ver-
schiedenen Welt? Darauf gibt die nächste These eine Antwort:
These 4: Für distinkte Welten w und ν gilt: die Menge der in w wahren Propositionen
ist verschieden von der Menge der in ν wahren Propositionen, d. h.: wenn
w φ ν, dann Pw φ Pv. 138
(Zur Erläuterung: ,Pw' (bzw. ,Pv') ist die Menge der in w (bzw. v) wahren
Propositionen.)
These 5: Jede von der Nullproposition unterschiedene Proposition ist wahr in ir-
gendeiner Welt. 139
Diese These besagt, daß die Propositionen jene (unter den Operationen der Boole-
schen Algebra abgeschlossene) minimale Struktur darstellen, die eine volle Charakte-
risierung von Welten beinhaltet, so daß distinkte Propositionen immer distinkte
Charakterisierungsfunktionen bezüglich Welten haben.
Es dürfte klar geworden sein, daß Brickers Standardtheorie von den vier folgenden
primitiven (Undefinierten) Begriffen Gebrauch macht: Proposition, Implikation, Welt,
Wahrheit-in-einer-Welt. 140 Die spveite der beiden oben dargelegten Richtungen, die
„propositionsgestützte Theorie", nimmt die Begriffe der Proposition und der Impli-
kation als primitiv und definiert mit deren Hilfe die beiden anderen Begriffe. Daraus
resultiert eine der beiden Varianten, die eine mögliche Welt als eine maximal konsistente
Menge von Propositionen definiert. 141 Intuitiv ist eine mögliche Welt in diesem Sinne
die Menge der Propositionen, die in ihr wahr sind. Damit ist auch der relative
Wahrheitsbegriff definiert: Eine Proposition ist wahr in einer Welt gdw. sie ein Element
der Menge der Propositionen ist, die in dieser Welt wahr sind. Genau:
Eine „Entität" 142 ist wahr in einer anderen „Entität" gdw. die erste ein
Element der zweiten und wenn die zweite eine maximal konsistente Menge
von Propositionen ist. 143
Entsprechend der zweiten Variante, die eine mögliche Welt als eine maximale Pro-
position definiert, gilt:
Eine „Entität" ist wahr in einer anderen „Entität" gdw. die erste von der
zweiten impliziert wird und die zweite eine Maximalproposition ist. 144
138 A. a. O. S. 69.
139 A. a. O. S. 80.
140 Vgl. a . a . O . S. 117.
141 A. a. O. S. 121.
142 Bricker sagt .thing'.
143 Ebd.
144 A. a. O. S. 123.
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Die erste Richtung (bzw. Reinterpretation) der „Standardtheorie" führt nur einen
primitiven, Undefinierten Grundbegriff ein: den Begriff der möglichen Welt(en). Die
drei anderen Begriffe werden mit dessen Hilfe folgenderweise definiert:
Ρ ist eine Proposition gdw. Df Ρ eine Menge von möglichen Welten ist.
Eine „Entität" impliziert eine andere „Entität" gdw. die erste in der zweiten
enthalten ist und beide Mengen von möglichen Welten sind.
Eine „Entität" ist wahr in einer anderen „Entität" gdw. die zweite ein
Element der ersten ist und die erste eine Menge von Welten ist.145
Nur nebenbei bemerkt Bricker,146 daß zwischen dem relativen Wahrheitsbegriff („wahr-
in-einer-Welt") und dem absoluten Wahrheitsbegriff streng zu unterscheiden ist. Wie der
absolute Wahrheitsbegriff zu definieren ist, das läßt er vollkommen offen. Sympto-
matisch ist seine Bemerkung, daß weder der absolute Wahrheitsbegriff noch auch der
Begriff der Wirklichkeit („actuality") in den von ihm dargestellten Theorien eine
(explizite?) Rolle spielen, und zwar weder als primitive noch als definierte Begriffe. 147
145
A.a; O. S. 142 f.
,46
Vgl. a. a. O. S. 117.
147
Vgl. ebd.
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