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3.1 Einleitung
In diesem Kapitel soll der Kern der in diesem Buch vertretenen Konzeption
behandelt werden. Die logischen, kognitiven, sprachphilosophischen (se-
mantischen) und ontologischen Grundlagen für eine Theorie der Wahrheit
sind die wichtigsten Grundlagen. Auf diese Grundlagen bezog sich das in
der Einleitung angegebene Grundcharakteristikum der hier vertretenen Kon-
zeption. Dieses Kapitel kann daher als die Einlösung der dort gemachten
Aussagen gelten.
Freilich ist zu betonen, daß schon manche Aspekte der genannten Grund-
lagen in vielfaltiger Weise angedeutet und teilweise expliziert und erläutert
wurden; auch einige der Grundthesen wurden zum Teil formuliert und
wenigstens skizzenhaft begründet. Jetzt geht es darum, diesen komplexen
Zusammenhang systematisch zu klären.
Zum Aufbau des Kapitels sei folgendes im voraus gesagt: Als eine gute
Einführung in die gesamte Thematik sollen zunächst zwei Fragen behandelt
werden, die in der Gegenwartsphilosophie im Zentrum ausführlicher Dis-
kussionen stehen und denen ein symptomatischer Charakter in folgendem
Sinne zuzuweisen ist: sie machen gerade jene unleugbare Verschränkung
von Logik, Sprachphilosophie (Semantik), Epistemologie und Ontologie
deutlich, um die es in diesem Kapitel geht. Es sind dies: die Frage nach
dem Verhältnis von Logik (Sprache) und Ontologie und die Realismus-Antirea-
lismus-Debatte, eine Debatte, an der die vier genannten Disziplinen einen
schlechterdings zentralen Anteil haben (3.2). Sodann wird der zentrale, alle
weiteren Ausführungen bestimmende Ansätnämlich das Kontextprin^ip,
eingeführt, erläutert und begründet (3.3). Von hier aus ergibt es sich von
selbst, daß zunächst eine Theorie des Satzes (3.4), dann eine Theorie der
Proposition (3.5) skizziert werden. Dies führt zum Begriff der Welt, der im
Abschnitt 3.6 zu erläutern sein wird.
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3.2 Zwei symptomatische Diskussionsthemen 121
3.2.1.1 Unterscheidungen
[1] Von der Logik — im modernen Sinne der „formalen" oder „symboli-
schen" Logik — kann man in der Theorie der Wahrheit mindestens seit
Tarski nicht mehr absehen. Logik wird vorausgesetzt und benutzt. Aber
was heißt dies? Welche Implikationen hat diese Verwendung des logischen
Instrumentariums? Diese Fragen beinhalten viele und sehr verschiedenartige
Aspekte. In diesem Abschnitt soll nur ein Aspekt aufgegriffen und behandelt
werden, die Problematik des Verhältnisses von Logik und Ontologie.
Hat Logik irgend etwas mit Ontologie zu tun? Die so gestellte Frage ist
natürlich sehr allgemein. Sie läßt sich in einem ersten Anlauf dadurch
präzisieren, daß man zwei entgegengesetzte Tendenzen in der gegenwärtigen
Diskussion ausmacht. Die eine Tendenz möchte die „Provinz" der Logik
von der „Provinz" der Ontologie möglichst sauber getrennt halten. 1 Eine
andere Tendenz kann man etwa in der folgenden Passage aus Quines Buch
Wort und Gegenstand ausmachen:
„Das Streben nach dem einfachsten, klarsten Grundmuster kanonischer
Schreibweise und das Streben nach letztgültigen Kategorien — nach einer
Darstellung der allgemeinsten Züge der Wirklichkeit — sind nicht zu
unterscheiden. Man wende nicht ein, solche Konstruktionen seien Sache der
Konvention und nicht Diktate der Wirklichkeit — denn ließe sich dasselbe
nicht auch von der Physik sagen? Es gehört freilich zum Wesen der Realität,
daß uns die eine physikalische Theorie weiter hilft als die andere — aber
das gleiche gilt auch für kanonische Schreibweisen." 2
,Kanonische Notation' ist bekanntlich bei Quine ein Ausdruck, der die
Gestalt der Logik für die Philosophie und die Wissenschaften bezeichnet.
Die beiden entgegengesetzten Tendenzen schlagen sich in der Gestalt von
zwei verschiedenen Interpretationen der Quantoren nieder: die referentielle
Deutung ist zweifellos ontologisch orientiert, die substitutioneile Deutung
hingegen versteht sich als ontologisch neutral. Solche allgemeinen und
globalen Charakterisierungen und Entgegensetzungen sind sicher in vielerlei
Hinsicht hilfreich; aber das eigentliche Problem des Verhältnisses von Logik
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122 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
[2] Es dürfte klar sein, daß Logik und Ontologie zwei verschiedene Diszi-
plinen sind. An dieser These wird man kaum rütteln können. Aber damit
ist nicht alles oder auch nur das Wichtigste gesagt. Denn es ist offensichtlich,
daß sich Logik und Ontologie in vielerlei Weisen aufeinander beziehen. Dies
gilt zumindest von der Ontologie, sofern man sie als eine Disziplin versteht,
die strengen Maßstäben gehorcht (bzw. gehorchen muß), zu denen man in
jedem Fall auch logische Maßstäbe rechnen muß. Kann oder muß man gar
auch umgekehrt eine Bezogenheit — welcher Art auch immer — der Logik
auf die Ontologie annehmen? Letztere Frage ist natürlich bedeutend schwie-
riger und komplexer. Für die folgenden Ausführungen soll hier vorerst
angenommen werden, daß Ontologie ohne Logik gar nicht möglich ist. 4
[3] Die Frage, ob die Logik eine immanente Bezogenheit auf Ontologie hat
oder nicht, ist zunächst dahingehend zu präzisieren, ob man unter „Logik"
nur ein syntaktisch strukturiertes, d. h. ein rein formales (im Sinne von:
„uninterpretiertes"), oder auch ein außerdem semantisch aufgebautes, d. h.
interpretiertes, formales System versteht. Im ersten Fall ist es weitgehend
unbestritten, daß Logik keine (bestimmte) Bezogenheit auf Ontologie be-
inhaltet. 5 Erst mit der Interpretation des formalen Systems taucht die Frage
nach dem Verhältnis von Logik und Ontologie auf. Eine positive Antwort
auf diese Frage kann etwa so formuliert werden:
„Ontologizing a formal system...is part of interpreting it, specifically that
part which consists in assigning referents to its categorematic substantives.
Any given theorem of the system commits its asserter to the existence of
all such referents required for the theorem's truth. These referents will
comprise the values of its bound variables and the designata of all of its
3 Man kann die zwei genannten Tendenzen dahingehend charakterisieren, daß sie
die Logik von zwei verschiedenen Denkmodellen her verstehen: zum einen als
Kalkül, zum anderen als Sprache, wobei dann „Sprache" nicht (nur) als rein
syntaktisches, sondern (auch) als interpretiertes (oder zumindest als interpretier-
bares) Zeichensystem aufgefaßt wird. Vgl. dazu: Van Heijenoort [1967],
4 Später wird sich zeigen, daß auch dieser Zusammenhang einer näheren Analyse
zu unterziehen ist.
5 Ob diese Annahme einer wirklich eingehenden philosophisch-systematischen Ana-
lyse standhält, soll hier als offene Frage betrachtet werden.
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3.2 Zwei symptomatische Diskussionsthemen 123
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124 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
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3.2 Zwei symptomatische Diskussionsthemen 125
Hier also werden die Extension des singulären Terms und das Objekt der
Referenzbeziehung des singulären Terms (der Referent) identifiziert; doch
dies stellt nach Legenhausen keine Notwendigkeit dar, da man alternative
Semantiken für den PLK entwickeln kann.
Gemäß S s werden Prädikate dahingehend verstanden, daß sie nicht auf
irgend etwas referieren; vielmehr ist die Extension eines Prädikats eine Menge
von Objekten (Individuen), wobei nicht gesagt werden kann, daß diese
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126 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
Menge das Referenzobjekt des Prädikats ist. Die oben angesprochene Asym-
metrie besteht in folgendem: Singuläre Terme referieren auf Objekte und
diese sind auch die Extensionen dieser Terme; für Prädikate gilt: entweder
haben sie keine Referenz oder, wenn man ihnen eine Referenz zuschreiben
will, dann jedenfalls nicht eine Referenz auf ihre Extension.11
Nach Legenhausen kann auf dieser Basis gezeigt werden, daß Quines
berühmtes Diktum „To be is to be the value of a [bound] variable" zwei-
deutig ist, da unter dem Wert einer gebundenen Variablen sowohl die
Extension als auch der Referent der Variablen verstanden werden kann. Ihm
zufolge gilt das Diktum, wenn überhaupt, so nur hinsichtlich der Referenz.
Legenhausen weist auch darauf hin, daß zwischen der S s und der traditio-
nellen Substanzontologie starke Analogien bestehen: demnach kommt der
Substanz eine Priorität gegenüber den Eigenschaften zu; Eigenschaften
ähneln mengentheoretischen Konstruktionen aus Substanzen.
Gemäß der Nicht-Standardsemantik SF' ist die Extension eines monadi-
schen Prädikats ein mengentheoretisches Element, während die Extension
eines Individuenterms eine Menge solcher mengentheoretischen Elemente
ist. Hier findet so etwas wie eine Umkehrung von S s hinsichtlich der
Interpretation der singulären Terme und der Prädikate statt. Das kommt in
der Bestimmung der Wahrheit eines atomaren Satzes klar zum Ausdruck:
gemäß SE ist der atomare Satz ,Pa' wahr genau dann, wenn die Extension
des Prädikats ,P' ein Element der Extension des Individuenterms ,a' ist.
Bezeichnenderweise bemerkt Legenhausen dazu, daß aus dem Umstand, daß
die Extension eines Individuenterms in SE eine Menge ist, nicht gefolgert
werden kann, daß die Philosophen, die SK verwenden (annehmen), die
Individuen notwendigerweise als Mengen auffassen müssen, denn Extension
ist nicht dasselbe wie Referenz. Und Legenhausen führt aus, daß SF' verwen-
det werden kann, um die sog. „Bündeltheorie" des Individuums12 zu illu-
strieren. Er selbst bezieht sich auf Humes Fassung der Bündeltheorie, der-
zufolge Namen (Individuenterme) für Kollektionen und nicht für einfache
Elemente stehen. Die einfachen Elemente, die die Individuen als solche
Kollektionen konstituieren, sind die Eigenschaften oder Qualitäten, die die
Werte der (monadischen) Prädikate darstellen.
Gemäß der auf Tatsachen basierenden Semantik ST werden die Extensio-
nen sowohl der singulären Terme als auch der monadischen Prädikate als
11 Als die Referenten der (monadischen) Prädikate wären etwa die Eigenschaften zu
verstehen.
12 Vgl. dazu unten Abschnitt 3.5.4.2.
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3.2 Zwei symptomatische Diskussionsthemen 127
[2] Legenhausens Konzeption ist sowohl in einer positiven als auch in einer
negativen Hinsicht von sehr großer Bedeutung.
[i] Von der Zielsetzung des vorliegenden Buches her gesehen ist die positive
Seite darin zu sehen, daß die Prädikatenlogik erster Stufe als ein vielgestal-
tiges Instrumentarium aufgewiesen wird. Im Lichte der herausgearbeiteten
Nicht-Standardsemantiken ist die Entwicklung der wahrheitstheoretischen
Diskussionen nach Tarski als weitgehend einseitig zu betrachten, da sie auf
der Basis der fraglosen Annahme der Standardsemantik und des damit
gegebenen objektontologiscben Dogmas geführt wurden. Hinzu kommt, daß
eine mengentheoretische Sprache verwendet wird, die im Hinblick auf die
ontologische Problematik besonders schwierige Probleme aufwirft. Darauf
wird später einzugehen sein.
13
Legenhausen drückt sich so aus:
„The extension of an atomic sentence, ,Pa', is truth iff the intersection of the
extension of the individual term, ,a', with the extension of the predicate, ,P', is a
singleton." (S. 325).
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128 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
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3.2 Zwei symptomatische Diskussionsthemen 129
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130 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
Formale Semantik sie so auffaßt, was können sie anderes sonst sein? Wären
sie dennoch etwas Anderes, so sollte man die ST-Bestimmungen einfach
ignorieren.
In diesem Abschnitt soll auf die Diskussion zwischen Realisten und Anti-
Realisten in einer bestimmten Hinsicht eingegangen werden. Es soll gezeigt
werden, daß der Wahrheitsbegriff nur dann geklärt werden kann, wenn der
Zusammenhang von Kognitivität, Logik, Sprache und Ontologie anerkannt
und thematisiert wird. Die anti-realistische Position ist in dieser Hinsicht
als jene Position anzusehen, die diesen Zusammenhang bisher am besten
gesehen und erörtert hat. Eine andere Frage ist allerdings, ob diese Position
haltbar ist. Die nachstehenden Ausführungen sind insofern als unmittelbare
Vorbereitung auf die Klärung der zentralen Frage der explikativ-definitio-
nalen Theorie der Wahrheit zu verstehen. Sie nehmen zunächst Bezug auf
die kurze und außerordentlich klare Darstellung der anti-realistischen Po-
sition durch einen der dezidiertesten Verfechter dieser Richtung, nämlich
N. Tennant, in seinem 1987 erschienenen Buch Anti-Realism and Logic. Truth
as Eternal.15 Im Anschluß daran wird der methodisch-systematische Stellen-
wert der Kognitivität im Rahmen der Semantik und Ontologie bestimmt.
15 Tennant [1987],
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3.2 Zwei symptomatische Diskussionsthemen 131
die als solche für immer unerkannt bleiben werden". Diese These nennt
Tennant einen „theoretischen Schwindel" 16 . Seine Kritik faßt er so zusam-
men:
„It [bivalent truth] is a non-explanatory concept with too much slack to do
predictive and explanatory duty to all the phenomena (language acquisition,
language mastery, attainment of consensus, exchange of information) with
which semantical theory must ultimately deal. The speaker whose grasp of
content were such as to guarantee bivalent truth-conditions would not be
able to persuade any anti-realistically minded respondent, on the basis of his
(the speaker's) observable behaviour, that he had truly grasped what it was for
each sentence of his language to be true (or false) in the way supposed. For
some of those sentences would be true (or false) without the speaker ever
being able to recognize them as such. — Recognition is understood here to
consist in successful and observable exercise of appropriate recognitional
capacities."17
Diese Argumentation basiert auf der Annahme, daß von Wahrheit nur dann
die Rede sein kann, wenn sichergestellt ist, daß der Sprecher in der Lage
ist, auf erkennbare Weise zu zeigen, daß er das kognitiv erfaßt hat, was es für
einen Satz heißt, wahr zu sein. Wenn aber die Wahrheit eines gegebenen
(oder nichtgegebenen) Satzes unser Erfassungsvermögen transzendiert, so
ist diese Bedingung nicht erfüllt. Diese Annahme bzw. Bedingung wird
bekanntlich von den Realisten abgelehnt. Wie könnte sie begründet werden?
Die Diskussion darüber ist in vollem Gang.
Tennant ist bemüht, eine Argumentation zu entwickeln, die auf einer
Analyse des Ausdrucks ,Wahr(heit)' basiert und die als Begründung für die
der anti-realistischen Position zugrundeliegende genannte Annahme bzw.
Bedingung verstanden werden kann. Diese Argumentation basiert auf dem
Hinweis auf eine angeblich nicht beseitigbare epistemologische Komponente des
Wahrheitsbegriffs. Tennant geht von beiden folgenden „Schemata" aus, die
ihm zufolge der anti-realistischen Kritik standhalten:
(1) S ist wahr gdw. ρ (wobei ρ die metasprachliche Übersetzung von S ist)
(2) Die Bedeutung von S zu kennen ist zu wissen, unter welchen Bedingungen
S wahr ist oder wahr sein würde.
Hält man von diesen beiden Schemata die Bivalenz fern, so kann man in
ihnen Tennant zufolge die Artikulation des „legitimen Begriffs der Wahr-
16
A. a. O. S. 129 („a theoretical sham").
17
Ebd.
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132 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
heit"18 erblicken. Schema (2) ist für den Anti-Realisten ohne weiteres an-
nehmbar, bringt es doch „unsere Epistemologie des Verständnisses"19 zum
Ausdruck. Schema (1) wird angenommen, aber gründlich uminterpretiert.
Der Satz auf der rechten Seite der Äquivalenzbeziehung wird in Verbindung
gebracht mit seinen Assertibilitätsbedingungen und diese werden definiert
als die Durchführung eines gültigen Arguments. „Gültiges Argument" wird
von Tennant im Rahmen einer „intuitionistischen Relevanzlogik"20 definiert.
Tarskis Äquivalenzschema stellt sich dann als eine Konsequenz eines solchen
gültigen Arguments heraus. ,...ist wahr' ist demnach zu lesen als ,es gibt
ein geschlossenes Argument für...'.
Das Argument, auf welches oben hingewiesen wurde, ist eine Analyse
der Bedeutung von ,...ist wahr'. Um sie durchzuführen, bringt Tennant
zunächst eine Illustration. Das Prädikat ,...ist ein Bruder' scheint ein ein-
faches einstelliges Prädikat zu sein. In Wirklichkeit ist es ein logisch kom-
plexes Prädikat, denn es ist das Ergebnis der Existenzquantifikation der
Relation ,...ist ein Bruder von '. Ähnlich verhält es sich mit dem
Wahrheitsprädikat. Dieses Prädikat ist nur scheinbar ein einstelliges Prädikat;
in Wirklichkeit ist es zu verstehen als das Ergebnis der Existenzquantifi-
kation der Relation ,... konstituiert-als-wahr (...establishes-as-
true )'. Zu sagen, daß Α wahr ist, heißt sagen, daß es ein Verfahren
gibt — in der Mathematik einen Beweis, in anderen Bereichen des diskur-
siven Denkens ein analoges Verfahren —, welches A als-wahr-konstituiert.
Zu dieser Konzeption sind einige kritische Bemerkungen zu machen.
[i] Die dargelegte Position ist „anti-realistisch" in einem ganz speziellen
Sinn. Tennant selbst, der sich als „Physikalist" und „Funktionalist" bekennt,
meint, diese Bezeichnung sei ganz ungeeignet; besser wäre die Bezeichnung
„Anti-Bivalentismus"21. Es tauchen viele Fragen auf, auf die hier nicht im
einzelnen eingegangen werden kann. Wenn eine von der Sprache (bzw. vom
Geist, von Theorien usw.) »»abhängige Realität angenommen wird — und
Tennant scheint diese Annahme zu machen22 —, so ist klar, daß diese
£/«abhängigkeitsthese genau jene Transzendenz beinhaltet, die die Anti-Rea-
listen im Sinne Tennants ablehnen. Wollte man sagen, daß beide Thesen
nichts miteinander zu tun haben, so hätte man gegen die Grundeinsicht des
18 A. a. O. S. 130.
19 Ebd.
20 Vgl. a. a. O. S. 134 ff.
21 A. a. O. S. v.
22 Vgl. ζ. B. a. a. O. S. 10.
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3.2 Zwei symptomatische Diskussionsthemen 133
[ii] Tennants Analyse von ,...ist wahr' greift zu kurz. Es ist symptomatisch,
daß er sehr bemüht ist zu zeigen, die Formulierung ,eine Aussage ist wahr
gdw. wenn etwas [sie-]als-wahr-konstituiert' enthalte keine Zirkularität. Ihm
zufolge ist keine Zirkularität durch das Vorkommen von ,wahr' im Binde-
strich-Ausdruck gegeben; sein Grund:
„The hyphenated version is more basic than the simple truth predicate." 23
23 A. a. O. S. 132.
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134 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
werden, daß er dem Einwand der Zirkularität nicht entgehen kann oder daß
er „Wahr(heit)" gar nicht definiert, sondern etwas anderes leistet. Es ist
nämlich jetzt klar, daß Tennant eine zirkelhafte Definition vorlegt, wenn er
seine Analyse nicht im beschriebenen (rein technischen und trivialen) Sinne,
sondern als Definition im eigentlichen Sinne versteht; denn in diesem Fall
besagt die Formulierung ,...establishes-as-true ' nicht ,...definiert-als-
wahr ' i m obigen (trivialen) Sinne, sondern etwas anderes. Aber dann
wird das vorausgesetzt, was zu definieren wäre. Die andere Möglichkeit
wäre, daß Tennant etwas anderes leistet als eine Definition: ,... establishes-
as-true ' wäre zu verstehen etwa als die Angabe einer Beweisprozedur
für eine wahre Aussage, d. h. für eine Aussage, die unabhängig von der
genannten Prozedur als wahr genommen wird, wobei vorausgesetzt wird,
„wahr" sei schon definiert oder definierbar oder in irgendeiner Weise verständ-
lich. Tennant würde in diesem Fall nicht „Wahr(heit)" definieren, sondern
so etwas wie ein Kriterium für die Behauptbarkeit oder Akzeptabilität einer
rf/r-B^r-qualifizierten-Aussage vorlegen. 24
[iii] Damit ist nicht gesagt, daß „Wahr(heit)" nicht durch „Beweisbarkeit"
definierbar ist; es ist nur gezeigt worden, daß dies nicht unter Anwendung
der von Tennant durchgeführten Prozedur geleistet werden kann. Auch
kann aus den angestellten Überlegungen nicht gefolgert werden, daß die
Dimension der Kognitivität für die Theorie der Wahrheit überhaupt nicht
von fundamentaler Bedeutung ist. Worin diese Bedeutung besteht, muß
allerdings sorgfaltig herausgearbeitet werden.
Einer der Mängel in Tennants Darstellung ist darin zu sehen, daß er der
Frage nach den Wahrheitsträgern nicht nachgeht. Aber diese Frage ist
schlechterdings fundamental, und zwar auch im Hinblick auf eine Klärung
der Frage nach dem Stellenwert der Kognitivität im Rahmen der Semantik
überhaupt und der Theorie der Wahrheit im besonderen. Wie im Kapitel 4
zu zeigen sein wird, müssen (mindestens) drei Wahrheitsträger angenommen
werden: die Proposition bzw. Proposition, der Satz und die kognitive
Instanz. Die angegebene Reihenfolge zeigt auch die Prioritätsskala an. Die
Proposition wird sich als nichtsprachliche, aber als sprachabhängige Entität
erweisen; der Satz ist eindeutig eine sprachliche Entität. Die Frage hinsicht-
lich des Stellenwertes der Kognitivität ist in den folgenden allgemeineren
Kontext einzuordnen: eine Proposition muß durch einen Satz zumindest
prinzipiell ausdrückbar sein; ein Satz, der nicht mindestens prinzipiell durch
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3.2 Zwei symptomatische Diskussionsthemen 135
eine kognitive Instanz äußerbar ist, dürfte als eine unsinnige Konstruktion
abzulehnen sein. Die Dimension der Äußerung und damit der Kognitivität
stellt sich in diesem Sinne als unverzichtbar heraus.
[2] Schon aus dieser Skizze, die als zusammenfassende Vorwegnahme der
unten ausführlich darzustellenden und zu begründenden Konzeption zu
verstehen ist, ergibt sich eine Konsequenz im Hinblick auf das semantische
Unternehmen: Alle Richtungen, die dem genannten subtilen Zusammenhang
nicht radikal Rechnung tragen, sind abzulehnen. Dazu gehören die beiden
folgenden entgegengesetzten Richtungen: (i) Die Neue Theorie der Rejeren£25
möchte die Dimension der Kognitivität aus dem Bereich der Semantik
ausschließen. Als neu versteht sich diese Richtung im Hinblick auf die
traditionelle Semantik in der Nachfolge Freges. Für diese Fregesche Semantik
war bzw. ist die Berücksichtigung der kognitiven Probleme von ausschlag-
gebender Bedeutung. Die neue Theorie betrachtet dies als „Mißverständnis":
kognitive Aspekte und Probleme lägen nicht „innerhalb der Provinz der
Semantik" 26 , (ii) Eine andere Richtung räumt der kognitiven Dimension
einen so zentralen Platz ein, daß die Semantizität explizit oder implizit auf
Kognitivität reduziert wird. 27
Nach der hier zu entwickelnden Konzeption erscheinen beide Richtungen
als völlig einseitig. Wenn man Kognitivität aus dem Bereich der Semantik
(und damit der Ontologie) völlig ausschließt, so reduziert man Sprache auf
ein rein objektives, absolut „autonomes" Zeichensystem, dessen Struktu-
riertheit und Leistungsfähigkeit unabhängig von kognitiven Subjekten ge-
geben ist. In Wirklichkeit ist Sprache zwar ein objektives semiotisches
System, aber dies muß in dem Sinne verstanden werden, daß die Dimension
der Kognitivität darin auf (mindestens) dreierlei Weise präsent ist: (a) In-
sofern eine Sprache auf der Basis eines Konsensus von Subjekten verstanden
und benutzt wird, beinhaltet sie so etwas wie objektiv gewordene oder vom
25 Es ist allerdings zu betonen, daß nicht alle Philosophen, die dieser Richtung
zugerechnet werden, diese radikale These vertreten. Der wichtigste Verfechter der
genannten These ist H. Wettstein (vgl. Wettstein [1986] und [1988]).
26 Wettstein [1986] S. 204.
27 Wettstein [1986] S. 203 zitiert Aussagen einiger Vertreter jener Richtung, die von
der „neuen Theorie" kritisiert wird, u. a.: „A theory of meaning is a theory of
understanding" (Dummett [1981b] S. 74); „... die Sprachphilosophie [ist] ein
Zweig der Philosophie des Geistes" (Searle [1983] S. 9); „The basis of a theory of
reference must...be a theory of the thought in the mind of a person using a
singular term" (Schiffer, [1978] S. 171).
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136 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
und
(4) Cicero = Tullius
dieselbe Proposition ausdrücken? Diese These, die von den Vertretern der
Neuen Theorie der Referenz verfochten wird, ist dann haltbar, wenn man
als Kriterium für das Vorhandensein des semantischen Wertes eines Aus-
drucks höchstens die Dimension der Kognitivität im Sinne von (a) aner-
kennt. Der Preis für das strikte Festhalten an einem solchen Kriterium ist
allerdings sehr hoch: die ganze sehr komplexe und uneinheitliche Dimension
der Kognitivität — also die Dimension der sog. propositionalen oder intentio-
nalen Einstellungen usw. — bleibt unberücksichtigt mit der Konsequenz,
daß sehr unplausible, ja gewaltsame Deutungen mancher kognitiv bestimm-
ter sprachlicher Phänomene präsentiert werden. 28 Andererseits sollte der
Vorteil nicht übersehen werden: die — im erläuterten Sinne — rein objektiv
verfahrende Semantik gewinnt erheblich an Eindeutigkeit.
28 Ein Beispiel dafür ist das sonst außerordentlich scharfsinnige Buch von N. Salmon
Frege's Pussle (vgl. Salmon [1986]).
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3.2 Zwei symptomatische Diskussionsthemen 137
Geht man — mit Frege — umgekehrt davon aus, daß (3) und (4) zwei
verschiedene Propositionen (bei Frege: Gedanken) ausdrücken, so räumt
man dem kognitiven Gesichtspunkt oder, mit einem Ausdruck Freges, dem
„Erkenntniswert" 29 der sprachlichen Ausdrücke einen zentralen Stellenwert
in der Semantik ein. Die Frage ist, wie weit man hier gehen kann oder muß.
Es dürfte klar sein, daß nicht jedem individuell bestimmten Erkenntniswert
Rechnung getragen werden kann, da sonst von einem einheitlichen Sprach-
system nicht mehr oder kaum noch die Rede sein kann. Der Frage, ob der
semantische Wert eines Ausdrucks nur dann vorhanden ist, wenn ein Spre-
cher, der diesen Ausdruck verwendet, ihn auch „versteht", haftet eine große
Unbestimmtheit und Vagheit an; denn was heißt „Verstehen", „Kennen",
„Anerkennen" usw.? Die Positionen von Dummett, Tennant u. a. scheinen
ein exzessives Gewicht auf die kognitive Dimension zu legen und dem
Umstand nicht genug Rechnung zu tragen, daß diese Dimension außer-
ordentlich vage und unbestimmt ist: daß ein Sprecher etwas „versteht" oder
nicht „versteht", ist oft, ja meistens, eine vorwiegend subjektive Angele-
genheit, die von vielen subjektiven Faktoren abhängt, wie Talent, Bildung,
Fleiß usw. Sogar das von Tennant30 im Anschluß an D. Prawitz 31 vorbildlich
entwickelte „gültige Argument" als jenes Definiens von „Wahr(heit)", das
gerade der absoluten Priorität des kognitiven Gesichtspunktes Rechnung
tragen will, zeigt, wie beinahe unfaßbar diese Dimension ist; denn wenn
„Wahr(heit)" dann und nur dann vorliegt, wenn „man" in der Lage ist, ein
im Sinne Tennants gültiges Argument für eine Aussage zu präsentieren, so
drängt sich die Frage auf, wieviele Sprecher oder Subjekte darin ihre „Kog-
nitivität" realisiert finden werden. Es scheint sinnlos zu sein, die gan^e
Dimension der Kognitivität erfassen zu wollen. Wohl aber dürfte es sinnvoll
sein, die Behauptung aufzustellen, daß jeder rationale Sprecher das genannte
„gültige Argument" anerkennen kann (nicht: wird), bzw. den Anspruch zu
erheben, daß jeder rationale Sprecher es anerkennen soll.
Aus den angestellten Überlegungen ergibt sich, daß die kognitive Di-
mension zwar nicht ignoriert werden kann, daß sie aber als Dimension der
Sprache als ganzer gesehen werden muß. „Sprache als ganze" ist als ein
außerordentlich komplexes System zu begreifen. Was Sprache ist, wie sie
funktioniert, wie weit sie reicht, ob sie nur endlich viele, abzählbar unendlich
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138 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
viele oder überabzählbar unendlich viele Ausdrücke hat 32 — das sind die
fundamentalen Fragen. Die Frage nach der Kognitivität hat im Rahmen
dieser fundamentalen Fragen ihren Platz; es ist nicht zu sehen, worin die
Berechtigung der These gesehen werden könnte, daß die Perspektive der
Kognitivität die für eine Theorie der Sprache primäre und bestimmende
Perspektive abgibt.
Ist dieser Ansatz korrekt, so wird deutlich, daß die zwei wichtigsten im
Rahmen der Realismus-Antirealismus-Debatte behandelten Fragen (nämlich
die Frage, ob das Bivalenzprinzip gilt, und die Frage, ob es eine sprach-
oder geist-««abhängige Realität gibt) aus einer viel zu einseitigen und be-
schränkten Perspektive erörtert werden, wenn der Gesichtspunkt der Kog-
nitivität in den Vordergrund gestellt wird. Die adäquate Behandlung der
genannten Fragen muß eher von der Betrachtung der Sprache als ganzer
erfolgen. Wie unten zu zeigen sein wird, ist die zweite Frage eindeutig zu
beantworten: es macht keinen Sinn, eine die Sprache als gan^e schlechterdings
trans^endierende Realität anzunehmen. Daraus aber ergibt sich nicht zwingend,
daß das Bivalenzprinzip abzulehnen ist.
Wie gleich zu zeigen sein wird, ist der Ausdruck .Kontextprinzip' sprachlich
mehrdeutig und wird oft mißverstanden. Aber da dieser Ausdruck zu einem
32 Vgl. dazu die anregenden Arbeiten von Hugly/Sayward [1983] und [1986]. Vgl.
unten Abschnitt 3.6.3.
1 Frege [1884],
2 Dummett [1978] S. 38.
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3.3 Der semantisch-ontologische Grundansatz 139
3
Frege [1884] S. 10.
4
A. a. O. § 60 (Hervorh. nicht im Original).
5
A. a. O. § 62.
6
A. a. O. § 106.
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140 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
Currie zufolge besagt das KTP auf der heuristischen Ebene, daß die Defi-
nition (des Begriffs) der Zahl unter einigen restriktiven Bedingungen kon-
struiert werden muß: die Analyse des Begriffs der Zahl sollte nicht auf der
Basis einer Reflexion über den Begriff selbst vonstatten gehen, sondern
unter Beachtung von charakteristischen Sätzen, in denen der Begriff vor-
kommt. Currie arbeitet zwei Aspekte des KTP heraus. Zum einen handelt
es sich um die Beziehung von Begriffen zu Urteilen, wobei folgendes zu
beachten ist:
„[The conceptual] analysis, and the definitions to which it gives rise, should,
in conjunction with certain other principles, entail intuitively correct judg-
ments concerning that concept." 9
Der zweite große Diskussionspunkt hat es mit der Frage zu tun, ob Frege
nach der Publikation der Grundlagen das KTP weiter vertreten oder ob er es
verworfen hat. Auch diesbezüglich gehen die Meinungen der Interpreten
erheblich auseinander. Drei Interpretationsrichtungen seien kurz erwähnt:
(i) Einige Autoren wie M. Black, A. Angelelli und M. Resnik11 vertreten
die Auffassung, daß Frege in den nach den Grundlagen veröffentlichten
Schriften das KTP verworfen hat.
7 Vgl. besonders Dummett [1981 b]. Dieselbe Interpretation vertritt Wright [1983 a]
und [1983 b].
8 Currie [1982] S. 156.
9 A . a . O . S. 151.
10 Ebd. Eine ähnliche Auffassung vertritt Milne [1986], der Dummetts und Wrights
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3.3 Der semantisch-ontologische Grundansatz 141
(ii) Eine zweite Gruppe von Autoren verficht die entgegengesetzte These.
So behauptet H. Sluga, daß Frege später das KTP explizit wieder formuliert
und vertreten hat. 12
(iii) Eine dritte Gruppe nimmt eine mittlere Position ein. So besonders
M. Dummett:
„[After the Grundlagen] Frege neither reiterated nor expressely repudiated it
[the context principle], but...he adopted a position inconsistent with it in
its original form." 13
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142 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
Modifikation, die gleich eingeführt werden soll, eignet sich vorzüglich, eine
fundamentale und entscheidende semantische Einsicht zu artikulieren. Ob
Frege selbst diese Einsicht gehabt hat, wieweit er sie gehabt hat, ob er sie
explizit oder nur implizit gehabt hat, ob er seine Philosophie in Entsprechung
oder im Widerspruch zu ihr entwickelt hat usw., das sind Fragen, die in
systematischer Hinsicht irrelevant sind. Daß sie in einer interpretationshisto-
rischen Perspektive wichtig sind, braucht nicht eigens hervorgehoben zu
werden.
Die angekündigte Modifikation betrifft den Ausdruck ,Bedeutung'. Die
genaue Bedeutung von ,Bedeutung' in den Grundlagen ist schwer auszuma-
chen; andererseits ist der Umstand zu beachten, daß Frege erst nach der
Publikation der Grundlagen die für seine (spätere) Philosophie fundamentale
Unterscheidung zwischen „Sinn" und „Bedeutung" eingeführt hat, wobei
bekannt ist, daß der Ausdruck ,Bedeutung' von Frege auf ganz eigenwillige
Weise verwendet wird. Hinzu kommt, daß im allgemeinen der Ausdruck
.Bedeutung' hoffnungslos vage und unbestimmt ist. Aus diesem Grund soll
in der Formulierung des KTP, die den folgenden systematischen Ausfüh-
rungen zugrunde gelegt wird, anstelle von ,Bedeutung' der Ausdruck ,se-
mantischer Wert' verwendet werden. Letzterer Ausdruck ist einerseits sehr
geeignet, da er die semantische Grundaufgabe anspricht, andererseits ist er
neutral. Das KTP erhält dementsprechend folgende Formulierung:
(KTP) Nur im Zusammenhang eines Satzes haben sprachliche Ausdrücke einen
semantischen Wert. 1 5
[1] Eine Deutung und Klärung des KTP kann am besten durch einen
Vergleich mit einem anderen Prinzip erreicht werden, das oft als Grund-
prinzip der Semantik seit Frege angesehen wird und mit dem das KTP, wie
zu zeigen ist, bei den meisten Autoren in einer Art ungeklärter Symbiose
koexistiert; gemeint ist das Kompositionalitätsprinzip (oder auch: Kompositions-
15 Daß die dem Kontextprinzip zugrunde liegende Idee weder auf Frege noch auch
auf die abendländische philosophische Denktradition eingeschränkt werden kann,
ist zu ersehen aus Matilal/Sen [1988].
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3.3 Der semantisch-ontologische Grundansatz 143
Kompositionalität wird hier allerdings explizit nur auf der Ebene der Sätze
bestimmt. Eine Formulierung des KPP, die sich auf alle (komplexen) Aus-
drücke erstreckt, wird von T. Bürge Frege zugeschrieben, und zwar in zwei
Varianten:
(KPP FB ) „(1) The denotation of a complete expression is functionally dependent only
on the denotations of its logically relevant component expressions.
(2) The sense of a complex expression is functionally dependent only on the
senses of its logically relevant component expressions." 18
Wie verhalten sich KPP und KTP zueinander? Besagen sie dasselbe? Oder
sind sie nur miteinander kompatibel? Oder ergänzen sie sich gegenseitig?
Oder schließen sie sich gegenseitig aus? In den vorhergehenden Kapiteln
war von beiden Prinzipien oft die Rede; dabei wurde angenommen, daß sie
miteinander unverträglich sind. Trifft das zu? Eine genaue Prüfung erfordert
wichtige Differenzierungen.
16
.Kompositionalitätsprinzip' scheint der am häufigsten vorkommende Ausdruck zu
sein. .Kompositionsprinzip' (.Composition Principle') wird beispielsweise von
Bürge [1986] und ,Komponentialitätsprinzp' (,Componentiality Principle') von
Appiah [1987] verwendet.
17
Schiffer [1987] S. 179.
18
Bürge [1986] S. 99.
19
Ebd.
20
Der Fregesche Ausdruck .Bedeutung' wird von T. Bürge im Englischen mit
.denotation' wiedergegeben.
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144 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
[2] Die Auffassung der Autoren, die beide Prinzipien annehmen, ist nicht
ganz klar. Es scheint, daß sie folgende These vertreten: KPP und KTP
schließen sich nicht gegenseitig aus; vielmehr stellt das KTP eine bestimmte
Variante und Spezifikation des KPP dar.
Um hier klar zu sehen, muß man zwei Gesichtspunkte unterscheiden: (i)
die Frage nach der semantischen Strukturiertheit eines sprachlichen Aus-
drucks und (ii) die Frage, welchem Ausdruck der Primat (d. h. die Eigen-
schaft, die zentrale, alles andere bestimmende „Sinneinheit" zu sein) zuzu-
sprechen ist. Hinsichtlich des Gesichtspunktes (ii) kann man an mehrere
sprachliche Ausgangspunkte denken, vor allem an die vier folgenden: sin-
gulare Terme, Kennzeichnungen (.dasjenige x, so daß ...x...'), Sätze, die
ganze Sprache. Gibt man jeweils einem dieser Ausgangspunkte den Primat
im obigen Sinne, so erhält man vier verschiedene semantische Richtungen:
die erste situiert die primäre sprachliche Einheit auf der Ebene des Terms,
die zweite auf der Ebene der Kennzeichnung, die dritte auf der Ebene des
Satzes, die vierte auf der holistischen Ebene der Sprache als ganzer. Die
dritte und die vierte müssen sich nicht unbedingt ausschließen, da die Sprache
als ganze als die Totalität der Sätze aufgefaßt werden kann. Wohl aber sind
die erste und die zweite Position weder mit der dritten noch mit der vierten
(wenn diese die dritte einschließt) in irgendeiner Weise kompatibel.
Der dem KPP zugrundeliegende Gesichtspunkt ist Gesichtspunkt (i), also
die semantische Strukturiertheit sprachlicher Ausdrücke. Nimmt man das
KPP an, so heißt das, daß man allen komplexen sprachlichen Ausdrücken
eine kompositionale semantische Strukturiertheit zuschreibt, und zwar sowohl
auf der subsententialen Ebene als auch auf der Ebene des (einzelnen) Satzes
sowie auf der supersententialen Ebene (d. h. auf der Ebene eines aus Sätzen
bestehenden Sprachsystems). Dementsprechend wären ebensoviele verschie-
dene „Gestalten" des KPP zu unterscheiden, wie es Kategorien komplexer
sprachlicher Ausdrücke gibt. Hingegen ist der Gesichtspunkt, dem das KTP
gerecht zu werden versucht, Gesichtspunkt (ii), also der semantische Primat
hinsichtlich der verschiedenen Kategorien sprachlicher Ausdrücke. Das KPP,
in der artikulierten Form, macht faktisch eine Aussage über eine bestimmte
Art und Weise, nämlich die kompositionale, wie die semantische Struktu-
riertheit des Satzes aufgefaßt werden soll. Aber als solches beinhaltet das KPP
in keiner Weise die These, daß der semantische Primat dem Satz zukommt.
Diesbezüglich ist das KPP völlig neutral. Auch wenn man subsententialen
Ausdrücken den semantischen Primat zuspricht, kann man die Strukturiert-
heit des Satzes kompositional deuten („kann" heißt hier: beide Auffassungen,
so wie sie sich bisher darstellen, widersprechen sich nicht). Umgekehrt macht
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3.3 Der semantisch-ontologische Grundansatz 145
das KTP, allgemein aufgefaßt, eine Aussage über den semantischen Primat
des Satzes, ohne im geringsten die Frage der Strukturiertheit des Satzes zu
tangieren.
Es ist ersichtlich, daß es durchaus möglich ist, sowohl das KPP als auch
das KTP, zu vertreten — sofern man die beiden genannten Gesichtspunkte
nicht näher bestimmt, d. h. sofern man nicht die Frage stellt und zu klären
versucht, wie sie sich zueinander verhalten. Darüber hinaus ist es verständ-
lich, daß viele Autoren sich nicht mit der Aufstellung des KPP begnügen,
da sie merken, daß damit dem anderen Gesichtspunkt nicht Rechnung
getragen wird. Das Ergebnis ist eine eigenartige Symbiose oder Koexistenz
der beiden Prinzipien. Dies scheint die Position von M. Dummett 21 ,
T. Bürge 22 , N. Tennant 23 u. a. zu sein.
Was geschieht aber, wenn man die beiden genannten Gesichtspunkte
zueinander in Beziehung setzt? Es ergibt sich eine nähere Bestimmung der
beiden Prinzipien. Im folgenden soll die These vertreten und begründet
werden, daß das KPP und das KTP, wenn man sie näher bestimmt, miteinander
inkompatibel sind. Daß man sie aber näher bestimmen muß, kann begründet
werden.
[3] Der erste Schritt wird durch den Aufweis getan, daß das KTP, so wie
es bisher formuliert wurde, keine Strukturiertheit des Satzes artikuliert und
daß es aus diesem Grunde rein abstrakt im negativen Sinne des Wortes, d. h.
wenigsagend ist. Ohne die explizite Angabe oder die implizite Voraussetzung
der Strukturiertheit des Satzes ist es nicht zu verstehen, was es überhaupt
heißen kann oder soll, daß dem Satz der semantische Primat zukommt.
Denn es ist sofort zu fragen: „Satz" in welchem Sinne, wie aufgefaßt, d. h.
mit welcher Strukturiertheit ausgestattet?
21
Vgl. Dummett [1981 a] S. 4:
„Frege's account... would be expressed in this way: that in the order of explanation
the sense of a sentence is primary, but in the order of recognition the sense of a
word is primary."
22
Vgl. Bürge [1986], bes. S. 99, 1 0 0 - 1 0 5 , 1 0 8 - 1 1 0 , 124, 126.
23
Vgl. Tennant [1987] S. 4 f., 23, 30 —45 u. ö. Als Fazit seiner Überlegungen zu den
beiden Prinzipien schreibt Tennant, einer der Hauptverfechter der genannten
Symbiose:
„These considerations leave us... with Sentence and Name as basic categories..."
(a. a. O. S. 45).
Was bleibt noch vom KTP übrig, wenn auch der Name als basale (Sprach-)-
Kategorie angesehen wird?
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146 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
Der qweite Argumentationsschritt ist rein negativ: die von der These vom
semantischen Primat des Satzes implizierte semantische Strukturiertheit kann
nicht kompositional konzipiert werden. (Wenn hier das Wort .kompositional'
verwendet wird, so ist es immer im Sinne des KPP, also im Sinne einer
funktional bestimmten Kompositionalität, zu verstehen. Es ist klar, daß das
Wort .kompositional' in der philosophischen Literatur auch anders verstan-
den und gedeutet wird.) Die Begründung dieser These kann folgendermaßen
erbracht werden: Der semantische Wert des kompositional strukturierten
Satzes setzt die semantischen Werte der Satzkomponenten als schon gegeben
oder bestimmt voraus; diesen, und nicht dem Satz, wird daher der seman-
tische Primat zugeschrieben. Die Kompositionalität des Satzes im Sinne des
KPP wird als der Wert einer Funktion verstanden, wobei die semantischen
Werte der Satzkomponenten als die Argumente dieser Funktion aufgefaßt
werden. Nun ist es klar, daß die Argumente einer Funktion als im voraus zu
und unabhängig von dem Wert der Funktion gegeben und bestimmt anzuneh-
men sind. Wird daher die Strukturiertheit, und damit der semantische Wert,
des Satzes kompositional erklärt, so folgt daraus, daß die semantischen Werte
der Satzkomponenten im voraus zu und unabhängig von ihrem Vorkommen
in einem Satz gegeben und bestimmt sind (bzw. sein müssen). Das KPP
setzt daher voraus, daß der semantische Wert des singulären Terms und des
Prädikats im voraus zu und unabhängig von ihrem Auftreten in einem Satz
gegeben und bestimmt ist. Dies steht aber in direktem Widerspruch zu dem
Prinzip, demzufolge sprachliche Ausdrücke nur im Zusammenhang eines Satzes
einen semantischen Wert haben, d. h. zum KTP.
Dieser Sachverhalt kann am vielleicht bekanntesten Beispiel einer funk-
tionalen Kompositionalität illustriert werden: der wahrheitsfunktionalen Kom-
positionalität. Die funktoren sind wahrheitsfunktionale Operatoren, d. h. sie
sind jene aussagenlogischen Konstanten, die das besondere Merkmal haben,
den Wahrheitswert einer komplexen Aussage rein (funktional-)kompositional
festzulegen: den als gegeben und bestimmt vorausgesetzten Wahrheitswerten
der (einzelnen 24 ) Aussagen wird ein Wahrheitswert der (zusammengesetzten)
Aussage zugeordnet. Die Junktoren repräsentieren solche Zuordnungen und
als solche sind sie Funktionen von Wahrheitswerten (der „einzelnen" Aus-
sagen) in Wahrheitswerte (der „komplexen" Aussagen). Es ist klar, daß die
Wahrheitswerte der „einzelnen" Aussagen als (in welcher Weise auch immer)
schon gegeben und bestimmt vorausgesetzt werden. In einer bestimmten
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3.3 Der semantisch-ontologische Grundansatz 147
Hinsicht ist dieses Beispiel nicht nur illustrativ, sondern höchst aufschluß-
reich. Die wahrheitsfunktionale Kompositionalität betrifft komplexe Sät^e, also
Sätze, deren Komponenten ebenfalls Sätze sind. Angewandt auf diese Ebene
steht das KPP nicht im Widerspruch zum KTP, zumindest wie letzteres
bisher formuliert wurde. (Ob gemäß der Version des KTP, die im nächsten
Abschnitt als die holistische bezeichnet wird, Inkompatibilitäten entstehen,
soll hier offen bleiben.) Bei der Erklärung der Strukturiertheit des einzelnen
Satzes und seiner Komponenten im Sinne einer funktionalen Kompositio-
nalität scheinen sich manche Autoren vom wahrheitsfunktionalen Modell in-
spirieren zu lassen. Die Berechtigung einer solchen Übertragung eines Mo-
dells von einer Kategorie von sprachlichen Ausdrücken auf eine andere
Kategorie darf aber nicht vorausgesetzt werden; sie müßte eigens aufgewie-
sen werden. Es ist aber nicht zu sehen, wie dies bewerkstelligt werden
könnte.
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148 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
„We know what it is for a name to stand for an object only by knowing
how to determine the truth-values of sentences containing the name, a piece
of knowledge which can be expressed in terms of that relation between
name and object. Sentences thus play a unique role in language." 25
25 Dummett [1981 a] S. 6.
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3.3 Der semantisch-ontologische Grundansatz 149
[ii] Es ist symptomatisch, daß Autoren, die eine solche Deutung vertreten,
zu sehr problematischen Theorien gelangen, die man sowohl als Grund als
auch als Folge der genannten Deutung verstehen kann. Ein beredtes Beispiel
ist D. Davidson. In seinem Aufsatz „Realität ohne Referenz" 26 unterscheidet
er zwei „Ansätze" oder „Methoden" hinsichtlich einer Theorie der „Bedeu-
tung": die „Bausteine-Methode" und die „holistische Methode". Diese bei-
den Methoden entsprechen dem KPP bzw. dem KTP. Nun ergibt sich nach
Davidson folgendes „Paradox der Referenz" 27 : Folgt man dem KPP, so zeigt
sich einerseits, daß wir Referenz benötigen, und andererseits, daß wir nicht
in der Lage sind, mit Hilfe ursprünglicherer Begriffe Referenz zu erklären
oder zu analysieren. Bejaht man das KTP, so erweist sich dieses nach
Davidson als unfähig, eine vollständige Erklärung der semantischen Merk-
male der Satzkomponenten zu geben. Ihm zufolge sollte eine empirische
Theorie der Bedeutung die Referenz der Teilkomponenten des Satzes auf-
geben und sich nur auf die auf der empirischen Evidenz beruhenden Wahr-
heitsbedingungen stützen. Auf diese Weise und in diesem Sinne wird dem
Satz der Primat zugesprochen. Was aber eigentlich „Wahrheitsbedingungen"
sind, bleibt völlig im Dunkeln. Davidson hilft sich damit, daß er den
Wahrheitsbegriff als „primitiven" Begriff nimmt. Es dürfte kaum einleuch-
ten, daß eine derart eingeschränkte Deutung des KTP plausibel ist.
Der Grundgedanke, der dieser Version des KTP zugrundeliegt, wird von
Wallace so angegeben:
„We may regard the concept of truth of closed sentences as being known in
advance, and regard a set of semantical rules as being a correct definition of
.denote' and ,have values' if its projections of truth values conform to what
is known. A definition of .denote' and .have values' thus distinguished
cannot properly be said to belong to theoretical syntax, yet its semantical
content is not self-generated but is totally derived from the semantical
concept of truth. As I understand Frege's principle [i. e., the context prin-
ciple, L. B. P.], it tells us that this is all the semantical content concepts of
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150 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
denoting and of having values can properly have. The consequence is,...,
that many extensionally distinct concepts of denoting and having values
have the same semantical content. From this point of view, the semantical
concepts of denoting and having values are ambiguous or underdetermi-
ned..." 30
Wesentlich für diese Version ist also die Prämisse, daß der Wahrheitsbegriff
ein primitiver Begriff ist. Eine weitere Prämisse, die Wallace ausführlich
herausarbeitet, ist die These, daß jedes Referenzschema dadurch transfor-
miert werden kann, daß dessen kontextabhängige und kontextunabhängige
Teile zueinander inversen Permutationen des Universums unterzogen wer-
den; das Ergebnis ist ein weiteres (neues) Referenzschema, das für alle Sätze
genau dieselben Wahrheitsbedingungen bestimmt wie das erste (ursprüng-
liche) Referenzschema.
Dieses Argument und seine Prämissen basieren wesentlich auf der An-
nahme, daß der „Referent" des Satzes der Wahrheitswert ist. Wallace drückt
diese These so aus.:
,,[W]e think of a prepositional function of one argument as a function
which maps objects into truth values...". 31
Auf diese These soll unten (Abschnitt 3.4.2) ausführlich eingegangen werden.
Wallace bemerkt, daß sein Argument nicht als Beweis für die These ange-
sehen werden kann, eine Erklärung des Wahrheitsbegriffs sei unmöglich.
Interessanterweise nennt er zwei „traditionelle" Ansätze, die dieses Ziel
verfolgen. Ein (besonders von Peirce und sogar Tarski [1969]) anvisierter
Ansatz versucht, Wahrheit als ein Ideal, nach welchem die Forschung strebt,
zu begreifen. Ein anderer Ansatz wird von Wallace so charakterisiert.
„[Another] traditional approach to explaining what truth is goes by way of
the notion of reference. The correspondence of sentences to reality is a
resultant of the more basic relations which terms bear to pieces of reality.
A philosopher who takes this approach will hope to block the argument by
coming up with a deeper account of reference than we have been able to
find."32
Es wird hier deutlich, daß das „Verhältnis" von Sprache und Realität
grundsätzlich auf der Ebene des singulären Terms (des Namens) festgemacht
wird. Die Frage ist allerdings, ob nicht andere Alternativen denkbar und
durchführbar sind, ζ. B. die im vorliegenden Werk entwickelte Konzeption,
30 A. a. O. S. 313.
31 A . a . O . S. 311.
32 A. a. O. S. 324.
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3.3 Der semantisch-ontologische Grundansatz 151
[iv] Eine weitere Variante einer einfachen Deutung des KTP basiert auf der
Annahme, daß der semantische Wert sprachlicher Ausdrücke an deren Vor-
kommen in einem Sat% überhaupt, und nicht speziell an die Wahrheitsbedin-
gungen des Satzes, gebunden wird. Demnach würde ein singulärer Term
nur dann einen semantischen Wert (einen Referenten) haben, wenn eine
Prädikation überhaupt vorgenommen, d. h. wenn dem Objekt (Referenten)
ein Attribut zugesprochen würde; außerhalb eines solchen Prädikationskon-
textes wäre es sinnlos, nach dem semantischen Wert (dem Referenten) des
singulären Terms zu fragen. Dazu ist zu sagen, daß diese Variante nicht
eindeutig ist, da es nicht klar ist, wie die Prädikation vonstatten gehen soll.
Zwei völlig entgegengesetzte Antworten scheinen möglich zu sein.
Erstens: die Prädikation wird so vorgenommen, daß der Referent des
singulären Terms im voraus für die Zuschreibung eines Attributs identifiziert
wird. Eine solche Deutung entspricht unserer gewöhnlichen Intuition: um
einem X ein Attribut zusprechen zu können, muß man schon wissen, was
mit ,X' „gemeint" ist; sonst wäre eine Prädikation nicht mehr verständlich.
Dies würde aber bedeuten, daß der semantische Wert des singulären Terms
im voraus zu und unabhängig von seinem Vorkommen in einem Satz
gegeben und bestimmt wäre, was einer direkten Verwerfung des KTP
gleichkäme. Man könnte diese Deutung dadurch zu retten versuchen, daß
man sagt, die erforderliche Identifikation des Referenten eines singulären
Terms erfolge durch die (zumindest implizit vorauszusetzende) Bildung eines
Identitätssatyes, in dem der singulare Term links und rechts des Identitäts-
zeichens erscheint. Dieser interessante Ausweg aus der Schwierigkeit schei-
tert aber daran, daß hinsichtlich des Identitätssatzes selbst dieselbe Frage
wiederkehrt: Wie ist die Identitätsprädikation überhaupt möglich? Gemäß
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152 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
der zur Diskussion stehenden Deutung der Prädikation setzt die Zuschrei-
bung des Identitätsattributs zu einem Objekt voraus, daß das Objekt %uvor
identifiziert wurde.
Zweitens: die Prädikation wird so vorgenommen bzw. verstanden, daß die
Identifikation des Referenten eines singulären Terms nicht außerhalb, sondern
streng innerhalb eines Satzzusammenhangs erfolgt. Aber wie ist eine solche
Prädikation überhaupt zu erklären? Die Antwort kann nur lauten: indem
der singuläre Term bzw. sein semantischer Wert streng vom Sat^ her begriffen
wird. Dies wiederum kann nur so gedacht werden, daß der singuläre Term
sich als ein verkürzter komplexer Sat% herausstellt, als eine Abbreviation einer
Anzahl von (einfachen) Sätzen. Dementsprechend wäre der semantische
Wert des singulären Terms, der sog. Referent, als der komplexe semantische
Wert eines verkürzten komplexen Satzes zu verstehen. Wie in diesem Fall
die Prädikation neu zu bestimmen ist, dafür wird unten im Abschnitt 3.5.4.2.2
[4] ein Beispiel erörtert. Nennt man den (direkten und unmittelbaren)
semantischen Wert eines Satzes eine Proposition, so heißt das, daß der
„Referent" des singulären Terms eine komplexe Proposition ist. Doch damit
wird schon manches vorweggenommen, was im einzelnen und allmählich
zu entwickeln sein wird. Im nächsten Unterabschnitt (3.3.3) wird dieser
zentrale Gedanke als der Gehalt der starken „molekularen" Version des
KTP näher erläutert. Angesichts der Komplexität der Thematik und der
verworrenen Diskussionslage dürfte es nicht als sinnlos erscheinen, wenn
dieser gänzlich neue Ansatz erst nach und nach erarbeitet und von vielen
Seiten her beleuchtet wird. Gewisse Wiederholungen lassen sich dabei nicht
ganz vermeiden.
[5] Die obigen Ausführungen haben gezeigt, daß die große Aufgabe hin-
sichtlich einer strengen Deutung des KTP darin besteht, den diesem Prinzip
angemessenen semantischen Status des Satzes aufzuzeigen. Den semantischen
Status des Satzes aufzeigen, heißt, den vielfaltigen semantischen Wert, ganz
besonders (und hier vorerst: ausschließlich) den direkten oder semantisch-
informationalen Wert, des Satzes herauszuarbeiten. Um die eigentliche Auf-
gabe möglichst genau zu charakterisieren, soll noch ein weiterer vorberei-
tender Schritt unternommen werden. Dabei ist vorerst gleichgültig, welche
Bezeichnung man für den (direkten) semantischen Wert des Satzes verwendet
(etwa ,Gedanke', proposition'/,Proposition' .Sachverhalt' usw.).
Der Unterschied zwischen dem „kompositionalen" (im Sinne des KPP)
und dem „kontextualen" (im Sinne des KTP) Status des Satzes hinsichtlich
seines (direkten) semantischen Wertes läßt sich durch die Erörterung zweier
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3.3 Der semantisch-ontologische Grundansatz 153
Zum PPA:
„Die Leistungen der Sprache sind wunderbar. Mittels weniger Laute und
Lautverbindungen ist sie imstande, ungeheuer viele Gedanken auszudrük-
ken... Wodurch werden diese Leistungen möglich? Dadurch, daß die Ge-
danken aus Gedankenbausteinen aufgebaut werden. Und diese Bausteine
entsprechen Lautgruppen, aus denen der Satz aufgebaut wird, der den
Gedanken ausdrückt, sodass dem Aufbau des Satzes aus Satzteilen der
Aufbau des Gedankens aus Gedankenteilen entspricht." 33
Zum PPK:
„Ich gehe...nicht von den Begriffen aus und setze aus ihnen den Gedanken
oder das Urteil zusammen, sondern ich gewinne die Gedankenteile durch
Zerfallung des Gedankens." 34
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154 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
gentlichen oder engeren Sinne (also nicht alles, was irgendwie als ein ,Ganzes'
bezeichnet wird) mehr ist als die Summe seiner Teile, dürfte schwer zu
bestreiten sein, (ii) Der konkrete Nachweis des so verstandenen Ganzheits-
charakters einer (qualifizierten) Konfiguration, hier: des Satzes, müßte ex-
plizit erbracht, nicht nur irgendwie postuliert oder nur angesprochen werden.
Aus (i) und (ii) folgt, daß man zwar durch „Zerfallung" eines holistisch
aufgefaßten Komplexes zu den Teilen gelangen, daß man aber die holistisch
aufgefaßte Konfiguration durch Zusammensetzung der Teile qua Bausteine
nicht aufbauen kann. Es mag immer noch scheinen, daß diese Aussagen nur
rein abstrakte begriffliche Unterscheidungen ohne nennenswerten theoreti-
schen Erklärungswert darstellen. Dazu ist zu sagen, daß auch nur der
Anschein einer Berechtigung eines solchen Einwandes eindeutig ausge-
schlossen werden kann, und zwar durch die Angabe eines klaren Kriteriums
für den theoretischen Erklärungswert des behaupteten strengen Gegensatzes
von PPA und PPK. Es handelt sich um das folgende Kriterium: die kon-
sequent durchgeführte Annahme jeweils eines der Prinzipien PPA bzw. PPK
ergibt ganz verschiedene „Erklärungen" („Interpretationen") des Satzes,
seines Status, seiner Komponenten und seines semantischen Wertes. Gerade
dies ist in den nächsten Abschnitten zu leisten. Umgekehrt ist zu sagen, daß
falls bei Zugrundelegung von PPA bzw. PPK sich keine wesentlich ver-
schiedene Deutung des Satzes und seines semantischen Wertes ergibt, dies
eine deutliche Anzeige dafür ist, daß die beiden Prinzipien PPK und PPA
sich nicht wesentlich, sondern nur perspektivisch unterscheiden.
Wenn in diesem Zusammenhang die oft anzutreffende Formulierung ,Der
semantische Wert des einzelnen sprachlichen Ausdrucks besteht in dem
Beitrag, den er zum semantischen Wert des Satzes leistet' verwendet wird,
so kann gezeigt werden, daß diese Formulierung zweideutig ist. Der Aus-
druck .Beitrag' kann nämlich mindestens in qvei völlig verschiedenen Be-
deutungen verstanden werden. Erstens kann der fragliche Beitrag so ver-
standen werden, daß vom Satz als ganzem ausgegangen und nach seiner
inneren Struktur gefragt wird. Hier steht der Satz als solcher im Vordergrund
und diejenigen Elemente, die einen Beitrag zur vollen Bestimmtheit des
Satzes leisten, sind Teile des Satzes im eigentlichen Sinne, d. h. in Entspre-
chung zum berühmten Prinzip: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner
Teile". In dieser Perspektive kann bzw. muß man sagen: Wenn man die
Satzkomponenten im angegebenen (strengen) Sinne als Teile des Satzes als
des Ganzen auffaßt, dann ist die Formulierung ,die einzelnen Wörter haben
einen semantischen Wert nur insofern sie einen Beitrag zum semantischen
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3.3 Der semantisch-ontologische Grundansatz 155
Wert des Satzes als eines Ganzen darstellen' eine der Formulierungen einer
starken Version des KTP. Der „Beitrag" der Satzkomponenten wird hier im
strengen Sinne vom Satz als ganzem her bestimmt. Einen semantischen Wert
des Einzelnamens bzw. des Prädikats, der sich nicht vom Satz als ganzem
herleitet, gibt es dann nicht. Kurz: was der Teil, in diesem Fall: der seman-
tische Wert der Satzkomponenten, ist, ist nicht isolierbar vom Satz als
ganzem. Dieser Einsicht ist nicht dadurch Genüge getan, daß man sagt, der
Satz habe eine „innere Struktur", und dies so versteht, daß man den Satz
als ganzen irgendwie abstrakt nimmt und davon die ebenfalls abstrakt
aufgefaßten Satzkonstituenten als „Teile" unterscheidet. Dies wäre ein völlig
äußeres und abstraktes Verhältnis zwischen dem Satz als ganzem und den
Satzkonstituenten als Teilen.
Zweitens: Man geht von (den) einzelnen Elementen aus und arbeitet deren
„Bestimmtheit" dadurch heraus, daß man sie in Beziehung zu einem Ganzen
in dem Sinne setzt, daß dieses Ganze sich aus der Bestimmtheit der einzelnen
Elemente ergibt. Auch wenn man die einzelnen Elemente „im Hinblick"
auf das Ganze bestimmt, es bleibt bestehen, daß das Ganze zwar angenom-
men wird, aber doch einen eindeutig sekundären bzw. abgeleiteten Charakter
hat. Hier gilt nicht mehr: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile".
Hier gilt ein anderes Modell, ζ. B. das Funktion-Wert-Modell. 35 Das KPP
basiert auf diesem Modell.
Nach allen diesen Ausführungen kann immer noch nicht gesagt werden,
es sei klar, was es bedeutet, den semantischen Wert sprachlicher Ausdrücke
vom Satz als einem Ganzen her zu bestimmen. Auch das Prinzip vom Primat
der Konfiguration hat einen nur begrenzten Erklärungswert, solange nicht
im einzelnen gezeigt wird, was unter einer solchen Konfiguration genau zu
verstehen ist. Dies wird die Aufgabe insbesondere des Abschnitts 3.5 sein.
35 Vgl. dazu Dummett [1984] S. 220. Dummett arbeitet bei Frege zwei verschiedene
Modelle heraus: das Teil-Ganzes-Modell für den (Fregeschen) „Sinn" und das
Funktion-Wert-Modell für die (Fregesche) „Bedeutung". Dummett selbst hält diese
Modelle für miteinander unverträglich (vgl. a. a. O.), deren Anwendung aber auf
„Sinn" bzw. „Bedeutung" für durchaus konsistent. Aber dies scheint nicht der
Fall sein zu können, da nach Dummetts Frege-Interpretation der Sinn die Bedeu-
tung bestimmt, ist doch der Sinn nichts anderes als die Weise, in der die Bedeutung
gegeben ist. Wird ein so enges „Verhältnis" zwischen Sinn und Bedeutung ange-
nommen, so dürfte schwer einzusehen sein, daß und wie die Strukturiertheit dieser
beiden Arten von Entitäten von zwei sich gegenseitig ausschließenden Modellen
her erklärt werden kann.
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156 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
Diese starke Version ist vorerst nur Programm. In den nächsten Abschnitten
soll dieses Programm teilweise durchgeführt und damit der mit der For-
mulierung der starken Version verbundene Anspruch grundsätzlich eingelöst
werden.
(KTP M ) ( = molekulare Version des Kontextprinzips): In der Formulierung ,ΚΤΡ*
bezeichnet der Ausdruck ,Satz* den einzelnen (atomaren, nicht-komplexen)
Satz und der Ausdruck .sprachliche Ausdrücke' ausschließlich die subsen-
tentialen sprachlichen Ausdrücke.
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3.3 Der semantisch-ontologische Grundansatz 157
[2] Worum geht es bei der starken molekularen Version des KTP? Es sei
zunächst nur der Grundgedanke gan2 allgemein angedeutet (in den Abschnitten
3.4 und 3.5 wird er im einzelnen durchgeführt). Es geht darum, dem Satz
nicht nur in einem weiten Sinne den Primat zuzuschreiben, sondern insbe-
sondere darum, den Satz als eine ganzheitliche Konfiguration zu verstehen,
von welcher her die subsententialen Komponenten allererst und ausschließ-
lich verstanden und erklärt werden. Der allgemeine und grundlegende
Gedanke läßt sich allgemein intuitiv so angeben: Der Satz als ganzheitliche
Konfiguration ist nur dann adäquat erklärt, wenn er als jenes Sprachgebilde
genommen wird, das eine Proposition (Proposition) in einem ganz bestimm-
ten (und völlig neuen) Sinne ausdrückt. 36 Daraus ergibt sich, daß gemäß
der starken molekularen Version des Kontextprinzips die subsententialen
Elemente (singulärer Term und Prädikat) propositional (im anvisierten
neuen Sinne) erklärt werden müssen. Dazu reicht es nicht aus, mit den
Vertretern der sog. Direkten Theorie der Referenz als den semantischen
Wert des singulären Terms das (reale) Objekt und als semantischen Wert des
Prädikats das Attribut anzusehen und eine Konfiguration beider als „sin-
guläre Proposition" auszugeben. 37 Ein solches Verfahren deutet die subsen-
tentialen Elemente nicht propositional, sondern setzt sie — in welcher Weise
auch immer — voraus, um mit ihnen allererst eine Proposition zu bilden.
Das KTP erfordert aber eine noch radikalere Erklärung der subsententialen
Komponenten bzw. der ihnen zuzuordnenden semantischen Werte. Der
singulare Term muß in einem bestimmten Sinne eliminiert werden, in dem
Sinne nämlich, daß er nicht mehr unabhängig vom Satz oder als ein Baustein,
der qua Baustein seine Bestimmtheit im voraus zum Satz hat, angesehen
wird. (Auf Quines Verfahren der Elimination der singulären Terme soll
ausführlich im Abschnitt 3.5.2.3 eingegangen werden.)
Wenn die subsententialen Elemente wirklich radikal vom Satz her gedeutet
werden, so verschwinden sie als traditionell verstandener singulärer Term
und traditionell verstandenes Prädikat. Der semantische Wert des singulären
Terms stellt sich dann heraus als ein komplexer propositionaler Wert, d. h.
als ein Wert, der aus Propositionen besteht. Es wird sofort klar, daß
,Proposition' hier nicht einfach etwa ,singuläre Proposition' im Sinne
D. Kaplans u. a. meinen kann. Wie sich zeigen wird, muß hier eine grund-
legende Unterscheidung zwischen .primärer' oder .einfacher Proposition'
und ,sekundärer' oder ,komplexer Proposition' eingeführt werden. Die
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158 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
These, daß der semantische Wert des singulären Terms propositional ist,
ist vorläufig dahingehend zu präzisieren, daß dieser Wert ein sekundärer Wert
im Sinne einer Konfiguration von einfachen oder primären Propositionen
ist. „Singulärer Term" ist daher alles andere als ein einfacher, atomarer
Ausdruck; vielmehr ist er als ein elliptischer oder verkürzter Satz oder als
die Abbreviatur eines Satzes aufzufassen. Entsprechend ist der sog. „Refe-
rent" des singulären Terms, das „Objekt" („Individuum"), als eine Konfi-
guration von primären oder einfachen Propositionen aufzufassen. Diese
Konzeption stellt eine streng konsequente Weiterführung der mehr oder
weniger nur aus intuitiven Gründen von B. Russell u. a. vertretenen „Bün-
deltheorie" des Individuums dar. Entsprechend wird auch das Prädikat
gedeutet.
Dies ist nur eine ganz global-allgemeine Angabe des Grundgedankens,
der der starken molekularen Version des Kontextprinzips zugrunde liegt. In
den nächsten Abschnitten ist diese Konzeption im einzelnen durchzuführen
und zu begründen.
Bleibt man bei einem vagen (und inkohärenten) Verständnis des KTP stehen,
so dürfte dessen Annahme kaum auf Ablehnung stoßen. Gibt man aber
diesem Prinzip eine präzise Deutung, vor allem: versteht man es gemäß der
kurz skizzierten starken Version, so erscheint es als nicht ohne weiteres
einsichtig. Nicht wenige Autoren lehnen es ab. So behauptet beispielsweise
Max Black, das Prinzip sei „kaum verständlich [barely intelligible]". 38 Und
Peter Geacb hält das KTP für „sicher falsch":
„The view put forward by Frege and Wittgenstein, that it is only in the
context of a sentence that a name stands for something, seems to me to be
certainly wrong." 3 9
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3.3 Der semantisch-ontologische Grundansatz 159
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160 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
des semantischen Wertes des singulären Terms bzw. des Prädikats näher
begründet werden? Der Einfachheit halber sei hier davon ausgegangen, daß
zwei konkurrierende Erklärungen des genannten Zusammenhangs, d. h. des
Zusammenhangs zwischen einerseits den Akten des Referierens-auf und des
Charakterisierens und andererseits dem Akt des Behauptens, denkbar sind;
diese alternativen Erklärungen haben zur Grundlage in einem Fall das
Kompositionalitätsprin^ip (KPP) und im anderen Fall das Kontextprin^ip
(KTP). Der Nachweis der Unhaltbarkeit der ersten Erklärung wäre damit
gleichzeitig die Begründung für die Richtigkeit der zweiten Erklärung.
[i] Die Erklärung im Sinne des KPP lautet: Die Sprechakte des Referierens-
auf und des Charakterisierens sind primär, während der Sprechakt des
Behauptens sekundär ist, da er nichts anderes ist als eine Funktion der
Sprechakte des Referierens-auf und des Charakterisierens; entsprechend: der
semantische Wert des Satzes ist funktional abhängig von den semantischen
Werten des singulären Terms und des Prädikats. Hier wird also das Schema
Funktion-Argument-Wert verwendet. Aber dieses Schema setzt voraus, daß
die Argumente der Funktion, in diesem Fall: die Sprechakte des Referierens-
auf und des Charakterisierens, schon bestimmt, gegeben und damit vollständig
sein müssen, um den Wert der Funktion zu ergeben. Damit kann dem
Sprechakt des Behauptens keine primäre Rolle mehr zugewiesen werden.
Diese Erklärung scheint offensichtlich falsch zu sein; denn das Behaupten
hat einen gegenüber dem Referieren-auf und dem Charakterisieren beson-
deren, einmaligen, übergeordneten Stellenwert, der auf den Wert einer
Funktion mit den Argumenten Referieren-auf und Charakterisieren nicht re-
duzierbar erscheint. In der Tat beinhalten die Sprechakte des Referierens-
auf und des Charakterisierens eine Bezugnahme auf die Welt nur insofern
ihnen behauptende Kraft zugeschrieben werden kann, d. h. also insofern sie
durch den umfassenden (und damit primären) Akt des Behauptens „vermit-
telt" sind, insofern sie zum Vollzug dieses Aktes beitragen. Aber dies alles
können sie nur dann sein, wenn sie nicht als schon vollständige Bezugnahmen
auf die Welt betrachtet werden, denn in diesem Fall wären sie soz. „selbst-
genügsam". Jeder weitere Sprechakt wäre nur eine (letzten Endes nicht
mehr verständliche, weil überflüssige) Komposition dieser angeblich vollstän-
digen Sprechakte. Es zeigt sich also, daß der Sprechakt des Behauptens nicht
als von den Sprechakten des Referierens-auf und des Charakterisierens
funktional abhängig begriffen werden kann.
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3.4 Elemente einer Theotie des Satzes 161
3.4.1 Vorbemerkung
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162 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
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3.4 Elemente einet Theorie des Satzes 163
Auf die Konsequen2en der Theorie der Proposition für die Theorie des
Satzes soll am Ende des nächsten Abschnittes explizit hingewiesen werden.
(Es wird sich besonders um die Unterscheidung zwischen „primärem" oder
„einfachem" und „sekundärem" oder „komplexem" Satz handeln.)
[1] Wenige Thesen sind für die Entwicklung einer Theorie des Satzes so
wesentlich und aufschlußreich wie die auf Frege zurückgehende und weit
verbreitete These, derzufolge der Wahrheitswert der Referent des Satzes ist.
Bekanntlich hat Frege in seinem berühmten Aufsatz „Über Sinn und Be-
deutung" 1 die These aufgestellt, daß sowohl singuläre Terme als auch
Prädikate (Begriffsausdrücke) sowie Sätze nicht nur einen Sinn, sondern
auch eine „Bedeutung" (im Fregeschen Sinne, d. h. einen Referenten) haben.
Nach Frege wird der Sinn „ausgedrückt", die Bedeutung „bedeutet" oder
„bezeichnet". 2 Ihm zufolge ist der Sinn des Satzes der Gedanke, der Referent
des Satzes der Wahrheitswert. Was er darunter versteht, formuliert er so:
„Ich verstehe unter dem Wahrheitswert eines Satzes den Umstand, daß er
wahr oder falsch ist. Weitere Wahrheitswerte gibt es nicht. Ich nenne der
Kürze halber den einen das Wahre, den anderen das Falsche. Jeder Behaup-
tungssatz, in dem es auf die Bedeutung der Wörter ankommt, ist also als
Eigenname aufzufassen, und zwar ist seine Bedeutung, falls sie vorhanden
ist, entweder das Wahre oder das Falsche." 3
1 Frege [1892],
2 Vgl. a. a. O. S. 46.
3 Ebd.
4 Ebd.
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164 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
Diese Antwort leuchtet keineswegs ein, da sie eine positive Antwort auf die
von Frege selbst gestellte Frage schon voraussetzt. Der letzte Satz im Zitat
identifiziert die (als berechtigt schon vorausgesetzte) Bedeutung mit dem
Wahrheitswert. Andererseits kann man ohne weiteres die These vertreten,
es sei notwendig, daß es uns auf den Wahrheitswert des Satzes ankommt,
ohne im geringsten der anderen These beizupflichten, der Wahrheitswert sei
mit der Fregeschen Bedeutung zu identifizieren.
Zwei andere Aspekte der Fregeschen Überlegungen im Rahmen dieses
ersten Ansatzes seien kurz erörtert. Einige Sätze kurz vor der oben zitierten
Passage findet sich eine Formulierung, die als eine zumindest implizite
(Quasi-)Begründung der Frage, warum wir eine Bedeutung des Satzes an-
nehmen müssen, gelten kann. Es heißt dort:
„Daß wir uns überhaupt um die Bedeutung eines Satzteils bemühen, ist ein
Zeichen dafür, daß wir auch für den Satz selbst eine Bedeutung im allge-
meinen anerkennen und fordern." 5
Freilich ist dies keine strenge Begründung, sondern nur ein „Zeichen". Daß
es sich um ein sehr fragwürdiges „Zeichen" handelt, ergibt sich daraus, daß
aus Freges Feststellung, wir bemühten uns um die Bedeutung eines Satzteils,
gerade eine der Fregeschen entgegengesetzten Konsequenz gezogen werden
kann, die Konsequenz nämlich, man solle nicht nach einer Bedeutung des
Satzes suchen, da man sonst den Unterschied zwischen den sprachlichen
Kategorien (Satz — Satzteile) verwischen würde. Ob diese zweite oder
Freges Konsequenz die richtige ist, steht im Augenblick nicht zur Debatte.
Es sollte nur gezeigt werden, daß Freges „Begründung" für seine These
keineswegs einleuchtend ist.
Der andere Aspekt der Fregeschen Überlegungen ist das von ihm voraus-
gesetzte Kompositionalitätsprin^ip (hier auf der Ebene der Bedeutung in Freges
Sinn): die Bedeutung des Satzes ist funktional abhängig von den Bedeutun-
gen der Satzbestandteile. Dieses Prinzip wird hier in einer eigenartigen
Begründungsfunktion in Anspruch genommen, insofern es so etwas wie
eine basale Einsicht artikuliert:
„Wir haben gesehen, daß zu einem Satze immer dann eine Bedeutung zu
suchen ist, wenn es auf die Bedeutung der Bestandteile ankommt; und das
ist immer dann und nur dann der Fall, wenn wir nach dem Wahrheitswerte
fragen." 6
5 A. a. O. S. 47.
6 A. a. O. S. 48.
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3.4 Elemente einer Theorie des Satzes 165
Natürlich enthält auch dieses Zitat keine strenge Begründung der These,
daß wir eine Bedeutung des Satzes annehmen müssen.
Der ^weite Ansatz betrifft direkt die These, daß die Bedeutung des Satzes
mit dem Wahrheitswert des Satzes zu identifizieren ist. Hier wird also schon
vorausgesetzt, daß der Satz eine Bedeutung (im Fregeschen Sinne) hat bzw.
haben muß.
„Wenn unsere Vermutung richtig ist, daß die Bedeutung eines Satzes sein
Wahrheitswert ist, so muß dieser unverändert bleiben, wenn ein Satzteil
durch einen Ausdruck von derselben Bedeutung, aber anderem Sinne ersetzt
wird. Und das ist in der Tat der Fall. Leibni£ erklärt geradezu: ,Eadem sunt,
quae sibi mutuo substitui possunt, salva veritate.' Was sonst als der Wabrheits-
wert kannte auch gefunden werden, das ganz allgemein zu jedem Satze gehört,
bei dem überhaupt die Bedeutung der Bestandteile in Betracht kommt, was
bei einer Ersetzung der angegebenen Art unverändert bliebe?" 7
[2] Ungeachtet dieser schwachen Basis wurde die These, daß der Wahrheits-
wert der Referent des Satzes ist, allgemein angenommen und sie wird heute
von vielen Logikern und Semantikern als eine Art fraglose Prämisse vertre-
ten. Dabei ist folgender Umstand besonders zu beachten: bei Frege und
einigen anderen Logikern und Semantikern (wie ζ. B. A. Church, vgl. unten)
wird zwar der Wahrheitswert als der Referent des Satzes behauptet, aber
darin erschöpft sich nicht die von diesen Autoren vertretene Theorie des
Satzes, denn neben der Referenz (dem Referenten) wird auch ein „Sinn" des
Satzes angenommen, dem man verschiedene Bezeichnungen gibt: „Ge-
danke", „Proposition" usw. Aber andere Autoren verwerfen solche Entitäten
und vertreten dennoch die These, daß der Wahrheitswert der Referent des
Satzes ist. Dies hat eine kuriose Situation geschaffen; der Satz wurde
hinsichtlich seines semantischen Wertes immer mehr ausgehöhlt.
Im Jahre 1981 veröffentlichten ]. Barwise und J. Perry ihren bahnbrechen-
den Artikel „Semantic Innocence and Uncompromising Situations" 8 , in dem
sie die entstandene Lage im Bereich der Semantik, Logik und Ontologie
gründlich zu ändern versuchten. Sie bemühten sich, den unabdingbaren
Platz für die Entitäten aufzuweisen, die unter dem Einfluß der genannten
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166 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
[3] Bei Church kann man %wei Varianten des Arguments finden, eine äußerst
einfache in der Einleitung zu seinem Buch Introduction to Mathematical Logic16
und eine andere, eine sehr detaillierte und anspruchsvolle, in der oben
genannten Rezension. Zuerst sei die erste Variante dargelegt, die ohne einen
formalen Apparat auskommt.
Church geht von der These aus, daß Sätze Namen sind, also Ausdrücke,
die etwas „bezeichnen" ( = „denotieren [denote]"), und er stützt sich auf
das Prinzip, daß Namen mit derselben Denotation füreinander ausgetauscht
werden können, ohne daß die Denotation des „Gesamtnamens" (insbeson-
dere des Satzes, der, wie gezeigt, nach Church ein Name, ein „Gesamtname",
9
Church [1943],
10
Gödel [1946] (vgl. unten [3]).
" Vgl. bes. „Three Grades of Modal Involvement" in Quine [1966 a] S. 1 5 8 - 1 7 6
(vgl. bes. S. 163 ff.).
12
Davidson [1984] (vgl. unten [4]).
13
Follesdal [1983],
14
Vgl. dazu u. a. Yourgrau [1987] (dort ausführliche Literaturhinweise).
15
Vgl. Barwise/Perry [1981] S. 395.
16
Church [1956],
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3.4 Elemente einer Theorie des Satzes 167
ist) sich ändert. 17 Church führt eine Reihe von Sät2en an, in bezug auf
welche er zu zeigen versucht, daß sie dieselbe Denotation haben. Die Sätze
(1) Sir Walter Scott ist Sir Walter Scott
und
(2) Sir Walter Scott ist der Verfasser von Waverky
haben aus demselben Grund dieselbe Denotation. Nun führt Church die
folgenden weiteren Sätze ein:
(4) Die Zahl, so daß Sir Walter Scott der Mann ist, der ebensoviele Waverley
Romane schrieb, ist neunundzwanzig.
(5) Die Zahl der Verwaltungsbezirke in Utah ist neunundzwanzig.
Church behauptet, daß die Sätze (3) und (4) und die Sätze (4) und (5)
dieselbe Denotation haben. Die identische Denotation von (3) und (4)
begründet er mit der „plausiblen Annahme", daß diese Sätze, wenn nicht
vollkommen, so doch beinahe synonym („nearly synonymous") sind. Hinsicht-
lich (4) und (5) bemerkt er, daß die Identität der Denotation ersichtlich
wird, sobald wir das vollständige Subjekt durch einen anderen Namen
derselben Zahl ersetzen.
Augrund dieser Argumentation gelangt Church zur Konklusion, daß alle
genannten Sätze dieselbe Denotation haben. Die weitere Konklusion, daß
die Denotation (der Referent) des Satzes sein Wahrheitswert ist, gewinnt er,
indem er folgende Überlegung anstellt: Der auffallendste Faktor, den die
untersuchten Sätze gemeinsam haben, ist der Wahrheitswert. Daraus schließt
er: alle wahren Sätze haben den Wahrheitswert „Wahrheit" als Denotatum,
während das Denotatum aller falschen Sätze der Wahrheitswert „Falschheit"
ist. 18
Barwise/Perry haben dieses Argument einer ausgezeichneten kritischen
Analyse unterzogen. 19 Der Leser sei darauf verwiesen. Im Unterschied zur
17 Vgl. a. a. O. S. 24 und 9.
18 Vgl. a. a. O. S. 24 f.
19 Vgl. Barwise/Perry [1981] S. 396 ff.
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168 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
anderen Variante des Arguments wird in der dargelegten Version nicht auf
den Begriff der logischen Äquivalenz rekurriert. Der Grund dürfte, wie
Barwise/Perry richtig bemerken, darin zu sehen sein, daß diese Version für
Leser gedacht war, die noch keine Logikkenntnisse haben.
In der erwähnten Rezension versucht Church, Carnaps These, derzufolge
die Designata der Sätze Propositionen sind, zu widerlegen. Sein zentraler
Gedanke ist der folgende: Wenn eine Sprache, zusätzlich zu einigen anderen
gemeinsamen Eigenschaften, den Lambda-Operator ,(λχ)(...)' (zu lesen: ,die
Klasse aller χ so daß...') einschließt, so ist es möglich zu beweisen, daß die
Designata der Sätze nicht Propositionen, sondern Wahrheitswerte sind. Im
folgenden soll eine möglichst eng an Churchs informelle (oder teilweise
halb-formale) Ausführungen gehaltene formale Rekonstruktion geboten wer-
den. 2 0 Alle Voraussetzungen und Prämissen sind bei Church in der einen
oder anderen Form zu finden.
CHURCHs Argument (in der Rezension über R. Carnaps Introduction to
Semantics)·.
Α. Voraussetzungen
I. Syntaktisch-semantische Festlegungen
1. S' ist Metasprache und enthält die Objektsprache S.
2. ,Des' ist das Prädikat .designiert'.
3. ,Des' gehört zu S'.
4. Symbole: P, Q, R für Sätze; P2 für Propositionen; x, y für
Objekte/Designata.
II. Prämissen (Prinzipien)
PI Sätze sind eine besondere Art von Namen (also von Ausdrücken,
die etwas bezeichnen). 21
P2 Ausdrücke haben dasselbe Designatum genau dann, wenn sie
synonyme Ausdrücke sind.
P3 Synonyme Ausdrücke sind austauschbar (unter Wahrung der
Korreferentialität).
P4 Logisch äquivalente Sätze sind synonyme Sätze.
P5 Das Designatum eines Satzes ist entweder die Proposition oder
der Wahrheitswert.
20 Diese Rekonstruktion unterscheidet sich merklich von der von Yourgrau [1987]
unternommenen Rekonstruktion. Vgl. unten Anm. 22.
21 Diese Prämisse wird in der genannten Rezension nicht explizit formuliert, wohl
aber in der in Introduction to Mathematical Logic dargelegten Variante des Arguments
(vgl. oben). Sie ist aber unerläßlich, um in dem unten präsentierten halbformalen
Beweis die Sätze 5. und 6. abzuleiten. Was den in der Formulierung der Prämisse
verwendeten Ausdruck .Bezeichnung' angeht, so entsprechen ihm in diesem Kon-
text bei Church die Ausdrücke ,denotation' und Resignation'. Auf die damit
gegebene terminologische Problematik wird unten im Text eingegangen.
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3.4 Elemente einer Theorie des Satzes 169
B. Der Beweis
1. Ρ (Annahme [ = wahrer, aber
nicht-logisch wahrer Satz])
2. C7= , ( λ χ ) (χ = χ Λ ~ Ρ ) ' (Annahme)
3. S, = ,(λχ) (χ = χ Λ ~ Ρ ) = 0' in S (Annahme)
4. ί 2 = ,0 = 0' in S (Annahme)
5. ,Des (ί1,, (λχ)(χ = χ Λ ~ Ρ ) = 0)' ist (aus 3 und P I )
wahr in S'
6. ,Des(.y2, 0 = 0)' ist wahr in S' (aus 4 und PI)
7. (Des(£7, χ) Λ Des (,0', y)) χ = y (Annahme)
8. Syn(£7, ,0') (aus 7 und P2)
9. A u s t a u s c h b a r ^ , ,0') (aus 8 und P3)
10. ,Des(J\, 0 = 0)' ist wahr in S' (aus 5, 9)
11. .Syn^i, ist wahr in S' (aus P2, 3, 4, 8, 9)
12. (VP,) (V/>2)(drückt aus(J·,, />,) A (Annahme, die sich aus der ge-
drückt nus(S2, P2)) —• Λ φ P2 wöhnlichen Bedeutung von
„Proposition" ergibt)
13. Ρ ist L-äquivalent mit J1, (folgt logisch aufgrund der
[von Church gemachten] An-
nahme, daß die Nullmenge (in
allen möglichen Welten) exi-
stiert)
14. Syn(P, St) (aus 1, 3, 13 und P4)
15. ,Syn(P, S2)' ist wahr in S' (aus 1, 3, 14 und Transitivität
der Synonymie)
16. (VQ)(Q ist wahr Syn(Q, S2)) (Generalisierung)
17. (VQ)(VR)((Q ist wahr Λ R ist wahr) (aus 16, Generalisierung)
Syn(Q, R))
18. ((Q ist wahr Λ R ist wahr) ν (Q ist (aus 7, 12, 17 und P2)
falsch Λ R ist falsch)) —•
((VQ)(VR)((Des(Q,x) A Des(R, y) - »
x = Y))
19. (VQ)(VR)((Des(Q,x) A Des(R.y) Λ (aus 12, 18 und P5).
Q ist wahr Λ R ist wahr) —• (x ist
Wahrheitswert A y ist Wahrheits-
wert))
22
Vgl. dazu die treffenden Überlegungen bei Barwise/Perry [1981], S. 398, und bei
Yourgrau [1987], S. 135. In Yourgraus Rekonstruktion des Arguments wird
Churchs erstes fundamentales Prinzip so formuliert: Logisch äquivalente Sätze
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170 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
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3.4 Elemente einer Theorie des Satzes 171
(1) R
(4) S
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172 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
Denn (1) und (2) sind logisch äquivalent, ebenso wie (3) und (4), während
sich (3) nur darin von (2) unterscheidet, daß es den singulären Terminus
,x(x = x. S)' enthält, wo (2) ,x(x = x. R)' enthält, und diese referieren auf
dasselbe, sofern S und R den gleichen Wahrheitswert haben. Also haben je
zwei beliebige Sätze denselben Referenten, sofern sie denselben Wahrheits-
wert haben."27
Davidson verweist explizit auf Church und merkt an, daß das Argument
unabhängig ist von irgendwelchen Annahmen bezüglich der Entitäten, auf
welche die Sätze voraussetzungsmäßig referieren.
Gerade der letzte Punkt wird von der zweiten Variante 28 des Arguments
bei Davidson in ein ganz anderes Licht gerückt, denn diese Variante soll
zeigen, daß „Tatsachen (facts)" zu verwerfen sind. Der Kontext, in dem
diese Version entwickelt wird, ist die Auseinandersetzung mit dem Versuch,
„Wahrheit" als Korrespondenz mit Tatsachen zu erklären. Ein solcher Ver-
such könnte nach Davidson nur gelingen, wenn gezeigt werden könnte, daß
Sätze der folgenden Form sinnvoll sind:
(5) Die Aussage, daß p korrespondiert mit der Tatsache, daß q.
Davidson zufolge sind Sätze der Form (5) nicht sinnvoll, da sie dazu führen,
daß man eine unmögliche These annehmen müßte, die These nämlich, daß
es eine einzige Tatsache gibt: Die Große Tatsache. Die Prämissen des
Arguments, das zu dieser Konklusion führt, werden von Davidson anhand
von Beispielen eingeführt. Satz (5) ist dann behauptbar, wenn ,p' und ,q'
durch denselben Satz ersetzt werden. Darüber hinaus vertritt Davidson
folgende Thesen: Die Aussage, daß Hamburg nördlich von München liegt,
korrespondiert nicht nur mit der Tatsache, daß Hamburg nördlich von
München liegt, sondern auch mit der Tatsache, daß München südlich von
Hamburg liegt, ferner mit der Tatsache, daß München südlich von der
großen Hafenstadt an der Elbe liegt. Davidson vollzieht nun einen entschei-
denden Schritt, indem er eine Feststellung trifft und darauf eine „Vermutung"
gründet. Er stellt fest, daß Hamburg die Stadt ist, die folgende Beschreibung
erfüllt: die größte deutsche Hafenstadt, so daß Paris in Frankreich liegt. Die
Vermutung lautet: Wenn eine Aussage mit einer Tatsache korrespondiert,
dann korrespondiert sie mit allen Tatsachen. Die „Bestätigung" der „Ver-
mutung" findet Davidson in der Angabe der in den Beispielen implizit
enthaltenen Prinzipien. Es sind zwei Prinzipien, die ihm zufolge die folgende
27 A. a. O. S. 42 f. (modifizierte Übersetzung).
28 Vgl. „Wahr hinsichtlich der Tatsachen" (1969) in Davidson [1984] S. 6 8 - 9 1 (vgl.
bes. S. 74 f.).
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3.4 Elemente einer Theorie des Satzes 173
These stützen: Wenn eine Aussage mit der durch einen Ausdruck der Form
,die Tatasche daß p' beschriebenen Tatsache korrespondiert, dann korre-
spondiert sie (auch) mit der durch einen Ausdruck der Form ,die Tatsache
daß q' beschriebenen Tatsache. Es sind dies: (a) Die Sätze, die ,p' und ,q'
ersetzen, sind logisch äquivalent, (b) unterscheidet sich von ,q' nur
dadurch, daß ein singulärer Term durch einen koextensiven singulären Term
ersetzt wird. Das eigentliche Argument sei nun in Davidsons eigenen Worten
wiedergegeben:
„,s' sei die Abkürzung für einen wahren Satz. Dann wird die Aussage, daß
gewiß übereinstimmen mit der Tatsache, daß s. Doch das zweite ,/ dürfen
wir durch diesen logisch äquivalenten Satz ersetzen: ,(der χ derart, daß χ
mit Diogenes identisch ist, und s) ist identisch mit (der χ derart, daß χ mit
Diogenes identisch ist)'. Indem wir das Prinzip anwenden, daß koextensive
singulare Termini durcheinander ersetzt werden dürfen, können wir in dem
zuletzt zitierten Satz durch ,/' ersetzen, vorausgesetzt,,/' ist wahr. Schließ-
lich kommen wir, indem wir den ersten Schritt umkehren, zu dem Schluß,
daß die Aussage, daß s, mit der Tatsache, daß t, übereinstimmt, wobei
und ,/' beliebige wahre Sätze sind." 29
Die Konklusion ist also, daß, wenn man Tatsachen annimmt, alle Tatsachen
gleich sind: Es gibt eine einzige Große Tatsache. Man sieht leicht, wie Freges
oben referierte Überlegungen über „das Wahre" (bzw. „das Falsche") und
Churchs Formulierungen von Davidson übernommen werden, mit dem
Unterschied, daß er anstelle der Relation „der Satz bezeichnet eine Propo-
sition" die andere Relation „die Aussage daß p korrespondiert mit der
Tatsache daß q" betrachtet. In beiden Fällen ergibt sich aus der Anwendung
des „slingshot"-Arguments eine erste ähnliche Konklusion. Im ersten Fall
(Church): Wenn der Referent des Satzes die Proposition wäre, so wären alle
Propositionen gleich, es gäbe eine einzige Große Proposition; im anderen
Fall (Davidson): Wenn der Satz mit einer Tatsache korrespondierte, so wären
alle Tatsachen gleich, es gäbe eine einzige Große Tatsache. Es ist nun
interessant festzustellen, daß Frege-Church aus ihrem Argument nicht die
weitere Konklusion ziehen, es gäbe keine Propositionen, sondern nur den
Schluß, daß der Referent des Satzes nicht die Proposition, sondern der
Wahrheitswert ist. Church führt nämlich explizit die Annahme (oben im
Beweis als Schritt 12.) ein, daß die Propositionen und P2 nicht identisch
sind. Davidson verfährt ganz anders. Die n/eitere Konklusion, die er zieht,
ist die „Redundanztheorie der Tatsachen"30. Um diese Konklusion zu ziehen
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174 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
bzw. um diese These aufzustellen, stützt er sich auf die Behauptung, daß
außer dem Kriterium der Korrespondenz kein anderes Kriterium für die
Unterscheidung (Identität) von Tatsachen vorgeschlagen wurde.
Es wird auch hier klar, daß Davidsons zweite Variante des „slingshot"-
Arguments genau wie Churchs erste Variante wesentlich auf der fragwür-
digen Prämisse beruht, daß logisch äquivalente Sätze denselben Referenten
haben. Darüber hinaus ist es mehr als fragwürdig zu sagen, daß die Tatsache,
daß Hamburg nördlich von München liegt, identisch ist mit der Tatsache,
daß München südlich von Hamburg liegt. 31
Der Satz ist ein Sprachgebilde, das nur dann als angemessen bestimmt
angesehen werden kann, wenn es hinsichtlich dreier Ebenen oder Dimen-
sionen betrachtet wird: der syntaktischen, der semantischen und der prag-
matischen. Man kann entsprechend von einer syntaktischen, einer semanti-
schen und einer pragmatischen Strukturiertheit des Satzes sprechen. Als
semiotisches Gebilde ist der Satz zunächst ein Zeichengebilde, das in dem
Sinne syntaktisch strukturiert ist, daß die es konstitutierenden Zeichen
gewisse Verbindungen miteinander aufweisen. Die semantische Strukturiert-
heit des Satzes besagt, daß der Satz als Zeichengebilde etwas „be-zeichnet",
einen „Wert" hat, der eben deswegen „semantischer Wert" genannt wird.
Schließlich steht der Satz als Zeichengebilde in Beziehung zu „Instanzen",
die ihn „handhaben", d. h. „äußern"; die diesbezügliche Strukturiertheit des
Satzes kann man die pragmatische nennen. Wird eine dieser drei Ebenen
bzw. Strukturiertheiten unbeachtet gelassen, so bleibt der Satz wesentlich
unterbestimmt.
[1] Hinsichtlich der syntaktischen Strukturiertheit des Satzes ist an dieser Stelle
nur auf folgenden Gesichtspunkt hinzuweisen: Es ist zunächst zu unterschei-
den zwischen syntaktisch-grammatikalischer und syntaktisch-logischer
Strukturiertheit des Satzes. Ob beide gleichzusetzen sind und, wenn ja, in
welchem genauen Sinne, stellt ein schwieriges Problem dar. 32 Hier sei nur
angedeutet, daß die syntaktisch-logische Strukturiertheit als die „geläuterte"
31 Hochberg [1984], S. 279 — 295, hat eine detaillierte Analyse der zweiten Variante
des Davidsonschen Arguments unternommen. Eine gute Darstellung und Kritik
findet sich auch in Brownstein [1976] und Olson [1987].
32 Vgl. dazu unter vielen anderen Harman [1972], Etchemendy [1983], Moody [1986],
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3.4 Elemente einer Theorie des Satzes 175
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176 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
Wie im Abschnitt 2.1.2 gezeigt, ist die Semantik des Satzes als die Theorie
anzusehen, die den semantischen Wert des Satzes erklärt. Dabei wurde ein
dreifacher semantischer Wert unterschieden und herausgearbeitet: der seman-
tisch-informationale, der semantisch-funktionale und der semantisch-dimen-
sionale Wert. Die Einsicht, daß Sätze „Information" kodieren, d. h. bein-
halten und vermitteln, ist wesentlich und es ist nicht zu sehen, wie sie
ernsthaft in Frage gestellt werden kann. Freilich besagt das nicht, daß sie
nicht faktisch bestritten wird; im Gegenteil: Jede Konzeption, die etwa im
Anschluß an den — so oder so interpretierten — späten Wittgenstein Sprache
ausschließlich als „Spiel" und Bedeutung als „Gebrauch" o. ä. versteht, hat
zumindest Schwierigkeiten, so etwas wie den semantisch-informationalen
Wert anzuerkennen und vor allem ihn in die Gesamttheorie angemessen
einzubeziehen. Doch auf eine Auseinandersetzung mit solchen Richtungen
muß hier verzichtet werden. Als terminologische Festlegung soll der se-
mantisch-informationale Wert des Satzes Proposition genannt werden, wo-
bei von diesem Ausdruck bis zur Entwicklung der Theorie der Proposition
alle in der philosophischen Literatur zu findenden Konnotationen zu diesem
Begriff fernzuhalten sind. Dieser Hinweis ist deshalb sehr wichtig, weil
gerade hinsichtlich des Themas „Proposition" oft die größten terminologi-
schen und sachlichen Konfusionen festgetellt werden können. Entsprechend
erweisen sich die meisten Diskussionen über dieses Thema als außerordent-
lich konfus und damit als unergiebig.
Von seiner Struktur und seinem Stellenwert her ist der semantisch-
informationale Wert als der direkte Wert des Satzes oder auch als die Basis
oder der Bezugspunkt für die Bestimmung der anderen semantischen Werte
zu begreifen. Es ergibt sich folgende Konstellation:
(i) Der direkte oder semantiscb-informationale Wert des Satzes ist die Propo-
sition.
(ii —i) Der funktional-linguistische Wert des Satzes ist eine Funktion von Kon-
texten der Äußerung des Satzes in den direkten semantisch-informationalen
Wert, d. h. in die Proposition.
(ii—ii) Der funktional-systematische Wert des Satzes ist die Intension des direkten
oder semantisch-informationalen Wertes (d. h. der Proposition) und (indi-
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3.4 Elemente einer Theorie des Satzes 177
rekt oder vermittelt) des Satzes selbst; die Intension ist eine Funktion, die
jeder möglichen Welt die Extension (im Sinne von (iii)) des direkten oder
semantisch-informationalen Wertes (und damit indirekt des Satzes selbst)
zuordnet.
(iii) Der semantisch-dimensionale Wert des Satzes ist die Extension des seman-
tisch-informationalen Wertes des Satzes (man kann auch — verkürzt — von
der Extension des Satzes selbst, d. h. des Satzes als einer linguistischen
Entität, sprechen). Die Extension ist die Menge der (möglichen) Welten, zu
denen der direkte semantisch-informationale Wert, d. h. die Proposition,
als Mitglied gehört oder in denen die Proposition „besteht" bzw. in denen
der Satz „wahr" ist.
Besagt (iii), daß Frege und die an ihn anknüpfenden Philosophen und
Logiker die richtige These vertreten, wenn sie sagen, daß die „Bedeutung"
(Frege) oder der „Referent" des Satzes der Wahrheitswert (das Wahre bzw.
das Falsche) ist? Das kann so nicht gesagt werden, wie die Ausführungen
über das „slingshot"-Argument im Abschnitt 3.4.2 gezeigt haben. Insbeson-
dere ist auf folgenden Umstand hinzuweisen: Die meisten Autoren, die heute
die These vertreten, daß der Referent des Satzes der Wahrheitswert ist,
lehnen Freges „Gedanken" (d. h. den „Sinn" des Satzes) ab; aber für Frege
wäre die Identifikation der „Bedeutung" (d. h. des Referenten oder der
Extension) des Satzes mit dem Wahrheitswert bei gleichzeitiger Ablehnung
des „Sinnes" des Satzes (d. h. des Gedankens) sinnlos und unverständlich.
Schon aus diesem Grunde sind vorschnelle Kombinationen von bestimmten
Theorien oder gar Identifikationen der einen Theorie mit der anderen mit
größter Vorsicht zu betrachten.
Immerhin läßt sich schon jetzt folgendes sagen: Die Formulierung ,Die
Extension des Satzes bzw. des semantisch-informationalen Wertes des Satzes
ist die Menge der (möglichen) Welten, in denen der Satz wahr ist' ist zwar
nicht sinnlos oder falsch, wohl aber ziemlich unbestimmt; denn was heißt
es zu sagen: ,ein Satz ist wahr in einer (möglichen) Welt'? Man läuft hier
leicht Gefahr, sich im Kreise zu drehen, d. h. nichts zu erklären. Wenn
der Ausdruck ,Wahrheitswert' „objektiv", d. h. als Bezeichnung für die
(Menge der) Welt(en) im Sinne von „Totalität(en) bestehender Propositio-
nen" genommen wird, so ist nach (iii) die Extension dasselbe wie der
Wahrheitswert. Es ist aber ersichtlich, daß etwa Frege seine These nicht
in diesem Sinne verstanden haben kann, da er eine völlig andere Ontotogie
voraussetzt und außerdem den Satz als Eigennamen mit einer „Bedeutung"
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178 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
[3] Die dritte Strukturdimension des Satzes ist die pragmatische. Dazu soll
hier nur wenig gesagt werden (im Abschnitt 4.3, im Zusammenhang der
Frage nach dem Wahrheitsträger, soll darauf näher eingegangen werden).
Ohne die zumindest implizite Voraussetzung einer pragmatischen Kompo-
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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 179
nente wäre der Satz ein zwar syntaktisch und semantisch strukturiertes, aber
in einer fundamentalen Hinsicht völlig im Unbestimmten gelassenes Zei-
chengebilde.
Die gemeinte Hinsicht kann so charakterisiert werden: Angesichts eines
nur syntaktisch und semantisch bestimmten (strukturierten) Zeichengebildes
drängen sich sofort Fragen der folgenden Art auf: Was kann oder soll damit
geschehen? Was kann oder soll damit angefangen werden? Solche Fragen
sind Anzeigen einer dem ausschließlich syntaktisch und semantisch struk-
turierten (bestimmten) Satz anhaftenden Unbestimmtheit. Es ist leicht zu
zeigen, wie sie aufgehoben werden kann, dadurch nämlich, daß Antworten
wie die folgenden gegeben werden: der Satz (als syntaktisch-semantisch
strukturiertes Zeichengebilde) kann (soll) geäußert werden, und zwar indem
er bejaht, angenommen, behauptet, angezweifelt, bewiesen, verteidigt usw. wird.
M. a. W.: die Fragen werden unter Hinweis auf bestimmte Handlungen be-
antwortet, die in Verbindung mit den Sätzen qua syntaktisch-semantischen
Zeichengebilden vollzogen werden. Bekanntlich werden solche Handlungen
in der Gegenwart „illokutionäre Akte" genannt. Darüber gibt es eine
ausgedehnte Literatur, auf die hier zunächst nur verwiesen werden kann. 36
Die Frage, wie das Verhältnis der drei genannten Ebenen zueinander zu
bestimmen ist, ist eine weitreichende Frage. Es war unvermeidlich, daß in
den obigen Ausführungen auch einige Aspekte dieses Verhältnisses ange-
sprochen wurden. Im Mittelpunkt einer voll entwickelten Theorie über
diesen Zusammenhang müßte vermutlich die These stehen, daß zwischen
den drei Dimensionen/Ebenen strenge (sogar l-l-)Entsprechungen bestehen.
Aber über diese Andeutung hinaus soll diese Thematik hier nicht verfolgt
werden.
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180 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
schaffen. Aber die Aufgabe erscheint nicht unmöglich. Ausgehend von den
bisher erzielten Ergebnissen sollen zunächst in diesem Abschnitt einige
Voraussetzungen und ein Leitprinzip formuliert werden.
[1] Der adäquate Ansatz zu einer Theorie der Proposition ist nicht die
Annahme, daß Propositionen (die) Objekte von intentionalen oder eben
„propositionalen" Einstellungen oder (primäre oder sekundäre) Wahrheits-
träger sind. Die meisten Diskussionen über Propositionen gehen von einer
dieser Annahmen, oft von beiden, aus und verwickeln sich dann in nicht
mehr zu entwirrende Unklarheiten. Der hier gewählte Ansatz basiert auf
der Einsicht, daß die Proposition ein wesentlicher Bestandteil der Theorie
des Satzes ist, wobei gleich anzufügen ist, daß die Proposition eben nicht
identisch ist mit der „Bedeutung" des Satzes (was immer das sein mag), wie
besonders Quine bei seiner Ablehnung von Propositionen als selbstverständ-
lich annimmt bzw. voraussetzt. 2 In ihrem primären Sinn betrifft die Pro-
position den Informationsgehalt oder den informationalen Wert des Satzes.
Das hat zur unmittelbaren Konsequenz, daß über Propositionen grund-
sätzlich bzw. primär nicht im Rahmen einer Theorie über die sog. „propo-
sitionalen" Einstellungen und über die Wahrheitsträger entschieden werden
kann. Propositionen sind Entitäten, denen ein ursprünglicherer und fun-
damentalerer Platz in einer Gesamttheorie einzuräumen ist. Probleme, die
mit bestimmten Aspekten der sog. „propositionalen" Einstellungen gegeben
sind, werden damit weder geleugnet noch unterdrückt; es soll nur gesagt
werden, daß der primäre Ort für die Behandlung der Propositionsthematik
der Satz und nicht das Phänomen der „propositionalen" Einstellungen oder
die Ebene der Wahrheitsträger ist.
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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 181
großes Gewicht zu, als die Frage zu klären ist, ob die „Erklärung" eines
bestimmten Ausdrucks bzw. Begriffs den Intuitionen, die mit der Verwen-
dung des Ausdrucks bzw. Begriffs verbunden sind, überhaupt Rechnung
tragen muß oder nicht. Es könnte geschehen, daß die vorgelegte „Erklä-
rung" eines Ausdrucks/Begriffs mit diesen Intuitionen nichts zu tun hat; in
diesem Fall hätte man einfach einen bestimmten Ausdruck auf der Basis
einer rein stipulativen Definition eingeführt, womit das Problem nicht
geklärt wäre, was der betreffende Ausdruck, so wie er sonst intuitiv ver-
wendet wird, bedeutet, (ii) Ein zweiter Grund kann Stichhaltigkeit bean-
spruchen. Die Identifikation der Proposition/Proposition (im Sinne des
informationalen Wertes des Satzes) mit einer Menge möglicher Welten bzw.
einer Funktion über einer solchen Menge hat inakzeptable Konsequenzen.
Scott Soames hat diese Beweisführung in mehreren Aufsätzen vorbildlich
durchgeführt, weshalb hier darauf nicht weiter eingegangen wird. 4 Soames
befürwortet einen „Russellschen" Begriff der Proposition (im Sinne der
„singulären Proposition"). 5
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182 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
[4] Um die Proposition als Entität sui generis zu erklären, muß auf das
Kontextprinyip gemäß seiner starken (molekularen) Version rekurriert wer-
den. Das bedeutet hier zunächst, daß alle Konstituenten des Satzes streng
(oder ursprünglich) propositional gedeutet werden müssen. Doch was heißt
es, den singulären Term und das Prädikat streng propositional zu deuten?
Es genügt nicht zu sagen, daß singulärer Term und Prädikat irgendwie zur
Proposition beitragen. Auf diese Weise erhält man den Begriff der singulären
Proposition, d. h. eines Komplexes, bestehend aus dem (realen) Objekt, auf
welches der singuläre Term referiert, und dem durch das Prädikat bezeich-
neten Attribut. Es kann nun nicht gesagt werden, daß der singuläre Term
und das Prädikat hier streng propositional begriffen werden; stellen sie
doch selbst die Voraussetzungen für die Bildung der (singulären) Proposition
dar. Soll der singuläre Term bzw. das Objekt, auf welches er referiert, streng
propositional im hier intendierten Sinne erklärt werden, so heißt das, daß
der semantisch-informationale Wert des singulären Terms selbst allererst
durch einen Satz ausgedrückt wird: der singuläre Term selbst muß proposi-
tional aufgefaßt werden. Nun ist es offensichtlich, daß der singuläre Term,
nimmt man ihn, wie er sich zunächst präsentiert, kein Satz ist und somit
keine Proposition ausdrückt. Soll der singuläre Term dennoch streng pro-
positional gedeutet werden, so muß er als singulärer Term eliminiert, d. h.
umgedeutet, werden. Es sei hier an die Ausführungen über Quines Verfahren
der Elimination der singulären Terme unten im Abschnitt 3.5.2.3 verwiesen.
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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 183
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184 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
Wie sich zeigen wird, gehören dieses Prinzip und das Kontextprinzip eng-
stens zusammen; ja, es muß sogar gesagt werden, daß sie sich gegenseitig
implizieren.
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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 185
9 Etymologisch und historisch betrachtet, ist dieser Ausdruck nicht ganz geeignet,
um das zu bezeichnen, was hier intendiert ist. Doch soll er dennoch verwendet
werden, schon aus dem Grund, weil kein geeigneterer Ausdruck zur Verfügung
steht.
10 Vgl. dazu die Ausführungen über die Identitätsbedingungen für Propositionen
am Anfang des Abschnitts 3.5.3.2.
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186 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
(ii) Eine zweite Weise, den Prädikatausdruck zu verstehen, besteht darin, ihn
mit der Kopula .ist' zu verbinden und ihm damit gemäß der sprachlichen
Form ,ist F' (,ist dreieckig', .ist gerecht', ,ist ableitbar', ,ist (ein) Pferd' usw.)
einen semantisch-informationalen Wert zuzuordnen. Es ist offensichtlich,
daß der Satz hier zwar nicht explizit genannt, aber dennoch nicht ganz
ignoriert wird: der Satz wird schon (so oder so) „anvisiert". Auf natürliche
Weise werden dann auf dieser Basis Ausdrücke mit der Endung ,-sein'
gebildet, um das so verstandene Attribut „als solches" zu bezeichnen:
.Dreieckigsein', .Ableitbarsein', .Gerechtsein', .Vatersein' u. ä. Das so erfaßte
Attribut könnte das abstrakt-halbbestimmte Attribut genannt werden. Es ist
abstrakt, weil es immer noch unter nicht ausdrücklicher Beachtung des Satzes
erfaßt bzw. artikuliert wird; aber es ist schon halbbestimmt, weil es die
„Tendenz" zu voller Bestimmtheit in sich schließt.
(iii) Eine dritte Form der sprachlichen Repräsentation des Prädikats berück-
sichtigt den Satz in einer Hinsicht, die hier programmatisch genannt werden
soll. Prädikate werden nach dieser Form identifiziert mit Satz-Rahmen oder
Satzformen der Gestalt: , (ist) dreieckig',, (ist) links von ...',
, (ist) ableitbar (aus)...', kurz: , F' bzw. , F 2 ...' oder ,F
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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 187
( )' bzw. ,F 2 (...,...)' usw. Diese Repräsentation erlaubt es nicht mehr, für
das Prädikat einen selbständigen Ausdruck zu bilden. Dieser Umstand ist
sehr bezeichnend, denn er macht deutlich, daß das Prädikat hier nicht mehr
isoliert vom Satz genommen wird. Dem so gedeuteten Prädikat wird ein
semantisch-informationaler Wert zugeordnet, dem man das Epitheton pro-
grammatisch-bestimmt geben kann; das entsprechende Attribut wäre das pro-
grammatisch-bestimmte Attribut zu nennen. Es ist bestimmt, weil dank dem
Kontextprinzip davon ausgegangen wird, daß semantische Bestimmtheit
ausschließlich im Rahmen des Satzes gegeben ist; aber es ist nur programmatisch-
bestimmt, weil noch völlig offen ist, wie die Leerstellen in dem Prädikataus-
druck zu füllen sind. Dies ist nun die für die hier darzustellende Theorie
die entscheidende Frage.
In der logischen und sprachphilosophischen Literatur findet man oft das
Prädikat als ,P(x)' repräsentiert. Natürlich ist das nicht falsch, nur muß
darauf geachtet werden, was damit ausgesagt und impliziert wird. ,x' wird
dabei als Individuenvariable verstanden und es wird oft gesagt, daß deren
Rolle nur die eines Platzhalters sei, um die Funktion von ,P' anzuzeigen.
Dies ist korrekt, nur wird damit schon vorausgesetzt, daß der Prädikataus-
druck ,P' auf einen Ausdruck appliziert wird, dem ein voll konstituiertes
Objekt/Individuum als Wert zugeordnet wird (oder, eher ontologisch ge-
wendet, daß das Attribut P* auf das Objekt/Individuum ο zutrifft, das als
Wert der Variablen ,x' genommen wird). Damit ist zwar eine Vollbestimmtheit
des Prädikats und — in einer bestimmten Hinsicht — auch des Attributs
gegeben, aber um den Preis, daß (der Begriff bzw. die Entität) Objekt/
Individuum völlig unanalysiert bzw. ungeklärt bleibt.
Dasselbe ist zum Vorschlag zu sagen, den Lambda-Funktor für die Re-
präsentation des Prädikats bzw. des Attributs zu verwenden. Beispiele:
,(Xx)(Fx)' ( = die Eigenschaft ,(ein-)F-zu-sein'), ,(Xx)(Rx,x)' ( = die Eigen-
schaft ,in-der-R-Relation-zu-sich-selbst-zu-stehen'), ,(λχ)(λγ)[ (3z)(R(x,z)
Λ R ' ( z , y ) ) ] ' (Beispiel: die Eigenschaft ,der-Vater-der-Mutter-von-zu-sein').
Es ist klar, daß auch hier Attribute nur im Hinblick auf schon so oder so
als vollkonstituiert vorausgesetzte Objekte/Individuen bestimmt werden.
Wird diese Voraussetzung nicht gemacht und statt dessen versucht, den
singulären Term (bzw. die Individuenvariable) und das dadurch bezeichnete
Objekt/Individuum streng vom Satz her, also prepositional, zu verstehen,
so kann man in der Theorie des Satzes, in der Theorie des Attributs und in
der Theorie der Proposition von der Gestalt , F' bzw. ,F( )' nicht
gleich zu ,F(x)' im erläuterten Sinne übergehen. Eine fundamentale Etappe
wäre hier übersprungen. Dies ist eine Feststellung, die als die vielleicht
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188 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
[1] Aus dem bisher Ausgeführten ergibt sich unmittelbar die wichtige
Konsequenz: Wenn der Satz im Sinne der strengen Version des Kontext-
prinzips das primäre und zentrale Sprachgebilde und das Attribut die fun-
damentale (im Sinne von: ausschließliche) intelligible Entität ist, so ist ,x'
in ,P(x)' als Individuenvariable allererst vom Satz, d. h. hier zunächst: von
,P', her, nicht hingegen unabhängig davon zu deuten; entsprechend: das
Objekt/Individuum, das als Wert von ,x' genommen wird, darf nicht mehr
unabhängig vom Attribut, das durch ,P( )' angezeigt wird, vorausgesetzt
werden. ,P(x)' hat daher einen abgeleiteten, sekundären Charakter. Man muß
eine Stufe zurückgehen und bei ,P( )' ansetzen. „Ansetzen" heißt aber
nicht: dabei stehen bleiben. ,P( )' muß vielmehr bestimmt werden. Wie
kann das erreicht werden, ohne daß man gleich die Bestimmtheitsgestalt
,P(x)' oder gar ,P(a)' (wobei ,a' ein Individuenparameter oder eine Indivi-
duenkonstante im gewöhnlichen, oben erläuterten Sinne ist) als die nächste
Bestimmtheitsgestalt einführt?
Wenn man alle genannten Restriktionen bzw. Aufgaben streng beachtet,
so ergibt sich, daß dasjenige, was in der Formel ,P( )' in die Klammern
eingesetzt ist (oder werden soll), also das, was gewöhnlich Instant oder
Argument u. ä. genannt wird, zwar ein von ,P' verschiedenes Zeichen sein
kann bzw. muß, daß sich aber die Interpretation (der Wert) dieses Zeichens
von der Interpretation (dem Wert) von ,P* nicht in gleicher oder ähnlicher
Weise unterscheidet wie sich ,P' und ,x' in ,P(x)' (hinsichtlich ihres jeweiligen
Wertes bzw. ihrer jeweiligen Interpretation) unterscheiden. Die Frage: „Wo-
durch wird ,P' bestimmt?" ist eine zweideutige, ja irreführende Frage. Wie
dies zu verstehen ist, soll im folgenden gezeigt werden.
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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 189
[2] Zunächst soll der zentrale Gedanke der hier zu vertretenden Konzeption
möglichst intuitiv dargelegt werden. Daß ,P( )' bestimmt wird, heißt, daß
Ρ „vorkommt", „stattfindet" o. ä.; damit ist ein Bereich impliziert, in dem
dies geschieht. Da aber der Bereich intelligibel sein muß, da nur das Attribut
intelligibel ist und da es viele Attribute gibt, muß der Bereich als vielfaltig
durch „in ihm vorkommende" (ihn „ausmachende" oder ihn „darstellende")
Attribute bestimmt konzipiert werden. Der Bereich ist bestimmt, indem
Attribute in ihm „vorkommen" oder in ihm „realisiert" sind; umgekehrt
sind die Attribute dadurch bestimmt, daß sie in einem Bereich vorkommen.
Dies heißt aber nicht, daß sie „auf etwas zutreffen", so daß ein solches etwas
vorausgesetzt werden müßte. Alles, was „im" Bereich „ist", „vorkommt",
kurz: die ganze „Bestimmtheit" des Bereichs, ist ausschließlich durch die
Attribute gegeben.
Ungeachtet einer gewissen Gefahr eines sich leicht einstellenden Mißver-
ständnisses kann man diesen Grundgedanken auch so darstellen, daß man
einen Bereich D annimmt und ihn mit „Stellen" ausgestattet denkt. Diese
„Stellen" (oder „Punkte") sind nur die Indizes oder Anzeigen für Bestimmt-
heiten. Wenn die Bestimmtheiten nur durch die Attribute gegeben sind, so
heißt das, daß die Stellen durch Attribute „besetzt" sind. Hier ist nun große
Vorsicht geboten, um nicht den Verführungen der Vorstellung zu erliegen:
Wenn man sagt, daß ein Attribut dadurch bestimmt ist, daß es „in" einem
Bereich D vorkommt, und daß es dadurch vorkommt, daß es eine „Stelle"
des Bereichs D „besetzt", so darf das nicht so verstanden werden, als ob
der Bereich D mit seinen „Stellen" schon irgendwie bestimmt vorläge, bevor
diese Stellen durch Attribute „besetzt" werden. Die „Stelligkeit" des Bereichs
D ist nur ein Repräsentationsmittel, um die vielgestaltige Bestimmtheit des
Bereichs allein durch Attribute darzustellen. Zwischen „Attribut" und
„Stelle(n)" gibt es keine Beziehung wie zwischen ,P' und ,x' oder ,a' in
,P(x)' bzw. ,P(a)'. Eher müßte man sagen: das Attribut ist als Stelle bestimmt;
die Stelle ist eine solche nur als bestimmtes Attribut.
Wenn also mit dem Ausdruck ,Stelle (Stelligkeit)' des Bereichs D ein
gewisses Prius bezüglich des Attributs nahegelegt wird, so ist das nur durch
die Darstellungstechnik bedingt und nur für die Darstellung bestimmt.
Schon hier sei angedeutet, daß man in gewisser Hinsicht von einem Posterius
hinsichtlich der Attribute sprechen kann. Wenn man nämlich, wie oben
geschehen, den Bereich D als durch Attribute allein bestimmt konzipiert,
so sollte dies nicht so verstanden werden, daß die Attribute sozusagen als
eine (unendliche) Menge oder Reihe isolierter Bestimmtheiten oder Punkte
„vorkommen"; im Gegenteil: zumindest im Hinblick auf (unsere) wirkliche
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190 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
Welt wird unten zu zeigen sein, daß sie allererst in, genauer als „Konfigu-
rationen" bestimmt sind. Als eine ganz bestimmte (fundamentale) Form von
Konfiguration wird sich das Individuum (im prägnanten Sinne dieses Wor-
tes) herausstellen.
Beachtet man streng alle Vorsichtsmaßnahmen hinsichtlich möglicher
Mißverständnisse, so kann das bestimmte Attribut im erläuterten Sinne, also
als in einem Bereich D „vorkommend", dadurch sprachlich artikuliert wer-
den, daß man anstelle der Individuenvariablen (bzw. -parameter bzw. -kon-
stanten) einfach „Stellen"- (oder Punkte-)Variablen (bzw. -Parameter bzw.
-Konstanten) einführt. Im folgenden sollen für solche Stellen-Variablen die
griechischen Kleinbuchstaben ,μ', ,ν', ,μχ\ ,Vi'..., für Stellenparameter ,μ',
,ν', ,μ,', ,ν,'..., und für Stellenkonstanten ,μ', ,ν', ,μ,*, ,v, £ ... verwendet
werden. Es ergeben sich dann Satzformen bzw. Sätze wie: ,Ρ(μ)\
,p n (v,,...V n )', ,Ρ(μ)', ,Ρ(μ)' usw. Dies bedeutet: diese Satzformen bzw. Sätze
drücken ein bzw. das entsprechende(s) Attribut an einer bzw. der entspre-
chenden Stelle aus; ein/das Attribut „besetzt" eine/die Stelle; so und nur so
ist ein/das Attribut bestimmt oder realisiert.
Damit ist aber das bestimmte oder realisierte Attribut noch nicht ange-
messen erklärt. Daß das Attribut „an" einer oder genauer als eine Stelle
„realisiert" oder „bestimmt" wird, setzt voraus, daß die Stelle zu einem
Bereich D gehört. Dieser Gesichtspunkt muß noch herausgearbeitet werden.
Der Bereich wird in der hier entwickelten Konzeption eine zentrale Rolle
spielen, allerdings unter einer anderen Bezeichnung, nämlich ,Welt\ Im
allgemeinen gehen die meisten, traditionell orientierten, Logiker, Semantiker
und Ontologen davon aus, daß es eine Welt gibt, die sog. reale Welt, die
Welt der existierenden Dinge. Die Semantik der möglichen Welten hat gezeigt,
daß man hier viel differenzierter denken muß; es reicht nicht mehr aus, nur
von der Welt zu sprechen; die Problematik einer Pluralität von Welten muß
ernst genommen werden. Ein diesbezüglicher Klärungsversuch soll unten
im Abschnitt 3.6.2 unternommen werden. Hier ist diese Möglichkeit im
Hinblick auf die nähere Bestimmung des Begriffs der Proposition und ihrer
adäquaten formalen Repräsentation zu berücksichtigen.
Bestimmt oder realisiert ist ein Attribut nur dadurch, daß es zu einer Welt
gehört. Damit ist eben der Rahmen angegeben, der es allerst ermöglicht,
von Bestimmtheit oder Realisiertheit zu sprechen. Diesem fundamentalen
Gesichtspunkt kann notational zunächst dadurch Rechnung getragen werden,
daß Satzausdrücke wie ,Ρ(μ)' durch Bezug auf Welt(en) mit Hilfe von
entsprechenden Welt-Variablen (,w', ,w,'...), Welt-Parametern (,w*', ,w,*'...)
und Welt-Konstanten (,w + '...) näher bestimmt werden. Es ergeben sich
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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 191
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192 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 193
(vgl. dazu die Abschnitte 2.1.4 und 2.2). Es ist daher nicht verboten,
Ausdrucksweisen zu konstruieren, die sonst als unüblich angesehen werden.
Vor diesem Hintergrund läßt sich jetzt die aufgeworfene Frage so umfor-
mulieren: Wie sind primäre Sätze der oben angegebenen formalisierten Art
zu lesen? Es gibt im Deutschen dafür einen ausgezeichneten Ausdruck,
nämlich ,es verhält sich (so und so)'. Setzt man an die Stelle der Klammer
Pünktchen und füllt man sie mit einem Attributausdruck, so hat man eine
nicht-formalisierte, sondern „umgangssprachliche" Ausdrucksweise bzw.
Lesart für die formalisierten primären Satzausdrücke. Also: ,es-verhält-sich-
...(etwa: Ρ)', ζ. B.: ,es-verhält-sich-blau*. Hier ist kein Subjekt vorhanden,
dem ein Attribut zugeschrieben oder auf welches es zutreffen würde. ,Es'
ist ein rein grammatikalisches Hilfswort, ohne jede semantische oder onto-
logische Bedeutung. Von hier aus gesehen dürfte auch einleuchten, daß die
Wahl des partiellen Neologismus ,Verhalt' gut begründet ist. 12
12 Eine bis zu einem gewissen Punkt ähnliche Konzeption vertritt Levinson [1978].
Er versteht Eigenschaften (Attribute) als „being-a-certain-way" or „being such
and such", was in die Paraphrasierung „being such that it " übersetzt werden
kann (vgl. a. a. O. S. 1, 6. Vgl. auch Levinson [1974]).
Eine gewisse Ähnlichkeit besteht auch zu einem von Bell [1986] vorgelegten
Entwurf einer „propositional logic as a logic of attributes". Bell schreibt:
„Let us think of attributes or qualities like .blackness', .hardness', .having positive
charge', etc. as being possessed bji or manifested over parts of a space (sometimes called
a manifold or field). [...] Each attribute is correlated with a proposition (more
precisely, a propositional function) of the form: , has the attribute in question.'
[...] Attributes may be combined by means of the logical operators Λ (and), ν
(or), —ι (not) to form compound or molecular attributes. The term .attribute' will
accordingly be extended to include compound attributes as well as primitive ones.
It follows that (symbols for) attributes may be regarded as the formulas of a
propositional language L — the language of attributes — and we shall use the terms
.attribute' and .formula' synonymously" (a. a. O. S. 86).
Was bei Bell „parts of a space" genannt werden, dürfte grundsätzlich dem
entsprechen, was in der in diesem Buch entwickelten Konzeption „(die) Stelle"
( , an der, oder genauer: als die, ein Attribut realisiert ist) genannt wird. Aber wie
vor allem der letzte Satz des Zitats zeigt, scheint Bell nicht genug zwischen Sätzen
(Formeln) und den durch sie ausgedrückten „attributes as being possessed by or
manifested over parts of a space" zu unterscheiden.
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194 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 195
der Variablen' bedeute .singulare Termini, die sich für Variablen einsetzen
lassen'. Als Wert der Variablen aber gilt vielmehr der durch einen solchen
Terminus bezeichnete Gegenstand und die Gegenstände bleiben auch dann
als Werte der Variablen bestehen, wenn die singulären Termini zum Ver-
schwinden gebracht werden." 15
Quine dreht sich hier im Kreise, wie seine Formulierungen zeigen: um den
Wert der (Individuen-) Variablen zu bestimmen, rekurriert er explizit auf den
singulären Term; aber das Ziel war (ist) doch, den singulären Term zu
eliminieren, und Quine erreichte dieses Ziel gerade durch die Einführung
der gebundenen Variablen plus dem zum Prädikat gewordenen ,= a'. Es
hegt hier zweifellos ein ungelöstes Grundproblem vor. Es bleibt nämlich
bei Quine weiterhin bestehen, daß im Rahmen eines quantifizierten Satzes
eine gebundene Individuenvariable erscheint, der ein Objekt/Individuum als
Wert zugeordnet wird. Aber dieses Objekt/Individuum hat jetzt einen son-
derbaren, ja mysteriösen Status: Es ist so etwas wie ein Substratum, dem der
eliminierte, d. h. der zum allgemeinen Term (Prädikat) avancierte singuläre
Term zugeschrieben wird. Quine gibt sich mit seinem Verfahren und dessen
Ergebnis anscheinend aus dem Grunde zufrieden, weil das ihn dazu moti-
vierende Problem, nämlich die Nicht-Referentialität einiger singulärer
Terme, dadurch gelöst wird. Immerhin hat er ein Verfahren eingeführt, das
als die Spitze eines Eisberges betrachtet werden kann.
Nach Quine16 kann der Beobachtungssatz
(1) A white cat is facing a dog and bristling
und
(3) 3x (x is a cat and χ is white and χ is bristling and χ is dogward).
Quine zufolge wird die referentielle Funktion von (1) durch (2) maskiert,
während (3) sie mit Hilfe der kanonischen Notation (d. h. nach Quine: der
Quantorenlogik erster Stufe mit Identität) voll zur Geltung bringt. Ein Satz
der Form (2) ist nach Quine ein reiner „Gelegenheitssatz", dem er eine
Bedeutung nur in einer behavioristisch orientierten Theorie der Bedeutung
und des Erlernens von Sprache beimißt, wobei das Ziel das Erreichen der
vollen Referenz mittels der Einführung singulärer Terme und der Bildung
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196 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
Um zu erläutern, was Quine damit meint und wie diese Prozedur funktio-
niert, sei einer der Operatoren, der „Derelativierungsoperator Der" („de-
17 „Variables Explained Away", in Quine [1966 b] S. 2 2 7 - 2 3 5 ; zit. St. 235. Vgl. auch
seine Aufsätze: „Algebraic Logic and Predicate Functors", in Quine [1966 a]
S. 2 8 3 - 3 0 7 ; „Predikate, Termini und Klassen", in Quine [1981 a] S. 1 9 9 - 2 0 8 .
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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 197
Da nun die Anwendung von ,Der' iteriert werden kann, ist auch der
Ausdruck ,(Der B) x' ( = ,x beißt etwas') reduzierbar auf ,Der Der B'
( = ,etwas beißt etwas'). Die ursprüngliche Formel war: ,(3x)(3y)Bxy' (— ,ein
χ ist derart, daß ein y derart ist, daß Bxy" 9 .
Was passiert nun, wenn der Der-Operator auf ein einsteiliges Prädikat
angewendet wird? Dies ist der Punkt, wo sich zeigt, wie wichtig Quines
Verfahrenstechnik für den oben eingeführten Begriff der primären Proposi-
tion ist. Quine schreibt:
„Let us now explain it [i. e. the derelativization] as applying similarly to a
one-place predicate to produce a no-place predicate, or sentence, which simply
affirms existence: ,Der D' means simply that there are dogs." 20
Quine verfährt und formuliert sehr elliptisch, wodurch er die ganze Trag-
weite des von ihm selbst erreichten Resultats unterinterpretiert. Wenn ein
18 A. a. O. S. 230.
19 Diese Lesart entspricht Quines Deutung der Variablen und der Quantoren („Some-
thing χ is such that something y is such that Bxy" [a. a. Ο. S. 230]).
20 A. a. Ο. S. 230 (Hervorhebung nicht im Original).
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198 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
nullstelliges Prädikat als ein Satz ausgegeben wird, reicht es nicht aus,
einfach zu sagen, damit werde „Existenz behauptet". Existenz wovon? Quine
bringt gleich ein „massives" Prädikat, nämlich ,Hunde', und weicht damit
den Konsequenzen seines Verfahrens hinsichtlich anderer Prädikate bzw.
Attribute aus. Kombiniert man Quines Verfahren der Elimination singulärer
Terme mit seinem Verfahren der Paraphrasierung von Sätzen der Form (1)
im Sinne von Sätzen der Form (2) sowie mit seinem Verfahren der Elimi-
nation der (Individuen-)Variablen und läßt man das objektontologische
Dogma fallen, so dürfte sich eine einzige kohärente Konzeption ergeben:
die Annahme primärer Propositionen/Verhalte.
[5] Primäre und sekundäre Propositionen und Sätze können allgemein be-
stimmt oder vollbestimmt sein. Diese wichtige Unterscheidung ergibt sich aus
folgendem Sachverhalt: Es ist nicht ausgeschlossen, daß zumindest viele
Attribute mehrere Stellen sowohl innerhalb ein und derselben Welt als auch
21 Vgl. A N H A N G 6.2.4.
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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 199
Aus vielerlei Gründen wirft die oben skizzierte Theorie der Proposition
(des Verhalts) viele und verschiedenartige Probleme auf. Es dürfte klar sein,
daß alle diese Probleme nur im Rahmen einer vollentwickelten Theorie
gelöst werden können. Im vorliegenden Werk erscheint es angebracht, auf
zwei Kategorien von Problemen einzugehen: die formale Repräsentation
von Propositionen (Verhalten) und die Identitätskriterien für diese Enti-
täten.
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200 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
22
„The variables ,p', ,q', ,r', and ,s' range over propositions" (Bricker [1983] S. 12).
23
Diese Annahme wird in der in diesem Buch vertretenen Konzeption nicht geteilt;
sie steht nicht im Einklang mit dem Kontextprinzip.
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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 201
den, etwa: ,daß Schnee weiß ist...', also durch nominaliskrte Sätze. Unter der
gemachten Voraussetzung wäre also eine Proposition durch ein Namenssym-
bol repräsentiert, das nicht den Stellenwert eines (selbständigen) Satzes hat
und daher nicht wie ein Satz in einem aussagenlogischen Kontext auftreten
kann. Es wäre jene Konfusion gegeben, auf die Quine hingewiesen hat:
Man hätte ,p' verwendet sowohl an Stellen, wo Sätze, als auch an Stellen,
wo Namen von Entitäten stehen sollen. 24 Propositionen als die Designata
von ,daß-Ausdrücken' bzw. die sie repräsentierenden Zeichen können gar
nicht als selbständige Entitäten bzw. Zeichen vorkommen; sie erfordern eine
Ergänzung, etwa durch die Einführung von Prädikaten. Dieses Problem ist
grundsätzlicher Natur, denn es betrifft das Verständnis und die Bestimmung
der Proposition selbst. Solange die Proposition als unvollständig im ange-
gebenen Sinne betrachtet wird, kann sie nicht durch Variablen repräsentiert
werden, die selbständig (freistehend) vorkommen. Müssen aber Propositio-
nen so aufgefaßt werden? Diese Auffassung erscheint dann zwingend, wenn
man von einer bestimmten Analyse sprachlicher Ausdrücke ausgeht, nämlich
derjenigen, die die Proposition der Nominalisierung sprachlicher Ausdrücke
zuordnet. Aber diese Auffassung ist durch die Annahme der strengen Version
des Kontextprinzips ausgeschlossen (vgl. unten Abschnitt 4.3.1).
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202 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
[4] Nusenoff hat einen interessanten Vorschlag gemacht, wie man Proposi-
tionen repräsentieren kann. Seine Absicht ist es, nicht nur singuläre, sondern
auch allgemeine Propositionen zu repräsentieren.
Eine singuläre Proposition, die durch einen atomaren Subjekt-Prädikat-
Satz ausgedrückt wird, sollte nach Nusenoff als geordnetes Paar repräsentiert
werden:
(1) Dem Satz ,Fa' entspricht die Proposition: <a, F>
27 Nusenoff [1979] S. 506. Strenggenommen ist der Ausdruck ,<a, F>', als Repräsen-
tation der dem Satz ,Fa' entsprechenden Proposition, sinnlos, da die Repräsentation
der durch diesen Satz ausgedrückten Proposition den Referenten bzw. das De-
signatum (d. h. den semantischen Wert) von a bzw. F kenntlich machen muß. Man
sollte also etwa folgende Notation verwenden: <o, F*X wobei ο für den Referenten
des Namens a und F* für das durch das Prädikat F designiterte Attribut steht
(vgl. dazu ANHANG 6.2.4 [3]). Dies gilt für alle Propositionen, die den Sätzen
(1)—(10) entsprechen. Im folgenden wird Nusenoffs Vorschlag in seiner ursprüng-
lichen Form dargestellt und somit auf die — an sich notwendige — Präzisierung
verzichtet.
28 Frege [1884] § 53.
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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 203
(8) Dem Satz r (Vx)(Fx-> ~Hx)" 1 entspricht die Proposition: <F & H, O )
(9) Dem Satz r (Ex)(Fx & Hx)"1 entspricht die Proposition: <F & H, Ö>
(10) Dem Satz r (3x)(Fx & ~Hx)"" entspricht die Proposition: <F & R, Ö>.
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204 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 205
Wie aus dem ANHANG 29 hervorgeht, gibt es noch eine weitere Variante
der zweiten Repräsentationskategorie, nämlich
(ii —iii) die Gestalt eines Tupels, das als Glieder außer den semantischen
(informationalen) Werten der Satzkomponenten noch den Qualifikationswert
dieser semantischen Werte enthält, etwa: {o, F*; i ) , wobei i e {1, O} bzw.
{wahr, falsch} ist.
Jede dieser Repräsentationsformen hat Vorteile und Nachteile, Stärken
und Schwächen. Wenn man Probleme mit der ontologischen Deutung
mengentheoretischer Gebilde vermeiden will, so ist der Form (i) der Vorzug
zu geben, da sie im Rahmen einer mit den Mitteln einer prädikatenlogischen
Sprache vorgenommenen Repräsentation von Propositionen verbleibt.
Aber über diesen Gesichtspunkt hinaus scheinen diese beiden Repräsenta-
tionsformen (i) und (ii) eine grundsätzliche Schwierigkeit für die in diesem Buch
vertretene Theorie des Satzes und der Proposition zu beinhalten. Syntaktisch
gesehen sind diese Repräsentationsformen singuläre Terme, Namen. Nun
wird aber hier die These vertreten, daß Sätze keine Namen sind und daß
Propositionen nicht durch Namen denotiert, sondern durch Sät^e ausge-
drückt werden. Es scheint also, daß Propositionen gar nicht durch die
genannten zwei Repräsentationsformen (i) und (ii) „repräsentiert", sondern
eben nur durch Sätze ausgedrückt werden können. Oder man könnte sagen:
Die adäquate „Repräsentation" der Proposition ist eben der vollexplizierte
und strukturierte Satz und nur der Satz.
Zu diesem Problem ist zunächst zu bemerken, daß es ein Fall jenes
allgemeineren Problems ist, das aus der gleichzeitigen Verwendung mehrerer
Sprachen entsteht, vor allem der aussagenlogischen, der prädikatenlogischen
und der mengentheoretischen Sprache. Bekanntlich gibt es keinen Konsensus
über das Verhältnis von Logik und Mengentheorie. 30 Man kann in der Praxis
eine Art Kompromiß schließen, indem man die genannten Repräsentations-
formen (i) und (ii) als willkommene nützliche Hilfsmittel ansieht. Doch diese
Vorgehensweise kann letztlich nicht befriedigen, zumindest dann nicht, wenn
die These vertreten wird, daß das Verhältnis zwischen Entitäten und Sprache
ein denkbar inniges ist. Eine Lösungsmöglichkeit könnte darin gesehen
werden, daß zwischen „Ausdrücken" und „Repräsentieren" unterschieden
wird, wobei „Repräsentieren" eine dem „Ausdrücken" untergeordnete Rolle
spielen würde. Die eigentliche syntaktisch-semantische Rolle würde nur dem
Satz zufallen, insofern daran festgehalten würde, daß der Satz (und nur der
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206 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
Satz) eine Proposition ausdrückt. Diese Entität würde dann in dem Sinn
„repräsentiert" werden, daß sie „modelliert" würde. Die „Repräsenta-
tion = Modellierung" wäre eine „Operation" im Rahmen der durch den Satz
gegebenen Ausdrucksrelation. Wichtig ist jedenfalls dies: Die Proposition
kann nicht als das Denotat/Designat eines Namensausdrucks bestimmt werden.
Der die Proposition repräsentierende/modellierende Ausdruck wäre dem-
nach nicht als ein Name, der eine Entität denotiert/designiert aufzufassen;
sein Status wäre ein anderer. Nur unter der Bedingung, daß eine solche
Konzeption durchführbar wäre, wären die genannten Repräsentationsformen
(i) und (ii) mit der in diesem Buch vertretenen Konzeption über den Primat
des Satzes und über die Proposition kompatibel.
So hilfreich die genannten Repräsentationsformen auch sein mögen, es
muß doch betont werden, daß es der Sat% selbst ist, der die Struktur der
Proposition — zumindest — am besten und am unproblematischsten deut-
lich macht. Die oben herausgearbeitete syntaktisch-semantische Strukturiert-
heit des primären Satzes ist die beste (weil die eigentliche) Darstellung der
(Struktur der) Proposition. Was die syntaktisch-semantische Strukturiertheit
des sekundären (= komplexen) Satzes und dementsprechend die Darstellbar-
keit der (Struktur der) sekundären Proposition anbelangt, so soll sie unten
im Abschnitt über den Begriff des Individuums im prägnanten Sinn (Ab-
schnitt 3.5.4.2) herausgearbeitet werden.
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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 207
(i) Erstens können Satzvariablen als substitutioneile Variablen (im Sinne der
substitutioneil verstandenen Quantifikation) verstanden werden. 32 Demnach
sind sie Symbole, die durch andere sprachliche Zeichen, nämlich Sätze,
ersetzt werden können. Sätze stellen daher die Substitutionsklasse für die
substitutioneil verstandenen Satzvariablen dar. Auf Einzelheiten kann hier
nicht eingegangen werden. Substitutionell verstanden, haben Variablen es
unmittelbar eben nur mit Sätzen, nicht mit Propositionen/Verhalten zu tun.
Das Problem des Bezugs des Satzes auf die Proposition wird ausgeklammert
oder verschoben. Und die Definition der Wahrheit eines Satzes mit (gebun-
denen) substitutioneilen Satzvariablen wird ebenfalls verschoben auf die
Definition der Wahrheit von Sätzen mit nicht substitutioneilen Variablen.
Dennoch ist die Nützlichkeit der substitutioneilen Variablen in keiner Weise
zu leugnen. Die substitutioneile Deutung der Satzvariablen kann nicht ein-
fachhin verworfen werden, da Satzvariablen, substitutionell verstanden, eine
nicht zu eliminierende Funktion ausüben. Substitutionell gedeutete Satzva-
riablen dürften — zumindest in gewisser Hinsicht — dem entsprechen, was
einige Autoren „Satzbuchstaben" nennen, wenngleich der Hauptunterschied
nicht übersehen werden darf: Satzbuchstaben können nicht durch einen
Quantor gebunden werden. 33
(ii) Eine zweite Weise, wie man von Satzvariablen im engeren Sinne spricht
bzw. sprechen kann, besteht darin, daß man sie als referentielle oder Objekt-
Variablen im Rahmen einer Quantorenlogik erster Stufe auffaßt. Satzvaria-
blen in diesem Sinne laufen über Sätze, d. h. ihnen werden Sätze als Werte
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208 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
zugeordnet. 34 Diese Satzvariablen sind also singulare Terme, die die „Ob-
jekte" Sät^e als Werte haben. Passende Einsetzungen für diese Variablen
sind daher Namen von Sätzen, also Ausdrücke, deren Designata Sätze sind.
Im Zusammenhang mit den so verstandenen Satzvariablen wird wahr als
(metasprachliches) Prädikat verstanden. Satzvariablen in diesem Sinne sind
wie Individuenvariablen, sie sind singuläre Terme oder Namen; der Unter-
schied ist, daß deren Werte nicht Objekte im gewöhnlichen Sinne, sondern
eben Sätze sind. Referentiell sind diese Satz variablen in einem „innersprach-
lichen" Sinne, da ja die Entitäten, über die sie laufen (ihre Werte), sprachliche
Entitäten sind. Man kann hier natürlich die Frage stellen, warum man anstatt
der so verstandenen referentiellen Satzvariablen nicht gleich Satzvariablen
im rein substitutioneilen Sinne verwendet. Eine Antwort darauf kann nur
gegeben werden, wenn man die Vorteile und Nachteile der Annahme eines
Wahrheitsprädikats im streng syntaktischen Sinne untersucht. Ohne daß dies
hier gezeigt werden kann, scheint es angebracht zu sein, auf die durch die
referentiell verstandenen Satzvariablen gegebenen Ausdrucksmöglichkeiten
nicht ohne weiteres Verzicht zu leisten. Man kann nicht sagen, daß die
referentiell verstandenen Satzvariablen die Sätze auf Namen reduzieren. Nur
die Variablen selbst werden als singuläre Terme oder Namen aufgefaßt,
während ihre Werte genuine Sät^e sind. Insofern könnte man die Einführung
von Satzvariablen in diesem Sinne als eine rein technische Angelegenheit
ansehen, die hinsichtlich bestimmter Fragestellungen und Zusammenhänge
gute Dienste leisten kann. Dabei bleibt allerdings die Frage konsequenter-
weise völlig ausgeklammert und damit ungeklärt, wie der Satz selbst als
Wert der Satzvariablen zu verstehen ist. Aber der Umstand, daß diese Frage
offen bleibt, hat wieder den Vorteil, daß dadurch eine semantisch-ontolo-
gische Konzeption wie die in diesem Buch entwickelte nicht ausgeschlossen
wird. Der Satz kann nämlich dahingehend verstanden werden, daß er eine
Proposition ausdrückt.
Es ist sehr darauf zu achten, in welchem Sinn die soeben vorgestellte
Konzeption von Satzvariablen referentiell oder objektual ist. Wie schon her-
vorgehoben wurde, handelt es sich um eine innersprachliche Referentialität.
Diese Auffassung von Satzvariablen ist streng von einer anderen Auffassung
zu unterscheiden, die von Quine beschrieben (und zu Recht abgelehnt) wird.
Letzterer Auffassung zufolge werden Satzvariablen auch als referentiell oder
objektual zu verstehende Namen oder singuläre Terme bestimmt, aber sie
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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 209
laufen nicht über Sätze, sondern über Propositionen; diese stellen daher die
Werte der so verstandenen Satzvariablen dar.35 Da Quine Propositionen (in
seinem Sinne!) nicht akzeptiert, verwirft er solche Satzvariablen. Es ist nun
bezeichnend, daß diese Satzvariablen als Namen von Propositionen verstanden
werden. Die Annahme ist, daß Propositionen durch Namen denotiert wer-
den. Ironischerweise ist festzustellen, daß Quine völlig zurecht solche Pro-
positionen (und die entsprechenden Satzvariablen) ablehnt; in der Tat ergibt
sich die Verwerfung solcher Propositionen auch direkt aus der in diesem Buch
vertretenen Theorie der Proposition oder des Verhalts, denn diese Entität
wird durch einen Satz ausgedrückt, nicht durch einen Namen denotiert.
Nur scheint Quine — zumindest an der zitierten Stelle — vorschnell „Pro-
position" mit „Objekt (Referent) eines Namens" zu identifizieren.
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210 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
, Satz variablen' genannt; entscheidet man sich für die zweite, so wäre die
kohärente Bezeichnung ,Propositions variablen'.
In beiden Fällen hat man es mit einem Satz und einer Proposition zu
tun. Aber im Falle der Propositionsvariablen stellt die Proposition den
Bezugspunkt für das Verhältnis von Proposition und Satz dar: eine Pro-
positionsvariable hat als Wert eine Proposition-die-durch-einen-Sat^-ausge-
drückt-wird; der Umstand, daß für diese Propositionsvariablen genuine Sätze
Einsetzungsinstanzen sind, tritt in den Hintergrund. Wenn man aber in
diesem Kontext doch von , Satz variablen' spricht, so ist gerade dieser Um-
stand die bestimmende Perspektive: Man versteht die Variablen als jene
Symbole, für die (genuine) JVz^-die-Propositionen-ausdrücken passende
Instanzen sind. Anders gesagt: Wenn man hier von ,Propositionsvariablen'
spricht, so leitet sich die Bezeichnung vom Wert der Variablen her; spricht
man hingegen von ,Satzvariablen', so bezeichnet man die Variablen von
ihren passenden Instanten her.
Es gibt in der gewöhnlichen logischen Terminologie einen anderen ähn-
lichen terminologischen Fall, auf den allerdings kaum hingewiesen wird.
Man spricht wie selbstverständlich von .Individuenvariablen' (,x', ,y', ,z'...)
und — oft — ,Prädikatvariablen'. Diese beiden Bezeichnungen — zusam-
mengenommen — sind insofern inkohärent, als sie von zwei jeweils ver-
schiedenen, ja entgegengesetzten Perspektiven erfolgen. Die sog. .Indivi-
duenvariablen' werden von den Werten her, die einer bestimmten Sprach-
kategorie (den singulären Termen bzw. Namen) zugeordnet werden, be-
stimmt. Hingegen wird der Ausdruck ,Prädikatvariable' unter Zugrundele-
gung einer bestimmten Sprachkategorie, nämlich der Prädikate, die als die
passenden Instanzen für diese Variablen betrachtet werden, und nicht aus
der Perspektive der dieser Sprachkategorie zugeordneten Werte, gebildet.
Wollte man kohärent verfahren, so müßte man sagen: ,Namenvariablen' und
,Prädikatvariablen' oder .Individuenvariablen' und .Eigenschafts- (oder
Attribut-)Variablen'. Dazu ist allerdings zweierlei anzumerken. Erstens: Der
Ausdruck .Prädikat' wird oft vage auch für .Attribut' genommen. Zweitens:
Es scheint, daß der genannten Terminologie ein gewisser versteckter No-
minalismus zugrunde liegt, demzufolge nur (vage verstandene) Individuen/
Objekte als („reale", „ontologische") Werte für Variablen anerkannt werden.
Aus diesen Überlegungen ergibt sich, daß man im Sinne der hier vertre-
tenen Konzeption über Propositionen/Verhalte und entsprechend den ge-
gebenen Erläuterungen prinzipiell beides sagen kann: .Satzvariablen' und
.Propositions- oder Verhalts variablen'. Es entspricht aber eher der herr-
schenden Ausdrucksweise, die nicht-substitutionell verstandenen Variablen
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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 211
von ihren Werten her zu benennen. Daher soll im folgenden in der Regel
der Ausdruck ,Propositionsvariablen' verwendet werden. Hingegen soll der
Ausdruck ^invariablen' in der Regel im Sinne der oben erläuterten %weiten
Bedeutung verstanden werden, dergemäß den Satzvariablen Sätze als Werte
zugeordnet werden und für die Namen von Sätzen passende Instanzen sind.
[2] In einer genau und formal entwickelten Theorie müßten die erläuterten
Variablensorten auch notational kenntlich gemacht werden. Da es sich in
diesem Buch lediglich um die Grundlagen einer solchen Theorie handelt,
dürfte eine allgemeine Festlegung genügen. Folgende Symbole werden ver-
wendet:
— ,φ', ,ψ', ,<ρι, ,ψ\ ... für substitutioneil verstandene Satzvaria-
blen
— ,p\ ,q\ ,s', ,r'... für referentiell oder objektual verstandene
Satzvariablen im Rahmen einer Quanto-
renlogik erster Stufe
— ,p\ ,q', ,s', ,qi'... für Propositions-(Verhalts-)Variablen
— ,φ', ,ψ', ,φ,', ,ψ/... für substitutionell verstandene Satzpara-
meter
— ,p', ,q', ,s', ,r'... für referentiell oder objektual verstandene
Satzparameter
— ,p', ,q', ,s', ,r'... für Propositions-(Verhalts-)Parameter
— ,Φ', ,ΙΓ, ,Φ/... für substitutionell verstandene Satzkon-
stanten
— ,S', ,R'... für referentiell oder objektual verstandene
Satzkonstanten
— ,P', ,Q', ,R', ,S'... für Propositions-(Verhalts-)Konstanten
38 Vgl. beispielsweise Quine [1969] S. 37; Quine [1981b], bes. S. 235-238]; Zur
Problematik dieser Vorschrift vgl. u. a. Gottlieb [1979]; Pollard [1986],
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212 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
Was ist aber damit gemeint, worauf gründet sich dieses Erfordernis und wie
kann es erfüllt werden?
Das Problem, das mit Hilfe der genannten Vorschrift gelöst werden soll,
ist das sog. Individuationsproblem. Man geht dabei von der Voraussetzung aus,
daß bei der Entscheidung der Frage, welche Entitäten anzunehmen sind,
die sog. Universalien im Spiele sind. In seiner traditionellen Form betrifft
das Problem den Sachverhalt, daß etwas Universales (ζ. B. das Menschsein)
zu etwas Partikularem oder Individuellem (eben diesem individuellen Men-
schen) „wird". Was ist aber damit genau gemeint? Es scheint, daß das
traditionell verstandene Individuationsproblem auf bestimmten Vorausset-
zungen beruht, insbesondere auf der Vorstellung, daß Universalien (welcher
Art auch immer) irgendeine Art „selbständige" (reale, begriffliche, sprach-
liche, epistemische etc.) „Existenz" besitzen. Erwiese sich eine solche Vor-
aussetzung als leer, so handelte es sich um ein Pseudoproblem.
Die oben skizzierte Theorie der Attribute bzw. der Propositionen (Ver-
halte) beinhaltet die zentrale These, daß Attribute als Universalien Abstrak-
tionen sind, und zwar im doppelten Sinne: Sie sind nicht wirklich und sie sind
unbestimmt. Als solche haben sie keinen ontologischen, sondern nur einen
sprachlichen, semantischen und epistemischen Status. Sie müssen soz. einem
Prozeß der Bestimmung unterzogen werden, oder anders: sie müssen als
Universalien „aufgehoben" werden, um einen intelligiblen Status zu erhalten.
Faßt man sie bestimmt auf, so hören die „Universalien" auf, „Universalien
als Universalien" zu sein. Ein Pseudoproblem entsteht dann, wenn man den
Unbestimmtheitsstatus der Universalien nicht beachtet und ihnen dementspre-
chend eine Bedeutung beimißt, die sie nicht haben. Viele, vermutlich die
meisten Diskussionen über Universalien leiden unter diesem fundamentalen
Mangel. 39
Nichtsdestoweniger haben Universalien als Abstraktionen einen nicht
wegdisputierbaren Platz im philosophischen Denken. Die Frage ist, wie
dieser Platz zu bestimmen ist. Die oben skizzierte Theorie dürfte in der
Lage sein, diese Frage zu klären. Universalien sind zwar Abstraktionen, aber
als solche werfen sie ein nichtüberspringbares Problem auf: das Problem der
Bestimmung der Universalien (qua Abstraktionen). Der nicht wegdisputier-
bare richtige Kern des sog. „Individuationsproblems" besteht in der Aufgabe
zu zeigen, wie man von den Universalien qua Abstraktionen zu „konkreten"
Entitäten, anders: wie man von unbestimmten zu (voll)bestimmten Entitäten
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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 213
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214 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
Die anstehende Aufgabe erweist sich für die Zielsetzung des vorliegenden
Buches deswegen als sehr wichtig, weil einer der Hauptgründe für die
Verwerfung von Propositionen in dem Umstand gesehen wurde (und wird),
daß für diese Art von Entitäten — angeblich — keine Identitätsbedingungen
angegeben werden (können). Dies ist insbesondere Quines Position. Inzwi-
schen wurden aber mehrere Versuche unternommen, diesen Mangel zu
beheben. So interessant die dabei erzielten Ergebnisse auch sein mögen, sie
sind für die hier entwickelte Konzeption nur teilweise verwertbar, weil sie
den Begriff der Proposition nicht hinreichend und radikal genug klären. Im
folgenden soll auf diese Diskussion nicht eigens eingegangen werden.42
[1] Die ontologisch orientierte Frage kann relativ leicht geklärt werden, und
zwar auf zweifache Weise.
Man kann — erstens — auf Leibniz' Prinzip der Identität des Ununter-
scheidbaren (nämlich: (Vx)(Vy)[VF(Fx Fy) —• χ = y ] ) bzw. der Ununter-
scheidbarkeit des Identischen (nämlich: (Vx)(Vy)[x = y —• (VF)(Fx «-*· Fy)])
rekurrieren. Allerdings empfiehlt es sich, das Prinzip dahingehend zu mo-
auf die eine Frage nicht von selbst als Antwort auf die andere Frage aufgefaßt
werden. Terminologisch könnte man die erste Frage als die Frage nach der
Individualität des Individuums, die zweite als die Frage nach der Individuation des
Individuums bezeichnen. Wählt man diese Terminologie, so dürfte einleuchten,
daß die Identitätsbedingungen das Problem der Individuation klären. Wenn die
andere Frage, nämlich nach der Individualität des Individuums, überhaupt einen
Sinn hat, so ist sie, wie im Haupttext ausgeführt wird, durch die Definition der
betreffenden (individuellen) Entität beantwortet. Es dürfte schwer sein, für eine
solche Frage einen Sinn zu reklamieren, der noch darüber hinausweist.
42 Was Quines Position und Argumente anbelangt, so hat Moser [1984] überzeugend
nachgewiesen, daß sie auf schwachen Füßen stehen. Quines Alternative zu Pro-
positionen sind die Satztypen („ewige Sätze"); für diese Entitäten verfügt er aber
über kein klares Identitätskriterium. Zur allgemeinen Problematik vgl. auch Wilson
[1974]; Castaneda [1975]; Daniels/Freeman [1977].
43 Vgl. dazu Moser [1984] S. 363.
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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 215
difizieren, daß nicht von Eigenschaften die Rede ist, da man sonst Probleme
mit dieser Art von Begriffen bzw. Entitäten hat. Statt dessen kann man
Operatoren für die Propositionsvariablen, also für die Variablen, für die
genuine Sätze passende Instanzen sind, einführen. Daniels/Freeman44 spre-
chen in diesem Zusammenhang von Satz variablen (,p', ,q'...), die Proposi-
tionen als Werte haben, und von Variablen für Satzoperatoren {,/', β'···)·,
denen sie Modalitäten als Werte zuordnen. Entsprechend dieser Terminologie
formulieren sie die Identitätsbedingungen für Propositionen so: Propositio-
nen sind identisch, wenn sie alle Modalitäten gemeinsam haben:
(1) ρ =q<->(V/(/p <-+fq).
[2] Als viel schwieriger erweist sich die Klärung der semantisch orientierten
Frage. Unter ,Satz' ist hier sowohl Sat^typus (sentence type) als auch Sat^yor-
kommnis (sentence token) zu verstehen.
Quine versteht Satf(typen als sprachliche Formen, die häufig, einmal oder
nie mündlich oder schriftlich geäußert werden (können):
„Ein Satz ist kein einzelnes Äußerungsereignis, sondern ein Universale: ein
wiederholbares Klangmuster bzw. eine Norm, der man wiederholt nahe-
kommen kann." 4 5
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216 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
bestimmt werden, 46 faßt er Sätze qua sprachliche Formen als Folgen (im
mathematischen Sinne) ihrer sukzessiven Zeichen oder Phoneme auf. So
konstruiert er eine Folge a1( a 2 ,..., a„als die Klasse der η Paare (a^ 1), <a2,
2),..., <(an, n ) . Dadurch ist es möglich, jedes Zeichen Λ, als eine Teilklasse
von Ereignissen mündlicher oder schriftlicher Äußerungen zu interpretieren,
wodurch die mit der Äußerung und Nicht-Äußerung von Sätzen gegebenen
Probleme gelöst werden (bis auf bestimmte Probleme mit selbstreferentiellen
„tokens").
Bestimmt man Satztypen als Folgen im erläuterten Sinne, so ist die
ontologische Frage nach den Identitätsbedingungen für solche Sätze leicht zu
klären. Geht man vom Extensionalitätsprinzip für Folgen aus, so läßt sich
sagen: zwei (oder mehrere) Folgen (und daher auch Satztypen) sind identisch
genau dann, wenn sie dieselben Komponenten in genau derselben Reihen-
folge haben.
Aus dem in diesem Buch entwickelten Ansatz ergibt sich nun folgendes:
Ordnet man jedem Satztypus einen informational-semantischen Wert, d. h.
eine Proposition, zu, so läßt sich die semantische Frage nach den Identi-
tätsbedingungen für Propositionen im Hinblick auf Satztypen beantworten:
Zwei Satztypen drücken dieselbe Proposition aus genau dann, wenn sie
identisch sind.
[3] Mit der Angabe der Identitätsbedingungen für Satztypen ist die Frage
nicht geklärt, worin die Identitätsbedingungen für die Satz Vorkommnisse
(„tokens") zu sehen sind. Freilich kann man eine erste, im Lichte des bisher
Ausgeführten — zunächst — einleuchtende Antwort auf diese Frage geben:
Aber diese Antwort ist deswegen eine vordergründige, weil sich sofort die
semantische Frage nach den Identitätsbedingungen für Satzvorkommnisse
aufdrängt: Unter welchen Bedingungen sind zwei (oder mehrere) Satzvor-
kommnisse zum selben Satztypus zu rechnen? Diese Frage wurde im An-
schluß an und in Auseinandersetzung mit Quine von P. K. Moser gründlich
und vorbildlich untersucht. 47 Er zeigt, daß mehrere Kriterien, die entweder
44 In diesem Fall würden alle nicht geäußerten Sätze auf einen einzigen reduziert
werden: die Nullklasse. Vgl. Quine [1960], § 40 S. 337.
47 Vgl. Moser [1984], bes. S. 367 ff.
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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 217
bei Quine selbst zu finden sind oder zumindest mit seiner Sprachphilosophie
in Einklang gebracht werden können, unzureichend sind: das Kriterium der
typographischen oder phonetischen Identität, das Kriterium der verbalen
Dispositionen der Sprachbenutzer, das Kriterium der — unabhängig vom
verbalen Verhalten gegebenen — physikalischen Ähnlichkeit der Affizierung
der sinnlichen Oberfläche, das Kriterium der positiven Antwort aller Sprach-
benutzer auf die Frage „Gehören zwei (oder mehrere) Satzvorkommnisse
zum selben Satztypus?". Moser selbst schlägt ein Kriterium vor, das er das
konventionalistische Kriterium nennt, demzufolge die Bedingungen für die
Typus-Identität der Satzvorkommnisse unter Rekurs auf die funktionalen
Merkmale der Satzvorkommnisse bestimmt werden. 48
Zunächst müssen zwei Begriffe definiert werden, bevor dieses Kriterium
für Satzvorkommnisse (schriftliche und mündliche Äußerungen) formuliert
werden kann: die Begriffe der funktionalen Äquivalentζ und der annehmbaren
Transkription. Moser definiert sie so:
(D2) Die schriftliche Äußerung i ist eine annehmbare Transkription der mündli-
chen Äußerung u = df die eingespielten Regeln der Aussprache für schrift-
liche Äußerungen im Deutschen und für Transkriptionen von mündlichen
Äußerungen ins Deutsche legitimieren für einen Sprachbenutzer den Über-
gang von u zu i und umgekehrt.
Mit Hilfe dieser zwei Begriffe wird das Kriterium für Typus-Identität von
mündlichen Äußerungen von Sätzen so formuliert:
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218 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
[4] Es sei noch auf eine andere Lösungsmöglichkeit kurz hingewiesen, die
man als die radikalste und als die im Hinblick auf die in diesem Buch
vertretene Konzeption über Propositionen vielleicht konsequenteste be-
trachten kann. Wie aus den Ausführungen im Abschnitt 3.6.3 hervorgehen
wird, werden Propositionen am besten als zwar nicht-sprachliche, aber
doch sprachabhängige Entitäten charakterisiert. Die radikalste Weise, wie man
diese Sprachabhängigkeit verstehen kann, besteht darin, daß man die Pro-
positionen nicht von Satztypen, sondern von Satzvorkommnissen abhängig
sein läßt. Man würde in diesem Fall Satztypen im eigentlichen Sinne, d. h.
als eine identische sprachliche Form, verwerfen und sie höchstens in einem
weiteren Sinne (etwa im Sinne des Begriffs der Familienähnlichkeit) zulassen.
Wenn man Propositionen als Entitäten charakterisiert, deren Sprachabhän-
gigkeit auf der Ebene der Satzvorkommnisse liegt, so heißt das, daß jedes
einzelne (numerisch verschiedene) Satzvorkommnis eine eigene Proposition
ausdrückt. Es könnte nicht mehr gesagt werden, daß zwei (in welcher Weise
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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 219
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220 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
[2] Wie kann dieser grundlegende Mangel behoben werden? Auf diese Frage
versucht die oben skizzierte Theorie der Proposition eine Antwort zu geben.
Es soll hier die These vertreten werden, daß Propositionen, oder, wie ab
jetzt in der Regel gesagt werden soll, Verhalte, die einzigen grundlegenden
Entitäten sind. Um diese These richtig zu verstehen, sind sachliche wie auch
terminologische Differenzierungen vorzunehmen.
In einer gewissen Hinsicht wurde die genannte These mindestens von
zwei Autoren formuliert. Im Tractatus von Wittgenstein heißt es:
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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 221
„1.1 Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen [d.h. der bestehenden
Sachverhalte, L. B. P.], nicht der Dinge." 50
Der zweite Autor, der die genannte These klar vertritt, ist F. B. Fitch, der
sie als Titel eines außerordentlich dichten Aufsatzes formuliert: „Propositions
as The Only Realities"51.
Wenngleich solche Formulierungen in einer gewissen Hinsicht interessant
und hilfreich sind, so ist doch auf das zu achten, was die genannten Autoren
unter .Sachverhalt' bzw. .proposition' genau verstehen. Es kann kaum gesagt
werden, daß sie den Begriff der primären Proposition bzw. des primären
Verhalts entwickeln und vertreten.
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222 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
Eine Welt ist eine Totalität von bestehenden (primären) Verhalten. Eine
solche Formulierung hat hier rein provisorischen, antizipatorischen Charak-
ter, da der Begriff der Welt ausführlich erst im Abschnitt 3.6 geklärt werden
soll. Aus diesem Grund wird hier zunächst ganz allgemein von „einer Welt"
ohne weitere Spezifikation gesprochen. Es wird angenommen, daß primäre
Verhalte die ursprünglichen Entitäten als in-einer-Welt-realisierte Attribute
sind. Daß eine Welt eine Totalität von (bestehenden) primären Verhalten ist,
ist die allgemeinste und fundamentalste Aussage, die über (die bzw. eine)
Welt zu machen ist. Damit ist weder geleugnet noch auch gezeigt, daß eine
Welt eine in bestimmter Weise strukturierte Totalität ist. Es ist nur gesagt,
daß die Strukturiertheit der Welt, falls vorhanden, einzig auf der Basis der
These, daß die primären Verhalte die einzigen ursprünglichen Entitäten sind,
zu denken und aufzuzeigen ist. Das heißt: alle Entitäten, die die Struk-
tur(iertheit) von Welt ausmachen, sind als Komplexe oder Konfigurationen
von primären Verhalten zu denken. Um welche Entitäten handelt es sich?
Es dürfte von vornherein klar sein, daß man hier nicht irgendwie apriori
oder deduktiv vorgehen kann. Man kann nicht eine Welt erfinden (oder
konstruieren) und dann sagen, dies sei etwa unsere oder die reale Welt. Man
kann zwar eine Welt konstruieren, aber das einzige, was man in diesem Fall
(zunächst) behaupten kann, ist, daß es sich um eine mögliche Welt handelt.
Will man aber den Anspruch erheben, jene Welt zu erfassen, die unsere Welt
genannt wird, so muß auch empirischen Gesichtspunkten Rechnung getragen
werden. Hier geht es nun nicht darum, zu zeigen oder herauszufinden, welche
und wie viele Entitäten im einzelnen eine Welt einschließt, sondern darum,
den Typus oder die Kategorie von Entitäten, die eine (hier genauer: jede, sei
es mögliche, sei es wirkliche) Welt bevölkern, zu analysieren. Dies ist zu
präzisieren. Zu entscheiden ist hier nicht, ob es Atome oder Engel oder
Gold oder Einhörner usw. gibt. Auch geht es nicht darum, zu entscheiden,
ob es Kategorien oder „Typen" von Entitäten gibt, wenn man darunter
bestimmte Bereiche von Entitäten, d. h. Realitätsbereiche oder -schichten
der Welt, versteht, wie etwa die Dimension des Physikalischen, des Mate-
riellen, des Mentalen, des Ästhetischen, des Geistigen, des Ideellen usw. Es
geht vielmehr um eine ursprünglichere Fragestellung: um die Kategorialität
der Entitäten, die die Welt ausmachen.
Zu diesem so verstandenen Typus von Entitäten gehören u. a.: Tatsachen,
Individuen/Objekte, Ereignisse, Prozesse, Handlungen, „Momente" u. ä. In
einer bestimmten Hinsicht (d. h. je nachdem, wie man sie interpretiert),
gehören dazu auch abstrakte Entitäten wie Mengen (Klassen), Zahlen,
Punkte, (formale) Strukturen (jeder Art) u. ä., Raum- und Zeitstellen usw.
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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 223
Da hier die These vertreten wird, daß alle die genannten Entitäten Konfi-
gurationen einer einzigen grundlegenden (ursprünglichen) Entitätskategorie
(des primären Verhalts) darstellen, kann es sich nur darum handeln zu zeigen,
wie sich alle diese Entitäten auf solche Konfigurationen reduzieren oder sich
als solche Konfigurationen erklären lassen. Die vollständige und angemessene
Durchführung eines solchen Programms stellt eine immense Aufgabe dar,
die im Rahmen dieses Buches nicht angemessen bewältigt werden kann.
Hier soll nur der, wie man wohl sagen muß, „harte Kern" der genannten
Aufgabe, nämlich die Reduktion der angeblich „harten" (und ursprüngli-
chen) Entitäten „Individuum (Objekt)", „Ereignis", „Prozeß", „Handlung"
in Angriff genommen werden. Aus naheliegenden Gründen verdient die
Entität Individuum (im prägnanten Sinne) eine ganz besondere Berücksich-
tigung.
[4] Es ist zu betonen, daß der als Totalität der (bestehenden) primären
Verhalte konzipierten Welt keine Vorrangigkeit oder Priorität — weder im
zeitlichen noch im logischen Sinne — gegenüber der Welt als einer durch
Konfigurationen von primären Verhalten bestimmten Totalität zukommt. Es
handelt sich vielmehr um eine allgemeine, noch nicht um eine spezifische
Aussage über die Welt und ihre Strukturiertheit. Es wäre also völlig unan-
gemessen, ja falsch, das „Verhältnis" von ursprünglichen primären Verhalten
und Konfigurationen so zu bestimmen: „Am Anfang" (in welchem Sinne
auch immer) waren/sind nur die ursprünglichen primären Verhalte, dann
„entwickel(te)n" sie sich zu Konfigurationen... Ein evolutionärer Kosmos soll
hier keineswegs verworfen werden. Aber darum handelt es sich nicht. Zwar
ist nicht zu leugnen, daß viele Konfigurationen erst „im (zeitlichen) Verlauf'
einer Entwicklung entstehen (und vergehen), aber dies kann nicht von jeder
Konfiguration behauptet werden. Soll eine solche These vertreten werden,
so müssen Gründe angegeben werden. Solche und ähnliche Fragen sind im
Rahmen einer näheren Ausführung der hier nur grundsätzlich skizzierten
ontologischen Konzeption zu behandeln.
Die Schwierigkeit der hier vertretenen Konzeption liegt insbesondere in
der genauen Bestimmung des Begriffs der Konfiguration. Dieser Ausdruck
wurde mit Bedacht gewählt (wie oben vermerkt, wird er schon von Witt-
genstein verwendet). Man kann ihn in einem sehr weiten oder in einem
engen (spezifischen) Sinne nehmen. Gemäß der weiten Bedeutung ist alles,
was mehr ist als nur ein einziger primärer Verhalt, eine Konfiguration, so
etwa: eine Menge (Klasse), eine Kollektion, ein Haufen, eine Gruppe, ein
Individuum im prägnanten Sinne (beispielsweise ein Organismus, eine Per-
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224 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
son usw.), kurz: in diesem Sinne ist jedes Gebilde überhaupt eine Konfi-
guration. Nimmt man aber „Konfiguration" in einem sehr engen Sinne, so
wird man nur jene Gebilde, die eine signifikante Form von Einheit (oder
„Geschlossenheit") aufweisen, „Konfigurationen" nennen. Es bleibt freilich
zu sagen, was „signifikante Form von Einheit" besagt. Eine allgemeine
Definition von „Konfiguration" erscheint kaum durchführbar und kaum
von Belang. Im folgenden soll hinsichtlich jeder zu analysierenden Gestalt
von Konfiguration eine qualifizierende Bezeichnung eingeführt werden.
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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 225
53 Vgl. u. a. Loux [1976] und [1978], Armstrong [1978], Castaneda [1982], Gtossmann
[1983], Simons [1987], Gracia [1988] und die weitere in diesem Abschnitt ange-
führte Literatur.
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226 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
atomar, unteilbar, einfach, auf etwas anderes nicht zurückführbar ist. Indi-
viduen in diesem Sinne sind die „einfachsten Elemente". Die vage Bedeutung
liegt der alltäglichen und auch weitgehend philosophischen Verwendung der
Ausdrücke ,Objekt'/,Individuum' zugrunde. Die spezifische oder prägnante
Bedeutung ist von einem ganz anderen, insbesondere einem typen- oder
prädikationstheoretischen, Gesichtspunkt bestimmt: Danach ist Individuum
dasjenige, wovon (im Prinzip) alles, das selbst aber nicht von etwas anderem
prädiziert werden kann. In der philosophischen Tradition ist dieser letzte
Gesichtspunkt in den Begriff der Substanz eingegangen und mit dem ersten
Gesichtspunkt in der Weise kombiniert worden, daß die Substanz als Sub-
stanz für unteilbar gehalten wurde.
Alle drei Gesichtspunkte entsprechen gewissen intuitiven Vorstellungen.
Doch ist es fraglich, ob diese Vorstellungen ohne genaue Prüfung akzeptiert
werden können. Der typen- oder prädikationstheoretische Gesichtspunkt
kann auch dann als erfüllt angesehen werden, wenn das Individuum nicht
als Substanz im prägnanten klassischen Sinne, sondern als eine (genau zu
spezifizierende) Konfiguration etwa von primären Verhalten verstanden
wird. Wäre dadurch dem ersten Gesichtspunkt, dem Gesichtspunkt der
Unteilbarkeit, nicht mehr Rechnung getragen? Hier ist zu unterscheiden.
Die gängige Vorstellung von Unteilbarkeit wäre sicher aufgegeben, da ihr
zufolge ein Letztes, Unteilbares mit dem Einfachen identifiziert wird. Danach
ist eine letzte (fundamentale) Einheit etwas absolut Einfaches im Sinne von:
Nichtstrukturiertes. Unter Zugrundelegung dieser Vorstellung kann ein
Individuum nicht eine Konfiguration sein, da diese eine strukturierte, keine
einfache Einheit ist. Der ersten Konzeption entspricht daher ein ganz „ein-
faches" Kompositionalitätsschema: Die „letzten Elemente" sind die absolut
einfachen Elemente. Dabei werden zwei Arten von „einfachen Elementen"
angenommen: die Substanzen (als die eigentlichen signifikanten oder prägnanten
einfachen Elemente, die nicht als Konstituenten in andere Entitäten einge-
hen) und die nicht-substantiellen Elemente, die in prinzipiell beliebiger Weise
Konstituenten komplexer Entitäten sein können.
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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 227
die Welt aus Individuen aufbauen läßt. Dabei werden Klassen (Mengen)
strikt abgelehnt. Der Ausdruck .Individuum' wird in einem etwas techni-
schen Sinne, nicht nach den gewöhnlichen Vorstellungen (bzw. in der in
diesem Buch verwendeten Terminologie: in einem „prägnanten Sinne")
genommen.55 Unteilbarkeit, so betont Goodman, ist keine notwendige Be-
dingung für Individualität; in der Tat kann ein Individuum nach seiner
Konzeption in eine beliebige Anzahl von Teilen zergliedert werden.56 ,In-
dividuum' wird folgendermaßen eingeführt: Die Variablen des Individuen-
kalküls nehmen als Werte Individuen. Dabei wird ein primitives (Undefi-
niertes) Prädikat .überlappt sich' (.overlaps') (Notationszeichen: °) einge-
führt. Die Bedeutung dieses Prädikats wird so angegeben: Zwei Individuen
überlappen sich dann und nur dann, wenn sie irgendeinen gemeinsamen
Gehalt haben, gleichgültig, ob das eine im anderen gänzlich enthalten ist
oder nicht. .Sich Überlappen' ist ein reflexives, symmetrisches, aber kein
transitives Prädikat. Individuen sind demnach alle und nur die Entitäten,
die sich mit etwas überlappen. Dieses Postulat wird in der folgenden Formel
festgehalten:
χ ° y. = (3z)(w)(w ο ζ . w ο χ. w ° y). 57
Auf dieser Basis werden weitere Begriffe wie „Teil", „Produkt", „Summe",
„Ganzes", „Negat" usw. von Individuen definiert. Unter der Summe von
zwei Individuen wird jenes Individuum verstanden, das beide exakt und
vollständig „ausschöpft" („exhausts"), oder: dasjenige Individuum, das sich
genau mit den Individuen überlappt, die sich mit mindestens einem von
beiden überlappen:
χ + y = (τζ){ (w)(w °z — . w ° x ν w ° y ) } .
Andere Autoren führen andere primitive Prädikate für einen Individuen-
kalkül ein. So verwendet B. L. Clarke das Prädikat ,Cx,y' (,x is connected
to y') als primitives Prädikat und definiert damit das Prädikat ,x überlappt
sich mit y'. 58 P. Simons hat in seinem Buch Parts. Α Study in Ontology59 einen
imponierenden Versuch unternommen, eine Gesamtübersicht über die bis-
55 Goodman gibt zu, daß es für seine eigenen Zwecke vielleicht besser gewesen
wäre, den Ausdruck .Individuum' nicht zu verwenden und statt dessen einen
neuen Ausdruck zu prägen (vgl. Goodman [1951] S. 226).
56 Vgl. Goodman [1951] S. 33.
57 A. a. O. S. 34.
58 Vgl. Clarke [1981].
59 Simons [1987],
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228 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
[4] Will man der realen (unserer) Welt gerecht werden, so sind Individuen
in einem qualifizierten, spezifischen, eben prägnanten Sinne anzunehmen. Wie
sind sie zu begreifen? Im Sinne des in diesem Buch erarbeiteten semantisch-
ontologischen Ansatzes ist zu sagen, daß sie ganz spezielle Konfigurationen
von primären Verhalten sind. Diese These ist im folgenden zu erläutern, zu
begründen und gegen einige mögliche Einwände zu verteidigen.
[i] Der zentrale Punkt bei einer Explikation des Individuums ist die Bestim-
mung des Begriffs der Konfiguration.60 In der Literatur, die sich mit der
„Bündeltheorie" befaßt, werden für den metaphorischen Ausdruck ,Bündel'
u. a. folgende Ausdrücke verwendet: ,Menge', ,Kopräsenz', ,Kosubstantia-
tion', ,Koinstantiierung', .togetherness', .Assoziation', .Komplex', .Struk-
tur', ,Summe' u. a. 61 .Menge' erscheint völlig ungeeignet, u. a. deswegen,
weil das Individuum im prägnanten Sinne eine feinere Strukturiertheit
aufweist als dies durch den Mengenbegriff artikuliert werden kann. ,Kosub-
stantiation" und .Koinstantiierung' 62 beinhalten zu deutlich die Konnotation
des Substantiellen bzw. des Subjekts in einem ungeklärten Sinn. Die anderen
Ausdrücke können verschiedentlich gedeutet werden.
Letzteres gilt zunächst auch für den Ausdruck .Konfiguration'; es scheint
aber zumindest grundsätzlich möglich zu sein, ihm eine bestimmte Bedeu-
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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 229
tung zu geben. .Konfiguration' kann weder mit einer Menge (Klasse) noch
auch mit Goodmans Prädikat ,sich überlappen' (oder .togetherness' 63 ) iden-
tifiziert werden. Es ist nämlich nicht einzusehen, warum zwei Gebilde mit
den numerisch gleichen, aber in wesentlich anderer Reihenfolge oder Stel-
lung vorkommenden primären Verhalten nicht zwei verschiedene Gebilde
sein sollen. Ja, es ist nicht einzusehen, wie es überhaupt anders sein kann.
Ein „Atom" hat „Bestimmtheit" nur in einem Kontext oder in einem
Zusammenhang, also in einem System oder in einer Welt; seine „Stellung"
in der Totalität ist ihm nicht äußerlich. Andernfalls wäre nicht mehr erklär-
bar, was es heißen könnte, daß das Atom — nachträglich — „weiter
bestimmt", in einen Zusammenhang „eingebettet" wird u. dgl. Man nehme
etwa zwei hypothetische Individuen, die jeweils durch die Realisiertheit von
drei und nur drei „identischen" Attributen (d. h. primären Verhalten) be-
stimmt sind; diese „zwei" Individuen müssen keineswegs identisch sein, da
es der Fall sein kann, daß die Reihenfolge der Attribute deren „Bestimmtheit"
wesentlich mitkonstituiert. Soll Konfiguration' nicht ein leeres, nichtssagendes
Wort sein, so ist sie als ein außerordentlich feinstrukturiertes Gebilde zu
konzipieren.
[ii] Man kann ein Individuum in einer ersten Annäherung als eine bestimmte
Konfiguration von primären Verhalten/Propositionen p,, p 2 ,..., pj auffassen.
Ein Individuum ist selbst ein Verhalt, nämlich ein sehr komplexer Verhalt,
ein Verhalt von (primären) Verhalten. Es kann sich in diesem Buch nicht
darum handeln, eine formal präzise Definition vorzulegen; dazu müßte man
eine diesem Bereich adäquate Logik und Sprache entwickeln, was hier weder
beabsichtigt noch möglich ist.
Der Ausdruck ,Konfiguration' kann im aktiven Sinn (als ,Konfigurator',
analog zu .Operator', ζ. Β. .Konjunktor') oder als das Ergebnis der .konfi-
gurierenden Operation', also als „Gebilde", verstanden werden. Diese zwei
Bedeutungen sollen als Konfigurationj bzw. als Konfiguration2 gekennzeichnet
werden. Will man der vollen Bestimmtheit der Individuen (im prägnanten
Sinne) in unserer Welt gerecht werden, so ist anzunehmen, daß sie extrem
komplexe Gebilde, d. h. Konfigurationen 2 sind, die selbst aus Sub-
Konfigurationen 2 gebildet sind, wobei sowohl jede dieser Sub-Konfigu-
rationen 2 als auch die Gesamt-Konfiguration 2 jeweils von einer Kon-
figuration], d. h. von einem Konfigurator (Operator), bestimmt sind. Es ist
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230 3 Logische, sprachphilogophische, kognitive und ontologische Grundlagen
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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 231
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232 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
[5] Damit ist nur der globale Begriff der Konfiguration erklärt. Jedes Indi-
viduum ist aber durch eine spezifische, eben „individuelle", Gestalt einer so
aufgefaßten Konfiguration charakterisiert. Um die Individualität einer
Konfiguration zu erklären, sind einige Bedingungen zu nennen, denen sie
genügen muß, um diesen Status aufweisen zu können.
(Prädikat) Sokrates' oder ,ist Sokrates' wird, so fügt er doch hinzu, daß
dieses Prädikat bzw. dieser allgemeine Terminus „auf genau einen Gegen-
stand zutrifft" 66 . Damit wird auch bei Quine der Kern der traditionellen
Intuition bewahrt.
In Entsprechung zu dem in diesem Buch verfolgten neuen semantischen
und ontologischen Ansatz könnte der Wahrheitskern dieser wichtigen In-
tuition so formuliert werden: Es ist zu unterscheiden zwischen fundamen-
talen und abgeleiteten oder sekundären Konfigurationen von Propositio-
nen/Verhalten; nur die Individuen im prägnanten Sinne sind fundamentale
Konfigurationen. Ein Individuum bzw. eine fundamentale Konfiguration
kann selbst nicht als konstituierendes Element eines anderen Individuums
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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 233
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234 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
(iii) Die dritte Bedingung ist die Einigkeitsbedingung oder das Identitätskri-
terium für Individuen. Sie wurde schon oben (vgl. 3.5.3.2.2) formuliert:
Zwei Individuen χ und y sind identisch dann und nur dann, wenn sie dieselbe
formale und dieselbe materielle Konfiguration besitzen. Materiale Konfiguration
ist die Gesamtheit der (primären) Propositionen/Verhalte; formale Konfigu-
ration besagt zweierlei:
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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 235
[1] Eine erste Frage betrifft einen zentralen Aspekt der in diesem Buch
entwickelten Konzeption, der aber bisher im unbestimmten gelassen wurde.
Wenn von Attributen und Propositionen/Verhalten die Rede war, wurde
nicht gesagt, ob es sich allein um monadische oder auch um polyadische, d. h.
relationale Attribute bzw. Verhalte handelt. Daß relationale sekundäre Verhalte
anzunehmen sind, wirft kein besonderes Problem auf, da sie die Konstituiert-
heit des Individuums schon voraussetzen. Können oder müssen aber auch
relationale primäre Verhalte zugelassen werden? Gibt man auf diese Frage
eine positive Antwort, so hat das zur Konsequenz, daß relationale primäre
Verhalte auch Elemente der materialen Konfiguration 2 69 sind (sein können),
die das Individuum (zusammen mit der Konfigurationsweise) definieren.
Aber dies wirft — jedenfalls vor dem Hintergrund traditioneller Vorstellun-
gen über das Individuum — ein ernstes Problem auf. Unter anderen Vor-
zeichen ist das darzustellende Problem ein im Rahmen der Literatur über
die Individuumstheorie vieldiskutiertes Problem. Besonders B. Russell ver-
focht die These, daß Individuen nicht durch Relationen individuiert werden
können. 70 Die Hauptschwierigkeit besteht darin, daß die These, derzufolge
Individuen durch Relationen individuiert werden, einen circulus vitiosus zu
beinhalten scheint: Um von Relationen bezüglich Individuen sinnvollerweise
sprechen zu können, müssen nämlich die Individuen als schon konstituiert
vorausgesetzt werden; die genannte These behauptet aber, daß die Indivi-
duen allererst durch Relationen (mit)individuiert (und somit
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236 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 237
[2] Eine der Konsequenzen dieser Sicht ist, daß man ein Individuum nicht
isoliert bestimmen (definieren) kann. Damit kann man ein Individuum auch
nicht isoliert erfassen oder auf ein Individuum isoliert referieren. Wem diese
epistemologisch-semantische Konsequenz als nicht akzeptierbar erscheint,
der möge bedenken, daß die entgegengesetzte Konzeption entweder
un(ter)bestimmt ist oder implizit denselben „holistischen" Anspruch erhebt.
Um eine un(ter)bestimmte Konzeption würde es sich handeln, wenn man
meinte, es sei empirisch oder etwa im Sinne des gesunden Menschenver-
standes klar, daß man ein ganz bestimmtes Individuum erfasse oder auf ein
ganz bestimmtes Individuum referiere. Diese Auffassung ist deswegen
un(ter)bestimmt, weil dabei „Individuum" auf eine naiv-triviale — und
damit belanglose — Angelegenheit reduziert wird. Soll aber behauptet
werden, man erfasse doch mit Sicherheit „das Individuum selbst" oder
referiere doch ganz bestimmt „auf das Individuum selbst" im prägnanten
(also nicht-trivialen) Sinne, dann erhebt man den Anspruch zu wissen, daß
man ein ganz bestimmtes X, das man als Individuum bezeichnet, erfaßt hat.
Aber wie will man dieses „ganz bestimmte Wissen" haben? Es impliziert
doch, daß man die ganze Welt (und sogar die möglichen Welten) „durch-
gegangen" ist mit dem Ergebnis, daß man das betreffende X situiert (d. h.
als bestimmt erfaßt) hat. In diesem Zusammenhang ist auch auf die an
früherer Stelle angestellten Überlegungen zu Kripkes modal orientierter
Konzeption der „starren Designatoren" zu erinnern. 7 3
In Wirklichkeit können wir pragmatisch-epistemisch nie sicher sein, daß
wir ein bestimmtes Individuum im prägnanten Sinne wirklich erfaßt haben.
73
Vgl. Abschnitt 3.5.4.2.1 [5] [ii].
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238 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
Fraglich ist allerdings, was es genau heißen kann, daß wir einen Komplex
„erfassen" können, ohne alle seine Komponenten zu erfassen. Dies kann
doch wohl nur heißen, daß wir den Komplex nur „global" oder „antizipa-
torisch" oder „im Vorgriff, nicht aber daß wir den Komplex als solchen
wirklich erfassen.
74 Ein typisches Beispiel ist Kripke [1979]; vgl. auch Salmon [1986],
75 .Compresence' ist bei Russell die Bezeichnung für jene Relation, die eine „Kollek-
tion" von „Qualitäten" in der Weise bestimmt, daß der daraus resultierende
Komplex ein Individuum ist (vgl. Russell [1948], S. 307 f.). Es kann also gesagt
werden, daß „Compresence" in gewisser Weise — d. h. unter strikter Beachtung
des völlig anderen Russellschen Vorzeichens — dem entspricht, was in diesem
Buch „Konfiguration" genannt wird.
76 Russell [1948] S. 307 f.
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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 239
77 Quine, „Dinge und ihr theoretischer Ort" in Quine [1981] S. 11—38, vgl. bes.
S. 32 ff.
78 Zur Kritik an Quines vierter Reduktion vgl. Puntel [1988] S. 644 ff.
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240 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
[4] Oft wird gegen die Bündeltheorie in ihrer bisherigen Form, dergemäß ein
Individuum ein Bündel von Eigenschaften ist, der Einwand erhoben, sie
setze die Gültigkeit des auf Leibniz zurückgehenden Prinzips der Identität
des der) Ununterscheidbaren voraus; dies sei aber fraglich. 79 Doch die
Gründe gegen das Prinzip beruhen auf einer ganz anderen Ontologie als
der in diesem Buch vertretenen. Die das Prinzip stützende Einsicht läßt sich
nach der hier vertretenen Ontologie so formulieren: Wenn „zwei" Individuen
sich weder hinsichtlich ihrer materialen Konfiguration (d. h. hinsichtlich der
für jedes Individuum charakteristischen „Kollektion" von primären Verhal-
ten) noch hinsichtlich ihrer formalen Konfiguration (also hinsichtlich der
Kategorien, Anzahl, Reihenfolge und Zuordnung [zu den primären Verhal-
ten] der „Verknüpfungsweisen") unterscheiden, dann sind sie ununterscheid-
bar. Dieses Prinzip in dieser Deutung ist deshalb absolut einsichtig, weil es ex
hypothesi nichts anderes gibt, was überhaupt genannt werden könnte, um
einen Unterschied zwischen den „beiden" Individuen noch zu induzieren.
Es sei noch einmal betont: die Einwände dagegen beruhen auf einer anderen
— meistens — völlig unexpliziert bleibenden und, so kann jetzt hinzugefügt
werden, inakzeptablen Ontologie. 80
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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 241
[6] Als letzter Punkt soll ein Einwand erörtert werden, der geeignet ist, die
dargelegte Konzeption vor — zumindest einigen — Mißverständnissen zu
schützen. In einem scharfsinnigen Aufsatz erörtert J. van Cleve die bekannten
Einwände gegen die Bündeltheorie des Individuums. 81 Er kommt zum
Ergebnis, daß nur eine neue Form der Bündeltheorie diese Einwände ent-
81 Vgl. Van Cleve [1985]. Eine scharfsinnige Antwort auf die meisten Ausführungen
van Cleves findet sich in Casullo [1988]; überraschenderweise geht aber Casullo
auf den unten diskutierten Zusammenhang nicht ein.
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242 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
kräften kann. Die alte Bündeltheorie in allen ihren Versionen wird von ihm
folgendermaßen charakterisiert:
„The old bundle theory is analogous to the old phenomenalism: for each
individual thing it finds some complex of properties with which to identify
it." 82
„This [the new] version would decline to identify individuals with complexes
of properties, offering instead to translate any statement ostensibly about
individuals into a statement exclusively about properties. For example, it
might translate ,There is a red, round thing here' as .Redness and roundness
are here co-instantiated'. But it would not, to repeat, identify the red, round
thing with the complex of properties co-instantiated at the place in question;
indeed, it would not identify the red, round thing with anything. ,Red round
thing' would be a non-referring phrase, susceptible only of contextual
definition. (...) Unlike the old theory, it [the new theory] does not populate
the world with individuals that are incapable of change, devoid of accidental
properties, and qualitatively unique; but that is only because it does not
populate the world with individuals at all. Or if you prefer to put the point
Moore's way, the statement .there are individuals' is true, but there is
nothing of which it is true that it is an individual; hence, there is nothing
of which it is true that it is an individual and incapable of change, etc." 83
Gegen eine solche (von ihm selbst herausgearbeitete) Version erhebt Van
Cleve einen, wie er meint, entscheidenden Einwand: Jeder Mensch, der ein
„Ich", ein „Selbst", ein „Subjekt" u. ä. ist bzw. sein will, kann die neue
Bündeltheorie nicht akzeptieren. D i e Annahme dieser Theorie hätte nämlich
nach Van Cleve eine inakzeptable Konsequenz:
(i) Die Übersetzung von Aussagen, die sich deutlich auf Individuen beziehen,
in Aussagen, die sich in definierender Hinsicht ausschließlich auf Eigen-
82
Van Cleve [1985] S. 103.
83
A. a. O. S. 103 f.
84
A. a. O. S. 105.
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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 243
(ii) Die Berufung auf das eigene Ich oder Selbst ist vor dem aufgezeigten
Hintergrund argumentativ leer. Aus dem gleichen Grund ist ebenfalls Van
Cleves Alternative leer:
„In a word, it [the individual, L. B. P.] is substance: an individual is something
over and above its properties, something that has properties without being
constituted by them." 85
85 A. a. O. S. 105.
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244 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
welchem Sinne auch immer) befürworten als auch auf die in diesem Buch
vertretene Konzeption, derzufolge Ereignisse (und andere ähnliche Entitä-
ten) nichts anderes sind als Konfigurationen von Verhalten.
Neben Objekten/Individuen gehören Ereignisse zu den „handfesten" En-
titäten, die eine natürliche Ontotogie, d. h. eine Konzeption der Welt, die
unseren „natürlichen" Vorstellungen entspricht, anerkennt und thematisiert.
Wie sich schon im Falle der Objekte/Individuen gezeigt hat, kann eine
philosophisch durchgeklärte Ontologie nicht dabei stehen bleiben. Es wäre
nun zu leicht zu sagen, daß wenn sogar die Objekte/Individuen auf Verhalte
reduziert werden (müssen) dies α fortiori für Ereignisse gelten müsse, sind
doch Ereignisse in jedem Fall keine so „massiven" Entitäten wie die Objekte/
Individuen. Und in der Tat kann festgestellt werden, daß viele Autoren, die
Objekte/Individuen als — in welchem Sinne auch immer — primitive
Entitäten auffassen, Ereignisse auf (Sach)Verhalte reduzieren. 86 Obwohl es
richtig ist zu sagen, daß aus der These, daß Objekte/Individuen nichts
anderes sind als komplexe (Sach)Verhalte, der Schluß zu ziehen ist, daß dies
a fortiori für Ereignisse gilt, empfiehlt es sich doch, diese Frage explizit zu
behandeln, und zwar aus zwei Gründen: Zum einen kann der Umstand kaum
überbewertet werden, daß hier nicht der „gewöhnliche" (wie immer zu
interpretierende) Begriff des „Sachverhalts" übernommen, sondern ein ei-
gener Begriff des „Verhalts" entwickelt bzw. vorausgesetzt wird; ^um anderen
wirft die Reduktion der Ereignisse auf Verhalte ganz spezifische Probleme
auf, die sorgfältig zu prüfen sind.
84 Ein bekanntes Beispiel ist Chisholm [1976] S. 1 1 5 u. ö. Eine Auswahl von Arbeiten
(in chronologischer Reihenfolge): Wilson [1974], Martin [1978], Thalberg [1978],
Feldman/Wierenga [1979], Thalberg [1982], Levison [1983], Galton [1984], Da-
vidson [1985], Quine [1985], Taylor [1985] S. 8 3 - 9 6 , Thalberg [1985], Lewis
]1986] S. 2 4 1 - 2 6 9 , Lombard [1986], Levison [1987], Roeper [1987], Stern [1988],
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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 245
(ii) Ein £weiter Grund, der gegen die Reduzierbarkeit von Ereignissen auf
(Sach)Verhalte zu sprechen scheint, erwächst aus der scheinbar selbstver-
ständlichen Annahme, daß Ereignisse konkrete, raum-zeitlich situierbare,
während (Sach)Verhalte (angeblich) abstrakte, zeit- und raumenthobene En-
titäten sind. Die völlig neue Konzeption der Verhalte, die in diesem Buch
vertreten wird, zeigt ihre große Tragweite besonders im Hinblick auf eine
Klärung dieses Zusammenhangs. Nach der hier vertretenen Konzeption sind
Verhalte gerade nicht abstrakte Entitäten, da sogar die Objekte selbst, die
unbestreitbar immer als das Prototypon einer konkreten Entität gegolten
haben und immer noch gelten, sich als Konfigurationen von (primären)
Verhalten, d. h. als komplexe Verhalte, herausgestellt haben. Der angespro-
chene Gegensatz ist daher gegenstandslos. Es bleibt allerdings noch zu
zeigen, in welcher Weise im Rahmen der neuen Konzeption Faktoren wie
„Zeit", „Raum" u. ä. Rechnung zu tragen ist.
(iii) Der dritte Grund, der oft gegen die Reduzierbarkeit von Ereignissen
auf (Sach) Verhalte ins Feld geführt wird, hat mit dem Verhältnis von Ereignis
bzw. (Sach)Verhalt und Wahrheitsbegriff zu tun: ein Ereignis, so wird
argumentiert, ist weder wahr noch falsch, während von einer Proposition/
Proposition bzw. einem (Sach)Verhalt „Wahr(heit)" sinnvollerweise prädi-
ziert werden kann. Dieser Einwand erhält oft eine besondere Schärfe durch
den Umstand, daß einige Autoren die Formulierung verwenden, Proposi-
tionen/Sachverhalte seien „ewige Objekte (Entitäten)", denen notwendiger-
weise der Wahrheitswert ,wahr' oder der Wahrheitswert,falsch' zukomme. 88
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246 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 247
[3] Es dürfte aber angebracht sein, das hier angewandte Verfahren mit einem
anderen Verfahren der Reduktion von Ereignissen auf (Sach)Verhalte (Pro-
positionen) zu vergleichen, das — auf der Basis anderer Prämissen und
Voraussetzungen — vermutlich als das ingeniöseste und überzeugendste
Reduktionsverfahren überhaupt zu klassifizieren ist. Gemeint ist die von
A. Levison in seinem Artikel „Might Events Be Propositions?"89 vorgelegte
Konzeption. Ausgehend von der von Quine eingeführten Unterscheidung
zwischen „ewigen Sätzen" (d. h. Sätzen, deren Wahrheitswert durch die Zeit
und von Sprecher zu Sprecher konstant bleibt) und „Gelegenheitssätzen"
(d. h. Sätzen, bei denen eine Änderung des Wahrheitswertes eintritt), macht
diese Konzeption eine Annahme und stellt, ein Prinzip auf. Die Annahme
lautet: Die Gelegenheitssätze sind die Basiselemente der Sprache für die
Beschreibung von Ereignissen. Auf dieser Basis wird das Prinzip aufgestellt:
Ein ewiger Satz ist eine Ereignisbeschreibung dann und nur dann, wenn
dieser Satz seinerseits die „ewige Form" eines Gelegenheitssatzes ist. Bei-
spiele: Das Ereignis „Das Sinken der Titanic" wird sprachlich adäquater-
weise durch den Gelegenheitssatz ,Die Titanic sinkt' ausgedrückt; da der
Satz ,Die Titanic sinkt im Jahre 1912' (wobei ,sinkt' im atemporalen Sinne
verwendet wird) die „ewige Form" des genannten Gelegenheitssatzes dar-
stellt, ist er eine Ereignisbeschreibung. Von diesem Ansatz her gelingt es
Levison, das „propositionale Objekt" 90 solcher Sätze herauszuarbeiten.
Der springende Punkt bei der Reduktion von Ereignissen auf Propositio-
nen91 kann kurz an einem Aspekt dieser komplexen Thematik aufgezeigt
89 Levison [1983].
90 A. a. O. S. 176 ff.
91 Kurioserweise unterscheidet Levison terminologisch zwischen „Proposition" und
„Sachverhalt (state of affairs)" folgendermaßen: Beide sind „propositionale Ob-
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248 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
werden. Für eine Ontologie, die Ereignisse als irreduzible Entitäten be-
hauptet, spielt der Umstand eine wichtige Rolle, daß nur Ereignisse vorkom-
men („occur") oder stattfinden („obtain"), wobei angenommen wird, daß diese
Termini so fundamental sind, daß es aussichtslos ist, sie auf andere sprach-
liche Ausdrücke reduzieren zu wollen. Genau das aber unternimmt Levison
auf der Basis der genannten Prämissen: Er reduziert .vorkommen* (bzw.
.stattfinden') auf die Wahrheit einer Proposition einer bestimmten Art. Der
Satz ,Sokrates wandert' drückt ein (noch weitgehend unbestimmtes) kontin-
gentes Ereignis aus. Wenn die Wanderung des Sokrates zur Zeit Τ stattfindet
und wenn sie die Änderung eines konkreten Dinges ist, so ist sie ein
bestimmtes Ereignis. Nun stellt Levison fest, daß ,Die Wanderung des
Sokrates findet statt zur Zeit Τ mit ,Die Wanderung des Sokrates zur Zeit
Τ findet statt' äquivalent ist. Letzterer Satz ist ein ewiger Satz. Sein Satz-
subjekt ist demnach die Nominalisierungsform eines Gelegenheitssatzes und
sie ist gleichzeitig Bestandteil eines ewigen Satzes. Er drückt daher ein
propositionales Ereignis (,die Wanderung des Sokrates zur Zeit T") aus.
Aber dieses propositionale Ereignis wird ebenfalls durch die daß-Formulie-
rung ,daß Sokrates wandert zur Zeit Τ ausgedrückt, eine Formulierung,
die durch den Wahrheitswert „wahr" oder „falsch" zu ergänzen ist. Damit
ist gezeigt, daß das „Vorkommen" oder „Stattfinden" von Ereignissen auf
das Wahrsein propositionaler Objekte reduziert wird.
Man mag meinen, damit werde der Sprache irgendwie Gewalt angetan.
In gewisser Hinsicht trifft das zu. Das hier zugrunde liegende Problem ist
aber viel allgemeiner: Es betrifft den Status der „natürlichen" Sprache
überhaupt, wie oben vermerkt wurde. Entwickelt man eine kohärente se-
mantische und ontologische Gesamtkonzeption, so verliert die beschriebene
Reduktion den Anschein des Willkürlichen und Gewaltsamen. Eine solche
Gesamtkonzeption ist allerdings bei Levison nicht zu finden.
[4] Wie kann man zeigen, daß die Auffassung der Ereignisse als bestimmter
Konfigurationen von primären Verhalten dem mit dem Ausdruck .Ereignis',
nicht aber mit dem Ausdruck ,(Sach)Verhalt' intuitiv assoziierten Gesichts-
jekte", d. h. nach Levison: alles, was kein Individuum und sowohl ein Wahrheits-
träger wie auch ein mögliches Objekt einer propositionalen Einstellung (wie:
glauben..., denken...) ist. Er versteht nun „Proposition" als ein propositionales
Objekt, das ein für allemal wahr oder falsch ist; ein propositionales Objekt
hingegen, das bei einigen Gelegenheiten wahr und bei anderen falsch sein kann,
nennt er einen „Sachverhalt". Diese Terminologie dürfte nicht zu empfehlen sein.
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3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition 249
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250 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
brennt' und dieser Satz drückt nicht einen einfachen „dynamischen" primären
Verhalt (E-Verhalt), sondern eine ganze Konfiguration solcher E-Verhalte
aus.
Der soeben herausgearbeitete Gesichtspunkt macht einen weiteren Faktor
deutlich, dessen Tragweite kaum hoch genug einzuschätzen ist: Die pro-
positionale Theorie ist konkurrenzlos geeignet, den Fortschritt sowohl der
Philosophie wie auch der Wissenschaften im Hinblick auf eine immer feinere
Erfassung der „Wirklichkeit" zu erklären und zu fördern. Auf dieses faszi-
nierende Thema kann hier allerdings nicht näher eingegangen werden.
[6] Es sei schließlich angedeutet, daß auf der Basis der hier skizzierten
Konzeption auch Prozesse und Handlungen adäquat erklärt und verstanden
werden können. Doch dies ist nur eine Andeutung. Eine ausgearbeitete
Ontologie müßte eine immense Feinarbeit leisten.
Die Bedeutung des Begriffs der Welt für die explikativ-definitionale Theorie
der Wahrheit, zumindest wie diese in diesem Buch konzipiert wird, kann
kaum hoch genug veranschlagt werden. Im allgemeinen allerdings wird
darüber, wenn überhaupt etwas, so doch ganz wenig und vorwiegend Vages
gesagt. Aus prinzipiellen Gründen und aus Gründen, die es mit der Ent-
wicklung der Semantik der möglichen Welten in der gegenwärtigen Philo-
sophie zu tun haben, kann diese Situation nicht hingenommen werden. In
diesem Abschnitt soll der Begriff der Welt zumindest grundsätzlich geklärt
werden. Diese Aufgabe wird in einer bestimmten Hinsicht durch die im
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3.6 Zum Begriff der Welt 251
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252 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
Wie ist aber Welt als Totalität von (vollbestimmten) Verhalten näher zu
bestimmen? Nach den bisherigen Ausführungen kommen Hauptkon-
zeptionen in Betracht:1 Die erste bestimmt „Welt" als eine maximal konsi-
stente Menge von Verhalten, die zweite hingegen als einen maximalen
(Sach)Verhalt (oder als eine maximale Proposition/Proposition). Hier soll
die zweite Konzeption vertreten werden. Bevor sie näher erläutert wird, soll
gezeigt werden, aus welchen Gründen die erste abgelehnt wird.
Die Bestimmung von Welt im Sinne einer maximal konsistenten Menge
von (vollbestimmten) Verhalten kann so formuliert werden:
(DW—1) w ist eine Welt = f f w ist eine Menge von Verhalten derart, daß für jeden
(vollbestimmten) Verhalt p gilt: entweder p e w oder ~p e w und die
Mitglieder von w sind kompossibel.
Der Begriff der kompossibilität ist dabei in Analogie zum Begriff der
simultanen Konsistenz zu verstehen. Wie in diesem Buch mehrmals ange-
deutet wurde, sprechen Gründe gegen diese Bestimmung von Welt.
Erstens: von dem hier entwickelten Ansatz her ist der Kategorie ,Menge'
nicht der Vorzug zu geben, da es zumindest nicht ohne weiteres einsichtig
ist, wie man Mengen in Beziehung zum Satz setzen und damit der zentralen
Rolle des Kontextprinzips gerecht werden kann, wenn man ihnen einen
zentralen ontologischen Status einräumt. Damit ist die Frage weder positiv
noch negativ entschieden, ob Mengen überhaupt ein ontologischer Status
einzuräumen ist; es ist nur gesagt, daß man für Mengen keinen bevorzugten
oder centralen Platz vorsehen sollte. Zweitens: Welt, bestimmt als eine maximal
konsistente Menge von Sachverhalten, scheint unmöglich zu sein, da dieser
Begriff eine unüberwindliche Antinomie enthält. Dies wurde in den letzten
1 Es wäre interessant, auch die mereologische Bestimmung der Welt (des Universums),
derzufolge die Welt als ein mereologisches Summenindividuum zu konzipieren ist,
einer eingehenden Prüfung zu unterziehen (vgl. dazu Simons [1987] S. 15 f., 19 f.,
32—35, 134, 265 f., 320 f., 335 f.). Doch dies würde den Rahmen dieses Buches
sprengen. Im Lichte der hier entwickelten Konzeption ist in jedem Fall zu sagen,
daß der mereologische Ansatz der zentralen Stellung des Satzes gemäß der starken
Version des Kontextprinzips nicht Rechnung trägt. Es bleibt dunkel, wie dabei
„Individuen" letztlich konzipiert werden. Damit bleiben auch die Operationen,
die hinsichtlich dieser bzw. mit diesen Entitäten vorgenommen werden, d. h. die
mereologischen Operationen wie „Überlappung", „Summe", „Multiplikation" u. ä.
— zumindest im Lichte eines vom Primat des Satzes bestimmten Ansatzes — sehr
problematisch. Ob mereologische Begriffe und Operationen in den in diesem Buch
verfolgten Ansatz integriert werden können, soll hier als offene Frage betrachtet
werden.
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3.6 Zum Begriff der Welt 253
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254 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
Es ist freilich zu betonen, daß damit Welt nur allgemein definiert ist. Aber
mehr ist von einer Definition nicht zu erwarten. Die immens komplexe
innere Strukturiertheit von Welt muß aufgrund anderer, nicht definitorischer
Verfahren aufgewiesen oder, genauer, entdeckt werden.
Es wird hier davon ausgegangen, daß der Begriff der Möglichkeit sowohl
unverzichtbar als auch klärbar ist. Berücksichtigt man die — wie kontrovers
auch immer sich präsentierenden — Ergebnisse der Semantik der möglichen
Welten, so braucht man nicht auf die große metaphysische Tradition des
Abendlandes zurückzugreifen, um diesen Ausgangspunkt als voll legitimiert
zu betrachten. Hier geht es nur noch darum, die schwierigste Frage, die
diese These aufwirft, in den Griff zu bekommen, die Frage nämlich, wie die
Unterscheidung zwischen wirklicher und möglicher Welt zu verstehen ist. Zu
diesem Fragenkomplex gehören Fragen wie die folgenden: Welcher der
beiden „Dimensionen" kommt der Primat zu? Welche Konsequenzen erge-
ben sich aus der These, daß einer der Dimensionen der Primat zukommt?
Eine Klärung dieser Fragen kommt grundsätzlich der Beantwortung der
Frage gleich: Wie ist eine mögliche Welt zu konzipieren?
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3.6 Zum Begriff der Welt 255
9 Räumt man dem Begriff des universe of discourse eine so zentrale Stellung ein und
führt man die angegebene Zweiteilung ein, so entsteht ein Problem: Wie ist es
um die Dimension des Unmöglichen bestellt? Da wir — in welcher Absicht und mit
welchem Erfolg auch immer — über das Unmögliche sprechen können, gehört
diese Dimension zum universe of discourse. Andererseits wird sie durch die Zweitei-
lung ausgeschlossen. Es kann in diesem Buch auf dieses Problem nicht eingegangen
werden. Hier genüge zu sagen, daß im Text der Ausdruck .universe of discourse'
stillschweigend im Sinne von „sinnvolles universe of discourse' verstanden wird.
10 Vgl. zu diesem Problemkomplex Rescher [1977 a].
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256 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
[2] An dieser Stelle ist es weder beabsichtigt noch möglich, auch nur die
wichtigsten Konzeptionen über den Unterschied von Wirklichkeit und Mög-
lichkeit darzulegen und kritisch zu prüfen. Um das Verständnis des gleich
unten darzustellenden eigenen Ansatzes vorzubereiten, seien einige der in
der Gegenwartsphilosophie am häufigsten diskutierten Ansätze kurz er-
wähnt.
[i] Die einfachste und verlockendste Lösung scheint für einige Autoren jene
zu sein, die durch den sowohl logisch einwandfreien als auch intuitiv sofort
einleuchtenden Satz artikuliert wird: .Unsere, die wirkliche, Welt ist eine
unter vielen möglichen Welten.' Einige Autoren verstehen diesen Satz in
der Weise, daß sie aus ihm die These folgern, die Dimension des Möglichen
sei in jedem Fall die primäre Dimension, und zwar — vorerst — zumindest
in dem Sinne, daß das Wirkliche vom Möglichen her, nicht das Mögliche
vom Wirklichen her zu bestimmen ist. Demnach wäre der Begriff des
Möglichen der ursprünglichere oder sogar der ursprünglichste Begriff über-
haupt; der Begriff des Möglichen, nicht der des Wirklichen, wäre der absolute
Begriff. Anders formuliert: Nach dieser Konzeption umfaßt der Begriff des
Möglichen alle Welten in gleicher Weise, insofern er den Status jeder Welt
absolut, d. h. in für alle Welten gleicher Weise, anzeigt.
Im Gegensatz dazu ist dieser Konzeption zufolge der Begriff des Wirk-
lichen ein relativer Begriff, wobei hauptsächlich S(wei Formen unterschieden
werden: Erstens wird dem Wirklichen eine Relativität zugeschrieben in dem
Sinne, daß unsere Welt diejenige mögliche Welt ist, der als einziger das
Attribut „wirklich" zukommt, ohne daß aber diesem Attribut ein Primat
zugesprochen werden könnte. Die zweite Form von Relativität des Wirkli-
chen reduziert dieses Attribut auf eine rein indexikalische Funktion: Jede
Welt ist zwar wirklich, aber nur relativ zu sich selbst. 11
Zu dem oben genannten Satz .Unsere, die wirkliche, Welt ist eine unter
vielen möglichen Welten' ist kritisch zu bemerken, daß er zweideutig ist.
Er kann, muß aber nicht, im Sinne der dargelegten Position(en) verstanden
werden. Wird er in diesem Sinne verstanden, so ist immer noch zu sagen,
daß er logisch einwandfrei ist, nicht aber ohne weiteres, daß er sofort intuitiv
einleuchtet. Der Satz, so wie er formuliert wurde, läßt die Frage unbeant-
wortet, wie er genau zu verstehen ist; er artikuliert nur einen bestimmten
(logischen) Zusammenhang, nämlich den, daß alles Wirkliche auch möglich
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3.6 Z u m Begriff der Welt 257
ist. Will man mehr in den Satz hineinlesen, so muß man Annahmen machen,
die im Satz selbst nicht artikuliert sind. Auf dieser allgemeinen Ebene kann
man viele ähnliche Sätze formulieren, so beispielsweise: Jede mögliche Welt
(außer der unseren) ist eine nicht-wirkliche oder nicht-verwirklichte Welt.'
Letzterer Satz deutet eher den Primat des Wirklichen an, da hier das
Wirkliche als Bezugspunkt genommen wird. Daraus ist zu entnehmen, daß
der oben genannte Satz nicht als Begründung für die These des semantischen
und ontologischen Primats des Möglichen herangezogen werden kann. Die
Frage muß aufgrund anderer Faktoren und Kriterien entschieden werden.
[ii] Die in der gegenwärtigen Philosophie vielleicht bekannteste Behandlung
des Begriffs Wirklichkeit ist bei Quine zu finden. In unnachahmlicher Kürze
und Präzision faßt er seine Konzeption folgendermaßen zusammen (dabei
ist zu beachten, daß der von Quine verwendete Ausdruck , Existenz' im
Sinne von ,Wirklichkeit' gemäß der oben getroffenen terminologischen
Festlegung zu verstehen ist):
„Existenz ist, was durch die Existenzquantifikation ausgedrückt wird. Es
gibt Dinge der A r t F genau dann, wenn (3x)Fx. Dies ist so wenig hilfreich
w i e bezweifelbar, da ja gerade die symbolische Schreibweise der Quantifi-
kation v o n vornherein so erklärt ist. Es ist eben unsinnig, den Existenzbe-
griff in einfacheren Begriffen explizieren zu wollen. Es gelang uns, die
singulare Existenz ,a existiert' zu explizieren: nämlich als ,(3x)(x — a)'. A b e r
die Explikation des Existenzquantors ,es gibt' seinerseits, die Explikation
der allgemeinen Existenz, ist eine hoffnungslose Sache. Dennoch können
w i r auch hier nach weiterem Verständnis suchen, aber nicht in F o r m einer
Explikation. W i r können noch fragen, was f ü r oder gegen quantifizierte
Existenzsätze spricht." 1 2
Es ist nur allzu klar, daß Quines Verfahren nur unter der Voraussetzung
Anwendung findet, daß ein wirklicher Bereich oder eher ein Bereich wirklicher
Objekte angenommen wird. Was Wirklichkeit des Bereichs oder der Objekte
des Bereichs heißt, kann auf dieser Basis nicht geklärt werden. Ob der Versuch,
Wirklichkeit zu klären, wirklich eine „hoffnungslose Sache" ist, ist eine ganz
andere Angelegenheit.
[iii] Ein weiterer Versuch, den Status von Wirklichkeit zu klären, betrifft
die Thematik des vorliegenden Werkes. Es handelt sich um die „true-story
theory of actuality"13. Damit ist gemeint, daß Wirklichkeit von einem absolut
verstandenen Begriff der Wahrheit her bestimmt oder erklärt wird. Dabei
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258 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
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3.6 Zum Begriff der Welt 259
[3] Die soeben angestellten Überlegungen gelten natürlich auch für den Fall
der Unterscheidung von Wirklichkeit und Möglichkeit. Nun läßt sich hinsicht-
lich dieser Thematik ein eindeutiges Kriterium angeben; es ist ein Kriterium,
das grundsätzlich mit unserem Verstehen der Ausdrücke bzw. der Begriffe
„Wirklichkeit" und „Möglichkeit" zu tun hat. Man kann zwar diese Begriffe
in verschiedener Weise bestimmen, d. h. voneinander unterscheiden und
aufeinander beziehen. Aber alle diese Versuche scheinen auf einem grund-
legenden Verständnis zu beruhen, das man folgendermaßen skizzieren kann:
Das Verstehen dessen, was „Wirklichkeit" heißt bzw. bedeutet, ist primär
gegenüber dem Verstehen dessen, was „Möglichkeit" heißt oder bedeutet.
Das wird u. a. an folgendem Umstand deutlich: Wir verstehen „wirklich"
in der Weise, daß wir allererst dadurch dazu geführt werden, „möglich" zu
verstehen. Strenggenommen wäre es inadäquat zu sagen, daß das Verstehen
von „möglich" eine notwendige Bedingung für das Verstehen von „wirklich"
ist; das Verstehen von „möglich" ist eher das explikative Ergebnis des
Verstehens von „wirklich". Anders verhält es sich im Falle des Verstehens
von „möglich": Wir können nicht „möglich" verstehen, ohne das Verstehen
von „wirklich" vorauszusetzen oder zugrundezulegen; das Verstehen von
„wirklich" ist eine notwendige Vorbedingung für das Verstehen von „möglich".
Es gibt somit eine Asymmetrie hinsichtlich des Verstehens von „wirklich"
und „möglich". 14
Wir können einen Schritt weiter gehen und sagen, daß das Verstehen von
„wirklich" dem Verstehen jedes anderen Begriffs zugrunde liegt. Freilich ist
diese These eine umfassende These, die hier nicht angemessen begründet
werden kann. Was allerdings die Begriffe „Wahrheit", „Wirklichkeit", „Mög-
lichkeit", „Welt" u. dgl. anbelangt, so erhebt das vorliegende Buch den
14
Ähnliche Überlegungen sind zu finden bei Nolt [1986]. Nolt rekurriert auf unser
praktisches und intuitives Verständnis semantischer Regeln, um die Frage zu
klären, was mögliche Welten sind.
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260 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
15 Vgl. Adams [1974]. Es sei bemerkt, daß Lewis den entsprechenden Passus bei
Adams (S. 200) mißversteht, insofern er nicht beachtet, daß Adams sich die dort
genannte Position nicht zu eigen macht. Aber dieser Umstand ist für die im
nachfolgenden Haupttext vorgelegte Argumentation ohne Bedeutung.
16 Lewis [1986b] S. 9 3 - 9 4 .
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3.6 Zum Begriff der Welt 261
[4] Wenn man in dieser Weise den Primat des Wirklichen über das Mögliche
behauptet, so drängt sich erst recht die Frage auf, wie mögliche Welten zu
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262 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
bestimmen sind. Dies ist eine außerordentlich intrikate Frage, die hier nicht
im mindesten adäquat behandelt werden kann. Einige Hinweise, die beson-
ders für die Wahrheitsproblematik von Bedeutung sind, müssen genügen.
[i] Da Welten als maximale Verhalte (Propositionen) bestimmt wurden und
da Verhalte nicht-sprachliche (wenn auch sprachabhängige) Entitäten sind,
können mögliche Welten nicht einfach auf Sprache und Ähnliches reduziert
werden. Mögliche Welten sind echte „ontologische" Entitäten. Die Frage,
wie man sie erklären kann, ist letzten Endes nur im Rahmen einer Gesamt-
ontologie (und sogar Metaphysik) zu beantworten.
[ii] Die — zumindest auf den ersten Blick — am wenigsten problematische
Konzeption dürfte die sein, die eine mögliche Welt als eine Variante unserer,
der wirklichen, Welt auffaßt: Einige Objekte/Individuen (Ereignisse, Pro-
zesse u. ä.), kurz einige Konfigurationen unserer Welt hätten anders sein können
als sie tatsächlich (wirklich) gewesen sind oder sind. Es kann nicht bestritten
werden, daß dieser Gedanke auf einer der tiefsten und hartnäckigsten
Intuitionen beruht, von denen sich die Menschen in allen Bereichen ihres
Lebens leiten lassen. Aber so einleuchtend diese Bestimmung von möglicher
Welt zunächst erscheint, so schwierig ist es, sie genau und kohärent zu
explizieren. Was heißt hier „Variante" der wirklichen Welt? Es handelt sich,
wenn die allgemeine (kategorial-ontologische) Bestimmung von Welt streng
beachtet wird, unzweideutig um einen anderen maximalen Verhalt. Die Frage
ist dann, wie einzelne Verhalte als Bestandteile von mehr als einem maximalen
Verhalt begriffen werden können.
[iii] Zwei Alternativen zeichnen sich ab, sobald man die Frage stellt, ob
Objekte/Individuen, d. h. die fundamentalen Konfigurationen, „weltgebun-
dene" Entitäten im strengen Sinne sind oder nicht. Damit ist folgendes
gemeint: Wird das Verhältnis des Objekts/Individuums, allgemein: jeder
Konfiguration, zur Welt, zu der es/sie gehört, dahingehend bestimmt, daß
allen Aspekten oder Momenten dieses Verhältnisses eine streng konstitutive
Funktion für die Bestimmung jedes Objekts/Individuums, allgemein: jeder
Konfiguration, zugeschrieben wird, so ist die Konsequenz die, daß ein
Objekt/Individuum, allgemein: jede Konfiguration, nur in einer Welt sein
kann: Es/sie ist weltgebunden.
Wenn aber das genannte Verhältnis anders, nämlich als ein sozusagen
lockeres Verhältnis, bestimmt wird, so sind die Konfigurationen nicht welt-
gebunden. In diesem zweiten Fall nimmt man an, daß ein Individuum bzw.
eine Konfiguration dasselbe/dieselbe bleibt, auch wenn einige seiner/ihrer
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3.6 Zum Begriff der Welt 263
[iv] Strenggenommen impliziert nur die yweite Auffassung, die die Welt-
Ungebundenheit der Konfigurationen (Individuen) behauptet, jene Konzep-
tion, die mögliche Welt als Variante der wirklichen Welt bestimmt. Denn in
diesem Fall — und nur in diesem — ist eine mögliche Welt ein maximaler
Verhalt, der einen bestimmten Teil der auch zur wirklichen Welt gehörenden
Verhalte enthält. Wirkliche Welt und mögliche Welt(en) haben nach dieser
Auffassung einen im strengen Sinne gemeinsamen, d. h. identischen, Teil.
Wie umfangreich dieser gemeinsame Teil ist, hängt von vielen Faktoren ab;
aber dieser Umstand spielt keine wesentliche Rolle für die grundsätzliche
Bestimmung von möglicher Welt im Sinne dieser zweiten Konzeption.
Es ist nicht zu sehen, wie diese Theorie kohärenterweise vertreten werden
kann, ohne daß sie einen expliziten Essentialismus19 akzeptiert. Es wird ja
hinsichtlich jeder Konfiguration eine radikale Unterscheidung zwischen zwei
Dimensionen eingeführt: zwischen einer veränderbaren und einer nicht
veränderbaren. Die erste kann fehlen oder eine (prinzipiell beliebige) Gestalt
annehmen, ohne daß die zweite davon betroffen wäre. In der philosophischen
Tradition wird die zweite Ebene die essentielle, die erste die akzidentielle
genannt.
[v] Wie wird nun mögliche Welt im Rahmen der ersten Konzeption über das
Verhältnis von Konfiguration und Welt bestimmt? Wenn Individuen oder
Konfiguration streng weltgebunden sind, wenn dementsprechend eine „Quer-
weltein-Identität" abgelehnt wird, was ist dann eine mögliche Welt? Es dürfte
sofort einleuchten, daß diese Annahmen zu einem völlig anderen Begriff
von möglicher Welt führen. Aber auch hier gibt es %wet Alternativen, von
denen nur die zweite mögliche Welt als Variante der wirklichen Welt bestimmt,
wobei dann allerdings der Ausdruck ,Variante' in einem sehr weiten Sinne
genommen werden muß (es ist sogar fraglich, ob er hier überhaupt Anwen-
dung finden sollte).
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264 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
20 Lewis [1968] S. 27 f.
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3.6 Zum Begriff der Welt 265
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266 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
formuliert, verstanden oder einer Klärung zugeführt werden. Was die Aus-
drücke ,Sprache', ,Logik', ,Geist' und .Theorie' im Kontext der aufgewor-
fenen Fragen genau besagen, soll nicht vorausgesetzt, sondern zum aus-
drücklichen Thema erhoben werden. Um nicht alle vier Ausdrücke ständig
zu wiederholen, wird die Abkürzung ,SLGT-abhängige bzw. -unabhängige
Welt(en)' oder einfach der Ausdruck ,SPRACHE' (bzw. ,SPRACH-abhän-
gige oder -unabhängige Welt(en)') verwendet. Wie sich zeigen wird, kann
,Sprache' in einer bestimmten Hinsicht, nämlich in einem umfassenden Sinne,
als die Dimension betrachtet werden, die die drei anderen einschließt; wenn
Sprache in diesem Sinne verstanden wird, wird die Großschreibung SPRA-
CHE gebraucht.
Es ist noch einmal zu betonen, daß die Behandlung dieser Fragen im
Rahmen dieses Buches im Hinblick auf die Klärung des Wahrheitsbegriffs
erfolgt. Daß ein inniger Zusammenhang zwischen den beiden Fragenkom-
plexen besteht, ergibt sich besonders aus dem im Abschnitt über Realismus
und Anti-Realismus (3.2.2) Ausgeführten; wie sich zeigen wird, ist der
Zusammenhang noch enger. Nur beiläufig soll im folgenden auf die immense
Literatur Bezug genommen werden, die sich mit der anstehenden Frage-
stellung befaßt. Der hier verfolgte Ansatz ist systematisch orientiert.
Zunächst soll das Grundproblem aufgezeigt und eine Typologie der
möglichen Grundpositionen skizziert werden (3.6.3.1); sodann sollen nega-
tive (3.6.3.2) und positive Grundannahmen (3.6.3.3) formuliert werden;
schließlich sollen die Grundzüge eines Lösungsansatzes erarbeitet werden
(3.6.3.4).
[1] Der erste Gesichtspunkt ist die Tatsache, daß „wir" (d. h. hier: jene
„Dimension", die SLGT- oder SPRACH-strukturiert ist) die wirkliche Welt22
nicht „schaffen" oder „hervorbringen" oder „konstituieren", sondern sie
22 Solange die Frage, ob man eine wirkliche Welt oder viele wirkliche Welten annehmen
muß, nicht geklärt ist, wird der Einfachheit halber in Kontexten wie dem gegen-
wärtigen meistens nur der Ausdruck ,eine (oder: die) wirkliche Welt' verwendet.
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3.6 Zum Begriff der Welt 267
vielmehr — prima facie — vorfinden. Die wirkliche Welt ist uns vorgegeben,
was sich an unzähligen Erfahrungen zeigt. Die Aufgabe aller theoretisch
orientierten Aktivitäten, zu denen in jedem Fall Wissenschaft und Philoso-
phie zu rechnen sind, kann in der hier interessierenden Hinsicht am besten
als die Aufgabe bestimmt werden, die wirkliche Welt zu entdecken, zu
beschreiben, zu erklären. Von diesem Gesichtspunkt aus gesehen scheint die
These von der SLGT- oder SPRACH-f/«abhängigkeit der wirklichen Welt
nichts anderes als der Ausdruck einer durch nichts zu erschütternden Grund-
tatsache zu sein. Die Negation dieser These scheint zur Folge zu haben, daß
das ganze theoretische Unternehmen verfälscht wird, insofern ihm dadurch
seine eigentliche Basis, seine Aufgabe und seine Zielsetzung entzogen wer-
den. Es ist daher verständlich, daß so etwas wie eine realistische Grundhaltung
ein bekanntes Charakteristikum besonders der „realen" Wissenschaftler ist.
Rechnet man noch dazu den Erfolg der Wissenschaften, so scheint es
unverständlich zu sein, daß Philosophen auf den Gedanken kommen können,
eine SLGT-Unabhängigkeit der wirklichen Welt zu leugnen. In der Tat, aus
dem unbestreitbaren Erfolg der Wissenschaften scheint sich die Folgerung
mit Notwendigkeit zu ergeben, daß es den Wissenschaften darum geht zu
erklären, „wie es sich — unabhängig von ,uns' — in der wirklichen Welt
verhält", oder, anders gesagt, daß sie auf der Grundannahme beruhen, daß
die wirkliche Welt von „uns" »»abhängig ist. 23
23 Die Folgerung, von der im Text gesagt wird, sie scheine sich aus dem Erfolg der
Wissenschaften zu ergeben, ist nicht zu verwechseln mit einer anderen, sehr
umstrittenen Folgerung, die viele „wissenschaftliche Realisten" aus dem Erfolg
der Wissenschaften ziehen: Sie schließen nämlich vom Erfolg der Theorien auf
die Wahrheit der Theorien. Ob dieser Schluß berechtigt ist oder nicht, soll hier
nicht entschieden werden (vgl. dazu u. a. Rescher [1987], bes. Kap. 6).
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268 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
welcher Art auch immer — eine ganze Reihe von Begriffssystemen verfügbar
sind, und zwar derart, daß im Prinzip von dem Datum oder den Daten her
gesehen kein Kriterium für die Wahl eines Begriffssystems und somit für die
Verwerfung anderer Begriffssysteme gewonnen werden kann.
Dieser Sachverhalt wird .Begriffsrelativität' (.conceptual relativity') ge-
nannt und wurde oft aufgezeigt, vielleicht am häufigsten und eindringlich-
sten durch H. Putnam. 24 Er illustriert den Sachverhalt durch folgendes
einfaches Beispiel: Man nehme eine Welt mit drei Daten x u x2, X3. (Da hier
von einer Dimension die Rede ist, die als von „Begriffen" noch möglichst
unberührt gelten soll, ist es besser, anstelle des schon begrifflich hochbe-
stimmten Ausdrucks .Individuum' den weniger bestimmten Ausdruck .Da-
tum' zu verwenden; allerdings ist auch .Datum' nicht begrifflich neutral;
überhaupt ist die Dimension, die der Dimension der Begriffssysteme gegen-
übergestellt wird, ihrerseits nicht begrifflich gleich null. Gerade dieser
Umstand zeigt, daß eine völlig „unkonzeptualisierte" oder „begrifflich un-
interpretierte" Dimension oder Welt eine Unmöglichkeit darstellt: oft wird
diese Unmöglichkeit unter dem Deckmantel der „Abstraktion" doch vertre-
ten.) Je nachdem, welches Begriffssystem man in Anschlag bringt, wird man
zu einer Welt mit nur drei oder etwa mit sieben Bestandteilen gelangen.
Eine Welt mit drei erhält man, wenn man u. a. keine mereologischen Begriffe
zuläßt; eine Welt mit sieben resultiert hingegen aus der Anwendung mereo-
logischer Begriffe: x,. x 2 , x 3 , xi + x2, xi + x3, X2+X3, χι + χ 2 +χ 3 ·
Welches Begriffssystem ist nun das „richtige"? Es scheint, daß diese Frage
überhaupt nicht entschieden werden kann, ja daß sie sogar sinnlos ist. Aber
die Berücksichtigung der unabdingbaren Stellung der Begriffssysteme
scheint noch ein weiteres, verwirrendes Ergebnis zu zeitigen: Einerseits
scheinen die Begriffssysteme die These zu implizieren, daß es eben keine
von ihnen unabhängige Welt geben kann; dies scheint ja gerade das oben
angeführte Beispiel zu zeigen; andererseits scheinen sie genau die entgegen-
gesetzte Konsequenz zu beinhalten: Deren Bestimmung oder Anwendung
scheint nämlich die These zu implizieren, daß eine Dimension voraus-gesetzt
werden muß, auf die sie eben angewandt werden, also eine Dimension, die
von ihnen «»abhängig ist. Diese zweite Konsequenz könnte man einen
epistemologisch-semantischen Hylemorpbismus nennen, den der Begriff und die
Anwendung des Begriffssystems beinhalten. In der Literatur spricht man in
24 Vgl. bes. Putnam [1981], „Models and Reality" in Putnam [1983] S. 1 - 2 5 , Putnam
[1987]. Das im nachfolgenden Text erläuterte Beispiel findet sich in diesem Buch
S. 18 f.
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3.6 Zum Begriff der Welt 269
diesem Kontext manchmal vom Dualismus von Form und Inhalt, Begriffs-
system (oder -schema) und Realität oder Welt.25
Man kann freilich versuchen, diese scheinbar paradoxe Lage dadurch zu
entwirren, daß man sagt: Die Existenz von Begriffssystemen beweist nur,
daß es keine „begrifflich (vorstrukturierte) bestimmte Welt" gibt bzw. geben
kann, die von (unseren) Begriffssystemen »»abhängig ist; voraus-gcsctzt werde
nur eine Welt, die eben „nicht begrifflich bestimmt" ist, eine „unkonzeptua-
lisierte" Welt. Die Frage ist allerdings, ob eine solche Unterscheidung
überhaupt nachvollziehbar ist. Darauf wird bald in systematischer Hinsicht
einzugehen sein.
Das ist also das Grundproblem, das den unzähligen Diskussionen über
die im Titel dieses Abschnittes formulierten zwei Fragen zugrunde liegt. Es
kann bezweifelt werden, daß die meisten Autoren die ganze Schärfe des
Grundproblems sehen und ihr gerecht werden. Darauf einzugehen, gehört
aber nicht zur Aufgabe dieses Buches.
[3] Bevor die Grundzüge eines Lösungsansatzes aufgezeigt werden, sei noch
kurz eine Typologie der Grundpositionen skizziert.
(i) Die Position, die eine SLGT- oder SPRACH-»«abhängige Welt in einem
absoluten Sinne annimmt, soll transzendenter Realismus heißen. Aus der Un-
abhängigkeitsthese ergibt sich, daß kein Grund ersichtlich ist, warum mehr
als eine einzige wirkliche Welt angenommen werden sollte. Man kann %wei
Varianten des transzendenten Realismus unterscheiden: Die erste anerkennt
ein einziges „richtiges" Begriffssystem und deklariert (die) andere(n) Be-
griffssysteme als rein subjektiv, bar jeder objektiven Relevanz. Diese Variante
kann man absoluten transzendenten Realismus nennen. Eine z w e ' t e Variante
berücksichtigt die Pluralität von Begriffssystemen in einer bestimmten Weise:
Begriffssysteme und Theorien werden als Approximationen an die eine wirk-
liche Welt aufgefaßt. 26 Diese zweite Variante verdient die Bezeichnung
gemäßigter transzendenter Realismus.
25 Ein solcher Dualismus wird kritisiert u. a. von Davidson, „Was ist eigentlich ein
Begriffsschema?" in Davidson [1984], bes. S. 270 ff. Davidsons Versuch, aus der
berechtigten Kritik am genannten Dualismus die Konsequenz zu ziehen, daß
alternative Begriffssysteme zu verwerfen sind, wird von N. Rescher einer eingehenden
Kritik unterzogen (vgl. Rescher [1982], Kap. 2, S. 27 - 60).
26 Einen imponierenden Versuch, diesen Grundgedanken zu entwickeln, hat Niini-
luoto [1987] unternommen.
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270 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
(ii) Eine zweite Position soll Anti-Realismus genannt werden. Dieser Aus-
druck wird heute, wie mehrmals gezeigt wurde, sehr oft verwendet. Im
Rahmen dieser Typologie soll er als Sammelbezeichnung für alle Richtungen
verwendet werden, die in einem sehr vagen Sinne eine SLGT-«»abhängige
Welt annehmen oder zumindest nicht explizit leugnen, diese Welt aber in
jedem Fall (zumindest für Theoriezwecke) als völlig irrelevant betrachten.
Die Nicht-Leugnung einer unabhängig existierenden Welt, das muß betont
werden, ist mehr oder weniger eine reine Floskel. Zu dieser Form des Anti-
Realismus sind u. a. Positionen wie der wissenschaftstheoretische Instru-
mentalismus, der konstruktive Empirismus,27 der wissenschaftstheoretische
Strukturalismus28, im allgemeinen die Formen einer rein epistemisch oder
rein pragmatisch konzipierten Wissenschaftstheorie und Semantik zu zählen.
Der Anti-Realismus in diesem Sinne ist keine ontologische Position. Der so
verstandene Anti-Realismus kann als eine mittlere Position zwischen dem
transzendenten Realismus und einer diesem entgegengesetzten Form des
Realismus, für die man die Bezeichnung immanenter Realismus einführen kann,
betrachtet werden. (Daß eine mittlere Position zwischen zwei Formen des
Realismus ausgerechnet Anti-Realismus genannt wird, scheint völlig inadä-
quat zu sein. Doch, wie vermerkt wurde, ist diese mittlere Position eine
epistemische oder pragmatische, keine ontologische.)
(iii) Immanenter Realismus ist die Auffassung, daß es keine SLGT- oder
SPRACH-»»abhängige(n) Welt(en) gibt. Aber wie diese allgemeine These
von den Autoren genau verstanden wird, die sich zu ihr bekennen, ist
schwer zu sagen. Ohne dies im einzelnen belegen zu können, sei hier
festgestellt, daß man eine wirklich durchdachte und kohärente Form eines
immanenten Realismus kaum finden kann. Hier soll idealtypisch vorgegan-
gen werden.
Mindestens drei Varianten des immanenten Realismus sind denkbar, für die
die folgenden %wei grundlegenden Thesen gelten: Erstens: Von einer wirk-
lichen Welt kann nur im Rahmen einer SLGT- oder SPRACH-Abhängigkeit
die Rede sein. Zweitens: jedem echten Begriffssystem entspricht eine wirkliche
Welt, (a) Eine erste Variante29 resultiert aus der spezifischen Annahme, daß
Begriffssysteme unter sich völlig inkommensurabel sind. Die Konsequenz liegt
auf der Hand: Es gibt viele untereinander inkommensurable wirkliche Welten;
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3.6 Zum Begriff der Welt 271
Die Nicht-Intelligibilität einer solchen Welt ergibt sich daraus, daß „Intel-
ligibilität" grundsätzlich, ja per definitionem, Begriffliches involviert. Man
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272 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
muß sogar einen Schritt weiter gehen und sagen, daß eine solche Welt ein
widersprüchliches Konstrukt ist: Einerseits wird Welt als etwas angenom-
men, das von jeder begrifflichen Komponente unabhängig ist (sein soll);
andererseits aber wird von Welt gesprochen b2w. auf Welt Bezug genommen,
was in vielfaltiger Weise begriffliche Elemente einschließt. Nicht nur Begriffe
bzw. Attribute wie „Unabhängigkeit" werden der Welt zugeschrieben; auch
Welt selbst wird dabei als eine so und so bestimmte, d. h. von einem
bestimmten Begriffs schema her konzipierte Entität aufgefaßt, wie ζ. B.: Welt
als Totalität der Objekte, der Tatsachen usw. 31
Eine zweite negative Grundannahme lautet:
(NGA3) Eine SLGT- oder SPRACH-Abhängigkeit der wirklichen Welt(en) ist un-
annehmbar, wenn „SLGT" bzw. „SPRACHE" verstanden wird als „token"
oder als „faktischer Vollzug" oder als „faktisches Vorkommen" (faktische
Anwendung, Äußerung usw.) oder als „faktisches Ereignis".
31
N. Goodman entwickelt eine bestimmte Form dieses Gedankens, um seine auf
den ersten Blick phantastisch klingende These, daß „wir (die) Sterne machen", zu
erhärten (vgl. „On Starmaking" in Goodman [1984] S. 39—44).
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3.6 Zum Begriff der Welt 273
Durch (NGA3) wird die These ausgeschlossen, daß die wirkliche Welt von
einem wie immer gearteten individuellen oder kollektiven faktischen
SPRACH- Vollzug abhängig ist. Welt ist nicht nur dann wirklich, wenn
wirkliche Subjekte/Sprecher tatsächlich SPRECHEN. Man kann besonders
zwei Gründe zugunsten dieser negativen These ins Feld führen, (i) Die
Annahme der entgegengesetzten These hat absurde Konsequenzen, u. a. die
folgenden: Welt als ganze oder ein Teil der Welt, ζ. B. eine bestimmte
Tatsache, wäre nicht wirklich, wenn es nicht einen korrespondierenden
faktischen SPRACH- Vollzug gäbe; aber es erscheint absurd zu sagen, etwa
daß eine schöne Blume nur dann blüht, wenn sie von „uns" (von wem
sonst?) faktisch gesehen und wahrgenommen wird. Oder: man müßte an-
nehmen, daß die wirkliche Welt oder ein Teil davon nach einem faktisch
abgeschlossenen SPRACH-Vollzug verschwindet und bei Wiederholung des
SPRACH-Vollzugs wieder wirklich wird, (ii) Der Hauptgrund hat es mit
dem Begriff von SPRACHE zu tun. SPRACHE ist nicht reduzierbar auf
ein System von ,tokens'. Darauf ist im nächsten Abschnitt ausführlich
einzugehen.
32 „Der Kerngedanke eines dritten Dogmas" in Quine [1981a] S. 55 —60; zit. St.
S. 58 f.
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274 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
Eine solche Identifikation von Sprache und Begriffssystem ist wenig hilfreich
und einleuchtend, und zwar schon aus dem Grund, weil Quine und Davidson
unter „Sprache" nicht dasselbe verstehen, wie folgende Äußerung Davidsons
bezeugt:
„Like Quine, I am interested in how English and languages like it (i. e., all
languages) work, but, unlike Quine, I am not concerned to improve on it
or change it. (...) I see the language of science not as a substitute for our
present language, but as a suburb of it. Science can add mightily to our
linguistic and conceptual resources, but it can't subtract much. I don't
believe in alternative conceptual schemes, and so I attach a good deal of
importance to whatever we can learn about how we put the world together
from how we talk about it." 33
Der eigentliche Grund, der gegen die dargelegte These von der Identität
von Sprache und Begriffssystem spricht, ist der Umstand, daß dabei von
„Sprache" in einem völlig undifferenzierten Sinn die Rede ist. Differenzieren
in diesem Bereich heißt nicht, einem Mythos von einem Museum mit
etikettierten Ideen beipflichten. Nimmt man „Sprache" in einem umfassen-
den Sinne, so kann die ganze formale Logik als zu ihr gehörend betrachtet
werden; darüber hinaus könnte dann zur Sprache gerechnet werden, was in
der großen philosophischen Tradition „Kategorien" genannt wurden. In
einer bestimmten Hinsicht entspricht das, was man heute „conceptual sche-
mes" nennt, im großen und ganzen den formal-logischen Strukturen im
modernen Sinne und den „Kategorien" im traditionellen Sinne (oder im
Sinne der nicht-formalen Logik, etwa im Sinne der transzendentalen Logik
Kants oder der spekulativen Logik Hegels). Ob es sachangemessen ist, (die)
Sprache in einem so umfassenden Sinn zu nehmen, kann nur im Rahmen
einer systematischen Gesamtkonzeption entschieden werden. Für die Zwecke
dieses Buches wird „Sprache" unterschieden von „Begriffssystemen", wobei
im Kontext der behandelten Thematik der Ausdruck ,Logik' auch für die
Bezeichnung der Dimension der Begriffssysteme verwendet wird; in diesem
Kontext (in SLGT) wird also mit dem Ausdruck ,Logik' sowohl die formale
Logik als auch die Logik in einem beträchtlich erweiterten Sinne bezeichnet.
Unter Geist soll im jetzigen Kontext die ganze epistemische oder kognitive
Dimension, speziell die Dimension der Bedingungen für rationale Asserti-
bilität und/oder Annahme verstanden werden.
Der Ausdruck , Theorie' wird im Zusammenhang der Frage nach SLGT-
Abhängigkeit oder -Unabhängigkeit der wirklichen Welt(en) in einem sehr
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3.6 Zum Begriff der Welt 275
[2] Eine zweite positive Grundannahme betrifft den Begriff der Sprache (als
unterschieden von SPRACHE im oben festgelegten Sinne). Genauer genom-
men handelt es sich um eine besondere Frage, von deren Beantwortung
allerdings die Bestimmung von Sprache überhaupt wesentlich abhängt. Die
Frage ist: Hat Sprache nur endlich viele oder abzählbar unendlich viele
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276 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
35 Eine Menge ist endlich genau dann, wenn sie nicht gleich groß ist wie ein echter
Teil von ihr (sie hat dann eine nur endliche Zahl von Elementen). Abzählbar
unendlich ist eine Menge genau dann, wenn es eine 1-1-Korrespondenz zwischen
ihr und der Menge der natürlichen Zahlen gibt. (Eine abzählbare Menge ist eine
endliche oder eine abzählbar unendliche Menge.) Überabzählbar wird eine Menge
dann genannt, wenn sie unendlich ist und es keine 1-1-Korrespondenz zwischen
den Elementen der Menge und der Menge der natürlichen Zahlen gibt.
36 Quine, „Reply to Professor Marcus", in Quine [1966 a] S. 1 7 5 - 1 8 2 ; vgl. S. 180f.
37 Ζ. B. Carnap (vgl. ANHANG 6.2.5.1).
38 Vgl. ζ. B. Rescher [1987] S. 112 ff. Rescher versteht hier unter „Wahrheit" „the
representation of a fact through its statement in some actual language" (S. 112).
Andererseits spricht er von einer „möglichen Sprache", die konstitutiv ist für die
Bestimmung der Tatsache: „Anything that is correctly statable in some possible
language presents a fact" (ebd.). Davon unterscheidet er die „Standardsprachen",
die ihm zufolge rekursiv definiert sind und daher höchstens abzählbar unendlich
viele Ausdrücke enthalten.
39 Vgl. Hugly/Sayward [1983] und [1986], Vgl. auch: Karp [1975], Bricker [1987],
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3.6 Zum Begriff der Welt 277
Dies schließt ihnen zufolge nicht aus, daß in einem bestimmten Sinne
(abzählbar) unendlich viele Ausdrücke „produziert" werden können.
Wenn man Sprachen als formale oder abstrakte semiotische Systeme
versteht, so ist leicht zu zeigen, daß sie überabzählbar unendlich viele
Ausdrücke enthalten können. Man geht von den Basiszeichen aus und
konstruiert Zeichenketten als Folgen im mathematischen Sinne. So erhält
man Mengen von Zeichenfolgen. Es sind so viele Zeichenfolgen konzipier-
bar wie es natürliche Zahlen gibt. Wendet man nun darauf das Potenzmen-
genaxiom („Zu jeder Menge χ gibt es eine Menge, die alle Teilmengen von
χ enthält") an, so erhält man die Potenzmenge, die alle Teilmengen der
Menge der Zeichenfolgen enthält. Aufgrund des Cantorschen Diagonalisie-
rungsverfahrens gilt nun, daß die Menge aller Teilmengen der Menge der
natürlichen Zahlen überabzählbar ist. Entsprechend ist auch die Menge aller
Teilmengen der Menge der Zeichenfolgen überabzählbar.
Ob man unter einer Sprache nur semiotische Kommunikationssysteme
oder auch semiotische abstrakte (formale) Systeme der angegebenen Art
versteht oder verstehen soll, ist eine Frage der Terminologie, die man unter
Heranziehung geeigneter Kriterien entscheiden sollte.41 Es entspricht nun
dem Allgemeinduktus der in diesem Buch entwickelten Konzeption, Sprache
— in der hier interessierenden Perspektive 42 — in einem möglichst umfas-
senden Sinne zu verstehen. Dies ist der Grund dafür, daß Sprache hier nicht
mit semiotischen Kommunikationssystemen im Sinne Huglys und Saywards
identifiziert wird. Bedeutung und Tragweite dieser Entscheidung werden
im nächsten Abschnitt herauszustellen sein.
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278 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
Schäften ist ein einziger großer Beleg für diese Behauptung. Damit ist aber
noch nicht entschieden, in welchem genauen Sinne und mit welchen Kon-
sequenzen eine solche Pluralität akzeptiert werden muß. Im Rahmen einer
Skizzierung der Grundpositionen wurde oben zwischen zwei Formen eines
holistischen immanenten Realismus unterschieden: einer ho\isxisch-monistischen
und einer holistisch-pluralistischen Form. Als Kriterium wurde die Frage
genannt, ob die Pluralität von Begriffssystemen bzw. SPRACHEN als eine
genuine oder als eine nur oberflächliche (irrelevante) Pluralität verstanden wird.
Man kann jetzt die Frage so präzisieren: Lassen sich die Begriffssysteme/
SPRACHEN auf ein einziges Begriffssystem bzw. eine einzige SPRACHE
reduzieren oder erweisen sie sich als irredu^ihel? Wie immer man diese Frage
zu entscheiden versucht, es sollte klar sein, welche immensen Konsequenzen
die Antwort auf diese Frage hat.
[1] Ein erster fundamentaler Punkt kann so formuliert werden: Die (bzw.
jede) wirkliche Welt besitzt das immanente Merkmal oder die immanente
Bestimmtheit der Ausdrückbarkeit. Dieser Ausdruck soll hier in einem be-
stimmten (speziellen) Sinne verstanden werden, nämlich als Kürzel für:
Artikulierbarhit, Erkennbarkeit, Darstellbarkeit, Interpretierbarkeit u. ä. Viel-
leicht ist der Ausdruck Intelligibilität ein besonders geeigneter Ausdruck.
Freilich ist gleich hinzuzufügen, daß eine detaillierte und umfassende Be-
handlung der anstehenden Frage zwischen diesen Ausdrücken differenzieren
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3.6 Zum Begriff der Welt 279
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280 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
[iii] Man könnte versucht sein, die ausdrückende Instant — wie man kurz
sagen kann — rein physikalisch abzuleiten und zu deuten. Eine Möglichkeit
scheint sich unmittelbar zu bieten, nämlich der Rekurs auf das sog. Anthro-
pische Prinzip, mit dem sich seit einigen Jahren mehrere bedeutende Wissen-
schaftler befassen.43 Dieses Prinzip tritt in (mindestens) vier Versionen auf.44
In seiner schwachen Version wird es so formuliert:
(APi) „... we must be prepared to take account of the fact that our location in
the universe is necessarily privileged to the extent of being compatible with
our existence as observers." 45
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3.6 Zum Begriff der Welt 281
entscheiden müssen. 49 In jedem Fall soll in diesem Buch die Frage nach der
SPRACH-Abhängigkeit oder -Unabhängigkeit der wirklichen Welt(en) nicht
auf dieser Basis abgehandelt werden. Das Merkmal der Ausdrückbarkeitj
Intelligibilität wird nicht unter Rekurs auf das Anthropische Prinzip oder auf
ähnliche wissenschaftliche Hypothesen begründet und erläutert. Dieses
Merkmal ist aus echt philosophischen Gründen anzunehmen und zu ergründen.
Nur beiläufig sei angemerkt, daß es bekanntlich eine philosophische kausale
Theorie der Referenz gibt, die auf eine physikalische Relation rekurriert. Die
dieser Theorie zugrunde liegende Einsicht ist positiv zu werten, weil sie das
Verhältnis zwischen der „ausdrückenden (referierenden) Instanz" und der
Welt explizit zu erklären versucht. Aber sie greift aus dem Grunde zu kurz,
weil sie dieses Verhältnis nicht prinzipiell genug betrachtet.
[iv] Es hat sich bis jetzt gezeigt, daß die wirkliche Welt aus dem Grunde
von einer bestimmten ausdrückenden\erfassenden Instant abhängig ist, weil sie
das immanente Merkmal der Ausdrückbarkeit/Intelligibilität besitzt. Die
Frage drängt sich nun auf, wie diese ausdrückende/erfassende Instanz zu
begreifen ist. Kann sie mit dem, was bisher SLGT bzw. SPRACHE genannt
wurde, identifiziert werden? Eine positive Antwort würde sich als die These
formulieren lassen: Es gibt keine wirkliche Welt, die in dem Sinne SLGT-
oder SPRACH-unabhängig ist, daß sie nicht durch SLGT bzw. SPRACHE
ausdrückbar wäre; anders formuliert: SLGT- bzw. SPRACH-Abhängigkeit
der wirklichen Welt besagt Ausdrückbarkeit (Artikulierbarkeit) durch SLGT
bzw. SPRACHE. Diese These besagt mehr als die oben aufgestellte negative
Grundannahme (NGA1). Eine adäquate Behandlung dieser außerordentlich
schwierigen Frage wäre nur im Rahmen eines großangelegten Klärungsver-
suchs möglich. Hier seien dazu nur einige für die Zielsetzung des vorlie-
genden Werkes wichtige Überlegungen angestellt.
Eine positive Antwort im angegebenen Sinne wird durch die oben ge-
machten negativen und positiven Grundannahmen nahegelegt. Besonders
wichtig sind die dritte negative und die zweite positive Grundannahme. Aus
ihnen ergibt sich, daß die SPRACHE, durch die die wirkliche Welt aus-
drückbar ist, nicht als SPRACHE im Sinne einer tatsächlich verwendeten
Sprache, d. h. einer Sprache als der Gesamtheit von „tokens", sondern als
Sprache im Sinne eines abstrakten semiotischen Systems mit prinzipiell über-
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282 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
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3.6 Zum Begriff der Welt 283
ein Problem nur für denjenigen aufzuwerfen, der mögliche Welten auf
linguistische Entitäten zu reduzieren versucht.
[v] Es stellt sich die weitere Frage, ob der Rekurs auf SPRACHE (im
angegebenen Sinne) ausreicht, um die geforderte ausdrückende Instant zu
charakterisieren. Auch hier ist zu sagen, daß die vorgenommene Identifi-
kation von ausdrückender Instanz und SPRACHE nur eine minimale Cha-
rakterisierung besagt: Die ausdrückende Instanz muß mindestens als SPRA-
CHE konzipiert werden. Es drängen sich hier weitere Fragen auf: Ist es
möglich (oder sinnvoll), SPRACHE nur als abstraktes (semiotisches, episte-
misches, logisches usw.) System zu konzipieren? Muß nicht jede Sprache,
und damit auch SPRACHE, als ein System bestimmt werden, das soz. von
handelnden Instanten, nämlich Subjekten (Sprechern), „gehandhabt" wird?
Anders formuliert: Muß nicht Sprache/SPRACHE als System aufgefaßt
werden, das auch „tokens" und die Voraussetzungen für das Hervorbringen
und die Äußerung von „tokens" enthält? Man wird solche und ähnliche
Fragen kaum als sinnlos oder als unwichtig abtun können, auch wenn man
sie nicht restlos zu klären imstande ist.
[a] Ein erster Gesichtspunkt ist der Umstand, daß Sprache nicht als System
von reinen „tokens" aufgefaßt werden kann; Sprache ist in jedem Fall auch
ein abstraktes System. Was Quine hinsichtlich des Satzes feststellt, gilt erst
recht für die Sprache als ganze:
„Ein Satz ist kein einzelnes Äußerungsereignis, sondern ein Universale: ein
wiederholbares Klangmuster bzw. eine Norm, der man wiederholt nahe-
kommen kann."52
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284 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
[b] Wie oben ausgeführt, kann Sprache, als ein System von „tokens" und
damit als Kommunikationssystem konzipiert, sinnvollerweise nicht überab-
zählbar unendlich viele effektiv produzierbare Ausdrücke enthalten. Daraus
ergibt sich eine eigenartige Konsequenz, die in der bisherigen Diskussion
kaum gesehen wurde: Als Sprecher einer Sprache/SPRACHE sind „wir"
sozusagen in ein System „eingebettet", das alle unsere effektiven Äußerungs-
oder Kommunikationsmöglichkeiten absolut übersteigt. Der Rahmen, inner-
halb dessen wir jede Äußerung oder Kommunikation vollziehen, wird von
uns prinzipiell nicht ausgeschöpft. Eine Konsequenz dieser Konsequenz im
Hinblick auf die in diesem Abschnitt (3.6) behandelte Frage liegt unmittelbar
auf der Hand: Die SPRACH-Nicht-Unabhängigkeit der wirklichen Welt(en)
hat als adäquaten „Bezugspunkt" nicht „uns" als tatsächliche Sprecher einer
tatsächlichen Sprache, sondern SPRACHE konzipiert als überabzählbar un-
endliches System. Damit wird auch der Sinn von „Ausdrückbarkeit" einer
näheren Bestimmung zugeführt.
[c] Damit ist aber die Frage immer noch nicht beantwortet, ob denn die
ausdrückende Instanz, die (zunächst) mit SPRACHE identifiziert wurde, nicht
unbedingt weiter bestimmt werden muß, nämlich als wirkliche „handhabende
Instanz". Da es ein Faktum ist, daß SPRACHE teilweise von „uns" benutzt
wird, kann SPRACHE, jedenfalls teilweise, nicht ohne „handhabende Instanz"
(also kurz: ohne die ganze pragmatische Dimension der Subjekte oder
Sprecher) adäquat verstanden werden. Muß man aber auch eine der SPRA-
CHE als ganzer adäquate oder korrespondierende „handhabende Instant' annehmen,
also so etwas wie einen mit wirklicher Überab^äblbarkeit ausgestatteten „Spre-
cher" oder „Beobachter" oder „Erkennenden"? Es ist interessant zu beob-
achten, daß die Idee eines „absoluten" oder „allwissenden" „Beobachters"
oder „Interpreten" oder „Verifikators" in der heutigen philosophischen
Literatur oft auftaucht. 53 Die Frage soll hier offen gelassen werden. Wichtig
ist hier nur der Hinweis darauf, daß die These, Ausdrückbarkeit sei imma-
nentes Merkmal der wirklichen Welt(en), nicht das letzte Wort ist. Die Frage
ist nämlich damit nicht beantwortet, unter welchen Bedingungen ein solches
Merkmal überhaupt konzipierbar ist? Oder Kantisch formuliert: Welches
sind die Bedingungen der Möglichkeit für das Merkmal der Ausdrückbar-
keit/Intelligibilität der wirklichen Welt(en)?
53 Vgl. beispielsweise: Davidson [1983] S. 435 ff., Foley/Fumerton [1985], Blau [1985],
bes. S. 371 u. ö.
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3.6 Zum Begriff der Welt 285
Ein vorläufiges Fazit sei gezogen: Es hat keinen Sinn, unter systematischer
Umgehung der zuletzt genannten Frage(n) über metaphysischen Realismus,
immanenten oder internen Realismus, Anti-Realismus u. ä. zu diskutieren.
Das Ergebnis wäre: Entweder man behauptet die „Unabhängigkeit" der
wirklichen Welt(en) (metaphysischer Realismus) und nimmt dabei in Kauf,
daß man eine nicht-intelligible These vertritt; oder man negiert die Unab-
hängigkeit der Welt, reduziert dabei aber „wirkliche Welt(en)" auf die „kleine
Welt", die „wir" die „unsere" nennen.
[2] Nachdem unter [1] gezeigt wurde, in welchem Sinne und aus welchen
Gründen, (eine) SLGT- bzw. SPRACH-//«abhängige Welt(en) abzulehnen
ist/sind, ist jetzt eine %weite fundamentale Frage zu stellen: Ist eine wirkliche
Welt oder sind viele wirkliche Welten anzunehmen? Bisher wurde diese Frage
ausgeklammert oder vielmehr ««geklammert, insofern meistens .wirkliche
Welt(en)' geschrieben wurde. Auch hier ist zu betonen, daß es sich nur um
sehr spekulative Überlegungen handelt.
Es sei zunächst an die Typologie der Grundpositionen erinnert. Wie die
bisherige Argumentation zeigt, wird hier ein immanenter Realismus vertreten.
Damit ist aber noch nicht entschieden, welcher der drei Formen oder ob
überhaupt einer der drei Formen dieser globalen Richtung der Vorzug zu
geben ist.
[ii] Zur Diskussion stehen also die beiden anderen Varianten des immanen-
ten Realismus, die holistisch-monistische und die holistisch-pluralistische. Auf-
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286 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
grund der bisher gemachten Annahmen ist die Frage so zu stellen: Sind die
unbestreitbar vielen SPRACHEN nur rein verbale Modifikationen (etwa:
„notationale Varianten") bzw. inadäquate Formen ein und derselben grundle-
genden SPRACHE (= SPRACHE^ oder sind die vielen SPRACHEN
mehr als das, d. h.: sind sie echte SPRACHEN (= SPRACHE^)? In beiden
Fällen ist von einer SPRACHE zu sprechen, aber in einem jeweils ganz
anderen Sinn. Im Fall von SPRACHEj gibt es eine Einheit aller Sprachen/
SPRACHEN, nämlich eine SPRACHE« ( = monistisch aufgefaßte SPRA-
CHE), in dem Sinne, daß die vielen Sprachen/SPRACHEN keine echten
Bestandteile der SPRACHEM sind. Und hier kann man wieder %n>ei Mög-
lichkeiten ins Auge fassen. Erstens: SPRACHEM liegt sozusagen jenseits
aller SPRACHEN; diese erweisen sich als konfuse, unpräzise, unbe-
stimmte SPRACHEN, als Andeutungen oder Approximationen der mit
keiner vorhandenen Sprache/SPRACHE identifizierbaren SPRACHEM
(= SPRACHE^). Zweitens: SPRACHE M wird einfach mit einer bestimmten
Sprache/SPRACHE identifiziert, nämlich mit der eigenen, in welche alle
anderen Sprachen/SPRACHEN übersetzt werden ( = SPRACHElb). Im
Fall von SPRACHE2 ist eine Einheit aller SPRACHEN in einem ganz
anderen Sinne, nämlich als SPRACHEp (= SPRACHE im Sinne des
holistischen Pluralismus), angenommen: SPRACHEp schließt (alle) an-
dere(n) Sprachen/SPRACHEN als echte Bestandteile in sich ein.
Die Implikationen der beiden Varianten für den Begriff der Welt ergeben
sich unmittelbar. In beiden Fällen wird eine WELT angenommen. Aber
entsprechend zu SPRACHEM wird WELT als WELTM (= monistische
WELT) verstanden; danach erweisen sich die WELTEN als nur „soge-
nannte" WELTEN, als konfuse, unpräzise Vorstellungen oder Versionen
der einen (monolithischen) WELT. Ganz anders wird WELT in Entspre-
chung zu SPRACHEp aufgefaßt: WELTP ist eine WELT, indem sie (viele)
WELTEN als echte Bestandteile hat.
Auf die Frage, welche der beiden Konzeptionen die richtige ist, dürften
sich die meisten Fragen zurückführen lassen, die in der gegenwärtigen
Philosophie in vielfältiger Form in diesem Kontext formuliert und behandelt
werden. Vermutlich ist diese Grundfrage die schwierigste (und auch die
dunkelste) Frage, mit der sich die heutige Philosophie befaßt bzw. zu
befassen hat. Ein erster Schritt zu ihrer Klärung muß jedenfalls darin gesehen
werden, daß sie klar formuliert wird. Läßt sich darüber hinaus etwas zu
ihrer Lösung sagen? Vielleicht ist die formulierte Alternative gar keine
adäquate Alternative.
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3.6 Zum Begriff der Welt 287
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288 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
entwickelt werden könnte; vielmehr ist dies zunächst nicht mehr und nicht
weniger als eine regulative Idee,57 Aber man darf die Tragweite regulativer
Ideen nicht unterschät2en. Was sie sind und welchen Stellenwert man ihnen
zuerkennen muß, hängt davon ab, mit welchen Problemen man befaßt ist.
Im gegenwärtigen Kontext hat der Hinweis auf eine „Transzendenz von
innen heraus" und somit auf eine SPRACHE (als regulative Idee) den Sinn,
daß grundsätzlich — zumindest negativ — geklärt wird, in welchem Sinne
und mit welchen Konsequenzen man eine wirkliche Welt oder viele wirkliche
Welten annehmen kann oder muß. Es folgt nämlich daraus, daß man eine
W E L T annehmen muß und daß man folglich die eigene bzw. jede Sprache/
SPRACHE von dieser Annahme her richtig situieren kann bzw. muß.
Dadurch ist nämlich sowohl eine (von den sog. „metaphysischen Realisten"
behauptete) nicht-intelligible »»abhängige Welt an sich als auch eine auf die
Kleinkariertheit unserer normalen Sprache/SPRACHE reduzierte Welt („Le-
benswelt") ausgeschlossen. Die Frage in diesem Kontext ist also nicht die,
ob wir (die) SPRACHE überhaupt (konkret) besitzen oder auch nur ent-
wickeln können, sondern die, wie wir (die) wirküche(n) Welt(en) von der
regulativen Idee der SPRACHE her verstehen können bzw. müssen.
[iv] Auf dieser Basis läßt sich spezifischer fragen: Soll SPRACHE als
SPRACHE M oder als SPRACHEp anvisiert werden? Und entsprechend:
Soll W E L T als WELT M oder als WELT P konzipiert werden? Im folgenden
soll eine möglicherweise vertretbare Antwort kurz skizziert werden. Sie ist das
Ergebnis des Bemühens, allen von den vorhandenen Konzeptionen in viel-
facher Weise geltend gemachten wichtigen Gesichtspunkten Rechnung zu
tragen (was allerdings hier nicht im einzelnen ausgeführt werden kann). Es
sei noch einmal darauf hingewiesen, daß diese Antwort nur einen betont
tentativen, ja spekulativen Charakter beanspruchen kann.
Es scheint, daß die am besten begründbare Antwort in einer Richtung zu
suchen ist, die sowohl der Skylla der SPRACHE M /WELT M als auch der
Charibdis der SPRACHE P /WELT P zu entrinnen versucht. Die Konzeption,
die SPRACHEM/WELTΜ annimmt, hat mindestens zwei große Schwächen:
Erstens ist sie das Ergebnis einer dogmatischen und verabsolutierenden Behaup-
tung; zweitens reduziert sie die sprachliche/begriffliche/logische/epistemi-
sche/theoretische usw. Vielfältigkeit auf ein irrelevantes (subjektives) Phä-
nomen und führt somit dazu, daß eine solche Vielfältigkeit gar nicht mehr
57 Dieser Ausdruck stammt bekanntlich von Kant. Hier wird er ohne die bekannten
Kantischen Konnotationen verwendet.
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3.6 Zum Begriff der Welt 289
( S - W 2 ) Jede Sprache/SPRACHE artikuliert (eine) ihr gemäße Welt und hat es damit
auch mit WELT zu tun.
Die Plausibilität von (S—Wl) und (S—W2) wurde schon zur Genüge
aufgewiesen. Was (S —W3) anbelangt, so sei nur soviel gesagt: Diese These
läßt sich schwer bestreiten, wenn man die Tatsache der sprachlich-begriff-
lichen Innovation in der Geschichte der Philosophie und der Wissenschaften
berücksichtigt. Lassen sich also die drei Thesen miteinander in Einklang
bringen? Es dürfte vielleicht nicht schwer sein zu zeigen, daß sie in einem
weiten Sinne miteinander kompatibel sind, daß sie sich also nicht unbedingt
widersprechen. Aber dies ist zuwenig. Läßt sich darüber hinaus vielleicht
zeigen, daß sie drei Gesichtspunkte artikulieren, die als Strukturmomente
einer umfassenden Konzeption betrachtet werden können, ja müssen?
Es will scheinen, als ob die in diesem Buch skizzierte ontologische
Theorie, in deren Mittelpunkt eine Theorie der primären und sekundären
Propositionen/Verhalte steht, den Schlüssel zu einer grundsätzlichen Ant-
wort zu bieten in der Lage ist. „Proposition/Verhalt" wurde zwar als nicht-
linguistische, aber doch als sprachabhängige Entität bestimmt; jetzt ist
genauer zu formulieren: als Sprach/SPRACH-abhängige Entität. Dies besagt,
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290 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
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3.6 Zum Begriff der Welt 291
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292 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
Welt und eine Einsteinsche Welt, eine Lebenswelt und eine wissenschaftliche
Welt u. ä. miteinander nicht nur nicht inkompatibel, sondern sie bilden eine
schichtenmäßig wohlstrukturierte größere Gesamtheit, d. h. eine größere
WELT. Tatsachen (bestehende Propositionen/Verhalte) der sog. Lebenswelt
und Tatsachen etwa der Kernphysik liegen nicht in derselben Welt, aber
nichtsdestoweniger sind beide als wirkliche Tatsachen zu betrachten: Sie
sind nämlich Korrelate verschiedener SPRACHEN und Bestandteile ver-
schiedener WELTEN.
Es wäre mißverständlich, die hier angedeutete Konzeption als eine rein
kumulative Theorie der SPRACHEN und WELTEN und damit der Philo-
sophie und der wissenschaftlichen Theorien zu bezeichnen, zumindest so-
lange der Begriff „kumulativ" nicht präzisiert wird. Es handelt sich nicht
um eine simple additive oder summative Akkumulation, sondern um eine
wachsende strukturelle oder schicbtenmäßige Integration. Aus dieser Konzeption
kann also nicht etwa jene Auffassung abgeleitet werden, die in der wissen-
schaftstheoretischen und -historischen Diskussion „Konvergentismus" ge-
nannt wird. 58 Andererseits erzwingt die skizzierte Konzeption eine Revision
der wissenschaftstheoretischen und -historischen Theorien.
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3.6 Zum Begriff der Welt 293
Das aufgeworfene Problem ergibt sich aus der hier entwickelten Onto-
logie, die Individuen im prägnanten Sinne als fundamentale Konfigurationen
von primären Verhalten begreift. Wäre dann unter Anwendung einer Ar-
gumentation im Sinne des modus tollens nicht zu sagen, daß aus der Inakzep-
tabilität der genannten Konsequenz die Inakzeptabilität der vorgeschlagenen
semantisch-ontologischen Theorie selbst folgt? Würde es sich wirklich so
verhalten, so müßte in der Tat diese letzte Konsequenz gezogen werden.
Aber die Voraussetzung stimmt nicht; das Verhältnis zwischen Sprachen/
SPRACHEN/SPRACHE und Welten/WELTEN/WELT ist viel differen-
zierter zu denken. Dazu einige Hinweise.
Individuen im prägnanten Sinne wurden als fundamentale Konfiguratio-
nen einer Welt/WELT bestimmt. Solche Konfigurationen stehen damit in
Entsprechung zu einer Sprache/SPRACHE. Gibt es eine Möglichkeit, eine
oder die Identität einer solchen Konfiguration durch verschiedene SPRA-
CHEN/WELTEN hindurch zu denken? Hier muß man als erstes sagen, daß
der Begriff der Identität, so wie er heute in der philosophischen Literatur
gewöhnlich genommen wird, sehr problematisch ist 59 ; er ist selbst charak-
teristisch für eine ganz bestimmte Sprache/SPRACHE. Wird derselbe Aus-
druck .Identität' als zu einer anderen Sprache/SPRACHE gehörend genom-
men, so wird er ganz anders verstanden und expliziert. Diese kleine Uber-
legung macht schon einen wichtigen Punkt deutlich: Um die Frage nach
der „Trans-SPRACHEN/WELTEN-Identität" des Individuums im prägnan-
ten Sinne zu stellen und zu klären, muß man eine geeignete Begrifflichkeit,
d. h. eine umfassendere SPRACHE entwickeln. Wie oben gezeigt wurde,
gibt es eine „Transzendenz einer Sprache/SPRACHE von innen heraus"; in
der Tat denken und reden wir immer so, daß wir uns als in ein größeres
Begriffs- bzw. SPRACH-Potential einbezogen verstehen — und zwar bis
hin zur „Erahnung" der SPRACHE als der absoluten regulativen Idee.
Berücksichtigt man diesen Umstand, so dürfte es im Prinzip nicht ausge-
schlossen sein, die Identität eines Individuums (im prägnanten Sinne) durch
die wirklichen SPRACHEN/WELTEN hindurch neu zu konzipieren. Aber
dies kann freilich hier nur eine Andeutung bleiben. Hinzugefügt sei nur
noch folgendes: Ein Individuum im wirklich prägnanten Sinne kann nur
jene Entität sein, die als eine fundamentale Konfiguration von Konfigura-
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294 3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
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