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Neuere Theorien
2. Semester
Zeichenanzahl: 36.466
Autoreninformationen:
Matrikelnummer: 215345
E-Mail: anne-marie.kilpert@s2008.tu-chemnitz.de
Erklärung:
Ich versichere, dass ich die folgende Arbeit vollständig alleine für den hier
angegebenen Zweck angefertigt und alle direkt und indirekt aus fremden Quellen
übernommenen Gedanken und Informationen gekennzeichnet habe.
1 Einleitung ............................................................................................................... 4
6 Quellenverzeichnis .............................................................................................. 21
7 Abbildungsanhang ............................................................................................... 22
1 Einleitung
„Das menschliche Neugeborene verfügt zwar über einige angeborene Reflexe und
Instinkte […], aber diese Ausstattung reicht bei Weitem nicht aus, um es schon zu
einem in der Gesellschaft handlungsfähigen Individuum zu machen. Diese
Fähigkeiten werden erst in einem längeren und komplizierten Lernprozess erworben,
den wir Sozialisation nennen“ (Joas 2007: 138).
Das Individuum muss mit fortschreitendem Alter mit immer komplexeren sozialen
Strukturen und Sachverhalten umgehen können und soll gesellschaftliche
Erwartungen erfüllen, die durch Werte und Normen definiert sind. Im Kindesalter
stellt die Familie die soziale Umwelt dar. Bald darauf kommen Freunde und die
Institution Schule hinzu. Im Jugendalter erfährt das Individuum neue Situationen,
denen es sich zuvor noch nicht ausgesetzt sah. Der Eintritt ins Arbeitsleben verlangt
ihm wiederum andere Fähigkeiten ab. Diese Entwicklung, beziehungsweise diese
erfolgreiche Entwicklung hin zu einem Individuum, das fähig ist in der Gesellschaft zu
leben, wird in der Soziologie mehrfach durch verschiedene Theoretiker1 beschrieben.
Durkheim, Simmel, Mead, Gehlen, Parsons, Erikson und weitere befassten sich mit
der Fragestellung wie es möglich ist, dass Menschen miteinander in Interaktion treten
können. Wie der Mensch sich durch Laute und Gesten verständigen kann. Und was
den Menschen dazu bringt soziale Normen zu erlernen und sein Leben nach ihnen
zu organisieren. Durkheim spricht beispielsweise von einer „Vergesellschaftung der
menschlichen Natur“ (vgl. Durkheim 1972).
In der vorliegenden Arbeit wird sich mit den Theoretikern Talcott Parsons und
George Herbert Mead beschäftigt. Die Stellung der Sozialisation in den beiden
Theoriegebäuden ist vollkommen unterschiedlich. Parsons (1977) möchte das
Problem der sozialen Ordnung klären, das schon von Thomas Hobbes aufgeworfen
wurde. Für diese Erklärung benötigt er ein Modell der Sozialisation, um die
Entstehung und den Erhalt sozialer Normen begründen zu können. Mead (1973)
interessiert sich für die Herausbildung der Identität, zu der auch gesellschaftliche
Normen und Werte gehören. Warum der Mensch welche Werte verinnerlicht und sein
Handeln an ihnen orientiert erklärt Mead in seinem Sozialisationsmodell.
1
Aufgrund der besseren Lesbarkeit werden in dieser Hausarbeit nur männliche Formen verwendet .
4
Zunächst soll ein Blick in die beiden Theorien einen Eindruck der Denkweise der
Theoretiker vermitteln (Kap.2 und Kap.3). Wobei die Aspekte dargestellt werden, die
für das weitere Verständnis der Arbeit notwendig sind. Danach schließt ein Vergleich
der beiden Sozialisationsmodelle an, in dem die Bedeutung des Individuums in dem
jeweiligen Modell (Kap.4.1), das Erlernen von sozialen Normen (Kap.4.2) und der
Vorgang des sozialen Handelns selbst (Kap.4.3) gegenüber gestellt werden.
Abschließend werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede beider Positionen
herausgearbeitet. Die Hausarbeit behandelt durchgängig zuerst die Position von
Parsons und anschließend die von Mead. Damit wird sie an der Quellenliteratur
orientiert.
2.1 AGIL-Schema
Parsons (1977) stellt sich die Frage, wie soziale Ordnung möglich sei. Dieses
Problem wurde von Thomas Hobbes aufgeworfen. Dieser versuchte zu erklären, wie
die Gesellschaft existiert, das heißt, welche Beziehungen vorherrschen. Um diese
Fragestellung zu lösen, entwickelt Parsons das zunächst allgemeine AGIL-Schema.
Mit seinem Modell will er Handlungszusammenhänge erklären, von der Gesellschaft
bis zur Familie.
5
Um einen stabilen Handlungszusammenhang aufrecht zu erhalten, müssen die vier
Bezugsprobleme Adaption (A), Goalattainment (G), Integration (I) und Latent pattern
maintenance (L) gelöst werden. Adaption bedeutet eine Anpassung des Systems an
die Umwelt, das heißt, es müssen die verfügbaren Ressourcen im weiteren
Handlungsverlauf berücksichtigt werden. Im Gesellschaftssystem deckt der
Wirtschaftssektor diesen Bereich ab. Goalattainment formuliert ein Ziel unter
realisierbaren Bedingungen und in Einverständnis aller Gruppenmitglieder, im
Gesellschaftssystem übernimmt dies die Politik. Integration bezieht jede Einheit in
das System, das heißt jeden in seinen Fähigkeiten wahrzunehmen und diese für das
System zu nutzen. In diesem Beispiel wird dieses durch die gesellschaftliche
Gemeinschaft bewerkstelligt. Das letzte Bezugsproblem ist die Latent pattern
maintenance, die Aufgabe der Normerhaltung. Diese wird im Gesellschaftssystem
durch das kulturelle System in Form von Erziehung und Sozialisation gelöst. Jedes
Handlungssystem lässt sich in diese vier Bereiche gliedern (vgl. Schneider 2005:
144ff).
Das AGIL-Schema enthält nicht nur die vier universalen Bezugsprobleme, sondern
lässt auch eine Steuerungs- und eine Energiehierarchie als Interpretation zu.
Parsons (1978) geht davon aus, dass das Informationsmaß mit der Bezeichnung des
Schemas zunimmt. Beispielsweise besitzt der Wirtschaftssektor (A) den niedrigsten,
das kulturelle System (L) den höchsten Informationsgehalt. Die Intensität der
Energiehierarchie verläuft genau anders herum, das kulturelle System (L) hat das
niedrigste, der Wirtschaftssektor (A) das höchste Energiemaß. Die
Steuerungshierarchie hat eine kontrollierende Wirkung auf die Energiehierarchie. Die
Energiehierarchie wirkt als Kondition auf von der Informationshierarchie zu
realisierende Ziele. Mit diesen beiden Einteilungen kann man den Einfluss, den die
einzelnen Subsysteme aufeinander haben, abschätzen. Ein Handlungssystem
beinhaltet beide Hierarchien (vgl. Brock et al. 2007: 199).
Parsons wendet das AGIL-Schema, mit Blick auf das Problem der sozialen Ordnung,
auf die Gesellschaft an. Diese Anwendung des Schemas nennt er allgemeines
Handlungssystem. Das allgemeine Handlungssystem ist eine Einheit, durch die
gesellschaftliche Prozesse der Welt integriert und Sinnzusammenhänge erstellt
werden.
6
Um das Handlungsmodell von Parsons (1951) nachvollziehen zu können, müssen
einige Vorüberlegungen getätigt werden. Er geht davon aus, dass die
Handlungsweise des Akteurs in Bezug zu seiner Umwelt nicht deterministisch ist,
sondern sich voluntaristisch verhält. Das bedeutet, der Akteur ist nicht gezwungen
auf eine bestimmte Art zu handeln, zum Beispiel durch biologische Gegebenheiten,
sondern er entscheidet sich für seine Handlungsweise durch Abwägung mehrerer
Handlungsmöglichkeiten, wobei es auf das jeweilige Verhältnis zwischen Akteur und
Umwelt ankommt (Morel et al. 2001: 149).
Parsons geht weiterhin davon aus, dass sich jedes menschliche Handeln dichotom
einordnen lässt. Dichotom bedeutet, dass ich jede menschliche Handlung exakt einer
der Variablen zuordnen lässt. Dieses erklärt er mit Hilfe der Pattern Variables, die
Orientierungsalternativen darstellen. Sie wurden von Tönnies (1887) entwickelt, um
„soziale Handlungsmuster voneinander zu unterscheiden“ (Brock et al. 2007: 203).
2
Das Allgemeine Handlungssystem und seine Subsysteme (Abb.1) ist im Abbildungsanhang zu finden.
7
Parsons übernimmt diesen Gedanken, damit er die hauptsächliche
Handlungsorientierung des Menschen definieren kann.
Universalismus Partikularismus
Leistungsorientierung Zuschreibung
Spezifität Diffusität
Entweder beurteilt der Mensch eine Situation oder eine Person allgemein
(Universalismus) oder er lässt sich durch Freundschaft und andere persönliche
Bindungen in seinem Urteil beeinflussen (Partikularismus). Er kann eine Handlung
aufgrund von Leistung bewerten (Leistungsorientierung) oder er orientiert sich an
vordefinierten Eigenschaften, wie Nationalität, Familienname oder Ähnlichem
(Zuschreibung). Der Mensch bezieht ein Objekt in seine Handlungsorientierung mit
ein, weil es bestimmte Eigenschaften hat (Spezifität). Anderenfalls kann er dies tun,
weil das Element eine Fülle von Eigenschaften aufweist (Diffusität). Einerseits kann
der Mensch seine Gefühle kontrollieren (affektive Neutralität) oder er kann ihnen
freien Lauf lassen (Affektivität) (vgl. Mühler 2008: 151). Aus dieser streng dichotomen
Zuordnung wird es möglich typische Handlungsmuster, zum Beispiel das eines
Schülers, zu formulieren (vgl. Brock et al. 2007: 205). Diese Muster stehen immer in
Zusammenhang mit den Erwartungen, die an die Person gestellt werden.
Unter der sozialen Rolle versteht man ein „Bündel von Erwartungen, die sich in einer
gegebenen Gesellschaft an das Verhalten der Träger von Positionen knüpfen […]
Insofern ist jede einzelne Rolle ein Komplex oder eine Gruppe von
Verhaltenserwartungen“ (Dahrendorf 1965: 26).
Parsons geht davon aus, dass jede Situation dem Akteur unzählige
Handlungsmöglichkeiten bietet. Doch aus diesen wird nur eine wahrgenommen,
nämliche diejenige, die der Akteur in der entsprechenden Situation für angemessen
8
hält. Er misst seine Handlungsmöglichkeiten an den an ihn gestellte
Verhaltenserwartungen. Durch diese Auswahl zeigt der Akteur in einer Interaktion
immer nur Ausschnitte seines Persönlichkeitssystems, also aus einem
Zusammenspiel der Identität (L) der Werthaltungen (I) der Motivation (A) und der
Ziele und Interessen (G). Diese Ausschnitte definiert Parsons als soziale Rolle. Eine
soziale Rolle beinhaltet bestimmte Erwartungshaltungen, die an eine Person
aufgrund ihrer Position gestellt werden. Diese Position ist auf die Wertinternalisierung
im Laufe der Sozialisation zurückzuführen. Parsons geht davon aus, dass diese
Verinnerlichung so zur Entfaltung kommt, dass sich das Individuum selbst motiviert
nach gesellschaftlichen Normvorstellungen zu handeln. Es setzt eine innere
Belohnung ein (vgl. Schneider 2005: 117)3.
Eine ganz andere Auffassung, wie Soziologie forschen soll vertreten die Mitglieder
des interpretativen Paradigmas. Ziel war ein konkreteres und realitätsnäheres
3
In diesem Zusammenhang wird im Kapitel 4.2 die Gratifikations-Deprivations-Balance näher erläutert.
9
Vorgehen ihrer Wissenschaft. Qualitative Methoden wurden entwickelt, die die
Interpretationsleistung des Menschen erfassen sollten, zum Beispiel in Form von
Analysen von Interaktions- und Kommunikationsprozessen (vgl. Brock et al. 2009:
18f). Dieser Theorierichtung gehörte auch George H. Mead an. Er versucht die Frage
zu analysieren, wie der Mensch dazu fähig ist, das Verhalten anderer zu antizipieren
und richtig zu interpretieren. Der Schlüssel, der soziales Handeln erklärt, liegt nach
Mead in der Interaktion. „Ich möchte einen anderen Ansatz vorschlagen: die
Erfahrung vom Standpunkt der Gesellschaft aus zu betrachten, zumindest unter dem
Gesichtspunkt der Kommunikation als der Voraussetzung für eine
Gesellschaftsordnung“ (Mead 1973: 39). Die nachfolgenden drei Abschnitte zu der
Theorie von Mead behandeln den Sinn-Begriff, das heißt, wie Sinn in dieser Theorie
verstanden wird. Folgend wird zu den signifikanten Symbolen hingeleitet und ihre
Bedeutung für menschliche Interaktionen erklärt und die Perspektive von Mead auf
die Entwicklung des Individuums wird dargelegt.
Der Organismus besitzt eine dreifache Beziehung zu einer Geste. Erstens die
Beziehung zwischen der Geste und sich selbst, also welche Bedeutung er der Geste
zuschreibt. Zweitens die Beziehung zwischen dem anderen Organismus und der
Geste, denn auch dieser muss der Geste eine Bedeutung zuschreiben; im besten
Falle ist dies dieselbe. Drittens besteht zwischen der Geste und der Phase der
sozialen Handlung ein Bezug. Eine Geste zu verschiedenen Verlaufspunkten der
4
In diesem Zusammenhang wird auf Brock et al. 2009: 50 verwiesen.
10
sozialen Handlung ausgeführt, kann immer eine andere Bedeutung haben5. Der Sinn
hängt also immer von der jeweiligen Situation ab und wird nicht nur durch den
Sender bestimmt, sondern auch durch den Empfänger, denn seine Reaktion spiegelt
sein Sinnverstehen wider und formt den weiteren Verlauf der Interaktion. In diesem
Zusammenhang ist auch die Bedeutung von Objekten zu betrachten. „Bedeutung ist
[…] in erster Linie nicht als ein Bewusstseinszustand oder einer Reihe von
Beziehungen zu sehen, die geistig außerhalb des Erfahrungsbereiches liegen, in den
sie eingehen, im Gegenteil: man sollte Bedeutung objektiv als etwas betrachten, das
unmittelbar in diesem Bereich selbst existiert“ (Mead 1969: 219ff). Mead geht davon
aus, dass Objekte durch und in der Interaktion ihre Bedeutung erhalten und dass
sich diese Bedeutung ändern kann. Der 11. September 2001 hat zum Beispiel das
Bild des Terroristen insoweit verändert, als dass dieser typischerweise aus dem
Nahen Osten kommt und dem muslimischen Glauben angehört.
Die evolutionäre Entwicklung von der Geste bis hin zum signifikanten Symbol ist eine
der zentralen Erklärungen des deutenden Verstehens durch den Menschen und
damit der Kommunikation. Mit Hilfe von Symbolen zu interagieren ist eine besondere
Fähigkeit des Menschen, denn mit ihrer Verwendung tritt eine Interpretationsinstanz
zwischen das Individuum und seine Umwelt. Symbole sind damit von instinktiven
Handlungen, die durch reflexives Bewusstsein ausgeführt werden zu unterscheiden
(vgl. Brock et al. 2009: 49f).
Symbole sind nach Mead (1969) nicht primär Bezeichnungen für bestimmte
Gegenstände, sondern gehen über ihre eigentliche Bedeutung hinaus. Das
Händereichen bei Vertragsabschluss steht stellvertretend für Loyalität dem
Vertragspartner gegenüber und für die Einhaltung der im Vertrag festgehaltenen
Konditionen. Es besitzt also einen tieferen Sinn, als die reine Bewegung des
Händegebens. Gestenkommunikation ist eine relativ universale Struktur, die
Kommunikation und Kooperation ermöglicht6. Signifikante Symbole hingegen sind in
ihrer Bedeutung nicht universal, sondern in bestimmten sozialen Gruppen, wie Peer-
5
Zur näheren Erläuterung: Das Händereichen zu Beginn einer Interaktion hat die Bedeutung einer Begrüßung,
während diese Geste am Ende einer Interaktion als Verabschiedung zu verstehen ist.
6
Mit „relativ“ ist gemeint, dass Gestenkommunikation zwar universaler ist als signifikante Symbole, jedoch nicht
für jeden Menschen verständlich. Das Händereichen, ist zum Beispiel in Deutschland und auch Amerika oder
Japan, also über eine große Distanz bekannt, man kann aber nicht damit rechnen, dass diese Form des
Vertragsabschlusses auch von einem afrikanischen Volksstamm verstanden wird.
11
Groups oder auch Gesellschaftskreisen, festgelegt. Sie werden von Mitgliedern
dieser sozialen Gruppen in gleicher Art und Weise verwendet und verstanden. Oft ist
der Sinn eines signifikanten Symbols für Außenstehende nicht nachvollziehbar,
beziehungsweise die Handlung ist Sinn los. Signifikante Symbole sind durch die
Sprache möglich, die genauso wie das Mind eine spezielle Fähigkeit des Menschen
darstellt.
Durch die Sprache ist es dem Individuum möglich für sich selbst zum Objekt zu
werden, das heißt sich aus der Perspektive von anderen zu betrachten. Diese
Instanz nennt Mead, wie oben bereits erwähnt, Mind. Die Reflexion der eigenen
Handlung steht in Beziehung zu der sozialen Rolle, in der man sich befindet. Jeder
verhält sich so, wie er es von anderen in seiner Rolle erwarten würde. Diese
Erwartungserwartungshaltung ist prägend für das Selbstbewusstsein.
Das Selbstbewusstsein wird in diesem Fall nicht verstanden, als Wertschätzung der
eigenen Persönlichkeit, sondern als ein bewusstes Wissen, dass man selbst existiert
und interagiert. Dieses Bewusstsein, bezeichnet als Identität, benennt Mead mit dem
Begriff Self. Das Self gliedert sich auf in das I und das Me. Während das I
gegenwartsgerichtet ist und kreative Einfälle zum Self beisteuert, reflektiert das Me
die eigenen Überlegungen und Handlungen und prüft diese auf
Gesellschaftstauglichkeit. Es fungiert so zu sagen als Zensor, der eine objektive
individuelle Stellungnahme formuliert7. In wie weit der eine oder andere Faktor im
Self zum Ausdruck kommt steht mit der Rollenerwartung an das Individuum in
Verbindung (vgl. Schneider 2005: 206ff).
„Erst aus dem komplexen Zusammenhang von I, Me, Self und Mind sind in der
Meadschen Konzeption die Entstehung der Persönlichkeit des Menschen und dein
Handeln möglich und erklärbar. Der Mensch wird als Wesen mit reflexivem
Bewußtsein von sich selbst verstanden, der ein individuelles und zugleich soziales
Subjekt darstellt“ (Hurrelmann 1989: 50).
7
Das Modell der Phasen des Selbst im inneren Dialog (Abb. 2) ist im Abbildungsanhang zu finden.
12
Zunächst müssen Objekte und Zusammenhänge einen Sinn erhalten. Dieser Sinn
sollte von möglichst vielen Individuen verstanden und verwendet werden, damit
Interaktion erleichtert wird. Die menschliche Fähigkeit der Sprache spielt in der
Theorie von Mead eine bedeutende Rolle, da durch sie das Mind erzeugt wird und so
der Mensch Handlungen deutend verstehen kann, indem er sich selbst bewusst wird.
Wie bereits in der Einleitung beschrieben ist die Sozialisation ein lebenslanger Lern-
und Aneignungsprozess. In jedem Lebensabschnitt muss sich das Individuum
anderen Gegebenheiten anpassen. Die Sozialisation spielt sowohl in der Theorie von
Parsons als auch in der von Mead eine große Rolle, denn beide versuchen die
Verinnerlichung der sozialen Normen durch den Menschen zu erklären. Der Vorgang
der Sozialisation ist nach Parsons eine einzige Zeitspanne der Krisen. Das Kind ist
dazu genötigt ständig neu aufkommende Krisen durch Neuorientierung zu
überwinden. Krisen entstehen durch ständig komplexer werdende Situationen, die
das Individuum mit seinen bis dahin erlernten Werten und Normvorstellungen nicht in
der Lage ist zu lösen. Mead beschreibt die Sozialisation als einen Vorgang, in dem
das Individuum lernt sich selbst aus der Perspektive anderer sehen und sein Handeln
zu beurteilen. Es teilt sich mit und versteht die Position anderer durch das Medium
der Sprache. Anhand von drei Kategorien werden im Folgenden die beiden
Sozialisationsmodelle verglichen. Zuerst wird die Bedeutung des Individuums aus
beiden Perspektiven dargelegt. Dann wird das Erlernen sozialer Normen
beschrieben und, im nachfolgenden Kapitel, wie diese im sozialen Handeln realisiert
werden.
Die Sozialisation des Individuums wird von beiden Theoretikern ganz unterschiedlich
beschrieben. Parsons geht davon aus, dass Personen in sozialen Rollen
austauschbar sind und misst dem Individuum kaum Bedeutung zu. Für ihn sind
Personen immer ein Teil der Umwelt von sozialen Systemen, aber soziale Systeme
bestehen nicht aus ihnen. Mead dagegen betrachtet das Individuum als kreativen
Interpreten, der ständig seine Umwelt einzuordnen versucht und mit fremden
Situationen umgehen muss. Es entwickelt eigenständig ein Bewusstsein und ein
13
Selbstbild. Die Gesellschaft beeinflusst zwar die Struktur des Selbstbewusstseins,
aber sie determiniert sie nicht. Nach Mead umgibt das Individuum immer eine soziale
Realität, die zugleich ein individuelles Arrangement ist (vgl. Hurrelmann 1989: 51f).
Die Sichtweise auf das Individuum ist der erste grundlegende Unterschied zwischen
den beiden Theorien: Parsons hat eine makrosoziologische Perspektive und sieht die
Gesellschaft als eine Einheit, in der der Mensch nur eine Nebenrolle spielt.
Wohingegen Mead dem Individuum die Position eines selbstbewussten kreativen
Teils der Gesellschaft einnehmen lässt.
Parsons beginnt seine Überlegungen zu sozialen Normen indem er die Idee des
Utilitarismus aufgreift. Dieser steht seiner Meinung nach vor dem Dilemma, dass es
einen ständigen Widerspruch zwischen interessensgeleiteten und moralischen
Handlungsabsichten gibt. Diesen Widerspruch löst Parsons, indem er das evaluative
(moralische) und das affektiv-kathektische (interessensgeleitete) Verhalten verbindet.
Da das, was im normativen Interesse des Akteurs liegt, seinen Ursprung in
Moralvorstellungen hat, ist eine moralische Regel „nicht wahrhaft moralisch, wenn es
nicht wünschenswert erscheint, ihr zu gehorchen, wenn nicht das Glück und die
Selbsterfüllung des Individuums mit ihr verbunden sind“ (Parsons 1968: 387). Das
„richtige“ Verhalten wird durch die Gratifikations-Deprivations-Balance erlernt und
aufrecht erhalten. Diese Balance wird durch das Lernen am Erfolg, genauer durch
Belohnungen, erzeugt. Doch externe Belohnungsquellen sind nach Parsons (1999)
viel zu unzuverlässig, um so ein komplexes System, wie das soziale, aufrecht zu
erhalten. Er geht von einer inneren Belohnungsquelle aus. Zuerst werden Normen
generalisiert und somit stabilisiert. Das Individuum hält die generalisierten Normen
für richtig und wird für ihr Einhalten mit positiven psychischen Eindrücken belohnt.
Nonkonformes Verhalten löst psychische Kosten in Form eines schlechten
Gewissens aus8. Durch die Internalisierung wird das kognitive Verhalten dem
evaluativen und dem affektiv-kathektischen untergeordnet. Dies geschieht durch eine
völlige Wertinternalisierung, also der Gewissheit das Richtige zu tun, und lässt kaum
noch Selbstzweifel am eigenen Handeln zu. Allerdings führt diese zweite Stufe der
Entwicklung zur inneren Belohnungsquelle auch zu Uneinsichtigkeit gegenüber
fremden Wertvorstellungen (Mühler 2008: 103ff).
8
Das Sozialisationsmodell nach Parsons (Abb. 3) ist im Abbildungsanhang zu finden.
14
Eine biologische Grundvoraussetzung für die Identifikation des Menschen mit den
moralischen Handlungsabsichten ist ein instinktfreies Denken. Diesen Gedanken
formulierte Gehlen (1940) in seiner Theorie und bezeichnet den Menschen als
Mängelwesen. Dadurch, dass der Mensch weder Instinkte noch Reflexe besitzt,
muss er seine Umwelt bewusst verarbeiten. Parsons führt zu diesem Zweck das
Modell der kulturvermittelten Orientierung ein. Diese besteht aus Werten und
Normen, die dem Individuum im frühen Alter durch eine Bezugsperson vermittelt
werden. Dieses Vorbild befriedigt primär die Bedürfnisse des Kindes und ist somit oft
ein Elternteil, das dem Kind Eigenschaften, Anforderungen und normative
Orientierungen näher bringt. Parsons spricht hier von einer Hierarchie der
Sozialisation. Zunächst steht das Individuum in einer Zweier-Beziehung, meist mit
der Mutter oder dem Vater, dann trifft es auf Gleichaltrige in der Schule.
Anschließend tritt es in die Jugendphase ein und darauf in das Erwachsenenalter,
welches die Institution des Arbeitens beinhaltet. Die letzte Stufe in der
„Rollenkarriere“ (Hurrelmann 1989: 43) ist die Gründung einer eigenen Familie. Je
mehr Menschen ein Individuum umgeben und je älter es wird, desto inhaltlich
umfassender und strukturell komplexer werden die Beziehungen und desto mehr
differenziert sich die Persönlichkeit aus (vgl. ebd.: 43).
Das Sozialisationsmodell nach Mead (1969) enthält ähnlich wie das von Parsons
verschiedene Stufen, durch die das Individuum mittels Interaktion und
Kommunikation das individuelle Verhalten auf normative und kulturelle
Anforderungen abzustimmen lernt. Durch das Mind wird es dem Individuum möglich
sich selbst als Objekt zu sehen und dadurch sein eigenes Handeln aus der Sicht
anderer zu betrachten. Diese Fähigkeit erlernt es auf zwei Stufen des
Sozialisationsmodells: Durch das Play und das Game. Die erste Stufe ist das Play.
Das Kind ahmt Verhaltensweisen nach und lernt dadurch verschiedene Perspektiven
kennen, zum Beispiel die Rolle der Mutter oder des Lehrers. Es lernt, die
Handlungsweise zu verstehen, dadurch dass es im Spiel mit anderen bis dahin
erfahrene Rollenmuster einnimmt. Es vermittelt auf der einen Seite seinen
Spielgefährten durch Sprache wie es die nachgeahmte Rolle bis jetzt erlebt hat und
wägt gleichzeitig im Kopf ab, was die Person in dieser oder jener Situation tun würde.
Es versucht sich also in die Perspektive des anderen hineinzuversetzen und lernt
durch eigenes Interpretieren das Rollenmuster weiterzudenken. Die zweite Stufe der
15
Sozialisation ist das Game. Das Game vermittelt dem Kind, dass es in Interaktionen
bestimmte Regeln gibt, wie zum Beispiel bei Wettkämpfen. Regeln sind
generalisierte Erwartungshaltungen, die richtig und falsch definieren und
Konsequenzen haben, die das Individuum tragen muss. Die Erwartungshaltung
bezeichnet man auch als generalisierter anderer, beziehungsweise generalized
other. „Die organisierte Gemeinschaft oder soziale Gruppe, in dem Individuum die
Einheit seines Ichs gibt, kann der ‚generalisierte Andere‘ genannt werden. Die
Haltung des generalisierten Anderen entspricht der Haltung der gesamten
Gemeinschaft“ (Mead 1969: 282). Dadurch wird dem Individuum verdeutlicht, dass
es keine Ausnahme bildet, sondern in einem großen Kontext agiert9. Es muss sich an
bestimmte Vereinbarungen halten, damit dieser Kontext für alle weiterhin
handhabbar bleibt. Es wird dem Individuum also der normative Rahmen seiner
Handlungen aufgezeigt und gleichzeitig bestimmte standardisierte Reaktionsmuster
nahe gebracht, die in jedem folgenden Stadium der Sozialisation gelten. Je weiter
das Individuum im Sozialisationsprozess fortschreitet, desto besser kann es in
Interaktion treten und Konflikte lösen, denn es werden ihm immer mehr
Handlungsmuster vertraut und nachvollziehbar (vgl. Schneider 2008: 213ff). Das
Einhalten sozialer Normen wird erstens durch die Legitimation des richtigen
Handelns garantiert und zweitens durch allgemeine Gültigkeit, welche dem
Individuum Handlungssicherheit beziehungsweise Selbstsicherheit vermittelt (vgl.
Mühler 2008: 55f). Wenn sich das Individuum nicht nach den sozialen Normen
richtet, kann dies zu Sanktionen wie Ausschluss aus der Gemeinschaft führen. „Und
so kommt es, daß diese gesellschaftliche Kontrolle [der Reaktion], die mittels der
Selbstkritik wirkt, das Verhalten des Einzelnen so eindringlich und umfassend
beeinflußt und dazu dient den Einzelnen und seine Handlungen im Hinblick auf den
organisierten gesellschaftlichen Erfahrungs- und Verhaltensprozeß zu integrieren“
(Mead 1995: 301).
Beide Theoretiker setzen voraus, dass der Mensch ohne die Institution Kultur nicht
fähig ist in einer Gesellschaft zu leben. Hier wird der Gedanke von Gehlen, an den
Menschen als Mängelwesen aufgegriffen. Sowohl Parsons als auch Mead
beschreiben die Sozialisation als ein Stufenmodell, in dem man mit zunehmendem
Alter immer neuen Herausforderungen gegenübersteht und sich bewähren muss. Die
9
Das Sozialisationsmodell nach Mead (Tab. 2) ist im Abbildungsanhang zu finden.
16
Normerhaltung wird in der strukturfunktionalistischen Theorie nach Parsons durch die
innere Belohnung (Gratifikations-Deprivations-Balance) gewährleistet. Mead
beschreibt den Erhalt in seiner handlungstheoretischen Perspektive durch
gesellschaftliche Kontrolle in Form von Sanktionierung. Ein Beispiel der Sanktion
wäre der Ausschluss aus der Gemeinschaft.
Durch soziale Normen ist der Mensch fähig sozial zu handeln. Der Begriff des
sozialen Handelns wird von beiden Theoretikern im Sinne Webers verwendet:
„‘Soziales‘ Handeln soll […] ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem
oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird
und daran in seinem Ablauf orientiert ist“ (Weber 1922: 1).
17
al. 2009: 54). Dieses System entsteht durch ausgesprochene soziale Beziehungen
und wird gleichzeitig durch sie Sprache ständig verändert und reproduziert. Die zuvor
erläuterten signifikanten Symbole sind eine wichtige Voraussetzung für soziales
Handeln und sind ebenfalls Teil des Diskursuniversums, durch sie wird Interaktion
überhaupt möglich. Ohne allgemein verständliche Sprache und Zeichen wäre der
Mensch viel zu unsicher sich auszudrücken und eine Interaktion würde immer wieder
mit der komplizierten Erklärung von Umständen beginnen ohne dem Gegenüber am
Ende mitgeteilt zu haben, was man ihm mitteilen wollte. Denn ohne
Diskursuniversum, gäbe es keine signifikanten Symbole und damit auch keine
Beziehung zwischen Bedeutungen und Objekten und damit keine Sinnhaftigkeit.
Der Vorgang des sozialen Handelns wird sowohl bei Parsons, als auch bei Mead als
ein von Normen gesteuerter Prozess gesehen. Allerdings ist bei Parsons die
Sozialisation ein Weg an der Gesellschaft teilzuhaben und bei Mead ist sie ein
Verlauf, der es dem Individuum ermöglicht sein soziales Umfeld „zu verstehen und
zielgerichtet mit ihnen zu interagieren“ (Mühler 2008: 246).
18
den Individuen, beziehungsweise zwischen Individuum und seiner Umwelt, jedoch
geht er kaum auf Institutionen oder organisatorische Strukturen ein. Der Einfluss, den
gesellschaftliche Einrichtungen auf den Menschen haben, wird in seiner Theorie
nicht berücksichtigt. Jedoch wäre es wichtig, diese Verbindung zwischen Individuum
und Institution zu betrachten, da die soziale Struktur zu einem nicht geringen Maße
die Persönlichkeitsbildung beeinflusst. Auch mögliche Hierarchiestrukturen, die den
Menschen von außen in seinen Handlungen manipulieren könnten, wie zum Beispiel
Machtstrukturen, tauchen in der Handlungstheorie von Mead nicht auf.
Der Unterschied zwischen den beiden Theorien liegt in der Erklärung zur Ordnung
des Handelns. Parsons teilt die Welt in Systeme ein, die möglichst aufeinander durch
bestimmte Mechanismen abgestimmt, agieren und funktionieren und die in einer
vorgegebenen Form ohne Irritationen ständig ablaufen. Diesen Verlauf begründet er
mit der Generalisierung von Affekten durch kulturelle Werte. Kulturelle Werte werden
soweit verinnerlicht, dass jedweder Affekt ihnen untergeordnet wird und damit eine
Generalisierung der sozialen Handlungen geschieht. Für Mead hingegen wird ein
Aspekt ausschlaggebend, der in Parsons Theorie gar keine Beachtung findet,
nämlich die Sprache. Er spricht von einer Generalisierung von
Handlungsdispositionen durch die Sprache. Diese Fähigkeit des Menschen macht
eine reflexive Betrachtung und damit die Sozialisation erst möglich.
19
Prozess, der die Identität eines Individuums ausformt, indem es sich als „Teil eines
sozialen und allgemeinen Erwartungszusammenhang“ (Brock et al. 2009: 58). Trotz
einiger Gemeinsamkeiten sind die beiden Modelle, aufgrund ihrer unterschiedlichen
Herangehensweise, nicht miteinander vereinbar.
20
6 Quellenverzeichnis
Brock D./Junge M./Krähnke U. (2007): Soziologische Theorien von Auguste Comte bis
Talcott Parsons, Einführung. 2. Auflage. München Wien: Oldenbourg Verlag.
Brock D. et al. (2009): Soziologische Paradigmen nach Talcott Parsons, Eine Einführung. 1.
Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Gehlen A. (1986): Der Mensch, Seine Natur und Stellung in der Welt. Bonn: Athenäum.
Hobbes T.: Leviathan. Zitiert nach der deutschen Ausgabe von 1978. Stuttgart.
Joas H. et al. (2007): Lehrbuch der Soziologie. 3. Auflage. Frankfurt a.M. New York:
Campus-Verlag.
Mead G. H. (1995): Geist, Identität und Gesellschaft. 10. Auflage. Frankfurt a.M.: Shurkamp
Taschenbuch Wissenschaft.
Morel J. et al. (2001): Soziologische Theorien, Abriß der Ansätze ihrer Hauptvertreter. 7.
Auflage. München Wien: Oldenbourg Verlag.
Parsons T. (1978): Action Theory and the Human Condition. New York.
21
7 Abbildungsanhang
Abb. 1: Das Allgemeine Handlungssystem und seine Subsysteme (Mühler 2008: 146)
22
Abb. 3: Sozialisationsmodell nach Talcott Parsons (Schneider 2005: 116)
23