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3 Logische, sprachphilosophische, kognitive

und ontologische Grundlagen

3.1 Einleitung

In diesem Kapitel soll der Kern der in diesem Buch vertretenen Konzeption
behandelt werden. Die logischen, kognitiven, sprachphilosophischen (se-
mantischen) und ontologischen Grundlagen für eine Theorie der Wahrheit
sind die wichtigsten Grundlagen. Auf diese Grundlagen bezog sich das in
der Einleitung angegebene Grundcharakteristikum der hier vertretenen Kon-
zeption. Dieses Kapitel kann daher als die Einlösung der dort gemachten
Aussagen gelten.
Freilich ist zu betonen, daß schon manche Aspekte der genannten Grund-
lagen in vielfaltiger Weise angedeutet und teilweise expliziert und erläutert
wurden; auch einige der Grundthesen wurden zum Teil formuliert und
wenigstens skizzenhaft begründet. Jetzt geht es darum, diesen komplexen
Zusammenhang systematisch zu klären.
Zum Aufbau des Kapitels sei folgendes im voraus gesagt: Als eine gute
Einführung in die gesamte Thematik sollen zunächst zwei Fragen behandelt
werden, die in der Gegenwartsphilosophie im Zentrum ausführlicher Dis-
kussionen stehen und denen ein symptomatischer Charakter in folgendem
Sinne zuzuweisen ist: sie machen gerade jene unleugbare Verschränkung
von Logik, Sprachphilosophie (Semantik), Epistemologie und Ontologie
deutlich, um die es in diesem Kapitel geht. Es sind dies: die Frage nach
dem Verhältnis von Logik (Sprache) und Ontologie und die Realismus-Antirea-
lismus-Debatte, eine Debatte, an der die vier genannten Disziplinen einen
schlechterdings zentralen Anteil haben (3.2). Sodann wird der zentrale, alle
weiteren Ausführungen bestimmende Ansätnämlich das Kontextprin^ip,
eingeführt, erläutert und begründet (3.3). Von hier aus ergibt es sich von
selbst, daß zunächst eine Theorie des Satzes (3.4), dann eine Theorie der
Proposition (3.5) skizziert werden. Dies führt zum Begriff der Welt, der im
Abschnitt 3.6 zu erläutern sein wird.

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3.2 Zwei symptomatische Diskussionsthemen 121

3.2 Zwei symptomatische Diskussionsthemen

3.2.1 Logik, Sprache und Ontologie: ein subtiles Verhältnis

3.2.1.1 Unterscheidungen

[1] Von der Logik — im modernen Sinne der „formalen" oder „symboli-
schen" Logik — kann man in der Theorie der Wahrheit mindestens seit
Tarski nicht mehr absehen. Logik wird vorausgesetzt und benutzt. Aber
was heißt dies? Welche Implikationen hat diese Verwendung des logischen
Instrumentariums? Diese Fragen beinhalten viele und sehr verschiedenartige
Aspekte. In diesem Abschnitt soll nur ein Aspekt aufgegriffen und behandelt
werden, die Problematik des Verhältnisses von Logik und Ontologie.
Hat Logik irgend etwas mit Ontologie zu tun? Die so gestellte Frage ist
natürlich sehr allgemein. Sie läßt sich in einem ersten Anlauf dadurch
präzisieren, daß man zwei entgegengesetzte Tendenzen in der gegenwärtigen
Diskussion ausmacht. Die eine Tendenz möchte die „Provinz" der Logik
von der „Provinz" der Ontologie möglichst sauber getrennt halten. 1 Eine
andere Tendenz kann man etwa in der folgenden Passage aus Quines Buch
Wort und Gegenstand ausmachen:
„Das Streben nach dem einfachsten, klarsten Grundmuster kanonischer
Schreibweise und das Streben nach letztgültigen Kategorien — nach einer
Darstellung der allgemeinsten Züge der Wirklichkeit — sind nicht zu
unterscheiden. Man wende nicht ein, solche Konstruktionen seien Sache der
Konvention und nicht Diktate der Wirklichkeit — denn ließe sich dasselbe
nicht auch von der Physik sagen? Es gehört freilich zum Wesen der Realität,
daß uns die eine physikalische Theorie weiter hilft als die andere — aber
das gleiche gilt auch für kanonische Schreibweisen." 2

,Kanonische Notation' ist bekanntlich bei Quine ein Ausdruck, der die
Gestalt der Logik für die Philosophie und die Wissenschaften bezeichnet.
Die beiden entgegengesetzten Tendenzen schlagen sich in der Gestalt von
zwei verschiedenen Interpretationen der Quantoren nieder: die referentielle
Deutung ist zweifellos ontologisch orientiert, die substitutioneile Deutung
hingegen versteht sich als ontologisch neutral. Solche allgemeinen und
globalen Charakterisierungen und Entgegensetzungen sind sicher in vielerlei
Hinsicht hilfreich; aber das eigentliche Problem des Verhältnisses von Logik

1 Dazu gehören u. a. E. Nagel [1969], Leblanc [1973], Hinst [1983] u. a.


2 Quine [1960] § 33, S. 282.

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und Ontologie muß noch prinzipieller formuliert und zu klären versucht


werden. 3 Hier geht es nicht um eine Behandlung verschiedener Positionen,
sondern um die Entwicklung einer systematischen Konzeption.

[2] Es dürfte klar sein, daß Logik und Ontologie zwei verschiedene Diszi-
plinen sind. An dieser These wird man kaum rütteln können. Aber damit
ist nicht alles oder auch nur das Wichtigste gesagt. Denn es ist offensichtlich,
daß sich Logik und Ontologie in vielerlei Weisen aufeinander beziehen. Dies
gilt zumindest von der Ontologie, sofern man sie als eine Disziplin versteht,
die strengen Maßstäben gehorcht (bzw. gehorchen muß), zu denen man in
jedem Fall auch logische Maßstäbe rechnen muß. Kann oder muß man gar
auch umgekehrt eine Bezogenheit — welcher Art auch immer — der Logik
auf die Ontologie annehmen? Letztere Frage ist natürlich bedeutend schwie-
riger und komplexer. Für die folgenden Ausführungen soll hier vorerst
angenommen werden, daß Ontologie ohne Logik gar nicht möglich ist. 4

[3] Die Frage, ob die Logik eine immanente Bezogenheit auf Ontologie hat
oder nicht, ist zunächst dahingehend zu präzisieren, ob man unter „Logik"
nur ein syntaktisch strukturiertes, d. h. ein rein formales (im Sinne von:
„uninterpretiertes"), oder auch ein außerdem semantisch aufgebautes, d. h.
interpretiertes, formales System versteht. Im ersten Fall ist es weitgehend
unbestritten, daß Logik keine (bestimmte) Bezogenheit auf Ontologie be-
inhaltet. 5 Erst mit der Interpretation des formalen Systems taucht die Frage
nach dem Verhältnis von Logik und Ontologie auf. Eine positive Antwort
auf diese Frage kann etwa so formuliert werden:
„Ontologizing a formal system...is part of interpreting it, specifically that
part which consists in assigning referents to its categorematic substantives.
Any given theorem of the system commits its asserter to the existence of
all such referents required for the theorem's truth. These referents will
comprise the values of its bound variables and the designata of all of its

3 Man kann die zwei genannten Tendenzen dahingehend charakterisieren, daß sie
die Logik von zwei verschiedenen Denkmodellen her verstehen: zum einen als
Kalkül, zum anderen als Sprache, wobei dann „Sprache" nicht (nur) als rein
syntaktisches, sondern (auch) als interpretiertes (oder zumindest als interpretier-
bares) Zeichensystem aufgefaßt wird. Vgl. dazu: Van Heijenoort [1967],
4 Später wird sich zeigen, daß auch dieser Zusammenhang einer näheren Analyse
zu unterziehen ist.
5 Ob diese Annahme einer wirklich eingehenden philosophisch-systematischen Ana-
lyse standhält, soll hier als offene Frage betrachtet werden.

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3.2 Zwei symptomatische Diskussionsthemen 123

substantives replaceable by bound variables via existential generalization.


The grand logic (...) can be so constructed that its sole primitive catego-
rematic substantives, as measured by this criterion, will be bound and
bindable variables plus abstracts. It is to the referents of these that we must
look for its ontology." 6

[4] In der angegebenen Charakterisierung der ontologischen Bezogenheit


der Logik sind zwei Gesichtspunkte zu unterscheiden und auseinanderzu-
halten. Zum einen meint ontologische Bezogenheit der Logik die Zuordnung
von bestimmten existierenden Entitäten zu den kategorematischen Ausdrük-
ken; Ontologie in dieser Hinsicht betrifft die Dimension der Existenz zum
anderen meint ontologische Bezogenheit den Typus (oder die Kategorie oder
den Strukturtypus) jener Entitäten, die als Werte den genannten Ausdrücken
zugeordnet werden; hier bezeichnet „Ontologie" die Disziplin, die sich mit
den verschiedenen „Typen" von Entitäten befaßt. Meistens wird nur der
erste Gesichtspunkt beachtet. Hier hingegen ist der zweite Gesichtspunkt
in den Vordergrund zu stellen. Der Grund für dieses Verfahren wird sich
aus dem weiteren Gang der Ausführungen ergeben.

3.2.1.2 Prädikatenlogik erster Stufe, formale Semantik und Ontologie


[1] Wie sich aus den bisherigen Kapiteln ergeben hat, ist die Prädikatenlogik
(der Prädikatenkalkül) erster Stufe (mit Identität)(PLK) die am weitesten
verwendete Logik im Bereich der Theorie der Wahrheit. Wie stellt sich
diesbezüglich die Frage nach dem Verhältnis von Logik und Ontologie dar?
Dieser Frage soll im folgenden anhand einer kritischen Würdigung einer
Arbeit von G. Legenhausen7 über Nicht-Standardsemantiken für den Prädi-
katenkalkül erster Stufe nachgegangen werden.
Legenhausen stellt prinzipielle Überlegungen zum Verhältnis von Logik
und Ontologie an. Seine generelle These lautet: Logik ist ontologisch (oder
metaphysisch) neutral. Unter „Logik" versteht er nicht nur ein rein „logi-
stisches System" im Sinne A. Churchs8, sondern ein formales System, das

6 Berry [1969] S. 253.


7 Legenhausen [1985],
8 Vgl. Church [1956] S. 209:
„Wir unterscheiden zwischen einem logistischen System und einer formalisierten Sprache
folgendermaßen: Ersteres ist ein abstrakt formulierter Kalkül, für den keine
Interpretation festgelegt ist. Es hat daher eine Syntax, aber keine Semantik. Eine
formalisierte Sprache hingegen ist ein logistisches System, das mit einer Zuordnung
von Bedeutungen zu seinen Ausdrücken versehen ist."
Im Deutschen wird der Ausdruck ,logistisch' im Kontext der formalen Logik
heute nur noch im pejorativen Sinne verwendet.

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mit semantischen Regeln ausgestattet ist. Es gibt aber nach Legenhausen


zwei völlig verschiedene Weisen, die semantischen Regeln zu verstehen: die
erste ergibt ein System der formalen Semantik (für ein uninterpretiertes System),
die andere eine Theorie der Referentζ. Ein System der formalen Semantik in
diesem Sinne beinhaltet eine Interpretationsfunktion für die Ausdrücke des
formalen Systems, d. h. eine Funktion von diesen Ausdrücken in die Kom-
ponenten einer anderen abstrakten Struktur, wie ζ. B. der Mengentheorie,
der algebraischen Theorie usw. Der Wert einer Interpretationsfunktion für
einen Ausdruck ist die Extension dieses Ausdrucks. Im Gegensatz dazu
besteht die Aufgabe einer Theorie der Referenz nach Legenhausen darin, das
Verhältnis zwischen linguistischen Ausdrücken und den Objekten, auf die
sie referieren, zu klären. Legenhausen verwendet den Ausdruck , Semantik'
im Sinne der soeben explizierten formalen Semantik. Diese Unterscheidung
ist fundamental für die Konzeption, die er entwickelt, da ihm zufolge eine
Verletzung der ontologischen (metaphysischen) Neutralität der Logik auf
der Nichtbeachtung der Unterscheidung zwischen der formalen Semantik
und der Theorie der Referenz, oder anders: auf einer Identifizierung von
Extension und Referenz, beruht. Er stellt die prinzipielle These auf, daß die
Verwendung eines Systems der formalen Semantik mit einer bestimmten
Struktur keineswegs zur Konsequenz hat, daß diese Struktur auch der Welt
zugeschrieben werden muß. Allerdings fügt er hinzu, daß Systeme der
formalen Semantik als Illustrationen metaphysisch-ontologischer Thesen auf-
gefaßt werden können. 9
Man wird feststellen müssen, daß diese These mit seltener Klarheit eine
Zwiespältigkeit offenlegt und in einer bestimmten Hinsicht zu beseitigen
versucht, die für weite Teile der Beschäftigung mit der modernen Logik
und der logisch orientierten Semantik bzw. Ontologie charakteristisch ist.
Allerdings, wie sich zeigen wird, schafft die versuchte Beseitigung der
gegebenen Zwiespältigkeit eine noch grundsätzlichere Zwiespältigkeit. Be-
vor dies aber im einzelnen gezeigt wird, ist auf das Gesamtprojekt Legen-
hausens kurz einzugehen. Dieses Projekt ist, wie sich herausstellen wird, für
die Zielsetzung des vorliegenden Buches von erheblicher Bedeutung; es läßt
sich zeigen, daß es von der fragwürdigen These über die ontologische
Neutralität der Logik bzw. über die Unterscheidung zwischen formaler
Semantik und Theorie der Referenz ganz getrennt werden kann.

9 A. a. O. S. 323. Legenhausen spricht auch von „Analogien".

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3.2 Zwei symptomatische Diskussionsthemen 125

Legenhausens Projekt besteht in der Entwicklung von zwei Nicht-Stan-


dardsemantiken für den Prädikatenkalkül erster Stufe. Als Standardsemantik
bezeichnet Legenhausen die weitverbreitete Interpretationssemantik im
Sinne Tarskis. Er selbst arbeitet zwei Nicht-Standardsemantiken heraus: die
erste basiert auf Eigenschaften, die zweite auf Tatsachen (SR bzw. ST); beide
unterscheiden sich von der Standardsemantik (Ss), die auf Individuen (Ob-
jekten) basiert. Gemäß S s beziehen sich die Variablen auf einen Bereich von
Entitäten (Objekten), während monadischen Prädikatkonstanten (oder
-buchstaben) Untermengen dieses Bereichs zugeordnet werden. Ein Atom-
satz wird demgemäß als wahr interpretiert genau dann, wenn die dem
singulären Term zugeordnete Entität ein Element aus der Menge der dem
Prädikatbuchstaben zugeordneten Entitäten (Objekte) ist. Im Gegensatz
dazu werden die (monadischen) Prädikate in S B durch mengentheoretische
Elemente und die singulären Terme durch Mengen dieser Elemente inter-
pretiert. In ST werden sowohl die singulären Terme als auch die monadischen
Prädikate als Mengen aufgefaßt. Im folgenden sollen einige Einzelheiten
dieser drei Semantiken dargelegt werden.
Hinsichtlich S s stellt Legenhausen fest, daß diese Semantik zwar meta-
physisch neutral ist, aber nichtsdestoweniger eine bemerkenswerte Affinität
zur (gewöhnlichen) Theorie der Referenz aufweist, insofern beide eine
fundamentale Asymmetrie in der Behandlung der singulären Terme und der
Prädikate annehmen. Gemäß S s stellen die singulären Terme die eigentliche
Verbindung zwischen dem PLK und seinen Anwendungen auf die Welt dar.
Nach der Theorie der Referenz referieren singuläre Terme auf Individuen
(Objekte) in der Welt. Hinsichtlich des Wertes, der dem singulären Term
zugeordnet wird, koinzidieren S s und die Theorie der Referenz. Dies kommt
in der folgenden Definition Carnaps zum Ausdruck:
„Die Extension eines Individuenausdrucks ist das Individuum, auf das er sich
bezieht (somit das Deskriptum, wenn er eine Beschreibung ist)."10

Hier also werden die Extension des singulären Terms und das Objekt der
Referenzbeziehung des singulären Terms (der Referent) identifiziert; doch
dies stellt nach Legenhausen keine Notwendigkeit dar, da man alternative
Semantiken für den PLK entwickeln kann.
Gemäß S s werden Prädikate dahingehend verstanden, daß sie nicht auf
irgend etwas referieren; vielmehr ist die Extension eines Prädikats eine Menge
von Objekten (Individuen), wobei nicht gesagt werden kann, daß diese

,0 Carnap [1947] S. 51.

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Menge das Referenzobjekt des Prädikats ist. Die oben angesprochene Asym-
metrie besteht in folgendem: Singuläre Terme referieren auf Objekte und
diese sind auch die Extensionen dieser Terme; für Prädikate gilt: entweder
haben sie keine Referenz oder, wenn man ihnen eine Referenz zuschreiben
will, dann jedenfalls nicht eine Referenz auf ihre Extension.11
Nach Legenhausen kann auf dieser Basis gezeigt werden, daß Quines
berühmtes Diktum „To be is to be the value of a [bound] variable" zwei-
deutig ist, da unter dem Wert einer gebundenen Variablen sowohl die
Extension als auch der Referent der Variablen verstanden werden kann. Ihm
zufolge gilt das Diktum, wenn überhaupt, so nur hinsichtlich der Referenz.
Legenhausen weist auch darauf hin, daß zwischen der S s und der traditio-
nellen Substanzontologie starke Analogien bestehen: demnach kommt der
Substanz eine Priorität gegenüber den Eigenschaften zu; Eigenschaften
ähneln mengentheoretischen Konstruktionen aus Substanzen.
Gemäß der Nicht-Standardsemantik SF' ist die Extension eines monadi-
schen Prädikats ein mengentheoretisches Element, während die Extension
eines Individuenterms eine Menge solcher mengentheoretischen Elemente
ist. Hier findet so etwas wie eine Umkehrung von S s hinsichtlich der
Interpretation der singulären Terme und der Prädikate statt. Das kommt in
der Bestimmung der Wahrheit eines atomaren Satzes klar zum Ausdruck:
gemäß SE ist der atomare Satz ,Pa' wahr genau dann, wenn die Extension
des Prädikats ,P' ein Element der Extension des Individuenterms ,a' ist.
Bezeichnenderweise bemerkt Legenhausen dazu, daß aus dem Umstand, daß
die Extension eines Individuenterms in SE eine Menge ist, nicht gefolgert
werden kann, daß die Philosophen, die SK verwenden (annehmen), die
Individuen notwendigerweise als Mengen auffassen müssen, denn Extension
ist nicht dasselbe wie Referenz. Und Legenhausen führt aus, daß SF' verwen-
det werden kann, um die sog. „Bündeltheorie" des Individuums12 zu illu-
strieren. Er selbst bezieht sich auf Humes Fassung der Bündeltheorie, der-
zufolge Namen (Individuenterme) für Kollektionen und nicht für einfache
Elemente stehen. Die einfachen Elemente, die die Individuen als solche
Kollektionen konstituieren, sind die Eigenschaften oder Qualitäten, die die
Werte der (monadischen) Prädikate darstellen.
Gemäß der auf Tatsachen basierenden Semantik ST werden die Extensio-
nen sowohl der singulären Terme als auch der monadischen Prädikate als

11 Als die Referenten der (monadischen) Prädikate wären etwa die Eigenschaften zu
verstehen.
12 Vgl. dazu unten Abschnitt 3.5.4.2.

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3.2 Zwei symptomatische Diskussionsthemen 127

Mengen interpretiert. Es handelt sich um mengentheoretische Extensionen,


die Elemente desselben Typus (Tatsachen oder auch Propositionen bzw.
Sachverhalte) enthalten. Der atomare Satz ,Pa' ist gemäß S T wahr genau
dann, wenn die Schnittmenge der Extensionen (d. h. der Mengen von
Tatsachen/Propositionen/Sachverhalten), die ,P' und ,a' zugeordnet werden,
nicht leer ist. 13 Im Anschluß an Wittgensteins Tractatus erläutert Legenhau-
sen dies so: „ist weise" kann interpretiert werden als eine Menge, die die
Tatsachen (oder Sachverhalte) „daß Sokrates weise ist", „daß Piaton weise
ist", etc., als Elemente enthält. Ähnlich sind die Individuenterme zu deuten:
,Sokrates' bezeichnet demnach eine Menge, die die Tatsachen (Sachverhalte)
„daß Sokrates weise ist", „daß Sokrates der Lehrer Piatos war" usw. als
Elemente enthält.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß Legenhausen auch darauf
hinweist, S T könne als Illustration der Konzeption Quirns gesehen werden,
derzufolge die Sätze die primären Bedeutungseinheiten sind (Kontextprin-
zip). Da Quine solche Entitäten wie „Propositionen" usw. ablehnt, fragt
man sich, ob Legenhausens Hinweis korrekt oder ob Quines Gesamtposition
wirklich kohärent ist.
Auf die Formalisierung von S E und ST, die Legenhausen vorlegt, kann
an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Unerwähnt bleiben müssen auch
seine Beweise der Vollständigkeit und Korrektheit von S E und ST.

[2] Legenhausens Konzeption ist sowohl in einer positiven als auch in einer
negativen Hinsicht von sehr großer Bedeutung.

[i] Von der Zielsetzung des vorliegenden Buches her gesehen ist die positive
Seite darin zu sehen, daß die Prädikatenlogik erster Stufe als ein vielgestal-
tiges Instrumentarium aufgewiesen wird. Im Lichte der herausgearbeiteten
Nicht-Standardsemantiken ist die Entwicklung der wahrheitstheoretischen
Diskussionen nach Tarski als weitgehend einseitig zu betrachten, da sie auf
der Basis der fraglosen Annahme der Standardsemantik und des damit
gegebenen objektontologiscben Dogmas geführt wurden. Hinzu kommt, daß
eine mengentheoretische Sprache verwendet wird, die im Hinblick auf die
ontologische Problematik besonders schwierige Probleme aufwirft. Darauf
wird später einzugehen sein.

13
Legenhausen drückt sich so aus:
„The extension of an atomic sentence, ,Pa', is truth iff the intersection of the
extension of the individual term, ,a', with the extension of the predicate, ,P', is a
singleton." (S. 325).

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[ii] Am wichtigsten im jetzigen Kontext ist der Aufweis, daß grundlegende


Aspekte der von Legenhausen vertretenen Konzeption über das Verhältnis
von Logik und Ontologie unhaltbar sind. Diese Konzeption basiert auf der
Unterscheidung zwischen Formaler Semantik und Referenztheorie. Ist diese
Unterscheidung haltbar? Im folgenden soll nachgewiesen werden, daß sie es
nicht ist.
Indem man eine Referenztheorie im Sinne Legenhausens annimmt, sichert
man sich von vornherein eine bestimmte Ontologie, genauer: man handelt
sich eine ganz bestimmte Ontologie ein. Welche Ontologie? Hier beginnen
die Probleme. Wenn die Referenztheorie etwas ganz anderes ist als die
Formale Semantik, so drängt sich die Frage auf, in welcher Weise, d. h. hier
mit welchen formalen Mitteln, das Verhältnis zwischen sprachlichen Aus-
drücken und ihren Referenten geklärt werden kann. Wenn dabei auf formal-
semantische Explikationsmittel nicht rekurriert werden kann (da man sonst
angeblich nicht eine Referenztheorie, sondern eben eine Formale Semantik
betreiben würde), so ist es unerfindlich, wie man eine Theorie der Referenz
überhaupt entwickeln kann. Aber das stärkste Argument lautet: Gerade
dann, wenn man die Annahme macht, Referenztheorie und Formale Seman-
tik seien zwei völlig verschiedene Dinge, und wenn man unterstellt, die so
aufgefaßte Referenztheorie sei durchführbar, stellt sich die innere Inkohärenz
dieser Konzeption deutlich heraus. Es zeigt sich dann nämlich, daß für eine
Referenztheorie und damit für eine Ontologie das ganze Unternehmen einer
Formalen Semantik (im Sinne Legenhausens) vollkommen überflüssig und
gegenstandslos ist. Wenn die Referenztheorie es ist, die uns die „Dinge"
soz. „ermittelt", welche Aufgabe könnte in dieser Hinsicht noch der For-
malen Semantik zufallen? Welchen Sinn und Zweck hätte eine mengentheo-
retische Modellierung? Man mag sagen, daß die Formale Semantik doch
eine selbständige Disziplin ist, die unabhängig von der Referenztheorie ihren
Sinn behält. Dies ist nicht zu bestreiten; wohl aber ist dann festzustellen,
daß die Formale Semantik für ontologische Zwecke völlig überflüssig und
untauglich ist. An sich wäre dies nicht inkohärent; aber eine Inkohärenz
wird deutlich, wenn man näher betrachtet, was die Formale Semantik (im
Sinne Legenhausens) wirklich tut und was sie sein will (bzw. was sie sein
und tun soll). Sie führt nämlich bestimmte Arten von Entitäten ein und sie
erhebt den Anspruch, auf die Welt angewandt zu werden:
„The elements and relations of a given formal semantics need not be held
to correspond to existing entities and their relations in the world. The
success of a semantic theory depends not upon isomorphism with real world
structures, but upon applicability in the world and upon the coherent systema-

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3.2 Zwei symptomatische Diskussionsthemen 129

tization of restrictions on truth-value claims for various sentences, dependent


upon their syntactic structure." 14

Wie soll aber die behauptete und in Anspruch genommene Anwendbarkeit


formalsemantischer Strukturen auf die Welt konzipiert werden, wenn die
Welt uns anders als über die Formale Semantik (schon) „gegeben" („er-
schlossen") ist? In diesem Punkt kommt die ganze Ambiguität eines erheb-
lichen Teils der modernen (formalen) Semantik zum Vorschein. Was sollen
die Eigenschaften und Tatsachen überhaupt „sein" oder „leisten", wenn sie
— als Mengen — von der ontologischen Ebene soz. ferngehalten werden?
Wollte man etwa sagen, daß nur die Eigenschaften und Tatsachen „als
solche", d. h. hier: nicht als Mengen konstruiert, zur Ontologie gehören, so
wäre zu sagen, daß dann eine mengentheoretische Konstruktion überflüssig
und gegenstandslos wäre. Man kann die Dinge drehen wie man will: die
grundlegende Zwiespältigkeit der kritisierten Position ist allzu deutlich.
Das Fazit lautet: Mit der Referenztheorie vertritt Legenhausen eine On-
tologie ohne logisch-semantischen Halt; und umgekehrt: er entwickelt eine
Formale Semantik ohne sinnvolle ontologische Aufgabe. Nun könnte man
einen berühmten Satz Kants umformulieren und sagen: Eine Ontologie ohne
formal-semantischen Halt ist blind; eine Formale Semantik ohne ontologi-
sche Reichweite ist leer.
Legenhausen setzt eine Welt und dementsprechend eine Ontologie ohne
formal-semantische Vermittlung voraus. Diese Annahme kann nicht auf-
rechterhalten werden, es sei denn, man entwickelt eine Formale Semantik
ohne jeden Anwendungsanspruch auf die Welt. Es zeigt sich, daß die einzig
kohärente Konzeption Ontologie und (Formale) Semantik als sich streng
gegenseitig bedingend auffassen muß; die eine Disziplin erscheint als die
Kehrseite der anderen. Eine vollständig entwickelte (Formale) Semantik
erhält die Gestalt einer (allgemeinen) Ontologie; und eine Ontologie, die
ihre sprachlich-logischen Voraussetzungen vollständig klärt, stellt sich als
(Formale) Semantik heraus. Dies ist der Sinn jenes Satzes, den Quine als
Motto seinem Buch Wort und Gegenstand vorangestellt hat: „Ontologie re-
kapituliert Philologie."
Die drei von Legenhausen entwickelten Semantiken für den PLK sind in
Wirklichkeit drei verschiedene Ontologieskizzen. Insofern ist es falsch, wenn
er beispielsweise sagt, daß ein Vertreter der ST nicht die Auffassung teilen
muß, daß die „realen" Objekte Mengen von Tatsachen seien. Wenn die

14 A. a. O. S. 319 (Hervorh. nicht im Original).

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Formale Semantik sie so auffaßt, was können sie anderes sonst sein? Wären
sie dennoch etwas Anderes, so sollte man die ST-Bestimmungen einfach
ignorieren.

3.2.2 Realismus und Anti-Realismus:


zum Verhältnis von Kognitivität, Logik, Sprache und Ontologie

In diesem Abschnitt soll auf die Diskussion zwischen Realisten und Anti-
Realisten in einer bestimmten Hinsicht eingegangen werden. Es soll gezeigt
werden, daß der Wahrheitsbegriff nur dann geklärt werden kann, wenn der
Zusammenhang von Kognitivität, Logik, Sprache und Ontologie anerkannt
und thematisiert wird. Die anti-realistische Position ist in dieser Hinsicht
als jene Position anzusehen, die diesen Zusammenhang bisher am besten
gesehen und erörtert hat. Eine andere Frage ist allerdings, ob diese Position
haltbar ist. Die nachstehenden Ausführungen sind insofern als unmittelbare
Vorbereitung auf die Klärung der zentralen Frage der explikativ-definitio-
nalen Theorie der Wahrheit zu verstehen. Sie nehmen zunächst Bezug auf
die kurze und außerordentlich klare Darstellung der anti-realistischen Po-
sition durch einen der dezidiertesten Verfechter dieser Richtung, nämlich
N. Tennant, in seinem 1987 erschienenen Buch Anti-Realism and Logic. Truth
as Eternal.15 Im Anschluß daran wird der methodisch-systematische Stellen-
wert der Kognitivität im Rahmen der Semantik und Ontologie bestimmt.

[1] Im Kapitel 12 („Truth and the Recognition of Truth-making") des soeben


genannten Buches wird die anti-realistische Position im Zusammenhang der
Theorie der Wahrheit präzise dargelegt und begründet. Zunächst wird der
semantische Realismus einer Kritik unterzogen. Unter „semantischem Rea-
lismus" versteht Tennant jene Konzeption, die auf der These basiert, daß
der zentrale semantische Begriff, nämlich der Begriff der Wahrheit, klassisch-
bivalent ist: demnach ist jeder Satz entweder wahr oder falsch. Dies bedeutet,
so Tennant, daß Wahrheit alle unsere Möglichkeiten, ihre Extension in
unserer Sprache zu bestimmen, prinzipiell transzendiert. Bivalenz besagt ja,
so führt er aus, eine Transzendenz der Wahrheit über unsere Möglichkeiten
nicht nur im Sinne von „bisher nicht erreicht" oder „zu kompliziert, um
während der Lebenszeit erreicht zu werden", sondern im Sinne von: „wir
sind gezwungen, der These zuzustimmen, daß es Wahrheiten geben könnte,

15 Tennant [1987],

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3.2 Zwei symptomatische Diskussionsthemen 131

die als solche für immer unerkannt bleiben werden". Diese These nennt
Tennant einen „theoretischen Schwindel" 16 . Seine Kritik faßt er so zusam-
men:
„It [bivalent truth] is a non-explanatory concept with too much slack to do
predictive and explanatory duty to all the phenomena (language acquisition,
language mastery, attainment of consensus, exchange of information) with
which semantical theory must ultimately deal. The speaker whose grasp of
content were such as to guarantee bivalent truth-conditions would not be
able to persuade any anti-realistically minded respondent, on the basis of his
(the speaker's) observable behaviour, that he had truly grasped what it was for
each sentence of his language to be true (or false) in the way supposed. For
some of those sentences would be true (or false) without the speaker ever
being able to recognize them as such. — Recognition is understood here to
consist in successful and observable exercise of appropriate recognitional
capacities."17

Diese Argumentation basiert auf der Annahme, daß von Wahrheit nur dann
die Rede sein kann, wenn sichergestellt ist, daß der Sprecher in der Lage
ist, auf erkennbare Weise zu zeigen, daß er das kognitiv erfaßt hat, was es für
einen Satz heißt, wahr zu sein. Wenn aber die Wahrheit eines gegebenen
(oder nichtgegebenen) Satzes unser Erfassungsvermögen transzendiert, so
ist diese Bedingung nicht erfüllt. Diese Annahme bzw. Bedingung wird
bekanntlich von den Realisten abgelehnt. Wie könnte sie begründet werden?
Die Diskussion darüber ist in vollem Gang.
Tennant ist bemüht, eine Argumentation zu entwickeln, die auf einer
Analyse des Ausdrucks ,Wahr(heit)' basiert und die als Begründung für die
der anti-realistischen Position zugrundeliegende genannte Annahme bzw.
Bedingung verstanden werden kann. Diese Argumentation basiert auf dem
Hinweis auf eine angeblich nicht beseitigbare epistemologische Komponente des
Wahrheitsbegriffs. Tennant geht von beiden folgenden „Schemata" aus, die
ihm zufolge der anti-realistischen Kritik standhalten:
(1) S ist wahr gdw. ρ (wobei ρ die metasprachliche Übersetzung von S ist)

(2) Die Bedeutung von S zu kennen ist zu wissen, unter welchen Bedingungen
S wahr ist oder wahr sein würde.

Hält man von diesen beiden Schemata die Bivalenz fern, so kann man in
ihnen Tennant zufolge die Artikulation des „legitimen Begriffs der Wahr-

16
A. a. O. S. 129 („a theoretical sham").
17
Ebd.

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132 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

heit"18 erblicken. Schema (2) ist für den Anti-Realisten ohne weiteres an-
nehmbar, bringt es doch „unsere Epistemologie des Verständnisses"19 zum
Ausdruck. Schema (1) wird angenommen, aber gründlich uminterpretiert.
Der Satz auf der rechten Seite der Äquivalenzbeziehung wird in Verbindung
gebracht mit seinen Assertibilitätsbedingungen und diese werden definiert
als die Durchführung eines gültigen Arguments. „Gültiges Argument" wird
von Tennant im Rahmen einer „intuitionistischen Relevanzlogik"20 definiert.
Tarskis Äquivalenzschema stellt sich dann als eine Konsequenz eines solchen
gültigen Arguments heraus. ,...ist wahr' ist demnach zu lesen als ,es gibt
ein geschlossenes Argument für...'.
Das Argument, auf welches oben hingewiesen wurde, ist eine Analyse
der Bedeutung von ,...ist wahr'. Um sie durchzuführen, bringt Tennant
zunächst eine Illustration. Das Prädikat ,...ist ein Bruder' scheint ein ein-
faches einstelliges Prädikat zu sein. In Wirklichkeit ist es ein logisch kom-
plexes Prädikat, denn es ist das Ergebnis der Existenzquantifikation der
Relation ,...ist ein Bruder von '. Ähnlich verhält es sich mit dem
Wahrheitsprädikat. Dieses Prädikat ist nur scheinbar ein einstelliges Prädikat;
in Wirklichkeit ist es zu verstehen als das Ergebnis der Existenzquantifi-
kation der Relation ,... konstituiert-als-wahr (...establishes-as-
true )'. Zu sagen, daß Α wahr ist, heißt sagen, daß es ein Verfahren
gibt — in der Mathematik einen Beweis, in anderen Bereichen des diskur-
siven Denkens ein analoges Verfahren —, welches A als-wahr-konstituiert.
Zu dieser Konzeption sind einige kritische Bemerkungen zu machen.
[i] Die dargelegte Position ist „anti-realistisch" in einem ganz speziellen
Sinn. Tennant selbst, der sich als „Physikalist" und „Funktionalist" bekennt,
meint, diese Bezeichnung sei ganz ungeeignet; besser wäre die Bezeichnung
„Anti-Bivalentismus"21. Es tauchen viele Fragen auf, auf die hier nicht im
einzelnen eingegangen werden kann. Wenn eine von der Sprache (bzw. vom
Geist, von Theorien usw.) »»abhängige Realität angenommen wird — und
Tennant scheint diese Annahme zu machen22 —, so ist klar, daß diese
£/«abhängigkeitsthese genau jene Transzendenz beinhaltet, die die Anti-Rea-
listen im Sinne Tennants ablehnen. Wollte man sagen, daß beide Thesen
nichts miteinander zu tun haben, so hätte man gegen die Grundeinsicht des

18 A. a. O. S. 130.
19 Ebd.
20 Vgl. a. a. O. S. 134 ff.
21 A. a. O. S. v.
22 Vgl. ζ. B. a. a. O. S. 10.

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3.2 Zwei symptomatische Diskussionsthemen 133

Anti-Realismus verstoßen, denn die Unabhängigkeitsthese besagt gerade,


daß wir in der Lage sind, etwas anzunehmen oder zu behaupten, von dem
gilt, daß es sich unserem Zugriff entzieht; andernfalls wäre „Unabhängigkeit"
ein leeres, nichtssagendes Wort.

[ii] Tennants Analyse von ,...ist wahr' greift zu kurz. Es ist symptomatisch,
daß er sehr bemüht ist zu zeigen, die Formulierung ,eine Aussage ist wahr
gdw. wenn etwas [sie-]als-wahr-konstituiert' enthalte keine Zirkularität. Ihm
zufolge ist keine Zirkularität durch das Vorkommen von ,wahr' im Binde-
strich-Ausdruck gegeben; sein Grund:
„The hyphenated version is more basic than the simple truth predicate." 23

Und er scheint diese Aussage dahingehend zu verstehen, daß er Begriffe


annimmt, die eine Priorität gegenüber dem Wahrheitsbegriff aufweisen. Ein
solcher Begriff sei der Begriff des Beweises (des gültigen Arguments). Dazu
ist zu bemerken: Es mag sein, daß der Begriff des Beweises „ursprünglicher"
ist gegenüber dem Begriff der Wahrheit; aber weder wird dies durch die
von Tennant vorgelegte Analyse überzeugend gezeigt noch wird dadurch
der Einwand der Zirkularität eindeutig entkräftet. Tennants Ausdruck
,...establishes-as-true ' wurde durch ,...konstituiert-als-wahr '
wiedergegeben. Diese Übersetzung bzw. Interpretation ist immer noch die
für eine Entkräftung des Zirkularitätseinwandes günstigste. Aber „to esta-
blish" kann auch — sogar adäquater — etwa mit „erweisen" wiedergegeben
werden. Wählt man ,...konstituiert-als-wahr so ist eine Zirkularität
zwar nicht gegeben, dafür aber muß diese Analyse als nichtssagend bezeich-
net werden; denn eine solche Analyse könnte für jede Definition vorgenom-
men werden, sie wäre nur eine etwas umständliche (und nicht ganz ange-
messene) Beschreibung dessen, was bei einer Definition geschieht: das De-
finiens wäre das, was sich als „konstitutiv" für das Definiendum erweist. In
diesem Sinne wäre „... konstituiert-als-* " dasselbe wie „... definiert-
als-* " und dies wiederum wäre äquivalent mit „ ist * gdw.
wenn ...". Wollte man aber eine solche — etwas unangemessene — Analyse
dessen, was eine Definition ist oder leistet, vornehmen, so wäre die Kon-
sequenz die, daß alle zu definierenden Prädikate mindestens zwei-stellige
Prädikate wären, was inakzeptabel — oder trivial wäre (da in diesem Fall
„Zweistelligkeit" ein rein technischer Darstellungstrick wäre). Aber offen-
sichtlich will Tennant mehr sagen als dies. Aber dann kann leicht gezeigt

23 A. a. O. S. 132.

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134 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

werden, daß er dem Einwand der Zirkularität nicht entgehen kann oder daß
er „Wahr(heit)" gar nicht definiert, sondern etwas anderes leistet. Es ist
nämlich jetzt klar, daß Tennant eine zirkelhafte Definition vorlegt, wenn er
seine Analyse nicht im beschriebenen (rein technischen und trivialen) Sinne,
sondern als Definition im eigentlichen Sinne versteht; denn in diesem Fall
besagt die Formulierung ,...establishes-as-true ' nicht ,...definiert-als-
wahr ' i m obigen (trivialen) Sinne, sondern etwas anderes. Aber dann
wird das vorausgesetzt, was zu definieren wäre. Die andere Möglichkeit
wäre, daß Tennant etwas anderes leistet als eine Definition: ,... establishes-
as-true ' wäre zu verstehen etwa als die Angabe einer Beweisprozedur
für eine wahre Aussage, d. h. für eine Aussage, die unabhängig von der
genannten Prozedur als wahr genommen wird, wobei vorausgesetzt wird,
„wahr" sei schon definiert oder definierbar oder in irgendeiner Weise verständ-
lich. Tennant würde in diesem Fall nicht „Wahr(heit)" definieren, sondern
so etwas wie ein Kriterium für die Behauptbarkeit oder Akzeptabilität einer
rf/r-B^r-qualifizierten-Aussage vorlegen. 24

[iii] Damit ist nicht gesagt, daß „Wahr(heit)" nicht durch „Beweisbarkeit"
definierbar ist; es ist nur gezeigt worden, daß dies nicht unter Anwendung
der von Tennant durchgeführten Prozedur geleistet werden kann. Auch
kann aus den angestellten Überlegungen nicht gefolgert werden, daß die
Dimension der Kognitivität für die Theorie der Wahrheit überhaupt nicht
von fundamentaler Bedeutung ist. Worin diese Bedeutung besteht, muß
allerdings sorgfaltig herausgearbeitet werden.
Einer der Mängel in Tennants Darstellung ist darin zu sehen, daß er der
Frage nach den Wahrheitsträgern nicht nachgeht. Aber diese Frage ist
schlechterdings fundamental, und zwar auch im Hinblick auf eine Klärung
der Frage nach dem Stellenwert der Kognitivität im Rahmen der Semantik
überhaupt und der Theorie der Wahrheit im besonderen. Wie im Kapitel 4
zu zeigen sein wird, müssen (mindestens) drei Wahrheitsträger angenommen
werden: die Proposition bzw. Proposition, der Satz und die kognitive
Instanz. Die angegebene Reihenfolge zeigt auch die Prioritätsskala an. Die
Proposition wird sich als nichtsprachliche, aber als sprachabhängige Entität
erweisen; der Satz ist eindeutig eine sprachliche Entität. Die Frage hinsicht-
lich des Stellenwertes der Kognitivität ist in den folgenden allgemeineren
Kontext einzuordnen: eine Proposition muß durch einen Satz zumindest
prinzipiell ausdrückbar sein; ein Satz, der nicht mindestens prinzipiell durch

24 Vgl. dazu die einschlägigen Analysen im Abschnitt 1.2.

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3.2 Zwei symptomatische Diskussionsthemen 135

eine kognitive Instanz äußerbar ist, dürfte als eine unsinnige Konstruktion
abzulehnen sein. Die Dimension der Äußerung und damit der Kognitivität
stellt sich in diesem Sinne als unverzichtbar heraus.

[2] Schon aus dieser Skizze, die als zusammenfassende Vorwegnahme der
unten ausführlich darzustellenden und zu begründenden Konzeption zu
verstehen ist, ergibt sich eine Konsequenz im Hinblick auf das semantische
Unternehmen: Alle Richtungen, die dem genannten subtilen Zusammenhang
nicht radikal Rechnung tragen, sind abzulehnen. Dazu gehören die beiden
folgenden entgegengesetzten Richtungen: (i) Die Neue Theorie der Rejeren£25
möchte die Dimension der Kognitivität aus dem Bereich der Semantik
ausschließen. Als neu versteht sich diese Richtung im Hinblick auf die
traditionelle Semantik in der Nachfolge Freges. Für diese Fregesche Semantik
war bzw. ist die Berücksichtigung der kognitiven Probleme von ausschlag-
gebender Bedeutung. Die neue Theorie betrachtet dies als „Mißverständnis":
kognitive Aspekte und Probleme lägen nicht „innerhalb der Provinz der
Semantik" 26 , (ii) Eine andere Richtung räumt der kognitiven Dimension
einen so zentralen Platz ein, daß die Semantizität explizit oder implizit auf
Kognitivität reduziert wird. 27
Nach der hier zu entwickelnden Konzeption erscheinen beide Richtungen
als völlig einseitig. Wenn man Kognitivität aus dem Bereich der Semantik
(und damit der Ontologie) völlig ausschließt, so reduziert man Sprache auf
ein rein objektives, absolut „autonomes" Zeichensystem, dessen Struktu-
riertheit und Leistungsfähigkeit unabhängig von kognitiven Subjekten ge-
geben ist. In Wirklichkeit ist Sprache zwar ein objektives semiotisches
System, aber dies muß in dem Sinne verstanden werden, daß die Dimension
der Kognitivität darin auf (mindestens) dreierlei Weise präsent ist: (a) In-
sofern eine Sprache auf der Basis eines Konsensus von Subjekten verstanden
und benutzt wird, beinhaltet sie so etwas wie objektiv gewordene oder vom

25 Es ist allerdings zu betonen, daß nicht alle Philosophen, die dieser Richtung
zugerechnet werden, diese radikale These vertreten. Der wichtigste Verfechter der
genannten These ist H. Wettstein (vgl. Wettstein [1986] und [1988]).
26 Wettstein [1986] S. 204.
27 Wettstein [1986] S. 203 zitiert Aussagen einiger Vertreter jener Richtung, die von
der „neuen Theorie" kritisiert wird, u. a.: „A theory of meaning is a theory of
understanding" (Dummett [1981b] S. 74); „... die Sprachphilosophie [ist] ein
Zweig der Philosophie des Geistes" (Searle [1983] S. 9); „The basis of a theory of
reference must...be a theory of the thought in the mind of a person using a
singular term" (Schiffer, [1978] S. 171).

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136 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

allgemeinen Konsensus bestimmte Kognitivität. Daß dem so ist, kann man


u. a. daraus ersehen, daß die Sprecher einer solchen Sprache sich explizit
dieses Faktors (der objektiv oder konsensual gewordenen Kognitivität)
vergewissern (können), (b) Jedes Subjekt bzw. jede Sprache hat die Mög-
lichkeit, aus der objektiv gewordenen Kognitivität soz. „auszubrechen",
etwa um eine eigene Kognitivität zu vertreten, durchzusetzen usw. (c) Der
„normale Zustand" einer Sprache stellt sich allerdings so dar, daß sich die
Sprecher dieser Sprache gerade in kognitiver Hinsicht oft erheblich vonein-
ander unterscheiden. Wer die Namen ,Cicero' oder ,Tullius' sagt oder hört,
„weiß" oft nicht, daß beide Namen dieselbe Person bezeichnen. Die vielen
Diskussionen über die „kognitive Signifikanz" in der Semantik betreffen
besonders diesen dritten Aspekt.
Es kann gezeigt werden, daß hier keine absoluten Kriterien von vorn-
herein gegeben, sondern daß ein gewisses normatives Verfahren und eine
dementsprechende Entscheidung unvermeidlich sind. Soll man etwa sagen,
daß die Ausdrücke ,Cicero' und ,Tullius' einen festen semantischen Wert
objektiv — d. h. hier: unabhängig vom kognitiven Wert, den sie für einen
Sprecher faktisch haben — besitzen, so daß die Sätze
(3) Cicero = Cicero

und
(4) Cicero = Tullius

dieselbe Proposition ausdrücken? Diese These, die von den Vertretern der
Neuen Theorie der Referenz verfochten wird, ist dann haltbar, wenn man
als Kriterium für das Vorhandensein des semantischen Wertes eines Aus-
drucks höchstens die Dimension der Kognitivität im Sinne von (a) aner-
kennt. Der Preis für das strikte Festhalten an einem solchen Kriterium ist
allerdings sehr hoch: die ganze sehr komplexe und uneinheitliche Dimension
der Kognitivität — also die Dimension der sog. propositionalen oder intentio-
nalen Einstellungen usw. — bleibt unberücksichtigt mit der Konsequenz,
daß sehr unplausible, ja gewaltsame Deutungen mancher kognitiv bestimm-
ter sprachlicher Phänomene präsentiert werden. 28 Andererseits sollte der
Vorteil nicht übersehen werden: die — im erläuterten Sinne — rein objektiv
verfahrende Semantik gewinnt erheblich an Eindeutigkeit.

28 Ein Beispiel dafür ist das sonst außerordentlich scharfsinnige Buch von N. Salmon
Frege's Pussle (vgl. Salmon [1986]).

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3.2 Zwei symptomatische Diskussionsthemen 137

Geht man — mit Frege — umgekehrt davon aus, daß (3) und (4) zwei
verschiedene Propositionen (bei Frege: Gedanken) ausdrücken, so räumt
man dem kognitiven Gesichtspunkt oder, mit einem Ausdruck Freges, dem
„Erkenntniswert" 29 der sprachlichen Ausdrücke einen zentralen Stellenwert
in der Semantik ein. Die Frage ist, wie weit man hier gehen kann oder muß.
Es dürfte klar sein, daß nicht jedem individuell bestimmten Erkenntniswert
Rechnung getragen werden kann, da sonst von einem einheitlichen Sprach-
system nicht mehr oder kaum noch die Rede sein kann. Der Frage, ob der
semantische Wert eines Ausdrucks nur dann vorhanden ist, wenn ein Spre-
cher, der diesen Ausdruck verwendet, ihn auch „versteht", haftet eine große
Unbestimmtheit und Vagheit an; denn was heißt „Verstehen", „Kennen",
„Anerkennen" usw.? Die Positionen von Dummett, Tennant u. a. scheinen
ein exzessives Gewicht auf die kognitive Dimension zu legen und dem
Umstand nicht genug Rechnung zu tragen, daß diese Dimension außer-
ordentlich vage und unbestimmt ist: daß ein Sprecher etwas „versteht" oder
nicht „versteht", ist oft, ja meistens, eine vorwiegend subjektive Angele-
genheit, die von vielen subjektiven Faktoren abhängt, wie Talent, Bildung,
Fleiß usw. Sogar das von Tennant30 im Anschluß an D. Prawitz 31 vorbildlich
entwickelte „gültige Argument" als jenes Definiens von „Wahr(heit)", das
gerade der absoluten Priorität des kognitiven Gesichtspunktes Rechnung
tragen will, zeigt, wie beinahe unfaßbar diese Dimension ist; denn wenn
„Wahr(heit)" dann und nur dann vorliegt, wenn „man" in der Lage ist, ein
im Sinne Tennants gültiges Argument für eine Aussage zu präsentieren, so
drängt sich die Frage auf, wieviele Sprecher oder Subjekte darin ihre „Kog-
nitivität" realisiert finden werden. Es scheint sinnlos zu sein, die gan^e
Dimension der Kognitivität erfassen zu wollen. Wohl aber dürfte es sinnvoll
sein, die Behauptung aufzustellen, daß jeder rationale Sprecher das genannte
„gültige Argument" anerkennen kann (nicht: wird), bzw. den Anspruch zu
erheben, daß jeder rationale Sprecher es anerkennen soll.
Aus den angestellten Überlegungen ergibt sich, daß die kognitive Di-
mension zwar nicht ignoriert werden kann, daß sie aber als Dimension der
Sprache als ganzer gesehen werden muß. „Sprache als ganze" ist als ein
außerordentlich komplexes System zu begreifen. Was Sprache ist, wie sie
funktioniert, wie weit sie reicht, ob sie nur endlich viele, abzählbar unendlich

29 Vgl. Frege [1892] (vgl. bes. S. 40).


30 Vgl. Tennant [1987], bes. Kap. 13.
31 Vgl. Prawitz [1974],

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138 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

viele oder überabzählbar unendlich viele Ausdrücke hat 32 — das sind die
fundamentalen Fragen. Die Frage nach der Kognitivität hat im Rahmen
dieser fundamentalen Fragen ihren Platz; es ist nicht zu sehen, worin die
Berechtigung der These gesehen werden könnte, daß die Perspektive der
Kognitivität die für eine Theorie der Sprache primäre und bestimmende
Perspektive abgibt.
Ist dieser Ansatz korrekt, so wird deutlich, daß die zwei wichtigsten im
Rahmen der Realismus-Antirealismus-Debatte behandelten Fragen (nämlich
die Frage, ob das Bivalenzprinzip gilt, und die Frage, ob es eine sprach-
oder geist-««abhängige Realität gibt) aus einer viel zu einseitigen und be-
schränkten Perspektive erörtert werden, wenn der Gesichtspunkt der Kog-
nitivität in den Vordergrund gestellt wird. Die adäquate Behandlung der
genannten Fragen muß eher von der Betrachtung der Sprache als ganzer
erfolgen. Wie unten zu zeigen sein wird, ist die zweite Frage eindeutig zu
beantworten: es macht keinen Sinn, eine die Sprache als gan^e schlechterdings
trans^endierende Realität anzunehmen. Daraus aber ergibt sich nicht zwingend,
daß das Bivalenzprinzip abzulehnen ist.

3.3 Der semantisch-ontologische Grundansatz:


das Kontextprinzip

3.3.1 Zur Formulierung, Interpretations- und Diskussionsgeschichte


des Kontextprinzips

Der Ausdruck ,Kontextprinzip' (.context principle', im folgenden: KTP)


wurde geprägt und wird allgemein verwendet, um ein Prinzip zu bezeichnen,
das Frege in seinem 1884 publizierten Buch Die Grundlagen der Arithmetik1
formuliert hat und von dem M. Dummett sagt:
„[It] is probably the most important philosophical statement Frege ever
made". 2

Wie gleich zu zeigen sein wird, ist der Ausdruck .Kontextprinzip' sprachlich
mehrdeutig und wird oft mißverstanden. Aber da dieser Ausdruck zu einem

32 Vgl. dazu die anregenden Arbeiten von Hugly/Sayward [1983] und [1986]. Vgl.
unten Abschnitt 3.6.3.
1 Frege [1884],
2 Dummett [1978] S. 38.

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3.3 Der semantisch-ontologische Grundansatz 139

festen terminologischen Bestandteil des heutigen semantischen Vokabulars


geworden ist, soll er — allerdings gemäß einer unmißverständlichen Deutung
— auch hier beibehalten werden.
Im genannten Werk Freges finden sich verschiedene Formulierungen, die
im folgenden zitiert werden sollen:
,,[N]ach der Bedeutung der Wörter muß im Satzzusammenhange, nicht in
ihrer Vereinzelung gefragt werden." 3
„Es ist ... die Unvorstellbarkeit des Inhaltes eines Wortes kein Grund, ihm
jede Bedeutung abzusprechen oder es v o m Gebrauche auszuschliessen. Der
Schein des Gegentheils entsteht wohl dadurch, daß wir die Wörter vereinzelt
betrachten und nach ihrer Bedeutung fragen, für welche wir dann eine
Vorstellung nehmen. So scheint ein Wort keinen Inhalt zu haben, für welches
uns ein entsprechendes inneres Bild fehlt. Man muss aber immer einen vollstän-
digen Satζ ins Auge fassen. Nur in ihm haben die Wörter eigentlich eine Bedeutung.
Die inneren Bilder, die uns dabei etwa vorschweben, brauchen nicht den
logischen Bestandtheilen des Urtheils zu entsprechen. Es genügt, wenn der
Sat% als Ganspes einen Sinn hat; dadurch erhalten auch seine Theile ihren Inhalt."*
„Nur im Zusammenhange eines Satzes bedeuten die Wörter etwas." 5
„Wir stellten ... den Grundsatz auf, dass die Bedeutung eines Wortes nicht
vereinzelt, sondern im Zusammenhange eines Satzes zu erklären sei..." 6

Rein sprachlich genommen ist der Ausdruck ,Kontextprinzip' mehrdeutig.


Angewandt auf den Satz kann er etwa bedeuten, daß der Satz einen (etwa
pragmatischen) Kontext hat. Aber aus den zitierten Formulierungen ergibt
sich schon, daß dies nicht die von Frege intendierte Bedeutung ist; sie zeigen
deutlich, daß der Sat% selbst als der Zusammenhang (= Kontext) anzusehen
ist, in dem die einzelnen Wörter allein „Bedeutung" haben. Gemeint ist also:
der Satz selbst ist der Kontext (nicht: hat einen Kontext).
Wie das KTP in den Schriften und in der Philosophie Freges zu inter-
pretieren ist, ist eine hochkontroverse Angelegenheit. In diesem Buch wird
dazu nicht Stellung genommen. Da aber die Formulierung des KTP von
Frege übernommen wird, muß gesagt werden, in welchem Sinne dies
geschieht und wie das hier angewandte Verfahren zu rechtfertigen ist. Dazu
sind einige Ausführungen über die Diskussionslage erforderlich.
Der zentrale Diskussionspunkt betrifft die Frage, ob das K T P bei Frege
als ein semantisches Prinzip oder als eine methodologische (epistemologische) Regel
zu interpretieren ist. Diesbezüglich gibt es zwei diametral entgegengesetzte

3
Frege [1884] S. 10.
4
A. a. O. § 60 (Hervorh. nicht im Original).
5
A. a. O. § 62.
6
A. a. O. § 106.

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140 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

Konzeptionen. Der bekannteste Vertreter der ersten Konzeption ist


M. DummettP Einer der Hauptvertreter der zweiten Konzeption, G. Currie,
formuliert den Sinn des KTP bei Frege so:
„[The context principle in Grmdlageti\ is neither closely related to the notions
of sense and reference, nor intended as a strictly semantical thesis. It is a
methodological rule for judging between competing theories which seek to
explicate the same pre-theoretic notion." 8

Currie zufolge besagt das KTP auf der heuristischen Ebene, daß die Defi-
nition (des Begriffs) der Zahl unter einigen restriktiven Bedingungen kon-
struiert werden muß: die Analyse des Begriffs der Zahl sollte nicht auf der
Basis einer Reflexion über den Begriff selbst vonstatten gehen, sondern
unter Beachtung von charakteristischen Sätzen, in denen der Begriff vor-
kommt. Currie arbeitet zwei Aspekte des KTP heraus. Zum einen handelt
es sich um die Beziehung von Begriffen zu Urteilen, wobei folgendes zu
beachten ist:
„[The conceptual] analysis, and the definitions to which it gives rise, should,
in conjunction with certain other principles, entail intuitively correct judg-
ments concerning that concept." 9

Zum anderen geht es um die Beziehung von Begriffen zu Objekten. In


dieser Hinsicht formuliert Currie den Sinn des KTP folgendermaßen:
„...we have an adequate grasp of a concept once our analysis is shown to
deliver intuitively correct judgements, independent of any ability we may
take to form an idea of the objects concerned." 10

Der zweite große Diskussionspunkt hat es mit der Frage zu tun, ob Frege
nach der Publikation der Grundlagen das KTP weiter vertreten oder ob er es
verworfen hat. Auch diesbezüglich gehen die Meinungen der Interpreten
erheblich auseinander. Drei Interpretationsrichtungen seien kurz erwähnt:
(i) Einige Autoren wie M. Black, A. Angelelli und M. Resnik11 vertreten
die Auffassung, daß Frege in den nach den Grundlagen veröffentlichten
Schriften das KTP verworfen hat.

7 Vgl. besonders Dummett [1981 b]. Dieselbe Interpretation vertritt Wright [1983 a]
und [1983 b].
8 Currie [1982] S. 156.

9 A . a . O . S. 151.

10 Ebd. Eine ähnliche Auffassung vertritt Milne [1986], der Dummetts und Wrights

Interpretation einer kritischen Analyse unterzieht.


" Black [1964]; Angelelli [1967]; Resnik [1967] und [1976],

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3.3 Der semantisch-ontologische Grundansatz 141

(ii) Eine zweite Gruppe von Autoren verficht die entgegengesetzte These.
So behauptet H. Sluga, daß Frege später das KTP explizit wieder formuliert
und vertreten hat. 12
(iii) Eine dritte Gruppe nimmt eine mittlere Position ein. So besonders
M. Dummett:
„[After the Grundlagen] Frege neither reiterated nor expressely repudiated it
[the context principle], but...he adopted a position inconsistent with it in
its original form." 13

Die mit dem KTP in seiner ursprünglichen Fassung inkompatible Position


ist nach Dummett Freges spätere These, daß Sätze Namen sind, aus der sich
die weiteren Thesen ergeben, daß die Bedeutung des Satzes der Wahrheits-
wert „das Wahre" (bzw. „das Falsche") ist und daß die Wahrheitswerte
Objekte sind. 14 Diese These führt nach Dummett dazu, daß der Primat des
Satzes über Namen oder Terme nicht mehr aufrechterhalten oder zumindest
nicht mehr verständlich gemacht werden kann.
Wie oben bemerkt, soll in diesem Buch zu dem kurz geschilderten
Interpretationsdisput nicht Stellung genommen werden; dazu wäre ein gan-
zes Buch erforderlich. Hier soll folgendermaßen verfahren werden: eine
modifizierte Formulierung des KTP wird von Frege übernommen und in
einer Weise gedeutet, die — vermutlich — weder mit Freges früherem
Verständnis des KTP noch mit seiner späteren Einstellung zu diesem Prinzip
zur Deckung gebracht werden kann. Die Rechtfertigung dieses Verfahrens
ist in folgendem Umstand zu sehen: Freges Formulierung, mit einer kleinen

12 Vgl. Sluga [1980].


13 Dummett [1981 b] S. x.
14 Dummett [1981 a] S. 7, 6 4 4 - 5 . Vgl. bes. S. 196:
„If sentences are merely a special case of complex proper names, if the True
and the False are merely two particular objects amid a universe of objects, then,
after all, there is nothing unique about sentences: whatever was thought to be
special about them should be ascribed, rather, to proper names — complete
expressions — in general. This was the most disastrous of the effects of the
misbegotten doctrine that sentences are a species of complex name, which domi-
nated Frege's later period: to rob him of the insight that sentences play a unique
role, and that the role of almost every other linguistic expression (every expression
whose contribution to meaning falls within the division of sense) consists in its
part in forming sentences. After the adoption of the new doctrine, only the ghost
of the original thesis could remain..."
Vgl. auch Dummett [1981 b] S. 371 ff. u. ö. Eine differenziertere Sicht diesbe-
züglich wird von Bürge [1986] vertreten.

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142 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

Modifikation, die gleich eingeführt werden soll, eignet sich vorzüglich, eine
fundamentale und entscheidende semantische Einsicht zu artikulieren. Ob
Frege selbst diese Einsicht gehabt hat, wieweit er sie gehabt hat, ob er sie
explizit oder nur implizit gehabt hat, ob er seine Philosophie in Entsprechung
oder im Widerspruch zu ihr entwickelt hat usw., das sind Fragen, die in
systematischer Hinsicht irrelevant sind. Daß sie in einer interpretationshisto-
rischen Perspektive wichtig sind, braucht nicht eigens hervorgehoben zu
werden.
Die angekündigte Modifikation betrifft den Ausdruck ,Bedeutung'. Die
genaue Bedeutung von ,Bedeutung' in den Grundlagen ist schwer auszuma-
chen; andererseits ist der Umstand zu beachten, daß Frege erst nach der
Publikation der Grundlagen die für seine (spätere) Philosophie fundamentale
Unterscheidung zwischen „Sinn" und „Bedeutung" eingeführt hat, wobei
bekannt ist, daß der Ausdruck ,Bedeutung' von Frege auf ganz eigenwillige
Weise verwendet wird. Hinzu kommt, daß im allgemeinen der Ausdruck
.Bedeutung' hoffnungslos vage und unbestimmt ist. Aus diesem Grund soll
in der Formulierung des KTP, die den folgenden systematischen Ausfüh-
rungen zugrunde gelegt wird, anstelle von ,Bedeutung' der Ausdruck ,se-
mantischer Wert' verwendet werden. Letzterer Ausdruck ist einerseits sehr
geeignet, da er die semantische Grundaufgabe anspricht, andererseits ist er
neutral. Das KTP erhält dementsprechend folgende Formulierung:
(KTP) Nur im Zusammenhang eines Satzes haben sprachliche Ausdrücke einen
semantischen Wert. 1 5

Wie ist dieses Prinzip zu deuten?

3.3.2 Kontextprinzip und Kompositionalitätsprinzip

[1] Eine Deutung und Klärung des KTP kann am besten durch einen
Vergleich mit einem anderen Prinzip erreicht werden, das oft als Grund-
prinzip der Semantik seit Frege angesehen wird und mit dem das KTP, wie
zu zeigen ist, bei den meisten Autoren in einer Art ungeklärter Symbiose
koexistiert; gemeint ist das Kompositionalitätsprinzip (oder auch: Kompositions-

15 Daß die dem Kontextprinzip zugrunde liegende Idee weder auf Frege noch auch
auf die abendländische philosophische Denktradition eingeschränkt werden kann,
ist zu ersehen aus Matilal/Sen [1988].

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3.3 Der semantisch-ontologische Grundansatz 143

prin^ip oder Komponentialitätsprinyip) (im folgenden abgekürzt mit: KPP)' 6 .


Die weiteste Formulierung des KPP betrifft die Semantik als ganze.
St. Schiffer hat in dieser Hinsicht folgende Formulierung vorgeschlagen:
„A compositional (truth-theoretic) semantics for a language L is a finitely statable
theory that ascribes properties to, and defines recursive conditions on, the
finitely many vocabulary items in L in such a way that for each of the
infinitely many sentences of L that can (in principle) be used to make truth-
evaluable utterances, there is some condition (or set of conditions) such that
the theory entails that an utterance of that sentence is true iff that condition
(or a certain member of the set) obtains." 17

Kompositionalität wird hier allerdings explizit nur auf der Ebene der Sätze
bestimmt. Eine Formulierung des KPP, die sich auf alle (komplexen) Aus-
drücke erstreckt, wird von T. Bürge Frege zugeschrieben, und zwar in zwei
Varianten:
(KPP FB ) „(1) The denotation of a complete expression is functionally dependent only
on the denotations of its logically relevant component expressions.
(2) The sense of a complex expression is functionally dependent only on the
senses of its logically relevant component expressions." 18

T. Bürge spricht von diesen Prinzipien als von Freges „groundbreaking


composition principles"19. Um die spezifische Fregesche Unterscheidung
zwischen „Sinn" und „Bedeutung"20 nicht als Grundlage der Formulierung
anzunehmen, wird hier folgende allgemeine Formulierung vorgeschlagen:
(KPP) Der semantische Wert eines komplexen Ausdrucks ist nur vom semantischen
Wert seiner logisch relevanten Teilkomponenten funktional abhängig.

Wie verhalten sich KPP und KTP zueinander? Besagen sie dasselbe? Oder
sind sie nur miteinander kompatibel? Oder ergänzen sie sich gegenseitig?
Oder schließen sie sich gegenseitig aus? In den vorhergehenden Kapiteln
war von beiden Prinzipien oft die Rede; dabei wurde angenommen, daß sie
miteinander unverträglich sind. Trifft das zu? Eine genaue Prüfung erfordert
wichtige Differenzierungen.

16
.Kompositionalitätsprinzip' scheint der am häufigsten vorkommende Ausdruck zu
sein. .Kompositionsprinzip' (.Composition Principle') wird beispielsweise von
Bürge [1986] und ,Komponentialitätsprinzp' (,Componentiality Principle') von
Appiah [1987] verwendet.
17
Schiffer [1987] S. 179.
18
Bürge [1986] S. 99.
19
Ebd.
20
Der Fregesche Ausdruck .Bedeutung' wird von T. Bürge im Englischen mit
.denotation' wiedergegeben.

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144 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

[2] Die Auffassung der Autoren, die beide Prinzipien annehmen, ist nicht
ganz klar. Es scheint, daß sie folgende These vertreten: KPP und KTP
schließen sich nicht gegenseitig aus; vielmehr stellt das KTP eine bestimmte
Variante und Spezifikation des KPP dar.
Um hier klar zu sehen, muß man zwei Gesichtspunkte unterscheiden: (i)
die Frage nach der semantischen Strukturiertheit eines sprachlichen Aus-
drucks und (ii) die Frage, welchem Ausdruck der Primat (d. h. die Eigen-
schaft, die zentrale, alles andere bestimmende „Sinneinheit" zu sein) zuzu-
sprechen ist. Hinsichtlich des Gesichtspunktes (ii) kann man an mehrere
sprachliche Ausgangspunkte denken, vor allem an die vier folgenden: sin-
gulare Terme, Kennzeichnungen (.dasjenige x, so daß ...x...'), Sätze, die
ganze Sprache. Gibt man jeweils einem dieser Ausgangspunkte den Primat
im obigen Sinne, so erhält man vier verschiedene semantische Richtungen:
die erste situiert die primäre sprachliche Einheit auf der Ebene des Terms,
die zweite auf der Ebene der Kennzeichnung, die dritte auf der Ebene des
Satzes, die vierte auf der holistischen Ebene der Sprache als ganzer. Die
dritte und die vierte müssen sich nicht unbedingt ausschließen, da die Sprache
als ganze als die Totalität der Sätze aufgefaßt werden kann. Wohl aber sind
die erste und die zweite Position weder mit der dritten noch mit der vierten
(wenn diese die dritte einschließt) in irgendeiner Weise kompatibel.
Der dem KPP zugrundeliegende Gesichtspunkt ist Gesichtspunkt (i), also
die semantische Strukturiertheit sprachlicher Ausdrücke. Nimmt man das
KPP an, so heißt das, daß man allen komplexen sprachlichen Ausdrücken
eine kompositionale semantische Strukturiertheit zuschreibt, und zwar sowohl
auf der subsententialen Ebene als auch auf der Ebene des (einzelnen) Satzes
sowie auf der supersententialen Ebene (d. h. auf der Ebene eines aus Sätzen
bestehenden Sprachsystems). Dementsprechend wären ebensoviele verschie-
dene „Gestalten" des KPP zu unterscheiden, wie es Kategorien komplexer
sprachlicher Ausdrücke gibt. Hingegen ist der Gesichtspunkt, dem das KTP
gerecht zu werden versucht, Gesichtspunkt (ii), also der semantische Primat
hinsichtlich der verschiedenen Kategorien sprachlicher Ausdrücke. Das KPP,
in der artikulierten Form, macht faktisch eine Aussage über eine bestimmte
Art und Weise, nämlich die kompositionale, wie die semantische Struktu-
riertheit des Satzes aufgefaßt werden soll. Aber als solches beinhaltet das KPP
in keiner Weise die These, daß der semantische Primat dem Satz zukommt.
Diesbezüglich ist das KPP völlig neutral. Auch wenn man subsententialen
Ausdrücken den semantischen Primat zuspricht, kann man die Strukturiert-
heit des Satzes kompositional deuten („kann" heißt hier: beide Auffassungen,
so wie sie sich bisher darstellen, widersprechen sich nicht). Umgekehrt macht

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3.3 Der semantisch-ontologische Grundansatz 145

das KTP, allgemein aufgefaßt, eine Aussage über den semantischen Primat
des Satzes, ohne im geringsten die Frage der Strukturiertheit des Satzes zu
tangieren.
Es ist ersichtlich, daß es durchaus möglich ist, sowohl das KPP als auch
das KTP, zu vertreten — sofern man die beiden genannten Gesichtspunkte
nicht näher bestimmt, d. h. sofern man nicht die Frage stellt und zu klären
versucht, wie sie sich zueinander verhalten. Darüber hinaus ist es verständ-
lich, daß viele Autoren sich nicht mit der Aufstellung des KPP begnügen,
da sie merken, daß damit dem anderen Gesichtspunkt nicht Rechnung
getragen wird. Das Ergebnis ist eine eigenartige Symbiose oder Koexistenz
der beiden Prinzipien. Dies scheint die Position von M. Dummett 21 ,
T. Bürge 22 , N. Tennant 23 u. a. zu sein.
Was geschieht aber, wenn man die beiden genannten Gesichtspunkte
zueinander in Beziehung setzt? Es ergibt sich eine nähere Bestimmung der
beiden Prinzipien. Im folgenden soll die These vertreten und begründet
werden, daß das KPP und das KTP, wenn man sie näher bestimmt, miteinander
inkompatibel sind. Daß man sie aber näher bestimmen muß, kann begründet
werden.

[3] Der erste Schritt wird durch den Aufweis getan, daß das KTP, so wie
es bisher formuliert wurde, keine Strukturiertheit des Satzes artikuliert und
daß es aus diesem Grunde rein abstrakt im negativen Sinne des Wortes, d. h.
wenigsagend ist. Ohne die explizite Angabe oder die implizite Voraussetzung
der Strukturiertheit des Satzes ist es nicht zu verstehen, was es überhaupt
heißen kann oder soll, daß dem Satz der semantische Primat zukommt.
Denn es ist sofort zu fragen: „Satz" in welchem Sinne, wie aufgefaßt, d. h.
mit welcher Strukturiertheit ausgestattet?

21
Vgl. Dummett [1981 a] S. 4:
„Frege's account... would be expressed in this way: that in the order of explanation
the sense of a sentence is primary, but in the order of recognition the sense of a
word is primary."
22
Vgl. Bürge [1986], bes. S. 99, 1 0 0 - 1 0 5 , 1 0 8 - 1 1 0 , 124, 126.
23
Vgl. Tennant [1987] S. 4 f., 23, 30 —45 u. ö. Als Fazit seiner Überlegungen zu den
beiden Prinzipien schreibt Tennant, einer der Hauptverfechter der genannten
Symbiose:
„These considerations leave us... with Sentence and Name as basic categories..."
(a. a. O. S. 45).
Was bleibt noch vom KTP übrig, wenn auch der Name als basale (Sprach-)-
Kategorie angesehen wird?

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146 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

Der qweite Argumentationsschritt ist rein negativ: die von der These vom
semantischen Primat des Satzes implizierte semantische Strukturiertheit kann
nicht kompositional konzipiert werden. (Wenn hier das Wort .kompositional'
verwendet wird, so ist es immer im Sinne des KPP, also im Sinne einer
funktional bestimmten Kompositionalität, zu verstehen. Es ist klar, daß das
Wort .kompositional' in der philosophischen Literatur auch anders verstan-
den und gedeutet wird.) Die Begründung dieser These kann folgendermaßen
erbracht werden: Der semantische Wert des kompositional strukturierten
Satzes setzt die semantischen Werte der Satzkomponenten als schon gegeben
oder bestimmt voraus; diesen, und nicht dem Satz, wird daher der seman-
tische Primat zugeschrieben. Die Kompositionalität des Satzes im Sinne des
KPP wird als der Wert einer Funktion verstanden, wobei die semantischen
Werte der Satzkomponenten als die Argumente dieser Funktion aufgefaßt
werden. Nun ist es klar, daß die Argumente einer Funktion als im voraus zu
und unabhängig von dem Wert der Funktion gegeben und bestimmt anzuneh-
men sind. Wird daher die Strukturiertheit, und damit der semantische Wert,
des Satzes kompositional erklärt, so folgt daraus, daß die semantischen Werte
der Satzkomponenten im voraus zu und unabhängig von ihrem Vorkommen
in einem Satz gegeben und bestimmt sind (bzw. sein müssen). Das KPP
setzt daher voraus, daß der semantische Wert des singulären Terms und des
Prädikats im voraus zu und unabhängig von ihrem Auftreten in einem Satz
gegeben und bestimmt ist. Dies steht aber in direktem Widerspruch zu dem
Prinzip, demzufolge sprachliche Ausdrücke nur im Zusammenhang eines Satzes
einen semantischen Wert haben, d. h. zum KTP.
Dieser Sachverhalt kann am vielleicht bekanntesten Beispiel einer funk-
tionalen Kompositionalität illustriert werden: der wahrheitsfunktionalen Kom-
positionalität. Die funktoren sind wahrheitsfunktionale Operatoren, d. h. sie
sind jene aussagenlogischen Konstanten, die das besondere Merkmal haben,
den Wahrheitswert einer komplexen Aussage rein (funktional-)kompositional
festzulegen: den als gegeben und bestimmt vorausgesetzten Wahrheitswerten
der (einzelnen 24 ) Aussagen wird ein Wahrheitswert der (zusammengesetzten)
Aussage zugeordnet. Die Junktoren repräsentieren solche Zuordnungen und
als solche sind sie Funktionen von Wahrheitswerten (der „einzelnen" Aus-
sagen) in Wahrheitswerte (der „komplexen" Aussagen). Es ist klar, daß die
Wahrheitswerte der „einzelnen" Aussagen als (in welcher Weise auch immer)
schon gegeben und bestimmt vorausgesetzt werden. In einer bestimmten

24 Gewöhnlich werden solche Aussagen „atomare" Aussagen genannt.

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3.3 Der semantisch-ontologische Grundansatz 147

Hinsicht ist dieses Beispiel nicht nur illustrativ, sondern höchst aufschluß-
reich. Die wahrheitsfunktionale Kompositionalität betrifft komplexe Sät^e, also
Sätze, deren Komponenten ebenfalls Sätze sind. Angewandt auf diese Ebene
steht das KPP nicht im Widerspruch zum KTP, zumindest wie letzteres
bisher formuliert wurde. (Ob gemäß der Version des KTP, die im nächsten
Abschnitt als die holistische bezeichnet wird, Inkompatibilitäten entstehen,
soll hier offen bleiben.) Bei der Erklärung der Strukturiertheit des einzelnen
Satzes und seiner Komponenten im Sinne einer funktionalen Kompositio-
nalität scheinen sich manche Autoren vom wahrheitsfunktionalen Modell in-
spirieren zu lassen. Die Berechtigung einer solchen Übertragung eines Mo-
dells von einer Kategorie von sprachlichen Ausdrücken auf eine andere
Kategorie darf aber nicht vorausgesetzt werden; sie müßte eigens aufgewie-
sen werden. Es ist aber nicht zu sehen, wie dies bewerkstelligt werden
könnte.

[4] Nachdem sich herausgestellt hat, daß die kompositionale Strukturiertheit


des Satzes mit dem KTP nicht kompatibel ist, fragt sich, wie die semantische
Strukturiertheit des Satzes in strenger Entsprechung s>um KTP zu konzipieren
ist. Die Antwort auf diese Frage stellt eine große Aufgabe dar und sie wird
durch die im Abschnitt 3.4 skizzierte Theorie des Satzes und insbesondere
durch die im Abschnitt 3.5 entwickelte Theorie der Proposition gegeben.
Im jetzigen Unterabschnitt und in den beiden anderen Unterabschnitten von
3.3 soll diese Antwort durch Klärung einiger wichtiger Fragen vorbereitet
werden.
[i] Wie ist das KTP genau zu verstehen? Was kann es heißen, daß etwa ein
Name oder singulärer Term „nur im Zusammenhang eines Satzes" einen
semantischen Wert hat? Im folgenden soll zunächst eine weit verbreitete
Auffassung geprüft werden, die diese Fragen auf eine auf den ersten Blick
sehr einleuchtende und mühelose Weise beantwortet. Nach dieser Auffassung
ist der semantische Wert der subsententialen Ausdrücke aus der Perspektive
der Wahrheitsbedingungen des Satzes zu bestimmen. Demnach hat ein sprach-
licher Ausdruck dann und nur dann einen semantischen Wert, wenn er einen
Beitrag zu den Wahrheitsbedingungen des Satzes leistet. Aber Wahrheits-
bedingungen „gibt es" nur im Zusammenhang mit Sätzen. Daraus folgert
man, daß der semantische Wert sprachlicher Ausdrücke „nur im Zusam-
menhang mit einem Satz" gegeben ist. M. Dummett, einer der Hauptver-
fechter einer solchen Konzeption, formuliert den Hauptgedanken hinsicht-
lich der Namen folgendermaßen:

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148 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

„We know what it is for a name to stand for an object only by knowing
how to determine the truth-values of sentences containing the name, a piece
of knowledge which can be expressed in terms of that relation between
name and object. Sentences thus play a unique role in language." 25

Da in diesen Formulierungen der epistemische Operator „we know" vor-


kommt, müssen zwei Fragen unterschieden werden: Erstens die semantische
Frage, was es für einen Namen heißt, auf ein Objekt zu referieren; zweitens
die Frage, wie wir wissen, daß (bestimmte) Namen wirklich auf (bestimmte)
Objekte referieren. (Manche Autoren, wie gerade M. Dummett, haben zu-
mindest die Tendenz, beide Fragen zu identifizieren. Eine solche Identifi-
kation führt dazu, daß das KTP als ein epistemisches Prinzip verstanden
wird. Zum Problem des Verhältnisses von Semantik und Kognitivität sei
verwiesen auf Abschnitt 3.2.2.)
Was zunächst die zweite Frage anbelangt, so dürfte Dummetts wahrheits-
konditionale Charakterisierung des Primats des Satzes zumindest als eine der
vertretbaren Antworten gelten können. Darauf braucht aber im jetzigen
Kontext nicht weiter eingegangen zu werden. Hinsichtlich der ersten Frage
lautet die Antwort der hier untersuchten Position: Daß ein Name auf ein
Objekt referiert, heißt, daß die Wahrheitsbedingungen der Sätze, in denen
der Name vorkommt, bestimmt sind. Diese Deutung des KTP, die man die
wahrheitskonditionale Deutung nennen kann, ist unhaltbar, da sie das nicht
leistet, was sie zu leisten verspricht. Damit die Frage nach den Wahrheits-
bedingungen des Satzes überhaupt auftauchen kann, muß der Satz als schon
gebildet und als ein Wahrheitskandidat vorausgesetzt werden. Um das zu leisten,
müssen der Satz selbst und seine Teilkomponenten einen semantischen Status
haben, bevor jener weitere Status, den man den Wahrheitsstatus nennt,
bestimmt werden kann. Was es heißt, daß etwa ein Name auf ein Objekt
referiert (nicht: daß das wirkliche Vorhandensein der Referenz auf ein Objekt
festgestellt oder gewußt wird), ist ein semantischer Faktor, dessen Klärung
vorausgesetzt wird, wenn die Wahrheitsfrage entsteht, bzw. vorausgesetzt
werden muß, damit die Wahrheitsfrage überhaupt entstehen kann. Andern-
falls hinge sie völlig in der Luft. Die Frage danach, was es heißt, daß ein
Name auf ein Objekt referiert, kann also nicht dadurch beantwortet werden,
daß die Wahrheitsbedingungen des Satzes, in dem der Name vorkommt,
bestimmt werden. Auf diese Weise kann man dem echt semantischen Gehalt
des KTP nicht gerecht werden. Die wahrheitskonditionale Deutung des KTP,
wenn sie sich als semantische Deutung versteht, ist daher unhaltbar.

25 Dummett [1981 a] S. 6.

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3.3 Der semantisch-ontologische Grundansatz 149

[ii] Es ist symptomatisch, daß Autoren, die eine solche Deutung vertreten,
zu sehr problematischen Theorien gelangen, die man sowohl als Grund als
auch als Folge der genannten Deutung verstehen kann. Ein beredtes Beispiel
ist D. Davidson. In seinem Aufsatz „Realität ohne Referenz" 26 unterscheidet
er zwei „Ansätze" oder „Methoden" hinsichtlich einer Theorie der „Bedeu-
tung": die „Bausteine-Methode" und die „holistische Methode". Diese bei-
den Methoden entsprechen dem KPP bzw. dem KTP. Nun ergibt sich nach
Davidson folgendes „Paradox der Referenz" 27 : Folgt man dem KPP, so zeigt
sich einerseits, daß wir Referenz benötigen, und andererseits, daß wir nicht
in der Lage sind, mit Hilfe ursprünglicherer Begriffe Referenz zu erklären
oder zu analysieren. Bejaht man das KTP, so erweist sich dieses nach
Davidson als unfähig, eine vollständige Erklärung der semantischen Merk-
male der Satzkomponenten zu geben. Ihm zufolge sollte eine empirische
Theorie der Bedeutung die Referenz der Teilkomponenten des Satzes auf-
geben und sich nur auf die auf der empirischen Evidenz beruhenden Wahr-
heitsbedingungen stützen. Auf diese Weise und in diesem Sinne wird dem
Satz der Primat zugesprochen. Was aber eigentlich „Wahrheitsbedingungen"
sind, bleibt völlig im Dunkeln. Davidson hilft sich damit, daß er den
Wahrheitsbegriff als „primitiven" Begriff nimmt. Es dürfte kaum einleuch-
ten, daß eine derart eingeschränkte Deutung des KTP plausibel ist.

[iii] J. Wallace28 versucht, eine ähnliche Version des KTP zu entwickeln,


deren allgemeine Form er so formuliert:
„Two analyses of the referential apparatus of a language which project the
same truth conditions for all statements are equally correct."29

Der Grundgedanke, der dieser Version des KTP zugrundeliegt, wird von
Wallace so angegeben:
„We may regard the concept of truth of closed sentences as being known in
advance, and regard a set of semantical rules as being a correct definition of
.denote' and ,have values' if its projections of truth values conform to what
is known. A definition of .denote' and .have values' thus distinguished
cannot properly be said to belong to theoretical syntax, yet its semantical
content is not self-generated but is totally derived from the semantical
concept of truth. As I understand Frege's principle [i. e., the context prin-
ciple, L. B. P.], it tells us that this is all the semantical content concepts of

26 Vgl. Davidson [1984] S. 204 - 223.


27 Vgl. dazu ANHANG 2 [2],
28 Vgl. Wallace [1979],
25 A . a . O . S. 321.

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150 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

denoting and of having values can properly have. The consequence is,...,
that many extensionally distinct concepts of denoting and having values
have the same semantical content. From this point of view, the semantical
concepts of denoting and having values are ambiguous or underdetermi-
ned..." 30

Wesentlich für diese Version ist also die Prämisse, daß der Wahrheitsbegriff
ein primitiver Begriff ist. Eine weitere Prämisse, die Wallace ausführlich
herausarbeitet, ist die These, daß jedes Referenzschema dadurch transfor-
miert werden kann, daß dessen kontextabhängige und kontextunabhängige
Teile zueinander inversen Permutationen des Universums unterzogen wer-
den; das Ergebnis ist ein weiteres (neues) Referenzschema, das für alle Sätze
genau dieselben Wahrheitsbedingungen bestimmt wie das erste (ursprüng-
liche) Referenzschema.
Dieses Argument und seine Prämissen basieren wesentlich auf der An-
nahme, daß der „Referent" des Satzes der Wahrheitswert ist. Wallace drückt
diese These so aus.:
,,[W]e think of a prepositional function of one argument as a function
which maps objects into truth values...". 31

Auf diese These soll unten (Abschnitt 3.4.2) ausführlich eingegangen werden.
Wallace bemerkt, daß sein Argument nicht als Beweis für die These ange-
sehen werden kann, eine Erklärung des Wahrheitsbegriffs sei unmöglich.
Interessanterweise nennt er zwei „traditionelle" Ansätze, die dieses Ziel
verfolgen. Ein (besonders von Peirce und sogar Tarski [1969]) anvisierter
Ansatz versucht, Wahrheit als ein Ideal, nach welchem die Forschung strebt,
zu begreifen. Ein anderer Ansatz wird von Wallace so charakterisiert.
„[Another] traditional approach to explaining what truth is goes by way of
the notion of reference. The correspondence of sentences to reality is a
resultant of the more basic relations which terms bear to pieces of reality.
A philosopher who takes this approach will hope to block the argument by
coming up with a deeper account of reference than we have been able to
find."32

Es wird hier deutlich, daß das „Verhältnis" von Sprache und Realität
grundsätzlich auf der Ebene des singulären Terms (des Namens) festgemacht
wird. Die Frage ist allerdings, ob nicht andere Alternativen denkbar und
durchführbar sind, ζ. B. die im vorliegenden Werk entwickelte Konzeption,

30 A. a. O. S. 313.
31 A . a . O . S. 311.
32 A. a. O. S. 324.

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3.3 Der semantisch-ontologische Grundansatz 151

in deren Mittelpunkt eine Theorie der Proposition steht. Symptomatischer-


weise erörtert Wallace an einer Stelle kurz jene Konzeption, die „Tatsachen"
(„facts") annimmt. Seine Kritik besteht in dem Hinweis, daß Tatsachen als
Entitäten aufgefaßt werden, die aus einem Individuum („particular") und
einer Eigenschaft bestehen, und daß deren Annahme daher die Frage der
Referenz des singulären Terms auf das entsprechende Objekt/Individuum
als schon geklärt voraussetzen muß. Diese zweite Feststellung ist sicher
zutreffend. Aber müssen „Tatsachen" als bestehende Sachverhalte so aufgefaßt
werden? Es dürfte klar sein, daß weder Wallaces Feststellung noch seine
sonstigen Argumente die in diesem Buch entwickelte Konzeption treffen
können, stellt diese doch eine Alternative dar, die Wallace überhaupt nicht
in Betracht zieht.

[iv] Eine weitere Variante einer einfachen Deutung des KTP basiert auf der
Annahme, daß der semantische Wert sprachlicher Ausdrücke an deren Vor-
kommen in einem Sat% überhaupt, und nicht speziell an die Wahrheitsbedin-
gungen des Satzes, gebunden wird. Demnach würde ein singulärer Term
nur dann einen semantischen Wert (einen Referenten) haben, wenn eine
Prädikation überhaupt vorgenommen, d. h. wenn dem Objekt (Referenten)
ein Attribut zugesprochen würde; außerhalb eines solchen Prädikationskon-
textes wäre es sinnlos, nach dem semantischen Wert (dem Referenten) des
singulären Terms zu fragen. Dazu ist zu sagen, daß diese Variante nicht
eindeutig ist, da es nicht klar ist, wie die Prädikation vonstatten gehen soll.
Zwei völlig entgegengesetzte Antworten scheinen möglich zu sein.
Erstens: die Prädikation wird so vorgenommen, daß der Referent des
singulären Terms im voraus für die Zuschreibung eines Attributs identifiziert
wird. Eine solche Deutung entspricht unserer gewöhnlichen Intuition: um
einem X ein Attribut zusprechen zu können, muß man schon wissen, was
mit ,X' „gemeint" ist; sonst wäre eine Prädikation nicht mehr verständlich.
Dies würde aber bedeuten, daß der semantische Wert des singulären Terms
im voraus zu und unabhängig von seinem Vorkommen in einem Satz
gegeben und bestimmt wäre, was einer direkten Verwerfung des KTP
gleichkäme. Man könnte diese Deutung dadurch zu retten versuchen, daß
man sagt, die erforderliche Identifikation des Referenten eines singulären
Terms erfolge durch die (zumindest implizit vorauszusetzende) Bildung eines
Identitätssatyes, in dem der singulare Term links und rechts des Identitäts-
zeichens erscheint. Dieser interessante Ausweg aus der Schwierigkeit schei-
tert aber daran, daß hinsichtlich des Identitätssatzes selbst dieselbe Frage
wiederkehrt: Wie ist die Identitätsprädikation überhaupt möglich? Gemäß

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152 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

der zur Diskussion stehenden Deutung der Prädikation setzt die Zuschrei-
bung des Identitätsattributs zu einem Objekt voraus, daß das Objekt %uvor
identifiziert wurde.
Zweitens: die Prädikation wird so vorgenommen bzw. verstanden, daß die
Identifikation des Referenten eines singulären Terms nicht außerhalb, sondern
streng innerhalb eines Satzzusammenhangs erfolgt. Aber wie ist eine solche
Prädikation überhaupt zu erklären? Die Antwort kann nur lauten: indem
der singuläre Term bzw. sein semantischer Wert streng vom Sat^ her begriffen
wird. Dies wiederum kann nur so gedacht werden, daß der singuläre Term
sich als ein verkürzter komplexer Sat% herausstellt, als eine Abbreviation einer
Anzahl von (einfachen) Sätzen. Dementsprechend wäre der semantische
Wert des singulären Terms, der sog. Referent, als der komplexe semantische
Wert eines verkürzten komplexen Satzes zu verstehen. Wie in diesem Fall
die Prädikation neu zu bestimmen ist, dafür wird unten im Abschnitt 3.5.4.2.2
[4] ein Beispiel erörtert. Nennt man den (direkten und unmittelbaren)
semantischen Wert eines Satzes eine Proposition, so heißt das, daß der
„Referent" des singulären Terms eine komplexe Proposition ist. Doch damit
wird schon manches vorweggenommen, was im einzelnen und allmählich
zu entwickeln sein wird. Im nächsten Unterabschnitt (3.3.3) wird dieser
zentrale Gedanke als der Gehalt der starken „molekularen" Version des
KTP näher erläutert. Angesichts der Komplexität der Thematik und der
verworrenen Diskussionslage dürfte es nicht als sinnlos erscheinen, wenn
dieser gänzlich neue Ansatz erst nach und nach erarbeitet und von vielen
Seiten her beleuchtet wird. Gewisse Wiederholungen lassen sich dabei nicht
ganz vermeiden.

[5] Die obigen Ausführungen haben gezeigt, daß die große Aufgabe hin-
sichtlich einer strengen Deutung des KTP darin besteht, den diesem Prinzip
angemessenen semantischen Status des Satzes aufzuzeigen. Den semantischen
Status des Satzes aufzeigen, heißt, den vielfaltigen semantischen Wert, ganz
besonders (und hier vorerst: ausschließlich) den direkten oder semantisch-
informationalen Wert, des Satzes herauszuarbeiten. Um die eigentliche Auf-
gabe möglichst genau zu charakterisieren, soll noch ein weiterer vorberei-
tender Schritt unternommen werden. Dabei ist vorerst gleichgültig, welche
Bezeichnung man für den (direkten) semantischen Wert des Satzes verwendet
(etwa ,Gedanke', proposition'/,Proposition' .Sachverhalt' usw.).
Der Unterschied zwischen dem „kompositionalen" (im Sinne des KPP)
und dem „kontextualen" (im Sinne des KTP) Status des Satzes hinsichtlich
seines (direkten) semantischen Wertes läßt sich durch die Erörterung zweier

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3.3 Der semantisch-ontologische Grundansatz 153

entgegengesetzter Prinzipien näher erläutern: des Prinzips des Primats des


Atomaren ( = PPA) und des Prinzips des Primats der Konfiguration ( =
PPK). Das PPA kann man auch das Atomistische oder das Bausteine-Prinzip,
das PPK das Holistische Prinzip nennen. Als Erläuterung und Illustration
sollen zwei Passagen aus den Schriften Freges angeführt werden:

Zum PPA:
„Die Leistungen der Sprache sind wunderbar. Mittels weniger Laute und
Lautverbindungen ist sie imstande, ungeheuer viele Gedanken auszudrük-
ken... Wodurch werden diese Leistungen möglich? Dadurch, daß die Ge-
danken aus Gedankenbausteinen aufgebaut werden. Und diese Bausteine
entsprechen Lautgruppen, aus denen der Satz aufgebaut wird, der den
Gedanken ausdrückt, sodass dem Aufbau des Satzes aus Satzteilen der
Aufbau des Gedankens aus Gedankenteilen entspricht." 33

Zum PPK:
„Ich gehe...nicht von den Begriffen aus und setze aus ihnen den Gedanken
oder das Urteil zusammen, sondern ich gewinne die Gedankenteile durch
Zerfallung des Gedankens." 34

Obwohl PPA und PPK allem Anschein nach entgegengesetzte Prinzipien


sind, könnte man immer noch versuchen, sie als Formulierungen zweier
Prozeduren oder Sichtweisen zu betrachten, die sich nur relativ, nicht absolut
gegenseitig ausschließen, und zwar folgenderweise: Geht man von den
Bausteinen aus, so gelangt man zur Konfiguration (der Bausteine); geht man
hingegen von der Konfiguration aus, so gelangt man (durch „Zerfällung")
zu den Bausteinen. Aber wenn es sich hinsichtlich des Satzes (und des
Gedankens) so verhielte, so hätte die Konfiguration nichts Besonderes an
sich und Freges zweites Zitat, das doch die Entgegensetzung explizit nennt,
wäre unverständlich. Die Leugnung des Gegensatzes von PPA und PPK
käme einer Reduktion von PPK auf PPA, also einer Absolutsetzung des
Atomistischen Prinzips, gleich. Abgesehen davon, daß dies eine petitio prin-
cipii wäre, widerspricht eine solche Position eindeutig jenen Intuitionen und
Einsichten, die dem Satz (also der Konfiguration) im Gegensatz zum Term
(also dem Atomaren) den Primat zusprechen. Aber auch dieser Hinweis ist
kein apodiktisches Argument gegen die genannte reduktionistische Position.
Entscheidend dürften die beiden folgenden Gesichtspunkte sein: (i) Die
Gültigkeit des großen holistischen Prinzips, demzufolge das Ganze im ei-

33 „Logik in der Mathematik" in Frege [1983] S. 243.


34 „[Aufzeichnungen für L. Darmstaedter]" in Frege [1983] S. 273.

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154 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

gentlichen oder engeren Sinne (also nicht alles, was irgendwie als ein ,Ganzes'
bezeichnet wird) mehr ist als die Summe seiner Teile, dürfte schwer zu
bestreiten sein, (ii) Der konkrete Nachweis des so verstandenen Ganzheits-
charakters einer (qualifizierten) Konfiguration, hier: des Satzes, müßte ex-
plizit erbracht, nicht nur irgendwie postuliert oder nur angesprochen werden.
Aus (i) und (ii) folgt, daß man zwar durch „Zerfallung" eines holistisch
aufgefaßten Komplexes zu den Teilen gelangen, daß man aber die holistisch
aufgefaßte Konfiguration durch Zusammensetzung der Teile qua Bausteine
nicht aufbauen kann. Es mag immer noch scheinen, daß diese Aussagen nur
rein abstrakte begriffliche Unterscheidungen ohne nennenswerten theoreti-
schen Erklärungswert darstellen. Dazu ist zu sagen, daß auch nur der
Anschein einer Berechtigung eines solchen Einwandes eindeutig ausge-
schlossen werden kann, und zwar durch die Angabe eines klaren Kriteriums
für den theoretischen Erklärungswert des behaupteten strengen Gegensatzes
von PPA und PPK. Es handelt sich um das folgende Kriterium: die kon-
sequent durchgeführte Annahme jeweils eines der Prinzipien PPA bzw. PPK
ergibt ganz verschiedene „Erklärungen" („Interpretationen") des Satzes,
seines Status, seiner Komponenten und seines semantischen Wertes. Gerade
dies ist in den nächsten Abschnitten zu leisten. Umgekehrt ist zu sagen, daß
falls bei Zugrundelegung von PPA bzw. PPK sich keine wesentlich ver-
schiedene Deutung des Satzes und seines semantischen Wertes ergibt, dies
eine deutliche Anzeige dafür ist, daß die beiden Prinzipien PPK und PPA
sich nicht wesentlich, sondern nur perspektivisch unterscheiden.
Wenn in diesem Zusammenhang die oft anzutreffende Formulierung ,Der
semantische Wert des einzelnen sprachlichen Ausdrucks besteht in dem
Beitrag, den er zum semantischen Wert des Satzes leistet' verwendet wird,
so kann gezeigt werden, daß diese Formulierung zweideutig ist. Der Aus-
druck .Beitrag' kann nämlich mindestens in qvei völlig verschiedenen Be-
deutungen verstanden werden. Erstens kann der fragliche Beitrag so ver-
standen werden, daß vom Satz als ganzem ausgegangen und nach seiner
inneren Struktur gefragt wird. Hier steht der Satz als solcher im Vordergrund
und diejenigen Elemente, die einen Beitrag zur vollen Bestimmtheit des
Satzes leisten, sind Teile des Satzes im eigentlichen Sinne, d. h. in Entspre-
chung zum berühmten Prinzip: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner
Teile". In dieser Perspektive kann bzw. muß man sagen: Wenn man die
Satzkomponenten im angegebenen (strengen) Sinne als Teile des Satzes als
des Ganzen auffaßt, dann ist die Formulierung ,die einzelnen Wörter haben
einen semantischen Wert nur insofern sie einen Beitrag zum semantischen

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3.3 Der semantisch-ontologische Grundansatz 155

Wert des Satzes als eines Ganzen darstellen' eine der Formulierungen einer
starken Version des KTP. Der „Beitrag" der Satzkomponenten wird hier im
strengen Sinne vom Satz als ganzem her bestimmt. Einen semantischen Wert
des Einzelnamens bzw. des Prädikats, der sich nicht vom Satz als ganzem
herleitet, gibt es dann nicht. Kurz: was der Teil, in diesem Fall: der seman-
tische Wert der Satzkomponenten, ist, ist nicht isolierbar vom Satz als
ganzem. Dieser Einsicht ist nicht dadurch Genüge getan, daß man sagt, der
Satz habe eine „innere Struktur", und dies so versteht, daß man den Satz
als ganzen irgendwie abstrakt nimmt und davon die ebenfalls abstrakt
aufgefaßten Satzkonstituenten als „Teile" unterscheidet. Dies wäre ein völlig
äußeres und abstraktes Verhältnis zwischen dem Satz als ganzem und den
Satzkonstituenten als Teilen.
Zweitens: Man geht von (den) einzelnen Elementen aus und arbeitet deren
„Bestimmtheit" dadurch heraus, daß man sie in Beziehung zu einem Ganzen
in dem Sinne setzt, daß dieses Ganze sich aus der Bestimmtheit der einzelnen
Elemente ergibt. Auch wenn man die einzelnen Elemente „im Hinblick"
auf das Ganze bestimmt, es bleibt bestehen, daß das Ganze zwar angenom-
men wird, aber doch einen eindeutig sekundären bzw. abgeleiteten Charakter
hat. Hier gilt nicht mehr: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile".
Hier gilt ein anderes Modell, ζ. B. das Funktion-Wert-Modell. 35 Das KPP
basiert auf diesem Modell.
Nach allen diesen Ausführungen kann immer noch nicht gesagt werden,
es sei klar, was es bedeutet, den semantischen Wert sprachlicher Ausdrücke
vom Satz als einem Ganzen her zu bestimmen. Auch das Prinzip vom Primat
der Konfiguration hat einen nur begrenzten Erklärungswert, solange nicht
im einzelnen gezeigt wird, was unter einer solchen Konfiguration genau zu
verstehen ist. Dies wird die Aufgabe insbesondere des Abschnitts 3.5 sein.

35 Vgl. dazu Dummett [1984] S. 220. Dummett arbeitet bei Frege zwei verschiedene
Modelle heraus: das Teil-Ganzes-Modell für den (Fregeschen) „Sinn" und das
Funktion-Wert-Modell für die (Fregesche) „Bedeutung". Dummett selbst hält diese
Modelle für miteinander unverträglich (vgl. a. a. O.), deren Anwendung aber auf
„Sinn" bzw. „Bedeutung" für durchaus konsistent. Aber dies scheint nicht der
Fall sein zu können, da nach Dummetts Frege-Interpretation der Sinn die Bedeu-
tung bestimmt, ist doch der Sinn nichts anderes als die Weise, in der die Bedeutung
gegeben ist. Wird ein so enges „Verhältnis" zwischen Sinn und Bedeutung ange-
nommen, so dürfte schwer einzusehen sein, daß und wie die Strukturiertheit dieser
beiden Arten von Entitäten von zwei sich gegenseitig ausschließenden Modellen
her erklärt werden kann.

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156 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

3.3.3 Versionen des Kontextprinzips

[1] Ausgehend von der allgemeinen Fassung des Kontextprinzips in der


Formulierung ,ΚΤΡ' und der speziellen Fassung des Kompositionalitätsprin-
zips auf der Ebene des Satzes (— ,KPPS') kann man mehrere Versionen des
KTP unterscheiden, insbesondere die folgenden:
(KTPU) ( = unterbestimmte Version des Kontextprinzips): KTP und KPP, sind
miteinander kompatibel.

Wie diese unterbestimmte Version zu verstehen ist, wurde oben gezeigt.


(KTP S ) ( = starke Version des Kontextprinzips): KTP und KPP, sind miteinander
nicht kompatibel.

Diese starke Version ist vorerst nur Programm. In den nächsten Abschnitten
soll dieses Programm teilweise durchgeführt und damit der mit der For-
mulierung der starken Version verbundene Anspruch grundsätzlich eingelöst
werden.
(KTP M ) ( = molekulare Version des Kontextprinzips): In der Formulierung ,ΚΤΡ*
bezeichnet der Ausdruck ,Satz* den einzelnen (atomaren, nicht-komplexen)
Satz und der Ausdruck .sprachliche Ausdrücke' ausschließlich die subsen-
tentialen sprachlichen Ausdrücke.

Die molekulare Version ist in Abhebung von der holistischen Version zu


sehen und zu verstehen:
(KTPH) ( = holistische Version des Kontextprinzips): In der Formulierung ,ΚΤΡ'
bezeichnet der Ausdruck ,Satz' einen komplexen Satz, im maximalen Fall
das Ganze der Sprache, und der Ausdruck .sprachliche Ausdrücke' sowohl
die subsententialen Komponenten als auch Sätze unterhalb der Ebene des
(anvisierten) komplexen Satzes bzw., im maximalen Fall, unterhalb der Ebene
der Sprache als ganzer.

Man muß ferner eine unterbestimmte molekulare (= KTPUM), eine unter-


bestimmte holistische ( = K T P U H ) , eine starke molekulare (= K T P S M ) und
eine starke holistische ( = KTPSH) Version unterscheiden. Im folgenden soll
die starke molekulare Version, also KTPSM, entwickelt werden. Zwar wird als
Fernziel die starke holistische Version anvisiert, aber für die Erarbeitung der
Grundlagen einer explikativ-definitionalen Theorie der Wahrheit genügt es,
das KTP auf der Ebene des Satzes zu berücksichtigen. An geeigneter Stelle
werden Hinweise auf die starke holistische Version gegeben. Wenn also der
Ausdruck ,ΚΤΡ' im folgenden verwendet wird, so wird er, wenn anderes
nicht vermerkt wird, der Kürze halber im Sinne von ,KTP M ' verstanden.

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3.3 Der semantisch-ontologische Grundansatz 157

[2] Worum geht es bei der starken molekularen Version des KTP? Es sei
zunächst nur der Grundgedanke gan2 allgemein angedeutet (in den Abschnitten
3.4 und 3.5 wird er im einzelnen durchgeführt). Es geht darum, dem Satz
nicht nur in einem weiten Sinne den Primat zuzuschreiben, sondern insbe-
sondere darum, den Satz als eine ganzheitliche Konfiguration zu verstehen,
von welcher her die subsententialen Komponenten allererst und ausschließ-
lich verstanden und erklärt werden. Der allgemeine und grundlegende
Gedanke läßt sich allgemein intuitiv so angeben: Der Satz als ganzheitliche
Konfiguration ist nur dann adäquat erklärt, wenn er als jenes Sprachgebilde
genommen wird, das eine Proposition (Proposition) in einem ganz bestimm-
ten (und völlig neuen) Sinne ausdrückt. 36 Daraus ergibt sich, daß gemäß
der starken molekularen Version des Kontextprinzips die subsententialen
Elemente (singulärer Term und Prädikat) propositional (im anvisierten
neuen Sinne) erklärt werden müssen. Dazu reicht es nicht aus, mit den
Vertretern der sog. Direkten Theorie der Referenz als den semantischen
Wert des singulären Terms das (reale) Objekt und als semantischen Wert des
Prädikats das Attribut anzusehen und eine Konfiguration beider als „sin-
guläre Proposition" auszugeben. 37 Ein solches Verfahren deutet die subsen-
tentialen Elemente nicht propositional, sondern setzt sie — in welcher Weise
auch immer — voraus, um mit ihnen allererst eine Proposition zu bilden.
Das KTP erfordert aber eine noch radikalere Erklärung der subsententialen
Komponenten bzw. der ihnen zuzuordnenden semantischen Werte. Der
singulare Term muß in einem bestimmten Sinne eliminiert werden, in dem
Sinne nämlich, daß er nicht mehr unabhängig vom Satz oder als ein Baustein,
der qua Baustein seine Bestimmtheit im voraus zum Satz hat, angesehen
wird. (Auf Quines Verfahren der Elimination der singulären Terme soll
ausführlich im Abschnitt 3.5.2.3 eingegangen werden.)
Wenn die subsententialen Elemente wirklich radikal vom Satz her gedeutet
werden, so verschwinden sie als traditionell verstandener singulärer Term
und traditionell verstandenes Prädikat. Der semantische Wert des singulären
Terms stellt sich dann heraus als ein komplexer propositionaler Wert, d. h.
als ein Wert, der aus Propositionen besteht. Es wird sofort klar, daß
,Proposition' hier nicht einfach etwa ,singuläre Proposition' im Sinne
D. Kaplans u. a. meinen kann. Wie sich zeigen wird, muß hier eine grund-
legende Unterscheidung zwischen .primärer' oder .einfacher Proposition'
und ,sekundärer' oder ,komplexer Proposition' eingeführt werden. Die

36 Vgl. unten Abschnitt 3.5.


37 Vgl. dazu beispielsweise Kaplan [1975] und A N H A N G 6.2.4.

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158 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

These, daß der semantische Wert des singulären Terms propositional ist,
ist vorläufig dahingehend zu präzisieren, daß dieser Wert ein sekundärer Wert
im Sinne einer Konfiguration von einfachen oder primären Propositionen
ist. „Singulärer Term" ist daher alles andere als ein einfacher, atomarer
Ausdruck; vielmehr ist er als ein elliptischer oder verkürzter Satz oder als
die Abbreviatur eines Satzes aufzufassen. Entsprechend ist der sog. „Refe-
rent" des singulären Terms, das „Objekt" („Individuum"), als eine Konfi-
guration von primären oder einfachen Propositionen aufzufassen. Diese
Konzeption stellt eine streng konsequente Weiterführung der mehr oder
weniger nur aus intuitiven Gründen von B. Russell u. a. vertretenen „Bün-
deltheorie" des Individuums dar. Entsprechend wird auch das Prädikat
gedeutet.
Dies ist nur eine ganz global-allgemeine Angabe des Grundgedankens,
der der starken molekularen Version des Kontextprinzips zugrunde liegt. In
den nächsten Abschnitten ist diese Konzeption im einzelnen durchzuführen
und zu begründen.

3.3.4 Zur Begründung des Kontextprinzips

Bleibt man bei einem vagen (und inkohärenten) Verständnis des KTP stehen,
so dürfte dessen Annahme kaum auf Ablehnung stoßen. Gibt man aber
diesem Prinzip eine präzise Deutung, vor allem: versteht man es gemäß der
kurz skizzierten starken Version, so erscheint es als nicht ohne weiteres
einsichtig. Nicht wenige Autoren lehnen es ab. So behauptet beispielsweise
Max Black, das Prinzip sei „kaum verständlich [barely intelligible]". 38 Und
Peter Geacb hält das KTP für „sicher falsch":
„The view put forward by Frege and Wittgenstein, that it is only in the
context of a sentence that a name stands for something, seems to me to be
certainly wrong." 3 9

Man tut gut daran, diese negativen Urteile nicht zu ignorieren.


Eine adäquate, d. h. umfassende Begründung des KTP fällt letztendlich
mit einer ganzen philosophischen Sprachtheorie und einer Ontologie zusam-
men. Wie früher ausgeführt,40 kann eine strenge und überzeugende Argu-
mentation in diesem Bereich aufs ganze gesehen nur in dem Nachweis einer

38 Black [1964] S. 117.


39 Geach [1960] S. 462.
40 Vgl. Abschnitt 2.3.

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3.3 Der semantisch-ontologische Grundansatz 159

größeren und geschlossenen Kohärenz und Intelligibilität der vorgelegten


Konzeption bestehen. Doch lassen sich auch Argumente ins Feld führen,
die sich auf die Analyse bestimmter Phänomene wie Sprachverhalten u. ä.
stützen und die die Annahme des KTP zumindest als sehr plausibel erschei-
nen lassen. Ein solches Argument soll im folgenden vorgelegt werden.
Das Argument geht von der Annahme aus, daß Sprache ein komplexes
semiotisches System ist, das nur dann adäquat und vollständig erklärt ist,
wenn die es konstituierenden drei Dimensionen (Ebenen), die syntaktische,
die semantische und die pragmatische, beachtet werden. Das Argument
besteht in der Analyse einiger Aspekte der Sprachpragmatik, bes. der Sprech-
akttheorie. Es gibt verschiedene Arten von Sprechakten. Hier sollen nur
die deklarativen (oder, wenn man will, die rein theoretischen) Sprechakte
beachtet werden, also Sprechakte wie: Referieren auf, Charakterisieren,
Beschreiben, Kennzeichnen, Behaupten usw. Alle diese Sprechakte sind
pragmatische Aspekte der Semantik einer Sprache und damit Aspekte der
Struktur des Verhältnisses von Sprache und Welt.
Wie hängen diese verschiedenen Sprechakte miteinander zusammen? Man
betrachte die Akte des Referierens-auf und des Charakterisierens. Sie sind
Handlungen, die man mit der Äußerung von singulären Termen (Eigenna-
men) bzw. Prädikaten vollzieht. Was man den semantischen Wert dieser sprach-
lichen Ausdrücke nennen kann, kommt gerade auf der pragmatischen Ebene,
also dadurch, daß sie geäußert werden, zum Ausdruck und zur Geltung. Es
ist nun unbestreitbar, daß die Akte des Referierens-auf und des Charakteri-
sierens als eine Performanz (ein Vollzug) einer bestimmten Weise des Bezugs
der Sprache zur Welt zu betrachten sind. Um welche Weise handelt es sich?
Dies ist die entscheidende Frage. Die Antwort ist, daß es sich nur um eine
unvollständige Weise der (vollzogenen) Bezugnahme auf die Welt handelt;
vollständig ist diese Bezugnahme nur dadurch, daß die Akte des Referierens-
auf und des Charakterisierens im Zusammenhang eines weiteren, umfassenden
Sprechaktes vollzogen werden, nämlich des Sprechaktes Behaupten. Dieser
Sprechakt steht in Entsprechung zu jenen sprachlichen Ausdrücken, die
Sät^e genannt werden. Der Vollzug der eigentlichen Bezugnahme auf die
Welt ist daher jener Vollzug, der mit der (deklarativ qualifizierten) Äußerung
von Sätzen gegeben ist. Das kann auch so ausgedrückt werden: der seman-
tische Wert von Sprachausdrücken wie singulärer Term, Prädikat u. ä. kann
nur ausgemacht (bestimmt) werden im Zusammenhang des semantischen Wer-
tes des Satzes.
Wie kann die formulierte These über den unvollständigen Charakter der
Akte des Referierens-auf und des Charakterisierens und konsequenterweise

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160 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

des semantischen Wertes des singulären Terms bzw. des Prädikats näher
begründet werden? Der Einfachheit halber sei hier davon ausgegangen, daß
zwei konkurrierende Erklärungen des genannten Zusammenhangs, d. h. des
Zusammenhangs zwischen einerseits den Akten des Referierens-auf und des
Charakterisierens und andererseits dem Akt des Behauptens, denkbar sind;
diese alternativen Erklärungen haben zur Grundlage in einem Fall das
Kompositionalitätsprin^ip (KPP) und im anderen Fall das Kontextprin^ip
(KTP). Der Nachweis der Unhaltbarkeit der ersten Erklärung wäre damit
gleichzeitig die Begründung für die Richtigkeit der zweiten Erklärung.

[i] Die Erklärung im Sinne des KPP lautet: Die Sprechakte des Referierens-
auf und des Charakterisierens sind primär, während der Sprechakt des
Behauptens sekundär ist, da er nichts anderes ist als eine Funktion der
Sprechakte des Referierens-auf und des Charakterisierens; entsprechend: der
semantische Wert des Satzes ist funktional abhängig von den semantischen
Werten des singulären Terms und des Prädikats. Hier wird also das Schema
Funktion-Argument-Wert verwendet. Aber dieses Schema setzt voraus, daß
die Argumente der Funktion, in diesem Fall: die Sprechakte des Referierens-
auf und des Charakterisierens, schon bestimmt, gegeben und damit vollständig
sein müssen, um den Wert der Funktion zu ergeben. Damit kann dem
Sprechakt des Behauptens keine primäre Rolle mehr zugewiesen werden.
Diese Erklärung scheint offensichtlich falsch zu sein; denn das Behaupten
hat einen gegenüber dem Referieren-auf und dem Charakterisieren beson-
deren, einmaligen, übergeordneten Stellenwert, der auf den Wert einer
Funktion mit den Argumenten Referieren-auf und Charakterisieren nicht re-
duzierbar erscheint. In der Tat beinhalten die Sprechakte des Referierens-
auf und des Charakterisierens eine Bezugnahme auf die Welt nur insofern
ihnen behauptende Kraft zugeschrieben werden kann, d. h. also insofern sie
durch den umfassenden (und damit primären) Akt des Behauptens „vermit-
telt" sind, insofern sie zum Vollzug dieses Aktes beitragen. Aber dies alles
können sie nur dann sein, wenn sie nicht als schon vollständige Bezugnahmen
auf die Welt betrachtet werden, denn in diesem Fall wären sie soz. „selbst-
genügsam". Jeder weitere Sprechakt wäre nur eine (letzten Endes nicht
mehr verständliche, weil überflüssige) Komposition dieser angeblich vollstän-
digen Sprechakte. Es zeigt sich also, daß der Sprechakt des Behauptens nicht
als von den Sprechakten des Referierens-auf und des Charakterisierens
funktional abhängig begriffen werden kann.

(ii) Das Verhältnis von Behaupten und Referieren-auf/Charakterisieren muß


also anders konzipiert werden: nicht als Komposition im Sinne des KPP,

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3.4 Elemente einer Theotie des Satzes 161

sondern als eine ursprünglich-strukturierte Einheit oder Totalität in dem


Sinne, daß der Sprechakt des Behauptens die anderen Sprechakte als Momente
oder Teile (in einem bestimmten Sinne) in sich einschließt. Damit ist auch
gesagt, daß der semantische Wert des singulären Terms und des Prädikats
nur ebenfalls als Moment oder Teil des semantischen Gesamtwertes des Satzes
aufzufassen ist. Momente oder Teile (im hier anvisierten Sinne) sind aber
nicht vorgängig zu und noch weniger unabhängig von der Einheit bzw. Totalität,
zu der sie gehören, bestimmt bzw. gegeben.
Vollständig einleuchten dürfte das skizzierte Argument erst dann, wenn
gezeigt wird, wie die subsententialen Elemente radikal vom Sat% her erklärt
werden. Dies ist, wie mehrmals angekündigt, die Aufgabe der nächsten
Abschnitte.41 Hier ist noch abschließend auf einen wichtigen Punkt auf-
merksam zu machen: die Annahme und Entwicklung der starken Version
des KTP hat zur Konsequenz, daß alle Fragen nach der Referenz isoliert
betrachteter sprachlicher Ausdrücke Schein- und gegenstandslose Fragen
sind. Eine immense sprachtheoretische bzw. -philosophische Literatur wird
damit zur Makulatur.

3.4 Elemente einer Theorie des Satzes

3.4.1 Vorbemerkung

Akzeptiert man das Kontextprinzip gemäß seiner starken molekularen Ver-


sion als das zentrale semantische Prinzip, so erweist sich die Aufgabe, eine
Theorie des Satzes zu entwickeln, als unausweichlich. Eine auch nur eini-
germaßen adäquate Theorie des Satzes ist eine immense Aufgabe, für die
hier nur einige grundlegende Elemente bereitgestellt werden können. Für
die Zielsetzung des vorliegenden Werkes dürften sie als ausreichend zu
betrachten sein.
Der Satz ist bekanntlich nicht nur das am häufigsten benutzte Sprachge-
bilde, sondern er ist auch jene „Entität", die in der Logik und Sprachphi-
losophie eine unvergleichliche, aber auch zweifelhafte Rolle spielt: Der Satz
wird gegenüber anderen Entitäten, wie besonders der Proposition/Propo-
sition, als eine unproblematische Entität angesehen, zumindest in dem Sinne,
daß dessen Existenz, Nützlichkeit und Unverzichtbarkeit nicht in Frage

41 Vgl. insbesondere Abschnitt 3.5.

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162 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

gestellt werden (können). So entscheiden sich viele Autoren, besonders


Logiker und Sprachphilosophen, dafür, sich auf diese, wie sie meinen,
unproblematische Bastion zurückzuziehen, um logische, semantische und
andere Fragen zu formulieren und zu klären. Aber was zunächst die große
Stärke dieser Einstellung bzw. Position auszumachen scheint, stellt sich bei
näherem Zusehen als eine bedenkliche Schwäche heraus. Der angeblich
unproblematische Charakter des Satzes erweist sich schnell als das Ergebnis
einer Trivialisierung dieses Sprachgebildes: unproblematisch ist der Satz
dann, wenn er als völlig undifferenziertes oder als minimal bestimmtes
Sprachgebilde betrachtet wird. Da der Satz die zentrale Spracheinheit dar-
stellt, können wir nicht umhin, Sätze bei jeder Gelegenheit zu benützen.
Dies führt leicht dazu, daß sie als nur wenig oder minimal bestimmte
sprachliche Größen gehandhabt werden.
Es ist symptomatisch, daß die beschriebene Einstellung bzw. Position auf
einer weiteren Ebene dazu übergeht, den Satz bis zu einem gewissen Punkt
zu bestimmen. Im allgemeinen werden in diesem Zusammenhang zwei
Bestimmungen gegeben. Erstens wird der Satz als jenes Sprachgebilde auf-
gefaßt, von dem sinnvollerweise gesagt werden kann, es sei wahr oder
falsch; zweitens wird dem Satz eine Semantik im Sinne der kompositionalen
Interpretationssemantik unterstellt. Alles weitere wird auf dieser Basis ab-;
gewickelt.
Die vorhergehenden Kapitel dürften zur Genüge gezeigt haben, daß das
beschriebene Verfahren und die daraus resultierende(n) Position(en) unzu-
reichend, ja fragwürdig sind. Im Sinne dieser Ausführungen wird hier davon
ausgegangen, daß zwar der Satz in dem Sinne „selbstverständlich" ist, daß
er die ursprüngliche und zentrale Spracheinheit darstellt, daß aber dies nicht
bedeutet, daß es deswegen berechtigt wäre, ihn ohne nähere Bestimmungen
oder mit nur minimalen Bestimmungen zur Grundlage logischer, semanti-
scher und anderer Fragestellungen und Theorien zu machen. Gefordert ist
eine Theorie des Satzes, die den Satz nicht von vornherein als unproble-
matisches Sprachgebilde nimmt; im Gegenteil: es wird sich herausstellen,
daß der Satz in vielerlei Hinsicht die am schwierigsten zu erklärende „En-
tität" ist.
In diesem Abschnitt sollen nur einige der grundlegenden Elemente skiz-
ziert werden, die für die Entwicklung einer angemessenen Theorie des Satzes
unbedingt zu berücksichtigen sind. Einem dieser Elemente, in einer be-
stimmten Hinsicht dem wichtigsten, nämlich dem informational-semantischen
Wert, d. h. der Proposition, soll wegen seiner Bedeutung für die Zielsetzung
des vorliegenden Buches der ganze nächste Abschnitt gewidmet werden.

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3.4 Elemente einet Theorie des Satzes 163

Auf die Konsequen2en der Theorie der Proposition für die Theorie des
Satzes soll am Ende des nächsten Abschnittes explizit hingewiesen werden.
(Es wird sich besonders um die Unterscheidung zwischen „primärem" oder
„einfachem" und „sekundärem" oder „komplexem" Satz handeln.)

3.4.2 Ist der Wahrheitswert der Referent des Satzes?


Zum sog. „slingshot"-Argument

[1] Wenige Thesen sind für die Entwicklung einer Theorie des Satzes so
wesentlich und aufschlußreich wie die auf Frege zurückgehende und weit
verbreitete These, derzufolge der Wahrheitswert der Referent des Satzes ist.
Bekanntlich hat Frege in seinem berühmten Aufsatz „Über Sinn und Be-
deutung" 1 die These aufgestellt, daß sowohl singuläre Terme als auch
Prädikate (Begriffsausdrücke) sowie Sätze nicht nur einen Sinn, sondern
auch eine „Bedeutung" (im Fregeschen Sinne, d. h. einen Referenten) haben.
Nach Frege wird der Sinn „ausgedrückt", die Bedeutung „bedeutet" oder
„bezeichnet". 2 Ihm zufolge ist der Sinn des Satzes der Gedanke, der Referent
des Satzes der Wahrheitswert. Was er darunter versteht, formuliert er so:
„Ich verstehe unter dem Wahrheitswert eines Satzes den Umstand, daß er
wahr oder falsch ist. Weitere Wahrheitswerte gibt es nicht. Ich nenne der
Kürze halber den einen das Wahre, den anderen das Falsche. Jeder Behaup-
tungssatz, in dem es auf die Bedeutung der Wörter ankommt, ist also als
Eigenname aufzufassen, und zwar ist seine Bedeutung, falls sie vorhanden
ist, entweder das Wahre oder das Falsche." 3

In diesem Zusammenhang soll Freges konsequenzenreiche These, daß jeder


(Behauptungs-)Satz als Eigenname aufzufassen ist, nicht zur Diskussion
gestellt werden. Vielmehr ist hier nach Freges Begründung der weiteren
These zu fragen, wonach die Bedeutung jener besonderen Art von Namen,
die sonst „Sätze" genannt werden, der Wahrheitswert ist.
Man kann im genannten Aufsatz zwei Ansätze einer Begründung finden.
Der erste wird von Frege als Antwort auf eine explizite Begründungsfrage
artikuliert:
„Warum wollen wir denn..., daß jeder Eigenname nicht nur einen Sinn,
sondern auch eine Bedeutung habe? Warum genügt uns der Gedanke nicht?
Weil und soweit es uns auf seinen Wahrheitswert ankommt." 4

1 Frege [1892],
2 Vgl. a. a. O. S. 46.
3 Ebd.
4 Ebd.

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164 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

Diese Antwort leuchtet keineswegs ein, da sie eine positive Antwort auf die
von Frege selbst gestellte Frage schon voraussetzt. Der letzte Satz im Zitat
identifiziert die (als berechtigt schon vorausgesetzte) Bedeutung mit dem
Wahrheitswert. Andererseits kann man ohne weiteres die These vertreten,
es sei notwendig, daß es uns auf den Wahrheitswert des Satzes ankommt,
ohne im geringsten der anderen These beizupflichten, der Wahrheitswert sei
mit der Fregeschen Bedeutung zu identifizieren.
Zwei andere Aspekte der Fregeschen Überlegungen im Rahmen dieses
ersten Ansatzes seien kurz erörtert. Einige Sätze kurz vor der oben zitierten
Passage findet sich eine Formulierung, die als eine zumindest implizite
(Quasi-)Begründung der Frage, warum wir eine Bedeutung des Satzes an-
nehmen müssen, gelten kann. Es heißt dort:
„Daß wir uns überhaupt um die Bedeutung eines Satzteils bemühen, ist ein
Zeichen dafür, daß wir auch für den Satz selbst eine Bedeutung im allge-
meinen anerkennen und fordern." 5

Freilich ist dies keine strenge Begründung, sondern nur ein „Zeichen". Daß
es sich um ein sehr fragwürdiges „Zeichen" handelt, ergibt sich daraus, daß
aus Freges Feststellung, wir bemühten uns um die Bedeutung eines Satzteils,
gerade eine der Fregeschen entgegengesetzten Konsequenz gezogen werden
kann, die Konsequenz nämlich, man solle nicht nach einer Bedeutung des
Satzes suchen, da man sonst den Unterschied zwischen den sprachlichen
Kategorien (Satz — Satzteile) verwischen würde. Ob diese zweite oder
Freges Konsequenz die richtige ist, steht im Augenblick nicht zur Debatte.
Es sollte nur gezeigt werden, daß Freges „Begründung" für seine These
keineswegs einleuchtend ist.
Der andere Aspekt der Fregeschen Überlegungen ist das von ihm voraus-
gesetzte Kompositionalitätsprin^ip (hier auf der Ebene der Bedeutung in Freges
Sinn): die Bedeutung des Satzes ist funktional abhängig von den Bedeutun-
gen der Satzbestandteile. Dieses Prinzip wird hier in einer eigenartigen
Begründungsfunktion in Anspruch genommen, insofern es so etwas wie
eine basale Einsicht artikuliert:
„Wir haben gesehen, daß zu einem Satze immer dann eine Bedeutung zu
suchen ist, wenn es auf die Bedeutung der Bestandteile ankommt; und das
ist immer dann und nur dann der Fall, wenn wir nach dem Wahrheitswerte
fragen." 6

5 A. a. O. S. 47.
6 A. a. O. S. 48.

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3.4 Elemente einer Theorie des Satzes 165

Natürlich enthält auch dieses Zitat keine strenge Begründung der These,
daß wir eine Bedeutung des Satzes annehmen müssen.
Der ^weite Ansatz betrifft direkt die These, daß die Bedeutung des Satzes
mit dem Wahrheitswert des Satzes zu identifizieren ist. Hier wird also schon
vorausgesetzt, daß der Satz eine Bedeutung (im Fregeschen Sinne) hat bzw.
haben muß.
„Wenn unsere Vermutung richtig ist, daß die Bedeutung eines Satzes sein
Wahrheitswert ist, so muß dieser unverändert bleiben, wenn ein Satzteil
durch einen Ausdruck von derselben Bedeutung, aber anderem Sinne ersetzt
wird. Und das ist in der Tat der Fall. Leibni£ erklärt geradezu: ,Eadem sunt,
quae sibi mutuo substitui possunt, salva veritate.' Was sonst als der Wabrheits-
wert kannte auch gefunden werden, das ganz allgemein zu jedem Satze gehört,
bei dem überhaupt die Bedeutung der Bestandteile in Betracht kommt, was
bei einer Ersetzung der angegebenen Art unverändert bliebe?" 7

Diese „Begründung" erscheint wieder sehr eigenartig, insofern sie Ausdruck


einer Verlegenheit ist („Was sonst..."). (Daß sie auch eine Zirkularität
beinhaltet, soll hier nur am Rande vermerkt werden.)

[2] Ungeachtet dieser schwachen Basis wurde die These, daß der Wahrheits-
wert der Referent des Satzes ist, allgemein angenommen und sie wird heute
von vielen Logikern und Semantikern als eine Art fraglose Prämisse vertre-
ten. Dabei ist folgender Umstand besonders zu beachten: bei Frege und
einigen anderen Logikern und Semantikern (wie ζ. B. A. Church, vgl. unten)
wird zwar der Wahrheitswert als der Referent des Satzes behauptet, aber
darin erschöpft sich nicht die von diesen Autoren vertretene Theorie des
Satzes, denn neben der Referenz (dem Referenten) wird auch ein „Sinn" des
Satzes angenommen, dem man verschiedene Bezeichnungen gibt: „Ge-
danke", „Proposition" usw. Aber andere Autoren verwerfen solche Entitäten
und vertreten dennoch die These, daß der Wahrheitswert der Referent des
Satzes ist. Dies hat eine kuriose Situation geschaffen; der Satz wurde
hinsichtlich seines semantischen Wertes immer mehr ausgehöhlt.
Im Jahre 1981 veröffentlichten ]. Barwise und J. Perry ihren bahnbrechen-
den Artikel „Semantic Innocence and Uncompromising Situations" 8 , in dem
sie die entstandene Lage im Bereich der Semantik, Logik und Ontologie
gründlich zu ändern versuchten. Sie bemühten sich, den unabdingbaren
Platz für die Entitäten aufzuweisen, die unter dem Einfluß der genannten

7 A. a. O. S. 49 f. (Hervorh. nicht im Original).


8 Barwise/Perry [1981],

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166 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

These immer mehr entschwunden waren. Barwise/Perry nennen diese En-


titäten „Situationen" (in anderer Terminologie: „Propositionen", „Sachver-
halte", „Tatsachen"). Sie zeigten, daß erst in einem viel späteren Stadium
der Nachfolge Freges der Versuch unternommen wurde, ein strenges Ar-
gument zugunsten der genannten These zu entwickeln. Der erste Autor, der
dies leistete, war A. Church in einer berühmt gewordenen Rezension des
1942 erschienenen Buches von R. Carnap: Introduction to Semantics9. Im
Anschluß daran entstanden mehrere Fassungen des Argumentes, die insbe-
sondere von folgenden Autoren vorgelegt wurden: K. Gödel 10 , W. V. Qui-
ne 11 , D. Davidson 12 , D. Follesdal 13 . Heute kann die Geschichte des Argu-
ments als gut untersucht gelten. 14 Wegen seiner Kürze und seiner minimalen
Ressourcen wurde das Argument von Barwise/Perry „slingshot-Argument"
genannt. 15
Im folgenden sollen %n>ei Hauptversionen des Argumentes rekonstruiert
und geprüft werden: die von Church und die von Davidson. Die erste dürfte
die wichtigste und genaueste sein; die zweite ist für die Thematik und die
zentrale These des vorliegenden Buches deswegen von großer Bedeutung,
weil Davidson mit dem Begriff der „Tatsache" operiert, wobei er Tatsachen
ablehnt.

[3] Bei Church kann man %wei Varianten des Arguments finden, eine äußerst
einfache in der Einleitung zu seinem Buch Introduction to Mathematical Logic16
und eine andere, eine sehr detaillierte und anspruchsvolle, in der oben
genannten Rezension. Zuerst sei die erste Variante dargelegt, die ohne einen
formalen Apparat auskommt.
Church geht von der These aus, daß Sätze Namen sind, also Ausdrücke,
die etwas „bezeichnen" ( = „denotieren [denote]"), und er stützt sich auf
das Prinzip, daß Namen mit derselben Denotation füreinander ausgetauscht
werden können, ohne daß die Denotation des „Gesamtnamens" (insbeson-
dere des Satzes, der, wie gezeigt, nach Church ein Name, ein „Gesamtname",

9
Church [1943],
10
Gödel [1946] (vgl. unten [3]).
" Vgl. bes. „Three Grades of Modal Involvement" in Quine [1966 a] S. 1 5 8 - 1 7 6
(vgl. bes. S. 163 ff.).
12
Davidson [1984] (vgl. unten [4]).
13
Follesdal [1983],
14
Vgl. dazu u. a. Yourgrau [1987] (dort ausführliche Literaturhinweise).
15
Vgl. Barwise/Perry [1981] S. 395.
16
Church [1956],

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3.4 Elemente einer Theorie des Satzes 167

ist) sich ändert. 17 Church führt eine Reihe von Sät2en an, in bezug auf
welche er zu zeigen versucht, daß sie dieselbe Denotation haben. Die Sätze
(1) Sir Walter Scott ist Sir Walter Scott

und
(2) Sir Walter Scott ist der Verfasser von Waverky

haben dieselbe Denotation, weil die in ihnen vorkommenden Namen (auch


der Ausdruck ,der Verfasser von Waverky ist nach Church ein Name)
füreinander austauschbar sind. Satz (2) und Satz
(3) Sir Walter Scott ist der Mann, der insgesamt neunundzwanzig Waverky
Romane schrieb

haben aus demselben Grund dieselbe Denotation. Nun führt Church die
folgenden weiteren Sätze ein:
(4) Die Zahl, so daß Sir Walter Scott der Mann ist, der ebensoviele Waverley
Romane schrieb, ist neunundzwanzig.
(5) Die Zahl der Verwaltungsbezirke in Utah ist neunundzwanzig.

Church behauptet, daß die Sätze (3) und (4) und die Sätze (4) und (5)
dieselbe Denotation haben. Die identische Denotation von (3) und (4)
begründet er mit der „plausiblen Annahme", daß diese Sätze, wenn nicht
vollkommen, so doch beinahe synonym („nearly synonymous") sind. Hinsicht-
lich (4) und (5) bemerkt er, daß die Identität der Denotation ersichtlich
wird, sobald wir das vollständige Subjekt durch einen anderen Namen
derselben Zahl ersetzen.
Augrund dieser Argumentation gelangt Church zur Konklusion, daß alle
genannten Sätze dieselbe Denotation haben. Die weitere Konklusion, daß
die Denotation (der Referent) des Satzes sein Wahrheitswert ist, gewinnt er,
indem er folgende Überlegung anstellt: Der auffallendste Faktor, den die
untersuchten Sätze gemeinsam haben, ist der Wahrheitswert. Daraus schließt
er: alle wahren Sätze haben den Wahrheitswert „Wahrheit" als Denotatum,
während das Denotatum aller falschen Sätze der Wahrheitswert „Falschheit"
ist. 18
Barwise/Perry haben dieses Argument einer ausgezeichneten kritischen
Analyse unterzogen. 19 Der Leser sei darauf verwiesen. Im Unterschied zur

17 Vgl. a. a. O. S. 24 und 9.
18 Vgl. a. a. O. S. 24 f.
19 Vgl. Barwise/Perry [1981] S. 396 ff.

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168 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

anderen Variante des Arguments wird in der dargelegten Version nicht auf
den Begriff der logischen Äquivalenz rekurriert. Der Grund dürfte, wie
Barwise/Perry richtig bemerken, darin zu sehen sein, daß diese Version für
Leser gedacht war, die noch keine Logikkenntnisse haben.
In der erwähnten Rezension versucht Church, Carnaps These, derzufolge
die Designata der Sätze Propositionen sind, zu widerlegen. Sein zentraler
Gedanke ist der folgende: Wenn eine Sprache, zusätzlich zu einigen anderen
gemeinsamen Eigenschaften, den Lambda-Operator ,(λχ)(...)' (zu lesen: ,die
Klasse aller χ so daß...') einschließt, so ist es möglich zu beweisen, daß die
Designata der Sätze nicht Propositionen, sondern Wahrheitswerte sind. Im
folgenden soll eine möglichst eng an Churchs informelle (oder teilweise
halb-formale) Ausführungen gehaltene formale Rekonstruktion geboten wer-
den. 2 0 Alle Voraussetzungen und Prämissen sind bei Church in der einen
oder anderen Form zu finden.
CHURCHs Argument (in der Rezension über R. Carnaps Introduction to
Semantics)·.
Α. Voraussetzungen
I. Syntaktisch-semantische Festlegungen
1. S' ist Metasprache und enthält die Objektsprache S.
2. ,Des' ist das Prädikat .designiert'.
3. ,Des' gehört zu S'.
4. Symbole: P, Q, R für Sätze; P2 für Propositionen; x, y für
Objekte/Designata.
II. Prämissen (Prinzipien)
PI Sätze sind eine besondere Art von Namen (also von Ausdrücken,
die etwas bezeichnen). 21
P2 Ausdrücke haben dasselbe Designatum genau dann, wenn sie
synonyme Ausdrücke sind.
P3 Synonyme Ausdrücke sind austauschbar (unter Wahrung der
Korreferentialität).
P4 Logisch äquivalente Sätze sind synonyme Sätze.
P5 Das Designatum eines Satzes ist entweder die Proposition oder
der Wahrheitswert.

20 Diese Rekonstruktion unterscheidet sich merklich von der von Yourgrau [1987]
unternommenen Rekonstruktion. Vgl. unten Anm. 22.
21 Diese Prämisse wird in der genannten Rezension nicht explizit formuliert, wohl
aber in der in Introduction to Mathematical Logic dargelegten Variante des Arguments
(vgl. oben). Sie ist aber unerläßlich, um in dem unten präsentierten halbformalen
Beweis die Sätze 5. und 6. abzuleiten. Was den in der Formulierung der Prämisse
verwendeten Ausdruck .Bezeichnung' angeht, so entsprechen ihm in diesem Kon-
text bei Church die Ausdrücke ,denotation' und Resignation'. Auf die damit
gegebene terminologische Problematik wird unten im Text eingegangen.

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3.4 Elemente einer Theorie des Satzes 169

B. Der Beweis
1. Ρ (Annahme [ = wahrer, aber
nicht-logisch wahrer Satz])
2. C7= , ( λ χ ) (χ = χ Λ ~ Ρ ) ' (Annahme)
3. S, = ,(λχ) (χ = χ Λ ~ Ρ ) = 0' in S (Annahme)
4. ί 2 = ,0 = 0' in S (Annahme)
5. ,Des (ί1,, (λχ)(χ = χ Λ ~ Ρ ) = 0)' ist (aus 3 und P I )
wahr in S'
6. ,Des(.y2, 0 = 0)' ist wahr in S' (aus 4 und PI)
7. (Des(£7, χ) Λ Des (,0', y)) χ = y (Annahme)
8. Syn(£7, ,0') (aus 7 und P2)
9. A u s t a u s c h b a r ^ , ,0') (aus 8 und P3)
10. ,Des(J\, 0 = 0)' ist wahr in S' (aus 5, 9)
11. .Syn^i, ist wahr in S' (aus P2, 3, 4, 8, 9)
12. (VP,) (V/>2)(drückt aus(J·,, />,) A (Annahme, die sich aus der ge-
drückt nus(S2, P2)) —• Λ φ P2 wöhnlichen Bedeutung von
„Proposition" ergibt)
13. Ρ ist L-äquivalent mit J1, (folgt logisch aufgrund der
[von Church gemachten] An-
nahme, daß die Nullmenge (in
allen möglichen Welten) exi-
stiert)
14. Syn(P, St) (aus 1, 3, 13 und P4)
15. ,Syn(P, S2)' ist wahr in S' (aus 1, 3, 14 und Transitivität
der Synonymie)
16. (VQ)(Q ist wahr Syn(Q, S2)) (Generalisierung)
17. (VQ)(VR)((Q ist wahr Λ R ist wahr) (aus 16, Generalisierung)
Syn(Q, R))
18. ((Q ist wahr Λ R ist wahr) ν (Q ist (aus 7, 12, 17 und P2)
falsch Λ R ist falsch)) —•
((VQ)(VR)((Des(Q,x) A Des(R, y) - »
x = Y))
19. (VQ)(VR)((Des(Q,x) A Des(R.y) Λ (aus 12, 18 und P5).
Q ist wahr Λ R ist wahr) —• (x ist
Wahrheitswert A y ist Wahrheits-
wert))

D e r B e w e i s dürfte als korrekt anzusehen sein. D i e Frage ist allerdings, o b


die Prämissen stimmen. H o c h p r o b l e m a t i s c h sind insbesondere Prämissen PI
und P4, auf die sich das A r g u m e n t entscheidend stützt. Warum m ü s s e n
l o g i s c h äquivalente Sätze s y n o n y m u n d korreferentiell sein? D i e s leuchtet
k e i n e s w e g s ein. 2 2 D a ß Sätze nicht als N a m e n (welcher Art auch immer)

22
Vgl. dazu die treffenden Überlegungen bei Barwise/Perry [1981], S. 398, und bei
Yourgrau [1987], S. 135. In Yourgraus Rekonstruktion des Arguments wird
Churchs erstes fundamentales Prinzip so formuliert: Logisch äquivalente Sätze

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170 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

aufgefaßt werden können, wird heute meistens allgemein anerkannt. Der in


diesem Buch auf der Basis der starken Version des Kontextprinzips verfolgte
Ansatz steht in direktem Widerspruch zu dieser auf Frege zurückgehenden
These. 23
Es muß noch angemerkt werden, daß die Frage nicht von der Hand zu
weisen ist, ob es sich bei dieser ganzen Diskussion nicht um ein großes
terminologisches Mißverständnis handelt. Auffallend ist, daß sowohl Carnap
als auch Church Propositionen annehmen. 24 Geht möglicherweise der Streit
nur um das Wort ,Designatum'? In Introduction to Semantics vertrat Carnap
die These, daß die Propositionen die Designata der Sätze sind. Wie gezeigt,
versucht Church die These zu beweisen, daß die Designata der Sätze die
Wahrheitswerte sind. Ein Streit um Worte? Daß dieser Verdacht nicht ganz
unbegründet ist, wird durch einen Kommentar Carnaps in seinem 1947
erschienenen Buch Meaning and Necessity zu Churchs Rezension seines Buches
Introduction to Semantics25 bestätigt. Carnap bemerkt, daß er in dem von
Church rezensierten Werk das Wort ,Designatum' nicht im Sinne von
.Denotatum' verwendet habe, sondern als einen Ausdruck, der das Verhältnis
zwischen sprachlichen Ausdrücken und folgenden Arten von Entitäten:
Eigenschaften, Relationen, Attributen, Funktionen, Begriffen und Proposi-
tionen, artikuliert; Church aber habe ,designatum' im Sinne von ,nominatum'
verstanden. Carnap fügte hinzu, daß auf der Basis der Fregeschen Methode
der Namensrelation die These, daß das Nominatum des Satzes der Wahr-
heitswert ist, als korrekt anzusehen ist.

sind korreferentiell. Zwar ist diese Formulierung — verstanden als Rekonstruktion


— nicht falsch, aber sie entspricht nicht der detaillierten Version des Churchschen
Arguments. Church unterscheidet genauer zwischen Synonymität und Korreferen-
tialität: L-äquivalente sind synonyme Sätze (P3) und synonyme Sätze sind korre-
ferentiell (PI). Es sei noch angemerkt, daß die von Barwise/Perry aufgestellten
Thesen über das, was sie „uncompromising situations" nennen, hier nicht über-
nommen werden; die Verwerfung der These, daß der Referent des Satzes der
Wahrheitswert ist, muß nicht auf die genannten Thesen rekurrieren.
23 M. Dummett nennt diese Lehre Freges „misbegotten" und deren Konsequenzen
„disastrous"; die „katastrophalste" Konsequenz charakterisiert er so: Wenn das
Wahre und das Falsche lediglich als zwei partikuläre Objekte inmitten eines
Universums von Objekten aufgefaßt werden, dann gibt es nichts Einzigartiges in
bezug auf den Satz (vgl. Dummett [1981 a], S. 196; vgl. auch die Bemerkungen
über das Kontextprinzip bei Frege [oben 3.3.1]).
24 Freilich muß beachtet werden, daß Carnap und Church unter „Proposition" nicht
dasselbe verstehen. Für die hier anstehende Frage spielt aber diese Differenz keine
nennenswerte Rolle.
25 Vgl. Carnap [1947] S. 166 Anm. 15.

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3.4 Elemente einer Theorie des Satzes 171

Ungeachtet dieses unbestreitbaren terminologischen Mißverständnisses


kann nicht gesagt werden, daß der ganze Streit sich nur um Worte dreht,
und zwar mindestens aus zwei Gründen: Erstens bleibt die Frage bestehen,
was unter „Proposition" zu verstehen ist und wie sie sich zum „Referenten"
des Satzes (nach der hier erörterten Konzeption: dem Wahrheitswert) verhält.
In Meaning and Necessity verwendet Carnap für ,Designatum' im Sinne von
Introduction to Semantics den Ausdruck ,Intension'. Was sind aber Intensionen?
Die Ausführungen dieses Buches sind ein Beleg dafür, daß die traditionelle
(Fregesche und Churchsche) Konzeption hochproblematisch ist. Zweitens
ist zu betonen — worauf schon hingewiesen wurde —, daß die These,
derzufolge der Referent des Satzes der Wahrheitswert ist, auch (in gewisser
Hinsicht sogar besonders) von Autoren vertreten wird, die Entitäten wie
„Propositionen" u. dgl. nicht annehmen. Ein Beispiel ist D. Davidson, des-
sen Version bzw. Varianten des Arguments im folgenden zu prüfen sind.

[3] D. Davidson präsentiert %wei Varianten des Arguments. Der Kontext,


in dem die erste26 entsteht, ist die Diskussion des Versuchs, die Sätze im
Anschluß an Frege als Spezialfall komplexer singulärer Termini und die
Bedeutung eines solchen Terminus mit seinem Referenten zu identifizieren.
Dieser Versuch führt nach Davidson zu folgendem „unerträglichen Ergeb-
nis": Wenn die Bedeutung des als komplexer singulärer Terminus aufgefaßten
Satzes sein Referent ist, so müssen alle Sätze mit demselben Wahrheitswert
synonym sein. Diese Konklusion ist nach Davidson unausweichlich, sobald
man zwei „vernünftige Annahmen" macht. Erstens: logisch äquivalente
singulare Terme haben denselben Referenten; zweitens: ein singulärer Term
ändert nicht seinen Referenten, wenn ein singulärer Term durch einen
anderen ersetzt wird, der denselben Referenten hat. Davidson formuliert das
Argument folgendermaßen:
„Aber nun wollen wir annehmen, ,R' und ,S' seien Abkürzungen für zwei
beliebige Sätze mit gleichem Wahrheitswert. Dann haben die folgenden vier
Sätze denselben Referenten:

(1) R

(2) x(x = x.R) = x(x = x)

(3) x(x = x.S) = x(x = x)

(4) S

26 Vgl. Davidson, „Wahrheit und Bedeutung" (1967) in Davidson [1984] S. 42 f.

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172 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

Denn (1) und (2) sind logisch äquivalent, ebenso wie (3) und (4), während
sich (3) nur darin von (2) unterscheidet, daß es den singulären Terminus
,x(x = x. S)' enthält, wo (2) ,x(x = x. R)' enthält, und diese referieren auf
dasselbe, sofern S und R den gleichen Wahrheitswert haben. Also haben je
zwei beliebige Sätze denselben Referenten, sofern sie denselben Wahrheits-
wert haben."27

Davidson verweist explizit auf Church und merkt an, daß das Argument
unabhängig ist von irgendwelchen Annahmen bezüglich der Entitäten, auf
welche die Sätze voraussetzungsmäßig referieren.
Gerade der letzte Punkt wird von der zweiten Variante 28 des Arguments
bei Davidson in ein ganz anderes Licht gerückt, denn diese Variante soll
zeigen, daß „Tatsachen (facts)" zu verwerfen sind. Der Kontext, in dem
diese Version entwickelt wird, ist die Auseinandersetzung mit dem Versuch,
„Wahrheit" als Korrespondenz mit Tatsachen zu erklären. Ein solcher Ver-
such könnte nach Davidson nur gelingen, wenn gezeigt werden könnte, daß
Sätze der folgenden Form sinnvoll sind:
(5) Die Aussage, daß p korrespondiert mit der Tatsache, daß q.

Davidson zufolge sind Sätze der Form (5) nicht sinnvoll, da sie dazu führen,
daß man eine unmögliche These annehmen müßte, die These nämlich, daß
es eine einzige Tatsache gibt: Die Große Tatsache. Die Prämissen des
Arguments, das zu dieser Konklusion führt, werden von Davidson anhand
von Beispielen eingeführt. Satz (5) ist dann behauptbar, wenn ,p' und ,q'
durch denselben Satz ersetzt werden. Darüber hinaus vertritt Davidson
folgende Thesen: Die Aussage, daß Hamburg nördlich von München liegt,
korrespondiert nicht nur mit der Tatsache, daß Hamburg nördlich von
München liegt, sondern auch mit der Tatsache, daß München südlich von
Hamburg liegt, ferner mit der Tatsache, daß München südlich von der
großen Hafenstadt an der Elbe liegt. Davidson vollzieht nun einen entschei-
denden Schritt, indem er eine Feststellung trifft und darauf eine „Vermutung"
gründet. Er stellt fest, daß Hamburg die Stadt ist, die folgende Beschreibung
erfüllt: die größte deutsche Hafenstadt, so daß Paris in Frankreich liegt. Die
Vermutung lautet: Wenn eine Aussage mit einer Tatsache korrespondiert,
dann korrespondiert sie mit allen Tatsachen. Die „Bestätigung" der „Ver-
mutung" findet Davidson in der Angabe der in den Beispielen implizit
enthaltenen Prinzipien. Es sind zwei Prinzipien, die ihm zufolge die folgende

27 A. a. O. S. 42 f. (modifizierte Übersetzung).
28 Vgl. „Wahr hinsichtlich der Tatsachen" (1969) in Davidson [1984] S. 6 8 - 9 1 (vgl.
bes. S. 74 f.).

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3.4 Elemente einer Theorie des Satzes 173

These stützen: Wenn eine Aussage mit der durch einen Ausdruck der Form
,die Tatasche daß p' beschriebenen Tatsache korrespondiert, dann korre-
spondiert sie (auch) mit der durch einen Ausdruck der Form ,die Tatsache
daß q' beschriebenen Tatsache. Es sind dies: (a) Die Sätze, die ,p' und ,q'
ersetzen, sind logisch äquivalent, (b) unterscheidet sich von ,q' nur
dadurch, daß ein singulärer Term durch einen koextensiven singulären Term
ersetzt wird. Das eigentliche Argument sei nun in Davidsons eigenen Worten
wiedergegeben:
„,s' sei die Abkürzung für einen wahren Satz. Dann wird die Aussage, daß
gewiß übereinstimmen mit der Tatsache, daß s. Doch das zweite ,/ dürfen
wir durch diesen logisch äquivalenten Satz ersetzen: ,(der χ derart, daß χ
mit Diogenes identisch ist, und s) ist identisch mit (der χ derart, daß χ mit
Diogenes identisch ist)'. Indem wir das Prinzip anwenden, daß koextensive
singulare Termini durcheinander ersetzt werden dürfen, können wir in dem
zuletzt zitierten Satz durch ,/' ersetzen, vorausgesetzt,,/' ist wahr. Schließ-
lich kommen wir, indem wir den ersten Schritt umkehren, zu dem Schluß,
daß die Aussage, daß s, mit der Tatsache, daß t, übereinstimmt, wobei
und ,/' beliebige wahre Sätze sind." 29

Die Konklusion ist also, daß, wenn man Tatsachen annimmt, alle Tatsachen
gleich sind: Es gibt eine einzige Große Tatsache. Man sieht leicht, wie Freges
oben referierte Überlegungen über „das Wahre" (bzw. „das Falsche") und
Churchs Formulierungen von Davidson übernommen werden, mit dem
Unterschied, daß er anstelle der Relation „der Satz bezeichnet eine Propo-
sition" die andere Relation „die Aussage daß p korrespondiert mit der
Tatsache daß q" betrachtet. In beiden Fällen ergibt sich aus der Anwendung
des „slingshot"-Arguments eine erste ähnliche Konklusion. Im ersten Fall
(Church): Wenn der Referent des Satzes die Proposition wäre, so wären alle
Propositionen gleich, es gäbe eine einzige Große Proposition; im anderen
Fall (Davidson): Wenn der Satz mit einer Tatsache korrespondierte, so wären
alle Tatsachen gleich, es gäbe eine einzige Große Tatsache. Es ist nun
interessant festzustellen, daß Frege-Church aus ihrem Argument nicht die
weitere Konklusion ziehen, es gäbe keine Propositionen, sondern nur den
Schluß, daß der Referent des Satzes nicht die Proposition, sondern der
Wahrheitswert ist. Church führt nämlich explizit die Annahme (oben im
Beweis als Schritt 12.) ein, daß die Propositionen und P2 nicht identisch
sind. Davidson verfährt ganz anders. Die n/eitere Konklusion, die er zieht,
ist die „Redundanztheorie der Tatsachen"30. Um diese Konklusion zu ziehen

29 Davidson [1984] S. 75 (modifizierte Übersetzung).


30 Vgl. a. a. O. S. 76.

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174 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

bzw. um diese These aufzustellen, stützt er sich auf die Behauptung, daß
außer dem Kriterium der Korrespondenz kein anderes Kriterium für die
Unterscheidung (Identität) von Tatsachen vorgeschlagen wurde.
Es wird auch hier klar, daß Davidsons zweite Variante des „slingshot"-
Arguments genau wie Churchs erste Variante wesentlich auf der fragwür-
digen Prämisse beruht, daß logisch äquivalente Sätze denselben Referenten
haben. Darüber hinaus ist es mehr als fragwürdig zu sagen, daß die Tatsache,
daß Hamburg nördlich von München liegt, identisch ist mit der Tatsache,
daß München südlich von Hamburg liegt. 31

3.4.3 Die drei fundamentalen Strukturebenen (-dimensionen) des Satzes

Der Satz ist ein Sprachgebilde, das nur dann als angemessen bestimmt
angesehen werden kann, wenn es hinsichtlich dreier Ebenen oder Dimen-
sionen betrachtet wird: der syntaktischen, der semantischen und der prag-
matischen. Man kann entsprechend von einer syntaktischen, einer semanti-
schen und einer pragmatischen Strukturiertheit des Satzes sprechen. Als
semiotisches Gebilde ist der Satz zunächst ein Zeichengebilde, das in dem
Sinne syntaktisch strukturiert ist, daß die es konstitutierenden Zeichen
gewisse Verbindungen miteinander aufweisen. Die semantische Strukturiert-
heit des Satzes besagt, daß der Satz als Zeichengebilde etwas „be-zeichnet",
einen „Wert" hat, der eben deswegen „semantischer Wert" genannt wird.
Schließlich steht der Satz als Zeichengebilde in Beziehung zu „Instanzen",
die ihn „handhaben", d. h. „äußern"; die diesbezügliche Strukturiertheit des
Satzes kann man die pragmatische nennen. Wird eine dieser drei Ebenen
bzw. Strukturiertheiten unbeachtet gelassen, so bleibt der Satz wesentlich
unterbestimmt.

[1] Hinsichtlich der syntaktischen Strukturiertheit des Satzes ist an dieser Stelle
nur auf folgenden Gesichtspunkt hinzuweisen: Es ist zunächst zu unterschei-
den zwischen syntaktisch-grammatikalischer und syntaktisch-logischer
Strukturiertheit des Satzes. Ob beide gleichzusetzen sind und, wenn ja, in
welchem genauen Sinne, stellt ein schwieriges Problem dar. 32 Hier sei nur
angedeutet, daß die syntaktisch-logische Strukturiertheit als die „geläuterte"

31 Hochberg [1984], S. 279 — 295, hat eine detaillierte Analyse der zweiten Variante
des Davidsonschen Arguments unternommen. Eine gute Darstellung und Kritik
findet sich auch in Brownstein [1976] und Olson [1987].
32 Vgl. dazu unter vielen anderen Harman [1972], Etchemendy [1983], Moody [1986],

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3.4 Elemente einer Theorie des Satzes 175

(korrigierte und präzisierte) syntaktisch-grammatikalische Strukturiertheit


aufgefaßt werden kann. Was dies bedeutet, wird unten zumindest im Hin-
blick auf einen Fall (die Unterscheidung zwischen „primärem" und „sekun-
därem" Satz) deutlich werden. Hier ist noch anzufügen, daß eine Klärung
der Frage, welche syntaktisch-logische Strukturiertheit des Satzes als die
„richtige" oder „angemessene" anzusehen ist, nicht allein auf der isoliert
genommenen syntaktischen Ebene erzielt werden kann. Es ist der Sache
nicht angemessen, zunächst eine nur für sich betrachtete und konstruierte
Syntax zu entwickeln und erst danach überhaupt die beiden anderen Di-
mensionen zu berücksichtigen. Der Grund ist, daß die drei Dimensionen
ein „ursprüngliches Gebilde" konstituieren dergestalt, daß keine von ihnen
eine absolute Priorität gegenüber den anderen beanspruchen kann. Nur im
Sinne einer „konzertierten Aktion" können sie überhaupt als solche bestimmt
werden.

[2] Die wesentlichen Elemente der semantischen Strukturiertbeit des Satzes


wurden im Abschnitt 2.1.2 herausgearbeitet. Obwohl die Semantik des Satzes
ihren wahren Ort im gegenwärtigen Zusammenhang hat, wurde sie im
genannten Abschnitt aus Darstellungsgriinden vorweggenommen. Hier sind
ergänzend einige Präzisierungen, Erläuterungen und Begründungen vorzu-
nehmen.
Nimmt man Bezug auf die inzwischen allgemein akzeptierte — was nicht
heißt: einwandfrei verständliche und klare — Unterscheidung zwischen
„type" und „token", so dürfte es klar sein, daß hier „Satz" im Sinne des
Satztypus, nicht des Satzvorkommisses, verstanden wird — es sei denn, dies
wird explizit angegeben. Was der Satztypus ist, wurde von Quine gut
charakterisiert:
„Ein Satz ist kein einzelnes Äußerungsereignis, sondern ein Universale: ein
wiederholbares Klangmuster bzw. eine Norm, der man wiederholt nahe-
kommen kann." 33

Dieser Gesichtspunkt ist u. a. wichtig im Hinblick auf die (unten, im Rahmen


der Theorie der Proposition) zu behandelnde Frage, ob die oder eine
Sprache nur endlich viele oder abzählbar unendlich viele oder überabzählbar
unendlich viele Sätze hat. Die Tragweite dieser Frage für die hier anvisierte
Theorie der Wahrheit wird sich an entsprechender Stelle deutlich zeigen.

33 Quine [1960] S. 332.

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176 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

Wie im Abschnitt 2.1.2 gezeigt, ist die Semantik des Satzes als die Theorie
anzusehen, die den semantischen Wert des Satzes erklärt. Dabei wurde ein
dreifacher semantischer Wert unterschieden und herausgearbeitet: der seman-
tisch-informationale, der semantisch-funktionale und der semantisch-dimen-
sionale Wert. Die Einsicht, daß Sätze „Information" kodieren, d. h. bein-
halten und vermitteln, ist wesentlich und es ist nicht zu sehen, wie sie
ernsthaft in Frage gestellt werden kann. Freilich besagt das nicht, daß sie
nicht faktisch bestritten wird; im Gegenteil: Jede Konzeption, die etwa im
Anschluß an den — so oder so interpretierten — späten Wittgenstein Sprache
ausschließlich als „Spiel" und Bedeutung als „Gebrauch" o. ä. versteht, hat
zumindest Schwierigkeiten, so etwas wie den semantisch-informationalen
Wert anzuerkennen und vor allem ihn in die Gesamttheorie angemessen
einzubeziehen. Doch auf eine Auseinandersetzung mit solchen Richtungen
muß hier verzichtet werden. Als terminologische Festlegung soll der se-
mantisch-informationale Wert des Satzes Proposition genannt werden, wo-
bei von diesem Ausdruck bis zur Entwicklung der Theorie der Proposition
alle in der philosophischen Literatur zu findenden Konnotationen zu diesem
Begriff fernzuhalten sind. Dieser Hinweis ist deshalb sehr wichtig, weil
gerade hinsichtlich des Themas „Proposition" oft die größten terminologi-
schen und sachlichen Konfusionen festgetellt werden können. Entsprechend
erweisen sich die meisten Diskussionen über dieses Thema als außerordent-
lich konfus und damit als unergiebig.
Von seiner Struktur und seinem Stellenwert her ist der semantisch-
informationale Wert als der direkte Wert des Satzes oder auch als die Basis
oder der Bezugspunkt für die Bestimmung der anderen semantischen Werte
zu begreifen. Es ergibt sich folgende Konstellation:

(i) Der direkte oder semantiscb-informationale Wert des Satzes ist die Propo-
sition.

(ii) Hinsichtlich des semantisch-funktionalen Wertes sind zwei Formen zu un-


terscheiden:

(ii —i) Der funktional-linguistische Wert des Satzes ist eine Funktion von Kon-
texten der Äußerung des Satzes in den direkten semantisch-informationalen
Wert, d. h. in die Proposition.

(ii—ii) Der funktional-systematische Wert des Satzes ist die Intension des direkten
oder semantisch-informationalen Wertes (d. h. der Proposition) und (indi-

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3.4 Elemente einer Theorie des Satzes 177

rekt oder vermittelt) des Satzes selbst; die Intension ist eine Funktion, die
jeder möglichen Welt die Extension (im Sinne von (iii)) des direkten oder
semantisch-informationalen Wertes (und damit indirekt des Satzes selbst)
zuordnet.

(iii) Der semantisch-dimensionale Wert des Satzes ist die Extension des seman-
tisch-informationalen Wertes des Satzes (man kann auch — verkürzt — von
der Extension des Satzes selbst, d. h. des Satzes als einer linguistischen
Entität, sprechen). Die Extension ist die Menge der (möglichen) Welten, zu
denen der direkte semantisch-informationale Wert, d. h. die Proposition,
als Mitglied gehört oder in denen die Proposition „besteht" bzw. in denen
der Satz „wahr" ist.
Besagt (iii), daß Frege und die an ihn anknüpfenden Philosophen und
Logiker die richtige These vertreten, wenn sie sagen, daß die „Bedeutung"
(Frege) oder der „Referent" des Satzes der Wahrheitswert (das Wahre bzw.
das Falsche) ist? Das kann so nicht gesagt werden, wie die Ausführungen
über das „slingshot"-Argument im Abschnitt 3.4.2 gezeigt haben. Insbeson-
dere ist auf folgenden Umstand hinzuweisen: Die meisten Autoren, die heute
die These vertreten, daß der Referent des Satzes der Wahrheitswert ist,
lehnen Freges „Gedanken" (d. h. den „Sinn" des Satzes) ab; aber für Frege
wäre die Identifikation der „Bedeutung" (d. h. des Referenten oder der
Extension) des Satzes mit dem Wahrheitswert bei gleichzeitiger Ablehnung
des „Sinnes" des Satzes (d. h. des Gedankens) sinnlos und unverständlich.
Schon aus diesem Grunde sind vorschnelle Kombinationen von bestimmten
Theorien oder gar Identifikationen der einen Theorie mit der anderen mit
größter Vorsicht zu betrachten.
Immerhin läßt sich schon jetzt folgendes sagen: Die Formulierung ,Die
Extension des Satzes bzw. des semantisch-informationalen Wertes des Satzes
ist die Menge der (möglichen) Welten, in denen der Satz wahr ist' ist zwar
nicht sinnlos oder falsch, wohl aber ziemlich unbestimmt; denn was heißt
es zu sagen: ,ein Satz ist wahr in einer (möglichen) Welt'? Man läuft hier
leicht Gefahr, sich im Kreise zu drehen, d. h. nichts zu erklären. Wenn
der Ausdruck ,Wahrheitswert' „objektiv", d. h. als Bezeichnung für die
(Menge der) Welt(en) im Sinne von „Totalität(en) bestehender Propositio-
nen" genommen wird, so ist nach (iii) die Extension dasselbe wie der
Wahrheitswert. Es ist aber ersichtlich, daß etwa Frege seine These nicht
in diesem Sinne verstanden haben kann, da er eine völlig andere Ontotogie
voraussetzt und außerdem den Satz als Eigennamen mit einer „Bedeutung"

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178 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

(einem „Referenten"), den „Objekten" „das Wahre" bzw. „das Falsche",


deutet. 34
Im Sinne der oben eingeführten Terminologie könnte (es ist zu betonen:
könnte) man sagen: die Wahrheit der Proposition (also des semantisch-
informationalen Wertes des Satzes) ist gleichzusetzen mit der Intension (im
oben festgelegten Sinne) der Proposition. Die Intension der Proposition
ist eine „Qualifikation", der die Proposition unterzogen wird; durch diese
Qualifikation erhält sie ihre Letztbestimmtheit überhaupt. Da die Intension
eine Funktion ist, könnte man folgende Ausdrucksweise einführen: die
Wahrheit der Proposition im Sinne der letztbestimmenden Qualifikation
der Proposition ist die „Wahrheitsfunktion" (gleichgesetzt mit der „Inten-
sion"); der Funktionswert der so gedeuteten Intension ist der Wahrheitswert
im Sinne der erläuterten Extension der Proposition. Hier erhält der Aus-
druck .Wahrheitswert' einen objektiv-extensionalen Sinn: „Wahrheitswert"
ist dann identisch mit der Menge jener (möglichen) Welten (als der Totali-
täten bestehender Propositionen), zu denen die als wahr qualifizierte Pro-
position gehört. Man kann sich dann so ausdrücken: eine Proposition ist
wahr, wenn es eine Intension gibt, die jeder (möglichen) Welt eine Extension
der Proposition als (Wahrheits-)Wert zuordnet. Dies ist eine Explikation
der folgenden Formulierung: eine Proposition ist wahr, wenn es (mögliche)
Welten gibt, so daß sie ein „Bestandteil" (oder Element) dieser Welten ist.
Dies ist eine erste allgemeine Formulierung der wahrheitstheoretischen
Konzeption, deren Grundlagen in diesem Buch erarbeitet werden sollen. 35
Es dürfte leicht einleuchten, daß solche Formulierungen nur dann einen
nicht-vagen, sondern bestimmten, verständlichen und erklärenden Sinn
haben, wenn deren ontologische Implikationen bzw. Voraussetzungen nicht
im Dunklen gelassen, sondern genau expliziert werden. Dies soll in den
beiden nächsten Abschnitten geleistet werden.

[3] Die dritte Strukturdimension des Satzes ist die pragmatische. Dazu soll
hier nur wenig gesagt werden (im Abschnitt 4.3, im Zusammenhang der
Frage nach dem Wahrheitsträger, soll darauf näher eingegangen werden).
Ohne die zumindest implizite Voraussetzung einer pragmatischen Kompo-

34 Vgl. dazu Frege [1892] S. 48:


„Jeder Behauptungssatz, in dem es auf die Bedeutung der Wörter ankommt,
ist...als Eigenname aufzufassen, und zwar ist seine Bedeutung, falls sie vorhanden
ist, entweder das Wahre oder das Falsche. Diese beiden Gegenstände usw."
35 Vgl. Abschnitt 4.4.

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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 179

nente wäre der Satz ein zwar syntaktisch und semantisch strukturiertes, aber
in einer fundamentalen Hinsicht völlig im Unbestimmten gelassenes Zei-
chengebilde.
Die gemeinte Hinsicht kann so charakterisiert werden: Angesichts eines
nur syntaktisch und semantisch bestimmten (strukturierten) Zeichengebildes
drängen sich sofort Fragen der folgenden Art auf: Was kann oder soll damit
geschehen? Was kann oder soll damit angefangen werden? Solche Fragen
sind Anzeigen einer dem ausschließlich syntaktisch und semantisch struk-
turierten (bestimmten) Satz anhaftenden Unbestimmtheit. Es ist leicht zu
zeigen, wie sie aufgehoben werden kann, dadurch nämlich, daß Antworten
wie die folgenden gegeben werden: der Satz (als syntaktisch-semantisch
strukturiertes Zeichengebilde) kann (soll) geäußert werden, und zwar indem
er bejaht, angenommen, behauptet, angezweifelt, bewiesen, verteidigt usw. wird.
M. a. W.: die Fragen werden unter Hinweis auf bestimmte Handlungen be-
antwortet, die in Verbindung mit den Sätzen qua syntaktisch-semantischen
Zeichengebilden vollzogen werden. Bekanntlich werden solche Handlungen
in der Gegenwart „illokutionäre Akte" genannt. Darüber gibt es eine
ausgedehnte Literatur, auf die hier zunächst nur verwiesen werden kann. 36
Die Frage, wie das Verhältnis der drei genannten Ebenen zueinander zu
bestimmen ist, ist eine weitreichende Frage. Es war unvermeidlich, daß in
den obigen Ausführungen auch einige Aspekte dieses Verhältnisses ange-
sprochen wurden. Im Mittelpunkt einer voll entwickelten Theorie über
diesen Zusammenhang müßte vermutlich die These stehen, daß zwischen
den drei Dimensionen/Ebenen strenge (sogar l-l-)Entsprechungen bestehen.
Aber über diese Andeutung hinaus soll diese Thematik hier nicht verfolgt
werden.

3.5 Gruncteüge einer Theorie der Proposition


(des Verhalts)

3.5.1 Voraussetzungen und Leitprinzip

Die kurze Darstellung der wichtigsten Propositionstheorien der Gegenwart


im ANHANG 1 macht deutlich, wie schwer die Aufgabe ist, Klarheit über
die mit diesem Begriff in welcher Weise auch immer anvisierte Thematik zu

36 Vgl. dazu bes. Searle/Vanderveken [1985].


1 Vgl. ANHANG, 6.2.3, 6.2.4 und 6.2.5.

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180 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

schaffen. Aber die Aufgabe erscheint nicht unmöglich. Ausgehend von den
bisher erzielten Ergebnissen sollen zunächst in diesem Abschnitt einige
Voraussetzungen und ein Leitprinzip formuliert werden.

[1] Der adäquate Ansatz zu einer Theorie der Proposition ist nicht die
Annahme, daß Propositionen (die) Objekte von intentionalen oder eben
„propositionalen" Einstellungen oder (primäre oder sekundäre) Wahrheits-
träger sind. Die meisten Diskussionen über Propositionen gehen von einer
dieser Annahmen, oft von beiden, aus und verwickeln sich dann in nicht
mehr zu entwirrende Unklarheiten. Der hier gewählte Ansatz basiert auf
der Einsicht, daß die Proposition ein wesentlicher Bestandteil der Theorie
des Satzes ist, wobei gleich anzufügen ist, daß die Proposition eben nicht
identisch ist mit der „Bedeutung" des Satzes (was immer das sein mag), wie
besonders Quine bei seiner Ablehnung von Propositionen als selbstverständ-
lich annimmt bzw. voraussetzt. 2 In ihrem primären Sinn betrifft die Pro-
position den Informationsgehalt oder den informationalen Wert des Satzes.
Das hat zur unmittelbaren Konsequenz, daß über Propositionen grund-
sätzlich bzw. primär nicht im Rahmen einer Theorie über die sog. „propo-
sitionalen" Einstellungen und über die Wahrheitsträger entschieden werden
kann. Propositionen sind Entitäten, denen ein ursprünglicherer und fun-
damentalerer Platz in einer Gesamttheorie einzuräumen ist. Probleme, die
mit bestimmten Aspekten der sog. „propositionalen" Einstellungen gegeben
sind, werden damit weder geleugnet noch unterdrückt; es soll nur gesagt
werden, daß der primäre Ort für die Behandlung der Propositionsthematik
der Satz und nicht das Phänomen der „propositionalen" Einstellungen oder
die Ebene der Wahrheitsträger ist.

[2] Die Proposition wird im Rahmen des im folgenden zu entwickelnden


Ansatzes nicht mit einer Menge möglicher Welten bzw. mit einer Funktion
von der Menge der möglichen Welten in die Wahrheitswerte „wahr" und
„falsch" (bzw. {0, 1}) identifiziert. An dieser Stelle seien nur zwei Gründe
erwähnt, die gegen eine solche Konzeption sprechen.
(i) Die Identifizierung der Proposition mit einer Menge möglicher Welten
ist kontraintuitiv. 3 Auch wenn dieser Gesichtspunkt nicht ohne weiteres als
stichhaltiges Argument betrachtet werden kann, kommt ihm insofern ein

2 Vgl. ζ. B. Quine [1970] Kap. 1 u. ö.; vgl. aber S. 12.


3 Vgl. dazu u. a. Bealer [1982] S. 46.

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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 181

großes Gewicht zu, als die Frage zu klären ist, ob die „Erklärung" eines
bestimmten Ausdrucks bzw. Begriffs den Intuitionen, die mit der Verwen-
dung des Ausdrucks bzw. Begriffs verbunden sind, überhaupt Rechnung
tragen muß oder nicht. Es könnte geschehen, daß die vorgelegte „Erklä-
rung" eines Ausdrucks/Begriffs mit diesen Intuitionen nichts zu tun hat; in
diesem Fall hätte man einfach einen bestimmten Ausdruck auf der Basis
einer rein stipulativen Definition eingeführt, womit das Problem nicht
geklärt wäre, was der betreffende Ausdruck, so wie er sonst intuitiv ver-
wendet wird, bedeutet, (ii) Ein zweiter Grund kann Stichhaltigkeit bean-
spruchen. Die Identifikation der Proposition/Proposition (im Sinne des
informationalen Wertes des Satzes) mit einer Menge möglicher Welten bzw.
einer Funktion über einer solchen Menge hat inakzeptable Konsequenzen.
Scott Soames hat diese Beweisführung in mehreren Aufsätzen vorbildlich
durchgeführt, weshalb hier darauf nicht weiter eingegangen wird. 4 Soames
befürwortet einen „Russellschen" Begriff der Proposition (im Sinne der
„singulären Proposition"). 5

[3] Aus der Ablehnung der Identifikation der Proposition/Proposition mit


einer Menge möglicher Welten bzw. mit einer Funktion über einer solchen
Menge darf nicht gefolgert werden, daß die von der Semantik der möglichen
Welten eröffnete Perspektive und behandelte Thematik nicht zu berücksich-
tigen sind. Im Gegenteil: der durchzuführende Ansatz basiert auf der Uber-
zeugung, daß ein Propositionsbegriff, der der Problematik der möglichen
Welten nicht Rechnung trägt, heute kaum noch verteidigbar ist. Aber
„Rechnung tragen" ist nicht dasselbe wie „Gleichsetzung". Der semantisch-
informationale Wert des Satzes ist die Proposition als eine Entität sui generis,
die auf eine Funktion oder Menge möglicher Welten nicht reduzierbar ist.
Aber diese Entität hat eine bestimmte Funktion, die nur unter Einbeziehung
der möglichen Welten bestimmbar ist. Um dies auszudrücken, wird folgende
Terminologie eingeführt: die Proposition hat eine Intension (nicht aber ist
sie mit der Intension zu identifizieren); diese Intension ist eine Funktion
über der Menge der möglichen Welten und sie bestimmt die Extension der
Proposition. Diese Zusammenhänge müssen sorgfältig herausgearbeitet
werden.

4 Vgl. Soames [1985], [1987a], [1989],


5 Vgl. ANHANG 6.2.4.

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182 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

[4] Um die Proposition als Entität sui generis zu erklären, muß auf das
Kontextprinyip gemäß seiner starken (molekularen) Version rekurriert wer-
den. Das bedeutet hier zunächst, daß alle Konstituenten des Satzes streng
(oder ursprünglich) propositional gedeutet werden müssen. Doch was heißt
es, den singulären Term und das Prädikat streng propositional zu deuten?
Es genügt nicht zu sagen, daß singulärer Term und Prädikat irgendwie zur
Proposition beitragen. Auf diese Weise erhält man den Begriff der singulären
Proposition, d. h. eines Komplexes, bestehend aus dem (realen) Objekt, auf
welches der singuläre Term referiert, und dem durch das Prädikat bezeich-
neten Attribut. Es kann nun nicht gesagt werden, daß der singuläre Term
und das Prädikat hier streng propositional begriffen werden; stellen sie
doch selbst die Voraussetzungen für die Bildung der (singulären) Proposition
dar. Soll der singuläre Term bzw. das Objekt, auf welches er referiert, streng
propositional im hier intendierten Sinne erklärt werden, so heißt das, daß
der semantisch-informationale Wert des singulären Terms selbst allererst
durch einen Satz ausgedrückt wird: der singuläre Term selbst muß proposi-
tional aufgefaßt werden. Nun ist es offensichtlich, daß der singuläre Term,
nimmt man ihn, wie er sich zunächst präsentiert, kein Satz ist und somit
keine Proposition ausdrückt. Soll der singuläre Term dennoch streng pro-
positional gedeutet werden, so muß er als singulärer Term eliminiert, d. h.
umgedeutet, werden. Es sei hier an die Ausführungen über Quines Verfahren
der Elimination der singulären Terme unten im Abschnitt 3.5.2.3 verwiesen.

[5] Bekanntlich gibt es in der Philosophie Prinzipien, die man ontologische


Leitprin^ipien nennen könnte. Sie artikulieren Kriterien, denen die Annahme
von Entitäten zu genügen hat. Vielleicht sind in der Gegenwart keine
ontologischen Leitprinzipien so bekannt geworden wie Quines berühmte
Dicta: „No entity without identity" 6 und „To be is to be the value of a
[bound] variable." 7 Im allgemeinen ist allerdings zu sagen, daß die Existenz
und die Tragweite solcher Leitprinzipien bisher zu wenig erforscht wurden.
Die meisten Leitprinzipien haben einen eher allgemein-methodologischen
Charakter. Es ist aber nicht schwer einzusehen, daß die wichtigsten onto-
logischen Leitprinzipien einen fundamentaleren Charakter haben (sollten).
Ab und zu wird ein solches Prinzip — fast durchgehend en passant — von
dem einen oder anderen Philosophen formuliert. So findet man in einem
Aufsatz von Η. N. Lee über die Ontotogie Quines folgende Aussage:

6 Vgl. dazu ζ. B. Quine [1969] S. 37 u. ö.


7 Vgl. ζ. B. Quine [1966 a] S. 66 u. ö.

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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 183

„Only what is relatively stable and fundamental in the scheme of things


should be called an entity." 8

Im folgenden soll ein Leitprinzip formuliert werden, das letzterer Kategorie


zuzurechnen ist. Wollte man einen Slogan bilden, der den Stil der oben
zitierten Quineschen Slogans imitiert, so könnte man für das anvisierte
Leitprinzip die Formulierung vorschlagen: ,No entity without intelligibility.'
Was ist damit gemeint? Gemeint ist mehr und anderes als die Trivialität,
daß man Entitäten soz. nicht blind annehmen darf. Um den gemeinten
Sachverhalt zu erfassen und zu artikulieren, muß weiter ausgeholt werden.
Im übrigen ist das im folgenden zu erläuternde Leitprinzip als eine Kon-
kretisierung des im Abschnitt 2.3 vorgeführten Prinzips der maximalen
Intelligibilität zu verstehen.
In der Tradition der Philosophie wurden in der hier interessierenden
Perspektive vgvei Typen von Entitäten angenommen: (i) Entitäten, die —
zumindest prinzipiell — direkt begrifflich erfaßt werden (können), also Enti-
täten, die gerade den Gehalt des begreifenden Denkens, also das, was das
begreifende Denken erfaßt, ausmachen. Dazu gehören natürlich die „Be-
griffe" im objektiven Sinne. Dieser Ausdruck ist freilich außerordentlich
dunkel. Hier kann man kurz sagen: „Begriffe" sind Eigenschaften und
Relationen, also kurz: Attribute, und alle formalen Strukturen, (ii) In der
Tradition der abendländischen Philosophie wurden die soeben genannten
rein „deskriptiv-begrifflichen" Entitäten als „abstrakte Entitäten" im Sinne
von „Universalien" angesehen, was zur Konsequenz hatte, daß man einen
anderen, angeblich „fundamentaleren" Typus von Entität suchte und an-
nahm: Es handelte sich um eine solche Entität, der man die Entitäten des
ersten Typus, nämlich die Attribute, allererst „zuschreiben" konnte. Die
Entität im Sinne des zweiten Typus ist die Substanz, das Substratum, das
Hypokeimenon; es ist jene Entität, die allen Prädikationen, d. h. Zuschrei-
bungen von Attributen, „zugrunde liegt". Aristoteles hat die berühmte
Formel geprägt: ΤΙ ΚΑΤΑ ΤΙΝΟΣ, etwas 2 (wird) von etwasi (ausgesagt).
Die Substratum-Entität, das Etwasi, entzieht sich auf eigenartige Weise dem
begreifenden Denken: sie wird „erfaßt" nur, indem ein Etwas 2 ihr zu- oder
abgesprochen wird. Als solche aber ist sie nicht das oder ein Etwas, was
das Denken (direkt) erfaßt. Trotz ihres angeblich „metaphysikfreien" An-
satzes ist die moderne analytische Philosophie zutiefst von diesem Substra-

8 Lee [1986] S. 306.

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184 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

tum-Denken geprägt. Die unbekümmerte und völlig ungeklärte Rede von


„Objekten/Individuen" beweist es.
Natürlich kann man in vielerlei Hinsicht weitere Typen von Entitäten
unterscheiden, so besonders die folgenden: (iii) Zu nennen sind zuerst
begrifflich abgeleitete begrifflich-deskriptive Entitäten und begrifflich ab-
geleitete oder auf andere Weise (etwa aufgrund von Postulaten, Glaubens-
überzeugungen usw.) angenommene nicht-begrifflich-deskriptive Entitäten.
Zur ersten Art gehört beispielsweise ein komplexes Attribut, das nicht
unmittelbar oder direkt begrifflich erfaßt, sondern nur als Ergebnis eines
begrifflichen Prozesses, eines Beweises, abgeleitet wird. Zur zweiten Art
gehört jedes „Ding", jede „Substanz", das/die etwa nicht zum Bereich der
„Erfahrung" (was immer das sein mag) gehört (wie ζ. B. Gott), aber auf-
grund eines begrifflich-argumentativen Prozesses angenommen wird, (iv)
Zu nennen sind ferner Entitäten, die weder begrifflich-deskriptiv (wie die
Entitäten vom Typus (i)) sind und begrifflich-deskriptiv erfaßt werden
(können) noch „Substratum"-Charakter haben (wie die Entitäten vom Typus
(ii)), sondern die nur im Sinnenbereich „existieren", wie die sog. sekundären
Qualitäten, die Empfindungen, die Sinnesdaten usw. Um den Status dieser
Entitäten zu klären, wäre eine immense Arbeit zu leisten. Hinsichtlich der
Entitäten dieses Typus kann überall ein radikaler Kantianismus festgestellt
werden, der um so tiefer wirkt, als er meistens ganz unbemerkt bleibt. Doch
kann hier darauf nicht im einzelnen eingegangen werden, (v) Einen fünften
Typus von Entitäten bilden die „Artefakte", die „praktischen" und die
„ästhetischen" Entitäten, die ganz besonders schwierige Probleme aufwerfen.
Sind sie als begrifflich direkt erfaßbar zu betrachten? Dies soll hier nicht
entschieden werden. Hier soll vielmehr nur die Unterscheidung zwischen
Typus (i) und Typus (ii) berücksichtigt werden, da es sich hier — zumindest
zunächst — nur darum handelt, im theoretischen Bereich prinzipielle Klarheit
zu schaffen. Die Konsequenzen des aufzustellenden Leitprinzips für die
anderen Typen von Entitäten sind beträchtlich, doch sollen sie hier nicht
explizit aufgezeigt werden.
Jetzt kann das zunächst durch den Slogan ,No entity without intelligibility'
angedeutete Prinzip der ontologischen Intelligibilität so formuliert werden:
(POI) Eine philosophische Theorie darf nur prinzipiell intelligible Entitäten an-
nehmen, d. h. Entitäten, die einen unmittelbaren oder vermittelten begriff-
lichen Inhalt darstellen; alle anderen (die nicht-intelligiblen) Entitäten sind
auf intelligible zu reduzieren.

Wie sich zeigen wird, gehören dieses Prinzip und das Kontextprinzip eng-
stens zusammen; ja, es muß sogar gesagt werden, daß sie sich gegenseitig
implizieren.

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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 185

Damit sind einige der wichtigsten Annahmen und ein Leitprinzip im


Hinblick auf eine Theorie der Proposition genannt und erläutert worden.
Jetzt muß die Theorie selbst skizziert werden.

3.5.2 Grundbestimmung der Proposition (des Verhalts)


3.5.2.1 Der Ansatz: „Attribut" als die grundlegende intelligible Entität
„Attribut" 9 ist alles und jedes, was begriffen, verstanden, artikuliert usw.
werden kann. „Attribut" ist somit die grundlegende intelligible Entität, das
Intelligible selbst. Die sprachliche Form, als deren semantischer Wert es
erscheint, ist das Prädikat. „Attribut" meint sowohl Eigenschaft (den infor-
mational-semantischen Wert des 1-stelligen Prädikats) als auch Relation (den
informational-semantischen Wert des n-stelligen Prädikats). Ob man von
„Attributen" unabhängig von (zumindest potentiellen) Prädikaten sprechen
kann, ist eine Frage, die später zu stellen und zu klären ist.
Attribute werden traditionell als „Universalien" verstanden. Damit ist
gesagt, daß jeder Versuch, eine Theorie der Attribute zu entwickeln, sich
mit dem „Universalienproblem" auseinandersetzen muß. Doch ist anzumer-
ken, daß dieses berühmte Problem in Wahrheit nur der Name für eine ganze
Reihe von (Einzel-)Problemen ist. Schon aus diesem Grunde erscheint es
gerechtfertigt, nicht mit der Behandlung dieses Problems zu beginnen. Zu-
nächst muß eine Theorie der Attribute zumindest skizziert werden; es könnte
sich dann herausstellen, daß das sog. Universalienproblem sich von selbst
erledigt. 10
Der Ansatz zu der im folgenden zu skizzierenden Theorie liegt in der
Einsicht, daß es im Prinzip möglich ist, Attribute „als solche" durch min-
destens drei sprachliche Formen zu repräsentieren, die allerdings nicht gleich-
rangig und damit gleichadäquat sind, sondern einen jeweils höheren Grad
einer adäquaten Erfassung und Explikation der Attribute darstellen.
(i) Man kann das Attribut — erstens — so begreifen, daß man es als den
semantisch-informationalen Wert des vom Sat^ isoliert genommenen Prädikataus-
drucks betrachtet. Attribute werden dann als der semantische Wert solcher

9 Etymologisch und historisch betrachtet, ist dieser Ausdruck nicht ganz geeignet,
um das zu bezeichnen, was hier intendiert ist. Doch soll er dennoch verwendet
werden, schon aus dem Grund, weil kein geeigneterer Ausdruck zur Verfügung
steht.
10 Vgl. dazu die Ausführungen über die Identitätsbedingungen für Propositionen
am Anfang des Abschnitts 3.5.3.2.

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186 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

Ausdrücke wie .dreieckig', ,gerecht', .ableitbar' usw. verstanden. Das Attri-


but wird hier rein abstrakt (d. h. isoliert vom Satz) genommen. Es ist dann
ganz natürlich, dem Attribut als dem semantisch-informationalen Wert des
so betrachteten Prädikatausdrucks eine rein abstrakte sprachliche Form zu
geben. Im allgemeinen bildet man dann aus dem Prädikatausdruck einen
abstrakten Substantivausdruck, wie: ,Dreieckigkeit', .Gerechtigkeit', .Ab-
leitbarkeit', .Vaterschaft', .Pferdheit' u. ä. Das so verstandene Attribut soll
hier das abstrakt-unbestimmte Attribut oder die abstrakt-unbestimmte Form des
Attributs genannt werden.
Ist es sinnvoll, das Attribut „abstrakt", d. h. unter Nicht-Berücksichtigung
seines Vorkommens in einem Satz, erklären zu wollen? Wie leicht einzusehen
ist, widerspricht dies direkt dem Kontextprinzip. Daß das so erfaßte Attribut
zbsttzkt-unbestimmt ist, besagt soviel wie: es steht soz. im luftleeren Raum.
Aus dieser Verlegenheit haben manche Philosophen eine Tugend zu machen
versucht, indem sie das abstrakt-unbestimmte Attribut hypostasiert und in
eine Art platonischen Himmel projiziert haben. Unzählige Diskussionen
zwischen Platonisten und Nominalisten wurden auf dieser Basis geführt. Es
ist aber die Frage zu stellen, ob dieses Verständnis des Attributs adäquat ist.
Es deutet sich schon hier an, daß das sog. Universalienproblem — zumindest
in vielen seiner Formulierungen — aus falschen Voraussetzungen entspringt.

(ii) Eine zweite Weise, den Prädikatausdruck zu verstehen, besteht darin, ihn
mit der Kopula .ist' zu verbinden und ihm damit gemäß der sprachlichen
Form ,ist F' (,ist dreieckig', .ist gerecht', ,ist ableitbar', ,ist (ein) Pferd' usw.)
einen semantisch-informationalen Wert zuzuordnen. Es ist offensichtlich,
daß der Satz hier zwar nicht explizit genannt, aber dennoch nicht ganz
ignoriert wird: der Satz wird schon (so oder so) „anvisiert". Auf natürliche
Weise werden dann auf dieser Basis Ausdrücke mit der Endung ,-sein'
gebildet, um das so verstandene Attribut „als solches" zu bezeichnen:
.Dreieckigsein', .Ableitbarsein', .Gerechtsein', .Vatersein' u. ä. Das so erfaßte
Attribut könnte das abstrakt-halbbestimmte Attribut genannt werden. Es ist
abstrakt, weil es immer noch unter nicht ausdrücklicher Beachtung des Satzes
erfaßt bzw. artikuliert wird; aber es ist schon halbbestimmt, weil es die
„Tendenz" zu voller Bestimmtheit in sich schließt.

(iii) Eine dritte Form der sprachlichen Repräsentation des Prädikats berück-
sichtigt den Satz in einer Hinsicht, die hier programmatisch genannt werden
soll. Prädikate werden nach dieser Form identifiziert mit Satz-Rahmen oder
Satzformen der Gestalt: , (ist) dreieckig',, (ist) links von ...',
, (ist) ableitbar (aus)...', kurz: , F' bzw. , F 2 ...' oder ,F

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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 187

( )' bzw. ,F 2 (...,...)' usw. Diese Repräsentation erlaubt es nicht mehr, für
das Prädikat einen selbständigen Ausdruck zu bilden. Dieser Umstand ist
sehr bezeichnend, denn er macht deutlich, daß das Prädikat hier nicht mehr
isoliert vom Satz genommen wird. Dem so gedeuteten Prädikat wird ein
semantisch-informationaler Wert zugeordnet, dem man das Epitheton pro-
grammatisch-bestimmt geben kann; das entsprechende Attribut wäre das pro-
grammatisch-bestimmte Attribut zu nennen. Es ist bestimmt, weil dank dem
Kontextprinzip davon ausgegangen wird, daß semantische Bestimmtheit
ausschließlich im Rahmen des Satzes gegeben ist; aber es ist nur programmatisch-
bestimmt, weil noch völlig offen ist, wie die Leerstellen in dem Prädikataus-
druck zu füllen sind. Dies ist nun die für die hier darzustellende Theorie
die entscheidende Frage.
In der logischen und sprachphilosophischen Literatur findet man oft das
Prädikat als ,P(x)' repräsentiert. Natürlich ist das nicht falsch, nur muß
darauf geachtet werden, was damit ausgesagt und impliziert wird. ,x' wird
dabei als Individuenvariable verstanden und es wird oft gesagt, daß deren
Rolle nur die eines Platzhalters sei, um die Funktion von ,P' anzuzeigen.
Dies ist korrekt, nur wird damit schon vorausgesetzt, daß der Prädikataus-
druck ,P' auf einen Ausdruck appliziert wird, dem ein voll konstituiertes
Objekt/Individuum als Wert zugeordnet wird (oder, eher ontologisch ge-
wendet, daß das Attribut P* auf das Objekt/Individuum ο zutrifft, das als
Wert der Variablen ,x' genommen wird). Damit ist zwar eine Vollbestimmtheit
des Prädikats und — in einer bestimmten Hinsicht — auch des Attributs
gegeben, aber um den Preis, daß (der Begriff bzw. die Entität) Objekt/
Individuum völlig unanalysiert bzw. ungeklärt bleibt.
Dasselbe ist zum Vorschlag zu sagen, den Lambda-Funktor für die Re-
präsentation des Prädikats bzw. des Attributs zu verwenden. Beispiele:
,(Xx)(Fx)' ( = die Eigenschaft ,(ein-)F-zu-sein'), ,(Xx)(Rx,x)' ( = die Eigen-
schaft ,in-der-R-Relation-zu-sich-selbst-zu-stehen'), ,(λχ)(λγ)[ (3z)(R(x,z)
Λ R ' ( z , y ) ) ] ' (Beispiel: die Eigenschaft ,der-Vater-der-Mutter-von-zu-sein').
Es ist klar, daß auch hier Attribute nur im Hinblick auf schon so oder so
als vollkonstituiert vorausgesetzte Objekte/Individuen bestimmt werden.
Wird diese Voraussetzung nicht gemacht und statt dessen versucht, den
singulären Term (bzw. die Individuenvariable) und das dadurch bezeichnete
Objekt/Individuum streng vom Satz her, also prepositional, zu verstehen,
so kann man in der Theorie des Satzes, in der Theorie des Attributs und in
der Theorie der Proposition von der Gestalt , F' bzw. ,F( )' nicht
gleich zu ,F(x)' im erläuterten Sinne übergehen. Eine fundamentale Etappe
wäre hier übersprungen. Dies ist eine Feststellung, die als die vielleicht

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188 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

radikalste Kritik an den meisten logischen, semantischen und ontologischen


Konzeptionen der Gegenwart anzusehen ist. Worin besteht aber diese fun-
damentale Etappe?

3.5.2.2 Propositionen (Verhalte) als bestimmte (realisierte) Attribute

In den weiteren Ausführungen sollen die Ausdrücke proposition' und


.Verhalt', die nach der getroffenen Festlegung als synonyme Ausdrücke
verstanden werden, (weiterhin) nebeneinander verwendet werden. Manch-
mal wird allerdings der Kontext entscheiden, ob sich die Verwendung des
einen oder des anderen Ausdrucks empfiehlt. In dem Maß aber, in dem die
hier vertretene Theorie Gestalt annimmt, wird dem Ausdruck .Verhalt' der
Vorzug gegeben.

[1] Aus dem bisher Ausgeführten ergibt sich unmittelbar die wichtige
Konsequenz: Wenn der Satz im Sinne der strengen Version des Kontext-
prinzips das primäre und zentrale Sprachgebilde und das Attribut die fun-
damentale (im Sinne von: ausschließliche) intelligible Entität ist, so ist ,x'
in ,P(x)' als Individuenvariable allererst vom Satz, d. h. hier zunächst: von
,P', her, nicht hingegen unabhängig davon zu deuten; entsprechend: das
Objekt/Individuum, das als Wert von ,x' genommen wird, darf nicht mehr
unabhängig vom Attribut, das durch ,P( )' angezeigt wird, vorausgesetzt
werden. ,P(x)' hat daher einen abgeleiteten, sekundären Charakter. Man muß
eine Stufe zurückgehen und bei ,P( )' ansetzen. „Ansetzen" heißt aber
nicht: dabei stehen bleiben. ,P( )' muß vielmehr bestimmt werden. Wie
kann das erreicht werden, ohne daß man gleich die Bestimmtheitsgestalt
,P(x)' oder gar ,P(a)' (wobei ,a' ein Individuenparameter oder eine Indivi-
duenkonstante im gewöhnlichen, oben erläuterten Sinne ist) als die nächste
Bestimmtheitsgestalt einführt?
Wenn man alle genannten Restriktionen bzw. Aufgaben streng beachtet,
so ergibt sich, daß dasjenige, was in der Formel ,P( )' in die Klammern
eingesetzt ist (oder werden soll), also das, was gewöhnlich Instant oder
Argument u. ä. genannt wird, zwar ein von ,P' verschiedenes Zeichen sein
kann bzw. muß, daß sich aber die Interpretation (der Wert) dieses Zeichens
von der Interpretation (dem Wert) von ,P* nicht in gleicher oder ähnlicher
Weise unterscheidet wie sich ,P' und ,x' in ,P(x)' (hinsichtlich ihres jeweiligen
Wertes bzw. ihrer jeweiligen Interpretation) unterscheiden. Die Frage: „Wo-
durch wird ,P' bestimmt?" ist eine zweideutige, ja irreführende Frage. Wie
dies zu verstehen ist, soll im folgenden gezeigt werden.

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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 189

[2] Zunächst soll der zentrale Gedanke der hier zu vertretenden Konzeption
möglichst intuitiv dargelegt werden. Daß ,P( )' bestimmt wird, heißt, daß
Ρ „vorkommt", „stattfindet" o. ä.; damit ist ein Bereich impliziert, in dem
dies geschieht. Da aber der Bereich intelligibel sein muß, da nur das Attribut
intelligibel ist und da es viele Attribute gibt, muß der Bereich als vielfaltig
durch „in ihm vorkommende" (ihn „ausmachende" oder ihn „darstellende")
Attribute bestimmt konzipiert werden. Der Bereich ist bestimmt, indem
Attribute in ihm „vorkommen" oder in ihm „realisiert" sind; umgekehrt
sind die Attribute dadurch bestimmt, daß sie in einem Bereich vorkommen.
Dies heißt aber nicht, daß sie „auf etwas zutreffen", so daß ein solches etwas
vorausgesetzt werden müßte. Alles, was „im" Bereich „ist", „vorkommt",
kurz: die ganze „Bestimmtheit" des Bereichs, ist ausschließlich durch die
Attribute gegeben.
Ungeachtet einer gewissen Gefahr eines sich leicht einstellenden Mißver-
ständnisses kann man diesen Grundgedanken auch so darstellen, daß man
einen Bereich D annimmt und ihn mit „Stellen" ausgestattet denkt. Diese
„Stellen" (oder „Punkte") sind nur die Indizes oder Anzeigen für Bestimmt-
heiten. Wenn die Bestimmtheiten nur durch die Attribute gegeben sind, so
heißt das, daß die Stellen durch Attribute „besetzt" sind. Hier ist nun große
Vorsicht geboten, um nicht den Verführungen der Vorstellung zu erliegen:
Wenn man sagt, daß ein Attribut dadurch bestimmt ist, daß es „in" einem
Bereich D vorkommt, und daß es dadurch vorkommt, daß es eine „Stelle"
des Bereichs D „besetzt", so darf das nicht so verstanden werden, als ob
der Bereich D mit seinen „Stellen" schon irgendwie bestimmt vorläge, bevor
diese Stellen durch Attribute „besetzt" werden. Die „Stelligkeit" des Bereichs
D ist nur ein Repräsentationsmittel, um die vielgestaltige Bestimmtheit des
Bereichs allein durch Attribute darzustellen. Zwischen „Attribut" und
„Stelle(n)" gibt es keine Beziehung wie zwischen ,P' und ,x' oder ,a' in
,P(x)' bzw. ,P(a)'. Eher müßte man sagen: das Attribut ist als Stelle bestimmt;
die Stelle ist eine solche nur als bestimmtes Attribut.
Wenn also mit dem Ausdruck ,Stelle (Stelligkeit)' des Bereichs D ein
gewisses Prius bezüglich des Attributs nahegelegt wird, so ist das nur durch
die Darstellungstechnik bedingt und nur für die Darstellung bestimmt.
Schon hier sei angedeutet, daß man in gewisser Hinsicht von einem Posterius
hinsichtlich der Attribute sprechen kann. Wenn man nämlich, wie oben
geschehen, den Bereich D als durch Attribute allein bestimmt konzipiert,
so sollte dies nicht so verstanden werden, daß die Attribute sozusagen als
eine (unendliche) Menge oder Reihe isolierter Bestimmtheiten oder Punkte
„vorkommen"; im Gegenteil: zumindest im Hinblick auf (unsere) wirkliche

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190 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

Welt wird unten zu zeigen sein, daß sie allererst in, genauer als „Konfigu-
rationen" bestimmt sind. Als eine ganz bestimmte (fundamentale) Form von
Konfiguration wird sich das Individuum (im prägnanten Sinne dieses Wor-
tes) herausstellen.
Beachtet man streng alle Vorsichtsmaßnahmen hinsichtlich möglicher
Mißverständnisse, so kann das bestimmte Attribut im erläuterten Sinne, also
als in einem Bereich D „vorkommend", dadurch sprachlich artikuliert wer-
den, daß man anstelle der Individuenvariablen (bzw. -parameter bzw. -kon-
stanten) einfach „Stellen"- (oder Punkte-)Variablen (bzw. -Parameter bzw.
-Konstanten) einführt. Im folgenden sollen für solche Stellen-Variablen die
griechischen Kleinbuchstaben ,μ', ,ν', ,μχ\ ,Vi'..., für Stellenparameter ,μ',
,ν', ,μ,', ,ν,'..., und für Stellenkonstanten ,μ', ,ν', ,μ,*, ,v, £ ... verwendet
werden. Es ergeben sich dann Satzformen bzw. Sätze wie: ,Ρ(μ)\
,p n (v,,...V n )', ,Ρ(μ)', ,Ρ(μ)' usw. Dies bedeutet: diese Satzformen bzw. Sätze
drücken ein bzw. das entsprechende(s) Attribut an einer bzw. der entspre-
chenden Stelle aus; ein/das Attribut „besetzt" eine/die Stelle; so und nur so
ist ein/das Attribut bestimmt oder realisiert.
Damit ist aber das bestimmte oder realisierte Attribut noch nicht ange-
messen erklärt. Daß das Attribut „an" einer oder genauer als eine Stelle
„realisiert" oder „bestimmt" wird, setzt voraus, daß die Stelle zu einem
Bereich D gehört. Dieser Gesichtspunkt muß noch herausgearbeitet werden.
Der Bereich wird in der hier entwickelten Konzeption eine zentrale Rolle
spielen, allerdings unter einer anderen Bezeichnung, nämlich ,Welt\ Im
allgemeinen gehen die meisten, traditionell orientierten, Logiker, Semantiker
und Ontologen davon aus, daß es eine Welt gibt, die sog. reale Welt, die
Welt der existierenden Dinge. Die Semantik der möglichen Welten hat gezeigt,
daß man hier viel differenzierter denken muß; es reicht nicht mehr aus, nur
von der Welt zu sprechen; die Problematik einer Pluralität von Welten muß
ernst genommen werden. Ein diesbezüglicher Klärungsversuch soll unten
im Abschnitt 3.6.2 unternommen werden. Hier ist diese Möglichkeit im
Hinblick auf die nähere Bestimmung des Begriffs der Proposition und ihrer
adäquaten formalen Repräsentation zu berücksichtigen.
Bestimmt oder realisiert ist ein Attribut nur dadurch, daß es zu einer Welt
gehört. Damit ist eben der Rahmen angegeben, der es allerst ermöglicht,
von Bestimmtheit oder Realisiertheit zu sprechen. Diesem fundamentalen
Gesichtspunkt kann notational zunächst dadurch Rechnung getragen werden,
daß Satzausdrücke wie ,Ρ(μ)' durch Bezug auf Welt(en) mit Hilfe von
entsprechenden Welt-Variablen (,w', ,w,'...), Welt-Parametern (,w*', ,w,*'...)
und Welt-Konstanten (,w + '...) näher bestimmt werden. Es ergeben sich

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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 191

dann Satzausdrücke wie ,Ρ(μ„.)', wodurch die Realisierbarkeit eines Attributs


an einer Stelle in einer Welt w* ausgedrückt wird.
Ein weiterer präzisierungsbedürftiger Punkt betrifft den genauen Status
der Stellen (-variablen, -parameter, -konstanten). Syntaktisch gesehen haben sie
in den oben eingeführten Ausdrücken den Status von (Quasi-)singulären
Termen, während den Prädikatbuchstaben bzw. -variablen der Status von
Prädikaten erster Stufe zuzuschreiben ist. Man könnte auch umgekehrt ver-
fahren, und zwar in Analogie zu einem unten (Abschnitt 3.5.3.1) darzustel-
lenden Vorschlag von Nusenoff (der seinerseits auf eine Aussage Freges
zurückgreift), demzufolge die einem partikular-quantifizierten positiven Satz
entsprechende Proposition als ein geordnetes Paar bestehend aus dem Prä-
dikat und der Verneinung (dem Komplement) der Nullzahl repräsentiert
werden kann. Nusenoff deutet die Nullzahl als ein Prädikat zweiter Stufe
und das „normale" Prädikat als ein Prädikat erster Stufe. In der hier
entwickelten Konzeption entspricht dem Begriff der Nullzahl der Begriff
der Stelle(nzahl). Da nun den Stellen variablen eine ganz besondere Deutung
gegeben und da im allgemeinen eine ganz andere Semantik (und Ontologie)
als die übliche Interpretationssemantik (und Objektontologie) vertreten
wird, ist es für die hier entwickelte Auffassung nicht von entscheidender
Bedeutung, ob man die „Stellenausdrücke" als Prädikate erster oder zweiter
Ordnung betrachtet, obzwar die Perspektiven nicht identisch sind, was in
bestimmten Zusammenhängen doch von Bedeutung sein kann. In einer
bestimmten Hinsicht erweist sich die zweite Perspektive, dergemäß die
Stellenausdrücke als Prädikate zweiter Stufe verstanden werden, als ad-
äquater; sie stellt nämlich den Gesichtspunkt der Welt in den Vordergrund,
so daß dann ein realisiertes/bestimmtes Attribut gedeutet werden kann als
ein Attribut mit der Qualifikation (Prädikat zweiter Stufe!), daß es an-einer-
(oder: als-eine-)Stelle-in-einer-Welt-realisiert ist. Wie leicht zu sehen ist, hängt
die Klärung dieser Frage mit der Klärung des Begriffs der Welt engstens
zusammen.
Betrachtet man die Stellenausdrücke als Prädikate zweiter Stufe, so er-
halten die Satzgebilde, durch die realisierte Attribute artikuliert werden,
folgende Gestalt: ,μ„,·(Ρ)', ,μ„+(Ρ)' u. ä. Der semantisch-informationale Wert
von Satzausdrücken der genannten Art sind Entitäten, die man „Proposi-
tionen"/„Verhalte", näherhin primäre (einfache) „Propositionen"/„Verhalte"
nennen kann. Dabei ist natürlich zwischen „Satzform", d. h. Satzausdrücken
mit freien Variablen, und (geschlossenen) Sätzen, d. h. Satzausdrücken ohne
freie Variablen, zu unterscheiden.

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192 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

3.5.2.3 Primäre und sekundäre, allgemein bestimmte


und vollbestimmte Propositionen/Verhalte und Sätze
[1] Es hat sich herausgestellt, daß die adäquate Form der Darstellung des
bestimmten oder realisierten Attributs Ausdrücke der soeben genannten Form
sind. Diese Ausdrücke sind mehr als Prädikatausdrücke, sie haben eindeutig
Satzcharakter. Man kann diesen Sachverhalt auch so erklären, daß man sagt:
die adäquate oder bestimmte Fassung des Prädikatausdrucks ist der Satzaus-
druck. Dies ist einerseits eine direkte Konsequenz des Kontextprinzips,
andererseits eine beachtenswerte Bestätigung der Tragweite dieses Prinzips.
Es hat sich auch gezeigt, daß es einen grundlegenden Unterschied zwi-
schen Satzausdrücken der Form ,P(/iw.)' oder ,Ρ(μ„.)' u. ä. und Satzaus-
drücken der Gestalt ,P(x)' oder ,P(a)' u. ä. gibt und worin dieser Unterschied
besteht. Satzausdrücke der ersten Form sollen kurz primäre Sät^e (wenn die
Variablen frei sind: primäre Satzformen), Satzausdrücke der zweiten Form
sekundäre Sät^e (bzw. sekundäre Satzformen) genannt werden. Der seman-
tisch-informationale Wert der primären Sätze ist die primäre Proposition,
der semantisch-informationale Wert der sekundären Sätze ist die sekundäre
Proposition. Primäre Sätze drücken eine Proposition aus, die (noch) kein
als schon vollkonstituiert vorausgesetztes Objekt oder Individuum als Kom-
ponente enthält. M. a. W.: sie drücken nicht jene Art von Proposition aus,
die darin besteht, daß auf ein X (Objekt) ein Attribut zutrifft; vielmehr ist
die Proposition, die sie ausdrücken, einfach ein bestimmtes oder realisiertes
Attribut. In welche Konfigurationen eine solche primäre Proposition (Verhalt)
eingeht, ist eine weitere Frage. Vollkonstituierte Objekte/Individuen sind
solche Konfigurationen von primären Propositionen (Verhalten) (vgl. unten
3.5.4.2).

[2] Zu fragen ist an dieser Stelle, ob es solche primären Sätze in der


natürlichen Sprache überhaupt gibt. Darauf ist eine doppelte Antwort zu
geben. Erstens: es gibt Sätze, die Quine von einer behavioristischen Per-
spektive aus „Gelegenheitssätze (occasion sentences)"11 nennt und die den
primären Sätzen im erläuterten Sinne zumindest sehr nahe kommen oder
sogar, wenn man sie richtig deutet, als Beispiele für primäre Sätze aufgefaßt
werden können. Es sind Sätze wie: ,Es regnet', ,es ist windig', ,es ist Milch',
,es weihnachtet (gar sehr)', aber auch ,Mama' u. ä. Zweitens: eine theoretisch
geläuterte und orientierte Sprache ist nicht einfach die gesprochene Sprache

11 Vgl. ζ. B. Quine [1981 a] Kap. 1.

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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 193

(vgl. dazu die Abschnitte 2.1.4 und 2.2). Es ist daher nicht verboten,
Ausdrucksweisen zu konstruieren, die sonst als unüblich angesehen werden.
Vor diesem Hintergrund läßt sich jetzt die aufgeworfene Frage so umfor-
mulieren: Wie sind primäre Sätze der oben angegebenen formalisierten Art
zu lesen? Es gibt im Deutschen dafür einen ausgezeichneten Ausdruck,
nämlich ,es verhält sich (so und so)'. Setzt man an die Stelle der Klammer
Pünktchen und füllt man sie mit einem Attributausdruck, so hat man eine
nicht-formalisierte, sondern „umgangssprachliche" Ausdrucksweise bzw.
Lesart für die formalisierten primären Satzausdrücke. Also: ,es-verhält-sich-
...(etwa: Ρ)', ζ. B.: ,es-verhält-sich-blau*. Hier ist kein Subjekt vorhanden,
dem ein Attribut zugeschrieben oder auf welches es zutreffen würde. ,Es'
ist ein rein grammatikalisches Hilfswort, ohne jede semantische oder onto-
logische Bedeutung. Von hier aus gesehen dürfte auch einleuchten, daß die
Wahl des partiellen Neologismus ,Verhalt' gut begründet ist. 12

[3] Zur weiteren Verdeutlichung dieses ganzen Zusammenhangs ist es auf-


schlußreich, auf Quines Verfahren der Elimination singulärer Terme und auf
einige von ihm vorgeschlagene (und teilweise abgelehnte) Paraphrasierungen
bestimmter Sätze einzugehen.

12 Eine bis zu einem gewissen Punkt ähnliche Konzeption vertritt Levinson [1978].
Er versteht Eigenschaften (Attribute) als „being-a-certain-way" or „being such
and such", was in die Paraphrasierung „being such that it " übersetzt werden
kann (vgl. a. a. O. S. 1, 6. Vgl. auch Levinson [1974]).
Eine gewisse Ähnlichkeit besteht auch zu einem von Bell [1986] vorgelegten
Entwurf einer „propositional logic as a logic of attributes". Bell schreibt:
„Let us think of attributes or qualities like .blackness', .hardness', .having positive
charge', etc. as being possessed bji or manifested over parts of a space (sometimes called
a manifold or field). [...] Each attribute is correlated with a proposition (more
precisely, a propositional function) of the form: , has the attribute in question.'
[...] Attributes may be combined by means of the logical operators Λ (and), ν
(or), —ι (not) to form compound or molecular attributes. The term .attribute' will
accordingly be extended to include compound attributes as well as primitive ones.
It follows that (symbols for) attributes may be regarded as the formulas of a
propositional language L — the language of attributes — and we shall use the terms
.attribute' and .formula' synonymously" (a. a. O. S. 86).
Was bei Bell „parts of a space" genannt werden, dürfte grundsätzlich dem
entsprechen, was in der in diesem Buch entwickelten Konzeption „(die) Stelle"
( , an der, oder genauer: als die, ein Attribut realisiert ist) genannt wird. Aber wie
vor allem der letzte Satz des Zitats zeigt, scheint Bell nicht genug zwischen Sätzen
(Formeln) und den durch sie ausgedrückten „attributes as being possessed by or
manifested over parts of a space" zu unterscheiden.

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194 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

In gewisser Hinsicht — und dies kann überraschend klingen — ist die


Entwicklung der starken molekularen Version des Kontextprinzips die kon-
sequente Durchführung des von Quine eingeführten Verfahrens der Elimi-
nation singulärer Terme. Quine ist aber auf halbem Wege stehen geblieben,
wie kurz zu zeigen ist. Um besonders das Problem der nicht-referentiellen
singulären Terme zu lösen, schlägt er vor, die Referentialität ganz auf die
Ebene der quantifizierten Sätze zu verlagern. Aufgrund einer Reihe logischer
Transformationen zeigt er, daß ,...a...' mit ,(3x)(x = a) und ...x...' äquiva-
lent ist. Der singuläre Term wird (weg)erklärt, indem er als, = a' verstanden
wird. Nun ist , = a', als ein Ganzes genommen, ein Prädikat oder ein
allgemeiner Term; , = a' ist jetzt das Prädikat in der Prädikationsform
,x = a', d. h. das ,F' von ,Fx'. So ist beispielsweise der Satz ,Sokrates ist
weise' folgendermaßen zu deuten: ,(3x)(x = Sokrates und χ ist weise)'. Da
, = Sokrates' Prädikat oder allgemeiner Term ist (,Socratizes', wie Quine
sich ausdrückt), ist der singuläre Term eliminiert. 13 Dieses ingeniöse Verfah-
ren kann als das Lostreten einer Lawine angesehen werden. Allerdings
scheint Quine dies nicht gesehen zu haben, da sich bei ihm sonst kaum
etwas ändert. Die Objekte bleiben das, was sie waren, als man die singulären
Terme noch nicht eliminiert hatte: unanalysierte Grundbegriffe bzw. unstruk-
turierte primitive Entitäten, und die Welt wird weiterhin als die Totalität
der Objekte vorausgesetzt — wie eh und je. 14 In einer wichtigen Anmerkung
weist Quine darauf hin, daß der Ausdruck .Werte der Variablen' nicht
bedeutet „singuläre Terme, die für die Variablen substituierbar sind", und
fährt fort:
„Durch verfehlte kritische Bemerkungen wird man immer wieder daran
erinnert, daß es Leute gibt, die meinen, der mathematische Ausdruck .Werte

13 Vgl. Quine [1960] § 37.


14 Diese Kritik muß in einer wichtigen Hinsicht präzisiert, ja sogar eingeschränkt
werden. Die Objekte/Individuen werden von Quine als unstrukturierte, ursprüng-
liche Entitäten aufgefaßt, insofern er die prädikatenlogische Sprache gemäß der
Standardsemantik (vgl. dazu Abschnitt 3.2.1.2) als „the adopted form, for better
or worse, of scientific theory" (Quine [1985], S. 170) annimmt und benutzt. Es
ist nicht einzusehen, wie er es in diesem Rahmen vermeiden könnte, den Begriff des
Objekts/Individuums anders denn als unanalysierten (oder sogar unanalysierbaren)
Begriff zu nehmen. Uberraschenderweise analysiert er aber doch den Begriff des
Objekts/Individuums, und zwar besonders im ersten Kapitel von Quine [1981 a],
indem er eine Reihe von beachtenswerten ontologischen Reduktionen vorschlägt.
Die Frage ist allerdings, wie diese reduktionistischen Analysen mit der Absolut-
stellung der im Sinne der Standardsemantik verstandenen Prädikatenlogik in
Einklang gebracht werden können.

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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 195

der Variablen' bedeute .singulare Termini, die sich für Variablen einsetzen
lassen'. Als Wert der Variablen aber gilt vielmehr der durch einen solchen
Terminus bezeichnete Gegenstand und die Gegenstände bleiben auch dann
als Werte der Variablen bestehen, wenn die singulären Termini zum Ver-
schwinden gebracht werden." 15

Quine dreht sich hier im Kreise, wie seine Formulierungen zeigen: um den
Wert der (Individuen-) Variablen zu bestimmen, rekurriert er explizit auf den
singulären Term; aber das Ziel war (ist) doch, den singulären Term zu
eliminieren, und Quine erreichte dieses Ziel gerade durch die Einführung
der gebundenen Variablen plus dem zum Prädikat gewordenen ,= a'. Es
hegt hier zweifellos ein ungelöstes Grundproblem vor. Es bleibt nämlich
bei Quine weiterhin bestehen, daß im Rahmen eines quantifizierten Satzes
eine gebundene Individuenvariable erscheint, der ein Objekt/Individuum als
Wert zugeordnet wird. Aber dieses Objekt/Individuum hat jetzt einen son-
derbaren, ja mysteriösen Status: Es ist so etwas wie ein Substratum, dem der
eliminierte, d. h. der zum allgemeinen Term (Prädikat) avancierte singuläre
Term zugeschrieben wird. Quine gibt sich mit seinem Verfahren und dessen
Ergebnis anscheinend aus dem Grunde zufrieden, weil das ihn dazu moti-
vierende Problem, nämlich die Nicht-Referentialität einiger singulärer
Terme, dadurch gelöst wird. Immerhin hat er ein Verfahren eingeführt, das
als die Spitze eines Eisberges betrachtet werden kann.
Nach Quine16 kann der Beobachtungssatz
(1) A white cat is facing a dog and bristling

auf zweifache Weise paraphrasiert werden, nämlich:


(2) It's catting whitely, bristlingy, and dogwardly

und
(3) 3x (x is a cat and χ is white and χ is bristling and χ is dogward).

Quine zufolge wird die referentielle Funktion von (1) durch (2) maskiert,
während (3) sie mit Hilfe der kanonischen Notation (d. h. nach Quine: der
Quantorenlogik erster Stufe mit Identität) voll zur Geltung bringt. Ein Satz
der Form (2) ist nach Quine ein reiner „Gelegenheitssatz", dem er eine
Bedeutung nur in einer behavioristisch orientierten Theorie der Bedeutung
und des Erlernens von Sprache beimißt, wobei das Ziel das Erreichen der
vollen Referenz mittels der Einführung singulärer Terme und der Bildung

15 Quine [1960] § 40 Anm. 1 S. 333.


16 Vgl. Quine [1985], S. 169 ff.

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196 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

quantifizierter Sätze ist. Es ist offenkundig, daß Quine die Voraussetzung


macht, die Welt bestehe aus Objekten als den ursprünglichen Entitäten. Auf
der Basis dieser Annahme ist sein Verfahren konsequent. Stellt man aber
diese Annahme in Frage, indem man, wie in diesem Buch, den semantischen
Primat des Satzes im strengen Sinne (d. h. gemäß der starken Version des
Kontextprinzips) vertritt, so erscheint (2) als die konsequente und angemes-
sene Paraphrasierung von (1). Dem Term ,a cat' wird dann nicht ein direkter
Referent im voraus und unabhängig vom semantischen Wert eines Satzes
zugeordnet (wie im Falle von (3)), sondern der Term selbst wird proposi-
tional gedeutet: ,it's catting', wobei vorauszusetzen ist, daß dieser Satz ,It's
catting' als Paraphrasierung von ,a cat' eine sehr komplexe Proposition
ausdrückt. Quines Behauptung, (2) „maskiere" die referentielle Funktion
von (1), hat nur dann einen Sinn, wenn bei der Deutung von (1) das
Kontextprinzip unbeachtet gelassen und statt dessen das Kompositionalitäts-
prinzip als Maßstab herangezogen wird. Wird diese Voraussetzung fallen
gelassen, so erweist sich die Rede von einer „Maskierung" der referentiellen
Funktion von (1) als gegenstandslos. Denn dann zeigt sich, daß die Paraphra-
sierung (2) es ist, die die eigentliche semantisch-ontologische Relevanz von
(1) explizit macht. Insofern ist (2) ein ausgezeichnetes Beispiel für jenes
Paraphrasierungsverfahren, dem die Sätze der Umgangssprache zu unterzie-
hen sind, wenn die starke Version des Kontextprinzips radikal und konse-
quent zur Geltung gebracht wird.
Quines dargelegte Verfahren haben große — von ihm selbst nicht beab-
sichtigte, ja vermutlich nicht einmal geahnte — Konsequenzen. Dennoch
gibt er sich damit nicht zufrieden; er geht einen Schritt weiter, indem er ein
Verfahren einführt, um die (Individuen-) Variablen selbst eliminieren. Daß
Quine auch die Variablen eliminiert, heißt, daß er sie „wegerklärt", und
zwar indem er Prädikatfunktoren einführt:
„And now our new reduction dispenses even with the variables. There cease
to be singular terms at all; there remain only the predicates themselves and
our six fixed operators upon them." 17

Um zu erläutern, was Quine damit meint und wie diese Prozedur funktio-
niert, sei einer der Operatoren, der „Derelativierungsoperator Der" („de-

17 „Variables Explained Away", in Quine [1966 b] S. 2 2 7 - 2 3 5 ; zit. St. 235. Vgl. auch
seine Aufsätze: „Algebraic Logic and Predicate Functors", in Quine [1966 a]
S. 2 8 3 - 3 0 7 ; „Predikate, Termini und Klassen", in Quine [1981 a] S. 1 9 9 - 2 0 8 .

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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 197

relativization operator Der") erklärt. Quine beschreibt diesen Operator wie


folgt (dabei repräsentiert ,P' ein n-stelliges Prädikat):
(Der) (Der P)x l ,...x„_ 1 genau dann, wenn es ein x n gibt, so daß Ρχ^.,.,χ,,.

Am einfachsten kann man den Operator ,Der' durch Beispiele erklären.


Zunächst sei gezeigt, wie unter Anwendung des Operators ,Der' auf ein
zweistelliges Prädikat ein einstelliges Prädikat erzeugt werden kann. Man
nehme das Prädikat ,B' (für ,beißen'). Die Standardformalisierung des Aus-
drucks ,x beißt etwas' erfolgt in zwei Schritten: erstens wird der prädikative
Ausdruck ,Bxy' gebildet; zweitens wird das Existenzpräfix ,etwas ist derart,
daß' auf ihn angewendet, wodurch der Ausdruck entsteht: r(3x)(3y)Bxy~\
Quine entwickelt ein anderes Verfahren, das in umgekehrter Reihenfolge
abgewickelt wird: zuerst wird ein neues Prädikat, ein einstelliges Prädikat
,beißt etwas', gebildet; zweitens wird dieses Prädikat zusammen mit ,x'
verwendet, um den prädikativen Ausdruck ,x beißt etwas' zu konstruieren.
Um ein einstelliges Prädikat,beißt etwas' zu bilden, braucht man dann einen
Operator, der auf das zweistellige Prädikat ,B' (,beißt') angewendet werden
kann. Diesen Operator nennt Quine den ,Derelativierungsoperator Der':
„Thus ,Der B' is the one-place predicate or intransitive verb of biting, or
biting something, and the predication ,(Der B) x' means that χ bites some-
thing." 18

Da nun die Anwendung von ,Der' iteriert werden kann, ist auch der
Ausdruck ,(Der B) x' ( = ,x beißt etwas') reduzierbar auf ,Der Der B'
( = ,etwas beißt etwas'). Die ursprüngliche Formel war: ,(3x)(3y)Bxy' (— ,ein
χ ist derart, daß ein y derart ist, daß Bxy" 9 .
Was passiert nun, wenn der Der-Operator auf ein einsteiliges Prädikat
angewendet wird? Dies ist der Punkt, wo sich zeigt, wie wichtig Quines
Verfahrenstechnik für den oben eingeführten Begriff der primären Proposi-
tion ist. Quine schreibt:
„Let us now explain it [i. e. the derelativization] as applying similarly to a
one-place predicate to produce a no-place predicate, or sentence, which simply
affirms existence: ,Der D' means simply that there are dogs." 20

Quine verfährt und formuliert sehr elliptisch, wodurch er die ganze Trag-
weite des von ihm selbst erreichten Resultats unterinterpretiert. Wenn ein

18 A. a. O. S. 230.
19 Diese Lesart entspricht Quines Deutung der Variablen und der Quantoren („Some-
thing χ is such that something y is such that Bxy" [a. a. Ο. S. 230]).
20 A. a. Ο. S. 230 (Hervorhebung nicht im Original).

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198 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

nullstelliges Prädikat als ein Satz ausgegeben wird, reicht es nicht aus,
einfach zu sagen, damit werde „Existenz behauptet". Existenz wovon? Quine
bringt gleich ein „massives" Prädikat, nämlich ,Hunde', und weicht damit
den Konsequenzen seines Verfahrens hinsichtlich anderer Prädikate bzw.
Attribute aus. Kombiniert man Quines Verfahren der Elimination singulärer
Terme mit seinem Verfahren der Paraphrasierung von Sätzen der Form (1)
im Sinne von Sätzen der Form (2) sowie mit seinem Verfahren der Elimi-
nation der (Individuen-)Variablen und läßt man das objektontologische
Dogma fallen, so dürfte sich eine einzige kohärente Konzeption ergeben:
die Annahme primärer Propositionen/Verhalte.

[4] Um ein mögliches Mißverständnis zu vermeiden, sei gleich folgende


Klarstellung angefügt: Das, was hier sekundäre Proposition genannt wird,
scheint identisch zu sein mit dem, was einige Autoren als singuläre Proposition
bezeichnen.21 Diese Annahme wurde auch oben gemacht. Aber sie ist nur
prima facie richtig; in Wirklichkeit implizieren beide Konzeptionen jeweils
völlig verschiedene Prädikationstheorien, was hauptsächlich darauf zurück-
zuführen ist, daß die Vertreter der singulären Proposition von einem völlig
unanalysierten Begriff des Objekts/Individuums ausgehen und auf dieser
Basis die Prädikation als die Zuschreibung eines Attributs zu einem schon
als konstituiert vorausgesetzten Individuum deuten. Gemäß der hier ent-
wickelten Konzeption, wie noch zu zeigen sein wird, ist die sekundäre
Proposition und, im Zusammenhang damit, das, was gewöhnlich Prädikation
genannt wird, folgendermaßen zu erklären: Indem prädiziert wird, wird
ausgesprochen, daß ein bestimmtes Attribut zu einer Konfiguration von
Attributen gehört. Wie das formal dargestellt werden kann, wird weiter
unten (Abschnitt 3.5.4.2) gezeigt. Ob man von Prädikation auch hinsichtlich
der primären Sätze und Propositionen sprechen kann oder will, ist eine
terminologische Angelegenheit. Man könnte entsprechend zwischen pri-
märer und sekundärer Prädikation unterscheiden. Wichtig ist in jedem Fall,
daß Prädikation hier völlig anders verstanden wird.

[5] Primäre und sekundäre Propositionen und Sätze können allgemein be-
stimmt oder vollbestimmt sein. Diese wichtige Unterscheidung ergibt sich aus
folgendem Sachverhalt: Es ist nicht ausgeschlossen, daß zumindest viele
Attribute mehrere Stellen sowohl innerhalb ein und derselben Welt als auch

21 Vgl. A N H A N G 6.2.4.

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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 199

innerhalb mehrerer Welten „besetzen" können. Insofern Attribute nur im


Hinblick auf diese Möglichkeit oder nur vor dem Hintergrund dieser Mög-
lichkeit bestimmt sind, sind sie nur allgemein bestimmte primäre Propositionen:
Sie sind realisiert in irgendeiner Welt w*. Sie befinden sich sozusagen in einem
nur allgemein bestimmten logischen Raum. Die sie ausdrückenden Sätze sind
ebenfalls nur allgemein bestimmte Sät^e. Die Vollbestimmung der Attribute wird
dadurch erreicht, daß die Welt oder die Welten genau angegeben wird/
werden, „in" der/denen sie (eine) „Stelle(n)" „besetzen". Dann sind sie
vollbestimmte primäre Propositionen und die ihnen entsprechenden Sätze sind
vollbestimmte Sät^e. Entsprechendes gilt für die sekundären Propositionen und
Sätze.

3.5.3 Zu einigen Problemen der Theorie der Proposition (des Verhalts)

Aus vielerlei Gründen wirft die oben skizzierte Theorie der Proposition
(des Verhalts) viele und verschiedenartige Probleme auf. Es dürfte klar sein,
daß alle diese Probleme nur im Rahmen einer vollentwickelten Theorie
gelöst werden können. Im vorliegenden Werk erscheint es angebracht, auf
zwei Kategorien von Problemen einzugehen: die formale Repräsentation
von Propositionen (Verhalten) und die Identitätskriterien für diese Enti-
täten.

3.5.3.1 Zur formalen Repräsentation von Propositionen (Verhalten)

Die Theorie der Proposition kann um einen wichtigen Schritt vorangetrie-


ben werden, wenn man der Frage nachgeht, wie Propositionen formal
adäquat zu repräsentieren sind. In der Regel, wie es nicht anders sein kann,
sind solche Repräsentationstechniken alles andere als reine Techniken, d. h.
neutrale Darstellungsformen. Die Neutralität einer Darstellungsform oder
-methode ist in der Philosophie grundsätzlich ein Mythos.
In diesem Abschnitt werden zunächst einige (die wichtigsten und be-
kanntesten) Repräsentationsformen von Propositionen dargestellt und einige
damit zusammenhängende Probleme erörtert. Sodann wird zwischen Satz-
und Propositionsvariablen unterschieden und der genaue Sinn dieser Un-
terscheidung aufgezeigt. Es sei daran erinnert, daß in diesem Abschnitt der
Unterschied zwischen „Proposition" und „Proposition" genau zu beachten
ist: Der fett gesetzte Ausdruck soll die hier vertretene Konzeption anzeigen.

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200 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

3.5.3.1.1 Einige Repräsentationsformen


Es sollen insgesamt vier Repräsentationsformen dargelegt werden, von denen
die ersten drei weit verbreitet und sehr bekannt sind. Die erste Repräsen-
tationsform unterscheidet sich von den anderen insbesondere dadurch, daß
sie — im Gegensatz zu diesen — die innere Strukturiertheit der Proposition
nicht zum Ausdruck bringt. Einige Einzelheiten dieser Repräsentationsfor-
men werden im A N H A N G geschildert. Verwiesen sei auch auf die Ausfüh-
rungen über Quines Verfahren der Elimination singulärer Terme, der Weger-
klärung der Individuenvariablen und der (in seinem Sinne) nicht-referentiellen
Paraphrasierung von Sätzen oben im Abschnitt 3.5.2.3 [3].

[1] Die erste, scheinbar unproblematischste, Form besteht einfach in der


Einführung einer speziellen Variablensorte für Propositionen. So versteht
beispielsweise Ph. Bricker die Variablen ,p', ,q', ,r' und ,s' als Propositions-
variablen. Dieses Verfahren hat sicher den Vorteil der Einfachheit und
Bequemlichkeit, aber es setzt voraus, daß Klarheit darüber besteht (bzw.
bestehen muß), was es genau heißt, daß die angeführten Variablen „über
Propositionen laufen" 22 . Man kann diesbezüglich auf einen Nachteil und auf
ein fundamentales Problem hinweisen. Der Nachteil ist der rein globale und
allgemeine Repräsentationsmodus: Propositionen werden in ihrer Struktu-
riertheit nicht erkennbar; freilich ist dies kein Einwand, da man für viele
Zielsetzungen im Bereich der Logik, Semantik usw. eine möglichst kurze
Repräsentationsform wählen muß. Aber dann müßte man die Variablen so
verstehen, daß deren Wert die genau strukturierte Proposition ist; dies setzt
allerdings wieder voraus, daß ein genauerer Repräsentationsmodus für die
strukturierte Proposition verfügbar ist.
Das Problem, das dieser Repräsentationsmodus aufwirft, betrifft den
Status (und damit den Begriff) der Proposition selbst. Die Variablen ,p', ,q',
,r' und ,s' werden (von Bricker) so verwendet, daß sie als selbständige
Zeichen (wie sonst die Satzvariablen oder -buchstaben) vorkommen, wie
ζ. B. in der folgenden „Formel": Für alle ρ, ρ —• p. Aber wie kann das sein?
Wenn Propositionen, wie allgemein angenommen wird, 23 sprachlich durch
,daß-Ausdrücke' artikuliert werden, dann werden den obigen Variablen
Werte zugeordnet, die sprachlich durch ,daß-Ausdrücke' umschrieben wer-

22
„The variables ,p', ,q', ,r', and ,s' range over propositions" (Bricker [1983] S. 12).
23
Diese Annahme wird in der in diesem Buch vertretenen Konzeption nicht geteilt;
sie steht nicht im Einklang mit dem Kontextprinzip.

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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 201

den, etwa: ,daß Schnee weiß ist...', also durch nominaliskrte Sätze. Unter der
gemachten Voraussetzung wäre also eine Proposition durch ein Namenssym-
bol repräsentiert, das nicht den Stellenwert eines (selbständigen) Satzes hat
und daher nicht wie ein Satz in einem aussagenlogischen Kontext auftreten
kann. Es wäre jene Konfusion gegeben, auf die Quine hingewiesen hat:
Man hätte ,p' verwendet sowohl an Stellen, wo Sätze, als auch an Stellen,
wo Namen von Entitäten stehen sollen. 24 Propositionen als die Designata
von ,daß-Ausdrücken' bzw. die sie repräsentierenden Zeichen können gar
nicht als selbständige Entitäten bzw. Zeichen vorkommen; sie erfordern eine
Ergänzung, etwa durch die Einführung von Prädikaten. Dieses Problem ist
grundsätzlicher Natur, denn es betrifft das Verständnis und die Bestimmung
der Proposition selbst. Solange die Proposition als unvollständig im ange-
gebenen Sinne betrachtet wird, kann sie nicht durch Variablen repräsentiert
werden, die selbständig (freistehend) vorkommen. Müssen aber Propositio-
nen so aufgefaßt werden? Diese Auffassung erscheint dann zwingend, wenn
man von einer bestimmten Analyse sprachlicher Ausdrücke ausgeht, nämlich
derjenigen, die die Proposition der Nominalisierung sprachlicher Ausdrücke
zuordnet. Aber diese Auffassung ist durch die Annahme der strengen Version
des Kontextprinzips ausgeschlossen (vgl. unten Abschnitt 4.3.1).

[2] Die zweite Repräsentationsform besteht darin, daß ein Satzgebilde in


eckige Klammern ,[ ]' (oder Schrägstriche ,/ /') gesetzt wird, wodurch, wie
einige Autoren meinen, ein „intensionales Abstraktum" 25 entsteht. Auf den
ersten Blick ist diese Form besonders geeignet, die Konzeption zu repräsen-
tieren, dergemäß die Proposition eine „satzartige Struktur" in dem Sinne
hat, daß aus und an der Satzstruktur die Propositionsstruktur abgelesen
werden kann. Indem aber der Satz nominalisiert, d. h indem aus einem Satz
ein Name mit der syntaktischen Gestalt ,daß S' gemacht wird, geht dieser
Vorteil wieder verloren. Auf diese Weise wird die Proposition als das
Designatum eines Namens aufgefaßt; damit wird auch die These vom se-
mantischen Primat des Satzes, zumindest gemäß der starken Version des
Kontextprinzips, aufgegeben. 26

[3] Die dritte Repräsentationsform basiert auf der Verwendung mengen-


theoretischer Darstellungsmittel: Die Proposition wird als ein Tupel reprä-

24 Vgl. Quine [1970] S. 11.


25 Vgl. ζ. B. Bealer [1982] S. 46 u. ö.
26 Vgl. unten 4.3.1.

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202 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

sentiert und damit als eine mengentheoretische Entität verstanden. (Letztere


Konsequenz ist jedenfalls dann zwingend, wenn man, wie in diesem Buch,
die These vertritt, daß die Darstellungsform der dargestellten „Sache" nicht
äußerlich ist.) Auch diese Form kann die Komponenten des Satzes genau
wiedergeben, allerdings unter einem mengentheoretischen Vorzeichen. Der
große Vorteil dieser Repräsentationsform ist ihre Klarheit; einer ihrer Nach-
teile besteht darin, daß man sich damit das Problem einhandelt, wie eine
Ontologie mengentheoretischer Gebilde genau zu konzipieren bzw. ob eine
solche Ontologie wirklich adäquat ist. Das oben hinsichtlich der ersten und
der zweiten Repräsentationsform erörterte Problem der „Selbständigkeit"
oder des selbständigen Charakters der Proposition und des sie repräsentie-
renden Zeichens kehrt auch hier wieder.

[4] Nusenoff hat einen interessanten Vorschlag gemacht, wie man Proposi-
tionen repräsentieren kann. Seine Absicht ist es, nicht nur singuläre, sondern
auch allgemeine Propositionen zu repräsentieren.
Eine singuläre Proposition, die durch einen atomaren Subjekt-Prädikat-
Satz ausgedrückt wird, sollte nach Nusenoff als geordnetes Paar repräsentiert
werden:
(1) Dem Satz ,Fa' entspricht die Proposition: <a, F>

(2) Dem Satz ,Gai,...,aI,' entspricht die Proposition: a„X G ) . 2 7

Um die durch den Existenzsatz r(3x)Fx"1 ausgedrückte Proposition zu re-


präsentieren, rekurriert Nusenoff auf eine berühmte Einsicht, die Frege in
den Grundlagen der Arithmetik folgendermaßen artikuliert:
die Existenz [hat] Aehnlichkeit mit der Zahl. Es ist ja Bejahung der
Existenz nichts Anderes als Verneinung der Nullzahl."28

27 Nusenoff [1979] S. 506. Strenggenommen ist der Ausdruck ,<a, F>', als Repräsen-
tation der dem Satz ,Fa' entsprechenden Proposition, sinnlos, da die Repräsentation
der durch diesen Satz ausgedrückten Proposition den Referenten bzw. das De-
signatum (d. h. den semantischen Wert) von a bzw. F kenntlich machen muß. Man
sollte also etwa folgende Notation verwenden: <o, F*X wobei ο für den Referenten
des Namens a und F* für das durch das Prädikat F designiterte Attribut steht
(vgl. dazu ANHANG 6.2.4 [3]). Dies gilt für alle Propositionen, die den Sätzen
(1)—(10) entsprechen. Im folgenden wird Nusenoffs Vorschlag in seiner ursprüng-
lichen Form dargestellt und somit auf die — an sich notwendige — Präzisierung
verzichtet.
28 Frege [1884] § 53.

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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 203

Demnach kann die entsprechende Proposition repräsentiert werden als ein


geordnetes Paar, bestehend aus dem Attribut F und dem Komplement des
Begriffs zweiter Stufe „Nullzahl". Es ergibt sich:
(3) Dem Satz r (3x)(Fx) n entspricht die Proposition: <F, Ö ) .

Die Repräsentation der durch den negativen Existenzsatz ausgedrückten


Proposition erhält konsequenterweise die Form:
(4) Dem Satz r ~(3x)Fx"' entspricht die Proposition: <F, O ) .

Die durch universal quantifizierte Sätze r (Vx)Fx n und r ~(Vx)Fx n ausge-


drückten Propositionen werden als „Qualifikationen" (zweiter Ordnung)
der Komplemente der Attribute repräsentiert:
(5) Dem Satz r(Vx)Fx"1 entspricht die Proposition <F, O )

(6) Dem Satz Γ ~ ( ν χ ) Ρ χ Ί entspricht die Proposition: <F, Ö>.

Dieses Verfahren kann auf andere quantifizierte Sätze ausgedehnt werden.


Wieder an Frege anknüpfend, bemerkt Nusenoff, daß solche positiven
und negativen Sätze Relationen zwischen „Begriffen" (d. h. wohl: Attribu-
ten) ausdrücken. Natürlich kann es sich bei diesen Relationen nicht darum
handeln, daß ein Begriff erster Ordnung unter einen anderen Begriff erster
Ordnung „fällt". Auf der Basis von (3) —(6) kann die Aussage, daß alle Fs
Hs sind, folgendermaßen gelesen werden: Es wird behauptet, daß der Begriff
(das Attribut) erster Ordnung „F-und-nicht-H-zu-sein" unter den Begriff
(das Attribut) zweiter Ordnung „Null" fällt. Die Aussage, daß einige Fs Hs
sind, ist zu lesen: es wird behauptet, daß der Begriff (das Attribut) „F-und-
H-zu-sein" unter das Komplement der Null fällt. Daraus ergeben sich
folgende Sätze und folgende Repräsentationen der durch sie ausgedrückten
Propositionen:
(7) Dem Satz r (Vx)(Fx —• Hx)"1 entspricht die Proposition: <F & H, O )

(8) Dem Satz r (Vx)(Fx-> ~Hx)" 1 entspricht die Proposition: <F & H, O )

(9) Dem Satz r (Ex)(Fx & Hx)"1 entspricht die Proposition: <F & H, Ö>

(10) Dem Satz r (3x)(Fx & ~Hx)"" entspricht die Proposition: <F & R, Ö>.

Diese von Nusenoff vorgeschlagene Repräsentationsweise scheint in einer


Hinsicht zur Repräsentation dessen, was oben primäre Proposition genannt
wurde, ganz besonders geeignet zu sein, und zwar aus dem Grunde, weil in
dieser Repräsentationsweise keine Individuenvariablen vorkommen. Die
Propositionen (3) —(10) könnte man entsprechend als primäre Propositionen

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204 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

verstehen. Diese Repräsentationsweise hat sogar gegenüber der oben ein-


geführten Notation mit Stellenvariablen den Vorteil, daß nicht einmal die
Möglichkeit eines Mißverständnisses der Stellenvariablen, auf die ebenfalls
oben hingewiesen wurde, besteht. Zu sagen, daß das Attribut F „bestimmt"
ist oder „besteht" oder „realisiert" ist, heißt, eine primäre Proposition
artikulieren. Wenn nun diese Proposition durch Ö ) repräsentiert wird,
so kommt dieses Verständnis von (primärer) Proposition besonders deutlich
zum Ausdruck, und zwar sowohl intuitiv als auch formal, denn das Gebilde
<F, Ö ) „sagt" eben nur dies, daß das Attribut F „nicht-leer", also „realisiert"
ist, „besteht" u. ä., ohne daß damit schon ein Individuum/Objekt vorausge-
setzt und noch weniger explizit genannt wäre, von welchem F prädiziert
würde.
Der Nachteil dieser Repräsentationsweise gegenüber der Verwendung der
Stellenvariable besteht darin, daß letztere viel bestimmter ist, da sie eben
eine Stelle in (einer) Welt(en) angibt, während erstere diesbezüglich eben
unbestimmt bleibt. Erforderlich ist eine nähere Bestimmung des Bereichs
D, der zwar im Falle der Repräsentation mit Stellenvariablen genannt, nicht
aber weiter bestimmt wurde, und der im Falle der letzteren Repräsentations-
weise ganz unerwähnt bleibt. Allerdings besteht auch hinsichtlich dieser
Repräsentations weise ein grundsätzliches Problem, auf das unten einzugehen
ist.

[5] Die erste (die unstrukturierte) Repräsentation von Propositionen reicht


für viele, nicht aber für alle, insbesondere nicht für alle philosophischen,
Zielsetzungen aus. Voraussetzung ist allerdings, daß der genaue Sinn dieser
Propositionsvariablen geklärt wird (vgl. den nächsten Abschnitt 3.5.3.1.2).
In vielen Fällen, insbesondere im Falle einer Theorie der Proposition selbst,
muß eine Repräsentationsform gefunden werden, die die innere Struktur der
Proposition eben „zur Darstellung" bringt. Oben wurden folgende Reprä-
sentationsformen dargelegt, die dieser Kategorie eindeutig zuzurechnen sind:

(i) Ein Satzausdruck wird in eckige Klammern, ,[ ]', gesetzt.


(ii) Ein mengentheoretisches Konstrukt wird gebildet, wobei es drei Ge-
stalten annehmen kann:
(ii—i) die Gestalt eines Tupels, dessen Glieder die (informational-)semanti-
schen Werte der Satzkomponenten sind, etwa: (o, F*);
(ii —ii) die Gestalt eines Tupels, dergestalt, daß das zweite Glied ein Prädikat
(Begriff) zweiter Stufe, nämlich die Nullzahl bzw. deren Komplement, ist,
wie etwa: <(F*, Ö).

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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 205

Wie aus dem ANHANG 29 hervorgeht, gibt es noch eine weitere Variante
der zweiten Repräsentationskategorie, nämlich
(ii —iii) die Gestalt eines Tupels, das als Glieder außer den semantischen
(informationalen) Werten der Satzkomponenten noch den Qualifikationswert
dieser semantischen Werte enthält, etwa: {o, F*; i ) , wobei i e {1, O} bzw.
{wahr, falsch} ist.
Jede dieser Repräsentationsformen hat Vorteile und Nachteile, Stärken
und Schwächen. Wenn man Probleme mit der ontologischen Deutung
mengentheoretischer Gebilde vermeiden will, so ist der Form (i) der Vorzug
zu geben, da sie im Rahmen einer mit den Mitteln einer prädikatenlogischen
Sprache vorgenommenen Repräsentation von Propositionen verbleibt.
Aber über diesen Gesichtspunkt hinaus scheinen diese beiden Repräsenta-
tionsformen (i) und (ii) eine grundsätzliche Schwierigkeit für die in diesem Buch
vertretene Theorie des Satzes und der Proposition zu beinhalten. Syntaktisch
gesehen sind diese Repräsentationsformen singuläre Terme, Namen. Nun
wird aber hier die These vertreten, daß Sätze keine Namen sind und daß
Propositionen nicht durch Namen denotiert, sondern durch Sät^e ausge-
drückt werden. Es scheint also, daß Propositionen gar nicht durch die
genannten zwei Repräsentationsformen (i) und (ii) „repräsentiert", sondern
eben nur durch Sätze ausgedrückt werden können. Oder man könnte sagen:
Die adäquate „Repräsentation" der Proposition ist eben der vollexplizierte
und strukturierte Satz und nur der Satz.
Zu diesem Problem ist zunächst zu bemerken, daß es ein Fall jenes
allgemeineren Problems ist, das aus der gleichzeitigen Verwendung mehrerer
Sprachen entsteht, vor allem der aussagenlogischen, der prädikatenlogischen
und der mengentheoretischen Sprache. Bekanntlich gibt es keinen Konsensus
über das Verhältnis von Logik und Mengentheorie. 30 Man kann in der Praxis
eine Art Kompromiß schließen, indem man die genannten Repräsentations-
formen (i) und (ii) als willkommene nützliche Hilfsmittel ansieht. Doch diese
Vorgehensweise kann letztlich nicht befriedigen, zumindest dann nicht, wenn
die These vertreten wird, daß das Verhältnis zwischen Entitäten und Sprache
ein denkbar inniges ist. Eine Lösungsmöglichkeit könnte darin gesehen
werden, daß zwischen „Ausdrücken" und „Repräsentieren" unterschieden
wird, wobei „Repräsentieren" eine dem „Ausdrücken" untergeordnete Rolle
spielen würde. Die eigentliche syntaktisch-semantische Rolle würde nur dem
Satz zufallen, insofern daran festgehalten würde, daß der Satz (und nur der

29 Vgl. ANHANG 6.2.4.


30 Vgl. ζ. B. Quine [1970], Kap. 5.

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206 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

Satz) eine Proposition ausdrückt. Diese Entität würde dann in dem Sinn
„repräsentiert" werden, daß sie „modelliert" würde. Die „Repräsenta-
tion = Modellierung" wäre eine „Operation" im Rahmen der durch den Satz
gegebenen Ausdrucksrelation. Wichtig ist jedenfalls dies: Die Proposition
kann nicht als das Denotat/Designat eines Namensausdrucks bestimmt werden.
Der die Proposition repräsentierende/modellierende Ausdruck wäre dem-
nach nicht als ein Name, der eine Entität denotiert/designiert aufzufassen;
sein Status wäre ein anderer. Nur unter der Bedingung, daß eine solche
Konzeption durchführbar wäre, wären die genannten Repräsentationsformen
(i) und (ii) mit der in diesem Buch vertretenen Konzeption über den Primat
des Satzes und über die Proposition kompatibel.
So hilfreich die genannten Repräsentationsformen auch sein mögen, es
muß doch betont werden, daß es der Sat% selbst ist, der die Struktur der
Proposition — zumindest — am besten und am unproblematischsten deut-
lich macht. Die oben herausgearbeitete syntaktisch-semantische Strukturiert-
heit des primären Satzes ist die beste (weil die eigentliche) Darstellung der
(Struktur der) Proposition. Was die syntaktisch-semantische Strukturiertheit
des sekundären (= komplexen) Satzes und dementsprechend die Darstellbar-
keit der (Struktur der) sekundären Proposition anbelangt, so soll sie unten
im Abschnitt über den Begriff des Individuums im prägnanten Sinn (Ab-
schnitt 3.5.4.2) herausgearbeitet werden.

3.5.3.1.2 Satzvariablen und Propositions-(Verhalts-)Variablen


[1] Bisher ist von Propositionen und Sätzen (bzw. Satzausdrücken, Satz-
formen) bzw. von Repräsentationsformen für Propositionen die Rede ge-
wesen. Es drängt sich jetzt die Frage auf, ob man auch Variablen für Sätze
und Propositionen einführen sollte und, wenn ja, in welchem genauen
Sinne. Dies ist eine sehr intrikate Frage. Bekanntlich werden Satzvariablen
und Propositionsvariablen von einigen Philosophen verworfen; statt dessen
sprechen sie etwa von „(schematischen) Satzbuchstaben" 31 . Dies hat gewisse
Vorteile und gewisse Nachteile (beispielsweise kann man nicht über Satz-
buchstaben quantifizieren). Aber für die hier anstehende Problematik wäre
ein solches Verfahren wenig hilfreich, da dadurch das Verhältnis von Satz
und Proposition/Verhalt nicht im mindesten auch nur tangiert wäre.

31 Vgl. ζ. B. Quine [1970] S. 24, 74 f. u. ö.; Quine, „Ontological Remarks on the


Propositional Calculus", in Quine [1966 a] S. 57 — 63; Quine, „Logic and the
Reification of Universals", in Quine [1953] S. 1 0 2 - 1 2 9 (vgl. bes. 111 ff.).

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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 207

Es fragt sich also, wie Satzvariablen und Propositionsvariablen genau zu


unterscheiden sind. Oft werden dieselben Variablen einmal als Satz variablen,
einmal als Propositionsvariablen deklariert. Für denjenigen Logiker/Philo-
sophen, der Propositionen ablehnt, taucht das Problem gar nicht auf. Wenn
man aber Propositionen akzeptiert, ist es dann überhaupt konsequent,
Variablen für Sätze und für Propositionen einzuführen? Müßte man nicht
sagen, daß es nur Satzvariablen geben kann, da ja die Propositionen als die
semantisch-informationalen Werte der Sätze verstanden werden?
Aus der hier vertretenen Theorie des Satzes und der Proposition ergibt
sich, daß man mindestens in zweifacher (bzw. dreifacher) Weise von Sat^yaria-
blen sprechen kann.

(i) Erstens können Satzvariablen als substitutioneile Variablen (im Sinne der
substitutioneil verstandenen Quantifikation) verstanden werden. 32 Demnach
sind sie Symbole, die durch andere sprachliche Zeichen, nämlich Sätze,
ersetzt werden können. Sätze stellen daher die Substitutionsklasse für die
substitutioneil verstandenen Satzvariablen dar. Auf Einzelheiten kann hier
nicht eingegangen werden. Substitutionell verstanden, haben Variablen es
unmittelbar eben nur mit Sätzen, nicht mit Propositionen/Verhalten zu tun.
Das Problem des Bezugs des Satzes auf die Proposition wird ausgeklammert
oder verschoben. Und die Definition der Wahrheit eines Satzes mit (gebun-
denen) substitutioneilen Satzvariablen wird ebenfalls verschoben auf die
Definition der Wahrheit von Sätzen mit nicht substitutioneilen Variablen.
Dennoch ist die Nützlichkeit der substitutioneilen Variablen in keiner Weise
zu leugnen. Die substitutioneile Deutung der Satzvariablen kann nicht ein-
fachhin verworfen werden, da Satzvariablen, substitutionell verstanden, eine
nicht zu eliminierende Funktion ausüben. Substitutionell gedeutete Satzva-
riablen dürften — zumindest in gewisser Hinsicht — dem entsprechen, was
einige Autoren „Satzbuchstaben" nennen, wenngleich der Hauptunterschied
nicht übersehen werden darf: Satzbuchstaben können nicht durch einen
Quantor gebunden werden. 33

(ii) Eine zweite Weise, wie man von Satzvariablen im engeren Sinne spricht
bzw. sprechen kann, besteht darin, daß man sie als referentielle oder Objekt-
Variablen im Rahmen einer Quantorenlogik erster Stufe auffaßt. Satzvaria-
blen in diesem Sinne laufen über Sätze, d. h. ihnen werden Sätze als Werte

32 Vgl. dazu u. a. Kripke [1976].


53 Vgl. dazu Quine [1953], bes. S. 110.

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208 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

zugeordnet. 34 Diese Satzvariablen sind also singulare Terme, die die „Ob-
jekte" Sät^e als Werte haben. Passende Einsetzungen für diese Variablen
sind daher Namen von Sätzen, also Ausdrücke, deren Designata Sätze sind.
Im Zusammenhang mit den so verstandenen Satzvariablen wird wahr als
(metasprachliches) Prädikat verstanden. Satzvariablen in diesem Sinne sind
wie Individuenvariablen, sie sind singuläre Terme oder Namen; der Unter-
schied ist, daß deren Werte nicht Objekte im gewöhnlichen Sinne, sondern
eben Sätze sind. Referentiell sind diese Satz variablen in einem „innersprach-
lichen" Sinne, da ja die Entitäten, über die sie laufen (ihre Werte), sprachliche
Entitäten sind. Man kann hier natürlich die Frage stellen, warum man anstatt
der so verstandenen referentiellen Satzvariablen nicht gleich Satzvariablen
im rein substitutioneilen Sinne verwendet. Eine Antwort darauf kann nur
gegeben werden, wenn man die Vorteile und Nachteile der Annahme eines
Wahrheitsprädikats im streng syntaktischen Sinne untersucht. Ohne daß dies
hier gezeigt werden kann, scheint es angebracht zu sein, auf die durch die
referentiell verstandenen Satzvariablen gegebenen Ausdrucksmöglichkeiten
nicht ohne weiteres Verzicht zu leisten. Man kann nicht sagen, daß die
referentiell verstandenen Satzvariablen die Sätze auf Namen reduzieren. Nur
die Variablen selbst werden als singuläre Terme oder Namen aufgefaßt,
während ihre Werte genuine Sät^e sind. Insofern könnte man die Einführung
von Satzvariablen in diesem Sinne als eine rein technische Angelegenheit
ansehen, die hinsichtlich bestimmter Fragestellungen und Zusammenhänge
gute Dienste leisten kann. Dabei bleibt allerdings die Frage konsequenter-
weise völlig ausgeklammert und damit ungeklärt, wie der Satz selbst als
Wert der Satzvariablen zu verstehen ist. Aber der Umstand, daß diese Frage
offen bleibt, hat wieder den Vorteil, daß dadurch eine semantisch-ontolo-
gische Konzeption wie die in diesem Buch entwickelte nicht ausgeschlossen
wird. Der Satz kann nämlich dahingehend verstanden werden, daß er eine
Proposition ausdrückt.
Es ist sehr darauf zu achten, in welchem Sinn die soeben vorgestellte
Konzeption von Satzvariablen referentiell oder objektual ist. Wie schon her-
vorgehoben wurde, handelt es sich um eine innersprachliche Referentialität.
Diese Auffassung von Satzvariablen ist streng von einer anderen Auffassung
zu unterscheiden, die von Quine beschrieben (und zu Recht abgelehnt) wird.
Letzterer Auffassung zufolge werden Satzvariablen auch als referentiell oder
objektual zu verstehende Namen oder singuläre Terme bestimmt, aber sie

34 Vgl. dazu ζ. B. Soames [1984], bes. S. 259.

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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 209

laufen nicht über Sätze, sondern über Propositionen; diese stellen daher die
Werte der so verstandenen Satzvariablen dar.35 Da Quine Propositionen (in
seinem Sinne!) nicht akzeptiert, verwirft er solche Satzvariablen. Es ist nun
bezeichnend, daß diese Satzvariablen als Namen von Propositionen verstanden
werden. Die Annahme ist, daß Propositionen durch Namen denotiert wer-
den. Ironischerweise ist festzustellen, daß Quine völlig zurecht solche Pro-
positionen (und die entsprechenden Satzvariablen) ablehnt; in der Tat ergibt
sich die Verwerfung solcher Propositionen auch direkt aus der in diesem Buch
vertretenen Theorie der Proposition oder des Verhalts, denn diese Entität
wird durch einen Satz ausgedrückt, nicht durch einen Namen denotiert.
Nur scheint Quine — zumindest an der zitierten Stelle — vorschnell „Pro-
position" mit „Objekt (Referent) eines Namens" zu identifizieren.

(iii) Manche Autoren sprechen von Satzvariablen in einem noch anderen,


einem dritten, Sinne: Sie ordnen den Variablen Propositionen zu, ohne die
Variablen als Namen oder singulare Terme aufzufassen. Damit wird die
Quantorenlogik erster Stufe verlassen.36 Doch die so verstandenen Satzva-
riablen werden oft als „Propositionsvariablen" bezeichnet.37 Diese konfuse
terminologische Situation dürfte folgendermaßen zu entwirren sein. Wenn
Variablen so verstanden werden, daß ihnen Propositionen als Werte zuge-
ordnet werden, und wenn die Annahme gemacht wird, daß Propositionen
durch Sätze ausgedrückt werden, so kann man im Prinzip die Charakteri-
sierung solcher Variablen von zwei Seiten her vornehmen: von der Seite der
sprachlichen Zeichen oder von der Seite der ihnen zugeordneten Werte.
Wählt man die erste Perspektive, so werden die Variablen adäquaterweise

35 Vgl. Quine [1970] S. 11 f. u. ö.


36 Vgl. beispielsweise Daniels/Freeman [1977], [1980],
37 Der Ausdruck .Propositionsvariable' wird in mindestens einer weiteren Bedeutung
verwendet. So nennt A. Church .propositional variables' jene Variablen, deren
Wertebereich die Wahrheitswerte sind. Für Variablen, die Propositionen als Wer-
tebereich haben, schlägt er die Bezeichnung ,intensional propositional variables'
vor (obwohl er sie nicht verwendet). Passende Instanzen für Churchs Propositions-
variablen sind bezeichnenderweise Sätze-die-Propositionen-ausdrücken („sentences
(expressing propositions)") (vgl. Church [1956] § 04). Diese Terminologie bzw.
Festlegung ist zu sehen vor dem Hintergrund der von Church und anderen im
Anschluß an Frege vertretenen Konzeption, wonach Sätze Namen sind und
Wahrheitswerte „denotieren", wobei gleichzeitig daran festgehalten wird, daß Sätze
einen „Sinn" haben (bei Frege: „Gedanken", bei Church „Propositionen"). Vgl.
die ausführliche Kritik an diesen Thesen im Abschnitt 3.4.2.

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210 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

, Satz variablen' genannt; entscheidet man sich für die zweite, so wäre die
kohärente Bezeichnung ,Propositions variablen'.
In beiden Fällen hat man es mit einem Satz und einer Proposition zu
tun. Aber im Falle der Propositionsvariablen stellt die Proposition den
Bezugspunkt für das Verhältnis von Proposition und Satz dar: eine Pro-
positionsvariable hat als Wert eine Proposition-die-durch-einen-Sat^-ausge-
drückt-wird; der Umstand, daß für diese Propositionsvariablen genuine Sätze
Einsetzungsinstanzen sind, tritt in den Hintergrund. Wenn man aber in
diesem Kontext doch von , Satz variablen' spricht, so ist gerade dieser Um-
stand die bestimmende Perspektive: Man versteht die Variablen als jene
Symbole, für die (genuine) JVz^-die-Propositionen-ausdrücken passende
Instanzen sind. Anders gesagt: Wenn man hier von ,Propositionsvariablen'
spricht, so leitet sich die Bezeichnung vom Wert der Variablen her; spricht
man hingegen von ,Satzvariablen', so bezeichnet man die Variablen von
ihren passenden Instanten her.
Es gibt in der gewöhnlichen logischen Terminologie einen anderen ähn-
lichen terminologischen Fall, auf den allerdings kaum hingewiesen wird.
Man spricht wie selbstverständlich von .Individuenvariablen' (,x', ,y', ,z'...)
und — oft — ,Prädikatvariablen'. Diese beiden Bezeichnungen — zusam-
mengenommen — sind insofern inkohärent, als sie von zwei jeweils ver-
schiedenen, ja entgegengesetzten Perspektiven erfolgen. Die sog. .Indivi-
duenvariablen' werden von den Werten her, die einer bestimmten Sprach-
kategorie (den singulären Termen bzw. Namen) zugeordnet werden, be-
stimmt. Hingegen wird der Ausdruck ,Prädikatvariable' unter Zugrundele-
gung einer bestimmten Sprachkategorie, nämlich der Prädikate, die als die
passenden Instanzen für diese Variablen betrachtet werden, und nicht aus
der Perspektive der dieser Sprachkategorie zugeordneten Werte, gebildet.
Wollte man kohärent verfahren, so müßte man sagen: ,Namenvariablen' und
,Prädikatvariablen' oder .Individuenvariablen' und .Eigenschafts- (oder
Attribut-)Variablen'. Dazu ist allerdings zweierlei anzumerken. Erstens: Der
Ausdruck .Prädikat' wird oft vage auch für .Attribut' genommen. Zweitens:
Es scheint, daß der genannten Terminologie ein gewisser versteckter No-
minalismus zugrunde liegt, demzufolge nur (vage verstandene) Individuen/
Objekte als („reale", „ontologische") Werte für Variablen anerkannt werden.
Aus diesen Überlegungen ergibt sich, daß man im Sinne der hier vertre-
tenen Konzeption über Propositionen/Verhalte und entsprechend den ge-
gebenen Erläuterungen prinzipiell beides sagen kann: .Satzvariablen' und
.Propositions- oder Verhalts variablen'. Es entspricht aber eher der herr-
schenden Ausdrucksweise, die nicht-substitutionell verstandenen Variablen

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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 211

von ihren Werten her zu benennen. Daher soll im folgenden in der Regel
der Ausdruck ,Propositionsvariablen' verwendet werden. Hingegen soll der
Ausdruck ^invariablen' in der Regel im Sinne der oben erläuterten %weiten
Bedeutung verstanden werden, dergemäß den Satzvariablen Sätze als Werte
zugeordnet werden und für die Namen von Sätzen passende Instanzen sind.

[2] In einer genau und formal entwickelten Theorie müßten die erläuterten
Variablensorten auch notational kenntlich gemacht werden. Da es sich in
diesem Buch lediglich um die Grundlagen einer solchen Theorie handelt,
dürfte eine allgemeine Festlegung genügen. Folgende Symbole werden ver-
wendet:
— ,φ', ,ψ', ,<ρι, ,ψ\ ... für substitutioneil verstandene Satzvaria-
blen
— ,p\ ,q\ ,s', ,r'... für referentiell oder objektual verstandene
Satzvariablen im Rahmen einer Quanto-
renlogik erster Stufe
— ,p\ ,q', ,s', ,qi'... für Propositions-(Verhalts-)Variablen
— ,φ', ,ψ', ,φ,', ,ψ/... für substitutionell verstandene Satzpara-
meter
— ,p', ,q', ,s', ,r'... für referentiell oder objektual verstandene
Satzparameter
— ,p', ,q', ,s', ,r'... für Propositions-(Verhalts-)Parameter
— ,Φ', ,ΙΓ, ,Φ/... für substitutionell verstandene Satzkon-
stanten
— ,S', ,R'... für referentiell oder objektual verstandene
Satzkonstanten
— ,P', ,Q', ,R', ,S'... für Propositions-(Verhalts-)Konstanten

3.5.3.2 Identitätsbedingungen für Propositionen (Verhalte)


3.5.3.2.1 Die Fragestellung und die Aufgabe

Im Hinblick auf die Frage, welche Entitäten angenommen werden können


oder müssen, dürfte es kaum ein Prinzip geben, das so allgemein anerkannt
ist wie die von Quine aufgestellte Vorschrift: „No entity without identity" 38 .

38 Vgl. beispielsweise Quine [1969] S. 37; Quine [1981b], bes. S. 235-238]; Zur
Problematik dieser Vorschrift vgl. u. a. Gottlieb [1979]; Pollard [1986],

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212 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

Was ist aber damit gemeint, worauf gründet sich dieses Erfordernis und wie
kann es erfüllt werden?
Das Problem, das mit Hilfe der genannten Vorschrift gelöst werden soll,
ist das sog. Individuationsproblem. Man geht dabei von der Voraussetzung aus,
daß bei der Entscheidung der Frage, welche Entitäten anzunehmen sind,
die sog. Universalien im Spiele sind. In seiner traditionellen Form betrifft
das Problem den Sachverhalt, daß etwas Universales (ζ. B. das Menschsein)
zu etwas Partikularem oder Individuellem (eben diesem individuellen Men-
schen) „wird". Was ist aber damit genau gemeint? Es scheint, daß das
traditionell verstandene Individuationsproblem auf bestimmten Vorausset-
zungen beruht, insbesondere auf der Vorstellung, daß Universalien (welcher
Art auch immer) irgendeine Art „selbständige" (reale, begriffliche, sprach-
liche, epistemische etc.) „Existenz" besitzen. Erwiese sich eine solche Vor-
aussetzung als leer, so handelte es sich um ein Pseudoproblem.
Die oben skizzierte Theorie der Attribute bzw. der Propositionen (Ver-
halte) beinhaltet die zentrale These, daß Attribute als Universalien Abstrak-
tionen sind, und zwar im doppelten Sinne: Sie sind nicht wirklich und sie sind
unbestimmt. Als solche haben sie keinen ontologischen, sondern nur einen
sprachlichen, semantischen und epistemischen Status. Sie müssen soz. einem
Prozeß der Bestimmung unterzogen werden, oder anders: sie müssen als
Universalien „aufgehoben" werden, um einen intelligiblen Status zu erhalten.
Faßt man sie bestimmt auf, so hören die „Universalien" auf, „Universalien
als Universalien" zu sein. Ein Pseudoproblem entsteht dann, wenn man den
Unbestimmtheitsstatus der Universalien nicht beachtet und ihnen dementspre-
chend eine Bedeutung beimißt, die sie nicht haben. Viele, vermutlich die
meisten Diskussionen über Universalien leiden unter diesem fundamentalen
Mangel. 39
Nichtsdestoweniger haben Universalien als Abstraktionen einen nicht
wegdisputierbaren Platz im philosophischen Denken. Die Frage ist, wie
dieser Platz zu bestimmen ist. Die oben skizzierte Theorie dürfte in der
Lage sein, diese Frage zu klären. Universalien sind zwar Abstraktionen, aber
als solche werfen sie ein nichtüberspringbares Problem auf: das Problem der
Bestimmung der Universalien (qua Abstraktionen). Der nicht wegdisputier-
bare richtige Kern des sog. „Individuationsproblems" besteht in der Aufgabe
zu zeigen, wie man von den Universalien qua Abstraktionen zu „konkreten"
Entitäten, anders: wie man von unbestimmten zu (voll)bestimmten Entitäten

39 Gracia [1988] hat sehr interessante terminologische und sachliche Zusammenhänge


hinsichtlich der anstehenden Problematik geklärt.

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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 213

gelangt. Dieser „Übergang" vom Unbestimmten zum Bestimmten ist ein


nicht beseitigbares Strukturmoment unseres Denkens. Auf die Problematik
des Individuums im prägnanten Sinne soll im Abschnitt 3.5.4.2 eingegangen
werden.
Die Angabe von Identitätsbedingungen wird heute meistens als die Lösung
des Individuationsproblems angesehen. Es muß gleich hervorgehoben wer-
den, daß diese nicht im epistemischen Sinne zu verstehen sind. So versteht sie
auch Quine nicht. 40 Eine wichtige (Vor)Frage ist, ob Identitätsbedingungen
nur als notwendige oder nur als hinreichende oder als hinreichende und
notwendige Bedingungen für Individuation anzusehen sind. Wie es scheint,
kann diese Frage vernünftigerweise nur dann geklärt werden, wenn man
die jeweilige Konzeption über die fraglichen Entitäten berücksichtigt. Für
gewisse Konzeptionen sind Identitätsbedingungen nur als notwendige, für
andere Konzeptionen nur als hinreichende, wieder für andere Konzeptionen
als notwendige und hinreichende Bedingungen für die Individuation von
Entitäten anzusehen. Die Entscheidung hängt davon ab, wie die entspre-
chenden Entitäten definiert werden. Im Hinblick auf die in diesem Buch
entwickelte Theorie der Proposition (des Verhalts) und des Individuums
im prägnanten Sinne dürften Identitätsbedingungen sowohl als notwendige
als auch als hinreichende Bedingungen für die Individuation zu betrachten
sein. Insbesondere der Umstand, daß zur Definition der genannten Entitäten
der Bezug auf ein System (oder auf eine Welt) explizit gerechnet wird, scheint
allen jenen Gesichtspunkten zu genügen, die sonst gegen die Auffassung
geltend gemacht werden, daß Identitätsbedingungen als notwendige und
hinreichende Bedingungen für die Individuation von Entitäten zu verstehen
sind.41

40 Vgl. bes. Quine [1981 b] S. 238:


„I do not call for practical tests of identity; all I ask is an intelligible necessary
and sufficient condition, like spatiotemporal coextensiveness (...) The misunder-
standing stems from that unfortunate word ,criterion'. Sometimes in writing on
this subject I have avoided the word for this reason, and have written rather of
principles of individuation; but regrettably not always." Quine unterscheidet
entsprechend zwischen „Individuation" und „Spezifikation" (vgl. ζ. Β. Quine
[1981 a] S. 101).
41 Castaneda [1975] versucht zu zeigen, daß das sog. „Individuationsproblem" in
Wirklichkeit eine Vermengung von zwei völlig verschiedenen Fragen ist. Ihm
zufolge betrifft die eine Frage denjenigen Faktor, der die Individualität des betref-
fenden Individuums erklärt (diesen Faktor nennt er „Individuator"); die andere
Frage hat es mit jenem anderen Faktor zu tun, der das betreffende Individuum
von jedem anderen Individuum unterscheidet. Nach Castaneda kann eine Antwort

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214 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

Die anstehende Aufgabe erweist sich für die Zielsetzung des vorliegenden
Buches deswegen als sehr wichtig, weil einer der Hauptgründe für die
Verwerfung von Propositionen in dem Umstand gesehen wurde (und wird),
daß für diese Art von Entitäten — angeblich — keine Identitätsbedingungen
angegeben werden (können). Dies ist insbesondere Quines Position. Inzwi-
schen wurden aber mehrere Versuche unternommen, diesen Mangel zu
beheben. So interessant die dabei erzielten Ergebnisse auch sein mögen, sie
sind für die hier entwickelte Konzeption nur teilweise verwertbar, weil sie
den Begriff der Proposition nicht hinreichend und radikal genug klären. Im
folgenden soll auf diese Diskussion nicht eigens eingegangen werden.42

3.5.3.2.2 Ontologische und semantische Identitätsbedingungen


Es sind zwei verschiedene Fragen hinsichtlich der Individuation von Pro-
positionen zu unterscheiden: eine (vorwiegend) ontologische und eine
(vorwiegend) semantische.43 Die ontologische Frage lautet: Unter welchen
Bedingungen sind Propositionen identisch oder verschieden? Die seman-
tische Frage lautet: Unter welchen Bedingungen drücken zwei oder mehrere
(deklarative) Sätze ein und dieselbe Proposition aus?

[1] Die ontologisch orientierte Frage kann relativ leicht geklärt werden, und
zwar auf zweifache Weise.
Man kann — erstens — auf Leibniz' Prinzip der Identität des Ununter-
scheidbaren (nämlich: (Vx)(Vy)[VF(Fx Fy) —• χ = y ] ) bzw. der Ununter-
scheidbarkeit des Identischen (nämlich: (Vx)(Vy)[x = y —• (VF)(Fx «-*· Fy)])
rekurrieren. Allerdings empfiehlt es sich, das Prinzip dahingehend zu mo-

auf die eine Frage nicht von selbst als Antwort auf die andere Frage aufgefaßt
werden. Terminologisch könnte man die erste Frage als die Frage nach der
Individualität des Individuums, die zweite als die Frage nach der Individuation des
Individuums bezeichnen. Wählt man diese Terminologie, so dürfte einleuchten,
daß die Identitätsbedingungen das Problem der Individuation klären. Wenn die
andere Frage, nämlich nach der Individualität des Individuums, überhaupt einen
Sinn hat, so ist sie, wie im Haupttext ausgeführt wird, durch die Definition der
betreffenden (individuellen) Entität beantwortet. Es dürfte schwer sein, für eine
solche Frage einen Sinn zu reklamieren, der noch darüber hinausweist.
42 Was Quines Position und Argumente anbelangt, so hat Moser [1984] überzeugend
nachgewiesen, daß sie auf schwachen Füßen stehen. Quines Alternative zu Pro-
positionen sind die Satztypen („ewige Sätze"); für diese Entitäten verfügt er aber
über kein klares Identitätskriterium. Zur allgemeinen Problematik vgl. auch Wilson
[1974]; Castaneda [1975]; Daniels/Freeman [1977].
43 Vgl. dazu Moser [1984] S. 363.

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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 215

difizieren, daß nicht von Eigenschaften die Rede ist, da man sonst Probleme
mit dieser Art von Begriffen bzw. Entitäten hat. Statt dessen kann man
Operatoren für die Propositionsvariablen, also für die Variablen, für die
genuine Sätze passende Instanzen sind, einführen. Daniels/Freeman44 spre-
chen in diesem Zusammenhang von Satz variablen (,p', ,q'...), die Proposi-
tionen als Werte haben, und von Variablen für Satzoperatoren {,/', β'···)·,
denen sie Modalitäten als Werte zuordnen. Entsprechend dieser Terminologie
formulieren sie die Identitätsbedingungen für Propositionen so: Propositio-
nen sind identisch, wenn sie alle Modalitäten gemeinsam haben:
(1) ρ =q<->(V/(/p <-+fq).

Eine zweite Weise, Identitätsbedingungen zu formulieren, rekurriert auf die


Konstituenten und die Strukturiertheit der Proposition: „Zwei" Proposi-
tionen sind identisch, wenn sie dieselben Konstituenten und dieselbe Struk-
turiertheit aufweisen. Im Falle der primären Proposition sind die Konsti-
tuenten das Attribut, die „Systemstelle" und der Index der Relativierung
auf eine Welt. Da sekundäre oder komplexe Propositionen Konfigurationen von
primären Propositionen sind, muß man drei Gesichtspunkte unterscheiden
und berücksichtigen:

— die Anzahl der primären Propositionen („materialer" Aspekt)


— Kategorie und Anzahl der Operatoren („formaler" Aspekt)
— Reihenfolge bzw. Zuordnung der Propositionen und Opera-
toren (Aspekt der „Konfigurationsweise").

[2] Als viel schwieriger erweist sich die Klärung der semantisch orientierten
Frage. Unter ,Satz' ist hier sowohl Sat^typus (sentence type) als auch Sat^yor-
kommnis (sentence token) zu verstehen.
Quine versteht Satf(typen als sprachliche Formen, die häufig, einmal oder
nie mündlich oder schriftlich geäußert werden (können):
„Ein Satz ist kein einzelnes Äußerungsereignis, sondern ein Universale: ein
wiederholbares Klangmuster bzw. eine Norm, der man wiederholt nahe-
kommen kann." 4 5

Um die Schwierigkeiten zu vermeiden, die dann entstehen, wenn Sätze (als


Typen) als die Klasse ihrer (schriftlichen und/oder mündlichen) Äußerungen

44 Vgl. Daniels/Freeman [1977] S. 2 ff.


45 Quine [1960] § 40, S. 332.

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216 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

bestimmt werden, 46 faßt er Sätze qua sprachliche Formen als Folgen (im
mathematischen Sinne) ihrer sukzessiven Zeichen oder Phoneme auf. So
konstruiert er eine Folge a1( a 2 ,..., a„als die Klasse der η Paare (a^ 1), <a2,
2),..., <(an, n ) . Dadurch ist es möglich, jedes Zeichen Λ, als eine Teilklasse
von Ereignissen mündlicher oder schriftlicher Äußerungen zu interpretieren,
wodurch die mit der Äußerung und Nicht-Äußerung von Sätzen gegebenen
Probleme gelöst werden (bis auf bestimmte Probleme mit selbstreferentiellen
„tokens").
Bestimmt man Satztypen als Folgen im erläuterten Sinne, so ist die
ontologische Frage nach den Identitätsbedingungen für solche Sätze leicht zu
klären. Geht man vom Extensionalitätsprinzip für Folgen aus, so läßt sich
sagen: zwei (oder mehrere) Folgen (und daher auch Satztypen) sind identisch
genau dann, wenn sie dieselben Komponenten in genau derselben Reihen-
folge haben.
Aus dem in diesem Buch entwickelten Ansatz ergibt sich nun folgendes:
Ordnet man jedem Satztypus einen informational-semantischen Wert, d. h.
eine Proposition, zu, so läßt sich die semantische Frage nach den Identi-
tätsbedingungen für Propositionen im Hinblick auf Satztypen beantworten:
Zwei Satztypen drücken dieselbe Proposition aus genau dann, wenn sie
identisch sind.

[3] Mit der Angabe der Identitätsbedingungen für Satztypen ist die Frage
nicht geklärt, worin die Identitätsbedingungen für die Satz Vorkommnisse
(„tokens") zu sehen sind. Freilich kann man eine erste, im Lichte des bisher
Ausgeführten — zunächst — einleuchtende Antwort auf diese Frage geben:

(2) Zwei (oder mehrere) Satzvorkommnisse drücken dieselbe Proposition aus


genau dann, wenn sie zum selben Satztypus gehören.

Aber diese Antwort ist deswegen eine vordergründige, weil sich sofort die
semantische Frage nach den Identitätsbedingungen für Satzvorkommnisse
aufdrängt: Unter welchen Bedingungen sind zwei (oder mehrere) Satzvor-
kommnisse zum selben Satztypus zu rechnen? Diese Frage wurde im An-
schluß an und in Auseinandersetzung mit Quine von P. K. Moser gründlich
und vorbildlich untersucht. 47 Er zeigt, daß mehrere Kriterien, die entweder

44 In diesem Fall würden alle nicht geäußerten Sätze auf einen einzigen reduziert
werden: die Nullklasse. Vgl. Quine [1960], § 40 S. 337.
47 Vgl. Moser [1984], bes. S. 367 ff.

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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 217

bei Quine selbst zu finden sind oder zumindest mit seiner Sprachphilosophie
in Einklang gebracht werden können, unzureichend sind: das Kriterium der
typographischen oder phonetischen Identität, das Kriterium der verbalen
Dispositionen der Sprachbenutzer, das Kriterium der — unabhängig vom
verbalen Verhalten gegebenen — physikalischen Ähnlichkeit der Affizierung
der sinnlichen Oberfläche, das Kriterium der positiven Antwort aller Sprach-
benutzer auf die Frage „Gehören zwei (oder mehrere) Satzvorkommnisse
zum selben Satztypus?". Moser selbst schlägt ein Kriterium vor, das er das
konventionalistische Kriterium nennt, demzufolge die Bedingungen für die
Typus-Identität der Satzvorkommnisse unter Rekurs auf die funktionalen
Merkmale der Satzvorkommnisse bestimmt werden. 48
Zunächst müssen zwei Begriffe definiert werden, bevor dieses Kriterium
für Satzvorkommnisse (schriftliche und mündliche Äußerungen) formuliert
werden kann: die Begriffe der funktionalen Äquivalentζ und der annehmbaren
Transkription. Moser definiert sie so:

(Dl) Die (schriftlichen oder mündlichen) Äußerungen ti und t2 sind funktional


äquivalent = df tj und t2 sind austauschbar in extensionalen Kontexten salva
veritate.

(D2) Die schriftliche Äußerung i ist eine annehmbare Transkription der mündli-
chen Äußerung u = df die eingespielten Regeln der Aussprache für schrift-
liche Äußerungen im Deutschen und für Transkriptionen von mündlichen
Äußerungen ins Deutsche legitimieren für einen Sprachbenutzer den Über-
gang von u zu i und umgekehrt.

Mit Hilfe dieser zwei Begriffe wird das Kriterium für Typus-Identität von
mündlichen Äußerungen von Sätzen so formuliert:

(3) Die mündlichen Äußerungen ui und u2 im Deutschen sind Vorkommnisse


desselben Typus genau dann, wenn u, und u2 funktional äquivalent sind und
genau dieselben annehmbaren Transkriptionin haben.

Um das Kriterium für die Typus-Identität von schriftlichen Äußerungen


anzugeben, muß zuerst der Begriff des Homophonen definiert werden:

(D3) Die schriftlichen Äußerungen i] und i2 sind homophon = df it und i2 fun-


gieren als annehmbare Transkriptionen genau derselben mündlichen Äuße-
rungen.

48 Vgl. zum folgenden Moser [1984] S. 372 ff.

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218 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

Schließlich lautet das Kriterium für die Typus-Identität von schriftlichen


Äußerungen:
(4) Die schriftlichen Äußerungen i, und i2 im Deutschen sind Vorkommnisse
desselben Typus genau dann, wenn sie funktional äquivalent und homophon
sind.

Einer der Nachteile dieses konventionalistischen Kriteriums, wie Moser


hervorhebt, ist der Umstand, daß es auf eine partikuläre Sprache einge-
schränkt ist. Nun gibt es, gerade nach Quine, keine klaren Identitätsbedin-
gungen für solche Sprachen. Damit ist also nicht gezeigt, unter welchen
Bedingungen Satzvorkommnisse aus verschiedenen Sprachen zum selben
Satztypus gehören. Nichtsdestoweniger ist zu sagen, daß das dargelegte
Kriterium einen bedeutsamen Schritt in Richtung auf eine der möglichen
Globallösungen des anstehenden Problems darstellt. Gleichzeitig wird klar,
daß Propositionen/Propositionen nicht deshalb abgelehnt werden können,
weil es — bisher — nicht möglich gewesen ist, Identitätsbedingungen für
sie zu formulieren, die allen möglichen Gesichtspunkten gerecht und alle
möglichen Probleme sofort zu lösen in der Lage sind. Wäre dem so, so
wäre, wie Moser treffend konstatiert, auch Quine nicht berechtigt, Satztypen
anzunehmen; er ist in keiner besseren Lage als der Philosoph, der Proposi-
tionen/Propositionen annimmt. Die entscheidenden Gründe für die An-
nahme von Propositionen liegen anderswo, wie die Ausführungen dieses
Buches zur Genüge gezeigt haben.

[4] Es sei noch auf eine andere Lösungsmöglichkeit kurz hingewiesen, die
man als die radikalste und als die im Hinblick auf die in diesem Buch
vertretene Konzeption über Propositionen vielleicht konsequenteste be-
trachten kann. Wie aus den Ausführungen im Abschnitt 3.6.3 hervorgehen
wird, werden Propositionen am besten als zwar nicht-sprachliche, aber
doch sprachabhängige Entitäten charakterisiert. Die radikalste Weise, wie man
diese Sprachabhängigkeit verstehen kann, besteht darin, daß man die Pro-
positionen nicht von Satztypen, sondern von Satzvorkommnissen abhängig
sein läßt. Man würde in diesem Fall Satztypen im eigentlichen Sinne, d. h.
als eine identische sprachliche Form, verwerfen und sie höchstens in einem
weiteren Sinne (etwa im Sinne des Begriffs der Familienähnlichkeit) zulassen.
Wenn man Propositionen als Entitäten charakterisiert, deren Sprachabhän-
gigkeit auf der Ebene der Satzvorkommnisse liegt, so heißt das, daß jedes
einzelne (numerisch verschiedene) Satzvorkommnis eine eigene Proposition
ausdrückt. Es könnte nicht mehr gesagt werden, daß zwei (in welcher Weise

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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 219

auch immer) verschiedene Satzvorkommnisse dieselbe Proposition ausdrük-


ken. Ja, die semantische Frage nach Identitätsbedingungen würde überhaupt
nicht mehr entstehen, da von vornherein klar wäre, daß der zu der Frage
nach den Identitätsbedingungen Anlaß gebende „semantische Fall" über-
haupt nicht eintreten kann. Man könnte weniger radikale Formen einer
solchen Konzeption ins Auge fassen, ζ. B. die, die zwei (oder mehrere) nur
numerisch verschiedene Satzvorkommnisse (etwa zwei mündliche Äuße-
rungen „desselben" Satzes) doch als „Typus-identisch" versteht, so daß sie
ein und dieselbe Proposition ausdrücken.
Wären die Konsequenzen dieser radikalen Position nicht katastrophal?
Katastrophal wären sie möglicherweise für die meisten gängigen logischen,
semantischen und ontologischen Konzeptionen und für unsere alltäglichen
und philosophischen Gewohnheiten, die ohne die Gesichtspunkte der Iden-
tität, der Austauschbarkeit u. ä. kaum auskommen dürften. Aber streng
philosophisch gesehen, könnte man kaum von „katastrophalen" Konse-
quenzen sprechen. Man könnte den Gesichtspunkt der Identität durch andere
Gesichtspunkte ersetzen, etwa durch den Gesichtspunkt der Familienähnlich-
keit.49 Statt von Satzvorkommnissen eines identischen Satztypus und entspre-
chend von ein und derselben (einer identischen), durch diesen Satztypus
ausgedrückten Proposition zu sprechen, würde man bestimmte Satzvor-
kommnisse als familienähnlich betrachten. Es handelt sich nicht um eine rein
terminologische Angelegenheit, was daraus zu ersehen ist, daß man im
letzteren Fall eine Pluralität von Propositionen hätte, die aber durch den
Charakter einer Familienähnlichkeit miteinander verbunden wären.
Für bestimmte Zielsetzungen könnte man pragmatisch so verfahren, daß
man von der allerletzten Differenziertheit zwischen den (familienähnlichen)
Satzvorkommnissen und entsprechend zwischen den (familienähnlichen)
Propositionen absieht und einen identischen Satztypus bzw. die durch ihn
ausgedrückte Proposition annimmt. Wenn man die Dinge so sieht, wird
klar, daß das ganze Problem der Identitätsbedingungen für Sätze und Pro-
positionen stark entschärft wird. Es entpuppt sich als eine Angelegenheit,
die bis zu einem gewissen Punkt durch Einführung von weitgehend prag-
matisch bestimmten Festlegungen geklärt werden kann.

49 Dieser Begriff wurde von Wittgenstein eingeführt. Vgl. „Philosophische Unter-


suchungen" § 67 (Wittgenstein [1969] S. 324).

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220 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

3.5.4 Propositionen/Verhalte, Tatsachen, Individuen (Objekte),


Ereignisse, Prozesse, Handlungen:
Grundzüge einer kategorialen Ontologie
3.5.4.1 Der Grundgedanke
[1] In vielfaltiger Weise wurde in den vorhergehenden Kapiteln gezeigt,
daß eine Theorie der Wahrheit an der von ihr vorausgesetzten oder impli-
zierten Ontologie nicht vorbeigehen kann. Es wurde ferner immer wieder
angedeutet, daß die gängigen ontologischen Vorstellungen, die den meisten
Theorien der Wahrheit in der einen oder anderen Weise zugrunde liegen,
als wenig intelligibel anzusehen sind. Ein Beispiel dafür ist die Annahme,
ein Satz der Form ,Fa' sei wahr genau dann, wenn das Prädikat ,F' (genauer:
das Attribut F*) auf das durch den singulären Term ,a' bezeichnete Objekt
ο „zutrifft". Eine solche Formulierung, mit der sich die allermeisten Philo-
sophen zufrieden geben, ist zwar nicht falsch, aber sie ist doch grundsätzlich
defizient, insofern sie sofort die Frage veranlaßt: Wie ist dieses „Zutreffen"
zu verstehen? Oder grundsätzlicher gefragt: Ist das hier vorausgesetzte
Denkschema der zu denkenden Sache adäquat? Ein anderes Beispiel: Viele
Theorien der Wahrheit nehmen Propositionen, Tatsachen und Objekte/
Individuen an. Aber diese Annahme wirft sofort die Frage auf: Wie hängen
diese Entitäten miteinander zusammen? Es dürfte schwer sein, eine befrie-
digende Behandlung dieser Frage in der heutigen Literatur zu finden. Es
geht also um Intelligibilität. Es ist unsinnig, Intelligibilitätsfragen verbieten
zu wollen. Solche Fragen sind nicht „Probleme" im gängigen Sinne; „Pro-
bleme" sind eine spezielle Art von Fragen. Solange Intelligibilitätsfragen
auftreten, ist die philosophische Aufgabe nicht erledigt. Der grundlegende
Mangel der gegenwärtigen Theorien der Wahrheit ist ein Mangel an Intel-
ligibilität, und zwar ganz besonders hinsichtlich der ontologischen Dimen-
sion.

[2] Wie kann dieser grundlegende Mangel behoben werden? Auf diese Frage
versucht die oben skizzierte Theorie der Proposition eine Antwort zu geben.
Es soll hier die These vertreten werden, daß Propositionen, oder, wie ab
jetzt in der Regel gesagt werden soll, Verhalte, die einzigen grundlegenden
Entitäten sind. Um diese These richtig zu verstehen, sind sachliche wie auch
terminologische Differenzierungen vorzunehmen.
In einer gewissen Hinsicht wurde die genannte These mindestens von
zwei Autoren formuliert. Im Tractatus von Wittgenstein heißt es:

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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 221

„1.1 Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen [d.h. der bestehenden
Sachverhalte, L. B. P.], nicht der Dinge." 50

Allerdings ist gleich hinzuzufügen, daß Wittgenstein diese großartige Ein-


sicht sofort wieder aufzugeben scheint, wenn er formuliert:
„2.0272 Die Konfiguration der Gegenstände bildet den Sachverhalt.
2.03 Im Sachverhalt hängen die Gegenstände ineinander, wie die Glieder
einer Kette.
2.031 Im Sachverhalt verhalten sich die Gegenstände in bestimmter Art
und Weise zueinander.
2.032 Die Art und Weise, wie die Gegenstände im Sachverhalt zusam-
menhängen, ist die Struktur des Sachverhalts."

Hier scheint Wittgenstein die Gegenstände als die grundlegenden Entitäten


anzusehen, die die Welt ausmachen und die Struktur der Sachverhalte
bestimmen. In Entsprechung zu Satz 1.1 und in diametraler Entgegensetzung
zu Satz 2.0272 soll hier die These vertreten werden:
„Die Konfiguration der (primären) (Sach)Verhalte bilden den Gegenstand
(die Gegenstände)."

Der zweite Autor, der die genannte These klar vertritt, ist F. B. Fitch, der
sie als Titel eines außerordentlich dichten Aufsatzes formuliert: „Propositions
as The Only Realities"51.
Wenngleich solche Formulierungen in einer gewissen Hinsicht interessant
und hilfreich sind, so ist doch auf das zu achten, was die genannten Autoren
unter .Sachverhalt' bzw. .proposition' genau verstehen. Es kann kaum gesagt
werden, daß sie den Begriff der primären Proposition bzw. des primären
Verhalts entwickeln und vertreten.

[3] Um den Grundgedanken einer kategorialen Ontologie zu skizzieren, ist


vom Begriff des primären Verbalts auszugehen. Die These, daß primäre
Verhalte die ursprünglichen Entitäten sind, impliziert in keiner Weise die
Behauptung, daß es keine Objekte/Individuen, Ereignisse usw. gibt. Natür-
lich gibt es diese Entitäten. Die Frage ist nur, wie sie zu verstehen bzw. zu
erklären sind. Primäre Verhalte sind in dem Sinne die ursprünglichen En-
titäten, daß die „anderen" (genannten) Entitäten als Konfigurationen von
primären Verhalten aufzufassen sind.

50 Wittgenstein [1969] S. 11.


51 Fitch [1971],

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222 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

Eine Welt ist eine Totalität von bestehenden (primären) Verhalten. Eine
solche Formulierung hat hier rein provisorischen, antizipatorischen Charak-
ter, da der Begriff der Welt ausführlich erst im Abschnitt 3.6 geklärt werden
soll. Aus diesem Grund wird hier zunächst ganz allgemein von „einer Welt"
ohne weitere Spezifikation gesprochen. Es wird angenommen, daß primäre
Verhalte die ursprünglichen Entitäten als in-einer-Welt-realisierte Attribute
sind. Daß eine Welt eine Totalität von (bestehenden) primären Verhalten ist,
ist die allgemeinste und fundamentalste Aussage, die über (die bzw. eine)
Welt zu machen ist. Damit ist weder geleugnet noch auch gezeigt, daß eine
Welt eine in bestimmter Weise strukturierte Totalität ist. Es ist nur gesagt,
daß die Strukturiertheit der Welt, falls vorhanden, einzig auf der Basis der
These, daß die primären Verhalte die einzigen ursprünglichen Entitäten sind,
zu denken und aufzuzeigen ist. Das heißt: alle Entitäten, die die Struk-
tur(iertheit) von Welt ausmachen, sind als Komplexe oder Konfigurationen
von primären Verhalten zu denken. Um welche Entitäten handelt es sich?
Es dürfte von vornherein klar sein, daß man hier nicht irgendwie apriori
oder deduktiv vorgehen kann. Man kann nicht eine Welt erfinden (oder
konstruieren) und dann sagen, dies sei etwa unsere oder die reale Welt. Man
kann zwar eine Welt konstruieren, aber das einzige, was man in diesem Fall
(zunächst) behaupten kann, ist, daß es sich um eine mögliche Welt handelt.
Will man aber den Anspruch erheben, jene Welt zu erfassen, die unsere Welt
genannt wird, so muß auch empirischen Gesichtspunkten Rechnung getragen
werden. Hier geht es nun nicht darum, zu zeigen oder herauszufinden, welche
und wie viele Entitäten im einzelnen eine Welt einschließt, sondern darum,
den Typus oder die Kategorie von Entitäten, die eine (hier genauer: jede, sei
es mögliche, sei es wirkliche) Welt bevölkern, zu analysieren. Dies ist zu
präzisieren. Zu entscheiden ist hier nicht, ob es Atome oder Engel oder
Gold oder Einhörner usw. gibt. Auch geht es nicht darum, zu entscheiden,
ob es Kategorien oder „Typen" von Entitäten gibt, wenn man darunter
bestimmte Bereiche von Entitäten, d. h. Realitätsbereiche oder -schichten
der Welt, versteht, wie etwa die Dimension des Physikalischen, des Mate-
riellen, des Mentalen, des Ästhetischen, des Geistigen, des Ideellen usw. Es
geht vielmehr um eine ursprünglichere Fragestellung: um die Kategorialität
der Entitäten, die die Welt ausmachen.
Zu diesem so verstandenen Typus von Entitäten gehören u. a.: Tatsachen,
Individuen/Objekte, Ereignisse, Prozesse, Handlungen, „Momente" u. ä. In
einer bestimmten Hinsicht (d. h. je nachdem, wie man sie interpretiert),
gehören dazu auch abstrakte Entitäten wie Mengen (Klassen), Zahlen,
Punkte, (formale) Strukturen (jeder Art) u. ä., Raum- und Zeitstellen usw.

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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 223

Da hier die These vertreten wird, daß alle die genannten Entitäten Konfi-
gurationen einer einzigen grundlegenden (ursprünglichen) Entitätskategorie
(des primären Verhalts) darstellen, kann es sich nur darum handeln zu zeigen,
wie sich alle diese Entitäten auf solche Konfigurationen reduzieren oder sich
als solche Konfigurationen erklären lassen. Die vollständige und angemessene
Durchführung eines solchen Programms stellt eine immense Aufgabe dar,
die im Rahmen dieses Buches nicht angemessen bewältigt werden kann.
Hier soll nur der, wie man wohl sagen muß, „harte Kern" der genannten
Aufgabe, nämlich die Reduktion der angeblich „harten" (und ursprüngli-
chen) Entitäten „Individuum (Objekt)", „Ereignis", „Prozeß", „Handlung"
in Angriff genommen werden. Aus naheliegenden Gründen verdient die
Entität Individuum (im prägnanten Sinne) eine ganz besondere Berücksich-
tigung.

[4] Es ist zu betonen, daß der als Totalität der (bestehenden) primären
Verhalte konzipierten Welt keine Vorrangigkeit oder Priorität — weder im
zeitlichen noch im logischen Sinne — gegenüber der Welt als einer durch
Konfigurationen von primären Verhalten bestimmten Totalität zukommt. Es
handelt sich vielmehr um eine allgemeine, noch nicht um eine spezifische
Aussage über die Welt und ihre Strukturiertheit. Es wäre also völlig unan-
gemessen, ja falsch, das „Verhältnis" von ursprünglichen primären Verhalten
und Konfigurationen so zu bestimmen: „Am Anfang" (in welchem Sinne
auch immer) waren/sind nur die ursprünglichen primären Verhalte, dann
„entwickel(te)n" sie sich zu Konfigurationen... Ein evolutionärer Kosmos soll
hier keineswegs verworfen werden. Aber darum handelt es sich nicht. Zwar
ist nicht zu leugnen, daß viele Konfigurationen erst „im (zeitlichen) Verlauf'
einer Entwicklung entstehen (und vergehen), aber dies kann nicht von jeder
Konfiguration behauptet werden. Soll eine solche These vertreten werden,
so müssen Gründe angegeben werden. Solche und ähnliche Fragen sind im
Rahmen einer näheren Ausführung der hier nur grundsätzlich skizzierten
ontologischen Konzeption zu behandeln.
Die Schwierigkeit der hier vertretenen Konzeption liegt insbesondere in
der genauen Bestimmung des Begriffs der Konfiguration. Dieser Ausdruck
wurde mit Bedacht gewählt (wie oben vermerkt, wird er schon von Witt-
genstein verwendet). Man kann ihn in einem sehr weiten oder in einem
engen (spezifischen) Sinne nehmen. Gemäß der weiten Bedeutung ist alles,
was mehr ist als nur ein einziger primärer Verhalt, eine Konfiguration, so
etwa: eine Menge (Klasse), eine Kollektion, ein Haufen, eine Gruppe, ein
Individuum im prägnanten Sinne (beispielsweise ein Organismus, eine Per-

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224 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

son usw.), kurz: in diesem Sinne ist jedes Gebilde überhaupt eine Konfi-
guration. Nimmt man aber „Konfiguration" in einem sehr engen Sinne, so
wird man nur jene Gebilde, die eine signifikante Form von Einheit (oder
„Geschlossenheit") aufweisen, „Konfigurationen" nennen. Es bleibt freilich
zu sagen, was „signifikante Form von Einheit" besagt. Eine allgemeine
Definition von „Konfiguration" erscheint kaum durchführbar und kaum
von Belang. Im folgenden soll hinsichtlich jeder zu analysierenden Gestalt
von Konfiguration eine qualifizierende Bezeichnung eingeführt werden.

3.5.4.2 Individuen (im prägnanten Sinn)


als fundamentale Konfigurationen von primären Verhalten
„What is an individual? A very good question.
So good, in fact, that we should not even try to
answer it. We could assume that being an indi-
vidual is a primitive concept — that is harmless:
any sufficiently clear concept can be made pri-
mitive."52

3.5.4.2.1 Zur grundsätzlichen Bestimmung von „Individuum"


[1] Es wurde in diesem Buch häufig auf die undifferenzierte Weise hinge-
wiesen, in der insbesondere analytisch orientierte Autoren von „Objekten/
Individuen" („particulars") sprechen; selten wird die Frage danach gestellt,
was unter einer solchen Entität genau zu verstehen ist. Hier wird mit einem
un(ter) bestimmten Begriff von „Objekt/Individuum" operiert. Und dieser
un(ter)bestimmte Begriff ist in einer Hinsicht Grund, in einer anderen
Hinsicht Folge des in diesem Buch mehrmals genannten und kritisierten
objektontologischen Dogmas. Es ist erstaunlich, wie wenig kritisch und pro-
blembewußt jene Autoren sind, die von „Objekten/Individuen" im
un(ter)bestimmten Sinne sprechen. Es liegt auf der Hand, daß die leidigen
Fragen nach Referenz, Wahrheit u. dgl. einen radikal anderen Status erhalten,
sobald man unter „Objekt/Individuum" nicht so etwas wie eine mehr oder
weniger hypostasierte, unanalysierte, unstrukturierte, sondern eine durch-
sichtig analysierte und wohlstrukturierte Entität versteht. Formulierungen
wie „einem Objekt/Individuum ein Attribut zuschreiben" oder „eine Pro-
position (einen Sachverhalt) über ein Individuum behaupten" oder „Tatsa-
chen bezüglich Objekte/Individuen feststellen, behaupten usw." erhalten
dann einen ganz anderen, nämlich einen durchsichtigen Sinn. Aber es gibt

52 Scott [1970] S. 144.

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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 225

ein noch erstaunlicheres Phänomen: sogar Philosophen, die eine explizite


Theorie des Individuums entwickeln und vertreten, setzen sie in der Regel
nicht in Beziehung zur Theorie der Wahrheit. Ein Beispiel ist B. Russell:
Obwohl er eine explizite Theorie der Proposition, eine explizite Theorie des
Individuums (die sog. „Bündeltheorie") und eine explizite Theorie der
Wahrheit entwickelt, bleibt die Theorie des Individuums ohne erkennbare
Relevanz für die beiden anderen Theorien.
Traditionellerweise werden zwei entgegengesetzte Theorien über das In-
dividuum vertreten: die „Substratum-Theorie" und die „Bündeltheorie".
Die erste faßt das Individuum als ein Kompositum aus einem Substratum
und aus Attributen (hier im strengen Sinne von „Universalien") auf; gemäß
der zweiten ist das Individuum ein „Bündel" von Eigenschaften. In den
letzten Jahrzehnten wurden mehrere vermittelnde und präzisierende Theo-
rien entwickelt, auf die hier nicht im einzelnen eingegangen werden kann. 53
Hier soll ein eigener positiver Theorieansatz entwickelt werden.
Daß die Subtratum-Theorie unhaltbar ist, ergibt sich direkt aus den
bisherigen Ausführungen. Auch die Bündeltheorie in ihrer bisherigen Form
ist durch den hier entwickelten allgemeinen Ansatz ausgeschlossen. Ihre
Schwäche liegt darin, daß sie von Eigenschaften (oder Universalien, Qua-
litäten) auf völlig unbestimmte und damit inadäquate Weise spricht. Die bei
der Entwicklung des Ansatzes einer Theorie der Proposition (des Verhalts)
herausgearbeiteten Gesichtspunkte werden von dieser Theorie nicht berück-
sichtigt. „Eigenschaften" („Qualitäten") werden irgendwie als ontologische
Entitäten angenommen, wobei unverständlich bleibt, wieso sie bestimmt
und realisiert sind. Aus diesem Grunde soll hier keine ausführliche Kritik
dieser Theorie vorgelegt werden. Die im folgenden zu skizzierende Theorie
ist eine radikal modifizierte und präzisierte Form der sog. „Bündeltheorie".
Die auffallendste Modifikation betrifft die Konstituenten des Individuums:
Es sind nicht Eigenschaften (Qualitäten), sondern primäre Verhalte.

[2] Zunächst ist die Verwendung des Ausdrucks ,Individuum' zu klären.


Es ist zwischen einer wörtlichen, einer vagen oder unbestimmten und einer
spezifischen oder prägnanten Bedeutung bzw. Verwendung dieses Ausdrucks
zu unterscheiden. Die wörtliche Bedeutung basiert auf dem Gesichtspunkt der
Unteilbarkeit bzw. Einfachheit: demnach ist ein Individuum alles, was

53 Vgl. u. a. Loux [1976] und [1978], Armstrong [1978], Castaneda [1982], Gtossmann
[1983], Simons [1987], Gracia [1988] und die weitere in diesem Abschnitt ange-
führte Literatur.

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226 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

atomar, unteilbar, einfach, auf etwas anderes nicht zurückführbar ist. Indi-
viduen in diesem Sinne sind die „einfachsten Elemente". Die vage Bedeutung
liegt der alltäglichen und auch weitgehend philosophischen Verwendung der
Ausdrücke ,Objekt'/,Individuum' zugrunde. Die spezifische oder prägnante
Bedeutung ist von einem ganz anderen, insbesondere einem typen- oder
prädikationstheoretischen, Gesichtspunkt bestimmt: Danach ist Individuum
dasjenige, wovon (im Prinzip) alles, das selbst aber nicht von etwas anderem
prädiziert werden kann. In der philosophischen Tradition ist dieser letzte
Gesichtspunkt in den Begriff der Substanz eingegangen und mit dem ersten
Gesichtspunkt in der Weise kombiniert worden, daß die Substanz als Sub-
stanz für unteilbar gehalten wurde.
Alle drei Gesichtspunkte entsprechen gewissen intuitiven Vorstellungen.
Doch ist es fraglich, ob diese Vorstellungen ohne genaue Prüfung akzeptiert
werden können. Der typen- oder prädikationstheoretische Gesichtspunkt
kann auch dann als erfüllt angesehen werden, wenn das Individuum nicht
als Substanz im prägnanten klassischen Sinne, sondern als eine (genau zu
spezifizierende) Konfiguration etwa von primären Verhalten verstanden
wird. Wäre dadurch dem ersten Gesichtspunkt, dem Gesichtspunkt der
Unteilbarkeit, nicht mehr Rechnung getragen? Hier ist zu unterscheiden.
Die gängige Vorstellung von Unteilbarkeit wäre sicher aufgegeben, da ihr
zufolge ein Letztes, Unteilbares mit dem Einfachen identifiziert wird. Danach
ist eine letzte (fundamentale) Einheit etwas absolut Einfaches im Sinne von:
Nichtstrukturiertes. Unter Zugrundelegung dieser Vorstellung kann ein
Individuum nicht eine Konfiguration sein, da diese eine strukturierte, keine
einfache Einheit ist. Der ersten Konzeption entspricht daher ein ganz „ein-
faches" Kompositionalitätsschema: Die „letzten Elemente" sind die absolut
einfachen Elemente. Dabei werden zwei Arten von „einfachen Elementen"
angenommen: die Substanzen (als die eigentlichen signifikanten oder prägnanten
einfachen Elemente, die nicht als Konstituenten in andere Entitäten einge-
hen) und die nicht-substantiellen Elemente, die in prinzipiell beliebiger Weise
Konstituenten komplexer Entitäten sein können.

[3] Um die Darstellung der hier zu vertretenden Konzeption vorzubereiten,


ist an dieser Stelle ein kurzer Hinweis auf die verschiedenen Individuenkal-
küle und die mereologischen Richtungen am Platz. Beispielsweise entwickelt
N. Goodman54 einen nominalistischen Individuenkalkül, mit dessen Hilfe sich

54 Vgl. ζ. B. Goodman [1951] und [1964],

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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 227

die Welt aus Individuen aufbauen läßt. Dabei werden Klassen (Mengen)
strikt abgelehnt. Der Ausdruck .Individuum' wird in einem etwas techni-
schen Sinne, nicht nach den gewöhnlichen Vorstellungen (bzw. in der in
diesem Buch verwendeten Terminologie: in einem „prägnanten Sinne")
genommen.55 Unteilbarkeit, so betont Goodman, ist keine notwendige Be-
dingung für Individualität; in der Tat kann ein Individuum nach seiner
Konzeption in eine beliebige Anzahl von Teilen zergliedert werden.56 ,In-
dividuum' wird folgendermaßen eingeführt: Die Variablen des Individuen-
kalküls nehmen als Werte Individuen. Dabei wird ein primitives (Undefi-
niertes) Prädikat .überlappt sich' (.overlaps') (Notationszeichen: °) einge-
führt. Die Bedeutung dieses Prädikats wird so angegeben: Zwei Individuen
überlappen sich dann und nur dann, wenn sie irgendeinen gemeinsamen
Gehalt haben, gleichgültig, ob das eine im anderen gänzlich enthalten ist
oder nicht. .Sich Überlappen' ist ein reflexives, symmetrisches, aber kein
transitives Prädikat. Individuen sind demnach alle und nur die Entitäten,
die sich mit etwas überlappen. Dieses Postulat wird in der folgenden Formel
festgehalten:
χ ° y. = (3z)(w)(w ο ζ . w ο χ. w ° y). 57
Auf dieser Basis werden weitere Begriffe wie „Teil", „Produkt", „Summe",
„Ganzes", „Negat" usw. von Individuen definiert. Unter der Summe von
zwei Individuen wird jenes Individuum verstanden, das beide exakt und
vollständig „ausschöpft" („exhausts"), oder: dasjenige Individuum, das sich
genau mit den Individuen überlappt, die sich mit mindestens einem von
beiden überlappen:
χ + y = (τζ){ (w)(w °z — . w ° x ν w ° y ) } .
Andere Autoren führen andere primitive Prädikate für einen Individuen-
kalkül ein. So verwendet B. L. Clarke das Prädikat ,Cx,y' (,x is connected
to y') als primitives Prädikat und definiert damit das Prädikat ,x überlappt
sich mit y'. 58 P. Simons hat in seinem Buch Parts. Α Study in Ontology59 einen
imponierenden Versuch unternommen, eine Gesamtübersicht über die bis-

55 Goodman gibt zu, daß es für seine eigenen Zwecke vielleicht besser gewesen
wäre, den Ausdruck .Individuum' nicht zu verwenden und statt dessen einen
neuen Ausdruck zu prägen (vgl. Goodman [1951] S. 226).
56 Vgl. Goodman [1951] S. 33.
57 A. a. O. S. 34.
58 Vgl. Clarke [1981].
59 Simons [1987],

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228 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

herigen mereologischen Ansätze zu vermitteln, deren Schwächen aufzudek-


ken und konstruktive Lösungsvorschläge zu unterbreiten.
Es ist die Frage zu stellen, ob man mit Hilfe solcher systematisierten und
weitgehend formalisierten mereologischen Begrifflichkeiten in der Lage ist,
zumindest einige unter jenen Entitäten zu erfassen, die in der menschlichen
Erfahrung „Individuen" im prägnanten Sinne (ζ. B. Personen, Subjekte,
Organismen u. dgl.) heißen. Daß man ein Individuum im prägnanten Sinne
irgendwie (auch) mereologisch erfassen kann, steht außer Frage. Aber die eigent-
liche Frage ist doch, ob eine mereologische Erfassung eine adäquate Erfassung
oder Erklärung von Individuum (im prägnanten Sinne) ist. In Entsprechung
zu dem in diesem Buch erarbeiteten semantisch-ontologischen Grundansatz
sollen im folgenden die wesentlichen Elemente einer andersorientierten
Konzeption skizziert werden.

[4] Will man der realen (unserer) Welt gerecht werden, so sind Individuen
in einem qualifizierten, spezifischen, eben prägnanten Sinne anzunehmen. Wie
sind sie zu begreifen? Im Sinne des in diesem Buch erarbeiteten semantisch-
ontologischen Ansatzes ist zu sagen, daß sie ganz spezielle Konfigurationen
von primären Verhalten sind. Diese These ist im folgenden zu erläutern, zu
begründen und gegen einige mögliche Einwände zu verteidigen.

[i] Der zentrale Punkt bei einer Explikation des Individuums ist die Bestim-
mung des Begriffs der Konfiguration.60 In der Literatur, die sich mit der
„Bündeltheorie" befaßt, werden für den metaphorischen Ausdruck ,Bündel'
u. a. folgende Ausdrücke verwendet: ,Menge', ,Kopräsenz', ,Kosubstantia-
tion', ,Koinstantiierung', .togetherness', .Assoziation', .Komplex', .Struk-
tur', ,Summe' u. a. 61 .Menge' erscheint völlig ungeeignet, u. a. deswegen,
weil das Individuum im prägnanten Sinne eine feinere Strukturiertheit
aufweist als dies durch den Mengenbegriff artikuliert werden kann. ,Kosub-
stantiation" und .Koinstantiierung' 62 beinhalten zu deutlich die Konnotation
des Substantiellen bzw. des Subjekts in einem ungeklärten Sinn. Die anderen
Ausdrücke können verschiedentlich gedeutet werden.
Letzteres gilt zunächst auch für den Ausdruck .Konfiguration'; es scheint
aber zumindest grundsätzlich möglich zu sein, ihm eine bestimmte Bedeu-

60 Dieser Ausdruck wird von Wittgenstein im Tractatus verwendet, allerdings nicht


in der Bedeutung, die ihm in diesem Buch gegeben wird.
61 Vgl. dazu u. a. Van Cleve [1985], Grossmann [1983] (bes. S. 61 ff.).
62 Vgl. dazu Castaneda [1982] Teil III.

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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 229

tung zu geben. .Konfiguration' kann weder mit einer Menge (Klasse) noch
auch mit Goodmans Prädikat ,sich überlappen' (oder .togetherness' 63 ) iden-
tifiziert werden. Es ist nämlich nicht einzusehen, warum zwei Gebilde mit
den numerisch gleichen, aber in wesentlich anderer Reihenfolge oder Stel-
lung vorkommenden primären Verhalten nicht zwei verschiedene Gebilde
sein sollen. Ja, es ist nicht einzusehen, wie es überhaupt anders sein kann.
Ein „Atom" hat „Bestimmtheit" nur in einem Kontext oder in einem
Zusammenhang, also in einem System oder in einer Welt; seine „Stellung"
in der Totalität ist ihm nicht äußerlich. Andernfalls wäre nicht mehr erklär-
bar, was es heißen könnte, daß das Atom — nachträglich — „weiter
bestimmt", in einen Zusammenhang „eingebettet" wird u. dgl. Man nehme
etwa zwei hypothetische Individuen, die jeweils durch die Realisiertheit von
drei und nur drei „identischen" Attributen (d. h. primären Verhalten) be-
stimmt sind; diese „zwei" Individuen müssen keineswegs identisch sein, da
es der Fall sein kann, daß die Reihenfolge der Attribute deren „Bestimmtheit"
wesentlich mitkonstituiert. Soll Konfiguration' nicht ein leeres, nichtssagendes
Wort sein, so ist sie als ein außerordentlich feinstrukturiertes Gebilde zu
konzipieren.

[ii] Man kann ein Individuum in einer ersten Annäherung als eine bestimmte
Konfiguration von primären Verhalten/Propositionen p,, p 2 ,..., pj auffassen.
Ein Individuum ist selbst ein Verhalt, nämlich ein sehr komplexer Verhalt,
ein Verhalt von (primären) Verhalten. Es kann sich in diesem Buch nicht
darum handeln, eine formal präzise Definition vorzulegen; dazu müßte man
eine diesem Bereich adäquate Logik und Sprache entwickeln, was hier weder
beabsichtigt noch möglich ist.
Der Ausdruck ,Konfiguration' kann im aktiven Sinn (als ,Konfigurator',
analog zu .Operator', ζ. Β. .Konjunktor') oder als das Ergebnis der .konfi-
gurierenden Operation', also als „Gebilde", verstanden werden. Diese zwei
Bedeutungen sollen als Konfigurationj bzw. als Konfiguration2 gekennzeichnet
werden. Will man der vollen Bestimmtheit der Individuen (im prägnanten
Sinne) in unserer Welt gerecht werden, so ist anzunehmen, daß sie extrem
komplexe Gebilde, d. h. Konfigurationen 2 sind, die selbst aus Sub-
Konfigurationen 2 gebildet sind, wobei sowohl jede dieser Sub-Konfigu-
rationen 2 als auch die Gesamt-Konfiguration 2 jeweils von einer Kon-
figuration], d. h. von einem Konfigurator (Operator), bestimmt sind. Es ist

63 Vgl. Goodman [1951] S. 143-156 u. ö.

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230 3 Logische, sprachphilogophische, kognitive und ontologische Grundlagen

also zwischen dem Gesamtkonfigurator (Gesamtoperator) und den unter-


geordneten Konfiguratoren (Operatoren) zu unterscheiden.
[iii] Um welche (Kategorien von) Operatoren handelt es sich? Zunächst sei
dieser Frage in der Weise nachgegangen, daß die Unterscheidung zwischen
Gesamtoperator und untergeordneten Operatoren nicht beachtet wird. Drei
Kategorien von Operatoren dürften in Betracht zu ziehen sein.
(a) Jene Operatoren, die man Junktoren' nennt, haben Aussagen als pas-
sende Argumente (Operanden). Der Ausdruck .Aussage' kann dabei sowohl
als Satz als auch als Proposition/Proposition verstanden werden. Junktoren
sind demnach aussagenverbindende Operatoren, d. h. im Sinne des hier
verfolgten Ansatzes (auch): propositionenverbindende Operatoren. Zur
Bestimmung der Konfiguration! kann also in jedem Fall (auch) auf die
Kategorie der Junktoren zurückgegriffen werden. Nun sind Junktoren eine
sehr spezielle Kategorie von Operatoren: Sie sind wahrheitsfunktionale Ope-
ratoren, d. h. solche, deren Anwendung zum Ergebnis hat, daß der Wahr-
heitswert einer komplexen Aussage durch die Wahrheitswerte der Teilaus-
sagen vollständig bestimmt ist.
(b) Bekanntlich gibt es andere Operatoren, die nicht wahrheitsfunktional
definierbar sind, wie beispielsweise: ,es ist möglich, daß ', ,
weil ', , kraft ', , nach (post) ,
glaubt, daß ' usw. Auch solche Operatoren verknüpfen — nicht-
wahrheitsfunktional — Aussagen, also auch Propositionen/Verhalte, und
sind also zur Kategorie der Konfigurationen] (also der Konfiguratoren) zu
rechnen. Die Strukturiertheit eines Individuums, verstanden als eine
Konfiguration von primären Verhalten, ist damit auch durch solche Ope-
ratoren bestimmt.
(c) Es ist aber ein weiterer Schritt zu tun im Hinblick auf eine angemessene
und vollständige Angabe der Konfigurationen,. In der gewöhnlichen logi-
schen und sprachphilosophischen Literatur werden die wahrheitsfunktio-
nalen und die nicht-wahrheitsfunktionalen Operatoren auf Sätze oder Pro-
positionen angewandt und davon wird die Kategorie der Relationen unter-
schieden, die andere Entitäten (Objekte, Individuen usw.) als Relata haben.
Diese Position setzt eine ganz bestimmte Ontologie voraus. Wenn man die
in diesem Buch vertretene These annimmt, daß die einzigen „ontologischen"
Entitäten (primäre und sekundäre, d. h. komplexe) Propositionen/Verhalte
sind, dann hat dies auch fundamentale Konsequenzen für die Frage, wie
Propositionen/Verhalte miteinander „verknüpft", d. h. konfiguriertι werden.

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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 231

Dann nämlich gibt es bedeutend mehr „Konfigurationsweisen" als diejeni-


gen, die durch die genannten wahrheitsfunktionalen und nicht-wahrheits-
fiinktionalen Operatoren definiert sind.
Es ist letztlich gleichgültig, wie man die weiteren Operatoren nennt.
Wichtig ist klarzumachen, daß auch Verknüpfungsweisen, die in der Tradition
der Philosophie meistens als ontologiscbe (d. h. für diese Tradition: nichtlogische)
Verknüpfungen verstanden wurden, als „Propositionenverknüpfungen"
konzipiert werden müssen. Ein zentrales Beispiel ist die sog. Kausalrelation.
Im Sinne der oben angesprochenen (traditionellen) Ontologie stellt man die
Frage so: Welches sind die „Relata" dieser Relation? Sind es Dinge oder
Ereignisse oder Sachverhalte? Heute werden meistens Ereignisse64 und
Sachverhalte65 als Relata angenommen. Aber die Autoren, die Sachverhalte
als Relata annehmen, setzen immer noch eine den Sachverhalten — in
welcher Weise auch immer — zugrundeliegende Ontologie von Objekten
als primitiven Entitäten voraus, so daß es für sie einen großen Bereich von
Relationen gibt, die nicht als „Propositionenverknüpfungen" (bzw. „Sach-
verhaltsverknüpfungen"), sondern als (traditionelle) Relationen zwischen
Objekten verstanden werden. Aus der in diesem Buch bezogenen ontolo-
gischen Position ergibt sich aber, daß alle Relationen als Verknüpfungen von
Propositionen/Verhalten aufzufassen sind. Die Relationen zwischen den
sog. Objekten/Individuen sind demnach als Verknüpfungen zwischen
Konfigurationenz von Propositionen/Verhalten, d. h. zwischen sehr komple-
xen Propositionen/Verhalten, zu klären. Die Tragweite dieser Konzeption
auch für die Logik, speziell für die Logik der Relationen, dürfte beträchtlich
sein. Der Ertrag dieser Überlegungen ist klar formulierbar: Alle sog. „Re-
lationen", die nicht schon vollkonstituierte Objekte/Individuen (d. h. kom-
plexe Verhalte) als sog. „Relata" haben, sind zur Kategorie der Konfi-
gurationen!, also der Konfiguratoren, von Individuen zu rechnen.

[iv] Die Gesamtkonfiguration2 ist durch einen (Gesamt)Konfigurator und


jede Sub-Konfiguration2 ist durch jeweils einen Sub-Konfigurator bestimmt.

64 So ζ. B. Davidson [1980], der das Individuationskriterium für Ereignisse in der


Kausalrelation sieht: Ereignisse sind identisch dann und nur dann, wenn sie
dieselben Wirkungen verursachen und von denselben Wirkungen verursacht wer-
den:
„(x = y if and only if (ζ) (ζ caused χ η ζ caused y) and (ζ) (χ caused ζ «-» y
caused ζ))."
(,x', ,y', ,z' sind Variablen für Ereignisse; vgl. a. a. O. S. 179.)
65 Vgl. ζ. B. Spohn [1983], bes. Kap. 4.

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232 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

Als der einfachste und unproblematischste Gesamtkonfigurator kann der


Konjunktor angesehen werden. Ein Individuum wäre demnach als eine (Ge-
samt-)Konfiguration 2 im Sinne einer (Gesamt-)Konjunktion von primären
Verhalten bzw. von (Sub-)Konfigurationen 2 von solchen primären Verhalten
zu begreifen. Die Frage aber, ob der Konjunktor als der adäquateste oder
gar als der einzige Gesamtoperator für die Bestimmung eines Individuums
in Betracht kommt, soll hier offen gelassen werden.

[5] Damit ist nur der globale Begriff der Konfiguration erklärt. Jedes Indi-
viduum ist aber durch eine spezifische, eben „individuelle", Gestalt einer so
aufgefaßten Konfiguration charakterisiert. Um die Individualität einer
Konfiguration zu erklären, sind einige Bedingungen zu nennen, denen sie
genügen muß, um diesen Status aufweisen zu können.

(i) Die erste Bedingung kann die prädikationstheoretische (oder typentheoretische)


genannt werden. In diese Bedingung geht eine der zentralen und wohl auch
unaufgebbaren Einsichten ein, die das traditionelle Verständnis des Indivi-
duums charakterisiert, allerdings in einer radikal modifizierten Form. Die
traditionelle These lautet: Individuum in einem prägnanten Sinn ist nur
dasjenige, wovon im Prinzip alle Attribute prädiziert werden können, das
selber aber nicht zum Attribut für etwas anderes gemacht (oder: nicht von
etwas anderem prädiziert) werden kann. Dazu ist zunächst zu bemerken,
daß es sich nicht darum handelt, ob man singuläre Terme annimmt oder
eliminiert, etwa in der von Quine vorgeschlagenen Weise. Wenn Quine den
Eigennamen ,Sokrates' dadurch eliminiert, daß er die Formel
r (3x)(x = Sokrates)"1 bildet, wobei ,Sokrates' zum allgemeinen Terminus

(Prädikat) Sokrates' oder ,ist Sokrates' wird, so fügt er doch hinzu, daß
dieses Prädikat bzw. dieser allgemeine Terminus „auf genau einen Gegen-
stand zutrifft" 66 . Damit wird auch bei Quine der Kern der traditionellen
Intuition bewahrt.
In Entsprechung zu dem in diesem Buch verfolgten neuen semantischen
und ontologischen Ansatz könnte der Wahrheitskern dieser wichtigen In-
tuition so formuliert werden: Es ist zu unterscheiden zwischen fundamen-
talen und abgeleiteten oder sekundären Konfigurationen von Propositio-
nen/Verhalten; nur die Individuen im prägnanten Sinne sind fundamentale
Konfigurationen. Ein Individuum bzw. eine fundamentale Konfiguration
kann selbst nicht als konstituierendes Element eines anderen Individuums

66 Quine [1960] S. 311.

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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 233

bzw. einer anderen fundamentalen Konfiguration fungieren; wohl aber kann


ein Individuum bzw. eine fundamentale Konfiguration in alle möglichen
abgeleiteten oder sekundären Konfigurationen als Element eingehen. Man
kann das so formulieren: Wenn eine Konfiguration, die ein Individuum im
prägnanten Sinne darstellt, in eine andere Konfiguration (in welcher Weise
auch immer) „eingeht" (d. h. ein Element einer anderen Konfiguration
wird), so ist diese andere Konfiguration eine abgeleitete, sekundäre.
Die eingeführte Unterscheidung ist noch erklärungsbedürftig. Man muß
davon ausgehen, daß ein System oder eine Welt allerlei Konfigurationen
von Verhalten aufweist. Dabei spielt folgender Gesichtspunkt eine zentrale
Rolle: Dieselbe Konfiguration kann aus sehr verschiedenen Perspektiven
gesehen werden. Wird eine der (im Prinzip unzähligen) relativen Perspektiven
gewählt, so kann es sein (und meistens ist es in der Tat so), daß die
fundamentalen Konfigurationen als „sekundäre" in dem Sinne erscheinen,
daß sie Bestandteile einer anderen, vom gewählten Blickwinkel aus gesehen,
sich als fundamental präsentierenden Konfiguration sind. Aber dies ist eben
eine rein relative Sicht, die eine nur begrenzte Berechtigung hat. Wählt man
aber die holistische Perspektive, d. h. situiert man die Konfigurationen im
Ganzen (der Welt) — und diese Perspektive ist allein die entscheidende —,
so wird klar, was mit der Bestimmung des Individuums im prägnanten
Sinne, d. h. mit der fundamentalen Konfiguration, gemeint ist. Individuum
im prägnanten Sinne ist das Individuum als eine aus einer holistischen Per-
spektive bestimmte fundamentale Konfiguration im obigen Sinne.
(ii) Damit ist schon die zweite Bedingung grundsätzlich formuliert, die
systematische oder holistische Bedingung. Die Konfiguration, die das Indivi-
duum im prägnanten Sinn definiert, ist eine „systembestimmte" oder „welt-
bestimmte" Konfiguration, d. h.: ihre Bestimmtheit ist definiert hinsichtlich
der Totalität des Systems (der Welt), d. h. also der Totalität der (bestehenden)
Propositionen/Verhalte. Ist die Welt die Totalität der (bestehenden) Ver-
halte, so gilt für jeden Verhalt, der Welt (mit)konstituiert: Entweder er ist
oder er ist nicht Bestandteil einer bestimmten Konfiguration, die ein Indi-
viduum ausmacht. „Individuum" im prägnanten Sinne ist daher nur holi-
stisch bestimmbar. Dies ist ein fundamentaler Faktor, der nur allzuoft
vergessen oder ignoriert wird.
In der Regel wird auf naive Weise von Objekten/Individuen als den
Referenten der singulären Terme gesprochen. Eine große Ausnahme in einer
bestimmten Hinsicht ist ein Aspekt der von S. Kripkebl entwickelten Kon-

67 Vgl. Kripke [1980].

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234 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

zeption, derzufolge singulare Terme „starre Designatoren" sind: Ein sin-


gulärer Term t ist demnach ein starrer Designator eines Objekts ο genau
dann, wenn t ο in allen möglichen Welten (in welchen ο existiert) denotiert
(und außerdem t niemals etwas anderes als ο denotiert). Für diese Bestim-
mung ist die holistische Perspektive — und zwar nicht nur hinsichtlich
„der" (wirklichen) Welt, sondern auch hinsichtlich aller möglichen Welten,
ausschlaggebend. Und dies gilt α fortiori für die Welt selbst, zu der das
betreffende Objekt gehört: Ein .starrer Designator' hat einen festen Refe-
renten im Ganzen der Welt. Damit wird der Referent explizit holistisch
bestimmt. Von dieser These ist eine weitere von Kripke vertretene These
zu unterscheiden, derzufolge die Theorie der starren Designatoren und die
sog. „deskriptive Theorie der Namen" sich gegenseitig ausschließen. Kripkes
modal orientierte Argumente gegen letztere sind nur dann stichhaltig, wenn
man die deskriptive Theorie im traditionellen (Fregeschen) Sinne nimmt:
Diese basiert nämlich auf einer nie explizierten Konzeption des Individuums,
derzufolge dieses ein Kompositum aus Substratum und „deskriptiven" Fak-
toren (Universalien) ist. Geht man von einer solchen Konzeption aus, dann
ist unbestreitbar, daß jede auch noch so vollständige Deskription (d. h.
Konfiguration von deskriptiven Faktoren wie Attributen, Propositionen [in
welchem Sinne auch immer] usw.) den Referenten eines Namens nicht bestim-
men kann, denn es bleibt immer möglich zu sagen, daß in einer anderen
(möglichen) Welt die genannten deskriptiven Faktoren auf ein ganz anderes
Subjekt (Substratum) zutreffen. Lehnt man aber die Vorstellung eines sol-
chen Substratums ab, so wird die ganze Argumentation gegen eine deskriptive
Theorie (bzw. eine im Sinne der Ausführungen in diesem Buch zu verste-
hende „propositionale Umdeutung") der singulären Terme gegenstandslos.
Auf einige der Fragen, die sich in diesem Zusammenhang aufdrängen, soll
weiter unten eingegangen werden.68

(iii) Die dritte Bedingung ist die Einigkeitsbedingung oder das Identitätskri-
terium für Individuen. Sie wurde schon oben (vgl. 3.5.3.2.2) formuliert:
Zwei Individuen χ und y sind identisch dann und nur dann, wenn sie dieselbe
formale und dieselbe materielle Konfiguration besitzen. Materiale Konfiguration
ist die Gesamtheit der (primären) Propositionen/Verhalte; formale Konfigu-
ration besagt zweierlei:

68 Vgl. Abschnitt 3.6.2.

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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 235

— Kategorie und Anzahl der Operatoren


— Konfigurationsweise der Operatoren (d. h. deren Reihenfolge
und deren Zuordnung zu den Propositionen).
Damit ist ein eindeutiges Identitätskriterium formuliert.

3.5.4.2.2 Präzisierungen, Probleme, Ergänzungen


Die skizzierte propositionale Konfigurationstheorie des Individuums wirft
eine ganze Reihe von Fragen auf, auf die in diesem Rahmen nicht in der
erforderlichen Ausführlichkeit und Vollständigkeit eingegangen werden
kann. In diesem Abschnitt sollen nur einige der Fragen, die für das hier
entwickelte Konzept von besonderer Bedeutung sind, erörtert werden.

[1] Eine erste Frage betrifft einen zentralen Aspekt der in diesem Buch
entwickelten Konzeption, der aber bisher im unbestimmten gelassen wurde.
Wenn von Attributen und Propositionen/Verhalten die Rede war, wurde
nicht gesagt, ob es sich allein um monadische oder auch um polyadische, d. h.
relationale Attribute bzw. Verhalte handelt. Daß relationale sekundäre Verhalte
anzunehmen sind, wirft kein besonderes Problem auf, da sie die Konstituiert-
heit des Individuums schon voraussetzen. Können oder müssen aber auch
relationale primäre Verhalte zugelassen werden? Gibt man auf diese Frage
eine positive Antwort, so hat das zur Konsequenz, daß relationale primäre
Verhalte auch Elemente der materialen Konfiguration 2 69 sind (sein können),
die das Individuum (zusammen mit der Konfigurationsweise) definieren.
Aber dies wirft — jedenfalls vor dem Hintergrund traditioneller Vorstellun-
gen über das Individuum — ein ernstes Problem auf. Unter anderen Vor-
zeichen ist das darzustellende Problem ein im Rahmen der Literatur über
die Individuumstheorie vieldiskutiertes Problem. Besonders B. Russell ver-
focht die These, daß Individuen nicht durch Relationen individuiert werden
können. 70 Die Hauptschwierigkeit besteht darin, daß die These, derzufolge
Individuen durch Relationen individuiert werden, einen circulus vitiosus zu
beinhalten scheint: Um von Relationen bezüglich Individuen sinnvollerweise
sprechen zu können, müssen nämlich die Individuen als schon konstituiert
vorausgesetzt werden; die genannte These behauptet aber, daß die Indivi-
duen allererst durch Relationen (mit)individuiert (und somit

69 Im folgenden wird die Unterscheidung zwischen „Konfiguration]" und


„Konfiguration" nicht mehr ausdrücklich angezeigt, es sei denn, der Kontext
erfordert es.
70 Vgl. dazu u. a. Casullo [1981] und [1984], Meiland [1976], Armstrong [1978].

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236 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

(mit)konstituiert) werden. Auf die Lösungsansätze, die gerade in den letzten


Jahren entwickelt wurden 71 , wird im folgenden nicht direkt eingegangen.
Der Grund liegt nicht darin, daß diese Ansätze nicht von Bedeutung wären
(einige zeichnen sich durch großen Scharfsinn aus), sondern darin, daß der
hier verfolgte Ansatz auf völlig anderen semantischen und ontologischen
Voraussetzungen beruht.
Die bequemere Position wäre die Ablehnung von relationalen primären
Verhalten. Aber der Preis dürfte zu hoch sein: Der „Zusammenhang" der
Individuen wäre kaum erklärbar. In der Tat, wenn die Individuen ausschließ-
lich durch nicht-relationale primäre Verhalte konstituiert sind, dann wäre
alles Relationale etwas Äußerliches. Eine Welt wäre eine Totalität von
grundsätzlich völlig isolierten „Individualitäten", für die eine Kommunikation
mit anderen „Individualitäten" im besten Fall etwas rein Kontingentes,
Belangloses, im schlimmsten Fall etwas Unverständliches wäre. Eine solche
Welt ist — vielleicht — vorstellbar. Aber eine solche Vorstellung scheint
der Strukturiertheit der Welt („unserer" Welt) in allen Bereichen zu wider-
sprechen.
Die schwierigere, aber den angedeuteten Gegebenheiten „unserer" Welt
eher Rechnung tragende Konzeption besteht in der Annahme von relatio-
nalen primären Verhalten. Kann sie konsistent formuliert und begründet
werden? Eine positive Antwort scheint nicht nur möglich zu sein, sondern
für sich auch die größere Plausibilität beanspruchen zu können. Der ent-
scheidende Gesichtspunkt dürfte in dem Umstand zu sehen sein, daß die
Gefahr eines drohenden circulus vitiosus nur aus einer bestimmten, nämlich
der traditionellen, Konzeption des Individuums erwächst. Wird nämlich das
Individuum auf der Basis der Substratum-Vorstellung gedacht, so können
Relationen nur in einer bestimmten Weise begriffen werden: Sie können
keinen konstituierenden Charakter haben, setzen sie doch das Individuum
als Substratum schon voraus. Insofern dürfte eine relationale Individuums-
konzeption solange nicht möglich sein, als die Substratum-Vorstellung (in
allen, auch sehr raffinierten, Formen) beibehalten wird. Lösungsversuche in
diesem Rahmen haben einen inakzeptabel restriktiven und künstlichen Cha-
rakter. 72
Gibt man die Substratum-Vorstellung auf, so scheint keine grundsätzliche
Gefahr eines circulus vitiosus entstehen zu können. Man kann dann nämlich

71 Vgl. ζ. B. Losonsky [1987],


72 Vgl. besonders die Lösungsversuche von Casullo [1981] und [1984], Losonsky
[1987] u. a.

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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 237

die Individuen als relationale Konfigurationen (d. h. als Konfigurationen,


die relationale primäre Verhalte beinhalten) in der Weise konzipieren, daß
Individuen grundsätzlich aufeinanderbezogen, nur interrelational definierbar
sind. Ein Individuum wäre daher kein Individuum. Individuen sind gegen-
seitig gleichursprünglich. Diese Sicht ist eine Konsequenz der holistischen (sy-
stematischen ) Bedingung (genauer: einer bestimmten Erklärung dieser Bedin-
gung). Einfach formuliert: Es ist nicht so, daß querst isolierte Individuen
„vorhanden" sind, die sich nachträglich zueinander ins Verhältnis setzen und
dadurch ein System (ein Ganzes, eine Welt) konstituieren; vielmehr ist das
„Verhältnis-zueinander" kein nachträglicher, sondern ein gleichursprüngli-
cher, ein konstitutiver Faktor.

[2] Eine der Konsequenzen dieser Sicht ist, daß man ein Individuum nicht
isoliert bestimmen (definieren) kann. Damit kann man ein Individuum auch
nicht isoliert erfassen oder auf ein Individuum isoliert referieren. Wem diese
epistemologisch-semantische Konsequenz als nicht akzeptierbar erscheint,
der möge bedenken, daß die entgegengesetzte Konzeption entweder
un(ter)bestimmt ist oder implizit denselben „holistischen" Anspruch erhebt.
Um eine un(ter)bestimmte Konzeption würde es sich handeln, wenn man
meinte, es sei empirisch oder etwa im Sinne des gesunden Menschenver-
standes klar, daß man ein ganz bestimmtes Individuum erfasse oder auf ein
ganz bestimmtes Individuum referiere. Diese Auffassung ist deswegen
un(ter)bestimmt, weil dabei „Individuum" auf eine naiv-triviale — und
damit belanglose — Angelegenheit reduziert wird. Soll aber behauptet
werden, man erfasse doch mit Sicherheit „das Individuum selbst" oder
referiere doch ganz bestimmt „auf das Individuum selbst" im prägnanten
(also nicht-trivialen) Sinne, dann erhebt man den Anspruch zu wissen, daß
man ein ganz bestimmtes X, das man als Individuum bezeichnet, erfaßt hat.
Aber wie will man dieses „ganz bestimmte Wissen" haben? Es impliziert
doch, daß man die ganze Welt (und sogar die möglichen Welten) „durch-
gegangen" ist mit dem Ergebnis, daß man das betreffende X situiert (d. h.
als bestimmt erfaßt) hat. In diesem Zusammenhang ist auch auf die an
früherer Stelle angestellten Überlegungen zu Kripkes modal orientierter
Konzeption der „starren Designatoren" zu erinnern. 7 3
In Wirklichkeit können wir pragmatisch-epistemisch nie sicher sein, daß
wir ein bestimmtes Individuum im prägnanten Sinne wirklich erfaßt haben.

73
Vgl. Abschnitt 3.5.4.2.1 [5] [ii].

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238 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

Die vielen „Puzzles", die besonders im Rahmen der analytischen Philosophie


im Zusammenhang mit den sog. „propositionalen Einstellungen" 74 konstru-
iert werden, beruhen auf sehr fragwürdigen Annahmen und Vorstellungen.
Die wichtigste Annahme dabei ist, daß „wir" ein Objekt/Individuum wirklich
erfassen, wenn wir einen Namen verwenden. Doch aus der hier präsentierten
Konzeption ergibt sich, daß Namen (singulare Terme) alles andere als
einfache und direkt referentielle sprachliche Ausdrücke sind; vielmehr sind
sie durch hohe Komplexität gekennzeichnet, insofern sie als „antizipierende
oder vorgreifende Abbreviationen" einer spezifischen Konfiguration von
primären Verhalten zu deuten sind. B. Russell hat aus seiner Sicht diesen
Gedanken in gewisser Weise formuliert:
„We may agree with Leibniz to this extent, that only our ignorance makes
names for complexes necessary. In theory, every complex of compresence 75
can be defined by enumerating its components qualities. But in fact we can
perceive a complex without perceiving all its component qualities; in this
case, if we discover that a certain quality is a component of it, we need a
name for the complex to express what it is that we have discovered. The
need for proper names, therefore, is bound up with our way of acquiring
knowledge, and would cease, if our knowledge were complete." 76

Fraglich ist allerdings, was es genau heißen kann, daß wir einen Komplex
„erfassen" können, ohne alle seine Komponenten zu erfassen. Dies kann
doch wohl nur heißen, daß wir den Komplex nur „global" oder „antizipa-
torisch" oder „im Vorgriff, nicht aber daß wir den Komplex als solchen
wirklich erfassen.

[3] Bisher wurden nur einige Grundzüge einer umfassenden Konzeption


des Individuums dargelegt. Im Rahmen dieses Buches kann nur soweit
darauf eingegangen werden, als dies für eine Klärung der Grundlagen einer
Theorie der Wahrheit erforderlich ist. Bevor einige spezifische Fragen zu-
mindest kurz erörtert werden, seien einige andere nur genannt, die im

74 Ein typisches Beispiel ist Kripke [1979]; vgl. auch Salmon [1986],
75 .Compresence' ist bei Russell die Bezeichnung für jene Relation, die eine „Kollek-
tion" von „Qualitäten" in der Weise bestimmt, daß der daraus resultierende
Komplex ein Individuum ist (vgl. Russell [1948], S. 307 f.). Es kann also gesagt
werden, daß „Compresence" in gewisser Weise — d. h. unter strikter Beachtung
des völlig anderen Russellschen Vorzeichens — dem entspricht, was in diesem
Buch „Konfiguration" genannt wird.
76 Russell [1948] S. 307 f.

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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 239

Rahmen einer voll entwickelten Theorie ausführlich behandelt und geklärt


werden müßten.
Je nachdem, wie man die Welt inhaltlich konzipiert, für die man den
Individuumsbegriff definiert, kann sich die Frage nach Raum und Zeit
(genauer: nach Raum- und Zeit-„Stellen") als entscheidend herausstellen.
Diese Frage spielt heute eine zentrale Rolle gerade für jene Konzeptionen,
die davon ausgehen, daß die Welt ein raumzeitliches System ist.
Es kann gezeigt werden, daß es verschiedene Arten von Individuen gibt,
wenn man sie — relativ zu einer Welt — als fundamentale Konfigurationen
von primären Verhalten auffaßt. Das Unterscheidungsmerkmal liegt zunächst
in der verschiedenen Seinsart; zu nennen wären etwa: rein materielle Indi-
viduen, lebende Individuen, bewußte-selbstbewußte, denkende Individuen
usw. Auf der Basis der entwickelten Konzeption ist es möglich zu zeigen,
worin diese Unterschiede gründen und wie sie genau zu bestimmen sind.
Besonders der holistische Gesichtspunkt spielt dabei eine zentrale Rolle.
Alte Fragen wie die nach der Unsterblichkeit der Seele können wieder
aufgegriffen und geklärt werden.
Ein weiterer Problemzusammenhang kann mit dem Stichwort reduktioni-
stisches Programm benannt werden. Die hier vertretene Konzeption schließt
nicht nur nicht aus, sondern legt es sogar nahe, daß man ein ähnliches
Programm durchführt wie das von Quirn im ersten Beitrag seines Buches
Theorien und Dinge skizzierte, nämlich das Programm einer „reduktiven
Reinterpretation" 77 : Vorzunehmen ist Quine zufolge eine Identifikation von
physikalischen Objekten mit gefüllten Raumzeitstellen, von Zahlen mit
Klassen, von diesen mit bestimmten Klassen, nämlich Zahlenquadrupeln,
schließlich von mentalen Zuständen mit korrelativen körperlichen Zustän-
den. Dieser Hinweis bedeutet nicht, daß dieses Programm akzeptiert wird 78 ;
es soll nur angedeutet werden, daß ein ähnliches Programm im Rahmen der
hier entwickelten allgemeinen Konzeption möglich ist.
Eine letzte Frage sei noch kurz erwähnt: Ist eine „transworld-identity"
von Individuen anzunehmen oder nicht? Die hier vertretene Individuums-
konzeption legt es nahe, diese Frage zu verneinen, d. h. die These aufzu-
stellen: Wegen seiner holistischen Bestimmtheit kann ein Individuum nur in
einer Welt existieren, so daß es gegenstandslos ist, so etwas wie eine Identität
des Individuums „querweltein" anzunehmen. Allerdings kann diese Kon-

77 Quine, „Dinge und ihr theoretischer Ort" in Quine [1981] S. 11—38, vgl. bes.
S. 32 ff.
78 Zur Kritik an Quines vierter Reduktion vgl. Puntel [1988] S. 644 ff.

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240 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

sequenz vermieden werden, wenn man die dargelegte Individuumskonzep-


tion mit einer bestimmten Variante des Essentialismus verbindet. Unter-
scheidet man nämlich zwischen essentiellen und nicht-essentiellen (kontin-
genten) primären Verhalten im Hinblick auf die Konstitution des Indivi-
duums, so ist nicht ausgeschlossen, daß das identische Individuum als in
verschiedenen (möglichen) Welten vorkommend gedacht werden kann, denn
„das identische Individuum" wäre in diesem Fall mit der Konfiguration der
essentiellen primären Verhalte gleichgesetzt. Insofern das so konzipierte In-
dividuum verschiedene kontingente primäre Verhalte beinhalten kann, kann
es als dasselbe Individuum zu verschiedenen möglichen Welten gehören. Ob
letztere Konzeption vertretbar ist, soll hier nicht entschieden werden.

[4] Oft wird gegen die Bündeltheorie in ihrer bisherigen Form, dergemäß ein
Individuum ein Bündel von Eigenschaften ist, der Einwand erhoben, sie
setze die Gültigkeit des auf Leibniz zurückgehenden Prinzips der Identität
des der) Ununterscheidbaren voraus; dies sei aber fraglich. 79 Doch die
Gründe gegen das Prinzip beruhen auf einer ganz anderen Ontologie als
der in diesem Buch vertretenen. Die das Prinzip stützende Einsicht läßt sich
nach der hier vertretenen Ontologie so formulieren: Wenn „zwei" Individuen
sich weder hinsichtlich ihrer materialen Konfiguration (d. h. hinsichtlich der
für jedes Individuum charakteristischen „Kollektion" von primären Verhal-
ten) noch hinsichtlich ihrer formalen Konfiguration (also hinsichtlich der
Kategorien, Anzahl, Reihenfolge und Zuordnung [zu den primären Verhal-
ten] der „Verknüpfungsweisen") unterscheiden, dann sind sie ununterscheid-
bar. Dieses Prinzip in dieser Deutung ist deshalb absolut einsichtig, weil es ex
hypothesi nichts anderes gibt, was überhaupt genannt werden könnte, um
einen Unterschied zwischen den „beiden" Individuen noch zu induzieren.
Es sei noch einmal betont: die Einwände dagegen beruhen auf einer anderen
— meistens — völlig unexpliziert bleibenden und, so kann jetzt hinzugefügt
werden, inakzeptablen Ontologie. 80

[5] Akzeptiert man die propositionale Konfigurationstheorie des Indivi-


duums, so ist die Prädikation völlig anders als in der traditionellen und

79 So beispielsweise Van Cleve [1985].


80 Casullo [1988] verteidigt gegen Van Cleve [1985] eine schwache Version des Leib-
nizschen Prinzips, derzufolge das Prinzip eine nicht-notwendige Wahrheit darstellt
(a. a. O. 131 ff.). Im Rahmen einer anderen als der in diesem Buch vertretenen
Ontologie ist diese Verteidigung überzeugend. Gemäß der hier entwickelten
Konzeption ist Leibniz' Prinzip allerdings eine notwendige Wahrheit.

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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 241

gegenwärtigen Philosophie zu konzipieren. „Prädizieren" heißt dann nicht


mehr, einem — wie immer vorgestellten, in jedem Fall aber vorausgesetzten
— Substratum ein Attribut zuzuschreiben oder von einem Substratum ein
Attribut auszusagen, sondern einfach auszusprechen, daß ein primärer Ver-
halt zur materialen Konfiguration, die ein Individuum bestimmt, gehört.
Darauf reduziert sich der Begriff der sekundären Proposition bzw. des
sekundären Verhalts. Dies kann — in teilweise ironischer Anlehnung an Quines
Verfahren der Elimination singulärer Terme — folgendermaßen gezeigt
werden. Der Satz
(1) Sokrates ist weise

wird prädikatenlogisch gewöhnlich so formalisiert:


(2) Fa.

Quine transformiert diesen einfachen „atomaren" Satz in den quantifizierten


Satz:
(3) (3x) χ = Sokrates und χ ist weise.

Die neue („propositionale") Prädikationstheorie erfordert einen weiteren


Schritt, dessen Ergebnis halb-formal so angegeben werden kann:
(4) Es gibt ein x, so daß χ die (individuelle) Konfiguration 2 S von primären
Verhalten p"i, pn2,·.·, p" ist und es gibt einen primären Verhalt pi, so daß
pi das realisierte Attribut „...ist weise" darstellt und pi einer der Verhalte
P 1. P 2,···, ρ jist.
Zur Erläuterung: ,S' ist Konstante für ,Sokratische Konfiguration'. Um
syntaktische Probleme zu vermeiden (,x* ist hier Individuenvariable in einem
etwas unbestimmten Sinne), sollte das erste ,ist' (,...x ist die Konfiguration
S...') am besten nicht als Identitätsrelation (,='), sondern eher als Entspre-
chungsrelation verstanden werden; dies sollte jedenfalls streng beachtet
werden, solange eine formalisierte Theorie nicht verfügbar ist.

[6] Als letzter Punkt soll ein Einwand erörtert werden, der geeignet ist, die
dargelegte Konzeption vor — zumindest einigen — Mißverständnissen zu
schützen. In einem scharfsinnigen Aufsatz erörtert J. van Cleve die bekannten
Einwände gegen die Bündeltheorie des Individuums. 81 Er kommt zum
Ergebnis, daß nur eine neue Form der Bündeltheorie diese Einwände ent-

81 Vgl. Van Cleve [1985]. Eine scharfsinnige Antwort auf die meisten Ausführungen
van Cleves findet sich in Casullo [1988]; überraschenderweise geht aber Casullo
auf den unten diskutierten Zusammenhang nicht ein.

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242 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

kräften kann. Die alte Bündeltheorie in allen ihren Versionen wird von ihm
folgendermaßen charakterisiert:

„The old bundle theory is analogous to the old phenomenalism: for each
individual thing it finds some complex of properties with which to identify
it." 82

Da Van Cleve diese Version mit unüberwindlichen Problemen behaftet sieht,


schlägt er eine neue Version vor:

„This [the new] version would decline to identify individuals with complexes
of properties, offering instead to translate any statement ostensibly about
individuals into a statement exclusively about properties. For example, it
might translate ,There is a red, round thing here' as .Redness and roundness
are here co-instantiated'. But it would not, to repeat, identify the red, round
thing with the complex of properties co-instantiated at the place in question;
indeed, it would not identify the red, round thing with anything. ,Red round
thing' would be a non-referring phrase, susceptible only of contextual
definition. (...) Unlike the old theory, it [the new theory] does not populate
the world with individuals that are incapable of change, devoid of accidental
properties, and qualitatively unique; but that is only because it does not
populate the world with individuals at all. Or if you prefer to put the point
Moore's way, the statement .there are individuals' is true, but there is
nothing of which it is true that it is an individual; hence, there is nothing
of which it is true that it is an individual and incapable of change, etc." 83

Gegen eine solche (von ihm selbst herausgearbeitete) Version erhebt Van
Cleve einen, wie er meint, entscheidenden Einwand: Jeder Mensch, der ein
„Ich", ein „Selbst", ein „Subjekt" u. ä. ist bzw. sein will, kann die neue
Bündeltheorie nicht akzeptieren. D i e Annahme dieser Theorie hätte nämlich
nach Van Cleve eine inakzeptable Konsequenz:

„...since he would not be identical with any property or any complex of


them, he would have to believe that there is nothing with which he is
identical — or in another words, that there is no such thing as himself."84

Diese Ausführungen enthalten eine Reihe von Mißverständnissen, denen


man oft in der Diskussion über die hier behandelte Thematik begegnet. Auf
zwei sei kurz eingegangen.

(i) Die Übersetzung von Aussagen, die sich deutlich auf Individuen beziehen,
in Aussagen, die sich in definierender Hinsicht ausschließlich auf Eigen-

82
Van Cleve [1985] S. 103.
83
A. a. O. S. 103 f.
84
A. a. O. S. 105.

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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 243

Schäften (oder entsprechend zu dem in diesem Buch verfolgten Ansatz: auf


primäre Verhalte) beziehen, ist nichts anderes als eine Weise, das Verfahren
der Explikation oder Definition zu erklären bzw. zu handhaben. Es ist
unerfindlich, wie eine solche Übersetzung als Alternative zur Identifikation von
Individuen mit Komplexen von Eigenschaften (bzw. Verhalten) verstanden
werden kann. Van Cleve begeht ein einfaches sprachliches Mißverständnis,
das allerdings tiefe Wurzeln hat. Er setzt immer noch voraus, daß —
unabhängig von jeder Ubersetzung von Aussagen bzw. von jeder Explika-
tion und Definition — „die Individuen" als so und so bestimmte immer
schon (vor-)gegeben sind. Aber die Funktion einer Übersetzung (im angege-
benen Sinn), einer Explikation und Definition des Begriffs „Individuum"
besteht gerade darin, daß gezeigt wird, was mit „Individuum" überhaupt
gemeint ist oder sein kann oder muß. Die so verstandene „Identifikation"
von Individuen mit Komplexen von Eigenschaften (bzw. Verhalten) zieht
die Konsequenz nach sich, daß alle Aussagen, die sich auf „Individuen"
beziehen, in Aussagen, die einen Komplex von Eigenschaften (Verhalten)
artikulieren, übersetzbar sind bzw. sein müssen. Diese „Übersetzbarkeit" ist
nichts anderes als Explikation/Definition. Außerhalb dieses Rahmens bzw.
Verfahrens hat die Rede von „Individuum" keinen Sinn, zumindest keinen
theoretisch vertretbaren Sinn.

(ii) Die Berufung auf das eigene Ich oder Selbst ist vor dem aufgezeigten
Hintergrund argumentativ leer. Aus dem gleichen Grund ist ebenfalls Van
Cleves Alternative leer:
„In a word, it [the individual, L. B. P.] is substance: an individual is something
over and above its properties, something that has properties without being
constituted by them." 85

Der Hauptmangel dieser Position besteht in der Nichtbeachtung einer der


fundamentalen Konsequenzen der Bündeltheorie bzw. der hier vertretenen
primär-propositionalen Theorie des Individuums: diese Theorie impliziert
eine völlig neue Prädikationstheorie. Entsprechende Hinweise wurden oben
unter [5] gegeben.

3.5.4.3 Zur Reduzierbarkeit von Ereignissen, Prozessen


und Handlungen auf Verhalte (Propositionen)
Im folgenden wird einige Male der Ausdruck ,(Sach)Verhalt' verwendet.
Damit wird Bezug genommen sowohl auf jene Positionen, die eine Reduk-
tion von Ereignissen (und anderen ähnlichen Entitäten) auf Sachverhalte (in

85 A. a. O. S. 105.

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244 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

welchem Sinne auch immer) befürworten als auch auf die in diesem Buch
vertretene Konzeption, derzufolge Ereignisse (und andere ähnliche Entitä-
ten) nichts anderes sind als Konfigurationen von Verhalten.
Neben Objekten/Individuen gehören Ereignisse zu den „handfesten" En-
titäten, die eine natürliche Ontotogie, d. h. eine Konzeption der Welt, die
unseren „natürlichen" Vorstellungen entspricht, anerkennt und thematisiert.
Wie sich schon im Falle der Objekte/Individuen gezeigt hat, kann eine
philosophisch durchgeklärte Ontologie nicht dabei stehen bleiben. Es wäre
nun zu leicht zu sagen, daß wenn sogar die Objekte/Individuen auf Verhalte
reduziert werden (müssen) dies α fortiori für Ereignisse gelten müsse, sind
doch Ereignisse in jedem Fall keine so „massiven" Entitäten wie die Objekte/
Individuen. Und in der Tat kann festgestellt werden, daß viele Autoren, die
Objekte/Individuen als — in welchem Sinne auch immer — primitive
Entitäten auffassen, Ereignisse auf (Sach)Verhalte reduzieren. 86 Obwohl es
richtig ist zu sagen, daß aus der These, daß Objekte/Individuen nichts
anderes sind als komplexe (Sach)Verhalte, der Schluß zu ziehen ist, daß dies
a fortiori für Ereignisse gilt, empfiehlt es sich doch, diese Frage explizit zu
behandeln, und zwar aus zwei Gründen: Zum einen kann der Umstand kaum
überbewertet werden, daß hier nicht der „gewöhnliche" (wie immer zu
interpretierende) Begriff des „Sachverhalts" übernommen, sondern ein ei-
gener Begriff des „Verhalts" entwickelt bzw. vorausgesetzt wird; ^um anderen
wirft die Reduktion der Ereignisse auf Verhalte ganz spezifische Probleme
auf, die sorgfältig zu prüfen sind.

[1] Es sind hauptsächlich drei Gesichtspunkte, die gegen die Reduzierbarkeit


von Ereignissen auf (Sach)Verhalte zu sprechen scheinen. Im folgenden
sollen sie kurz charakterisiert und einer ersten kurzen kritischen Prüfung
unterzogen werden.
(i) Eine sprachliche Bestandsaufnahme der Ausdrücke, die sich auf Ereignisse,
und der Ausdrücke, die sich auf (Sach)Verhalte beziehen, scheint ein ein-
deutiges Ergebnis zu zeitigen: Eine Reduktion der Ereignisse auf
(Sach)Verhalte würde der Sprache Gewalt antun. Darauf ist aber ganz
allgemein zu erwidern, daß der konkrete („empirische", „natürlich-sprach-

84 Ein bekanntes Beispiel ist Chisholm [1976] S. 1 1 5 u. ö. Eine Auswahl von Arbeiten
(in chronologischer Reihenfolge): Wilson [1974], Martin [1978], Thalberg [1978],
Feldman/Wierenga [1979], Thalberg [1982], Levison [1983], Galton [1984], Da-
vidson [1985], Quine [1985], Taylor [1985] S. 8 3 - 9 6 , Thalberg [1985], Lewis
]1986] S. 2 4 1 - 2 6 9 , Lombard [1986], Levison [1987], Roeper [1987], Stern [1988],

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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 245

liehe", „ober-flächliche") Befund kein adäquates Kriterium für eine philo-


sophisch anspruchsvolle Ontologie ist. Dies ist eine allgemeine These, die
in diesem Buch oft vertreten wurde. Es gibt diesbezüglich heute zwei
diametral entgegengesetzte Tendenzen mit entsprechend diametral entgegen-
gesetzten Ergebnissen. D. Davidson charakterisiert die beiden Tendenzen
sehr treffend, indem er den Gegensatz zwischen seiner eigenen und Quirns
Position folgendermaßen bestimmt:
„Like Quine, I am interested in how English and languages like it (i. e., all
languages) work, but, unlike Quine, I am not concerned to improve on it
or change it." 87

In diesem Buch wird eindeutig eine Position im Sinne Quines bezogen.

(ii) Ein £weiter Grund, der gegen die Reduzierbarkeit von Ereignissen auf
(Sach)Verhalte zu sprechen scheint, erwächst aus der scheinbar selbstver-
ständlichen Annahme, daß Ereignisse konkrete, raum-zeitlich situierbare,
während (Sach)Verhalte (angeblich) abstrakte, zeit- und raumenthobene En-
titäten sind. Die völlig neue Konzeption der Verhalte, die in diesem Buch
vertreten wird, zeigt ihre große Tragweite besonders im Hinblick auf eine
Klärung dieses Zusammenhangs. Nach der hier vertretenen Konzeption sind
Verhalte gerade nicht abstrakte Entitäten, da sogar die Objekte selbst, die
unbestreitbar immer als das Prototypon einer konkreten Entität gegolten
haben und immer noch gelten, sich als Konfigurationen von (primären)
Verhalten, d. h. als komplexe Verhalte, herausgestellt haben. Der angespro-
chene Gegensatz ist daher gegenstandslos. Es bleibt allerdings noch zu
zeigen, in welcher Weise im Rahmen der neuen Konzeption Faktoren wie
„Zeit", „Raum" u. ä. Rechnung zu tragen ist.

(iii) Der dritte Grund, der oft gegen die Reduzierbarkeit von Ereignissen
auf (Sach) Verhalte ins Feld geführt wird, hat mit dem Verhältnis von Ereignis
bzw. (Sach)Verhalt und Wahrheitsbegriff zu tun: ein Ereignis, so wird
argumentiert, ist weder wahr noch falsch, während von einer Proposition/
Proposition bzw. einem (Sach)Verhalt „Wahr(heit)" sinnvollerweise prädi-
ziert werden kann. Dieser Einwand erhält oft eine besondere Schärfe durch
den Umstand, daß einige Autoren die Formulierung verwenden, Proposi-
tionen/Sachverhalte seien „ewige Objekte (Entitäten)", denen notwendiger-
weise der Wahrheitswert ,wahr' oder der Wahrheitswert,falsch' zukomme. 88

87 Davidson [1985] S. 172.


88 Vgl. ζ. Β. Levison [1983] S. 169.

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246 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

Die Klärung dieser Zusammenhänge gehört wesentlich zur Zielsetzung


des vorliegenden Werkes und sie kann nicht vorgenommen werden, bevor
der Wahrheitsbegriff im nächsten (letzten) Kapitel 4 explizit behandelt wird.
Hier sei zu dem genannten Einwand nur soviel gesagt: Der Umstand, daß
„Ereignis", anders als „Proposition/Proposition" bzw. „(Sach)Verhalt",
nicht als Wahrheitsträger gilt, wäre nur dann ein ernsthafter Einwand, wenn
man „Ereignis" so nehmen würde, wie Sprecher der natürlichen Sprache
diesen Ausdruck verwenden. Aber dies ist nicht der Fall, denn die philo-
sophische Rekonstruktion oder Klärung des ontologisch interpretierten se-
mantischen Wertes dieses Ausdrucks hat zur Konsequenz, daß dessen na-
türlich-sprachliche Verwendungen als unklar und in jedem Fall als nicht-
maßgebend zu betrachten sind. Besonders vage und damit wenigsagend ist
der Hinweis auf die „Ewigkeit" und damit auf die notwendige Wahrheit
oder Falschheit der Propositionen/Propositionen bzw. (Sach)Verhalte. Was
in der genannten Formulierung möglicherweise als richtig anzusehen ist,
kann nur im Rahmen einer Klärung des Begriffs der Welt, der möglichen
Welten, der Modalitäten und des Wahrheitsbegriffs ausfindig gemacht wer-
den. Mit diesen Themen befassen sich der nächste Abschnitt und Kapitel 4.
Zweifellos gibt es noch andere Einwände gegen die These der Reduzier-
barkeit der Ereignisse (und anderer ähnlicher Entitäten) auf (Sach)Verhalte.
Es ist aber anzunehmen, daß sie nicht so gewichtig sind wie die drei
angesprochenen Problemkreise.

[2] Folgerichtig zu der in diesem Buch vertretenen Konzeption ist der


Ansatz zu einem Reduktionsverfahren von Ereignissen auf Verhalte aus dem
absoluten Primat des Satzes in Entsprechung zur starken Version des Kon-
textprinzips zu gewinnen. Das bedeutet: wenn eine Bezugnahme auf Ereig-
nisse angenommen wird, so ist sie jedenfalls nur im Rahmen des Satzes zu
erklären und zu deuten. Wenngleich Ereignisse sich in der Regel als konkrete
und massive Entitäten präsentieren und die entsprechenden sprachlichen
Ausdrücke die Gestalt von singulären Termen, Nominalisierungen oder
definiten Kennzeichnungen aufweisen, sind sie doch nur vom Satz her zu
begreifen. Das bedeutet, daß sie — ähnlich wie die massiven Objekte/
Individuen — propositional, d. h. als Konfigurationen von Propositionen/
Verhalten, zu erklären sind. Nur handelt es sich um andersgeartete Formen von
Konfigurationen. Allgemein intuitiv gesehen, sind auch Ereignisse Individuen
in einem bestimmten Sinne, allerdings keine Individuen im prägnanten Sinne.
Man könnte die Ereignisse als „lose (eben ereignishafte) Konfigurationen
von Verhalten" (= „E-Verhalte") charakterisieren. In einer vollentfalteten

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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 247

Ontologie müßte man eine geeignete Terminologie einführen, um diese


Unterscheidungen kenntlich zu machen.
Wie ersichtlich, ergibt sich die Reduktion von Ereignissen auf Konfigu-
rationen von Verhalten zwanglos aus den ausführlich behandelten allgemei-
nen Prämissen der in diesem Buch vertretenen neuen semantisch-ontologi-
schen Konzeption. Es dürfte nicht sinnvoll sein, im Rahmen dieses Werkes
auf nähere Einzelheiten einzugehen, unterscheidet sich doch das grundsätz-
liche Reduktionsverfahren nicht vom ausführlich dargelegten und begrün-
deten Verfahren der Reduktion von Objekten/Individuen auf Konfiguratio-
nen von primären Verhalten.

[3] Es dürfte aber angebracht sein, das hier angewandte Verfahren mit einem
anderen Verfahren der Reduktion von Ereignissen auf (Sach)Verhalte (Pro-
positionen) zu vergleichen, das — auf der Basis anderer Prämissen und
Voraussetzungen — vermutlich als das ingeniöseste und überzeugendste
Reduktionsverfahren überhaupt zu klassifizieren ist. Gemeint ist die von
A. Levison in seinem Artikel „Might Events Be Propositions?"89 vorgelegte
Konzeption. Ausgehend von der von Quine eingeführten Unterscheidung
zwischen „ewigen Sätzen" (d. h. Sätzen, deren Wahrheitswert durch die Zeit
und von Sprecher zu Sprecher konstant bleibt) und „Gelegenheitssätzen"
(d. h. Sätzen, bei denen eine Änderung des Wahrheitswertes eintritt), macht
diese Konzeption eine Annahme und stellt, ein Prinzip auf. Die Annahme
lautet: Die Gelegenheitssätze sind die Basiselemente der Sprache für die
Beschreibung von Ereignissen. Auf dieser Basis wird das Prinzip aufgestellt:
Ein ewiger Satz ist eine Ereignisbeschreibung dann und nur dann, wenn
dieser Satz seinerseits die „ewige Form" eines Gelegenheitssatzes ist. Bei-
spiele: Das Ereignis „Das Sinken der Titanic" wird sprachlich adäquater-
weise durch den Gelegenheitssatz ,Die Titanic sinkt' ausgedrückt; da der
Satz ,Die Titanic sinkt im Jahre 1912' (wobei ,sinkt' im atemporalen Sinne
verwendet wird) die „ewige Form" des genannten Gelegenheitssatzes dar-
stellt, ist er eine Ereignisbeschreibung. Von diesem Ansatz her gelingt es
Levison, das „propositionale Objekt" 90 solcher Sätze herauszuarbeiten.
Der springende Punkt bei der Reduktion von Ereignissen auf Propositio-
nen91 kann kurz an einem Aspekt dieser komplexen Thematik aufgezeigt

89 Levison [1983].
90 A. a. O. S. 176 ff.
91 Kurioserweise unterscheidet Levison terminologisch zwischen „Proposition" und
„Sachverhalt (state of affairs)" folgendermaßen: Beide sind „propositionale Ob-

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248 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

werden. Für eine Ontologie, die Ereignisse als irreduzible Entitäten be-
hauptet, spielt der Umstand eine wichtige Rolle, daß nur Ereignisse vorkom-
men („occur") oder stattfinden („obtain"), wobei angenommen wird, daß diese
Termini so fundamental sind, daß es aussichtslos ist, sie auf andere sprach-
liche Ausdrücke reduzieren zu wollen. Genau das aber unternimmt Levison
auf der Basis der genannten Prämissen: Er reduziert .vorkommen* (bzw.
.stattfinden') auf die Wahrheit einer Proposition einer bestimmten Art. Der
Satz ,Sokrates wandert' drückt ein (noch weitgehend unbestimmtes) kontin-
gentes Ereignis aus. Wenn die Wanderung des Sokrates zur Zeit Τ stattfindet
und wenn sie die Änderung eines konkreten Dinges ist, so ist sie ein
bestimmtes Ereignis. Nun stellt Levison fest, daß ,Die Wanderung des
Sokrates findet statt zur Zeit Τ mit ,Die Wanderung des Sokrates zur Zeit
Τ findet statt' äquivalent ist. Letzterer Satz ist ein ewiger Satz. Sein Satz-
subjekt ist demnach die Nominalisierungsform eines Gelegenheitssatzes und
sie ist gleichzeitig Bestandteil eines ewigen Satzes. Er drückt daher ein
propositionales Ereignis (,die Wanderung des Sokrates zur Zeit T") aus.
Aber dieses propositionale Ereignis wird ebenfalls durch die daß-Formulie-
rung ,daß Sokrates wandert zur Zeit Τ ausgedrückt, eine Formulierung,
die durch den Wahrheitswert „wahr" oder „falsch" zu ergänzen ist. Damit
ist gezeigt, daß das „Vorkommen" oder „Stattfinden" von Ereignissen auf
das Wahrsein propositionaler Objekte reduziert wird.
Man mag meinen, damit werde der Sprache irgendwie Gewalt angetan.
In gewisser Hinsicht trifft das zu. Das hier zugrunde liegende Problem ist
aber viel allgemeiner: Es betrifft den Status der „natürlichen" Sprache
überhaupt, wie oben vermerkt wurde. Entwickelt man eine kohärente se-
mantische und ontologische Gesamtkonzeption, so verliert die beschriebene
Reduktion den Anschein des Willkürlichen und Gewaltsamen. Eine solche
Gesamtkonzeption ist allerdings bei Levison nicht zu finden.

[4] Wie kann man zeigen, daß die Auffassung der Ereignisse als bestimmter
Konfigurationen von primären Verhalten dem mit dem Ausdruck .Ereignis',
nicht aber mit dem Ausdruck ,(Sach)Verhalt' intuitiv assoziierten Gesichts-

jekte", d. h. nach Levison: alles, was kein Individuum und sowohl ein Wahrheits-
träger wie auch ein mögliches Objekt einer propositionalen Einstellung (wie:
glauben..., denken...) ist. Er versteht nun „Proposition" als ein propositionales
Objekt, das ein für allemal wahr oder falsch ist; ein propositionales Objekt
hingegen, das bei einigen Gelegenheiten wahr und bei anderen falsch sein kann,
nennt er einen „Sachverhalt". Diese Terminologie dürfte nicht zu empfehlen sein.

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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 249

punkt eben des ,Ereignishaften' doch angemessen Rechnung trägt? Dies


dürfte nicht schwierig sein, vorausgesetzt, man hält sich streng an die in
diesem Buch entwickelte Theorie der Proposition (des Verhalts). Wenn ein
primärer Verhalt die Realisierung eines Attributs in einer Welt (ζ. B. in der
wirklichen Welt w + ) ist, so leuchtet ein, daß primäre Verhalte so verschie-
denartig, vielfältig und heterogen sind wie es Attribute sind. Hat man ein
statisches Attribut, ζ. B. „zirkulär", so ist der entsprechende primäre Verhalt
auch statisch: ,,Es-verhält-sich-zirkulär(-in-w + )". Im Falle von dynamischen
Attributen, wie ζ. B. „rennen", „handeln" u. ä., sind die entsprechenden
Verhalte auch dynamisch: „es-verhält-sich-rennend", „es-verhält-sich-han-
delnd" u. dgl. Alles Dynamische, Evolutionäre, Revolutionäre u. ä. und
alles, was sich als Entwicklung, Modifikation u. ä. präsentiert, ist eine
bestimmte Weise des Sich-Verhaltens, kurz: des Verhalts. 92 Man kann diese
verschiedenen Weisen kenntlich machen, indem man die Ausdrücke einführt:
,E-Verhalt' ( = ereignishafter Verhalt), ,P-Verhalt' ( = prozeßhafter Verhalt),
,H-Verhalt' {— Handlungsverhalt) usw. Es zeigt sich also, daß die hier
entwickelte Theorie der Proposition bzw. des Verhalts in keiner Weise eine
gewaltsame Reduktion der ontologischen Vielfältigkeit und des ontologi-
schen Reichtums auf eine einzige „monolithische" und überdies „abstrakte"
Entität vornimmt. Andererseits wird doch — unter Wahrung der ontolo-
gischen Vielfältigkeit — eine fundamentale ontologische Einheitlichkeit und
Intelligibilität erreicht.
Eine deutliche Stärke der propositionalen Theorie wird sichtbar, sobald
man die Frage nach der Feinstruktur der Ereignisse stellt. Die nicht-propo-
sitionale/nicht-propositionale Konzeption nimmt Ereignisse als „massive"
Entitäten in dem Sinne an, daß diese, insofern sie die Referenten bestimmter
Ereignis-Ausdrücke sind, so etwas wie unstrukturierte primitive Ganzheiten
darstellen. Eine Struktur wird natürlich irgendwie anerkannt, aber diese
betrifft nur die mehr oder weniger grobschlächtige Angabe einiger Makro-
faktoren. ,Die Wanderung des Sokrates' wird danach analysiert etwa als ein
einheitliches „Ereignis" und dieses als eine „Änderung" eines Individuums
bzw. an einem Individuum. Führt man eine propositionale Analyse dieses
Ereignisses durch, so kann man eine unvergleichlich feinere — und damit
adäquatere — Strukturiertheit aufweisen. Zu sagen ,Feuer!' ist zu sagen ,es

92 Vgl. auch Levinson [1978] und oben Abschnitt 3.5.2.3 [3].

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250 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

brennt' und dieser Satz drückt nicht einen einfachen „dynamischen" primären
Verhalt (E-Verhalt), sondern eine ganze Konfiguration solcher E-Verhalte
aus.
Der soeben herausgearbeitete Gesichtspunkt macht einen weiteren Faktor
deutlich, dessen Tragweite kaum hoch genug einzuschätzen ist: Die pro-
positionale Theorie ist konkurrenzlos geeignet, den Fortschritt sowohl der
Philosophie wie auch der Wissenschaften im Hinblick auf eine immer feinere
Erfassung der „Wirklichkeit" zu erklären und zu fördern. Auf dieses faszi-
nierende Thema kann hier allerdings nicht näher eingegangen werden.

[5] Es wurde mehrmals betont, daß auch Ereignisse Konfigurationen von


(primären) (E-)Verhalten sind, wobei hinzugefügt wurde, daß es sich um
besondere („lose", „kontingente") Konfigurationen handelt. Wo eine Kon-
figuration ist, da muß zwischen dem formalen und dem materialen Aspekt
unterschieden werden; so auch im Falle der Ereignisse. Diese Unterscheidung
stellt die Mittel bereit, um das Identitätskriterium für „Ereignisse" zu
formulieren: Zwei „ereignishafte" Konfigurationen (E-Konfigurationen)
sind dann und nur dann identisch, wenn sie sich weder hinsichtlich der
formalen noch hinsichtlich der materialen Konfiguration(sweise) unterschei-
den.

[6] Es sei schließlich angedeutet, daß auf der Basis der hier skizzierten
Konzeption auch Prozesse und Handlungen adäquat erklärt und verstanden
werden können. Doch dies ist nur eine Andeutung. Eine ausgearbeitete
Ontologie müßte eine immense Feinarbeit leisten.

3.6 Zum Begriff der Welt

Die Bedeutung des Begriffs der Welt für die explikativ-definitionale Theorie
der Wahrheit, zumindest wie diese in diesem Buch konzipiert wird, kann
kaum hoch genug veranschlagt werden. Im allgemeinen allerdings wird
darüber, wenn überhaupt etwas, so doch ganz wenig und vorwiegend Vages
gesagt. Aus prinzipiellen Gründen und aus Gründen, die es mit der Ent-
wicklung der Semantik der möglichen Welten in der gegenwärtigen Philo-
sophie zu tun haben, kann diese Situation nicht hingenommen werden. In
diesem Abschnitt soll der Begriff der Welt zumindest grundsätzlich geklärt
werden. Diese Aufgabe wird in einer bestimmten Hinsicht durch die im

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3.6 Zum Begriff der Welt 251

ANHANG skizzierte Darstellung der Hauptpositionen im Bereich der Se-


mantik der möglichen Welten erleichtert. Auf diese Thematik wird hier
insoweit eingegangen, als dies für die Klärung des Wahrheitsbegriffs erfor-
derlich ist. Dabei wird sich nicht vermeiden lassen, daß hinsichtlich einiger
Fragen und Aspekte Auffassungen vertreten oder als vertretbar angedeutet
werden, die nur indirekt zur Klärung des Wahrheitsbegriffs beitragen.
Die zu behandelnde Thematik läßt sich auf drei Problemkreise reduzieren.
Erstens ist darzulegen, in welchem Sinne „Welt" als „Totalität" zu verstehen
ist; man kann diese Frage als die Frage nach der kategorial-ontologischen
Struktur von „Welt" charakterisieren (3.6.1). Zweitens ist die grundlegende
Unterscheidung zwischen „wirklich" („real-existierend") und „möglich" zu
klären; anders gesagt: Es ist zu zeigen, aufgrund welcher Kriterien zwischen
„möglichen" Welten und „der" (oder „einer" oder „mehreren") „wirklichen"
Welt(en) zu unterscheiden ist (3.6.2). Drittens ist die Frage zu erörtern, ob
eine einzige wirkliche Welt oder eine Pluralität von wirklichen Welten anzuneh-
men ist und ob diese Welt(en) als Geist-(Sprach-)«»<?Mii«g/g zu verstehen ist
(sind) (3.6.3). Daß viele Ausführungen in diesem Abschnitt einen betont
tentativen, ja sogar spekulativen Charakter haben, wurde schon in der
Einleitung vermerkt.

3.6.1 Zur kategorial-ontologischen Struktur von Welt

Die Klärung dessen, was mit dem Ausdruck ,kategorial-ontologische Struk-


tur von Welt' gemeint ist, ist als Antwort auf folgende Frage zu verstehen:
Zu welchem ontologischen Typus (oder: zu welcher ontologischen Kate-
gorie) ist Welt zu rechnen? Ist Welt ein (überdimensionales) Objekt (Indi-
viduum), ein Verhalt (eine Proposition), ein Prozeß, eine Menge (Klasse),
eine nicht weiter bestimmbare „Totalität"? Oder ist Welt eine primitive, nicht
weiter erklärbare Entität?
Die Antwort auf diese Frage(n) ergibt sich eindeutig aus dem bisher
entwickelten systematischen Ansatz; ganz verständlich dürfte sie nur dann
sein, wenn auch die einschlägigen Ausführungen im ANHANG beachtet
werden. Es bedarf keiner weiteren Begründung, um zu sehen, daß im
Rahmen der hier vertretenen Konzeption Welt weder als eine primitive
Entität (im Sinne einer der Richtungen der Semantik der möglichen Welten)
noch als ein Objekt (Ding, Individuum als primitive Entität) oder als eine
nicht weiter analysierbare Totalität aufzufassen ist; vielmehr ist Welt als ein
(äußerst komplexer) Verhalt, als eine Totalität von Verhalten zu begreifen.

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252 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

Wie ist aber Welt als Totalität von (vollbestimmten) Verhalten näher zu
bestimmen? Nach den bisherigen Ausführungen kommen Hauptkon-
zeptionen in Betracht:1 Die erste bestimmt „Welt" als eine maximal konsi-
stente Menge von Verhalten, die zweite hingegen als einen maximalen
(Sach)Verhalt (oder als eine maximale Proposition/Proposition). Hier soll
die zweite Konzeption vertreten werden. Bevor sie näher erläutert wird, soll
gezeigt werden, aus welchen Gründen die erste abgelehnt wird.
Die Bestimmung von Welt im Sinne einer maximal konsistenten Menge
von (vollbestimmten) Verhalten kann so formuliert werden:
(DW—1) w ist eine Welt = f f w ist eine Menge von Verhalten derart, daß für jeden
(vollbestimmten) Verhalt p gilt: entweder p e w oder ~p e w und die
Mitglieder von w sind kompossibel.

Der Begriff der kompossibilität ist dabei in Analogie zum Begriff der
simultanen Konsistenz zu verstehen. Wie in diesem Buch mehrmals ange-
deutet wurde, sprechen Gründe gegen diese Bestimmung von Welt.
Erstens: von dem hier entwickelten Ansatz her ist der Kategorie ,Menge'
nicht der Vorzug zu geben, da es zumindest nicht ohne weiteres einsichtig
ist, wie man Mengen in Beziehung zum Satz setzen und damit der zentralen
Rolle des Kontextprinzips gerecht werden kann, wenn man ihnen einen
zentralen ontologischen Status einräumt. Damit ist die Frage weder positiv
noch negativ entschieden, ob Mengen überhaupt ein ontologischer Status
einzuräumen ist; es ist nur gesagt, daß man für Mengen keinen bevorzugten
oder centralen Platz vorsehen sollte. Zweitens: Welt, bestimmt als eine maximal
konsistente Menge von Sachverhalten, scheint unmöglich zu sein, da dieser
Begriff eine unüberwindliche Antinomie enthält. Dies wurde in den letzten

1 Es wäre interessant, auch die mereologische Bestimmung der Welt (des Universums),
derzufolge die Welt als ein mereologisches Summenindividuum zu konzipieren ist,
einer eingehenden Prüfung zu unterziehen (vgl. dazu Simons [1987] S. 15 f., 19 f.,
32—35, 134, 265 f., 320 f., 335 f.). Doch dies würde den Rahmen dieses Buches
sprengen. Im Lichte der hier entwickelten Konzeption ist in jedem Fall zu sagen,
daß der mereologische Ansatz der zentralen Stellung des Satzes gemäß der starken
Version des Kontextprinzips nicht Rechnung trägt. Es bleibt dunkel, wie dabei
„Individuen" letztlich konzipiert werden. Damit bleiben auch die Operationen,
die hinsichtlich dieser bzw. mit diesen Entitäten vorgenommen werden, d. h. die
mereologischen Operationen wie „Überlappung", „Summe", „Multiplikation" u. ä.
— zumindest im Lichte eines vom Primat des Satzes bestimmten Ansatzes — sehr
problematisch. Ob mereologische Begriffe und Operationen in den in diesem Buch
verfolgten Ansatz integriert werden können, soll hier als offene Frage betrachtet
werden.

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3.6 Zum Begriff der Welt 253

Jahren insbesondere von P. Grim 2 und S. Bringsjord 3 gezeigt. Der Beweis


ist eine neue Auflage des Cantorschen Diagonalisierungsverfahrens. Eine
veständliche und kurze Zusammenfassung kann so formuliert werden: 4 Man
nehme an, die Kardinalzahl der im Sinne einer maximal konsistenten Menge
von Verhalten definierten Welt, sei k. Nun betrachte man die Potenzmenge
von w, nämlich P(w). Unter Zugrundelegung des Cantorschen Theorems
ist die Kardinalität von P(w) 2 k , wobei klar ist, daß 2k > k. Wenn nun
Welt als eine maximal konsistente Menge von Verhalten bestimmt wird, so
ergibt sich daraus, daß es für jedes Element ei e P(w) einen entsprechenden
Verhalt gibt, d. h. einen Sachverhalt, der durch den Satz ,ei ist Element von
P(w)' ausgedrückt wird. Aus der Definition der Welt im vorausgesetzten
Sinne ergibt sich, daß für jeden dieser (Sach)Verhalte gilt: Entweder er oder
seine Negation ist Element von w. Daher ist die Kardinalzahl von w
mindestens 2k, was im Widerspruch zur ursprünglichen Annahme steht,
dergemäß k die Kardinalzahl von w ist.
Chr. Menzel 5 hat eine Reihe von interessanten Erläuterungen und Vor-
schlägen zur Lösung des Problems gemacht, nicht aber die Beweiskraft des
obigen Arguments in Frage gestellt. In jedem Fall bemerkt er, es leuchte
nicht ein, daß auch die Bestimmung von Welt im Sinne einer „Welt-Ge-
schichte", die in etwa dem Begriff der maximalen Proposition entsprechen
dürfte und die keine Menge ist, die genannte grundlegende Antinomie
aufweist. Ferner macht er einen Vorschlag, der sich immer noch im men-
gentheoretischen Rahmen hält und demzufolge eine „Welt-Geschichte" zu
bestimmen wäre als eine Menge S, die in dem Sinne maximal ist, daß für
jeden (Sach)Verhalt p gilt: S impliziert („entails"), aber nicht notwendiger-
weise enthält („contains") entweder p oder die Negation von p, aber nicht
beide (wobei ,S impliziert />' so verstanden wird: Es ist nicht möglich, daß
alle Elemente von S wahr sind, ohne daß auchp wahr ist). 6
Welt, als maximaler Verbalt (oder als maximale Proposition) bestimmt,
kann folgendermaßen definiert werden:
(DW —2) w ist maximaler Verhalt (maximale Proposition, Welt) = Df für alle Verhalte
(Propositionen) p gilt: w impliziert p oder w impliziert ~/>, aber nicht
beides. 7

2 Vgl. Grim [1984] und [1986].


3 Vgl. Bringsjord [1985],
4 Vgl. Bringsjord [1985] S. 64.
5 Vgl. Menzel [1986],
6 Vgl. Menzel [1986] S. 72. Menzel verweist auch Zalta [1983].
7 Bei nicht-klassischer Deutung der Implikation und der Negation könnte man diese
Definition folgendermaßen formalisieren:

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254 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

Eine andere Definition, die einen Notwendigkeitsoperator , • ( p —> q)' als


Deutung der Inklusionsrelation und den Möglichkeitsoperator , Ο ' als Cha-
rakterisierung der Möglichkeit der Welt benutzt, kann so formuliert werden:
(DW—3) (Kontextuelle) Definition von ,Wp' (für: p ist eine (mögliche) Welt:
• ( W / > ~ 0 / » & (V?)[D(p — ν • (/> — ~ ? ) ] ) . 8

Es ist freilich zu betonen, daß damit Welt nur allgemein definiert ist. Aber
mehr ist von einer Definition nicht zu erwarten. Die immens komplexe
innere Strukturiertheit von Welt muß aufgrund anderer, nicht definitorischer
Verfahren aufgewiesen oder, genauer, entdeckt werden.

3.6.2 „Wirkliche" Welt(en) und „mögliche" Welt(en)

Es wird hier davon ausgegangen, daß der Begriff der Möglichkeit sowohl
unverzichtbar als auch klärbar ist. Berücksichtigt man die — wie kontrovers
auch immer sich präsentierenden — Ergebnisse der Semantik der möglichen
Welten, so braucht man nicht auf die große metaphysische Tradition des
Abendlandes zurückzugreifen, um diesen Ausgangspunkt als voll legitimiert
zu betrachten. Hier geht es nur noch darum, die schwierigste Frage, die
diese These aufwirft, in den Griff zu bekommen, die Frage nämlich, wie die
Unterscheidung zwischen wirklicher und möglicher Welt zu verstehen ist. Zu
diesem Fragenkomplex gehören Fragen wie die folgenden: Welcher der
beiden „Dimensionen" kommt der Primat zu? Welche Konsequenzen erge-
ben sich aus der These, daß einer der Dimensionen der Primat zukommt?
Eine Klärung dieser Fragen kommt grundsätzlich der Beantwortung der
Frage gleich: Wie ist eine mögliche Welt zu konzipieren?

[1] Zuerst soll eine grundsätzliche terminologische Festlegung vorgenommen


werden. Bekanntlich werden im Kontext der aufgeworfenen Frage(n) im

M(w) =Df (V/>)([w ->p) ν (w — - I />)] Λ I [(w • p) Α (w • I />)]).


Vgl. dazu Daniels [1988] S. 349. An Daniels' Definition wurden drei Fehler
korrigiert, die offensichtlich Druckfehler sind. Zu dieser Definition vgl. auch
Prior [1967], Daniels/Freeman [1977], Freeman/Daniels [1978]. Anzumerken ist,
daß der Begriff der Implikation große Probleme aufwirft, auf die in diesem Buch
nicht eingegangen werden kann. Für deren Lösung sind insbesondere die Ge-
sichtspunkte zu beachten, die die Relevant^logik zu klären bemüht ist. Vgl. dazu
u. a. die angeführten Arbeiten von Daniels/Freeman sowie Bricker [1983] (vgl.
ANHANG 6.2.5.3 und 5.2.5.4).
8 Vgl. McMichael [1983] S. 64. McMichael verwendet andere Variablen.

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3.6 Zum Begriff der Welt 255

Deutschen mehrere Ausdrücke verwendet, vor allem die folgenden: ,Sein',


.Existenz', .Wirklichkeit', .Realität'. Im Englischen lassen sich genaue Ent-
sprechungen angeben: .Being', ,Existence', ,Actuality', .Reality'. Man über-
treibt nicht, wenn man die Behauptung aufstellt, daß die Verwendung dieser
Ausdrücke in der gegenwärtigen Diskussion unübersichtlich ist. Das ist aber
nicht das Schlimmste; das wirklich Bedenkliche ist, daß viele Diskussionen
auf einer ungeklärten Basis geführt werden. Die These etwa, daß es keine
nichtexistierenden Objekte gibt — eine These, die den sog. Aktualismus
charakterisiert —, ist solange sinnlos und unverständlich, als nicht gesagt
wird, in welchem Sinne (oder mit welcher Extensionalität) der Ausdruck
,Existenz' verwendet wird.
Vor diesem Hintergrund ist es unumgänglich, eine rein terminologische
Festlegung zu treffen. In diesem Buch sollen die Ausdrücke ,Sein' und
.Existenz' als synonyme Ausdrücke verwendet werden, es sei denn, eine
Differenzierung in einem bestimmten Kontext wird explizit angegeben.
Ferner sollen diese Ausdrücke nicht den Status irgendwelcher besonderen
„Bereiche" oder „Dimensionen" bezeichnen, sondern vielmehr den Status
von überhaupt allem, worüber wir in einer semantisch eindeutigen Weise
sprechen bzw. sprechen können, also von allem, was zum sog. universe of
discourse gerechnet werden kann. Es ist demnach zu sagen, daß sowohl
physikalische als auch rein mögliche (fiktionale, entworfene usw.), sowohl
konkrete als auch abstrakte Objekte ,sind' oder .existieren'. Im Gegensatz
dazu sollen die — als synonym verwendeten — Ausdrücke .Wirklichkeit'
und .Realität' für die Bezeichnung des Status eines bestimmten (besonderen)
Bereichs verwendet werden. Dieser Bereich ist anfanglich nur dadurch cha-
rakterisierbar, daß das ganze universe of discourse zweigeteilt wird in die
Dimension des Wirklichen/Realen und in die Dimension des Möglichen. 9
Je nach Kontext werden auch Ausdrücke wie ,real-existierend', .wirklich-
existierend' (bzw. ,real-seiend', .wirklich-seiend') als verstärkende Bezeich-
nungen für ,real' bzw. ,wirklich' verwendet. 10

9 Räumt man dem Begriff des universe of discourse eine so zentrale Stellung ein und
führt man die angegebene Zweiteilung ein, so entsteht ein Problem: Wie ist es
um die Dimension des Unmöglichen bestellt? Da wir — in welcher Absicht und mit
welchem Erfolg auch immer — über das Unmögliche sprechen können, gehört
diese Dimension zum universe of discourse. Andererseits wird sie durch die Zweitei-
lung ausgeschlossen. Es kann in diesem Buch auf dieses Problem nicht eingegangen
werden. Hier genüge zu sagen, daß im Text der Ausdruck .universe of discourse'
stillschweigend im Sinne von „sinnvolles universe of discourse' verstanden wird.
10 Vgl. zu diesem Problemkomplex Rescher [1977 a].

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256 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

[2] An dieser Stelle ist es weder beabsichtigt noch möglich, auch nur die
wichtigsten Konzeptionen über den Unterschied von Wirklichkeit und Mög-
lichkeit darzulegen und kritisch zu prüfen. Um das Verständnis des gleich
unten darzustellenden eigenen Ansatzes vorzubereiten, seien einige der in
der Gegenwartsphilosophie am häufigsten diskutierten Ansätze kurz er-
wähnt.

[i] Die einfachste und verlockendste Lösung scheint für einige Autoren jene
zu sein, die durch den sowohl logisch einwandfreien als auch intuitiv sofort
einleuchtenden Satz artikuliert wird: .Unsere, die wirkliche, Welt ist eine
unter vielen möglichen Welten.' Einige Autoren verstehen diesen Satz in
der Weise, daß sie aus ihm die These folgern, die Dimension des Möglichen
sei in jedem Fall die primäre Dimension, und zwar — vorerst — zumindest
in dem Sinne, daß das Wirkliche vom Möglichen her, nicht das Mögliche
vom Wirklichen her zu bestimmen ist. Demnach wäre der Begriff des
Möglichen der ursprünglichere oder sogar der ursprünglichste Begriff über-
haupt; der Begriff des Möglichen, nicht der des Wirklichen, wäre der absolute
Begriff. Anders formuliert: Nach dieser Konzeption umfaßt der Begriff des
Möglichen alle Welten in gleicher Weise, insofern er den Status jeder Welt
absolut, d. h. in für alle Welten gleicher Weise, anzeigt.
Im Gegensatz dazu ist dieser Konzeption zufolge der Begriff des Wirk-
lichen ein relativer Begriff, wobei hauptsächlich S(wei Formen unterschieden
werden: Erstens wird dem Wirklichen eine Relativität zugeschrieben in dem
Sinne, daß unsere Welt diejenige mögliche Welt ist, der als einziger das
Attribut „wirklich" zukommt, ohne daß aber diesem Attribut ein Primat
zugesprochen werden könnte. Die zweite Form von Relativität des Wirkli-
chen reduziert dieses Attribut auf eine rein indexikalische Funktion: Jede
Welt ist zwar wirklich, aber nur relativ zu sich selbst. 11
Zu dem oben genannten Satz .Unsere, die wirkliche, Welt ist eine unter
vielen möglichen Welten' ist kritisch zu bemerken, daß er zweideutig ist.
Er kann, muß aber nicht, im Sinne der dargelegten Position(en) verstanden
werden. Wird er in diesem Sinne verstanden, so ist immer noch zu sagen,
daß er logisch einwandfrei ist, nicht aber ohne weiteres, daß er sofort intuitiv
einleuchtet. Der Satz, so wie er formuliert wurde, läßt die Frage unbeant-
wortet, wie er genau zu verstehen ist; er artikuliert nur einen bestimmten
(logischen) Zusammenhang, nämlich den, daß alles Wirkliche auch möglich

11 Letztere Position wird am dezidiertesten von D. Lewis vertreten. Vgl. Lewis


[1986], bes. 1.9.

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3.6 Z u m Begriff der Welt 257

ist. Will man mehr in den Satz hineinlesen, so muß man Annahmen machen,
die im Satz selbst nicht artikuliert sind. Auf dieser allgemeinen Ebene kann
man viele ähnliche Sätze formulieren, so beispielsweise: Jede mögliche Welt
(außer der unseren) ist eine nicht-wirkliche oder nicht-verwirklichte Welt.'
Letzterer Satz deutet eher den Primat des Wirklichen an, da hier das
Wirkliche als Bezugspunkt genommen wird. Daraus ist zu entnehmen, daß
der oben genannte Satz nicht als Begründung für die These des semantischen
und ontologischen Primats des Möglichen herangezogen werden kann. Die
Frage muß aufgrund anderer Faktoren und Kriterien entschieden werden.
[ii] Die in der gegenwärtigen Philosophie vielleicht bekannteste Behandlung
des Begriffs Wirklichkeit ist bei Quine zu finden. In unnachahmlicher Kürze
und Präzision faßt er seine Konzeption folgendermaßen zusammen (dabei
ist zu beachten, daß der von Quine verwendete Ausdruck , Existenz' im
Sinne von ,Wirklichkeit' gemäß der oben getroffenen terminologischen
Festlegung zu verstehen ist):
„Existenz ist, was durch die Existenzquantifikation ausgedrückt wird. Es
gibt Dinge der A r t F genau dann, wenn (3x)Fx. Dies ist so wenig hilfreich
w i e bezweifelbar, da ja gerade die symbolische Schreibweise der Quantifi-
kation v o n vornherein so erklärt ist. Es ist eben unsinnig, den Existenzbe-
griff in einfacheren Begriffen explizieren zu wollen. Es gelang uns, die
singulare Existenz ,a existiert' zu explizieren: nämlich als ,(3x)(x — a)'. A b e r
die Explikation des Existenzquantors ,es gibt' seinerseits, die Explikation
der allgemeinen Existenz, ist eine hoffnungslose Sache. Dennoch können
w i r auch hier nach weiterem Verständnis suchen, aber nicht in F o r m einer
Explikation. W i r können noch fragen, was f ü r oder gegen quantifizierte
Existenzsätze spricht." 1 2

Es ist nur allzu klar, daß Quines Verfahren nur unter der Voraussetzung
Anwendung findet, daß ein wirklicher Bereich oder eher ein Bereich wirklicher
Objekte angenommen wird. Was Wirklichkeit des Bereichs oder der Objekte
des Bereichs heißt, kann auf dieser Basis nicht geklärt werden. Ob der Versuch,
Wirklichkeit zu klären, wirklich eine „hoffnungslose Sache" ist, ist eine ganz
andere Angelegenheit.
[iii] Ein weiterer Versuch, den Status von Wirklichkeit zu klären, betrifft
die Thematik des vorliegenden Werkes. Es handelt sich um die „true-story
theory of actuality"13. Damit ist gemeint, daß Wirklichkeit von einem absolut
verstandenen Begriff der Wahrheit her bestimmt oder erklärt wird. Dabei

12 Quine [1969] S. 1 3 4 f. (modifizierte Übersetzung).


13 A d a m s [1979] S. 204.

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258 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

wird Wahrheit Propositionen zugeschrieben, so daß gesagt wird: Die wirk-


liche Welt unterscheidet sich von möglichen Welten dadurch, daß alle
Elemente ihrer „Welt-Geschichte" (d. h.: alle zu ihr gehörenden Propositio-
nen) wahr sind. „Wahrheit" wird in dem Sinne als absolut aufgefaßt, daß sie
nicht nur relativ zu einer Welt (in diesem Fall: zu der als wirklich unterstellten
Welt) genommen wird. „Wahrheit" wird vorausgesetzt, wenn nicht als
primitiver Begriff, so doch mindestens als ein gegenüber dem Begriff der
Wirklichkeit ursprünglicherer Begriff.
Bekanntlich kann man in der Philosophie nicht umhin, in der einen oder
anderen Weise einen oder mehrere Begriffe als die grundlegenden Begriffe
zu akzeptieren. Diese Feststellung wirft mehrere Fragen auf: Welcher Begriff
oder welche Begriffe sollen als die-grundlegenden betrachtet werden? Was
heißt genau „grundlegender Begriff? Eine gut vertretbare Antwort auf
diese Fragen scheint die folgende zu sein: Was unter „grundlegender Begriff"
zu verstehen ist und welcher Begriff (oder welche Begriffe) als fundamen-
tale^) Begriff(e) zu betrachten ist (sind), hängt vom ganzen Explikationsge-
bäude ab, d. h. von der Art und Weise, wie die verschiedenen einschlägigen
Begriffe in einen kohärenten Gesamtzusammenhang eingeordnet werden.
Vorzuziehen ist dann jenes Explikationsgebäude, das die größere Kohärenz
aufweist. Freilich, es bleibt immer noch die schwierige Frage zu klären, was
in diesem Kontext „Kohärenz" heißt. In jedem Fall handelt es sich um einen
hochkomplexen Begriff, für dessen Bestimmung eine ganze Reihe von sehr
heterogenen Faktoren zu berücksichtigen sind, wie: logische, semantische,
pragmatische, ontologische usw. Faktoren. Dieser Begriff kann hier nicht
weiter verfolgt werden; immerhin läßt sich sagen, daß das vorliegende Buch
einen konkreten Fall eines solchen Begriffs darstellt. Die Begründung der
These, daß nicht Wahrheit, sondern Wirklichkeit der grundlegendere Begriff
ist, kann letztlich nur konkret geführt werden, d. h. in Auseinandersetzung
mit konkreten divergierenden Versuchen.

[iv] Schließlich sei noch die Konzeption erwähnt, derzufolge Wirklichkeit


als absolut primitiver unanalysierbarer Begriff genommen wird. Diese Auf-
fassung ist zu undifferenziert. Der Begriff des „primitiven Begriffs" ist sehr
vage, ja zweideutig. Er kann bedeuten, daß der Begriff „in" oder „an sich
selbst", unabhängig von jedem anderen Begriff, als verstehbar genommen
wird; oder er kann bedeuten, daß der Begriff als „grundlegender" Begriff
in einem begrifflichen Gesamtzusammenhang angesetzt und in dieser Stellung
verstanden wird. Ein „primitiver" Begriff im ersten Sinne scheint in der
Philosophie nicht annehmbar zu sein. Nimmt man nun Wirklichkeit als den

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3.6 Zum Begriff der Welt 259

grundlegenden Begriff im zweiten Sinne, so heißt das, daß dieser Begriff im


Rahmen der Grundbegrifflichkeit einen ganz bestimmten Platz einnimmt
und eine ganz bestimmte Rolle spielt. Man kann nun sagen, daß der Umstand,
daß dieser Begriff einen bestimmten Platz einnimmt und eine bestimmte
Rolle spielt, eine Art „indirekte oder implizite Explikation oder Definition"
des Begriffs einschließt. In diesem Sinne ist, wie sich zeigen wird, der Begriff
der Welt als ein grundlegender Begriff hinsichtlich der Explikation/Defini-
tion von Wahrheit zu betrachten.

[3] Die soeben angestellten Überlegungen gelten natürlich auch für den Fall
der Unterscheidung von Wirklichkeit und Möglichkeit. Nun läßt sich hinsicht-
lich dieser Thematik ein eindeutiges Kriterium angeben; es ist ein Kriterium,
das grundsätzlich mit unserem Verstehen der Ausdrücke bzw. der Begriffe
„Wirklichkeit" und „Möglichkeit" zu tun hat. Man kann zwar diese Begriffe
in verschiedener Weise bestimmen, d. h. voneinander unterscheiden und
aufeinander beziehen. Aber alle diese Versuche scheinen auf einem grund-
legenden Verständnis zu beruhen, das man folgendermaßen skizzieren kann:
Das Verstehen dessen, was „Wirklichkeit" heißt bzw. bedeutet, ist primär
gegenüber dem Verstehen dessen, was „Möglichkeit" heißt oder bedeutet.
Das wird u. a. an folgendem Umstand deutlich: Wir verstehen „wirklich"
in der Weise, daß wir allererst dadurch dazu geführt werden, „möglich" zu
verstehen. Strenggenommen wäre es inadäquat zu sagen, daß das Verstehen
von „möglich" eine notwendige Bedingung für das Verstehen von „wirklich"
ist; das Verstehen von „möglich" ist eher das explikative Ergebnis des
Verstehens von „wirklich". Anders verhält es sich im Falle des Verstehens
von „möglich": Wir können nicht „möglich" verstehen, ohne das Verstehen
von „wirklich" vorauszusetzen oder zugrundezulegen; das Verstehen von
„wirklich" ist eine notwendige Vorbedingung für das Verstehen von „möglich".
Es gibt somit eine Asymmetrie hinsichtlich des Verstehens von „wirklich"
und „möglich". 14
Wir können einen Schritt weiter gehen und sagen, daß das Verstehen von
„wirklich" dem Verstehen jedes anderen Begriffs zugrunde liegt. Freilich ist
diese These eine umfassende These, die hier nicht angemessen begründet
werden kann. Was allerdings die Begriffe „Wahrheit", „Wirklichkeit", „Mög-
lichkeit", „Welt" u. dgl. anbelangt, so erhebt das vorliegende Buch den

14
Ähnliche Überlegungen sind zu finden bei Nolt [1986]. Nolt rekurriert auf unser
praktisches und intuitives Verständnis semantischer Regeln, um die Frage zu
klären, was mögliche Welten sind.

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260 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

Anspruch zu zeigen, daß das Verstehen von „Wirklichkeit" („wirklicher


Welt") grundlegender ist als das Verstehen anderer Begriffe, etwa des Begriffs
der Wahrheit.
Freilich ist damit ein Aufweis der genannten These nur skizziert; oder
eher: damit ist mehr oder weniger nur die Aufgabe formuliert. Aber eine
Begründung der These sei doch in einer mehr indirekten Weise präsentiert,
nämlich in der Weise einer Auseinandersetzung mit dem, was man vermutlich
als die zentrale Behauptung oder These der gegenteiligen Konzeption be-
zeichnen kann. Diese Behauptung bzw. These kann man in einer interessan-
ten und teilweise amüsanten Passage im Buch von D. Lewis On the Plurality
of Worlds formuliert finden. Dort nimmt Lewis Bezug auf einen Passus in
einem schon oben zitierten Aufsatz von R. M. Adams15 und schreibt:
„He [Adams] says that a simple-property theory of absolute actuality can
account for the certainty of our knowledge of our own actuality by main-
taining that we are immediately acquainted with our own absolute actuality
as we are with our thoughts, feelings, and sensations. But I reply that if
Adams and I and all the other actual people really have this immediate
acquaintance with absolute actuality, wouldn't my elder sister have had it
too, if only I'd had an elder sister? So there she is, unactualised, off in some
other world getting fooled by the same very evidence that is supposed to
be giving me my knowledge." 16

Um keine fragwürdigen Voraussetzungen zu machen, seien in diesem Text


die Ausdrücke ,immediate acquaintance with absolute actuality' durch
.grundlegendes Verstehen des primären Charakters von Wirklichkeit' ersetzt;
am Argument von Lewis ändert sich dadurch nichts. Dieser Text ist nun
symptomatisch für eine weitverbreitete Konfusion. Der zentrale Zitatteil:
„... if Adams and I and all the other actual people really have this immediate
acquaintance with absolute actuality [setze: dieses Verstehen im angegebenen
Sinne), wouldn't my elder sister have had it too, if only I'd had an elder
sister?" ist einwandfrei wahr und daher nicht zu beanstanden. Aber was
folgt daraus? Lewis scheint buchstäblich zu übersehen, was er selbst sagt,
nämlich: daß seine ältere Schwester das genannte Verstehen gehabt haben
würde, eben würde, aber nicht: (gehabt) hat. Sie würde das Verstehen von
„Wirklichkeit" gehabt haben, vorausgesetzt, sie wäre real-existierend gewesen.

15 Vgl. Adams [1974]. Es sei bemerkt, daß Lewis den entsprechenden Passus bei
Adams (S. 200) mißversteht, insofern er nicht beachtet, daß Adams sich die dort
genannte Position nicht zu eigen macht. Aber dieser Umstand ist für die im
nachfolgenden Haupttext vorgelegte Argumentation ohne Bedeutung.
16 Lewis [1986b] S. 9 3 - 9 4 .

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3.6 Zum Begriff der Welt 261

Lewis' Argument scheint damit gar keines zu sein, im Gegenteil: seine


Formulierung zeigt genau das Gegenteil dessen, was er intendiert; sie
impliziert nämlich die Aussage, daß seine ältere Schwester das genannte
Verständnis gehabt hätte, unter der Voraussetzung, daß sie reale Existenz gehabt
hätte. Sie hat aber keine reale Existenz, daher hat sie nicht das genannte
Verständnis. Reale Existenz ist daher gegenüber möglicher Existen% primär.
Der betonte Hinweis darauf, daß auch die Schwester das Verständnis gehabt
haben würde, übersieht, daß dieses mögliche Haben des Verständnisses als
durch das Haben der realen Existenz vermittelt erklärt wird. Wenn Lewis
fortfährt „So there she is, unactualised ...", so macht dieser unvermittelte
Wechsel zum Indikativmodus die Verwechslung nur allzudeutlich.
Dieser Kritik an Lewis' Ausführungen kann man dadurch zu entgehen
versuchen, daß man von einem possibilistischen Standpunkt aus zeigt, daß
keine „Konfusion" vorhanden ist; vielmehr sei es vom genannten Stand-
punkt aus möglich, das genannte Beispiel auf konsistente Weise zu erklären.
Setze man nämlich die possibilistische Position voraus, so sei der Wechsel
vom Konjunktiv- zum Indikativmodus unbedenklich und daraus könnten
keine Schlüsse zugunsten einer nicht-possibilistischen Position gezogen wer-
den. Dazu ist zu sagen: Es trifft zwar zu, daß es unter Voraussetzung der
possibilistischen Position möglich ist, zumindest eine gewisse konsistente Er-
klärung des zur Diskussion stehenden Phänomens bzw. Beispiels zu geben;
aber dieser Hinweis entkräftet nicht die vorgelegte Kritik. Man kann nämlich
bezweifeln, ob die possibilistische Deutung dem mit dem beschriebenen Bei-
spiel gegebenen semantischen Phänomen wirklich gerecht wird. Der ent-
scheidende Gesichtspunkt aber ist der folgende: Die erwähnte possibilistische
Deutung setzt die possibilistische Position schon voraus; die Frage ist aber,
ob diese Position begründet ist. Versucht man allererst die Frage zu klären,
ob eine possibilistische oder „realistische" Position zu beziehen ist, so
erscheint das diskutierte Phänomen bzw. Beispiel in einem ganz anderen
Licht. Auf der Suche nach Kriterien für die Lösung dieser Frage stellt sich
das, was man eine durch hochtheoretische Voraussetzungen in einer be-
stimmten Hinsicht noch ungetrübte ursprüngliche semantische Tatsache nennen
könnte, nämlich das oben aufgezeigte ursprüngliche Verstehen von „wirklich"
und „möglich", als der entscheidende Gesichtspunkt heraus. Dies bedeutet
nicht, daß man es bei einem solchen ursprünglichen Verstehen belassen kann
oder soll; im Gegenteil: ein solches Verstehen ist zu explizieren im Rahmen
eines kohärenten holistischen Begriffssystems.

[4] Wenn man in dieser Weise den Primat des Wirklichen über das Mögliche
behauptet, so drängt sich erst recht die Frage auf, wie mögliche Welten zu

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262 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

bestimmen sind. Dies ist eine außerordentlich intrikate Frage, die hier nicht
im mindesten adäquat behandelt werden kann. Einige Hinweise, die beson-
ders für die Wahrheitsproblematik von Bedeutung sind, müssen genügen.
[i] Da Welten als maximale Verhalte (Propositionen) bestimmt wurden und
da Verhalte nicht-sprachliche (wenn auch sprachabhängige) Entitäten sind,
können mögliche Welten nicht einfach auf Sprache und Ähnliches reduziert
werden. Mögliche Welten sind echte „ontologische" Entitäten. Die Frage,
wie man sie erklären kann, ist letzten Endes nur im Rahmen einer Gesamt-
ontologie (und sogar Metaphysik) zu beantworten.
[ii] Die — zumindest auf den ersten Blick — am wenigsten problematische
Konzeption dürfte die sein, die eine mögliche Welt als eine Variante unserer,
der wirklichen, Welt auffaßt: Einige Objekte/Individuen (Ereignisse, Pro-
zesse u. ä.), kurz einige Konfigurationen unserer Welt hätten anders sein können
als sie tatsächlich (wirklich) gewesen sind oder sind. Es kann nicht bestritten
werden, daß dieser Gedanke auf einer der tiefsten und hartnäckigsten
Intuitionen beruht, von denen sich die Menschen in allen Bereichen ihres
Lebens leiten lassen. Aber so einleuchtend diese Bestimmung von möglicher
Welt zunächst erscheint, so schwierig ist es, sie genau und kohärent zu
explizieren. Was heißt hier „Variante" der wirklichen Welt? Es handelt sich,
wenn die allgemeine (kategorial-ontologische) Bestimmung von Welt streng
beachtet wird, unzweideutig um einen anderen maximalen Verhalt. Die Frage
ist dann, wie einzelne Verhalte als Bestandteile von mehr als einem maximalen
Verhalt begriffen werden können.

[iii] Zwei Alternativen zeichnen sich ab, sobald man die Frage stellt, ob
Objekte/Individuen, d. h. die fundamentalen Konfigurationen, „weltgebun-
dene" Entitäten im strengen Sinne sind oder nicht. Damit ist folgendes
gemeint: Wird das Verhältnis des Objekts/Individuums, allgemein: jeder
Konfiguration, zur Welt, zu der es/sie gehört, dahingehend bestimmt, daß
allen Aspekten oder Momenten dieses Verhältnisses eine streng konstitutive
Funktion für die Bestimmung jedes Objekts/Individuums, allgemein: jeder
Konfiguration, zugeschrieben wird, so ist die Konsequenz die, daß ein
Objekt/Individuum, allgemein: jede Konfiguration, nur in einer Welt sein
kann: Es/sie ist weltgebunden.
Wenn aber das genannte Verhältnis anders, nämlich als ein sozusagen
lockeres Verhältnis, bestimmt wird, so sind die Konfigurationen nicht welt-
gebunden. In diesem zweiten Fall nimmt man an, daß ein Individuum bzw.
eine Konfiguration dasselbe/dieselbe bleibt, auch wenn einige seiner/ihrer

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3.6 Zum Begriff der Welt 263

Bestimmungen wechseln. M. a. W.: die erste Konzeption verwirft die (Mög-


lichkeit der) berühmte(n) „Querweltein-Identität 17 (transworld identity)",
die zweite bejaht sie. 18 Diese sich gegenseitig streng ausschließenden Bestim-
mungen des Verhältnisses von Konfiguration und Welt führen zu %wei völlig
verschiedenen Konzeptionen von möglicher Welt.

[iv] Strenggenommen impliziert nur die yweite Auffassung, die die Welt-
Ungebundenheit der Konfigurationen (Individuen) behauptet, jene Konzep-
tion, die mögliche Welt als Variante der wirklichen Welt bestimmt. Denn in
diesem Fall — und nur in diesem — ist eine mögliche Welt ein maximaler
Verhalt, der einen bestimmten Teil der auch zur wirklichen Welt gehörenden
Verhalte enthält. Wirkliche Welt und mögliche Welt(en) haben nach dieser
Auffassung einen im strengen Sinne gemeinsamen, d. h. identischen, Teil.
Wie umfangreich dieser gemeinsame Teil ist, hängt von vielen Faktoren ab;
aber dieser Umstand spielt keine wesentliche Rolle für die grundsätzliche
Bestimmung von möglicher Welt im Sinne dieser zweiten Konzeption.
Es ist nicht zu sehen, wie diese Theorie kohärenterweise vertreten werden
kann, ohne daß sie einen expliziten Essentialismus19 akzeptiert. Es wird ja
hinsichtlich jeder Konfiguration eine radikale Unterscheidung zwischen zwei
Dimensionen eingeführt: zwischen einer veränderbaren und einer nicht
veränderbaren. Die erste kann fehlen oder eine (prinzipiell beliebige) Gestalt
annehmen, ohne daß die zweite davon betroffen wäre. In der philosophischen
Tradition wird die zweite Ebene die essentielle, die erste die akzidentielle
genannt.

[v] Wie wird nun mögliche Welt im Rahmen der ersten Konzeption über das
Verhältnis von Konfiguration und Welt bestimmt? Wenn Individuen oder
Konfiguration streng weltgebunden sind, wenn dementsprechend eine „Quer-
weltein-Identität" abgelehnt wird, was ist dann eine mögliche Welt? Es dürfte
sofort einleuchten, daß diese Annahmen zu einem völlig anderen Begriff
von möglicher Welt führen. Aber auch hier gibt es %wet Alternativen, von
denen nur die zweite mögliche Welt als Variante der wirklichen Welt bestimmt,
wobei dann allerdings der Ausdruck ,Variante' in einem sehr weiten Sinne
genommen werden muß (es ist sogar fraglich, ob er hier überhaupt Anwen-
dung finden sollte).

17 Zu diesem treffenden Ausdruck vgl. Stegmüller [1979] S. 317 f.


18 Vgl. dazu u. a.: Rescher [1975], Plantinga [1979 b], Lewis [1983 a], [1986b], mehrere
Beiträge in French/Uehling/Wettstein [1986].
19 Vgl. dazu French/Uehling/Wettstein [1986].

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264 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

Die erste Alternative versteht Welt-Gebundenheit der Individuen/Konfigu-


rationen in einem so radikalen Sinne, daß ein Anders-sein-können („Es-
hätte-anders-sein-können" u. dgl.) der wirklichen Welt ein leerer Begriff
bleibt. Ein Individuum bzw. eine Konfiguration wird schlechthin identifi-
ziert mit allen seinen/ihren „Bestimmungen", genauer: mit allen primären
Verhalten, die zur Konfiguration gehören. Konsequenterweise kann keine
mögliche Welt in irgendeinem Sinne als Variante der wirklichen Welt kon-
zipiert werden, da keine Welt möglich ist, die auch nur teilweise gemeinsame
Konfigurationen mit der wirklichen Welt hätte. Jede (mögliche oder wirk-
liche) Welt ist etwas toto coelo Differentes von jeder anderen.
Die somite Alternative gelangt zu möglichen Welten, die in einem bestimm-
ten Sinne als Varianten der wirklichen Welt zu verstehen sind. Diese Alter-
native versucht, die zwei anscheinend sich radikal gegenseitig ausschließen-
den Gedanken oder Perspektiven der totalen Weltgebundenheit der Konfi-
gurationen/Individuen und der Variante (d. h. des Umstandes, daß die wirk-
liche Welt anders hätte sein können) zu vereinigen. Das Verdienst, einen
solchen Versuch unternommen zu haben, ist mit dem Namen David Lewis
verbunden. Das Ergebnis des Versuchs ist seine berühmte und vieldiskutierte
„Gegenstück-Theorie (counterpart theory)". Anstelle der „Querweltein-
Identität" führt Lewis die „Gegenstück-Relation" ein. Was er darunter
versteht, kann am besten anhand eines Zitats deutlich gemacht werden:
„The counterpart relation is our substitute for identity between things in
different worlds. Where some would say that you are in several worlds, in
which you have somewhat different properties and somewhat different things
happen to you, I prefer to say that you are in the actual world and no other,
but you have counterparts in several other worlds. Your counterparts
resemble you closely in content and context in important respects. They
resemble you more closely than do the other things in their worlds. But
they are not really you. For each of them is in his own world, and only you
are here in the actual word. Indeed we might say, speaking casually, that
your counterparts are you in other worlds, that they and you are the same;
but this sameness is no more a literal identity than the sameness between
you today and you tomorow. (...) the counterpart relation is a relation of
similarity .,." 20

Es wäre verwegen, im Rahmen des vorliegenden Buches eine Entscheidung


zugunsten einer der umrissenen Konzeptionen zu treffen und zu begründen
oder eine eigene unabhängige Konzeption zu entwickeln. Dies würde vor-
aussetzen, daß die in den Diskussionen über diese Thematik inzwischen

20 Lewis [1968] S. 27 f.

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3.6 Zum Begriff der Welt 265

erreichte außerordentlich hohe Komplexität voll berücksichtigt wird, was


hier nicht möglich ist. Dies ist aber auch nicht erforderlich. Für die Ziel-
setzung des vorliegenden Werkes, nämlich die grundsätzliche Klärung des
Wahrheitsbegriffs, dürfte der Aufweis der inneren Strukturen und der Kon-
sequenzen der verschiedenen Konzeptionen genügen. Daß dem so ist, wird
sich im letzten Kapitel (Kapitel 4) zeigen.

[5] Allerdings erscheint eine letzte Bemerkung angebracht. Die Diskussion


über mögliche Welten, so wie sie in der Gegenwart geführt wird, scheint
durch eine tiefsitzende Zwiespältigkeit gekennzeichnet zu sein. Auf der
einen Seite werden Probleme aufgeworfen und behandelt und Konzeptionen
vertreten, die charakteristisch sind für das, was man in einem traditionellen
Sinn die kühnste Metaphysik nennen könnte. Ein Beispiel ist D. Lewis'
„modaler Realismus". Auf der anderen Seite scheinen die meisten beteiligten
Philosophen sich selbst eine Art nicht ganz durchschaubare Selbstbeschrän-
kung aufzuerlegen. Meistens geht man bis zu einem gewissen Punkt und
fragt dann entweder nicht weiter oder aber man begnügt sich mit Behaup-
tungen, denen der Status wohlbegründeter Aussagen kaum zuerkannt wer-
den kann. Wieder ein Beispiel dafür ist die Art, wie D. Lewis — nebenbei
— die Fragen „erörtert": Könnte es möglicherweise nicht eher nichts als
etwas geben? und: Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?21
Es sei hier die Überzeugung ausgesprochen, daß die Diskussion über Welt,
über wirkliche Welt(en) und über mögliche Welten solange zu keinem
einleuchtenden Ergebnis führen wird, wie man nicht die radikalen Fragen
stellt und zu klären versucht: Was ist (reale) Existenz? Ist alle reale Existenz
und/oder alle mögliche Existenz kontingent oder ist nicht vielmehr eine
absolute reale Existenz anzunehmen? Es führt zu nichts, diese Fragen, die
doch — auf sonderbar implizite Weise — der tatsächlich geführten Diskus-
sion zugrundeliegen, ignorieren zu wollen. Die Frage nach (den) möglichen
Welten wurde von Leibniz unter radikaler Beachtung solcher Fragen gestellt
und behandelt.

3.6.3 Eine wirkliche Welt oder viele wirkliche Welten? Sprache-/Logik-/


Geist-/Theorie-abhängige oder -unabhängige wirkliche Welt(en)?

Im Titel dieses Abschnitts werden zwei verschiedene Fragen formuliert.


Dies geschieht mit Bedacht, da beide Fragen aufs engste miteinander zusam-
menhängen; keine der beiden kann unabhängig von der anderen genau

21 Vgl. Lewis [1986], S. 73 f.

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266 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

formuliert, verstanden oder einer Klärung zugeführt werden. Was die Aus-
drücke ,Sprache', ,Logik', ,Geist' und .Theorie' im Kontext der aufgewor-
fenen Fragen genau besagen, soll nicht vorausgesetzt, sondern zum aus-
drücklichen Thema erhoben werden. Um nicht alle vier Ausdrücke ständig
zu wiederholen, wird die Abkürzung ,SLGT-abhängige bzw. -unabhängige
Welt(en)' oder einfach der Ausdruck ,SPRACHE' (bzw. ,SPRACH-abhän-
gige oder -unabhängige Welt(en)') verwendet. Wie sich zeigen wird, kann
,Sprache' in einer bestimmten Hinsicht, nämlich in einem umfassenden Sinne,
als die Dimension betrachtet werden, die die drei anderen einschließt; wenn
Sprache in diesem Sinne verstanden wird, wird die Großschreibung SPRA-
CHE gebraucht.
Es ist noch einmal zu betonen, daß die Behandlung dieser Fragen im
Rahmen dieses Buches im Hinblick auf die Klärung des Wahrheitsbegriffs
erfolgt. Daß ein inniger Zusammenhang zwischen den beiden Fragenkom-
plexen besteht, ergibt sich besonders aus dem im Abschnitt über Realismus
und Anti-Realismus (3.2.2) Ausgeführten; wie sich zeigen wird, ist der
Zusammenhang noch enger. Nur beiläufig soll im folgenden auf die immense
Literatur Bezug genommen werden, die sich mit der anstehenden Frage-
stellung befaßt. Der hier verfolgte Ansatz ist systematisch orientiert.
Zunächst soll das Grundproblem aufgezeigt und eine Typologie der
möglichen Grundpositionen skizziert werden (3.6.3.1); sodann sollen nega-
tive (3.6.3.2) und positive Grundannahmen (3.6.3.3) formuliert werden;
schließlich sollen die Grundzüge eines Lösungsansatzes erarbeitet werden
(3.6.3.4).

3.6.3.1 Das Grundproblem und eine Typologie der Grundpositionen


Einen guten Einstieg in die Komplexität der zu behandelnden Fragen
ermöglicht die Formulierung eines Grundproblems, das sich aus der Not-
wendigkeit ergibt, sgvei sich anscheinend ausschließende Gesichtspunkte
berücksichtigen zu müssen.

[1] Der erste Gesichtspunkt ist die Tatsache, daß „wir" (d. h. hier: jene
„Dimension", die SLGT- oder SPRACH-strukturiert ist) die wirkliche Welt22
nicht „schaffen" oder „hervorbringen" oder „konstituieren", sondern sie

22 Solange die Frage, ob man eine wirkliche Welt oder viele wirkliche Welten annehmen
muß, nicht geklärt ist, wird der Einfachheit halber in Kontexten wie dem gegen-
wärtigen meistens nur der Ausdruck ,eine (oder: die) wirkliche Welt' verwendet.

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3.6 Zum Begriff der Welt 267

vielmehr — prima facie — vorfinden. Die wirkliche Welt ist uns vorgegeben,
was sich an unzähligen Erfahrungen zeigt. Die Aufgabe aller theoretisch
orientierten Aktivitäten, zu denen in jedem Fall Wissenschaft und Philoso-
phie zu rechnen sind, kann in der hier interessierenden Hinsicht am besten
als die Aufgabe bestimmt werden, die wirkliche Welt zu entdecken, zu
beschreiben, zu erklären. Von diesem Gesichtspunkt aus gesehen scheint die
These von der SLGT- oder SPRACH-f/«abhängigkeit der wirklichen Welt
nichts anderes als der Ausdruck einer durch nichts zu erschütternden Grund-
tatsache zu sein. Die Negation dieser These scheint zur Folge zu haben, daß
das ganze theoretische Unternehmen verfälscht wird, insofern ihm dadurch
seine eigentliche Basis, seine Aufgabe und seine Zielsetzung entzogen wer-
den. Es ist daher verständlich, daß so etwas wie eine realistische Grundhaltung
ein bekanntes Charakteristikum besonders der „realen" Wissenschaftler ist.
Rechnet man noch dazu den Erfolg der Wissenschaften, so scheint es
unverständlich zu sein, daß Philosophen auf den Gedanken kommen können,
eine SLGT-Unabhängigkeit der wirklichen Welt zu leugnen. In der Tat, aus
dem unbestreitbaren Erfolg der Wissenschaften scheint sich die Folgerung
mit Notwendigkeit zu ergeben, daß es den Wissenschaften darum geht zu
erklären, „wie es sich — unabhängig von ,uns' — in der wirklichen Welt
verhält", oder, anders gesagt, daß sie auf der Grundannahme beruhen, daß
die wirkliche Welt von „uns" »»abhängig ist. 23

[2] Ein £weiter, dem ersten diametral entgegengesetzter Gesichtspunkt


drängt sich ebenfalls auf, wenn auch dessen Evidenz einen eher „vermittel-
ten" oder „reflexiven" Charakter hat. Dieser Gesichtspunkt läßt sich am
besten in Verbindung mit dem zwar vagen, aber wegen seiner Verbreitung
sehr suggestiven Ausdruck .Begriffssystem' (.conceptual scheme') umschrei-
ben. Was darunter genauer zu verstehen ist, soll unten gezeigt werden; hier
möge ein rein intuitives Verständnis vorerst genügen. Es ist unbestreitbar,
daß in der Geschichte der Wissenschaften und der Philosophie verschiedene
Begriffssysteme (oder Begriffsparadigmata) festgestellt werden können. Fer-
ner scheint es so zu sein, daß angesichts eines Datums oder vieler Daten —

23 Die Folgerung, von der im Text gesagt wird, sie scheine sich aus dem Erfolg der
Wissenschaften zu ergeben, ist nicht zu verwechseln mit einer anderen, sehr
umstrittenen Folgerung, die viele „wissenschaftliche Realisten" aus dem Erfolg
der Wissenschaften ziehen: Sie schließen nämlich vom Erfolg der Theorien auf
die Wahrheit der Theorien. Ob dieser Schluß berechtigt ist oder nicht, soll hier
nicht entschieden werden (vgl. dazu u. a. Rescher [1987], bes. Kap. 6).

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268 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

welcher Art auch immer — eine ganze Reihe von Begriffssystemen verfügbar
sind, und zwar derart, daß im Prinzip von dem Datum oder den Daten her
gesehen kein Kriterium für die Wahl eines Begriffssystems und somit für die
Verwerfung anderer Begriffssysteme gewonnen werden kann.
Dieser Sachverhalt wird .Begriffsrelativität' (.conceptual relativity') ge-
nannt und wurde oft aufgezeigt, vielleicht am häufigsten und eindringlich-
sten durch H. Putnam. 24 Er illustriert den Sachverhalt durch folgendes
einfaches Beispiel: Man nehme eine Welt mit drei Daten x u x2, X3. (Da hier
von einer Dimension die Rede ist, die als von „Begriffen" noch möglichst
unberührt gelten soll, ist es besser, anstelle des schon begrifflich hochbe-
stimmten Ausdrucks .Individuum' den weniger bestimmten Ausdruck .Da-
tum' zu verwenden; allerdings ist auch .Datum' nicht begrifflich neutral;
überhaupt ist die Dimension, die der Dimension der Begriffssysteme gegen-
übergestellt wird, ihrerseits nicht begrifflich gleich null. Gerade dieser
Umstand zeigt, daß eine völlig „unkonzeptualisierte" oder „begrifflich un-
interpretierte" Dimension oder Welt eine Unmöglichkeit darstellt: oft wird
diese Unmöglichkeit unter dem Deckmantel der „Abstraktion" doch vertre-
ten.) Je nachdem, welches Begriffssystem man in Anschlag bringt, wird man
zu einer Welt mit nur drei oder etwa mit sieben Bestandteilen gelangen.
Eine Welt mit drei erhält man, wenn man u. a. keine mereologischen Begriffe
zuläßt; eine Welt mit sieben resultiert hingegen aus der Anwendung mereo-
logischer Begriffe: x,. x 2 , x 3 , xi + x2, xi + x3, X2+X3, χι + χ 2 +χ 3 ·
Welches Begriffssystem ist nun das „richtige"? Es scheint, daß diese Frage
überhaupt nicht entschieden werden kann, ja daß sie sogar sinnlos ist. Aber
die Berücksichtigung der unabdingbaren Stellung der Begriffssysteme
scheint noch ein weiteres, verwirrendes Ergebnis zu zeitigen: Einerseits
scheinen die Begriffssysteme die These zu implizieren, daß es eben keine
von ihnen unabhängige Welt geben kann; dies scheint ja gerade das oben
angeführte Beispiel zu zeigen; andererseits scheinen sie genau die entgegen-
gesetzte Konsequenz zu beinhalten: Deren Bestimmung oder Anwendung
scheint nämlich die These zu implizieren, daß eine Dimension voraus-gesetzt
werden muß, auf die sie eben angewandt werden, also eine Dimension, die
von ihnen «»abhängig ist. Diese zweite Konsequenz könnte man einen
epistemologisch-semantischen Hylemorpbismus nennen, den der Begriff und die
Anwendung des Begriffssystems beinhalten. In der Literatur spricht man in

24 Vgl. bes. Putnam [1981], „Models and Reality" in Putnam [1983] S. 1 - 2 5 , Putnam
[1987]. Das im nachfolgenden Text erläuterte Beispiel findet sich in diesem Buch
S. 18 f.

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3.6 Zum Begriff der Welt 269

diesem Kontext manchmal vom Dualismus von Form und Inhalt, Begriffs-
system (oder -schema) und Realität oder Welt.25
Man kann freilich versuchen, diese scheinbar paradoxe Lage dadurch zu
entwirren, daß man sagt: Die Existenz von Begriffssystemen beweist nur,
daß es keine „begrifflich (vorstrukturierte) bestimmte Welt" gibt bzw. geben
kann, die von (unseren) Begriffssystemen »»abhängig ist; voraus-gcsctzt werde
nur eine Welt, die eben „nicht begrifflich bestimmt" ist, eine „unkonzeptua-
lisierte" Welt. Die Frage ist allerdings, ob eine solche Unterscheidung
überhaupt nachvollziehbar ist. Darauf wird bald in systematischer Hinsicht
einzugehen sein.
Das ist also das Grundproblem, das den unzähligen Diskussionen über
die im Titel dieses Abschnittes formulierten zwei Fragen zugrunde liegt. Es
kann bezweifelt werden, daß die meisten Autoren die ganze Schärfe des
Grundproblems sehen und ihr gerecht werden. Darauf einzugehen, gehört
aber nicht zur Aufgabe dieses Buches.

[3] Bevor die Grundzüge eines Lösungsansatzes aufgezeigt werden, sei noch
kurz eine Typologie der Grundpositionen skizziert.

(i) Die Position, die eine SLGT- oder SPRACH-»«abhängige Welt in einem
absoluten Sinne annimmt, soll transzendenter Realismus heißen. Aus der Un-
abhängigkeitsthese ergibt sich, daß kein Grund ersichtlich ist, warum mehr
als eine einzige wirkliche Welt angenommen werden sollte. Man kann %wei
Varianten des transzendenten Realismus unterscheiden: Die erste anerkennt
ein einziges „richtiges" Begriffssystem und deklariert (die) andere(n) Be-
griffssysteme als rein subjektiv, bar jeder objektiven Relevanz. Diese Variante
kann man absoluten transzendenten Realismus nennen. Eine z w e ' t e Variante
berücksichtigt die Pluralität von Begriffssystemen in einer bestimmten Weise:
Begriffssysteme und Theorien werden als Approximationen an die eine wirk-
liche Welt aufgefaßt. 26 Diese zweite Variante verdient die Bezeichnung
gemäßigter transzendenter Realismus.

25 Ein solcher Dualismus wird kritisiert u. a. von Davidson, „Was ist eigentlich ein
Begriffsschema?" in Davidson [1984], bes. S. 270 ff. Davidsons Versuch, aus der
berechtigten Kritik am genannten Dualismus die Konsequenz zu ziehen, daß
alternative Begriffssysteme zu verwerfen sind, wird von N. Rescher einer eingehenden
Kritik unterzogen (vgl. Rescher [1982], Kap. 2, S. 27 - 60).
26 Einen imponierenden Versuch, diesen Grundgedanken zu entwickeln, hat Niini-
luoto [1987] unternommen.

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270 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

(ii) Eine zweite Position soll Anti-Realismus genannt werden. Dieser Aus-
druck wird heute, wie mehrmals gezeigt wurde, sehr oft verwendet. Im
Rahmen dieser Typologie soll er als Sammelbezeichnung für alle Richtungen
verwendet werden, die in einem sehr vagen Sinne eine SLGT-«»abhängige
Welt annehmen oder zumindest nicht explizit leugnen, diese Welt aber in
jedem Fall (zumindest für Theoriezwecke) als völlig irrelevant betrachten.
Die Nicht-Leugnung einer unabhängig existierenden Welt, das muß betont
werden, ist mehr oder weniger eine reine Floskel. Zu dieser Form des Anti-
Realismus sind u. a. Positionen wie der wissenschaftstheoretische Instru-
mentalismus, der konstruktive Empirismus,27 der wissenschaftstheoretische
Strukturalismus28, im allgemeinen die Formen einer rein epistemisch oder
rein pragmatisch konzipierten Wissenschaftstheorie und Semantik zu zählen.
Der Anti-Realismus in diesem Sinne ist keine ontologische Position. Der so
verstandene Anti-Realismus kann als eine mittlere Position zwischen dem
transzendenten Realismus und einer diesem entgegengesetzten Form des
Realismus, für die man die Bezeichnung immanenter Realismus einführen kann,
betrachtet werden. (Daß eine mittlere Position zwischen zwei Formen des
Realismus ausgerechnet Anti-Realismus genannt wird, scheint völlig inadä-
quat zu sein. Doch, wie vermerkt wurde, ist diese mittlere Position eine
epistemische oder pragmatische, keine ontologische.)
(iii) Immanenter Realismus ist die Auffassung, daß es keine SLGT- oder
SPRACH-»»abhängige(n) Welt(en) gibt. Aber wie diese allgemeine These
von den Autoren genau verstanden wird, die sich zu ihr bekennen, ist
schwer zu sagen. Ohne dies im einzelnen belegen zu können, sei hier
festgestellt, daß man eine wirklich durchdachte und kohärente Form eines
immanenten Realismus kaum finden kann. Hier soll idealtypisch vorgegan-
gen werden.
Mindestens drei Varianten des immanenten Realismus sind denkbar, für die
die folgenden %wei grundlegenden Thesen gelten: Erstens: Von einer wirk-
lichen Welt kann nur im Rahmen einer SLGT- oder SPRACH-Abhängigkeit
die Rede sein. Zweitens: jedem echten Begriffssystem entspricht eine wirkliche
Welt, (a) Eine erste Variante29 resultiert aus der spezifischen Annahme, daß
Begriffssysteme unter sich völlig inkommensurabel sind. Die Konsequenz liegt
auf der Hand: Es gibt viele untereinander inkommensurable wirkliche Welten;

27 Vgl. van Fraassen [1980],


28 Vgl. ζ. B. Stegmüller [1986], Kap. 11.
29 Vielleicht kann man diese erste Variante eines immanenten Realismus N. Goodman
zuschreiben. Vgl. bes. Goodman [1978].

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3.6 Zum Begriff der Welt 271

eine wirkliche Welt gibt es nicht. Die Bezeichnung atomistisch-pluralistischer


immanenter Realismus scheint für diese Position adäquat zu sein, (b) Eine
zweite Variante beruht auf der Annahme, daß es keine echte Pluralität von
Begriffssystemen bzw. SPRACHEN gibt; die Bemühungen der Wissenschaf-
ten und der Philosophie kreisen demnach um die Herausarbeitung eines
einzigen, adäquaten Begriffssystems oder einer einzigen adäquaten SPRA-
CHE, das/die eine einzige ihm/ihr korrespondierende und von ihm/ihr
abhängige wirkliche WELT artikuliert. Nicht nur eine SLGT-unabhängige
Welt, sondern auch eine echte Pluralität von wirklichen SLGT-abhängigen
Welten wird damit verworfen. 30 Für diese Variante sei die Bezeichnung
holistisch-monistischer immanenter Realismus eingeführt, (c) Eine dritte Variante
ergibt sich aus der Aufstellung folgender vyveier gewichtigen Thesen: (α) Es
gibt sowohl eine Pluralität von echten Begriffssystemen bzw. SPRACHEN
als auch eine Einheit derselben; (ß) entsprechend gibt es sowohl viele wirk-
liche Welten als auch eine Einheit dieser Welten bzw. WELTEN. Als Be-
zeichnung dieser Variante soll der Ausdruck holistisch-pluralistischer immanenter
Realismus verwendet werden.
Wie sich im folgenden zeigen wird, dürften nur die Formen (b) und (c)
des immanenten Realismus als mit dem allgemeinen in diesem Buch entwik-
kelten Ansatz vereinbar betrachtet werden. Eine Entscheidung zugunsten
einer der beiden Varianten ist keine leichte Sache. Aber vielleicht liegt die
Lösung gar nicht darin, daß eine solche Entscheidung getroffen wird;
möglicherweise läßt sich eine Position skizzieren, die die wesentlichen Ein-
sichten der beiden genannten Formen des immanenten Realismus bewahrt.
Bevor ein entsprechender Versuch unternommen wird, sollen zunächst einige
negative, dann einige positive Grundannahmen formuliert und begründet wer-
den.

3.6.3.2 Negative Grundannahmen


Es sind drei negative Grundannahmen zu formulieren.
(NGA1) Eine in jeder Hinsicht, d. h. absolut, SLGT- oder SPRACH-unabhängige
oder -jenseitige wirkliche Welt ist nicht-intelligibel.

Die Nicht-Intelligibilität einer solchen Welt ergibt sich daraus, daß „Intel-
ligibilität" grundsätzlich, ja per definitionem, Begriffliches involviert. Man

30 Möglicherweise kann der berühmte Konvergentismus von Charles S. Peirce auf


diesen Nenner gebracht werden. Vgl. dazu Rescher/Brandom [1980], bes. Ab-
schnitte 20— 24. Andere Aspekte der Konzeption Peirces scheinen allerdings eher
dafür zu sprechen, sie mit der dritten Variante zu identifizieren.

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272 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

muß sogar einen Schritt weiter gehen und sagen, daß eine solche Welt ein
widersprüchliches Konstrukt ist: Einerseits wird Welt als etwas angenom-
men, das von jeder begrifflichen Komponente unabhängig ist (sein soll);
andererseits aber wird von Welt gesprochen b2w. auf Welt Bezug genommen,
was in vielfaltiger Weise begriffliche Elemente einschließt. Nicht nur Begriffe
bzw. Attribute wie „Unabhängigkeit" werden der Welt zugeschrieben; auch
Welt selbst wird dabei als eine so und so bestimmte, d. h. von einem
bestimmten Begriffs schema her konzipierte Entität aufgefaßt, wie ζ. B.: Welt
als Totalität der Objekte, der Tatsachen usw. 31
Eine zweite negative Grundannahme lautet:

(NGA2) Eine auf der Basis eines epistemologisch-semantischen Hylemorphismus


konzipierte wirkliche Welt ist nicht-intelligibel.

„Epistemologisch-semantischer Hylemorphismus" besagt in diesem Kontext,


daß Welt als ein Kompositum aus zwei Elementen aufgefaßt wird: einem
SLGT- oder SPRACH-»»abhängigen „Stoff" oder „Inhalt" und einer
„Form", die mit S L G T bzw. SPRACHE identifiziert wird. Die Nicht-
Intelligibilität dieses „Stoffes" (oder „Hypokeimenon" usw.) wurde an meh-
reren Stellen dieses Buches aufgezeigt. Hier sei dazu nur noch soviel gesagt:
Der genannte Hylemorphismus entspringt einem im buchstäblichen Sinne
ober flächlichen Denkschema, insofern er etwas beschreibt, das sich an der
Ober-fläche des Wirklichen zeigt und damit die Existenz und die Bestimmt-
heit des „Stoffes" voraussetzt, wie das berühmte Beispiel vom Marmor und
der Statue klar macht: „Marmor" wird als ein in irgendeiner Weise (ζ. B.
physikalisch) bestimmtes Ding angenommen und erst auf der Basis dieser
Annahme als weiter bestimmbar bzw. bestimmt (ζ. B. als Statue) angesehen.
Es ist zu betonen, daß dieses ober-flächliche Denkschema den allermeisten
realistischen und anti-realistischen Konzeptionen über (die) Welt in der einen
oder anderen Weise zugrunde liegt, meistens allerdings auf implizite Weise,
was aber zur Konsequenz hat, daß es um so virulenter wirkt.

(NGA3) Eine SLGT- oder SPRACH-Abhängigkeit der wirklichen Welt(en) ist un-
annehmbar, wenn „SLGT" bzw. „SPRACHE" verstanden wird als „token"
oder als „faktischer Vollzug" oder als „faktisches Vorkommen" (faktische
Anwendung, Äußerung usw.) oder als „faktisches Ereignis".

31
N. Goodman entwickelt eine bestimmte Form dieses Gedankens, um seine auf
den ersten Blick phantastisch klingende These, daß „wir (die) Sterne machen", zu
erhärten (vgl. „On Starmaking" in Goodman [1984] S. 39—44).

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3.6 Zum Begriff der Welt 273

Durch (NGA3) wird die These ausgeschlossen, daß die wirkliche Welt von
einem wie immer gearteten individuellen oder kollektiven faktischen
SPRACH- Vollzug abhängig ist. Welt ist nicht nur dann wirklich, wenn
wirkliche Subjekte/Sprecher tatsächlich SPRECHEN. Man kann besonders
zwei Gründe zugunsten dieser negativen These ins Feld führen, (i) Die
Annahme der entgegengesetzten These hat absurde Konsequenzen, u. a. die
folgenden: Welt als ganze oder ein Teil der Welt, ζ. B. eine bestimmte
Tatsache, wäre nicht wirklich, wenn es nicht einen korrespondierenden
faktischen SPRACH- Vollzug gäbe; aber es erscheint absurd zu sagen, etwa
daß eine schöne Blume nur dann blüht, wenn sie von „uns" (von wem
sonst?) faktisch gesehen und wahrgenommen wird. Oder: man müßte an-
nehmen, daß die wirkliche Welt oder ein Teil davon nach einem faktisch
abgeschlossenen SPRACH-Vollzug verschwindet und bei Wiederholung des
SPRACH-Vollzugs wieder wirklich wird, (ii) Der Hauptgrund hat es mit
dem Begriff von SPRACHE zu tun. SPRACHE ist nicht reduzierbar auf
ein System von ,tokens'. Darauf ist im nächsten Abschnitt ausführlich
einzugehen.

3.6.3.3 Positive Grundannahmen


[1] Eine erste positive Grundannahme hat es mit dem Problem zu tun, wie
das Verhältnis von „Sprache", „Logik", „Geist", „Theorie" zu bestimmen
ist.
Es wurde schon darauf hingewiesen, daß der Ausdruck ,Begriffssystem'
(,conceptual scheme') sehr oft in einem sehr vagen Sinne verwendet wird.
Manchmal wird er als von Sprache verschieden verstanden, manchmal ohne
weiteres mit Sprache identifiziert. Quine hat in den letzten Jahren einen
wichtigen Beitrag zur Klärung dieser Frage geleistet. Er kommt der Auf-
fassung D. Davidsons entgegen, derzufolge keine Unterscheidung zwischen
„Sprache" und „Begriffsschema" zu machen ist. Er stellt fest, daß er selbst
den Ausdruck ,conceptual scheme' über L. J. Henderson von Pareto über-
nommen und ihn in einem unspezifischen, normalsprachlichen, nicht tech-
nischen Sinne verstanden habe:
„Eine Trias — Begriffsschema, Sprache und Welt — ist nicht das, was mir
vorschwebt, sondern ich denke, wie Davidson, in den Begriffen Sprache
und Welt. Ich verwerfe das Tertium quid als Mythos von einem Museum
mit etikettierten Ideen." 32

32 „Der Kerngedanke eines dritten Dogmas" in Quine [1981a] S. 55 —60; zit. St.
S. 58 f.

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274 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

Eine solche Identifikation von Sprache und Begriffssystem ist wenig hilfreich
und einleuchtend, und zwar schon aus dem Grund, weil Quine und Davidson
unter „Sprache" nicht dasselbe verstehen, wie folgende Äußerung Davidsons
bezeugt:
„Like Quine, I am interested in how English and languages like it (i. e., all
languages) work, but, unlike Quine, I am not concerned to improve on it
or change it. (...) I see the language of science not as a substitute for our
present language, but as a suburb of it. Science can add mightily to our
linguistic and conceptual resources, but it can't subtract much. I don't
believe in alternative conceptual schemes, and so I attach a good deal of
importance to whatever we can learn about how we put the world together
from how we talk about it." 33

Der eigentliche Grund, der gegen die dargelegte These von der Identität
von Sprache und Begriffssystem spricht, ist der Umstand, daß dabei von
„Sprache" in einem völlig undifferenzierten Sinn die Rede ist. Differenzieren
in diesem Bereich heißt nicht, einem Mythos von einem Museum mit
etikettierten Ideen beipflichten. Nimmt man „Sprache" in einem umfassen-
den Sinne, so kann die ganze formale Logik als zu ihr gehörend betrachtet
werden; darüber hinaus könnte dann zur Sprache gerechnet werden, was in
der großen philosophischen Tradition „Kategorien" genannt wurden. In
einer bestimmten Hinsicht entspricht das, was man heute „conceptual sche-
mes" nennt, im großen und ganzen den formal-logischen Strukturen im
modernen Sinne und den „Kategorien" im traditionellen Sinne (oder im
Sinne der nicht-formalen Logik, etwa im Sinne der transzendentalen Logik
Kants oder der spekulativen Logik Hegels). Ob es sachangemessen ist, (die)
Sprache in einem so umfassenden Sinn zu nehmen, kann nur im Rahmen
einer systematischen Gesamtkonzeption entschieden werden. Für die Zwecke
dieses Buches wird „Sprache" unterschieden von „Begriffssystemen", wobei
im Kontext der behandelten Thematik der Ausdruck ,Logik' auch für die
Bezeichnung der Dimension der Begriffssysteme verwendet wird; in diesem
Kontext (in SLGT) wird also mit dem Ausdruck ,Logik' sowohl die formale
Logik als auch die Logik in einem beträchtlich erweiterten Sinne bezeichnet.
Unter Geist soll im jetzigen Kontext die ganze epistemische oder kognitive
Dimension, speziell die Dimension der Bedingungen für rationale Asserti-
bilität und/oder Annahme verstanden werden.
Der Ausdruck , Theorie' wird im Zusammenhang der Frage nach SLGT-
Abhängigkeit oder -Unabhängigkeit der wirklichen Welt(en) in einem sehr

33 Davidson [1985] S. 172.

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3.6 Zum Begriff der Welt 275

weiten Sinne und nur in einer bestimmten Hinsicht verwendet. Manche


Autoren, die eine sog. „realistische" Theorie der Wahrheit vertreten, spre-
chen davon, daß Wahrheit „transtheoretisch" ist, d. h. daß Wahrheit den
Bereich und die Möglichkeiten jeder Theorie transzendiert.34 Im gegenwär-
tigen Kontext soll unter Theorie eine bestimmte Gestalt von Sprache, Logik
und Geist verstanden werden, nämlich jene Gestalt von SLG, die hinsichtlich
der wirklichen Welt als ganzer (wie immer diese verstanden werden mag)
oder eines bestimmten Fragments aus ihr die volle methodisch entwickelte
„Organisiertheit" von SLG repräsentiert.
Damit ist eine zwar nur allgemeine, aber dennoch hinreichende Erläute-
rung dessen gegeben, was im Kontext der hier diskutierten Frage SLGT
bedeutet. Die zwei primären Komponenten sind die Sprache und die Logik
(im erläuterten Sinne). Theorie (in diesem Kontext) drückt eine große Re-
striktion aus, die nicht für alle Kontexte der Diskussion vorauszusetzen ist;
um welche Kontexte es sich handelt, ergibt sich aus dem jeweiligen Dis-
kussionszusammenhang. Die Stellung der Cm/-Dimension liegt zwischen
Sprache/Logik und Theorie: Sie ist wichtiger als Theorie, ist aber nicht so
primär wie Sprache /Logik.
Da Sprache als die Dimension genommen werden kann, die am deutlich-
sten die anderen (genannten) Dimensionen einschließt oder zumindest einen
Bezug auf die anderen Dimensionen hat, soll sie, wie schon früher vermerkt,
als Kürzel für die anderen Dimensionen verwendet werden; in diesem Fall
wird die Großschreibung SPRACHE (bzw. SPRACH-, SPRACHLICH u. ä.)
benutzt. Wenn es eine Pluralität von Sprachen bzw. SPRACHEN und eine
Einheit dieser Sprachen/SPRACHEN gibt, so wird diese Einheit mit SPRA-
CHE angegeben. Entsprechendes gilt für Welt. Folgende Entsprechungen
sind terminologisch und notational zu unterscheiden:
- Sprache « Welt
- SPRACHE tu WELT
- SPRACHE « WELT.

[2] Eine zweite positive Grundannahme betrifft den Begriff der Sprache (als
unterschieden von SPRACHE im oben festgelegten Sinne). Genauer genom-
men handelt es sich um eine besondere Frage, von deren Beantwortung
allerdings die Bestimmung von Sprache überhaupt wesentlich abhängt. Die
Frage ist: Hat Sprache nur endlich viele oder abzählbar unendlich viele

34 Vgl. ζ. B. Newton-Smith [1983].

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276 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

Ausdrücke? Kann Sprache überabzählbar unendlich viele Ausdrücke ent-


halten? In vielen philosophischen Zusammenhängen wird die Annahme
gemacht, daß die Menge der Ausdrücke, die eine Sprache konstituieren,
abzahlbar ist, daß also Sprache endlich viele oder höchstens abzählbar un-
endlich viele Ausdrücke enthält.35 Diese Annahme liegt beispielsweise den
Bedenken zugrunde, die Quine gegen eine substitutioneile Interpretation
der Quantoren geltend macht: Wenn der Bereich der Werte für die Indivi-
duenvariablen überabzählbar unendlich ist, so gäbe es „namenlose" Objekte,
da ja aus der genannten Annahme folgt, daß die Zahl der Namen abzählbar
ist.36 Oder es wird gesagt, daß es mehr Propositionen als Sätze37 oder mehr
Tatsachen als Wahrheiten gibt u. ä.38
Ph. Hugly und Ch. Sayward haben diese Frage untersucht39 und sind zu
einem interessanten Ergebnis gelangt. Sie unterscheiden zwischen Sprachen
als Kommunikationssystemen und Sprachen als mengentheoretischen Systemen. Als
Kommunikationssysteme aufgefaßt, sind Sprachen semiotische Systeme mit
höchstens abzählbar unendlich vielen Ausdrücken; bestimmt man aber Spra-
chen als mengentheoretische semiotische Systeme, so können sie überab-
zählbar unendlich viele Ausdrücke enthalten. Hugly/Sayward meinen aller-
dings, daß man den Ausdruck ,Sprache' auf die Bezeichnung von semioti-
schen Kommunikationssystemen einschränken sollte. Um von einer .Spra-
che' zu sprechen, genügt es ihnen zufolge nicht, nur ein formales (syntak-
tisches) semiotisches System zu haben. Ein solches formales System ist die
Vereinigung einer Menge Β von Basiszeichen und einer Menge C von

35 Eine Menge ist endlich genau dann, wenn sie nicht gleich groß ist wie ein echter
Teil von ihr (sie hat dann eine nur endliche Zahl von Elementen). Abzählbar
unendlich ist eine Menge genau dann, wenn es eine 1-1-Korrespondenz zwischen
ihr und der Menge der natürlichen Zahlen gibt. (Eine abzählbare Menge ist eine
endliche oder eine abzählbar unendliche Menge.) Überabzählbar wird eine Menge
dann genannt, wenn sie unendlich ist und es keine 1-1-Korrespondenz zwischen
den Elementen der Menge und der Menge der natürlichen Zahlen gibt.
36 Quine, „Reply to Professor Marcus", in Quine [1966 a] S. 1 7 5 - 1 8 2 ; vgl. S. 180f.
37 Ζ. B. Carnap (vgl. ANHANG 6.2.5.1).
38 Vgl. ζ. B. Rescher [1987] S. 112 ff. Rescher versteht hier unter „Wahrheit" „the
representation of a fact through its statement in some actual language" (S. 112).
Andererseits spricht er von einer „möglichen Sprache", die konstitutiv ist für die
Bestimmung der Tatsache: „Anything that is correctly statable in some possible
language presents a fact" (ebd.). Davon unterscheidet er die „Standardsprachen",
die ihm zufolge rekursiv definiert sind und daher höchstens abzählbar unendlich
viele Ausdrücke enthalten.
39 Vgl. Hugly/Sayward [1983] und [1986], Vgl. auch: Karp [1975], Bricker [1987],

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3.6 Zum Begriff der Welt 277

Folgen von Basiszeichen. Demnach ist Α ein formales semiotisches System


genau dann wenn Α — Β υ C. Es muß hinzukommen, was diese Autoren
ein „complete tokening system" nennen. Was sie darunter verstehen, erklären
sie so:
„[A] string is tokenable just in case some human can in principle token it,
given sufficient (though always finite) mental and physical resources." 4 0

Dies schließt ihnen zufolge nicht aus, daß in einem bestimmten Sinne
(abzählbar) unendlich viele Ausdrücke „produziert" werden können.
Wenn man Sprachen als formale oder abstrakte semiotische Systeme
versteht, so ist leicht zu zeigen, daß sie überabzählbar unendlich viele
Ausdrücke enthalten können. Man geht von den Basiszeichen aus und
konstruiert Zeichenketten als Folgen im mathematischen Sinne. So erhält
man Mengen von Zeichenfolgen. Es sind so viele Zeichenfolgen konzipier-
bar wie es natürliche Zahlen gibt. Wendet man nun darauf das Potenzmen-
genaxiom („Zu jeder Menge χ gibt es eine Menge, die alle Teilmengen von
χ enthält") an, so erhält man die Potenzmenge, die alle Teilmengen der
Menge der Zeichenfolgen enthält. Aufgrund des Cantorschen Diagonalisie-
rungsverfahrens gilt nun, daß die Menge aller Teilmengen der Menge der
natürlichen Zahlen überabzählbar ist. Entsprechend ist auch die Menge aller
Teilmengen der Menge der Zeichenfolgen überabzählbar.
Ob man unter einer Sprache nur semiotische Kommunikationssysteme
oder auch semiotische abstrakte (formale) Systeme der angegebenen Art
versteht oder verstehen soll, ist eine Frage der Terminologie, die man unter
Heranziehung geeigneter Kriterien entscheiden sollte.41 Es entspricht nun
dem Allgemeinduktus der in diesem Buch entwickelten Konzeption, Sprache
— in der hier interessierenden Perspektive 42 — in einem möglichst umfas-
senden Sinne zu verstehen. Dies ist der Grund dafür, daß Sprache hier nicht
mit semiotischen Kommunikationssystemen im Sinne Huglys und Saywards
identifiziert wird. Bedeutung und Tragweite dieser Entscheidung werden
im nächsten Abschnitt herauszustellen sein.

[3] Daß es eine SLGT- bzw. SPRACHEN-Pluralität gibt, kann schwerlich


bestritten werden. Die ganze Geschichte der Philosophie und der Wissen-

40 Hugly/Sayward [1986] S. 48.


41 Vgl. dazu u. a.: Bernays [1973], Van Heijenoort [1967].
42 Diese Einschränkung ist sehr zu beachten. Es handelt sich um eine andere
Perspektive als die, aus der oben unten [1] die Unterscheidung zwischen Sprache
und Logik (bzw. Begriffsystemen) befürwortet wurde.

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278 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

Schäften ist ein einziger großer Beleg für diese Behauptung. Damit ist aber
noch nicht entschieden, in welchem genauen Sinne und mit welchen Kon-
sequenzen eine solche Pluralität akzeptiert werden muß. Im Rahmen einer
Skizzierung der Grundpositionen wurde oben zwischen zwei Formen eines
holistischen immanenten Realismus unterschieden: einer ho\isxisch-monistischen
und einer holistisch-pluralistischen Form. Als Kriterium wurde die Frage
genannt, ob die Pluralität von Begriffssystemen bzw. SPRACHEN als eine
genuine oder als eine nur oberflächliche (irrelevante) Pluralität verstanden wird.
Man kann jetzt die Frage so präzisieren: Lassen sich die Begriffssysteme/
SPRACHEN auf ein einziges Begriffssystem bzw. eine einzige SPRACHE
reduzieren oder erweisen sie sich als irredu^ihel? Wie immer man diese Frage
zu entscheiden versucht, es sollte klar sein, welche immensen Konsequenzen
die Antwort auf diese Frage hat.

3.6.3.4 Grundzüge eines Lösungsansatzes


Es muß betont werden, daß die folgenden Ausführungen nicht den Anspruch
erheben können, eine These adäquat zu formulieren und schlüssig zu be-
gründen; vielmehr handelt es sich um Überlegungen mit betont tentativem,
ja spekulativem Charakter. Sie zielen darauf ab zu zeigen, welche Gesichts-
punkte beachtet werden müssen, wenn eine vertretbare Konzeption entwik-
kelt werden soll. Einen Nebeneffekt beabsichtigen sie auch: Es soll deutlich
werden, daß die intensiven Diskussionen der Gegenwart über Aspekte der
anstehenden Fragestellung zwar bis zu einem gewissen Punkt sinnvoll und
fruchtbar sind, daß sie aber nicht jene Ebene erreichen, auf der die Frage-
stellung ihre adäquate Formulierung findet.
Die oben herausgearbeiteten negativen und positiven Grundannahmen
haben den Rahmen eines möglichen Lösungsansatzes bis zu einem gewissen
Punkt abgesteckt. Versucht man, sie zusammenzudenken, so zeichnen sich
die Grundrisse einer möglicherweise vertretbaren Konzeption ab.

[1] Ein erster fundamentaler Punkt kann so formuliert werden: Die (bzw.
jede) wirkliche Welt besitzt das immanente Merkmal oder die immanente
Bestimmtheit der Ausdrückbarkeit. Dieser Ausdruck soll hier in einem be-
stimmten (speziellen) Sinne verstanden werden, nämlich als Kürzel für:
Artikulierbarhit, Erkennbarkeit, Darstellbarkeit, Interpretierbarkeit u. ä. Viel-
leicht ist der Ausdruck Intelligibilität ein besonders geeigneter Ausdruck.
Freilich ist gleich hinzuzufügen, daß eine detaillierte und umfassende Be-
handlung der anstehenden Frage zwischen diesen Ausdrücken differenzieren

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3.6 Zum Begriff der Welt 279

müßte. Da es sich hier nur um die Exposition der Grundidee handelt,


werden die genannten Ausdrücke im allgemeinen ohne weitere Präzisierun-
gen verwendet. Was ist mit ihnen gemeint?
[i] Es gehört zur „Natur" der wirklichen Welt(en), daß ihr/ihnen der Bezug
auf eine Instant wesentlich eignet, deren Eigenart darin besteht, sie (die
wirkliche(n) Welt(en)) auszudrücken, zu artikulieren, zu interpretieren usw.
Zwei Gesichtspunkte sind hier festzuhalten: Zum einen ist Ausdrückbarkeit
eine immanente Bestimmtheit der Welt(en), ohne welche Welt(en) nicht ge-
dacht werden kann/können; zum anderen liegt es in der „Natur" dieser
Bestimmtheit, daß sie eine Instant impliziert, die als „Träger" der konversen
Relation zur Relation der Ausdrückbarkeit der wirklichen Welt(en), nämlich
der Relation des Ausdrückens (genauer: des Ausdrücken-Könnens), zu deu-
ten ist. Es ist mit Nachdruck zu betonen, daß hier — zunächst — von
AusAtüdibarkeit die Rede ist, was zur Konsequenz hat, daß die involvierte
Instanz als Relatum der konversen Relation als eine (zunächst zumindest)
mögliche angenommen werden muß. Was die Problematik der Ausdrück barkeit
anbelangt, sind die im Abschnitt 4.3.3 formulierten Präzisierungen zu be-
achten.
Diese These dürfte als die Formulierung einer absolut minimalen Bedin-
gung für jede sinnvolle Rede über wirkliche Welt(en) anzusehen sein. Eine
Negation dieser These scheint schlechterdings inakzeptable Konsequenzen
nach sich zu ziehen, denn dadurch würde man jeder Bezugnahme auf die
Welt, jedem Ausdrücken eines Verhalts, jeder Erkenntnis bzw. jeder Erklä-
rung von Sachzusammenhängen, kurz jedem Erfassen von Wirklichem den
Status eines absoluten Rätsels zuerkennen müssen.
[ii] Ist es möglich, das Merkmal der AusdrückbarkeitjIntelligibility näher zu
charakterisieren? Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß jeder mit einem
einigermaßen realistischen Anspruch auftretende Philosoph und Wissen-
schaftler die Annahme macht, daß die Welt intelligibel ist. Diese Annahme
ist die Voraussetzung für jedes sinnvolle theoretische Tun. Aber diese
Annahme ist so selbstverständlich, daß sie leicht in Vergessenheit gerät. Vor
allem aber wird meistens versäumt, sie näher zu explizieren und zu ergrün-
den. Und ganz speziell wird meistens übersehen, daß Intelligibilität/Aus-
drückbarkeit eine immanente Bestimmtheit der wirklichen Welt(en) ist —
nicht irgendeine Bestimmtheit, die „wir" soz. in die Welt(en) „(hin-
ein)projizieren". Wäre letzteres der Fall, so wäre man wieder einmal mit den
sinnlosen Dichotomien konfrontiert: „wir" — (unausdrückbare) „Welt",
„Phänomen" — (unausdrückbare) „Realität an sich" u. dgl. Eine weiterge-

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280 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

hende „Erklärung" dessen, was Ausdräckbarkeit als immanentes Merkmal


der wirklichen Welt(en) meint, ist dadurch zu leisten, daß jene Instant näher
charakterisiert wird, die die zur Ausdrückbarkeitsrelation konverse Relation
des Ausdrückens realisiert.

[iii] Man könnte versucht sein, die ausdrückende Instant — wie man kurz
sagen kann — rein physikalisch abzuleiten und zu deuten. Eine Möglichkeit
scheint sich unmittelbar zu bieten, nämlich der Rekurs auf das sog. Anthro-
pische Prinzip, mit dem sich seit einigen Jahren mehrere bedeutende Wissen-
schaftler befassen.43 Dieses Prinzip tritt in (mindestens) vier Versionen auf.44
In seiner schwachen Version wird es so formuliert:
(APi) „... we must be prepared to take account of the fact that our location in
the universe is necessarily privileged to the extent of being compatible with
our existence as observers." 45

Eine starke Version wird so formuliert:


(AP 2 ) „... the Universe (and hence the fundamental parameters on which it
depends) must be so as to admit the creation of observers within it at some
stage." 46

Zwei weitere, noch stärkere Versionen wurden inzwischen präsentiert:


(AP 3 ) „Observers are necessary to bring the universe into being." 47

(AP 4 ) „Intelligent information-processing must come into existence in the universe,


and, once it comes into existence, it will never die out." 48

Ob die moderne Wissenschaft (Physik) wirkliche Gründe für die Annahme


solcher Prinzipien enthält, ist eine Frage, über die die Wissenschaftler selbst

43 Vgl. unter anderen: R. H. Dicke, B. Carter, S. W. Hawking, G. F. R. Ellis, J. D.


Barrow, F. J. Tipler. Vgl. dazu die ausgezeichneten Überlegungen von Earman
[1987],
44 In der englischsprachigen Literatur werden dafür die folgenden Kürzel verwendet:
,WAP' ( = ,Weak Anthropic Principle'), ,SAP' ( = .Strong Anthropic Principle'),
,ΡΑΡ' ( = .Participatory Anthropic Principle') und ,FAP' ( = .Final Anthropic
Principle'). Sie entsprechen in dieser Reihenfolge den im Text angeführten For-
mulierungen (AP,)—(AP 4 ).
45 Carter [1974] S. 293.
44 A. a. O. S. 294.
47 Barrow/Tipler [1986] S. 22.
48 A. a. O. S. 23.

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3.6 Zum Begriff der Welt 281

entscheiden müssen. 49 In jedem Fall soll in diesem Buch die Frage nach der
SPRACH-Abhängigkeit oder -Unabhängigkeit der wirklichen Welt(en) nicht
auf dieser Basis abgehandelt werden. Das Merkmal der Ausdrückbarkeitj
Intelligibilität wird nicht unter Rekurs auf das Anthropische Prinzip oder auf
ähnliche wissenschaftliche Hypothesen begründet und erläutert. Dieses
Merkmal ist aus echt philosophischen Gründen anzunehmen und zu ergründen.
Nur beiläufig sei angemerkt, daß es bekanntlich eine philosophische kausale
Theorie der Referenz gibt, die auf eine physikalische Relation rekurriert. Die
dieser Theorie zugrunde liegende Einsicht ist positiv zu werten, weil sie das
Verhältnis zwischen der „ausdrückenden (referierenden) Instanz" und der
Welt explizit zu erklären versucht. Aber sie greift aus dem Grunde zu kurz,
weil sie dieses Verhältnis nicht prinzipiell genug betrachtet.

[iv] Es hat sich bis jetzt gezeigt, daß die wirkliche Welt aus dem Grunde
von einer bestimmten ausdrückenden\erfassenden Instant abhängig ist, weil sie
das immanente Merkmal der Ausdrückbarkeit/Intelligibilität besitzt. Die
Frage drängt sich nun auf, wie diese ausdrückende/erfassende Instanz zu
begreifen ist. Kann sie mit dem, was bisher SLGT bzw. SPRACHE genannt
wurde, identifiziert werden? Eine positive Antwort würde sich als die These
formulieren lassen: Es gibt keine wirkliche Welt, die in dem Sinne SLGT-
oder SPRACH-unabhängig ist, daß sie nicht durch SLGT bzw. SPRACHE
ausdrückbar wäre; anders formuliert: SLGT- bzw. SPRACH-Abhängigkeit
der wirklichen Welt besagt Ausdrückbarkeit (Artikulierbarkeit) durch SLGT
bzw. SPRACHE. Diese These besagt mehr als die oben aufgestellte negative
Grundannahme (NGA1). Eine adäquate Behandlung dieser außerordentlich
schwierigen Frage wäre nur im Rahmen eines großangelegten Klärungsver-
suchs möglich. Hier seien dazu nur einige für die Zielsetzung des vorlie-
genden Werkes wichtige Überlegungen angestellt.
Eine positive Antwort im angegebenen Sinne wird durch die oben ge-
machten negativen und positiven Grundannahmen nahegelegt. Besonders
wichtig sind die dritte negative und die zweite positive Grundannahme. Aus
ihnen ergibt sich, daß die SPRACHE, durch die die wirkliche Welt aus-
drückbar ist, nicht als SPRACHE im Sinne einer tatsächlich verwendeten
Sprache, d. h. einer Sprache als der Gesamtheit von „tokens", sondern als
Sprache im Sinne eines abstrakten semiotischen Systems mit prinzipiell über-

49 Earman [1987] äußert erhebliche Bedenken gegen die physikalische Fundiertheit


dieser Prinzipien. Vgl. auch u. a. die strenge Kritik des Physikers H. Pageis (Pageis
[1985]) und von Gardner [1986],

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282 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

abzählbar unendlich vielen Ausdrücken zu verstehen ist. Auf diese Weise


wird der These von der „Abhängigkeit" der Welt von „uns" der Charakter
einer naiven, anthropozentrischen Vorstellung genommen; andererseits wird
damit allen wichtigen Gesichtspunkten grundsätzlich Rechnung getragen,
die von den Kritikern des sog. „metaphysischen Realismus" geltend gemacht
werden.
Auf einen speziellen Gesichtspunkt ist besonders hinzuweisen, nämlich
auf die Problematik der Kardinalität der Welt. Geht man davon aus, daß die
wirkliche Welt überabzählbar unendlich viele bestehende Verhalte enthält,
so wird die These von der Ausdrückbarkeit durch die Sprache (und ent-
sprechend durch die SPRACHE) dadurch aufrechterhalten, daß die SPRA-
CHE aus überabzählbar unendlich vielen „Elementen" besteht. Es kann also
nicht gesagt werden, daß es mehr Tatsachen (bestehende Verhalte) als
SPRACH-Ausdrücke gibt. Für jeden bestehenden Verhalt gibt es (minde-
stens) einen Ausdruck, durch den er artikuliert werden kann. Allerdings
kann gegen diese Konzeption ein Einwand erhoben werden.50 Gewöhnlich
wird eine genau aufgebaute Sprache als aus einem rein formalen (logischen)
und aus einem semantischen oder deskriptiven Teil bestehend aufgefaßt.
Daß unter Zugrundelegung der Mengentheorie (und der Klassentheorie)
der logische Teil keine Probleme für eine Sprache, die als aus überabzählbar
unendlich vielen Ausdrücken bestehend aufgefaßt wird, bereitet, ist leicht
zu zeigen. Anders scheint es sich aber mit dem deskriptiven Teil zu verhalten.
Ausdrücke, aufgefaßt als abstrakte (mengentheoretische) Objekte, scheinen
die deskriptive Ausdruckskraft zu entbehren, die sie aber haben müssen,
wenn sie Propositionen/Sachverhalte/Verhalte sollen ausdrücken können.
Doch scheint dieser Einwand nur dann zwingend zu sein, wenn man die
Dimension des Deskriptiven strikt auf eine „wirkliche" natürliche Sprache
einschränkt.51 Aber diese Restriktion scheint unbegründet zu sein. Sie scheint

50 Vgl. dazu Bricker [1987], bes. S. 349 ff.


51 Bricker [1987] ist bemüht, die These von der Reduzierbarkeit der möglichen
Welten auf linguistische Entitäten zu widerlegen. In diesem Kontext schreibt er:
„If the Language L [darunter ist eine .wirkliche' natürliche Sprache, durch
Wissenschaft, Mathematik und Logik angereichert, zu verstehen, L. B. P.] is to be
able to provide a non-circular reduction of possible worlds to an actualist ontology,
then the descriptive resources of L will be ... imprisoned within the actual world.
But then only worlds that are, in some broad sense, rearrangements of the actual
world can be constructed (in a natural way) out of the linguistic entities of L.
That will not be all of the possible worlds" (S. 350 f.).
Brickers Argumentation hängt von mehreren Annahmen ab, die in diesem Buch
nicht gemacht werden.

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3.6 Zum Begriff der Welt 283

ein Problem nur für denjenigen aufzuwerfen, der mögliche Welten auf
linguistische Entitäten zu reduzieren versucht.

[v] Es stellt sich die weitere Frage, ob der Rekurs auf SPRACHE (im
angegebenen Sinne) ausreicht, um die geforderte ausdrückende Instant zu
charakterisieren. Auch hier ist zu sagen, daß die vorgenommene Identifi-
kation von ausdrückender Instanz und SPRACHE nur eine minimale Cha-
rakterisierung besagt: Die ausdrückende Instanz muß mindestens als SPRA-
CHE konzipiert werden. Es drängen sich hier weitere Fragen auf: Ist es
möglich (oder sinnvoll), SPRACHE nur als abstraktes (semiotisches, episte-
misches, logisches usw.) System zu konzipieren? Muß nicht jede Sprache,
und damit auch SPRACHE, als ein System bestimmt werden, das soz. von
handelnden Instanten, nämlich Subjekten (Sprechern), „gehandhabt" wird?
Anders formuliert: Muß nicht Sprache/SPRACHE als System aufgefaßt
werden, das auch „tokens" und die Voraussetzungen für das Hervorbringen
und die Äußerung von „tokens" enthält? Man wird solche und ähnliche
Fragen kaum als sinnlos oder als unwichtig abtun können, auch wenn man
sie nicht restlos zu klären imstande ist.
[a] Ein erster Gesichtspunkt ist der Umstand, daß Sprache nicht als System
von reinen „tokens" aufgefaßt werden kann; Sprache ist in jedem Fall auch
ein abstraktes System. Was Quine hinsichtlich des Satzes feststellt, gilt erst
recht für die Sprache als ganze:
„Ein Satz ist kein einzelnes Äußerungsereignis, sondern ein Universale: ein
wiederholbares Klangmuster bzw. eine Norm, der man wiederholt nahe-
kommen kann."52

Natürlich muß man fragen, welchen (ontologischen) Status ein solches


Universale hat. Was ist die „Wirklichkeit" der so konzipierten Sprache? Als
ein Universale ist Sprache jedenfalls ohne „handhabende Instanzen", ohne
äußernde Subjekte, ohne „tokens" konzipiert. Man mag sagen, daß Sprache,
so aufgefaßt, „sinnlos", „nutzlos" und dgl. ist — aber man kann nicht sagen,
daß eine solche Sprache „nichts" ist. Was ist sie dann? Ein System platoni-
scher Entitäten? Ob man so oder anders redet, ist letztlich nicht wichtig.
Wichtig ist die nicht unterdrückbare Einsicht, daß Sprache ohne den Cha-
rakter eines Universale (und damit eines abstrakten Systems) nicht konzi-
pierbar ist.

52 Quine [1960] § 40 S. 332.

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284 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

[b] Wie oben ausgeführt, kann Sprache, als ein System von „tokens" und
damit als Kommunikationssystem konzipiert, sinnvollerweise nicht überab-
zählbar unendlich viele effektiv produzierbare Ausdrücke enthalten. Daraus
ergibt sich eine eigenartige Konsequenz, die in der bisherigen Diskussion
kaum gesehen wurde: Als Sprecher einer Sprache/SPRACHE sind „wir"
sozusagen in ein System „eingebettet", das alle unsere effektiven Äußerungs-
oder Kommunikationsmöglichkeiten absolut übersteigt. Der Rahmen, inner-
halb dessen wir jede Äußerung oder Kommunikation vollziehen, wird von
uns prinzipiell nicht ausgeschöpft. Eine Konsequenz dieser Konsequenz im
Hinblick auf die in diesem Abschnitt (3.6) behandelte Frage liegt unmittelbar
auf der Hand: Die SPRACH-Nicht-Unabhängigkeit der wirklichen Welt(en)
hat als adäquaten „Bezugspunkt" nicht „uns" als tatsächliche Sprecher einer
tatsächlichen Sprache, sondern SPRACHE konzipiert als überabzählbar un-
endliches System. Damit wird auch der Sinn von „Ausdrückbarkeit" einer
näheren Bestimmung zugeführt.
[c] Damit ist aber die Frage immer noch nicht beantwortet, ob denn die
ausdrückende Instanz, die (zunächst) mit SPRACHE identifiziert wurde, nicht
unbedingt weiter bestimmt werden muß, nämlich als wirkliche „handhabende
Instanz". Da es ein Faktum ist, daß SPRACHE teilweise von „uns" benutzt
wird, kann SPRACHE, jedenfalls teilweise, nicht ohne „handhabende Instanz"
(also kurz: ohne die ganze pragmatische Dimension der Subjekte oder
Sprecher) adäquat verstanden werden. Muß man aber auch eine der SPRA-
CHE als ganzer adäquate oder korrespondierende „handhabende Instant' annehmen,
also so etwas wie einen mit wirklicher Überab^äblbarkeit ausgestatteten „Spre-
cher" oder „Beobachter" oder „Erkennenden"? Es ist interessant zu beob-
achten, daß die Idee eines „absoluten" oder „allwissenden" „Beobachters"
oder „Interpreten" oder „Verifikators" in der heutigen philosophischen
Literatur oft auftaucht. 53 Die Frage soll hier offen gelassen werden. Wichtig
ist hier nur der Hinweis darauf, daß die These, Ausdrückbarkeit sei imma-
nentes Merkmal der wirklichen Welt(en), nicht das letzte Wort ist. Die Frage
ist nämlich damit nicht beantwortet, unter welchen Bedingungen ein solches
Merkmal überhaupt konzipierbar ist? Oder Kantisch formuliert: Welches
sind die Bedingungen der Möglichkeit für das Merkmal der Ausdrückbar-
keit/Intelligibilität der wirklichen Welt(en)?

53 Vgl. beispielsweise: Davidson [1983] S. 435 ff., Foley/Fumerton [1985], Blau [1985],
bes. S. 371 u. ö.

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3.6 Zum Begriff der Welt 285

Ein vorläufiges Fazit sei gezogen: Es hat keinen Sinn, unter systematischer
Umgehung der zuletzt genannten Frage(n) über metaphysischen Realismus,
immanenten oder internen Realismus, Anti-Realismus u. ä. zu diskutieren.
Das Ergebnis wäre: Entweder man behauptet die „Unabhängigkeit" der
wirklichen Welt(en) (metaphysischer Realismus) und nimmt dabei in Kauf,
daß man eine nicht-intelligible These vertritt; oder man negiert die Unab-
hängigkeit der Welt, reduziert dabei aber „wirkliche Welt(en)" auf die „kleine
Welt", die „wir" die „unsere" nennen.

[2] Nachdem unter [1] gezeigt wurde, in welchem Sinne und aus welchen
Gründen, (eine) SLGT- bzw. SPRACH-//«abhängige Welt(en) abzulehnen
ist/sind, ist jetzt eine %weite fundamentale Frage zu stellen: Ist eine wirkliche
Welt oder sind viele wirkliche Welten anzunehmen? Bisher wurde diese Frage
ausgeklammert oder vielmehr ««geklammert, insofern meistens .wirkliche
Welt(en)' geschrieben wurde. Auch hier ist zu betonen, daß es sich nur um
sehr spekulative Überlegungen handelt.
Es sei zunächst an die Typologie der Grundpositionen erinnert. Wie die
bisherige Argumentation zeigt, wird hier ein immanenter Realismus vertreten.
Damit ist aber noch nicht entschieden, welcher der drei Formen oder ob
überhaupt einer der drei Formen dieser globalen Richtung der Vorzug zu
geben ist.

[i] Die in manchen Kreisen populäre atomistiscb-pluralistische Variante des


immanenten Realismus dürfte mit jenen unüberwindlichen Schwierigkeiten
behaftet sein, die sich aus der angenommenen Inkommensurabilität der SPRA-
CHEN bzw. WELTEN ergeben. Diese Position scheint nicht intelligibel zu
sein. Schon der Umstand, daß wir — in welcher Weise auch immer — über
verschiedene SPRACHEN und WELTEN reden, schließt eine radikale In-
kommensurabilität und damit eine schlechthinnige Pluralität aus. Ferner
beweist die unbestreitbare Tatsache, daß wir die anderen Sprachen/SPRA-
CHEN in unsere eigene Sprache/SPRACHE — in welcher Weise auch immer
— übersetzen und sie interpretieren, zur Genüge, daß eine radikale Inkom-
mensurabilität und die daraus folgende radikale Pluralität von Welten/
WELTEN unvertretbar ist. Aber eine Inkommensurabilität, die nicht radikal
ist, ist gar keine; es kann nicht so etwas wie „ein bißchen Inkommensura-
bilität" geben. Gäbe es sie, so könnten wir jedenfalls nichts davon wissen;
aber dann hätten wir auch nicht das Problem, das wir tatsächlich haben.

[ii] Zur Diskussion stehen also die beiden anderen Varianten des immanen-
ten Realismus, die holistisch-monistische und die holistisch-pluralistische. Auf-

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286 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

grund der bisher gemachten Annahmen ist die Frage so zu stellen: Sind die
unbestreitbar vielen SPRACHEN nur rein verbale Modifikationen (etwa:
„notationale Varianten") bzw. inadäquate Formen ein und derselben grundle-
genden SPRACHE (= SPRACHE^ oder sind die vielen SPRACHEN
mehr als das, d. h.: sind sie echte SPRACHEN (= SPRACHE^)? In beiden
Fällen ist von einer SPRACHE zu sprechen, aber in einem jeweils ganz
anderen Sinn. Im Fall von SPRACHEj gibt es eine Einheit aller Sprachen/
SPRACHEN, nämlich eine SPRACHE« ( = monistisch aufgefaßte SPRA-
CHE), in dem Sinne, daß die vielen Sprachen/SPRACHEN keine echten
Bestandteile der SPRACHEM sind. Und hier kann man wieder %n>ei Mög-
lichkeiten ins Auge fassen. Erstens: SPRACHEM liegt sozusagen jenseits
aller SPRACHEN; diese erweisen sich als konfuse, unpräzise, unbe-
stimmte SPRACHEN, als Andeutungen oder Approximationen der mit
keiner vorhandenen Sprache/SPRACHE identifizierbaren SPRACHEM
(= SPRACHE^). Zweitens: SPRACHE M wird einfach mit einer bestimmten
Sprache/SPRACHE identifiziert, nämlich mit der eigenen, in welche alle
anderen Sprachen/SPRACHEN übersetzt werden ( = SPRACHElb). Im
Fall von SPRACHE2 ist eine Einheit aller SPRACHEN in einem ganz
anderen Sinne, nämlich als SPRACHEp (= SPRACHE im Sinne des
holistischen Pluralismus), angenommen: SPRACHEp schließt (alle) an-
dere(n) Sprachen/SPRACHEN als echte Bestandteile in sich ein.
Die Implikationen der beiden Varianten für den Begriff der Welt ergeben
sich unmittelbar. In beiden Fällen wird eine WELT angenommen. Aber
entsprechend zu SPRACHEM wird WELT als WELTM (= monistische
WELT) verstanden; danach erweisen sich die WELTEN als nur „soge-
nannte" WELTEN, als konfuse, unpräzise Vorstellungen oder Versionen
der einen (monolithischen) WELT. Ganz anders wird WELT in Entspre-
chung zu SPRACHEp aufgefaßt: WELTP ist eine WELT, indem sie (viele)
WELTEN als echte Bestandteile hat.
Auf die Frage, welche der beiden Konzeptionen die richtige ist, dürften
sich die meisten Fragen zurückführen lassen, die in der gegenwärtigen
Philosophie in vielfältiger Form in diesem Kontext formuliert und behandelt
werden. Vermutlich ist diese Grundfrage die schwierigste (und auch die
dunkelste) Frage, mit der sich die heutige Philosophie befaßt bzw. zu
befassen hat. Ein erster Schritt zu ihrer Klärung muß jedenfalls darin gesehen
werden, daß sie klar formuliert wird. Läßt sich darüber hinaus etwas zu
ihrer Lösung sagen? Vielleicht ist die formulierte Alternative gar keine
adäquate Alternative.

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3.6 Zum Begriff der Welt 287

[iii] Es wird in der Gegenwartsphilosophie weitgehend akzeptiert, daß wir


in einer Sprache sprechen, ein Begriffssystem verwenden, im Rahmen einer
Theorie die Welt sehen u. dgl. Vielleicht ist der locus classicus, in dem sich
diese allgemeine Einstellung und diese tiefverwurzelte Überzeugung nieder-
schlagen, Quines wiederholte Behauptung: „Wahrheit ist immanent." 54 Auf
die Aporien dieser Position kann hier in historisch-kritischer Hinsicht nicht
eingegangen werden 55 . Aufgrund der bisherigen Ausführungen dürfte ein-
leuchten, daß es sinnlos ist, über „Welt", „Realität", „Wahrheit" u. ä. außerhalb
eines bestimmten SPRACHLICHEN Koordinatensystems zu sprechen. Aber
was heißt genau „innerhalb" bzw. „außerhalb" einer Sprache/SPRACHE?
Zuerst ist darauf zu achten, daß eine Aussage wie „Wahrheit ist immanent"
eine selbstreferentielle Aussage in einem ganz speziellen Sinne ist. Die
Aussage spricht (auch) über sich selbst, womit sich die (benutzte) Sprache
als selbstreferentiell erweist. Aber diese Selbstreferentialität ist nicht adäquat
erfaßt, wenn man sie dahingehend charakterisiert, daß man sagt, es sei dabei
von etwas anderem als der betreffenden Sprache nicht die Rede. Vielmehr
ist darin ein Bezug zu anderen Sprachen zumindest implizit enthalten. Die
hier vorhandene Selbstreferentialität schließt nämlich eine Selbstabgrenzung
der Sprache, in der gesprochen wird, gegenüber anderen Sprachen ein; aber
Selbstabgrenzung setzt voraus, daß auf andere Sprachen in irgendeiner Weise
Bezug genommen wird. Dies geschieht in der Tat, etwa durch die Möglich-
keit der Übersetzung und der Interpretation. Vor allem aber ist der Umstand
zu beachten, daß wir fähig sind, über die vorhandene(n) Sprache(n)/SPRA-
CHE(N) hinaus andere Möglichkeiten zu erahnen, ja sogar zu entwerfen.
All das zeigt, daß die Sprach/SPRACH-„Immanenz" nicht als eine „fenster-
lose" Eingeschlossenheit innerhalb einer Sprache/SPRACHE zu konzipieren
ist. Es gibt so etwas wie eine „Transzendenz (des Innen) von innen heraus". 56
Dies heißt nun freilich nicht, daß in irgendeinem konkret angebbaren und
verwirklichbaren Sinne eine SPRACHE irgendwo existiert oder auch nur

54 Vgl. beispielsweise folgende Passage:


„Wahrheit ist immanent, und es gibt keine höhere. Sprechen können wir nur
aus einer Theorie heraus, sei's auch eine von mehreren" (Quine [1981 a] S. 36;
modifizierte Übersetzung).
55 Vgl. dazu u. a. den ausgezeichneten Aufsatz von R. F. Gibson „Quine's Dilemma"
(Gibson [1986]).
56 Vgl. dazu Hauptli [1980], S. 400:
„The various tools at our disposal allow us to modify the character of the ship
as we sail. Quine, then, posits a sort of transcendence from within."
Hauptli verweist auf § 1 von Quine [I960].

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288 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

entwickelt werden könnte; vielmehr ist dies zunächst nicht mehr und nicht
weniger als eine regulative Idee,57 Aber man darf die Tragweite regulativer
Ideen nicht unterschät2en. Was sie sind und welchen Stellenwert man ihnen
zuerkennen muß, hängt davon ab, mit welchen Problemen man befaßt ist.
Im gegenwärtigen Kontext hat der Hinweis auf eine „Transzendenz von
innen heraus" und somit auf eine SPRACHE (als regulative Idee) den Sinn,
daß grundsätzlich — zumindest negativ — geklärt wird, in welchem Sinne
und mit welchen Konsequenzen man eine wirkliche Welt oder viele wirkliche
Welten annehmen kann oder muß. Es folgt nämlich daraus, daß man eine
W E L T annehmen muß und daß man folglich die eigene bzw. jede Sprache/
SPRACHE von dieser Annahme her richtig situieren kann bzw. muß.
Dadurch ist nämlich sowohl eine (von den sog. „metaphysischen Realisten"
behauptete) nicht-intelligible »»abhängige Welt an sich als auch eine auf die
Kleinkariertheit unserer normalen Sprache/SPRACHE reduzierte Welt („Le-
benswelt") ausgeschlossen. Die Frage in diesem Kontext ist also nicht die,
ob wir (die) SPRACHE überhaupt (konkret) besitzen oder auch nur ent-
wickeln können, sondern die, wie wir (die) wirküche(n) Welt(en) von der
regulativen Idee der SPRACHE her verstehen können bzw. müssen.

[iv] Auf dieser Basis läßt sich spezifischer fragen: Soll SPRACHE als
SPRACHE M oder als SPRACHEp anvisiert werden? Und entsprechend:
Soll W E L T als WELT M oder als WELT P konzipiert werden? Im folgenden
soll eine möglicherweise vertretbare Antwort kurz skizziert werden. Sie ist das
Ergebnis des Bemühens, allen von den vorhandenen Konzeptionen in viel-
facher Weise geltend gemachten wichtigen Gesichtspunkten Rechnung zu
tragen (was allerdings hier nicht im einzelnen ausgeführt werden kann). Es
sei noch einmal darauf hingewiesen, daß diese Antwort nur einen betont
tentativen, ja spekulativen Charakter beanspruchen kann.
Es scheint, daß die am besten begründbare Antwort in einer Richtung zu
suchen ist, die sowohl der Skylla der SPRACHE M /WELT M als auch der
Charibdis der SPRACHE P /WELT P zu entrinnen versucht. Die Konzeption,
die SPRACHEM/WELTΜ annimmt, hat mindestens zwei große Schwächen:
Erstens ist sie das Ergebnis einer dogmatischen und verabsolutierenden Behaup-
tung; zweitens reduziert sie die sprachliche/begriffliche/logische/epistemi-
sche/theoretische usw. Vielfältigkeit auf ein irrelevantes (subjektives) Phä-
nomen und führt somit dazu, daß eine solche Vielfältigkeit gar nicht mehr

57 Dieser Ausdruck stammt bekanntlich von Kant. Hier wird er ohne die bekannten
Kantischen Konnotationen verwendet.

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3.6 Zum Begriff der Welt 289

ernst genommen wird — was kaum akzeptabel erscheint. Die entgegenge-


setzte Auffassung, die sich für SPRACHEP/WELTP entscheidet, krankt
umgekehrt daran, daß es kaum möglich erscheint, das Verhältnis von SPRA-
CHE und SPRACHEN bzw. von WELTEN und WELTEN zu begreifen.
Sind die SPRACHEN bzw. die WELTEN etwa echte „Teile" oder „Sub-
systeme" oder „Untermengen" der SPRACHE bzw. der WELT? Aber wie
wäre SPRACHE bzw. WELT als „Summe" oder „Gesamtsystem" oder
dgl. zu bestimmen? Die schwierige Aufgabe, ein solches Verhältnis einiger-
maßen klar zu bestimmen, ist allerdings kein entscheidender Grund gegen
diese Konzeption.

[v] Es ergibt sich aus den bisherigen Klarstellungen und Argumentationen,


daß die folgenden drei Gesichtspunkte bzw. Thesen bezüglich des Verhält-
nisses von Sprache und Welt (S—W) beachtet und miteinander in Einklang
gebracht werden müssen:
(S —Wl) Es gibt — zumindest zunächst als regulative Ideen — eine SPRACHE und
— ihr entsprechend — eine WELT.

( S - W 2 ) Jede Sprache/SPRACHE artikuliert (eine) ihr gemäße Welt und hat es damit
auch mit WELT zu tun.

(S —W3) Voll ausgeprägte Sprachen/SPRACHEN unterscheiden sich in der Weise


voneinander, daß sie nicht nur als rein „notationale" oder „verbale" Vari-
anten ein und derselben Sprache/SPRACHE erscheinen.

Die Plausibilität von (S—Wl) und (S—W2) wurde schon zur Genüge
aufgewiesen. Was (S —W3) anbelangt, so sei nur soviel gesagt: Diese These
läßt sich schwer bestreiten, wenn man die Tatsache der sprachlich-begriff-
lichen Innovation in der Geschichte der Philosophie und der Wissenschaften
berücksichtigt. Lassen sich also die drei Thesen miteinander in Einklang
bringen? Es dürfte vielleicht nicht schwer sein zu zeigen, daß sie in einem
weiten Sinne miteinander kompatibel sind, daß sie sich also nicht unbedingt
widersprechen. Aber dies ist zuwenig. Läßt sich darüber hinaus vielleicht
zeigen, daß sie drei Gesichtspunkte artikulieren, die als Strukturmomente
einer umfassenden Konzeption betrachtet werden können, ja müssen?
Es will scheinen, als ob die in diesem Buch skizzierte ontologische
Theorie, in deren Mittelpunkt eine Theorie der primären und sekundären
Propositionen/Verhalte steht, den Schlüssel zu einer grundsätzlichen Ant-
wort zu bieten in der Lage ist. „Proposition/Verhalt" wurde zwar als nicht-
linguistische, aber doch als sprachabhängige Entität bestimmt; jetzt ist
genauer zu formulieren: als Sprach/SPRACH-abhängige Entität. Dies besagt,

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290 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

daß zur Konstitution von Proposition/Verhalt zwei Momente zusammenkom-


men müssen: ein nicht-linguistisches und ein linguistisches. Nur die Einheit
der beiden ergibt die Entität, die hier „Proposition/Verhalt" genannt wird.
Wie ist aber diese Einheit näher zu begreifen?
Aus dieser Bestimmung folgt zunächst, daß Propositionen/Verhalte (bzw.
existierende oder bestehende Propositionen/Verhalte, d. h. Tatsachen) nicht
so konzipiert werden können, daß sie ein Etwas wären, zu dem so etwas
wie eine sprachlich-begriffliche Perspektive allererst hinzukommen müßte; denn
in diesem Fall hätte man das schon verworfene dualistische Schema wieder:
SPRACH-unabhängiges Etwas — linguistische Perspektive. „Perspektive"
erweist sich als eine völlig ungeeignete Sicht oder Explikation dessen, was
mit Propositionen/Verhalten qua ursprünglichen Entitäten gemeint ist. Es
gibt nicht so etwas wie eine Entität (Proposition/Verhalt/Tatsache), die von
verschiedenen Seiten „beleuchtet" würde oder werden könnte. Die Unter-
scheidung zwischen einem begrifflich-sprachlichen und einem „realen" Fak-
tor ist eine nachträgliche Unterscheidung; keines der beiden Momente kann
ohne das andere als irgendwie „bestimmt" oder „existierend" gedacht wer-
den.
Wenn dem so ist, dann scheint daraus gefolgert werden zu müssen, daß
es so viele wirkliche Welten/WELTEN gibt wie es Sprachen/SPRACHEN
gibt, da ja Welten/WELTEN als maximale Propositionen/Verhalte bestimmt
wurden. M. a. W.: es scheint, daß entweder der atomistisch-pluralistische oder
höchstens der holistisch-pluralistische immanente Realismus akzeptiert werden
muß; entsprechend wäre entweder keine WELT oder eine WELTP anzuneh-
men. Demnach sprächen die verschiedenen Sprachen/SPRACHEN gar nicht
über dieselbe Entität, sondern hätten aus immanent-strukturalen Gründen
absolut eigene Entitäten zum Thema. Philosophische und wissenschaftliche
Theorien, die sich von anderen Theorien ihresgleichen hinsichtlich der
Sprache/SPRACHE unterscheiden, würden gar nicht über dieselben, sondern
nur über ihre eigenen Entitäten sprechen.
Daß dieser Gedanke in vielen Fällen und bis zu einem gewissen Punkt,
insbesondere in den Naturwissenschaften, nicht ohne Plausibilität ist, soll
hier nicht in Abrede gestellt werden. Wird er aber ohne jede Präzisierung
und Einschränkung vertreten, so scheint er inakzeptable, ja absurde Kon-
sequenzen nach sich zu ziehen. Vorsicht ist daher geboten.
Die Gründe gegen einen atomistisch-pluralistischen immanenten Realismus
haben ein solches Gewicht, daß diese Position hier nicht weiter verfolgt zu
werden verdient. Da der holistisch-monistische immanente Realismus aufgrund
der letzten Überlegungen auch als nicht vertretbar erscheint, bleibt der

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3.6 Zum Begriff der Welt 291

holistisch-pluralistiscbe immanente Realismus übrig. Kann ihm zumindest eine


gewisse Intelligibilität zugesprochen werden? Dies scheint in der Tat mög-
lich, allerdings unter der Voraussetzung, daß er in einer bestimmten Hinsicht
präzisiert und vielleicht modifiziert wird.
Welt wurde kategorial-ontologisch als maixmale(r) Proposition/Verhalt
bestimmt. Es ist zu präzisieren, daß es sich dabei um eine(n) maximale(n)
Proposition/Verhalt gemäß einer bestimmten Sprache/SPRACHE, also um
eine(n) in diesem Sinne relativ-maximale(n) Proposition/Verhalt, handelt.
Da man Sprache/SPRACHEN als semiotische Systeme auffassen kann, die
in andersgeartete größere semiotische Systeme einbeziehbar sind, spricht
nichts dagegen, daß man auch verschiedene so verstandene maximale Pro-
positionen/Verhalte, also WELTEN, in noch größere Totalitäten, also noch
größere maximale Propositionen/Verhalte und damit größere WELTEN,
eingegliedert denken kann. Jene(r) maximale(r) Proposition/Verhalt, die/
der nicht mehr einer mit einem partikulären Index versehenen Sprache/
SPRACHE entspricht, die/der also absolut maximal ist und damit als Korrelat
der SPRACHE gilt, wäre die WELT.
Es kann hier nicht gezeigt werden, wie diese Einbeziehung von Sprachen/
SPRACHEN in weitere Sprachen und schließlich in die SPRACHE bzw.
von Welten/WELTEN in weitere WELTEN und schließlich in die WELT
näher zu denken ist. Eine dazu geeignete Logik müßte entwickelt werden.
Hier sei nur hervorgehoben, daß der in diesem Buch verfolgte semantisch-
ontologische Ansatz die angedeutete Konzeption und die sich daraus erge-
bende Aufgabe nahelegt und erleichtert. Sind nämlich Propositionen/Ver-
halte die ursprünglichen Entitäten und werden diese als zwar nicht-lingui-
stische, aber dennoch als sprach/SPRACH-abhängige Entitäten aufgefaßt,
so ist durch jede Sprache/SPRACHE eine bestimmte Gesamtheit von wirk-
lichen (bestehenden) Propositionen/Verhalten ausdrückbar, also eine be-
stimmte Welt/WELT. Wird genau verstanden und beachtet, was damit gesagt
wird, so wird klar, daß eine bestimmte Sprache/SPRACHE nicht so ver-
standen werden kann, daß sie die angebliche IVeit an sich artikuliert; vielmehr
artikuliert jede Sprache/SPRACHE eine spezifische Welt/WELT, die aus dem
Grund mit (einer) anderen Welt(en)/WELT(EN) nicht in Konkurrenz treten
kann, weil die Voraussetzung für eine Konkurrenz fehlt. Welten/WELTEN
als jeweils verschiedene spezifische Gesamtheiten von Propositionen/Ver-
halten können aus diesem Grunde nicht nur als irgendwie miteinander
kompatibel betrachtet werden; sie sind auch darüber hinaus als in jeweils
größere Gesamtheiten integrierbar zu konzipieren. Richtig verstanden sind
eine ptolemäische Welt und eine kopernikanische Welt, eine Newtonsche

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292 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

Welt und eine Einsteinsche Welt, eine Lebenswelt und eine wissenschaftliche
Welt u. ä. miteinander nicht nur nicht inkompatibel, sondern sie bilden eine
schichtenmäßig wohlstrukturierte größere Gesamtheit, d. h. eine größere
WELT. Tatsachen (bestehende Propositionen/Verhalte) der sog. Lebenswelt
und Tatsachen etwa der Kernphysik liegen nicht in derselben Welt, aber
nichtsdestoweniger sind beide als wirkliche Tatsachen zu betrachten: Sie
sind nämlich Korrelate verschiedener SPRACHEN und Bestandteile ver-
schiedener WELTEN.
Es wäre mißverständlich, die hier angedeutete Konzeption als eine rein
kumulative Theorie der SPRACHEN und WELTEN und damit der Philo-
sophie und der wissenschaftlichen Theorien zu bezeichnen, zumindest so-
lange der Begriff „kumulativ" nicht präzisiert wird. Es handelt sich nicht
um eine simple additive oder summative Akkumulation, sondern um eine
wachsende strukturelle oder schicbtenmäßige Integration. Aus dieser Konzeption
kann also nicht etwa jene Auffassung abgeleitet werden, die in der wissen-
schaftstheoretischen und -historischen Diskussion „Konvergentismus" ge-
nannt wird. 58 Andererseits erzwingt die skizzierte Konzeption eine Revision
der wissenschaftstheoretischen und -historischen Theorien.

[vi] Die angedeutete Konzeption scheint einer fundamentalen Schwierigkeit


zu begegnen. Es geht um jene früher herausgearbeiteten fundamentalen Kon-
figurationen (von primären Propositionen/Verhalten), denen die Bezeichnung
Individuen im prägnanten Sinne gegeben wurde. Nun scheint sich aus der kurz
skizzierten holistisch-pluralistischen Position zu ergeben, daß die Identität
eines Individuums durch verschiedene Sprachen/SPRACHEN und damit
Welt/WELTEN hindurch gar nicht, und zwar in keinem, auch nicht in
einem sehr beschränkten Sinne, gewahrt ist. Konkret gesprochen, was etwa
das Individuum Cäsar genannt wird, wird zu einer reinen Floskel: Es gäbe
so viele wirkliche Individuuen Cäsar wie es Sprachen/SPRACHEN gibt.
Einerseits wurde ja das Individuum als eine fundamentale Konfiguration
von primären Propositionen/Verhalten bestimmt; andererseits ist jede(r)
wirkliche(r) Proposition/Verhalt ein Bestandteil einer WELT in Entspre-
chung zu einer SPRACHE. Aber diese Konsequenz scheint doch schlech-
terdings inakzeptabel zu sein, da sie u. a. der doch wirklichen Verständigung
bezüglich des Individuums Cäsar in verschiedenen Sprachen/SPRACHEN
widerspricht.

58 Zu einer Kritik des Konvergentismus vgl. u. a. Rescher [1987], bes. Kap. 2.

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3.6 Zum Begriff der Welt 293

Das aufgeworfene Problem ergibt sich aus der hier entwickelten Onto-
logie, die Individuen im prägnanten Sinne als fundamentale Konfigurationen
von primären Verhalten begreift. Wäre dann unter Anwendung einer Ar-
gumentation im Sinne des modus tollens nicht zu sagen, daß aus der Inakzep-
tabilität der genannten Konsequenz die Inakzeptabilität der vorgeschlagenen
semantisch-ontologischen Theorie selbst folgt? Würde es sich wirklich so
verhalten, so müßte in der Tat diese letzte Konsequenz gezogen werden.
Aber die Voraussetzung stimmt nicht; das Verhältnis zwischen Sprachen/
SPRACHEN/SPRACHE und Welten/WELTEN/WELT ist viel differen-
zierter zu denken. Dazu einige Hinweise.
Individuen im prägnanten Sinne wurden als fundamentale Konfiguratio-
nen einer Welt/WELT bestimmt. Solche Konfigurationen stehen damit in
Entsprechung zu einer Sprache/SPRACHE. Gibt es eine Möglichkeit, eine
oder die Identität einer solchen Konfiguration durch verschiedene SPRA-
CHEN/WELTEN hindurch zu denken? Hier muß man als erstes sagen, daß
der Begriff der Identität, so wie er heute in der philosophischen Literatur
gewöhnlich genommen wird, sehr problematisch ist 59 ; er ist selbst charak-
teristisch für eine ganz bestimmte Sprache/SPRACHE. Wird derselbe Aus-
druck .Identität' als zu einer anderen Sprache/SPRACHE gehörend genom-
men, so wird er ganz anders verstanden und expliziert. Diese kleine Uber-
legung macht schon einen wichtigen Punkt deutlich: Um die Frage nach
der „Trans-SPRACHEN/WELTEN-Identität" des Individuums im prägnan-
ten Sinne zu stellen und zu klären, muß man eine geeignete Begrifflichkeit,
d. h. eine umfassendere SPRACHE entwickeln. Wie oben gezeigt wurde,
gibt es eine „Transzendenz einer Sprache/SPRACHE von innen heraus"; in
der Tat denken und reden wir immer so, daß wir uns als in ein größeres
Begriffs- bzw. SPRACH-Potential einbezogen verstehen — und zwar bis
hin zur „Erahnung" der SPRACHE als der absoluten regulativen Idee.
Berücksichtigt man diesen Umstand, so dürfte es im Prinzip nicht ausge-
schlossen sein, die Identität eines Individuums (im prägnanten Sinne) durch
die wirklichen SPRACHEN/WELTEN hindurch neu zu konzipieren. Aber
dies kann freilich hier nur eine Andeutung bleiben. Hinzugefügt sei nur
noch folgendes: Ein Individuum im wirklich prägnanten Sinne kann nur
jene Entität sein, die als eine fundamentale Konfiguration von Konfigura-

59 Vgl. beispielsweise Wittgensteins berühmte Äußerung ( T r a c t a t u s 5.5303, in Witt-


genstein [1969] S. 60):
„Von φvei Dingen zu sagen, sie seien identisch, ist ein Unsinn, und von Einem
zu sagen, es sei identisch mit sich selbst, sagt gar nichts."

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294 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen

tionen in allen wirklichen SPRACHEN/WELTEN bestimmt ist. Dies dürfte


der ausgeführte Sinn von Leibnizens conceptus substantialis completus sein.
Die Resultate der — zugegeben — sehr gewagten spekulativen Überle-
gungen sind geeignet, zur Nüchternheit und Bescheidenheit zu mahnen.
Was eine wirkliche Welt ist, was viele wirkliche Welten sind, was die WELT
als der absolut maximale wirkliche Verhalt ist, das können wir nur im Sinne
von regulativen Ideen wissen. Aber gerade dieses Wissen ist alles andere als
überheblich oder nutzlos, weil es das von uns tatsächlich Durchführbare
allererst richtig zu situieren hilft.

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