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Anhang

Zur Entwicklungsgeschichte der Theorie


der Wahrheit seit Tarski

Es wird hier davon ausgegangen, daß Philosophiegeschichte und (systematisch ver-


standene) Philosophie streng zu unterscheiden sind. Diese These schließt aber kei-
neswegs die andere These aus, daß die Philosophiegeschichte der systematischen
Philosophie, wenn nicht unentbehrliche, so doch gute Dienste leisten kann. In dieser
Hinsicht erscheint eine kurze Darstellung der Entwicklungsgeschichte der Theorie
der Wahrheit seit Tarski angebracht. 1 Warum aber erst seit Tarski? Die Antwort
lautet: Weil erst mit Tarski die Theorie der Wahrheit eine eigene, präzise und
selbständige Gestalt erhalten hat. Damit wird nicht im mindesten bestritten, daß
schon vor Tarski sehr wichtige wahrheitstheoretische Elemente zu finden sind. Es
genüge hier, auf die analytische Tradition hinzuweisen, besonders auf Autoren wie
Frege, Russell, Wittgenstein. Unbestreitbar aber bildet Tarski den schlechterdings
zentralen und fiiir alle wahrheitstheoretischen Versuche absolut obligatorischen Be-
zugspunkt. In diesem ANHANG soll in äußerster Gedrängtheit eine kleine Skizze
einiger der wichtigsten Positionen, Ansätze und Problemstellungen seit Tarski ge-
geben werden. Diese Skizze beansprucht keineswegs Vollständigkeit und sie versteht
sich auch nicht als eine irgendwie neutrale Schilderung der Hauptstationen in der
Entwicklungsgeschichte der Theorie der Wahrheit. Vielmehr stellt sie eine von der
in diesem Buch vertretenen Konzeption explizit geprägte Sichtung einiger der wich-
tigsten wahrheitstheoretischen Positionen dar. 2 Einen Schwerpunkt wird die Dar-
stellung der verschiedenen Propositionstheorien bilden; angesichts der Bedeutung
dieser Thematik für die in diesem Buch entwickelte Konzeption dürfte dies als
verständlich und gerechtfertigt erscheinen.

1 Vgl. dazu die Hinweise in der Einleitung S. 8.


2 Zu einer konzisen kritisch-systematischen Darstellung der Wahrheitstheorien der
Gegenwart und der jüngsten Vergangenheit vgl. Puntel [1978]. Der nachfolgende
ANHANG ist als eine Fortsetzung und Vertiefung, aber auch in manchen Aspekten
und Details als Korrektur der Darstellung aus dem Jahre 1978 zu verstehen. Aufs
Ganze gesehen ist eine deutliche Akzentverlagerung unverkennbar.

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Anhang 339

1 Der nicht-eindeutige Status von Tarskis semantischer Theorie der Wahrheit


Die Diskussionen über Tarskis epochale wahrheitstheoretische Leistung reißen nicht
ab. Sie machen eines deutlich: der philosophische Status seiner semantischen Theorie
der Wahrheit ist nicht ganz eindeutig. Es hilft in diesem Kontext wenig, auf Tarskis
bekannte Äußerung hinzuweisen, er glaube nicht, „daß es so etwas wie ,das philo-
sophische Problem der Wahrheit' gibt" 3 . Die Wirkungsgeschichte seiner Theorie läßt
keinen Zweifel daran, daß sie — wie immer sie intendiert gewesen sein mag — eine
gewaltige philosophische Bedeutung gehabt hat und immer noch hat. Im folgenden
kann keine auch nur annähernd vollständige und angemessene Tarski-Interpretation
versucht werden; vielmehr sollen nur einige Diskussionspunkte genannt werden, die
für die weitere Entwicklung von großer Bedeutung gewesen sind und immer noch
sind.

[1] Ein problematischer Aspekt von Tarskis semantischer Theorie wurde schon im
Abschnitt 1.2 im Rahmen der Kritik des wahrheitstheoretischen Deflationismus
ausführlich erörtert. Daraus geht hervor, daß gerade jenes Wahrheitsschema, das so
oft als Charakterisierung der Wahrheit verwendet wurde und wird, nicht als adäquate
(formale) Wiedergabe des von Tarski selbst mustergültig formulierten intuitiven
Verständnisses von „Wahr(heit)" gelten kann. Ferner wurde deutlich, daß es alles
andere als klar ist, wie der Satz ,p' auf der rechten Seite der Äquivalenzformel zu
nehmen ist. ι
Hier ist nun auf eine grundlegende Ambiguität oder sogar auf ein Dilemma in
Tarskis (Formulierungen seiner) Theorie der Wahrheit hinzuweisen. Es handelt sich
um einen Faktor, der auf subtile Weise der ganzen Entwicklung und Wirkungsge-
schichte der Tarskischen Konzeption zugrunde liegt. Wie R. C. Jennings gezeigt hat4,
kann man in den Schriften Tarskis zwei verschiedene, sich gegenseitig ausschließende
Interpretationen des berühmten Beispiels
(1) .Schnee ist weiß' ist wahr genau dann, wenn Schnee weiß ist
finden. Gemäß der ersten Interpretation behauptet (1), daß ,Schnee ist weiß' wahr
ist dann und nur dann, wenn Schnee weiß ist. Nach der zweiten Interpretation
behauptet (1), daß die beiden Sätze .»Schnee ist weiß« ist wahr' und .Schnee ist weiß'
äquivalente Sätze sind. Man kann leicht Texte finden, die einmal die erste, einmal die
zweite Interpretation stützen. Der Unterschied zwischen beiden Interpretationen
besteht darin, daß (1) gemäß der ersten eine „Übereinstimmung" zwischen einem
wahren Satz und einem Zustand der Welt, gemäß der zweiten aber eine Äquivalenz
zwischen zwei Sätzen (einem Satz der Objektsprache und einem Satz der Metasprache)
behauptet. Diejenigen — zahlreichen — Autoren, die Tarski eine Korrespondenz-
theorie der Wahrheit zuschreiben5, vertreten natürlich die erste Interpretation. Jen-
nings zeigt nun, daß diese Interpretation eine bedeutsame Implikation hat: nämlich
einen ontologischen Relativismus. 6 Wenn man es unternimmt, im Rahmen einer

3 Tarski [1944] S. 86.


4 Jennings [1987],
5 Vgl. besonders Popper [1969], bes. S. 219 Anm. *1; Haack [1976],
6 Vgl. Jennings [1987] S. 158 ff.

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340 Anhang

Metasprache, die Beziehungen zwischen Sprache und Welt zu klären, ist ein Vokabular
nötig, das sich direkt auf die Welt bezieht, und ein (anderes) Vokabular, das sich auf
die Ausdrücke der Objektsprache bezieht. Aber nach Tarskis semantischer Theorie
der Wahrheit enthält die Metasprache kein Vokabular, das sich unabhängig vom
Vokabular der Objektsprache auf die Welt bezieht; m. a. W.: unser einziger Zugang
zur Welt verläuft über die Objektsprache. So muß gesagt werden: die Metasprache
bezieht sich auf dieselbe Welt wie die Objektsprache; daher ist die Welt der Meta-
sprache relativ zur Welt der Objektsprache. Jennings führt ein Beispiel aus der Chemie
des 18. Jahrhunderts an: .Phlogiston wird im Verbrennungsvorgang freigesetzt' ist
wahr dann und nur dann, wenn Phlogiston im Verbrennungsvorgang freigesetzt
wird. Dies zeigt, daß die Metasprache die Ontologie der Objektsprache übernimmt.
Diese Konsequenz wird von der zweiten Interpretation vermieden, aber um den
Preis, daß jede Bezugnahme auf die Welt unterbleibt.

[2] Das Wahrheitsschema


(2) χ ist wahr genau dann, wenn ρ
stellt nach Tarski nicht die Definition von „Wahr(heit)" dar. Eine solche (allgemeine)
Definition liegt nur dann vor, wenn alle Äquivalenzen des Schemas (2), die als
partielle Definitionen angesehen werden können, gegeben sind, wenn also die logische
Konjunktion aller dieser partiellen Definitionen erreicht ist. Wenn man aber nicht
die Definition des allgemeinen Wahrheitsprädikats, sondern nur die Definition der
Wahrheit einer bestimmten Aussage im Auge hat, so kann man sie erreichen, indem
man diese Aussage als eine Instanz des Schemas (2) betrachtet. So stellt die Formu-
lierung (1) nach Tarski eine (vollständige) Definition der Wahrheit des Satzes .Schnee
ist weiß' dar. 7
Damit ist aber nicht alles gesagt. Denn Tarski begnügt sich nicht mit den bisher
referierten allgemeinen Ausführungen über das Wahrheitsschema und seine Äquiva-
lenzen. Er tut einen bedeutsamen Schritt in eine Richtung, die seitdem im Zentrum
der wahrheitstheoretischen Diskussionen steht. Der Anlaß für Tarskis weiteren Schritt
war eine Art Postulat, dem er sein semantisches Unternehmen unterworfen wissen
wollte:
„[Jedenfalls werde ich mich bei dieser Konstruktion keines semantischen
Begriffes bedienen, wenn es mir nicht vorher gelingt, ihn auf andere Begriffe
zurückzuführen." 8
Die allerletzten Begriffe, auf die die semantischen Begriffe reduziert werden müssen,
sind nach Tarski physikalistische Begriffe. Was den Wahrheitsbegriff anbelangt, so war
es für ihn naheliegend, ihn (zunächst) auf den Begriff der Erfüllung zu reduzieren,
d. h. im Falle eines elementaren prädikativen Satzes auf die Begriffe der Referenz
oder Denotation (des singulären Terms) und der Anwendung (des Prädikats).' Damit
war eine ganz bestimmte Konzeption des Satzes verbunden, die ihren Ausdruck

7 Vgl. Tarski [1969], bes. S. 64.


8 Tarski [1935] S. 448.
9 Wie die entsprechende Definition von „Wahr(heit)" genau zu konzipieren ist, kann
an der ausgezeichneten Rekonstruktion in Soames [1984], bes. S. 264 ff., ersehen
werden.

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Anhang 341

vorwiegend im sog. Kompositionalitätsprin^ip gefunden hat, wonach der semantische


Wert des Satzes funktional abhängig ist nur von den semantischen Werten der
Satzkomponenten. Primär ist also nicht der Satz, primär sind vielmehr die Satzkom-
ponenten. Damit wurde das Problem der Referenz (des singulären Terms) zum
zentralen und eigentlichen Problem der Semantik erhoben; der Wahrheitsbegriff war
nur noch ein Aspekt dieses Problems. Wie G. D. Romanos10 hervorhebt, ist Tarskis
Wahrheitskonzeption ein Ausdruck der analytischen Konzeption der Sprache, derzufolge
Bedeutungs- bzw. Referenzfragen eine logische Priorität gegenüber Wahrheitsfragen
besitzen. Man muß hinzufügen, daß diese Priorität im Sinne des Kompositionalitäts-
prinzips zu verstehen ist. Wie sich herausstellen wird, ist die wahrheitstheoretische
Diskussionsgeschichte im Anschluß an Tarski entscheidend durch den Versuch ge-
prägt, den Primat des Satzes zu behaupten und zur Geltung zu bringen; es wird sich
aber auch zeigen, daß dieser Versuch keineswegs konsequent durchgeführt wurde.
Wenn man für die These des Primats des Satzes den Ausdruck .Kontextprinzip'
verwendet, so ist zu sagen, daß die zentrale Frage, die meistens implizit und manchmal
auch explizit die ganze wahrheitstheoretische Diskussion seit Tarski durchzieht, so
zu formulieren ist: Welchem der beiden genannten Prinzipien (dem Kompositionali-
tätsprinzip bzw. dem Kontextprinzip) kommt der semantische Primat zu? Es kann
an dieser Stelle nicht auf die notwendigen (und teilweise sehr subtilen) Differenzie-
rungen eingegangen werden, die hinsichtlich der beiden Prinzipien zu machen sind.
Dies wird ausführlich im Abschnitt 3.3 geleistet.

[3] Tarski schreibt „Wahr(heit)" ausschließlich dem Satz zu. Entitäten wie „Propo-
sitionen", „Sachverhalte", „Tatsachen" u. ä. kennt er in seiner Theorie nicht. Dies
mutet um so eigenartiger an, als er in der informalen Charakterisierung des Wahr-
heitsbegriffs ausdrücklich vom „Sichverhalten der Sachen" spricht und auch sonst
den Ausdruck .Sachverhalt' verwendet.11 Es wird hier wieder bestätigt, was oben
und im Abschnitt 1.2 gezeigt wurde: Tarski gelingt es nicht, das von ihm selbst
formulierte intuitive Wahrheitsverständnis in seine formale Theorie der Wahrheit
einzufangen. Ist mit der Behauptung des Primats des Satzes nicht auch die Annahme
von „Propositionen", „Sachverhalten" u. dgl. verbunden? Auch diese Frage gehört
zu den zentralen Fragen der wahrheitstheoretischen Diskussion seit Tarski.

[4] Es gehört zu den wesentlichen Merkmalen der Tarskischen Semantik, daß Fragen
der Kognitivität, des Verständnisses, des Erlernens, des Gebrauchs u. ä. von sprach-
lichen Ausdrücken nicht als semantische Fragen angesehen werden. Es ist nun
symptomatisch, daß ein erheblicher Teil der Diskussionen über den Tarskischen
Wahrheitsbegriff um die Frage kreist, ob und wie er so „umfunktioniert" werden
soll, daß er in Verbindung mit den genannten Fragen gebracht werden kann. Die
Merkwürdigkeiten, denen man in diesem Rahmen begegnet, wurden noch nicht
ausreichend untersucht. Einen klärenden Beitrag hat Scott Soames in dem schon
mehrmals angeführten Aufsatz über Tarski geleistet.12

10 Vgl. Romanos [1983] S. 165.


11 Vgl. Tarski [1944] S. 56, 60 u. ö.
12 Vgl. Soames [1984],

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342 Anhang

[5] Ein letzter Aspekt ist noch zu nennen. Bekanntlich war die Wahrheitsantinomie
einer der wichtigsten Faktoren, der die Entwicklung von Tarskis semantischer Theorie
der Wahrheit bedingt hat. Aus der Annahme, daß die natürliche Sprache eine
semantisch geschlossene Sprache ist und daß jede semantisch geschlossene Sprache
zu Paradoxien führt, zog Tarski die Konsequenz, daß es nicht möglich ist, den oder
einen Wahrheitsbegriff für die natürliche Sprache zu definieren. Seitdem haben die
Diskussionen über die Wahrheitsparadoxie nicht aufgehört und heute bilden sie die
Hauptthematik dessen, was im allgemeinen „Theorie der Wahrheit" genannt wird.
Dabei ist Tarskis Konzeption der selbstverständliche Ausgangs- und Bezugspunkt
für alle Versuche in dieser Richtung. Wie im Abschnitt 1.1 gezeigt wurde, gehört
diese Thematik zur dritten, der evaluativ-extensionalen Subtheorie der Wahrheit. Da
sich dieses Buch nicht direkt mit dieser Thematik befaßt, sollen die entsprechenden
Diskussionen unberücksichtigt bleiben.

2 Probleme der „analytischen Konzeption der Sprache":


die inkonsequente Anerkennung des Kontextprinzips
Die wichtigste im Anschluß an Tarski entwickelte semantische Richtung ist eine der
Formen der analytischen Konzeption der Sprache, die Interpretations- oder wahr-
heitskonditionale Semantik. Die entsprechende Definition des Wahrheitsbegriffs findet
sich in zahlreichen Arbeiten. 13 Wie schon oben vermerkt, basiert diese Konzeption
auf dem Kompositionalitätsprinzip, demzufolge die Satzkomponenten den semanti-
schen Primat in dem Sinne innehaben, daß der „Referent" (der semantische Wert)
des Satzes sich funktional nur aus den Referenten der Satzkomponenten ergibt. Der
semantische Wert des Satzes wird dann mit dem Wahrheitswert des Satzes identifi-
ziert. 14
Was geschieht, wenn der Satz explizit als die primäre semantische Einheit eingeführt
und anerkannt, ohne daß diese zentrale Annahme konsequent zur Geltung gebracht
wird, wird an zwei Beispielen besonders deutlich, nämlich an den wahrheitstheore-
tischen Positionen von W. O. Quirn und D. Davidson. Auf diese Positionen wurde in
diesem Buch häufig Bezug genommen, weshalb hier nur einige wenige Hinweise
genügen mögen.

[1] Quine hat oft hervorgehoben, daß dem Satz der semantische Primat zuzuweisen
ist. 15 Sicher wirkt sich diese These auf viele in Quines Philosophie vertretenen
Einsichten positiv aus. Aber man kann bei ihm kaum von einer konsequenten
Durchführung der genannten These sprechen. Bekanntlich vertritt Quine die Thesen
der Unerforschlichkeit der Referenz und der ontologischen Relativität. Wie immer
diese Thesen genau zu verstehen sind, eines setzen sie eindeutig voraus, nämlich
ontologische und semantische Annahmen, die, wenn überhaupt, so doch schwerlich
mit der These des Primats des Satzes in Einklang gebracht werden können. Die zwei
zuletzt genannten Thesen basieren auf der Annahme, daß die Welt die Gesamtheit

13 Für eine besonders elegante Darstellung vgl. beispielsweise Bürge [1987],


14 Vgl. dazu die Ausführungen über das sog. „slingshot"-Argument im Abschnitt
3.4.2.
15 Um nur ein Buch zu zitieren: Quine [1981a] S. 13, 34, 65, 8 9 - 9 2 .

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Anhang 343

der realen Objekte (Individuen) ist und daß die sprachlichen Ausdrücke, mit deren
Hilfe wir auf diese Objekte Bezug nehmen, an erster Stelle die Komponenten des
Satzes sind. Zwar werden die singulären Termini eliminiert16, aber die Satzkomponen-
ten behalten doch den semantischen Primat, insofern die quantifizierten Individuenvariablen
nun als die Hauptträger der Referenzbeziehung angesehen werden. Der ganze onto-
logische und semantische Ballast der „analytischen Konzeption der Sprache" wird
nicht wirklich abgeworfen, sondern mitgeschleppt. Das einzige, was geschieht, ist
die Herausarbeitung aporetischer Aspekte dieser Sprachkonzeption. Insbesondere die
These von der Unerforschlichkeit der Referenz ist Ausdruck und Ergebnis einer nur
halbherzigen Akzeptierung des Primats des Satzes und damit des Kontextprinzips.
„Wahr(heit)" wird im Anschluß an Tarskis Wahrheitsschema als Disquotation, wenn
auch, wie unter 1.2 dargelegt, mit einer eindeutigen ontologischen Konnotation
aufgefaßt, wobei die Frage des Informationswertes des Satzes auf die Ebene der
Satzkomponenten reduziert und die Referenz (der Informationswert) dieser Konsti-
tuenten in die Dunkelheiten der „Unerforschlichkeit" hineingezogen wird. Die Frage,
ob die These des Primats des Satzes nicht die andere These notwendigerweise nach
sich zieht, daß der Satz einen eigenen semantischen Wert im Sinne eines Informations-
wertes hat, taucht gar nicht auf. Es ist ja bekannt, daß Quine ein erklärter Gegner
von Propositionen, Tatsachen u. ä. ist. 17
Aufschlußreich sind Quines Ausführungen zur Disquotationstheorie der Wahrheit
in dem Aufsatz „Truth and Disquotation" 18 . U. a. unternimmt er es hier, das Wahr-
heitsprädikat mit Hilfe von Schönfinkeis kombinatorischer Logik und Sprache zu
definieren. Während bei Tarski der vermittelnde Begriff „Erfüllung" ist, spielt hier
diese Rolle der Begriff „Designatum". Eine Metasprache wird eingeführt, die die
Objektsprache enthält und darüber hinaus nur eine Notation für die Benennung der
Ausdrücke der Objektsprache sowie das Definiens Δ . ,Δ(,...')' bezeichnet das
Designatum; so bezeichnet ,Δ(χ)' das Ding, das durch die Formel χ benannt wird.
Der Ausdruck ,ap(x,y)' wird in der Metasprache gebildet, um den komplexen Namen
zu bezeichnen, der durch die funktionale Applikation der Namen χ und y in der
Objektsprache gebildet wird. Mit der angestrebten Definition soll erreicht werden,
daß jede Gleichheit der Form

16 Vgl. Abschnitt 3.5.2.3.


17 Ein Beispiel für die Weise, wie Quine mit Entitäten wie Tatsachen „fertig wird",
sei kurz angefügt. In Quine [1960] heißt es dazu:
„... was können Tatsachen sein, wenn sie zugleich konkret sein sollen? Nehmen
wir an, die Sätze ,Die Königsallee ist einen Kilometer lang' und ,Die Königsallee
ist fünfzig Meter breit' seien wahr. In diesem Fall behaupten sie vermutlich
verschiedene Tatsachen, doch der einzige konkrete — jedenfals der einzige phy-
sikalische — Gegenstand, der hier eine Rolle spielt, ist die Königsallee." (§ 50,
S. 426).
Es ist verwunderlich, mit welcher Selbstverständlichkeit hier von einem „Ge-
genstand" gesprochen wird. Aufgrund welchen (verborgenen?) „Erfassungsor-
gans" wird er „erfaßt"? Und was heißt es, daß ihm eine so massive und reale
„Sache" zugeschrieben wird wie die Länge eines Kilometers und eine Breite von
50 Metern?
18 In Quine [1966] S. 308-321.

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344 Anhang

Δ(,···') = ...,
sich als wahr erweist (dabei sollen Namen für die Pünktchen eingesetzt werden).
Dieses Ziel wird durch folgende Induktivdefinition erreicht:
Δ GS') = S, A(,C) = C, Δ(,ί') = i,
A(ap(x,y)) = Δ(χ)(Δ(7)).
Damit ist nach Quine schon die Definition des Wahrheitsbegriffs erreicht:
„For, truth is the special case of Δ where the argument is a sentence. Where
χ is a sentence, , Δ ( χ ) ' amounts to ,x is true'. This is evident from the
schemata (1) and (2) 19 when we keep in mind that sentences now are names,
names of Tand l . " 2 0
Hier wird deutlich, daß das „Designatum" des Satzes der Wahrheitswert ist. 21 Soll
aber nun dem Satz dennoch ein Informationsgehalt zugeschrieben werden, so muß
auf die Referenten der Einzelkomponenten des Satzes rekurriert werden. Damit
tauchen jene Probleme auf, die mit dem damit angenommenen und angewandten
Kompositionalitätsprinzip gegeben sind und für die Quine mit seinen Thesen von
der Unerforschlichkeit der Referenz, der ontologischen Relativität, der Unbestimmt-
heit der Übersetzung u. a. eine Lösung zu finden versucht.

[2] Ähnlich wie Quine vertritt auch D. Davidson die These vom Primat des Satzes. 22
Tarski zufolge ist eine Theorie der Wahrheit für die Umgangssprache nicht möglich,
da ein solches Unterfangen in eine Antinomie führt. Es verdient hervorgehoben zu
werden, daß der Philosoph, der vermutlich am entschiedensten das Programm einer
Semantik der Umgangssprache zur zentralen Aufgabe der Sprachphilosophie (und
der Philosophie überhaupt) erhoben hat, nämlich D. Davidson, sich ausgerechnet auf
Tarskis semantische Theorie der Wahrheit stützt. Allerdings wird dabei eine Umkeh-
rung Tarskis vollzogen, die Anlaß zu vielen interessanten wahrheitstheoretischen
Diskussionen gegeben hat:
„Bei unserer Einstellung wird die Blickrichtung Tarskis umgekehrt: Wir
wollen ein Verständnis der Bedeutung oder Übersetzung erzielen, indem wir
davon ausgehen, daß der Wahrheitsbegriff schon erfaßt ist." 2 3
Diese Umkehrung kann als eine „epistemologische Wende in der Semantik" 24 auf-
gefaßt werden.

19 Gemeint sind die Schemata: (1),...' is true ξ ...;


(2) Δ (,...') = ...
20 Quine [1966] S. 310. Es handelt sich bei Quine um eine homophone Metasprache
für eine eingebettete Objektsprache. Man beachte, daß meta-metasprachlich über
eine formale Metasprache gesprochen wird.
21 Zur Problematik dieser These vgl. Abschnitt 3.4.2.
22 Vgl. bes. seinen Aufsatz „Realität ohne Referenz" in Davidson [1984] S. 3 0 6 - 3 2 0 ;
vgl. bes. 314 ff.
23 Davidson, „Der Begriff des Glaubens und die Grundlage der Bedeutung" (1974)
in Davidson [1984] S. 2 0 4 - 223; zit. St. S. 217.
24 Vgl. LePore [1982] S. 277.

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Anhang 345

Eine Semantik für die natürliche Sprache ist nach Davidson eine Theorie der
Bedeutung. Diese Theorie basiert auf einer Theorie der Wahrheit oder, genauer,
nimmt die Gestalt einer Theorie der Wahrheit im Stile Tarskis an, allerdings mit
Modifikationen. Die wichtigste Modifikation betrifft gerade die Zielsetzung des
vorliegenden Buches: Während Tarski den Wahrheitsbegriff (für formalisierte Spra-
chen) zu definieren versucht, setzt Davidson den Wahrheitsbegriff als primitiven, im
voraus zu jedem theoretischen Unterfangen (ζ. B. einer Theorie der Bedeutung)
immer schon verstandenen Begriff voraus. Davidsons Theorie der Bedeutung bzw.
der Wahrheit ist eine empirische Theorie, deren Ziel es ist, das Funktionieren der
natürlichen Sprache zu erklären; formal hat sie die Gestalt einer endlich axiomati-
sierbaren Wahrheitstheorie.
Welche semantischen Probleme diese Theorie involviert, macht Davidson selbst
deutlich, wenn er ein „Dilemma" 25 bezüglich des Referenzbegriffs formuliert. Er
beschreibt spi/ei Ansätze zu einer Theorie der Bedeutung: einen atomistischen („building-
block method") und einen holistischen. Der erste beginnt mit den einfachen Elementen
und konstruiert daraus die weiteren (komplexen). Eine Theorie der Wahrheit im
Sinne Tarskis, bemerkt Davidson, zeigt sehr wohl, daß die Wahrheitsbedingungen
jedes Satzes eine Funktion der semantischen Merkmale der entsprechenden Elemente
in einem endlichen Vokabular sind. Aber er fügt hinzu, daß eine solche Theorie nicht
in der Lage ist, die semantischen Merkmale des endlichen Vokabulars selbst zu
erklären. Die Begriffe „Referenz" und „Erfüllung" bleiben unerkärt.
Der zweite (der holistische) Ansatz betrachtet den Satz als den Fokus der Bedeu-
tung. Davidson charakterisiert diesen Ansatz in einer Weise, die an Freges berühmtes
„Kontextprinzip" erinnert:
„Wörter haben, abgesehen von der Rolle, die sie in Sätzen spielen, keine
Funktion: Ihre semantischen Merkmale sind ebenso von den semantischen
Merkmalen der Sätze abstrahiert, wie die semantischen Merkmale der Sätze
von ihrem Beitrag abstrahiert sind, den sie zur Erreichung der Ziele oder
zur Verwirklichung der Absichten der Menschen leisten." 26
Sieht man vom letzten Nebensatz ab, der einen pragmatischen Sachverhalt artikuliert,
so dürfte Davidsons Formulierung dasselbe anvisieren wie Freges berühmter Satz:
„Nur im Zusammenhange eines Satzes bedeuten die Wörter etwas". 27
Zu diesem Ansatz bemerkt Davidson ohne weitere Begründung:
„Diese Methode scheint jedoch außerstande zu sein, eine vollständige Er-
klärung der semantischen Merkmale der Teile von Sätzen zu geben, und
ohne eine solche Erklärung sind wir anscheinend nicht in der Lage, die
Wahrheit zu erklären." 28
Davidson schlägt eine Lösung des Referenzparadoxes vor, die er als eine „Version
des holistischen Ansatzes" 29 versteht. Sein Lösungsvorschlag besteht in der Aufgabe

25 Vgl. Davidson [1984] S. 306-320.


26 Davidson [1984] S. 313.
27 Frege [1884] § 62.
28 Davidson [1984] S. 314.
29 Ebd.

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346 Anhang

nicht nut des Begriffs der Referenz (verstanden als ein für eine empirische Theorie
der Sprache basaler Begriff), sondern auch der Referenz selbst, was immer man
darunter verstehen mag 30 . Sein Argument ist das sog. Permutationsargument 31 :
,,[S]ofern es ein Verfahren gibt, Ausdrücken Entitäten zuzuordnen (ein
Verfahren zur Charakterisierung der .Erfüllung'), das mit Bezug auf die
Wahrheitsbedingungen der Sätze akzeptable Resultate liefert, wird es zahllose
andere Verfahren geben, die das gleiche leisten. Demnach gibt es keinen
Grund, irgendeine dieser semantischen Beziehungen .Referenz* oder .Erfül-
lung' zu nennen." 32
Aber diese Aufgabe der Referenz muß nach Davidson richtig verstanden werden. Sie
besagt nicht, daß auch die Semantik und die Ontologie aufgegeben werden. Zwar
kann den Relationen zwischen Namen (singulären Termen) bzw. Prädikaten einerseits
und Objekten andererseits kein empirischer Gehalt direkt zugeordnet werden; dadurch
ist aber eine indirekte Zuordnung nicht ausgeschlossen, wobei sich diese aus dem
Gehalt der Sätze ergibt, die dem Tarskischen Wahrheitsschema entsprechen.
Es dürfte schwer zu verstehen sein, was damit genau gemeint ist. Jedenfalls wird
deutlich, daß Davidson sowohl das Kompositionalitätsprinzip als auch das Kontext-
prinzip annimmt; diesem weist er keine semantische, sondern eine epistemische Rolle
zu: Es fungiert als Kriterium für die Auffindung und Festlegung der Wahrheitsbe-
dingungen der Sätze. Eine der Konsequenzen dieses Verständnisses des Kontextprin-
zips ist der Umstand, daß Davidson jener Kategorie von Entitäten, die im Rahmen
anderer semantischer Theorien in Beziehung zu Sätzen gesetzt werden (wie Propo-
sitionen, Tatsachen u. ä.), keinen Platz in seiner Theorie zuzuerkennen in der Lage
ist. 33

3 Rein sprachimmanente Perspektive: die Beseitigung der Referenz


Einen radikalen Neuansatz in der Theorie der Wahrheit versucht eine Richtung zu
erarbeiten, die sich von einer rein sprachimmanenten Perspektive leiten läßt. Es
handelt sich um dieprosententiale bzw. resententiak Theorie der Wahrheit.34 Die Grund-
idee dieser Theorie läßt sich durch eine negative und eine positive These charakte-
risieren. Die negative These lautet: „Wahr(heit)" ist kein Prädikat bzw. keine Eigen-
schaft von Sätzen. Damit wird die zentrale Einsicht, von der sich Tarskis Theorie
leiten läßt, verworfen. Diese These als solche ist nicht neu. Neu und originell erscheint
sie erst in Verbindung mit der positiven These: „Wahr(heit)" kann und muß in allen
Verwendungsfallen als unselbständiger Teil einer Prosentenz aufgefaßt werden. Der

30 Vgl. a. a. O. S. 312, 314.


31 Vgl. dazu bes. Wallace [1979] und die kritischen Bemerkungen zu seiner Konzep-
tion im Abschnitt 3.3.2.
32 Davidson [1984] S. 318 (modifizierte Übersetzung).
33 Vgl. dazu die Kritik an seiner Version des „slingshot"-Arguments im Abschnitt
3.4.2.
34 Diese Theorie wurde zuerst von Grover/Camp/Belnap [1975] entwickelt und in
Deutschland von Franzen [1982] weiterentwickelt. Für eine ausführliche Darstel-
lung und Kritik vgl. Puntel [1984],

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Anhang 347

Begriff der Prosentenz wird in Analogie zum Begriff des Pronomens gebildet. Die
Prosentenz fungiert anaphorisch, d. h., sie ist bezogen auf einen Antezedenten; im
Gegensatz zum Pronomen aber nimmt sie immer eine sententiale oder Satzposition
ein. Die genannten Autoren vertreten die Auffassung, daß es in der normalen Sprache
solche Prosentenzen gibt, allerdings nicht in atomarer, sondern in komplexer Form
(d. h.: sie bestehen aus mehr als einem Wort). Ihnen zufolge sind (im Englischen)
,that is true' und ,it is true' Prosentenzen, wobei ,true' ein Fragment der Prosentenz
ist.
Die prosententiale Theorie der Wahrheit wurde in Deutschland von W. Franken
rezipiert und in bemerkenswerter Weise weiterentwickelt. Statt von „Prosentenz"
spricht Franzen von „Resentenz":
„Die Wendung ,ist wahr' macht aus der Bezugnahme auf einen Sachverhalt
die Behauptung dieses Sachverhalts. (...)... mit ,ist wahr' wird so etwas wie
eine Resententialisierung vorgenommen, indem aus der Bezugnahme auf einen
Satz gewissermaßen der Sat% selbst wiederhergestellt tvird."^
Die These vom Verschwinden der Referenz(beziehung) kann sowohl als eine der
prosententialen Theorie der Wahrheit zugrundeliegende als auch als eine von ihr
implizierte These aufgefaßt werden. Sie wurde insbesondere von R. Brandom36 und
T. Hartman37 herausgearbeitet und entwickelt. Als Pate dieser ganzen Konzeption ist
W. Seilars38 zu nennen, demzufolge Aussagen über Referenz aus dem Grund mit
Aussagen über Bedeutung gleichzusetzen sind, weil sie rein intralinguistischen Über-
setzungszwecken dienen. 39

4 Kognitiv-antirealistische (internrealistische) Perspektive:


die semantische Unterbestimmtheit des Kontextprinzips

Es dürfte schon hinreichend deutlich geworden sein, daß die Klärung des Wahrheits-
begriffs ein außerordentlich vielfältiges Unternehmen darstellt. Manche heute intensiv
diskutierte Themen sind sowohl historisch wie auch sachlich Aspekte der Wahrheits-
problematik. Oft verselbständigt sich aber die Diskussion so stark, daß diese Verbin-
dung nicht mehr gesehen wird. Das Ergebnis ist in den meisten Fällen, daß die große
Debatte im Sand verläuft. Manche Aspekte der in der Gegenwart geführten Realismus-
Debatte sind deshalb so unergiebig, weil der Zusammenhang zwischen Realismuspro-
blematik und Wahrheitstheorie nicht mehr oder nicht genügend gesehen wird. In
diesem Buch sollen diese Zusammenhänge explizit beachtet und herausgearbeitet
werden. Denn diese Zusammenhänge haben, wie sich gleich zeigen wird, unmittelbare
und direkte Konsequenzen für die Bestimmung des W a h r h e i t s b e g r i f f s selbst. Hier
sollen die beiden vermutlich wichtigsten Vertreter einer kognitiv-antirealistischen bzw.
-internrealistischen Position, nämlich M. Dummett und H. Putnam, insoweit dargestellt

35 Franzen [1982] S. 174 f.


* Vgl. Brandom [1984],
37 Vgl. Hartman [1984],
38 Vgl. insbesondere Sellars [1979],
39 Zu einer ausführlichen Kritik der pro- bzw. resententialen Theorie der Wahrheit

vgl. Puntel [1984],

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348 Anhang

werden, als deren Position für eine neue Bestimmung des Wahrheitsbegriffs relevant
ist. 40

[1] M. Dummetts Position 41 ist im wesentlichen das Resultat einer Infragestellung


der realistischen Interpretation der auf Frege zurückgehenden These, daß die Bedeutung
eines Satzes durch die Bedingungen gegeben (in anderen Versionen: mit den Bedin-
gungen identisch) ist, unter denen er wahr ist. Tarskis Wahrheitsschema „x ist wahr
genau dann, wenn p" wurde oft als deren formal adäquate Darstellung interpretiert.
Dummett hat zunächst die Grundzüge seiner Konzeption in einer Weise formuliert,
die er später modifizierte. Die Änderung betrifft den Wahrheitsbegriff selbst. Dabei
handelt es sich nicht um eine nur terminologische Änderung. Dummett macht
Sachgründe für die Änderung geltend, indem er betont, daß der von ihm heraus-
gearbeitete Zusammenhang nur einen ganz bestimmten Begriff von Wahrheit zuläßt, 42
nämlich einen anti-realistischen. Der Grund ist der folgende: Erklärt man die Bedeu-
tung des Satzes mit Hilfe der (erkennbaren) Bedingung der korrekten Assertibilität
des Satzes (und nicht mit Hilfe der, im allgemeinen unerkennbaren, Bedingung, unter
der er wahr ist), so folgt daraus, daß der einzig in Frage kommende Wahrheitsbegriff
für Sätze, deren Bedeutung erklärt wird, ein solcher ist, demgemäß eine Aussage
dann und nur dann wahr ist,

„when we are able to arrive at a position in which we may correctly assert


it". 45
Man muß also eine bedeutende „Restriktion" für den Wahrheitsbegriff einführen, was
unmittelbar zur Folge hat, daß der „restringierte" Wahrheitsbegriff nicht mehr der
„realistische" ist. Jetzt gilt nämlich:
„The problem is not whether meaning is to be explained in terms of truth-
conditions, but of what notion of truth is admissible". 44
Der Wahrheitsbegriff wird durch den Begriff der Verifikation ersetzt, ja er wird mit
diesem Begriff gleichgesetzt. Demnach werden die Aussagen nicht durch geist-(denk-
oder sprach-)unabhängige Sachverhalte wahr gemacht, sondern eher durch Sachverhalte,
insofern sie wahrgenommen und begrifflich artikuliert werden. Setzt man diesen Sinn
von Wahrheit voraus, so kann man immer noch korrekterweise sagen: Die Bedeutung
eines Satzes kennen, heißt wissen, unter welchen Bedingungen er wahr ist. Worin
besteht aber genau dieses Wissen?
„It [this knowledge, L. Β. P.] consists in the actual behavioral skill of
recognizing when the justification conditions are present to the mind". 4 5

40 Eine besonders interessante Darstellung und Verteidigung des Antirealismus hat


Tennant [1987] geliefert. Tennants wahrheitstheoretische Position wird eingehend
im Abschnitt 3.2.2 diskutiert.
41 Zu einer Gesamtinterpretation vgl. die in Taylor [1987] veröffentlichten Arbeiten.
42 Vgl. Dummett [1978] S. xxii.
43 Ebd.
44 Ebd.
45 Putnam [1983] S. 84.

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Anhang 349

In welchem genaueren Sinne ist Dummetts Wahrheitsbegriff ein anti-realistischer? 46


Eine erste Antwort kann gegeben werden, wenn man bestimmt, welche Position
damit ausgeschlossen werden soll. Diese Position ist der Realismus, eine Position,
für die nach Dummett die folgenden drei Annahmen charakteristisch sind:
(1) Die Welt besteht aus einer definiten Totalität von geistunabhängigen Objekten
und Eigenschaften.
(ii) „Strenge Bivalenz" gilt unbegrenzt, dergemäß ein Objekt ganz eindeutig (defi-
nitiv) jede Eigenschaft Ρ besitzt oder nicht besitzt, die auf signifikante Weise von
diesem Objekt prädiziert werden kann.
(iii) Die Korrespondenztheorie der Wahrheit ist unter Annahme eines streng reali-
stischen Sinnes von „Korrespondenz" unverzichtbar: jedem Prädikat entspricht eine
einzige Menge von Objekten und jeder Aussage entspricht ein einziger Sachverhalt,
der die unter [i] erwähnten Objekte und Eigenschaften enthält; wahr ist die Aussage,
wenn dieser Sachverhalt besteht, und falsch, wenn er nicht besteht. 47
Aber damit ist nur eine negative Antwort auf die Frage gegeben, wie der anti-
realistische Wahrheitsbegriff genau zu verstehen ist. Gibt es eine positive Antwort
darauf bei Dummett? Eine solche Antwort müßte zeigen, was von der Referentζ und
von dem Sinn (im Sinne Freges) noch übrig bleibt, wenn der Wahrheitsbegriff rein
epistemisch verstanden wird. Hier ist der Punkt erreicht, wo bei Dummett das
Kontextprin^ip eine zentrale Rolle spielt. Der Sinn wird im allgemeinen als die Weise
erklärt, in der der Referent gegeben ist. Der Referent ist demnach strukturell vom
Sinn abhängig: die Bestimmtheit des Referenten angeben, heißt, seinen Sinn erfassen.
Hinsichtlich der genauen Struktur des Sinnes und des Referenten arbeitet Dummett
zwei verschiedene Modelle heraus, die sich gegenseitig ausschließen: das eine für den
Sinn, das andere für den Referenten. Das die Struktur des Sinnes erklärende Modell
ist durch das Begriffspaar Teil-Ganges gegeben; der Referent hingegen wird durch das
Funktion-Wert-Modell erklärt. Diese zwei Modelle, von denen Dummett sagt, sie seien
miteinander unverträglich, 4 8 entsprechen zwei verschiedenen Grundprinzipien, näm-
lich dem Kontextprinzip bzw. dem Kompositionalitätsprinzip. Auf die Problematik
dieser Symbiose der beiden Prinzipien wird ausführlich im Abschnitt 3.3 eingegangen.
Mit Fragen, die das Verhältnis von Semantik und Kognitivität betreffen, befaßt sich
Abschnitt 3.2.2.

[2] Die Wahrheitstheorie H. Putnams (wenn man überhaupt eine solche Bezeichnung
für seine Konzeption gebrauchen kann) gehört zu den interessantesten Konzeptionen
der Gegenwart, nicht so sehr, weil sie etwa völlig neu und überzeugend wäre, sondern
weil sie ein symptomatisches Ergebnis der wahrheitstheoretischen Diskussionen seit
Tarski darstellt. Putnam berücksichtigt eingehend die Diskussionslage, wobei er seine
eigene Konzeption in den letzten Jahren stark modifiziert, ja gründlich geändert hat.
Im wesentlichen stimmt er mit M. Dummett überein, allerdings unter Betonung einer
starken Divergenz bezüglich eines Aspektes der kognitiv orientierten Wahrheitstheo-
rie, auf die gleich einzugehen sein wird. Die von Putnam abgelehnte Korrespon-

46 Für eine eingehende Diskussion vgl. bes. Devitt [1983] und die Gegenkritik von
George [1984],
47 Vgl. Putnam [1983] S. 272.
48 Vgl. Dummett [1984] S. 220 und Abschnitt 3.3.2 dieses Buches.

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350 Anhang

denztheorie der Wahrheit wird von ihm in Verbindung mit jener Position gebracht,
die er metaphysischen Realismus nennt und deren Unhaltbarkeit er in zahlreichen
Publikationen und in immer neuen Anläufen nachzuweisen bemüht ist. Der meta-
physische Realismus ist nach Putnam jene Konzeption, die eine Welt von völlig geist-
bzw. theorie»»abhängigen Objekten oder Sachverhalten annimmt und die daher die
Annahme macht, letztlich könne es eine einzige wahre Theorie im Sinne einer auf
der Idee der Korrespondenzrelation basierenden vollständigen Beschreibung der Welt
geben. Putnams Argument gegen diese Theorie ist im wesentlichen das folgende:
Das Problem besteht nicht darin, daß es keine Korrespondenz zwischen Sprachge-
bilden und nicht-sprachlichen Entitäten gibt, sondern darin, daß wir es mit zu vielen
solchen Korrespondenzen zu tun haben. Auch wenn wir sehr weitgehende Restrik-
tionen für den faktischen Gebrauch unserer Sprache einführen, kann es nicht aus-
geschlossen werden, daß es unendlich viele Referenz- und Erfüllungsbeziehungen
(d. h. Korrespondenzbeziehungen) gibt, die alle Sprachausdrücke, wie eng „restrin-
giert" deren Gebrauch auch sein mag, zu erfüllen in der Lage sind. Dieses Argument
wird von Putnam durch eine philosophische Auswertung des berühmten Löwenheim-
Skolem-Theorems untermauert, dessen allgemeine Aussage er so formuliert: Eine
erfüllbare Theorie erster Stufe (in einer abzählbaren Sprache) hat ein abzählbares
Modell. 49 Die Konsequenz, die Putnam aus diesen Überlegungen zieht, ist, daß der
metaphysische Realismus unhaltbar ist. Die von ihm vertretene Gegenposition nennt
er internen Realismus.
Nach Putnam muß Wahrheit mit „(idealisierter) Rechtfertigung (idealized justifi-
cation)" identifiziert werden. Rechtfertigung' sagt dasselbe wie .Assertibilitätsbedin-
gungen' (dieser Ausdruck wird von Putnam immer im Sinne von „condition(s) of
warranted assertibility" verstanden) 50 . Putnam drückt sich auch so aus, daß er sagt,
„daß Wahrheit eine Idealisierung der rationalen Akzeptierbarkeit ist. Wir reden, als
gäbe es so etwas wie epistemisch ideale Bedingungen, und wir nennen eine Aussage
,wahr', wenn sie unter solchen Bedingungen gerechtfertigt wäre." 51 Von Dummett
unterscheidet sich Putnam bewußt dadurch, daß er von idealisierter Rechtfertigung
spricht. Wahrheit, so argumentiert er52, kann nicht einfach „Rechtfertigung" (ohne
nähere Qualifikation) meinen. Dafür gibt er mehrere Gründe an, besonders die beiden
folgenden: (i) Man setzt voraus, daß Wahrheit eine Eigenschaft einer Aussage ist, die
nicht verloren gehen kann, während Rechtfertigung sehr wohl verlustig gehen kann
(sie ist sowohl zeitbedingt wie auch personenrelativ): (ii) Rechtfertigung läßt Grade
zu, während Wahrheit dies ausschließt. Gegen Dummett macht er auch geltend, daß
Rechtfertigungsbedingungen für Sätze nicht ein für allemal durch eine rekursive
Definition festgelegt (fixiert) werden können. Mit Quine hält Putnam daran fest, daß
Rechtfertigungsbedingungen für Sätze sich in dem Maße ändern, wie sich unser
ganzes Wissenssystem ändert.
Putnam charakterisiert den Begriff der „idealisierten Rechtfertigung oder Akzep-
tierbarkeit" mit Hilfe des Begriffs der KobärenWahrheit ist demnach

49 Vgl. Putnam, „Models and Reality", jetzt in Putnam [1983] S. 1 - 2 5 ; vgl. S. 2.


50 Vgl. a. a. O. S. xviii.
51 Putnam [1981] S. 83 (modifizierte Übersetzung).
52 Vgl. Putnam [1983] S. 84 ff.

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Anhang 351

„so etwas wie ideale Kohärenz unserer Überzeugungen untereinander und


in bezug auf unsere Erfahrungen entsprechend der Darstellung dieser Erfahrungen
in unserem Über^eugungssystem — und nicht Übereinstimmung mit geistes-
unabhängigen oder redeunabhängigen .Sachverhalten' ", 53
„Es sind zum großen Teil [!] die Kohärenz und die Angemessenheit [,fit',
woran?] einer Aussage bzw. eines ganzen Systems von Aussagen (einer
Theorie oder eines Begriffsschemas), durch die diese rational akzeptabel
werden, also die Kohärenz .theoretischer' bzw. nicht sehr erfahrungsgebun-
dener Überzeugungen untereinander und in bezug auf stärker erfahrungs-
gebundene Überzeugungen ebenso wie die Kohärenz erfahrungsgebundener
Überzeugungen mit theoretischen." 54
Putnam scheint damit eine rein epistemische Kohären^theorie der Wahrheit zu vertreten.
In seinem 1987 erschienenen Buch The Many Faces of Realism lehnt er allerdings die
Dichotomie „Assertibilitätsbedingungen versus Wahrheitsbedingungen" (einer Aus-
sage) strikt ab. 55

5 Andere epistemische (pragmatische) Richtungen

Es gibt eine große Anzahl von wahrheitstheoretischen Versuchen, die sich in vielfal-
tiger Weise von einer epistemischen und/oder pragmatischen Perspektive leiten lassen.
An dieser Stelle sollen nur einige besonders markante Beispiele kurz charakterisiert
werden. Nicht dargelegt werden sollen zwei Varianten einer pragmatisch orientierten
Theorie der Wahrheit, die im deutschsprachigen Raum eine große Verbreitung ge-
funden haben: J. Habermas' Konsensus- oder Diskurstheorie der Wahrheit 56 und die
dialogische (konstruktivistische) Theorie der Wahrheit der sog. Erlanger Schule. Der
Verfasser des vorliegenden Werkes hat beide Theorien in einem anderen Buch
ausführlich dargelegt und kritisiert 57 , wobei seit der Veröffentlichung dieses Buches
keine neuen Gesichtspunkte aufgetreten sind, die eine erneute Darlegung rechtfertigen
würden. In dem genannten Buch ist u. a. auch Tarskis semantische Theorie, Reschers
Kohärenztheorie u. a. dargestellt worden, auf die auch in diesem A N H A N G einge-
gangen wird; der Grund dafür liegt darin, daß hinsichtlich dieser letzteren Konzep-
tionen bedeutsame Änderungen eingetreten sind. Es seien im folgenden Beispiele rein
epistemisch orientierter und „gemischter" (epistemisch-semantischer bzw. -ontologi-
scher) Theorien der Wahrheit vorgeführt.

[1] D. Wiggins hat eine Theorie vorgelegt 58 , die ihren Ausgang bei unseren vortheo-
retischen Erwartungen an (den Begriff der) Wahrheit nimmt und sich auf die „Na-
türlichkeit" des Gedankens stützt, daß der Wahrheitsbegriff Merkmale besitzt. Dabei
kehrt Wiggins das Verhältnis von Wahrheit und Bedeutung um: im Gegensatz etwa
zu D. Davidson versucht er, den Wahrheitsbegriff zu charakterisieren (bzw. seine

53
Putnam [1981] S. 75 f.
54
A. a. O. S. 82.
55
Vgl. Putnam [1987] S. 31.
56
Vgl. Habermas [1973],
57
Vgl. Puntel [1978] Kap. 4.
58
Wiggins [1987],

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352 Anhang

Merkmale aufzulisten) mit Hilfe (des als schon verstanden vorausgesetzten Begriffs)
der Bedeutung. Und so wendet er sich zunächst der Aufgabe zu, ein Prinzip für die
Auflistung dieser Merkmale ausfindig zu machen; zu diesem Zweck stützt er sich auf
die bekannte, auf Frege 59 zurückgehende Einsicht: Den Sinn eines Satzes kennen,
heißt wissen, unter welchen Bedingungen er wahr ist: „(s bedeutet, daß p) genau
dann, wenn (ob s wahr ist oder nicht, davon abhängt, ob ρ oder nicht p, und hängt
nur davon ab)". 60 Wiggins reformuliert die Restriktionen für zulässige Instanzen des
Tarski-Schemas im Hinblick auf eine Theorie der Interpretation folgendermaßen: Die
Theorie Θ sollte in der Lage sein, für jeden Satz s eine kanonische Äquivalenz der
Form r (s hat Φ) = p"1 zu liefern, wobei Φ eine Eigenschaft von Sätzen ist und Θ
alle anthropologischen Erfordernisse erfüllt. Die Eigenschaft Φ muß nicht schon im
Ansatz als „Wahrheit" aufgefaßt werden. Erst nachdem die Merkmale von Φ heraus-
gearbeitet wurden, wird zu zeigen sein, daß diese Eigenschaft dem entspricht, was
„Wahrheit" heißt. Wiggins nennt die Eigenschaft Φ Assertibilität (im rein technischen
Sinne dessen, was mit „anthropologisch eingrenzende Bedingung(en)" gemeint ist)
und arbeitet fünf Merkmale assertibler Sätze heraus:
(i) Assertibilität stellt die primäre Dimension der Beurteilung für konstative und
deklarative Äußerungen dar, d. h. für solche Sätze, die für die Kundgabe von
Überzeugungen verwendet werden können.
(ii) Der Satz s hat einen
„Inhalt ...dergestalt, daß im Hinblick auf diesen Inhalt unter günstigen Unter-
suchungsbedingungen, Meinungsverschiedenheiten die Tendenz haben sollten,
sich zu verringern, und die Meinungen entsprechend die Tendenz, sich kon-
vergierend auf Ubereinstimmung zuzubewegen, wobei die beste Erklärung
dieser Konvergenz gerade so beschaffen sein sollte, die tatsächliche Assertibilität
(oder Wahrheit) von s zu erfordern". 61
(iii) „Assertibilität ist eine Eigenschaft derart, daß jede Aussage, die sie besitzt
(/nicht besitzt), sie unabhängig davon besitzt (/nicht besitzt), ob irgend jemand
dahin gelangt, von ihr überzeugt zu sein." 62
(iv) „Jede Überzeugung, deren angemessener Ausdruck ein assertibler Satz ist, hat
diese Eigenschaft kraft von etwas." 63
(v) Jeder assertible Satz ist ko-assertibel mit jedem anderen assertiblen Satz.

Die kurz dargelegte Konzeption leidet darunter, daß sie den Stellenwert der episte-
mischen Ebene als solcher nicht klärt. Wenn Wahrheit und Assertibilität zusammen-
fallen, so wird Wahrheit auf eine Ebene reduziert, deren Status nicht klar ist. Hier
handelt es sich insbesondere um das Verhältnis von „anthropologisch"-epistemischer
und ontologischer Ebene. Solange dieses Verhältnis nicht geklärt ist, bleibt diese
Ebene unterbestimmt.

59 Vgl. Frege [1893] I § 32.


60 Wiggins [1987] S. 155 f.
61 A. a. O. S. 169.
62 A. a. O. S. 172.
63 A. a. O. S. 175.

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Anhang 353

[2] Brian EllisM legt eine Konzeption vor, die in einer ganz bestimmten Hinsicht
rein epistemisch orientiert ist. Sie hebt auf den Begriff der Evaluation bzw. des
Evaluationsmodus ab. Darunter versteht Ellis eine Weise der Zustimmung oder Nicht-
Zustimmung. Ihm zufolge sind die Moral und die Ästhetik Evaluationsmodi in diesem
Sinne. Die fundamentale Prämisse, auf der Ellis' Theorie basiert, ist die These, daß
Wahrheit nicht mit einer „natürlichen Eigenschaft" von irgend etwas (Sätzen, Pro-
positionen, Äußerungen) identifiziert werden kann. Ellis führt ein Argument an, das
dieselbe Struktur hat wie das bekannte Argument, das angeblich zeigen soll, daß das
Gutsein keine Eigenschaft von irgend etwas (einer Handlung) ist.
Ellis vertritt in diesem Kontext einen epistemischen Naturalismus (in Analogie zum
ethischen Naturalismus), d. h. eine Theorie, derzufolge es Uberzeugungen gibt, die
die Menschen aufgrund einer natürlichen Disposition oder Neigung als wahr akzep-
tieren bzw. als wahr beurteilen (bewerten). Diese Theorie wird von ihm dahingehend
präzisiert, daß er sie als ontologisch subjektiv und als epistemisch objektiv charak-
terisiert. Ontologisch subjektiv ist sie, weil sie Wahrheit nicht als eine Eigenschaft
von irgendwelchen Entitäten, sondern als einen Modus der epistemischen Evaluation
versteht; epistemisch objektiv ist sie in dem Sinne, daß ein intersubjektiver Konsensus
über Wahrheit und Falschheit erreicht werden kann, und zwar „because we are all
innately programmed in much the same kind of way and responding to the same
reality". 65
Ellis betrachtet Propositionen als abstrakte, ewige („platonische") Entitäten, die
unmöglich mit einer Erklärung des Wahrheitsbegriffs in Verbindung gebracht werden
können. Auf der anderen Seite behauptet er, daß seine Theorie der Wahrheit nicht
anti-realistisch ist:
„To deny the ontological objectivity of the truth relationship, or the existence
of any Platonic entities which could serve as the bearers of truth, is not the
same as to deny that there is a unique reality of which we are all cognisant.
[...] For us to explain the fact that agreement can be achieved about so
many things, it is necessary for us to suppose that there is a common reality to
which we are all responding — not a featureless noumenon, but a rich physical
realm which is for us more or less as we should describe it." 66
Dazu sei kritisch bemerkt: In welcher Weise wird von dieser „uns allen gemeinsamen
Realität" gesprochen? In welcher Weise wird auf sie Bezug genommen? In welcher
Weise wird sie „erreicht", „artikuliert"? Wenn „Wahrheit" nicht als Ausdruck für
diesen „Bezug" zur Realität genommen wird bzw. werden darf, so muß bzw. müßte
man einen anderen Ausdruck finden, um diesen Bezug zu benennen. Es liegt hier so
etwas wie ein Trugschluß vor: Man reduziert Wahrheit auf einen rein epistemischen
Evaluationsmodus, beschreibt eine Welt und deren Unverzichtbarkeit, und läßt die
Frage völlig ungeklärt — ja, man stellt sie nicht einmal —, wie bzw. als was denn
diese Realität und unser Bezug auf sie zu konzipieren ist. Dabei läßt man den
fundamentalen Umstand außer acht, daß der Ausdruck ,Wahr(heit)' von alters her
für die Klärung dieser Frage verwendet wurde.

64 Ellis [1980],
65 A. a. O.S. 86.
66 A. a. Ο. S. 98 (Hervorhebung nicht im Original).

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354 Anhang

Abschließend soll noch auf Richtungen hingewiesen werden, die sowohl die
epistemische als auch die (semantisch-)ontologische Ebene berücksichtigen und in
einer Bestimmung des Wahrheitsbegriffs zu vereinigen versuchen. Es ist hier nicht
von jenen Richtungen die Rede, die, wie etwa die Davidsons, einen epistemischen
Faktor (Kohärenz) als Kriterium und einen semantisch-ontologischen Faktor (Korre-
spondenz) als Begriff Ae.t Wahrheit annehmen. 67 Hier geht es vielmehr um explikative
oder definitionale Theorien der Wahrheit.

[3] Das vielleicht interessanteste Beispiel einer solchen Synthese von epistemischer
und semantisch-ontologischer Dimension bei der Bestimmung des Wahrheitsbegriffs
ist N. Reschers letzte wahrheitstheoretische Position. In seinem 1973 veröffentlichten
bedeutsamen Werk The Coherence Theory of Truth68 hatte er eine definitionale Korre-
spondenztheorie und eine kriteriologische (kriteriale) Kohärenztheorie der Wahrheit
entwickelt. Die Dualität von Begriff und Kriterium war also damals entscheidend.
In einem neueren Aufsatz 69 revidiert er seine ursprüngliche Position. Er stellt die
übliche Unterscheidung (bzw. Trennung) von „Begriff und „Kriterium" in Frage,
indem er eine Kontinuitätsbedingung zwischen Kriterium und Definition einführt und
formuliert. Die auf den ersten Blick so natürliche und einleuchtende Distinktion
zwischen Begriff und Kriterium erweist sich bei näherem Zusehen als sehr proble-
matisch: Damit X Kriterium für Y sein kann, muß zwischen X und Y eine innere
Verknüpfung oder Kontinuität bestehen, die adäquat erst als Äquivalenz von Krite-
rium und Begriff erfaßt wird.
Ausgehend von seiner früheren Position, derzufolge der Kohärenzgedanke das
Kriterium und der Korrespondenzgedanke den Begriff der Wahrheit darstellt, gelingt
es Rescher aufgrund einer geschickten Einführung von Begriffen (Vollständigkeit,
Angemessenheit, optimale Kohärenz, vollständige Datenbasis usw.), die beiden fol-
genden Thesen zu beweisen: I. Wahr => ideal kohärent; II. ideal kohärent => wahr.
Wahrheit wird daher als ideale Kohärenz definiert. Rescher weist jedoch nach, daß
und inwiefern dieser Begriff der Wahrheit den alten Gedanken der adaequatio ad rem
nicht nur nicht ausschließt, sondern explizit aufnimmt. Dieser Nachweis erfolgt auf
der Grundlage des folgenden Definitionszusammenhangs: Den Begriff der optimalen
Kohärenz definiert der Begriff der perfektionierten (vollendeten) Datenbasis; dieser
letzte Begriff wird seinerseits unter Rekurs auf den Realitätsstatus der postulierten
Datenbasis bestimmt. Im Rahmen dieser Voraussetzungen wird klar, daß „Adäquatio-
nismus" (d. h. die sich auf den Gedanken der adaequatio stützende Theorie) und
Kohärentismus effektiv äquivalent sind. Dabei ist Rescher sehr bemüht hervorzuhe-
ben, daß es sich bei dieser Bestimmung des Wahrheitsbegriffs um ideale Kohären^
handelt, also um eine Kohärenz, die wir faktisch kaum oder überhaupt nicht erreichen
können.
Mit dieser letzten Entwicklung erhält Reschers Theorie der Wahrheit eine ein-
drucksvolle Geschlossenheit. Allerdings darf die Schwäche der Konzeption nicht
übersehen werden. Auf drei Gesichtspunkte sei hingewiesen, (i) In einer gewissen

67 Vgl. Davidson [1983],


68 Rescher [1973]. Für eine kritische Darstellung der in diesem Buch präsentierten
Kohärenztheorie der Wahrheit vgl. Puntel [1978] S. 182-204.
69 Rescher [1985 b],

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Anhang 355

Hinsicht basiert die Konzeption auf ad hoc eingeführten Definitionen, Prinzipien,


Annahmen. Damit nähert sich die vorgelegte Definition des Wahrheitsbegriffs weit-
gehend einer zu stark konstruierten Definition, (ii) Es wird nicht klar, wie jene
Äquivalent zu verstehen ist, die Rescher herausarbeitet. Ist sie etwa als Bedeutungs-
gleichheit aufzufassen? Wohl kaum. Aber was heißt dann Äquivalenz hier? (iii) Was
ist der (bzw. was sind die) Wahrheitsträger? Rescher verwendet ohne nähere Diffe-
renzierung und Erläuterung die Ausdrücke ,Satz', .Aussage', ,Proposition', .Sachver-
halt' (,state of affairs') usw. Im Hinblick auf eine angemessene „Synthese" oder
„Äquivalenz" des Kohärenz- und Korrespondenzgedankens dürfte die Klärung dieser
Problematik sowie anderer (besonders ontologischer) Zusammenhänge entscheidend
sein. 70

[4] R. Tuomela erarbeitet im Anschluß an W. Seilars die Grundzüge einer Theorie der
Wahrheit, die eine andere Form einer Synthese zwischen epistemischen und ontolo-
gischen Faktoren darstellt. 71 Im folgenden soll nicht explizit auf die ursprüngliche
Theorie W. Sellars' als solche eingegangen werden. Tuomelas Konzeption bewahrt
die zentralen Einsichten dieser Theorie. Ihm zufolge ist der „vollständige" Wahr-
heitsbegriff die Synthese eines epistemischen und eines korrespondenz-relationalen
Wahrheitsbegriffs. Die epistemische Wahrheit (W c ) wird von ihm so definiert:
Ein Satz S ist wahr,, in der Sprache L genau dann, wenn S entsprechend
den semantischen Regeln von L (und der aufgrund dieser Regeln mögli-
cherweise erforderlichen kontextuellen Sonderinformation) korrekt asserti-
bel ist.
Kurz: Wahrheit^ ist korrekte Assertibilität.
Der andere Wahrheitsbegriff wird von Seilars als „Relation der Widerspiegelung"
(„relation of picturing") bestimmt, allerdings auf der Basis einer naturalistisch-
nominalistischen Konzeption: es handelt sich um eine Isomorphierelation zwischen
zwei Systemen von Objekten, dem System der naturalistisch-linguistischen und dem
System der naturalistisch-nichtlinguistischen Objekte. 72 Tuomela spricht von Wider-
spiegelung als einer kausalen (oder kausal fundierten) Relation zwischen Sätzen und
„jenen Ausschnitten der Welt, auf die sie sich beziehen". 73 Sowohl Sellars als auch
Tuomela lehnen Tatsachen als ontologische Entitäten (d. h. als Komponenten der
Welt) ab. Widerspiegelungswahrheit meint eine Isomorphierelation zwischen einem
naturalistisch-linguistischen relationalen System von Objekten und einem nicht-lin-
guistischen relationalen System von Objekten. Folgende Äquivalenz wird auf dieser
Basis formuliert:
S ist wahr w dann und nur dann, wenn s wahr c ist.
Im Aufsatz „Truth and Best Explanation" geht Tuomela einen Schritt weiter und
behauptet die Äquivalenz der folgenden Aussagen (T = Theorie):

70 Vgl. dazu auch Puntel [1985],


71 Vgl. besonders Tuomela [1985 a] und [1985 b],
72 Vgl. u. a. Sellars [1979] bes. S. 135 ff. Vgl. Tuomela [1985 a] S. 115 ff.
73 Vgl. Tuomela [1985 a] S. 244, Anm. 6.

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356 Anhang

(a) Τ ist (wirklich [factually]) wahr:


(b) Τ ist epistemisch wahr (oder ideal);
(c) Τ ist die optimal-erklärende Theorie (zumindest asymptotisch).74
Die Äquivalenz von (a) und (b) basiert nach Tuomela auf dem Umstand, daß der
Wahrheitsbegriff notwendigerweise ein Hintergrundwissen erfordert. Aussage (c) setzt
voraus, daß Τ eine wissenschaftliche Theorie ist. Aussage (a) wird näher dahingehend
verstanden und erklärt, daß die Welt im Rahmen des verwendeten Begriffsschemas
erschöpfend erforscht wurde. Das Begriffsschema ist durch die Sprache L(X + {R})
repräsentiert, wobei λ eine Menge von wissenschaftlichen Prädikaten und R ein neues
der Menge λ addiertes Prädikat ist. Ein solches Begriffsschema wird von Tuomela
interpretiert als ein grundsätzlich epistemisches System. Die epistemische Wahrheit wird
jetzt so definiert:
S ist epistemisch wahr relativ zu einer Forschungsgemeinschaft Α und der
Sprache L(X + {R}) genau dann, wenn S die erwarteten epistemischen
Nützlichkeiten [utilities] der Gemeinschaft A maximiert.75
Einige kritische Bemerkungen sind an dieser Stelle angebracht.
(i) Diese Theorie versucht, sehr heterogene Elemente (epistemtische und ontolo-
gische) zu vereinigen. Es wurde in diesem Buch gezeigt, daß eine vollständig und
adäquat entwickelte Theorie der Wahrheit solche heterogenen Elemente unbedingt
einbeziehen muß. Die Frage ist allerdings, wie alle diese Faktoren in eine einheitliche
Konzeption zu integrieren sind. Tuomelas Theorie ist so etwas wie das Zusammen-
stellen zweier sich gegenseitig äußerlich bleibender Ebenen bzw. Faktoren. Es ist zu
fragen, ob nicht eine einleuchtendere Integration dieser Faktoren denkbar ist.
(ii) Tuomela setzt (im Anschluß an Seilars) eine eigenartige Ontologie voraus: eine
Ontologie der „reinen" Objekte. Eine solche Ontologie ist — aus Gründen, auf die
in diesem Werk eingegangen wurde — höchst problematisch. Ein Indiz einer nicht
geklärten Problematik ist Tuomelas Formulierung der Wahrheitw:
„The sentence-token James is taller than John' pictures correctly that James
is taller than John, in the sense (and on the grounds) that ,James' refers to
James, John' to John, and that R1(,James', John') and R t (James, John)." 76
,Ri' wird als Relation zwischen Namen verstanden, wobei diese als Träger einer nicht-
begrifflichen und naturalistischen Referenzrelation zu den nicht-linguistischen realen
Einzeldingen James und John (= R r ) aufgefaßt werden. Worauf „bezieht" sich die
Formulierung ,Rr(James, John)'? Doch wohl auf reine Objekte, da ja Tatsachen
abgelehnt werden. Dieser Begriff von „Objekt" scheint sehr problematisch zu sein.
Es ist symptomatisch, daß Tuomela in vorsichtiger Weise von Sellars' Isomorphie-
relation zwischen zwei Systemen von Objekten abzurücken versucht. Aber dies bleibt
bei ihm ein kleiner Hinweis ohne nennenswerten Sachertrag.

74 Tuomela [1985 b] S. 272.


75 Vgl. a. a. O. S. 291.
76 Tuomela [1985 a] S. 117.

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Anhang 357

6 Ontologische Perspektive

6.1 Die dreifache ontologische Perspektive:


Objekte, Momente, Propositionen (Sachverhalte)

Nachdem lange Zeit die ontologische Dimension der Wahrheitsproblematik weitge-


hend und zeitweise sogar vollständig ignoriert wurde, ist in den letzten Jahren eine
zunehmende Konzentration auf wahrheitsontologische Aspekte festzustellen. Man
kann sogar sagen, daß die ontologische Fragestellung in der gegenwärtigen Diskus-
sion eine herausragende Rolle spielt.
Alle Bemühungen um eine Klärung der Wahrheitsontologie lassen sich im we-
sentlichen auf drei Grundrichtungen zurückführen: auf die objektontologische, die
„moment"ontologische und die propositions- bzw. tatsachenontologische. Die objekt-
ontologische Perspektive ist in den meisten der bisher dargelegten Positionen in ver-
schiedener Weise präsent und bestimmend gewesen, weshalb sie im folgenden nicht
eigens behandelt wird. Die „moment"ontologische Perspektive wurde erst in den
letzten Jahren entwickelt und noch nicht vollständig ausgebaut. Am wichtigsten für
die Zielsetzung und die zentralen Thesen dieses Buches ist zweifellos die tatsachen-
bzw. propositionsontologische Perspektive. Das ,bzw.' ist deshalb angebracht, weil
die Bestimmung dessen, was „Tatsache" heißt, es in der einen oder anderen Weise
mit dem Begriff der „Proposition" (des „Sachverhalts") zu tun hat.
Einen völlig neuartigen Ansatz zu einer Ontologie der Wahrheit unternahmen
K. Mulligan, P. Simons und B. Smith11. Der Ausdruck ,truth maker' ist in der eng-
lischsprachigen philosophischen Literatur sehr gebräuchlich. Wahrmacher sind nach
Mulligan/Simons/Smith jene Entitäten, „auf Grund deren" oder „kraft deren" Sätze
(oder Propositionen) wahr sind. Sie sind die Träger der Relation des Wahrmachens.
Den Ausdruck .Moment' übernehmen sie von Husserl. Moment bezeichnet einen
Gegenstand, dessen Existenz von der eines anderen Gegenstandes abhängt. 78 Beispiele
von Momenten sind: der Aufgang der Sonne, der Tod des Sokrates, die individuelle
Röte usw. Am häufigsten in der philosophischen Tradition wurden jene Momente
behandelt, die unter den Bezeichnungen „Akzidenzien" und „individuelle Qualitäten"
bekannt sind. Die Annahme von Momenten basiert sowohl auf der Sprachanalyse als
auch auf einer Theorie über die Gegenstände der psychischen Akte, insbesondere der
Wahrnehmungsakte.
Mulligan/Simons/Smith stellen die Frage, ob alle Wahrmacher Momente sind. Dem
scheinen drei Satzarten entgegenzustehen: Elementarsätze, die Prädikationen in der
Kategorie der Substanz artikulieren (wie „Peter ist ein Mensch"); singuläre Existenz-
sätze; schließlich die Identitätssätze. Die drei Autoren glauben, daß diesen drei Arten
von Sätzen nur dadurch Rechnung getragen werden kann, daß neben Momenten
auch Dinge als Wahrmacher anerkannt werden.

77 Mulligan/Simons/Smith [1984],
78 Die genaue Definition lautet:
α ist ein Moment genau dann, wenn α existiert und α ist de re notwendigerweise
von der Art, daß es entweder nicht existiert oder daß es zumindest einen Gegen-
stand h gibt, welcher nicht notwendigerweise existiert und welcher kein echter
oder unechter Teil von α ist (vgl. a. a. O. S. 219).

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358 Anhang

Die Annahme von Momenten basiert auf einer Objektontologie in der besonderen
Form der Substanzontologie. Aber damit handelt man sich jene Probleme ein, die
mit den ungeklärten Begriffen bzw. Entitäten „Objekt", „Substanz" u. ä. gegeben
sind. Darauf wurde ausführlich eingegangen. Mulligan/Simons/Smith verlieren kein
Wort darüber, wie denn das „Verhältnis" von Momenten und „selbständigen Gegen-
ständen" (den Substanzen) zu konzipieren sei. Hinsichtlich des spezifisch wahrheits-
theoretischen Erklärungswertes der „Moment"-Theorie ist festzustellen, daß ein recht
vager Begriff der Beziehung des Wahrmachens „definiert" wird. Der Wahrheitsbegriff
selbst wird nicht erklärt. Das zeigt sich u. a. darin, daß nicht erklärt wird, wie der
Satz durch ein Moment „wahr gemacht" wird.
6.2 Propositionale Perspektive
6.2.1 Einleitung
Lange Jahre galten jene Entitäten, die in der englischsprachigen Literatur „proposi-
tions" und/oder „states of affairs", „facts" u. ä. und im deutschsprachigen Raum
„Propositionen", „Sachverhalte" („Sachlagen"), „Situationen" u. ä. genannt werden,
als zuhöchst suspekt. In den letzten Jahren ist diesbezüglich eine deutliche Wende
eingetreten. Es gibt kaum einen neuen Ansatz in der Semantik und Wahrheitstheorie,
der nicht in der einen oder anderen Weise solchen Entitäten eine zentrale Stellung
einräumt: Diese überraschende neue Entwicklung hat die Ausgangslage für eine
Theorie der Wahrheit von Grund auf geändert. Dem soll in diesem Abschnitt
ausführlich Rechnung getragen werden.
Zuvor ist eine wichtige Bemerkung zur Terminologie am Platz. Von einer einheit-
lichen Terminologie ist man heute noch weit entfernt. Im englischsprachigen Raum
werden hauptsächlich fünf Ausdrücke verwendet, die manchmal als mehr oder weniger
synonyme, manchmal aber als bedeutungsverschiedene Ausdrücke verstanden werden:
„proposition", „state of affairs", „situation", „condition", „fact". Im Deutschen
dürften folgende Entsprechungen angemessen sein: „Proposition", „Sachverhalt",
„Situation" (oder „Sachlage"), „Zustand", „Tatsache".79 Wie diese Ausdrücke genau
verstanden werden bzw. in welchem Beziehungszusammenhang sie zueinander stehen
(wenn sie, wie meistens angenommen wird, nicht als synonyme Ausdrücke betrachtet
werden), hängt von der jeweiligen Theorie ab. Fest steht, daß alle diese Ausdrücke
in der einen oder anderen Weise Aspekte eines großen und einheitlichen Zusammen-
hangs artikulieren.
Hier drängt sich die Frage auf, wie dieser große und einheitliche Zusammenhang
global bezeichnet werden kann. Vermutlich kann auf diese Frage keine ideale, d. h.
allen Gesichtspunkten Rechnung tragende und alle Philosophen befriedigende Ant-
wort gegeben werden. Man könnte einen Neologismus bilden, um den globalen
Zusammenhang zu benennen; aber Neologismen sind in vielerlei Hinsicht proble-
matisch. Statt dessen wird in diesem Buch eine pragmatische Lösung bevorzugt: die
Ausdrücke .Proposition' und Sachverhalt' — einzeln oder zusammen genommen —
werden als synonyme und globale Termini verwendet, bis im Kap. 3 eine entspre-
chende Theorie explizit entwickelt wird. Dann wird der (partielle) Neologismus

79 Zur Geschichte dieser Ausdrücke bzw. Begriffe vgl. Nuchelmans [1973] und
[1980]; Smith [1988]; vgl. auch Olson [1987],

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Anhang 359

.Verhalt' eingeführt und bevorzugt verwendet. Wenn die in diesem Buch vertretene
Konzeption der „Proposition" gemeint ist, wird dieser Ausdruck fett geschrieben
(Proposition).
Im folgenden wird zunächst eine Auffassung referiert, die in ausgezeichneter Weise
weitverbreitete Intuitionen bezüglich der propositionalen Perspektive im Zusammen-
hang mit der Theorie der Wahrheit artikuliert und formalisiert. Sodann sollen die
drei klassischen Ansätze zur Bestimmung der hier anvisierten Entitäten dargelegt und
im Anschluß daran auf neue Ansätze hingewiesen werden. Damit ist die Aufgabe
verbunden, das immense Gebiet der neuen Propositionstheorien zu sichten. Dies soll
in der Weise geschehen, daß zunächst Kriterien für eine Typologie der gegenwärtigen
Propositionstheorien ausgearbeitet werden. Das Ergebnis der Anwendung dieser
Kriterien ist der Entwurf einer Typologie der gegenwärtigen Propositionstheorien.

6.2.2 Tatsachen als Wahrmacher


In einem kurzen, aber außerordentlich dichten Aufsatz („Facts as Truthmakers") legt
Μ. Ρendleb urym eine wahrheitstheoretische Konzeption vor, die als gut gelungene
zusammenfassende Formulierung weitverbreiteter Intuitionen aus einer propositions-
ontologischen Perspektive betrachtet werden kann. Zwar kommt der Ausdruck
.Proposition' in diesem Aufsatz nicht vor; aber der von Pendlebury verwendete
Ausdruck .situation', den er als „possible atomic fact" versteht, zeigt unzweideutig
jene globale Perspektive an, die in diesem Abschnitt die „propositionale Perspektive"
genannt wird. Im übrigen macht dieser Aufsatz deutlich, worin Stärken und Schwä-
chen der allgemeinen intuitiven propositionalen Perspektive zu sehen sind.
Auf die Frage, was Tatsachen seien, gibt Pendlebury eine für einen erheblichen Teil
der bisherigen wahrheitstheoretischen Literatur charakteristische Antwort: unter Ver-
weis auf Russell und auf den Wittgenstein des Tractatus wird ohne weitere Begründung
und Erläuterung gesagt:
„Facts are what constitute the objective world, and what make true sentences
and thoughts true and false sentences and thoughts false." 81
Pendlebury beläßt es bei dieser allgemeinen und problemträchtigen Bestimmung und
geht gleich zur Erörterung der Frage über: Wie ist die Beziehung zwischen „wahr-
machenden" Tatsachen und wahren Sätzen zu bestimmen? Es geht also um die
Beziehung des Wahrmachens. Die Träger dieser Beziehung sind nicht, wie bei Mul-
ligan/Simons/Smith, „Momente" und Dinge, sondern Tatsachen. Pendlebury verwen-
det eine Standardsprache L erster Stufe mit Individuenkonstanten, n-stelligen Prä-
dikaten (n > 1), abzählbar vielen Individuenvariablen und den logischen Konstanten:
V, &, 3 und V. Auf der Basis eines klassischen Verständnisses der logischen
Zeichen definiert er zunächst den Begriff eines logischen Raumes Κ für L. Κ ist ein
geordnetes Paar <D, {P,, P 2 ,...P„,...}), so daß gilt:
(a) D ist eine nicht-leere Menge (wir interpretieren sie als die Menge der Individuen);
(b) für alle η > 1: (i) P„ist eine Menge (wir denken sie als die Menge der n-stelligen
Eigenschaften); (ii) P„ ist nicht-leer, wenn in L überhaupt n-stellige Prädikate
vorhanden sind;

80 Pendlebury [1986],
81 A. a. O. S. 177.

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360 Anhang

(c) D, Pi,...,P„,... sind paarweise disjunkt.


Jetzt führt Pendlebury den Begriff der Situation ein, der, wie oben bemerkt, dem
gängigen Begriff der Proposition zumindest sehr ähnlich ist. Die Menge der Situationen
in einem logischen Raum Κ wird definitionsmäßig bestimmt als die kleinste Menge
S* von 2- oder mehrstelligen Sequenzen, so daß <P, χι,...,χ η ) ε S^gdw. Ρ e P„ und
x!,...,x n e D. Das bedeutet, daß das Tupel <p, xt,...,x n > eine Situation in Κ ist gdw.
ρ eine n-stellige Eigenschaft ist und xi,...,x„ Individuen in Κ sind. Pendlebury deutet
diese Begriffe in der Weise, daß eine Situation s eine Eigenschaft oder ein Individuum
α involviert gdw. für mindestens ein η gilt: α ist das n-te Glied in s. Dies ist so zu
verstehen: eine Situation ist eine mögliche atomare Tatsache und die Konstituenten
einer Situation sind die Eigenschaften und Individuen, die sie involviert.
Auf dieser Basis wird der Begriff einer (möglichen) Welt definiert: Eine Menge W
ist eine Welt im logischen Raum Κ gdw.
(a) W £ S K , und
(b) für jedes χ e D gilt: es gibt eine Tatsache / e W , so daß / χ involviert.
Die leitende Annahme ist, daß eine Welt spezifiziert wird, indem gesagt wird,
welche Tatsachen in dieser Welt sind. Die Welt selbst ist die Totalität dieser Tatsa-
chen. 82 Es ist dann nur konsequent, wenn Pendlebury feststellt, man könne „Tatsache
in W" einfach als „Mitglied von W " definieren.
Die Wahrheit eines atomaren Satzes φ in der Sprache L in einer Welt W wird von
Pendlebury so definiert: Ein solcher Satz φ ist wahr dann und nur dann, wenn es
eine Tatsache in W gibt, die mit φ genau korrespondiert. Wahrheit wird also als
Ubereinstimmung zwischen Satz und Tatsache verstanden. Wie ist nun diese Korre-
spondenzbeziehung zu bestimmen? Die Bestimmung der Korrespondenzbeziehung
erfolgt auf zwei Ebenen: auf der Ebene der Angabe des semantischen Werts der
Einzelkomponenten des atomaren Satzes und des semantischen Werts des atomaren
Satzes selbst. Pendleburys Konzeption ist eine propositional orientierte Konzeption
auf der Basis des Kompositionalitätsprinzips. Um den semantischen Wert der einzelnen
Komponenten des atomaren Satzes zu bestimmen, definiert er eine „Bedeutungs-
funktion" („meaning function") Β, deren Argumentbereich die Individuenkonstanten
und n-stelligen Prädikate von L sind.
Einige Bemerkungen zu dieser Konzeption sollen dazu beitragen, die Problematik
und die Aufgabe einer Theorie der Wahrheit besser herauszuarbeiten. Pendlebury
nimmt Situationen an, die (atomaren) Sätzen korrespondieren und die (noch) nicht
Tatsachen sind. Wie ist aber das „Verhältnis" zwischen Situationen und Tatsachen zu
bestimmen?
Eine Korrespondenzbeziehung im strengen Sinne besteht nach Pendlebury nur
zwischen den (atomaren) Sätzen und den ihnen eben korrespondierenden Situationen.
Aber das definiert nicht Wahrheit. In seiner Definition der Beziehung des Wahrma-
chens ist eine Definition der Wahrheit implizit enthalten, die man folgendermaßen
explizit machen kann:
Der Satz ΓFt1,...,t„~, ist wahr gdw. wenn er eine wahre Situation (Proposition)
s ausdrückt; die Situation (Proposition) s ist wahr gdw. es eine Welt W (als
Totalität der Tatsachen) gibt und s £ W.

82 Dabei knüpft Pendlebury an Wittgensteins Tractatus („1.1: Die Welt ist die Ge-
samtheit der Tatsachen, nicht der Dinge.") an.

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Anhang 361

6.2.3 Die drei klassischen Ansätze der Propositionstheorie;


Kriterien für eine Typologie
[1] In der neueren Zeit und auch noch weitgehend in der Gegenwart wird der Begriff
der Proposition auf der Basis dreier Gesichtspunkte bzw. Ansätze eingeführt und
bestimmt:
(1) Propositionen werden als die (eigentlichen) Bedeutungen der deklarativen Sätze
aufgefaßt. Der Ansatz ist also ein sprachlicher im strengen Sinne des Wortes.
(ii) Gemäß einem zweiten Ansatz stellen die Propositionen die eigentlichen (primären)
Wahrheitsträger dar.
(iii) Ein dritter Ansatz bestimmt die Propositionen als die Objekte der sog. „pro-
positionalen Einstellungen".
Oft werden alle drei Gesichtspunkte bemüht, um den vollen Begriff der Proposition
zu bestimmen, wobei allerdings immer einer der drei Gesichtspunkte die primäre
Rolle spielt und die beiden anderen dann als sekundäre Aspekte oder Funktionen der
auf dieser Basis bestimmten Propositionen angesehen werden.
Aufgrund der intensiven Diskussion der letzten Jahre kann nicht mehr gesagt
werden, daß die drei genannten Ansätze die adäquatesten oder gar die einzigen sind,
um den Begriff der Proposition zu klären. Was den ersten Ansatz anbelangt, so wird
insbesondere zwischen der Bedeutung und dem Informationsgehalt des deklarativen
Satzes unterschieden und die Proposition — meistens — mit letzterem identifiziert.
Als besonders wichtig ist allerdings ein weiterer Ansatz zu betrachten, der ausge-
sprochen „realistische" Züge trägt: Propositionen werden von „realen Situationen"
her bestimmt. Ferner ist der Ansatz der Semantik der möglichen Welten speziell am
Problem der Modalitäten orientiert.

[2] Zur Terminologie ist eine wichtige Anmerkung zu machen. Einige Autoren
bestimmen die Proposition als Äquivalen^klasse eines Satzes (d. h. als Klasse der logisch
äquivalenten Sätze). So definiert P. Weingartner „Proposition" folgendermaßen:
„Die Proposition Prop(p) des Satzes ρ ist die (inferenzielle) Äquivalenz-
menge Äq(p) des Satzes p; d. h. die Klasse aller mit ρ (inferenziell) äqui-
valenten Sätze." 83
Weingartner legt eine ganze Reihe von äquivalenten Definitionen vor, so ζ. B.: „Die
Proposition Prop3(p) des Satzes ρ ist die Folgerungsmenge Fl(p) des Satzes p: Prop3(p)
= Df Fl(p)". 84 Dieser Autor definiert aber die Proposition auch als (Äquivalenz-)
Menge von Urteilen:
„Die Proposition Prop 2 (u) des Urteils u ist die (inferenzielle) Äquivalenz-
menge Äq(u) des Urteils u; d. h. die Klasse aller mit u (inferenziell) äqui-
valenten Urteile." 85
Diese Auffassung soll hier unberücksichtigt bleiben, und zwar aus dem Grund, weil
diese Verwendung des Ausdrucks .Proposition' völlig ungeeignet ist. Hier sollen nur

83 Weingartner [1971] S. 141.


84 Vgl. a. a. O. S. 140.
85 A. a. O. S. 139.

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362 Anhang

jene Auffassungen Beachtung finden, die unter .Proposition' — in welch näherer


Weise auch immer — eine nichtsprachliche Entität verstehen.
[3] Es stellt sich nun die Frage, ob Kriterien für eine Typologie der Propositions-
theorien ausfindig gemacht und angegeben werden können. Ohne Anspruch auf
Vollständigkeit zu erheben, lassen sich drei Kriterien angeben, die zu drei verschie-
denen Typologien führen: Ein erstes Kriterium ist in der Antwort auf die Frage zu
sehen, ob Propositionen als primäre (primitive, ursprüngliche) oder sekundäre (ab-
geleitete) Entitäten aufgefaßt werden bzw. aufzufassen sind. Ein %weites Kriterium
läßt sich aus der Frage entnehmen, ob zwischen Sprache und Proposition ein signi-
fikantes Verhältnis besteht oder, genauer formuliert, ob die Struktur der Proposition
eine Entsprechung zur Struktur des Satzes aufweist, so daß sie daran abgelesen
werden kann. In dieser Hinsicht kann man ganz neue Entwicklungen feststellen.
Schließlich ergibt sich ein drittes Kriterium aus der Frage, ob die Proposition selbst
in irgendeinem Sinne einen „ontologischen Charakter" hat, d. h. ob sie als eine
ursprünglich „ontologische Entität" aufzufassen ist oder ob sie nur ein ontologisches
Korrelat hat oder ob sie in ontologischer Hinsicht ganz anders zu bestimmen ist.
Jedes dieser Kriterien hat Vor- und Nachteile. Die im folgenden zu skizzierende
Typologie basiert auf dem ersten und dritten Kriterium. Der Grund liegt in der
Sonderstellung, die die Semantik der möglichen Welten einnimmt. Es dürfte klar
sein, daß im folgenden nicht alle, nicht einmal alle wichtigen, Konzeptionen Berück-
sichtigung finden können. So, um nur ein Beispiel zu nennen, wird der beachtenswerte
Ansatz von B. Taylor 86 nicht berücksichtigt.

6.2.4 Propositionen als primitive Entitäten


[1] Eine grundsätzlich rein epistemisch orientierte Bestimmung von Proposition (Sach-
verhalt) findet man bei R. M. Chisholm:
„p is a state of affairs =Df p is possibly such that there is someone who
accepts it; and there is something which obtains and which is necessarily
such that whoever conceives it conceives p," 87
[2] In seinem Buch Quality and Concept88 hat G. Bealer einen imponierenden Versuch
unternommen, eine Theorie der intensionalen Entitäten (nämlich Eigenschaften,
Relationen und Propositionen) zu entwickeln. Er versteht seine Theorie als eine rein
logische Theorie, als einen Teil der Logik, wie diese traditionell verstanden wird.
Auf der anderen Seite faßt er Eigenschaften, Relationen und Propositionen als „reale,
irreduzible Entitäten" 89 auf. Seine Konzeption ist durch eine grundlegende Unter-
scheidung im Bereich der intensionalen Entitäten charakterisiert: einerseits gibt es
solche Entitäten im Bereich des „Denkens" („thinking") im weitesten Sinne, wobei
Bealer sie „Begriffe und Gedanken" („concepts and thoughts") nennt; andererseits
gibt es intensionale Entitäten, die „primär zur Welt gehören" 90 , wobei sie bei Bealer

86 Taylor [1985] Kap. 2.


87 Chisholm [1985] S. 109.
88 Bealer [1982],
89 A. a. O. S. 1.
90 A. a. O. S. 10.

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Anhang 363

die Bezeichnung „Qualitäten, Verknüpfungen (.connections') und (Welt-)Zustände


(.conditions')" erhalten. Mit dieser Unterscheidung versucht Bealer eine Synthese
zwischen zwei traditionellen Konzeptionen über die intensionalen Entitäten herzu-
stellen: Konzeption I faßt intensionale Entitäten als identisch dann und nur dann auf,
wenn sie notwendigerweise äquivalent sind; Konzeption II hingegen begreift die
intensionalen Entitäten ganz anders: wenn diese vollständig definiert sind, so haben
sie eine einzige, nicht-zirkuläre Definition.
Bealer setzt bei der Behandlung intensionaler Kontexte an und gelangt zu folgender
syntaktischer Lösung: solche Kontexte finden ihre Erklärung im Rahmen einer
extensionalen Sprache erster Stufe, erweitert durch eine einzige und allgemeine
Operation, nämlich einer intensionalen Abstraktion. Diese Operation verwandelt
einfache Formeln (wie ,Fx') und komplexe Formeln (wie ,Fx & Gx') oder geschlossene
Sätze (wie ,(3x) Fx') in intensionale Abstrakta der syntaktischen Form ,[Fx]„', ,[Fx
& Gx],' bzw. ,[(3x)Fx]'. Solche syntaktischen Gebilde verhalten sich wie singulare
Terme.
Das semantische Korrelat dieser intensionalen Terme sind die intensionalen Enti-
täten: Eigenschaften, Relationen, Propositionen. Wenn Α eine wohlgeformte Formel
ist, so ist [A] V] Vm ein intensionaler singulärer Term mit einer intensionalen Entität
der Stufe m als semantischem Korrelat. Wenn m = 0, so ist das semantische Korrelat
des singulären Terms die Proposition daß-A; wenn m = 1, so ist das semantische
Korrelat die Eigenschaft „etwas(vi)-sein, so daß A"; wenn m > 1 ist, so ist das
semantische Korrelat die Relation zwischen v,,...,v m so daß A.
Wie schon bemerkt, intendiert Bealer eine Synthese zwischen den beiden von ihm
„traditionell" genannten Konzeptionen. Jeder dieser Konzeptionen ordnet er eine
bestimmte Auffassung über die intensionalen Entitäten zu. Nach Konzeption I sind
intensionale Entitäten Qualitäten, Verknüpfungen und (Welt)Zustände, nach Kon-
zeption II hingegen Begriffe und Gedanken. Wie er diese Unterscheidung genauer
versteht und begründet, wird an seinem „logischem Realismus" deutlich. Anhand
einer Analyse von Beispielen stellt er die These auf, daß Qualitäten und Verknüpfun-
gen die bestimmenden Faktoren der phänomenalen, kausalen und logischen Ordnung
der Welt sind, während „nicht-genuine" Eigenschaften und Relationen (die Cambridge-
Eigenschaften und -Relationen 91 ) eine solche Rolle nicht spielen. Vielleicht ist das
bekannteste Beispiel einer Cambridge-Eigenschaft in der gegenwärtigen Philosophie
N. Goodmans konstruierte Eigenschaft „grot" 92 .
Qualitäten und Verknüpfungen legen die realen Zustände („conditions") in der Welt
fest und als solche beinhalten sie keine Distinktionen, die feiner wären als notwendige
Äquivalenzen. Auf der anderen Seite gehören Begriffe zur Dimension des Denkens
bezüglich der Welt; in dieser Dimension des Denkens tun sich „feinere" intensionale
Unterschiede auf. Qualitäten sind jene Entitäten, die Objekte qualifizieren; Verknüp-
fungen sind jene Entitäten, die Objekte miteinander verbinden. Hingegen sind
Begriffe Entitäten, die auf Objekte angewandt („apply") werden. Der Unterschied
zwischen Zuständen und Gedanken wird von Bealer in analoger Weise erläutert und
begründet.

91 Diese Bezeichnung geht auf S. Shoemaker und P. Geach zurück (vgl. Bealer [1982]
S. 274 Anm. 2).
92 Vgl. Goodman [1955].

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364 Anhang

Die weitere hier noch zu berücksichtigende These betrifft das Verhältnis zwischen
den beiden Arten von Entitäten. Hier sei nur auf das Verhältnis zwischen Gedanken
und Zuständen eingegangen. Wie leicht zu sehen ist, hat Bealer keine größeren
Schwierigkeiten, dieses Verhältnis als strenge Korrespondenzrelation und diese „rein
logisch" als eine strukturelle Isomorphic zu charakterisieren. Und so erklärt Bealer
den Wahrheitsbegriff als diese strenge Korrespondcnzrelation im Sinne der strukturellen
Isomorphic. Zunächst definiert er den Begriff des Bestehens so:
„x obtains iffdf for some property which has an instance, χ is just the
condition that this property does have an instance.
In symbols, χ obtains iff df (3y)((3z)z Δ y & χ = |(3z)z Δ y|y)."93
Auf der Basis dieser Definition definiert Bealer den zentralen Wahrheitsbegriff wie
folgt:
„x is true iff d f χ corresponds to a condition that obtains." 94
[3] In einer bestimmten Hinsicht ist der von D. Kaplan unter Berufung auf B. Russell
entwickelte Begriff der singulären Proposition am klarsten ontologisch orientiert. 95 Im
Rahmen einer Theorie der direkten Referenz wird das reale Objekt oder Individuum
(und nicht irgendein Begriff oder eine begriffliche Charakterisierung desselben) als
Komponente der Proposition betrachtet. Singuläre Propositionen sind daher Entitä-
ten, die aus realen Komponenten bestehen. Sie werden repräsentiert als geordnete
Paare (oder allgemeiner: als geordnete n-Tupel) bestehend aus dem Objekt (bzw. den
Objekten), das (die) als Referent(en) des (der) singulären Terms (Terme) gilt (gelten),
und aus der Eigenschaft bzw. Relation (dem Attribut), die (das) von ihm (ihnen)
prädiziert wird. Auch wenn das Objekt/Individuum real und konkret ist, ist die
Proposition nach Kaplan eine intensionale und abstrakte Entität.
Scott Soames96 hat die von dieser Richtung vertretene Propositionstheorie genauer
herausgearbeitet. Gegeben sei eine Sprache erster Stufe L mit Lambda-Abstraktion
(mitgeteilt durch Terme der Form AvS'), einem intensionalen Prädikat (.Glauben')
und einer Reihe von semantisch einfachen singulären Termen, die alle direkt referieren.
Hinsichtlich des informational-semantischen Gehalts (Wertes) gilt dann gemäß dieser
Theorie folgendes:
— der semantische Gehalt einer (freien) Variablen ν relativ zu einer Zuord-
nung f von Individuen zu Variablen ist f(v);
— der semantische Gehalt eines geschlossenen (direkt referentiellen) Terms,
relativ zu einem Kontext, ist dessen Referent relativ zum Kontext;
— die semantischen Gehalte von n-stelligen Prädikaten sind n-stellige Ei-
genschaften und Relationen;

93 Bealer [1982] S. 204. Zur Erläuterung: , Δ ' ist bei Bealer ein 2-stelliges logisches
Prädikat, das die Prädikationsrelation ausdrückt (d. h. die in der natürlichen
Sprache durch die Kopula ausgedrückte Relation); ,|A|' steht für ,der Zustand
(daß) A' (,the condition that Α'); die hochgestellte Variable besagt, daß innerhalb
des ,Zustands' quantifiziert werden darf.
94 Ebd.
95 Vgl. insbesondere Kaplan [1975].
96 Vgl. zum folgenden insbesondere Soames [1987a], bes. S. 72 ff.

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Anhang 365

— der semantische Wert von ,&' und ,-i' sind Funktionen, nämlich KONJ
und NEG, von Wahrheitswerten in Wahrheitswerte.
Der semantische Gehalt der Sätze von L sind Propositionen. Einige Beispiele:
(1) Die durch den Atomsatz r Pti,...,t n " 1 relativ zu Kontext Κ und Zuordnung
f ausgedrückte Proposition ist ((oi,...,o„X P*), wobei P* die durch Ρ
ausgedrückte Eigenschaft und Oi der Gehalt von t„ relativ zu Κ und f,
ist.
(2) Die durch eine Formel r ^ v S ] t n relativ zu Κ und f ausgedrückte Pro-
position ist « o > , g ) ; dabei ist ο der Gehalt von t relativ zu Κ und f,
während g die Funktion von Individuen o' in Propositionen bezeichnet,
die durch S relativ zu Κ und einer Zuordnung f ausgedrückt wird
(wobei sich f von f höchstens durch die Zuordnung von o' als dem
Wert von ν unterscheidet).
(3) Die durch ""nS"1 und r S & R"1 relativ zu Κ und f ausgedrückten Propo-
sitionen sind <NEG, Prop S> bzw. <KONJ, (Prop S, Prop R » , wobei
Prop S und Prop R die durch S bzw. R relativ zu Κ und f ausgedrückten
Propositionen sind und NEG und KONJ die Wahrheitsfunktionen für
Negation und Konjunktion darstellen.
(4) Die durch r 3v S"1 relativ zu Κ und f ausgedrückte Proposition ist
(EINIGE, g>, wobei EINIGE die Eigenschaft repräsentiert, eine nicht
leere Menge zu sein, und g dasselbe wie in (2) meint.

[4] Ein völlig neuartiger Versuch, eine Theorie der Proposition im weitesten Sinne
zu entwickeln, wird seit einigen Jahren von J. Barwise und /. Perry im Rahmen der
Situation Semantics unternommen. Diese Konzeption liegt noch nicht in ihrer endgül-
tigen Gestalt vor. Es kann hier nicht auf die verschiedenen Entwicklungsphasen der
Situationssemantik eingegangen werden. Nachdem die beiden genannten Autoren
Anfang der 80er Jahre mehrere programmatische Aufsätze veröffentlicht hatten, kam
1983 das Buch Situations and Attitudes heraus, 97 das eine erste größere systematische
Darstellung bringt. Aber auch über dieses Buch ist die Entwicklung inzwischen
hinweggegangen. Für die Thematik des vorliegenden Werkes soll eine Arbeit von
J. Barwise aus dem Jahr 1985 mit dem Titel The Situation in Logic-Ill: Situations, Sets
and the Axiom of Foundation98 zugrunde gelegt werden. Dabei ist zu beachten, daß
die Terminologie im Laufe der Jahre bedeutenden Modifikationen unterzogen wurde.
Früher haben die beiden Autoren den Ausdruck „Proposition" häufig verwendet,
während er in den letzten Schriften kaum erscheint. Aber es steht außer Zweifel, daß
es sich um diese Thematik handelt.
Für die hier interessierende Zielsetzung sind zwei Grundzüge der Situationsseman-
tik hervorzuheben: (a) eine dezidiert realistische Grundannahme: ausgegangen wird
von realen Situationen-, (b) eine methodische Annahme: Situationen werden mit Hilfe
mengentheoretischer Mittel modelliert. Trotz gewisser Ähnlichkeiten ist die Situa-
tionssemantik keine Semantik der möglichen Welten. Die methodische Annahme ist
so zentral, daß Barwise/Perry ( = B/P) von gewissen Problemen, die im Rahmen der

97 Barwise/Perry [1983],
98 Barwise [1985],

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366 Anhang

semantischen Themenstellung auftauchen, dazu geführt werden, die Mengenlehre


selbst starken Modifikationen zu unterziehen. Bei Barwise spaltet sich der Begriff der
Proposition in zwei weitere Begriffe auf: in den Begriff der realen Situation und in
den Begriff des Sachverhalts („state of affairs"). Gerade in dieser Hinsicht hat sich
die Terminologie stark geändert, worauf oben hingewiesen wurde. Unter einer (realen)
Situation versteht Barwise einen Teil oder Ausschnitt der Realität oder der Welt, eine
(relative) Totalität sui generis. In Situations and Attitudes waren Situationen näher
charakterisiert worden als Individuen, die Eigenschaften haben und die in Relationen
zu anderen Dingen in raumzeitlichen Lokalisierungen stehen. Individuen, Eigenschaf-
ten und Relationen wurden schon auf der Ebene der Situationen eingeführt. Jetzt ist
eine wichtige Differenzierung durch die Einführung des zentralen Begriffs des Sach-
verhalts eingetreten. Sachverhalte sind Entitäten, die bestehen oder nicht bestehen
(„obtain"). Die Autoren führen den Begriff des Sachverhalts ein, indem sie bei den
Relationen ansetzen. Relationen sind fundamental („basic") in dem Sinne, daß sie
keine Wörter, Mengen von n-Tupeln, Ideen oder Begriffe sind; vielmehr sind sie „der
Leim (glue), der die Dinge zusammenhält, [sie sind] die primären Konstituenten der
Tatsachen, aus denen sich die Realität aufbaut". 99 Relationen haben eine (endliche)
Menge von Argumentstellen, eine passende Zuordnung von Objekten. Relationen
und passende Objekte an den Argumentstellen bestimmen zwei Basissachverhalte:
die bestehenden oder positiven (Tatsachen) und die nicht-bestehenden oder negativen
(Tatsachen). Dafür führt Barwise folgende Notation ein: <<R, a; 1 ) ) bzw. <(<R, a;
0 ) ) , wobei ,a' die Funktion der Zuordnung von Objekten und ,1' und ,0' die Polarität
(den Wert) bezeichnen, ,σ' ist Variable für Sachverhalte. ,R' ist die stärkere Kom-
ponente (major) und jedes a„ g für arg in Arg(R) ist die schwächere Konstituente
(minor). Um anzuzeigen, daß ein Sachverhalt σ besteht, wird die Notation Ν σ
verwendet. Wenn also σ ein Basissachverhalt ist, dann gilt: Ν σ dann und nur dann,
wenn σ eine Tatsache ist. Auf dieser Basis formuliert Barwise einige Axiome und
Theoreme.
Eine der weiteren Thesen, die allerdings noch nicht ausformuliert wurde, betrifft
die Ablehnung des Fundierungsaxioms. Diese These führt dazu, daß zirkuläre Proposi-
tionen angenommen werden (können), was wieder von kaum zu überschätzender
Bedeutung für die Formulierung und Lösung der sog. Wahrheitsparadoxie ist. Einen
großangelegten Versuch in diese Richtung unternahmen J. Barwise und /. Etchemendy
( = B/E) in der Arbeit The Liar: An Essay on Truth and Circular Propositions,100 in der
Austins und Russells Begriff der Proposition formalisiert (d. h. modelliert) und aus-
gebaut wird.
Ausgangspunkt ist die fundamentale These, daß nicht Sätze oder Behauptungen,
sondern Propositionen die primären Wahrheitsträger sind. Im wesentlichen wird die
„Russellsche" Proposition wie die schon oben dargelegte „singulare Proposition"
verstanden: sie enthält auf unmittelbare oder direkte Weise das Objekt, auf welches
sie sich bezieht oder über welches sie eben eine Proposition ist. Eine „Russellsche"
Proposition ist genau dann wahr, wenn es eine Tatsache ist, daß das Objekt die ihm
zugeschriebene Eigenschaft hat. Anders formuliert: eine Proposition ist wahr genau
dann, wenn es Tatsachen gibt, die sie wahr machen.

99 A. a. O. S. 4.
100 Barwise/Etchemendy [1987],

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Anhang 367

„Austins" Position weist signifikante Unterschiede auf: Eine genuine Behauptung


Β beinhaltet zwei Faktoren: eine historische oder aktuale Situation SB und einen
Typus von Situation TB. Eine Situation ist ein beschränkter Ausschnitt aus der realen
Welt, auf den sich ein Sprecher mittels „demonstrativer Konventionen" bezieht. Ein
Typus ist eine Eigenschaft von Situationen, die mittels „deskriptiver Konventionen"
artikuliert wird. Eine Behauptung Β ist wahr genau dann, wenn die Situation SB
vom Typus TB ist. Die erste Komponente nennen B/E ,Worüber(p)' und die zweite
,Typus(p)'.
Wichtig für die Zielsetzung des vorliegenden Buches ist der Versuch von B/E,
diese beiden Begriffe zu modellieren. Im folgenden sei nur das Wichtigste referiert.
Um dies auf möglichst einfache Weise zu zeigen, sei eine Sprache vorausgesetzt mit
der Konstante ,a' (für die Namen „Max" oder „Ciaire"), ,k' (als Name für eine von
52 Spielkarten), drei n-stelligen Prädikaten: ,H' (für „haben"), ,G1' (für „glauben"),
,Wr' (für „wahr"). ,p' sei Variable für Propositionen, wobei das, worauf sich die
Proposition ρ beziehen kann, wieder Propositionen sein können, einschließlich ρ
selbst.
Der Begriff der „Russellschen" Proposition wird folgendermaßen modelliert:11"
R-Def. 1: Sei Pre-PROP die größte Klasse derart, daß, wenn ρ e Pre-PROP, dann
hat ρ eine der folgenden Formen:
1. [a Η k] oder [ H T k ]
2. [a Gl p] oder [a Gl p], wobei ρ e Pre-PROP eine Proposition ist; oder
3. [Wr p] oder [Wr p], wobei ρ e Pre-PROP; oder
4. [Λ X] oder [V X], wobei X eine Teilmenge von Pre-PROP ist.
Die Elemente von PROP nennen B/E „Russellsche" Propositionen. Der Begriff der
Tatsache verweist auf den Begriff der Welt. B/E versuchen nun, ein Modell Μ der
Welt zu definieren; auf dieser Basis ist es dann möglich, jede Untermenge von Μ als
eine Menge von Tatsachen zu begreifen.
R-Def. 2: SVH ( = Sachverhalte) und SIT ( = Situationen) seien wie folgt definiert:
• σ e SVH gdw. σ eine der folgenden Formen hat:
° <H, a, k; i> oder
° <Wr, p; i> oder
° <G1, a, p; i>
(wobei H, Wr und Gl Prädikate sind, a ist Max oder Claire, k ist eine der
Spielkarten, i ist 0 oder 1);
• s e SIT gdw. s eine Untermenge von SVH ist.
R-Def. 5: Die Relation „wahrmachen" ist die einzige in SIT χ PROP enthaltene h-
Relation, die die folgenden Bedingungen erfüllt:
• s Ν [a Η k] gdw. <H, a, k; 1> e s.
• s Ν [a Η k] gdw. <H, a, k; 0> e s.
• s Ν [a Gl ρ] gdw. <G1, a, p; l ) e s .
• s Ν [a Gl p] gdw. <G1, a, p; 0> e s.
• s Ν [Wr p] gdw. <Wr, p; 1> e s.
• s Ν [Wr p] gdw. <Wr, p; 0> 6 s.

101 Vgl. a. a.O. S. 61 ff.

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368 Anhang

• s 1= [ Λ X] gdw. s t= ρ für jedes ρ e X.


• s Ν [V X] gdw. s t= ρ für mindestens ein ρ 6 X.
Ein Modell der Welt ist eine Kollektion von Sachverhalten, die bestimmte Einschrän-
kungen (Kohärenzbedingungen) erfüllt.
Um „Austinsche" Propositionen zu modellieren, benötigt man nach B/E vier
Klassen: Sachverhalte (SVH), Situationen (SIT), Typen (TYP) und Propositionen
(PROP). Sie müssen gleichzeitig definiert werden, da ζ. B. Situationen Konstituenten
von Propositionen sind und umgekehrt. 102
A-Def. 1: SVH, SIT, TYP und PROP seien die größten Klassen, die folgende
Bedingungen erfüllen:
(1) Jeder SVH hat die Form
° <H, a, k; i> oder
° <Wr, p; i> oder
° <G1, a, p; i>;
(dabei ist ρ e PROP).
(2) Jede SIT ist eine Untermenge von SVH;
(3) Jede PROP hat die Form {s; T}, wobei s e SIT und Τ e TYP;
(4) Jeder Typus hat eine der Formen
° [σ], wobei σ e SVH, oder
° [ Λ X], wobei X eine Untermenge von TYP ist, oder
c [ V X], wobei X eine Untermenge von TYP ist.

Die „Austinschen" Situationen haben einen „partiellen" Charakter: Es besteht ein


Unterschied zwischen den Situationen, in denen Ciaire die Drei nicht hat, und
Situationen, in denen unbestimmt bleibt, ob sie diese Spielkarte hat. M. a. W.: Daß
eine Situation s nicht vom Typus [(H, Ciaire, 3k; 1)] ist, ist nicht äquivalent der
Situation vom dualen Typus [<[H, Ciaire, 3k; 0 ) ] (das Dual eines Sachverhalts σ ist
„derselbe" Sachverhalt σ, aber mit der entgegengesetzten Polarität).
Damit gelangen B/E zu folgender Definition der Klasse WAHR: 103
A-Def. 2: WAHR ist die Klasse derjenigen ρ e PROP, so daß ρ = {s; T}, wobei s
vom Typus Τ ist.
Anders als im Falle der „Russellschen" Proposition wird die Wahrheit der „Austin-
schen" Proposition unabhängig davon, wie die Welt ist, bestimmt. Dieser Umstand
ist von wesentlicher Bedeutung für die hier entwickelte ontologische Grundbegriff-
lichkeit, worauf weiter unten ausführlich einzugehen sein wird.
Eine ähnliche Konzeption über Propositionen wurde vom polnischen Logiker
B. Wolniewic^ entwickelt. 104 Hinsichtlich der Terminologie ist anzumerken, daß Wol-
niewicz den Ausdruck „proposition" im Sinne von „Satz" verwendet. Dieser Ge-
brauch des Ausdrucks „proposition" geht auf die englische Ubersetzung von Witt-
gensteins Tractatus zurück, die „Satz" durchgehend durch „proposition" wiedergibt.
„Situationen" sind nach Wolniewicz das, was durch einen Satz ( = eine „proposition")

102 Vgl. a. a. O. S. 123 f.


103 Vgl. a. a. O. S. 127.
104 Vgl. bes. Wolniewicz [1982] und [1983],

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Anhang 369

ausgedrückt wird. Die durch den Satz a ausgedrückte oder repräsentierte Situation
ist S(a). Wenn „Situationen" real sind, sind sie Tatsachen. Eine Situation „besteht"
oder „besteht nicht". Diese Terminologie ist heute nicht mehr gebräuchlich.

6.2.5 Propositionen und mögliche Welten


Die im Rahmen einer Semantik der möglichen Welten entwickelte Propositionstheorie
ist sicherlich die am meisten diskutierte und auch die umstrittenste. Doch muß gleich
gesagt werden, daß es keine einheitliche Semantik der möglichen Welten gibt und
damit auch keine einheitliche Propositionstheorie dieser Semantik. Dessenungeachtet
sind die im Rahmen der Semantik der möglichen Welten entwickelten verschiedenen
Propositionstheorien sehr interessant, sei es, weil die Proposition direkt definiert
wird, sei es, weil die als primitive Entität vorausgesetzte Proposition in einen
allgemeinen Rahmen (eben in die Dimension der möglichen Welten) eingebettet wird.
Es gibt zwei entgegengesetzte Richtungen: die eine setzt den Begriff der möglichen
Welten voraus und definiert mit dessen Hilfe den Begriff der Proposition; die andere
verfahrt genau umgekehrt. Eine Sonderstellung nimmt der späte Carnap ein. Es kann
nicht ohne weiteres gesagt werden, daß er den Begriff der Zustandsbeschreibung
bzw. des Modells als primitiven Begriff voraussetzt. Tatsache ist aber, daß er diesen
Begriff heranzieht, um den Begriff der Proposition zu bestimmen. Aus diesem Grund
wird seine Position gesondert dargelegt.
6.2.5.1 Propositionen als Mengen von Modellen
R. Carnap hat eine lange Entwicklung hinsichtlich der Bestimmung der Proposition
und der Wahrheitstheorie durchgemacht. Hier seien nur einige Hinweise gegeben.
Nachdem sich R. Carnap, beeinflußt von A. Tarski,105 der Semantik zugewandt
hatte, legte er in seinem Buch Introduction to Semantics106 eine Konzeption dar, der-
zufolge das Designatum des Satzes die Proposition ist. Folgende Definition wird
vorgelegt (dabei ist ,S3' ein Sprachsystem, ,5 k ' ein Satz von S3, ,in,' Individuenterm,
,pri' Prädikatausdruck, ,F' Eigenschaft, Desind = die Designationsrelation für In-
dividuen, DesAttr = die Designationsrelation für Attribute, DesProp= die Desig-
nationsrelation für Propositionen):
DesProp^Sk, p) =ofeine der folgenden Bedingungen ist erfüllt:
a. hat die Form prj(inj) und es gibt ein F und ein x, so daß DesAttr(pri,F)
und Deslnd(inj,x), und p = (die Proposition daß) χ F ist.
b. ,ik hat die Form und es gibt ein q, so daß DesProp^,, q), und
p = nicht q.
c. hat die Form j', ν J", und es gibt ein q und ein r so daß D e s P r o p ^ , q)
und DesProp^j, r), und p = q oder r.107
Die Definition des wahren Satzes lautet:
j", ist wahr in S3 = w es gibt ein(e Proposition) p, so daß Des(J"j, p), und
p.m

105
Vgl. dazu Coffa [1987],
106
Carnap [1942],
107
A. a. O. S. 50 f.
108
A. a. O. S. 50.

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370 Anhang

Diese Definition nennt Carnap auch „Wahrheitsregel".


In Bedeutung und Notwendigkeit führt Carnap die Ausdrücke ,Extension* und .Inten-
sion' gemäß einer besonderen Bedeutung ein. Die Extension eines Prädikators (der
nullten Stufe) ist die entsprechende Klasse, die Intension ist die entsprechende
Eigenschaft. Allgemein gilt nach Carnap: Zwei Designatoren haben dieselbe Exten-
sion (in einer Sprache Si) genau dann, wenn sie äquivalent sind (in S,), und sie haben
dieselbe Intension gdw. sie L-äquivalent sind (in S,). Was die Sätze anbelangt, so ist
nach Carnap die Extension des Satzes der Wahrheitswert und die Intension die durch
den Satz ausgedrückte Proposition. 109 Eine Proposition ist nach Carnap keine lin-
guistische und keine mentale, sondern eine objektive Entität sui generis.
Die Wahrheitsregel (d. h. Wahrheitsdefinition) für einfache atomare Sätze gibt
Carnap folgendermaßen an:
„Ein Atomsatz in S 1; der aus einem Prädikat, gefolgt von einer Individuen-
konstanten, besteht, ist wahr, wenn und nur wenn das Individuum, auf das
sich die Individuenkonstante bezieht, die Eigenschaft besitzt, auf die sich
das Prädikat bezieht." 110
Carnap deutet an, daß man auch von der Wahrheit (und Falschheit) der Proposition
sprechen kann. 111 Diesen Begriff der Wahrheit nennt er den absoluten (d. h. hier: nicht-
linguistischen, nicht sprachrelativen) Begriff, im Gegensatz zur Wahrheit des Satzes,
die eine linguistische Entität und damit sprachrelativ ist.
Der späte Carnap hat eine weitere interessante Konzeption vorgelegt. Im folgenden
sollen die wichtigsten Definitionen im Anschluß an die von W. Stegmüller versuchte
Rekonstruktion kurz dargelegt werden. 112 Es mag erstaunen, daß Carnap seine
Propositionstheorie im Rahmen einer normativen Theorie des induktiven Räsonierens
skizziert. Doch der Zusammenhang der beiden Theorien ist einleuchtend. Wegen der
allzu offenkundigen Nachteile des linguistischen Vorgehens in der Wahrscheinlich-
keitstheorie entschließt sich Carnap zu einem nicht-linguistischen Ansatz: die abso-
luten und bedingten Wahrscheinlichkeitsfunktionen werden nicht mehr für Sätze,
sondern für nicht-linguistische Entitäten als Argumente definiert. Diese einschlägigen
nicht-linguistischen Entitäten sind für Carnap die Propositionen. Es geht also im
folgenden um eine Skizzierung der nicht-linguistischen Apparatur des Carnapschen
Systems.
Die Propositionen werden mit Hilfe des Modellbegriffs definiert, der in einer
gewissen Hinsicht als eine Präzisierung des Begriffs der möglichen Welt gelten kann
und die nichtlinguistische Entsprechung zu den „Zustandsbeschreibungen" des frü-
heren Carnap bildet. Der Begriff der atomaren Proposition wird mit Hilfe der drei
Begriffe „Individuum", „Attribut" und „Attributfamilie" definiert: Ein ganz bestimm-
tes Attribut aus einer ganz bestimmten Attributfamilie kommt einem ganz bestimmten
Individuum zu. Der Ausdruck ,P™a,' bezeichnet die Proposition „dem Individuum
mit dem Index i kommt das j-te Attribut der m-ten Familie zu". Die formale Definition
stützt sich auf den Begriff des Modells und die Proposition wird entsprechend definiert

109 Carnap [1972] S. 29, 34.


110 A. a. O. S. 6.
111 Vgl. a. a. O. S. 94 f.
112 Vgl. Stegmüller [1973], bes. S. 417 ff.

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Anhang 371

als die Menge der Modelle Ζ mit m als erstem, i als zweitem Argument und j als
Wert: Pj"ai = Df {Z| Ζ e Ζ Λ Z(m, i) = j}. Für weitere Einzelheiten sei auf die
Darstellung bei Stegmüller verwiesen.
Der oben skizzierte Begriffsapparat sei begriffliches System Β genannt. Es handelt
sich um ein nicht-linguistisches System. Stegmüller zeigt skizzenhaft, in welcher Weise
ein diesem System entsprechendes semantisch interpretiertes Sprachsystem L einge-
führt werden kann. 113 Die Zeichenmenge von L enthält: Individuenkonstanten,
Prädikate und Prädikatfamilien, die den entsprechenden Entitäten aus Β eindeutig
zugeordnet sind, ferner Junktoren, Quantoren und das Identitätssymbol. „Satz in L "
wird rekursiv definiert und der semantischen Regel für Sätze unterzogen, dergemäß
jedem Satz S die Proposition zugeordnet wird, die S ausdrückt. In dieser linguistischen
Perspektive wird nun die Proposition als die Wabrheitsmenge W von S (also: W(S))
interpretiert. Die Wahrheitsmenge wird als die Menge der Modelle bestimmt, in
denen der Satz erfüllt ist. Damit ist klar, daß der so verstandene Begriff der Proposition
ein Begriff der extensionalen Semantik ist. Das rekursive Verfahren verläuft folgen-
dermaßen: Den atomaren Sätzen werden Modellklassen, den logischen Operatoren
(in Anwendung auf Sätze) mengentheoretische Operatoren (in Anwendung auf die
entsprechenden Wahrheitsmengen) zugeordnet. Die rekursive Definition sieht dann
so aus:
(a) Wenn S für beliebige Indizes m, i und j der Atomsat£ von L mit der
i-ten Individuenkonstante und dem j-ten Prädikat der m-ten Familie
ist, dann
W ( S ) = D f {Z| Z e Z λ Z(m,i) = j};
(b) W(-|S) = W(S):
(c) W ( S , ν S 2 ) = „ ^ ( S , ) υ W(S 2 );
(d) W (S, Λ S 2 ) = D, W (S,) η W (S 2 );
(e) wenn S ein Identitätssatz ist, in welchem rechts und links von , = '
dieselbe Individuenkonstante vorkommt, dann W (S) = Z\
(f) wenn S ein Identitätssatz ist, in welchem links von , = ' eine andere
Individuenkonstante vorkommt als rechts, dann W (S) = 0;
(g) wenn S aus einem Allquantor, gefolgt von der Aussageform S* besteht,
dann W (S) =DiC\ W (S ,*)(i läuft über alle Individuenindizes).114

Nach dieser Definition haben L-äquivalente Sätze dieselbe Wahrheitsmenge, drücken


also dieselbe Proposition aus. Doch daraus folgt nicht, daß alle Propositionen auf
linguistischer Ebene widergespiegelt werden können. Carnap nimmt nämlich an, daß
es viel mehr Propositionen als Sätze von L gibt. Diese Feststellung spielt in seiner
Theorie eine ausschlaggebende Rolle. 115
6.2.5.2 Propositionen durch mögliche Welten definiert
Im folgenden sollen besonders die Theorien von D. Lewis, R. C. Stalnaker und M. ] .
Cresswell berücksichtigt werden.

[1] Im allgemeinen wird die Proposition als eine Menge möglicher Welten oder als
eine Funktion von der Menge der möglichen Welten in die Wahrheitswerte {1, 0}

113 Vgl. a. a. O. S. 446 ff.


1,4 Vgl. a . a . O . S. 447 f.
115 Vgl. a. a. O. S. 424.

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372 Anhang

bestimmt, wobei 1 für „wahr" und 0 für. „falsch" steht. Zunächst soll einiges zur
allgemeinen Motivation für die Einführung so verstandener Propositionen gesagt wer-
den. D. Lewis nennt vier Problemkreise oder Gebiete, die durch die Annahme von
Propositionen im angegebenen Sinne gelöst bzw. erklärt werden können,
(i) Der wichtigste Problemkreis ist der Bereich der Modalität(en). Wenn wir sagen,
daß unsere Welt wirklich (real) ist, so setzen wir voraus, daß es so etwas wie mögliche
Dinge oder Welten „gibt" (in welchem Sinne auch immer). „Notwendig" ist etwas
dann und nur dann, wenn es in allen (möglichen) Welten gilt (im Falle von Sätzen)
oder existiert (im Falle von nicht-linguistischen Entitäten). (ii) Der Problemkreis der
Kontrafakti^ität kann ohne die Annahme von möglichen Welten nicht erklärt werden,
(iii) Der Inhaltsbereich des Denkens (oder der sog. propositionalen Einstellungen)
schließt die Dimension der möglichen Welten ein. Stalnaker hebt den Problemkreis
der Intentionalität hervor, den er so umschreibt: Wie repräsentieren mentale Zustände,
linguistische Akte und Objekte die Welt? Die Antwort lautet: dieses Repräsentieren
beinhaltet in der einen oder anderen Weise eine weitreichende Unterscheidung zwi-
schen alternativen möglichen Zuständen der Welt; ein logischer Möglichkeitsraum
wird vorausgesetzt. 116 (iv) Lewis nennt noch einen vierten Gesichtspunkt, der für die
Zielsetzung des vorliegenden Werkes von nicht geringer Bedeutung ist: die Erklärung
dessen, was eine „Eigenschaft" ist. Lewis zufolge besteht die einfachste und beste
Erklärung darin, daß eine Eigenschaft als die Menge aller ihrer Instanzen aufgefaßt
wird, mit Betonung des Ausdrucks filier', was von ihm so verstanden wird: aller
„dieserweltlichen" und „anderweltlichen" Instanzen.117 Der Begriff der Proposition
wird von ihm folgendermaßen eingeführt und bestimmt:
„I identify propositions with certain properties — namely, with those that
are instantiated only by entire possible worlds. Then if properties generally
are the sets of their instances, a proposition is a set of possible worlds. A
proposition is said to hold at a world, or to be true at a world. The proposition
is the same thing as the property of being a world where that proposition
holds; and that is the same thing as the set of worlds where that proposition 118
holds. A proposition holds at just those worlds that are members of it." 119
Cresswell120 versucht zu zeigen, daß mögliche Welten in einem metaphysisch neutralen
Sinne eine unabdingbare Voraussetzung und Implikation bestimmter Phänomene
sind. Als Beispiel analysiert er ein Thermometer. Als System betrachtet, reagiert ein
Thermometer unterschiedlich auf unterschiedliche Umstände. Wenn nun ein Ther-
mometer etwa 15° C anzeigt, so geschieht folgendes: Es wird vorausgesetzt, daß ein
ganzes vollständiges physikalisches System w gegeben ist, das alle Tatsachen enthält,
einschließlich aller Tatsachen über den internen Zustand des Thermometers. Wie
immer wir ein Thermometer „lesen" („interpretieren"), in jedem Fall wird dabei die
Annahme gemacht, daß es eine Menge von Welten gibt, die das Thermometer

116 Vgl. Stalnaker [1984] und [1986].


117 Lewis [1986 b] S. 50 ff.
118 Bei Lewis steht „propositions"; aber dies muß sicher ein Druckfehler sein.
119 A . a . O . S. 53f.
120 Cresswell [1985] S. 67 ff.

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Anhang 373

„richtig", und eine andere Menge von Welten, die das Thermometer „falsch" („un-
richtig") macht.
[2] Meistens werden die oben genannten Formulierungen der Definition von Pro-
positionen als äquivalent betrachtet, so daß einige Autoren nur die erste, andere nur
die zweite und wieder andere unterschiedslos beide verwenden. In Wahrheit handelt
es sich hier um eine sehr komplexe Problemlage.
Am besten geht man von der Bestimmung der Wahrheit des Satzes im Rahmen
(einer der Spielarten) der Semantik der möglichen Welten aus. Demnach ist ein Satz
S in einer Welt w wahr dann und nur dann, wenn S eine Proposition Ρ ausdrückt,
im Sinne einer Menge von möglichen Welten, und wenn w in Ρ ist. Von hier aus ist
es nicht mehr schwer, die durch den Satz S ausgedrückte Proposition P, d. h.
Propositions, als eine Funktion von der Menge aller möglichen Welten Μ in die Menge
der Wahrheitswerte {1, 0} zu bestimmen.
Wie ist es zu verstehen, daß Propositionen oft auch einfach als „Mengen von
möglichen Welten" bestimmt werden? Um diesen Sachverhalt zu erklären, definiert
G. Linkm zunächst folgende Funktionen:
(1) Ints: Λί —• {1, 0}.
Μ (Μ) : = B M (S)
(wobei Ints die Intension von S und B m (S) die Bewertung von S im Modell [oder in
der Welt] Μ bezeichnet). Dann schreibt er:
„Aus (1) geht hervor, weshalb Propositionen manchmal auch als Mengen
von Modellen bzw. .möglichen Welten' aufgefaßt werden: Jeder Intension
Int, eines Satzes S läßt sich nämlich in eindeutiger Weise ihre .Wahrheits-
menge'
(2) W s : = {M| Μ e Λί und Μ (Μ) = 1}
zuordnen. W s ist eine Menge von Modellen [ = Welten], deren Indikator-
funktion [ = charakteristische Funktion] gerade Ints ist. Das etabliert aber
eine Bijektion zwischen {Int, | S e F* } (der Menge der Propositionen [F*
bezeichnet die Menge der Sätze in L\) und der Potenzmenge von
Λί". 122
Manche Autoren, die die erste Formulierung als Definition der Proposition verwen-
den, kümmern sich überhaupt nicht um eine Klärung dessen, was mit {1, 0} gemeint
ist. So schreibt R. Stalnaker beispielsweise:
„There are just two truth-values — true and false. What are they: mysterious
Fregean objects, properties, relations of correspondence and noncorrespon-
dence? The answer is that it does not matter what they are; there is nothing
essential to them except that there are exactly two of them. We could
formulate the definition of proposition in a way that did not mention truth-
values at all without changing its essential character: a proposition may be
thought of as a rule for selecting a subset from a set of possible worlds.
The role of the values true and false is simply to distinguish the possible

121 Link [1976]; vgl. S. 37.


122 Link [1976] S. 38 (die Erläuterungen in eckigen Klammern sind von mir).

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374 Anhang

worlds that are members of the selected subset from those that are not. But
is there not more to truth than this?" 123
Es dürfte aber fraglich sein, ob diese Position annehmbar ist. Es bleibt nämlich völlig
unverständlich, warum hier überhaupt von .Wahrheitswerten' die Rede ist. Wenn
deren Rolle hier die ist, zwischen möglichen Welten zu unterscheiden, so müssen sie
dazu in der Lage sein: entsprechend muß gezeigt werden, was an ihnen ist, wodurch
sie gerade diese Rolle spielen können. Ferner: Sind die Wahrheitswerte die einzigen
„Faktoren", denen diese Rolle zugeschrieben werden kann — oder gibt es noch
andere? Wenn ja, welche? Warum nennt man sie nicht?
Auffallend in dieser Definition ist — unter vielen anderen Dingen — das „gebro-
chene Verhältnis" zur Sprache. In mindestens %n>ei zentralen Hinsichten erweist sich
die Sprache für die vorgelegte Propositionsauffassung als irrelevant. 124 (i) Entspre-
chend der genannten Definition weist die Proposition keine Struktur auf, die in
irgendeiner Weise der Struktur des sie ausdrückenden Satzes entspricht. Weder kann
die Struktur der Proposition an der Struktur des Satzes abgelesen noch kann der Satz
als adäquates Darstellungsmedium der Proposition angesehen werden. Wie sich
herausstellen wird, ist dieser Umstand von entscheidender Bedeutung. Die Struktur
der Proposition als Funktion von der Menge der möglichen Welten in die Menge
der Wahrheitswerte ist sehr allgemein und global, eine Grobstruktur. Man vermißt
jene Feinstruktur, die eine Analyse der Sprache und speziell des Satzes ans Licht
bringen kann. Eine der Konsequenzen dieser Definition betrifft das Problem der
Identität von Propositionen. Aus der Definition ergibt sich, daß zwei Propositionen
identisch sind, wenn sie (notwendig) äquivalent sind, d. h. wenn sie dieselbe Extension
haben. Aber dies ist gänzlich unplausibel, da diese Theorie eine Differenzierung des
Informationsgehalts unserer Aussagen nicht mehr gewährleistet. 125 (ii) Ein zweites
Merkmal der hier behandelten Propositionsdefinition ist, daß die Proposition eine
nicht-linguistische, eine sprachunabhängige Entität ist. Dieser Aspekt als solcher ist
nicht charakteristisch für diese Konzeption, nur die Erklärung des nicht-linguistischen
Charakters unter Rekurs auf mögliche Welten ist ein Spezifikum der hier betrachteten
Richtung.
6.2.5.3 Mögliche Welten durch Propositionen definiert
Die zweite Richtung innerhalb der Semantik der möglichen Welten bestimmt Pro-
positionen als primitive Entitäten, um mit deren Hilfe den Begriff der möglichen
Welt zu definieren. Es gibt %wei Varianten, die sich hinsichtlich der Frage unterschei-
den, ob der Begriff der möglichen Welt unter Rekurs auf mengentheoretische Dar-
stellungsmittel oder mit Hilfe eines anderen logischen Instrumentariums definiert
wird. Die entsprechenden Definitionen wurden schon im Abschnitt 3.6.1 angeführt
und kommentiert. Im folgenden sind einige ergänzende Hinweise auf spezielle Formen
dieser beiden Richtungen zu geben.
[1] Nach R. M. Adams ist eine mögliche Welt eine „Weltgeschichte (World-story)"
im Sinne einer maximal konsistenten Menge von Propositionen. 126 Das Kriterium

123 Stalnaker [1984] S. 2.


124 Vgl. dazu a. a. O. S. 3 ff.
125 Vgl. dazu Soames [1985], [1987 a], [1989],
126 Vgl. Adams [1974], [1979], [1981].

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Anhang 375

für die Unterscheidung zwischen wirklicher („actual") Welt und nicht-wirklichen Welten
wird aus der Dualität von wahren und falschen Propositionen entnommen: Eine
bestimmte Welt ist wirklich, weil und indem sie alle wahren Propositionen enthält.
Diese Bestimmung des Begriffs der möglichen Welt basiert auf zwei Begriffen, die
als primitiv vorausgesetzt werden: dem Begriff der Wahrheit und dem Begriff der
Proposition. Der zugrundegelegte Begriff der Wahrheit ist ein absoluter Begriff, d. h.
ein Begriff, der nicht relativ-zu-einer-Welt definiert wird. Letzterer Begriff ist der
relative Wahrheitsbegriff, den Adams mit Konsistenz zwischen Propositionen iden-
tifiziert und als einen bezüglich des Begriffs der möglichen Welt abgeleiteten Begriff
betrachtet.127 Er deutet an, daß der absolute Wahrheitsbegriff als Korrespondenzre-
lation zu verstehen ist. Hinsichtlich des Begriffs der Proposition gesteht Adams ein,
er sei nicht in der Lage, ihn zu erklären, wobei er hinzufügt, man könne, müsse aber
nicht, ihn als primitiv nehmen; er selbst betrachtet ihn allerdings faktisch als primitiven
Begriff.

[2] Eine zweite Weise, wie der Begriff der möglichen Welt auf der Basis der als
primitiv angenommenen Propositionen konstruiert werden kann, rekurriert auf den
Begriff der komplexen Proposition: Eine Welt ist demnach eine komplexe Proposition.
Aber nicht alle komplexen Propositionen sind Welten, sondern nur diejenigen, die
maximal sind: Eine mögliche Welt ist eine maximale mögliche Proposition.
Obwohl viele maximale Propositionen oder Sachverhalte „existieren", ist nur eine
wirklich („actual"). Das Unterscheidungsmerkmal für Wirklichkeit oder Nichtwirk-
lichkeit wird im (Begriff des) Bestehen(s) („to obtain") der Propositionen/Sachverhalte
gesehen. Diese Konzeption wird besonders von A. Plantinga und A. McMichael
vertreten. 128 Plantingas Konzeption soll noch etwas präzisiert werden. Er klärt nicht,
was genau Sachverhalte („states of affairs") sind; er bringt nur Beispiele, etwa:
„Quine's being a distinguished philosopher", ,,9's being a prime number" usw.
Hinsichtlich der Frage, ob Propositionen und Sachverhalte zwei verschiedene Arten
von Entitäten sind, kann er sich zu einer klaren Antwort nicht entschließen; er „neigt"
zu der Ansicht, daß sie zu unterscheiden sind. Aufschlußreich ist seine Begründung:
Nach Plantinga sind Propositionen Entitäten, die wahr oder falsch sind, geglaubt,
behauptet usw. werden, während Sachverhalte nicht wahr oder falsch sind, sondern
bestehen oder nicht bestehen („to obtain"). Die Frage, ob „bestehen" nicht gerade
als Definiens für „wahr" angesehen werden kann — wie dies von vielen Autoren
vertreten wird 129 —, stellt sich Plantinga nicht. 130
Ein weiterer Punkt betrifft die Unterscheidung zwischen transienten und nicht-
transienten Sachverhalten. Ein Sachverhalt ist transient, wenn er manchmal besteht
und manchmal nicht besteht, wie ζ. B.: „daß Nixon sich um die Präsidentschaft
bewirbt". Nicht-transient ist ein Sachverhalt, wenn er zu jeder Zeit besteht, falls er
zu irgendeiner Zeit besteht, wie ζ. B.: „daß sich Nixon 1970 um die Präsidentschaft
bewirbt", oder: „daß sich Nixon zu irgendeiner Zeit um die Präsidentschaft be-

127 Vgl. Adams [1974] S. 227.


128 Plantinga [1974] und [1979 a]; Tomberlin/Inwagen [1985], McMichael [1983 a],
[1983b], [1986],
129 Vgl. ζ. B. Menne [1988] S. 39, Bealer [1982] S. 204.
130 Vgl. Plantinga [1979 a],

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376 Anhang

wirbt". 131 Nur nicht-transiente Sachverhalte gehen in die Definition der möglichen
Welt ein. Das Enthaltensein eines Sachverhalts in einem anderen Sachverhalt wird wie
folgt definiert (dabei steht , < ' für: ,ist enthalten in'; ,s', ,s*' für: Sachverhalte):
s < s* gdw. s und s* notwendigerweise derart sind, daß, wenn s* besteht,
dann auch s besteht.
Auf dieser Basis wird der Begriff der möglichen Welt formal so definiert:
s ist eine mögliche Welt gdw. s ein nicht-transienter Sachverhalt ist und für
jeden nicht-transienten Sachverhalt s* gilt: wenn es möglich ist, daß sowohl
s als auch s* bestehen, dann s* < s.
Bezeichnenderweise werden die Begriffe der (relativen) Wahrheit und des Bestehens
getrennt definiert:
Eine Proposition σ ist wahr-in-der-Welt-w gdw. σ und w notwendigerweise
derart sind, daß wenn w besteht, dann σ wahr ist.
Ein Sachverhalt s besteht in der Welt w gdw. s < w.
Das Bestehen jenes maximalen Sachverhalts, mit dem die wirkliche Welt identifiziert
wird, kann diesen Autoren zufolge nicht in dieser Weise definiert werden; es wird
als primitiver Begriff verstanden. 132
6.2.5.4 Eine mögliche Synthese?
In seiner unveröffentlichten Dissertation Worlds and Propositions. The Structure and
Ontology of Logical Space versucht Ph. Brtckerm die Grundzüge einer „Standardtheorie
der Welten und Propositionen" zu entwickeln, die den beiden dargelegten Richtungen
gegenüber in dem Sinne neutral ist, daß diese als (mögliche) „Reinterpretationen" 134
der Standardtheorie aufgefaßt werden. Nach einer sorgfältigen sachlich-begrifflichen
Analyse kommt er zum Ergebnis, daß weder mögliche Welten auf Propositionen
noch Propositionen auf mögliche Welten reduziert werden können bzw. sollen;
vielmehr sollten Welten und Propositionen als irreduzible Entitäten sui generis, die
eine spezifische Rolle in unserem begrifflich-ontologischen System spielen, betrachtet
werden.
Die Standardtheorie besteht Bricker zufolge aus fünf Thesen:
These 1: Die Propositionen bilden eine Boolesche Algebra bezüglich der Implika-
tion. 135
These 2: Jede Menge von Propositionen hat eine größte untere Schranke unter der
Implikation. 136
These 3: Für jede Welt w: die Menge der Propositionen, die in w wahr sind, ist eine
maximal konsistente Menge von Propositionen. 137

131 Vgl. Pollock [1985] S. 122.


132 Vgl. ebd.
133 Bricker [1983],
134 A. a. O. S. 208.
135 A. a. O. S. 11.
136 A. a. O. S. 34.
137 A. a. O. S. 51.

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Anhang 377

Aus den bisherigen Thesen geht hervor, daß Propositionen Eigenschaften von Welten
sind, da die Proposition, die die Konjunktion aller in einer Welt w wahren Proposi-
tionen ist, ihrerseits in w wahr ist. Eine solche Proposition stellt die vollständige
Charakterisierung (oder Beschreibung) der entsprechenden Welt dar. Erfüllt aber
diese Proposition die Einzigkeitsbedingung, d. h. ist sie die einzige, die die Welt w
charakterisiert? Anders formuliert: Ist diese Proposition falsch in jeder von w ver-
schiedenen Welt? Darauf gibt die nächste These eine Antwort:
These 4: Für distinkte Welten w und ν gilt: die Menge der in w wahren Propositionen
ist verschieden von der Menge der in ν wahren Propositionen, d. h.: wenn
w φ ν, dann Pw φ Pv. 138
(Zur Erläuterung: ,Pw' (bzw. ,Pv') ist die Menge der in w (bzw. v) wahren
Propositionen.)
These 5: Jede von der Nullproposition unterschiedene Proposition ist wahr in ir-
gendeiner Welt. 139
Diese These besagt, daß die Propositionen jene (unter den Operationen der Boole-
schen Algebra abgeschlossene) minimale Struktur darstellen, die eine volle Charakte-
risierung von Welten beinhaltet, so daß distinkte Propositionen immer distinkte
Charakterisierungsfunktionen bezüglich Welten haben.
Es dürfte klar geworden sein, daß Brickers Standardtheorie von den vier folgenden
primitiven (Undefinierten) Begriffen Gebrauch macht: Proposition, Implikation, Welt,
Wahrheit-in-einer-Welt. 140 Die spveite der beiden oben dargelegten Richtungen, die
„propositionsgestützte Theorie", nimmt die Begriffe der Proposition und der Impli-
kation als primitiv und definiert mit deren Hilfe die beiden anderen Begriffe. Daraus
resultiert eine der beiden Varianten, die eine mögliche Welt als eine maximal konsistente
Menge von Propositionen definiert. 141 Intuitiv ist eine mögliche Welt in diesem Sinne
die Menge der Propositionen, die in ihr wahr sind. Damit ist auch der relative
Wahrheitsbegriff definiert: Eine Proposition ist wahr in einer Welt gdw. sie ein Element
der Menge der Propositionen ist, die in dieser Welt wahr sind. Genau:
Eine „Entität" 142 ist wahr in einer anderen „Entität" gdw. die erste ein
Element der zweiten und wenn die zweite eine maximal konsistente Menge
von Propositionen ist. 143
Entsprechend der zweiten Variante, die eine mögliche Welt als eine maximale Pro-
position definiert, gilt:
Eine „Entität" ist wahr in einer anderen „Entität" gdw. die erste von der
zweiten impliziert wird und die zweite eine Maximalproposition ist. 144

138 A. a. O. S. 69.
139 A. a. O. S. 80.
140 Vgl. a . a . O . S. 117.
141 A. a. O. S. 121.
142 Bricker sagt .thing'.
143 Ebd.
144 A. a. O. S. 123.

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378 Anhang

Die erste Richtung (bzw. Reinterpretation) der „Standardtheorie" führt nur einen
primitiven, Undefinierten Grundbegriff ein: den Begriff der möglichen Welt(en). Die
drei anderen Begriffe werden mit dessen Hilfe folgenderweise definiert:
Ρ ist eine Proposition gdw. Df Ρ eine Menge von möglichen Welten ist.
Eine „Entität" impliziert eine andere „Entität" gdw. die erste in der zweiten
enthalten ist und beide Mengen von möglichen Welten sind.
Eine „Entität" ist wahr in einer anderen „Entität" gdw. die zweite ein
Element der ersten ist und die erste eine Menge von Welten ist.145
Nur nebenbei bemerkt Bricker,146 daß zwischen dem relativen Wahrheitsbegriff („wahr-
in-einer-Welt") und dem absoluten Wahrheitsbegriff streng zu unterscheiden ist. Wie der
absolute Wahrheitsbegriff zu definieren ist, das läßt er vollkommen offen. Sympto-
matisch ist seine Bemerkung, daß weder der absolute Wahrheitsbegriff noch auch der
Begriff der Wirklichkeit („actuality") in den von ihm dargestellten Theorien eine
(explizite?) Rolle spielen, und zwar weder als primitive noch als definierte Begriffe. 147

145
A.a; O. S. 142 f.
,46
Vgl. a. a. O. S. 117.
147
Vgl. ebd.

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