Sie sind auf Seite 1von 3

Nachwort

In der EINLEITUNG wurde betont, daß der Wahrheitsbegriff ein Netzwerk-


Begriff'm dem Sinne ist, daß er einen (intraphilosophischen) interdisziplinären
Charakter hat. Es war die Zielsetzung dieses Buches zu zeigen, wie diese
These genau zu verstehen und zu begründen ist, vor welche Aufgaben sie
den Wahrheitstheoretiker stellt und welche Konsequenzen sie nach sich
zieht. Es dürfte deutlich geworden sein, daß eine substantielle explikativ-
definitionale Theorie der Wahrheit keinen der Faktoren, die zur Interdiszi-
plinarität im hier gemeinten Sinne gehören, außer acht lassen darf.
Ungeachtet des Umfangs dieses Buches muß auf eine doppelte Begrenztheit
des hier vorgelegten Versuchs hingewiesen werden. Die erste betrifft die
explizit vertretenen Thesen, die zweite die Darstellungsform.
Manche der im Hinblick auf eine Klärung der programmatischen, der
begrifflich-methodischen und der sachlich-inhaltlichen Grundlagen aufge-
stellten Thesen bewegen sich in vielen Fällen im Bereich des noch vertret-
baren Präzisions- und Begründungsminimums. Es war aber darum zu tun,
zunächst das Gesamtfeld zu sichten und einer ersten globalen Untersuchung
zu unterziehen. In einigen Fällen, so besonders im Falle des Begriffs des
Individuums und des Begriffs der Welt, hat der Versuch, die entsprechenden
Grundlagen zu klären, zur Entwicklung von fast selbständigen Traktaten
geführt. Gleichwohl ist auch von diesen Partien zu sagen, daß sie nicht viel
mehr als eine minimal durchgeführte Position beinhalten. Auch in einer
anderen Hinsicht ist die hier entwickelte Konzeption mangelhaft. Gemeint
ist der Umstand, daß der Wahrheitsbegriff explizit nur im Hinblick auf (die)
Welt erklärt wurde, und zwar derart, daß nicht ersichtlich wird, wie der so
erklärte Wahrheitsbegriff auf den immensen Bereich der formalen — in einer
anderen, etwas problematischen Terminologie: „abstrakten" — Strukturen
bzw. Entitäten anwendbar ist. Doch dazu ist zu sagen, daß diese Aufgabe
— zumindest teilweise, vielleicht grundsätzlich — im Rahmen jener Sub-
theorie bewältigt werden muß, die in diesem Buch die Typologische Theorie
der Wahrheit genannt wurde. 1

1 Vgl. dazu Abschnitt 1.1.1.

Unauthenticated
Download Date | 5/14/16 11:15 PM
336 Nachwort

Was die Darstellungsform anbelangt, so wurde in der EINLEITUNG mit


Nachdruck darauf hingewiesen, daß es sich in diesem Buch um die Klärung
der Grundlagen einer (explikativ-definitionalen) Theorie der Wahrheit, nicht
um die (Darstellung der) Theorie selbst handelt. Von einer Theorie im idealen
Sinne sollte man nur dann sprechen, wenn eine formalisierte Darstellung
vorliegt. Dies ist aber ein Ziel, das in der Philosophie, wenn überhaupt, so
doch nur sehr selten erreicht wird. Oft wird eine sehr problematische
Forderung nach Formalisierung erhoben — problematisch deshalb, weil
vielfach unklar bleibt, was formalisiert werden soll. M. a. W.: häufig bleiben
Begriffe, Annahmen, Prinzipien (Axiome) u. ä. ungeprüft; es geschieht dann,
daß eine Formalisierung einer — inhaltlich gesehen — naiven oder unaus-
gereiften Konzeption vorgenommen wird. Ein Paradebeispiel dafür ist die
sog. Standardsemantik — und die von ihr vorausgesetzte bzw. implizierte
(„natürliche") Ontologie — der Prädikatenlogik erster Stufe (mit Identität):
Es wird dabei davon ausgegangen, daß die Welt (der „Werte-Bereich") aus
Objekten besteht, denen man Eigenschaften und Relationen zuschreibt und
„über" die man — eventuell — „Tatsachen" behauptet. 2
Die Forderung nach Formalisierung um jeden Preis ist im Bereich der
Philosophie ungerechtfertigt. Der Leser sei auf die diesbezüglichen beach-
tenswerten Bemerkungen des Philosophen und Logikers Saul Kriphe ver-
wiesen. 3
Dennoch wird hier an der Auffassung festgehalten, daß die eigentliche
— zumindest anzustrebende — Form der Theorie die formalisierte Darstellung
ist. Dies ist im Hinblick auf die hier anvisierte Theorie der Wahrheit eine
Aufgabe, die in einem anderen Werk in Angriff genommen werden soll.
Erst eine formalisierte Fassung wäre in der Lage, eine der Schwächen der
hier dargelegten Konzeption zu beseitigen. Gemeint ist der Umstand, daß
es in diesem Buch kaum möglich war, den eigentlichen Zusammenhang der
eingeführten Begriffe, der gemachten Annahmen, der formulierten Defini-
tionen, der aufgestellten Prinzipien (Axiome), der behaupteten Theoreme
und Konsequenzen u. ä., kurz: den gesamten Theorie-Zusammenhang, deut-
lich genug aufzuzeigen. Eine formalisierte Fassung hätte insbesondere die
Aufgabe, diesen Theorie-Zusammenhang zur genauen Darstellung zu brin-
gen, d. h. sichtbar zu machen.
Ein letzter Punkt ist noch anzusprechen. Gegen die hier herausgearbeitete
Erklärung des Wahrheitsbegriffs könnte man folgenden scheinbar schweren

2 Vgl. dazu Abschnitt 3.2.1.2.


3 Vgl. Kripke [1976] S. 407 — 416 („An Elementary Methodological Sermon").

Unauthenticated
Download Date | 5/14/16 11:15 PM
Nachwort 337

Einwand erheben: Wenn Wahrheit im Sinne der dargelegten Konzeption zu


verstehen ist, scheint sich zu ergeben, daß es sich um einen für die Wissen-
schaften), die Philosophie und das Leben unbrauchbaren, weil unrealisierba-
ren, Begriff handelt. Doch dieser Einwand greift zu kurz. Freilich ist
zuzugeben, daß Wahrheit im hier dargelegten Sinn in einer bestimmten
Hinsicht in der Tat nicht „realisierbar" ist. Daraus folgt aber keineswegs,
daß Wahrheit ein unbrauchbarer Begriff ist. Dies wäre ein verhängnisvoller
Fehlschluß, der, akzeptierte man ihn, das ganze theoretische Unternehmen
sowohl der Wissenschaft(en) als auch der Philosophie zur Sinnlosigkeit
verurteilen würde. Wahrheit ist keine Mün^e, weder eine echte noch eine
falsche, die man erwerben, besitzen oder wieder veräußern kann. Wahrheit
ist eher als ein regulativer Begriff einzustufen. Die Aufgabe von regulativen
(oder, wie man auch sagen kann, idealen) Begriffen besteht darin, daß sie uns
in die Lage versetzen, das einigermaßen genau und nüchtern zu situieren
und einzuschätzen, was wir faktisch tun und erreichen. Ohne solche Begriffe
geriete jedes theoretische Unternehmen in das Dilemma, entweder als trivial
zu erscheinen (die „erreichte" Wahrheit wäre nichts Besonderes) oder Ab-
solutheit dogmatisch zu beanspruchen (Wahrheit wäre der vermeintlich je
schon erreichte höchste Wert). 4 Wahrheit als regulative Idee muß gerade als
derjenige Faktor angesehen werden, der das theoretische Unternehmen der
Menschheit sowohl ermöglicht als auch offen hält. Diese These ist aber nur
dann haltbar, wenn Klarheit darüber besteht, was unter Wahrheit verstanden
wird bzw. zu verstehen ist. Es war das Ziel dieses Buches, einen Beitrag
dazu zu leisten.

4 N. Rescher hat in mehreren Arbeiten die Tragweite der Unterscheidung zwischen


der erreichbaren „besten Schätzung" („estimate") der Wahrheit und dem (praktisch
unrealisierbaren) vollverwirklichten Begriff der Wahrheit (der „Wahrheit selbst")
erläutert und zur Geltung gebracht (vgl. ζ. B. Rescher [1985 b] S. 296 f.).

Unauthenticated
Download Date | 5/14/16 11:15 PM

Das könnte Ihnen auch gefallen