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Soziale Systeme 17 (2011), Heft 1, S.

120-137 © Lucius & Lucius, Stuttgart

Elena Esposito

Kann Kontingenz formalisiert werden?*

Zusammenfassung: Der Artikel rekonstruiert die Rolle und die Bedeutung des Begriffs
der Form in der Theorie sozialer Systeme vom Problem der Autologie aus, also von
dem Umstand, dass die für das System verfügbaren Möglichkeiten vom System selbst
und von seinen Operationen abhängig sind. Wie kann die Theorie diese Zirkularität
und die damit korrelierte Kontingenz berücksichtigen, ohne in Willkür abzugleiten?
Könnte ein Kalkül der Formen hilfreich sein? George Spencer Browns Formenkalkül
bietet eine Formalisierung der Art und Weise, wie die Operationen (und die Beob-
achtungen) eines autopoietischen Systems vom System selbst abhängig sind. Er be-
trachtet jedoch explizit nur die Beobachtung erster Ordnung. Die Figur des re-entry,
bei der ein System seine eigene Beobachtungsoperation beobachtet, markiert auch
das Ende des Kalküls und den Eingang in einen Bereich der Unbestimmtheit. Um die
Beziehungen zwischen verschiedenen Beobachtungsperspektiven zu formalisieren,
die sich gegenseitig anerkennen, aber getrennt bleiben, können Gotthard Günthers
Überlegungen über Mehrwertigkeit wichtige Anreize anbieten – sie selbst bieten aber
keinen Kalkül. Durch Kombination beider Ansätze kann man jedoch einen Ansatz-
punkt gewinnen, um die enorme Komplexität der zunehmend verbreiteten Lagen zu
behandeln, wobei man berücksichtigen muss, dass die für ein System verfügbaren
Möglichkeiten (z. B. die Offenheit der Zukunft) auch von den Operationen des Sys-
tems produziert werden, das sich dessen bewusst ist.

I. Form und Differenz

Die in diesem Artikel vorgestellten Überlegungen beziehen sich auf den Begriff
der Form und auf seine Relevanz für die soziologische Theorie. Die Reflexion
über den Begriff der Form, die wenigstens so alt wie das westliche Denken
(Plato) ist, hat natürlich auch im soziologischen Bereich eine Tradition (man
denke nur an Simmel). Hier beabsichtige ich aber, mich auf die Systemtheorie
und insbesondere auf die Theorie Niklas Luhmanns zu konzentrieren.
Bei dieser Theorie handelt es sich bekanntlich um eine extrem komplexe
Konstruktion, die explizit entscheidet, sich in einem multi- oder transdiszi-
plinären Bereich zu stellen und sich dabei für Beiträge sehr unterschiedlicher

*
Der hier vorliegende Text ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags, den ich auf der
Tagung »Social Form: An International Conference in Between Sociology, Philosophy, and
the Humanities«, Zeppelin University, Friedrichshafen, 4.-6. März 2010 gehalten habe. Ich
möchte der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die großzügige Förderung, den Orga-
nisatoren und den Teilnehmer für die interessante Diskussion und den Gutachtern und
Herausgebern der Soziale Systeme für ihre hilfreichen Kommentare danken.
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Forschungsrichtungen zu öffnen, insbesondere der Komplexitätstheorie und


der Kybernetik zweiter Ordnung (Luhmann 1984, 15-29). Schon bei Parsons
beruhten Originalität und Innovationsvermögen der Systemtheorie auf diesen
oft akrobatischen Aufpfropfungen, die von der Theorie verlangen, hinreichend
abstrakt zu sein, so dass die Verbindungen funktionieren können. Es han-
delt sich dabei natürlich weder um einen naiven Physiologismus noch um die
Suche nach einfachen Analogien: Die Systemtheorie weiß sehr wohl, dass das
Funktionieren eines Organismus oder einer Maschine an sich sehr wenig über
die Prozesse sozialer Systeme aussagt. Die Vergleiche finden sich auf einer viel
abstrakteren Ebene, auf der von Anfang an eher die Suche nach Differenzen
als nach Identitäten zentral war. Selbst die Benennung der Theorie als Sys-
temtheorie bezieht sich ja eigentlich auf die grundlegende Unterscheidung von
System und Umwelt und nicht auf die Identität eines Systems.1 Die Identität
eines Organismus ist sicher etwas ganz anders als die Identität einer Gesell-
schaft; seine Art und Weise, sich in der Differenz zu seinem Umwelt zu defi-
nieren, kann jedoch auch für die Erforschung der Gesellschaft lehrreich sein.
Deshalb ist der Formbegriff zentral: weil Differenz in diesem Ansatz eben
als Form verstanden wird, also als Unterscheidung zweier Seiten, die nicht
unabhängig voneinander definiert werden können (genauso wie ein System
nicht unabhängig von seiner Umwelt definiert werden kann und umgekehrt).
Wie wir später ausführlich sehen werden, ist diesbezüglich George Spen-
cer Browns Reflexion eine grundlegende Referenz – für die Kybernetik (von
Foerster 1972) wie für die Systemtheorie. Und diesbezüglich eröffnet sich die
Theorie auch den Aufpfropfungen einer anderen äußerst anregenden, obwohl
wiederum soziologieexternen theoretischen Tradition: der philosophischen
Reflexion zur Differenz (Derrida 1967; Deleuze 1968; 1969), aus der der De-
konstruktivismus stammt. Auch in diesem Fall sind Ansatz und Interessen
der Soziologie ganz andere; gemeinsam ist beiden Ansätzen aber der Versuch,
über die Position und die Einschränkungen des Beobachters in seiner Ausein-
andersetzung mit den Objekten und mit der Welt zu reflektieren.
Wenn von Form die Rede ist, begibt man sich auf diese Ebene, die viele
Schwierigkeiten mit sich bringt, aber auch viele Vorteile bietet. Seit einiger
Zeit entwickelt sich innerhalb der Systemtheorie einen Versuch, diesen Bezug
auf die Form zu einer Alternative zu dem nunmehr »klassischen« Bezug auf
Systeme zu radikalisieren. Schließlich existieren Systeme immer als Formen
(Formen einer Differenz), und es wäre denkbar, ihre Genese und ihre Ent-
wicklung gerade als »Kalkül« der sich artikulierenden und komplexifizie-
renden Formen zu rekonstruieren. Dirk Baecker spricht von »rechnenden
Formen« und rekonstruiert die klassische Fragestellungen der Soziologie
von der Organisationen über die Wirtschaft zu den Medien bis zum Kom-

1 Wie bereits häufiger angemerkt worden ist, wäre es etwas umständlich, wollte man von
einer System / Umwelt-Theorie statt von Systemtheorie reden.
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munikationsbegriff selbst als Errechnung von Formen und Unterscheidungen


(Baecker 1993a; 1993b; 1993c; 2005; 2007a; 2007b; auch Lehmann 2011; Kara-
fillidis 2010). Wenn die Systemtheorie schließlich eine Theorie der Differenz
System / Umwelt ist, also einer Form, warum sollte man nicht von der Form
ausgehen, um ihre Entwicklung zu rekonstruieren, parallel und ergänzend
zu der schon verfügbaren Einstellung, die von Systemen ausgeht? Vermutlich
kann man Anderes oder dasselbe anders sehen, oder auf jedem Fall aber die
Voraussetzungen und die Eigenschaften der Konstruktion der Systemtheorie
aus einer anderen Perspektive beleuchten.
In den folgenden Abschnitten werde ich versuchen, die Rede über die Form in
Luhmanns Theorie zu lokalisieren, die sie anfänglich auf die Probleme der Se-
mantik und ihre Dependenz / Korrelation mit den Strukturen der Gesellschaft
bezogen hat (II). Die grundlegende Frage ist die der Autologie, für die Spencer
Browns Kalkül zentral ist, gerade weil er eine Formalisierung der Autologie bie-
tet, also der Operationen eines Systems, das sich mit einer vom System selbst
abhängigen Welt auseinandersetzt (III). Die Soziologie, die sich vom Anfangs-
problem der doppelten Kontingenz ausgehend entwickelt, behandelt jedoch
immer die Verhältnisse zwischen mehreren Beobachtungsperspektiven, also
einen Bereich, der von Spencer Browns Kalkül (bewusst) unbestimmt gelassen
wird (IV). Gotthard Günther beschäftigt sich dagegen gerade mit dieser Frage
und bietet eine Formtheorie, die zwar keinen echten Kalkül darstellt, wohl aber
die Konfigurationen der unterschiedlichen Kombinationen von Kontingenzen
aufzeigt und systematisiert (V). Die Relevanz dieser Formalisierungen für die
soziologische Theorie bleibt bislang eine offene Frage. Die diesbezügliche Dis-
kussion hat jedoch das Verdienst zu zeigen, dass die Artikulation von Diffe-
renzen in der Beobachtung zweiter Ordnung nicht strukturlos ist, obwohl sie
ausdrücklich auf einen eindeutigen Realitätsbezug verzichtet (VI).

II. Das soziologische Problem der Autologie

Wenn wir uns auf dem skizzierten Generalitätsniveau bewegen und von der
Systemtheorie handeln wollen, scheint es mir notwendig, sich auf einen an-
deren Begriff zu beziehen, der auch der Orientierung an Differenzen und der
ganzen Formforschung zugrunde liegt. Warum ist es nötig, sich an Diffe-
renzen statt an Identitäten zu orientieren? Warum muss man die Soziologie
dazu zwingen, sich von den Voraussetzungen des westlichen Denkens (von
der Tradition, die einst alteuropäische Tradition genannt wurde) zu entfernen
und sich auf ein immer unsicheres und flüchtigeres Niveau zu begeben, auf
dem jede Bestimmung relativ ist und auf eine andere Seite und damit auf eine
unüberwindbare Kontingenz verweist? Man muss dies deshalb tun, weil die
Soziologie ihrer Natur nach eine selbstreferentiell gebaute und diskontinuitäts-
bewusste Disziplin ist (Luhmann 1992) – eine Disziplin, welche die Relativität
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der Zeiten, der Umstände und der Beobachter kennt und berücksichtigen muss
und die deshalb entsprechend zirkuläre Begriffe entwickeln sollte. Die Sozio-
logie selbst ist eine kontextrelative Beobachtung, auch wenn sie von dieser
Relativität redet und sie der Beobachtung aussetzt. Die Grundbedingung der
Soziologie, die sie dazu zwingt, eine Differenztheorie zu sein (und die mögli-
cherweise eine Formtheorie erfordert), ist es in der Tat, das Bewusstsein (und
fast die Notwendigkeit) dieser Bedingungen in ihre Theorie einzuholen: Eher
als jede andere Theorie muss eine soziologische Theorie in der Lage sein zu
berücksichtigen, dass die Ideen und Begriffe, mit denen sie die Welt betrachtet,
selbst Elemente der Welt sind. Die Theorie hängt dann von den Bedingungen
ab, die sie untersuchen will (und wirkt wiederum auf sie ein).
Diese Lage wird von Luhmann mittels der Frage der Autologie diskutiert, die
nicht zufällig am Beginn seiner großen programmatischen Werken gestellt
wird: in Soziale Systeme (1984) und Die Gesellschaft der Gesellschaft (1997). 1984
tauchte das Wort selbst noch nicht auf, aber das Problem war ganz klar und
schon definiert: Wie kann man Willkür in einer sich selbst tragenden Kon-
struktion ausschließen, in einer Theorie, die in jedem ihrer Schritte und in
jeder Bestimmung von sich selbst abhängt (1984, 11)? Das Buch vom 1997
wird dann sogar explizit mit der Diskussion der Autologie eröffnet (16). Die
Ideen und die Begriffe, mit denen die Soziologie die Gesellschaft innerhalb
der Gesellschaft beschreibt, hängen von den Strukturen der Gesellschaft ab:
Die Semantik korreliert mit den Gesellschaftsstruktur und kann sich nicht
beliebig ändern. Ideen gibt es nicht von selbst, sie sind nicht einfach richtig
oder falsch, und sie existieren nicht einfach in den Köpfen der Menschen: Ihre
Reichweite und ihre Auswirkungen können erst dann erfasst werden, wenn
sie mit den sozialen Bedingungen verbunden werden, die sie möglich, not-
wendig und mehr oder weniger plausibel machen.
Wie kann man aber diese Korrelation erforschen, die so unmittelbar zirkulär
ist, dass es das Denken erschwert, wenn man nur daran denkt? Wie formu-
liert man eine Theorie, die die Bedingungen beschreibt, von denen die Ideen
und Begriffe abhängig sind – also auch die Formulierung der Theorie? Das
würde heißen, die eigene Abhängigkeit zu beschreiben, was wiederum nicht
unabhängig davon getan werden kann. Welche Mittel haben wir zur Verfü-
gung, um diese unerlässliche, aber paradoxe Aufgabe zu erfüllen?
Diese Frage stellt sich vor jeder soziologischen Beschreibung und ist eine Prä-
misse der Arbeit der Soziologie. Und das ist der Grund dafür, dass die Re-
flexion über den Formbegriff kein Kapitel unter anderen in der Anlage des
Systemtheorie ist, sondern zu einer Art Hintergrundmotiv wird, das die Ent-
wicklung der Theorie begleitet: die Anerkennung der Relativität und der Kon-
tingenz, aber zugleich die Suche nach Stringenz und nach möglichen Formen
von Kohärenz. Deshalb erscheint der Begriff der Form in der Systemtheorie
in verschiedenen, scheinbar heterogenen Bedeutungen und sogar in einer
Unterscheidung (Medium / Form), die als Alternative zur Leitunterscheidung
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System / Umwelt vorgestellt und diskutiert wird (Esposito 2006) – eine Alter-
native aber innerhalb desselben Projekts einer Theorie, die so komplex und
flexibel ist, dass sie ihr rewriting in sich selbst einschließt: Geht man von der
Unterscheidung Medium / Form aus, wird man einerseits auf die Unterschei-
dung System / Umwelt treffen, ebenso wie andererseits die Unterscheidung
System / Umwelt über den Formbegriff ihrer Konstruktionen reflektiert. Mit
dem Formbegriff relativiert die Systemtheorie sich selbst, und diese Eigen-
schaft taucht in einer Vielzahl von Kontexten auf, in denen man den Begriff
der Form findet: mit Bezug auf Sinn, auf die Differenzierung der Gesellschaft,
auf die Produktion und Artikulation des Möglichen und natürlich mit Bezug
auf einen spezifischen Kalkül (Esposito 2006).
Das Konzept der Form kommt direkt ins Spiel, wenn es um Ideen und Begriffe
geht, um die »Wissensbestände«, durch die wir uns mit der Welt auseinan-
dersetzen – technisch gesagt, wenn es um die Semantik geht, die bekanntlich
als der Vorrat an Formen definiert wird, die in einer bestimmten Gesellschaft
für die Typisierung des Sinns zur Verfügung stehen – in den drei Sinndimen-
sionen: sachlich, zeitlich und sozial (Luhmann 1980, 18-19). Das vertiefe ich
hier nicht. Was mich interessiert, ist, dass diese Semantik, welche schon an
sich ein Vorrat an Formen ist, nicht willkürlich variiert, weil sie von der Struk-
tur der Gesellschaft abhängt – aber diese Struktur ist selbst wieder eine Form.
Sie ist nämlich durch die Form der primären Differenzierung der Gesellschaft
definiert: segmentär, stratifiziert (oder Zentrum / Peripherie) oder funktional
(1980, 22 ff.). Die Ideen sind also Formen, die in Bezug auf eine weitere Form
geregelt sind, und diese Beziehung beschreibt das Grundverhältnis zwischen
der Theorie und der Welt: Formen korrelieren mit einer Form.
Es ist offensichtlich, dass wir deshalb eine Formentheorie brauchen; aber wie
könnte diese aussehen? Luhmann macht hier einen anderen Vorschlag, und
es bietet sich an, zunächst davon auszugehen: Zwischen den Veränderungen
der Semantik und den Strukturänderungen der Gesellschaft (zwischen For-
men und Formen) gibt es eine intervenierende Variable, welche die Korre-
lationen vermittelt und filtert: Das ist die Komplexität (Luhmann 1980, 22).
Für die Systemtheorie ist Komplexität ein technischer Begriff, der durch die
Beziehung zwischen Elementen und Relationen bestimmt ist: Ein System ist
komplex, wenn es nicht in der Lage ist, jedes Element mit jedem anderen zu
verbinden. Im Allgemeinen redet man von Komplexität, wenn es mehr Mög-
lichkeiten gibt, als aktualisiert werden können; man muss dann auswählen,
und das könnte immer anders passieren. Komplexität impliziert Selektion
(einige Möglichkeiten müssen ausgeschlossen werden) und Kontingenz (die
Selektionen könnten andere sein, da es andere Möglichkeiten gibt). Die drei
miteinander korrelierte Begriffe Komplexität, Selektion und Kontingenz defi-
nieren das Grundproblem der Systemtheorie. Autologie führt eigentlich zum
selben Punkt: zum Problem der Verwaltung des Überschusses an Möglich-
keiten und ihrer nicht arbiträren Selektion.
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Die Frage nach der Form ist eine Modalfrage und handelt von dem Möglichen
– davon, wie Möglichkeiten mit Möglichkeiten korreliert werden können: die
Komplexität der Semantik (ihrer Formen) korreliert mit der Komplexität einer
bestimmten Form der Gesellschaftsdifferenzierung, die bestimmte Möglich-
keiten denkbar macht und andere ausschließt. Eine Formtheorie dient uns
deshalb zunächst dazu, Komplexitätsverhältnisse, also die Möglichkeit des
Möglichen, zu behandeln – auf eine nicht willkürliche (obwohl unvermeidlich
und bewusst kontingente) Weise. Es ist eine sehr abstrakte Frage, die aber auf
ein operatives Problem bezogen und damit doch konkret ist: Welche Möglich-
keiten sind mit den Ideen und Konzepten kompatibel, mit denen wir die Welt
und die Gesellschaft erfassen, wenn sie von der Welt und der Gesellschaft
abhängig sind?

III. Spencer Brown: ein Kalkül für die Selbstbeobachtung


eines Systems

Welche Mittel stehen für die Behandlung des Aspekts der Komplexität und
des Möglichen zur Verfügung? Vor dem Hintergrund dieser Fragestellung
bezieht sich Luhmann auf Spencer Brown und spricht von dem Kalkül der
Form. Denn Spencer Brown bietet einen dezidiert diesem Thema gewidmeten
Kalkül, der genau den Kern der Autologie betrifft: die Abhängigkeit der Form
von sich selbst (Spencer Brown 1972).2 Der Kalkül ist bekanntlich über die
Figur des re-entry gebaut, welche am Anfang implizit ist und im bekannten
Kapitel 11 des Buches explizit eingeführt wird,3 wenn die Berechnung kom-
plex genug ist, um sich auf sich selbst zu beziehen und intern zu behandeln
– wenn also die Konstruktion autologisch wird. Eigentlich ist Autologie von
Beginn an vorausgesetzt, wenn eine Markierung in einen unmarked space ein-
gefügt wird und ihn in immer komplexeren Formen artikuliert4 – also eine
immer größere Zahl von Möglichkeiten generiert, die miteinander kombiniert
werden. Das re-entry zeigt den Punkt, an dem die Möglichkeit des Möglichen

2 Es handelt sich um eine Formalisierung wie diejenigen der gängigen logischen Kalküle, die
aber darauf verzichtet, Anfangsaxiome zu setzen und die auf einem einzigen (von einem
»mark« beschriebenen) Operator beruht. In der die Berechnung begleitenden theoretischen
Interpretation erklärt Spencer Brown, dass es sich um einen Kalkül handelt, der das Ver-
hältnis eines Beobachters zu einer Welt formalisieren will, die sich im Lauf der Beobachtung
selbst konstruiert. Deshalb setzt sie nichts voraus, außer der einfachen Faktizität einer ers-
ten Operation, die eine Unterscheidung in einem vorher undifferenzierten Bereich markiert.
Bei den folgenden Überlegungen werde ich viele Eigenschaften des Kalküls voraussetzen,
eine nützliche und gut dokumentierte Einführung in Spencer Browns Kalkül findet man
aber in Schönwälder-Kuntze / Wille / Hölscher 2009.
3 Denn: »We cannot fully under stand the beginning of anything until we see the end« (Spen-
cer Brown 1972, 79)
4 Aber am Anfang befindet man sich »at a point of such degeneracy« (81), da alle Begriffe (wie
Beschreibung, Bezeichnung, Name und Befehl) miteinander verbunden sind – also selbst
nicht unterschieden werden können.
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ins Spiel kommt, d. h. wo deutlich wird, dass selbst die Alternative zwischen
einem Datum und seiner Negation (die Kontingenz) nicht so oder anders ge-
geben sein könnte, früher (vor dem Beginn des Kalküls) nicht gegeben war
und erst dann betrachtet werden kann, wenn sich der Kalkül entwickelt hat.
Die Möglichkeit selbst, die Negation oder die Abwesenheit der Form zu be-
trachten (den unmarked space), setzt die Form (den mark) voraus. Das Mögliche
hängt von sich selbst ab, und gerade deshalb bleibt es kontingent.
Das ist es, was Spencer Brown gezeigt hat, und das ist nicht wenig: Es impliziert
z. B. die Fähigkeit, jede Referenz kontingent sein zu lassen, sie aber trotzdem
als Datum zu verstehen – die Fähigkeit, die kontingente Realität zu betrachten,
die für Modaltheorien immer ein Rätsel gewesen ist.5 Das daraus resultierende
Verfahren ist sehr wirkungsvoll (es kann zum Beispiel elegant und sehr ef-
fizient viele der Probleme lösen, die von den gängigen logischen Formalisie-
rungen behandelt werden), aber es ist in seinem Anwendungsbereich bewusst
begrenzt, weil es sich mit einer spezifischen Frage und nur damit beschäftigt:
der Reflexion des Systems über sich selbst (Esposito 1993).
Der Formenkalkül betrifft ein einziges System und verfolgt die Entwicklung
seiner Unterscheidungsfähigkeit: von der einfachen Faktizität, mit der seine
Operationen eine Trennung von einem unbestimmten Bereich markieren (und
»a universe comes into being« (v))6 – dies entwickelt Spencer Brown in den
Kapiteln 1 bis 4 der Laws of Form (1972) – zur Beobachtungsfähigkeit, die ihm
erlaubt, sich mit Objekten auseinanderzusetzen. In Kap. 5 ändert der Kalkül
seinen Zustand: Spencer Brown geht hier mit der Einführung von Variablen
und einer anderen Interpretation der Symbole7 von der primary arithmetic zur
primary algebra über – in der Begrifflichkeit der Systemtheorie: von einfachen
Operationen wechselt Spencer Brown zu Beobachtungsoperationen, die ein
Objekt haben und es von Anderen unterscheiden. Die Variablen stehen eben
für diese Objekte, sind aber ihrerseits in marks eingefügt, also auf Operatio-
nen des Systems bezogen: Auch die Beobachtungen sind dann bekanntlich
Operationen (was sonst?) und tragen zur Autopoiesis des Systems bei. Die
Regeln der primary arithmetic gelten auf allen höheren Abstraktionsniveaus
weiter,8 weil es notwendigerweise immer um die Operationen eines Systems
geht. Sie werden aber komplexer, weil sie nicht nur die Art und Weise berück-
sichtigen müssen, wie ein System sich von der Umwelt unterscheidet, sondern

5 Und nicht nur für sie: die Propositionen- und Prädikatenkalküle, für die Spencer Browns
Kalkül eine Alternative bieten will, sind seines Erachtens gerade durch den Anspruch
benachteiligt, von Notwendigkeiten auszugehen, die in Postulaten ausgedrückt werden
– auf die Spencer Brown in der Tat verzichtet, wobei er zeigen kann, dass der Kalkül trotz-
dem funktioniert; er funktioniert sogar besser – siehe Appendix 2 in Spencer Brown 1972.
6 Die Systemtheorie würde von Autopoiesis reden, die bekanntlich nicht nur das System
»erschafft«, sondern auch die Umwelt und die Welt.
7 Für interessante Bemerkungen und wichtige Hinweise in Bezug auf die Differenz zwischen
primary arithmetic und primary algebra danke ich Tatjana Schönwälder und Christina Weiss.
8 Die primary algebra ist »a calculus taken out of the calculus« (1972, 25), dem die Fähigkeit
zukommt, vom Kontext Abstand zu nehmen (26).
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auch, wie es selbst die eigenen Objekte unterscheidet. Es handelt sich aller-
dings immer um Unterscheidungen, und in der Tat stehen die Variablen selbst
für Ausdrücke der primary arithmetic, wobei eine »partial identity of operand
and operator« (Spencer Brown 1972, 88) vorausgesetzt wird.
Die primary algebra entwickelt sich dann auf wachsenden Komplexitätniveaus,
bis es auch möglich wird, »die zwei Ordnungen wieder zu vereinigen« (1972,
42), also innerhalb des Kalküls die Verbindung von Arithmetik und Alge-
bra, zwischen Operationen und Beobachtungen auszudrücken – in unseren
Worten: die Beobachtungen selbst als Operationen zu beobachten. Der Kal-
kül (das System) kann dann über sich selbst reflektieren, bis er (im Kap.11)
zu dem Schritt kommt, der die grundlegende Differenz zwischen Spencer
Browns Kalkül und den anderen Systemen der Logik und schließlich den
Grund aller seinen Innovationen (von der merkwürdigen Notation bis zum
Verzicht auf Postulate) markiert: Der Kalkül der Form kann in sich selbst auch
die »functions of themselves« (97) betrachten, die bis dahin von allen Kal-
külen ausgeschlossen waren (nicht zufällig: es handelt sich um Funktionen,
die unvermeidlich die Möglichkeit implizieren, Paradoxien zu produzieren).
Das bekannte re-entry (56) steht genau für die (komplexe und problematische,
aber faktisch unnegierbare) Möglichkeit, dass ein System komplex genug
wird, um auch sich selbst als eigenes Objekt zu beobachten. Hier schließt sich
der Kreis und endet der Kalkül. Spencer Brown bietet weder einen Kalkül des
re-entry noch der re-entries und will ihn auch nicht anbieten.
Spencer Brown sagt vielmehr es ausdrücklich (1972, xxiii): seine Absicht war
es, einen Kalkül zu entwickeln, der von der Zeit absieht und damit von allen
»Unvollkommenheiten« des Zustands der »particular existence«; er will also
nur die universellen Aspekte der Produktion von Formen beschreiben, die für
jedes System in jedem Moment gelten. Mit dem re-entry dagegen kommt Zeit
ins Spiel (59) in der Form eines »degree of indeterminacy«, der durch einen
ausschließlichen Bezug auf den Zustand eines Systems nicht gelöst werden
kann. Hier kommen Dimensionen ins Spiel, welche das Verhältnis zwischen
einer Gegenwart (mit ihren Gegebenheiten) und einer anderen Gegenwart
(in denen andere Gegebenheiten gelten, ohne dadurch die ersten in Frage zu
stellen) betreffen: die Möglichkeit, sich auf einen anderen »in time« lokalisier-
ten Zustand zu beziehen, ohne den gegenwärtigen Zustand verlassen oder
diskutieren zu müssen. Nur in Bezug auf diese zusätzliche Dimension kann
der Zustand des Systems noch bestimmt werden, aber dann ändert sich die
Bedeutung des Kalküls wieder und diesmal radikal: man geht zu »subverted
expressions« (62-65) über, bei denen der Zeitpunkt und die spezifische Lage
des Systems berücksichtigt werden müssen und erst dann eine Bestimmung
erreicht werden kann – welche nicht nur kontingent, wie alle andere im Kal-
kül, sondern auch relativ sein wird. Obwohl er nicht beliebig ist, kann der
Zustand des Systems (also der Welt) nicht mehr eindeutig kalkuliert werden,
und die Notation des Formenkalküls erreicht die eigenen Grenzen.
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Der Zustand des »subversion« (die Reflexion) kann auch in einen besonderen
mark übersetzt werden – wie es Spencer Brown (1972, 65) tut, indem er das
erste und einzige Mal einen auf sich selbst gebogenen Haken benutzt –, aber
seine Bedeutung ändert sich grundlegend und er kann nicht mehr für Kal-
kulation benutzt werden: Wie Spencer Brown selbst sagt, stellt in diesem Fall
der mark kein cross (also keine Unterscheidung) dar, weil die Grenze (bounda-
ry) mit sich selbst übereinstimmt (die Umwelt fällt in sich selbst hinein und
umgekehrt). Man sollte deshalb als mark eher eine vertikale Linie (wie | ) be-
nutzen, welche implizit mehrere Verbindungslinien (leads) vertritt, die ihre
substantielle Mehrdeutigkeit ausdrücken (66 ff.). Um das Verhalten eines sich
selbst beobachtenden Systems zu beschreiben, sollte man deshalb wenigstens
auf eine dreidimensionale Ebene übergehen, wo jedesmal sowohl die Zeit als
auch der Zustand des Systems in Betracht gezogen werden; dann könnte ge-
zeigt werden, wie dieselbe Form an verschieden Stellen je nach Gedächtnis-
gestaltung auftauchen kann (ivi).
Es handle sich jedoch um einen ganz anderen Kalkül, der die Gesetze der
Form voraussetzt, aber auf einer Art und Weise artikuliert, die sie unerkenn-
bar – und vor allem nicht mehr ohne weitere Spezifizierungen gültig – macht.
Er ist nicht Spencer Browns calculus of form, der dazu nichts zu sagen hat und
es auch nicht will: das re-entry markiert die Schließung des Kalküls, jenseits
dessen er nur ein »and so on« (1972, 68) anbietet. Deshalb scheint es mir nicht
sinnvoll, einen Kalkül der re-entries mit auf sich selbst gebogenen Haken vor-
zuschlagen (Varela 1975) – weil für Spencer Brown das re-enry das Ende des
Kalküls und auch das Ende der Kalkulierbarkeit bezeichnet. Danach tritt man
in einen Zustand der Unbestimmtheit ein, in dem seine Mittel – wie immer
(oder sogar universell) wirksam – nichts mehr zu sagen haben. Der Kalkül
ist deshalb so mächtig, weil er begrenzt ist: jenseits seines Gültigkeitsraums
kalkuliert man nicht mehr, oder kalkuliert man anders.

IV. Die Formalisierug der doppelten Kontingenz

Welche Relevanz hat diese Konstruktion für die Soziologie? Offensichtlich die,
den grundlegenden Umstand der Selbst-Abhängigkeit eines (jedes) Systems
von sich selbst gezeigt (und formalisiert) zu haben, weil das System – auch
dann, wenn es sich mit der Außenwelt auseinandersetzt – dies immer auf eine
Weise und in den Formen tut, die von den eigenen Operationen strukturiert
sind (also unter der Bedingung der Autologie). Spencer Brown hat gezeigt,
dass das in nichtzufälligen Formen passiert, die sogar mit der Formalisierung
und mit dem Kalkül kompatibel sind – bis man in den Bereich kommt, in dem
man mehrere Beobachtungsperspektiven zugleich berücksichtigen muss und
die entstehenden Formen (obwohl sie nicht beliebig sind) nicht mehr aus einer
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einzigen Perspektive bestimmt werden können. Hier kommt dann ein hö-
heres Unbestimmtheitsniveau ins Spiel.
Das Problem ist natürlich, dass der Soziologe sich immer in diesem unbe-
stimmten Bereich befindet, zumindest wenn er sich mit doppelter Kontingenz
befasst (Luhmann 1984, 148 ff.): also mit einer anderen Qualität von Kontin-
genz als derjenigen, die Spencer Brown in ausgezeichneter Weise erkannt
und formalisiert hat. Eigentlich hat die Zeitdimension, die für ihn die Grenze
seines Kalküls (aber natürlich nicht der Welt) markiert, die selbe doppelt kon-
tingente Struktur: Wie in einer anderen Gegenwart andere Bestimmungen
gelten können, ohne dadurch die gegenwärtigen zu falsifizieren, so kann ein
anderes System mit anderen Formen operieren, ohne dadurch unsere zu falsi-
fizieren. Das ist das Problem der doppelten Kontingenz: eine andere Kontin-
genz als meine, die aber von meiner abhängig ist und mit der ich mich aus-
einandersetzen muss (sie ist nicht einfach »falsch«) – so wie ich mich mit der
Multiplikation der Möglichkeiten in der Zeit auseinandersetzen muss.
Zurück zu Luhmann: das ist das Problem (und die Lösung) der Autologie der
Gesellschaft. Die Komplexität (Kontingenz) der Semantik hängt auch von der
Gesellschaftsstruktur ab, die nicht nur komplex (sie produziert viele Mög-
lichkeiten), sondern auch differenziert ist: Sie reproduziert in sich selbst die
Differenz System / Umwelt und dadurch produziert sie weitere Systeme mit
den entsprechenden Umwelten, die sich miteinander verbinden und ausein-
andersetzen. Das Problem der Gesellschaftstheorie ist der »Zusammenhang
zwischen Komplexität und Systemdifferenzierung« (Luhmann 1980, 21) – der
zugleich auch die Arbitrarität der Semantik einschränkt und es ermöglicht,
sie zu untersuchen. Um die Komplexität des Sozialen behandeln zu können,
kann man nicht umhin, sich mit den Verhältnissen zwischen verschiedenen
Systemen auseinanderzusetzen; und hier muss die Formtheorie über den For-
menkalkül im Sinne Spencer Browns hinausgehen.
So tritt man in den Bereich der Beobachtung zweiter Ordnung im eigentlichen
Sinne ein: die Beobachtung von Beobachtungen, die nicht nur die anderen Ope-
rationen ein und desselben Systems sind, sondern auch die Beobachtungen
anderer Systeme mit anderen Problemen und Bedingungen sein können. Der
wirkmächtige Ausdruck der Beobachtung zweiter Ordnung impliziert eigentlich
eine gewisse Mehrdeutigkeit: Es handelt sich sicher um Beobachtung von Beob-
achtungen – es kann sich aber um Beobachtungen von verschiedenen Beobach-
tern oder von Beobachtungen des Beobachters durch sich selbst handeln. Einige
Bedingungen sind diesen verschiedenen Fällen gemeinsam: zum Beispiel, und
das ist grundlegend, die Reduktion der Notwendigkeit auf Kontingenz – und
das ist es, was Spencer Brown sehr deutlich zeigt. Einige Bedingungen sind aber
unterschiedlich, zum Beispiel das Verhältnis verschiedener Kontingenzen – und
darum kümmert sich Spencer Browns Formenkalkül gar nicht.

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130 Elena Esposito

Es bleibt jedoch eine Frage offen, die Luhmann (1980, 70) selbst stellt: Ist es
möglich, Modelle für die Korrelationen zwischen Semantik und Gesellschafts-
struktur, zwischen der Form der Ideen und der Form der Differenzierung zu
entwickeln? Ist es nützlich und sinnvoll, eine Formalisierung zu suchen, die
nicht nur erlaubt, diese Grundbedingung zu bezeichnen, sondern sie auch zu
operationalisieren (zum Beispiel, indem man mit verschiedenen Kombinatio-
nen von Kontingenzen und ihren Variationen experimentiert)? Wozu dient
eine solche Formalisierung und wo liegen ihre Grenzen?

V. Gotthard Günther: Die Konfigurationen der Kontingenzen

Wenn man sich hier noch an eine Formtheorie wenden will, muss sie anders
sein als die Spencer Brownsche, die sich, wie gesehen, um einen anderen
Bereich kümmert. Und es gibt tatsächlich eine weitere Theorie, die dasselbe
Problem adressiert, obwohl sie es im Kontext einer ganz anderen Theorietra-
dition tut: der idealistischen Philosophie. Ich beziehe mich hier auf die Theo-
rie Gotthard Günthers, die uns eine andere Formtheorie als die von Spencer
Brown anbietet, aber nicht notwendigerweise eine Alternative dazu darstellt –
sie bietet uns vielmehr die Version des Kalküls, die noch möglich ist, wenn
man in den Bereich eintritt, in dem Spencer Brown die Formalisierung aufge-
geben hat.
Das Problem, mit dem sich Gotthard Günther beschäftigt, ist letztlich das-
selbe wie bei Spencer Brown: Eine »Logik des Sinns« aufzubauen, welche
die einfache Äußerlichkeit der vor-idealistischen Logiken überwindet, die
nur Objektivität, Unmittelbarkeit, einfache Negation und einfache Reflexion
– wir würden heute sagen: nur die Beobachtung erster Ordnung – systema-
tisch behandeln können.9 Der große Verdienst Hegels und der Grund dafür,
dass Gotthard Günther sich immer noch auf die idealistische Tradition beruft,
ist, gezeigt zu haben, dass es möglich ist, auch die Innerlichkeit systematisch
zu behandeln – die keine einfache Subjektivität ist und damit eine andere
Referenz als Objektivität hat, sondern eine viel komplexere Bedingung des
Umtausches und der Interdependenz realisiert. Wenn man die Innerlichkeit
so untersucht, verzichtet man gar nicht darauf, sich mit den Objekten zu be-
fassen, sondern man erkennt, dass »die Welt und das Denken« (in Günthers
Terminologie) nicht autonom existieren, sondern sich gegenseitig gerade in
ihrer Gegenüberstellung generieren – was, anders gesagt, der Frage der Auto-
logie entspricht, von der die Systemtheorie ausgeht. Die »große Logik« Hegels
ist deshalb groß, weil sie von einer Welt handelt, welche das Denken in sich
selbst einschließt (Günther 1933, insbesondere 204-205 und 209).

9 Von Logik des Sinns spricht Günther in 1933, 209. Natürlich ist jede Verbindung mit Deleuze
1969 nur eine Suggestion (aber nicht deshalb nutzlos).
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Kann Kontingenz formalisiert werden? 131

Wenn das die Frage ist, liegt Günthers Vorschlag (und sein Beitrag zur Ent-
wicklung einer Formtheorie) in dem Grund seiner Abwendung von Hegel, den
er kritisiert, weil er seines Erachtens zu schnell auf die Möglichkeit verzichtet
hätte, diese breitere Version der Logik und der Rationalität zu formalisieren
und an die Vorstellung gebunden geblieben sei, dass das eigentliche Wesen
der Welt dem Begriff entzogen sei und nur intuitiv erfasst werden könne –
deshalb wäre es zur Transzendenz verurteilt. Günther zufolge hätte Hegel
deshalb darauf verzichten müssen, weil er nur über begrenzte formelle Mit-
tel verfügte, nämlich die zweiwertige Logik, die strukturell nur zur Behand-
lung eines Oppositionsverhältnisses zwischen zwei Seiten fähig ist – Sein und
Nicht-Sein, Objekt und Subjekt – und nicht in der Lage ist, ihre unendlichen
Verwicklungen zu berücksichtigen: die Tatsache, dass der Subjekt selbst als
Objekt gesehen werden kann oder dass man über Negation reflektieren kann.
Dafür wären weitere Werte wären nötig gewesen, denn zwei reichen für eine
angemessene Konzeption dieses Verhältnisses eben nicht aus.
Seit mehreren Jahrzehnten gibt es aber formalisierte Mittel, die genau dazu
fähig sind: die mehrwertigen Logiken mit den entsprechenden Kalkülen.
Lange Zeit wusste man aber nicht, was damit anzufangen sei – sie blieben
technische Mittel, raffiniert und korrekt, aber ohne eine philosophische In-
terpretation. Laut Günther handelt sich dabei aber gerade um die Mittel, wel-
che die Formalisierung der Hegelschen Logik des Sinns erlauben und deren
Grundstruktur und Implikationen sichtbar machen – während sie rätselhaft
bleiben, solange man sich auf eine Welt von Objekten ohne entsprechende
Komplexität beruft. Mit anderen Worten: es handelt sich gerade um die Mittel
eines Formenkalküls, der, auf der Suche nach einer Formalisierung der Beob-
achtung zweiter Ordnung, welche die Beziehungen der doppelten Kontingenz
und die Behandlung der Zeit einschließt, Spencer Browns Kalkül ergänzt.10
Statt in die Details der komplexen Konstruktion Günthers zu gehen, beschrän-
ke ich mich hier darauf, auf die Aspekte aufmerksam zu machen, die direkt für
unsere Suche nach einer Formtheorie relevant sind.11 Wie wir gesehen haben
ist unser Problem nicht einfach die Kontingenz, sondern das Verhältnis von
Kontingenzen – die Möglichkeitsbedingungen des Möglichen – das offen und
gebunden zugleich ist. Die Verdoppelung der Kontingenz ist keine bloße Du-
plikation (zwei Kontingenzen statt eine), sondern auch und vor allem die zir-
kuläre Bindung der Kontingenz, wobei die erste Kontingenz sich an die zweite
wendet und die zweite an die erste, so dass sie sich gegenseitig beschränken.
Es handelt sich um die berühmte Situation, in der ich und du jeweils (abstrakt)
darin frei sind, was wir tun wollen – aber ich tue, was du willst, wenn du tust,

10 Nicht zufällig signalisierte Spencer Brown selbst die Notwendigkeit, zu einer dreidimen-
sionalen Formalisierung überzugehen, also über die strukturellen Grenzen der verfügbaren
Kalküle hinauszugehen. Auch Schönwälder / Wille / Hölscher 2009 (56, 181) interpretieren
das re-entry als die Einführung eines dritten logischen Werts.
11 Ich verweise aber auf die »klassische« Referenz: Günther 1976 / 1979 / 1980.
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132 Elena Esposito

was ich will. Ähnlich verhält es sich mit der Zeit (Spencer Browns Problem):
In der Zukunft ist abstrakt alles möglich, aber tatsächlich hängen die künftig
verfügbaren Möglichkeiten davon ab, was man heute, gerade in der Orientie-
rung an der Zukunft, tut und entscheidet – die Zukunft hängt mithin von der
Gegenwart ab, die wiederum von der Zukunft abhängt.
Um diese Lage zu formalisieren, sollte man das Verhältnis zwischen Beob-
achtungsperspektiven behandeln, die sich gegenseitig fremd sind (sich also
gegenseitig negieren), welche aber eine andere Beziehung zur Welt und zu
den Objekten anerkennen (sich also bejahen). In Günthers Worten: die Welt
meines »Du« stimmt mit meiner Welt nicht überein (sonst wäre es wieder mein
»Ich«12) – ich weiß aber, dass auch das »Du« sich mit Objekten auseinandersetzt
und erkenne es an. Günther interpretiert den zusätzlichen logischen Wert (und
möglicherweise alle folgenden) deshalb als Ablehnung der Alternative zwischen
den beiden anderen Werten – welche die negierte Seite wieder bejaht. Jede Be-
obachtungsperspektive benutzt eine Unterscheidung, also eine Binarität – der
dritte Wert dient dazu, von dieser Binarität Abstand zu nehmen (sie also abzu-
lehnen), ohne sie dadurch zu negieren oder nicht zu erkennen: Man beobachtet
einen Beobachter, ohne sich mit ihm zu identifizieren. Deshalb spricht Günther
von »rejection value«: es handelt sich dabei um eine mächtigere Ablehnungsfä-
higkeit, die erlaube, von der Perspektive eines Beobachters (die abgelehnt wird)
Abstand zu nehmen und sie dadurch anders zu beobachten. Wenn ich die Per-
spektive des Beobachters von meiner Perspektive unterscheide, werde ich das,
was er sieht, auch dann sehen können, wenn ich mit seiner Perspektive nicht
einverstanden bin, und das sehen, was er nicht sieht – weil ich von Anfang an
festgestellt habe, dass seine Welt mit meiner nicht übereinstimmt. Ich werde
dann auch sehen, wo sich unsere Welten kreuzen und diese Interdependenzen
berücksichtigen. Eine mit rejection values ausgerüstete Logik sollte in der Lage
sein, diesen Zustand zu formalisieren.
Es wird natürlich eine ganz andere Formalisierung als die traditionellen zwei-
wertigen sein müssen, welche mehrdeutige Bestimmungen zulässt, ohne da-
durch arbiträr zu werden – was für einen zweiwertigen Kalkül absolut verbo-
ten wäre, wo die Entdeckung eines Widerspruchs (das formelle Korrelat der
Mehrdeutigkeit, wo A und Nicht-A gleichzeitig gegeben sein können) zwin-
gend zur Verwerfung des Kalküls als Ganzem führt, weil er nichts mehr aus-
schließen kann. Die von Günther benutzten Symbole sind dagegen innerlich
mehrdeutig: die Kenogramme sind leere Symbole, die für jede Wertzuschrei-
bung innerhalb einer Alternative stehen (z. B. wahr oder falsch, wie in der
traditionellen Logik). Das Kenogramm verwirft die Alternative in dem Sinne,
dass er sich nicht darum kümmert, welcher Wert gewählt wird, sondern um
die Wahl als solche, welche mit anderen Wahlen korreliert wird, um die daraus
resultierende formellen Strukturen zu untersuchen. Man könnte sagen, dass es

12 Soziologen würden natürlich von Ego und Alter Ego reden.


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Kann Kontingenz formalisiert werden? 133

für eine Kontingenz steht, welche mit anderen Kontingenzen kombiniert wird,
um die daraus resultierenden Verhältnisse zu untersuchen. Das ist eigentlich
Luhmanns Problem: Ist es möglich, eine Formalisierung zu finden, welche die
Möglichkeit des Möglichen behandelt, also zu sehen, wie die Möglichkeiten
sich gegenseitig binden, unabhängig davon, was dann real wird? Kann man
studieren, wie eine gewisse Kontingenz die weiteren noch möglichen Kontin-
genzen bindet, und die verschiedenen Weisen, wie das geschieht?
Günthers Morphogramme bieten eine solche Formalisierung: es handelt sich
um Sequenzen von Kenogrammen, welche die Formen (deshalb der Verweis
auf »morphé«) der möglichen Kombinationen von Kontingenzen zeigen,
wobei jedes Kenogramm für eine leer gelassene Wertzuschreibung (eine
Zweiwertigkeit) steht. Je nach der Zahl der Variablen und der Werte entstehen
mehr oder weniger komplexe Gestalten, die in unseren Worten als Strukturen
von Beobachtungen höherer oder niedrigerer Ordnung mit mehr oder weniger
Beobachtern gedeutet werden können. Mit zwei Werten geht es nur um Beob-
achtungen erster Ordnung, mit drei Werten entsteht die Möglichkeit, die Al-
ternative zu verwerfen und andere Welten (bzw. Beobachter) zu beschreiben,
mit zusätzlichen Werten beschreibt man mehr oder weniger unterschiedliche
Weisen, diese Andersartigkeit zu beobachten, wo einige Bezüge fest bleiben
und andere variieren, unterschiedlich variieren, oder alles variiert. Es handelt
sich um Formen und Formen von Formen, die Möglichkeiten generieren und
binden, mehr oder weniger zahlreich und mehr oder weniger voneinander
unterschiedlich je nach der Art und Weise, wie sie gebaut werden. Es handelt
sich also um einen echten Formenkalkül, wenn man unter Form das reine
Sich-Ergeben einer Unterscheidung versteht.

VI. Nicht-willkürliche Unbestimmtheit

Wir waren von der soziologischen Systemtheorie und von der Frage der Auto-
logie ausgegangen. Unser Problem ist immer noch dasselbe – und bleibt hier
zunächst offen: wozu dient ein solcher Kalkül? Was kann man mithilfe der
Formalisierung (möglicherweise einer erweiterten Formalisierung, die Spen-
cer Browns Kalkül mit dem von Gotthard Günther vorgeschlagenen Meta-
Kalkül ergänzt) sehen, was man davor nicht hätte sehen können, oder nur
weniger systematisch und weniger vollständig? Im Kern: braucht die Soziolo-
gie wirklich einen Formenkalkül?
Als er die Theorie der rejection values und die entsprechende Bewusstseins-
formen für das Publikum von Startling Stories – ein science fiction-Magazin,
an dem er während seines Amerikaaufenthaltes mitgearbeitet hat – populär
erklärte, zitierte Günther (1955, 98) eine jüdische Anekdote, die in konzen-
trierter Form das Problem der Verhältnisse zwischen verschiedenen Perspek-
tiven und die grundlegende Rolle der Paradoxien darstellt: Ein Rabbi disku-
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tiert mit drei Freunden das Problem der menschlichen Seele. Der Erste, ein
Agnostiker, beweist unzweideutig, dass Menschen keine Seele haben können,
und der Rabbi gibt ihm Recht. Der Zweite beweist gleich überzeugend, dass
alle rationalen Wesen eine Seele haben; der Rabbi gibt ihm auch Recht. Dann
erhebt sich der dritte Freund und bemerkt, dass die anderen zwei nicht beide
recht haben können. Der Rabbi stimmt zu und antwortet dem dritten Freund
etwas traurig, dass er auch Recht hat.
Der Anspruch des Kenogrammkalküls ist, eine logische Formalisierung für
alle ins Spiel kommenden Positionen zu liefern – eingeschlossen diejenige,
welche den unüberwindliche Widerspruch zwischen ihnen erkennt. Gesell-
schaftstheorie und Beobachtungstheorie beschäftigen sich ihrerseits mit den
Verhältnissen unterschiedlicher Beobachtungsperspektiven, ohne sie auf eine
einzige korrekte oder den anderen überlegene Perspektive zurückführen zu
wollen: Weder das Recht noch die Wirtschaft noch die Wissenschaft noch
der Kunst verfügen über die einzige korrekte Unterscheidung, um sich mit
der Umwelt auseinanderzusetzen, und die Gesellschaft schließt ihre ganze
Unterschiedlichkeit und auch eine Perspektive (die Soziologie) ein, die sich
dessen bewusst ist und davon redet – so wie der Rabbi die Korrektheit von
Diskursen akzeptiert, die sich gegenseitig widersprechen und auch noch das
Bewusstsein dieses Widerspruchs. Das passiert aber nicht zufällig und es gibt
keine Beliebigkeit – es gibt jeweils sehr genaue Bindungen, die einschränken,
was korrekt und was nicht korrekt ist.
Das Problem ist, dass diese absolut kontingenten, aber trotzdem nicht be-
liebigen Bindungen meistens nicht offensichtlich sind. Wir haben es bei der
doppelten Kontingenz und ihrer Artikulation in der Sozialdimension und in
der Zeitdimension gesehen: Die Unsicherheit unseres Verhaltens hängt von
Anderen ab, die von uns abhängen, und von einer Zukunft, die von den ge-
genwärtigen Handlungen und Entscheidungen konstruiert wird – auch wenn
wir nichts tun, da auch die Nicht-Entscheidung Folgen hat. Was künftig real
bzw. möglich sein wird, hängt nämlich davon ab, was wir (und die Anderen)
heute tun und nicht tun, obwohl wir es weder vorhersagen noch steuern kön-
nen. Die Zukunft ist offen und gebundenen zugleich, weil wir nicht wissen
können, was sein wird (die Zukunft gibt es noch nicht), aber wenn wir nichts
oder anderes tun, werden einige Möglichkeiten nicht oder anders produziert.
Wir wissen, dass diese unbekannten Möglichkeiten davon abhängen, was in
der Gegenwart möglich gemacht wird – nicht nur davon, was wir tun, son-
dern auch, was die Anderen tun, auf die wir uns richten und die sich ihrer-
seits auf unser Verhalten richten, um die eigene Entscheidungen zu treffen.
Das Ergebnis ist eine hochkomplexe Verflechtung von Konditionierungen, die
absolut kontingent sind (es ist fast nie notwendig, auf einer bestimmten Weise
zu entscheiden), jedoch jeweils Möglichkeiten ausschließen und andere, heute
unvorstellbare Möglichkeiten produzieren. Dadurch bauen sie die Welt auf, an
die wir uns wenden – in der Handlung, aber auch in der Beschreibung der so-
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Kann Kontingenz formalisiert werden? 135

zialen Prozesse.13 Es handelt sich um die Komplexität der sozialen Wirklich-


keit, die mehr das Mögliche als Reale betrifft, die Möglichkeit des Möglichen
außer den real in jeder Situation gegebenen Möglichkeiten.
In vielen Gebieten, insbesondere im Zusammenhang mit der Verbreitung der
Kybernetik und ihrer Virtualisierungsverfahren, können wir schon heute Pro-
zesse beobachten, wo das Reale vom Möglichen und von seinen Strukturen
abhängt; es fehlen jedoch noch die geeigneten Instrumente, um sie zu be-
schreiben und zu analysieren. Denken kann man hier zum Beispiel an die
schwindelerregenden Geschäfte an den Finanzmärkten, wo jeden Tag Trans-
aktionen getätigt werden, die das ganze Welt-Bruttoinlandsprodukt um ein
mehrfaches übertreffen; es ist klar, dass dies ein Geschäft von Möglichkeiten
und nicht von realen Waren ist, von der aber jeweils der für ein Land oder für
die Konsumenten verfügbare reale Reichtum abhängt – das Mögliche produ-
ziert das Reale und nicht umgekehrt. Viel weniger klar ist, wie diese laufenden
Prozesse beschrieben und kontrolliert werden können, gerade auch die Kreis-
läufe von Beobachtungen, die zum Beispiel den Handel mit Derivaten anlei-
ten, welche explizit nur mit der Zukunft und von ihren Möglichkeiten han-
deln.14 Man denke an Optionen, die in der Gegenwart die Bedingungen von
künftigen (heute inaktuellen) Möglichkeiten feststellen, die aber die Freiheit
offen lassen, in der Zukunft (wenn sie aktuell sein wird) anders zu entschei-
den – weil die Zukunft unvorhersehbar ist und bleibt, aber von Bindungen
abhängt, die auch von den heutigen Beobachtungen und von den entspre-
chenden Operationen abhängen. Die Zukunft hängt davon ab, wie die Gegen-
wart sich auf die Zukunft orientiert (ein re-entry im Spencer Browns Sinne)
– die Möglichkeit des Möglichen hängt von den realen Möglichkeiten ab, auf
einer Weise, die man beschreiben können sollte. Die verfügbaren Kalküle, die
von den Händlern aufgrund der komplexen Formalisierungen benutzt werden,
sind aber nicht in der Lage, die Zirkularität und Reflexivität der Beobachtun-
gen zu berücksichtigen15 – die Art und Weise, wie die Händler sich gegensei-
tig beobachten, beobachten, was Andere beobachten und auch die Theorien,
welche Beobachtungen und Transaktionen leiten (die sich dann performativ
falsifizieren16). Sie sind nicht in der Lage, Beobachtungen höherer Ordnung,
also die Produktion des Möglichen zu berücksichtigen. Im Lauf der Finanz-

13 In der neueren soziologischen Literatur wird diesen Sachverhalt oft unter dem Etikett der
»Performativität« beschrieben, das dazu dient zu erklären, wie die soziale Realität auch
von den sie beschreibenden Beobachtungen aufgebaut wird, die selbst soziale Tatsache
sind und Folgen für die eigenen Objekte haben. Vgl. zu Beispiel interessante und einfluss-
reiche Arbeiten im Bereich der Wirtschaft: McKenzie 2006; McKenzie / Muniesa / Siu 2007;
Callon / Millo / Muniesa 2007. Die Theorie sozialer Systeme, unterstützt von einer Theorie
der Gesellschaft und ihrer Evolution, kann diese Perspektive mit einem umfangreicheren
Bezugsrahmen ergänzen.
14 Dazu ausführlicher Esposito 2009.
15 Eine nunmehr sehr verbreitete obwohl oft unwirksame Kritik: vgl. zum Beispiel Man-
delbrot / Hudson 2004.
16 McKenzie 2006 spricht von »counter-performativity«.
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136 Elena Esposito

krise haben sich die formalisierten Modelle als völlig unzureichend erwiesen,
um die Produktion von Überraschungen (d. h. die Auseinandersetzung mit
einer offenen Zukunft) vorherzusagen und zu verwalten.
So hat sich die Überzeugung verbreitet, dass Kalküle und Modelle ganz un-
nütz wären,17 womit der Fehler reproduziert wurde, den Gotthard Günther
Hegel vorwarf: die Überzeugung, dass für die Anerkennung einer breiteren
Rationalität auf Formalisierung verzichtet werden soll. Wir brauchen dagegen
andersartige Kalküle, die dazu fähig sind, die Unsicherheit zu formalisieren
und die Strukturen der Kontingenz zu beschreiben. Die Formalisierung in
Günthers Sinne (hier mit Luhmann neu interpretiert als Kalkül der Möglich-
keit des Möglichen) hätte die Aufgabe, gerade diese Konditionierungen zu
verdeutlichen: was man mit einer oder mit einer anderen Entscheidung aus-
schließt, was möglich gemacht wird und wie die Kontingenzen sich gegen-
seitig begrenzen – nicht jedoch, was passieren wird. Die Formalisierung biete
eine Art Technik, d. h. eine »funktionierende Simplifikation«, die hilft, nicht
zufällig zu operieren und zu beobachten und eine gewisse Kontrolle zu be-
halten (Luhmann 1997, 524; 1991, Kap. 5; 2000, Kap. 12) – eine Kontrolle über
sich selbst, nicht über der Welt: Nichts stellt nämlich sicher, dass die Tech-
nik zu einer besseren Anpassung oder sogar zur Bestimmung der Welt (oder
zur Vorhersage von Markttrends) führt. Überraschungen ergeben sich dann
immer noch, vielleicht sogar vermehrt, sollten aber nicht so überraschend
sein, und vor allem sollte der Kalkül es erlauben, sie vorherzusehen und von
ihnen zu lernen – und dabei, wie in allen Fällen des Lernens, die Komplexität
des lernenden Systems erhöhen, aber nicht seine Entsprechung zur Welt. Die
Formalisierung würde in diesem Sinne das »degree of indeterminacy« behal-
ten, das Spencer Brown zu Recht für unanwendbar hielt, wenn man die Ein-
deutigkeit der Beobachtung erster Ordnung einmal verlassen hat – sie würde
aber erlauben, es zu berechnen. Ein solcher Kalkül ist allerdings noch nicht
verfügbar, es wäre aber in der Tat ein Kalkül der Formen im Sinne der Sys-
temtheorie.

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17 Bedeutsam für viele der Erfolg von Taleb 2001.


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Kann Kontingenz formalisiert werden? 137

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Prof. Dr. Elena Esposito


Facoltà di Scienze della Comunicazione e dell’Economia,
Università di Modena e Reggio Emilia,
viale Allegri n.15, I-42100 Reggio Emilia
elena.esposito@unimore.it

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