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Soziologie

Hartmut Esser

Soziologie
Spezielle Grundlagen

Band 2: Die Konstruktion der Gesellschaft

Campus Verlag
Frankfurt/New York
Soziologie
Spezielle Grundlagen

Band 1: Situationslogik und Handeln


Band 2: Die Konstruktion der Gesellschaft
Band 3: Soziales Handeln
Band 4: Opportunitäten und Restriktionen
Band 5: Institutionen
Band 6: Sinn und Kultur

Hartmut Esser ist Professor für Soziologie und Wissenschaftslehre an der


Universität Mannheim. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Veröffent-
lichungen. Zuletzt erschien von ihm als Buch die „Soziologie. Allgemeine
Gundlagen“(3. Aufl. 1999)
Impressum
Satz: Cornelia Schneider und Thorsten Kneip
Inhalt

Vorwort VII

1. Emergenz und Transformation 1


2. Akteure und soziale Systeme 31

2.1 Soziale Systeme 31


2.2 Kollektive und Akteurskonstellationen 47
2.3 Das System der Gesellschaft 51
3. Soziale Differenzierung 63

3.1 Funktionale Differenzierung 64


3.2 Kulturelle Differenzierung 79
3.3 Normative Differenzierung 97

4. Soziale Ungleichheit 113

4.1 Gesellschaftliche Lagen 118


4.2 Klasse und Stand 132
4.3 Soziale Schichtung 143
Exkurs über die Frage, ob die sogenannte Individualisierung über- 163
haupt eine ist
4.4 Die neue soziale Ungleichheit 166
4.5 Statuszuweisung und Mobilität 175
4.6 Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen 214
5. Inklusion und Exklusion 233
VI Inhalt

Exkurs über die unvermutete Entdeckung der leibhaftigen Menschen 254


und des Elends in der Welt durch die soziologische Systemtheorie

6. Integration 261

Exkurs über Integration, Assimilation und die sogenannte multikul- 285


turelle Gesellschaft

7. Sozialer Wandel 307

7.1 Strukturen als Prozesse 309


7.2 „Gesetze“ des sozialen Wandels? 329
7.3 Die Logik des sozialen Wandels 339
7.4 Reproduktion und Evolution 349

Exkurs über die Ko-Evolution von Basis und Überbau am Beispiel 371
der protestantischen Ethik und des Geistes des Kapitalismus und
über die Lehren, die man daraus für die Erklärung des sozialen Wan-
dels ziehen kann
7.5 Die Soziologie des sozialen Wandels 376

8. Soziologie und Geschichte 399


9. Die Gesellschaft der Menschen 425

9.1 Die Strukturierung der Gesellschaft 426


9.2 Die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft 435
Exkurs über die Frage, wie sinnvoll es ist, „Typen“ der Gesellschaft 459
zu unterscheiden
9.3 Gemeinschaft und Gesellschaft 471
Exkurs über Entfremdung 477

Literatur 483
Register 497
Vorwort

Die insgesamt sechs Bände der „Soziologie. Spezielle Grundlagen“ behandeln


! immer in der Orientierung an den drei Schritten des Modells der soziologi-
schen Erklärung ! die wichtigsten Konzepte der Soziologie und die für eine
angemessene soziologische Erklärung nötigen Einzelheiten aus ihren Nach-
barwissenschaften, vor allem aus der Ökonomie und der Sozialpsychologie. In
Band 1, „Situationslogik und Handeln“, wurden dabei die ersten beiden
Schritte, die „Logik der Situation“ und die „Logik der Selektion“, ausführlich
besprochen. Damit war es schon möglich, eine ganze Reihe von Konstellatio-
nen und Prozessen zu erfassen, die sich aus der besonderen „Situationslogik“
ergeben, der sich etwa Akteure schon mit nur ähnlichen Interessen und ähnli-
cher Kontrolle von Ressourcen ! auch schon ohne jede weitere interaktive,
strategische oder prozessuale Verbundenheit ! gegenübersehen und die sich
unter Begriffen wie Integration, Konflikt, sozialer Kontext oder soziale Klasse
zusammenfassen lassen. Der dritte Schritt einer jeden soziologischen Erklä-
rung, die Aggregation der Folgen des bloßen Handelns von individuellen Ak-
teuren in ! zuweilen oder sogar meist: unintendierte ! kollektive Sachverhal-
te, war dabei ! bis auf einige wenige Hinweise zum Schluß ! noch nicht ex-
plizit und, vor allem, nicht systematisch behandelt worden. Daher waren auch
jene Phänomene nicht unmittelbar angesprochen worden, auf die sich das In-
teresse der Soziologie seit jeher besonders richtet: sich gleichgewichtig und in
Form von Prozessen reproduzierende und sich ggf. wandelnde soziale Gebil-
de, die inzwischen die allgemeine Bezeichnung „soziale Systeme“ gefunden
haben. Solche sozialen Systeme sind der Gegenstand des hiermit vorgelegten
Bandes 2 der „Speziellen Grundlagen“. Er hat den Titel „Die Konstruktion der
Gesellschaft“: Die Gesellschaft ist das für die Soziologie wichtigste soziale
System, und sie wird ! wie alle anderen sozialen Systeme auch ! im Modell
der soziologischen Erklärung als ein „emergentes“ Resultat des Handelns von
Akteuren verstanden, die durch die von ihnen selbst betriebene Vergesell-
schaftung ihrerseits wieder geprägt werden. Der Band beginnt daher auch mit
dem Problem der Emergenz gesellschaftlicher Tatbestände als Resultate indi-
vidueller Akte und mit der Logik der „Transformation“ der individuellen Ef-
fekte in kollektive Sachverhalte, sowie mit einer Klassifikation der verschie-
VIII Vorwort

denen Arten sozialer Systeme und „Akteurskonstellationen“. Die dann fol-


genden Kapitel befassen sich mit den vier grundlegenden sozialen Prozessen
und gesellschaftlichen Strukturen: soziale Differenzierung, soziale Ungleich-
heit, soziale Ordnung und sozialer Wandel. Die Unterscheidung von individu-
ellen Akteuren und sozialen Systemen als zwei jeweils gesondert zu beach-
tenden Aspekten der gesellschaftlichen Wirklichkeit erlaubt dabei eine einfa-
che Sortierung dieser vier Prozesse: Die soziale Differenzierung beschreibt
die Unterschiedlichkeit von Gesellschaften in Hinsicht auf die von ihnen um-
schlossenen sozialen Systeme, die soziale Ungleichheit die Unterschiedlich-
keit in Hinsicht auf Kategorien oder Aggregate von Akteuren. Bei der sozialen
Differenzierung werden ! neben den üblicherweise damit gedanklich verbun-
denen sog. Funktionssystemen oder funktionalen Sphären der Gesellschaft !
noch zwei andere Arten sozialer Systeme unterschieden: die hier so genannten
kulturellen Milieus, etwa das einer alternativen oder einer rechten „Szene“,
und gewisse Sphären der Abweichung von den gesellschaftlich etablierten
Normen, wie etwa Subkulturen, Gegenkulturen oder die sog. sozialen Bewe-
gungen. Im Zusammenhang mit dem Aspekt der sozialen Ungleichheit wird in
einem umfangreicheren Kapitel auf alle hier wichtigen Konzepte der Soziolo-
gie eingegangen: Klasse, Stand, soziale Schichtung, die sog. neue soziale Un-
gleichheit und Prozesse der Mobilität, zum Beispiel. Als Bindeglied zwischen
diesen beiden Aspekten der gesellschaftlichen Struktur können dann Prozesse
der Statuszuweisung bzw. solche der „Inklusion“ und der „Exklusion“ von
Akteuren in bzw. aus soziale(n) Systeme(n) verstanden werden. Die in diesem
Zusammenhang neuerdings aufgekommenen Diskussionen über das Verhält-
nis von sozialer Differenzierung und sozialer Ungleichheit werden dann vor
dem Hintergrund des Modells der soziologischen Erklärung systematisiert.
Diese Debatten, wie sie besonders von der soziologischen Systemtheorie ge-
führt werden, verlieren dadurch vieles an ihrer bislang noch reichlich vorhan-
denen Mystik. Soziale Differenzierung und soziale Ungleichheit bergen eine
Reihe von intern angelegten und unvermeidlichen konfliktgenerierenden Lo-
giken und „zentrifugalen“ Dynamiken, und jede Erklärung der Konstruktion
funktionierender und sich reproduzierender Gesellschaften verlangt zwingend
nach einer auch schon systematischen Behandlung des Problems der sozialen
Ordnung. Dieses Problem wird in Band 2 der „Speziellen Grundlagen“ nur in
einem relativ kurzen Kapitel über „Integration“ behandelt, da es in den Folge-
bänden, vor allem aber in Band 3 über „Soziales Handeln“ und in Band 5 über
„Institutionen“, aber auch in Band 4 über „Opportunitäten und Restriktionen“,
hier im Zusammenhang der ordnenden und integrierenden Kräfte des anony-
men Marktes nämlich, noch ausführlich zur Sprache kommt. Sozialer Wandel
ist dann nichts weiter als die Änderung der grundlegenden Strukturen sozialer
Vorwort IX

Systeme ! verstanden als nachhaltige und systematische Abweichung von ei-


nem einmal erreichten reproduktiven Gleichgewicht mit der ! möglichen, aber
keineswegs sicheren ! Folge, daß ein neues Gleichgewicht gefunden wird. In
diesem Zusammenhang wird ausführlich auf die Frage nach genuin „soziolo-
gischen“ Gesetzen des sozialen Wandels und auf die damit befaßten älteren
soziologischen Theorien eingegangen. Die Antwort sei hier schon verraten:
Solche Gesetze gibt es nicht und sie kann es auch nicht geben, und eine „So-
ziologie des sozialen Wandels“ wäre daher ein ganz und gar vergebliches Un-
terfangen ! wie sich dann auch nicht erst heute nachhaltig gezeigt hat. Wie
das Verhältnis der erklärenden Soziologie, die sich gleichwohl mit den Vor-
gängen des Wandels von Gesellschaften befaßt, zu den Geschichtswissen-
schaften (vice versa) aussehen könnte, wird dann in einem eigenen Kapitel
abgehandelt. Den Schluß bildet ein Überblick über alle angesprochenen Ein-
zelheiten und ein heuristisch gedachtes Modell der „Konstruktion“ der Gesell-
schaft, das auch als eine Art von Fahrplan durch die Einzelheiten aller Bände
der „Soziologie“ (auch der „Allgemeinen Grundlagen“) dienen kann. Und
ganz zum Schluß gibt es noch eine kurze Skizze der langfristigen historischen
Entwicklung der Strukturen der menschlichen Gesellschaft und des Verhält-
nisses der anonymen „Systeme“ der Gesellschaft zu den personalisierten
„Gemeinschaften“, aus denen die Lebenswelt der Menschen seit jeher besteht
und auf die sie nie, auch nicht in der komplett globalisierten Internet-
Weltgesellschaft, werden verzichten können. Diesen Band 2 über die „Die
Konstruktion der Gesellschaft“ der „Speziellen Grundlagen“ kann man getrost
auch „für sich“ lesen, also auch ohne die Einzelheiten aus dem Band 1, „Si-
tuationslogik und Handeln“, genauer zu kennen. Gleichwohl empfiehlt sich
die „sukzessive“ Lektüre der Bände, auch die der „Soziologie. Allgemeine
Grundlagen“ zuerst, denn das Konzept der „Grundlagen“ ist, anders als viele
andere Beiträge der Soziologie heutzutage, systematisch und kumulativ auf-
gebaut, und viele Dinge erschließen sich erst so richtig, wenn man die Hinter-
gründe kennt. Mit dem Band 2 der „Speziellen Grundlagen“ sind, wenn man
so will, die Prolegomena der „Grundlagen“ insgesamt abgeschlossen, und es
geht dann in den restlichen vier Bänden (3 bis 6 der „Speziellen Grundlagen“)
um die vielen kleinen und großen Einzelheiten, ohne deren Verständnis die
„großen“ Fragen der Soziologie immer nur große „Fragen“ bleiben müssen !
und das oft genug bis heute geblieben sind. M. Rainer Lepsius, Walter Müller
und Fritz W. Scharpf sei für einige spezielle Hinweise zu diesem Band 2 sehr
gedankt.

Hartmut Esser Mannheim, im März 2000


Kapitel 1

Emergenz und Transformation

Eine Gesellschaft ist nicht einfach die Summe ihrer Teile, und soziale
Prozesse lassen sich meist auch nicht schlicht nur über die Einstellungen und
das Handeln der Akteure erklären.
In Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ war ausführlich
der Fall der studentischen Unruhen an den amerikanischen Universitäten in den 60er Jahren
besprochen worden. Dabei gab es eine, auf den ersten Blick zunächst wenigstens, recht
unverständliche Paradoxie: Die Unruhen gab es zuerst und am heftigsten an den
Eliteuniversitäten, wie Berkeley oder Yale, und eben nicht dort, wo man hätte wirklich
unzufrieden sein können – in der muffigen Provinz. Die naheliegende „idealistische“
Hypothese, wonach sich diese Paradoxie über das besondere kritische Bewußtsein der
„Elite“-Studenten erklären ließe, erwies sich bald angesichts einer ganz anderen
„Situationslogik“ als wenig plausibel: Die Studenten fühlten sich an den Eliteuniversitäten
mit ihren horrenden Gebühren stark vernachlässigt, weil es hier zwar die Stars der
Wissenschaft als ihre Hochschullehrer gab, die aber weniger auf dem Campus als in der Luft
und auf weltweiten Kongreßreisen zu finden waren, was der „strukturelle“ Grund für die
Unzufriedenheit der Studenten mit den „gesellschaftlichen Verhältnissen“ war. Bis an diese
Stelle der Analyse funktionierte die „situations-logische“ Rekonstruktion des Geschehens
noch ganz gut, insbesondere weil es jetzt nur noch eine Annahme gab, um den
Zusammenhang zwischen dem Ansehen der Universität und dem Entstehen der studentischen
Proteste zu erklären – die Annahme nämlich, daß Frustrationen auch – mehr oder weniger
unmittelbar – Widerstand und Revolten erzeugen. Das ist aber, wie wir spätestens seit Alexis
de Toqueville mit seinem sog. Toqueville-Paradox wissen, eine viel zu einfache Annahme:
Revolutionen und Unzufriedenheiten hängen keineswegs direkt miteinander zusammen, und
oft sind es kleine, scheinbar unbedeutende Umstände, die das Faß zum Überlaufen bringen,
oft genug sogar dann, wenn die Unzufriedenheiten gar nicht besonders stark sind. Und zum
Schluß von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, wurden dann, etwa in den Abschnitten
10.4 und 12.3, einige Hinweise darauf gegeben, warum genau Revolten und Revolutionen
nicht einfach bloß das Ergebnis der „Addition“ individueller Frustrationen sind, sondern von
manchmal sehr speziellen Bedingungen abhängig sind.

Mit den Einstellungen und den daraus – eventuell – folgenden Handlungen der
Akteure hat man also in der Tat nur einen Teil eines „gesellschaftlichen“
Phänomens erklärt – die sog. individuellen Effekte. Gelegentlich wird zwar
angenommen, daß die individuellen Effekte in der Tat schon alles seien und
daß das Ganze tatsächlich nichts weiter wäre, als die einfache Summation
2 Die Konstruktion der Gesellschaft

seiner Teile, wie das beim individualistischen Fehlschluß der Aggregat-


psychologie geschieht, etwa in mancher Meinungsforschung und in vielen
Anwendungen der sog. Variablensoziologie. Aber nicht nur unser Beispiel mit
den Studentenprotesten an den amerikanischen Hochschulen, sondern auch
der Fehlschlag der Marxschen Theorie des zwangsläufigen Untergangs des
Kapitalismus waren deutliche Hinweise darauf, daß der direkte Schluß von
bloßen „Summen“ oder „Mittelwerten“, etwa in bestimmten Interessen, Ein-
stellungen oder Unzufriedenheiten, keineswegs ausreicht, um das kollektive
Ereignis, etwa einen Protest oder gar eine veritable Revolution, wirklich zu
erklären.
Kurz: Es bedarf jetzt noch eines weiteren „logischen“ Schrittes, in dem die
individuellen Effekte in das interessierende kollektive Explanandum überführt
werden müssen: die Spezifikation der Logik der Aggregation durch die
Anwendung gewisser Transformationsregeln.1

Emergenz

Aus der Sicht einer rein aggregatpsychologischen Erklärung wären einige der
Schwellenwerteffekte oder das Tocqueville-Paradox, von denen in Band 1,
„Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ berichtet
worden war, eine Anomalie: Ein Kollektiv mit einem höheren
durchschnittlichen Protestpotential sollte eigentlich für die Aktivierung des
Protestes anfälliger sein als eines mit einem geringeren. Aber was geschah?
Genau: Manchmal stimmte das, manchmal nicht, und je größer gar die
„betroffenen“ Gruppen sind, um so unwahrscheinlicher wird, daß sie sich zu
einem kollektiven Handeln zusammenschließen. Unglaublich, aber wohl
wahr! Es ist, so könnte man meinen, etwas aufgetaucht, was eigentlich nicht
zu erwarten war: Revolutionen brechen eben nicht unbedingt schon dann aus,
wenn die Not am größten ist und wenn sehr viele ein Interesse an ihr haben.
Der philosophische Fachausdruck für derartige Phänomene des
Auftauchens neuer Vorgänge, die entstehen können, wenn sich Teile zu einem
Ganzen zusammenfügen, ist der der Emergenz, abgeleitet von dem lateini-

1
Vgl. dazu insbesondere schon die frühen Vorschläge von Siegwart Lindenberg,
Individuelle Effekte, kollektive Phänomene und das Problem der Transformation, in:
Klaus Eichner und Werner Habermehl (Hrsg.), Probleme der Erklärung sozialen
Verhaltens, Meisenheim am Glan 1977, S. 46-84; Siegwart Lindenberg und Reinhard
Wippler, Theorienvergleich. Elemente der Rekonstruktion, in: Karl Otto Hondrich und
Joachim Matthes, Theorienvergleich in den Sozialwissenschaften, Darmstadt und
Neuwied 1978, S. 219-231.
Emergenz und Transformation 3

schen Wort „emergere“ für „auftauchen“.2 Gemeint ist dabei, daß das „Ganze“
eine Art von neuer Seinsqualität hat, die sich über die Eigenschaften der Teile
allein nicht erfassen läßt.
Ausgangspunkt für die These von der Emergenz sind im naturwissenschaftlichen Bereich Be-
obachtungen gewesen, wie etwa die, daß aus den Eigenschaften von Wasserstoff und Sauer-
stoff alleine nicht erklärt werden kann, daß daraus Wasser entsteht und daß, etwa, dieses
Wasser Durst löschen und Leben erhalten kann. Jeweils müsse noch etwas „hinzu“ kommen,
was in den „Teilen“ – Sauerstoff und Wasserstoff – nicht vorhanden ist. Im sozialen Bereich
sind es Phänomene wie die Entstehung von sozialen Beziehungen, die Etablierung von Hie-
rarchien, die Genese von Normen oder die soziale Geltung kollektiver Repräsentationen, von
„sozialen Systemen“ also allgemein (vgl. dazu auch noch Kapitel 2 in diesem Band), die, so
glaubt man, aus den Eigenschaften und dem Handeln „isolierter“ Akteure alleine nicht ableit-
bar seien.

Und so ist es ja wohl auch: Um erklären zu können, warum aus der


Kombination der Elemente Wasserstoff und Sauerstoff das Phänomen
„Wasser“ wird, benötigt man eine Theorie der chemischen Reaktionen und
der Bildung von Molekülen aus Atomen. Und um erklären zu können, warum
beispielsweise die soziale Beziehung einer Freundschaft entsteht, muß man
zuerst definieren, was man unter einer „Freundschaft“ verstehen will, und
dann zeigen, daß die Bedingungen erfüllt sind, einschließlich der über die
Logik der Situation und die Logik der Selektion erklärten individuellen
Effekte, wie etwa der Angleichung von Orientierungen zwischen zwei

2
Vgl. dazu vor allem: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, 4. Auflage, Tübingen
1974 (zuerst: 1960), insbesondere Kapitel 23: Kritik des Holismus. Vgl. zu den
verschiedenen Positionen für und gegen die These von der Emergenz die
Zusammenfassungen einer langen allgemeinen methodologischen Debatte bei: John
O’Neill (Hrsg.), Modes of Individualism and Collectivism, London 1973, darunter
insbesondere die Beiträge von Joseph Agassi, May Brodbeck, Arthur C. Danto, Ernest A.
Gellner, Leon J. Goldstein und John W. Watkins. Vgl. für die Diskussion und Kritik der
sozialwissenschaftlichen Varianten der Emergenzthese und zum Problem der „Reduktion“
speziell der Soziologie auf Aussagen der Psychologie: Hans J. Hummell und Karl-Dieter
Opp, Die Reduzierbarkeit von Soziologie auf Psychologie. Eine These, ihr Test und ihre
theoretische Bedeutung, Braunschweig 1971, insbesondere Kapitel I und II; Alfred
Bohnen, Individualismus und Gesellschaftstheorie. Eine Betrachtung zu zwei
rivalisierenden soziologischen Erkenntnisprogrammen, Tübingen 1975, insbesondere
Kapitel II: Das soziologische Erkenntnisprogramm Emile Durkheims; Alfred Bohnen,
Handlungsprinzipien oder Systemgesetze. Über Traditionen und Tendenzen theoretischer
Sozialerkenntnis, Tübingen 2000; Viktor Vanberg, Die zwei Soziologien, Individualismus
und Kollektivismus in der Sozialtheorie, Tübingen 1975, insbesondere Kapitel 5: Die
kollektivistische Tradition in der Sozialtheorie; Karl-Dieter Opp, Individualistische
Sozialwissenschaft, Stuttgart 1979, S. 86ff., 136ff. Vgl. als neuere Übersicht über den
Problembereich der Emergenz allgemein verschiedene Beiträge bei Ansgar Beckermann,
Hans Flohr und Jaegwon Kim (Hrsg.), Emergence or Reduction? Essays on the Prospects
of Nonreductive Physicalism, Berlin und New York 1992.
4 Die Konstruktion der Gesellschaft

Personen (vgl. dazu auch noch das Beispiel weiter unten). Zu den
„individuellen“ Effekten der Veränderung bei Einzelpersonen tritt also in der
Tat jeweils tatsächlich noch etwas hinzu, und sei es nur, wie bei der
„Emergenz“ einer Freundschaft, eine Definition darüber, wann überhaupt von
einem solchen kollektiven Ereignis gesprochen werden soll, und die Angabe
des Sachverhalts, daß dazu empirisch die Bedingungen vorliegen oder nicht.
Wir sehen daran mindestens aber schon: Ob etwas „emergent“ ist oder
nicht, steht nicht ein für allemal, sozusagen ontologisch, fest, sondern ist von
einigen Vorentscheidungen, etwa über die Definition des kollektiven
Sachverhaltes, insbesondere aber von dem theoretischen Wissen abhängig,
das zur Verfügung steht. Heute findet sich, etwa, die Erklärung, warum
Wasser mit seinen Eigenschaften der Transparenz und der Flüssigkeit, sowie
auch seiner nach Temperatur unterschiedlichen Aggregateigenschaften als Eis
oder Wasserdampf zum Beispiel, aus den chemischen Elementen Wasserstoff
und Sauerstoff entsteht und warum es für biologische Prozesse so wichtig ist,
im Stoff der allgemeinen Schulausbildung, und niemand betrachtet die Sache
mehr als rätselhaft oder sonderlich „emergent“. Sicher ist Wasser „mehr“ als
die Summe seiner beiden Teile Wasserstoff und Sauerstoff. Aber mit den nun
auch einem jeden Oberschüler bekannten chemischen Gesetzmäßigkeiten ist
das Erklärungsproblem seiner Emergenz gelöst. Und in der Soziologie wissen
wir inzwischen sehr genau, wann es, beispielsweise, zu sozialer Ordnung oder
zur Bildung des sozialen Systems etwa einer Protestbewegung kommt und
wann eben nicht (vgl. dazu u.a. noch Band 3, „Soziales Handeln“, dieser
„Speziellen Grundlagen“).

Deskriptive und explanatorische Emergenz

Die These von der Emergenz hat, wenn man genauer hinsieht, eine doppelte
Bedeutung (vgl. dazu Hummell und Opp 1971, S. 11ff.). Sie besagt erstens,
daß es kollektive Phänomene gibt, deren Begriffe sich nicht auf irgendwelche
individuellen Effekte beziehen lassen und daher schon nicht über Begriffe zu
definieren sind, die sich auf Eigenschaften von Individuen beziehen. Das ist
die These von der deskriptiven Emergenz. Beispiele wären der Begriff eines
Kollektivbewußtseins, der der Anomie einer Gesellschaft oder der Begriff der
Gesellschaft als „totales soziales Phänomen“. Das seien, so die These, Sach-
verhalte, die mit den Individuen nichts zu tun hätten und daher nur über
„Kollektiv“-Begriffe zu bezeichnen wären.
Wie bei der Behauptung von der Emergenz ganz allgemein ist es auch hier:
Ob ein Phänomen deskriptiv emergent ist oder nicht, liegt nicht schon von
Emergenz und Transformation 5

vornherein fest, sondern hängt davon ab, was man mit dem Sachverhalt genau
meint und worauf man sich als Sprachregelung einigen kann. Und dabei hat
sich ein interessantes Ergebnis eingestellt: Bisher ist es stets gelungen, die
fraglichen Kollektivbegriffe „individualistisch“ zu deuten, aufzulösen und
begrifflich zu „reduzieren“, wenn man es denn ernsthaft versucht hat.
Versuchen Sie doch einmal selbst, einen reinen Kollektivbegriff zu finden!
Bei der begrifflichen Reduktion der Kollektivbegriffe zeigt sich meist auch, daß selbst die
strikt kollektivistisch argumentierenden Autoren und Verfechter der These von der
deskriptiven Emergenz sich ihrerseits, wenigstens implizit, immer schon, wenigstens partiell,
auf individuelle Effekte beziehen. So ist das, was etwa Emile Durkheim als
Kollektivbewußtsein bezeichnet hat, nichts weiter als der Sachverhalt, daß die individuellen
Akteure einer Gruppe eine bestimmte Einstellung miteinander teilen und daß diese
Einstellung bestimmte kollektive Vorstellungen bei den individuellen Akteuren zum Inhalt
hat, etwa die eines Wir-Gefühls oder einer großen gemeinsamen Vergangenheit. Die
gesellschaftliche Anomie wäre, ebenfalls der Lesart von Durkheim folgend, definierbar als
Auflösung der moralischen Bindungen bei den Individuen, freilich wiederum abhängig von
bestimmten strukturellen Umständen, wie etwa die Verringerung der Kontaktdichte der
Menschen oder ein Wirtschaftsaufschwung. Und ein „totales soziales Phänomen“ schließlich
wäre eines, bei dem die verschiedenen Abläufe der Orientierung, des Handelns, der
Produktion, der Verteilung und der gesamten Reproduktion des Alltags, allesamt also
Vorgänge, die von Akteuren getragen werden, eng aufeinander bezogen sind und
ineinandergreifen. Und immer stellt sich sofort auch die Gegenfrage: Wie sollten ein
Kollektivbewußtsein, die Anomie oder ein „totales soziales Phänomen“ ganz ohne Bezug auf
individuelles Handeln oder individuelle Eigenschaften konzipiert werden können? Als über
den Häuptern schwebender „Gruppengeist“, als Verdünnung eines kollektiven „Milieus“ oder
als eigenständiger kollektiver „Akteur“ ja wohl nicht.

Die zweite These ist die eigentliche Emergenzbehauptung. Es ist die These
von der explanatorischen Emergenz. Sie besagt, daß es grundsätzlich
unmöglich sei, bestimmte Phänomene mit „Ganzheits“-Charakter aus
Theorien abzuleiten, die sich auf die Teile dieser Ganzheiten beziehen.
Beispielsweise: Biologische Prozesse seien grundsätzlich nicht auf
physikalische oder chemi-sche Theorien zurückführbar, oder psychologische
Vorgänge nicht auf biologische, chemische oder physikalische Prozesse: Den
Geist könne man auf phy-siologische Vorgänge nicht reduzieren, und Leib
und Seele seien daher von ihrem Wesen her getrennte Einheiten. Erklären
könne man, so die These von der explanatorischen Emergenz, die
Ganzheitsphänomene nur durch Theorien, die auf der jeweiligen
Emergenzstufe ihres Gegenstandsbereiches angesiedelt sind: biologische
Vorgänge nur über Gesetze der Biologie, psychologische Phänomene nur über
Gesetze der Psychologie und entsprechend soziale Prozesse nur über Gesetze,
die sich auf die Ebene der sozialen Systeme selbst be-ziehen. Soziales nur
über Soziales eben. Es ist die These von der (grundsätzlichen) Irreduzibilität
von Theorien auf einer „Makro“-Ebene des Prozessierens von „Ganzheiten“
6 Die Konstruktion der Gesellschaft

auf Theorien, die sich auf die „Mikro“-Ebene der jeweiligen „Teile“ des
jeweiligen „Ganzen“ beziehen (siehe dazu auch gleich unten).
Die allgemeine Antwort auf die These von der explanatorischen Emergenz
kennen wir im Grunde schon: Ob ein Phänomen „emergent“ ist oder nicht, ob
es „irreduzibel“ ist oder nicht, steht nicht schon a priori und ontologisch fest,
sondern ist eine Frage des Entwicklungsstandes der jeweils verfügbaren er-
klärenden Theorien, insbesondere der zur Auflösung der Emergenzen fast
immer nötigen Mikro-Theorien, etwa die Theorie der chemischen Reaktionen
von Wasserstoff und Sauerstoff, die eben keine Theorie des Wassers „an sich“
ist; oder die soziologische Erklärung von Protesten, die eben auf Akteure und
deren Handeln Bezug nehmen muß, um die „emergenten“ Paradoxien auflösen
zu können. Daher schreiben die „Erfinder“ des Erklärungsschemas, Carl G.
Hempel und Paul Oppenheim, in ihrem epochemachenden Artikel zu dem
Phänomen der Emergenz auch ganz richtig:
„ ... emergence of a characteristic is not an ontological trait inherent in some phenomena;
rather it is indicative of the scope of our knowledge at a given time; thus it has no absolute,
but a relative character; and what is emergent with respect to the theories available today may
lose its emergent status tomorrow.“3

Und das trifft natürlich auch für die sozialwissenschaftlichen Theorien und die
Güte und Leistungsfähigkeit der jeweiligen soziologischen Erklärungen zu.

Die Irreduzibilität des Sozialen, die Ganzheit der Gesellschaft und die
soziologische Systemtheorie

In der Soziologie wird die These von der explanatorischen Emergenz bzw.
von der Irreduzibilität des Sozialen vor allem von der sog. soziologischen
Systemtheorie vertreten, wie sie von Talcott Parsons im Anschluß an einige –
durchaus nicht „irreduzible“! – Überlegungen von Emile Durkheim begonnen
und zu einem imponierenden theoretischen System ausgearbeitet wurde und
die dann von Niklas Luhmann in die heutige Form gebracht wurde.4 Die
These von der explanatorischen Emergenz sozialer Prozesse und Gebilde
besagt in ihrem Kern, formuliert von einem der klarsten Kritiker des
soziologischen Ganzheitsdenkens, Alfred Bohnen:

3
Carl G. Hempel und Paul Oppenheim, Studies in the Logic of Explanation, in: Philosophy
of Science, 15, 1948, S. 150f.; Hervorhebungen nicht im Original.
4
Vgl. dazu die „abschließende“ Darstellung der soziologischen Systemtheorie bei Niklas
Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1997.
Emergenz und Transformation 7

„Gesellschaftliche Gebilde, gleich welcher Art, besitzen charakteristische System- oder


Ganzheitseigenschaften, die nicht aus Eigenschaften ihrer Komponenten, also aus Verhal-
tenseigenschaften von Individuen erklärbar sind, und zwar deshalb nicht, weil diese Ganz-
heitsmerkmale von Faktoren bestimmt werden, die in Besonderheiten des gesellschaftlichen
Gebildes selbst begründet liegen und gerade nicht in irgendwelchen Besonderheiten von In-
dividuen. Infolgedessen erfordert ein angemessenes Verständnis der gesellschaftlichen Wirk-
lichkeit eine eigenständige Theorie des Sozialen, also eine Theorie, mit der sich die Phäno-
mene des gesellschaftlichen Lebens als Ausfluß dieser irreduziblen Faktoren erklären lassen.
Nur auf diese Weise – so heißt es auch – kann dem Emergenzcharakter der sozialen Realität
Rechnung getragen werden, d h. dem Charakter des Sozialen als einer gegenüber dem Cha-
rakter des Individuellen ‚neuen‘, eigenständigen Realitätsstufe.“5

Die soziologische Systemtheorie verwies in der Begründung dieser


Behauptung früher auf gewisse „holistische“ Eigenschaften von Ganzheiten,
etwa die Existenz eines Kollektivbewußtseins, die inhärente Neigung des
Systems der Gesellschaft zur Erfüllung funktionaler Requisiten und zum
systemischen Überleben oder die unverzichtbare Bedeutung übergreifender
Werte und „kollektiver Repräsentationen“ für ihre Integration. Auch hat man
lange angenommen, es gäbe gewisse soziologische Makro-Gesetze
allgemeiner Art, wie beispielsweise das vom notwendigen Untergang des
Kapitalismus oder das von der unvermeidlichen Entzauberung und
Modernisierung der Welt. Diese Annahmen, etwa die von den funktionalen
Erfordernissen und den inhärenten Tendenzen zur Selbstregulation, ließen
sich nicht halten, und die Hoffnungen auf die Entdeckung allgemeiner Makro-
Gesetze des Sozialen haben sich nachdrücklich als Irrtum erwiesen (vgl. auch
dazu schon die Bemerkungen zum Problem der Unvollständigkeit in der
Einleitung in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen
Grundlagen“). Und die vielen anderen Emergenz-Hypothesen, die sich die
herkömmliche (Makro-)Soziologie hat einfallen lassen, etwa die diversen
Theorien des sozialen Wandels, lassen sich relativ leicht über das Modell der
soziologischen Erklärung „individua- listisch“ rekonstruieren (vgl. dazu auch
noch Kapitel 7 und 8 in diesem Band).

Konstitution von oben oder Emergenz von unten?

Heute vertritt daher aus guten Gründen eigentlich niemand mehr ernsthaft
irgendwelche holistischen Hypothesen. Schon Max Weber hat ihnen
eigentlich den Garaus gemacht. Er schrieb kurz vor seinem Tod in einem

5
Alfred Bohnen, Die Systemtheorie und das Dogma von der Irreduzibilität des Sozialen,
in: Zeitschrift für Soziologie, 23, 1994, S. 292; Hervorhebung im Original.
8 Die Konstruktion der Gesellschaft

Brief an seinen Schüler Robert Liefmann vom 9. März 1920 sogar, daß er
Soziologe geworden sei, „um dem immer noch spukenden Betrieb, der mit
Kollektivbegriffen arbeitet, ein Ende zu machen“6. Die Soziologie müsse endlich
„strikt individualistisch in der Methode“ betrieben werden – genauso wie es das
Modell der soziologischen Erklärung ja auch tut. Nicht zuletzt Niklas Luhmann
hat sich vom einfachen Holismus auch stets eindeutig distanziert.7 Immer aber
wird von der soziologischen Systemtheorie noch etwas anderes vorgebracht:
Daß die verschiedenen Systeme, die diversen sozialen und die psychischen
Systeme, jeweils ganz unterschiedliche und „überschneidungsfreie“ Weisen
ihres „Operierens“ hätten, daß sie daher als „operativ geschlossene Einheiten“
mit jeweils ganz spezifischem „Sinn“ zu gelten hätten und daß diesen
Vorgängen mit einer individualistischen, handlungstheoretischen oder auf
reale Akteure bezogenen Herangehensweise grundsätzlich nicht
beizukommen wäre. Ein derartiges „individualistisches“ Vorgehen hätte
vielmehr die Konsequenz, daß
„ ... die Gesellschaft als ein riesiger Oktopus erscheinen (müßte; HE), als eine Einheit mit
nicht nur 8 sondern mit 5 oder 6 Milliarden relativ unabhängig, jedenfalls gleichzeitig
agierenden Organen, die mit einem Minimum an ‚Gehirn‘ auskommt und im übrigen auch gar
nicht das Tempo der Koordinationsvorgänge erreichen könnte, das notwendig wäre, um die
riesigen, der Umwelt ausgesetzten Flächen unter Kontrolle zu bringen.“ (Ebd.)

Also: Die (Welt-)Gesellschaft bildet (doch) eine übergreifende Einheit mit


eigenen Gesetzen des Operierens, ohne deren Kenntnis es ausgeschlossen
wäre, die Eigendynamik der sozialen Prozesse theoretisch zu erfassen. Die
soziale Ordnung der (5 bis 6 Milliarden) Teile ergebe sich danach in einer,
wie Luhmann das früher einmal ausgedrückt hat, „Konstitution von oben“,
und eben nicht, wie das der Methodologische Individualismus und das Modell
der soziologischen Erklärung annimmt, als, meist unintendierte und oft sehr
komplexe, Form einer aggregierenden „Emergenz von unten“ aus den
individuellen Effekten des Handelns der – in der Tat – zahlreichen Akteure
der jeweils lebenden Bevölkerung der (Welt-)Gesellschaft.
Der Hinweis auf das Phänomen eines eigenständigen Operierens sozialer Systeme, ihres „Ei-
gensinns“ oder ihrer operativen Geschlossenheit ist dabei, so sei hier vorsorglich erwähnt,
kein Hinweis darauf, daß ein „individualistisches“ Vorgehen mit der Erklärung dieser Sach-
verhalte als „Emergenz von unten“ scheitern müßte. Ganz im Gegenteil. Die soziologische
Systemtheorie übernimmt die Idee der „operativen Geschlossenheit“ und der Selbstreproduk-

6
Max Weber, Brief an Robert Liefmann, 1920, Geheimes Staatsarchiv (GStA) Berlin, Rep.
92, Nachlaß Max Weber, Nr. 30, Band 8, S. 76-80.
7
Niklas Luhmann, Gesellschaft als Differenz. Zu den Beiträgen von Gerhard Wagner und
Alfred Bohnen in der Zeitschrift für Soziologie Heft 4 (1994), in: Zeitschrift für
Soziologie, 23, 1994, S. 480.
Emergenz und Transformation 9

tion der sozialen Systeme zunächst einmal ohnehin nur als – schlechte, unvollständige, wohl
auch unverstandene, bloß auf der Oberfläche des Makrogeschehens bleibende und nur be-
schreibende – Analogie aus der modernen Molekularbiologie und nur als etikettierenden Beg-
riff, dem der „Autopoiesis“ nämlich, und eben nicht als reduktives und in die (chemisch-
physikalischen) Mikrobereiche hinein vertiefendes Erklärungsmodell, was es dort ist (vgl. da-
zu die detaillierten Erläuterungen und Hinweise bei Bohnen 1994, S. 298f.). Die soziale Kon-
stitution und das „eigensinnige“ Prozessieren der sozialen Systeme lassen sich im Rahmen
des Modells der soziologischen Erklärung leicht rekonstruieren und methodologisch ange-
messen erklären, etwa als Folge einer durch die Definition der sozialen Produktionsfunktio-
nen gesteuerten und von den daran orientierten Akteuren immer wieder neu erzeugten Eigen-
dynamik der funktionalen Sphären einer Gesellschaft (vgl. dazu noch Kapitel 2 allgemein,
sowie speziell Abschnitt 3.1 über die funktionale Differenzierung in diesem Band und in vie-
len Beispielen – unter anderem – Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, und Band 6,
„Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“).

Aus der Sicht von Luhmann und der an ihn anschließenden soziologischen
Systemtheorie ist das Bild von der (Welt-)Gesellschaft als Oktopus mit 6
Milliarden Krakenarmen natürlich absurd. Es ist aber für das, was der Metho-
dologische Individualismus wirklich kann und tut und was es mit dem Modell
der soziologischen Erklärung tatsächlich auf sich hat, selbst ein höchst
absurder Vergleich: Es geht eben nicht darum, die sozialen Prozesse aus dem
Handeln aller leibhaftigen lebenden Menschen zu erklären, sondern darum,
unter Bezug auf Theorien auch – jedoch nicht nur! – des Handelns
individueller Akteure, mehr oder weniger abstrakte und „anonyme“ Modelle
sozialer Prozesse zu formulieren, aus denen sich die fraglichen sozialen
Prozesse ableiten lassen. Das Bild vom Oktopus wird allenfalls dann
verständlich, wenn man sich gegen (aggregat-)psychologistische Erklärungen
wendet, die ja, wie man inzwischen auch in Bielefeld wissen sollte, mit dem
Methodologischen Individualismus nichts gemein haben. Aber selbst die
einfachste Aggregatpsychologie kennt und benutzt natürlich schon längst
Methoden der aggregierenden Zusammenfassung der Eigenschaften selbst von
6 Milliarden Menschen zu kollektiven Effekten, wie etwa Mittelwerte, Raten
und Korrelationen. Über den Marktmechanismus läßt sich, beispielsweise, auf
eine sehr einfache Weise erklären, wie es zu einer Ordnung ganz ohne
„Gehirn“ gerade unter unendlich vielen Anbietern und Nachfragern kommt
(vgl. dazu auch noch Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser
„Speziellen Grundlagen“). Und man fragt sich, warum das alles von der
soziologischen Systemtheorie so notorisch übergangen wird.

Reduktion, Tiefenerklärung und Reduktionismus

Die These von der Emergenz ist gleichbedeutend mit der These der
Irreduzibilität: Die Soziologie, so heißt es, lasse sich etwa auf die Psychologie
10 Die Konstruktion der Gesellschaft

nicht „reduzieren“. Die Geltung einer Norm, beispielsweise, oder das


Entstehen einer Statusstruktur seien mehr als die bloße Summation von
Einstellungen oder Handlungen „isolierter“ und „unabhängiger“ individueller
Akteure. Zur Erklärung der Geltung einer Norm etwa müsse auch gezeigt
werden, daß die Norm Bindungskraft habe und für ein Kollektiv insgesamt
gelte; und eine Statusstruktur sei ein relationales Gebilde und gehe insofern
weit über das isolierte Handeln von souveränen Akteuren hinaus. Da aber
Verteilungen und Relationen „mehr“ seien als die bloße Koexistenz isolierter
Akteure, ließe sich die Entstehung von Normen oder Statussystemen nicht auf
irgendwelche „psychologischen“ Gesetze, etwa der Konformität oder des
Wunsches nach Unterscheidung, „reduzieren“. Es fehle, kurz gesagt, etwas
ganz wesentliches, das erst die „Soziologie“ ausmacht: der Einbezug der
unhintergehbaren sozialen Komponente aller sozialen Prozesse – die soziale
Einbettung der Menschen, etwa, oder die Strukturen der Macht und der
gesellschaftlichen Zwänge.
In den Begründungen für die These von der Irreduzibilität könnte der Eindruck entstehen, als
bedeute „Reduktion“, wie in der Alltagssprache, irgendeine Art von „Schrumpfen“: Die
„volle“ soziologische Analyse, etwa die einer Systemtheorie des Sozialen, berücksichtige
Dinge, die der „reduktionistische“ Individualismus übersehe und sogar übersehen müsse.
Unter Reduktion wird jedoch in der Logik etwas ganz anderes verstanden. Es ist die
Erklärung einer speziellen Theorie durch eine allgemeinere Theorie. Dazu müssen, wie bei
jeder Erklärung, die Randbedingungen angegeben werden, wann welche spezielle Theorie
nach Maßgabe der Prämissen der allgemeinen Theorie Geltung beanspruchen kann. Ein
Beispiel dafür war die Erklärung der Keplerschen Gesetze, der Newtonschen Mechanik und
der Gravitationstheorie durch die Relativitätstheorie von Einstein. Dabei wurde gezeigt, daß
die genannten speziellen Gesetze und Theorien jeweils Spezialfälle der Relativitätstheorie für
besondere Konstellationen von Randbedingungen sind. Auf diese Weise wurde es auch
möglich, gewisse Anomalien der speziellen Theorien, wie das Phänomen der
Rotverschiebung, aufzufangen und in einer übergreifenden Theorie selbst wieder zu erklären:
ein grandioser Sieg der Wissenschaft, auf den die Menschheit zu Recht bis heute stolz ist.
Das Ziel und das Ergebnis der (erfolgreichen) Reduktion einer Theorie auf eine
(übergreifende) andere ist also geradezu das Gegenteil des Schrumpfens: Es wird eine
allgemeinere und damit informationshaltigere Theorie angestrebt, und wenn es die dann gibt,
dann weiß man deutlich mehr als vorher. „Reduktion“ in diesem Sinne ist wohl das hehrste
Ziel jeder Wissenschaft, und wer sie mit „Schrumpfen“ verwechselt, hat nicht verstanden,
worum es in der Wissenschaft eigentlich geht.

Selbstverständlich gibt es auch im Bereich der Sozialwissenschaften die


Reduktion spezieller Theorien auf allgemeinere Erklärungen. Wir wissen
heute beispielsweise, daß die makrosoziologischen Erklärungen von
Wanderungen, etwa die Distanztheorien oder die Opportunitätstheorien, nur
Spezialfälle mikrosoziologischer Wanderungstheorien unter speziellen
Annahmen und (Rand-)Bedingungen sind, wie etwa die push-pull-Theorien,
und daß diese wiederum als Spezialfälle von Entscheidungstheorien, etwa in
Emergenz und Transformation 11

der Art der Wert-Erwartungstheorie, aufgefaßt werden können. Und in


ähnlicher Weise gibt es inzwischen Mikro-Erklärungen etwa der Kriminalität
und des abweichenden Verhaltens, die ganz verschiedene Phänomene und
spezielle Theorien der Devianz von Normen, etwa die Theorie der
differentiellen Kontakte, die Anomietheorie oder die Subkulturtheorie, für
bestimmte (Rand-)Be-dingungen unter das Modell der WE-Theorie
subsumieren können. Es gibt in der Soziologie mittlerweile zahllose
Ergebnisse der theoretischen Integration spezieller Erklärungen unter einen
allgemeineren Erklärungsrahmen, wie etwa auch die Erklärung der
Entstehung sozialer Ungleichheiten oder städtischer Segregationen, von
Revolutionen und sozialen Bewegungen in Abhängigkeit, etwa, von der
Stärke der gesellschaftlichen Cleavages einerseits und der Verteilung der
Schwellenwerte für die Protestbereitschaft andererseits.8
Die für die „Reduktion“ spezieller soziologischer Theorien auf das allgemeine Modell der
soziologischen Erklärung wichtigen Randbedingungen ihrer „bedingten“ Geltung sind uns
natürlich schon gut bekannt: Es sind die stets besonderen Brückenhypothesen, über die die
Makro-Bedingungen der sozialen Situation mit den Mikro-Variablen der WE-Theorie
verbunden werden. Und es sind die ebenfalls stets besonderen Transformationsregeln, über
die die individuellen Effekte erst wieder von der Mikro- auf die Makroebene des zu
erklärenden kollektiven Sachverhaltes überführt werden müssen. So bedarf es für eine
erfolgreiche „Reduktion“, etwa der Theorie der Intervening Opportunities von Samuel
Stouffer oder der Anomietheorie von Robert K. Merton auf die WE-Theorie, jeweils
spezieller Annahmen, in denen die Intervening Opportunities bzw. die kulturellen Ziele und
die institutionalisierten Mittel in die Variablen der WE-Theorie übersetzt werden (vgl. für die
Anomietheorie schon Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen
Grundlagen“). Und es sind selbstverständlich auch, wenngleich zuweilen sehr simple,
spezielle Aggregationen nötig, über die die Wanderungsentscheidungen bzw. die devianten
Akte der individuellen Akteure zu Wanderungssalden zwischen Regionen bzw. zu Ziffern der
Kriminalitätsbelastung etwa gewisser sozialer Schichten „übersetzt“ werden. Aber alles das
ist ja gerade im Konzept der soziologischen Erklärung systematisch vorgesehen.

In allgemeinster Form läßt sich die Reduktion einer speziellen Theorie Ti


daher als logische Implikation dieser Theorie in der Konjunktion einer
allgemeinen reduzierenden Theorie T und gewissen Randbedingungen Bi
schreiben, die erfüllt sein müssen, „damit“ sich die spezielle Theorie Ti aus T
logisch ableiten läßt: (T"Bi) # Ti. Die Randbedingungen Bi enthalten dabei
den gesamten Satz der jeweils für die Makro-Mikro-Makro-Übergänge

8
Vgl. etwa zur mikrosoziologischen „Erklärung“ der makrosoziologischen Wanderungs-
theorien Frank Kalter, Wohnortwechsel in Deutschland. Ein Beitrag zur Migrationstheorie
und zur empirischen Anwendung von Rational-Choice-Modellen, Opladen 1997,
insbesondere Kapitel 2; und vgl. etwa zur Integration der verschiedenen speziellen
Theorien des abweichenden Verhaltens u.a. noch Band 5, „Institutionen“, dieser
„Speziellen Grundlagen“.
12 Die Konstruktion der Gesellschaft

nötigen Brückenhypothesen und Transformationsregeln.


Bei allen diesen Erklärungen spezieller Theorien durch eine allgemeine
Theorie handelt es sich um eine sog. Tiefenerklärung: Man weiß nach der
erfolgreichen Reduktion der speziellen Theorien auf die allgemeine, „wann“
und „warum“ die eine spezielle Theorie manchmal gilt oder nicht, und wann
und warum das ggf. für eine andere spezielle Theorie zutrifft. Mit der
„Reduktion“ kennt man den Mikro-Mechanismus, der die Makro-Effekte
erzeugt hat. Dazu muß man mehr wissen als nur die Tatsache, daß es eine
„Eigendynamik“ des Sozialen oder die Autopoiesis der Systeme gibt. Und
dazu muß man eben auch wissen, warum die Akteure den kollektiven Effekt
durch ihr Tun hervorgebracht haben, auch wenn sie selbst über diesen Mikro-
Mechanismus keine besonderen Vorstellungen haben.
Es ist ein wenig so, als ob man unter die Motorhaube eines Autos sieht und plötzlich
„versteht“, warum das Auto manchmal anspringt und manchmal nicht, etwa weil das
Zündkabel locker war. Um das Funktionieren eines Autos zu verstehen, muß man ja sehr viel
mehr wissen als etwa nur die (Makro-)Regelmäßigkeit, daß normalerweise das Herumdrehen
des Zündschlüssels zum Anspringen des Motors führt. Und so wie in diesem Falle erst beim
Versagen des (Makro-)Gesetzes „Wenn der Zündschlüssel gedreht wird, dann springt der
Motor an“ der Wunsch nach einem „tieferen“ Verständnis der Zusammenhänge auf der
(Mikro-)
Ebene der „wirklichen“ Abläufe unter der Motorhaube entsteht, so gibt es einen Bedarf auch
in der Soziologie nach Reduktion besonders dann, wenn die Makrogesetze auf der Oberfläche
des Strukturgeschehens versagen. Und genau das ist ja die Situation, vor der die Soziologie
eigentlich immer schon gestanden hat und derzeit begreift, daß sie mit ihren alten Hoffnungen
auf Strukturgesetze auf der Makroebene nicht weiterkommt.

Das Modell der soziologischen Erklärung bietet, wenn sie richtig gemacht ist,
eine solche „reduktive“ Tiefenerklärung für die Zusammenhänge auf der
Makro-Ebene – und es ist daher allein schon aus methodologischen Gründen
jeder bloß „makro“-soziologisch bleibenden Analyse überlegen: Sie hat den
höheren Allgemeinheitsgrad, die größere Tiefenschärfe und den höheren
Informationsgehalt.
Reduktionismus ist dann jene wissenschaftliche Programmatik, durch die „Reduktion“ spe-
zieller Theorien auf allgemeinere das Wissen um die speziellen Bedingungen der Geltung der
speziellen Theorien systematisch zu erweitern: Wenn wir wissen, warum es unter der Bedin-
gung großer Gruppen nicht zu Revolutionen kommt, dann wissen wir mehr als vorher in der
naiven speziellen Theorie, die da sagte, daß die Wahrscheinlichkeit einer Revolution mit der
Gruppengröße „additiv“ zunehme. Nun kann die Anomalie des Tocqueville-Paradoxons auf-
gelöst werden: Die Inaktivität großer und deprivierter Gruppen wird jetzt theoretisch erwartet
– und ist folglich nicht mehr geheimnisvoll und „emergent“. Es ist, in einem etwas beschei-
deneren Rahmen, die gleiche Art von Wissensfortschritt wie bei der Relativitätstheorie. In ei-
nem engeren Sinne wird dann Reduktionismus als das Bestreben verstanden, alle möglichen
„molaren“ Ganzheitsphänomene auf die „molekulare“ Ebene der Mikro-Prozesse zu reduzie-
ren, weil die molaren Phänomene stets die spezielleren Vorgänge sind. In seiner Extremform
nimmt der Reduktionismus an, daß sich so – schrittweise und natürlich unter Angabe der je-
Emergenz und Transformation 13

weiligen „Brücken“-Übergänge der jeweiligen Mikro-Makro-Verbindungen – die Soziologie


mit Hilfe psychologischer Theorien, die psychologischen Theorien über biologische und neu-
rophysiologische Gesetze, und die wiederum über chemische und physikalische Theorien,
aufbauend auf einem mathematischen Kern, reduzieren lasse. Das Ergebnis wäre, so hoffen
immer noch einige Vertreter dieser Auffassung ganz unbeirrt, ein großes, integriertes Wis-
sensgebäude, mit dem sich alle Phänomene dieser Welt auf allen ihren Aggregationsstufen
durch die jeweils „darunter“ liegenden Theorien, einschließlich der nötigen Mikro-Makro-
Verbindungen, versteht sich, erklären lassen. Mindestens ein Argument haben die Verfechter
dieser Hoffnung auf ihrer Seite: Es gibt bisher keinen empirischen Sachverhalt, der mit dem
Programm des Reduktionismus unvereinbar wäre. Eine Implikation der Reduktion der spe-
ziellen Theorien auf allgemeinere ist nämlich, daß aus der allgemeineren Theorie kein Sach-
verhalt ableitbar sein darf, der einer der speziellen Theorien, die sie enthält, widerspricht.
Und in der Tat: Keine der bisher erfolgten Reduktionen, wie etwa die der Gravitationstheorie
auf die Relativitätstheorie, haben solche Widersprüche erbracht.

„Reduktion“ ist also alles andere als das Schrumpfen des Wissens, und
„Reduktionismus“ ist daher auch keineswegs eine besonders engstirnige Form
der monadischen Verbohrtheit, obwohl zahllose Soziologen nicht müde
werden, sich das immer wieder einzureden. Oder, auf unseren Fall angewandt,
noch einmal: Der Methodologische Individualismus und das Modell der
soziologischen Erklärung sind eben kein „atomistischer“ Psychologismus, der
das spezifisch „Soziale“ unter den Tisch fallen läßt. Ganz im Gegenteil!

Transformationsregeln

Daß das Modell der soziologischen Erklärung alles andere als


Psychologismus und Atomismus ist, zeigt sich ja gerade daran, daß es mit der
Erklärung der individuellen Effekte eben nicht getan ist. Nun muß es von der
Mikro- wieder auf die Makroebene hinauf gehen. Erst damit ist eine
soziologische Erklärung abgeschlossen. Genau deshalb werden zur
„reduktiven“ soziologischen Er-klärung kollektiver Sachverhalte die
Transformationsregeln benötigt – zur Transformation der einfachen Summe
der Teile in das zu erklärende Makrophänomen. Und nur wenn man das
übersieht, kann man auf Vorstellungen einer grundsätzlichen Emergenz und –
dazu spiegelbildlich – solche von der grundlegenden Irreduzibilität sozialer
Prozesse kommen. Erst wenn dieser Schritt trotz aller Bemühungen um die
Formulierung geeigneter Transformationsregeln und der empirischen
Begründung der zur Erklärung des „emergenten“ Phänomens nötigen
individuellen Effekte (und sonstiger Randbedingungen) nicht gelingt, könnte
man von „Emergenz“ sprechen – bis das Pro-blem behoben ist.
Worum handelt es sich bei den Transformationsregeln nun aber genauer?
Transformationsregeln sind, ganz allgemein gesagt, nichts weiter als im Prinzip
logische Argumente, über die sich in Kombination mit gewissen formalen und
14 Die Konstruktion der Gesellschaft

empirischen Annahmen, individuelle Effekte in einen kollektiven Sach-verhalt


überführen lassen. Es sind weder bloße Beschreibungen, noch gar „Gesetze“,
wenngleich in ihnen Beschreibungen und Gesetze zur Anwendung kommen
können.
Ein Beispiel: Die Entstehung einer Freundschaft

Das klingt noch sehr unanschaulich. Sehen wir uns daher zunächst einmal ein
relativ einfaches Beispiel an: die Entstehung einer Freundschaft. Eine
Freundschaft ist, ganz allgemein gesprochen, eine Relation zwischen zwei
zuvor, in dieser Beziehung jedenfalls, „autonomen“ Akteuren.
Die Entstehung von Relationen ist ein besonders wichtiger Fall eines „emergenten“
kollektiven Phänomens, eines Phänomens mit gewissen Ganzheitseigenschaften. Und daher
ist eine Freundschaft, obwohl es sich immer um eine sehr private Angelegenheit zwischen
zwei Personen handelt, auch kein „Mikro“-Phänomen, sondern ein kollektives Makro-
Ereignis, das sich in dieser Hinsicht, seiner Emergenz aus individuellen Effekten, von
wirklichen „Groß“-Ereignissen, wie etwa dem Wandel einer ganzen Gesellschaft, nicht
unterscheidet. Oder anders gesagt: Ob ein soziologischer Sachverhalt „Makro“ oder „Mikro“
ist, hat mit dem Vorliegen eines Aggregationsproblems zu tun – und eben nicht damit, ob es
sich um viele oder nur um wenige Akteure handelt. Genau das hatte Niklas Luhmann wohl
nicht verstanden, als er vom individualistischen Oktopus mit seinen Milliarden von Organen
sprach und meinte, daß der Methodologische Individualismus alles nur als atomistisch
gedachtes „Mikro“-Phänomen betrachte oder gar betrachten müsse.

Eine Freundschaft ist ein Spezialfall einer sozialen Beziehung. Darunter wird
in der Soziologie allgemein eine von mehreren Personen geteilte Einstellung
eines speziellen „Sinngehaltes“ verstanden, über die sich die Akteure in be-
stimmten Situationen in ihrem „Sichverhalten“, wie Max Weber sagt,
wechselseitig „orientieren“.9 In dieser Wechselseitigkeit der Orientierung
besteht die „Ganzheits“-Eigenschaft einer Freundschaft als sozialem System.
Für Freundschaften gehören zu dieser geteilten Einstellung in unserem Kulturkreis etwa eine
gewisse Sympathie, die Kenntnis relativ intimer Details der Befindlichkeit des jeweils
anderen, Vertrauen, Altruismus und Hilfsbereitschaft gerade in Notsituationen, eine gewisse
Exklusivität des Umgangs miteinander, sowie bestimmte gemeinsame Überzeugungen und
Werte, in denen sich jeder im anderen auch selbst bestätigt sehen kann, jedoch keine sexuell
geprägte Liebesbeziehung und sicher auch kein „rational“-kalkulierender Umgang
miteinander, wenngleich alles das in gewissen Situationen auch eine Rolle spielen mag oder
ineinander übergeht, wie das etwa bei den so genannten sehr guten Freunden oder unter
Geschäftsfreunden auch der Fall sein mag.

Eine Freundschaft ist, kurz gesagt, eine Koorientierung von Akteuren mit

9
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5.
Aufl., Tübingen 1972 (zuerst: 1922), S. 13. Vgl. dazu auch noch Band 3, „Soziales
Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“.
Emergenz und Transformation 15

einem speziellen Inhalt. Das ist das zu erklärende Phänomen. Es sei mit F
bezeichnet. Wir wollen den Satz an inhaltlichen Besonderheiten, die die
Beziehung einer Freundschaft als spezielle Koorientierung konstituieren, mit f
abkürzen. Wie entsteht nun aber eine solche wunderbare Freundschaft? Die
einfachste Kurzantwort der Soziologie der Freundschaftswahlen und der
Bildung von Partnerschaften: durch meeting und mating.10 Dahinter steckt
aber ein im Einzelfall durchaus komplizierter Vorgang.
Der Beginn jeder möglichen Freundschaft ist danach zunächst immer das Zusammentreffen
von Akteuren, das meeting. Daher sind für die Entstehung von Freundschaften die sog.
Opportunitätsstrukturen wichtig: die nach Alter, Geschlecht, Berufsgruppe, Freizeitangeboten
und Wohnort systematischen „Fokal“-Punkte, an denen sich Menschen mit bestimmten
Eigenschaften, oft ganz unintendiert, treffen und darüber die Gelegenheit erhalten,
Freundschaften schließen zu können: Kindergarten, Schule, Wochenmarkt, Vorlesung,
Sekretariat, Gran Canaria, Tennisclub, Altersheim, Friedhof. Mit dem Treffen alleine ist es
aber noch nicht getan. Jetzt muß es noch zur gemeinsamen, von den Akteuren geteilten
Einstellung f kommen. Und das geht über den Prozeß des mating, für den es keinen griffigen
deutschen Ausdruck gibt. Damit ist, etwas vereinfachend gesagt, die Entstehung von (Wert-
)Über-einstimmungen gemeint, insbesondere durch die Entdeckung gemeinsamer Interessen,
und zwar als Folge fortgesetzter Kontakte und der dabei gemachten positiven Erfahrungen.
Alle einzelnen Schritte dabei sind Vorgänge, die von den beiden Akteuren jeweils für sich
erlebt und initiiert werden und bei denen sich die anfänglichen Einstellungen der beiden
Akteure in einer bestimmten Weise ändern – bis schließlich die Einstellung f mit allen ihren
Details der jeweiligen kulturellen Definition des Codes und des Programms einer
Freundschaft bei beiden Akteuren entstanden ist und sie in ihren gemeinsamen
Orientierungen und ihrem Handeln leitet.

Wie entsteht eine solche Koorientierung nun aber? Wir wollen diese Er-
klärung in die Erklärung eines weiteren Sachverhaltes einbetten, das
Phänomen nämlich, daß Freundschaften meist von der Art des „gleich und
gleich gesellt sich gern“ sind, also, wie die Soziologie sagt, die Eingenschaft
der Homophilie haben. Zunächst müssen dazu natürlich die individuellen
Effekte erklärt werden, die zu dem Phänomen der Freundschaft als
Koorientierung führen. Es muß, wie üblich, die Logik der Situation bestimmt

10
Vgl. zur Erklärung der Entstehung von Freundschaften u.a. die Beiträge von Scott L.
Feld, The Focused Organization of Social Ties, in: American Journal of Sociology, 86,
1981, S. 1015-1035; Maureen T. Hallinan, The Process of Friendship Formation, in:
Social Networks, 1, 1978, S. 193-210; Paul F. Lazarsfeld und Robert K. Merton,
Friendship as Social Process: A Substantive and Methodological Analysis, in: Morroe
Berger, Theodore Abel und Charles H. Page, Freedom and Control in Modern Society,
Toronto, New York und London 1954, S. 18-66; Lois M. Verbrugge, The Structure of
Adult Friendship Choices, in: Social Forces, 56, 1977, S. 576-597; Christof Wolf, Gleich
und gleich gesellt sich. Individuelle und strukturelle Einflüsse auf die Entstehung von
Freundschaften, Hamburg 1996, insbesondere Kapitel 3: Theorien zur Entstehung von
Freundschaften.
16 Die Konstruktion der Gesellschaft

und das daraus zu erwartende Handeln über eine Handlungstheorie erklärt


werden.
Die Logik der Situation für die Entstehung von (homophilen) Freundschaften ist durch die
Gelegenheitsstrukturen und die dadurch gesteuerten Chancen bestimmt, daß zwei Akteure mit
mehr oder weniger großen Ähnlichkeiten aufeinandertreffen. Die Brückenhypothesen beste-
hen dann insbesondere in der Annahme, daß bei einer hohen Ähnlichkeit der Akteure die Er-
wartung für weitere erfreuliche Kontakte ansteigt. Das ist eine in die Brückenhypothese als
feste Annahme eingebaute Mini-Theorie, die besagt, daß es bei Kontakten unter ähnlichen
Personen eher zu erfreulichen Erlebnissen kommt und daß sich darüber die Erwartungen für
die Nutzenproduktion durch neue Kontakte erhöhen. Deshalb kann dann angenommen wer-
den, daß das Strukturmerkmal der Ähnlichkeit der Akteure als Folge der Fokusstruktur beim
meeting die Neigungen steigert, die Kontakte fortzusetzen. Damit wird, wieder natürlich un-
ter Nutzung der Regeln der WE-Theorie, für jeden individuellen Akteur in Abhängigkeit der
Strukturen des meeting erklärt, ob er die für das schließliche mating und die Entstehung der
koorientierenden Einstellung f nötigen Kontakte fortsetzen will oder nicht.

Jetzt erst kann der dritte Schritt, derjenige von der Mikroebene wieder hinauf
auf die Makroebene, beginnen. Weil hier Mikroereignisse mit Ma-
krozuständen verbunden werden müssen, wird zunächst eine Regel benötigt,
in der gewisse individuelle Effekte mit denkbaren Makrozuständen logisch
verbunden werden – eine Transformationsregel eben. In unserem Fall ist sie
nicht schwer zu finden. Die Transformationsregel TRf für das kollektive
Phänomen einer Freundschaft laute, so wollen wir nun explizit festlegen:
Das kollektive Ereignis einer Freundschaft F zwischen zwei Akteuren A und B besteht genau
dann, wenn bei beiden Akteuren die Einstellung f entstanden ist und sie in ihrem Handeln
(ko-)orientiert.

Die genannte Transformationsregel ist hier eine durchaus trivial erscheinende,


wenngleich logisch unverzichtbare Sache: Sie definiert das kollektive
Phänomen als Kombination bestimmter individueller Effekte – gewisser
Eigenschaften und Handlungen der Akteure A und B also.
Diese Regel alleine reicht jedoch, wie man sieht, nicht aus, denn das
Vorliegen der Koorientierung f ist ja die Folge erst einer gewissen
Konstellation der Fortsetzung von Kontakten, die sich an das meeting
angeschlossen haben müssen, des Prozesses des mating eben. Sie ist das
Ergebnis des Prozesses der „friendship formation“, wie das Lazarsfeld und
Merton ausdrücken. Diesen Prozeß könnte man natürlich umständlich als
längere Sequenz der allmählichen Konvergenz der Einstellungen nach dem
Beginn der Kontakte modellieren, so wie das Lazarsfeld und Merton in ihrem
Beitrag auch tun. Den längeren Vorgang des mating wollen wir hier aus
Gründen der Vereinfachung jedoch durch eine einfache Annahme abkürzen,
in der eine Art von quasigesetzlicher Regelmäßigkeit für den Prozeß und das
schließliche Ergebnis einer gelingenden Freundschaftsformation in
Emergenz und Transformation 17

Abhängigkeit der Situation nach dem ersten Treffen formuliert ist:


Wenn zwei Akteure A und B nach einem ersten meeting jeweils für sich beschließen, die
Kontakte fortzusetzen, dann entsteht daraus auch ein mating, die beide Akteure (ko-)orien-
tierende Einstellung f.

Diese Annahme wollen wir als die Transformationsbedingung TBf


bezeichnen. Sie könnte jederzeit geändert und den oft ja viel komplizierteren
Umständen und Abläufen des mating angepaßt werden, etwa dahingehend,
daß es bei der Entdeckung von Unverträglichkeiten in der Folge der zuerst
fortgesetzten Kontakte zum Abbruch des Vorgangs kommt. Für unseren
Zweck, der Demonstration des formalen Vorgehens bei der Transformation,
reiche die angeführte einfache Annahme jedoch aus, daß ein fortgesetztes
meeting zu einem erfolgreichen mating führe.
Nun fehlt nur noch Eines: die Information, ob die in TBf formulierte
„Randbedingung“ in Bezug auf die zuvor erklärten individuellen Effekte IEf
auch tatsächlich gegeben sind und tatsächlich die Kontakte fortgesetzt
wurden. Hier gibt es ja nach Lage der Dinge vier Möglichkeiten: Weder A
noch B setzten nach dem ersten meeting den Kontakt fort; A setzte fort, aber
B nicht; B setzte fort, aber A nicht; beide setzten den Kontakt fort. Und nur
wenn die vierte Möglichkeit gegeben ist – A und B setzten nach dem ersten
meeting den Kontakt fort – läßt sich über die Transformationsregel TRf und
die Annahme TBf ableiten, daß eine Freundschaft entstanden ist.
Das gesamte Argument der Transformation läßt sich dann als einfacher
logischer Schluß zusammenfassen: (TRf"TBf"IEf) # F. Verbal und etwas
umständlich klingend lautet die komplette Transformation der individuellen
Effekte auf die Makroebene der Entstehung des sozialen Systems einer
Freundschaft dann so:
Wenn die Transformationsregel TRf „Das kollektive Ereignis einer Freundschaft F zwischen
zwei Akteuren A und B besteht genau dann, wenn bei beiden Akteuren die Einstellung f
entstanden ist und sie in ihrem Handeln (ko-)orientiert“ lautet, und wenn die
Transformationsbedingung TBf „Wenn zwei Akteure A und B nach einem ersten meeting
jeweils für sich beschließen, die Kontakte fortzusetzen, dann entsteht daraus ein mating, die
beide Akteure (ko-)orientierende Einstellung f“ tatsächlich gilt, und wenn der individuelle
Effekt IEf „Akteur A und Akteur B haben nach einem ersten meeting die Kontakte zum
jeweils anderen fortgesetzt“ vorliegt, dann liegt das kollektive Phänomen einer Freundschaft
F als Koorientierung an der Einstellung f vor.

Und das Ergebnis: Jetzt hat die Erklärungskette von der sozialen Situation
einer Treffgelegenheit bis zur (homophilen) Freundschaft als kollektivem
Phänomen keine logische oder empirische Lücke mehr: Die individuellen
Effekte IEf wurden zuvor wie üblich über die Logik der Situation und die
Logik der Selektion erklärt und dann auf die Transformationsregel TRf und
Emergenz und Transformation 19

sind die Transformationsregeln einerseits und einige, meist unvermeidliche, zusätzliche An-
nahmen, etwa über gewisse Vereinfachungen und Idealisierungen, um das Modell nicht zu
kompliziert werden zu lassen, andererseits. Diese Annahmen könnten natürlich jederzeit im
Rahmen des Prinzips der abnehmenden Abstraktion gelockert werden.

Die Aggregation der individuellen Effekte zu dem kollektiven Phänomen


geschieht daran anschließend über drei Arten von Aussagen: Die
Transformationsregel(n) TR, gewisse zusätzliche Annahmen und
Bedingungen TB und die zuvor „individuell“ erklärten individuellen Effekte
IE – so wie wir das im Beispiel über die Emergenz einer Freundschaft gezeigt
haben. Aus diesen drei Aussagen zusammen ergibt sich dann das kollektive
Explanandum als logische Implikation. Die individuellen Effekte sind dabei
ihrerseits Randbedingungen für die Anwendbarkeit der Transformationsregel,
die bei dem Schritt der Aggregation also die Funktion eines „erklärenden“
Gesetzes übernimmt, obwohl sie kein solches Gesetz ist, sondern, etwa im
obigen Beispiel, nur eine begriff-liche Definition.
Das logische Argument der Transformation der individuellen Effekte in das kollektive
Phänomen sieht formal also ganz ähnlich aus wie eine „übliche“ H-O-Erklärung: Es gibt ein
„Gesetz“, die Transformationsregel TR nämlich, und gewisse „Randbedingungen“, TB und
IE, und daraus wird der interessierende Effekt logisch abgeleitet. Dieser Eindruck ist auch
nicht falsch, denn es handelt sich auch bei der Logik der Aggregation wie bei einer H-O-
Erklärung um einen logischen Schluß. Der wichtigste Unterschied ist nur der: Die
Transformationsregel ist kein empirisches „Gesetz“, sondern eine analytische Regel, hier eine
Definition. Gleich unten werden wir noch andere Arten solcher analytischer Regeln
kennenlernen, die als Transformationsregeln dienen können.

Die „Logik“ der Aggregation ist offensichtlich also ein formal-logischer


Schritt, bei dem die empirischen Umstände aus den individuellen Effekten mit
den analytischen Festlegungen der Transformationsregel(n) und der Annahme
von weiteren (Rand-)Bedingungen kombiniert werden.
An dem Schema sieht man jetzt auch ganz gut, was mit dem Begriff einer
Tiefenerklärung gemeint ist: Statt auf der beschreibenden Oberfläche der
„Emergenz“ eines „an sich“ unverständlichen und unerklärlichen korrelativen
Zusammenhangs von sozialen Situationen und kollektiven Ereignissen zu
bleiben, wird jetzt der genaue kausale (Mikro-)Mechanismus des Geschehens
mit allen seinen riskanten Anschlüssen und Makro-Mikro-Makro-Übergängen
empirischer wie analytischer Art erkennbar. Und mit der Notwendigkeit, in der
Kette der Erklärungsschritte keine Lücke lassen zu dürfen, wird der
Sozialwissenschaftler mit sanftem Zwang, aber nachhaltig dazu gebracht, vieles
explizit auszusprechen und aufzuschreiben, was er vorher nur „elliptisch“
skizziert hatte oder woran er vorher oft genug nicht einmal denken konnte.
Deshalb gerät schon das einfache Beispiel mit der Freundschaft und der
Homophilie derselben so kompliziert. Erst darüber gelingt es, das Geheimnis der
20 Die Konstruktion der Gesellschaft

„Emergenz“ eines kollektiven Phänomens zu lüften: Zwar ist das Ganze sicher
(meist) mehr als die bloße Summe seiner Teile, aber wir wissen mit der
gelungenen Transformation, was es mit diesem „mehr“ auf sich hat.

Arten von Transformationsregeln

Neben der im Beispiel der Entstehung einer Freundschaft benutzten Art einer
Definition als Transformationsregel gibt es noch einige andere Formen (vgl.
dazu insbesondere Lindenberg 1977, S. 52-57, 64-78; Lindenberg und
Wippler 1978, S. 223ff.). Wir wollen dabei nach einfachen und komplexen
Transformationsregeln unterscheiden, und dann darin noch einmal nach
verschiedenen Varianten.

Einfache Transformationsregeln

Zu den einfachen Transformationsregeln zählen zunächst die sog. partiellen


Definitionen und dann die, so wollen wir sie nennen, einfachen statistischen
Aggregationen.
Transformationsregeln in der Form von partiellen Definitionen sind
begriffliche Festlegungen, wann von einem bestimmten kollektiven Ereignis
überhaupt gesprochen werden soll.
Das war im Beispiel der Entstehung einer Freundschaft die begriffliche Festlegung, daß von
einer Freundschaft dann gesprochen werden soll, wenn die Bedingung empirisch erfüllt ist,
daß sowohl ein Akteur A wie ein Akteur B bestimmte Eigenschaften haben, nämlich die Ein-
stellung f als Koorientierung. Die Festlegung erfolgte also im Hinblick auf bestimmte Kons-
tellationen der individuellen Effekte – ganz einfach und zwingend, weil ansonsten das Erklä-
rungsziel, die Erklärung der Emergenz einer Freundschaft als Folge des Handelns von Akteu-
ren, nicht erreichbar wäre. In ähnlicher Weise könnte man festlegen, daß, beispielsweise, eine
Statushierarchie, etwa zwischen zwei Akteuren A und B, genau dann entstanden ist, wenn der
Akteur A von Akteur B mehr soziale Wertschätzung erhält als umgekehrt und wenn darüber
bei diesen beiden Akteuren eine geteilte Orientierung besteht. Das könnte man leicht auf N-
Personen-Systeme für die Asymmetrien sozialer Wertschätzung unter den Akteuren A, B, C,
... N übertragen und so zur Definition der Bedingungen für die Emergenz von Statussystemen
beliebiger Größe kommen.

Bei den partiellen Definitionen besteht die Transformationsregel also aus


einer logischen Äquivalenz, die über eine, im Prinzip natürlich auch anders
mögliche, Konvention eingeführt wird. „Partiell“ heißen diese Definitionen
deshalb, weil man etwa Freundschaften und Statushierarchien durchaus auch
anders „definieren“ könnte.
Emergenz und Transformation 21

Partielle Definitionen sind im übrigen der erste Schritt bei jeder


Transformation von der Mikro- zur Makroebene. Sie lösen das Problem der
deskriptiven Emergenz: die Formulierung des kollektiven Phänomens in
Bezug auf individuelles Handeln. Nun erst kann die (Tiefen-)Erklärung
beginnen. Das heißt, daß für die Zwecke einer soziologischen Erklärung
zunächst jedes kollektive Explanandum, zumindest „partiell“, als Ergebnis
individueller Effekte begrifflich definiert werden muß. Erst daran können sich
andere Regeln der Transformation anschließen.
Statistische Aggregationen sind formale bzw. mathematische Operationen
der Überführung individueller Effekte in zusammenfassende statistische
Kennzahlen, wie etwa Mittelwerte, Raten und Proportionen, Varianzen,
Korrelations- und Regressionskoeffizienten oder empirische Typologien. Die
je-weiligen Algorithmen der Kennzahlen sind dabei die
Transformationsregeln. Die dabei zu beachtenden Annahmen, etwa die der
Nicht-Korrelation der Fehlerterme bei der Berechnung von
Regressionskoeffizienten, gehören zu den weiteren (Rand-)Bedingungen der
Anwendung der Transformationsregeln. Und die individuellen Effekte sind
die empirischen „Daten“, mit denen dann die jeweiligen Kennzahlen
berechnet werden. Algorithmus, Annahmen und Daten erzeugen zusammen
die Kennzahl, aus der das kollektive Phäno-men „besteht“. „Einfach“ sind
diese statistischen Transformationsregeln keineswegs immer: Wer beherrscht
schon, gar auf Seiten derjenigen, die nicht müde werden, den
Methodologischen Individualismus und das Modell der soziologischen
Erklärung zu kritisieren und die statistischen Aggregationen als simplen
Reduktionismus zu geißeln, alle Feinheiten etwa der Regressionsrechnung
wirklich? Die „Einfachheit“ bezieht sich nur auf die Art der „Logik“ der damit
möglichen Aggregationen: Es sind kollektive Sachverhalte, die sich in
gewisser, wenngleich in oft durchaus kompliziert zu berechnender, Weise
tatsächlich „nur“ als „Summe“ der Teile, der individuellen Effekte nämlich,
ergeben. Und in jedem Fall handelt es sich bei der Ableitung der kollektiven
Effekte um eine von empirischen Umständen geleitete, ansonsten aber rein
analytische Prozedur, ebenfalls also um eine Art von logischem Schluß.

Komplexe Transformationsregeln

Zwei Arten komplexer Transformationsregeln seien unterschieden:


Institutionelle Regeln und formale Modelle.
Bei den institutionellen Regeln geht es um die Transformation von indivi-
duellen Effekten in ein kollektives Ereignis durch soziale Prozesse, von denen
22 Die Konstruktion der Gesellschaft

angenommen wird, daß sie normalerweise fraglos an gewisse Konstellationen


individueller Effekte anschließen. Die „Regel“ besteht also in der Annahme
der ansonsten in diesem Schritt nicht weiter problematisierten Regelmäßigkeit
empirischer sozialer Abläufe, die sich an die individuellen Effekte erwartbar
anschließen und daher „wie“ ein „logischer“ Schritt behandelt werden können,
obwohl sie es – strenggenommen – natürlich nicht sind.
Das hört sich komplizierter an, als es normalerweise ist. Das einfachste Beispiel für eine sol-
che institutionelle oder soziale Transformation ist die Überführung des „rohen“ Wahlergeb-
nisses der einzelnen Wählerstimmen, etwa bei einer Bundestagswahl, in die schließliche Sitz-
verteilung in einem Parlament. Die individuellen Effekte sind die auf die verschiedenen Par-
teien entfallenden Stimmen. Eine erste einfache Aggregation sind dann jeweils die Prozente,
die auf die einzelnen Parteien entfallen. Die Sitzverteilung im Parlament, aus der sich ja dann
erst alles weitere ergibt, wird aber nach gewissen institutionellen Regeln vorgenommen: Gibt
es das Mehrheits- oder das Verhältniswahlsystem? Besteht eine Mindestklausel für die Zutei-
lung von Parlamentssitzen, etwa die 5%-Klausel, wie sie hierzulande üblich ist? Gibt es sonst
noch spezielle Regeln, wie die, daß auch diejenige Partei in das Parlament einziehen darf, die
mindestens drei Direktmandate gewonnen hat? Nach welchem System werden die Sitze im
Verhältniswahlsystem verteilt, etwa nach d’Hondt? Gibt es dann noch so etwas wie Über-
hangmandate oder Minderheitenrechte? Und so weiter. Die Verteilung der Sitze ist norma-
lerweise ein „automatischer“ Vorgang, den die Computer der Wahlforscher sofort immer
mitberechnen, obwohl natürlich „hinter“ der Umsetzung Akteure stecken, die dafür sorgen,
daß schließlich auch wirklich die „richtige“ Zahl an Parlamentariern die Abgeordnetensitze
belegen.

Die einfache Botschaft aus allen diesen denkbaren Komplikationen ist dann
jene hier: Die jeweiligen institutionellen Regeln bilden die
Transformationsregeln, über die die individuellen Effekte der reinen Anzahlen
bzw. der einfachen Proportionen in das gesuchte kollektive Ereignis überführt
werden. Das ist, wie man sieht, schon anders als bei den partiellen
Definitionen und den statistischen Aggregationen, keine bloße analytische
Transformation mehr, sondern eine, die auf realen sozialen Prozessen und
erwartbaren sozialen Regelmäßigkeiten beruht: Auf der Geltung der
institutionellen Regeln in der betreffenden Gesellschaft. Und deshalb muß,
wenn man ganz genau sein will, auch noch als zusätzliche (Rand-)Bedingung
angenommen werden, daß im gegebenen Fall die Akteure sich an die
institutionellen Regeln auch wirklich halten – und daß etwa nicht, wie in den
sog. Bananenrepubliken dem Hörensagen nach, das Militär zu putschen
beginnt, wenn ihm das Wahlergebnis nicht ins Konzept paßt. Es bleibt aber
auch jetzt bei dem grundlegenden formalen Muster aus Abbildung 1.1:
Transformationsregeln, angenommene (Rand-)Bedingungen und die
individuellen Effekte überführen zusammen das Handeln der – in unserem
Beispiel etwa 60,5 Millionen – individuellen Wahlberechtigten in ein
Parlament. Von „Oktopus“ also keine Rede.
Emergenz und Transformation 23

Von da aus entsteht ein neues interessantes Erklärungs- bzw. Transformationsproblem, dem
man jetzt nachgehen könnte: Welche Regierung wird nun gebildet? Im Fall der absoluten
Mehrheit und einer geschlossenen Partei bzw. Fraktion ist dieser Schritt relativ einfach: Jetzt
wird der Kanzlerkandidat mit hoher Wahrscheinlichkeit wirklich Kanzler, und keiner zuckt
mehr mit irgendwelchen Augenbrauen. Bei unklaren Mehrheiten und internen Spaltungen der
Parteien und Fraktionen ist die Sache natürlich schwieriger. Aber um auch diesen, manchmal
sehr verzwickten, Schritt von den „individuellen“ Parlamentariern zu der einen Regierung
und zu dem einen Bundeskanzler als emergenten Ereignissen auf der Grundlage einer Viel-
zahl individueller Effekte nach der Wahl des Wahlvolkes zu tun, gibt es (inzwischen) eine
ganze Reihe von theoretischen Instrumenten, die hier als Transformationsregeln dienen kön-
nen, Verhandlungs- und Koalitionstheorien zum Beispiel. Und das Ergebnis ist in jedem Fall:
die Erklärung der Ordnung eines großen Kollektivs als Ergebnis des Agierens vieler indivi-
dueller Akteure. Das auch noch einmal zu Luhmanns Vorstellung vom vielarmigen Oktopus
des Methodologischen Individualismus!

Damit sind wir bei der zweiten Art von komplexen Transformationsregeln
angelangt – bei den formalen Modellen. Das sind, ebenfalls: mehr oder
weniger, komplizierte Algorithmen, über die sich die Aggregation
individueller Akte zu typischen kollektiven Phänomenen ableiten lassen –
unter jeweils anzu-nehmenden, oft stark idealisierenden, Bedingungen.11 Ein
Beispiel dafür sind die Schwellenwertmodelle aus Abschnitt 10.4 in Band 1,
„Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“: Je nach
empirischer Verteilung der individuellen Eigenschaften der Akteure ergibt
sich ein typisch anderer Prozeß der „Interaktion“ der individuellen Akteure
mit einem typischen kollektiven Ergebnis. Zwei Arten solcher formaler
Modelle können unterschieden werden: Situationsmodelle und
Prozeßmodelle.
Zu den Situationsmodellen zählen insbesondere die Modelle der sog. Spieltheorie. Darin wer-
den typische Konstellationen sozialer Situationen modelliert und – unter der Annahme des
„rationalen“ Handelns der Akteure – typische aggregierte, oftmals gegen die Interessen der
Akteure gerichtete, Ergebnisse abgeleitet – die sog. Lösungen der Spiele, insbesondere im
Aufspüren von sog. Gleichgewichten. Die Spieltheorie kann insofern als eine Ansammlung
von formalen Transformationsregeln (und von Brückenhypothesen!) für bestimmte Typen so-
zialer Situationen angesehen werden. In Band 3 über „Soziales Handeln“ dieser „Speziellen
Grundlagen“ werden wir darauf noch sehr ausführlich eingehen. Die o.a. Schwellenwertmo-
delle sind, als Spezialfall sog. Diffusionsmodelle, ein Beispiel für die Prozeßmodelle. Darin
werden typische Sequenzen von aneinander anschließenden Situationen, individuellen Effek-
ten und aggregierten Folgen modelliert, die dann wieder, zusammen mit bestimmten (Rand-)
Bedingungen, der Ausgangspunkt für die nächste Sequenz sind – bis zu einem bestimmten
Ergebnis, das u.U. auch wieder ein Gleichgewicht sein kann, oder aber auch eine Art von Os-
zillation, eine Amplifikation, ein Verfall – oder eine Geschichte der „Evolution“ des Prozes-
ses ohne ersichtliches Ende (vgl. dazu auch noch Abschnitt 7.3 und 7.4 in diesem Band, so-

11
Vgl. für eine aktuelle Übersicht über die wichtigsten Typen formaler Modelle für die So-
ziologie: Volker Müller-Benedict, Selbstorganisation in sozialen Systemen. Erkennung,
Modelle und Beispiele nichtlinearer sozialer Dynamik, Opladen 2000.
24 Die Konstruktion der Gesellschaft

wie vor allem Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“).

Auch bei den formalen Modellen gibt es wieder die typische Kombination von
(formaler) Transformationsregel in Form eines Algorithmus, etwa dem des
logistischen Wachstums bei der Diffusion einer Neuerung, den zur
Anwendung nötigen idealisierenden (Rand-)Bedingungen und den zuvor
wieder jeweils „situationslogisch“ erklärten individuellen Effekten. Gerade in
den formalen Modellen zeigt sich die Stärke des Vorgehens: Jetzt werden oft
ganz unglaubliche „Emergenzen“ erkenn- und erklärbar, wie die, daß unter
speziellen Umständen in der Tat ein Schmetterlingsschlag ausreicht, um einen
massiven kollektiven Effekt auszulösen, während bei äußerlich scheinbar
gleichen Umständen auch größte Anstrengungen nichts an Änderungen zu
bewirken scheinen. Die formalen Modelle, zu denen auch solche der sog.
Chaos- und Katastrophentheorie gehören, sind Instrumente zur kausalen
Erklärung von ansonsten ganz unerklärlich, nicht-kausal und „nicht-linear“
erscheinenden kollektiven Effekten12. Um sie formal zu verstehen, muß man
einiges an Mathematik beherrschen. Und um sie verständig auf ein
inhaltliches Problem anzuwenden, muß man einiges von der Soziologie und
den realen Gesellschaften wissen. Nur selten paaren sich die drei Begabungen
und Kompetenzen.

Die Flexibilität von Transformationsregeln und


Transformationsbedingungen: Das Beispiel der Ehescheidung

Die Transformationsregeln und die Transformationsbedingungen sind keine


fixen Angelegenheiten, sondern fast immer Mischungen aus konventionellen
Festlegungen, formalen Modellen und „gesellschaftlich“ bestimmten Regeln
der sozialen Überführung individueller Zustände in einen kollektiven Sach-
verhalt. Deshalb sind sie, obwohl es sich formal um analytische Regeln
handelt, nicht nur von gewissen, immer auch anders möglichen
Entscheidungen und der Verfügbarkeit und Weiterentwicklung der formalen
Modelle, sondern auch sehr von inhaltlichen und historischen Entwicklungen
abhängig, wie das schon das Beispiel über die Logik der Aggregation von
Wahlen in Regierungen und deren Abhängigkeit von der Stabilität des
jeweiligen Wahlsystems gezeigt hat. Manchmal ändert sich sogar die
„transformierende“ Definition des kollektiven Ereignisses als Folge

12
Siehe dazu auch u.a. Renate Mayntz und Birgitta Nedelmann, Eigendynamische soziale
Prozesse. Anmerkungen zu einem analytischen Paradigma, in: Kölner Zeitschrift für So-
ziologie und Sozialpsychologie, 39, 1987, S. 648-668.
Emergenz und Transformation 25

gesellschaftlicher Vorgänge. Das hat sich etwa bei der Erklärung von
Ehescheidungen gezeigt. Eine Scheidung ist ja zunächst nur ein juristischer
Akt, und man könnte das „emergente“ Ergebnis „Scheidung“ als den
vollzogenen juristischen Akt (partiell) definieren. Welche individuellen
Effekte aber führen über gewisse Transformationsbedingungen zu dem
juristischen Akt, der die Auflösung der Beziehung besiegelt?
Der letzte Schritt ist sicher der Spruch des Richters. Jeder Ehescheidung geht aber, so wollen
wir voraussetzen, der psychologische Tod der Ehe voraus: Mindestens einer der Partner sieht
die Ehe in ihrer inhaltlichen Definition als nicht mehr existent an und möchte sie beenden.
Zuvor muß viel geschehen sein, das auch vorher erklärt werden muß: die Feststellung von
Unverträglichkeiten, der anschließende Verfall der Ehequalität, darüber dann die Zunahme
von Unzufriedenheiten, die Suche nach einem neuen Partner und der Wechsel in der Orientie-
rung, daß diese Ehe noch eine Zukunft habe. Das alles sind natürlich Dinge, die die Akteure
in Abhängigkeit von ihren jeweiligen Situationen durch ihr Handeln und ihre Interaktionen
tragen, wenngleich oft genug in Form von unintendierten Eigendynamiken, Fallen, Verflech-
tungen und Pfadabhängigkeiten.

Auf dem Weg vom psychischen Tod der Ehe zur letztlichen juristischen
Scheidung gibt es nun aber unterschiedlich festgelegte Wege, die die Akteure
selbst nicht alleine in der Hand haben, sondern von institutionellen Regeln
bestimmt sind. Vor der Reform des Scheidungsrechtes im Jahre 1977 war es
beispielsweise notwendig, daß beide Partner gleichzeitig die Scheidung
wollten, danach reichte die Erklärung nur eines Partners und, bei
Widerstreben, eine gewisse Wartefrist. Danach war kein Widerspruch mehr
möglich, und die Ehe wurde geschieden, wenn nur einer der Partner dazu den
Antrag stellte. Es gibt also, sozusagen, zwei verschiedene
Transformationsbedingungen für eine Scheidung, eine für die Zeit vor und
eine für die Zeit nach 1977.
Die Transformationsbedingung für die Zeit vor 1977 sah so ähnlich aus wie unsere Transfor-
mationsbedingung für die Entstehung einer Freundschaft oben: „Wenn die verheirateten Ak-
teure A und B erklären, die Ehe scheiden lassen zu wollen, dann entsteht das kollektive Er-
eignis einer Ehescheidung“. Für die Zeit nach 1977 ist die Sache etwas anders: „Wenn die
verheirateten Akteure A und/oder B erklären, die Ehe scheiden zu lassen, dann entsteht das
kollektive Ereignis einer Ehescheidung“.

Auch hier sind natürlich wieder weitere Randbedingungen der Transformation


zu beachten, wie etwa die, daß die Wartefristen wirklich eingehalten wurden
und daß es keine sonstigen Hindernisse für eine formale Scheidung gibt, wie
etwa eine lange Verzögerung der Berechnung des Versorgungsausgleichs.
Aber die Angelegenheit hat sich schon deutlich geändert. Aufgrund einer be-
stimmten historischen Entwicklung mußte die Transformationsbedingung für
das kollektive Ereignis der Ehescheidung geändert werden.
26 Die Konstruktion der Gesellschaft

Mehrfache Transformationen

Scheidungen sind, wie die Freundschaftswahlen, theoretisch gesehen natürlich


„Makro“-Phänomene, weil es zu ihrer Erklärung einer Logik der Aggregation
und gewisser Transformationsregeln zwingend bedarf, auch wenn es im
Einzelfall nur um zwei Personen geht. In den soziologischen Untersuchungen
interessieren dann aber meist nur so etwas wie Scheidungsraten oder gewisse
Kovariationen, wie etwa der Einfluß der Kinder oder der Zugehörigkeit zu
einer gewissen Heiratskohorte auf das Scheidungsrisiko. Raten und
Kovariationen sind ihrerseits natürlich auch wieder Aggregationen. Sie
werden über „einfache“ statistische Aggregationen der jeweiligen
„individuellen“ Schei-dungen berechnet. Für die Erklärung von bestimmten
Scheidungsraten oder Kovariationen bedarf es also einer doppelten
Transformation: Von den individuellen Effekten, besorgt durch die
Handlungen der Akteure, die das Paar ausmach(t)en, zur Scheidung als erstem
emergentem Phänomen des Zusammenbruchs einer Beziehung; und von der
„individuellen“ Scheidung zum zweiten emergenten Sachverhalt, zur
Scheidungsrate bzw. zur Kovariation mit der Scheidung als abhängiger
Variable. Zwar muß man nicht immer alle diese Schritte im Einzelnen neu
durchdeklinieren. Aber es ist manchmal ganz hilfreich, sich auch etwas
genauer anzusehen, wie voraussetzungsvoll und von wievielen Dingen
abhängig die Aggregation selbst so einer schlichten Größe wie der
Scheidungsrate ist.

Die Kombination der Transformationsregeln

Selten gibt es ein soziologisches Erklärungsproblem, das sich schon mit einer
Sorte von Transformationsregeln lösen ließe. Das Beispiel mit der
Regierungsbildung und mit der Ableitung der Scheidungsraten hat das schon
gezeigt. Deshalb ist es ratsam, sich vorsorglich mit allen denkbaren Formen
und Varianten von Transformationsregeln zu wappnen oder sie sich
anzueignen, wenn es dann soweit ist. Die Kunst der erklärenden Modellierung
besteht dann vor allem darin, das jeweilige inhaltliche Problem so zu
zerlegen, daß an den verschiedenen kritischen Stellen des
Erklärungsargumentes jeweils das „passende“ Modell der Transformation
steht. Und dazu muß man diese Modelle möglichst vorher schon einmal
kennengelernt haben.
Im Beispiel der Bundestagswahl im September 1998 kämen dafür also in Frage: die Berech-
nung der Proportionen aus den auf die Parteien entfallenden Stimmen, die Anwendung der
Emergenz und Transformation 27

Bestimmungen des Wahlsystems, insbesondere die der 5%-Klausel, auf dieses Ergebnis, ein
Verhandlungsmodell und eine Koalitionstheorie, etwa, für die Erklärung der Entstehung der
rot-grünen Koalition und der schließlichen Wahl von Bundeskanzler Schröder als – nicht ü-
berall intendierter – Effekt jener historischen Situation auf die einzelnen Wähler, die man
grob wohl mit „Spätphase der Ära Kohl“ umschreiben könnte. In ähnlicher Weise ließen sich
dann auch schon für mehr generalisierende inhaltliche Konstellationen und Sequenzen typi-
sche Anordnungen von Transformationsmodellen benennen, etwa für den typischen Verlauf
eines ethnischen Konfliktes (vgl. dazu auch noch Kapitel 8 unten in diesem Band): Am Be-
ginn steht die strategische Situation eines sog. Konstantsummenspiels zwischen zwei Grup-
pen, etwa ein Sprachenstreit. Dann „muß“ das Problem des kollektiven Handelns für diese
Gruppen gelöst werden, wobei die nach der Verteilung von Schwellenwerten zu erwartende
Mobilisierung der nächste Schritt wäre. Ist der Konflikt einmal angelaufen, läßt sich mit Hilfe
des Modells des sog. Gefangenendilemmas leicht zeigen, warum er „von alleine“ nicht aufhö-
ren kann – bis zu dem Zeitpunkt, zu dem sich durch den Konflikt die Ressourcen in einem
solchen Maß erschöpfen, daß sich das Gefangenendilemma in ein sogenanntes Chicken-
Game verwandelt, bei dem jetzt wenigstens so etwas möglich ist, wie auch einseitige
Angebote für einen Waffenstillstand.

Einen Teil der in den beiden Beispielen verwendeten Konzepte werden Sie
noch nicht verstehen können, wie etwa den Begriff des Chicken Game. Es
sind Hinweise auf inzwischen gut etablierte Modelle von
Transformationsregeln für typische Konstellationen von Situationen. Die noch
folgenden Bände dieser „Speziellen Grundlagen“ sind, neben vielem anderen,
auch Sammlungen von solchen Transformationsmodellen für typische
Erklärungsprobleme. Sie kann man, sozusagen, als fertige Module aus der
Werkzeugkiste des soziologischen Modellbaus herausnehmen und an der
inhaltlich jeweils passenden Stelle einsetzen. Dazu muß man sie freilich erst
einmal in ihrem Sinn und in ihrer Logik verstanden haben. Hat man sie aber
so verstanden, dann bereitet es oft keine besondere Mühe mehr, in den bunten
Daten der realen Welt auch die meist immer etwas verborgenen
Grundstrukturen der Modelle (wieder) zu erkennen. Und jetzt erst kann die
soziologische Phantasie so richtig ihre Flügel breiten und zum – analytisch
gesteuerten und daher besonders eleganten – Fluge ansetzen.

Strukturmodelle

Für bestimmte Konstellationen von auch schon inhaltlich etwas mehr


gefüllten Situationen gibt es dann bereits so etwas wie komplette
Musterlösungen in Form typischer Kombinationen von
Transformationsregeln. Solche Musterlösungen für typische inhaltliche
Erklärungsprobleme werden auch als Strukturmodelle bezeichnet (vgl. auch
dazu noch Kapitel 8 in diesem Band).
28 Die Konstruktion der Gesellschaft

Eines der besten Beispiele für ein solches Strukturmodell wäre dasjenige, das Albert O.
Hirschman für den Zusammenhang zwischen Unzufriedenheit, Protest und Loyalität entwi-
ckelt hat.13 Der Ausgangspunkt ist eine Situation, in der ein Akteur feststellen muß, daß sich
die Leistungen der sozialen Umgebung, in der er sich befindet, verschlechtern, etwa daß die
Qualität des Autos, das er bisher immer von einer bestimmten Marke gekauft hatte, plötzlich
zu wünschen übrig läßt. Dabei wird angenommen, daß der Akteur von diesen Leistungen bis-
her viel hatte und daher in gewisser Weise daran hängt. Das ist die Loyalität des Akteurs, im
Beispiel also die Markentreue. Unter dieser Bedingung wird der Akteur zunächst über Protes-
te versuchen, die soziale Umgebung wieder zur alten Leistung zurückzubringen. Und erst
wenn das nach einigen Versuchen fehlschlägt, wird er sich eine andere Umgebung, einen „e-
xit“ also, suchen. Und das heißt hier: Er wechselt die Automarke. In allen diesen Fällen tritt
nach Hirschman dann auch das ein: Haben die Proteste schließlich keinen Erfolg, dann
kommt es zum exit. Es wird dann schließlich doch, wie zuvor beim Auto, eine neue Frau
bzw. ein neuer Mann gesucht, das Seminar geschwänzt oder schlicht ausgewandert. Und die
Folge: Der Qualitätsverfall füttert die Unzufriedenheit und darüber den Protest. Abwanderung
und Widerspruch stehen jedoch in einem einander begrenzenden Verhältnis: Wenn es leichte
Möglichkeiten zur Abwanderung gibt, dann wird der Protest geringer und die Produktqualität
kann auch dauerhaft absinken. Abwanderung unterminiert also nach dem Strukturmodell von
Exit, Voice und Loyalty die Wahrscheinlichkeit für individuelle oder kollektive Bemühungen
der „Reform“. Das gilt für Aktienbesitzer, für Ehepaare und für die Klasse der Arbeiter:
Wenn andere Aktien leicht erwerbbar, andere Partner leicht verfügbar oder die Möglichkeiten
unbegrenzt sind (oder wenigstens so erscheinen), dann schwindet der Protest – und das jewei-
lige System bricht eventuell wegen Auszehrung zusammen.

Bei Hirschman wird das hier nur verbal beschriebene Modell in seinen
wichtigsten Einzelheiten ausführlich auch formal begründet – als eine
analytisch ableitbare Folge von Effekten unter bestimmten, aneinander
anschließenden Bedingungen. Es ist, sozusagen, eine nunmehr als ein
Transformationsmodell fungierende Kombination verschiedener Teile
einzelner Situationstypen und darauf passender Transformationsregeln,
zugespitzt auf einen schon stark inhaltlich bestimmten Fall: Die Reaktion von
Akteuren auf Leistungsabfall bei Loyalität. Dieses Strukturmodell kann man
nun auf inhaltlich ähnliche Sachverhalte übertragen und als fertiges
Erklärungsmodul anwenden, in denen es zu Leistungsabfall bei Loyalität
kommt.
Eine solche „analoge“ Übertragung des Strukturmodells wäre etwa die auf eheliche Konflikte
als Reaktion auf den Verfall des sog. Ehegewinns unter sich einander im Grunde immer noch
liebenden Gatten. Auch wäre eine Anwendung etwa auf Beschwerden von Studenten über die
schlechte Vorbereitung des Dozenten in einem Seminar denkbar und sinnvoll, das sie an sich
ganz interessant und wichtig finden. Und sicher wäre das Modell auch auf den Protest gegen
die herrschende Regierung anwendbar, gerade dann, wenn die Bürger ihr Land lieben, aber
mit ansehen müssen, wie es heruntergewirtschaftet wird.

13
Albert O. Hirschman, Exit, Voice, and Loyalty. Responses to Decline in Firms, Organiza-
tions, and States, Cambridge, Mass., 1970; deutsch: Abwanderung und Widerspruch. Re-
aktionen auf Leistungsabfall bei Unternehmungen, Organisationen und Staaten, Tübingen
1974.
Emergenz und Transformation 29

Freilich müßte dabei immer wieder sehr sorgfältig geprüft werden, ob die
(Rand-)Bedingungen für die Anwendung auch gegeben sind. Aber das ist ja
für alle Transformationen und ihre immer auch vereinfachenden Annahmen
erforderlich. Was wäre beispielsweise im Falle der sog. Protestwähler? Wäre
auch hierauf das Strukturmodell von Hirschman anwendbar, da diese Wähler
ja eine andere Partei wählen, um der Partei, an der sie hängen, einen
Denkzettel zu verpassen? Oder wie war es in der DDR, als ein exit so gut wie
unmöglich und auch dem Protest nur enge Grenzen gezogen waren und es
trotzdem zum Schluß zu einer für das Regime desaströsen Interaktion von
Abwanderung und Widerspruch kam?14
Strukturmodelle sind außerordentlich hilfreiche Instrumente, weil jetzt vieles
von ansonsten mühseliger Modellierungsarbeit abgekürzt werden kann. Es ist
wohl das, was Robert K. Merton einmal als „Theorien mittlerer Reichweite“
bezeichnet hat.15 Leider gibt es (noch) nicht viele davon in der Soziologie, und
wenn die Soziologie eine spezielle Aufgabe hat, die sie – und nur sie – erfüllen
kann, dann wäre es diese: die Formulierung und Weiterentwicklung von solchen
Strukturmodellen oder „Theorien mittlerer Reichweite“ für die grundlegenden
sozialen Prozesse – soziale Ordnung, soziale Differenzierung, soziale Ungleich-
heit und sozialer Wandel. Immerhin sind die Anfänge dazu durchaus schon
gemacht.

14
Vgl. dazu die Modifikation des Exit-Voice-Modells durch Hirschman selbst angesichts
der Besonderheiten des Untergangs der DDR. Hier spielten, wenigstens in der letzten
Phase des Bestands der DDR, der Protest gegen das Regime und die Abwanderung in der
Erzeugung des Zusammenbruchs ineinander – und wechselten eben nicht ab, wie im ur-
sprünglichen Modell. Vgl. Albert O. Hirschman, Abwanderung, Widerspruch und das
Schicksal der Deutschen Demokratischen Republik. Ein Essay zur konzeptuellen Ge-
schichte, in: Leviathan, 20, 1992, S. 332ff.
15
Robert K. Merton, Social Theory and Social Structure, 11. Aufl., New York und London
1967, S. 9.
Kapitel 2

Akteure und soziale Systeme

Die Grundlage der alltäglichen Reproduktion der Menschen sind die Produk-
tion von Ressourcen und deren Verteilung. Produktion und Verteilung sind
die Basis der Nutzenproduktion, von der letztlich alles abhängt. Die Produkti-
on des Nutzens ist nun aber keine Angelegenheit, die in Einsamkeit und Frei-
heit zu bewältigen wäre, sondern muß „organisiert“ werden. Und um die Or-
ganisation der Nutzenproduktion dreht sich daher alles, was in der Gesell-
schaft geschieht: Welche Institutionen, sozialen Gebilde und Strukturen ent-
stehen, wie sie sich intern untergliedern, welche Unterschiede zwischen den
Menschen bestehen, welche Werte gelten und welche Überzeugungen das
Handeln leiten und ob es Bestrebungen gibt, die gesellschaftlichen Verhältnis-
se zu ändern. Die gesellschaftliche Nutzenproduktion geschieht an zahllosen
Plätzen und über sehr unterschiedliche Arten der Organisation: in Familien
und Verwandtschaften, in Haushalten, Betrieben und Behörden, auf Wochen-
märkten oder bei Kaffeefahrten, in Kegelklubs oder in den vielen „Szenen“
der Jugendkultur, in dem „Milieu“ der Neuen Mitte oder in dem der grünen
Hedonisten, in Kindergärten, Schulen und Universitäten, in Gerichtsverhand-
lungen, Gefängnissen, psychiatrischen Anstalten und Polizeiwachen, in Dör-
fern, Städten und Ballungsräumen, in Clans, ethnischen Gruppen, Regional-
bewegungen oder Nationalstaaten, beispielsweise.

2.1 Soziale Systeme

Die Träger und die „Motoren“ des gesellschaftlichen Geschehens sind natür-
lich nur die menschlichen Akteure und deren Handeln. Wer sonst? Was sonst?
Das zentrale Motiv dabei ist die möglichst zuträgliche Reproduktion des eige-
nen Lebens – wenngleich meist nicht unter den Akteuren freigestellten Um-
ständen und mit Folgen, die sie oft nicht wünschen. Bei diesem Handeln las-
sen sich zwei grundlegende Formen unterscheiden: das nicht-soziale und das
32 Die Konstruktion der Gesellschaft

soziale Handeln (vgl. dazu ausführlich noch Band 3, „Soziales Handeln“, die-
ser „Speziellen Grundlagen“).
Das nicht-soziale Handeln ist ein Tun, bei dem die Akteure nur auf eine
ansonsten nicht weiter bedachte Umgebung achten, die als gegeben ange-
nommen wird und von der selbst kein Agieren mit Bezug auf die Absichten
des Akteurs erwartet wird. Es ist das Handeln in den sog. parametrischen Si-
tuationen. Das ist beim sozialen Handeln typischerweise anders. Hier wird –
im Prinzip – in Rechnung gestellt, daß andere Akteure auf das eigene Handeln
reagieren. Das soziale Handeln findet, wie es heißt, unter doppelter Kontin-
genz statt – der gegenseitigen Abhängigkeit der Ergebnisse des Tuns von den
Absichten, Überlegungen und dem Handeln des jeweils anderen. Es ist ein
Handeln in sozialen Situationen. Das soziale Handeln kommt in drei typi-
schen Formen vor: als strategisches Handeln, bei dem nur die Interessen der
Akteure zählen, als Interaktion, dem sozialen Handeln, bei dem die Akteure
auch gedanklich, symbolisch und kommunikativ aufeinander Bezug nehmen,
und als soziale Beziehung, als Orientierung der Akteure an gewissen „Einstel-
lungen“, in der sie gemeinsam die Situation sehen.
Die meisten interessanten Ressourcen lassen sich nun nur über irgendeine
Form der Kooperation herstellen. Oft stellt sich dann aber heraus, daß nicht
jeder das kontrolliert, was ihn besonders interessiert. Die Nutzenproduktion
kann daher oft noch durch eine geschickte Transaktion, vor allem durch den
Tausch der Ressourcen, durch Verhandlungen, durch das Schließen von
Kompromissen, Vereinbarungen und Verträgen, aber auch durch eine über-
greifende „Organisation“ der Verteilung, durch staatliche Verordnungen und
Transfers, natürlich auch durch Mildtätigkeit beträchtlich gesteigert werden.
Kooperation und Transaktion sind die für die Nutzenerzeugung und damit für
die Reproduktion wichtigsten Formen des (sozialen) Handelns.

Handeln und Kommunikation

Kooperation, Produktion, Transaktion und Verteilung, Nutzenerzeugung und


Reproduktion erfolgen in – mehr oder weniger – ununterbrochenen Ketten der
Beeinflussung und des Interagierens von Akteuren und der dadurch bewirkten
Veränderung der Randbedingungen in den jeweiligen (sozialen) Situationen.
Sie stehen dabei jeweils auch unter einer ganz bestimmten Codierung, einem
Oberziel also, das die Orientierung des Handelns und den jeweils spezifischen
„sozialen Sinn“ des Tuns bestimmt, etwa das eines Polizisten, der durch Win-
ken den Verkehr regelt, das eines Kassierers in einer Bank, der dem Kunden
das Geld vorzählt, oder das einer Prostituierten, die den Freier mit „na, mein
Akteure und soziale Systeme 33

Schatz“ anspricht, der natürlich genau weiß, was damit gemeint ist. Das Han-
deln im „Rahmen“ dieser Codierung fungiert, wie schon die drei Beispiele
zeigen, auch wenn es nicht ausdrücklich so beabsichtigt ist, immer auch als
Signal und Symbol für den Inhalt des Codes, für die soziale „Richtigkeit“ der
jeweiligen Orientierung und für die Angemessenheit des Handelns, des
aktuellen wie des darauf eventuell wieder folgenden. Das „materielle“
Handeln ist in diesem Sinne also immer gleichzeitig auch symbolische
Kommunikation. Es verstärkt über seinen so stets mitlaufenden
kommunikativen Gehalt damit immer auch den „Sinn“ des jeweiligen Tuns
und die Strukturen der einmal angelaufen Sequenzen und eingespielten
Routinen und Regeln.

Was ist ein „soziales System“?

Materielles Handeln und symbolisch gesteuerte Kommunikation greifen also


bei der Reproduktion des alltäglichen Lebens immer ineinander über und be-
stärken sich gegenseitig – wenn die befriedigende Reproduktion gelingt, sonst
keine bessere Alternative verfügbar ist oder es irgendein anderes, durchaus
auch unbefriedigendes Gleichgewicht gibt, in das sich das „System“ verfan-
gen hat. Diese Ketten des materiell und symbolisch wirksamen und aneinan-
der anschließenden (sozialen) Handelns nehmen mit ihrer jeweils typischen
materiellen Leistung und ihrem jeweils typischen Sinn dann oft eine ganz be-
stimmte Gestalt an und reproduzieren sich darin – als Familien, Haushalte,
Betriebe, Behörden, Wochenmärkte, „events“, Kaffeefahrten, Kegelklubs,
Szenen und Milieus, Dörfer und Städte, Regionen und Nationen, zum Bei-
spiel. Solche immer wieder neu reproduzierten Prozeßketten des materiell
voneinander abhängigen, aufeinander bezogenen, aneinander anschließenden
und unter einem bestimmen sozialen „Sinn“ definierten, symbolisch markier-
ten und damit auch als Kommunikation wirksamen Handelns von Akteuren
werden allgemein als soziale Systeme bezeichnet. Und wenn die menschlichen
Akteure die Träger und die Motoren der Nutzenproduktion sind, dann sind die
sozialen Systeme der gesellschaftliche „Ort“, an dem die Nutzenproduktion
stattfindet.

Die „Unabhängigkeit“ der sozialen Systeme von den Akteuren

Soziale Systeme sind somit Prozesse, deren Ergebnisse sich immer wieder
selbst „füttern“, stabilisieren und verstärken – materiell wie symbolisch bzw.
kommunikativ. Sie werden, wenn es sie denn gibt, von individuellen Akteuren
34 Die Konstruktion der Gesellschaft

und deren Handlungen getragen, aber nicht von ganz bestimmten Individuen.
Es müssen sich immer nur jeweils irgendwelche Akteure an der „Konstituti-
on“ der jeweiligen sozialen Systeme beteiligen, „damit“ sie „bestehen“ – wie
etwa bei der Techno-Szene oder dem Hedonisten-Milieu, die es auch dann als
stabiles soziales System gäbe, wenn die darin involvierten Akteure jeweils nur
einmal dabei wären (vgl. dazu auch schon Band 1, „Situationslogik und Han-
deln“, sowie noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundla-
gen“). Insofern sind die menschlichen Akteure und die sozialen Systeme, wie
das Niklas Luhmann zur Verwunderung vieler immer wieder betont hat, in ei-
ner gewissen Weise in der Tat voneinander unabhängig. Und sie bilden, wie-
der ganz im Sinne der soziologischen Systemtheorie, jeweils auch eine ganz
bestimmte „Umwelt“ füreinander, die sie einerseits begrenzt, manchmal sogar
„irritiert“, die sie andererseits aber auch benötigen. Die sozialen Systeme
„brauchen“ die Akteure und die Akteure „brauchen“ die sozialen Systeme –
wenngleich nicht jedes alle und nicht alle jedes zur gleichen Zeit und im glei-
chen Maße.

Psychische, soziale und kulturelle Systeme

Die sozialen Systeme „bestehen“ also in der Tat nicht irgendwie für sich. An
ihrem Prozessieren sind immer – irgendwelche, keine bestimmten! – lebendi-
gen menschlichen Akteure beteiligt. Das geschieht aber immer nur in selekti-
ven Ausschnitten, weil die Akteure bei der jeweiligen Nutzenproduktion im-
mer nur in einem höchst selektiven Aspekt ihrer Identität, Befindlichkeit und
Kompetenz wichtig werden: Als Vater, Mutter oder Kind in der Familie, als
Kegelbruder oder -schwester im Kegelclub, als Drücker oder potentieller
Heizdeckenkäufer bei der Kaffeefahrt oder als Wähler oder Kandidat bei einer
Bundestagswahl, beispielsweise. Man spricht, um diese Selektivität auszudrü-
cken, deshalb auch nicht von Akteuren als den „Trägern“ der sozialen Syste-
me, sondern von psychischen Systemen: Collagen von Mustern der Orientie-
rung und des Agierens in typischen Situationen. Dafür war in Band 1, „Situa-
tionslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ der Begriff der I-
dentität eingeführt worden.
Lebendige Menschen sind also auch „Systeme“: Sie „bestehen“ nur als Prozeßgleichgewichte
von biologischen und psycho-sozialen Abläufen. Vier Aspekte dieser Systemhaftigkeit müs-
sen unterschieden werden, wenn von einem „Akteur“ als individuellem menschlichen Wesen
die Rede ist. Das ist erstens der Aspekt des biologischen Organismus, der Körper, den jeder
Akteur „benötigt“ und um dessen physisches und psycho-soziales Überleben sich letztlich je-
de Nutzenproduktion dreht. Der Aspekt des psychischen Systems ist der zweite Gesichts-
punkt, nämlich der, daß die Akteure immer nur in Ausschnitten ihrer Identität am Prozessie-
Akteure und soziale Systeme 35

ren der verschiedenen sozialen Systeme beteiligt sind. Akteure „bestehen“ als psychische
Systeme aus einer im Gedächtnis gespeicherten Ansammlung von mentalen Modellen für die
Orientierung und das Handeln in typischen Situationen, die über Symbole und Mustererken-
nung die Verbindung zwischen der Orientierung der Akteure und den jeweiligen sozialen Si-
tuationen herstellen (siehe dazu auch gleich noch die sog. kulturellen Modelle). Akteure sind
drittens Personen in dem Sinne, daß sie „sozialisiert“ sind und mit einem – mehr oder weni-
ger – abgestimmten und integrierten System von Wissen, Werten und Orientierungen, mit ei-
ner personalen „Verfassung“, vielleicht sogar mit einer veritablen Ich-Identität, ausgestattet
sind. Und zu Subjekten werden die Akteure schließlich dadurch, daß sie Absichten entwi-
ckeln und danach reflektiert und intentional handeln, und daß ihnen das auch als von ihnen
verantwortbares Handeln zugeschrieben wird.

Woher aber wissen die jeweiligen Akteure bzw. psychischen Systeme, wel-
cher Ausschnitt ihrer Identität gerade „relevant“ ist und um welche Art von
sozialem System es gerade geht? Die Lösung des Problems ist für die Nutzen-
produktion wichtig, fällt den Akteuren meist aber auch nicht schwer. Wichtig
ist die Lösung der Frage, weil die Nutzenproduktion gerade auf der Selektivi-
tät der Orientierungen und des Handelns, der Festlegung der sozialen Produk-
tionsfunktionen und damit der Codierung des jeweiligen sozialen Sinns in
dem jeweiligen sozialen System also, beruht. Und nicht schwer zu finden ist
sie, weil die sozialen Systeme allesamt in einer typischen Weise markiert und
mit einem, oft sogar deutlich, symbolisierten kulturellen Bezugsrahmen ver-
sehen sind. Den haben die Akteure als psychische Systeme mit den mentalen
Modellen für typische Situationen in ihrem Gedächtnis gespeichert, den sie
mit anderen Akteuren eines bestimmten Kulturkreises teilen und der ihnen
über die Identifikation des Typs des jeweiligen sozialen Systems die „richti-
ge“ Definition der Situation und das darin jeweils angemessene Handeln er-
laubt, oft sogar nachhaltig aufdrängt, und über den sie, anders gesagt, mitein-
ander im Code des jeweiligen sozialen Systems kommunizieren.
Die im Gedächtnis der Akteure gespeicherten mentalen Modelle der sozial
geteilten und mit Symbolen markierten kulturellen Bezugsrahmen seien als
kulturelle Systeme bezeichnet. Es sind die Frames der Orientierung und die
Skripte des Handelns, die Codes und die Programme der Nutzenproduktion,
die für die jeweiligen sozialen Systeme gelten und über die der jeweilige sozi-
ale Sinn definiert ist (vgl. dazu bereits Band 1, „Situationslogik und Handeln“,
sowie Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Die kultu-
rellen Systeme vermitteln – sozusagen – zwischen den psychischen und den
sozialen Systemen und helfen ganz beträchtlich dabei, daß die Akteure verläß-
lich den jeweils geltenden sozialen Sinn korrekt treffen – und deshalb auch re-
lativ unaufwendig den angezielten Nutzen in Kooperation und Transaktion
produzieren können.
36 Die Konstruktion der Gesellschaft

Ko-Evolution und Ko-Konstitution

Die psychischen, kulturellen und sozialen Systeme begrenzen und ermögli-


chen sich gegenseitig in einem fortlaufenden Prozeß der Ko-Konstitution und
der Ko-Evolution. Es ist ein „Kreisprozeß“ der Definition der Situation, der
Selektion des Handelns und der dadurch bewirkten Emergenz einer neuen Si-
tuation, die wiederum eine neue Definition der Situation nachsichzieht ... und
so weiter.
Wenn man nur etwas genauer hinsieht, wird leicht festzustellen sein, daß nahezu alles, was
im sozialen Alltag geschieht, in der Tat so, als Ko-Konstitution und Ko-Evolution von psy-
chischen, kulturellen und sozialen Systemen abläuft, beispielsweise ein Weihnachtskonzert
mit kleinem Orchester und Publikum. Das Konzert ist das soziale System, und zwar in seiner
Gesamtheit vom Klingeln, dem Platznehmen der Zuhörer und dem Erscheinen der Künstler,
der Aufführung mit allen ihren kleineren und größeren Pannen, dem Zwischenapplaus, der
Pause mit Sekt und Lachs und dem Austausch kleinerer Bosheiten, der Fortsetzung, dem En-
de, dem Schlußapplaus, eventuell den Zugaben, dem Abebben und Wiederanschwellen, der
Verneigungen, dem Absterben des Applauses und dem Verlassen des Saales. Die Virtuosen,
der Dirigent und die Akteure im Publikum sind die dazu „nötigen“ psychischen Systeme, die
geschriebene und gewußte musikalische Partitur und das ungeschriebene und mit allerlei Lü-
cken versehene und keineswegs von jedermann gewußte soziale Drehbuch eines Konzertbe-
suchs das „erforderliche“ kulturelle System. Alles baut sich gegenseitig auf, kontrolliert und
verstärkt sich gegenseitig. Nicht alle psychischen Systeme wußten zum Beispiel vorher ge-
nauer, was zu tun wäre, zum Beispiel diejenigen, die zum ersten Male in einem Konzert wa-
ren. Sie wissen aber für das nächste Mal schon eher, was sie erwartet und was von ihnen er-
wartet wird, beispielsweise, daß man zwischen den Sätzen nicht applaudiert. Es sei denn, es
werden andere Stücke gespielt und es wäre wieder einmal nicht ganz klar, wann geklatscht
werden darf und wann nicht.

Soziale Systeme unterscheiden sich unter anderem auch darin, wie stabil
die Abläufe dabei jeweils sind, also: ob es sich bei dem Prozeß um eine nach
vorne sehr offene Evolution handelt, wie bei einem flüchtigen Gespräch oder
der offenen Fortentwicklung eines Musikstils, oder um einen sehr gleichge-
wichtigen, stark geregelten oder repetitiven Vorgang, wie das etwa ein Wo-
chenmarkt, ein Finanzamt oder ein Stammtisch wären. Der Vorgang der
„Konstruktion“ der Gesellschaft und ihrer Teile als Ko-Konstitution und Ko-
Evolution von psychischen, kulturellen und sozialen Systemen ist ein Thema,
das sich quer durch die „Speziellen Grundlagen“ in allen ihren sechs Bänden
zieht.

Arten sozialer Systeme

Konkrete soziale Systeme, wie eine Familie, ein Betrieb, ein Kindergarten, ei-
ne Stadt, eine Regierung oder eine Gang von Glatzen werden auch als soziale
Akteure und soziale Systeme 37

Gebilde bezeichnet. Sie begrifflich zu ordnen, wäre nahezu aussichtslos. Es


gibt aber einige Versuche, soziale Systeme bzw. soziale Gebilde nach gewis-
sen theoretischen oder nach inhaltlichen Eigenschaften zu unterscheiden.1 Die
Unterscheidung nach theoretischen Gesichtspunkten ergibt sich aus bestimm-
ten Typen von sozialen Situationen, in denen sich die Akteure in ihrem Han-
deln jeweils befinden; die Unterscheidung nach inhaltlichen Kriterien ergibt
sich aus der Definition der sozialen Produktionsfunktionen, denen die Nut-
zenproduktion in dem jeweiligen sozialen System folgt.

Ordnungen und Interdependenzen

Eine der Möglichkeiten zur theoretischen Klassifikation von sozialen Syste-


men ist die Unterscheidung nach der jeweils typischen Art der Ordnung, auf
denen ihre Reproduktion beruht. Hinter jeder Art der Ordnung stehen wieder-
um typische Arten von Interdependenzen (vgl. dazu noch Band 3, „Soziales
Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Interdependenzen sind dabei über
typische Verteilungen von Interesse und Kontrolle an den Ressourcen erzeug-
te gegenseitige Abhängigkeiten der Akteure. Mit ihnen gehen jeweils typische
Arten sozialer Situationen einher, die zusammenfassend auch als strategische
Situationen bezeichnet werden. Das sind Konstellationen, bei denen das Er-
gebnis des Handelns jedes einzelnen Akteurs in typischer Weise davon ab-
hängt, was die jeweils anderen Akteure tun, wie etwa beim Radfahren, bei
dem es nur dann nicht zum Zusammenstoß kommt, wenn beide entweder links
oder rechts aneinander vorbei wollen.

Drei Arten der Interdependenz und der Ordnung

Bei der Bestimmung der Art der Interdependenzen der Akteure kommt es ins-
besondere darauf an, ob die Interessen der Akteure übereinstimmen oder
nicht. Hier gibt es drei typisch unterschiedliche Konstellationen: die Konver-
genz der Interessen, die antagonistische Kooperation und die Divergenz der
Interessen.
Die Ordnungsbildung bei Konvergenz der Interessen ist meist bereits durch
nicht-soziales, ja durch „egoistisches“ Handeln möglich oder dann oft sogar

1
Vgl. zu einem der wenigen systematischen Versuche zu einer solchen begrifflichen Ord-
nung Fritz W. Scharpf, Games Real Actors Play. Actor-Centered Institutionalism in Poli-
cy Research, Boulder, Col., und Oxford 1997, Kapitel 3 und 4.
38 Die Konstruktion der Gesellschaft

erst besonders effizient: Die Akteure tun nur das, was ihnen aus ihrer jeweili-
gen „privaten“ Sicht am vorteilhaftesten erscheint, und das ohne jede beson-
dere Berücksichtigung der Motive der anderen Akteure. Die verschiedenen
Handlungen fügen sich dennoch – meist unintendiert – zu einem gleichge-
wichtigen sozialen System, etwa zu einem Marktgleichgewicht. Einer beson-
deren Regelung bedarf es nicht, allenfalls, wenn es zu Koordinationsproble-
men kommt, wie bei Radfahrern, die aber nur eine Absprache, eine Geste oder
ein Schild brauchen, ob Rechts- oder Linksverkehr gilt, ansonsten aber „indi-
viduell“ darin vollkommen übereinstimmen, keinen Zusammenstoß riskieren
zu wollen, und sich deshalb gerne an jede Absprache halten. Die Ordnung er-
gibt sich bei dieser Art der Interdependenz ganz und gar spontan – schon da-
durch, daß die Akteure alleine ihren privaten Neigungen folgen. Oder aber sie
entsteht, wie es heißt, „self-enforcing“ und ohne jede weitere äußere Zutat,
weil die Beachtung der höchstens nötigen Koordinationsregeln, wie etwa die
der StVO, auch schon im individuellen Interesse der Akteure liegt. Kurz: Es
reichen entweder alleine schon die Interessen oder einfache konventionelle
Regeln aus, damit die Ordnung entsteht und sich erhält.
Im Fall der antagonistischen Kooperation – als Mischung von konvergie-
renden und divergierenden Interessen – gibt es aus den entstehenden Dilem-
ma-Situationen keinen alleine auf den Interessen basierenden Ausweg: Einer-
seits sind die Akteure an der Kooperation interessiert, beispielsweise beim
sportlichen Wettkampf oder in einer Koalition, andererseits aber fürchten sie,
daß sie sich ohne weitere Absicherung den Winkelzügen, Tricks und Wort-
brüchen der anderen ausliefern. Und weil alle so denken, unterbleibt womög-
lich die Kooperation, obwohl alle etwas von einer Einigung hätten und daran
auch interessiert sind. Zur Lösung des Problems werden Bindungen oder Re-
geln erforderlich, die die egoistischen Versuchungen zugunsten eines im
Grunde für alle günstigen Ergebnisses zu überspielen vermögen. Dazu gehö-
ren Absprachen, etwa über das Verhalten in Streitfällen oder über Abstim-
mungsregeln, oder Versprechungen. Ein besonderes Problem dabei ist die
Bindewirkung solcher Absprachen und Versprechungen. Die muß wegen der
„antagonistischen“ Kooperation über die individuellen Interessen und über
einfache „konventionelle“ Einigungen hinausgehen und auf gewissen essen-
tiellen, das heißt: wirksam bindenden, aber nicht erzwungenen Regeln beru-
hen. Diese Bindewirkung kann etwa aus einem besonderen Vertrauen beste-
hen oder der persönlichen Bekanntschaft oder aber auch der Bindewirkung ei-
ner „unbedingten“ Moral, wie etwa bei den Fairneßregeln im Sport. Die Vor-
aussetzung für die Wirksamkeit solcher „essentieller“ Bindungen und Regeln
ist freilich, daß sich die Interessen nicht vollkommen widersprechen, daß auch
der „Unterlegene“ etwas von der Beachtung der getroffenen Festlegungen hat
Akteure und soziale Systeme 39

und daß die Interessen an der Kooperation im Vergleich zum Einigungsauf-


wand und zu den Risiken der Regelverletzung hoch genug sind.
Fallen die Interessen jedoch völlig auseinander, gibt es folglich eine kom-
plette Divergenz der Interessen und damit die strategische Situation eines
Konfliktes, dann wird Herrschaft zur Ordnungsbildung erforderlich: die insti-
tutionell und durch einen Sanktionsapparat abgesicherte Fähigkeit, Absichten
und Entscheidungen über Weisung oder Befehl auch gegen Widerspruch
durchzusetzen. Es ist eine durchaus repressive Form der Ordnungsbildung,
einfach deshalb, weil die Ordnung notwendigerweise auch gegen die Interes-
sen wenigstens einer Gruppe und notfalls mit schierer Gewalt durchgesetzt
werden muß. Dies ist etwa auf dem Kasernenhof beim Konflikt zwischen ein-
fachen Soldaten der Fall, die unter Umständen ihr Leben riskieren, und ihren
Vorgesetzten in den sicheren Kommandostäben, oder bei staatlichen Behör-
den, etwa in der Beziehung von Finanzamt und Steuerzahler. Hier hilft letzt-
lich nur die Gewalt, etwa die der Feldjäger und des Kriegsgerichts oder die
des Gerichtsvollziehers mit den Polizeibeamten im Gefolge.

Märkte, Assoziationen und Organisationen

Vor dem Hintergrund der drei genannten Arten von Interdependenzen und
strategischen Situationen und den zur Ordnungsbildung jeweils „nötigen“
Formen der Vergesellschaftung lassen sich dann drei grundlegende Typen von
sozialen Systemen theoretisch unterscheiden: Märkte, Assoziationen und Or-
ganisationen.1
Ein Markt ist ein System von bilateralen Transaktions- bzw. Tauschbezie-
hungen zwischen Anbietern und Nachfragern, etwa von Schweinekoteletts,
bei dem nur die Interessen der Akteure zählen und bei dem die Ordnung un-
geplant und in der Tat ganz und gar spontan entsteht. Die wichtigsten Parame-
ter, die das System eines Marktes bestimmen, sind das Gesetz der Nachfrage
und das Gesetz des Angebotes: Wenn der Preis für ein Kotelett steigt, dann
sinkt die Nachfrage, und es erhöht sich das Angebot – vice versa. Unter be-
stimmten Bedingungen stellt sich ein Gleichgewicht auf dem Markt ein – ein
Preis, bei dem genau so viel nachgefragt wie angeboten wird. Die Beziehun-
gen der Akteure sind dabei hoch-selektiv und anonym, denn die Grundlage
der Ordnung ist allein die Konvergenz der privaten Interessen.

1
Vgl. zu den verschiedenen Formen sozialer Systeme zwischen den Polen von Markt und
Organisation: Viktor Vanberg, Markt und Organisation. Individualistische Sozialtheorie
und das Problem korporativen Handelns, Tübingen 1982, insbesondere Kapitel 1, S. 8-36.
40 Die Konstruktion der Gesellschaft

Eine Assoziation ist ein soziales System, bei dem die Akteure sowohl kon-
vergierende wie divergierende Interessen haben, sich in ihren Handlungen a-
ber an gewissen übergreifenden Bindungen und Regeln orientieren, die eine
Übereinkunft auch angesichts der Divergenz der Interessen erlauben. Assozia-
tionen sind – mehr oder weniger – geregelte soziale Systeme, bei denen die
Regelung jedoch gerade nicht alleine über „Interessen“ und Marktprozesse,
aber auch nicht schlicht über „Befehl“ und formal sanktionierte Ordnung,
sondern über informelle Einverständnisse, Routinen, „Haltungen“ und
interaktiv immer wieder neu bestärkte „Einstellungen“ erfolgt – und dies zur
Regelung auch schon ausreicht. Bei den Assoziationen können dann noch
(mindestens) drei Untertypen danach unterschieden werden, auf welchen
Grundlagen die für diese Assoziationen typischen, weil mindestens
erforderlichen Bindungen und Regeln beruhen: Zusammenkünfte, Netzwerke
und Gruppen.
Als Zusammenkunft sei eine Assoziation bezeichnet, bei der sich mehrere Akteure persönlich
und unmittelbar begegnen und diese Unmittelbarkeit auch wahrnehmen und gegenseitig in
Rechnung stellen, wie beispielsweise die Situation in einem Friseurladen, einer Fakultätssit-
zung oder bei einer Koalitionsverhandlung. Hier spielen ohne Zweifel die Interessen eine
große Rolle, jedoch auch bestimmte Bindungen, etwa persönliche Bekanntschaften oder Ver-
pflichtungen, und mehr oder weniger explizite Regeln des Umgangs aus früheren Zusam-
menkünften. Oft sind solche Zusammenkünfte aber auch noch nicht so recht geregelt, und ein
Gleichgewicht stellt sich dann, besonders wenn die Interessen nicht deutlich konvergieren,
nur mühsam ein. Daher sind in diesen Fällen gewisse „Themen“ – das Wetter, die Schuppen-
flechte oder der tragische Tod von Lady Di etwa – für die lockere, aber nicht unbestimmte
Regelung der Zusammenkünfte von besonderer Wichtigkeit. Netzwerke sind Muster von Be-
ziehungen zwischen Akteuren, wie etwa ein Geflecht von Bekanntschaften, bei dem zwar
nicht jeder jeden unmittelbar kennen muß und auch nicht jeden kennt, gleichwohl aber über
indirekte Wege von jedem erreichbar ist. Netzwerke binden, anders als die Zusammenkünfte,
„identisch“ bleibende Akteure zusammen, wenngleich gelegentlich nur über sehr indirekte
Pfade von „weak ties“. Daher sind sie schon deutlich dauerhafter, abgegrenzter und „organi-
sierter“ als Zusammenkünfte. Und deshalb entstehen in ihrem Rahmen oft auch bald Bezie-
hungen der Verpflichtung, des Vertrauens, ja der Sympathie, auf deren Grundlage sich dann
auch weitere Bindungen bilden, die jede explizite Regelung überflüssig machen können und
auch größere Interessendivergenzen zu überspielen vermögen. Gruppen beruhen ebenfalls auf
persönlichen und unmittelbaren Begegnungen von benennbaren, identischen Personen, je-
doch ist die Mitgliedschaft noch dauerhafter und unmittelbarer, bezieht sich auf eine Vielzahl
von diffusen Beziehungen und Aspekten gleichzeitig und ist durch eine noch deutlichere
Grenze nach außen erkennbar als bei den Netzwerken. Die Gruppenmitglieder haben ein ge-
meinsames Motiv oder Ziel, aber die Ziele und Motive sind, ebenso wie die Mitgliedschaft,
nicht formell geregelt. In den Gruppen bilden sich alsbald gewisse Standardisierungen, Rol-
lenmuster, Hierarchien, und Normen heraus, und mit der distanzierenden Abgrenzung nach
außen auch eine solidarische Gruppenidentität nach innen. Insofern gibt es hier nicht nur
Bindungen und Regeln, sondern auch ein vertikales System von nahezu „herrschaftlichen“
Weisungsbefugnissen, denen, wenngleich nicht formell geregelt, meist auch gefolgt wird.

Bei einer Organisation schließlich wird die Mitgliedschaft an bestimmte for-


melle Bedingungen geknüpft, und es gibt ein formell festgelegtes Ziel der Or-
Akteure und soziale Systeme 41

ganisation und eine daran orientierte formelle „Verfassung“. Darin ist festge-
legt, welche Leistungen die Mitglieder typischerweise zu erbringen haben und
was ihnen als Gegenleistung dafür formell zusteht. Die Besonderheit der Or-
ganisation ist die vorrangige Bedeutung der Weisungen und deren klaglose
Akzeptanz. Die Grundlage ist die Institutionalisierung von (legitimer) Herr-
schaft. Organisationen sind, ganz anders als die Assoziationen, nicht an die
„Identität“ der Akteure gebunden. Im Gegenteil: Es kommt hier ausschließlich
auf die Festlegung gewisser Positionen an. Und diese Positionen können dann
beliebige individuelle Akteure übernehmen. Insofern sind Organisationen
auch wieder eine „anonyme“ Form der Ordnung, und sie gleichen in dieser
Hinsicht den Märkten.

Zwei Dimensionen

Bei einem Markt regieren also nur die Interessen und das nicht-soziale Han-
deln, bei den Assoziationen treten gewisse Bindungen zu den Interessen hin-
zu, und bei einer Organisation kommt noch der herrschaftliche Befehl dazu.
Die Organisation ist, so gesehen, offenbar der theoretische Gegenpol zu einem
Markt: Die Ordnung einer Organisation entsteht geplant und beruht auf einer
explizit eingeführten Verfassung, deren Regeln über Herrschaft und einen (im
Prinzip: repressiven) Sanktionsapparat abgesichert sind. Die Ordnung auf ei-
nem Markt stellt sich dagegen ungeplant oder „konventionell“ und – bis auf
Restgrößen einer Regulierung von kriminellen Akten – zuweilen auch ganz
und gar anarchisch ein. Die Assoziationen enthalten dagegen sowohl spontan-
ungeplante-konventionelle wie organisiert-geplante-repressive Elemente. Aus
dieser Mischung besteht, so könnte man sagen, ihre eigenartige „essentielle“
Bindewirkung, die ja weder alleine auf Interessen, noch alleine auf Herrschaft
gegründet sein kann oder darf. Die Bedingungen der Ordnungsbildung stehen
erkennbar in einem hierarchischen Verhältnis zueinander: Jede Interessen-
konvergenz ließe sich auch noch über essentielle Bindungen und jede Assozi-
ation auch noch über Herrschaft steuern. Aber das wäre jeweils „überflüssig“
und würde der jeweiligen Ordnungsform ihre Besonderheit nehmen. Das
Umgekehrte würde jedoch sicher nicht gehen: Assoziationen beruhen auf
mehr als auf Interessenkonvergenzen und Organisationen auf mehr als auf
selbst „essentiellen“ Bindungen.
Daraus ergibt sich unmittelbar eine zweite Dimension der Ordnungsbil-
dung: Markt und Organisation sind Formen der anonymen Ordnung, sei es
über den bilateralen anonymen Tausch beim Markt, sei es über die Besetzung
von Positionen durch ansonsten anonyme, austauschbare Akteure. Assoziatio-
42 Die Konstruktion der Gesellschaft

nen dagegen beruhen auf Begegnungen, Interaktionen und Beziehungen zwi-


schen persönlich identifizierbaren Akteuren – mit unterschiedlichen Graden
der „Identität“ der Akteure bei Zusammenkünften, Netzwerken und Gruppen.
Damit bilden Markt und Organisation einerseits und die Assoziation anderer-
seits wiederum theoretische Gegenpole in einer zweiten theoretischen Dimen-
sion – die anonyme oder die interaktiv-persönliche Art der Ordnungsstiftung.
Markt und Organisation als soziale Systeme mit anonymen Formen der Ordnungsbildung sind
die Typen von sozialen Systemen, wie sie in den komplexen Großgesellschaften der Moderne
vorherrschen und, wie es scheint, immer mehr vordringen, und das auch deshalb, weil dort
aufgrund der großen Anzahl von Akteuren die auf persönlicher Identifikation aufbauenden
Ordnungsformen schon rein technisch nicht ausreichen. Die Ordnung über Märkte und die
über Organisationen könnte auch als eine systemische Art der Ordnungsbildung bezeichnet
werden: Die Ordnung entsteht alleine aufgrund der inneren Konstruktion und der Beziehun-
gen der sozialen Systeme, ohne daß die Akteure diese Ordnung noch irgendwie selbst unter-
stützen müßten. Das geschieht bei den Märkten unmittelbar über die Konvergenz der Interes-
sen der Akteure, bei den Organisationen über die Besetzung von formal definierten Positio-
nen, oft genug über die Köpfe der Akteure hinweg. Assoziationen – Zusammenkünfte, Netz-
werke und Gruppen – sind dagegen für kleinere, stammesmäßig oder ständisch gegliederte
Gesellschaften typisch. Man könnte sie als eine lebensweltlich oder sozial gesicherte Art der
Ordnungsbildung ansehen, mit starken Elementen der persönlichen Bekanntschaft, der per-
sönlichen Kommunikation und des persönlichen Einverständnisses (vgl. dazu auch noch Ka-
pitel 6 über „Integration“ und die Abschnitte 9.1 und 9.2 in diesem Band).

Da aber auch in den komplexen Großgesellschaften der Moderne nicht alles


über den Markt und schon gar nicht alles über Organisation und „Befehl“ zu
regeln ist, bleiben auch hier die Assoziationen und die lebensweltlich veran-
kerten Formen der Ordnungsbildung von erheblicher Bedeutung, insbesondere
zur Vermittlung von Interessen und zur informellen Absicherung und Vorbe-
reitung von Vereinbarungen und Verträgen, die es ohne die Assoziationen
entweder nicht geben oder an die sich niemand halten würde (siehe dazu noch
unten in Abschnitt 2.3 zu den sog. Vermittlungsnetzwerken).

Eine Systematik

Die Beziehungen zwischen den Umständen und der Art der Ordnungsbildung
und dem Typ des sozialen Systems lassen sich vor diesem Hintergrund dann
in zweierlei Weise zusammenfassen (vgl. Abbildung 2.1): erstens als Hierar-
chie von Markt, Assoziation und Organisation als sozialen Systemen mit im-
mer größeren Anteilen von geplanter zu spontaner Ordnung; und zweitens als
Unterscheidung von anonymer und nicht-anonymer Art der Ordnungsbildung
bei Markt und Organisation einerseits und bei den Assoziationen andererseits.
Akteure und soziale Systeme 43

Markt Assoziation Organisation

Interessenkonvergenz/
nicht-soziales Handeln/ x x x
spontane/konventionelle
Ordnung
antagonistische
Kooperation/ Bindungen x x
und Regeln/ essentielle
Ordnung
Interessendivergenz/
Herrschaft/ geplante/ x
repressive Ordnung

Anonymität + - +

Abb. 2.1: Arten der Ordnungsbildung und Typen von sozialen Systemen

Die verschiedenen Dimensionen und Formen der Ordnung, spontan und ge-
plant, anonym und interaktiv-persönlich bzw. systemisch und lebensweltlich,
kommen, bis auf ganz wenige Ausnahmen, wie bei den frühzeitlichen Jäger-
und Sammlergesellschaften, die keine Märkte und keine Organisationen, son-
dern ganz überwiegend nur Gruppen kannten, in allen menschlichen Gesell-
schaften vor, wenngleich jeweils in unterschiedlicher Gewichtung und Zu-
sammensetzung.

Mischformen

Die meisten konkreten sozialen Gebilde lassen sich als Mischformen der drei
Typen der Ordnungsbildung rekonstruieren. Drei solcher „gemischter“ sozia-
ler Systeme wollen wir gesondert benennen: Verhandlungen, situierte Aktivi-
tätssysteme bzw. Handlungsfelder und Ensembles.
Verhandlungen sind eine, meist als Zusammenkunft stattfindende, spezielle Art von Marktge-
schehen, bei denen gegenseitig „Angebote“ gemacht und abgelehnt oder angenommen wer-
den. Das Ergebnis erfolgreicher Verhandlungen ist meist ein „Kompromiß“, bei dem beide
Seiten zwar jeweils etwas abgegeben haben, was sie gerne behalten hätten, mit dem Kom-
promiß aber insgesamt besser dastehen, als wären die Verhandlungen ergebnislos abgebro-
chen worden. Hilfreich für erfolgreiche Verhandlungen ist, wenn sie in einen „assoziativen“
44 Die Konstruktion der Gesellschaft

Rahmen vorher entstandener Bindungen und Regeln eingebettet sind, etwa, wenn die Ver-
handlungspartner vernetzt sind oder sich aus früheren Zusammenkünften gut kennen. Oft
geht es dabei zunächst um das „Aushandeln“ der „Definition“ der betreffenden Situation:
Was soll als wichtig gelten und wie sieht die Agenda aus? Viele Alltagssituationen, die gar
nicht wie Verhandlungen aussehen, bestehen gleichwohl aus diesem Kampf um die „richtige“
Sicht der Dinge. Ein besonders interessanter Mischtyp eines sozialen Systems sind die situier-
ten Aktivitätssysteme oder Handlungsfelder. Das sind soziale Systeme, die sowohl Merkmale
von Zusammenkünften wie von Organisationen, aber auch von Verhandlungen haben: Die
Akteure begegnen sich unmittelbar in einem auch formell geregelten setting und unter be-
stimmten Interdependenzen ihres Tuns. Beispiele dafür wären eine Operation mit Chefarzt,
Assistenzarzt und Schwestern, das Haareschneiden im Friseursalon, eine Fakultätssitzung o-
der ein Fußballspiel. Zwar gibt es klare Regeln und deutliche Vorgaben und Grenzen des
Tuns, es gibt aber auch beträchtliche Spielräume für die strategische Nutzung oder Ab-
wandlung der Regeln, wie für die nicht an die Regeln gebundene Macht, die etwa ein Assis-
tenzarzt über den Chefarzt allein deshalb hat, weil die guten Nerven auch des Assistenzarztes
zum Gelingen der Operation beitragen, für die der Chefarzt verantwortlich ist. Ein Spezialfall
davon wiederum sind die sog. Ensembles. Das ist ein System von Akteuren, deren Leistung
darin besteht, bei anderen Akteuren über eine bestimmte Rollenverteilung ein bestimmtes
„Schauspiel“ zu liefern, wie etwa ein feierliches Abendessen, eine Arztpraxis, Restaurants
oder eine Senatssitzung in der Universität. Auch hier gibt es formelle Regelungen, aber auch
deutliche Interdependenzen der Akteure untereinander. Das wichtigste Merkmal der En-
sembles ist die Unterteilung des settings in Darsteller und Publikum, oft in wechselnder „Rol-
le“. Und wie beim richtigen Theater gibt es auch im richtigen Leben Vorder- und Hinterbüh-
nen, wie etwa das Rektoratszimmer, in dem die Schauspieler in den Rollen von Rektor, Kanz-
ler und der grauen Eminenz, die jede Universität aufweisen kann, vor dem Theater der Se-
natssitzung noch rasch die letzten Intrigen und strategischen Rollenverteilungen absprechen.

Der Begriff der Figuration, ein Ausdruck, den Norbert Elias geprägt hat, faßt
schließlich alle denkbaren Formen von sozialen Systemen unter dem Ge-
sichtspunkt zusammen, daß letztlich jeder soziale Vorgang das Ergebnis von,
wie es heißt, prozessualen Machtbalancen wäre. Damit ist gemeint, daß bei
praktisch jedem sozialen Geschehen und jedem sozialen System drei Dinge
zusammenspielen: die Interessen der Akteure und darüber ihre jeweiligen Zie-
le, die institutionellen Regeln und damit gewisse Rechte und Pflichten für ihr
Tun und schließlich die schiere Macht, die die Akteure, auch in ihrer instituti-
onellen Bändigung als Herrschaft, übereinander dadurch ausüben, daß sie in
unterschiedlicher Weise die Kontrolle über die interessanten Ressourcen ha-
ben. Ein Fußballspiel, ein Fürstenhof oder ein Parteivorstand sind nur so zu
verstehen: als prozessierende „Balance“ von Interessen, Regeln und Macht.
Der Begriff der Figuration ist die Erinnerung daran, daß es die Strukturen und
die Regeln alleine nicht sind, die das Prozessieren der sozialen Systeme aus-
machen und erklären, sondern das an Regeln orientierte, in Interdependenzen
verwickelte, von Interessen getriebene und in ungeplante Folgen einmünden-
de Handeln von menschlichen Akteuren.
Akteure und soziale Systeme 45

Systeme der Nutzenproduktion

Die Unterscheidung von Märkten, Assoziationen und Organisationen war eine


eher formale Einteilung – nach der Art der Interdependenz der Akteure und
der damit einhergehenden „nötigen“ Ordnungsform. Die vielen sozialen Sys-
teme, mit denen es die Soziologie zu tun hat, lassen sich natürlich auch inhalt-
lich ordnen. Von den vielen Möglichkeiten dazu ist eine ganz besonders nahe-
liegend – die nach dem Inhalt der Nutzenproduktion. Vor diesem Hintergrund
seien drei inhaltlich definierte Arten sozialer Systeme unterschieden (vgl. da-
zu auch noch Kapitel 3 dieses Bandes insgesamt): funktionale Sphären, kultu-
relle Milieus und Devianz-Bereiche.

Funktionale Sphären, kulturelle Milieus und Devianz-Bereiche

Funktionale Sphären sind die verschiedenen in einer Gesellschaft vorhande-


nen Bereiche, in denen die unterschiedlichen „funktionalen“ Aufgaben erle-
digt werden, die für die Reproduktion der Gesellschaft als soziales System er-
forderlich sind, wie das etwa die Wirtschaft für die Bereitstellung der mate-
riellen Güter, das Recht für die Sicherung der institutionellen Strukturen oder
das Gesundheitssystem für die medizinische Versorgung der Bevölkerung
sind. Die funktionalen Sphären gibt es – letztlich – wegen ihres unerläßlichen
Beitrags zur Produktion und Verteilung jener Ressourcen und Leistungen, die
für das gesellschaftliche Leben nötig sind oder von den Menschen sonstwie
geschätzt werden, wie etwa der ansonsten wohl entbehrliche Sport und die ei-
gentlich wirklich brotlose Kunst.
Als kulturelle Milieus (oder Szenen) seien dann jene sozialen Systeme be-
zeichnet, aus denen, zunächst ganz unabhängig von ihrer funktionalen Bedeu-
tung, die Reproduktion bestimmter Werte, Orientierungen, Praktiken, Habitu-
alisierungen und Stilisierungen des Lebens „besteht“, wie etwa die typische
Art, in der sich Betriebswirte kleiden, wie Seeleute ein Schiff steuern und sich
auf Landgang begeben oder ein Arzt mit seinen Patienten umgeht. Es sind so-
ziale Systeme, in denen gemeinsam einer ganz bestimmten Stilisierung des
Lebens als Fokus der Nutzenproduktion nachgegangen wird, wie etwa die
Raver-Szene der Jugendkultur oder die Szene der Schickeria, die sich im
„Rossini“ trifft. Es gibt die kulturellen Milieus letztlich auch nur deshalb, weil
sie den Akteuren in vielerlei Hinsicht wichtig sind, und sei es nur, um sich
von anderen zu unterscheiden und darüber dann zu sozialer Wertschätzung zu
gelangen oder die angestammte Nutzenproduktion durch „distinktive“ soziale
Distanz vor unerwünschten Eindringlingen zu sichern.
46 Die Konstruktion der Gesellschaft

Szenen oder Milieus können natürlich auch solche sein, die in ihren Mit-
teln oder sogar in ihren Zielen illegitim oder wenigstens ungewohnt und neu-
artig sind. Zur Nutzenproduktion geschehen dann Dinge, die nicht mit den e-
tablierten und anerkannten institutionellen Regeln vereinbar sind oder sogar
auf deren grundlegende Änderung abzielen. Diese Bereiche bzw. sozialen Sy-
steme sind die Devianz-Bereiche der Gesellschaft. In den devianten sozialen
Systemen ist die Nutzenproduktion wenigstens im Vergleich zu den etablier-
ten Regeln neuartig organisiert, wenn nicht schon so, wie es die Polizei nicht
mehr erlaubt.
Zu den den Milieus, die nur andere, neue und darunter dann auch illegitime Mittel pflegen,
aber ansonsten mit den gesellschaftlichen Zielen übereinstimmen, zählen die diversen, mehr
oder weniger: halbseidenen, Subkulturen, etwa die bestimmter sexueller Obsessionen,
verpönter Arten der Lebensführung oder die der mehr oder weniger organisierten Kriminali-
tät. Die inzwischen entstandenen ethnischen Gemeinden der Immigranten in vielen
westeuropäischen Ländern können, wenn man sie als „neue“, aber in den übergreifenden
Zielen durchaus konforme Elemente der jeweiligen Gesellschaft ansehen möchte, auch zu
solchen Subkulturen gezählt werden. Milieus, die auch ganz andere als die gesellschaftlich
etablierten Ziele anstreben, werden als Gegenkulturen bezeichnet. Ganz früher bildeten
Häretiker und Eiferer solche Gegenkulturen, wie die Wiedertäufer in Münster. Sie wurden
meist gnadenlos verfolgt. In der neueren Geschichte waren das einst die APO und später die
RAF und einige „alternative“ oder „underground“-Milieus. Derzeit sind es etwa noch die
Autonomen- oder die Glatzen-Szene, auf keinen Fall jedoch mehr die Grünen. Die
Immigrantenmilieus hierzulande, die ethnischen Gemeinden und ethnischen Assoziationen,
sind, bis auf kleine fundamentalistische Einsprengel, sicher auch keine Gegenkulturen,
könnten es aber werden. Eine soziale Bewegung schließlich ist ein „dynamisches“ System des
kollektiven Handelns von Akteuren, die ein bestimmtes „alternatives“ Interesse, eine
bestimmte „alternative“ Zielsetzung, mindestens aber ein bestimmtes „alternatives“ Thema
eint. Sie kommen in verschieden „radikalen“ Formen vor: als Initiative, als Protestbewegung,
als Revolte oder als ausgewachsene Revolution, als Bewegung also, deren Ziel die Änderung
der Grundverfassung der Gesellschaft ist. „Dynamisch“ sind die sozialen Systeme sozialer
Bewegungen, weil sie darauf angelegt, ja darauf angewiesen sind, daß immer größere Teile
der Bevölkerung davon erfaßt werden – bis das Ziel erreicht ist. Dann sterben sie sozusagen
eines natürlichen Todes, wenn sie nicht schon vorher an Auszehrung eingegangen sind oder
von der Gewalt des „herrschenden“ gesellschaftlichen Systems abgewürgt wurden.

Gelegentlich wird über eine soziale Bewegung das, was zuerst Sub- oder gar
Gegenkultur war, zu einem anerkannten und funktionalen, ja herrschenden
Teil der Gesellschaft, wie das einst bei den „Protestanten“ und zuletzt bei den
„alternativen“ Grünen der Fall gewesen ist. Dann hat sich die „Verfassung“
der Gesellschaft so geändert, daß die zuvor neuen, abweichenden oder gar il-
legitimen Mittel und Ziele zu etablierten kulturellen Zielen und institutionali-
sierten Mitteln geworden sind.
Die Unterteilung nach funktionalen Sphären, kulturellen Milieus und Devi-
anz-Bereichen folgt der Art und der gesellschaftlichen Geltung der jeweiligen
sozialen Produktionsfunktionen: In den funktionalen Sphären geht es um be-
Akteure und soziale Systeme 47

stimmte funktionale Oberziele oder funktionale Imperative, wie etwa die Gü-
terversorgung oder die Sanktionierung von Normübertretungen, in den kultu-
rellen Milieus um die Pflege gewisser Werte, Praktiken oder Lebensstile, um,
wie wir sagen wollen, ganz spezifische kulturelle Fokalobjekte, und in den
Devianz-Bereichen um die Etablierung entweder neuer institutionalisierter
Mittel oder sogar neuer kultureller Ziele, um deviante Alternativen also. Die
funktionalen Imperative, die kulturellen Fokalobjekte und die devianten Al-
ternativen definieren die primären Zwischengüter der jeweiligen sozialen Sys-
teme und damit die Codes der Orientierung und – indirekt – die Programme
des Handelns dafür. Die Codes und Programme sind wiederum als Frames
und Skripte in den kulturellen Systemen verankert, die die Akteure in ihrem
Gedächtnis als mentale Modelle haben, die sie untereinander teilen, über die
sie sich in ihren Orientierungen und in ihrem Handeln symbolisch und kom-
munikativ aufeinander beziehen – und darüber die sozialen Systeme „konsti-
tuieren“, sie von anderen sozialen Systemen in ihrem typischen „Sinn“ ab-
grenzen und von ihnen immer wieder neu selbst konstituiert werden.

2.2 Kollektive und Akteurskonstellationen

Aus der Art der Beteiligung der individuellen Akteure an der „Konstitution“
der sozialen Systeme lassen sich bestimmte Formen von Kollektiven oder von
Akteurskonstellationen beschreiben, die teilweise wiederum soziale Systeme
darstellen, teilweise aber auch nicht. Die wichtigsten Formen von Kollektiven
bzw. Akteurskonstellationen sind soziale Kategorien, soziale Aggregate, kol-
lektive Akteure und korporative Akteure.
Unter sozialen Kategorien werden ansonsten unverbundene Mengen von
Akteuren mit ähnlichen Eigenschaften, ähnlicher Ausstattung mit Ressourcen
und ähnlichen Werten und Verhaltensweisen, kurz: mit einer ähnlichen gesell-
schaftlichen Lage verstanden (vgl. dazu noch Kapitel 4 dieses Bandes insbe-
sondere). Alles, was geschieht, beruht allein auf den Eigenschaften oder den
Entscheidungen der individuellen Akteure, ohne daß diese selbst irgendwie
aufeinander Bezug nähmen. Wegen der Ähnlichkeit der Akteure in einer be-
stimmten Lage oder Kategorie kann man, wenn man einen „Typ“ von Akteur
kennt, Aussagen über das Verhalten der Akteure in der gesamten restlichen
Kategorie machen, wie etwa über das Wahlverhalten, wenn die Interessen und
die Parteiidentifikation bekannt sind. Kategorial ähnliche Akteure werden da-
her auch als „anonyme Individuen“ bezeichnet und zu einem „Typ“, etwa dem
einer bestimmten sozialen Klasse, zusammengefaßt.
48 Die Konstruktion der Gesellschaft

Soziale Aggregate sind demgegenüber Mengen von Akteuren, die mitein-


ander durch gewisse äußerliche Beeinflussungen des Handelns oder der Ei-
genschaften der jeweils anderen Akteure verbunden sind, aber ansonsten
nichts weiter miteinander zu tun haben, die sich also etwa nicht aneinander
gedanklich orientieren oder miteinander kommunizieren. Beispiele für ein so-
ziales Aggregat wären die oben beschriebenen Märkte, bei denen nur auf das
„Angebot“ bzw. die „Nachfrage“ anderer anonymer Akteure reagiert wird,
aber auch Systeme der Verbreitung von Informationen, Gerüchten, Neuerun-
gen oder der Teilnahme an einer sozialen Bewegung einfach dadurch, daß die
Akteure miteinander in Kontakt kommen und sich dabei „anstecken“. Für die-
sen Prozeß der Verbreitung durch Ansteckung sind vor allem die Verteilungen
der „Anfälligkeiten“ bei den individuellen Akteuren – für die Annahme von
Informationen, die Weitergabe von Gerüchten, die Übernahme von Neuerun-
gen, die Beteiligung an einer Bewegung – wichtig. Daher ähneln die sozialen
Aggregate noch stark den sozialen Kategorien. Es sind, sozusagen, durch ei-
nen dynamischen Anpassungs- oder Ansteckungsprozeß in Bewegung gerate-
ne soziale Kategorien.
Kollektive Akteure sind dann Mengen von Akteuren, die in irgendeiner
Weise schon „sozial“ koordiniert handeln und deshalb nach außen hin „wie
ein Mann“ agieren. Die Besonderheit ist das Vorliegen irgendeiner Form des
sozialen Handelns, sei es in Form eines strategischen Handelns, einer Interak-
tion oder einer sozialen Beziehung.
Bei den kollektiven Akteuren lassen sich vier Unterformen unterscheiden: Koalitionen,
Klubs, Bewegungen und Verbände (vgl. Scharpf 1997, S. 54 ff.). Das sind typische Konstel-
lationen, die sich aus der Kreuzung von zwei Dimensionen ergeben: die Verschiedenheit oder
Gemeinsamkeit der Interessen einerseits und die separate oder gemeinsame Kontrolle der
Ressourcen andererseits. Koalitionen sind temporäre Verbindungen von Akteuren, die sich
bei unterschiedlichen Interessen und separat kontrollierten Ressourcen zu einem gemeinsa-
men Tun verabredet haben. Die Handlungs- und Entscheidungsgrundlage sind bestimmte
Abkommen oder (Koalitions-) Verträge. Und das Ziel ist die Verbesserung der jeweils eige-
nen Situation und die Durchsetzung bestimmter „privater“ Ziele mit Hilfe des Koalitionspart-
ners, der diese Hilfe wiederum in seinem eigenen privaten Interesse anbietet. Bei Klubs haben
die Mitglieder auch unterschiedliche Interessen, sie legen aber ihre Ressourcen zu einem ge-
meinsamen Tun mit einem spezifischen individuellen Ziel zusammen, weil dieses individuelle
Ziel rein technisch nur in „Gemeinschaft“ erreicht werden kann – wie etwa Skat, Golf, Tennis
oder Segelfliegen. Die Entscheidungen werden typischerweise über Abstimmungen bzw.
Wahlen nach gewissen Regeln, etwa Mehrheitsentscheidung oder mit einem Vetorecht, ge-
troffen. Und in den Genuß der Leistungen des Klubs kommen nur diejenigen, die Mitglied
sind und ihren Beitrag erbracht haben. Bewegungen führen Akteure mit gemeinsamen Inte-
ressen und Zielen zusammen, aber ihre Ressourcen bleiben immer noch separat an die Indivi-
duen gebunden. Die Entscheidungsgrundlage ist der Konsensus, die Zustimmung zur Teil-
nahme. Daher ist das Hauptproblem bei Bewegungen, wie etwa bei Revolutionen, die Mobili-
sierung der Akteure mit einem zwar gleichen Interesse, aber unterschiedlichen Bereitschaften,
sich zur Teilnahme zu entschließen. In Verbänden schließlich werden zur Beförderung eines
Akteure und soziale Systeme 49

übergreifenden kollektiven Interesses die Ressourcen zusammengelegt. Beispiele dafür wären


Verbände, wie Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbände, oder die Parteien, die die Interes-
sen eines Aggregates von Akteuren wahrnehmen sollen. Auch hier ist die Entscheidungs-
grundlage die Wahl bzw. die Abstimmung. Der Unterschied zum Klub ist nicht nur der, daß
beim Klub die Interessen separat, das meint: relativ „individuell“ und ideosynkratisch, sind,
sondern daß das, was der Klub an „Gütern“ schafft, nur den Mitgliedern zugute kommt und
vor allem, daß der Klub eine gewisse Größenordnung nicht überschreiten darf, soll das Klub-
ziel nicht leiden: Ein zu großer Golfklub verliert seine Exklusivität, und man kann bei Über-
füllung des Grüns nur noch schlecht Golf spielen. Man spricht bei solchen Gütern auch von
Klubgütern. Bei einem Verband, aber auch bei einer sozialen Bewegung, ist das anders: Das
Gut, das ein Verband oder eine Bewegung anstrebt, wie etwa Arbeitsplatzsicherung durch die
Gewerkschaften, ein Preiskartell der Anbieter von Öl oder die Verhinderung einer neuen
Landebahn durch eine Bürgerinitiative, gewinnt eher an Wert, wenn sich möglichst viele
beteiligen; und gibt es das Gut, dann kann es niemandem vorenthalten werden, auch denen
nicht, die sich an der Durchsetzung des gemeinsamen Interesses nicht beteiligt haben. Solche
Güter werden auch als Kollektivgüter bezeichnet (vgl. dazu noch Band 3, „Soziales Han-
deln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich).

Korporative Akteure (oder: Korporationen) sind wiederum eine spezielle Art


von kollektiven Akteuren bzw. einer Organisation. Die Besonderheit ist, daß
sie ein Entscheidungszentrum, einen Prinzipal, und einen Sprecher, einen A-
genten, haben. Dadurch wird es den korporativen Akteuren als „juristischen
Personen“ möglich, sich exakt so wie eine „natürliche“ zurechnungsfähige
Person, wie ein Subjekt also, zu verhalten. Die Entscheidungsgrundlage ist,
wie in allen Organisationen, die Direktive „von oben“. Die kommt aufgrund
von kollektiven Entscheidungen der Gesellschafter oder der privaten Ent-
scheidungen des Besitzers zustande. Beispiele sind die großen Konzerne, bei
denen das Entscheidungszentrum die Eigentümer bzw. die Aktionäre des
Konzerns und das Sprachrohr der Sprecher des bestellten Vorstands sind,
Klaus Esser für Mannesmann und seine Aktionäre also etwa. Auch die Bun-
desregierung ist in diesem Sinne ein korporativer Akteur mit dem Bundes-
kanzler und dem Regierungssprecher als Agenten und den Fraktionen der Re-
gierungsparteien bzw., letztlich, der Wahlbevölkerung als Prinzipal. Kor-
porative Akteure können folglich wie lebendige Menschen miteinander um-
gehen: Daimler-Benz warnt Bonn, die Steuerreform nicht länger hinauszuzö-
gern, und Bonn antwortet, es lasse sich nicht von einem Global Player, aber
auch nicht von der Straße, unter Druck setzen. Die korporativen Akteure kön-
nen also handeln wie Menschen, sind aber gleichwohl sehr von ihnen ver-
schieden: Sie sind unsterblich, und es gibt in ihrem Inneren zwingend einen
Identitätskonflikt, den Menschen so nicht unbedingt haben müssen: der Inte-
ressengegensatz zwischen dem Prinzipal, der den Gewinn des Unternehmens
und darüber seine Rendite maximieren möchte, und dem Agenten, der sein
Gehalt mit möglichst wenig Aufwand verdienen möchte und an der Rendite
des Prinzipals nur ein abgeleitetes Interesse hat.
50 Die Konstruktion der Gesellschaft

Eine weitere Systematik

Soziale Kategorien, soziale Aggregate, kollektive Akteure und korporative


Akteure lassen sich, wie man leicht sieht, auf eine einfache Weise ordnen. So-
ziale Kategorien als unverbundene Mengen von Akteuren mit gleichen Eigen-
schaften bilden sich alleine schon aufgrund von gemeinsamen gesellschaftli-
chen Lagen, wie dies etwa das Geschlecht, die Zugehörigkeit zu einer Alters-
kategorie oder die Ausübung eines bestimmten Berufes wäre. Auch die Ak-
teure in den sozialen Aggregaten befinden sich in typischen gesellschaftlichen
Lagen, aber es kommen gewisse kausale Beeinflussungen durch das Agieren
der Akteure hinzu. Bei den kollektiven Akteuren gibt es zusätzlich verschie-
dene Arten des sozialen Handelns: Die Akteure werden nicht nur von außen
„angestoßen“, sondern nehmen – mehr oder weniger bewußt – aufeinander
gedanklich Bezug und handeln in dem – mehr oder weniger ausgeprägten –
Wissen, daß das Ergebnis des Handelns von dem Handeln der anderen Akteu-
re abhängt. Die korporativen Akteure können zusätzlich sogar wie Subjekte
agieren, wobei sie sich in ihrem Innern in verschiedene Kategorien – Prinzipal
und Agent zum Beispiel – unterteilen, und alles mögliche an kausaler Beein-
flussung und sozialem Handeln stattfindet. In Abbildung 2.2 ist diese Syste-
matik zusammengefaßt.

Lage Beein- soziales Subjekt


flussung Handeln

Soziale Kategorie x
Soziales Aggregat x x
Kollektiver Akteur x x x
Korporativer Akteur x x x x

Abb. 2.2: Die Systematik von sozialen Kategorien, sozialen Aggregaten, kollektiven
Akteuren und korporativen Akteuren.

Wenn soziale Systeme als Prozesse des – materiell und/oder symbolisch – an-
einander anschließenden Handelns von Akteuren verstanden werden, dann
sind die sozialen Kategorien keine sozialen Systeme: Alles, was geschieht,
passiert ohne jede „soziale“ Koordination und ohne jeden weiteren kausalen,
Akteure und soziale Systeme 51

sozialen oder kommunikativen „Anschluß“ an das Handeln anderer Akteure.


Das Ganze ist hier exakt gleich der Summe der Eigenschaften oder Entschei-
dungen der Teile. Soziale Aggregate, kollektive Akteure und korporative Ak-
teure sind dagegen soziale Systeme: Es gibt sie nur in einer – wie auch immer
gearteten, sozialen oder auch nicht-sozialen – Einwirkung der Akteure aufein-
ander. Und nur diese Kollektive bzw. Akteurskonstellationen können daher
als Märkte, Assoziationen oder Organisationen, als funktionale Sphären, kul-
turelle Milieus oder Devianz-Bereiche unterschieden werden. Soziale Katego-
rien sind bloße Mengen von Akteuren, deren „Verhalten“ alleine davon ab-
hängt, was die Akteure jeweils ganz privat für sich tun.

2.3 Das System der Gesellschaft

Die Gesellschaft ist auch ein soziales System, ein ganz besonderes sogar (vgl.
dazu schon Teil F der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“ ausführlich). Sie
bildet den weitesten materiellen, institutionellen und kulturellen Rahmen des
Handelns und seines Sinns sowie des „Prozessierens“ der vielen von ihr um-
schlossenen sozialen Systeme. Sie gleicht einer Organisation dadurch, daß ih-
re Grenzen oft formell durch die Grenzen der Geltung ihrer jeweiligen staat-
lichen Verfassung festgelegt sind. Und sie hat Ähnlichkeit mit einem Markt
insofern als die vielen sozialen Systeme, aus denen sie „besteht“, als ein gi-
gantisches Geflecht von Angebot und Nachfrage für bestimmte Nutzenpro-
duktionen verstanden werden können, die sich in einem umfassenden Gleich-
gewicht befinden. Die Organisation der Nutzenproduktion ist auch in den ein-
fachsten Gesellschaften keine Angelegenheit, in der jeder das gleiche tut oder
jeder das gleiche erhält. Arbeitsteilung, etwa, und unterschiedliche Haltungen,
Praktiken und Stile des Handelns gibt es praktisch in jeder Gesellschaft, ge-
wiß auch Devianz-Bereiche, wie etwa die Prostitution. Gesellschaften unter-
scheiden sich typischerweise darin, wie unterschiedlich die von ihr umschlos-
senen sozialen Systeme sind, nach welchen Prinzipien diese Unter-
schiedlichkeit aufgebaut ist und wie sich die Bevölkerung der Gesellschaft
darin anordnet (vgl. dazu auch noch Kapitel 9, insbesondere aber Abschnitt
9.2, dieses Bandes).

Soziale Differenzierung und soziale Ungleichheit

Zwei Aspekte der Unterschiedlichkeit von Gesellschaften sind besonders


wichtig: Soziale Differenzierung und soziale Ungleichheit. Die soziale Diffe-
52 Die Konstruktion der Gesellschaft

renzierung einer Gesellschaft bezieht sich auf die Arten und die Unterschied-
lichkeit der sozialen Systeme (vgl. dazu noch Kapitel 3 dieses Bandes ausführ-
lich). Beispielsweise: Gibt es nur Dörfer oder auch schon Städte, die auf die
umliegende Landwirtschaft angewiesen sind? Gibt es ein Gesundheits- und
ein Bildungswesen, das allen offensteht, oder nicht? Finden Familienleben
und Erwerbsarbeit an einem Ort statt oder sind sie als soziale Systeme ge-
trennt? Gibt es nur eine kulturell einheitliche Form des Lebens oder handelt es
sich um eine multikulturelle Gesellschaft mit vielen verschiedenen Werthal-
tungen und Lebensstilen? Existieren Subkulturen, in denen Verbotenes ge-
schieht, oder gar Gegenkulturen, in denen der Umsturz der Gesellschaft ge-
plant wird?
Die soziale Ungleichheit verweist demgegenüber auf die Unterschiedlich-
keiten in typischen gesellschaftlichen Lagen, in die die Akteure in der betref-
fenden Gesellschaft kommen können, und darüber dann auf die typischen so-
zialen Kategorien von Ähnlichkeiten in den gesellschaftlichen Lagen, in die
sich die Bevölkerung einer Gesellschaft unterteilt: in Männer und Frauen,
Arme und Reiche, Arbeiter, Angestellte, Beamte und Selbständige, Ausländer
und Einheimische, Katholiken und Protestanten, Materialisten und Postmate-
rialisten, Traditionalisten und Hedonisten – oder irgendeine beliebige Kombi-
nation davon, zum Beispiel. Die wichtigsten Formen der sozialen Ungleich-
heit sind die sozialen Klassen, die Stände und die Kasten, die verschiedenen
sozialen Schichten und – neuerdings – die sog. Lebensstilgruppen (vgl. dazu
noch Kapitel 4 dieses Bandes ausführlich).
Die soziale Differenzierung ist also, wenn man so will, die Ungleichheit
der sozialen Systeme, die soziale Ungleichheit die der Akteure einer Gesell-
schaft. Zwischen sozialer Differenzierung und sozialer Ungleichheit bestehen
indessen enge Beziehungen: Die soziale Ungleichheit bezeichnet das Muster
typischer Unterschiede in der gesellschaftlichen Lage von typischen Katego-
rien von Akteuren, wie sie sich vor allem aus den Mitgliedschaften und Betei-
ligungen der Akteure an den verschiedenen sozialen Systemen ergeben. Es
geht um den Einbezug oder die Ausgrenzung, um die Inklusion bzw. die Ex-
klusion der Akteure in bestimmte bzw. aus bestimmten sozialen Systemen
(vgl. dazu noch Kapitel 5 in diesem Band): Ein hohes Einkommen hat je-
mand, weil er einen guten Job in einem Unternehmen ausübt, und den hat er
nur bekommen, weil er vorher das soziale System der Bildungseinrichtungen
erfolgreich durchlaufen hat. Und obdachlos wird jemand, der als Minder-
qualifizierter aus dem inzwischen sehr „schlanken“ sozialen System der Wirt-
schaft herausgeflogen ist, deshalb seine Miete nicht mehr bezahlen kann, und
auch nicht mehr dem sozialen System einer unterstützenden Familie angehört,
weil sich seine vermögende Gemahlin von ihm hat scheiden lassen. Und je
Akteure und soziale Systeme 53

nach der empirischen Verteilung der Akteure einer Bevölkerung auf die ver-
schiedenen gesellschaftlichen Lagen ergeben sich die sozialen Kategorien und
daraus das Muster der sozialen Ungleichheit in der Gesellschaft – etwa die
Verteilung nach reich und arm, nach der Vorliebe für Heino oder für Guildo,
nach Gesetzestreue oder nach Subversion.
Die soziale Differenzierung der sozialen Systeme und die soziale Un-
gleichheit der Kategorien der Akteure sind die beiden wichtigsten Aspekte der
sozialen Struktur des Systems einer Gesellschaft (siehe dazu dann noch die
Übersicht in Abschnitt 9.1 in diesem Band).

Systembeziehungen

Die Akteure und die verschiedenen Kollektive der Gesellschaft, die sozialen
Kategorien und die sozialen Systeme, „komponieren“ und aggregieren sich al-
so auf unterschiedliche Weise zu einem „Ganzen“. Und natürlich gibt es auch
Beziehungen der Akteure zueinander und zu den sozialen Systemen und der
sozialen Systeme untereinander, wie etwa die des Tausches, die der Mitglied-
schaft in einem Verein oder die der Abgrenzung etwa der Sphäre der Familie
von der des Rotlichtmilieus. Fünf Arten der Bezugnahme der Systeme einer
Gesellschaft aufeinander seien auseinandergehalten: die System-Abgrenzung,
die System-Inklusion (bzw. komplementär dazu: die System-Exklusion), die
System-Relation, die System-Durchdringung und die System-Aggregation.

System-Abgrenzung

Die System-Abgrenzung beschreibt die typischen inhaltlichen Besonderheiten


der verschiedenen Systeme und damit ihren jeweils typischen, einzigartigen
und unverwechselbaren „Sinn“ und inhaltlichen Beitrag bei der Konstitution
des Gesamtsystems, etwa einer Gesellschaft. Diese Abgrenzung ist also auf
eine ganz unspezifisch bleibende Umwelt bezogen.
Die individuellen Akteure (bzw. die psychischen Systeme) grenzen sich von ihrer – wie auch
immer gearteten – „Umwelt“ durch ihren motivationalen, kognitiven und auf das Handeln be-
zogenen Beitrag ab, durch Bewußtsein und Handeln also. Und die verschiedenen sozialen
Systeme, sozusagen der „Rest der (Um-)Welt“, wenn wir hier einmal von den materiellen
Umwelten absehen, gewinnen ihre Grenzziehung durch die jeweils geltende typische soziale
Produktionsfunktion, durch die primären Zwischengüter, die kulturellen Ziele, den jeweils
zentralen Code also, der das Handeln und die Kommunikationen im Geltungsbereich des je-
weiligen sozialen Systems bestimmt: die Wirtschaft über den Code der Güterproduktion und
der Verteilung, das Milieu der Guildo-Horn-Szene über das Kultobjekt Guildo Horn oder die
Bewegung der militanten Tierschützer über die Radikalisierung der Tierliebe. Und genauso
54 Die Konstruktion der Gesellschaft

grenzen sich auch die kulturellen Systeme ab: über die in den Gehirnen der Akteure gespei-
cherten und sozial geteilten mentalen Modelle des Bewußtseins und des Handelns für die ver-
schiedenen Situationen mit ihren jeweils typischen Codes und Programmen, die mit den Co-
des der betreffenden sozialen Systeme korrespondieren.

Die System-Abgrenzung bezeichnet also das, was das betreffende System von
allen anderen unterscheidet: Das Bewußtsein und das Handeln trennen die
psychischen Systeme der Akteure von den sozialen Systemen, weil soziale
Systeme nicht selbst fühlen, denken und handeln können. Und die Codes der
sozialen Produktionsfunktionen trennen die sozialen und die kulturellen Sys-
teme voneinander nach dem jeweils typischen sozialen „Sinn“, der in ihnen
herrscht, der zur Nutzenproduktion verlangt wird und bestimmt, was jeweils
von und im betreffenden System überhaupt als relevant oder auch nur sinnvoll
„verstanden“ wird.

System-Inklusion

Die verschiedenen, jeweils durch ihren typischen „Sinn“ abgegrenzten Syste-


me stehen natürlich auch als zu ihrer „Umwelt“ abgegrenzte Systeme nicht i-
soliert da, sondern bilden füreinander gegenseitig sich ermöglichende, stüt-
zende und begrenzende Umgebungen. Sonst gäbe es keine Gesellschaften und
keine Menschen. Die einfachste Art der Bezugnahme der Systeme aufeinan-
der ist die System-Inklusion. Die System-Inklusion (oder einfach: Inklusion)
ist mit der Mitgliedschaft des einen in dem anderen System definiert. Diese
Mitgliedschaft wird gelegentlich auch als Status bezeichnet. Mitgliedschaften
in sozialen Systemen sind leicht vorstellbar für Akteure, die etwa eine Positi-
on in einer Behörde bekleiden, ins Fitneßstudio gehen oder sich nächtens in
einer zweifelhaften Rotlichtszene, etwa in Saarbrücken, herumtreiben. Aber
natürlich können auch soziale Systeme wiederum Mitglieder anderer sozialer
Systeme sein: Die Bundesländer sind „Teile“ der Bundesrepublik, und die ist
wiederum Mitglied der Europäischen Gemeinschaft. Durch die Mitgliedschaft
der Systeme in anderen Systemen entstehen bestimmte Konfigurationen, Mus-
ter oder gesellschaftliche Lagen, die ihrerseits wieder soziale Kategorien er-
zeugen: Ähnlichkeiten in Mitgliedschafts- bzw. Statuskonfigurationen. For-
mal können – mindestens – drei Arten der System-Inklusion unterschieden
werden: die Konzentration, die Segmentation und die Kreuzung.
System-Inklusion in der Form einer Konzentration liegt dann vor, wenn ein System komplett
Teil eines anderen Systems ist und wenn die Vorgaben der Systemzugehörigkeiten alle in die
gleiche Richtung weisen. Es ist die Inklusion der Systeme (einschließlich jener Systeme, die
wir als menschliche Akteure bezeichnen) in Kollektive bzw. soziale Systeme, die wiederum
Teile umfassenderer sozialer Systeme sein können. Es sind die „konzentrischen Kreise“ nach
Akteure und soziale Systeme 55

Georg Simmel. Ein Beispiel dafür wären Priester und Gläubige in einer katholischen Kir-
chengemeinde, die Teil eines Dekanates ist, das selbst einem Bistum zugehört ... bis zum all-
umfassenden Rahmen der Heiligen Römisch-Katholischen Kirche mit dem Papst an der Spit-
ze, der sozusagen der Repräsentant der konzentrischen System-Inklusion der Kirche in noch
weitere, unfaßbare, Sphären ist. Alles, was von ganz oben kommt, wird ganz ungebrochen
nach unten weitergereicht und dort klaglos akzeptiert, weil immer die gleiche „Systemlogik“
gilt: der Glaube an die Heilige Römisch-Katholische Kirche, an die Unfehlbarkeit des Papstes
und an den Allmächtigen, der alles lenkt. Eine Segmentation der System-Inklusion gibt es,
wenn sich die Mitgliedschaften der Untereinheiten auf genau ein System beschränken, wie
das bei Klöstern, Eifeldörfern oder Stämmen der Fall ist: Jeder Akteur gehört immer nur dem
betreffenden Kloster, Eifeldorf oder Stamm an – und sonst keinem anderen sozialen System
(wenn man einmal davon absieht, daß in Klöstern, Eifeldörfern und Stämmen es sicher auch
noch eine Reihe verschiedener sozialer Systeme gibt). Die Inklusion in ansonsten getrennte
konzentrische Kreise wäre natürlich auch ein Fall einer solchen Segmentation. Christen seg-
mentieren sich in dieser Weise von den Muslimen, das Dorf Kall in der Eifel von dem Dorf
Much gleich nebenan und die Flamen von den Wallonen in Belgien – und die verschiedenen
sozialen Systeme haben jeweils ihre Mitglieder ganz exklusiv für sich. Ein wichtiger Spezial-
fall der Segmentation von Systemen ist die Ko-Existenz von getrennt existierenden und
selbstgenügsamen sozialen Systemen. Ein Beispiel dafür wäre die Koexistenz von Dörfern,
Stämmen und Regionen im Rahmen eines Nationalstaates, wobei die Dörfer, Stämme und
Regionen jeweils für sich als selbstgenügsame Systeme existieren. Auch hier wären die ein-
zelnen Akteure Mitglieder in einem System konzentrischer Kreise: Jeder ist Bewohner nur
eines Dorfes, das Teil nur eines bestimmten Stammes ist, der selbst wieder nur zu einer be-
stimmten Region gehört. Von einer Kreuzung der System-Inklusionen, von der „Kreuzung
der sozialen Kreise“ mit Georg Simmel gesprochen, ist schließlich dann die Rede, wenn eine
Untereinheit, wieder im einfachsten Fall ein individueller Akteur, Mitglied in mehreren sozia-
len Systemen, die nicht wiederum bloß (echte) Teilmengen bilden, gleichzeitig ist: Herr
Schmitz ist etwa Familienvater, Angestellter in der Stadtverwaltung, Gewerkschaftsmitglied
und Kassierer des CDU-Ortsverbandes in seinem Stadtteil und als solcher Mitglied und Teil
der Systeme Familie, Stadtverwaltung und Partei – gleichzeitig. Wenn die Anforderungen aus
den verschiedenen Mitgliedschaften von ihrer jeweiligen Systemlogik her in die gleiche Rich-
tung weisen, sind sie in ihrer Wirkung auf die Orientierungen und das Handeln kongruent o-
der konsistent. Eine solche Kongruenz der Mitgliedschaften bzw. des Status gibt es bei-
spielsweise bei dem Gewerkschaftler, der auch noch SPD-Mitglied ist, oder bei dem selb-
ständigen Liberalen. Man spricht auch von Statuskongruenz, Statuskonsistenz oder Status-
kristallisation. Die Konzentration wäre damit ein Spezialfall der Kreuzung der sozialen Krei-
se: die Zugehörigkeit zu mehreren, sich als Teilmengen kreuzenden Systemen bei Kongruenz
der Anforderungen. Gehen die Systemlogiken in verschiedene Richtungen, dann liegt ent-
sprechend eine Inkongruenz der Mitgliedschaften bzw. der System-Inklusion bzw. eine Statu-
sinkonsistenz oder Statusinkongruenz vor. Bei Herrn Schmitz wäre das insofern der Fall, als
er Gewerkschaftsmitglied und CDU-Aktivist gleichzeitig ist. Und das verträgt sich immer
noch nicht so gut wie eine Kombination von SPD-Mitgliedschaft und Gewerkschaft. Über
solche Kreuzungen der System-Inklusionen in soziale Kreise, deren Anforderungen sich wi-
dersprechen, geraten die Akteure u.U. in ganz spezielle gesellschaftliche Lagen mit glegent-
lich stark divergierenden und inkongruenten Orientierungen und Vorgaben für das Tun. Viel-
leicht ist der betreffende Akteur sogar der Einzige, der gerade diese Kombination von Mit-
gliedschaften aufweist und der diese besondere gesellschaftliche Lage mit ihren Widersprü-
chen und die damit verbundenen Spaltungen seiner Identität mit niemandem anderen teilt.
Und dadurch glaubt er möglicherweise, daß er ein ganz einzigartiges „Individuum“ wäre, das
alle Konflikte alleine in sich austrägt. Tatsächlich bezieht Herr Schmitz, zum Beispiel, jedoch
diese Individualität alleine durch die besondere Kreuzung seiner Zugehörigkeiten zu sozialen
Akteure und soziale Systeme 57

Das gilt etwa für die Erklärung des Wahlverhaltens allein schon als Folge der politischen In-
teressenlage der Akteure, die sich beispielsweise daraus ergibt, daß sie selbständig oder
Sozialhilfeempfänger sind, für die Erklärung der Unterbeteiligung von Frauen an Füh-
rungspositionen durch ihre in der Regel immer noch besondere familiäre Position oder für die
Erklärung des Anstiegs der Scheidungsraten als einfache Aggregation des (zeitweisen) Aus-
stiegs aus dem sozialen System der Ehe, weil die individuellen Akteure mehr und mehr Al-
ternativen zu einer schlechten Ehe haben.

Eine soziale Klasse ist, so gesehen, nur ein Spezialfall der System-Inklusion
von Akteuren, einer dadurch erzeugten gesellschaftlichen „Stellung“ und so-
zialen Kategorie von Akteuren mit typischen Interessen und einer typischen
Kontrolle von Ressourcen. Und die sog. Klassenanalyse ist nichts anderes als
die Vorhersage eines an die gesellschaftliche Lage anknüpfenden typischen
Handelns und dadurch bewirkter typischer kollektiver Folgen. Die Variablen-
Soziologie, gerade auch die in der Form der Kontext- und Mehr-
ebenenanalyse, geht ebenfalls so vor (vgl. dazu bereits Kapitel 10 bis 12 in
Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“): Sie
beschreibt über die sog. sozial-demographischen Variablen und Kontexte ty-
pische Mitgliedschaften und Statuskonfigurationen, darüber typische gesell-
schaftliche Lagen der Akteure und versucht darüber dann möglichst viel an
„Varianz“ in einem bestimmten Handeln zu erklären.

System-Relationen

System-Relationen bezeichnen dann die, neben der System-Inklusion mögli-


chen, zahllosen anderen Arten von „Beziehungen“ zwischen Akteuren, Grup-
pen, Netzwerken, Organisationen, Gesellschaften und so weiter, von denen in
der Soziologie überreichlich die Rede ist: Bekanntschaften, Informationsflüs-
se, Interdependenzen, strategisches Handeln, Interaktionen, Ko-
Orientierungen und Kommunikationen, soziale Beziehungen, Rollenmuster,
Transaktionen, Macht, Herrschaft und Beeinflussungen aller Art.

System-Durchdringung

Als System-Durchdringung (oder „Interpenetration“) wird – ganz allgemein –


die gegenseitige „Durchdringung“ von Systemen bezeichnet. Das ist etwas
anderes als eine System-Relation, bei der die Systeme sich nicht „durchdrin-
gen“, sondern als in ihrem „Sinn“ strikt abgegrenzte Einheiten in Beziehun-
gen zueinander stehen, etwa die des Tausches. Drei Bedeutungen des Begriffs
58 Die Konstruktion der Gesellschaft

der

Interpenetration finden sich in der Soziologie: die Überschneidung der Syste-


me, ihre Ko-Konstitution und die Fusion der Handlungsvorschriften von im
„Sinn“ an sich verschiedenen Systemen.
Die wechselseitige Überschneidung der Systeme ist nur ein Spezialfall der o.a. System-
Inklusion: Die Akteure bzw. Untersysteme gehören verschiedenen sozialen Systemen bzw.
Obereinheiten an. Dadurch kommt es zu „Kreuzungen“ auch in den Orientierungen und den
daran anschließenden Handlungen, was dann als Inter-„Penetration“ bezeichnet wird. Die Ko-
Konstitution bezeichnet den allgemeinen, oben bereits angesprochenen und noch ausführlich
zu behandelnden Vorgang, daß sich die Systeme gegenseitig anregen, irritieren, aufbauen und
begrenzen und so in ihrer Existenz ermöglichen. Die Fusion schließlich bezieht sich auf die
Inhalte der „Programme“ in den kulturellen Systemen, nach denen sich die Akteure in den
jeweiligen sozialen Systemen bei ihrem Handeln richten. Denn: Zwar sind die sozialen und
die kulturellen Systeme immer durch den Code der Orientierung getrennt, nicht aber unbe-
dingt auch in den Programmen des Handelns. Ein Hausbesitzer kann, obwohl im sozialen
System der Wirtschaft handelnd, aus Menschenfreundschaft durchaus einem armen Teufel
die Miete erlassen – und damit, wennzwar immer noch im Code der Zweckrationalität, in sei-
nem Handeln ein wenig Mildtätigkeit zeigen. Und der an sich mittellose und bedauernswerte
Mieter tut gleichwohl alles, um seinen Zahlungen nachzukommen, um ja nicht das Mitleid
des anderen zu bemühen. Wenn solche „Überschneidungen“ von „Fremd“-Sinn in den Pro-
grammen der kulturellen Systeme für die jeweils immer natürlich getrennten sozialen Syste-
me auch institutionell verankert sind, wenn sie also tatsächlich zum „Programm“ der sich
„durchdringenden“ Systeme gehören, dann liegt die gemeinte Fusion vor. Es wird vermutet
daß diese Art der Interpenetration als – institutionell abgesicherte oder kulturell verankerte –
Fusion von Programminhalten an sich getrennter Codes von Systemen eine Bedingung der In-
tegration funktional differenzierter Gesellschaften sei, in denen durch die Fusion der Pro-
gramme die Radikalisierung des jeweiligen System-Sinns gebremst werde (vgl. dazu auch
noch Kapitel 6 unten in diesem Band).

Man sieht leicht: Überschneidung, Ko-Konstitution und Fusion bezeichnen


jeweils etwas ganz anderes. Solange sich die Soziologie nicht einigen kann,
was sie unter Interpenetration verstehen möchte, müssen wir für die offenbar
unterschiedlichen Sachverhalte natürlich unterscheidbare Worte einführen.

System-Aggregation

System-Aggregationen beschreiben dann – ganz allgemein – die besondere


Art, wie sich ein bestimmtes System durch das Zusammenspiel von System-
Abgrenzungen, System-Inklusionen, System-Relationen und System-
Durchdringungen, letztlich aber natürlich nur als Folge des, wie auch immer
aufeinander bezogenen Handelns von Akteuren, „konstituiert“, etwa eine so-
ziale Bewegung als Ansteckungsprozeß, ein Markt als Aufeinandertreffen von
Angebot und Nachfrage, eine Verhandlung als Interaktion zwischen Akteuren,
Akteure und soziale Systeme 59

die nach einem Kompromiß suchen, ein Mittagessen als eingespieltes Ritual
von einander gut bekannten Personen oder das kulturelle System einer Grup-
penidentität als Ergebnis eines Prozesses der Verfestigung von Erwartungen
durch vorausgegangene Interaktionen, etwa bei Soldaten im Schützengraben,
die sich gegenseitig nach einiger Zeit als „Kameraden“ sehen, obwohl sie vor-
her nichts miteinander zu tun hatten. System-Aggregationen sind meist weit
mehr als jene einfache „Summe“ der Teile, die für die System-Inklusion kenn-
zeichnend war.
Wir können die verschiedenen System-Relationen und die daran anschließenden komplexeren
System-Aggregationen der Teile zu einem Ganzen hier nicht alle aufführen. Das ganze Buch
handelt davon in allen seinen sechs Bänden. Nur eines ist an dieser Stelle noch wichtig: Es
können grundsätzlich alle Arten von sozialen Systemen untereinander und mit individuellen
Akteuren in Beziehung kommen. Beispielsweise: Einzelpersonen können von VW ein Auto
kaufen, das die Produktionsarbeiter angefertigt haben, und VW kann versuchen, sich der Be-
steuerung seiner Gewinne durch das Finanzamt zu entziehen, worüber dann der Ministerprä-
sident von Niedersachsen mit dem Vorstandssprecher von VW beim Opernball in Wien ein
paar nette Worte wechselt und damit den Standort Deutschland im Rahmen der Glo-
balisierung sichert. Und zum Opernball ist der Ministerpräsident gekommen, weil er und sei-
ne (zeitweilige) Gattin seit langem gut mit den Spitzen der Wirtschaft aus der Sauna bekannt
waren und weil alle dachten, daß der gemeinsame Besuch des Opernballs mit dem Learjet der
Firma eine gute Gelegenheit zur Erzeugung von physischem Wohlbefinden und sozialer
Wertschätzung auch im Interesse des Wohlergehens der Gesellschaft sein könnte. In Köln
nennt man diese Form der System-Aggregation Klüngel, im Ruhrgebiet Filz, im Süden Vet-
terleswirtschaft. Inzwischen hat es sogar einen Namen: das System Kohl. In den vornehmeren
Versionen der Sozialwissenschaft kennt man kein knappes Wort dafür und hat deshalb den
umständlichen Ausdruck „informal governance structure“ erfinden müssen.

Das aggregierte Ergebnis hängt auch in sehr weitreichenden Konsequenzen


oft von nahezu unmerklich kleinen Umständen und sogar vom Zufall ab, etwa
ob ein Attentat wirklich erfolgreich ist oder nicht und damit die gesamte
Weltgeschichte einen anderen Verlauf nimmt, beispielsweise weil der Atten-
täter bei der Schärfung der Sprengsätze gestört wurde und nur einen Spreng-
satz in Gang setzen konnte, der dann für das angestrebte Ziel nicht ausreichte.
Oft ist das Ergebnis aber auch gegen deutliche Schwankungen der Umstände
unempfindlich, wie etwa dann, wenn eine Revolution einmal in „Bewegung“
geraten ist und niemand, auch kein Kaiser Wilhelm, sie mehr aufzuhalten
vermag.

Die Gesellschaft als Mehrebenen-System

Alle sozialen Systeme „bestehen“ letztlich nur über die Beiträge individueller
Akteure zu ihrem Prozessieren. Insofern sind soziale Systeme notwendiger-
weise Mehrebenen-Systeme mit (mindestens) einer Mikro- und einer Makro-
60 Die Konstruktion der Gesellschaft

Ebene (vgl. dazu auch schon Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser
„Speziellen Grundlagen“). Akteure sind – als psychische Systeme – die immer
beteiligten Mikro-Elemente, die ja erst durch ihren Beitrag das aggregierte
Makro-Phänomen einer Zusammenkunft konstituieren. Alle sozialen Systeme
sind in diesem Sinne also immer schon „Makro“-Systeme.
Die sozialen Systeme selbst können nun wiederum in weitere Makro-
Ebenen sozialer Systeme eingebettet, im einfachsten Fall also: inkludiert, sein.
Zusammenkünfte, Gruppen und Organisationen gibt es zum Beispiel immer
nur im „Kontext“ des sozialen Systems einer Gesellschaft. Solche Zwischen-
stufen zwischen der Mikroebene der Akteure (oder „kleiner“ Sozialsysteme
wie Familien, Gruppen oder Dörfer) und einer weiter gezogenen Makroebene
als „Kontext“ sind nicht selten, wie bei der Katholischen Kirche mit den De-
kanaten und Bistümern als Ebenen zwischen den Gläubigen und den Priestern
einerseits und der allumfassenden Kirche andererseits; oder wie bei der SPD
mit den Ortsvereinen, Unterbezirken und Bezirken als Ebenen zwischen den
einfachen Parteimitgliedern und der Bundespartei mit dem Bundesvorstand
und Rudolf, Oskar oder Gerhard an der Spitze. Die Systeme, die diese Zwi-
schenstufe zwischen der Mikro-Ebene der individuellen Akteure und irgend-
einem Makro-System ausmachen, bilden die sog. Meso-Ebene.
Auch das Verhältnis zwischen den verschiedenen Ebenen einer Ge-
sellschaft oder eines anderen sozialen Gebildes kann ganz unterschiedlich und
ganz verschieden komplex sein. Drei Formen von Mehrebenensystemen las-
sen sich vor diesem Hintergrund unterscheiden: Die Mehrebenen-Inklusion,
die Mehrebenen-Organisation und die Vermittlungs-Netzwerke.
Die Mehrebenen-Inklusion ist, ganz in Entsprechung zur oben behandelten System-Inklusion,
die einfache Mitgliedschaft der „Mikro“-Einheiten in die weiter gezogenen Systeme einer
Makroebene, ohne daß es außer der bloßen Bildung von größeren Einheiten noch eine weitere
Organisation oder Aggregation der Systeme gäbe. Familien bilden auf diese Weise Ver-
wandtschaften, die wiederum aggregieren sich zu Clans, und daraus setzt sich dann ein
Stamm zusammen; Schüler sind Mitglieder von Schulklassen, die wiederum sind Teile von
Schulen, die ihrerseits einem Schuldistrikt in einem bestimmten Bundesland zugehören; Dör-
fer und Städte sind Teile von Regionen, die wieder Teile von Nationen und die wiederum
Teile von transnationalen Organisationen. Die Besonderheit ist, daß es sich nur um eine ein-
fache Aggregation von Teilen zu einem Ganzen handelt, wobei jedoch die Mitgliedschaften
der Teile in unterschiedlichen Obereinheiten durchaus Folgen für deren Handeln haben kön-
nen. Die in Kapitel 11 von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grund-
lagen“ besprochene Kontext- und Mehrebenenanalyse geht von diesem Konzept der Mehr-
ebenen-Inklusion aus. Die Mehrebenen-Inklusion ist also, wie man sieht, nur ein Spezialfall
der System-Inklusion: Das Ganze ist die Summe seiner Teile. Sonst nichts. Eine Mehrebenen-
Organisation ist „mehr“ als die bloße Summe ihrer Teile. Es sind Fälle von System-
Relationen. Dabei bilden die Untereinheiten im Rahmen und zusammen mit der Obereinheit
ein neues und eigenständig operierendes soziales System, beispielsweise einen Betrieb mit
seinen Unterabteilungen und informellen Gruppen, in denen die Personen agieren, einen Ver-
band, der seine Mitglieder in der Bonner bzw. Berliner Lobby vertritt, oder die Europäische
Akteure und soziale Systeme 61

Union mit ihren Mitgliedstaaten und deren (jeweils wohl wechselnden) Koalitionen gegen
„Brüssel“. Bei den Mehr-ebenen-Organisationen lassen sich drei Typen von System-
Relationen unterscheiden: die hierarchische Organisation, die genossenschaftliche Organisa-
tion und die Vermittlungs-Netzwerke. Bei der hierarchischen Mehrebenen-Organisation be-
ruhen die Beziehungen der verschiedenen Ebenen auf vertikal bindenden Weisungsbefugnis-
sen „von oben nach unten“, wie etwa bei einer Behörde oder bei einer militärischen Einheit.
Die genossenschaftliche Mehrebenen-Organisation erfolgt dagegen über horizontale Koordi-
nationen und über die Delegation von Befugnissen und deren Repräsentation „von unten nach
oben“. Vermittlungs-Netzwerke sind eine Art von Kombination der hierarchischen und der
genossenschaftlichen Mehrebenen-Organisation: mehr oder weniger lockere Verbünde, bei
denen es über informelle Koalitionen, gute Bekanntschaften, eingeschliffene Praktiken, Ver-
handlungen, Kompromisse, Absprachen und zahlreiche Tauschgeschäfte zu einer Vermittlung
der Interessen der jeweils vertretenen „unteren“ Ebene mit der „oberen“ Ebene kommt. Die
Vertreter der Verbünde interagieren dabei häufig alsbald auch auf der ganz persönlichen und
privaten Ebene. Und es stellen sich rasch auch jene Verhältnisse ein, die wir oben mit Filz,
Klüngel oder informal governance structure bezeichnet haben. Man muß diese Verflech-
tungen, Koalitionen und, wie sie auch genannt werden, „Policy-Netzwerke“1 wegen ihrer in-
tegrativen Vermittlungsfunktionen keineswegs immer nur mit Besorgnis wahrnehmen. Anlaß
zur Besorgnis gibt es erst dann, wenn die beteiligten Verbände und Korporationen nur noch
als „Lobbyisten“ ihrer Sache auftreten, egoistisch ihren kurzfristigen Vorteil suchen und sich
nur noch zu dem Zweck zusammenfinden, bei der Verteilung des andernorts produzierten ge-
sellschaftlichen Reichtums selbst möglichst gut wegzukommen.

Die Verbände und korporativen Akteure auf der Meso-Ebene, die die Interes-
sen der individuellen Akteure bündeln, nach außen vertreten und bei den ge-
sellschaftlichen Entscheidungsinstanzen zu artikulieren und durchzusetzen
versuchen, wie die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände oder die sog.
gesellschaftlich relevanten Gruppen,wie die Kirchen oder der Deutsche Fuß-
ballbund, werden zusammenfassend auch als intermediäre Instanzen bezeich-
net. Sie vermitteln zwischen der Mikro-Ebene der individuellen Akteure und
der Makro-Ebene etwa des politischen Systems. Eine solche (neo–
)korporatistische Mehrebenen-Organisation der Gesellschaft leistet, wie ver-
mutet wird, in den modernen Gesellschaften einen wichtigen Beitrag zur
Vermittlung und zum Ausgleich der Interessen und trägt so zu deren Integra-
tion bei. Die wichtigsten Voraussetzungen für diese Vermittlungsleistung sind
die Eigenständigkeit, die Pluralität und die Kreuzung der sozialen Kreise bei
den intermediären Instanzen. Nur so kommt es zu einer „wirklichen“ Interes-
senvermittlung, und nicht, wie in der guten alten DDR, bloß zu einem Abblo-

1
Vgl. Renate Mayntz, Policy-Netzwerke und die Logik von Verhandlungssystemen, in:
Renate Mayntz, Soziale Dynamik und politische Steuerung. Theoretische und methodolo-
gische Überlegungen, Frankfurt/M. und New York 1997, S. 239-262; Renate Mayntz,
Funktionelle Teilsysteme in der Theorie sozialer Differenzierung, in: Renate Mayntz,
Bernd Rosewitz, Uwe Schimank, Rudolf Stichweh, Differenzierung und Verselbständi-
gung. Zur Entwicklung gesellschaftlicher Teilsysteme, Frankfurt/M. und New York 1988,
S. 22f.
62 Die Konstruktion der Gesellschaft

cken der Wünsche von unten und einem Abnicken der Entscheidungen von
oben. Daher sind für diese Funktion allenfalls die genossenschaftliche Mehr-
ebenen-Organisation, besonders aber die Vermittlungs-Netzwerke geeignet,
keinesfalls jedoch die der hierarchischen Mehrebenen-Organisation. Viel-
leicht spielt dabei auch die kulturell eingespielte Fusion in den Handlungs-
programmen eine Rolle, mit denen die Vertreter der intermediären Instanzen
miteinander umgehen – und deshalb auch bei allen Interessengegensätzen,
fernab von Frau und Kind, in Brüssel oder sonstwo gelegentlich die Sauna
gemeinsam besuchen.

Gesellschaft und Weltgesellschaft

Gesellschaften sind allesamt als Mehrebenen-Systeme mit meist mehreren


Ebenen auf der Meso-Ebene aufgebaut, oft auch wie ein korporativer Akteur –
wie etwa die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland mit dem Bundes-
kanzler als dem Agenten und dem Volk als Prinzipal und den Ländern, den
Verbänden und den „gesellschaftlich relevanten Gruppen“ als Teilen dieser
Zwischenebene. Worin die Grenze des sozialen Systems der Gesellschaft
liegt, läßt sich nun auch leicht bestimmen: Es ist die Reichweite der sozialen
Bedingungen für die Nutzenproduktion und deren soziale Folgen, sei es bezo-
gen auf die materiellen Möglichkeiten, die institutionellen Regeln oder die
kulturellen Bezugsrahmen. Weil sich diese Grenze offenkundig im Zuge der
sog. Globalisierung immer weiter ausbreitet, ist es nicht abwegig, inzwischen
von der Weltgesellschaft als dem weitesten Rahmen der Nutzenproduktion
und ihrer sozialen Folgen zu sprechen. Die Weltgesellschaft ist das umfas-
sendste soziale System, das wir uns derzeit denken können. Die einzelnen Ge-
sellschaften sind, meist in der Form von Nationalstaaten, in die Weltgesell-
schaft inkludiert und bilden – teilweise wieder im Rahmen von transnationa-
len Verbünden, wie die Europäische Gemeinschaft oder die OECD – insoweit
inzwischen nur eine weitere Zwischenebene im Mehrebenen-System der
Weltgesellschaft. Die Weltgesellschaft bindet alles zusammen, was wir an so-
zialen Gebilden und Prozessen in der Welt vorfinden und womit es die Sozio-
logie zu tun hat.
Kapitel 3

Soziale Differenzierung

Die Nutzenproduktion in einer Gesellschaft findet so gut wie ausschließlich in


sozialen Systemen statt, wenngleich natürlich nur individuelle Menschen ein
Käsebrötchen essen oder ein Musikstück hören, sich daran delektieren und ei-
ne Nutzenstiftung empfinden können. Soziale Differenzierung bezeichnet
dann – ganz allgemein – die Unterschiedlichkeit in der Art der Organisation
der Nutzenproduktion in den sozialen Systemen einer Gesellschaft. Diese Un-
terschiede können natürlich ganz verschiedene Aspekte betreffen, formale wie
inhaltliche. Wir unterscheiden drei inhaltliche Dimensionen von Unterschie-
den bei den sozialen Systemen nach der Art der Nutzenproduktion und der
Definition der jeweiligen sozialen Produktionsfunktionen: Unterschiede in der
funktionalen Aufteilung der verschiedenen Beiträge zur Nutzenproduktion auf
verschiedene soziale Systeme, Unterschiede in den kulturellen Praktiken, die
sich bei der Organisation der Nutzenproduktion oder auch als eigener Bereich
der Nutzenproduktion entwickelt und verfestigt haben, und Unterschiede in
Hinsicht auf die normative Konformität mit den zentralen Institutionen einer
Gesellschaft der in den verschiedenen sozialen Systemen und Gebilden je-
weils verfolgten Ziele und benutzten Mittel. Entsprechend kann auch von
funktionaler, kultureller und normativer Differenzierung gesprochen werden.
Diese Unterscheidung einer funktionalen, sozialen und normativen Diffe-
renzierung ist natürlich nur analytischer Art. Die konkreten sozialen Gebilde
können in diesem dreidimensionalen Raum empirisch natürlich aus allen mög-
lichen Kombinationen bestehen: Die sich ganz martialisch oder hedonistisch
gebende Jugendkultur hat beispielsweise vielleicht auch eine sehr wichtige
gesellschaftliche Funktion, und nicht alles, was in den staatstragenden kultu-
rellen Milieus gedacht und getan wird, ist mit den Regeln der Verfassung ver-
einbar, auf deren Einhaltung die an diesen Milieus Beteiligten sonst so achten
(vgl. dazu auch noch den Schluß dieses Kapitels).
64 Die Konstruktion der Gesellschaft

3.1 Funktionale Differenzierung

Als funktionale Differenzierung wird – so sei noch einmal ganz allgemein


wiederholt – die Unterteilung des sozialen Systems der Gesellschaft in ar-
beitsteilig spezialisierte, deshalb typisch unterschiedliche und in Austausch
befindliche Systeme der Nutzenproduktion bezeichnet.1 Die funktional so un-
terscheidbaren sozialen Systeme seien funktionale Sphären genannt. In den
funktionalen Sphären werden jeweils spezielle „funktionale“ Leistungen er-
bracht, die zusammen und im Austausch der Systeme die Versorgung mit in-
teressanten Ressourcen und damit die Nutzenproduktion sichern. Diese
speziellen funktionalen Leistungen definieren das Oberziel der
Nutzenproduktion für die betreffende funktionale Sphäre und damit die
jeweiligen primären Zwischengüter bzw., so könnte man sie nennen, die
„funktionalen Ziele“ und darüber den Code der Orientierung, der in der
jeweiligen funktionalen Sphäre alles beherrscht. Dieser Code ist der
funktionale Imperativ, um den sich in der jeweiligen funktionalen Sphäre
letztlich alles dreht. Wer sich an diesen Code, etwa als Positionsträger, nicht
hält, wird wenig von seiner Beteiligung an der jeweiligen funktionalen Sphäre
haben.

Der Hintergrund: die Vorteile der Arbeitsteilung

Die funktionale Differenzierung beruht also immer auf einer Spezialisierung


von Leistungen. Der Hintergrund ist ein wohlbekannter, eher technischer
Sachverhalt, auf den schon Adam Smith hingewiesen hat: Bei arbeitsteiliger
Spezialisierung läßt sich mit dem gleichen Aufwand mehr produzieren. Für
Betriebe und Organisationen ist die funktionale Differenzierung in der Form
der Arbeitsteilung eine sehr handgreifliche Angelegenheit: Buchhaltung, Ver-
trieb, Produktion, Marketingabteilung und Geschäftsführung etwa haben je-
weils ganz spezielle Aufgaben, deren simultane Erfüllung erst das Gesamt-
produkt sichert. Die verschiedenen Bereiche sind deshalb aufeinander ange-
wiesen und haben, wegen des möglichen Ertrags der arbeitsteiligen Zusam-

1
Vgl. zum Problembereich der funktionalen Differenzierung insbesondere die folgenden
Übersichten: Hartmann Tyrell, Anfragen an die Theorie der gesellschaftlichen Differen-
zierung, in: Zeitschrift für Soziologie, 7, 1978, S. 175-193; Renate Mayntz, Funktionelle
Teilsysteme in der Theorie sozialer Differenzierung, in: Renate Mayntz, Bernd Rosewitz,
Uwe Schimank und Rudolf Stichweh, Differenzierung und Verselbständigung. Zur Ent-
wicklung gesellschaftlicher Teilsysteme, Frankfurt/M. und New York 1988, S. 11-44;
Uwe Schimank, Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, Opladen 1996, insbesondere
Kapitel 1 bis 3; Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1997, S.
595-608.
Soziale Differenzierung 65

menarbeit, auch ein gemeinsames Interesse daran, daß das gesamte System
der arbeitsteiligen Produktion auch funktioniert.
Das ist die eine, die kooperative Seite der Arbeitsteilung und der
funktionalen Differenzierung. Auf der anderen Seite haben jeder
Einzelbereich, jede spezielle funktionale Sphäre, bzw. die darin agierenden
Akteure (!) aber auch ein sehr spezielles egoistisches oder gar
antagonistisches Interesse: den Wert und die Bedeutung des jeweiligen
speziellen Beitrags möglichst zu erhöhen und bei der Verteilung des Ertrags
der gemeinsamen Produktion möglichst günstig dazustehen. Daher entwickeln
die verschiedenen funktionalen Sphären – über ihre Codierung und die daran
orientierte Nutzenproduktion der Akteure in den funktionalen Sphären –
nahezu unausweichlich Tendenzen, ihre jeweilige „Eigenlogik“ möglichst
zuzuspitzen und in ihrer Geltung im Gesamtsystem durchzusetzen. Kurz: Der
funktionalen Differenzierung wohnen immer zentripetale integrative
Tendenzen inne, hier vor allem das gemeinsame Interesse der Akteure in den
verschiedenen funktionalen Sphären an der arbeitsteiligen Kooperation, und
zentrifugale desintegrative Tendenzen, die vor allem mit dem Interesse der
Akteure in den funktionalen Sphären zur Ausweitung der Eigenlogik der
Sphäre und dem Interesse daran zu tun haben, bei der Verteilung des
gemeinsam erstellten Produktes möglichst günstig dazustehen. Kurz: Die
funktionale Differenzierung ist ein besonders interessanter und wichtiger Fall
der antagonistischen Kooperation und der Einrichtung einer sozialen
Ordnung (vgl. dazu insbesondere auch noch Band 3, „Soziales Handeln“,
dieser „Speziellen Grundlagen“).

Funktionale Spezifizität und funktionale Diffusität

In Gesellschaften oder Gruppen mit einer nur gering ausgeprägten arbeitstei-


ligen Spezialisierung erbringen die verschiedenen sozialen Systeme alle not-
wendigen funktionalen Leistungen gleichzeitig. Soziale Systeme, die mehrere
Funktionen gleichzeitig erfüllen, werden auch als funktional diffus bezeichnet,
soziale Systeme, die eine ganz spezielle funktionale Aufgabe übernommen
haben und nur diese ausüben, als funktional spezifisch. Ein Facharzt, der sich
nur für die Computertomographie der Leber zuständig fühlt, unterhält bei-
spielsweise zu seinen Patienten eine funktional ausgesprochen spezifische Be-
ziehung, ein Hausarzt, der sich auch um das Seelenleben und den familiären
Kummer seiner Patienten kümmert, dagegen eine funktional diffuse.
Es ist nicht allgemein anzugeben, welche Art der Organisation der Nutzen-
produktion besser ist – die funktional spezifische oder die funktional diffuse.
Sehr viele Nutzenproduktionen sind zwar effizienter, wenn sie funktional spe-
66 Die Konstruktion der Gesellschaft

zifisch organisiert sind, wie wohl die über die Produktion von Autos oder die
über die Entfernung eines Blinddarmes. Genau deshalb gibt es ja die Arbeits-
teilung. Das gilt vor allem für die Bereitstellung der materiellen Zwischen-
produkte für die Nutzenerzeugung. Die Bereitstellung von Wertschätzung,
insbesondere die Vermittlung von Affekten, leidet jedoch eher unter der Zu-
nahme von funktionaler Spezialisierung: Man will anerkannt und geliebt wer-
den, so wie man insgesamt ist, und eben nicht bloß als Autokunde oder als
Blinddarmpatient. Daher hätten die Menschen am liebsten den Hausarzt als
Spezialisten. Aber den gibt es nicht. Und so entstehen neben den funktional
spezifischen Angeboten der Fachärzte auch funktional spezifische Angebote
für funktional diffuse Leistungen, wenn es einem allgemein schlecht geht: Na-
turheilverfahren, Heilpraktiker, Esoterik – in sorgfältiger Abgrenzung und
Arbeitsteilung zur sog. Schulmedizin.

Spezialisierung und Funktionsverlust

Funktionale Differenzierung bedeutet in aller Regel, daß bestimmte soziale


Systeme, die ehemals funktional diffus waren, alle anderen Funktionen abge-
ben – bis auf die eine, für die sie besonders geeignet sind. Es gibt also zwei
Vorgänge gleichzeitig: einen Funktionsverlust einerseits und eine funktionale
Spezialisierung andererseits.
Das gilt beispielsweise für die Entwicklung der Familie. In den vormodernen Gesellschaften
hatte sie eine ganze Reihe von verschiedenen Funktionen: die biologische Reproduktion, die
Sozialisation, wirtschaftliche Versorgung und Alterssicherung, die Versicherung gegen
Krankheit und Arbeitsunfähigkeit und bestimmt auch die Versorgung mit Liebe und Affekt.
Inzwischen hat die Familie bzw. die Partnerschaft (fast) nur noch eine Funktion: die Versor-
gung mit Affekten. Das hat eine interessante doppelte Folge: Als „individuelle“ Angelegen-
heit werden Familie und Partnerschaft immer gefährdeter, weil jetzt alles an der Affektver-
sorgung hängt und weil, wenn die nicht mehr funktioniert, die Beziehung zerbricht. Die stei-
genden Scheidungszahlen sind ein Beleg dafür. Aber als spezielle „Institution“ steht die Fa-
milie bzw. die Partnerschaft unangefochtener da und ist unentbehrlicher als je zuvor: Sie ist
zunehmend der „Ort“ geworden, an dem es nur noch die Erzeugung von Affekten gibt. Und
deshalb suchen sich die Menschen, wenn die eine Liebe stirbt, so bald wie möglich eine neue
– und stärken damit die Institution von Ehe und Partnerschaft in einem Meer der Trennungen.

Mit Funktionsverlust und Spezialisierung sind zwei strukturelle Veränderun-


gen in den Beziehungen der sozialen Systeme verbunden: Sie werden vonein-
ander unabhängiger und abhängiger – gleichzeitig. Sie werden interdependent.
Die Spezialisierung bedeutet ja, daß sich die sozialen Systeme ganz auf die
eine spezifische funktionale Aufgabe konzentrieren können und nicht noch
Rücksicht auf andere Dinge nehmen müssen. Funktionsverlust heißt aber
auch, daß die sozialen Systeme jetzt auf den Austausch mit den anderen Sys-
Soziale Differenzierung 67

temen in einem Maße angewiesen sind, wie das vorher nicht der Fall war.
Man könnte fast meinen, daß sich das System in der Trennung der Bereiche
selbst wieder bindet. Mit solchen Metaphern eines dialektischen Verhältnisses
von „Differenzierung und Integration“ wollen wir uns nicht zufrieden geben.
Denn oft genug unterbleibt die Spezialisierung auch oder wird wieder aufge-
geben. Die Differenzierung einer Gesellschaft trägt ihre Integration eben nicht
schon gewissermaßen logisch in sich (vgl. dazu auch noch unten mehr dazu,
sowie Kapitel 6 diesen Bandes). Und spätestens dann wird erkennbar, daß al-
les, was soziale Systeme tun oder sind, ob sie sich in ihrer vorangetriebenen
funktionalen Differenzierung auch immer wieder integrieren oder nicht, die
im Ergebnis stets offene Folge des Handelns von menschlichen Akteuren ist.

Funktionale Imperative

Die zentrale Besonderheit der jeweiligen funktionalen Sphären ist also deren
jeweilige Spezialisierung. Um diese spezielle Leistung dreht sich in der funk-
tionalen Sphäre alles. Es ist das jeweilige kulturelle bzw. funktionale Ziel der
Sphäre, das für sie geltende primäre Zwischengut. Das ist der funktionale Im-
perativ, um den herum alles andere in der jeweiligen Sphäre aufgebaut ist. In
der Buchhaltung gilt, um das Beispiel von dem Betrieb noch einmal auf-
zugreifen, eben ein anderer funktionaler Imperativ als in der Marketingabtei-
lung, und bei der Computertomographie ein anderer als bei der romantischen
Liebe einer Zweierbeziehung. Und der Betrieb insgesamt unterliegt in seinen
weiteren Verflechtungen wiederum einem anderen funktionalen Imperativ als,
sagen wir einmal, ein Finanzamt, so wie das auch für die Facharztpraxis oder
ein Liebespaar gilt. Und wehe, dieser Imperativ wird von einem Akteur nicht
erkannt oder gar verwechselt!
Arbeitsteilige Spezialisierungen, funktionale Sphären und damit: funktio-
nale Imperative gibt es wie Sand am Meer. Wichtig für die Bestimmung einer
typischen funktionalen Sphäre ist nur, daß es innerhalb jeder Sphäre eine be-
sondere und typisch von anderen Sphären abgegrenzte Orientierung und je-
weils ein Oberziel gibt, um das sich in dieser Sphäre alles dreht.
Im Bereich der Wirtschaft geht es – beispielsweise – um das Oberziel der Gewinnmaximie-
rung, in der Politik um die Gewinnung von Legitimation und Wählerstimmen, in Familien um
Liebe, Expressivität und Affekterzeugung, im System des Rechts um formale Gerechtigkeit
und Normbewahrung, in der Wissenschaft um die Wahrheit, im Sport um Rekorde, in den
Massenmedien um Sensationen und möglichst üble Neuigkeiten, letztlich jedoch um Aufla-
gen und Einschaltquoten, in einer Gärtnerei um schöne grüne Pflanzen, im Restaurant um ein
gutes Essen und eine angenehme Atmosphäre – und so weiter.
68 Die Konstruktion der Gesellschaft

Dieses Oberziel beschreibt das in einer bestimmten funktionalen Sphäre als


„primär“ wichtig definierte primäre Zwischengut. Und nur über dieses primä-
re Zwischengut können die Akteure, die sich in der betreffenden funktionalen
Sphäre aufhalten, soziale Wertschätzung und die Mittel für das physische
Wohlbefinden erlangen. Die funktionalen Imperative definieren damit den
Code und somit den besonderen „Rahmen“, unter dem die Orientierung für
das Handeln in der jeweiligen funktionalen Sphäre steht: In einem Bordell hat
man, so meinte Tom Wolfe einmal, nur eine Chance: Die beste Hure des Hau-
ses sein zu wollen. Und Hans Eichel war als Bundesfinanzminister strikt ge-
gen die Vermögenssteuer, für die er sich als hessischer Ministerpräsident noch
sehr stark gemacht hatte: In Berlin sitzt er hinter einem anderen Busch, da än-
dern sich die Perspektiven und die Interessen, schrieb damals die Süddeut-
sche.
Die funktionalen Imperative bilden den Kern der Erwartungen an die Inha-
ber der Positionen in den funktionalen Sphären. An funktional definierte Posi-
tionen geknüpfte institutionalisierte Erwartungen werden in der Soziologie
auch als soziale Rollen bezeichnet (vgl. dazu noch Band 5, „Institutionen“,
dieser „Speziellen Grundlagen“). In den sozialen Rollen spiegeln sich die so-
zialen Produktionsfunktionen in den funktionalen Sphären, indem sie über die
spezielle Funktion der Position festlegen, bei welchem Handeln soziale Wert-
schätzung und physisches Wohlbefinden erlangt werden können – und insbe-
sondere: wann nicht!
Zu den funktionalen Imperativen gehört neben dem Code der Orientierung
meist auch ein bestimmtes Programm des Handelns, nach dem in der jeweili-
gen funktionalen Sphäre agiert werden muß: Ein Begräbnisunternehmer muß
mit seiner Kundschaft anders umgehen als eine Angestellte in einer Boutique
für Brautkleider. Und beide wiederum anders als der Pfarrer oder der Versi-
cherungsdetektiv, der die untröstliche, aber jetzt plötzlich über eine Lebens-
versicherung sehr reich gewordene junge Witwe am Grabe sehr aufmerksam
beobachtet und damit sein Geld verdient.

Funktionale Sphären und sozialer Sinn

Die funktionalen Imperative bestimmen damit den sozialen Sinn des Handelns
in der jeweiligen funktionalen Sphäre. Sie sind der Kern der jeweiligen „Ei-
genlogik“ des Handelns in den verschiedenen funktionalen Sphären einer Ge-
sellschaft. Das konkrete Handeln ist dann nichts anderes als das sichtbare Er-
gebnis des Bestrebens, die funktional spezifischen primären Zwischengüter
möglichst günstig unter Kontrolle zu bekommen. Und dies geschieht dann am
Soziale Differenzierung 69

ehesten und am effizientesten, wenn der Akteur den spezifischen sozialen


Sinn der Situation korrekt identifiziert und sich – in diesem „Rahmen“ – ge-
schickt und „produktiv“ verhält. Mit einer dumpfen „Konformität“ zu den
Normen einer solchen Situation oder mit einer bloßen Furcht vor Sanktionen
hat das alles nicht viel zu tun: Es ist für den Akteur von besonderem Interesse,
die spezifische Eigenlogik der jeweiligen funktionalen Sphäre gut zu durch-
schauen und ihrem Code und Programm möglichst situationsgerecht zu fol-
gen. Ein situationsgerechtes Handeln besteht somit insbesondere in der Be-
achtung der jeweiligen Eigenlogik – immer mit dem Ziel einer möglichst effi-
zienten Nutzenproduktion. Denn die bleibt ja stets das eigentliche Ziel allen
Tuns. Und wenn die Nutzenproduktion in einer funktionalen Sphäre sehr effi-
zient ist, dann stellen sich auch leicht jene Phänomene der Begeisterung und
Hingabe für einen funktionalen Imperativ ein, die Friedrich A. Tenbruck einst
unserem guten Sir Ralf Dahrendorf und dessen „Homo Sociologicus“ so kräf-
tig und zu Recht entgegenhielt (vgl. dazu bereits Band 1, „Situationslogik und
Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“).

Die Abkopplung der Motive

Damit ein arbeitsteiliges System funktioniert, müssen die jeweiligen speziel-


len Leistungen ohne größere Reibungsverluste erbracht werden können. Ins-
besondere muß sichergestellt werden, daß die Akteure sich auch verläßlich
dem jeweiligen funktionalen Imperativ beugen, auch dann, wenn sie sich, wie
das durchaus vorkommt, in funktionalen Sphären bewegen, die von ihnen
ganz unterschiedliche oder gar widersprüchliche Dinge verlangen. Die Wir-
kung der Zugehörigkeit von Akteuren auf deren Handeln ist jedoch leicht
vorherzusagen: In den funktionalen Sphären müssen sich die Akteure den
Vorgaben der funktionalen Oberziele beugen. Und sie tun das in nun wenig
erstaunlicher Weise daher auch. Denn wenn nicht, dann verfehlen sie den je-
weils geltenden sozialen Sinn, werden nicht „verstanden“, erhalten die dort
angebotenen Gegenleistungen nicht, haben mit ihrem Tun keinerlei Erfolg
und können deshalb nur sehr wenig an Nutzen für sich selbst produzieren. Das
wissen die Akteure normalerweise auch ganz genau – oder bekommen es als-
bald zu spüren.
Das ist die eine Seite, die Seite des reibungslosen Funktionierens der Sys-
teme durch die Kraft der funktionalen Imperative bei der Definition der Situa-
tion. Nun aber die andere Seite: die Akteure, die die Positionen in den funkti-
onalen Sphären besetzen und in ihrem Handeln die geforderten Funktionen
wahrnehmen sollen. Weil sich die Akteure im Prinzip in verschiedenen funk-
70 Die Konstruktion der Gesellschaft

tionalen Sphären gleichzeitig aufhalten (müssen!), entwickeln sie keine ein-


heitlichen und gleichgerichteten, sondern immer nur situationsspezifische In-
teressen und Identitäten – so wie bei den Hotelbesitzern im Experiment von
Richard T. LaPiere aus Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Spe-
ziellen Grundlagen“, die sich ihren privaten Rassismus im Interesse der Bet-
tenauslastung ihres Unternehmens nicht leisten mochten, oder wie bei dem
Autofahrer, der sich, einmal auf dem Rad, über die Rücksichtslosigkeit der
Autofahrer ärgert und den, wieder im Auto, der Leichtsinn der Radfahrer zur
Weißglut bringt. Die Verbindung zwischen den funktionalen Sphären und den
Akteuren ist ja eben nicht fixiert: Akteure können funktionale Positionen ü-
bernehmen und auch wieder verlassen und dabei ihre Sicht der Dinge und die
Art ihres Tuns, ohne Zweifel auch ihre Identifikation und ihre Begeisterung,
rasch wechseln. Der Diensteifer endet meist am Werkstor. Und dann fängt
Schalke an.
Einen solchen Wechsel vollziehen die Akteure mehrmals täglich und meist
ganz mühelos: Morgenkaffee in trauter familiärer Umgebung, dann die Intri-
gen in der Teerunde, dann rasch ein Blockseminar in der Universität, dann
kurz einmal zur heimlichen Lebensabschnittsgefährtin und schließlich wieder
zu Heim, Frau, Kind und Kater. Und wie die Hotelbesitzer im Beispiel von
Richard T. LaPiere wechselt der Akteur während dieser Runde durch die
mannigfaltigen Wirklichkeiten seiner multiplen Lebenswelt seine situations-
spezifische Identität, seinen Habitus, seine Moral und seine Emotionen wirk-
lich – und oft auch das mehrmals täglich, hoffentlich ohne Schaden für seine
Moral, für seine Identität und für seine Glaubwürdigkeit als „identische“ Per-
son (vgl. dazu noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundla-
gen“).
Diese Wechsel in Orientierung und Handeln erfolgen aber in keiner Weise
beliebig. Sie sind vielmehr diktiert von den Vorgaben der funktionalen Impe-
rative, wie sie u.a. auch in den Rollenerwartungen der jeweiligen Positionen
enthalten sind. Der Wechsel von der einen funktionalen Sphäre zur anderen,
von dem einen Typ des generalisierten Anderen zum anderen, von dem einen
Me-Sektor der Identität zum anderen sind aber auch kein Diktat der Furcht
vor Sanktionen oder des bloß opportunistischen Interesses an Belohnungen
für die „Konformität“ mit den Vorgaben des funktionalen Imperativs. Sie sind
vielmehr die Folge des eigentümlich zwanglosen Zwangs des situationsge-
rechten Handelns und der Befolgung von sozialen Regeln im ganz eigenen In-
teresse einer möglichst effizienten Nutzenproduktion.
Genau deshalb entwickeln – auf nach außen ganz wundersame und oft unverständliche Weise
– zum Beispiel neu eingestellte Datenschützer, Innenminister, Ausländerbeauftragte oder De-
kane einer Fakultät rasch und enthusiastisch ein hohes Interesse an Datenschutz, an law and
Soziale Differenzierung 71

order, an Ausländerbelangen und an den Interna der Fakultät. Und sie verlieren diesen Enthu-
siasmus rasch wieder, sobald sie die Position nicht mehr innehaben. Dies sind alles weitere
Antworten auf die Frage nach dem Enthusiasmus beim Rollenhandeln aus Band 1, „Situati-
onslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“: Jeder Bundesligaprofi wünscht sich
nichts sehnlicher, als gerade dem Verein eine Niederlage zu bereiten, bei dem er just vorher
war, um sich und den anderen zu zeigen, wie wichtig ihm die jetzt geltende soziale Produkti-
onsfunktion ist, die ihm der neue Verein bietet. Das ist auch eine Antwort auf die stete Sorge
vieler Sozialphilosophen und Sozialpädagogen um die in der Moderne angeblich besonders
bedrohte „Identität“ der Menschen. Solange die Menschen den „Sinn“ ihres Tuns einigerma-
ßen einsehen können, können die Sozialphilosophen und die Sozialpädagogen unbesorgt sein.
Die meisten Menschen haben bei ihrem Wechsel zwischen den Sphären des Alltags ohnehin
immer nur eines im Sinn: Geld und Ansehen. Und das reicht für eine stabile Identität in den
allermeisten Fällen auch vollkommen aus (vgl. dazu auch noch den Exkurs über Entfremdung
im Anschluß an Kapitel 9). Kurz: Gerade weil es in den funktionalen Sphären darum geht,
sich die Mittel zu beschaffen, mit denen die ganz privaten primären Zwischengüter erst noch
hergestellt werden müssen – aber auch können -, ist es nicht erforderlich, daß sich die Men-
schen mit der jeweiligen funktionalen Sphäre auch unmittelbar und persönlich identifizieren.
Sie müssen nur begriffen haben, daß es in ihrem Interesse ist, die funktionalen Imperative zu
beachten.

Auf diese Weise gewinnen arbeitsteilig organisierte, funktional differenzierte


soziale Systeme ein enormes Potential: Sie werden von den ideosynkratischen
privaten Motiven der Menschen nahezu vollkommen unabhängig. Es muß für
das Funktionieren der Systeme nicht verlangt werden, daß die Akteure das
Ziel des Systems selbst unterstützen, schon gar nicht: emphatisch. Die Erfül-
lung der funktionalen Aufgaben wird – wie dies Niklas Luhmann einmal aus-
gedrückt hat – von den Motiven der Menschen „abgekoppelt“. Aber gleich-
wohl bleiben es immer nur die Menschen, die das Funktionieren und den Zu-
sammenhalt des sozialen Systems bewirken. Die Integration der funktionalen
Sphären ist ein unintendiertes Ergebnis des situationsgerechten Handelns der
Menschen unter den Bedingungen der funktionalen Komplexität und der
Kreuzung der sozialen Kreise (vgl. dazu auch noch Kapitel 6 über die „Integ-
ration“ in diesem Band).

Die funktionale Differenzierung der Gesellschaft

So wie es Betriebe und Organisationen als arbeitsteilig differenzierte soziale


Systeme gibt, kann man sich nun leicht auch für ganze Gesellschaften vorstel-
len, daß sie in voneinander abgegrenzte funktionale Sphären differenziert
sind, die jeweils spezielle Aufgaben bei der Erstellung des „Gesamtprodukts“
übernehmen: In der Wirtschaft werden die materiellen Güter produziert, und
die Politik sagt, wo es lang geht, beispielsweise. Daher gilt in der Wirtschaft
auch ein ganz anderer funktionaler Imperativ als in der Politik: die ökonomi-
sche Rationalität hier und irgendeine „unbedingt“ geltende politische Zielset-
72 Die Konstruktion der Gesellschaft

zung dort. Und regelmäßig, ja zwangsläufig, kommen sich die verschiedenen

Sphären mit ihren jeweiligen Eigenlogiken dann in die Quere, wie etwa bei
der deutschen Wiedervereinigung, als die Politik die Währungsunion und die
politische Vereinigung gegen jede ökonomische Vernunft durchzog.
Ein wichtiges Beispiel für die Einteilung einer Gesellschaft in typische funktionale Sphären
mit typischen funktionalen Imperativen stammt von Talcott Parsons (vgl. dazu bereits das
Kapitel 23 in der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“, sowie noch Band 6, „Sinn und Kul-
tur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Parsons unterscheidet mit seinem AGIL-Schema be-
kanntlich vier grundlegende funktionale Requisiten, die für jede Gesellschaft bzw. für jedes
soziale System erfüllt sein müssen: Adaptation, Goal-Attainment, Integration, Latent Pattern
Maintenance – abgekürzt: AGIL eben. Diese Requisiten beschreiben vier verschiedene funk-
tionale Oberziele, die jeweils von einem speziellen gesellschaftlichen Sub-System erfüllt
werden „müssen“. Das geschieht konkret in den Sub-Systemen der Wirtschaft, der Politik,
der gesellschaftlichen Gemeinschaft und des Treuhandsystems, jeweils unter dem besonderen
funktionalen Oberziel Adaptation, Goal-Attainment, Integration, Latent Pattern Maintenance.
In diesen Sub-Systemen gelten die jeweiligen Oberziele als die Codes der normativen Orien-
tierung für das Handeln der Akteure.

Wieviele und welche funktionalen Teilsysteme die Gesellschaft hat und wie
sie miteinander zusammenhängen ist der Hauptgegenstand der sog. soziologi-
schen Systemtheorie. Die hat, so könnte man sagen, mit Emile Durkheim be-
gonnen, mit Talcott Parsons einen gewissen Höhepunkt erreicht, ist von Nik-
las Luhmann „prozessual“ und evolutionstheoretisch umformuliert worden –
und bewegt sich, ohne daß sie das so recht weiß, inzwischen kräftig auf eine
Perspektive zu, die uns inzwischen nicht ganz ungeläufig ist: Die funktionale
Differenzierung von Gesellschaften ist das – mehr oder weniger: unintendierte
– Ergebnis des Handelns von Akteuren, die ihre Nutzenproduktion verbessern
möchten und sich in arbeitsteiligen Interdependenzen verstricken, die die
„Entwicklung“ der Gesellschaft eigendynamisch vorantreiben – in die immer
stärkere funktionale Differenzierung hinein (vgl. dazu insbesondere auch
Schimank 1996, Kapitel 5).

Die Entstehung der funktionalen Differenzierung

Die Entstehung von funktionaler Differenzierung ist ein Spezialfall des Pro-
zesses der Institutionalisierung (vgl. dazu noch Band 5, „Institutionen“, dieser
„Speziellen Grundlagen“). Drei Vorgänge lassen sich unterscheiden: Dekret,
Vertrag und Evolution.
Über Dekret entsteht eine arbeitsteilige funktionale Differenzierung durch
einen Beschluß, der dann umgesetzt wird, etwa bei der Gründung einer Orga-
nisation: Es wird in der Verfassung der Organisation formell festgelegt, wel-
Soziale Differenzierung 73

che Abteilungen und Positionen mit welchen Aufgaben es geben soll. Zu den
Positionen gibt es jeweils ganz bestimmte Erwartungen an das Verhalten des-
jenigen, der die betreffende Position einnimmt. Oft wird für jede Stelle sogar
eine „Stellenbeschreibung“ angefertigt, in der genau steht, was in der jeweili-
gen Abteilung auf jeder Position zu tun ist. Viele der Erwartungen sind jedoch
nicht formell festgelegt, dafür aber nicht weniger bedeutsam. Diese formell
festgelegten oder informell institutionalisierten Erwartungen an die Positions-
inhaber werden auch als soziale Rollen bezeichnet. Damit es zu dieser Art der
Entstehung einer funktionalen Differenzierung kommt, muß es jedoch schon
ein Herrschaftszentrum geben, das die Möglichkeiten hat, die beschlossene
Organisationsstruktur durchzusetzen.
Eine arbeitsteilige Spezialisierung können Akteure natürlich auch verabre-
den und über einen Vertrag regeln. So etwas geschieht, wenngleich meist mit
nur sehr „impliziten“ Verträgen, in Haushalten und ehelichen Beziehungen, in
denen der eine die Hausarbeit macht und die andere arbeiten geht (oder um-
gekehrt). Das Problem dabei ist etwas versteckt: Wenn der Vertrag nicht wirk-
lich bindend ist, dann besteht die Gefahr, daß sich die Akteure nicht vollstän-
dig spezialisieren, einfach weil sie dann ja komplett vom anderen abhängig
wären. Und schon allein aus Vorsicht heraus mag man sich nicht so einfach
ganz spezialisieren. Deshalb bedarf es bei der vertraglichen Entstehung von
arbeitsteiliger funktionaler Differenzierung immer noch gewisser „nicht-
vertraglicher“ bindender Elemente. Auf dieses Problem hat vor allem Emile
Durkheim hingewiesen (vgl. dazu auch noch Band 3, „Soziales Handeln“, die-
ser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich).
Viele Systeme der arbeitsteiligen Spezialisierung sind aber weder durch
Dekret, noch durch Vertrag, sondern durch eine Form der Evolution entstan-
den. Der einfachste Fall einer solchen evolutionären Entstehung arbeitsteiliger
Spezialisierung ist die Herausbildung von Tauschmärkten: Akteure bieten,
warum auch immer, bestimmte Produkte an und finden für sie relativ prob-
lemlos Nachfrager, die ihnen dafür etwas geben, was sie schätzen. Die Grund-
lage sind gegenseitig vorhandene Interessen, die sog. Interessenkonvergenz.
Und wenn das zum allseitigen Vorteil einige Male geschehen ist, dann sinkt
das (subjektive) Risiko des impliziten Vertrages, der bei jedem dieser einzel-
nen Tauschakte immer besteht – daß der Nachfrager den Anbieter auf seinem
Angebot sitzen läßt, bzw. daß der Nachfrager keinen Anbieter findet. Auf die-
se Weise können nicht nur arbeitsteilig spezialisierte Warenmärkte entstehen,
sondern im Prinzip alle Arten von funktionalen Sphären: die Funktionsberei-
che der Bildung, der Wissenschaft, der Medizin, der Kirche, der Politik, des
Sports, der Kunst und so weiter. Wir wollen die evolutionäre Entstehung von
74 Die Konstruktion der Gesellschaft

Funktionssystemen an zwei hübschen Beispielen erläutern: die Entstehung des


Gesundheitswesens und die Sphäre des Sports.

Ein erstes Beispiel: das Gesundheitswesen

Die eher ungeplante Entstehung der Medizin als Funktionssystem hat Rudolf
Stichweh beschrieben:2 Es gab an den Höfen der Könige und Fürsten natür-
lich schon Spezialisten, die für die Gesundheit des Königs oder Fürsten zu
sorgen hatten, aber noch kein spezialisiertes Funktionssystem der Gesund-
heitsvorsorge für die Gesellschaft und deshalb auch keine Hospitäler. Die
Ärzte entwickelten nun – aus vielerlei naheliegenden Gründen – allmählich
ein ganz eigenes medizinisches Interesse: Sie wollten genauer wissen, wie der
menschliche Körper ganz allgemein funktioniert, nicht zuletzt, um durch die
Verbesserung ihrer medizinischen Kompetenz ihre Stellung bei Hof zu si-
chern, aber durchaus auch aus rein wissenschaftlichem Interesse. Aber dazu
konnten sie immer nur den Körper des Fürsten studieren, der, nicht nur wenn
er litt, den Wissensdrang der Ärzte durchaus begrenzen konnte. Die Ärzte ent-
falteten also eine Nachfrage nach anderen „Körpern“, nach möglichst vielen
sogar und nach solchen, bei denen sie, ganz ähnlich wie heute immer noch bei
den Tierversuchen, keine besonderen Rücksichten nehmen mußten, und die
auch gefahrlos einmal an der „Behandlung“ leiden oder gar daran sterben
konnten. Auf der anderen Seite gab es natürlich eine gewaltige Nachfrage in
der restlichen Bevölkerung nach medizinischer Behandlung und folglich ein
hohes Angebot an Körpern. Was lag da näher, als Hospitäler zu gründen, in
denen die Nachfrage nach Körpern und das Angebot derselben zusammentref-
fen konnten, zumal das alles ganz gut mit den moralischen Postulaten der
christlichen Nächstenliebe zu garnieren und zu begründen war? Interessan-
terweise entstand so auch die Sorgfalt um eine besondere Hygiene in den
Hospitälern: Nur wenn die Körper nicht an der Behandlung selbst starben,
konnte man feststellen, welche Maßnahme erfolgreich war und welche nicht.

2
Rudolf Stichweh, Inklusion in Funktionssysteme der modernen Gesellschaft, in: Renate
Mayntz, Bernd Rosewitz, Uwe Schimank und Rudolf Stichweh, Differenzierung und Ver-
selbständigung. Zur Entwicklung gesellschaftlicher Teilsysteme, Frankfurt/M. und New
York 1988, S. 263f. Vgl. auch noch Kapitel 5 in diesem Band dazu.
Soziale Differenzierung 75

Ein zweites Beispiel: der Sport

Eine von den grundlegenden Prozessen her ganz ähnliche Erklärung schlägt
Pierre Bourdieu für die Entstehung des modernen Sports als eigenständigem
Funktionssystem vor:3
„Meiner Ansicht nach lassen sich Praxis und Konsum von Sport – von Rugby, Fußball,
Schwimmen, Leichtathletik, Tennis, Golf usw. – in ihrer Gesamtheit und ohne damit der Rea-
lität allzusehr Gewalt anzutun, als eine Art Angebot verstehen, das auf eine gesellschaftliche
Nachfrage stößt.“ (Ebd., S. 91; Hervorhebungen im Orginal)

Beides, das Angebot an Sport wie die Nachfrage danach habe sich allmählich
und in gegenseitiger Steigerung entwickelt. Bourdieu nimmt sich zum Beleg
für seine These die historische Entwicklung des Fußballs und des Rugby in
England vor. Das „Angebot“ habe sich dabei als Übergang von eher spieleri-
schen Betätigungen der Eliten in den ihnen vorbehaltenen public schools voll-
zogen. Die Elite machte sich bestimmte körperliche Bewegungen, auch in der
Übernahme traditioneller und volkstümlicher Spiele, zu eigen und koppelte
sie dabei von den dazu sonst üblichen Anlässen ab, wie etwa die Erntefeste.
Damit werden sie, als erstem Schritt der „funktionalen Verselbständigung,
von den anderen rituellen Zusammenhängen abgelöst, in die sie bis dahin ein-
gebettet sind. In den Schulen werden die betreffenden körperlichen Betäti-
gungen dann in Aktivitäten umgewandelt, die als l’art pour l’art ihren Zweck
in sich selbst tragen. Sie werden damit zu einem wichtigen Bestandteil des
Lebensstils der Eliten, deren Besonderheit ja gerade auch darauf beruht, von
den alltäglichen Zwecktätigkeiten befreit zu sein und sich das Leben in ge-
wählter Distanz zu irgendwelchen Pflichten einrichten zu können.
Das war der Anfang. Die weiteren Schritte der Verselbständigung einer ei-
genen Sphäre des Sports sind dann leicht erzählt: Der Autonomisierung der
Betätigungen folgt die Rationalisierung der sportlichen Praktiken, die Entste-
hung expliziter Regeln, für deren Entwicklung und Beachtung jetzt auch Ex-
perten benötigt werden. Damit sind die Weichen für eine Verbreitung des
Sports über den Bereich der Schule hinaus gestellt – und so weiter, bis hin zur
jetzt beobachtbaren Etablierung eines eigenen Funktionssystems mit einer ei-
genen Sportkultur und einem eigenen Institutionen- und Organisationssystem.
Die Verbreitung und „reflexive“ Verfestigung des Sports wäre jedoch nicht
möglich gewesen, wenn dieses „Angebot“ nicht von immer mehr Akteuren
auch in anderen Schichten für attraktiv gefunden worden wäre und wenn es
also keine weitere „Nachfrage“ danach gegeben hätte. Bourdieu schildert eine

3
Pierre Bourdieu, Historische und soziale Voraussetzungen modernen Sports, in: Merkur,
39, 1985, S. 575-590.
76 Die Konstruktion der Gesellschaft

Reihe von Mechanismen und Besonderheiten des Sports, die ihn für weite
Teile der Bevölkerung aus unterschiedlichen Gründen und für sehr verschie-
dene Zwecke äußerst „funktional“ gemacht haben. Nur ein Beispiel: In den
Schulen der Eliten, die als totale Institutionen mit einer Aufsichtspflicht rund
um die Uhr organisiert waren, erschien der Sport als ein ideales Mittel zur
„Charakterbildung“, vor allem aber als eine kostensparende Möglichkeit zur
Überwachung und einer „gesunden“ Alternative der Aggressionsabfuhr. Diese
Möglichkeiten der leichten Einbindung und Überwachung von Jugendlichen
erkannten natürlich auch andere Organisationen mit anderen Zwecksetzungen:
„Ein derart sparsames Mittel gleichzeitig zur Mobilisierung, Beschäftigung und Kontrolle der
Jugendlichen war wie geschaffen als Instrument und Gegenstand der Auseinandersetzungen
zwischen den zur politischen Mobilisierung und Bindung der Massen ganz oder partiell orga-
nisierten, damit gleicherweise um die symbolische Beherrschung der Jugendlichen konkurrie-
renden Institutionen – seien es Partein, Gewerkschaften, Kirchen oder auch paternalistisch
eingestellte Unternehmer.“ (Ebd., S. 584; Hervorhebung im Original)

Kurz: Das Funktionssystem des Sports entsteht – unmerklich, allmählich,


schrittweise und in gegenseitiger Steigerung von Verbreitung und Autonomi-
sierung – als Wechselspiel von Angebot und Nachfrage, im Prinzip nicht an-
ders als das Gesundheitswesen, für das Stichweh einen ganz ähnlichen Vor-
gang der wechselseitigen Steigerung und allmählichen Institutionalisierung
von funktionalem Angebot und einer spezifischen Nachfrage beobachtet hat.

Der Grundprozess: Angebot und Nachfrage

Die wie auch immer evolutionär entstandenen funktionalen Sphären und


Tauschmärkte der arbeitsteiligen Spezialisierung werden, gibt es sie einmal,
anschließend vielleicht mehr oder weniger „organisiert“ oder staatlich „regu-
liert“ – wie das beim Gesundheitswesen hierzulande ja bekanntlich geschehen
ist. Aber das ändert nichts daran, daß es sich letztlich stets um Tauschmärkte
handelt, die sich dadurch erhalten, daß Angebote und Nachfragen, oft sogar
gesteigert als rechtlich gesicherte „Ansprüche“, auf Gesundheit, auf Bildung,
auf Wohlfahrt, aufeinandertreffen. Bei diesen Tauschprozessen können gewis-
se „Medien“, wie das Geld, sehr dabei helfen, daß es zu einem ertragreichen
Tausch kommt bzw. daß die Spezialisierungsleistungen auch wirklich erhalten
bleiben. Der Hintergrund bleibt aber immer das als nützlich erlebte Aufeinan-
dertreffen von Angebot und Nachfrage. Funktionale Differenzierung ist in
dieser Variante nur ein Spezialfall des Marktgeschehens (vgl. dazu auch noch
Kapitel 5 in diesem Band, sowie allgemein Band 4, „Opportunitäten und Re-
striktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Soziale Differenzierung 77

Reflexive Verselbständigung

Bei jeder funktionalen Spezialisierung bleibt freilich immer die Gefahr beste-
hen, von der bei der vertraglichen Entstehung der Arbeitsteilung oben schon
die Rede war: Allein schon aus Vorsicht möchte man sich nicht zu einseitig
spezialisieren. Und wenn das jeder so sieht, dann unterbleibt das an sich so er-
tragreiche Unternehmen der funktionalen Differenzierung oder verfällt nach
ihrem zaghaften Beginn bald wieder. Hier gibt es jedoch eine Gegentendenz,
die in der funktionalen Differenzierung selbst angelegt ist: die reflexive Ver-
selbständigung der funktionalen Sphären.
Mit reflexiver Verselbständigung ist gemeint, daß der funktionale Imperativ, der den sozialen
Sinn der jeweiligen funktionalen Sphäre definiert, sich immer mehr zuspitzt und schließlich
zum alles beherrschenden Oberziel wird, das dann sogar nur noch als Eigenzweck erscheint.
Es gibt, wie es auch heißt, keine natürliche Stopregel mehr, an der die Spezialisierung anhal-
ten könnte. Das geschieht insbesondere durch die Anwendung des jeweiligen funktionalen
Prinzips auf sich selbst: Geld etwa ist zunächst nur ein einfaches Mittel, um den Tausch auf
Warenmärkten zu erleichtern. Es kann aber, worauf besonders Karl Marx hingewiesen hat,
auch selbst zur Ware werden, für die es einen Preis gibt und deren Ertrag man maximieren
kann. Und schließlich wird das Geld nicht mehr verdient, um davon die Mittel zum Leben zu
kaufen, sondern, um damit noch mehr Geld zu verdienen ... und so weiter, bis man vielleicht
darin baden kann und so wieder, wie man in Entenhausen glaubt, etwas von den „wirklichen“
Genüssen des Lebens hat. Auf diese Weise können sich alle funktionalen Oberziele reflexiv
verselbständigen: Das Lehren wird gelehrt, und wie das geht, wird wiederum gelehrt. Für die
Werbung wird geworben, und dafür werben die Werbeagenturen. Und die Sanktionierer wer-
den sanktioniert, wenn sie nicht sanktionieren. Und schon haben wir die Funktionssysteme
der Erziehung, der Werbung und der sozialen Kontrolle mit ihrem jeweils ganz eigenen funk-
tionalen Imperativ, der sich durch die interne Wiederholung der Funktion immer weiter zu-
spitzt, und ihren jeweils ganz besonderen und immer deutlicher hervorgehobenen und ge-
trennten „Wertsphären“, wie das Max Weber genannt hat. Niklas Luhmann hat diese einfa-
chen „reflexiven“ Feedbackschleifen der funktionalen Selbstverstärkung, wie immer etwas
hochtrabend, im Anschluß an einen ansonsten völlig unbekannten Mathematiker, George
Spencer Brown, mit „re-entry“ bezeichnet.

Die reflexive Verselbständigung hat noch einen weiteren, in der funktionalen


Differenzierung sozusagen eingebauten Grund: Mit der Spezialisierung auf
eine Funktion werden einerseits die Leistungen der spezialisierten Sphären
immer besser, etwa weil sich Wissen ansammelt und größere Produktmengen
hergestellt werden können, andererseits aber schwinden die Chancen, die je-
weils nicht mehr wahrgenommenen Funktionen wieder in den Funktionsbe-
reich hineinzuholen, weil die Spezialisierung auf die eine Funktion die Pflege
von Kompetenzen für die anderen Funktionen verhindert, ja ihr geradezu ent-
gegensteht (vgl. dazu auch das Beispiel der Locals und der Cosmopolitans bei
den Hochschullehrern in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Spe-
ziellen Grundlagen“). Und deshalb ist es nicht verwunderlich, daß die Akteure
78 Die Konstruktion der Gesellschaft

als die Vertreter von Funktionsbereichen, deren „Funktion“ zu schwinden


droht, alles daran setzen, den Bereich doch zu erhalten. Es ist ihr oberstes In-
teresse, weil ihre ganze Nutzenproduktion daran hängt. Und wenn es um die
Existenz der funktionalen Sphäre insgesamt geht und wenn die Akteure nichts
anderes haben, wovon sie leben könnten, dann tun sie vielleicht auch bald et-
was, was verboten ist. Die immer weiter getriebene reflexive Verselbständi-

gung der funktionalen Sphären ist ein Musterfall für das Prinzip einer nahezu
unentrinnbaren Situationslogik, die sich schließlich auch gegen die Interessen
der darin verwickelten Menschen richten kann.

Differenzierung und Integration

Leicht ist jetzt die Widersprüchlichkeit zu erkennen, die für jede funktionale
Differenzierung so kennzeichnend ist: Einerseits sind die Akteure an der ar-
beitsteiligen Spezialisierung wegen deren Produktivität interessiert, anderer-
seits fürchten sie aber auch die einseitige Abhängigkeit. Einerseits sorgt die
Entkopplung der Motive für das reibungslose Funktionieren der Systeme, an-
dererseits müssen sich die Akteure in eine Art von Charaktermasken aufspal-
ten, damit es zu dem reibungslosen Funktionieren kommt. Einerseits bringt
die funktionale Differenzierung die Akteure in eine übergreifende Abhängig-
keit voneinander, von der sie letztlich auch wissen oder die sie wenigstens ab
und an einmal verspüren, wie etwa bei einem Streik der Müllabfuhr, anderer-
seits tendieren die funktionalen Sphären aufgrund der Eigendynamik der Spe-
zialisierung und – insbesondere – wegen der reflexiven Verselbständigung zu
ihrer Radikalisierung und Trennung, eventuell sogar so weit, daß daraus
nachhaltige negative Folgen für die Menschen entstehen, wie bei dem wild-
gewordenen Turbokapitalismus unserer Tage, der nur noch eines kennt: Effi-
zienz, Leistung und Profit, egal wofür. Diese Widersprüchlichkeiten der funk-
tionalen Differenzierung erzeugen – sozusagen: uno actu – die Frage nach der
Integration funktional differenzierter sozialer Systeme, genauer: die Frage
nach der Systemintegration (vgl. dazu auch noch Kapitel 6 in diesem Band).
Es ist eine der zentralen Fragen der Soziologie überhaupt: die nach der sozia-
len Ordnung angesichts der funktionalen Widersprüche.
Die Antwort darauf kreist um zwei sehr verschiedene Auffassungen: Bedarf es zur Integrati-
on von „komplexen“ Gesellschaften einer übergreifenden moralischen Ordnung? Oder ge-
schieht die Integration so, wie die Ökonomie die Integration der wirtschaftlichen Spezialisie-
rungen erklärt hat: als Markt, also als unintendierte Folge eines gigantischen Geflechts von
Interdependenzen und ertragreichen Tauschakten, auch ganz ohne ein Motiv der Akteure,
dieses Geflecht als „Ganzes“ zu wollen oder zu unterstützen? Die soziologische Systemtheo-
Soziale Differenzierung 79

rie sieht eine dritte Möglichkeit: die Integration durch die symbolisch generalisierten Medien,
durch ihre symbolisch bindende Kraft zur Definition der Situation oder durch die „Interpenet-
ration“ der Systeme über die Fusion der Inhalte ihrer Programme.

Um Moral, Markt und Medien drehen sich alle Vorschläge zur Erklärung je-
nes immer noch wundersamen Sachverhaltes, daß sich die modernen, hoch-
gradig funktional differenzierten Gesellschaften gerade in ihrer inneren Unter-
schiedlichkeit als „System“ erhalten und sogar immer weiter entfalten, auch
wenn die „Wertsphären“ immer stärker auseinandertreten (vgl. dazu auch
noch die Abschnitte 9.2 und 9.3 in diesem Band).

3.2 Kulturelle Differenzierung

Die funktionale Form der Nutzenproduktion ist meist sehr umständlich, ent-
fremdend und von zahllosen, eigentlich ganz un-„interessanten“ Vorinvestiti-
onen durchzogen: Die primären Zwischengüter sind, als gesellschaftlich defi-
nierte Vorgaben, oft weit entfernt von den Bedingungen des unmittelbar wich-
tigen Alltags und der nahen Lebenswelt, insbesondere aber von den persona-
len Ideosynkrasien und den innersten Wünschen der individuellen Akteure
(vgl. dazu auch noch den Exkurs über Entfremdung im Anschluß an Kapitel 9
in diesem Band).
Viele der als „primär“ eingestuften primären Zwischengüter sind ja – bei näherem Hinsehen –
alles andere als von „primärem“ Interesse: Ein Orden schmeckt nicht, ein Titel löscht keinen
Durst, Geld allein macht nicht glücklich, die ehrenvolle Präsidentschaft ist lästig, und die luk-
rative Leitung eines Institutes nervt. Auch die Teilnahme an einem komplizierten Abendessen
unter entfernten, aber möglicherweise wichtigen Bekannten, das Erlernen von Altgriechisch
und Latein, ein Ehemann, ein van Gogh u.a. sind oft genug keineswegs schon das, was die
Menschen unmittelbar wollen. Es sind meist Investitionen in materielles, soziales und kultu-
relles Kapital zur Erzeugung der gesellschaftlich festgelegten primären Zwischengüter oder
deren symbolischer Anzeichen, ohne die es Anerkennung und Wohlbefinden nicht gibt, oft
genug aber dann doch nicht das, was die Menschen persönlich interessiert und was ihnen in
ihrem Alltag wichtig ist.

Von daher wird leicht vorstellbar, daß es neben den funktionalen Sphären mit
ihren oft sehr „entfremdenden“ funktionalen Imperativen eine zweite wichtige
Form der Organisation der Nutzenproduktion und der Definition primärer
Zwischengüter gibt: die Pflege von spezifischen und ideosynkratischen primä-
ren Zwischengütern in speziellen Unterbereichen der Gesellschaft, auch jen-
seits der streng an der Logik der funktionalen Sphären angeschlossenen Defi-
nition der primären Zwischengüter.
Zwei solcher Unterbereiche wollen wir unterscheiden: Erstens die sozialen Systeme bestimm-
ter Lebensweisen als typischen Mustern des Handelns und Verhaltens einer alltäglichen Le-
80 Die Konstruktion der Gesellschaft

bensführung, die die individuellen Menschen in ihren jeweiligen Lebenswelten pflegen oder
die sie aus ihrer Zugehörigkeit zu gewissen funktionalen Sphären übernehmen und die sie
dann für verschiedene Zwecke sehr brauchbar finden, etwa zur Unterscheidung von anderen
und zur „Definition“ ihres eigenen Platzes in der Gesellschaft. Und zweitens die sozialen Sys-
teme und Orte einer Nutzenproduktion, in denen das Handeln dem individuellen Geschmack
und der Nachfrage nach personal erwünschten „Erlebnissen“ schon eher nahekommt als in
den entfremdenden Bereichen der funktionalen Sphären: die Milieus bestimmter Szenen der
Erlebnisproduktion mit der Pflege eines gewissen Handelns und Verhaltens als Lebensstil der
individuellen Akteure, etwa in Freizeitgruppen, „spontanen“ Vereinigungen oder bestimmten
(legalen) „Subkulturen“ für das Ausleben gewisser ideosynkratischer Obsessionen, für die in
den funktionalen Systemen kein Platz ist, von ihnen nicht in der gewünschten Weise angebo-
ten werden oder aber auch sich, wie etwa die Ikea-Kultur oder der Laura-Ashley-Stil, ir-
gendwie zufällig herausgebildet und dann institutionalisiert hat.

Die sozialen Systeme der Lebensweisen mit ihren typischen Mustern der Le-
bensführung einerseits und die Szenen der verschiedenen Lebensstile anderer-
seits seien zusammenfassend als kulturelle Milieus bezeichnet.
Die Beschreibung der – alten und der neuen – sozialen Systeme der kulturellen Milieus ist,
verstärkt seit etwa Mitte der 80er-Jahre, das Thema insbesondere der sog. Lebensstilfor-
schung und der Theorien der sog. Neuen Sozialen Ungleichheit.4 Dort wird nicht immer sorg-
fältig zwischen dem Aspekt der sozialen Differenzierung einerseits und dem der sozialen Un-
gleichheit andererseits unterschieden. Um es noch einmal zu wiederholen (vgl. auch schon
Kapitel 2 oben in diesem Band dazu): Die kulturellen Milieus sind unterschiedliche soziale
Systeme – Lebensweisen als Systeme von Praktiken der Lebensführung oder Szenen als Sys-
teme der Pflege von Lebensstilen. Die soziale Ungleichheit bezieht sich jedoch nicht auf die
kulturellen Milieus als soziale Systeme, sondern auf die Eigenschaften der Akteure, die sich –
unter anderem! – aus ihrer Teilnahme an bestimmten kulturellen Milieus ergeben, und die
damit einhergehenden gesellschaftlichen Lagen und sozialen Kategorien. Es gibt dann soziale
Kategorien von Akteuren mit bestimmten Mustern der Lebensführung oder Lebensstilen. Und
die können sich dann mit anderen Eigenschaften kombinieren: Alter, Geschlecht, Nationalität,
Einkommen, Bildung und berufliche Stellung. Folglich ergibt sich, wenn man alles zusam-
men nimmt, theoretisch ein vieldimensionaler Merkmalsraum, in den sich die Bevölkerung
einer Gesellschaft dann empirisch verteilt, meist in typischen Clustern, etwa einem Cluster
von Unterschichten, die gerne Heino hören und nach Mallorca fahren, gegenüber einem
Cluster von alternativen Bildungsbürgern, die eher klassische Musik lieben und die es eher in
die Toscana zieht. Solche Cluster seien als Lebensführungs- bzw. als Lebensstilgruppen be-
zeichnet (vgl. dazu auch noch Kapitel 4 in diesem Band insgesamt). Das ist aber etwas ande-
res als die Systeme der Lebensweisen und der Szenen, die es, ganz ähnlich wie die funktiona-
len Sphären, gewissermaßen unabhängig von der „Bevölkerung“ gibt.

4
Vgl. dazu u.a.: Hartmut Lüdtke, Expressive Ungleichheit. Zur Soziologie der Lebensstile,
Opladen 1989; Hans-Peter Müller, Sozialstruktur und Lebensstile. Der neuere theoreti-
sche Diskurs über soziale Ungleichheit, Frankfurt/M. 1992; Werner Georg, Soziale Lage
und Lebensstil. Eine Typologie, Opladen 1998. Vgl. auch verschiedene Beiträge in Peter
A. Berger und Stefan Hradil (Hrsg.), Lebenslagen, Lebensläufe, Lebensstile, Sonderband
7 der Sozialen Welt, Göttingen 1990; Peter Hartmann, Lebensstilforschung, Opladen
1999. Siehe zum Konzept der sog. Neuen Sozialen Ungleichheit auch noch Abschnitt 4.4
unten in diesem Band.
Soziale Differenzierung 81

In den kulturellen Milieus dreht sich – analog zu den funktionalen Imperati-


ven – auch alles um gewisse Oberziele und spezielle primäre Zwischengüter
und Objekte: die für die jeweilige Lebensweise bedeutsamen „kulturellen“
Ziele und Objekte einer bestimmten Lebensführung und die jeweils relevanten
„kulturellen“ Ziele und Objekte in einem Milieu bzw. einer Szene für einen
bestimmten Lebensstil. Das sind die Codes der Orientierung und die Pro-
gramme des Handelns in dem jeweiligen kulturellen Milieu. Diese Codes
bzw. diese Ziele, Objekte und Programme seien zusammenfassend als kultu-
relle Fokalobjekte bezeichnet. Die Unterteilung einer Gesellschaft in ver-
schiedene kulturelle Milieus mit typisch unterschiedlichen kulturellen Fokal-
objekten macht dann ihre kulturelle Differenzierung aus.

3.2.1 Lebensweise und Lebensführung

Die Nutzenproduktion ist immer aufwendig. Daher verwundert es nicht, wenn


die Menschen alle Möglichkeiten nutzen, um eine geltende soziale Produkti-
onsfunktion möglichst effizient zu gestalten. Und das heißt vor allem: Produk-
tionskosten zu sparen. Eine besonders effiziente Weise der Kostenersparnis ist
die Wiederholung eines erfolgreichen Ablaufs, etwa die der zunächst kompli-
zierten Schritte einer Verhandlung um einen Kredit in einer Bank oder die ei-
ner mühselig gefundenen optimalen Sequenz einer Trainingseinheit beim
Schwimmen. Solche Wiederholungen verselbständigen sich, einmal entstan-
den, rasch in den Köpfen der Menschen und werden alsbald zu etablierten
„Modellen“ des Handelns, zu schematisierten Vorstellungen über typisierte
Abläufe, zu verankerten Einstellungen, zu sozialen Drehbüchern, zu symboli-
sierbaren „Handlungen“, die die wechselseitige Orientierung erleichtern.
Wenn die Umstände einigermaßen stabil bleiben, bildet sich ein Gleichge-
wicht der stetigen Reproduktion der betreffenden Abläufe. Es entstehen typi-
sche Formen der alltäglichen Praxis und der gedanklichen Einstellung, ver-
bunden mit der Zugehörigkeit zu typischen funktionalen Positionen und ande-
ren Eigenschaften, die sich an diese Abläufe knüpfen. Erich Rothacker, ein
früher „Pionier“ des Lebensführungskonzeptes, beschreibt die Entstehung ei-
ner typischen „Haltung“ als Folge einer bestimmten „Lage“ am Beispiel der
Lebensweise von Seeleuten als „Antwort des Lebens auf eine Lage“ so:
„Auch dieser Lebensstil ist eine Antwort des Lebens auf eine Lage. Ein Einfall des Lebens
unter dem Druck bestimmter Umstände. Eine gute und sieghafte Antwort, wenn dieser Stil
eine völlig zweckmäßige, allerseits ausgeglichene und zufallsüberlegene Form erreicht, eine
gradweise weniger gute Antwort, solange er noch nicht völlig reif, noch nicht völlig harmoni-
siert und noch nicht allen Schwierigkeiten des Seemannslebens gewachsen ist. Auf seiner
Höhe wird er dasselbe meistern. Ja wir können uns diesen Seemannsstil ausgebildet denken
82 Die Konstruktion der Gesellschaft

zu einer echten Lebensform, einer geschlossenen Seemannskultur mit ihren bestimmten Sit-
ten, ihrem bestimmten Ethos, ihrer bestimmten Musikalität, ihrem besonderen Erzählstil, ih-
rem eigenartigen Weltbild usw.“5

Derartige Kombinationen von praktischer Habitualisierung, symbolischer Sti-


lisierung und internalisierter Einstellung sind die Muster der Lebensführung,
die sich Menschen im Laufe der Zeit als Ergebnis ihrer alltäglichen funktiona-
len Beziehungen zugelegt haben. Und die Lebensweise ist das von den kon-
kreten Akteuren unabhängige soziale System der gleichgewichtigen Repro-
duktion dieser Muster der Lebensführung.

Habitus und Distinktion

Den Zusammenhang von Habitualisierung, Schematisierung, Klassifikation


und Praxis, von Mustern der Lebensführung also, und deren Reproduktion als
Lebensweise im Prozeß der Alltagsabläufe hat am deutlichsten wohl Pierre
Bourdieu ausformuliert.6 Der von ihm so genannte Habitus ist ein das gesamte
Handeln der Akteure durchziehendes „Erzeugungsprinzip“ und ein das Den-
ken und das Wahrnehmen strukturierendes „Klassifikationssystem“. Ein Habi-
tus entsteht vor dem Hintergrund der objektiven sozio-ökonomischen Positi-
on, die die Akteure besetzen. Also: im Rahmen der Zugehörigkeit vor allem
zu bestimmten funktionalen Sphären und der Organisation der Abläufe darin.
Es ist ein sich selbst erzeugendes und sich selbst verstärkendes zirkuläres Sys-
tem:
„Der Habitus ist nicht nur strukturierende, die Praxis wie deren Wahrnehmung organisierende
Struktur, sondern auch strukturierte Struktur.“ (Bourdieu 1982, S. 279)

Und die Folge: Mit den verschiedenen funktionalen Positionen und den damit
verbundenen Aktivitäten verbinden sich schließlich typische Muster der Le-
bensführung:
„Der Habitus bewirkt, daß die Gesamtheit der Praxisformen eines Akteurs (oder einer Gruppe
von aus ähnlichen Soziallagen hervorgegangenen Akteuren) als Produkt der Anwendung i-
dentischer (oder wechselseitig austauschbarer) Schemata zugleich systematischen Charakter
tragen und systematisch unterschieden sind von den konstitutiven Praxisformen eines anderen
Lebensstils.“ (Ebd., S. 278)

5
Erich Rothacker, Geschichtsphilosophie, München und Berlin 1934, S. 46.
6
Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft,
Frankfurt/M. 1982, Kapitel 3: Der Habitus und der Raum der Lebensstile.
Soziale Differenzierung 83

In den Habitus gehen schließlich auch Elemente ein, die „eigentlich“ mit der
funktionalen Position und mit der bloßen Ökonomisierung der Nutzenproduk-
tion nicht unmittelbar in Verbindung stehen. Es entstehen distinktive Zeichen
der Zugehörigkeit zu einer bestimmten – vor allem: begehrten und geehrten! –
sozialen Kategorie oder funktionalen Position. Eines dieser Zeichen ist die
Demonstration einer besonders zugespitzten Verfeinerung und Stilisierung der
entsprechenden Lebensweise. Die Folge ist eine über die „objektiven“ Unter-
schiede deutlich hinausgehende und überpointierende, auch symbolisch ver-
deutlichte und weiter vertiefte Trennung zwischen den verschiedenen sozialen
Kategorien und funktionalen Positionen. Der weiße Kittel des Arztes oder der
strenge Blick der Oberschwester gehören ebenso dazu, wie die Zerstreutheit
des Professors oder die aufdringliche Besserwisserei des Journalisten. Der ty-
pische „Geschmack“ und Stil einer Gruppe, einer sozialen Klasse oder einer
funktionalen Position
„ ... verwandelt objektiv klassifizierte Praxisformen ... in klassifizierende, d h. in einen sym-
bolischen Ausdruck der Klassenstellung ... .“ (Ebd.; S. 285; Hervorhebung nicht im Original)

Und die „in den Grenzen des ökonomisch Möglichen und des Unmöglichen“
gepflegten Formen der Lebensführung
„ ... bilden also systematische Produkte des Habitus, die in ihren Wechselbeziehungen ent-
sprechend den Schemata des Habitus wahrgenommen, Systeme gesellschaftlich qualifizierter
Merkmale (wie ‚distinguiert‘, ‚vulgär‘, etc.) konstituieren.“ (Ebd.; S. 281)

Die Muster der Lebensführung bekommen, wegen ihrer starken funktionalen


Verankerung und distinktiven Bedeutung, also bald auch eine normative Be-
deutung. Angehörige der betreffenden Kategorien oder Positionen haben kei-
ne besondere Wahl, den Mustern zu folgen oder nicht. Das wissen alle Ärzte,
Oberschwestern, Professoren und Journalisten nur zu gut. Pierre Bourdieu hat
diese quasi-normativen Elemente der Lebensführung in seiner Ethnographie
Frankreichs besonders betont. Er meint,
„ ... daß im Grunde kein Bereich der Praxis sich gegenüber der Intention einer Verfeinerung
und Sublimierung der elementaren Triebe und Bedürfnisse verschließen kann ... .“ (Ebd.
1982; S. 25)

Die aus der Alltagspraxis entstandenen Arten der Lebensführung sind also
nicht einfach bloß kostensparende und eingelebte Formen der Routine. Sie
stellen nicht einfach nur Varianten der Alltagsgestaltung dar, die man auch
lassen könnte. Sondern: Es sind schließlich in besonderer Art bewertete und
mit unterschiedlichem Prestige versehene kulturelle Praktiken, die zum Sym-
bol der Mitgliedschaft zu einer bestimmten Gruppe, Klasse oder Position, wie
insbesondere für den Rang eines Akteurs im Gesamtsystem der Positionen in
84 Die Konstruktion der Gesellschaft

einer Gesellschaft werden. Und die „Haltungen“ sind daher schließlich – ganz
unabhängig von ihrer „funktionalen“ Bedeutung – etwas, mit denen die Ak-
teure Gefühle von Stolz, Würde und Ehre verbinden und die sie daher oft ge-
nug auch „wollend und vorsätzlich“ und wohl auch „demonstrativ“ und mit
einem besonderen „expressiven“ Gestus einsetzen, um Status, Anerkennung
und Selbstachtung zu gewinnen oder zu behalten (vgl. dazu auch schon den
Exkurs über die Ehre im Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Spe-
ziellen Grundlagen“).

Schließung und Statussymbole

Die Muster der Lebensführung und die Besonderheiten eines distinktiven Ge-
schmacks werden noch in einer weiteren Weise für die Menschen interessant:
als Mittel zur Abschließung der eigenen Position gegen unliebsame Konkur-
renz. Letztlich geht es dabei um die Absicherung des Wertes eines gut kon-
trollierten, aber von der Geltung des Prestigesystems in seinem Wert komplett
abgängigen Kapitals, eines Kapitals, das seinen ganzen Wert daraus bezieht,
daß es nicht zu viele andere Akteure besitzen – etwa: die Beherrschung be-
stimmter Tischsitten oder den Besitz eines Titels. Die Stilisierung der Lebens-
führung und die Verfeinerung eines bestimmten Geschmacks sind dann Teil
der
„ ... Strategien der Individuen und Familien mit dem Ziel der Wahrung und Verbesserung ih-
rer Position im Sozialraum ... .“ (Ebd; S. 227; Hervorhebungen nicht im Original)

Woran sich die Stilisierung im konkreten Fall kristallisiert, ist vorab sehr
schwer vorherzusagen. Meist rankt sie sich um anders motivierte und zaghaft
begonnene, anfangs bloß funktional gedachten Handlungen oder Konventio-
nen.
Beispielsweise: Ein leistungsfähiger PC wird von einem guten und fleißigen Wissenschaftler
funktional dringend benötigt und auch zu den Zwecken der Wahrheitsfindung benutzt, wird
dann aber rasch zu einem Statussymbol auch für diejenigen, die eigentlich nichts damit an-
fangen können. Englisch ist die Konferenzsprache der Wissenschaft. Und wer viel mit Ame-
rikanern zu tun hat, gewöhnt sich deren Slang an. Und plötzlich wird das amerikanisierte
Englisch zum wohlgepflegten Habitus und zum Instrument der Erzeugung von sozialer Wert-
schätzung und der Abgrenzung und Schließung – zunächst einmal unabhängig davon, was
der Betreffende inhaltlich sagt. Viele Rituale des Alltags und manche, mittlerweile ganz selb-
ständig gewordene Sphäre der Gesellschaft – wie der Sport – sind über solche Stilisierungen
anfänglich funktionaler Abläufe einmal entstanden. „Rekorde“ – als die primären Zwischen-
güter eines jeden mittelmäßigen Sportfestes – sind nichts anderes als die eigenständig gewor-
dene Stilisierung von ursprünglich einmal lediglich funktional wichtigen Leistungen: Wer
schneller, weiter, höher konnte, war im Kampf und bei der Jagd wichtig – und deshalb ange-
sehen. Und jetzt ist der Weltrekordler dies ohne jeden weiteren unmittelbaren funktionalen
Soziale Differenzierung 85

Hintergrund- außer im gesellschaftlichen Sub-System des Sports und der Medien, die beide
über den Code der Außergewöhnlichkeit definiert sind.

Die Stilisierungen einer bestimmten Lebensführung bilden, wenn sie einmal


als Anzeichen für Prestige, als Statussymbole, definiert sind, besonders effi-
ziente Formen der Produktion sozialer Wertschätzung, insbesondere in klei-
nen Gruppen und für solche sozialen Kategorien, für die die Abgrenzung nach
außen eine wichtige Angelegenheit ist. Wegen ihrer deutlichen sozialen Ein-
bettung und wegen der oftmals langen Vorgeschichte der Entstehung und Ab-
lösung von den funktionalen Grundlagen enthalten die Staussymbole meist
wieder eine stark „entfremdende“ Komponente: Eine echte Rolexuhr ist sehr
teuer und ausgesprochen häßlich. Doc Martin-Schuhe drücken und behindern
bei mancher Grazilität. Und gefährliche Mutproben erzeugen auch nicht un-
mittelbar physisches Wohlbefinden, dafür aber um so mehr an sozialer Wert-
schätzung in der Gruppe und ein positives Selbstbild – wenn alles gut gegan-
gen ist. Wegen ihrer hohen Effizienz, besonders dann, wenn es sich um kleine
Gruppen einander gut kennender und kontrollierender Individuen handelt, o-
der wenn die Regeln des jeweiligen Comments fest institutionalisiert sind,
wird diese Entfremdung aber oft genug komplett außer Kraft gesetzt: Bei
Mutproben, beispielsweise, zählt daher auch die Höhe des Risikos nicht als
„Kostenfaktor“ sondern als Einsatz für einen besonders hohen Gewinn an so-
zialer Wertschätzung. Dies ist auch ein Schlüssel zum Verständnis für den
sog. demonstrativen Konsum, für die Tapferkeit im Kampf oder auch für
manches Zeichen der selbstlosen Aufopferung und sogar des selbstmörderi-
schen Altruismus. Es ist, so gesehen, nicht viel an „Irrationalität“ daran.

Der Code der Distinktion

Lebensweisen sind, so sei noch einmal zusammengefaßt, die als (soziales)


System verselbständigten, als Norm oder Etikette teilweise institutionalisier-
ten und durch das Handeln von im Prinzip auch immer wieder anderen Akteu-
ren reproduzierten Muster bestimmter Lebensführungen. Das Oberziel bzw.
der Code solcher Lebensweisen sind dann die Kultivierung dieser besonderen
Form der Lebensführung und die damit beabsichtigten Folgen, insbesondere
die der Expression und der Distinktion: die – mehr oder weniger – bewußte
Demonstration einer besonderen gesellschaftlichen Lage mit der – mehr oder
weniger – reflektierten Nebenfolge der Schließung und (neo-)feudalen Abset-
zung, sowohl nach oben wie nach unten. Die peinliche Beachtung der Regeln
einer bestimmten Lebensführung, das sichere Beherrschen eines bestimmten
Geschmacks oder das Mithalten beim Wettbewerb um die Symbole des Pres-
86 Die Konstruktion der Gesellschaft

tiges können daher durchaus eine Frage von Leben und Tod sein – und das
besonders dann, wenn die betreffende Lebensweise der einzige Ort der sozia-
len und physischen Existenz der Akteure ist, wie das bei ethnischen oder reli-
giösen Gruppen der Fall ist, die alles verlieren, wenn man ihnen das Ausleben
ihrer angestammten Art der Lebensführung verwehren würde.

3.2.2 Szenen und Lebensstile

In der vor-postmodernen Gesellschaft war das Handeln immer zuerst Prob-


lemlösung und eine Art von Mangelverwaltung. An unmittelbare „Erlebnisse“
der Erzeugung von Wohlbefinden mit dem Handeln „an sich“ konnte dort
kaum gedacht werden:
„Das Einwirken auf die Situation war (in den vor-postmodernen Gesellschaften; HE) darauf
ausgerichtet, sich in ihr zu arrangieren oder ihre Grenzen zu erweitern, den Mangel zu ver-
walten oder zu lindern. Unter solchen Umständen kam es zur Entstehung geschichteter Ge-
sellschaften mit einer fundamentalen ökonomischen Semantik. Erlebnisse blieben für den
größten Teil der Bevölkerung Nebensache; die Rationalität des Handelns war typischerweise
außenorientiert (situationsbezogen).“7

Von daher kann es nicht verwundern, daß die menschlichen Akteure, sobald
das nur irgendwie möglich war, versucht haben, die Pfade der Nutzenproduk-
tion zu verkürzen und die Zwischengüter, die sie ganz unmittelbar und per-
sönlich interessieren, ohne jeden unnötigen „gesellschaftlichen“ Umweg her-
zustellen.

Erlebnisse und Erlebnisproduktion

Handeln ist dann eben nicht mehr um die bloß instrumentelle Sicherung aller
möglichen Vorprodukte und indirekten Zwischengüter, sondern um das „kon-
sumatorische“ Erleben der Bedürfnisbefriedigung unmittelbar herum organi-
siert. Es dient der Bedienung der speziellen individuellen Präferenzen, die es
neben allen sozial geprägten Vorlieben und neben allen „allgemeinen“ Funk-
tionserfordernissen des Organismus stets auch noch gibt. Die dazu geeigneten,
sozusagen, „primär“-primären Zwischengüter sind die Erlebnisse der unmit-
telbaren Erzeugung von Nutzen. Das allerdings setzt einen gewissen Überfluß
voraus: Die Produktion von Erlebnissen wird erst möglich, wenn nicht alles

7
Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt/M.
und New York 1992, S. 51.
Soziale Differenzierung 87

Handeln Problemlösung und Mangelverwaltung sein „muß“. Und diese Mög-


lichkeit schien einmal die sog. Postmoderne zu bieten. Es war der kurze, in-
zwischen wohl zerstobene, Traum von der immerwährenden Erlebnisgesell-
schaft und vom Freizeitpark Deutschland.
Unter den Bedingungen der Knappheit und der Umwegsproduktion des
Nutzens mit ihren oft sehr langen Ketten bis hin zu den Bedürfnissen der
Menschen, die die Grundlage für die Interessen der sozialen Gruppen und für
die funktionalen Imperative in den Sphären der sozialen Differenzierung wa-
ren, gab es für solche personalen Erlebnisse also nicht viel Raum. Das ist auch
der strukturelle Grund dafür, daß es in Gesellschaften, die sich die Erlebnis-
produktion nicht leisten konnten oder können, typischerweise soziale Identitä-
ten – sozial geprägte innere Welten der Akteure also – gibt – und nur wenig
Raum für persönliche Ideosynkrasien, die davon abweichen. Genau das ist in
der Erlebnisgesellschaft des Überflusses ganz anders:
„Nun entwickelt sich eine innenorientierte Rationalität, bei der das Subjekt die Situation als
Mittel betrachtet, um bei sich selbst bestimmte Prozesse zu provozieren.“ (Ebd., S. 51f.; Her-
vorhebung nicht im Original)

Das letzte Ziel aller Anstrengungen – die Bedienung der „inneren“ Bedürfnis-
se der Akteure „bei sich selbst“ – gerät mit dem Überfluß über alle möglichen
Zwischengüter immer mehr in Reichweite, bis das Handeln jeden Rest an in-
vestiver Vorleistung verloren hat und nur noch dem einen dient – dem Erleb-
nis der inneren Nutzenproduktion ganz unmittelbar:
„Erlebnisse werden dabei nicht bloß als Begleiterscheinung des Handelns angesehen, sondern
als dessen hauptsächlicher Zweck.“ (Ebd., S. 41; Hervorhebung nicht im Original)

Erlebnisse der unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung lassen sich also durchaus


herstellen – wenn das Bafög oder die Rente reichen. Das weiß jeder, der seine
Obsession, sagen wir: nach einem Geländewagen, tatsächlich auslebt und da-
für sein Girokonto in der sicheren Gewißheit, daß bald geerbt wird, weit unter
den Gefrierpunkt bringt. Dies geht durchaus unabhängig von den Kategorien
der sozialen Ungleichheit und quer zu den Sphären der funktionalen Differen-
zierung – wenn es nur die Knappheiten der bürgerlichen Existenz zulassen,
und wenn die Nutzenproduktion durch das Ausleben der Obsession nicht an
anderer Stelle empfindlich leidet. Und die Folge: Die Menschen organisieren
in der Überflußgesellschaft die Produktion von solchen Erlebnissen – auf der
Grundlage freilich immer der Zwischengüter, die sie tagsüber in den funktio-
nalen Sphären herstellen und für die sie mit einem Gehalt entlohnt werden.
88 Die Konstruktion der Gesellschaft

Lebensstile

Lebensstile sind gewisse kulturelle Praktiken der Erlebniserzeugung bei den


individuellen Akteuren in den jeweiligen Szenen bzw. in „einsamer“ Imitation
dessen, was – meist: gerüchteweise und durch die Medien kolportiert – in den
jeweiligen Szenen geschieht. Der Unterschied eines Lebensstils zur Lebens-
führung ist im wesentlichen der, daß bei der Lebensführung die Kostenerspar-
nis der funktionalen Abläufe der Hintergrund ist, und daß die Muster der Le-
bensführung vor allem auch eine – mehr oder weniger ausgeprägte – normati-
ve und distinktive Komponente haben. Lebensstile sind demgegenüber – ge-
wissermaßen – freischwebende Angelegenheiten. Sie sind das Ergebnis „indi-
vidueller“ und „freiwilliger“, von der funktionalen Position her relativ unab-
hängiger „Entscheidungen“ oder des ungehemmten Auslebens irgendwelcher,
wie auch immer erworbener Präferenzen – etwa nach klassischer Musik hier
und nach Rockmusik da oder nach Karl Moik und Carolin Reiber dort. Gerade
wegen ihrer Ablösung von funktionalen und normativen Erfordernissen kom-
men die Lebensstile den personalen Präferenzen der Akteure so sehr nahe.
Lebensstile sind, wenn man so will, eine Art der Lebensführung, die nicht
durch die funktionale Position, den Zwang zur Kostensenkung, durch ein da-
mit verbundenes Prestige oder Schließungsbedürfnis oder durch normative
Erwartungen erzwungen ist, sondern den ganz persönlichen Vorlieben der
Akteure entsprechen, und die die Akteure auch lassen könnten, wenn sie es
denn wollten. Die Übergänge zu den Zwängen der Lebensführung sind frei-
lich fließend.

Szenen

Szenen sind dann die „Milieus“, die sozialen Systeme also, dieser unmittelba-
ren Produktion ganz spezieller Erlebnisse zur Bedienung von ideosynkrati-
schen personalen Präferenzen, denen die Akteure im normalen Alltag nicht
nachgehen können.
Schachliebhaber tun sich – beispielsweise – zu einem Schachklub zusammen und enthusias-
mieren sich gegenseitig über verwickelte Varianten der Sizilianischen Verteidigung – und
wären sonst wohl lieber Feldherren geworden, wenn es die schönen Sandkastenkriege noch
gäbe. Aber der Schachklub „besteht“ als Teil der Szene zur Pflege des Lebensstils des
Schachs unabhängig von den konkreten Mitgliedern, wenngleich nicht ohne irgendwelche
Mitglieder. Thekenfußballer finden sich in stets wechselnder Besetzung auf einem Rasen-
stück am Rhein zusammen, weil ihnen der bürokratische Betrieb des DFB auf die Nerven
geht, und weil man so als FC Rote Socke so schön folgenlos ein bißchen proletarisch sein
kann. Aber diese Gruppe gibt es nur solange, wie irgendjemand noch kommt. Danach eben
nicht mehr. Sado-Masochisten bilden ihre bizarre Szene mit allem dazu erforderlichen E-
Soziale Differenzierung 89

quipment zur Bedienung ihrer geheimsten Bedürfnisse des physischen Wohlbefindens, für die
die betreffende Gesellschaft leider keinen funktional verkleideten anderen Ort – etwa das
Amt eines Inquisitors, Henkers oder Paukers – mehr anbietet. Rechtsradikale besaufen sich an
den Symbolen einer vermeintlichen kollektiven Größe, der sie von Geburt an und unwiderruf-
lich zuzugehören meinen, von der sie als arme Würstchen auch etwas abbekommen möchten
und die sie mit keinem teilen wollen, weil es ja das einzige erbärmlich kleine kulturelle Kapi-
tal ist, das sie zu kontrollieren glauben. Besucher von Rockkonzerten, Fußballspielen und
Demonstrationen suchen das Erlebnis der Gemeinsamkeit in der Menge und der Rauschzu-
stände, die gewisse Inszenierungen von Großritualen offenbar herbeiführen können, und wo-
zu es früher einmal Reichsparteitage gab. Und so weiter.

Die Szenen wechseln ihr Personal und ihre inhaltlichen Ausgestaltungen des
speziellen Lebensstils rascher als die Lebensweisen ihr Personal und ihre
Muster der Lebensführung. Sie sind von bestimmten funktionalen Positionen
noch stärker abgekoppelt als die Lebensweisen – eben weil es hier ganz be-
sonders um „Erlebnisse“ und um die „personale“ Nutzenproduktion geht. Ihre
Mitglieder kommen, wie es dann heißt, aus „allen gesellschaftlichen Grup-
pen“. Und das ist auch leicht erklärbar: Schachliebhaber, Freizeitfußballer,
Sado-Masochisten, arme Würstchen und Bedarf nach Massenritualen gibt es
ja quer durch die Gesellschaft, jenseits aller funktionalen Sphären und daher
auch in allen gesellschaftlichen Lagen.

Personale Zwischengüter

Wie aber wäre das Entstehen solcher personaler Präferenzen und Ideosynkra-
sien „soziologisch“ zu erklären?
Hier hilft zunächst schon die Idee der sozialen Produktionsfunktionen weiter, die wir in Kapi-
tel 3 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich
besprochen haben. Danach streben alle Menschen im Grunde nur nach der Erfüllung zweier
Grundbedürfnisse, soziale Wertschätzung und physisches Wohlbefinden. Aber zur Befriedi-
gung dieser Bedürfnisse gibt es gewisse Vorgaben in Form von „primären“ (und darüber hin-
aus auch von „indirekten“) Zwischengütern, über deren Kontrolle erst die Befriedigung der
Bedürfnisse möglich ist, wie etwa eine Nobelvilla, die den Vorzug hat, sogar beide „allge-
meinen“ Bedürfnisse gleichzeitig erfüllen zu helfen. Die wichtige Besonderheit dabei ist nun,
daß diese Zwischengüter gesellschaftlich festgelegt sind und daß sich damit das Interesse an
ihnen mit der jeweils geltenden „Verfassung“ der Gesellschaft ändert: Ehre ist eine Sache der
Feudalgesellschaft und materieller Wohlstand eine des Kapitalismus. Die Zwischengüter
„vermitteln“ also zwischen dem biologischen Organismus des Menschen und den allgemei-
nen Bedürfnissen aller Exemplare des homo sapiens einerseits und den jeweils historisch-
spezifischen und immer „konstruierten“ gesellschaftlichen Institutionen andererseits, in denen
jeweils festgelegt ist, welche Ressourcen für die Akteure überhaupt von Interesse sind und
welche nicht. Und so wie sich die „Verfassung“ der Gesellschaft ändert, so ändern sich auch
die „Präferenzen“ der Menschen und ihre Interessen an den Dingen dieser Welt, obwohl die
Bedürfnisse immer die gleichen sind. Revolutionen sind eben nicht nur Umwälzungen der ge-
90 Die Konstruktion der Gesellschaft

sellschaftlichen Verhältnisse, sondern auch solche der Vorlieben, der Interessen und sogar
des Geschmacks.

An dieser Stelle entsteht aber ein theoretisches Problem, das unsere bisher so
saubere Abgrenzung zwischen organismischen Bedürfnissen und den primä-
ren Zwischengütern sowie den Verzicht auf das Reden von „persönlichen“
Präferenzen aus Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen
Grundlagen“ etwas zu verwischen droht. Zunächst scheint die Sache noch ein-
fach: Zwar haben alle Menschen die beiden Bedürfnisse nach einem positiven
Selbstbild bzw. nach sozialer Wertschätzung und nach physischem Wohlbe-
finden, aber nicht alle Menschen benötigen dafür die gleichen primären Zwi-
schengüter. Und wir waren davon ausgegangen, daß die „Definition“ der pri-
mären Zwischengüter ausschließlich eine Frage der sozialen Produktionsfunk-
tionen sei, und daß alle Menschen einer spezifischen sozialen Konstellation
darin gleich seien. Das erlaubte es ja, die Präferenzen als ausschließlich sozial
konstruierte Variablen aufzufassen. Mit dem Verweis auf die Erlebnisse als
unmittelbare Ziele des Handelns wird aber angesprochen, daß es auch „inne-
re“, von den personalen Ideosynkrasien abhängige, „individuelle“ primäre
Zwischengüter gibt. Etwa: der Spaß an Schach als Folge von vererbten Intel-
ligenzunterschieden; oder genetisch bedingte Vorlieben für bestimmte Spei-
sen oder sexuelle Obsessionen. Damit aber müssen wir eine Zusatzannahme
machen, ohne die nicht erklärt werden kann, warum die Menschen jenseits ih-
rer Gruppeninteressen und über der funktionalen Imperative hinaus sofort
personalisierte Zwischengüter und „Erlebnisse“ anstreben, wenn es nur eben
geht und die „Gesellschaft“ das erlaubt.
Die Grenze zwischen Organismus und sozialer Umwelt, die in Band 1, „Si-
tuationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ über die Funkti-
onen SW=g1(Z) und PW=g2(Z) beschrieben worden war, müßte demnach also
in Hinsicht auf personale Ideosynkrasien differenziert werden: Zwischen die
primären Zwischengüter Z und die Bedürfnisse SW bzw. PW treten vermit-
telnd auch Zwischengüter, die mit den personalen Besonderheiten des indivi-
duellen Akteurs bzw. mit den subkulturellen Ideosynkrasien „seiner“ Le-
benswelt – Familie, peer-group, informelle Gruppe im Betrieb, Spezialmilieu
des Alltags – zu tun haben. Sie seien allesamt mit P abgekürzt. Diesen Fall
könnte man dann als Spezialfall des Schemas aus Abbildung 3.4 in Band 1,
„Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ so skizzieren
(Abbildung 3.1):
92 Die Konstruktion der Gesellschaft

schieden werden. Es ist ein Fall für das Problem der abnehmenden Abstrakti-
on.

Lebensstile und Erlebnisse als Code

Die Pflege eines bestimmten Lebensstils, insbesondere aber die damit verbun-
dene Erzeugung von Erlebnissen, sind damit die Oberziele des Handelns in
den jeweiligen Szenen. Um sie dreht sich, wie bei den „einfachen“ primären
Zwischengütern, alles. Sie bestimmen die Codierung der Orientierungen in
den jeweiligen sozialen Systemen und steuern die Herausbildung und den
Wandel der speziellen kulturellen Fokalobjekte in den jeweiligen Szenen.

Abweichung als Erlebnis

Manchmal bestehen die Erlebnisse, die personalen Zwischengüter bzw. die


„primären“ Zwischengüter, bestimmter Szenen gerade darin, die Abweichung
von den Normen der gesellschaftlichen Welt da draußen besonders herauszu-
stellen. Dies gilt in besonderem Maße für die Szenen der Jugendkultur, bei
denen es ja gerade darum geht, die Grenzen auszutesten, bis zu denen man
gehen kann, um in der Phase zwischen Kindheit und Erwachsenendasein fest-
zustellen, „wer“ man denn wohl ist. Dann sind diese Abweichungen und die
eventuellen Sanktionen auf die Normverletzungen aber keine „Kosten“, son-
dern ein Teil der Nutzenproduktion durch Erlebnisse. Und wenn man dies –
etwa in einer ganz falsch verstandenen Nutzen-Kosten-Erklärung von nicht-
konventionellem politischen Handeln bei Atomkraftgegnern zum Beispiel –
übersieht, dann kommt man zu ganz abwegigen Schlüssen über die Beweg-
gründe der Akteure und über die innere Dynamik dieser Milieus (vgl. dazu
auch noch Abschnitt 3.3 gleich unten in diesem Band über die normative Dif-
ferenzierung der Gesellschaft in Sub- und Gegenkulturen). Nichts erzeugt et-
wa in einem Milieu von Hooligans mehr an Anerkennung und Wertschätzung
als das besonders brutale Verprügeln der jeweils anderen Fans. Und deshalb
wird um die Wette geprügelt, gerade dann, wenn Berti Vogts höchstpersön-
lich zur Fairneß mahnt und Lothar Matthäus beim Okoberfest beim Bier auf
seinem T-Shirt für „Keine Macht den Drogen“ wirbt – dabei aber auch einen
Holländer übel beschimpft.
Ähnliches läßt sich zur Erklärung der besonderen Brutalität der rechtsradikalen Szene an-
nehmen: Besonders brutale Gewalt gegen Ausländer ist in dem Prestigesystem dieser Szene
eben kein Makel oder ein Kostenfaktor, sondern ein höchst primäres Zwischengut mit um so
Soziale Differenzierung 93

höherer Effizienz, je mehr andere dabei zusehen. Genau aus dem gleichen strukturellen
Grund der Effizienz einer bestimmten sozialen Produktionsfunktion gehen aber auch rot-lila
oder schwarz gekleidete Atomkraftgegner gerade dann gern zu ihren Demonstrationen, wenn
das Fernsehen und viel Polizei erwartet werden und wenn so besonders wirksam den eigenen
Leuten gezeigt werden kann, daß man die Ziele der betreffenden Subkultur bedingungslos
teilt.

So lassen sich schließlich auch die Extremfälle der Sekten erklären, in denen
die Mitglieder offenbar das höchste Glück darin finden, sich kollektiv umzu-
bringen – und zwar: immer nur in „Gemeinschaft“, nie still auf dem Zimmer
jeder für sich allein, wie dies die normalen Selbstmörder zu tun pflegen. Nach
außen sieht das alles wie eine unglaubliche Tollheit aus. Wer das Binnenmi-
lieu und den Inhalt des Prestigesystems der Gruppe aber kennt, sieht gleich,
daß dem aus der Sicht der Akteure heraus keineswegs so ist. Sie produzieren

ein mitunter ganz extremes Maß an sozialer Wertschätzung unter Ihresglei-


chen, das alle „Kosten“ glatt in den Hintergrund drängt und sogar den Preis
des eigenen Lebens aufzuwiegen scheint.

Die Organisation der Erlebnisproduktion

Erlebnisse sind ohne Zweifel eine sehr individuelle Angelegenheit. Aber ganz
alleine kann man sie sich kaum besorgen, besonders dann, wenn es um Erleb-
nisse geht, die an die „Gemeinschaft“ mit anderen Akteuren gebunden sind.
Kurz: Auch Erlebnisse müssen produziert, und diese Produktion muß sozial
organisiert werden. Unter den Bedingungen hoher Knappheiten wäre die ge-
sellschaftliche Organisation der Erlebnisproduktion ein Luxus, den sich kaum
jemand leisten könnte. Sobald der gesellschaftlich erzeugte materielle Ü-
berfluß das aber möglich macht, entsteht sofort ein organisierbares Interesse
an den „primär“-primären Zwischengütern der Erlebnisse. Die Orte einer sol-
chen sozialen Organisation der Erlebnisproduktion sind uns wohlbekannt:
Vereine, Freizeitgruppen, Cliquen, Treffs, Subkulturen und Milieus, die Sze-
nen der Erlebnisproduktion eben.
Die, mitunter nur kleinen, Variationen in den individuellen Ideosynkrasien
erzeugen – sofern die Zahl der Akteure nur groß genug ist – eine kollektive
Nachfrage nach ganz besonderen, oft höchst eigenartigen primären Zwischen-
gütern, die dann der Hintergrund für das Entstehen auch ganz spezieller kultu-
reller Milieus sind. Gibt es diese Milieus aber einmal, dann kann sich ihre E-
xistenz von den ursprünglichen Ideosynkrasien ablösen, weil die eingespielten
kulturellen Konventionen und Praktiken einen Ankerpunkt für ganz verschie-
dene Formen der Produktion sozialer Anerkennung bilden und – sehr rasch
94 Die Konstruktion der Gesellschaft

sogar – ein durchorganisiertes und kommerzialisiertes System einer Szene


wird, von der viele Menschen ihr ganz stinknormales funktionales Auskom-
men haben – wie etwa die Hersteller von Fanartikeln für Borussia Dortmund,
die Fabrikanten von Golfschlägern oder die Platzanweiser in den Pornokinos.

Fokus-Wandel

Die kulturellen Fokalobjekte der Muster einer Lebensführung bzw. einer ein-
gespielten Lebensweise verändern sich kaum. Sie sind ja Teil der ganz norma-
len funktionalen Organisation des Alltags und eines daran anknüpfenden ü-
bergreifend geltenden Prestigesystems. Dagegen ändern sich die kulturellen
Fokalobjekte der Lebensstile und Szenen fortwährend – ganz anders als die
funktionalen Imperative der funktionalen Sphären. Das ist es ja gerade: Le-
bensstile werden wegen gewisser „Erlebnisse“ jenseits der funktionalen
Zwänge gepflegt. Und gerade der Wandel, die immer weiter geführte Stilisie-
rung und die Verfeinerung des kulturellen Fokalobjektes, macht die Beson-
derheit vieler Lebensstile und Szenen für die daran beteiligten Akteure aus.
Dieser Wandel ist auch möglich, weil die kulturellen Fokalobjekte dort typi-
scherweise extrafunktionale, eigentlich ganz überflüssige Bereiche der Ge-
sellschaft berühren, deren kulturelle Ziele weder durch materielle Knapphei-
ten eingegrenzt, noch durch funktionale Aufgaben durchkreuzt oder durch
eingespielte Formen der Lebensführung verfestigt sind.
Der rasche Wandel, die stets weiter getriebene Zuspitzung und Skurrilität des kulturellen Fo-
kalobjektes ist für manche Szene sogar das eigentlich interessierende primäre Zwischenpro-
dukt – wie in der Mode und in der Kunst, die ja im Wesentlichen nur von ihrem Wettlauf um
etwas nie Dagewesenes leben. Das liegt daran, daß es eigentlich nicht um ein konkretes be-
gehrtes oder als solches lebenswichtiges Zwischengut, sondern vielmehr darum geht, daß
man möglichst der Erste und der Einzige ist, der das Gut besitzt. Stilisierungen sind eben Po-
sitionsgüter oder dienen der Absicherung anderer Positionsgüter (vgl. dazu noch Band 3,
„Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Und genau deshalb ist der Wettlauf um
das Erlebnis der Distinktion so ganz besonders gnadenlos – obwohl es doch materiell und ei-
gentlich, wie man glauben möchte, um buchstäblich nichts geht.

Alle Statussymbole und die meisten Fokalobjekte oder Insignien der Jugend-
kultur, des Musikstils, der Literatur oder der modernen Malerei unterliegen
auch genau deshalb jener offenbar eingebauten Dynamik von zögerndem Be-
ginn durch Pioniere, trendsetter oder opinion leader, wachsender Verbreitung
und Erfassung auch der zurückhaltenderen Teile der Bevölkerung, Kulminati-
on und der gerade dadurch bewirkten Entwertung des betreffenden Fokalob-
jektes, der alle Positionsgüter unterliegen: Wenn alle ihren Miró besitzen,
dann wird er für die Avantgarde sehr bald zum Trivialkitsch – weil man einen
Soziale Differenzierung 95

echten imitierten Miró nun auch schon in der Galerie Mensing billig bekom-
men kann. Wenn jeder Geschäftsführer eines öffentlich finanzierten Instituts
Professor – ordentlich, außerplanmäßig oder als Honorarprofessor – ist, dann
ist der Titel selbst bald nichts mehr wert. Und wenn alle unverstandenen Leh-
rerInnen – Du, irgendwie – zum Töpfern in die Toscana fahren oder über glü-
hende Kohlen laufen, dann hilft das schließlich auch nicht mehr viel bei der
Gewinnung von sozialer Wertschätzung im Milieu der Waldorfschulen, selbst
wenn es zuvor eine ganz und gar ausgefallene Sache gewesen sein sollte, und
das ganze Lehrerzimmer ganz ergriffen schwieg, wenn jemand darüber mit
verträumtem Blick zu erzählen begann. Diese Entwertung ist der eingebaute
Mechanismus für den schließlichen Verfall, dem die meisten Lebensstile und
Szenen unterliegen. Sie leben ab da nur noch in gewissen Nischen weiter –
oder werden zu einem neuen Teil der etablierten Kultur einer Gesellschaft, zu
einer Lebensweise und oft genug zu einem neuen funktionalen System, wie
das etwa beim Tourismus oder bei den lila Grünen der Fall gewesen ist.

Die Selbstorganisation der Milieus

Die Zugehörigkeit zu gewissen Szenen können sich die Akteure – in den „of-
fenen“ Gesellschaften jedenfalls – meist relativ frei aussuchen. Wegen dieser
Offenheit der Zuordnung zu konkreten Personen und wegen ihrer Unabhän-
gigkeit von den funktionalen Sphären einer Gesellschaft sind die Produkti-
onswege für den Nutzen ja gerade so kurz. Diese Offenheit hat aber einen
strukturellen Preis: Die Produktionsfunktionen in den Szenen sind nicht durch
besondere Funktionen institutionell gesichert, sondern von der immer wieder
neu zu motivierenden Beteiligung wechselnder Akteure abhängig. Dies hat
noch einen weiteren, sehr „strukturellen“ Grund: Die Menschen können sich
ja auch nur recht punktuell in den Szenen aufhalten, weil das Leben bekannt-
lich auch in den wohlhabendsten Kreisen nicht nur mit Schachabenden, Frei-
zeitfußball, Sado-Masochismus, rechtsradikalen Besäufnissen und Massen-
hysterien zu bestreiten ist. Kurz: Viele Milieus und Szenen ähneln eher den
auf- und abschwellenden „sozialen Bewegungen“ als stabilen Institutionen.
Gleichwohl können sich solche Szenen – wie die Lebensweisen – als kollekti-
ves Phänomen ganz dauerhaft einrichten – etwa als eine immer in Bewegung
befindliche Jugendkultur, als eine Subkultur gewisser sexueller Praktiken oder
als ein Milieu eines bestimmten Freizeitstils. Diese Milieus „bestehen“ dabei,
es sei wiederholt, nur als ständig sich „selbst“ neu reproduzierendes und in
seinem Inhalt sich wandelndes kulturelles System der jeweiligen Fokalobjekte
und als soziales System der entsprechenden aneinander anschließenden Hand-
96 Die Konstruktion der Gesellschaft

lungen. Bei der immer wieder neu erfolgenden Konstitution der „Systeme“
der Szenen sind zwar immer Akteure beteiligt. Wie sollte das auch anders
möglich sein? Es sind aber nicht immer die gleichen Akteure, die die Szenen
tragen. Auch das ist eigentlich kaum anders vorstellbar.
Kurz: Die Szenen leben von einem hohen – und meist sogar unvermeidli-
chen – Wechsel des Personals: Alle Jugendlichen werden älter – aber die Ju-
gendkultur gibt es weiter. Alle Hedonisten übernehmen irgendwann einmal
Verantwortung, wenn sie nicht als Drogentote geendet sind – aber Sinus und
tausend weitere Lebensstilforscher finden immer noch das hedonistische Mi-
lieu. Und Ikea verkauft seine teuren Billigmöbel auch dann noch an die Nach-
folgeszene des 68er-Milieus, wenn die Gründergeneration der Frankfurter
Schule längst in den spätkapitalistischen Schrankwänden aus Brabanteiche
eingerichtet sich hat. Die Erklärung für das Überdauern der Lebensstile und
der Szenen als „Systeme“ bei allem Wechsel des Personals und des Wandels
der konkreten Fokalobjekte ist leicht: Eine Szene wird mit ihrem Lebensstil
zwar immer nur aktuell konstituiert, aber es müssen nicht die gleichen Perso-
nen sein, die den Prozeß tragen, und es müssen nicht immer die identischen
Objekte sein, um die sie sich scharen. Szenen (und auch die Lebensweisen)
sind ein besonders instruktives Beispiel für sich „selbstorganisierende“ und
„evolutionäre“ soziale Systeme. Sie sind ein Spezialfall dessen, was allgemein
als die „Konstitution“ der Gesellschaft bezeichnet wird (vgl. dazu auch noch
Kapitel 9, insbesondere Abschnitt 9.1 unten in diesem Band).

Die Kombination von Lebensweisen und Szenen

In den Milieus bestimmter Weisen der Lebensführung und bei den Szenen der
Erlebnisproduktion geht es, ähnlich wie bei den funktionalen Imperativen,
immer um ganz spezielle Oberziele und Codes. Dies sind, wie schon gesagt,
einmal die Inhalte der jeweiligen Stilisierungen der Lebensführung – der Ha-
bitus, der Geschmack, die Symbolik der Distinktion – und dann die Besonder-
heiten des Lebensstils und der Erlebnisse, um deren Produktion es in einer
Lebensweise bzw. Szene „primär“ geht. Diese Oberziele und Codes sind die
„fokalen“ Objekte der jeweiligen Lebensweise, des jeweiligen Lebensstils o-
der der jeweiligen Szene – die kulturellen Fokalobjekte. Um sie dreht sich je-
weils alles. Sie sind der Rahmen der Situationsdefinition in den betreffenden
kulturellen Milieus. Oft kombiniert sich in dem kulturellen Fokalobjekt die
distinktive Stilisierung einer Lebensweise mit einer speziellen Erlebnispro-
duktion einer Szene. Zu dem Fokalobjekt gehört dann – zusammen mit dem
Oberziel der Erzeugung eines speziellen Erlebnisses – auch ein bestimmter
Soziale Differenzierung 97

Habitus des Benehmens, des Aussehens und auch der sonstigen Lebensgestal-
tung bei der Erlebnisproduktion, dessen Einhaltung für die Nutzenproduktion
in dem jeweiligen Milieu wichtig ist. Der Habitus ist dann gleichzeitig eine
Stilisierung der wichtigsten Elemente des Erlebnis-Codes, Erkennungszeichen
für die Anhänger der Szene, Statussymbol für die Gewinnung sozialer Aner-
kennung innerhalb des Milieus, gelegentlich gleichzeitig ein Stigma nach au-
ßen, das es zu verbergen gilt, und vor dessen outing man sich sehr fürchtet.
Dieser Code muß von den Novizen der jeweiligen Subkultur oft erst noch
richtig gelernt werden – auch wenn sie genau wissen, was das Oberziel ist und
worum es geht. Und wer sich nicht daran hält oder zufälligerweise verläuft,
erlebt – an einem FKK-Strand, in einer Schwulenkneipe oder in einer Punker-
versammlung etwa – sein blaues Wunder.

Die gesellschaftliche Basis der kulturellen Milieus

Dies alles verweist darauf, daß letztlich auch die kulturellen Milieus der ganz
und gar unkonventionellen Lebensstile und Szenen auf gesellschaftlich festge-
legten Produktionsfunktionen beruhen; für die Muster der Lebensführung bei
den Lebensweisen gilt das ja sowieso. Auch ganz ideosynkratische Erlebnisse
bedürfen – zumal: wenn man sie wiederholt und kostengünstig genießen will
– offenbar einer sozialen Organisation ihrer Produktion. Und oft genug mu-
tiert – mit der Etablierung des jeweiligen kulturellen Milieus als Folge der
verläßlicheren Einrichtung des Milieus – die Produktion von ursprünglich als
sehr primär und spontan erlebten Ereignissen in einen ganz und gar entfrem-
denden Terror der Beachtung absurder Spielregeln und Distinktionspraktiken:
Aufnahmeprüfungen, Mutproben, Kleidungsvorschriften, wie bei schlagenden
Verbindungen zum Beispiel. Und oft weiß dann niemand mehr, wie das jewei-
lige kulturelle Fokalobjekt einmal entstanden ist, geschweige denn, daß es
einmal um ganz persönliche „Erlebnisse“ ging – und eben nicht um ein dump-
fes Ritual mit Vorsitzendem, Schriftführer und Kassenwart im Nudistenver-
ein.

3.3 Normative Differenzierung

Nicht jede Organisation der Nutzenproduktion und nicht jedes funktionale o-


der kulturelle System entspricht den in einer Gesellschaft jeweils „herrschen-
den“ Regeln. Das hat einen einfachen und unvermeidlichen Grund: Die je-
weils etablierten kulturellen Ziele sind nicht immer und schon gar nicht für al-
98 Die Konstruktion der Gesellschaft

le Akteure mit den jeweils als legitim definierten institutionalisierten Mitteln


erreichbar. Und um dennoch ein erträgliches Auskommen zu haben, reagieren
die Akteure: Einige suchen, wenn sie nicht gerade auswandern oder Selbst-
mord begehen, nach bis dahin unbekannten oder auch unerlaubten Wegen,
und andere versuchen sogar, die übergreifenden kulturellen Ziele der Gesell-
schaft so zu ändern, daß sie dann mit den ihnen verfügbaren oder richtig er-
scheinenden Mitteln zurechtkommen. Auf diese Weise entstehen soziale Sys-
teme, sei es der Nutzenproduktion unmittelbar, sei es der Vorbereitung einer
Änderung der Verfassung einer Gesellschaft, die entweder in ihren Mitteln
oder in ihren Zielen von den etablierten Mitteln und Zielen einer Gesellschaft
abweichen. Solche von den etablierten und anerkannten Standards einer Ge-
sellschaft „abweichenden“ sozialen Systeme seien als Devianz-Bereiche be-
zeichnet, wobei der Ausdruck „Devianz“ ganz neutral gemeint ist und nur be-
zeichnen soll, daß es bei diesen sozialen Systemen um andere Formen der
Nutzenproduktion geht als bei denjenigen, die gerade gesellschaftlich etabliert
und anerkannt sind. Die innere Differenzierung einer Gesellschaft in Hinsicht
auf die Vielfalt und das Ausmaß solcher Devianz-Bereiche sei dann die nor-
mative Differenzierung der Gesellschaft genannt.

Das Anomie-Schema

Im Kern der Entstehung von Devianz-Bereichen stehen also Unterschiede der


Akteure darin, wie gut sie mit den etablierten Systemen der Nutzenprodukti-
on, den geltenden kulturellen Zielen und institutionalisierten Mitteln also, zu-
rechtkommen. Von Robert K. Merton stammt hierzu eine berühmt gewordene
Typologie von Mustern der Anpassung an unterschiedliche Konstellationen
von kulturellen Zielen und institutionalisierten Mitteln, auf das wir schon in
Kapitel 12 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen
Grundlagen“ zu sprechen gekommen waren: das sog. Anomie-Schema.8 Aus-
gangspunkt ist der „funktionale“ Normalfall: Die kulturellen Ziele und die in-
stitutionalisierten Mittel bilden nach Merton im gesellschaftlichen „Gleich-
gewicht“ ein integriertes, abgestimmtes System, in dem die Akteure sowohl
die Ziele unterstützen, wie sich an die institutionalisierten Mittel halten. Die-
ses Gleichgewicht ist aber davon abhängig, inwieweit die Akteure unter Be-
achtung der Vorgaben der kulturellen und institutionellen Verfassung der Ge-
sellschaft zu einer hinreichenden Bedürfnisbefriedigung gelangen:

8
Robert K. Merton, Social Structure and Anomie, in: Robert K. Merton, Social Theory and
Social Structure, 11. Aufl., New York und London 1967a, S. 131-160.
Soziale Differenzierung 99

„An effective equilibrium between these two phases of the social structure is maintained so
long as satisfactions accrue to individuals conforming to both cultural constraints, viz., satis-
factions from the achievement of goals and satisfactions emerging directly from the instituti-
onally canalized modes of striving to attain them.“ (Ebd., S. 134)

Ein Gleichgewicht der Gesellschaft besteht also dann, wenn die Akteure so-
wohl alle die kulturellen Ziele verfolgen und sich dabei an die institutionali-
sierten Mittel halten. Das dazu gehörende Verhalten nennt Merton Konformi-
tät. Dieses Gleichgewicht der Konformität und der Unterstützung sowohl der
kulturellen Ziele wie der institutionalisierten Mittel ist aber durch nichts ga-
rantiert. Merton geht vielmehr davon aus, daß beide Elemente der Verfassung
einer Gesellschaft – kulturelle Ziele und institutionalisierte Mittel – auch un-
abhängig voneinander variieren können: Die Ziele, an denen sich die Akteure
orientieren und deren Erfüllung für das Funktionieren der Gesellschaft wich-
tig sind, und die Mittel, mit denen die Akteure hantieren und die in unter-
schiedlicher Weise gesellschaftlich legitimiert sind, fallen unter Umständen
auseinander. In Bezug auf dieses Auseinandertreten der Orientierungen an ge-
sellschaftlich wichtige Ziele und Regelungen der Mittel unterscheidet Merton
dann vier typische Formen des Ungleichgewichtes einer Gesellschaft. Die vier
Typen der „Anpassung“ an diese Ungleichgewichte ergeben sich aus der sys-
tematischen Variation der beiden Variablen „kulturelle Ziele“ und „institutio-
nalisierte Mittel“.
Zur Erreichung der Ziele kann als Abweichung von der Konformität – erstens – auf Mittel
zugegriffen werden, die nicht institutionalisiert, innerhalb der gegebenen Verfassung neuartig
oder sogar verboten sind. Dieses Verhalten nennt Merton Innovation. In Abschnitt 12.2 von
Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ haben wir diesen
Fall bereits behandelt – bei der Erklärung der Unterschichtenkriminalität als Reaktion auf die
Blockade bei den institutionalisierten Mitteln zur Erreichung des in der amerikanischen
Gesellschaft alles übergreifenden Zieles: materieller Wohlstand. Die Beachtung der
Legitimität der Mittel kann sich aber auch – zweitens – von den kulturellen Zielen der
Gesellschaft ablösen, verselbständigen und zum „Selbstzweck“ werden. Robert K. Merton
spricht in diesem Fall von Ritualismus. Auch diesen Fall haben wir in Abschnitt 12.2 von
Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ schon näher als
typische Reaktion der unteren Mittelschichten in der amerikanischen Gesellschaft
besprochen. Weiter können – drittens – sowohl die kulturellen Ziele als unerreichbar oder als
unwichtig angesehen und gleichzeitig auch die institutionalisierten Mittel als nicht
verbindlich abgelehnt werden. Diese Reaktion bezeichnet Merton als Rückzug. Beispiele
dafür sind Drogensüchtige, Clochards und Aussteiger aller Art, einschließlich der „inneren
Emigranten“. Und schließlich ist es – viertens – auch möglich, daß Akteure an die Stelle einer
abgelehnten gesellschaftlichen Verfassung eine komplett neue mit nun anders definierten
kulturellen Zielen und anders geregelten institutionalisierten Mittel setzen wollen: die
Rebellion als Reaktion auf eine in ihren Grundstrukturen abgelehnte Gesellschaft vor dem
Hintergrund der Utopie einer neuen Gesellschaftsordnung, deren kulturellen Ziele und
institutionalisierten Mittel – in dann konformer Weise also – unterstützt werden.
100 Die Konstruktion der Gesellschaft

Diese insgesamt fünf Muster der Anpassung an die Strukturen der kulturellen
Ziele bzw. der institutionalisierten Mittel hat Merton in einer, wie er sagt,
„Typology of Modes of Individual Adaptation“ zusammengefaßt (Abbildung
3.2).
Diese Typologie der fünf Muster strukturierter Anpassungen ist das besag-

Abb. 3.2: Die Typologie der Anpassungsmuster an kulturelle Ziele und institutionali-
sierte Mittel (nach Merton 1967a, S. 140)

te Anomie-Schema.
Anpassungsmuster Kulturelle Ziele Institut. Mittel
Anomie
Konfund Devianz
ormität + +
Innovation + -
DenRitua
Begriff „Anomie“ für das in der
lismus - Typologie beschriebene
+ Problem hat
Robert K. Merton gewählt, weil er in -dem Verfall der Verbindlichkeiten
Rückzug - über-
greifender
Rebellionkultureller Ziele und in der
+/- Ablehnung der normativen
+/- Regelung
des Handelns durch die Akteure alle Merkmale jenes Zustandes zu erkennen
glaubt, den Emile Durkheim als Anomie bezeichnet hatte (vgl. dazu auch
schon den Exkurs über die sechs Lesarten des Thomas-Theorems in Band 1,
„Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Emile Durkheim hat den Begriff der Anomie in zwei Bedeutungen verwendet. Die eine
stammt aus dem Zusammenhang der Untersuchung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung.
Dort bezeichnet Emile Durkheim das Verschwinden der „Solidarität“, die Auflösung der so-
zialen Beziehungen und die Verdünnung des Gefühls der gegenseitigen Abhängigkeit mit
Anomie. Die andere Bedeutung hat Emile Durkheim im „Selbstmord“ verwandt: Die Auflö-
sung aller Schranken der Orientierung und der Begrenzung der Ansprüche, wie sie gerade in
Zeiten des Wohlstands und der Expansion aufzutreten pflegen. Damit erklärt Emile Durkheim
die eigenartige empirische Regelmäßigkeit, daß die Selbstmordraten in Phasen der wirtschaft-
lichen Expansion ansteigen und in Kriegen besonders niedrig liegen. Diese Art des Selbst-
mordes nennt Durkheim daher auch den „anomischen Selbstmord“ – in Abgrenzung vom „e-
goistischen“ Selbstmord, der beispielsweise die Selbstmordraten bei den „individualisierten“
Protestanten im Vergleich zu den Katholiken in die Höhe treibt; und in Abgrenzung zum „alt-
Soziale Differenzierung 101

ruistischen Selbstmord“ etwa eines Kamikaze-Fliegers oder eines Offiziers, der einen Ehrver-
lust nicht ertragen kann und daher gerade in Konformität zu einem bestimmten „esprit du
corps“ Hand an sich legt.9

Das sind schon durchaus verschiedene Sachverhalte: die Auflösung von sozia-
len Beziehungen einerseits und die Auflösung von Anspruchsbegrenzungen.
Sie sollten auch auseinandergehalten werden, weil das eine die Ursache für
das andere sein kann: Die Auflösung sozialer Beziehungen kann auch zur
Auflösung von Schranken in den Ansprüchen der Menschen und so zur Orien-
tierungslosigkeit führen. Merton hat aber offenbar eine dritte Variante der
Anomie im Sinn: die Mißachtung der institutionellen Begrenzungen, gerade
um die ansonsten nicht einlösbaren Ansprüche doch noch zu verwirklichen –
mit der schließlichen Folge des kompletten Zusammenbruchs des Systems der
institutionellen Begrenzungen. Derartige anomische Tendenzen sieht Merton
zunächst überall da, wo die kulturellen Ziele besonders wichtig und aus-
schließlich für Wertschätzung und Wohlbefinden der Menschen bedeutsam
sind und wo es technisch sehr effiziente, aber unerlaubte Möglichkeiten gibt,
diese Ziele zu erreichen. Nicht immer sind die Menschen dann gegen die Ver-
suchung gefeit, die begrenzenden Regeln der institutionalisierten Mittel zu
beachten. Als Beispiel nennt Merton den Wettkampfsport, in dem – auch da-
mals wohl schon als Merton seinen Artikel schrieb – keineswegs die Teil-
nahme schon alles bedeutet:
„Thus, in competitive athletics, when the aim of victory is shorn of its institutional trappings
and success becomes construed as ‚winning the game‘ rather than ‚winning under the rules of
the game‘, a premium is implicitly set upon the use of illegitimate but technically efficient
means.“ (Merton 1967a, S. 135; Hervorhebung nicht im Original)

Bekommen die kulturellen Ziele der jeweiligen gesellschaftlichen Sphäre,


hier: die des Wettkampfsports, allmählich die Oberhand über die institutionel-
len Schranken der Mittelwahl, dann drohe ein Zustand der „Verdünnung“ und
die Auflösung der sozialen Ordnung insgesamt. Dies ist die Auflösung der
Zielverfolgung „under the rules of the game“, eine der Varianten des Werte-
und Normverfalls, den Merton im frei interpretierenden Anschluß an Emile
Durkheim mit dem Begriff der Anomie bezeichnet. Der Fall „Baumann“ war
ein Anzeichen dafür im Langstreckenlauf. Und „Kohl“ für die ganze Politik.

9
Vgl. Emile Durkheim, Über die Teilung der sozialen Arbeit, Frankfurt/M. 1977, S. 410f.;
Emile Durkheim, Der Selbstmord, Neuwied und Berlin 1973, S. 279ff., 290f.
102 Die Konstruktion der Gesellschaft

Abweichendes Verhalten und Devianz-Bereiche

Das Anomie-Schema beschreibt typische Konstellationen, unter denen typi-


sche Kategorien von Akteuren sich konform oder abweichend verhalten (vgl.
zum Problemkomplex des „abweichenden Verhaltens“ auch noch Band 5,
„Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Solche Katego-
rien von Akteuren mit „abweichendem Verhalten“ konstituieren aber noch
keinen Devianz-Bereich. Erst wenn sich derartige Abweichungen auch zu so-
zialen Systemen verselbständigen und von „bestimmten“ Akteuren unabhän-
gig werden, kann von einem Devianz-Bereich gesprochen werden (vgl. zu
diesen Unterscheidungen, wenn nötig, noch einmal Kapitel 2 in diesem Band).
Es ist der gleiche Unterschied wie der zwischen einer funktionalen Sphäre als
System und den individuellen Akteuren, die darin eine Position besetzen, oder
wie der zwischen einem kulturellen Milieu als sozialem System und den Indi-
viduen, die eine bestimmte Art der Lebensführung oder einen bestimmten Le-
bensstil pflegen. So sind das „organisierte Verbrechen“, die Mafia, die Dro-
genszene, die RAF oder die „Subkultur der Armut“, etwa in den favelas in
Brasilien oder in den Ghettos der nordamerikanischen Städte, Devianz-
Bereiche, nicht aber die sozialen Aggregate und sozialen Kategorien der Kri-
minellen, der Mafiosi, der Drogenfreaks, der RAF-Terroristen oder der Ver-
dammten dieser Erde in Brasilien und anderswo.

Subkulturen und Gegenkulturen

Bei den Devianz-Bereichen können zwei verschiedene Arten von sozialen Sy-
stemen unterschieden werden: Subkulturen bzw. Gegenkulturen einerseits und
soziale Bewegungen andererseits. Sub- bzw. Gegenkulturen sind – mehr oder
weniger – stabile soziale Systeme, in denen „alternative“ Ziele gelten
und/oder „alternative“ Mittel als erlaubt definiert sind. Subkulturen sind dann
jene sozialen Systeme der Nutzenproduktion, bei denen die etablierten kultu-
rellen Ziele einer Gesellschaft weiterhin gelten, aber die institutionalisierten
Mittel nicht (mehr) angewandt werden oder sogar bewußt und mit Emphase
abgelehnt werden.10 Kriminelle Subkulturen, speziell in der Form der organi-

10
Vgl. zum Konzept der Subkultur u.a. Albert K. Cohen und James F. Short, Jr., Research
in Delinquent Subcultures, in: The Journal of Social Issues, 14, 1958, S. 20-37; Walter B.
Miller, Lower Class Culture as a Generating Milieu of Gang Delinquency, in: The Journal
of Social Issues, 14, 1958, S. 5-19; Günter Albrecht, Die „Subkultur der Armut“ und die
Entwicklungsproblematik, in: René König (Hrsg.), Aspekte der Entwicklungssoziologie,
Sonderheft 13 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Köln und
Opladen 1969, S. 430-471. Vgl. insgesamt auch die Übersicht bei Siegfried Lamnek, The-
Soziale Differenzierung 103

sierten Kriminalität, sind das eingängigste Beispiel dafür: Die kulturellen Zie-
le der Gesellschaft – Wohlstand und Prestige zum Beispiel – werden darin
durchaus akzeptiert und sogar unterstützt, aber es werden „alternative“ Mittel
angewandt, um diese Ziele zu erreichen. Zu den „Mitteln“ gehören dann nicht
unbedingt nur bestimmte „Taten“, sondern unter Umständen auch wieder be-
sondere Bewertungen von Handlungsweisen oder Überzeugungen, die von der
„dominanten“ Gesellschaft nicht geteilt werden. In gewissen Unterschichten
oder Jugendgruppen werden beispielsweise Gewalt, Maskulinität und Härte
als ein besonderer Wert angesehen. Und die Ausübung selbst von brutaler
Gewalt ist dann auch kein Akt der „Abweichung“, der ein schlechtes Gewis-
sen hervorrufen würde, sondern – geradezu im Gegenteil – ein Beweis für die
Konformität mit der betreffenden (Bezugs-)Gruppe und ein höchst nahelie-
gender Akt zur Gewinnung sozialer Wertschätzung darin. „Abweichend“ ist
das Verhalten in einer devianten Subkultur also nur in Bezug auf die Stan-
dards der dominanten Gesellschaft.
Subkulturen bilden sich zunächst exakt so, wie auch die „individuelle“ Abweichung entsteht:
als „anpassende“ und schließlich als soziales System stabilisierte Reaktion der Nutzenproduk-
tion auf die jeweiligen Gegebenheiten, die eine nicht-deviante Nutzenproduktion nicht erlau-
ben würden. Voraussetzung für ihre Konstitution als soziales System ist stets eine gewisse
Alternativlosigkeit und Abhängigkeit von der Gruppe, wie das etwa in Gefängnissen, auf Pi-
ratenschiffen, bei perspektivlosen Jugendlichen oder bei neu eingereisten Migranten der Fall
zu sein pflegt. Es ist ein Spezialfall der Entstehung von sozialer Ordnung, einer „devianten“
Ordnung freilich. Besonders bei Jugendlichen ist es der Mangel an „legitimen“ Alternativen
zur Gewinnung von sozialer Wertschätzung, der stets aufs Neue für Nachschub bei den diver-
sen Subkulturen sorgt – zumal in der Phase der Gewinnung einer eigenen Identität die mög-
lichst provokante „Abweichung“ von den Konventionen der Erwachsenenwelt die Devianz
ein Erlebnis mit einem ganz besonderen thrill sein muß. Und was ist da geeigneter als beson-
ders brutale Gewalt gegen wehrlose Ausländer oder ein Hakenkreuz, wenn ansonsten schon
alle Tabus millionenfach gebrochen sind?

Subkulturen sind also eine „alternative“ Organisationsform der Nutzenpro-


duktion. Die Codierung der Orientierungen in den verschiedenen Subkulturen
ist die Pflege bestimmter alternativer Mittel, einschließlich der Symbolisie-
rung gewisser Werthaltungen zu solchen Mitteln. Wenn man das und den
Umstand verstanden hat, daß für manchen Jugendlichen die deviante Subkul-
tur seiner Jugendbande der einzige Ort der Geborgenheit und der Anerken-
nung ist, dann muß man sich auch nicht wundern, daß es aus der Gruppe her-
aus zu den absonderlichsten Wettläufen um den jeweiligen Fokus eines alter-
nativen Mittels kommt: Gewalt, exotisches Aussehen, Extase und Extasy, bei-
spielsweise.

Theorien abweichenden Verhaltens, 5. Aufl., München 1993, Abschnitt 2.3: Theorien der
Subkultur und des Kulturkonflikts, S. 142-185.
104 Die Konstruktion der Gesellschaft

Subkulturen bewegen sich, bei aller Devianz in den Handlungen der Ak-
teure, immer noch im Rahmen der kulturellen Ziele einer Gesellschaft. Das ist
bei den Gegenkulturen typischerweise anders:11 Die Normen und Werte einer
Gegenkultur werden in bewußter Ablehnung der kulturellen Ziele einer Ge-
sellschaft entwickelt und verfolgt. Die Codierung der Orientierungen sind ge-
wisse alternative Ziele, Ziele, die in einem – mehr oder weniger ausgeprägten
und radikalen – Konflikt zu den kulturellen Zielen der betreffenden Gesell-
schaft stehen. Daher auch die Bezeichnung „Gegen“-Kultur. Beispiele für sol-
che Gegenkulturen wären gewisse Sekten, die eine „andere“ Gesellschaft an-
streben, die ehemalige Hippie-Bewegung, die RAF oder – aktueller – gewisse
rechtsradikale Gruppierungen. Sie alle eint ein Gegen-Thema, eine Gegen-
Ideologie oder gar eine Gegen-Moral, unter deren Imperativ dann auch gele-
gentlich heilige blutige Kriege geführt werden. Die Akteure, die die Gegen-
Kulturen tragen, wollen – letztlich – eine andere Verfassung der Gesellschaft,
die in den Subkulturen wollen das nicht.

Soziale Bewegungen

Eine soziale Bewegung ist ein „dynamisches“ Prozeß-System, bei dem zu-
nehmende Teile der Bevölkerung in ihrem Tun in der Unterstützung alternati-
ver Ziele bzw. Mittel einer Gesellschaft erfaßt werden und das gerade aus
dem Prozeß dieser zunehmenden „Erfassung“ besteht – und mit dem Ende der
weiteren Erfassung als soziale „Bewegung“ auch wieder abstirbt. Soziale Be-
wegungen beinhalten immer auch ein gewisses Element der „kollektiven Iden-
tität“: Die in ihnen zusammengeschlossenen Akteure empfinden sich als an
einer gemeinsamen Sache arbeitend.12

11
Vgl. zum Konzept der Gegenkultur insbesondere: J. Milton Yinger, Contraculture and
Subculture, in: American Sociological Review, 25, 1960, S. 625-635.
12
Vgl. zu einem Überblick über die verschiedenen Spielarten sozialer Bewegungen u.a. Die-
ter Rucht, Modernisierung und neue soziale Bewegungen, Frankfurt/M. und New York
1994, insbesondere Abschnitt 1.2 und Kapitel 3. Vgl. auch, insbesondere aber zu den sog.
neuen sozialen Bewegungen: Heinrich W. Ahlemeyer, Was ist eine soziale Bewegung?
Zur Distinktion und Einheit eines sozialen Phänomens, in: Zeitschrift für Soziologie, 18,
1989, S. 175-191; Klaus P. Japp, Neue soziale Bewegungen und die Kontinuität der Mo-
derne, in: Johannes Berger (Hrsg.), Die Moderne - Kontinuitäten und Zäsuren, Sonder-
band 4 der Sozialen Welt, Göttingen 1986, S. 311-333; Werner Bergmann, Was bewegt
die soziale Bewegung? Überlegungen zur Selbstkonstitution der „neuen“ sozialen Bewe-
gungen, in: Dirk Baecker u.a. (Hrsg.), Theorie als Passion. Niklas Luhmann zum 60. Ge-
burtstag, Frankfurt/M. 1987, S. 362-393.
Soziale Differenzierung 105

Soziale Bewegungen, wie die Arbeiterbewegung oder die Umweltbewe-


gung, sind sichtbar als sich verändernder „Prozeß“ existierender sozialer Sys-
teme und sie „bestehen“ deshalb – wie die funktionalen Sphären, die kulturel-
len Milieus, die Sub- und die Gegenkulturen – auch unabhängig von „konkre-
ten“ Akteuren. „Damit“ es sie als „Bewegung“ gibt, müssen freilich immer
mehr Akteure immer größere Teile ihres Zeitbudgets mit den entsprechenden
Aktivitäten verbringen. Aber es müssen keineswegs immer die gleichen Ak-
teure sein – wie bei der Leipziger Montagsdemonstration im Spätherbst 1989,
deren Anwachsen durchaus auch unter der Bedingung denkbar ist, daß bei je-
der einzelnen Demonstration vor der Nikolaikirche immer neue Akteure an-
wesend waren.
Soziale Bewegungen gibt oder gab es in zahllosen Formen, etwa solche zur
Einklage der Beteiligung an den bestehenden Institutionen einer Gesellschaft,
wie das die amerikanische Bürgerrechtsbewegung war, solche zur Moderni-
sierung und Demokratisierung der bestehenden Institutionen, wie das, wenigs-
tens in Teilen, die Studentenbewegung in den 60er Jahren war, die Verteidi-
gung bestimmter Privilegien, wie das die vielen Bürgerinitiativen etwa der
Anwohner von Flughäfen sind, solche zur Beseitigung von wirklichen oder
angenommenen Mißständen, Benachteiligungen oder Gefährdungen, wie das
etwa die Bewegung der militanten Tierschützer, die Arbeiter- und die Frauen-
bewegung, die Bewegung zum Ausstieg aus der Atomenergie oder die Frie-
densbewegung waren, sind oder sein werden, oder solche sogar zur komplet-
ten Änderung der „Verfassung“ einer Gesellschaft, wie das bei der Französi-
schen Revolution oder bei den Montagsdemonstrationen in Leipzig der Fall
war. Oft gehen soziale Bewegungen aus Subkulturen oder Gegenkulturen von
„Dissidenten“ hervor, und manchmal versickert oder endet die Bewegung
auch (wieder) in einer Subkultur oder gar einer „kleinen radikalen“ Gegenkul-
tur, wie etwa bei der RAF als dem „Ausläufer“ der 68er-Bewegung. Es
kommt natürlich auch vor, daß eine soziale Bewegung selbst zu einem etab-
lierten funktionalen oder kulturellen Element einer Gesellschaft wird – wie
das etwa im 19. Jahrhundert bei den Liberalen und den Sozialdemokraten und
im 20. Jahrhundert bei den Grünen der Fall war (siehe dazu auch den Schluß
dieses Kapitels unten).
Soziale Bewegungen sind – wie die Subkulturen und Gegenkulturen – mehr oder weniger
„radikal“. Am mildesten, weil an sich vollkommen im Einklang mit den etablierten Vorga-
ben, sind die sog. Initiativen. Das sind außerparlamentarische Versuche, gewisse partikulare
Interessen im politischen Willensbildungsprozeß auch gegen die jeweilige Mehrheit doch
noch durchzusetzen: Stoiber und Schäuble in ihrer Initiative gegen die von Rot-Grün be-
schlossene doppelte Staatsbürgerschaft etwa, oder die Initiative von CDU und Grünen gegen
einen Beschluß der SPD-Mehrheitsfraktion in Essen, den letzten Rest von Grün im sog.
Stadtgarten auch noch zuzubauen, zum Beispiel. Die Verfassung der Gesellschaft bleibt dabei
106 Die Konstruktion der Gesellschaft

unangetastet. Und alles geschieht ganz und gar im Rahmen der Konventionen. Zu ihrem Er-
folg als Massenbewegung wird es daher jeweils nötig, das enge partikulare Interesse als ein
übergreifendes und moralisch gebotenes darzustellen und zu „rahmen“. Hierfür gibt es inzwi-
schen regelrechte Framing-Unternehmer und Marketing-Virtuosen, wie etwa bei Greenpeace,
einem letztlich knallharten kapitalistischen Unternehmen, das es geschafft hat, seine Ge-
schäftsinteressen mit einem hochmoralischen Interesse zu verbinden – in heimlicher Koope-
ration mit den an Sensationen immer verlegenen Medien und unter Ausnutzung der Opferbe-
reitschaft vieler guter sinnsuchender Menschen. Am radikalsten sind natürlich die Revolutio-
nen. Hier geht es um die komplette „Umwälzung“ der Verfassung einer Gesellschaft. Dazwi-
schen angesiedelt sind die Proteste und die Revolten. Proteste sind stärker emotionalisierte
und „spontane“ Reaktionen auf als untragbar wahrgenommene Einzelereignisse durch spe-
zielle Gruppen: Landwirte, die gegen die Kürzung ihrer Subventionen protestieren, Stahlar-
beiter gegen die Schließung ihres Betriebs, Atomkraftgegner gegen die Castortransporte, et-
wa. Proteste gibt es in mehr konventionellen Formen, als behördlich angemeldete und ge-
nehmigte gewaltfreie Demonstration etwa, oder auch in unkonventionellen, ja unerlaubten
Varianten, wie die Blockade von Schienen oder das Werfen von Steinen. Bei den Revolten
geht es schon um mehr. Das sind Aufstände ganzer Gruppen von Akteuren, denen es – zu-
nächst wenigstens – nur um die Beseitigung eines speziellen Mißstandes geht, wie etwa Ge-
fängnisrevolten, Sklaven- und Bauernaufstände. Die Änderung der Verfassung einer Gesell-
schaft wird dabei – zunächst jedenfalls – nicht angestrebt. Wenn das dann noch dazu kommt,
dann haben wir es mit einer veritablen Revolution zu tun.

Soziale Bewegungen sind Begleiterscheinungen, Folgen und sogar „konstitu-


tiver“ Teil des Prozesses der Modernisierung von Gesellschaften. Die moder-
ne Gesellschaft beginnt zum Beispiel mit der Reformation als religiöser Er-
neuerungsbewegung und als antifeudale Befreiungsbewegung gleichzeitig.
Sie etabliert sich mit der Französischen Revolution und zieht – als Folge der
mit der Industrialisierung und der Kapitalisierung der Wirtschaft aufkommen-
den Mißstände und den wachsenden Beteiligungsansprüchen – die Arbeiter-
bewegung und die Frauenbewegung nach sich. Derzeit beobachten wir eine
Vielzahl von immer wieder neuen und thematisch ganz unterschiedlichen so-
zialen Bewegungen, etwa für den Frieden und gegen Miloševi!, für und gegen
die Abtreibung, für den Umweltschutz, gegen die Atomkraft, für die
Gleichstellung der Homosexuellen, gegen Tierversuche und
Kinderpornographie, für den Erhalt des Asylrechtes oder gegen die
Überfremdung und für und gegen die doppelte Staatsbürgerschaft.
Bei den sozialen Bewegungen wird inzwischen nach „alten“ und nach „neuen“ sozialen Be-
wegungen unterschieden. Unter den alten sozialen Bewegungen werden dabei jene „histori-
schen“ sozialen Bewegungen verstanden, bei denen es jeweils um ein deutlich identifizierba-
res Ziel und um spezielle, an abgrenzbare und zu sozialen Kategorien eindeutig zuordenbare
Interessen ging: die Sicherung der ökonomischen und politischen Freiheit etwa bei der Be-
wegung des bürgerlichen Liberalismus, oder die Durchsetzung sozialer Gerechtigkeit und der
Demokratisierung der Gesellschaft bei der Arbeiterbewegung, jeweils im 19. Jahrhundert.
Weil bei den alten sozialen Bewegungen die Ziele mit den Interessen der Akteure jeweils ab-
grenzbarer sozialer Kategorien übereinstimmten, war das Ziel der Bewegung mit dem Inte-
resse von abgrenzbaren Akteuren identisch – und stand daher notwendigerweise in Konflikt
mit anderen Kategorien von Akteuren: Liberale gegen Konservative, Arbeiter gegen Kapita-
Soziale Differenzierung 107

listen, Frauen gegen Männer. Es ist einer der – inzwischen seltenen – Fälle, in denen ein sozi-
ales System, sozusagen, sein festes Personal hat. Die neuen sozialen Bewegungen haben
demgegenüber kein spezielles Ziel und sie lassen sich auch nicht eindeutig zu gewissen Inte-
ressen abgrenzbarer sozialer Kategorien zuordnen. Sie gehen, wie man so sagt, „durch alle
gesellschaftlichen Schichten“, denn sie wenden sich gegen generelle Bedrohungen und Be-
schränkungen und treten für das ganz allgemeine Ziel der Entfaltung der Individualität und
der Selbstverwirklichung ein: gegen die existentielle Bedrohung durch die Zerstörung der
Umwelt, gegen die korporatistische Schließung einer nur noch formal demokratischen Ge-
sellschaft, gegen das Eindringen der „Systeme“ in die „Lebenswelten“ der Menschen, gegen
Globalisierung und Ellbogengesellschaft, gegen die zunehmende Perspektiv- und Sinnlosig-
keit des Lebens und stets für die ungehinderte Verwirklichung des Selbst. Eindeutige Interes-
senzuordnungen gibt es nicht und deshalb auch keine Interessenkonflikte. Man ist gegen alles
und gegen jeden, und einen greifbaren Adressaten des Protestes gibt es nicht. Und deshalb
können sich die neuen sozialen Bewegungen auch relativ leicht an irgendwelche flüchtigen
Ereignisse, Stimmungen und Werte anhängen. Die – inzwischen auch schon etwas älter ge-
wordenen – neuen sozialen Bewegungen verstehen sich dabei meist als „progressiv“: eman-
zipatorisch, anti- bzw. wenigstens: postmaterialistisch und basisdemokratisch. Sie werden ü-
berwiegend von (jugendlichen) Angehörigen der gebildeten Mittelschichten und Akteuren
aus wohlfahrtsstaatlichen Berufen getragen. Ihr Ziel ist eine Art von Kombination möglichst
großer individueller Entfaltung und Partizipation mit der Sicherung sinnstiftender Lebenswel-
ten bei gleichzeitigem Erhalt der materiellen Wohlversorgung (vgl. dazu auch noch den Ex-
kurs über die Frage, ob die sogenannte Individualisierung überhaupt eine ist, im Anschluß an
Abschnitt 4.3 unten in diesem Band). Der politische Ausläufer der „progressiven“ neuen so-
zialen Bewegungen sind die Grünen. Die, wie Niklas Luhmann sie nennt, „neueste neue sozi-
ale Bewegung“ ist die „Bewegung der Ausländerfeinde“, deren von kriminellen Gewalttaten
begleiteten Proteste, wie er meint, vor allem der „‚Selbstverwirklichung‘ im Modus von Un-
terschichtenverhalten“ dienten. Auch sie thematisieren ganz allgemeine Ängste und haben
zeitweise durchaus Erfolg damit (Luhmann 1997, S. 849f.). Aber alle diese neuen und neues-
ten sozialen Bewegungen leben auch davon, inwieweit es ihnen gelingt, ihr jeweiliges spe-
zielles Anliegen als ein tatsächlich allgemeines zu deklarieren und entsprechend zu „rahmen“.
Und das geht auch ganz gut – gerade weil die jeweiligen „Themen“ der neuen sozialen Be-
wegungen nur selten unmittelbare spezielle Interessen berühren: Moral und Werte können
sich dann besonders leicht durchsetzen, wenn sie nicht viel kosten und solange es keine greif-
baren Interessen gibt, die dagegen sprechen könnten. Aber von großer Dauer oder Nachhal-
tigkeit sind die einzelnen neuen sozialen Bewegungen gerade deshalb dann auch wieder
nicht: Wenn es ernst wird, geht ihnen das Personal aus, das immer auch noch andere Interes-
sen und meist nicht viel Zeit hat.

Soziale Bewegungen sind, anders als die Sub- und die Gegenkulturen, keine
sozialen Systeme der unmittelbaren „konsummatorischen“ Nutzenproduktion,
wenngleich es bei den einzelnen Aktionen sicher auch viel zu „erleben“ gibt.
Es sind eher so etwas wie Investitionen in die Verbesserung der Grundlagen
der Nutzenproduktion über die Veränderung der sozialen Produktionsfunktio-
nen. Daher unterliegen die sozialen Bewegungen auch in dieser Zielrichtung
jeweils einem spezifischen Oberziel, um das herum sich alle Orientierungen
und Aktivitäten gruppieren. Es ist das jeweilige spezielle Anliegen der sozia-
len Bewegung: die Beseitigung eines speziellen Mißstandes oder einer beson-
deren Benachteiligung bei den „alten“, irgendein ideosynkratisches Thema
108 Die Konstruktion der Gesellschaft

vor dem Hintergrund der ganz unspezifischen „Betroffenheit“ des Leidens an


der Moderne bei den „neuen“ sozialen Bewegungen. Wir wollen diese Codie-
rung der sozialen Bewegungen allgemein als deviante Alternative bezeichnen.
Bei den alten sozialen Bewegungen sind das spezielle Interessen, bei den neu-
en sozialen Bewegungen generelle Themen. Um sie dreht sich alles innerhalb
des jeweiligen Bewegungssystems.
Das zentrale Problem aller sozialen Bewegungen ist die Gewinnung von
Anhängern, deren zunehmende Teilnahme eine soziale Bewegung erst zur
„Bewegung“ macht. Dabei tritt ein Problem auf, das als das Problem des kol-
lektiven Handelns bekannt ist: Das Interesse an den Zielen der Bewegung
reicht zur Teilnahme alleine nicht aus (vgl. dazu noch ausführlich Band 3,
„Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Und deshalb bedarf es
zum Erfolg jeder sozialen Bewegung einer eigenen Organisation. Und die gibt
es oft gerade bei denen nicht, die allen Anlaß zum Protest, zu einer Revolte
oder gar zu einer Revolution hätten.

Eine Zusammenfassung

Die Anzahl und die Unterschiedlichkeit der funktionalen Sphären, der kultu-
rellen Milieus und der Devianz-Bereiche einer Gesellschaft, die funktionale,
die kulturelle und die normative Differenzierung also, bestimmen zusammen
die soziale Differenzierung – den Grad der Homogenität oder Heterogenität in
arbeitsteiliger Spezialisierung, kultureller Verschiedenheit und der Existenz
von devianten Systemen der Nutzenproduktion bzw. von Bewegungen zu de-
ren Veränderung. Die verschiedenen sozialen Systeme, die die soziale Diffe-
renzierung einer Gesellschaft ausmachen, sind jeweils in besonderer Weise
codiert – und zwar nach dem Inhalt der jeweiligen Umstände und Oberziele
der Nutzenproduktion und der jeweils geltenden sozialen Produktionsfunktio-
nen. In Abbildung 3.3 sind die verschiedenen Systeme der Nutzenproduktion
mit ihren jeweiligen Oberzielen bzw. Codierungen noch einmal zur leichteren
Übersicht zusammengefaßt.
Die Unterteilung der sozialen Systeme einer Gesellschaft in funktionale
Sphären, kulturelle Milieus und Devianz-Bereiche folgt den inhaltlichen De-
finitionen der jeweiligen Codierungen. Sie liegt damit „quer“ zu den eher
formalen Unterscheidungen der sozialen Systeme, die in Kapitel 2 oben in
diesem Band vorgenommen wurden und Märkte, Assoziationen und Organisa-
tionen bzw. kollektive und korporative Akteure als soziale Systeme unter-
schied. Funktionale Sphären, kulturelle Milieus und Devianz-Bereiche „be-
stehen“ ohne Frage aus den verschiedenen „Formen“ sozialer Systeme –
Soziale Differenzierung 109

Märkte, Zusammenkünfte, Netzwerke, Gruppen, Organisationen, kollektive


und korporative Akteure und deren Kombinationen und Varianten –, wenn-
gleich in teilweise sehr unterschiedlichen Mischungsverhältnissen. Die Unter-
teilung folgt dabei drei unterschiedlichen inhaltlichen Aspekten oder Dimen-
sionen der Nutzenproduktion: der, oft auch nicht unmittelbar ersehbare, funk-
tionale Beitrag im Rahmen einer arbeitsteiligen Spezialisierung, die kulturelle
Gestaltung, Stilisierung, Sicherung, „Individualisierung“ und Verfeinerung
der Nutzenproduktion und die Abweichung in der Organisation der Nutzen-
produktion, wenn es anders in befriedigender Weise nicht geht.

Soziales System Oberziel/Code gesellschaftliche


Struktur

Funktionale Sphären funktionale Imperative funktionale


Differenzierung
Kulturelle Milieus kulturelle Fokalobjekte kulturelle
Differenzierung
! Lebensweisen Distinktion/Expression
! Szenen Erlebnisse
Devianz-Bereiche deviante Alternativen normative
Differenzierung
! Subkulturen
! Gegenkulturen
! soziale Bewegungen
- alt spezielle Interessen
- neu generelle Themen

Abb. 3.3: Die gesellschaftliche Organisation der Nutzenproduktion und die


Dimensionen der sozialen Differenzierung

***

Die Unterscheidung von funktionalen Sphären, kulturellen Milieus und Devi-


anz-Bereichen ist eine theoretische Angelegenheit. Empirisch bestehen zwi-
schen ihnen alle denkbaren Mischungen und Querverbindungen, und oft sind
eindeutige Zuordnungen bei konkreten sozialen Gebilden oder Prozessen, wie
etwa bei einer Bürgerinitiative gegen die Atomkraft, auch nicht möglich, zu-
110 Die Konstruktion der Gesellschaft

mal es natürlich auch so etwas wie eine latente, unbeabsichtigte Funktionalität


der Abweichung gibt, wie wir mit Emile Durkheim wissen (siehe dazu auch
noch gleich unten). Beispielsweise tritt die kulturelle Differenzierung als
strukturelles Merkmal einer Gesellschaft immer auch neben die Strukturen der
funktionalen Differenzierung. Sie überlagert die funktionalen Orte der Nut-
zenproduktion: Nicht überall wird Golf gespielt, und es gibt auch eine Le-
bensweise des Großraumbüros und eine Szene der Erlebnisproduktion am
Fließband. Die kulturellen Praktiken und Stilisierungen entstehen oft als Bei-
produkte funktionaler Abläufe, wie die Schulterklappen am Mantel als Relikte
der Epeauletten, der Schulterstücke einer Ritterrüstung, die dort bekanntlich
noch einen ganz bestimmten funktionalen Zweck hatten. Kurz: Die funktiona-
len Abläufe und die kulturellen Stilisierungen spielen bei der Nutzenprodukti-
on oft eng zusammen. Es gibt ferner typische Sub-„Kulturen“ der Devianz,
Stilisierungen des Protestes und ganz unterschiedliche kulturelle Milieus der
diversen sozialen Bewegungen. Und von Emile Durkheim wissen wir, daß
das, was zunächst wie eine Abweichung, gar wie ein Verbrechen bewertet
wird, später zu einem zentralen Bestandteil der etablierten Verfassung einer
Gesellschaft werden kann:
„Wie oft ist das Verbrechen wirklich bloß eine Antizipation der zukünftigen Moral, der erste
Schritt zu dem, was sein wird. Nach dem athenischen Rechte war Sokrates ein Verbrecher,
und seine Verurteilung war gerecht. Und doch war sein Verbrechen, die Unabhängigkeit sei-
nes Denkens, nützlich, nicht nur für die Menschheit, sondern auch für seine Vaterstadt. Denn
er trug dazu bei, eine neue Moral und einen neuen Glauben vorzubereiten, deren die Athener
damals bedurften, weil die Traditionen, von denen sie bis dahin gelebt hatten, nicht mehr mit
ihren Existenzbedingungen übereinstimmten. Und der Fall Sokrates ist nicht der einzige; er
wiederholt sich in der Geschichte periodisch. Die Gedankenfreiheit, deren wir uns heute er-
freuen, wäre niemals proklamiert worden, wenn die sie verbietenden Normen nicht verletzt
worden wären, bevor sie noch feierlich außer Kraft gesetzt wurden. In jenem Zeitpunkt war
ihre Verletzung jedoch ein Verbrechen, da sie eine Beleidigung von Gefühlen bedeutete, wel-
che bei der Mehrheit noch sehr lebendig waren. Nichtsdestoweniger war dieses Verbrechen
nützlich, da es das Vorspiel zu allmählich immer notwendiger werdenden Umwandlungen
war. Die unabhängige Philosophie hat ihre Vorläufer bei den Häretikern jeder Art zu suchen,
die während des ganzen Mittelalters bis an die Schwelle der Neuzeit vom weltlichen Arm mit
Recht verfolgt wurden.“13

Manche ehemals höchst „deviante“ soziale Bewegung ist – gemeinsam mit


den sie einst tragenden menschlichen Organismen – inzwischen ein gewichti-
ger Teil der etablierten und weithin anerkannten, ja staatstragenden, funktio-
nalen Nutzenproduktion in der Bundesrepublik Deutschland geworden und –
schon seit längerem – ein kaum wegzudenkendes Element ihrer Kultur. Man

13
Emile Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode. Herausgegeben und eingeleitet
von René König, 5. Auflage, Darmstadt und Neuwied 1976 (zuerst: 1895), S. 160f.
Soziale Differenzierung 111

denke nur an Konrad Schily, Joschka Fischer oder auch Gerhard Schröder
höchstselbst. Gesellschaften unterscheiden sich systematisch in der Kopplung
der funktionalen Sphären und kulturellen Milieus und der Existenz von Devi-
anz-Bereichen und daran anknüpfenden Formen der sozialen Ungleichheit
(vgl. dazu auch noch Abschnitt 9.2 in diesem Band).
In den einfachen Stammesgesellschaften gibt es keine besondere ausgeprägte funktionale und
kulturelle Differenzierung. Es kommt zwar abweichendes Verhalten vor, aber nur sehr punk-
tuell, und eigenständige Devianz-Bereiche sind unbekannt. Die sozialen Systeme dort sind
funktional diffus und kulturell homogen, und die Menschen bilden eine große soziale Katego-
rie, allenfalls unterschieden nach Alter und Geschlecht. Funktionale und kulturelle Differen-
zierungen gibt es dagegen sehr deutlich in den Feudal-Gesellschaften. Sie sind dort fest mit
dem System der sozialen Ungleichheit, der Unterteilung in fest umrissene Stände, verbunden.
Hier kombinieren sich die „gesellschaftlichen“ Funktionen mit den „ständischen“ Lebenswei-
sen und die Übernahme fester gesellschaftlicher Positionen mit der Ausübung streng kontrol-
lierter Formen der Lebensführung. Abweichungen gibt es nun zwar durchaus, sogar massen-
haft und als dauerhafte oder wenigstens wiederkehrende Erscheinungen, etwa als Bauernre-
volten oder Häresie-Bewegungen. Aber es gibt sie noch nicht als „reguläre“ soziale Systeme:
Die Bestrafung von Normübertretungen und die Verfolgung der Häretiker war gnadenlos und
auf die Eliminierung der Abweichler ausgerichtet. Eine besondere normative Differenzierung
nach Devianz-Bereichen gibt es daher dort (noch) nicht. Nur das zeitweise durchaus sehr
groß werdende Heer der sog. Entbehrlichen – Vagabunden, Bettler, Verfemte, Exkommuni-
zierte – bildete schon so etwas wie einen eigenständigen Devianz-Bereich. Fluktuierende Le-
bensweisen, Szenen der Erlebniserzeugung und „offene“ Lebensstile sind, ebenso wie die
Koexistenz aller möglichen Sub- und sogar Gegenkulturen und sozialen Bewegungen, dage-
gen ein typisches Produkt der Moderne – und des Überflusses. Die Partizipation an den ver-
schiedenen Systemen der Nutzenproduktion steht – im Prinzip – jedem offen, sie ist – Gott
sei Dank – freiwillig oder – allenfalls – durch spezielle Lebenslagen nahegelegt, aber eben
nicht institutionell vorgeschrieben oder gar erzwungen. Daher löst sich auch im Verlauf der
Modernisierung die feste Verbindung von funktionaler und kultureller Differenzierung mit
der sozialen Ungleichheit mehr und mehr auf. Und „Abweichung“ und „Innovation“ und die
Etablierung von Devianz-Bereichen sind inzwischen sogar fast zu „normalen“, ja nachgerade
zu erwarteten Erscheinungen geworden.

Modernisierung ist, etwas vereinfachend gesagt, auch ein Prozeß der zuneh-
menden Entkopplung von funktionaler und kultureller Differenzierung, der
Normalisierung des Unnormalen und des Unerwarteten und der „Individuali-
sierung“ der Menschen in der Weise, daß sich die Muster des Einbezugs der
Akteure in die funktionalen Sphären, die kulturellen Milieus und die Devianz-
Bereiche zunehmend überkreuzen, vervielfältigen, „entstandardisieren“ und
„entstrukturieren“. Mit einer Auflösung der Strukturen der sozialen Differen-
zierung hat das alles aber nichts zu tun. Soziale Systeme gibt es immer. Ohne
sie wäre die Reproduktion von Mensch und Gesellschaft unmöglich. Das gilt
ganz besonders für die sozialen Systeme der funktionalen Differenzierung, auf
denen die gesellschaftliche Organisation der Nutzenproduktion in den moder-
nen Gesellschaften immer stärker beruht. Ganz im Gegenteil: Die funktiona-
len Sphären werden in der modernen Gesellschaft in ihren Codierungen im-
112 Die Konstruktion der Gesellschaft

mer zugespitzter und immer verbindlicher, jedenfalls für die, die an diesen
Systemen teilnehmen, die also nicht weitgehend aus allen funktionalen Sphä-
ren der Gesellschaft ausgeschlossen sind, wie die Langzeitarbeitslosen und die
Obdachlosen, oder die es nicht vorziehen, ganz aus ihnen „auszusteigen“.
Kapitel 4

Soziale Ungleichheit

Die soziale Ungleichheit bezeichnet, ganz allgemein, das Ausmaß und die Art
der Unterschiedlichkeiten in typischen gesellschaftlichen Lagen der Akteure
der Bevölkerung einer Gesellschaft – im Unterschied zur sozialen Differen-
zierung, die die Unterschiedlichkeit einer Gesellschaft in Hinsicht auf ihre so-
zialen Systeme beschreibt (vgl. dazu auch schon Kapitel 2 und 3 in diesem
Band).1 Was dann mit sozialer Ungleichheit gemeint ist, läßt sich besonders
anschaulich mit der Verteilung einer der wichtigsten Größen der sozialen Un-
gleichheit, dem Einkommen, über die Bevölkerung einer Gesellschaft zeigen.

1
Vgl. zu den verschiedenen theoretischen Begriffen, den empirischen Formen und der Ent-
wicklung von Theorien zur sozialen Ungleichheit u.a. die folgenden Sammelbände: David
V. Glass und René König (Hrsg.), Soziale Schichtung und soziale Mobilität, Sonderheft 5
der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Köln und Opladen 1961;
Reinhard Bendix und Seymour M. Lipset (Hrsg.), Class, Status, and Power. Social
Stratification in Comparative Perspective, 2. Aufl., New York und London 1966; Celia S.
Heller (Hrsg.), Structured Social Inequality. A Reader in Comparative Social Stratificati-
on, New York und London 1969; David B. Grusky (Hrsg.), Social Stratification. Class,
Race and Gender in Sociological Perspective, Boulder, San Francisco und Oxford 1994.
Vgl. dazu ferner auch etwa: Reinhard Kreckel, Politische Soziologie der sozialen Un-
gleichheit, Frankfurt/M. und New York 1992; Harold R. Kerbo, Social Stratification and
Inequality. Class Conflict in Historical and Comparative Perspective, 3. Aufl., New York
u.a. 1996. Zur Struktur der sozialen Ungleichheit in der Bundesrepublik Deutschland vgl.
u.a. Wolfgang Glatzer und Wolfgang Zapf (Hrsg.), Lebensqualität in der Bundesrepublik.
Objektive Lebensbedingungen und subjektives Wohlbefinden, Frankfurt/M. und New Y-
ork 1984; Rainer Geißler, Die Sozialstruktur Deutschlands. Zur gesellschaftlichen Ent-
wicklung mit einer Zwischenbilanz zur Vereinigung, 2. Auflage, Opladen 1996; Bernhard
Schäfers, Sozialstruktur und sozialer Wandel in Deutschland, 7. Aufl., Stuttgart 1998. Für
den historischen und den internationalen Vergleich siehe: Gerhard Lenski, Macht und Pri-
vileg. Eine Theorie der sozialen Schichtung, Frankfurt/M. 1973; Gøsta Esping-Andersen
(Hrsg.), Changing Classes. Stratification and Mobility in Post-Industrial Societies, Lon-
don, Newbury Park und New Delhi 1993; Yossi Shavit und Hans-Peter Blossfeld (Hrsg.),
Persistent Inequality. Changing Educational Attainment in Thirteen Countries, Boulder,
San Francisco und Oxford 1993. Und für einen knappen Überblick über den Problembe-
reich siehe Anthony Giddens, Soziologie, Graz und Wien 1995, Kapitel 17: Schichtung
und Klassenstruktur, S. 229-268.
Soziale Ungleichheit 115

Einkommen? Das sieht man nicht so leicht. Sehen wir uns nun aber einmal die
Tabelle 4.1 an. Sie enthält drei verschiedene Arten der Verteilung des gesam-
ten zur Verfügung stehenden Einkommens für eine – der Übersichtlichkeit
halber – in Quintile eingeteilte Bevölkerung.

Tabelle 4.1: Drei verschiedene Grade der sozialen Ungleichheit am Beispiel der Ein-
kommensverteilung (dargestellt in Prozent des Gesamteinkommens)

Verteilung des Einkommens insgesamt

Anteil der vollständige vollständige empirische


Bevölkerung Gleichheit Ungleichheit Verteilung
0 0 0 0
20 20 0 8
40 40 0 21
60 60 0 37
80 80 0 57
100 100 100 100

Drei Fälle der Ungleichheit können unterschieden werden: vollständige


Gleichheit, vollständige Ungleichheit und die verschiedenen Zwischenstufen
auf diesem Kontinuum.
Wenn sich die Anteile des gesamten Einkommens in einer Gesellschaft genau nach den
jeweiligen Anteilen der Bevölkerung verteilen, dann hat jeder das gleiche Einkommen, und es
liegt der Extremfall der vollständigen Gleichheit vor. Der andere Extremfall ist die vollstän-
dige Ungleichheit: Nun erzielen 80% der Bevölkerung gar kein Einkommen, und alles kon-
zentriert sich mindestens auf die restlichen 20 Prozent der Bevölkerung, im extremen Grenz-
fall sogar auf die eine Person, die gerade die 100% vollmacht. In der Regel finden sich aber
in den empirischen Verteilungen alle möglichen Zwischenstufen der Ungleichheit, etwa so,
wie sie in der rechten Spalte der Tabelle 4.1 aufgeführt ist: Die unteren 20% einer Bevölke-
rung beziehen 8% des gesamten Einkommens, die unteren 40% der Bevölkerung 21%, und so
weiter. Die Zahlen für die rechte Spalte entsprechen im übrigen der Verteilung des Haus-
haltsnettoeinkommens in (West-)Deutschland für das Jahr 1988 (wieder nach Geißler 1996,
S. 61).

Das Ausmaß der sozialen Ungleichheit läßt sich für eine kontinuierliche Vari-
able, wie es das Einkommen eine ist, sehr anschaulich auch über die sog. Lo-
renzkurve darstellen (Abbildung 4.2).
Soziale Ungleichheit 117

ser Linie gibt dann das Ausmaß der Ungleichheit an: Je größer die Ungleichheit, desto stärker
ist die Abweichung von der Diagonalen.

Neben den tabellarischen und graphischen Darstellungen des Grades der sozi-
alen Ungleichheit gibt es auch statistische Kennziffern. Die bekannteste davon
ist der sog. Gini-Index.
Der Gini-Index G mißt den Grad der Ungleichheit einer Verteilung als Anteil der Fläche zwi-
schen der Lorenzkurve und der Diagonalen zu der gesamten Fläche unterhalb der Diagonalen
im Diagramm. Wenn A die Fläche zwischen der Diagonalen und der Lorenzkurve ist, und B
die restliche Fläche unterhalb der Lorenzkurve, dann gilt für den Gini-Index G=A/(A+B). Er
nimmt Werte zwischen 0 für die vollkommene Gleichheit und 1 für die vollkommene Un-
gleichheit an (vgl. Lambert 1993, S. 35). Bei vollkommener Gleichheit gilt ja A=0 und daher
G=0/(0+B)=0, und bei vollkommener Ungleichheit B=0 und somit G=A/(A+0)=1.

Harold H. Kerbo hat mit Hilfe des Gini-Index die Entwicklung der Einkom-
mensungleichheit in den USA zwischen 1947 und 1992 beschrieben und eine
interessante Entwicklung festgestellt (vgl. Abbildung 4.3). Das Diagramm
zeigt, daß nach 1947 die Einkommensungleichheit der amerikanischen Fami-
lien zunächst, in der Tendenz wenigstens, abgenommen hat, und etwa Mitte
der 60er Jahre, zu den Zeiten von Lassie und Fury und des sog. Baby-Booms,
ihren Tiefstand erreichte, danach aber wieder anstieg. Und daß sie mit dem
Beginn der „Reaganomics“ in den 80er Jahren ein bis dahin nicht gekanntes
Ausmaß erreichte. Das Einkommen ist natürlich nicht die einzige Ressource
oder Eigenschaft, die für die soziale Ungleichheit unter den Menschen von
Bedeutung ist. Aber es ist schon ein sehr wichtiger Aspekt, und zu Recht be-
faßt sich die Soziologie der sozialen Ungleichheit stets auch mit dieser zu-
nächst ja „nur“ ökonomischen Dimension der Situation der Akteure.
Soziale Ungleichheit 119

fassend auch noch Abschnitt 9.1 in diesem Band). Die Gründe für diese Be-
deutung der sozialen Ungleichheit haben wir schon kennengelernt: Die soziale
Ungleichheit spiegelt die Unterschiede in der gesellschaftlichen Lage be-
stimmter Untergruppen der Bevölkerung einer Gesellschaft und der (eventuel-
len) Spaltung der Gesellschaft in dann auch typisch unterschiedliche soziale
Kategorien, Kollektive bzw. Aggregate.3 Die gesellschaftliche Lage bildet da-
bei für die Akteure in dem betreffenden Kollektiv eine typische und objektive
Strukturierung ihrer Situation – mit den entsprechenden Folgen für das Han-
deln und die daran – mehr oder weniger: unmittelbar – anknüpfenden gesell-
schaftlichen Folgen – ganz so, wie sich das im Prinzip Karl Marx für die sozi-
alen Klassen ausgedacht hat (vgl. dazu bereits Kapitel 12 in Band 1, „Situati-
onslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Um bei dem Bei-
spiel des Einkommens zu bleiben: Wer mehr als 25000 DM im Monat ver-
dient, hat ganz andere Möglichkeiten und Interessen als derjenige, der sich
mit weniger als 1000 DM begnügen muß. Und je nachdem wie sich die (Su-
per-) Reichen und die Armen auch in der zahlenmäßigen Größenordnung in
einer Gesellschaft verteilen, ist mit jeweils unterschiedlichen gesellschaftli-
chen Vorgängen zu rechnen: In der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ der
50er Jahre geht es anders zu als in der Zwei-Drittel-Gesellschaft der Neuen
Mitte, und in einer in eindeutige soziale Klassen gespaltenen Gesellschaft an-
ders als in einer, in der sich alle Zugehörigkeiten „überkreuzen“ und „indivi-
dualisieren“, in der sich dadurch die verschiedenen Konfliktfronten sozusagen
gegenseitig neutralisieren und sich die gesellschaftlichen Widersprüche, wie
es hier und da so schön geschwollen und hochstaplerisch heißt, „polykontex-
tural“ aufheben.

Die „Relevanz“ der gesellschaftlichen Lage

Die gesellschaftliche Lage eines Akteurs bestimmt sich, ganz allgemein, zu-
nächst einmal aus allen möglichen Eigenschaften. Insofern befinden sich Alte
und Junge, Bayern und Niedersachsen, Einheimische und Ausländer, Ärzte
und Aldi-VerkäuferInnen, Opernliebhaber und Anhänger der Volksmusik,
Verdienstkreuzträger und Vorbestrafte in jeweils für sich gleichen und von

3
Vgl. dazu etwa die Einteilung der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland in typi-
sche „soziale Lagen“ bei Walter Müller, Klassenlagen und soziale Lagen in der Bundes-
republik, in: Johann Handl, Karl Ulrich Mayer und Walter Müller (Hrsg.), Klassenlagen
und Sozialstruktur. Empirische Untersuchungen für die Bundesrepublik Deutschland,
Frankfurt/M. und New York 1977, 27ff. Vgl. dazu auch noch das Konzept des Klassen-
schemas in Abschnitt 4.2 unten.
120 Die Konstruktion der Gesellschaft

anderen unterschiedenen gesellschaftlichen Lagen und bilden – meist in ir-


gendeiner Kombination dieser vielen möglichen Eigenschaften – entspre-
chende soziale Kategorien und Kollektive. Im Prinzip gehören aber auch die
Nasenlänge, die Vorliebe für Cashmere-Pullover und der Besitz des Jodel-
Diploms zu den Eigenschaften, die die gesellschaftliche Lage bestimmen. A-
ber sind das auch jeweils gesellschaftlich „relevante“ Unterschiede? Und
wenn nein: warum nicht? Die Frage nach der „Relevanz“ bestimmter Eigen-
schaften und daran gebundener gesellschaftlicher Lagen ist nicht leicht, und
schon gar nicht: abschließend, zu beantworten. Denn: Manchmal zählen die
Hautfarbe, die Religion, die Herkunft, das Abitur – und manchmal eben nicht.
Und es gibt kaum ein Merkmal, das nicht irgendwo einmal doch von einer be-
deutungslosen und übersehenen Petitesse zu einem Unterscheidungskriterium
geworden wäre, von dem vieles, und manchmal sogar: alles, abhing.

Und wieder die theoretische Grundlage:


Die WE-Theorie und die sozialen Produktionsfunktionen

Bei der Frage, welche Eigenschaften oder Merkmale wann und warum „rele-
vant“ sind und wann und warum nicht, hilft uns jedoch – wieder einmal und
trotz ihrer generalisierten „Leere“ – die theoretische Grundlage des Modells
der soziologischen Erklärung: Die WE-Theorie und das Konzept der sozialen
Produktionsfunktionen. Danach läßt sich – zunächst noch ganz allgemein –
festhalten, daß die „Relevanz“ sich daran mißt, ob die betreffenden Eigen-
schaften die Erwartungen und Bewertungen der Akteure systematisch und ty-
pischerweise strukturieren – oder nicht. Ob das der Fall ist, ist dann durch die
„Verfassung“ der Gesellschaft und die damit zusammenhängenden sozialen
Produktionsfunktionen „definiert“: Um welche primären Zwischengüter bzw.
kulturellen Ziele geht es jeweils? Welche indirekten Zwischengüter bzw.
institutionalisierten Mittel sind geeignet und/oder erlaubt?
Das variiert, wie wir wissen, freilich von Gesellschaft zu Gesellschaft und
wandelt sich natürlich auch fortwährend. Immer jedoch ist das Kriterium die
Bedeutung der Eigenschaft für die Nutzenproduktion: Solange die Nasenlänge
nicht systematisch mit der Nutzenproduktion in einer Gesellschaft zusam-
menhängt, etwa derart, daß jene mit langen Nasen besonders geachtet sind
oder das Wahlrecht haben und jene mit kurzen Nasen eben nicht, solange kon-
stituiert die Nasenlänge keine gesellschaftlich „relevante“ gesellschaftliche
Lage. Wenn doch, sieht die Sache natürlich anders aus. Und was gelegentlich
für das biologische Merkmal „Hautfarbe“ gilt, könnte, wer wollte das
auschließen?, irgendwann auch einmal für die Nasenlänge gelten. Es ist eine
Soziale Ungleichheit 121

stets wieder neue Aufgabe der Soziologie, zu zeigen, welche „Verfassung“


der Relevanz von speziellen Eigenschaften jeweils gilt, warum sie derart ent-
standen ist und welche Auswirkungen das auf die Strukturierung der Gesell-
schaft und der Situationen hat, in denen sich die Akteure mit bestimmten Ei-
genschaften typischerweise befinden.

Und wieder der Hintergrund: Kontrolle und Interesse

Die durch die gesellschaftliche Lage strukturierten Erwartungen und Bewer-


tungen spiegeln, wie gesagt, jeweils typische Situationen. Der „objektive“
Hintergrund der Situationen sind, wie wir aus Kapitel 1 in Band 1, „Situati-
onslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ auch schon wissen,
jeweils typische Muster in der Kontrolle von Ressourcen und in den Hand-
lungsmöglichkeiten, und auch jeweils typische Interessen und daran anknüp-
fende Intentionen: Frauen können Kinder bekommen, Männer nicht. Wer Abi-
tur hat, kann studieren, wer nur den Hauptschulabschluß hat, in der Regel
nicht. Wer Geld hat, dem gehört die Welt, wer nicht, dem nicht. Wer als von
den Serben bedrängter Albaner im Kosovo lebt, strebt mindestens nach der
Autonomie, wenn nicht nach der nationalen Selbständigkeit der Region, und
die Serben sind dann entsprechend dagegen, weil sie mit der Unabhängigkeit
des Kosovo etwas Interessantes verlieren würden. Und wer als IM der Stasi
noch nicht enttarnt ist, plädiert, wenngleich nicht allzu laut, um nicht aufzufal-
len, für eine Amnestie. Und so weiter.
Mit der gesellschaftlichen Lage sind also, je nach der Verteilung von Kon-
trolle und Interesse und je nach den danach entstandenen Interdependenzen
schließlich auch jeweils typische und objektiv begründete Konstellationen von
Kooperation und Konflikt verbunden (vgl. dazu schon Kapitel 4 in Band 1,
„Situationslogik und Handeln“, Abschnitt 2.1 oben in diesem Band, sowie
noch Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführ-
lich).
Es gibt manchmal gemeinsame Interessen von Akteuren in den unterschiedlichen gesell-
schaftlichen Lagen und die strukturelle Bereitschaft zur Kooperation, wie das Interesse der
Hochschullehrer und der Lokomotivführer am Erhalt des Beamtenstatus oder das der Auto-
produzenten und der Autofahrer am Tausch von gutem Geld gegen brauchbare Autos und
entsprechende Erwartungen auf einen Gewinn. Es gibt aber auch manchmal, nein: oft oder
sogar meist, divergierende Interessen und Konflikte zwischen den Akteuren in unterschiedli-
chen gesellschaftlichen Lagen, wie das Interesse der Autoverkäufer an einem möglichst ho-
hen und das der Autokäufer an einem möglichst niedrigen Preis, oder das Interesse der In-
nenminister an einer möglichst geringen Erhöhung der Bezüge im öffentlichen Dienst im Un-
terschied zu den demgegenüber ganz anderen Interessen der Briefträger und der Bahnbeam-
ten. Und je nach der Verteilung der „gesellschaftlich relevanten“ Eigenschaften und Ressour-
122 Die Konstruktion der Gesellschaft

cen ergeben sich ganz unterschiedliche Konstellationen von Kooperation und Konflikt zwi-
schen den verschiedenen sozialen Gruppen und ganz unterschiedliche Muster der gesell-
schaftlichen Entwicklung insgesamt.

Genau darin aber liegt die Bedeutung der sozialen Ungleichheit für das Ver-
ständnis der sozialen Vorgänge in einer Gesellschaft: Die Akteure in den je-
weiligen gemeinsamen gesellschaftlichen Lagen drängen – je nach Interesse
und Möglichkeit – auf den Erhalt günstiger und auf die Verbesserung ungüns-
tiger Aspekte ihrer gesellschaftlichen Lage. Und sie produzieren darüber jene
Spannungen und jene Dynamik, von der die sozialen Systeme der Gesellschaft
leben und über die sie sich fortwährend wandeln.

Demographische Ungleichheit

Die Reproduktion der Bevölkerung einer Gesellschaft beruht auf drei grund-
legenden Prozessen (vgl. dazu auch Teil E: „Die Bevölkerung der Gesell-
schaft“, der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“): Geburten, Sterbefälle und
Migration. Aus den damit zusammenhängenden demographischen Vorgängen
ergeben sich bereits einige grundlegende Eigenschaften und gesellschaftliche
Lagen: die Ungleichheit nach Geschlecht und nach Alter zunächst, und dann
auch nach regionaler Herkunft, nach ethnischer, rassischer oder nationaler
Zugehörigkeit.
Demographische Merkmale sind zunächst „soziologisch“ noch bedeutungslos, weil sie „an
sich“ ja noch nicht mit der Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Systemen verbunden sind.
Empirisch sind sie jedoch oft mit gewissen Positionen, Zuschreibungen, Opportunitäten, Er-
wartungen, Vorlieben, Fertigkeiten, Gewohnheiten verbunden, wie über die Geschlechterrol-
len oder über die Zugehörigkeit zu ethnischen Subkulturen. Die Ungleichheit nach demogra-
phischen Merkmalen ist aber auch schon in ihrer „vor“-soziologischen Form durchaus von
Bedeutung. Die zahlenmäßige Verteilung der Geschlechter ist zum Beispiel nicht immer und
nicht für alle Altersgruppen gleich. Und daher gibt es manchmal Über- oder Unterschüsse,
etwa auf dem Markt der Partnerschaften – mit den entsprechenden Folgen für die Chance, ei-
nen Partner zu finden, oder für das Risiko der Ehescheidung beim sog. marriage squeeze.
Ähnliches gilt auch schon für die Wirkung der schieren Größenverhältnisse etwa zwischen
ethnischen Gruppen und der Wahrscheinlichkeit für interethnische Beziehungen (vgl. dazu
insgesamt auch noch Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grund-
lagen“): Wenn die ethnischen Gruppen in etwa gleichverteilt sind, ist die Wahrscheinlichkeit
für das Verbleiben in den Gruppen schon strukturell höher als in dem Fall, daß es Minderhei-
ten und Mehrheiten gibt. Wer als einziger Eskimo in Deutschland einen Partner finden will,
muß eine interethnische Beziehung aufnehmen. Diese, mit der Reproduktion der Bevölkerung
einer Gesellschaft zusammenhängenden Formen der Ungleichheit, seien als demographische
Ungleichheit bezeichnet.
Soziale Ungleichheit 123

Funktionale, kulturelle und normative Ungleichheit

Die meisten für die gesellschaftliche Lage „relevanten“ Eigenschaften sind


jedoch nicht allein demographischer Natur, sondern die Folge der – zeitweise
oder dauernden – Zugehörigkeit zu den verschiedenen sozialen Systemen der
Gesellschaft (vgl. dazu auch noch Kapitel 5 über „Inklusion und Exklusion“
in diesem Band). In Kapitel 3 oben in diesem Band waren drei Arten von
sozialen Systemen und entsprechend drei Arten von sozialer Differenzierung
unterschieden worden: funktionale Sphären, kulturelle Milieus und Devianz-
Bereiche sowie die funktionale, die kulturelle und die normative Differenzie-
rung. Je nachdem, aus welcher Zugehörigkeit sich die betreffende Eigenschaft
ergibt, kann entsprechend von funktionaler, kultureller oder normativer ge-
sellschaftlicher Lage und darüber dann von funktionaler, kultureller und nor-
mativer Ungleichheit gesprochen werden.

Funktionale Ungleichheit

Die funktionalen Sphären existieren als soziale Systeme nur über das an den
jeweiligen funktionalen Imperativen orientierte Handeln von Akteuren, wenn-
gleich natürlich nicht immer der gleichen Akteure. Die „Verbindung“ zwi-
schen den funktionalen Sphären und den Akteuren sind die Positionen inner-
halb der jeweiligen funktionalen Sphären, etwa die eines Bundeskanzlers in
der Regierung, eines Realschülers im System der Realschulen, eines Müll-
werkers bei der Müllabfuhr, eines Kranken im Krankenhaus, oder eines Kochs
in einer Klosterküche. Die Inklusion der Akteure in die jeweiligen sozialen
funktionalen Sphären erfolgt dann durch irgendeine Plazierung in die jeweili-
gen funktionalen Sphären, etwa durch die Wahl zum Bundeskanzler, durch
den Besuch der Realschule, durch die Vermittlung zur Müllabfuhr, durch die
Überweisung in ein Krankenhaus durch den Hausarzt oder durch die Ent-
scheidung des Abts, daß der stets etwas grüblerische Bruder Johannes am bes-
ten wohl in der Klosterküche aufgehoben sei (vgl. dazu auch noch Kapitel 5
über „Inklusion und Exklusion“ in diesem Band). Das Handeln der über die
Positionsübernahme in die funktionalen Sphären inkludierten individuellen
Akteure ist dann typischerweise durch die mit der jeweiligen Position verbun-
denen sozialen Rollen und das damit verknüpfte Rollenhandeln bestimmt (vgl.
dazu auch noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ aus-
führlich).
Das hat natürlich Folgen für die Eigenschaften der individuellen Akteure:
Sie haben aktuell einen bestimmten Positions- und Rollensatz, und sie verfü-
124 Die Konstruktion der Gesellschaft

gen im Zeitverlauf über eine bestimmte funktionale Biographie. Daraus erge-


ben sich dann jeweils typische Muster der Kontrolle von Ressourcen: Die ei-
nen haben eine höhere, die anderen eine relativ geringe Bildung genossen, die
einen ein üppiges, die anderen ein niedriges Einkommen, die einen ein hohes,
die anderen ein niedriges Berufsprestige, manche haben viele, andere nur we-
nige Positionen inne (gehabt) – und so weiter. So konstituieren sich je nach
dem aktuellen oder dem biographischen Muster der Inklusion der Akteure in
die funktionalen Sphären wiederum jeweils typische funktionale Lagen: ge-
sellschaftliche Lagen, die aus dem Muster der Inklusion in die funktionalen
Sphären entstehen. Und daraus wiederum ergeben sich typische funktionale
Kategorien: Mengen von Akteuren in typischen funktionalen Lagen und typi-
scher Ausstattung mit bestimmten Eigenschaften und der Kontrolle von mehr
oder weniger interessanten Ressourcen (vgl. dazu auch noch Abschnitt 4.5
gleich unten in diesem Band über „Statuszuweisung und Mobilität“). Und das
Ergebnis ist eine bestimmte Struktur der funktionalen Ungleichheit der Akteu-
re in einer Gesellschaft.

Kulturelle Ungleichheit

Auch die kulturellen Milieus gibt es als soziale Systeme nur über das Handeln
von individuellen Akteuren, die dem jeweiligen Code des Handelns, dem je-
weiligen kulturellen Fokalobjekt also, folgen, etwa einem bestimmten Stil des
Malens im „Expressionismus“ oder der Kleidung und des Schminkens in der
Kultur des Rokoko. Die strukturelle Verbindung zwischen den kulturellen Mi-
lieus als sozialen Systemen und den individuellen Akteuren erfolgt insbeson-
dere durch den Prozeß der kulturellen Sozialisation, der sich im Verlaufe der
Beteiligung an dem jeweiligen kulturellen Milieu ergibt (vgl. dazu auch noch
Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“): die Einübung in
die zum jeweiligen kulturellen Milieu gehörenden Orientierungen, Stilisie-
rungen und Handlungsweisen als Folge der Beteiligung an der jeweiligen Le-
bensweise bzw. Szene. Diese Sozialisation kann natürlich auch als Übernah-
me des jeweiligen Stils aus den Medien oder durch Beobachtung und Imitati-
on erfolgen. Das Ergebnis der kulturellen Sozialisation sind für die individuel-
len Akteure eine ganz bestimmte kulturelle Biographie und der Erwerb von
mehr oder weniger festen kulturellen Dispositionen eines bestimmten Habitus
und Geschmacks und einer bestimmten Wertorientierung. Aus der Verteilung
typischer kultureller Biographien und kultureller Dispositionen über die Be-
völkerung einer Gesellschaft entstehen wiederum ganz typische kulturelle La-
gen und typische kulturelle Kategorien von individuellen Akteuren mit typi-
Soziale Ungleichheit 125

schen Mustern von Lebensführung und Lebensstil. Und die können sich natür-
lich mit den oben besprochenen funktionalen gesellschaftlichen Lagen bzw.
Kategorien überkreuzen oder in typischer Weise kombinieren – wie bei dem
muslimischen türkischen Müllwerker oder dem katholischen bayerischen
CSU-Funktionär. Das Ergebnis ist diesmal eine bestimmte Struktur der kultu-
rellen Ungleichheit.

Normative Ungleichheit

Ganz analog zur Inklusion der Akteure in die funktionalen Sphären und kultu-
rellen Milieus sieht die Verbindung zwischen den Devianz-Bereichen und den
individuellen Akteuren aus. Die strukturelle Verbindung ist die – wie auch
immer „frei“ entschiedene, nahegelegte, zugeschriebene, erzwungene oder
wegen Mangels an Alternativen unvermeidliche – Zugehörigkeit zu einer Sub-
oder Gegenkultur bzw. die Beteiligung an einer sozialen Bewegung mit ihren
jeweiligen Oberzielen und Codierungen. Daran schließt sich ein ganz be-
stimmtes abweichendes Verhalten der individuellen Akteure an, ein damit
verknüpftes Muster der aktuellen Devianz, eine bestimmte, von außen vorge-
nommene Zuschreibung, etwa der Beteiligung an einer Straftat oder der Eti-
kettierung als „Drogenfreak“, und eine damit verbundene, oftmals durch die
soziale Umgebung zunehmend aufgezwungene Devianz-Karriere im Lebens-
lauf. Und daraus wiederum ergeben sich ebenfalls wieder typische gesell-
schaftliche Lagen und Kategorien: Typische normative gesellschaftliche La-
gen bzw. deviante Kategorien – etwa eine solche irgendeines Musters der
Abweichung von der Konformität mit den kulturellen Zielen und institutiona-
lisierten Mitteln der Gesellschaft, wie bei den farbigen Ghettobewohnern in
Harlem, im Unterschied zur überwiegenden Konformität damit, etwa bei den
White-Anglo-Saxon-Protestants in den USA und ihrer doppelbödigen Entrüs-
tung über Bill und Monica und die Zigarre im Weißen Haus. Und so ergibt
sich, ganz ähnlich wie zuvor bei der funktionalen und der kulturellen Un-
gleichheit, ein typisches Muster der normativen Ungleichheit unter den Men-
schen einer Gesellschaft.
126 Die Konstruktion der Gesellschaft

Eine Zusammenfassung

Die Verbindung der verschiedenen Formen der sozialen Differenzierung mit


den gesellschaftlichen Lagen der Akteure und darüber dann der sozialen Un-
gleichheit läßt sich dann so wie in Abbildung 4.4 zusammenfassen:

soziales strukturelle typisches individuelle strukturelle


System Verbindung Handeln Folge Folge

funktionale Positions- Rollen- Positions- funktionale


Sphäre übernahme Handeln Rollensatz/ Ungleichheit
funktionale
gesellschaft-
liche Lage/
funktionale
Biographie

kulturelles kulturelle Lebens- Habitus/ kulturelle


Milieu Sozialisation führung/ Geschmack/ Ungleichheit
Lebens- Werte/
stil kulturelle
gesellschaft-
liche Lage/
kulturelle
Biographie

Devianz- Zugehörigkeit/ abweich- Devianz/ normative


Bereich Beteiligung/ endes normative Ungleichheit
Zuschreibung/ Verhalten gesellschaft-
deviante liche Lage/
Karriere normative
Biographie

Abb. 4.4: Die Inklusion der Akteure in die sozialen Systeme der sozialen Differen-
zierung und Formen der sozialen Ungleichheit
Soziale Ungleichheit 127

Die soziale Ungleichheit in einer Gesellschaft ergibt sich also unmittelbar aus
der Struktur der sozialen Differenzierung und den Mustern der Inklusion der
Akteure der Bevölkerung einer Gesellschaft in die verschiedenen sozialen Sys-
teme, die die soziale Differenzierung der Gesellschaft ausmachen (vgl. dazu
vor allem Kapitel 5 in diesem Band noch näher).

Biographische Ungleichheit

Nicht nur die aktuelle Mitgliedschaft in einem sozialen System bestimmt also
die gesellschaftliche Lage, sondern das tun auch die Folgen der früheren Mit-
gliedschaften: Man erwirbt etwa als Generaldirektor oder Minister Vermögen
und Pensionsansprüche und hat dann von der Mitgliedschaft auch nach dem
Ausscheiden aus dem Amte etwas. Man internalisiert in der Familie bestimm-
te Werte und Gewohnheiten – und bleibt dabei, auch wenn man längst ir-
gendwo anders lebt. Und eine Jugendsünde mit der entsprechenden Vorstrafe
bleibt unter Umständen auch dann noch ein schlimmer Makel, wenn man
längst ein anderes Leben führt. Kurz: Die Mitgliedschaften zu den Systemen
der funktionalen, kulturellen und normativen Differenzierung bestimmen ganz
allgemein und nachhaltig die Biographie der Akteure und erzeugen auf diese
Weise auch Unterschiede in der gesellschaftlichen Lage der Akteure. In der
Zusammenfassung in Abbildung 4.4 war daher entsprechend auch von funkti-
onalen, kulturellen und normativen Biographien die Rede. Die aus den Bio-
graphien der Akteure entstehende Art der sozialen Ungleichheit sei als bio-
graphische Ungleichheit bezeichnet.
Es ist die Unterschiedlichkeit der Akteure in den Mustern ihrer Biographien. Denn auch über
den Lebenslauf hinweg entstehen ja gesellschaftliche Lagen, und frühe Ereignisse haben oft
eine lebenslange Auswirkung. Etwa: Man wird als Junge oder Mädchen geboren, wird katho-
lisch oder evangelisch getauft, kommt in den Kindergarten und in die Schule, macht eine
Lehre oder das Abitur oder beide nicht, ergreift einen Beruf oder nicht, heiratet oder nicht,
bekommt Kinder oder nicht, wird geschieden oder nicht, wird arbeitslos oder wechselt den
Beruf, steigt auf oder ab, wird straffällig oder nicht, wird krank oder bleibt gesund, wird
frühverrentet oder scheidet erst mit 65 aus dem Berufsleben aus – und stirbt irgendwann und
ist dann meist, ganz zuletzt, noch (oder wieder) Teil eines der wichtigsten Funktionssysteme
der Gesellschaft: der Religion.

In relativ stabilen Gesellschaften mit deutlichen institutionellen Vorgaben ü-


ber die typischen Stadien des Lebensverlaufs für die Akteure mit bestimmten
demographischen Eigenschaften, verstärkt oft noch durch fest eingerichtete
Übergangsriten, wie Konfirmation, Abiturfeier, Hochzeit, Kindtaufe, Habilita-
tion, Antrittsvorlesung, Emeritierung und Festschrift, findet man entsprechend
ganze Kollektive mit stark standardisierten Biographien, etwa in den ständi-
128 Die Konstruktion der Gesellschaft

schen Feudalgesellschaften oder in den Klassengesellschaften mit ihren deut-


lichen Grenzen zwischen den Klassen. Für die modernen Gesellschaften der
Gegenwart gibt es Anzeichen, daß sich diese biographische Standardisierung
– in der Tendenz wenigstens – auflöst, etwa durch die zunehmende Überkreu-
zung von Mitgliedschaften in den funktionalen Sphären, durch die Ablösung
der Verbindung etwa zwischen beruflicher Stellung und gewissen Lebenswei-
sen und Lebensstilen und durch die Möglichkeit, mehr und mehr auch den
Zwang, sich für die einzelnen Schritte der Biographie selbst auszusuchen,
welchen Weg man gehen möchte, wenn es an einer bestimmten biographi-
schen Verzweigung – Schulversagen, Arbeitslosigkeit, Scheidung – nicht
mehr programmgemäß weitergeht. Die Lebensweltsoziologen Ronald Hitzler
und Anne Honer haben für diese Vorgänge der Entstandardisierung der Bio-
graphien und die damit verbundenen Zwänge, sich seine eigene biographische
Identität zurechtzuschneidern, den hübschen Begriff der Bastelexistenz ge-
prägt: Es ist „eine sozusagen reflexive Form des individualisierten Lebens-
vollzugs.“4

Horizontale und vertikale Ungleichheit

Die verschiedenen funktionalen, kulturellen und normativen sowie die demo-


graphischen und biographischen gesellschaftlichen Lagen beschreiben zu-
nächst einmal nur unterschiedliche Situationen der Akteure und daher bloß
eine horizontale Dimension der sozialen Ungleichheit. Mit dem Konzept der
sozialen Ungleichheit ist aber vor allem anderen die Vorstellung einer Anord-
nung der verschiedenen gesellschaftlichen Lagen in einer vertikalen Dimensi-
on verbunden: Die verschiedenen gesellschaftlichen Lagen stehen in einer
Rangordnung, die sich aus einer gesellschaftlich geteilten unterschiedlichen
Bewertung der jeweiligen gesellschaftlichen Lagen ergibt. Die gesellschaftli-
che Bewertung ordnet dabei die verschiedenen Ressourcen, die in den sozia-
len Systemen einer Gesellschaft produziert, verteilt und von den Akteuren in
unterschiedlicher Weise unter Kontrolle genommen werden, auf einer vertika-
len Rangskala der Wünschbarkeit.
Etwa: Bildungstitel oder Kleinwagen, Wissen über die Kernspaltung oder Ikea-Möbel, der
Beruf des Heizdeckenverkäufers oder der eines Nervenarztes, Geldeinkommen oder Landbe-
sitz, die Vorliebe für Karl Moik oder für Yehudi Menuhin, eine konservative oder eine hedo-

4
Ronald Hitzler und Anne Honer, Bastelexistenz. Über subjektive Konsequenzen der Indi-
vidualisierung, in: Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim (Hrsg.), Riskante Freihei-
ten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt/M. 1994, S. 311; Hervor-
hebung im Original.
Soziale Ungleichheit 129

nistische Werthaltung, eine Stasi-Verdienstmedaille oder das Bundesverdienstkreuz, die Zu-


gehörigkeit zu einer Subkultur oder gar zu einer Verschwörung zum Sturz der Regierung, a-
ber auch die „natürlichen“ Eigenschaften der Akteure, wie das Geschlecht, das Alter oder ei-
ne sexuelle Veranlagung.

Ein höheres Einkommen und ein Abitur zählen eben mehr als ein niedrigeres
Einkommen und der Hauptschulabschluß, ein Asylbewerber hat nur einge-
schränkte Rechte und „zählt“ daher weniger, etwa wenn es um politische Ent-
scheidungen geht, und ein Müllwerker hat ein geringeres Prestige als, sagen
wir wieder, ein Filialleiter bei Edeka. Aus den derart unterschiedlich bewerte-
ten gesellschaftlichen Lagen ergibt sich dann die vertikale Ungleichheit der
Bevölkerung der Gesellschaft.

Die Grundlage der Bewertung: Prestige, Privilegien und Macht

Die soziale Bewertung der Eigenschaften und Ressourcen erfolgt über drei
Kriterien: Prestige, Privilegien und Macht.
Prestige ist die gesellschaftlich geteilte Wertschätzung, die ein Akteur mit
der Kontrolle der jeweiligen Ressource oder Eigenschaft unmittelbar erhält.
Prestige kann nicht „verordnet“ werden. Es ist der kulturelle Reflex der Be-
wunderung oder der Anerkennung gewisser Leistungen von Personen oder
Personengruppen mit gewissen Eigenschaften, etwa die Heldentaten eines
Häuptlings, dessen Ruhm sich dann auf seine Familie und schließlich auf die
soziale Kategorie aller Häuptlinge überträgt (vgl. dazu auch bereits den Ex-
kurs über die Ehre in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziel-
len Grundlagen“).
Privilegien sind besondere Rechte (aller Art), über die ein Akteur verfügt,
wenn er die jeweilige Ressource kontrolliert, sei es über Zuschreibungen oder
über gewisse Leistungen, die als Bedingung für die Verleihung des Privilegs
gelten. Die Vergabe von Privilegien beruht insbesondere auf den institutionel-
len Regeln einer Gesellschaft: Das Wahlrecht hat hierzulande nur jemand, der
die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, und wer seine Schwiegermutter er-
mordet und deshalb lebenslänglich ins Gefängnis geht, verliert meist auch sei-
ne bürgerlichen Ehrenrechte. Die Verleihung oder Verweigerung von Rechten
ist eine „rechtlich“ geregelte Angelegenheit, die in erster Linie von der
jeweils etablierten Herrschaft in einer Gesellschaft abhängt (vgl. dazu auch
schon Abschnitt 4.2 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Spezi-
ellen Grundlagen“).
Prestige und Privilegien sind, theoretisch und oft auch empirisch, unabhängig voneinander:
Ein eingebürgerter türkischer Arzt hat zwar die deutsche Staatsangehörigkeit und genießt dar-
130 Die Konstruktion der Gesellschaft

darüber auch gewisse Privilegien, wie die Möglichkeit der Ernennung zum Beamten, rangiert
als Türke aber nicht sehr hoch auf der Prestigeskala der ethnischen Gruppen, kann das jedoch
durch sein Prestige als Arzt wieder wettmachen. Auf dieser Unabhängigkeit beruht der Sinn
der Konstruktion der sog. Schicht-Indizes, in denen Aspekte von Prestige und Privilegien
(und von Macht) buchstäblich addiert werden und sich gegenseitig „ausgleichen“ können
(vgl. dazu auch noch Abschnitt 4.3 in diesem Band).

Prestige und Privilegien sind stets „abgeleitete“ Größen. Sie beruhen – letzt-
lich – auf der Macht der Akteure mit den betreffenden Eigenschaften. Macht
ist, wie wir aus Abschnitt 4.2 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, die-
ser „Speziellen Grundlagen“ schon wissen, der Grad der Kontrolle von für
andere interessante Ressourcen (vgl. dazu auch noch Band 3, „Soziales Han-
deln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Sie ist daher, anders als
das Prestige und die Privilegien, keine Angelegenheit ausschließlich der kul-
turell verankerten „Werte“ und der herrschaftlich abgesicherten institutionel-
len Regeln, sondern zuerst eine Frage der Verteilung der materiellen Ressour-
cen, der Verteilung von Interesse und Kontrolle der Eigenschaften und Res-
sourcen eben. Und die Kontrolle der interessanten Eigenschaften und Res-
sourcen kann sich auch ganz unabhängig von kulturellen Bewertungen oder
besonderen institutionellen Regeln verteilen: Das Know-How des dringend
benötigten Klempners oder die begehrte Ware des an sich etwas windigen
Händlers verschafft – jenseits von Prestige und Privilegien – stets Vorteile bei
der Bewertung ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Lage. Sie haben ihren Kun-
den ganz einfach in der Hand. Und der hofiert sie schließlich auch, obwohl er
sie nicht sonderlich schätzt, und sie gesellschaftlich vielleicht sogar richtig
marginalisiert sind.

Die Ungleichheitsstruktur

Die Ungleichheit einer Gesellschaft besteht dann aus der Kombination der
verschiedenen Dimensionen der horizontalen und der vertikalen sozialen Un-
gleichheit. Die verschiedenen Dimensionen der horizontalen Ungleichheit –
die demographische, biographische, funktionale, kulturelle und normative
Ungleichheit also – und die vertikale Dimension von Prestige, Privilegien und
Macht können dabei in nahezu beliebiger Weise kovariieren.
Es gibt zum Beispiel Gesellschaften, in denen die Zugehörigkeit zu den funktionalen Sphären
fest mit gewissen Lebensweisen und darüber dann auch typischen Lebensstilen verbunden
und in einer klaren Rangordnung angeordnet sind – wie beim Adel auf der einen und bei den
Bauern auf der anderen Seite in den Feudalgesellschaften des Mittelalters. Ähnliches gilt für
die Kastengesellschaft Indiens oder auch für die Bundesrepublik Deutschland mit ihrer türki-
schen Subnation. Es gibt aber auch Gesellschaften, in denen alle diese Dimensionen ausei-
nanderfallen, etwa derart, daß auch die Bankdirektoren nach Mallorca fahren, und die Arbei-
Soziale Ungleichheit 131

ter in die Oper gehen (vgl. dazu auch noch Abschnitt 9.2 in diesem Band). Das Auseinander-
fallen von horizontaler und vertikaler sozialer Ungleichheit und die Entstandardisierung bei
der biographischen Ungleichheit wird manchmal auch als „Individualisierung“ bezeichnet: Im
Prinzip könnte jeder einzelne Akteur eine ganz eigene Kombination von gesellschaftlichen
Lagen aufweisen, bei der sich die vertikale Bewertung als ein Sammelindex der Bewertung
der einzelnen Eigenschaften und Ressourcen ergibt – etwa ein Index von Einkommen, Bil-
dung und Berufsprestige (vgl. dazu auch noch die Abschnitte 4.3 und 4.5 unten).

Die – wie man sieht: vieldimensionale – Struktur der sozialen Ungleichheit


sei dann zusammenfassend als die Ungleichheitsstruktur der Gesellschaft be-
zeichnet. Sie ist ein zentraler Teil der sozialen Struktur einer Gesellschaft
(vgl. dazu die Zusammenfassung in Abschnitt 9.1 und die Übersicht in Abbil-
dung 9.1 in diesem Band).

Theoretische Konzepte der sozialen Ungleichheit

Die Vieldimensionalität der sozialen Ungleichheit ist zunächst eine bloß theo-
retische Größe, die sich aus der Überkreuzung der verschiedenen Dimensio-
nen in der Horizontalen und der Vertikalen als n-dimensionaler Merkmals-
raum ergibt (vgl. dazu auch schon den Exkurs über Typenbildung in Band 1,
„Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). In den empi-
risch vorfindbaren Gesellschaften sind keineswegs alle Felder besetzt, und es
kommt meist zu deutlichen Kovariationen und Clusterbildungen bei den ge-
sellschaftlichen Lagen und darüber zu starken Vereinfachungen in der Un-
gleichheitsstruktur. Diese Strukturierung ist in den Feudal- und den Klassen-
gesellschaften am stärksten, und sie schwächt sich – wenigstens in der Ten-
denz – in den funktional differenzierten, komplexen Gesellschaften der Mo-
derne, teilweise bedeutend, ab. Vor diesem Hintergrund der Beobachtung un-
terschiedlicher Arten und Grade der Strukturierung der sozialen Ungleichheit,
sind in der Soziologie verschiedene Konzepte der sozialen Ungleichheit ent-
wickelt worden.
Die wichtigsten Konzepte der sozialen Ungleichheit sind – nach wie vor – die der sozialen
Klasse und des Standes (bzw. das der Kaste als einem Spezialfall des Standes). Klasse und
Stand bilden die theoretische Begrifflichkeit der „klassischen“ Soziologie und sind insbeson-
dere mit den Namen Karl Marx und Max Weber verbunden. Ergänzt und teilweise abgelöst
wurden diese Konzepte bei der Beschreibung der Verhältnisse in den komplexen Gesellschaf-
ten der Gegenwart zunächst durch das Konzept der sozialen Schichtung und – daran an-
schließend und auf die „Individualisierung“ der Gesellschaft und auf die „Entstandardisie-
rung“ der Ungleichheitsstruktur reagierend – durch verschiedene Konzepte der sog. Neuen
Sozialen Ungleichheit, wie etwa das der „sozialen Lagen“ oder das der diversen „sozialen Mi-
lieus“. In grober Weise lassen sich die verschiedenen Konzepte und die Entwicklungen von
der „klassischen“ zur „neuen“ sozialen Ungleichheit mit der Antwort von Max Weber auf
132 Die Konstruktion der Gesellschaft

Karl Marx ordnen.5 Für Marx war die Vorstellung von der sozialen Ungleichheit als einem
auf eine Grundgröße, dem Konzept der Klasse, reduzierbaren, allein materiellen bzw. ökono-
mischen und daher eindimensionalen und die Gesellschaftsentwicklung fest determinierenden
Phänomen selbstverständlich. Weber hat dem die universale Wichtigkeit auch anderer Kon-
zepte der sozialen Ungleichheit, besonders die des Konzeptes des Standes, die Bedeutung der
Ehre und der kulturellen Dimensionen und damit die Mehrdimensionalität der sozialen Un-
gleichheit und den Gedanken gegenübergestellt, daß sich auch aus sehr deutlichen Verhält-
nissen der sozialen Ungleichheit nicht sicher ableiten läßt, was mit der Gesellschaft insgesamt
geschieht.

Wir gehen die verschiedenen theoretischen Konzepte der sozialen Ungleich-


heit in den nächsten drei Abschnitten in dieser „Entwicklung“ durch.

4.2 Klasse und Stand

Klassen und Stände sind die „klassischen“ Konzepte der Soziologie der sozia-
len Ungleichheit. Heute sind sie etwas aus der Mode geraten, weil man viel-
fach meint, daß sich die damit verbundenen klaren Grenzen und Zugehörig-
keiten mit den dafür jeweils typischen Dispositionen, Orientierungen und
Handlungen aufgelöst hätten. Inwieweit das auch immer stimmt: Auch die
„neuen“ sozialen Ungleichheiten beziehen sich auf Elemente der Klassen und
der Stände. Und weil die Konzepte der Klasse und des Standes so einfach zu
verstehen sind, kann man an ihnen nach wie vor am besten verdeutlichen,
worum es bei der soziologischen Analyse der Ungleichheitsstrukturen eigent-
lich geht.

Klassen

Klassen sind, so wissen wir schon aus Kapitel 12 in Band 1, „Situationslogik


und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“, Aggregate von Akteuren in
einer gleichen „Klassenlage“, einer gemeinsamen gesellschaftlichen Lage, die
in erster Linie durch die ökonomische Lage bzw. die Position in den funktio-
nalen Sphären einer Gesellschaft und den dazugehörenden Märkten bestimmt
ist, also über typische soziale Produktionsfunktionen in der Reproduktion des
Alltags über materielle Ressourcen.

5
Vgl. dazu etwa: Kreckel 1992, Kapitel II, Absatz 1: Marx und Weber: Klasse und Stand,
S. 52-66.
Soziale Ungleichheit 133

Marx und Weber

Für Karl Marx bestimmen sich, soweit sei an das Kapitel 12 in Band 1, „Situ-
ationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ erinnert, die sozia-
len Klassen über die „Dieselbigkeit der Revenuen“, und im Fall der kapitalis-
tischen Gesellschaftsordnung über den Arbeitslohn und das Kapital. Hieraus
ergeben sich eindeutige und einfache, letztlich stets sogar nur: dichotome,
Spaltungen in der Gesellschaft – „gesellschaftliche Widersprüche“ –, die
zwingend auf ihre Überwindung drängen. Max Weber versteht den Begriff
nicht grundsätzlich anders, differenziert ihn aber in verschiedene Arten von
„Klassenlagen“ und nimmt ihm vor allem die Ausschließlichkeit und die ge-
schichtsprägende Kraft, die für das Konzept von Marx so kennzeichnend
war.6 Eine „Klassenlage“ bedeutet für Weber daher auch nur eine „typische
Chance“ (Weber 1972, S. 177; Hervorhebung nicht im Original) und kein fes-
tes Schicksal. Es die typische Chance von Akteuren
„1. der Güterversorgung,
2. der äußeren Lebensstellung,
3. des inneren Lebensschicksals ... .“ (Ebd.)

Und die ergibt sich


„ ... aus Maß und Art der Verfügungsgewalt (oder des Fehlens solcher) über Güter oder Leis-
tungsqualifikationen und aus der gegebenen Art ihrer Verwertbarkeit für die Erzielung von
Einkommen oder Einkünften innerhalb einer gegebenen Wirtschaftsordnung ... .“ (Ebd.)

Eine Klasse ist dann „jede in einer gleichen Klassenlage befindliche Gruppe
von Menschen“ (ebd.) nach ähnlicher „Verfügungsgewalt“ und „Verwertbar-
keit“ von „Gütern“, also: nach ähnlichen sozialen Produktionsfunktionen, so
wie wir das schon in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziel-
len Grundlagen“ allgemein und auch für den Klassenbegriff von Marx fest-
gehalten hatten. Weber unterscheidet daran anschließend zunächst zwei Arten
von Klassen: Die Besitzklasse und die Erwerbsklasse. Also:
„a) Besitzklasse soll eine Klasse insoweit heißen, als Besitzunterschiede die Klassenlage pri-
mär bestimmen.

6
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5.
Aufl., Tübingen 1972 (zuerst: 1922), S. 177ff., 531ff. Vgl. zu den beiden Klassenkonzep-
ten u.a auch: M. Rainer Lepsius, Soziale Ungleichheit und Klassenstrukturen in der Bun-
desrepublik Deutschland. Lebenslagen, Interessenvermittlung und Wertorientierungen, in:
Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Klassen in der europäischen Sozialgeschichte, Göttingen
1979, S. 167ff., S. 192ff.
134 Die Konstruktion der Gesellschaft

b) Erwerbsklasse soll eine Klasse insoweit heißen, als die Chancen der Marktverwertung
von Gütern oder Leistungen die Klassenlage primär bestimmen.“ (Ebd; Hervorhebungen
im Original)

Diese Unterscheidung berücksichtigt (mit Marx), daß es Besitzende und


Nicht-Besitzende gibt, und daß letztere darauf angewiesen sind, ihre Ressour-
cen, insbesondere ihre Arbeitskraft, der „Marktverwertung“ zu unterziehen.
An anderer Stelle wird Max Weber noch deutlicher:
„Wir wollen da von einer ‚Klasse‘ reden, wo 1. einer Mehrzahl von Menschen eine spezifi-
sche ursächliche Komponente ihrer Lebenschancen gemeinsam ist, soweit 2. diese Kompo-
nente lediglich durch ökonomische Güterbesitz- und Erwerbsinteressen und zwar 3. unter den
Bedingungen des (Güter- oder Arbeits-)Markts dargestellt wird (‚Klassenlage‘). Es ist die al-
lerelementarste ökonomische Tatsache, daß die Art wie die Verfügung über sachlichen Besitz
innerhalb einer sich auf dem Markt zum Zweck des Tauschs begegnenden und konkurrieren-
den Menschenvielheit verteilt ist, schon für sich allein spezifische Lebenschancen schafft. ... .
‚Besitz‘ und ‚Besitzlosigkeit‘ sind daher die Grundkategorien aller Klassenlagen ... .“ (Ebd.,
S. 531f.; Hervorhebungen so nicht im Original)

Daneben benennt Weber noch eine dritte Art der Klasse, die „soziale Klasse“:
c) Soziale Klasse soll die Gesamtheit derjenigen Klassenlagen heißen, zwischen denen ein
Wechsel
$. persönlich,
%. in der Generationenfolge
leicht möglich ist und typisch stattzufinden pflegt.“ (Ebd., S. 177; Hervorhebungen im
Original)
Das ist eine ganz andere Sache. Hier wird nicht auf die Art der Reproduktion
der Gruppen abgestellt, sondern auf die Offenheit der Klassengrenzen und die
Möglichkeit der Mobilität. Weber nimmt mit dem Begriff der „sozialen Klas-
se“ ganz offensichtlich das Konzept der sozialen Schichtung vorweg (vgl. da-
zu noch Abschnitt 4.3 gleich unten, sowie Abschnitt 4.5).
Insoweit sind die Vorstellungen von Marx und Weber also noch ganz ähn-
lich. Bei allem anderen aber unterscheiden sie sich sehr: Für Weber gibt es in-
nerhalb gegebener Klassen immer auch – mehr oder weniger große – wirksa-
me Varianzen. Das Klasseninteresse ist aus der Klassenlage nicht eindeutig
ableitbar. Und ob es zu einer Vergemeinschaftung oder gar Politisierung der
Klassen kommt, ist für ihn vollkommen offen und von einer Vielzahl speziel-
ler Umstände abhängig:
„Es sind nach dieser Terminologie eindeutig ökonomische Interessen, und zwar an die Exis-
tenz des ‚Markts‘ gebundene, welche die ‚Klasse‘ schaffen. Gleichwohl aber ist der Begriff
‚Klasseninteresse‘ ein vieldeutiger und zwar nicht einmal eindeutig empirischer Begriff, so-
bald man darunter etwas anderes versteht als: die aus der Klassenlage mit einer gewissen
Wahrscheinlichkeit folgende faktische Interessenrichtung eines gewissen ‚Durchschnitts‘ der
ihr Unterworfenen. Bei gleicher Klassenlage und auch sonst gleichen Umständen kann näm-
lich die Richtung, in welcher etwa der einzelne Arbeiter seine Interessen mit Wahrscheinlich-
Soziale Ungleichheit 135

keit verfolgen wird, höchst verschieden sein, je nachdem er z.B. für die betreffende Leistung
nach seiner Veranlagung hoch, durchschnittlich oder schlecht qualifiziert ist. ... . Eine noch so
starke Differenzierung der Lebenschancen an sich gebiert ein ‚Klassenhandeln‘ (Gemein-
schaftshandeln der Klassenzugehörigen) nach allen Erfahrungen keineswegs. Es muß die Be-
dingtheit und Wirkung der Klassenlage deutlich erkennbar sein. .... . Jede Klasse kann also
zwar Träger irgendeines, in unzähligen Formen möglichen ‚Klassenhandelns‘ sein, aber sie
muß es nicht sein, und jedenfalls ist sie selbst keine Gemeinschaft, und es führt zu Schiefhei-
ten, wenn man sie mit Gemeinschaften begrifflich gleichwertig behandelt.“ (Ebd., S. 532f.;
Hervorhebungen so nicht im Original)

Wenn man die Unterschiede der Klassenkonzepte von Marx und Weber auf
einen Punkt bringen will, dann ist es wohl der, daß für Weber, dem Ansatz
seiner „verstehenden“ Soziologie folgend, die Klassenlage nur ein anderer
Ausdruck für bestimmte Konstellationen von auch subjektiv erst noch zu deu-
tenden Situationen ist, dann aber nichts weiter fest determiniert, geradeso, wie
das ja auch das Modell der soziologischen Erklärung tut, das ja immer auch
noch die Situationsdefinitionen, die Subjektivitäten und die Entscheidungen
der Akteure und die aggregierten Folgen beachtet. Und daß Marx, den Weber
offenbar meint, als er in diesem Zusammenhang von einem „begabten Schrift-
steller“ spricht, diese Subjektivierungen nur als „falsches Bewußtsein“ hätte
ansehen können, und damit – letztlich – eine ziemlich einfach gestrickte de-
terministische Situationslogik verbunden hätte.

Stände

Unter Ständen werden Aggregate mit einer ähnlichen „ständischen Lage“ be-
zeichnet. Auch hierfür gibt es die „klassische“ Formulierung bei Max Weber:
„Ständische Lage soll heißen eine typisch wirksam in Anspruch genommene positive oder
negative Privilegierung in der sozialen Schätzung, begründet auf:
a) Lebensführungsart, – daher
b) formale Erziehungsweise, ... ;
c) Abstammungsprestige oder Berufsprestige.“ (Ebd., S. 179; Hervorhebungen im Original)

Die ständische Lage drückt sich ferner noch vor allem in gewissen Formen
der sozialen Beziehungen, – „connubium“ und „Kommensalität“, Binnen-
gruppenheirat und nach innen gerichtete Interaktionen also – und der „mono-
polistischen Appropriation von privilegierten Erwerbschancen“ bzw. „Er-
werbstätigkeiten“ (ebd.) aus. Die Grundlage der ständischen Ordnung bilden
also vier Elemente: eine spezifische, gesellschaftlich geteilte, positive oder
negative „soziale Einschätzung der Ehre“, also das typische Prestige eines be-
stimmten Standes, die „Zumutung einer spezifisch gearteten Lebensführung“
(ebd., S. 535; Hervorhebung im Original), die Monopolisierung bestimmter
136 Die Konstruktion der Gesellschaft

Erwerbsarten und Tätigkeiten, einschließlich, wie beim Adel, der „Tätigkeit“


des Müßiggangs, und eine nach innen gerichtete Verdichtung der Verkehrs-
kreise und Beziehungen, die Binnenheirat und die Beschränkung des alltägli-
chen Umgangs auf Angehörige des gleichen Standes vor allem.
Stände haben, wie man sieht, große Ähnlichkeiten mit sozialen Gruppen,
einschließlich der besonderen Art der kollektiven Identität und Identifikation,
die in sozialen Gruppen oft entsteht (vgl. dazu auch die Klassifikationen sozi-
aler Systeme und Gebilde in Kapitel 2 dieses Bandes). Es ist, wenn man so
will, der gelungene Versuch, die Eigenschaften kleiner Gruppen auf große
Aggregate von Menschen zu übertragen, die dann auf dieser Ebene der stän-
disch organisierten Großgruppen eine gesellschaftliche Arbeitsteilung voll-
ziehen – unter der Bedingung einer starken vertikalen Ungleichheit zwischen
den Gruppen und deutlicher Gruppengrenzen. Es kann vermutet werden, daß
es die ständischen Ordnungen waren, über die erst der Übergang von den
kleinen segmentären Gesellschaften der Vorzeit zu den großen und schon ar-
beitsteilig organisierten Staatsgesellschaften des Mittelalters und der Über-
gang daraus schließlich zur nicht-ständischen funktionalen Differenzierung
der modernen Gesellschaften möglich wurde (vgl. dazu auch noch Abschnitt
9.2 dieses Bandes).

Kasten

Kasten sind „gesteigerte“ Spezialfälle der Stände.7 Es gibt bei ihnen beson-
ders deutlich und streng vorgeschriebene Formen der Lebensführung und des
sozialen Verkehrs, bestimmter Arten der Erwerbstätigkeit und – erst recht –
stark unterschiedlicher Grade der gesellschaftlich verteilten Ehre und des
Prestiges. Die ständische Abschließung und Ordnung wird – zusätzlich zu der
rechtlichen und konventionellen Absicherung der Stände – noch religiös legi-
timiert und auch dadurch rituell garantiert, daß jede physische Berührung mit
einem Mitglied einer niedrigeren Kaste für die Angehörigen einer höheren
Kaste als „Verunreinigung“ und als religiös zu sühnender Makel gilt. Die
ständische „Steigerung“ bei den Kasten besteht dazu noch darin, daß es – an-

7
Vgl. zum Konzept der Kaste etwa: Gerald D. Berreman, Caste, in: David L. Sills (Hrsg.),
International Encyclopedia of the Social Sciences, Band 2, New York 1968, S. 333ff.;
Adrian C. Mayer, The Indian Caste System, in: David L. Sills (Hrsg.), International En-
cyclopedia of the Social Sciences, Band 2, New York 1968, S. 339ff.; Günter Endruweit,
Kaste, in: Günter Endruweit und Gisela Trommsdorff (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie,
Band 2, Stuttgart 1989, S. 325-327; Ursula Sharma, Caste, Buckingham and Philadelphia
1999. Siehe natürlich auch Weber 1972, S. 536f.
Soziale Ungleichheit 137

ders als zwischen den Ständen durchaus und erst recht, wenngleich ohne
Zweifel immer noch in begrenztem Umfang, zwischen den Klassen – für die
Individuen keinerlei Möglichkeit der Mobilität oder eines sonstigen „exits“
aus dem System gibt. Kasten sind daher geradezu Extremfälle für die
Kovariation von Prestige, Bildung, Beruf, kulturellen Normierungen und
Gewohnheiten und der damit einhergehenden Statuskristallisation – wie sie in
der Tendenz nach auch für die Stände und für die Klassen typisch ist.

Der wohl typischste Fall: das indische Kastensystem

Das bekannteste und in seiner Struktur wohl typischste Kastensystem gibt es


in Indien als Teil der hinduistischen Religion. Es unterscheidet vier hierar-
chisch angeordnete Kasten: die Brahmanen, die Kshatriya oder Rajanya, die
Vaisha, die Shudra. Die Brahmanen bilden die Kaste der Priester und der reli-
giösen Führer. Sie verwalten das heilige Schrifttum und haben Weisungs- und
Deutungsbefugnis für alle religiösen Fragen. Sie sind die mächtigste Kase mit
dem höchsten Rang. Die Kshatriya (oder Rajanya) stellen die Kaste der Krie-
ger, aus der die weltlichen Herrscher abstammen. Bei ihnen liegt als Adels-
kaste die eigentliche weltliche Macht. Sie haben keine religiösen Rechte und
dienen den Brahmanen. Die Vaisha bilden die Kaste der Händler, Handwerker
und Bauern. Sie können zwar auch sehr reich sein, haben aber nur einge-
schränkte religiöse und weltliche Rechte. Die Kaste der Shudra schließlich ist
die Kaste der Dienerschaft. Die unfreien Arbeiter und Bauern stammen aus
dieser Kaste. Sie haben nur noch ein Recht – das des Dienens, und sie sind in
aller Regel arm und besitzlos. In der Einführung zu „Die Gesetze des Manu“,
einer von Hindupriestern etwa 200 Jahre vor Christus verfaßten Sammlung
von Hindu-Schriften, wird diese Einteilung wie folgt begründet:
„Zum Wohle der Welt ließ Er [der Gott, das göttliche Selbst] die Brahmana, die Kshatriya,
die Vaisya und die Sudra aus seinem Munde, seinen Armen, seinen Schenkeln und aus seinen
Füßen hervorgehen. ... . Um dieses Universum nun aber zu schützen, wies Er, der Glanzvolle,
den aus seinem Munde, seinen Armen, seinen Schenkeln und seinen Füßen Hervorgegange-
nen jeweils besondere Aufgaben zu. Den Brahmanen gab er auf, zu forschen und zu lehren
[die Veda], zu opfern für sich selbst und für die anderen, zu geben und zu nehmen [Almosen].
Die Kshatriya sollten das Volk schützen ... die Vaisya mußten für das Vieh sorgen ... den
Sudra wies der Herr nur die eine Pflicht zu, den übrigen drei Kasten bescheiden zu dienen.“
(Zitiert nach Lenski 1973, S. 21)

Daneben – genauer: darunter – gibt es dann noch, bekanntlich, die Parias, die
„Unberührbaren“, als die Bevölkerungsgruppe mit der niedrigsten sozialen
Position. Sie bilden keine Kaste und gelten damit als ganz außerhalb der Ge-
sellschaft stehend. Sogar ihren Schatten dürfen Angehörige der Kasten nicht
138 Die Konstruktion der Gesellschaft

berühren. Und noch heute gehen in manchen südlichen Regionen Indiens die
Leute nur Mittags aus, weil dann, wegen der kurzen Schatten, die Gefahr ei-
ner solchen Berührung mit dem Schatten der Unberührbaren noch am gerings-
ten ist. Die Parias üben nach wie vor die verachtetsten Berufe aus, wie Toten-
gräber oder Straßenfeger, und leben, immer noch, unter meist menschenun-
würdigen Bedingungen. Das Wahlrecht haben sie erst im neuen Indien erhal-
ten.
Empirisch ist das indische Kastensystem wesentlich differenzierter als die
Unterteilung in die geschilderten vier Kasten und die Unberührbaren. Es gibt
zwischen 3000 und 6000, auch regional sehr unterschiedliche, Unterkasten
mit z.T. noch wirksameren Grenzen als die zwischen den Hauptkasten. Inner-
halb der Kasten gibt es spezifische, auf die Förderung der Interessen der
Kastenmitglieder ausgerichtete Organisationen, teilweise eigene
Bildungseinrichtungen und Massenmedien, Sparvereine, Krankenhäuser,
Wohngemeinschaften und dergleichen. Auf diese Weise werden innerhalb des
Gefüges der zahllosen Unterkasten kollektive Auf- und Abstiege und die
Entstehung neuer Kastengliederungen möglich. Man vermutet, daß diese
„kollektive“ Flexibilität des indischen Kastensystems einer der Gründe dafür
ist, daß es sich bei aller, auch in Indien voranschreitenden, Modernisierung
bis heute hat erhalten können.

Ethnische Schichten und Quasi-Kasten

Kasten sind eine typische Folge der Vergesellschaftung von zunächst neben-
einander lebenden ethnischen Gruppen, die im Zuge dieser Vergesellschaf-
tung nach und nach typisch verschiedene Positionen auf der vertikalen Di-
mension von Prestige, Privilegien und Macht und gleichzeitig auf der horizon-
talen Dimension der funktionalen, kulturellen und normativen Ungleichheit
einnehmen, etwa in der Verteilung typischer, und zum Teil von den etablier-
ten Normen abweichender Berufstätigkeiten und Erwerbsarten auf die kultu-
rell unterschiedlichen ethnischen Gruppen:
„Die ‚Kaste‘ ist geradezu die normale Form, in welcher ethnische, an Blutsverwandtschaft
glaubende, das Konnubium und den sozialen Verkehr nach außen ausschließende Gemein-
schaften miteinander ‚vergesellschaftet‘ zu leben pflegen. ... Die zur ‚Kaste‘ gesteigerte ‚stän-
dische‘ und die bloß ‚ethnische‘ Scheidung differieren in ihrer Struktur darin, daß die erstere
aus dem horizontalen unverbundenen Nebeneinander der letzteren ein vertikales soziales
Uebereinander macht.“ (Weber 1972, S. 536; Hervorhebungen nicht im Original)

Es ist der Übergang von einem zunächst nur horizontalen Multikulturalismus


zu einem System der ethnischen Schichtung, bei dem Dimensionen der funk-
Soziale Ungleichheit 139

tionalen, der kulturellen und der normativen Ungleichheit systematisch mit-


einander kovariieren (siehe dazu auch noch den Exkurs über Integration, As-
similation und die sogenannte multikulturelle Gesellschaft im Anschluß an
Kapitel 6 in diesem Band). In der Kastenform finden ethnische Schichtungen
zwar ihren extremsten Ausdruck, sie sind aber als sog. Quasi-Kasten-Systeme
in zahllosen „modernen“ Ländern der Erde zu finden, etwa in den Vereinigten
Staaten mit den Schwarzen, den Hispanics, den Asiaten und den Weißen, und
inzwischen auch in den westeuropäischen Ländern mit ihrer ethnischen Un-
terschichtung durch (Arbeits-)Migranten aus Südosteuropa. Es scheint so zu
sein, daß jeder Versuch zur Einrichtung einer multikulturellen Gesellschaft
fast zwangsläufig in irgendeiner Form der ethnischen bzw. kulturellen Schich-
tung endet, die nicht selten dann auch gegen alle politischen Bemühungen und
moralischen Einstellungen rasch (quasi-)kastenhafte Züge annimmt.8

Die Stabilität der Kastensysteme

Ein interessantes Rätsel ist die – nach wie vor zu beobachtende – Stabilität der
Kastensysteme, einschließlich die der Systeme der ethnischen Schichtung. Für
das indische Kastensystem ist die Antwort verhältnismäßig naheliegend: Zwar
ist nach hinduistischem Glauben ein Aufstieg in eine höhere Kaste im Dies-
seits unmöglich, jedoch über den Umweg der Wiedergeburt – sofern im Dies-
seits alle religiösen Regeln befolgt wurden, wozu insbesondere die Fügung in
das Kastenschicksal gehört. Für die Quasi-Kasten-Systeme gibt es auch eine
naheliegende Antwort: Anders als der gesunde Menschenverstand glaubt, nei-
gen unterprivilegierte Gruppen, wie wir etwa schon aus Abschnitt 10.4 in
Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ wis-
sen, gerade nicht zu Rebellion oder gar Revolution, einfach weil sie an einen
Erfolg entsprechender Versuche vernünftigerweise nicht glauben können. Und
so bleibt meist alles beim alten, auch wenn die Ungleichheit und die damit
verbundene Ungerechtigkeit noch so schreiend sind (vgl. dazu auch noch Ka-
pitel 6 über die Integration der Gesellschaft in diesem Band). Und weil die
Menschen in den unteren und untersten Kasten ihre Unterprivilegierung und
die Aussichtslosigkeit einer Änderung zwar deutlich spüren, gleichwohl aber
nicht auf ein positives Selbstbild verzichten können, greifen sie typischerwei-
se zu einem naheliegenden Ausweg: Wenn schon ihr Reich nicht von dieser

8
Vgl. dazu auch Gerald D. Berreman, Caste in India and the United States, in: American
Journal of Sociology, 66, 1960, S. 120-127; Donald L. Noel, A Theory of the Origin of
Ethnic Stratification, in: Social Problems, 16, 1968, S. 157-172.
140 Die Konstruktion der Gesellschaft

Welt ist, dann gibt es wenigstens noch die glaubhafte Aussicht auf eine besse-
re Zukunft:
„Das Würdegefühl der negativ privilegierten Schichten kann sich naturgemäß [nur] auf eine
jenseits der Gegenwart liegende, diesseitige oder jenseitige Zukunft beziehen, es muß sich
mit anderen Worten aus dem Glauben an eine providentielle ‚Mission‘, an eine spezifische
Ehre vor Gott als ‚auserwähltes Volk‘, also daraus speisen, daß entweder in einem Jenseits
‚die letzten die ersten‘ sein werden oder daß im Diesseits ein Heiland erscheinen und die vor
der Welt verborgene Ehre des von ihr verworfenen Pariavolkes (Juden) oder -standes an das
Licht bringen werde.“ (Weber 1972, S. 536)

Am Beispiel der Kasten wird, wie wir sehen, jenes Problem am deutlichsten,
das mit jeder vertikalen sozialen Ungleichheit verbunden ist: die Hinnahme
einer einmal zugewiesenen und durch eigene Leistung oft kaum mehr zu ver-
ändernden sozialen Position der Unterprivilegierung. Es ist das Problem der
Integration einer vertikal nach Prestige, Privilegien und Macht gegliederten
Gesellschaft, und hier speziell das der Legitimation der (vertikalen) Ungleich-
heiten und der damit oft verbundenen – offenen wie versteckten – Ungerech-
tigkeiten.

Markt und Ehre

Klassen sind wegen ihrer Verankerung in der Produktion und Verteilung von
materiellen Gütern Angelegenheiten der einfachen Aggregation und des ano-
nymen Marktes. Stände sind dagegen, wie wir oben schon festgehalten haben,
eher so etwas wie sehr große soziale Gruppen mit einer hohen Interaktions-
dichte nach innen, der teilweise extremen und gewollten Abgrenzung nach
außen und einer eigenen Gruppenidentität, dem sog. Standesbewußtsein. Es
sind, wie Max Weber feststellt,
„ ... im Gegensatz zu den Klassen, normalerweise Gemeinschaften, wenn auch oft solche von
amorpher Art.“ (Ebd., S. 534; Hervorhebungen nicht im Original)

Zwischen den Klassen als „anonymen“ Aggregationen und den Ständen als
„Gemeinschaften“ gibt es fraglos zahllose Zwischen- und Mischformen. Max
Weber hat etwa die folgende Beobachtung vermerkt:
„In der sog. reinen, d h. jeder ausdrücklich geordneten ständischen Privilegierung Einzelner
entbehrenden, modernen ‚Demokratie‘ kommt es z.B. vor, daß nur die Familien von annä-
hernd gleicher Steuerklasse miteinander tanzen (wie dies z.B. für einzelne kleinere Schweizer
Städte erzählt wird).“ (Ebd., S. 535)

Oder beim Rektorball in Mannheim. Gleichwohl vertragen sich die beiden


Prinzipien nicht gut: Die anonymen Märkte, die die Klassenlagen erzeugen,
Soziale Ungleichheit 141

sind Formen der Vergesellschaftung, und die exklusiven Grenzziehungen der


Ehre, der Lebensführung, der Erwerbstätigkeit und der Beziehungen, auf de-
nen die ständischen Lagen beruhen, solche der Vergemeinschaftung (vgl. da-
zu auch noch Abschnitt 9.3 in diesem Band). „Der Markt ... weiß nichts von
‚Ehre‘“ und für die ständische Ordnung gilt „gerade umgekehrt: Gliederung
nach ‚Ehre‘.“ (Ebd., S. 538) Weil aber die ständische Lage mit der ständi-
schen Ehre, ganz anders als jede Klassenlage, auf einem, wie wir im Anschluß
an Abschnitt 4.2 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen
Grundlagen“ sagen wollen, höchst spezifischen Kapital beruht, ist sie
„ ... als solche in der Wurzel bedroht, wenn der bloße ökonomische Erwerb und die bloße,
nackte, ihren außerständischen Ursprung noch an der Stirn tragende, rein ökonomische Macht
als solche jedem, der sie gewonnen hat, gleiche oder ... sogar dem Erfolg nach höhere ‚Ehre‘
verleihen könnte, wie sie die ständischen Interessenten kraft ihrer Lebensführung für sich prä-
tendieren. Die Interessenten jeder ständischen Gliederung reagieren daher mit spezifischer
Schärfe gerade gegen die Prätentionen des rein ökonomischen Erwerbs als solchen und meist
dann um so schärfer, je bedrohter sie sich fühlen .. .“ (Ebd.; Hervorhebungen nicht im Origi-
nal)

Und genau deshalb kommt es gerade für die oberen Stände, die immer auch
viel mehr zu verlieren haben als nur ihre ständische Ehre, sehr darauf an, die
Formen der Lebensführung und des Lebensstils so zu kultivieren, daß sie
nicht so einfach mehr übernommen oder nachgeahmt werden können, wenn
man nicht von Geburt an dem betreffenden Stand zugehört: Über deren virtu-
ose Handhabung wird der „echte“ Adel leicht erkannt, ebenso wie der unge-
schickte Parvenü, der zwar vielleicht das Talent, das Wissen und das Geld hat,
aber, gottlob, nicht weiß, wie man sich benimmt (vgl. dazu auch schon den
Exkurs über die Ehre in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Spe-
ziellen Grundlagen“ und Abschnitt 3.2 in diesem Band über die Distinktion
durch Stilisierungen der Lebensführung und über die Bedeutung des sog. kul-
turellen Kapitals für die Schließung der Gruppen gegen unerwünschte Ein-
dringlinge).
Aber hilft das auf die Dauer gegen die unwiderstehliche Macht der Märk-
te? Karl Marx war der festen Überzeugung, daß sich im Verlaufe der kapita-
listischen Entwicklung die ständischen Unterschiede bald ganz auflösen wür-
den. Im Kommunistischen Manifest heißt es dazu ganz unmißverständlich:
„Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller ge-
sellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepo-
sche vor allen anderen aus. Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von alt-
ehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten,
ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird
142 Die Konstruktion der Gesellschaft

entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen
Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.“9

Diese Sicht war aus der Zeit heraus, in der Karl Marx lebte, nicht unverständ-
lich. Es war die Zeit des endgültigen Niedergangs und der Auflösung der mit-
telalterlichen Ständegesellschaft und des offenbar unaufhaltsamen Vordrin-
gens der „kalten Zweckrationalität kapitalistischen Wirtschaftens“ (Kreckel
1992, S. 64). Max Weber, der zu den Zeiten von Wilhelm Zwo im Deutschen
Kaiserreich lebte, hatte demgegenüber wieder eine ganz andere Erfahrung:
Der Kapitalismus hatte sich zwar durchgesetzt, aber es gab keine proletarische
Revolution. Eher ganz im Gegenteil: Es verbreitete sich ein chauvinistischer
Nationalismus gerade auch bei manchen Proletariern, die Zahl der Verwal-
tungsangestellten und der Beamten nahm zu, und es kam überall – beim Mili-
tär, im Bürgertum, ja selbst unter Wissenschaftlern – zu Erscheinungen, die
sich alle um „Ehre“, „Status“ und „Comment“ drehten. Man denke nur an die
Studentenverbindungen. Und was war der Hintergrund? Ganz offensichtlich
eine lange Periode des Friedens und der allmählichen Etablierung von ständi-
schen Verkehrskreisen mit den einträglichsten Querverbindungen hin und her
und quer durch die dann gar nicht mehr so anonymen Märkte: Mer kenne uns,
mer hellepe uns, wie man im Rheinland zu sagen pflegt. Kohl, also. Und wohl
auch daher gelangte Weber zu der folgenden Hypothese:
„Ueber die allgemeinen ökonomischen Bedingungen des Vorherrschens ‚ständischer‘ Gliede-
rung läßt sich ... allgemein nur sagen: daß eine gewisse (relative) Stabilität der Grundlagen
von Gütererwerb und Güterverteilung sie begünstigt, während jede technisch-ökonomische
Erschütterung und Umwälzung sie bedroht und die ‚Klassenlage‘ in den Vordergrund schiebt.
Zeitalter und Länder vorwiegender Bedeutung der nackten Klassenlage sind in der Regel
technisch-ökonomische Umwälzungszeiten, während jede Verlangsamung der ökonomischen
Umschichtungsprozesse alsbald zum Aufwachsen ‚ständischer‘ Bildungen führt und die sozi-
ale ‚Ehre‘ wieder in ihrer Bedeutung restituiert.“ (Weber 1972, S. 539)

Daß solche ständischen Vergemeinschaftungen in Perioden der Stabilität „als-


bald“ aufzuwachsen beginnen, hat einen naheliegenden und mit dem Konzept
der sozialen Produktionsfunktionen gut nachvollziehbaren Grund: Soziale
Wertschätzung und die Verleihung von „Ehre“ bilden eines der grundlegen-
den Bedürfnisse der Menschen, und ihre Produktion ist technisch an stabile
und personale Beziehungen gebunden. Außerdem sind gerade riskante Koope-
rationen dann leichter möglich, wenn man sich kennt, sich ständig wiedersieht
und weiß, daß sich auch der andere einer gewissen „ständischen“ Moral – o-
der Ganovenehre! – bindend unterworfen fühlt. Insofern helfen ständische

9
Karl Marx und Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: Marx-Engels-
Werke, Band 4, Berlin 1964, S. 465.
Soziale Ungleichheit 143

Verkehrskreise mit ihrer sozialen „embeddedness“ der Marktbeziehungen


manchmal auch der ökonomischen Produktivität. Andererseits lauert dahinter
eine geradezu unvermeidliche Gefahr: Daß sich die so entstandenen ständi-
schen Gruppen, etwa die Zünfte des Mittelalters oder die Lobbyisten der Ge-

genwart, zu Verteilungskoalitionen zusammenschließen, die die in einer effi-


zienten Wirtschaft unablässig nötigen Anpassungen und Änderungen nachhal-
tig unterbinden können:
„Die zunftähnliche institutionelle Integration und Regulierung ... verhindert eher einen Wan-
del (ebenso wie dies die mittelalterlichen Zünfte taten). Ohne Wandel gibt es kein Wachstum;
somit ist eine berufsständische Ordnung des Wirtschaftslebens eine der sichersten Methoden
zur Verhinderung wirtschaftlichen Fortschritts.“10

Und daraus ergibt sich ein Dilemma zwischen den beiden Prinzipien des
Marktes und der Ehre bzw. des Standes und der Klasse, das wohl unauflöslich
ist:
„Die fortlaufenden Reallokationen und Reorganisationen, die zur höchstmöglichen Befriedi-
gung aller unserer anderen individuellen Bedürfnisse (seien sie materieller Art oder nicht) nö-
tig sind, sind für gewöhnlich nicht mit den stabilen oder dauerhaften persönlichen Beziehun-
gen vereinbar, welche die meisten Menschen zu schätzen und zu brauchen scheinen.“ (Ebd.)

Und, so sei hinzugefügt, welche sie nur dann in einer Klasse finden, wenn die
unversehens in einen Stand mutiert ist. Wenigstens eine Zeit lang war das so
im Ruhrgebiet mit den katholischen polnischen Bergarbeitern, denen die Fa-
milie Krupp erfolgreich einreden konnte, daß ihre schlecht bezahlte Arbeit
tatsächlich ein „Gebet“ sei.

4.3 Soziale Schichtung

Klassen, Stände – und besonders natürlich die Kasten – haben scharfe und nur
schwer überwindbare Grenzen. Sie unterteilen eine Gesellschaft in deutlich
unterschiedene Segmente, in eine klare vertikale Rangordnung des wirtschaft-
lichen Wohlstands, des Prestiges, der Privilegien, der Macht und der sozialen
Chancen ganz allgemein, sowie in deutliche horizontale Unterschiede der In-
teressen, der Einstellungen und Mentalitäten, der alltäglichen Lebensführung,
der kulturellen Praktiken und der sozialen Beziehungen, teilweise sogar der
Devianz von den „herrschenden“ Normen einer Gesellschaft. Die sog. moder-

10
Mancur Olson, Umfassende Ökonomie, Tübingen 1991, S. 184; Hervorhebung nicht im
Original.
144 Die Konstruktion der Gesellschaft

ne Gesellschaft mit der für sie typischen funktionalen Differenzierung, mit der
damit möglichen und auch einhergehenden Mobilität und einer vielfältigen
Kreuzung der sozialen Kreise hat – wenigstens in der Tendenz – diese Seg-
mentierungen gemildert und die einfache vertikale Anordnung der Bevölke-
rung in ein vieldimensionales System unterschiedlicher Bewertungskriterien
ohne scharfe Grenzen gebracht. Die Reaktion der Soziologie darauf war zu-
nächst ein – nach Marx und Weber – neues theoretisches Konzept: das Kon-
zept der sozialen Schichtung.

Gesellschaftliche Entwicklungen

Die Einführung des Begriffs der sozialen Schichtung wurde durch gewisse ge-
sellschaftliche Entwicklungen in den westlichen Industrieländern sozusagen
erzwungen. Die Klassenstruktur dort wurde im Laufe des 19. und des 20.
Jahrhunderts, anders als Karl Marx gemeint hatte, nicht homogener und nicht
einfacher, sondern differenzierter und komplexer, und die Klassengegensätze
spitzten sich nicht zu, sondern flauten deutlich ab. Drei spezielle Vorgänge
sind zu nennen.
Das ist erstens die Beobachtung, daß die Varianzen in den Klassen (und den verbliebenen
Ständen), anders als Karl Marx geglaubt hatte, eher zu- als abgenommen haben. Es gab bald
Arbeitereliten und leitende Angestellte in den kapitalistischen Betrieben einerseits und Klein-
unternehmer und „Tagewerker für eigene Rechnung“ andererseits, die jeweils nicht so recht
in das dichotome Klassenschema von Marx paßten. Ebenfalls anders als Karl Marx das ver-
mutet hatte, versanken zweitens auch die sog. Mittelklassen keineswegs in die Proletarisie-
rung und/oder lösten sich gar auf. Es gab weiterhin ein Kleinbürgertum, selbständige Bauern
und Handwerker, mehr und mehr traten Angestellte und Beamte in Erscheinung, und es er-
folgte ein bis heute nicht beendeter Aufstieg der Manager, der technischen Intelligenz und der
Personen in den Dienstleistungsberufen. Die dritte Entwicklung war die höhere Durchlässig-
keit der Klassen- und Standesgrenzen und die damit einsetzende Mobilität. Das war die Folge
der Umstellung der Positionszuweisung von askriptiven Kriterien auf solche der „Leistung“
in der Folge der steigenden funktionalen Differenzierung. Und die Folge davon waren die
Zunahme von Statusinkonsistenzen und die tendenzielle Auflösung der Gemeinsamkeiten in
Interessen, Bewußtsein, Mentalität, Habitus und Verkehrskreisen – weil die Menschen nun
immer weniger nur in konzentrischen Kreisen ihrer sozialen Zugehörigkeit zu verkehren ge-
zwungen waren.

Empirisch sind diese Vorgänge nicht zu bezweifeln. In den 50er und 60er Jah-
ren entstand hierzulande zeitweise sogar die Illusion von der „nivellierten
Mittelstandsgesellschaft“, und heute wird die komplette „Individualisierung“
der Menschen und die endgültige Auflösung der Klassen und der Stände be-
schworen (vgl. dazu auch noch Abschnitt 4.4 und den Exkurs über die Frage,
ob die sogenannte Individualisierung überhaupt eine ist, unten in diesem
Soziale Ungleichheit 145

Band). Das war und ist zwar stark übertrieben, verweist aber auf eine nicht
länger nur als „Anomalie“ zu betrachtende generelle und globale Entwick-
lung: die Modernisierung der Gesellschaften und der Welt insgesamt.

Theodor Geiger

Als einer der ersten Soziologen hat Theodor Geiger mit seinem Buch über
„Die soziale Schichtung des deutschen Volkes“ von 1932 auf diese Vorgänge
reagiert.11 Soziale Schichten werden von Theodor Geiger zunächst ebenfalls
wieder als „klassifizierte Menschen“ bzw. als „‚Bevölkerungsteile‘“ verstan-
den, und sie bilden auch noch relativ fest umrissene „soziale Blocks“ gemein-
samer „Lagen“, „Interessen“ und „Mentalitäten“. Aber das Bild ist nun kom-
plizierter geworden:
„Auch hier wird es nicht bei einem einfachen Schichtungsbild bleiben; mannigfach wie die
widerstreitenden Bestrebungen und Interessen sind die entsprechenden Schichtungen; sie ü-
berkreuzen, durchdringen und überdecken einander. ... . Die Zahl der möglichen Reihen sol-
cher Schichten ist also grundsätzlich nicht begrenzt; soviel Antagonismen und Varianten ich
im Wirtschaftsdenken der Bevölkerung beobachte, soviel verschiedene Schichtungen finde
ich vor.“ (Ebd., S. 5; Hervorhebung im Original)

Mit den Varianzen, Überlappungen, Überkreuzungen und Durchlässigkeiten


war für Geiger jedoch keineswegs die Aufhebung der vertikalen Ungleichhei-
ten verbunden. Nach wie vor gab es Menschen mit deutlichen Unterschieden
in wirtschaftlicher Macht und im Prestige, die sie nach wie vor vor allem aus
ihrer beruflichen Tätigkeit bezogen. Aber neben die beiden Kriterien des Ei-
gentums und der Ehre tritt nun zunehmend die Bildung und die Verfügungs-
macht in den staatlichen wie nichtstaatlichen Organisationen. Und so wurde
es plausibel, statt der einfachen dichotomen Klassenmodelle nunmehr kom-
plexere Bilder der gesellschaftlichen „Lagerungen“ zu entwerfen.
Theodor Geiger geht bei seinem Schichtungsmodell in der „Rohgliede-
rung“, wie Karl Marx, von einer Einteilung der Bevölkerung „am Maßstab
des Produktionsverhältnisses“ (ebd., S. 24; Hervorhebung im Original) aus.
Zunächst unterscheidet er daher auch wieder die beiden Marxschen Haupt-
klassen einer „Kapitalistischen Lage“ und einer „Proletarischen Lage“. Nun
fügt er aber eine „Mittlere Lage“ ein (vgl. Abbildung 4.5).

11
Theodor Geiger, Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Soziographischer Versuch
auf statistischer Grundlage, Stuttgart 1932.
Soziale Ungleichheit 147

die – weiterhin – am alten Konzept der Klasse bzw. des Standes. Und entspre-
chend wurden Schichtungsmodelle vorgeschlagen, ebenso wie sogenannte
Klassenschemata.
Das Modell von Theodor Geiger ist ein früher Vorschlag für ein Klassenschema gewesen: Es
geht weiter von relativ fest umrissenen und durch qualitativ unterschiedliche Lebenslagen ge-
kennzeichnete „Blocks“ aus. Und mit der Anordnung in der vertikalen Dimension ist immer
auch eine Komponente der horizontalen und diskontinuierlichen Unterschiedlichkeit der
Gruppen verbunden. Die Schichtungsmodelle sehen die Gesellschaft anders: Es gibt keine
klaren Grenzen (mehr), die Unterschiede zwischen den Menschen sind eigentlich gar keine
„Gruppen“-Unterschiede mehr, sie sind quantitativ und kontinuierlich und sie beschränken
sich auf die vertikale Dimension eines aus verschiedenen Bewertungsdimensionen zusam-
mengezogenen Index des sozio-ökonomischen „Status“. Die zu Beginn des Kapitels bespro-
chene Verteilung des Einkommens ist das Modell, das der Idee der Schichtung zugrundeliegt:
die Unterteilung in Einkommensgruppen, die man eher aus pragmatischen als aus inhaltlichen
Gründen vornimmt.

Kurz: Es geht bei den Klassenschemata, anders als bei den Schichtungsmodel-
len, nicht bloß um einen eindimensionalen und kontinuierlichen „Status“, ge-
messen etwa an Einkommen, Berufsprestige und Bildung, sondern weiterhin
um diskontinuierliche Strukturierungen der Situation auch inhaltlicher Art mit
systematischer Bedeutung für die Interessen, die Vorlieben, das Wissen, die
Einstellungen, die Gewohnheiten und das Handeln der Menschen – wenn-
gleich nicht mehr nur für zwei „Klassen“.

Schichtungsmodelle

Das Konzept der sozialen Schichtung ist am Bild der geologischen Formatio-
nen orientiert: Es gibt über- und untereinander gelagerte Formationen unter-
schiedlicher Gesteinsarten mit unterschiedlich scharfen Übergängen zwischen
den verschiedenen „Schichten“. In Analogie dazu versuchen die Schich-
tungsmodelle, die Struktur und die „Breite“ der „Lagerungen“ der gesell-
schaftlichen Schichtung verschiedener Statusgruppen in der Vertikalen zu be-
schreiben. Dazu gibt es seit langem eine Reihe von Vorschlägen.12 Ein oft
präsentiertes älteres Beispiel ist die manchmal so genannte Bolte-Zwiebel,
und ein aktuelleres die, so wollen wir das Modell nennen, Geißler-Residenz.
Alle diese Modelle kommen, so sei schon angemerkt, nicht ohne Anleihen an
den Konzepten von Klasse und Stand aus.

12
Vgl. dazu etwa Karl Martin Bolte, Dieter Kappe und Friedhelm Neidhardt, Soziale Un-
gleichheit, 4. Aufl., Opladen 1975, S. 94-99; Karl Martin Bolte und Stefan Hradil, Soziale
Ungleichheit in der Bundesrepublik Deutschland, 5. Aufl., Opladen 1984, Kapitel 6.
Soziale Ungleichheit 149

einen alten und einen neuen Mittelstand. Die Statuszonen sind – mehr oder weniger: willkür-
lich – unterteilte Ebenen auf der vertikalen Dimension, ein „Kontinuum von Schichtballungen
mit unscharfen Grenzen“, wie Bolte, Kappe und Neidhardt (1975, S. 99) schreiben. Ober-
schicht und sozial Verachtete bilden jeweils eine eigene Statuszone, und die anderen drei Ka-
tegorien verteilen sich, teilweise überlappend, auf die restlichen fünf Statuszonen der oberen
Mitte, der mittleren Mitte, der untersten Mitte bzw. des oberen Unten und des Unten.

Das Hauptproblem bei der Bolte-Zwiebel ist, wie bei den Schichtungsmodel-
len insgesamt, daß die Kategorisierungen theoretisch und auch empirisch
nicht eindeutig begründet sind, und daß daher die Einteilungen in die Katego-
rien und „Statuszonen“ einer gewissen Willkür nicht entbehren. Es ist die
Folge des durch die gesellschaftlichen Entwicklungen nahezu erzwungenen
Verzichts auf ein deduktives Kriterium der Klasseneinteilung. Und das hat den
Schichtungsmodellen alsbald den Vorwurf der „bürgerlichen“ Beliebigkeit, ja
der ideologischen Verschleierung der wirklichen Ungleichheitsstrukturen ein-
gebracht.

Die Geißler-Residenz

Die Bolte-Zwiebel enthielt bei ihren undeutlichen Unterscheidungen von


Schichten in der Tat nur noch schwache Anklänge an die alten Kategorien der
Klasse und der objektiven und besonderen Produktionsverhältnisse, wie das
etwa noch bei Theodor Geiger der Fall war. Und in ihm fand sich nur wenig,
was auf neue Entwicklungen oder gar „Neue Soziale Ungleichheiten“ hindeu-
tete. Das ist anders in dem Modell der Geißler-Residenz. Das Modell beruht
auf einem älteren Vorschlag von Ralf Dahrendorf aus den 60er Jahren, das
dieser in Anlehnung an die Überlegungen von Theodor Geiger konstruiert hat-
te. Wir wollen es, weil die Zeiten damals noch bescheidener waren, das Dah-
rendorf-Reihenhaus nennen. Die Geißler-Residenz ist, so ihr Erbauer Rainer
Geißler, eine für die Verhältnisse in den 80er Jahren umgebaute, modernisier-
te und mit einigen Anbauten versehene Version des Dahrendorf-Reihenhauses
(vgl. Abbildung 4.7).
Die Geißler-Residenz weist, wie die Bolte-Zwiebel, ein vertikales Konti-
nuum der Bewertung und eine Abbildung der Häufigkeitsverteilungen auf. In
seinen Kategorien geht es aber wieder näher an das theoretische Prinzip der
Einteilung nach den „Produktionsverhältnissen“ heran, wenngleich nach Maß-
gabe der inzwischen veränderten gesellschaftlichen Bedingungen.
Oben thronen nach wie vor die Machteliten. Wer sonst? Breiten Raum und eine hohe vertika-
le Varianz nehmen die Dienstleistungsschichten ein. Die Arbeiterschichten gibt es noch in
großem Umfang, allerdings hierarchisch angeordnet nach Arbeitereliten, Facharbeitern und
un- bzw. angelernten Arbeitern. Von etwas unterhalb der Mitte bis weit nach oben ragt der al-
Soziale Ungleichheit 151

und Wände“ sind (noch) durchlässiger geworden, weil sich die Schichten
noch stärker überlappen und überkreuzen als früher und weil es vielerlei Än-
derungen und Lockerungen gibt:
„Um im Bild des Hauses zu bleiben: die Stockwerke und Zimmer der Residenz sind nicht
durch durchgehende Decken und Wände gegeneinander abgeschottet, sondern verstellbare
Wände, Raumteiler und halboffene Etagen zeigen viele Durch- und Übergänge an. Die Bin-
nenarchitektur des Hauses ermöglicht heute noch stärker als in den 60er Jahren ‚offenes
Wohnen‘ in nicht deutlich voneinander getrennten Etagen und Räumen.“ (Geißler 1996, S.
87)

Das alles heißt aber nicht, daß nun alles im Fluß sei und jeder sich seinen
Platz frei suchen könnte. Nach wie vor sind die Menschen genötigt, sich „vor-
nehmlich in bestimmten Wohnbereichen aufzuhalten.“ (Ebd.) Und das liegt,
so möchte man ergänzen, nach wie vor insbesondere an der Einnahme von
Positionen im System der Produktionsverhältnisse und den dadurch eröffneten
oder verschlossenen Möglichkeiten, sich im Haus der Gesellschaft zu bewe-
gen. Denn die Mieten in den verschiedenen Zimmern der Residenz sind sicher
nicht alle gleich hoch.

Der sozio-ökonomische Status

Die Gemeinsamkeit aller Schichtungsmodelle ist die vertikale Anordnung der


Schichten auf einer eindimensionalen „Skala“ der Bewertung. Es gibt, wie wir
wissen, aber ganz verschiedene Komponenten der Bewertung: Prestige, Privi-
legien und – dahinter – die Macht der Akteure (vgl. dazu schon Abschnitt 4.1
oben). In den „alten“ Modellen von Klasse und Stand waren die verschiede-
nen Dimensionen jedoch nicht miteinander verrechenbar gewesen: Markt und
Ehre vertrugen sich, wie wir wissen, nicht besonders. In den Schichtungsmo-
dellen werden aber offenbar diese unterschiedlichen Dimensionen der Bewer-
tung auf eine Münze zusammengezogen. Das war bei der Bolte-Zwiebel so
und auch bei der Geißler-Residenz, wie letztlich schon bei dem Schichtungs-
modell von Theodor Geiger.
Die Schichtungsmodelle haben also noch einen weiteren gesellschaftlichen Hintergrund, und
es hat sich – neben der Zunahme der Komplexität des Ungleichheitsgefüges – nach Marx und
Weber noch etwas anderes verändert: Die verschiedenen, einst einander ganz sinnfremden
„Kapitalien“ des Besitzes und der Ehre lassen sich, wohl auch als Folge der Entstrukturierung
der Gesellschaft, plötzlich in Beziehung setzen und sind offenbar gegenseitig substituierbar,
ohne daß dies gegen irgendwelche institutionellen Regeln verstieße. Und wenn das so ist,
dann macht es auch Sinn, die verschiedenen Dimensionen der sozialen Ungleichheit auf einer
Achse der vertikalen Bewertung abzubilden.
152 Die Konstruktion der Gesellschaft

Das ist die Logik der Bildung der sog. Schicht-Indizes. Sie bestimmen in einer
– auf unterschiedliche Weise durchgeführten – Summation den Status der ein-
zelnen Akteure in Hinsicht auf seine ökonomische und sonstige soziale Lage,
wozu üblicherweise das Einkommen, das Berufsprestige und die Bildung ge-
hört.
Ein Schicht-Index ist nichts anderes als die Abbildung bestimmter Kombinationen der einzel-
nen Schichtungsdimensionen in das System der (natürlichen) Zahlen (vgl. dazu schon den
Exkurs über Typenbildung in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen
Grundlagen“).14 Üblicherweise werden den verschiedenen Werten der Einzeldimensionen zu-
nächst Ziffern zugeordnet, die dann für jeden Einzelfall über die betrachteten Dimensionen
der Ungleichheit – Einkommen, Berufsprestige und Bildung – addiert werden. Personen mit
gleichen Summen dieses Sammelindex wird dann ein gleicher „Rang“ oder „Status“ zugeord-
net. Wenn es beispielsweise fünf Einkommensklassen gibt, fünf Grade des Berufsprestiges
und fünf Stufen der Bildung, dann hätte die Skala die Extremwerte 3 und 15. Jede dazwi-
schen liegende Kombination mit der gleichen Summe, etwa: acht, hätte den gleichen Status-
wert. Dazu könnte es daher über ganz verschiedene Zusammensetzungen von Einkommen,
Berufsprestige und Bildung kommen. Etwa: Rang 5 im Einkommen, Rang 2 im Prestige und
Rang 1 in der Bildung bei einem Schrotthändler, gegenüber Rang 1 im Einkommen, Rang 2
im Prestige und Rang 5 in der Bildung bei einem arbeitslosen Doktor der Philosophie. Die
Messung der einzelnen Dimensionen, die Zuweisung der Rangziffern und die schließliche Art
der Summation sind alles andere als trivial. Insbesondere die Bestimmung des Berufspresti-
ges ist schwierig und umstritten, allein deshalb, weil das Berufsprestige in besonderem Maße
gesellschaftlichen Wandlungen unterliegt und zwischen den Gesellschaften z.T. stark variiert.

Weil der Schicht-Index ökonomische und nichtökonomische Dimensionen der


vertikalen Bewertung zusammenführt, wird das so gemessene Konstrukt auch
sozio-ökonomischer Status genannt (oder kurz: SES, von „socio-economic
status“). Der Index heißt daher manchmal auch nur kurz „SES-Index“. Er läßt
sich aus jeder Standarddemographie, etwa des Allbus, bestimmen. Und man
hofft immer, daß sich damit dann möglichst viel an Varianz erklären ließe.
Wir wissen, warum diese Hoffnung manchmal trügt: Nicht immer spiegeln die in dem Index
zusammengezogenen Kombinationen „relevante“ gesellschaftliche Lagen. Darüber hatte sich
schon Theodor Geiger aufgeregt, und er hatte darauf gedrungen, daß das „statistische Bild“
ebenso „fein differenziert“ darzustellen sei „wie das soziographische“ (Geiger 1932, S. 16).
Also: Daß eine gemeinsame Ziffer auch eine Gemeinsamkeit in den Chancen, Interessen, Ein-
stellungen und kulturellen Gewohnheiten wiederspiegeln solle. Davon aber sind der Schrott-
händler und der Doktor der Philosophie trotz ihres gleichen SES-Wertes meilenweit entfernt.

14
Die wichtigsten Vorschläge zur Messung des Berufsprestiges stammen von Otis D. Dun-
can und Donald J. Treiman. Vgl. Otis D. Duncan, A Socioeconomic Index for all Occupa-
tions, in: Albert J. Reiss, Jr., (Hrsg.), Occupations and Social Status, New York 1961, S.
109-138; Donald J. Treiman, Occupational Prestige in Comparative Perspective, New Y-
ork, San Francisco und London 1977.
Soziale Ungleichheit 153

Gleichwohl gehört die Auswertung sozialwissenschaftlicher Studien nach


dem „SES“ zum Standardrepertoire der empirischen Soziologie. Meist kommt
sogar etwas dabei heraus. Der Grund dafür ist auch einsichtig: Einkommen,
Beruf und Bildung sind nach wie vor zentrale Größen zur Bestimmung der
objektiven Situation der Akteure. Nur: Mit der Variable SES alleine weiß man
wenig, warum sie „wirkt“, etwa auf das Wahlverhalten oder die Einstellung
zu Ausländern. Dazu müßte sie in die Erwartungen und Bewertungen der Ak-
teure in den entsprechenden gesellschaftlichen Lagen übersetzt werden. Kurz:
Aus der bloßen Erklärung von Varianz über den SES müßte eine richtige so-
ziologische Erklärung werden (vgl. dazu auch schon Abschnitt 10.3 in Band
1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“).

Klassenschemata

Die niemals ganz ausgeräumten Unzufriedenheiten mit den Einebnungen des


Schichtungskonzeptes, am deutlichsten sichtbar im Konzept des sozio-
ökonomischen Status, hat die Stimmen nicht verstummen lassen, die eine
stärker theoretisch und „objektiv“ begründete Einteilung der sozialen Schich-
ten verlangten. Und wir hatten ja gesehen, daß selbst in den neueren Modellen
der sozialen Schichtung mehr als nur Reste der alten Klassen- und Standes-
grenzen zu finden waren. Daher verwundert es nicht, daß es immer wieder
und nach wie vor Versuche gibt, auf die veränderten Bedingungen und
Entwicklungen hin auf eine „Schichtungs“-Gesellschaft gleichwohl mit den
theoretischen Mitteln des Klassenkonzeptes zu reagieren. Zwei dieser
Versuche zur Entwicklung einer Einteilung der Bevölkerung in den modernen
westlichen Industriegesellschaften über ein Klassenschema sind besonders
einflußreich gewesen: das von Erik O. Wright und das von John H.
Goldthorpe.

Erik O. Wright

Karl Marx schon mußte sich mit der Frage auseinandersetzen, ob es „wirk-
lich“ immer nur zwei Klassen sind, die eine Gesellschaft kennzeichnen und
deren Antagonismus die Geschichte vorantreibt. Die oben geschilderten ge-
sellschaftlichen Entwicklungen, insbesondere die fortdauernde Existenz und
sogar das Aufblühen der „Mittelklassen“ hat daher die traditionelle Klassen-
theorie nach Marx bald in ernste Ungelegenheiten gebracht. In der Folge hat
es eine Reihe von Versuchen gegeben, der empirisch unabweisbaren Existenz
weiterer Klassenkategorien Genüge zu tun und das einfach-dichotome Klas-
154 Die Konstruktion der Gesellschaft

senschema einerseits zu erweitern, andererseits aber bei der Grundidee von


Marx zu bleiben, daß die grundlegenden gesellschaftlichen Strukturen nach
wie vor aus der Stellung im Produktionsprozeß hervorgehen. Hier hat Erik O.
Wright ein, auch von nicht-marxistischen Autoren beachtetes, Konzept entwi-
ckelt, mit dem er, wie er sagt, die postkapitalistische Klassenstruktur erfassen
will. In einem ersten Anlauf dazu erweitert er die beiden Hauptklassen von
Marx, Bourgoisie und Proletariat, definiert jeweils über das Eigentum an den
Produktionsmitteln, um eine weitere Klasse und unterscheidet dann drei
„locations“, die zwischen diesen drei Polen „widersprüchliche“ Positionen
einnehmen.15
Erik O. Wright unterscheidet zunächst drei Arten von Ressourcen, deren Kontrolle die Klas-
senlage jeweils typischerweise bestimme: Geld, physisches Kapital und Arbeit. Die beiden
„klassischen“ Klassen des Marxismus, Bourgeoisie und Proletariat, unterscheiden sich nun
darin, daß die Bourgoisie in allen drei Dimensionen das Proletariat dominiere. In der Begrün-
dung seines Klassenschemas geht er dann in zwei Schritten vor. Zunächst wird – erstens –
angenommen, daß diese dichotome Klasseneinteilung in Bourgeoisie und Proletariat die im-
mer noch gültige grundlegende Klassenspaltung auch in den fortgeschrittenen und den post-
kapitalistischen Gesellschaften sei. Das sei sie aber nur auf dem „highest level of abstraction“
der „reinen“ kapitalistischen Produktion. Gehe man in der Abstraktionsebene hinunter und
lasse „empirische“ Verunreinigungen, etwa von Resten der vorkapitalistischen Produktions-
weisen, zu, so kämen auch andere Klassen ins Blickfeld, insbesondere solche der einfachen
Güterproduktion außerhalb großer Organisationen. Hier gebe es zwar, wie etwa bei den klei-
nen Selbständigen, Kontrolle von Geld und physischem Kapital, aber keine über die fremde
Arbeitskraft. Das ist die „Klasse“ des Kleinbürgertums („petty bourgeoisie“). Weil in den
„konkreten“ (post-)kapitalistischen Gesellschaften die drei Größen – Geld, physisches Kapital
und Arbeit – außerdem nicht perfekt kovariieren, komme es – zweitens – zu weiteren „unpas-
senden“ und „widersprüchlichen“ Gruppierungen, und zwar drei an der Zahl: Manager und
leitende Angestellte, kleine Selbständige und halb-autonome Lohnabhängige. Die Manager
und leitenden Angestellten teilen Eigenschaften der Bourgoisie und des Proletariats, die klei-
nen Selbständigen solche der Bourgoisie und des Kleinbürgertums und die halbautonomen
Lohnabhängigen solche des Proletariats und des Kleinbürgertums.

15
Erik O. Wright, Class Boundaries in Advanced Capitalist Societies, in: New Left Review,
98, 1976, S. 3-41; Eric O. Wright, Varieties of Marxist Conceptions of Class Structure, in:
Grusky (1994), S. 94-98. Vgl. dazu auch die Zusammenfassung bei Johannes Berger, Was
behauptet die Marxsche Klassentheorie – und was ist davon haltbar?, in: Hans-Joachim
Giegel (Hrsg.), Konflikt in modernen Gesellschaften, Frankfurt/M. 1998, S. 30ff.
Soziale Ungleichheit 155

In Abbildung 4.8 ist das so begründete erweiterte Klassenschema von Erik O.


Wright dargestellt.

kapitalistische einfache
Produktionsweise Warenproduktion

Bourgeoisie

Kleinunternehmer
Manager und
Kleinbürgertum
leitende Angestellte
halbautonome
Lohnabhängige
Proletariat

Klassen

widersprüchliche Klassenlagen

Abb. 4.8: Die „Verunreinigung“ der Klassenbeziehungen in (post-)kapitalistischen


Gesellschaften (nach Wright 1994, S. 96)

Die Grundlage der Überlegungen von Erik O. Wright war in diesem Schema
die Annahme, daß Beziehungen der Dominanz in der Kontrolle von Geld,
physischem Kapital und Arbeit die Klassenlagen bestimmen. Später hat Erik
O. Wright, nach einer Auseinandersetzung mit John E. Roemer, seine alte
Auffassung zugunsten der von Roemer revidiert und ein anderes Klassen-
schema entwickelt.16

16
Erik O. Wright, A General Framework for the Analysis of Class Structure, in: Erik O.
Wright, The Debate on Classes, London und New York 1989, S. 3-43.
156 Die Konstruktion der Gesellschaft

Die Auseinandersetzung von Wright mit Roemer17 ging um die Frage, ob man die Klassen-
einteilung auf die Kategorie der Dominanz gründen dürfe oder ob nicht vielmehr dafür das
Konzept der Ausbeutung das geeignetere sei. Wright gibt schließlich zu, daß das Konzept der
Ausbeutung das angemessenere sei. Selten liest man von einem Wissenschaftler ein solch of-
fenes Bekenntnis zu einem eingesehenen Irrtum. Aber der Grund für das Umdenken wird
auch gleich klar: Wright hielt die Konzeption von Roemer schließlich für eine werksgetreuere
Fortsetzung der Marxschen Gedanken. Und genau darauf kam es ihm immer an: Den Mar-
xismus – mit allen seinen auch geschichtsphilosophischen Aussagen – gegen allen (spät-)-
kapitalistischen Augenschein zu retten. Also: doch wohl keine Einsicht, sondern ein beson-
ders raffinierter Fall von Unbeugsamkeit?

Wichtiger als diese dogmengeschichtlichen Spitzfindigkeiten ist die inhaltli-


che Begründung für das neue Klassenschema: Es gibt nicht nur das Eigentum
an Produktionsmitteln – Kapital und Arbeit –, über das sich die, für die Klas-
senlage so konstituierenden, Beziehungen der Ausbeutung bilden können,
sondern auch andere Ressourcen – „assets“, wie Wright sie nennt: Talent,
Bildung und Fertigkeiten einerseits und Verfügungsmacht in Organisationen
andererseits. Er bezeichnet sie als skill assets und als organizational assets.
Wie zuvor geht Wright dann von der grundlegenden Spaltung von Eigentümern und Nichtei-
gentümern an den „klassischen“ Produktionsmitteln: Geld, physisches Kapital, Arbeit aus.
Das ist das Relikt des „klassischen“ Klassenkonzepts nach Marx. Die Eigentümer unterteilen
sich dann in drei Gruppen: die Bourgeoisie, die wieder alles unter Kontrolle hat, die Kleinun-
ternehmer, die das physische Kapital und die Arbeit kontrollieren, und das Kleinbürgertum,
das nur die Arbeit kontrolliert. Die skill assets und die organizational assets wirken sich bei
den Eigentümern nicht weiter aus, sondern nur bei den Nichteigentümern. Aus einer tricho-
tomen Kreuzung von Graden der Verfügung über skill assets und organizational assets (+, > 0
und -) ergeben sich bei den Nichteigentümern dann „logisch“ neun Unterklassen. Insgesamt
enthält das Klassenschema also 3 plus 9 gleich 12 Unterkategorien.

Das so abgeleitete zweite Klassenschema ist in Abbildung 4.9 in der engli-


schen Originalfassung wiedergegeben, weil manche Benennung denn doch
etwas ungewöhnlich und nur schwer zu übersetzen ist.

17
Vgl. John E. Roemer, A General Theory of Exploitation and Class, Cambridge, Mass.,
und London 1982; Erik O. Wright, The Status of the Political in the Concept of Class
Structure, in: Politics and Society, 11, 1982, S. 321-341.
Soziale Ungleichheit 157

Assets in the means of Production


Owners (%) Nonowners (wage laborers) (%)

1 Bourgeoisie 4 Expert 7 Semicre- 10 Uncreden- +


manager dentialed tialed ma-
manager nager
USA 1.8 USA 3.9 USA 6.2 USA 2.3
Sweden 0.7 Sweden 4.4 Sweden 4.0 Sweden 2.5

2 Small em- 5 Expert su- 8 Semicre- 11 Uncreden-


ployer pervisor dentialed tialed su- >0
supervisor pervisor
organizational
USA 6.0 USA 3.7 USA 6.8 USA 6.9 assets
Sweden 4.8 Sweden 3.8 Sweden 3.2 Sweden 3.1

3 Petty bour- 6 Expert 9 Semicre- 12 Proletar- -


geoisie nonmana- dentialed ian
ger worker
USA 6.9 USA 3.4 USA 12.2 USA 39.9
Sweden 5.4 Sweden 6.8 Sweden 17.8 Sweden 43.5

+ > 0 Skill assets -


United States: N = 1487
Sweden: N = 1179

Abb. 4.9: Das „Ausbeutungs“-Schema der Klassen in (post-)kapitalistischen Gesell-


schaften (nach Wright 1994, S. 108)

Mit seinem Klassenschema wollte Erik O. Wright, wie man vermuten darf,
den Kern der Marxschen Gesellschaftstheorie retten. Deshalb interpretierte er
die von ihm unterschiedenen Klassen auch ganz „realistisch“: Es handele sich
bei aller Differenzierung nicht um bloße statistische Konstrukte, sondern um
„wirkliche“ und für die Chancen, die Interessen und das Handeln „relevante“
gesellschaftliche Lagen. Den empirischen Analysen zufolge, die Wright selbst
durchgeführt hat (vgl. die prozentualen Verteilungen der Klassen für die USA
und Schweden in der Abbildung 4.8), scheint es, wenigstens vor dem Hinter-
grund des so revidierten Klassenkonzeptes, in den fortgeschrittenen, spät- o-
der postkapitalistischen Gesellschaften tatsächlich weiterhin „Klassen“ mit
einiger Relevanz für die Interessen, die Einstellungen und das Handeln der
Menschen zu geben (vgl. Berger 1998, S. 34ff.). Von einem, wie manche et-
was vorschnell geglaubt haben, Ende der Klassengesellschaft kann also die
Rede kaum sein.
158 Die Konstruktion der Gesellschaft

Aber, das sieht man gleich, das Klassenschema, das für die Abbildung die-
ser Strukturen nötig ist, entbehrt deutlich jener zuspitzenden Einfachheit, die
für den spröden Charme der Marxschen Theorie so kennzeichnend war. Und
es ist in seiner Differenzierung nicht weit entfernt von den „bürgerlichen“
Modellen der sozialen Schichtung, gegen die es doch eigentlich gerichtet war.
Es hat den etwas naiven Modellen der Ober-Mittel-Unterschichten-
Unterscheidungen jedoch – mit Marx – etwas Wichtiges voraus: das Bemühen
um eine explizite theoretische Begründung. Und alleine das ist schon etwas,
was Anerkennung verdient, auch wenn man den marxistisch-dogmatischen
Geschmack der Beiträge von Wright nicht mögen sollte.

John H. Goldthorpe

Eine ganz ähnlich „objektivierende“ und auf spezifische Inhalte der „Klassen-
lage“ abstellende Position wie Erik O. Wright bezieht John H. Goldthorpe in
seiner Begründung für das von ihm entwickelte Klassenschema zur Analyse
der Mobilität. Es müsse sich, so schreiben er und sein schwedischer Kollege
Robert Erikson in ihrem Buch über die vergleichende Analyse der Mobilität
in den wichtigsten Industriegesellschaften, bei den Einteilungen, zwischen
denen die Mobilität der Akteure erfolgt, um weit mehr handeln als um die
bloße Anordnung auf einer vertikalen Achse.18 Denn die Mobilität sei kein
bloßer Auf- oder Abstieg auf einer eindimensionalen SES-Skala, sondern der
Wechsel des „involvements“ der Akteure in typischen Beziehungen, die sie
auf dem Arbeitsmarkt und in den Produktionseinheiten unterhalten. Im Unter-
schied zu den „social groupings found at similar levels of prestige or status“
in den eindimensionalen Schichtungsmodellen
„ ... classes ... can be expected to show some degree of homogeneity not only in the kinds and
levels of resources that their members command but further in their exposure to structural
changes and, in turn, in the range of at least potential interests that they may seek to uphold.“
(Erikson und Goldthorpe 1992, S. 31; Hervorhebungen nicht im Original)

Über die einfachen Schichteinteilungen würden diese Besonderheiten jedoch


verwischt. Und daher müsse ein Schema zur Analyse von Mobilitätsprozessen
entwickelt werden,

18
Robert Erikson und John H. Goldthorpe, The Constant Flux. A Study of Class Mobility in
Industrial Societies, Oxford 1992. Vgl. zu einigen wichtigen Vorüberlegungen John
Goldthorpe, On the Service Class, its Formation and Future, in: Anthony Giddens und
Gavin Mackenzie (Hrsg.), Social Class and the Division of Labour. Essays in Honour of
Ilya Neustadt, Cambridge u.a. 1982, S. 162-185.
Soziale Ungleichheit 159

„ ... in terms of class categories – such as, say, those of industrial wage-workers, peasants or
farmers, salaried employees, proprietors and self-employed workers, etc. – rather than in
terms of categories which represent simply levels distinguished within a prestige or status
continuum.“ (Ebd., S. 32; Hervorhebung nicht im Original)

Der Ausgangspunkt des Goldthorpe-Schemas ist die Bestimmung der gesell-


schaftlichen Lage über typische Positionen der Akteure auf Arbeitsmärkten
und in Produktionseinheiten und der dadurch konstituierten typischen Ar-
beitsbeziehungen („employment relations“). Von Marx und Weber ausgehend
ergeben sich daraus zunächst drei grundlegende Differenzierungen: Arbeitge-
ber, kleine Selbständige ohne abhängig Beschäftige und Arbeitnehmer (vgl.
Abbildung 4.10).

Basic class positions

EMPLOYERS SELF-EMPLOYED WORKERS EMPLOYEES

Form of regulation
of employment

Large Small SERVICE INTERMEDIATE LABOUR CONTRACT


RELATIONSHIP

Professional, Routine, lower technical, Manual


higher technical, non-manual and manual,
administrative, supervisory
and managerial Industry

Industry Agriculture Industry Agriculture Higher Lower Higher Lower Skilled Non-skilled Agriculture
grade grade grade grade

I IVa IVc IVb IVc I II IIIa IIIb V VI VIIa VIIb

Abb. 4.10: Die Ableitung des Klassenschemas nach Goldthorpe (nach Erikson und
Goldthorpe 1992, S. 36)

Drei grundlegende Entwicklungen in den modernen Industriegesellschaften


führen dann zu den weiteren Unterscheidungen bei dieser Dreier-Einteilung:
erstens die Entstehung großer Organisationen, zweitens die Differenzierung
von Industrie und Landwirtschaft und drittens die stärkere Differenzierung der
Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Aus den Organisa-
tionsänderungen folgt zunächst die Unterteilung in Klein- und Großarbeitge-
ber. Zusammen mit der Unterscheidung nach Landwirtschaft und Industrie für
die kleinen Arbeitgeber und für die kleinen Selbständigen ergibt dies aus den
beiden großen Gruppen der Arbeitgeber und der kleinen Selbständigen fünf
160 Die Konstruktion der Gesellschaft

Unterklassen (zu den römischen Ziffern siehe gleich unten). Besonders inte-
ressant ist dann die Begründung für die Differenzierung der Arbeitnehmer-
klassen nach den Arbeitsbeziehungen und der Form der Arbeitsverträge.
John H. Goldthorpe unterscheidet dabei zwei Arten von Tätigkeiten und dazugehörigen Ar-
beitsverträgen: einen „short-term and specific exchange of money for effort“ und einen „lon-
ger-term and generally more diffuse exchange.“ (Ebd., S. 41f.) Die letztere Art von Tätigkei-
ten beruht typischerweise auf delegierter Weisungsbefugnis und auf spezialisiertem Wissen.
Daher muß diesen Arbeitnehmern ein besonderes Vertrauen und eine gewisse Autonomie zu-
gestanden werden, die das für diese, kaum kontrollierbaren, Tätigkeiten unerläßliche „moral
commitment“ sichern. Das alles gilt für die erstere Art an Tätigkeiten nicht. Und aus dieser
grundlegenden Unterscheidung von zwei typisch verschiedenen Arten von Arbeitsbeziehun-
gen – spezifischer Tausch hier, generalisierter Tausch da zwischen Arbeitgebern und Arbeit-
nehmern (vgl. dazu auch noch Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“)
– entsteht eine grundlegende Differenzierung unter den Arbeitnehmern nach „labour
contract“ und nach „service class“ – und einer Gruppe von „intermediate“ Tätigkeiten dazwi-
schen. Im ersten Fall ist die Entlohnung unmittelbar auf die spezifische Leistung gerichtet,
etwa nach Stundenlohn oder Akkord, im zweiten Fall auf angemessenen Unterhalt, Pensions-
rechte oder Karriereaussichten. Es ist die Unterscheidung zwischen „arbeitenden“ Arbeitern
einerseits und dienstleistenden Angestellten (und Beamten) andererseits (vgl. dazu auch
Goldthorpe 1982, S. 167ff.).

Folglich werden zwei verschiedene Gruppen mit typisch verschiedenen Ar-


beitsverträgen unterschieden: „service relationship“ und „labour contract“.
Dazwischen siedelt Goldthorpe noch eine Gruppe mit „intermediate“ Arbeits-
verträgen an. Die weiteren Differenzierungen innerhalb der drei so unter-
schiedenen Untergruppen der Arbeitnehmer haben mit den erforderlichen
Qualifikationen und mit der Art der Tätigkeit (etwa: manual versus non-
manual) zu tun. Sie müssen hier nicht im Detail weiter besprochen werden.
Auf diese Weise werden, wie man aus dem Diagramm in Abbildung 4.10
sieht, insgesamt 13 „class positions“ abgeleitet. Sie spiegeln, folgt man John
H. Goldthorpe, typische Positionen, definiert über typische Tätigkeiten und
daraus ableitbaren(!) typischen Arbeitsbeziehungen mit systematischen Folgen
auch für die Chancen oder Barrieren zur Mobilität in Abhängigkeit der gesell-
schaftlichen Entwicklungen in den einzelnen Ländern, auf die sich der Ver-
gleich bezog. Die 13 „Ausgänge“ des Schemas werden dann mit römischen
Ziffern von I bis VII versehen, damit (teilweise) zu Äquivalenzklassen zu-
sammengefaßt und – vor allem – in eine vertikale Rangordnung des sozialen
Status der Akteure gebracht, die die jeweilige Tätigkeit ausüben. Das „volle“
Schema enthält dann noch 11 Klassen (I bis VII mit weiteren Unterteilungen
bei den Klassen III, IV und VII; vgl. Erikson und Goldthorpe 1992, S. 37f.).
In der obersten Klasse I etwa befinden sich dabei „higher-grade professionals,
administrators, and officials; managers in large industrial establishments; lar-
ge proprietors“, und in der Klasse V „lower-grade technicians; supervisors of
Soziale Ungleichheit 161

manual workers“. Das dann auf sieben Klassen reduzierte Klassenschema ist
das in der empirischen Forschung wohl gebräuchlichste geworden. Es sieht so
aus (Abbildung 4.11):

Klassen aus dem Bezeichnungen der Positionen und Tätigkeiten


„vollen“ Schema

I+II Service class: professionals, administrators and


managers; higher-grade technicians; supervisors
of non-manual workers

III a+b Routine non-manual workers: routine non-


manual employees in administration and
commerce; sales personnel; other rank-and-file
service workers

IVa+b Petty bourgeoisie: small proprietors and artisans,


etc., with and without employees

IVc Farmers: farmers and smallholders and other self-


employed workers in primary production

V+VI Skilled workers: low-grade technicians;


supervisors of manual workers; skilled manual
workers

VIIa Non-skilled workers: semi- and unskilled manual


workers (not in agriculture, etc.)

VIIb Agricultural labourers: agricultural and other


workers in primary produktion

Abb. 4.11: Das auf sieben Klassen reduzierte Klassenschema (nach Erikson und
Goldthorpe (1992, S. 37f.).

Deutlich wird erkennbar, daß es sich bei dem Klassenschema von John H.
Goldthorpe um mehr als bloß eine vertikale Statushierarchie handelt. Es gibt –
insbesondere mit der Berücksichtigung der beiden grundlegend verschiedenen
Arten von Arbeitsverträgen bei den Arbeitnehmern – deutlich unterschiedli-
162 Die Konstruktion der Gesellschaft

che materielle und institutionelle Vorgaben wieder, die, so kann man anneh-
men, für das sonstige alltägliche Leben und für die Interessenlage der Akteure
von hoher Bedeutung sind.

***

Mit dem Klassenschema von Wright teilt das Schema von Goldthorpe den
Anspruch, die objektive Lebenslage der Akteure zu treffen. Anders als bei
Wright ist das Klassenschema für Goldthorpe jedoch keine realistische „‚map‘
of the class structure“, sondern ein, wie er ausdrücklich schreibt, bloßes „in-
strument du travail“ (ebd., S. 46), das seine Berechtigung erst aus seinem
explanativen Erfolg bei der Analyse spezifischer Vorgänge, etwa von Mobili-
tätsprozessen, beziehen kann. Und allein deshalb ist es nicht „marxistisch“.
Aber das macht ja auch nichts weiter aus.

Die Rolle des Staates

Karl Marx kannte nur die beiden Pole „Arbeit“ und „Kapital“, und sowohl die
Schichtungsmodelle wie die Klassenschemata halten im Prinzip daran fest,
daß sich hierüber die Ungleichheitsstruktur auch einer sich wandelnden und
offenen Gesellschaft vor allem bestimmt. Nach wie vor sind Eigentum und
Erwerbsarbeit die wichtigsten Quellen des Einkommens, und davon hängt ei-
gentlich immer mehr ab, in welcher „Lage“ sich die Menschen befinden. Die
gesellschaftliche Entwicklung der modernen Industriegesellschaften ist aber
noch durch eine andere Entwicklung gekennzeichnet: die zunehmende Bedeu-
tung des Staates, sei es als Wohlfahrtsstaat mit allen seinen Zwangsabgaben
und Transferleistungen, oder sei es als Arbeitgeber für die zahllosen Beamten
und anderen Beschäftigten im sog. Öffentlichen Dienst. Manche Autoren ha-
ben daraus den Schluß gezogen, neben die Kategorien von Arbeit und Kapital
den Staat als dritten Pol im Bunde bei der Konstituierung der sozialen Un-
gleichheit systematisch einzubeziehen.19 Und das ist auch nicht unplausibel:
Die Beschäftigten im Öffentlichen Dienst, immerhin mehr als 20% aller ab-
hängig Beschäftigten hierzulande, unterliegen eher politischen Vorgaben und
bürokratischen Reglements als dem Verkauf ihrer Arbeitskraft an einen Kapi-
talisten. Und diejenigen, die – direkt oder indirekt – vom Funktionieren des
Wohlfahrtsstaates abhängen, als Sozialhilfeempfänger, als Sozialarbeiter oder

19
So insbesondere Reinhard Kreckel, Klassentheorie am Ende der Klassengesellschaft, in:
Peter A. Berger und Michael Vester (Hrsg.), Alte Ungleichheiten - Neue Spaltungen,
Opladen 1998, S. 39; vgl. dazu ausführlicher Kreckel 1992, S. 149-165.
Soziale Ungleichheit 163

als Lehrer zum Beispiel, entwickeln daher auch ganz typische Interessen, die
durchaus quer zu den „alten“ Kategorien von Kapital und Arbeit verlaufen,
auch das Interesse, daß die von ihnen betreuten Problemlagen – die von Ju-
gendlichen, Drogensüchtigen, Behinderten, geschlagenen Frauen, Ausländern,
Alten – nicht übersehen und nicht vergessen werden. Und sie sorgen, wie alle
nur etwas dauerhaften „Klassen“, dafür, daß sich ihre speziellen Interessen
auch im politischen Raum bemerkbar machen.

Exkurs über die Frage, ob die sogenannte Individualisierung über-


haupt eine ist

Damit wird deutlich, daß sich die Konzepte der sozialen Ungleichheit als Be-
schreibungen typischer „Situationslogiken“ mit dem Wandel der Gesellschaf-
ten immer auch mitändern (müssen). Und das, was einst als richtig, angemes-
sen und erklärungskräftig galt, muß es nicht für alle Zeiten sein. Die durch
gewisse gesellschaftliche Wandlungen abgeschwächte „Relevanz“ bestimmter
Einteilungen darf dabei jedoch keinesfalls mit der Vorstellung verwechselt
werden, daß es jetzt plötzlich keine sozialen Strukturen mehr gäbe und die
Menschen irgendwie „individueller“ geworden wären. Es gibt, so könnte die
Gegenthese lauten, keine Abschwächung der Strukturen, sondern andere
Strukturen, und die soziologischen Konzepte, Begriffe und Operationalisie-
rungen haben dem Rechnung zu tragen.
Was damit gemeint ist, wird durch einige Überlegungen von Walter Müller
zur Modifikation des Goldthorpeschen Klassenschemas zur Erklärung des
klassenbedingten Wahlverhaltens besonders deutlich.20 Es geht um die Frage,
ob sich die Zusammenhänge zwischen einigen sozialstrukturellen Variablen
und dem Wahlverhalten, insbesondere aber der Einfluß der Klassenzugehö-
rigkeit, abgeschwächt haben, wie es einige Interpretationen und empirische
Studien zu der These von der Individualisierung der Gesellschaft nahelegen
(siehe dazu auch noch gleich unten Abschnitt 4.4)21. Es gebe, so heißt es dort
beispielsweise, keine fest umrissenen Interessen bestimmter Gruppen mehr,
sondern immer mehr nur noch „individuelle“ Nachfragen nach politischer Par-

20
Walter Müller, Klassenstruktur und Parteiensystem. Zum Wandel der Klassenspaltung im
Wahlverhalten, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 50, 1998, S.
6ff. insbesondere.
21
Rainer Schnell und Ulrich Kohler, Empirische Untersuchung einer Individualisierungs-
hypothese am Beispiel der Parteipräferenz 1953-1992, in: Kölner Zeitschrift für Soziolo-
gie und Sozialpsychologie, 47, 1995, S. 634-657.
164 Die Konstruktion der Gesellschaft

tizipation, und die Grünen seien jene Partei, die diesen geänderten Verhältnis-
sen eine politische Artikulation habe verleihen können. Dieser Deutung wi-
derspricht Müller ganz ausdrücklich und stellt ihr die These gegenüber, daß
die empirischen Ergebnisse zur angeblich nachlassenden Erklärungskraft der
Klassenzugehörigkeit (auf das Wahlverhalten) nur dadurch gefunden würden,
daß „keine adäquaten Begriffe und Operationalisierungen verwendet wurden.“
(Ebd., S. 6)
Das zentrale Argument setzt am Konzept der Dienstklasse des Goldthorpe-
schen Klassenschemas an (ebd., S. 7f.). Die Dienstklasse ist ja jene Klasse,
deren Tätigkeit durch delegierte Autorität, spezialisiertes Wissen und Experti-
se gekennzeichnet ist und deren Angehörige deswegen besondere Arbeitsbe-
ziehungen unterhalten, zu denen insbesondere Vertrauen und Loyalität von ih-
rer Seite und eine Bezahlung auf der Basis längerfristiger Leistungen sowie
einige Vergünstigungen von der Arbeitgeberseite her gehören (vgl. dazu die
Ausführungen gerade oben zum Goldthorpe-Schema). Daraus ergebe sich, so
hatte Goldthorpe gemeint, eine im Kern konservative Einstellung und die
Tendenz zur Wahl der entsprechenden Parteien. Müller schlägt nun eine Dif-
ferenzierung der Dienstklasse vor, weil er diese Gruppe für nicht (mehr) so
homogen hält, wie das Goldthorpe offenbar annimmt.
Er unterscheidet zunächst Akteure, die tatsächlich vorwiegend delegierte Autorität ausüben,
etwa in administrativen Hierarchien, die also eine Organisation leiten, Entscheidungen für die
Organisation treffen und die Arbeit anderer in der Organisation anweisen und überwachen.
Diese Gruppe ist also in der Tat an der Macht der betreffenden Organisation beteiligt und
sollte daher auch ganz ähnliche politische Auffassungen wie die „principals“ haben, in deren
Diensten sie stehen. Müller nennt diese Klasse die administrative Dienstklasse. Daneben
werden nun diejenigen unterschieden, die in ihrer Tätigkeit spezialisiertes Wissen und Exper-
tise anwenden. Für diese Gruppe werde nicht der Bezug auf „ihre“ Organisation allein wich-
tig, sondern die Orientierung an gewissen, für ihre Tätigkeit zentralen „professionellen“ Stan-
dards. Das aber durchbricht die einfache Loyalität zur Organisation und zum jeweiligen
Prinzipal und legt eine gewisse Autonomie in der Interpretation und der Ausübung der jewei-
ligen Tätigkeit nahe. Dieser Zug der Unabhängigkeit und der „individuellen“ Gestaltung der
Tätigkeit sei nun besonders hoch bei den sog. sozialen und kulturellen Diensten, etwa in der
medizinischen Versorgung, im kulturellen Bereich, in der Kunst, in den Medien, in der
Betreuung usw. Hier wirke sich zusätzlich aus, daß zum Erfolg der jeweiligen Tätigkeit oft
die Kooperation mit den Klienten und ein besonderes Einfühlungsvermögen wichtig seien.
Diese Gruppe nennt Müller zusammenfassend soziale Dienste. Daneben gebe es natürlich
noch die Experten im Technik- und Ingenieurswesen, die auch professionelles Wissen an-
wenden und auf Autonomie dringen, aber nicht unbedingt für ihre Klienten Partei ergreifen
(müssen), wenn sie Erfolg haben wollen. Das sind die Experten in dem (neuen) Schema von
Müller.

Die Dienstklasse wird also in drei Untergruppen aufgespalten – administrative


Dienstklasse, soziale Dienste und Experten. Und jeder dieser Untergruppen
kann dann ein für sie, nach der jeweils typischen sozialen Produktionsfunkti-
on und der darüber bestimmten Logik der Situation, würden wir sagen, typi-
Soziale Ungleichheit 165

sches politisches Interesse zugeschrieben werden: Die Angehörigen der admi-


nistrativen Dienstklasse sollten über ihre Bindung an die Organisation eher
Affinitäten zu den politischen Interessen der Prinzipals haben und in der Ten-
denz eher konservativ wählen, und die Angehörigen der Klasse der Experten
und insbesondere die der sozialen Dienste sollten zu politischen Bewegungen
neigen, in denen es um die Sicherung individueller Autonomie, Schutz vor
bürokratischer Kontrolle, Gleichheitsrechte, individuelle Partizipation und de-
zentrale Entscheidungen gehe (ebd., S. 10ff.).
Die empirischen Ergebnisse zum Zusammenhang der drei Unterfraktionen
der Dienstklasse bestätigten dann diese Vermutungen weitgehend: Die Ange-
hörigen der administrativen Dienstklasse stehen in ihren Orientierungen zwi-
schen CDU und SPD und wählen wie das Kleinbürgertum, mal so und mal so,
aber nicht grün; die Experten neigen zur SPD, und die Angehörigen der sozia-
len Dienste ganz eindeutig zur Politik der sog. Neuen Linken, wie sie vor al-
lem bei den Grünen zum Ausdruck kommt (vgl. die Zusammenfassung der
Ergebnisse bei Müller 1998, S. 37f.). Die Etablierung der Grünen war also of-
fenbar alles andere als bloß die politische Organisation eines altruistischen
freischwebenden Interesses an der „Umwelt“, einer anarchischen Spontibe-
wegung oder therapiebeflissener guter Menschen, sondern der Reflex auf neu
entstandene systematische Umstände der beruflichen Tätigkeit und damit ver-
bundener typischer gesellschaftlicher Lagen und Interessen. Und weil auf-
grund dieser strukturellen Entwicklungen die Anzahl der „interessierten“ Ak-
teure stabil und groß genug war, traf das – irgendwie entstandene – „Ange-
bot“ einer grünen Partei auf eine deutliche „Nachfrage“ nach politischer Arti-
kulation und Interessenwahrnehmung. Und alles das zusammen wirkte
schließlich bei der Konstitution jenes alternativen „Milieus“ zusammen, von
dem heute die Grünen durchaus auch jenseits der bloßen Klasseninteressen
der sozialen Dienste ihre gesellschaftliche Bedeutsamkeit beziehen.
Die von Walter Müller vorgelegte Erklärung ist ein Musterstück einer situ-
ationslogischen Erklärung in der Form einer Klassenanalyse, ganz im Sinne
des Modells der soziologischen Erklärung, wie das in Kapitel 12 von Band 1,
„Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ zusammenge-
faßt wurde. Es ist eine höchst bemerkenswerte und durch und durch „soziolo-
gische“ Reaktion auf die nachhaltige Veränderung der versteckten Brücken-
hypothesen, mit denen die „alte“ Sozialstrukturanalyse lange mit Erfolg gear-
beitet hatte, nun aber an ihre Grenzen stieß, weil sich die stets nur implizit an-
genommenen Brückenhypothesen zur Konstitution der Dienstklasse und deren
Interessen nachhaltig geändert hatten und weil deshalb die Erklärung nicht
nur des Wahlverhaltens über das einfache Klassenschema von Goldthorpe
immer weniger gelang.
166 Die Konstruktion der Gesellschaft

Nicht die Auflösung der Strukturen, sondern die Änderung ihrer Inhalte
und ihre Differenzierung sind also das, was die „Modernisierung“ der Gesell-
schaft ausmacht. Mit einem bei irgendwie „autonomen“ Individuen stattfin-
denden Wertewandel, bloßer politischer Sozialisation und Individualisierung
im Sinne von Vereinzelung hat das alles, so kann man jetzt annehmen, nicht
viel zu tun. Auch bei den Grünen und Alternativen hat das Sein das Bewußt-
sein bestimmt, und die Werte und die Lebensstile, etwa die des Postmateria-
lismus und der reflexiven Selbstbestimmung, sind nur der ideologische Wi-
derschein davon gewesen.

4.4 Die neue soziale Ungleichheit

Obwohl man also sehr vorsichtig sein muß mit allen Thesen von der zuneh-
menden Irrelevanz der gesellschaftlichen Strukturen, kann jedoch auch nicht
bezweifelt werden, daß der strukturelle Wandel der Industriegesellschaften
Elemente enthält, die einen solchen Gedanken nahelegen können. Die gesell-
schaftliche Entwicklung ist ja ohne Zweifel auch durch eine weitgehende Auf-
lösung der hergebrachten ständischen Strukturen, eine starke Differenzierung
der „alten“ Klassen und eine weitgehende Entschärfung der Klassengegensät-
ze gekennzeichnet. Und diese Entwicklung ist auch nach dem Aufwachsen der
– so gar nicht – „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ der 50er und 60er Jah-
re und der Entdeckung des Schichtungskonzeptes nicht stehengeblieben.

Die Individualisierungsthese

Diese Entwicklungen in den 70er und den darauf folgenden Jahren lassen sich
unter dem Stichwort der Individualisierung zusammenfassen, mit dem Ulrich
Beck im Jahre 1983 in einem dann nachhaltig beachteten Beitrag mit dem Ti-
tel „Jenseits von Stand und Klasse“ diese schon länger verspürten Tendenzen
auf den Punkt brachte und seitdem in immer neuen Variationen essayistisch
weiterspinnt. Unter dem Begriff der „Individualisierung“ werden – mindes-
tens – sechs, teilweise sehr verschiedene, Vorgänge zusammengefaßt.22

22
Ulrich Beck, Jenseits von Stand und Klasse? Soziale Ungleichheiten, gesellschaftliche In-
dividualisierungsprozesse und die Entstehung neuer sozialer Formationen und Identitäten,
in: Reinhard Kreckel (Hrsg.), Soziale Ungleichheiten, Sonderband 2 der Sozialen Welt,
Göttingen 1983, S. 35-74. Vgl. dazu auch verschiedene Beiträge in Jürgen Friedrichs
(Hrsg.), Die Individualisierungs-These, Opladen 1998.
Soziale Ungleichheit 167

Der erste Vorgang betrifft zunächst das, was man sich vom Wortlaut des Titels des Aufsatzes
von Beck her sofort vorstellt: die weitere Entstrukturierung der sozialen Zugehörigkeiten der
Menschen, speziell die weitere Differenzierung, Dimensionierung, ja „Auflösung“ der „alten“
Kategorien der sozialen Ungleichheit von Klasse und Stand. Hinzu tritt die Hypothese von
der Entkopplung der Klassenlagen und der damit immer noch verbundenen Mentalitäten, kul-
turellen Vorlieben und Gewohnheiten, damit die von der Auflösung der klassen- und schicht-
spezifischen Subkulturen und der sogenannten „sozial-kulturellen Milieus“, etwa das sozial-
demokratische und das katholische, wie sie noch die Weimarer Republik stark geprägt ha-
ben23, sowie die der Vereinzelung der Menschen durch die Auflösung der traditionellen
Netzwerke, Verkehrskreise und Lebenswelten. Das alles umfaßt im wesentlichen das, was
Georg Simmel mit der Kreuzung der sozialen Kreise bezeichnet hat, einschließlich der „Frei-
setzung“ der Menschen aus den lebensweltlichen Bindungen und dem damit einhergehenden
Zwang, viele Entscheidungen plötzlich autonom treffen und sein Leben selbst als „Bastelexis-
tenz“ zusammenstellen zu müssen. Damit eng verbunden, aber nicht identisch, ist zweitens
die Pluralisierung, Neuentstehung und Verselbständigung bestimmter Formen der Lebensfüh-
rung, die zuvor eng an die Klassen und Stände gebunden waren, zu einer Vielzahl eigener
kultureller Milieus in Form von Lebensweisen und Lebensstilen, die letztlich immer mehr
zum Selbstzweck der Erlebnisproduktion werden (vgl. dazu auch schon Abschnitt 3.2 in die-
sem Band). Das verweist auf den dritten Vorgang: die Subjektivierung der gesellschaftlichen
Lagen. Weil sich die „objektiven“ Zugehörigkeiten immer mehr überkreuzen, sich immer ra-
scher wandeln und sonstwie verdünnen, komme es mehr und mehr darauf an, wie die Men-
schen ihre Situation selbst erleben, interpretieren, verarbeiten und so einen eigenen Weg fin-
den. Ein Korrelat dieses Vorgangs ist die Entstehung und Verbreitung der Einstellung des
„Individualismus“, die Betonung des Wertes der einzelnen Person und deren „Individualität“
und das Zurücktreten von Kollektivgefühlen und auf das Ganze bezogener Solidaritäten. Vor
dem Hintergrund aller dieser Entwicklungen treten viertens mit anderen gesellschaftlichen
Entwicklungen, wie die Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit, der Ehescheidungen oder der
grenzüberschreitenden Arbeitsmigration, „neue“ Formen der sozialen Ungleichheit in den
Blick: Ungleichheiten nach Geschlecht, nach Alter und Generationenzugehörigkeit, nach Fa-
milienstand, nach Region und nach nationaler oder ethnischer Zugehörigkeit. Die Gemein-
samkeit dieser „neuen“ Kategorien der sozialen Ungleichheit ist die, daß zuvor durch die gro-
ben Gußformen von Stand und Klasse alle anderen Unterschiede, etwa die der demographi-
schen Ungleichheit, sozusagen überrollt wurden, obwohl es sie natürlich immer schon gab.
Aber, etwa, mit dem Ende des bürgerlichen Patriarchismus wird aus der Familie und einem
Haushaltsvorstand, der alles für die ganze Familie entschied, eine komplexe Organisation
(mindestens) zweier selbständiger Individuen, die sich jeweils für sich in einer nun ganz ei-
genen „Klassenlage“ befinden: Männer und Frauen eben. Ähnliches gilt für die anderen Ka-
tegorien der demographischen Ungleichheit: Sie werden zunehmend wichtiger als nunmehr
relevant gewordene Parameter der Situation. Die fünfte Entwicklung ist eine der Ursachen für
alle diese Prozesse der Freisetzung und Pluralisierung: die allgemeine Wohlfahrtssteigerung
durch die Ausweitung der ökonomischen Produktion und den dadurch möglichen „Fahrstuhl-
effekt“ eines kollektiven Aufstiegs. Dadurch erweitern sich die Optionen, etwa für einen Ur-
laub in der Karibik, für fast alle Schichten. Das läßt die unteren Schichten und die Eliten in
durchaus „nivellierender“ Weise aneinanderrücken – und bei „denen da oben“ den Bedarf an
Distinktion deutlich ansteigen. Das alles geschieht aber, man sollte es nicht vergessen, auf ei-
nem Sockel der „Unterschichtung“ der Gesellschaft durch inzwischen fast 10% an Auslän-
dern und deren Familien, für die der Luxus der Erlebnisgesellschaft in keiner Weise gilt. Der

23
Vgl. dazu M. Rainer Lepsius, Parteiensystem und Sozialstruktur: zum Problem der De-
mokratisierung der deutschen Gesellschaft, in: Gerhard A. Ritter (Hrsg.), Deutsche Partei-
en vor 1918, Köln 1973, S. 56-80.
168 Die Konstruktion der Gesellschaft

sechste Vorgang schließlich sieht wie das Gegenteil von „Individualisierung“ aus. Es ist die
Entstehung eines gewissen, alle Gruppen erfassenden gemeinsamen Schicksals, teils im Gu-
ten, teils im Bösen. Eher im Guten ist das die Etablierung des Wohlfahrtsstaates gewesen, der
die Ungleichheiten wenigstens etwas eingeebnet hat. Im Bösen sind es dagegen die inzwi-
schen globalen Gefahren und Risiken der Umweltzerstörung, atomarer Unfälle und weltwei-
ter kriegerischer Auseinandersetzungen. Davon werden die Akteure unterschiedslos getrof-
fen: Jeder stirbt für sich allein. Dazu treten die Entwicklungen, die inzwischen als Globalisie-
rung bezeichnet werden – das Entstehen von weltumspannenden, vor allem ökonomischen In-
terdependenzen, von denen man nicht so eindeutig sagen kann, ob sie eher gut oder böse sind.

Für die soziologische Befassung mit diesen neuen Entwicklungen hat das
zwei Folgen gehabt. Das ist erstens eine enorme Konjunktur von theoreti-
schen und empirischen Beiträgen zum Thema der sog. neuen sozialen Un-
gleichheit, bei denen es vor allem um die Fragen ging, ob die Thesen von der
Entstrukturierung und Individualisierung wirklich stimmen, was wirklich neu
wäre an der neuen sozialen Ungleichheit, und wer von den bekannteren Sozio-
logen – Georg Simmel, Peter M. Blau oder Anthony Giddens etwa – sich da-
mit vielleicht früher schon befaßt hätte.24 Und zweitens eine ebenso starke
Konjunktur von empirischen Beiträgen zur weiteren Entstrukturierung der „al-
ten“ Klassengesellschaft und vor allem zur sog. Milieu- oder Lebensstilfor-
schung und der Entdeckung immer neuer Gruppen mit typischen Formen der
Stilisierung von Geschmack und Kultur.
Wir werfen hier nur einen kurzen Blick auf die empirischen Untersuchun-
gen zu den „neuen“ Formen der sozialen Ungleichheit und zu den dabei vor-
genommenen Änderungen der Schichtungsmodelle bzw. Klassenschemata,
nicht zuletzt weil das Feld derzeit sehr im Fluß ist. Dabei sind zwei verschie-
dene Arten von Herangehensweisen sichtbar geworden (vgl. Geißler 1996, S.
79ff.): das Konzept der sog. sozialen Lagen und das der sog. sozialen Milieus.

24
Vgl. etwa Peter A. Berger, Entstrukturierte Klassengesellschaft? Klassenbildung und
Strukturen sozialer Ungleichheit im historischen Wandel, Opladen 1986; Stefan Hradil,
Individualisierung, Pluralisierung, Polarisierung: Was ist von den Schichten und Klassen
geblieben?, in: Robert Hettlage (Hrsg.), Die Bundesrepublik. Eine historische Bilanz,
München 1990, S. 111-138; Peter A. Berger und Stefan Hradil, Die Modernisierung sozi-
aler Ungleichheit – und die neuen Konturen ihrer Erforschung, in: Peter A. Berger und
Stefan Hradil (Hrsg.), Lebenslagen, Lebensläufe, Lebensstile, Sonderband 7 der Sozialen
Welt, Göttingen 1990a, S. 3-24; Hans-Peter Müller, Sozialstruktur und Lebensstile. Der
neuere theoretische Diskurs über soziale Ungleichheit, Frankfurt/M. 1992; sowie ver-
schiedene Beiträge bei Peter A. Berger und Michael Vester, Alte Ungleichheiten – Neue
Spaltungen, Opladen 1998.
Soziale Ungleichheit 169

Soziale Lagen

Das Konzept der sozialen Lagen strebt eine systematische Einbeziehung der
inzwischen als relevant wahrgenommenen Dimensionen der „neuen“ sozialen
Ungleichheit an. Es geht auf Überlegungen und lange Vorarbeiten von Wolf-
gang Zapf zurück.25 Neben den „klassischen“ Kategorien der Klassenschema-
ta nach Berufsgruppen, werden jetzt auch nicht-erwerbstätige Personen, wie
Arbeitslose, Studenten und Rentner, Männer und Frauen und Ausländer als
eigene Kategorien aufgeführt (vgl. Tabelle 4.2). Weiterhin werden die Berufs-
tätigkeiten in ihrer vertikalen Dimension betrachtet, sowie die damit verbun-
denen Einkommensflüsse, jeweils gesondert für die horizontalen Dimensionen
der Geschlechter und der Ausländer. Eine wichtige Besonderheit ist dann
noch der Einbezug der subjektiven Befindlichkeiten, der Lebenszufriedenheit
und der Zukunftserwartungen, in die Beschreibung der verschiedenen sozialen
Lagen. Das ist nur folgerichtig: Wenn die „objektiven“ gesellschaftlichen La-
gen immer weniger verbindlich werden, dann kommt es zunehmend auf die
subjektiven Einstellungen der Menschen an.
Auffällig ist bei dieser Art der Beschreibung der sozialen Ungleichheit die
Vielzahl der sozialen Lagen, die durch die Kreuzung der vertikalen mit meh-
reren horizontalen Dimensionen erzeugt wird. Was vorher bei den Schich-
tungsmodellen und den Klassenschemata noch implizit geblieben war, die ho-
rizontale Dimension der sozialen Ungleichheit, wird mit dem Modell der so-
zialen Lagen explizit gemacht. Ob diese Dimensionen dann auch „Relevanz“
haben, müßte sich an systematischen Unterschieden zeigen. Die gibt es ohne
Zweifel beim Einkommen, dagegen sehr viel weniger für die Lebenszufrie-
denheit. Und das ist auch nicht weiter verwunderlich, weil sich die (Un-)Zu-
friedenheiten der Menschen an ihren Nahumwelten und Bezugsgruppen zu o-
rientieren pflegen und weil nicht die absolute, sondern die relative Deprivati-
on für die subjektive Befindlichkeit entscheidend ist (vgl. dazu auch noch
Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“).

25
Vgl. Wolfgang Zapf, Sozialstruktur und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik
Deutschland, in: Werner Weidenfeld und Hartmut Zimmermann (Hrsg.), Deutschland-
Handbuch. Eine doppelte Bilanz 1949-1989, Bonn 1989, S. 99-124.
170 Die Konstruktion der Gesellschaft

Tabelle 4.2: Soziale Lagen in Westdeutschland (nach Zapf 1989, S. 113)

Haushaltsnetto- Lebenszufrieden- Ausländeranteil


einkommen, heit (Skala 0 – 10) in %
in DM
Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen
Führende Angestellte 5765 5770 7,5 7,9 2,0 13,9
Höhere Beamte 4867 4242 7,3 8,1 1,3 1,5
Hochqualifizierte 4353 3502 7,5 7,8 2,5 1,3
Angestellte
Gehobene Beamte 4332 4970 7,7 7,1 - -
Qualifizierte Angestellte 3662 4002 7,3 7,2 3,2 2,4
Einfache, mittlere Beamte 3391 3718 7,4 7,6 - -
Einfache Angestellte 2889 3844 7,2 7,1 4,7 2,0
Vorarbeiter, Meister 4000 4245 7,2 7,5 7,2 10,7
Facharbeiter 3184 4307 7,3 7,3 11,3 5,4
Un-, angelernte Arbeiter 2821 3089 6,9 6,9 33,4 17,2
Freie Berufe 4234 6508 6,7 7,2 4,9 13,2
Sonstige Selbständige 4490 3571 6,6 7,2 4,2 1,7
Landwirte 3659 5681 6,2 6,3 - -
Mithelfende 2828 3574 7,7 6,3 17,2 1,8
Familienangehörige
Azubis/Studenten/ 3589 3804 7,0 6,7 2,9 3,2
Bundeswehr
Nicht-Erwerbstätige 2089 3158 5,1 7,1 18,7 5,0
1
Nicht-Erwerbstätige 3501 2936 6,7 7,1 5,9 16,3
Noch-Erwerbstätige 3820 2821 7,8 7,6 18,7 7,7
Nicht-Erwerbstätige/
2
2343 2785 7,1 6,8 - -
Selbständige
Nicht-Erwerbst./Beamte 3289 3128 8,4 7,7 - -
Nicht- 2
2742 2285 7,4 7,3 1,9 -
Erwerbst./Angestellte 2128 1893 7,1 7,2 3,4 0,7
2
Nicht-Erwerbst./Arbeiter
1
Sonstige 2693 2069 5,7 6,8 - 0,3

1 Niemals erwerbstätig
2 Bzw. frühere Stellung/ frühere Stellung des Ehemanns
Soziale Ungleichheit 171

Soziale Milieus

Sehr viel bunter sehen die – inzwischen fast zur lästigen Mode gewordenen –
Untersuchungen zu den sozialen Milieus aus. Hier geht es, ganz anders als in
der klassischen Ungleichheitsforschung, zuerst um die subjektiven Befind-
lichkeiten, Werte, Bewußtseinsformen und Lebensstile der Menschen. Und
dann wird – unter Umständen – danach gesucht, ob sich die dann auch in ir-
gendwelchen „objektiven“ Lagen wiederfinden lassen, etwa nach den sozialen
Schichten der traditionellen Ungleichheitsforschung. Daraus ergeben sich
dann Diagramme, in denen die vertikale Dimension der „alten“ sozialen Un-
gleichheiten mit diversen horizontalen Dimensionen der subjektiven Orientie-
rungen und Werte gekreuzt werden. Eines der bekanntesten dieser Diagramme
ist das der sog. SINUS-Studie, ein nach kaum nachvollziehbaren Methoden
gewonnenes zweidimensionales Tableau von verschiedenen „Milieus“. Es ist,
leicht vereinfacht, für die westdeutsche Bevölkerung (für die 90er) Jahre in
Abbildung 4.12 wiedergegeben.26
Wir wollen die inhaltlichen (und die methodischen) Einzelheiten der Dar-
stellung hier nicht weiter diskutieren. Es gibt inzwischen eine Unzahl von
ähnlich vorgehenden Untersuchungen, reichlich auch aus dem Bereich der
Freizeit- und Konsumforschung, mit teilweise ganz anderen Ergebnissen.27
Manche Ergebnisse, auch die der SINUS-Studie, sind allzu trivial, wie etwa
das, daß sich das Arbeitermilieu unten befindet und die verschiedenen „geho-
benen“ Milieus oben. Immerhin läßt sich, wenn man den Methoden der Auto-
ren trauen darf, aber festhalten, daß es tatsächlich so etwas gibt wie die Ent-
kopplung von objektiver gesellschaftlicher Lage und den subjektiven Befind-
lichkeiten. Jedoch findet man auch weiterhin recht starke Bindungen der Ori-
entierungen an die „vertikale“ Dimension der Möglichkeiten. Hedonisten gibt
es zwar, so können wir dem Diagramm entnehmen, in fast allen Schichten,
aber es gibt ein auf die oberen Schichten begrenztes konservatives Milieu.
Auch die postmaterialistischen Alternativen kommen geschlossen aus den
besseren Kreisen. Und die untere rechte Ecke ist ganz frei. Postmoderne Un-

26
Vgl. die Beschreibung der Milieus bei Jörg Ueltzhöffer und Bodo Berthold Flaig, Spuren
der Gemeinsamkeit? Soziale Milieus in Ost- und Westdeutschland, in: Werner Weiden-
feld (Hrsg.), Deutschland. Eine Nation – doppelte Geschichte. Materialien zum deutschen
Selbstverständnis, Köln 1993, S. 61-81.
27
Vgl. dazu die kritische Übersicht bei Peter Hartmann, Lebensstilforschung, Opladen 1999.
Siehe für eine theoretische Begründung vor dem Hintergrund der traditionellen Ungleich-
heitsforschung: Gunnar Otte, Auf der Suche nach „neuen sozialen Formationen und Iden-
titäten“ – Soziale Integration durch Klassen oder Lebensstile?, in: Friedrichs 1998, S.
190ff.
Soziale Ungleichheit 173

Karl Marx müßte sich, so sollte man denken, im Grabe herumdrehen, wenn er
erführe, daß nur 12% der Arbeiter traditionslos seien und die Kleinbürger
mehr als ein Fünftel der westdeutschen Bevölkerung in den 90er Jahren des
20. Jahrhunderts ausmachen. Und das erst recht, wenn er mitbekäme, daß der
Kapitalismus in seiner Entfaltung die objektiven Widersprüche nicht nur nicht
zugespitzt und überwunden hat, sondern ganz offensichtlich mit seiner Wohl-
standsproduktion die Freiräume bereitstellt, die es jedem, fast ganz egal aus
welcher Schicht oder Klasse er kommt, erlaubt, seinen eigenen Stil zu pflegen
und es ihm möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, wie er gerade
Lust hat, und nur daran interessiert zu sein, möglichst viel zu erleben (vgl. da-
zu auch noch den Exkurs über Entfremdung im Anschluß an Kapitel 9 in die-
sem Band). Aber nach dem ersten Schock müßte er sich eigentlich auch
bestätigt fühlen können. Denn die Lebensstile und die Werte spiegeln ja of-
fenbar nichts anderes als spezielle Bedingungen der materiellen Reproduktion
der Menschen in den in der Tat etwas turbulenten Gesellschaften des entfalte-
ten Kapitalismus, so wie das etwa Walter Müller für die unterschiedlichen
Verhältnisse bei der sog. Dienstklasse beim Wahlverhalten gezeigt hat, je
nachdem ob es sich um die administrative Dienstklasse, die Experten oder die
sozialen Dienste gehandelt hat.
Erneut wird für das systematische Verständnis der Zusammenhänge hier das Konzept der so-
zialen Produktionsfunktionen wichtig. Zum Postmaterialisten wird man ja nicht aus gusto,
sondern vielleicht auch dadurch, daß man auf seiner Position im Beruf erlebt und lernt, wie
wichtig Einfühlungsvermögen und Sensibilität, etwa für den Verkaufserfolg oder für die
Betreuung von Klienten sind, erst vielleicht nur als Mittel, dann aber auch bald als Teil der
Codierung des jeweiligen sozialen Systems, etwa das einer Werbeagentur oder der Sozialar-
beit. Kurz: Wenn das Sein der Codierungen der Systeme schließlich auch das Bewußtsein der
Orientierungen bestimmt und wenn im Postkapitalismus das Sein wirklich differenzierter und
„individueller“, „reflexiver“ und einfühlsamer geworden ist, dann muß es nicht verwundern,
wenn das auch für die Formen des Bewußtseins und die Stilisierungen des Lebens gilt.

Außerdem ist es nach wie vor so, daß sich der Geschmack und das kulturelle
Kapital, etwa des Kunstverstandes, deutlich nach den objektiven Lebenslagen
und den darin möglichen Erfahrungen strukturiert. Wer zuhause keine Sona-
ten gehört hat, wird später klassische Musik kaum mögen, weil er sie nicht
„versteht“ (vgl. dazu auch noch Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“,
dieser „Speziellen Grundlagen“ und das dort ausführlicher behandelte Kon-
zept des kulturellen Kapitals). Daher verteilen sich die Lebensstile weiterhin
vor allem nach der Bildung.28 Heino liebt man eben unter Akademikern im-
mer noch nicht, es sei denn wieder als Kultobjekt mit der dazugehörigen iro-

28
Vgl. dazu Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart,
Frankfurt/M. und New York 1992, Kapitel 3.
174 Die Konstruktion der Gesellschaft

nisierenden Distanz und dem Gestus der bildungsbürgerlichen Arroganz und


Überheblichkeit gegen die da unten. Und innerhalb der jeweiligen Bildungs-
schichten gibt es auch oft gnadenlosen Druck, den betreffenden Stil mitzuma-
chen: Wehe, wer unter den Professoren nicht sofort in die van Gogh-
Ausstellung eilt, wenn just eine da stattfindet, wo er gerade auf einer Tagung
seine neuesten Forschungsergebnisse vorgetragen hat, alle begeistert waren
und er danach eigentlich nur noch das Eine braucht: ein großes Bier. Man
kann es auch so sagen: Auch wenn die Geschichtsphilosphie von Karl Marx
nicht gestimmt hat, muß das nicht heißen, daß seine Idee von der prägenden
Kraft der Produktionsverhältnisse auch falsch gewesen ist oder unter den
komplexen Verhältnissen der modernen Gesellschaften unanwendbar gewor-
den wäre. „Produktionsverhältnisse“ ist ja nur ein anderes Wort für „soziale
Produktionsfunktionen“. Und wenn die sich wandeln und differenzieren, dann
ändert und differenziert sich natürlich auch das Verhalten und das Bewußtsein
der Menschen, nicht anders als das im klassischen Konzept der sozialen Klas-
se für zunächst noch recht einfache Verhältnisse angenommen wurde.

***

Die Untersuchungen zu den neuen Formen der sozialen Ungleichheit verwei-


sen auf eine weitere, bisher kaum wahrgenommene gesellschaftliche Entwick-
lung. Die Strukturen der sozialen Ungleichheit wurden bisher nahezu aus-
schließlich über die funktionale Differenzierung der Gesellschaften erzeugt.
Noch die Klassenschemata halten daran strikt fest, die Schichtungsmodelle
mit ihren „horizontalen“ Erweiterungen tun das schon weniger. Neuerdings
wird aber deutlich, daß relevante, das Handeln bestimmende, Ungleichheiten
auch aus den anderen Formen der sozialen Differenzierung entstehen können,
aus der kulturellen wie aus der normativen Differenzierung also. Bei den neu
entstandenen Subkulturen der Migranten und ethnischen Minderheiten ist das
beispielsweise der Fall. Die kulturellen Milieus und die Devianz-Bereiche tre-
ten also mindestens neben die immer noch deutlich wirksamen Strukturierun-
gen aus der Beteiligung der Akteure an den funktionalen Sphären der Gesell-
schaft. Ungeklärt ist aber weiter die Frage, ob das auch ein Wechsel in der
Dominanz der funktionalen Sphären gegenüber den kulturellen und normati-
ven Systemen ist. Das wäre kaum zu glauben.
Soziale Ungleichheit 175

4.5 Statuszuweisung und Mobilität

Die soziale Ungleichheit in einer Gesellschaft ist die Folge der Plazierung der
Akteure auf bestimmten Positionen in den verschiedenen sozialen Systemen
einer Gesellschaft, insbesondere in den Funktionssystemen und funktionalen
Sphären (vgl. dazu schon Abschnitt 4.1 sowie noch ausführlich Kapitel 5 über
„Inklusion und Exklusion“ in diesem Band). Diese Plazierung auf Positionen
wird auch als Statuszuweisung oder als Statuseinnahme und in der englisch-
sprachigen Literatur als status attainment bezeichnet. Da die Akteure eine be-
rufliche Biographie durchlaufen und sterblich sind, muß es einen Austausch
der Akteure auf den verschiedenen sozialen Positionen geben, etwa im Ver-
gleich zwischen zwei Generationen. Dabei kann es dann natürlich auch zu
Veränderungen in den Verteilungen über die verschiedenen Berufgsgruppen
bzw. Klassenkategorien kommen. Derartige Änderungen in der Besetzung
von Positionen durch Akteure werden ganz allgemein auch als soziale Mobili-
tät bezeichnet. Untersuchungen zur Statuszuweisung und zur sozialen Mobili-
tät bilden bis heute einen großen Teil der soziologischen Analyse der sozialen
Ungleichheit, und sie sind einer der interessantesten Zweige der international
vergleichenden Sozialforschung geworden.29

29
Vgl. zu diesen beiden Problembereichen u.a. die folgenden Übersichten und Zusammen-
stellungen etwa bei Heller 1969, Teil V: Social Mobility, S. 309-373; bei Grusky 1994,
Teil IV: Generating Stratification, S. 245-393; oder bei Kerbo 1996, Kapitel 11: Social
Mobility: Class Ascription and Achievement, S. 325- 366. Siehe zu einer Übersicht über
die Forschungstradition zum Thema auch Karin Kurz und Walter Müller, Class Mobility
in the Industrial World, in: Annual Review of Sociology, 13, 1987, S. 417-442. Eine ein-
fache Einführung in den Problembereich bietet Thomas A. Herz, Klassen, Schichten, Mo-
bilität, Stuttgart 1983, Kapitel 6: Soziale Mobilität, S. 152-225. Siehe für empirische Un-
tersuchungen, insbesondere vergleichender Art, den frühen Beitrag von Seymour M.
Lipset und Reinhard Bendix, Social Mobility in Industrial Society, London, Melbourne
und Toronto 1959; sowie neuderdings u.a. Erikson und Goldthorpe 1992; Esping-
Andersen 1993 oder Shavit und Blossfeld 1993. Vgl. für die (west-)deutsche Situation:
Walter Müller, Soziale Mobilität: Die Bundesrepublik im internationalen Vergleich, in:
Max Kaase (Hrsg.), Politische Wissenschaft und politische Ordnung. Analysen zu Theorie
und Empirie demokratischer Regierungsweise. Festschrift zum 65. Geburtstag von Rudolf
Wildenmann, Opladen 1986, S. 339-354. Vgl. zur Modellierung des Prozesses der Status-
übernahme und der Reproduktion sozialer Ungleichheit über Vorgänge der Statuseinnah-
me insbesondere noch Raymond Boudon, Education, Opportunity, and Social Inequality.
Changing Prospects in Western Society, New York u.a. 1974, Kapitel 1; Aage B. Søren-
sen, The Structure of Inequality and the Process of Attainment, in: American Sociological
Review, 42, 1977, S. 965-978; oder Hubert M. Blalock, Jr., Understanding Social Inequa-
lity. Modeling Allocation Processes, Newbury Park, London und New Delhi 1991. Siehe
dazu auch noch Abschnitt 7.1 unten in diesem Band.
176 Die Konstruktion der Gesellschaft

4.5.1 Mobilität

Wir beginnen mit der Analyse von Prozessen der Mobilität. In einer der ersten
soziologischen Arbeiten zu dem Problem heißt es:
„By social mobility is understood any transition of an individual or social object or value –
anything that has been created or modified by human activity – from one social position to
another.“30

Es geht also um den Wechsel, den gewisse individuelle oder soziale „Objek-
te“ durchlaufen, indem sie bestimmte „Positionen“ ändern. Es gibt vor diesem
allgemeinen Hintergrund eine Reihe ganz unterschiedlicher Prozesse der Mo-
bilität (siehe dazu auch gleich unten mehr). Im Zusammenhang des Problems
der sozialen Ungleichheit ist häufig jedoch der Wechsel von Akteuren in den
beruflichen Positionen gemeint. Worum es dabei geht, läßt sich am anschau-
lichsten über die sog. Mobilitätstabellen beschreiben. David L. Featherman
und Robert M. Hauser finden beispielsweise für die USA und für das Jahr
1973 in ihrer Stichprobe die folgenden Verteilungen im Beruf der Söhne von
Vätern bestimmter Berufe:31
Die Tabelle läßt sich in ganz unterschiedlicher Weise lesen. Interessant
sind zunächst schon die Randverteilungen, denn sie geben die jeweiligen
„strukturellen“ Verhältnisse und die Änderungen zwischen den beiden Gene-
rationen an – eine soziologisch höchst bedeutsame Information über die
Struktur der sozialen Ungleichheit auch schon unabhängig von dem Gesche-
hen im „Innern“ der Tabelle. Man sieht allein bereits an den absoluten Zahlen
deutlich die Veränderungen in der Ungleichheitsstruktur der beruflichen Sek-
toren: Die Anzahl der Landwirte ist drastisch gesunken (von 4650 bei den Vä-
tern auf 2265 bei den Söhnen) und die der oberen Klassen hat zugenommen,
etwa bei den upper-nonmanuals von 2920 auf 4101 (siehe dazu auch noch
gleich unten zu den „strukturellen Begrenzungen“). Dann ist das „innere“ Ge-
schehen natürlich auch äußerst bemerkenswert: Es beschreibt innerhalb des

30
Pitirim A. Sorokin, Social and Cultural Mobility, Glencoe, Ill., und London 1959 (zuerst:
1927), S. 133; Hervorhebungen nicht im Original.
31
Aus David L. Featherman und Robert M. Hauser, Opportunity and Change, New York,
San Francisco und London 1978, S. 41ff; siehe ebd. S. 150. Die aufgeführten Kategorien
fassen verschiedene Berufsgruppen zusammen, die in etwa den Klassen des Goldthorpe-
Schemas entsprechen, das wir in Abschnitt 4.3 oben besprochen haben, und zwar so: Die
upper nonmanuals entsprechen den Klassen I und II, die lower nonmanuals den Klassen
III, IVa und IVb, die upper manuals den Klassen V und VI, die lower manuals der Klasse
VIIa und die Kategorie „farm“ den Klassen IVc und VIIb. Die Anordnung der Klassen
läßt sich auch als eine ordinale Rangfolge ansehen, wenn man, was nicht ganz abwegig
ist, die Bauern und die Landarbeiter ganz unten ansiedelt.
Soziale Ungleichheit 177

Rahmens der strukturellen Grenzen, die die Randverteilungen vorgeben, die


Art der Plazierung der Kinder aus den Familien mit typischer sozialer Her-
kunft.

Tabelle 4.3: Plazierung auf berufliche Positionen zwischen zwei Generationen für die
USA im Jahre 1973 (nur Männer im Alter zwischen 20 und 64)

berufliche Position Sohn


berufliche upper lower upper lower
Position Vater nonman. nonman. manual manual farm alle
upper nonmanual (1414) 521 302 643 40 2920
lower nonmanual 724 (524) 254 703 48 2253
upper manual 798 648 (856) 1676 108 4086
lower manual 756 914 771 (3325) 237 6003
farm 409 357 441 1611 (1832) 4650
alle 4101 2964 2624 7958 2265 19912

Statusvererbung, Aufstieg und Abstieg

Man kann die Tabelle in drei Sektoren unterteilen, in denen es jeweils ein
ganz typisches Geschehen gibt. Das sind erstens die Werte in der Diagonalen.
Sie sind zur besseren Übersicht mit Klammern versehen. Die Werte in der Di-
agonalen beschreiben die Statusvererbung bzw. die Selbstrekrutierung der je-
weiligen Klassen. Beispielsweise stammen 3325 Söhne in der lower-manual-
Klasse selbst schon aus der lower-manual-Klasse, und 1414 der upper-
nonmanual-Klasse entsprechend ebenfalls. Die Region links unterhalb der Di-
agonalen beschreibt dann zweitens die sozialen Aufstiege: Die Söhne sind in
eine höhere Klasse gekommen als ihre Väter. So sind 756 Söhne aus lower-
manual-Familien in die upper-nonmanual-Klasse aufgestiegen, und 1611 Far-
merskinder zu lower-manuals geworden, was natürlich kein besonderer „Auf-
stieg“ war. Aber immerhin. Entsprechend finden sich in der Region rechts o-
berhalb der Diagonalen drittens die sozialen Abstiege, wie etwa die 40 „Aus-
steiger“ aus der upper-nonmanual-Klasse, die Landwirt geworden sind, oder
jene 254 Personen aus der lower-nonmanual-Gruppe, die in die upper-manual-
Klasse gewechselt sind und dabei einen Statusverlust haben hinnehmen müs-
sen.
178 Die Konstruktion der Gesellschaft

Abstrom- und Zustrommobilität

Auf den ersten Blick werden so schon einige interessante Zusammenhänge


erkennbar, wie die extrem wenigen Wechsel von nahezu allen Gruppen zur
Landwirtschaft oder das starke Verbleiben der Oberschichten und der Unter-
schichten, besonders aber der Landwirte, in ihrer Gruppe über die Generatio-
nen hinweg. Aber die absoluten Zahlen sind doch recht unübersichtlich. Zu
einem klareren Bild über die Muster von Aufstieg, Abstieg und Statusverer-
bung bzw. Selbstrekrutierung können die sog. Abstrom- bzw. Zustromtabelle
führen. Die Abstromtabelle betrachtet dabei die soziale Herkunft der Söhne als
Bezugspunkt und beschreibt in Anteilen der jeweiligen Herkunftsklasse der
Väter die Besetzungen der Klasse, in der die Söhne angelangt sind. Die Ab-
stromtabelle ist also zeilenweise prozentuiert. Bei der Zustromtabelle ist der
Ort der sozialen Plazierung der Söhne der Bezugspunkt, und es werden die
Anteile der Klassen beschrieben, aus denen die Väter der Söhne stammen, die
in eine bestimmte Klasse gelangt sind. Die Zustromtabelle wird daher spal-
tenweise prozentuiert. Die jeweilige Art der Mobilität wird entsprechend als
Abstrommobilität bzw. Zustrommobilität bezeichnet. In Tabelle 4.4 sind die
entsprechenden Werte aufgeführt.
Bei der Abstrommobilität fällt zunächst auf, daß in vielen, wenngleich
nicht allen Fällen die stärksten Abströme wieder in die eigene Klasse führen;
die Werte in der Diagonalen sind (meist) die höchsten. Am stärksten ist der
Abstrom in die eigene Klasse bei den lower manuals und den upper-
nonmanuals. Und es wird auch deutlich, daß der Abstrom in benachbarte
Klassen stärker ist als „Sprünge“ über mehrere Stufen hinweg: Der Apfel fällt
offenbar tatsächlich nicht sehr weit vom Stamm, falls er denn überhaupt fällt,
und die Beharrung ist an den „Ecken“ des Ungleichheitssystems durchweg,
wenngleich nicht ausnahmslos, am stärksten (siehe dazu auch noch unten zu
den sog. Mobilitätsregimes). Bei den Landwirten ist noch bemerkenswert, daß
sie zu einem relativ großen Anteil in die lower-manual-Klasse wechseln – ei-
ne Folge des strukturellen Zwangs aus der Schrumpfung des Sektors der
Landwirtschaft insgesamt und der für sie offenbar hohen Hürden für einen
weitergehenden Aufstieg.
Bei den Zuströmen sieht es nicht viel anders aus: Am stärksten sind sie
meist wieder aus den eigenen Reihen, und auch nun wieder an den Ecken be-
sonders. Diesmal sieht man außerdem mit 80.9% eigenem Zustrom eine ganz
extreme Selbstrekrutierung der Landwirte. Auf den ersten Blick erscheint das
als doch seltsam viel. Aber es ist leicht einzusehen: Offenbar war nach dem
Schrumpfen des landwirtschaftlichen Sektors das „Angebot“ an Landwirts-
söhnen sehr viel höher als die verbliebene „Nachfrage“ danach, so daß sich
Soziale Ungleichheit 179

ohnehin erst einmal zahlreiche Söhne von Landwirten einen anderen Beruf
suchen mußten (und in den lower-manual-Berufen auch fanden) und kaum
jemand von außen hineingekonnt hätte, wenn es denn jemand überhaupt ge-
wollt hätte. Und so bleibt der Rest der Bauern und Landarbeiter, der es nicht
nach draußen schafft, unter sich.

Tabelle 4.4: Abstrom- und Zustrommobilität für die Daten aus Tabelle 4.3

a. Abstrommobilität

berufliche Position Sohn


berufliche upper lower upper lower
Position Vater nonman. nonman. manual manual farm Summe
upper nonmanual (48.4) 17.8 10.4 22.0 1.4 100.0
lower nonmanual 32.1 (23.2) 11.3 31.3 2.1 100.0
upper manual 19.5 15.9 (20.9) 41.1 2.6 100.0
lower manual 12.7 15.3 12.8 (55.3) 3.9 100.0
farm 8.8 7.7 9.5 34.6 (39.4) 100.0
alle 20.5 14.9 13.2 40.0 11.4 100.0

b. Zustrommobilität

berufliche Position Sohn


berufliche upper lower upper lower
Position Vater nonman. nonman. manual manual farm alle
upper nonmanual (34.5) 17.6 11.5 8.1 1.8 14.7
lower nonmanual 17.7 (17.7) 9.7 8.8 2.1 11.3
upper manual 19.4 21.9 (32.6) 21.1 4.8 20.5
lower manual 18.4 30.8 29.4 (41.8) 10.5 30.1
farm 10.0 12.0 16.8 20.2 (80.9) 23.3
Summe 100.0 100.0 100.0 100.0 100.0 100.0

Mover und Stayer

Faßt man die Absolutwerte auf der Diagonalen in Tabelle 4.3 zusammen,
dann erhält man die Anzahl der Familien mit Statusvererbung. Das sind hier
180 Die Konstruktion der Gesellschaft

7951 Fälle, die auch als Stayers bezeichnet werden. Der Rest, insgesamt also
11961 der insgesamt 19912 Akteure, sind dann Movers. Von den Movers sind
wiederum 7429 Aufsteiger (alle Fälle unterhalb der Diagonalen) und 4532
Absteiger (alle Fälle oberhalb der Diagonalen). Das ergibt in Anteilen der Ge-
samtpopulation von 19912 Fällen einen Wert von 39.9% an Statusvererbung
und von 60.1% an „Bewegungs“-Mobilität, mit 37.3% Aufsteigern und 22.8%
Absteigern.

Offene Gesellschaft?

Für eine „offene“ Gesellschaft, wie es die USA, wenigstens im Vergleich und
nach ihrem Selbstverständnis sind, sind die hohen Raten an Statusvererbung,
gerade in den „Ecken“ des Systems, schon erstaunlich. Aber es ist auch er-
sichtlich, daß zwischen den beiden Generationen jeweils die Aufstiege aus ei-
ner Klasse in eine bestimmte andere häufiger waren als die entsprechenden
Abstiege. Die jeweils vergleichbaren Werte im Dreieck unter der Diagonalen
der Zustromtabelle in Tabelle 4.4b sind jedenfalls immer größer als im oberen
Dreieck. Das „System“ der Gesellschaft hat sich also durchaus geöffnet und
den Angehörigen der unteren Klassen den Weg nach oben geebnet, wenn-
gleich nicht im Sinne völlig „unbegrenzter“ Möglichkeiten. Und es gibt trotz
dieses „kollektiven“ Aufstiegs auch einen mit fast 23% nennenswerten Anteil
von sozialem Abstieg, was ja sicher auch ein Merkmal einer wirklich „offe-
nen“ Gesellschaft ist.

Strukturelle Begrenzungen

Beachtet man die Randverteilungen nicht weiter, könnte es so aussehen, als


wäre das Geschehen ausschließlich eine Folge des Bemühens der Individuen
in der Konkurrenz um die Positionen. Das ist sicher auch zu einem großen
Teil der Fall (siehe dazu auch noch unten in Abschnitt 4.5.2 näher zu den Pro-
zessen und Bedingungen der Statuszuweisung und der individuellen Mobili-
tät). Die Abströme und die Zuströme, die Aufstiege und die Abstiege sowie
die Statusvererbung finden jedoch, wie wir oben bereits angedeutet hatten, in
gewissen strukturellen Grenzen statt, die die individuellen Akteure, sozusagen
als soziologische Tatbestände, vorfinden. Diese strukturellen Begrenzungen
des „individuellen“ Geschehens sind aus den Randverteilungen der Abstrom-
bzw. der Zustromtabelle ersichtlich, wobei die Zustromtabelle in der Spalte
ganz rechts die prozentuale Verteilung der Klassen und Branchen für die Vä-
Soziale Ungleichheit 181

tergeneration wiedergibt, und die Abstromtabelle in der untersten Zeile die für
die Söhnegeneration. Insofern könnte man über diese beiden Verteilungen
gewisse sektorale Veränderungen in der Gesellschaft feststellen, die die struk-
turellen Grenzen für das Geschehen innerhalb dieser Grenzen festlegen. Und
es hat, wie wir oben an den Tabellen 4.3 und 4.4 schon sehen konnten, tat-
sächlich einige Änderungen gegeben. So ist zwischen den Generationen der
Anteil der Landwirte von 23.3% bei den Vätern auf 11.4% bei den Söhnen
geschrumpft, es hat eine Verdoppelung der lower-nonmanual-Berufe gegeben,
und auch der Anteil der obersten Positionen ist gestiegen, wenngleich nicht
dramatisch, nämlich von 14.7% bei der Vätergeneration auf 20.5% bei der
Söhnegeneration.

Strukturelle und individuelle Mobilität

Entsprechend läßt sich eine strukturelle Mobilität, die sich aus der Änderung
der Gesellschaft insgesamt und der damit einhergehenden Änderung in der
Verteilung der Klassen zwischen zwei Zeitpunkten bzw. Generationen ergibt,
von einer individuellen Mobilität (oder, wie es auch heißt, „Zirkulationsmobi-
lität“) unterscheiden, bei der es um das Ausmaß der Bewegung der Individuen
in den strukturellen gesellschaftlichen Grenzen und um die jeweiligen indivi-
duellen Aufstiege und Abstiege in den Familien geht.
Das bloße Ausmaß der strukturellen gegenüber der individuellen Mobilität läßt sich leicht be-
rechnen. Zunächst muß die Anzahl der Änderungen bestimmt werden, die sich aus der Ände-
rung der Verteilung der Klassen schon rein rechnerisch ergibt. Das ist in Tabelle 4.3 für jede
Klasse der Absolutwert der Differenz in der Häufigkeit ihrer Besetzung zwischen den beiden
Zeitpunkten, also etwa |2920-4101| = 1181 für die upper-nonmanuals oder |4086-798| = 1462
für die upper-manuals. Diese Werte werden für alle Klassen aufaddiert, und im Beispiel er-
gibt das somit |2920-4101| + |2253-2964| + |4086-2624| + |6003-7958| + |4650-2265| = 1181
+ 711 + 1462 + 1955 + 2385 = 7694 an Fällen mit Mobilität, die sich allein schon durch die
Änderungen in der sektoralen Verteilung ergibt.

Die individuelle Mobilität bzw. die Zirkulationsmobilität ist nun der Anteil an
der Mobilität der Mover, der nicht schon durch diese strukturell erzwungenen
Wechsel erklärt wird. Mover sind dabei, wie wir schon wissen, diejenigen, die
überhaupt ihre Klasse gewechselt und ihren Status nicht einfach geerbt haben
– die Aufsteiger und die Absteiger zusammen also. An solchen Movers gab es
insgesamt 11961 Akteure, davon, wie wir oben auch schon gesehen haben,
7429 Aufsteiger und 4532 Absteiger. Das ergibt 11961-7694 = 4267 Akteure,
die überhaupt mobil waren und nicht aus strukturellen Gründen ihre Position
geändert haben. Diese 4267 Akteure sind die Anzahl derjenigen mit individu-
eller Mobilität. Es gibt somit einen Anteil von 35.7% an individueller Mobili-
182 Die Konstruktion der Gesellschaft

tät und entsprechend einen Anteil von 64.3% an struktureller Mobilität – je-
weils nur gemessen an der Gesamtmobilität der Movers, wohlgemerkt.
Man sieht also, daß sehr viel, was zunächst wie das Ergebnis rein individu-
eller Bemühungen aussieht, nichts weiter ist als die Folge von gesellschaftli-
chen Veränderungen, denen sich die Akteure fügen müssen – wobei, das sei
dann jedoch doch noch hinzugefügt, die strukturellen Veränderungen natür-
lich auch nicht vom Himmel fallen, sondern ihrerseits das – oft genug so nicht
beabsichtigte – Ergebnis des Handelns von Akteuren ist, etwa das von Unter-
nehmern, die Arbeitsplätze schaffen, oder von Politikern, die das Bildungssys-
tem ausbauen oder die Treuhandanstalt einrichten, um die marode Industrie
der untergegangenen DDR abzuwickeln (vgl. dazu auch noch den Schluß die-
ses Kapitels und Abschnitt 7.1 in diesem Band).

Arten der Mobilität

Es gibt also, wie wir gesehen haben, ganz verschiedene Aspekte und Arten
von Mobilität und Maßzahlen, sie zu beschreiben. Es gibt die Statusvererbung
bzw. die Selbstrekrutierung einerseits und Aufstiege und Abstiege anderer-
seits, sowie die individuelle Mobilität bzw. die Zirkulationsmobilität im Un-
terschied zur strukturellen Mobilität. Daneben werden noch einige weitere
Dimensionen und Arten der Mobilität unterschieden, auf die sich die o.a.
Konzepte dann wieder anwenden lassen.
Im Beispiel hatten wir den Fall einer vertikalen Mobilität betrachtet, bei
der die verschiedenen Positionen unterschiedlich bewertete Ränge haben.
Man spricht dabei auch von Änderungen im Status, etwa wenn jemand vom
Verkäufer zum Konzernchef aufsteigt. Daneben gibt es die horizontale Mobi-
lität, bei der nur der Platz, der sog. Situs, aber nicht der Rang bzw. der Status
gewechselt wird, wie etwa beim Wechsel vom Lager bei Aldi zu einem Reini-
gungsdienst als einem Wechsel innerhalb der Klasse der lower-manual-
Positionen.
Zur horizontalen Mobilität gehören im Prinzip auch der Wechsel der Religion, einer politi-
schen Partei oder der Familie, sei es durch Heirat, sei es durch Scheidung und das Finden ei-
nes neuen Partners mit dessen Anhang. Nicht dazu zählen würde ein Wechsel im Geschlecht
oder der eher automatische Wechsel der gesellschaftlichen Lage mit dem Alter. Nicht einge-
schlossen in die Mobilitätsanalyse werden üblicherweise auch die räumliche Mobilität, die
Migration also, wohl aber deren Folgen für die Positionsbesetzung, etwa bei Arbeitsmigran-
ten: Die sog. strukturelle Assimilation der Arbeitsmigranten ist ein Spezialfall der vertikalen
Mobilität (vgl. dazu auch noch den Exkurs über Integration, Assimilation und die sogenannte
multikulturelle Gesellschaft unten in diesem Band).
Soziale Ungleichheit 183

Geschehen die Änderungen in Status oder Situs während der Biographie eines
Akteurs, so spricht man von intragenerationaler Mobilität, geht es um Ände-
rungen zwischen den Generationen, von intergenerationaler Mobilität. Wir
hatten in dem Beispiel die intergenerationale Mobilität betrachtet, unten in
Abschnitt 4.5.2 werden wir auch auf Prozesse der individuellen Karriere im
Lebenslauf eingehen.

Kollektive Mobilität

Ein oft übersehener, aber durchaus vorkommender und soziologisch wichtiger


Aspekt der Mobilität ist die Auf- bzw. die Abwertung bestehender Positionen
im Rahmen kollektiver Prozesse, von denen dann die Individuen betroffen
sind, ohne daß sie etwas dagegen tun könnten. So werden bestimmte Berufe
angesehener als zuvor, wie das bei den Medizinern der Fall war, andere ver-
lieren an Prestige, wie bei den Professoren, die es inzwischen wie Sand am
Meer gibt, oder bei der Klasse der Politiker, denen man inzwischen nicht
mehr so recht trauen mag. Auch können ganze Nationen im System der globa-
len Ungleichheit aufsteigen oder absteigen, und mit ihnen die Menschen dar-
in, wie das für die USA in den letzten 150 Jahren nach oben und für Rußland
in den letzten 15 Jahren nach unten der Fall war. Und manchmal mutiert die
Zugehörigkeit zu einer Klasse oder einem Land über Nacht zu einem peinli-
chen Makel, wie das bei den Angehörigen der politischen Elite in der DDR
der Fall war, als die Mauer fiel. Solche Vorgänge seien als kollektive Mobili-
tät bezeichnet. Die Gründung von Parteien, Klassenkämpfe, soziale Bewe-
gungen und Revolutionen können als Versuche zu einer solchen kollektiven
Mobilität durch die Änderung der ganzen „Verfassung“ einer Gesellschaft
verstanden werden. Pitirim A. Sorokin hat ein auch heute noch interessantes
Schema von Arten der Mobilität entwickelt und 1927 veröffentlicht, das wir
hier leicht verändert und übersetzt wiedergeben, in dem er diesen Aspekt der
kollektiven Mobilität auch ganzer „sozialer Objekte“ systematisch vorsieht
(vgl. Abbildung 4.13).
184 Die Konstruktion der Gesellschaft

territorial, religiös,
individuell horizontal familiär, beruflich

Soziale
Mobilität
individuelle
Infiltration;
Aufstieg Schaffung bzw.
Aufwertung einer
ganzen Gruppe

kollektiv vertikal

individuelles
Absinken;
Abstieg Absinken oder
Desintegration
einer ganzen
Gruppe

Abb. 4.13: Arten der Mobilität nach Sorokin (1927, S. 136)

Bemerkenswert ist, daß Sorokin sich den sozialen Aufstieg von Personen of-
fenbar nur als „Infiltration“ in fest umrissene Gruppierungen vorstellen konn-
te, für die dann ihrerseits Auf- oder Abstieg als Ganzes möglich war und die
dabei die Individuen sozusagen mitnahmen. Als Sorokin das schrieb, hatte er
offenbar noch den Aufstieg und den Abstieg ganzer Dynastien, Kulturen und
Reiche vor Augen. Und es ist ja auch tatsächlich noch nicht sehr lange her,
daß man sich über den Untergang des Abendlandes Gedanken machte und
sich in gewissen Kreisen über den Aufstieg der Arbeiterklasse und der Sozial-
demokratie sorgte. Heute werden in der Soziologie der Mobilität andere Din-
ge beachtet, insbesondere die Formen und Bestimmungsgründe der
individuellen Mobilität und der Unterschiede zwischen den Ländern im
Ausmaß und in den Formen darin. Aber so ganz verschwunden ist der Blick
auf die kollektive Mobilität auch heute noch nicht. Denken Sie nur an die
Sorgen, beim Wettrennen um das Wirtschaftswachstum im Zuge der
Globalisierung nicht ins Hintertreffen zu geraten und in der Rangordnung der
Nationen zurückzufallen. Und auch der „Fahrstuhleffekt“ der allgemeinen
Wohlstandssteigerung bei Erhalt der Ungleichheitsstrukturen in
Soziale Ungleichheit 185

bei Erhalt der Ungleichheitsstrukturen in Westdeutschland nach dem Zweiten


Weltkrieg oder die „Unterschichtung“ der westlichen Gesellschaften durch
Arbeitsimmigranten wären nichts anderes als derartige Prozesse der kollekti-
ven Mobilität.

Gesellschaftliche Strukturen und Muster der Mobilität

Mobilitätstabellen beschreiben die Bewegung der Akteure auf den Positionen


und die Veränderungen der Positionsstrukturen – etwa über die Zeit oder im
internationalen Vergleich. Das ist schon interessant und aufschlußreich genug,
wie wir gesehen haben. Aber erklären tun diese Tabellen noch nichts, bei-
spielsweise: warum wer welche Position besetzt und wie es zu dem erkennba-
ren strukturellen Muster in der Verteilung der Positionen kommt. Dazu muß
man, wir wissen es längst, gewisse (Mikro-)Mechanismen benennen, die –
letztlich – etwas mit dem situationsorientierten Handeln der Akteure zu tun
haben.
Ein wichtiger Schritt zum auch erklärenden Verständnis von Prozessen der
Mobilität ist die Frage danach, auf welchen grundlegenden Mustern des
Mobilitätsgeschehens eine in den Randverteilungen erkennbare strukturelle
Verteilung von Positionen beruht. Wir hatten oben schon die Statusvererbung,
sowie Auf- und Abstiege als drei typische Muster der Mobilität kennenge-
lernt. Interessant und wichtig ist nun zunächst, daß die gleiche strukturelle
Verteilung von Positionen durch ganz unterschiedliche Muster der Mobilität
„erklärt“ werden kann. Dazu wollen wir zunächst zwei einfache Extremfälle
betrachten. Der erste ist die komplette Statusvererbung und der zweite die
vollkommen „zufällige“ Verteilung der Akteure über die Positionen, also die
vollständige Unabhängigkeit der Besetzung der Positionen von der sozialen
Lage zuvor – jeweils für eine gegebene strukturelle Verteilung, versteht sich.
Wir beginnen, auch der Einfachheit halber, mit drei Typen von Klassen bzw. Positionen, C1,
C2 und C3, die auch einer vertikalen Bewertung unterliegen. C1 als die obere Klasse sei mit
100 Positionen ausgestattet, C2 als die mittlere Klasse mit 200 und C3, die untere Klasse, sei
mit 300 am größten. Damit die Sache etwas anschaulicher wird, wollen wir den drei Klassen
auch eine inhaltliche Deutung geben: Die Klasse C1 entspreche den upper und lower nonma-
nuals aus der Tabelle 4.3, die Klasse C2 den upper und lower manuals und die Klasse C3 den
Bauern.

Es wird zunächst angenommen, daß sich zwischen den Generationen keine


strukturellen Veränderungen ergeben haben. Die Kreuzung der beiden kon-
stant gebliebenen Strukturen mit jeweils drei Klassen ergibt dann natürlich ei-
ne 3x3-Mobilitätstabelle mit gleichen Randverteilungen (vgl. Tabelle 4.5).
186 Die Konstruktion der Gesellschaft

Tabelle 4.5: Statusvererbung und Unabhängigkeit bei Stabilität der Positionsstruktur

a. Statusvererbung b. Unabhängigkeit

Plazierung Plazierung
soziale
Herkunft C1 C2 C3 alle C1 C2 C3 alle
C1 100 0 0 100 17 33 50 100
C2 0 200 0 200 33 67 100 200
C3 0 0 300 300 50 100 150 300
alle 100 200 300 600 100 200 300 600

Schon auf den ersten Blick löst die Tabelle ein Rätsel, mit dem sich mancher
in der Soziologie immer noch herumschlägt: Die Stabilität der gesellschaftli-
chen Strukturen kann über ganz unterschiedliche Formen des individuellen
Verhaltens reproduziert werden, und auch eine extreme individuelle Mobilität
ist vollauf mit der völligen Stabilität der sozialen Ungleichheiten vereinbar.
Die Zellenbesetzungen in der Tabelle für den Fall der Statusvererbung ergeben sich unmittel-
bar aus der Annahme, daß es nur Zuströme aus der gleichen Klasse und keine Abströme dar-
aus gibt. Die Besetzungen für die Annahme der Unabhängigkeit folgt der Definition der sta-
tistischen Unabhängigkeit. Danach ist die Häufigkeit in einer Zelle fij genau gleich dem Pro-
dukt der Häufigkeiten der jeweiligen Randkategorien von i, fi , und j, f&j, geteilt durch die Ge-
samtzahl der Fälle N, also fij=(fi &f j)/N. Das ergibt beispielsweise für die Kombination C2, C3
einen Wert von f23=f2+&f+3= (200&300)/600=100, der sich auch empirisch ergeben müßte, wenn
die Annahme der Unabhängigkeit zutrifft. Das Ganze entspricht der Berechnung der sog.
Kontingenztabelle beim allseits bekannten '2-Test: Es wird eine Verteilung der Häufigkeiten
in den Zellen angenommen unter der Annahme, daß die Verteilungen in allen Untergruppen
den Randverteilungen der gesamten Tabelle entsprechen und es damit keinen Zusammenhang
zwischen den „Variablen“ gibt. Jede Abweichung von dieser Verteilung würde also eine Ver-
letzung der Annahme von der „zufälligen“ Plazierung der Akteure auf die Positionen bedeu-
ten. Die Annahme der Unabhängigkeit kann damit als eine Art von Bezugs- oder Nullmodell
dienen, und der '2-Test als der statistische Test für die Haltbarkeit dieser Annahme: Wäre
beim Vergleich der Zellenbesetzungen unter der Annahme der Unabhängigkeit mit den empi-
rischen Zellenbesetzungen das '2 „signifikant“, dann wäre die Annahme der „Unabhängig-
keit“ beim Prozeß der Statuszuweisung nicht haltbar, und man müßte sich Gedanken über an-
dere Mechanismen machen, wie etwa den, daß es (auch) Statusvererbung gibt (siehe dazu
auch gleich unten mehr).

Das Unabhängigkeitsmodell entspricht, wie man leicht sieht, der Konzeption


einer kompletten gesellschaftlichen Offenheit, natürlich auch bei Existenz von
sozialer Ungleichheit und deren Stabilität: Es gibt soziale Ungleichheit, aber
die soziale Herkunft hat keinen systematischen Effekt auf die Plazierung. Und
Soziale Ungleichheit 187

es gibt Aufstiege auch der unteren Schichten und Abstiege der oberen Klas-
sen, sowie auch eine gewisse Statusvererbung, aber die ist nur „zufällig“. Das
Statusvererbungsmodell ist das andere Extrem – das Modell einer komplett
„geschlossenen“ Gesellschaft, in der jede Gruppe unter sich bleibt. Hier ist die
Determination des Status der Söhne durch den Status der Eltern perfekt und
unausweichlich, und der statistische Zusammenhang zwischen sozialer Her-
kunft und Statuseinnahme perfekt. So war es wohl im Mittelalter und ist es in
Indien und im Sauerland noch, weitgehend jedenfalls.
Nun ändere sich die Gesellschaft. Wir nehmen an, daß sich, ausgehend von
der gleichen Verteilung wie oben, zwischen den Generationen die Gesell-
schaft „egalisiere“: Jede der drei Klassen ist nun für die Generation der Söhne
gleich stark besetzt. Und wieder wollen wir uns ansehen, was geschieht, je-
weils unter der Annahme einer maximalen Statusvererbung einerseits und ei-
ner kompletten Unabhängigkeit andererseits (vgl. Tabelle 4.6).

Tabelle 4.6: Statusvererbung und Unabhängigkeit bei Änderung der Positionsstruktur

a. Statusvererbung b. Unabhängigkeit

Plazierung Plazierung
soziale
Herkunft C1 C2 C3 alle C1 C2 C3 alle
C1 100 0 0 100 33 33 33 100
C2 0 200 0 200 67 67 67 200
C3 100 0 200 300 100 100 100 300
alle 200 200 200 600 200 200 200 600

Einfach und einsichtig ist der Fall der Unabhängigkeit: Nun verteilen sich,
weil die Randverteilung über die Klassen gleich geworden ist, die Söhne aus
den drei Klassen in genau gleichen absoluten Ziffern und Anteilen auf die drei
neu gebildeten Klassen. Etwas kontraintuitiv ist dagegen der Fall der struktu-
rellen Mobilität unter dem Muster der Statusvererbung: Weil die obere Klasse
an Positionen gewonnen hat, „muß“ es einen Zustrom dorthin gegeben haben.
Der könnte natürlich im Prinzip aus allen anderen Klassen kommen, aber weil
wir annehmen, daß die Akteure strikt an der Statusvererbung festhalten, wenn
es denn eben geht (!), und weil die untere Klasse strukturell an Positionen
verliert, „muß“ dieser Zustrom aus der unteren Klasse erfolgen. Denn andere
188 Die Konstruktion der Gesellschaft

Vorgänge, wie die Migration oder eine differentielle Fertilität, haben wir ja
ausgeschlossen. Das erkennbare Muster – der Aufstieg von 100 Söhnen aus
der unteren Klasse gleich in die obere – ist also das Ergebnis einer strikten
Statusvererbung in allen Klassen einerseits und der angenommenen strukturel-
len Veränderungen in der Struktur der sozialen Ungleichheit.

Mobilitätsregimes

Die reine Statusvererbung und die völlige Unabhängigkeit sind natürlich ex-
treme Annahmen, die in der Wirklichkeit kaum einmal zutreffen. Empirisch
gibt es eine bunte Vielfalt von Verteilungen über die ganze Mobilitätstabelle
hinweg, die sich aber, interessanterweise, oft aus nur wenigen Mobilitätsmus-
tern zu typischen „Mobilitätsregimes“ zusammenfügen lassen. Damit die Lo-
gik der Konstitution solcher Mobilitätsregimes möglichst deutlich wird, wol-
len wir die beiden o.a. Mobilitätsmuster – das Muster der Statusvererbung und
das der Unabhängigkeit – in einer gewissen Weise kombinieren.
Das wohl einfachste Modell einer solchen Kombination der beiden „rei-
nen“ Muster wäre, daß es einerseits eine gewisse, aber über alle Klassen hin-
weg konstante Statusvererbung gebe, ansonsten aber wieder die reine Zufäl-
ligkeit der Plazierung. Dazu sei angenommen, daß jeweils 50% der Familien
aus einer Herkunftsklasse der Statusvererbung unterliegen, und der Rest dann
der zufälligen Plazierung. Die Population der Familien wird also in einen Teil
aufgeteilt, der der reinen Statusvererbung unterliegt, und in einen der Plazie-
rung nach dem Prinzip der Unabhängigkeit, und zwar jeweils zur Hälfte. Das
ist, mindestens für die westlichen Gesellschaften, kein ganz unrealistischer
Fall, denn auch in den „modernsten“ Gesellschaften gibt es, neben aller Of-
fenheit und „Mobilität“, ohne Zweifel einen weiterhin gehörigen Anteil an
Statusvererbung, wie wir ja in Tabelle 4.3 schon gesehen haben. Wieder wol-
len wir auch die beiden Fälle der gesellschaftlichen Stabilität und des gesell-
schaftlichen Wandels gesondert betrachten. Unter der Bedingung der Stabili-
tät der Ungleichheitsstrukturen ergäben sich die folgenden beiden Mobilitäts-
tabellen für jeweils die beiden „Hälften“ der betrachteten Population (Tabelle
4.7):
Soziale Ungleichheit 189

Tabelle 4.7: Teilmuster des gemischten Mobilitätsregimes bei gesellschaftlicher Stabilität

a. Statusvererbung b. Unabhängigkeit

Plazierung Plazierung
soziale
Herkunft C1 C2 C3 alle C1 C2 C3 alle
C1 50 0 0 50 8 17 25 50
C2 0 100 0 100 17 33 50 100
C3 0 0 150 150 25 50 75 150
alle 50 100 150 300 50 100 150 300

Die Überlagerung der beiden Muster in eine Mobilitätstabelle ergibt dann


durch die simple Addition der Werte in den jeweiligen Zellen die folgende
Verteilung (Tabelle 4.8):

Tabelle 4.8: Das aus Statusvererbung und Unabhängigkeit gemischte Mobilitätsregime


bei gesellschaftlicher Stabilität

Soziale Bestimmung
soziale
Herkunft C1 C2 C3 alle
C1 58 17 25 100
C2 17 133 50 200
C3 25 50 225 300
alle 100 200 300 600

Diese Verteilung entspricht in ihren Grundstrukturen schon sehr viel eher der-
jenigen aus Tabelle 4.3, die ja aus dem wirklichen Leben gegriffen war. Aber
es fallen auch noch einige Unterschiede dazu auf: Die Aufstiege und die Ab-
stiege sind genau symmetrisch, und die oberen Klassen und die Bauern haben,
wenn man die Zufallsplazierungen berücksichtigt, die gleiche Rate der Selbst-
rekrutierung wie die mittlere Klasse.
Das alles könnte aber auch daran liegen, daß wir eine statische Gesellschaft
angenommen haben und, etwa, nicht in Rechnung gestellt ist, daß in Wirk-
190 Die Konstruktion der Gesellschaft

lichkeit der Sektor der Landwirtschaft geschrumpft ist und der Anteil der Po-
sitionen in der oberen Klasse zugenommen hat. Für die Verhältnisse unter
Bedingungen des sozialen Wandels ergeben sich in analoger Weise die fol-
genden getrennten Verteilungen für die beiden Mobilitätsmuster der Status-
vererbung und der Unabhängigkeit, wobei, wohlgemerkt, es zwar die Annah-
me der Statusvererbung zu 50% bezogen auf die Herkunftsklasse gibt, gleich-
zeitig aber, ganz analog zu Tabelle 4.6, auch einen strukturell erzwungenen
Wechsel von 50 Personen aus der unteren zu der oberen Klasse, und dieser
strukturell erzwungene Wechsel ist dann natürlich weder Statusvererbung
noch Zufall (vgl. Tabelle 4.9).

Tabelle 4.9: Teilmuster des gemischten Mobilitätsregimes bei gesellschaftlichem Wandel

a. Statusvererbung b. Unabhängigkeit

Plazierung Plazierung
soziale
Herkunft C1 C2 C3 alle C1 C2 C3 alle
C1 50 0 0 50 17 17 17 50
C2 0 100 0 100 33 33 33 100
C3 50 0 100 150 50 50 75 150
alle 100 100 100 300 100 100 100 300

Und daraus ergibt sich wieder die folgende kombinierte Verteilung (Tabelle
4.10):
Soziale Ungleichheit 191

Tabelle 4.10: Das aus Statusvererbung und Unabhängigkeit „gemischte“ Mobilitäts-


regime bei gesellschaftlichem Wandel

Soziale Bestimmung
soziale
Herkunft C1 C2 C3 alle
C1 67 17 17 100
C2 33 133 33 200
C3 100 50 150 300
alle 200 200 200 600

Nun sind die Auf- und die Abstiege nicht mehr symmetrisch, aber die starke
Besetzung der Kombination C3,C1 fällt schon aus dem Rahmen. Man könnte
diesen Fall aber auch anders modellieren, etwa so, daß man nur die „reine“
Statusvererbung der Herkunftsklasse (zu 50%) nimmt und die strukturell er-
zwungenen Aufstiege in die obere Klasse allesamt dem Zufall überläßt und
damit also auch Aufstiege aus der mittleren Klasse zuläßt. Das ergibt die Zah-
len in Tabelle 4.11:

Tabelle 4.11: Teilmuster des gemischten Mobilitätsregimes bei gesellschaftlichem


Wandel ohne „systematischen“ Aufstieg von der unteren in die obere
Klasse

a. Statusvererbung b. Unabhängigkeit

Plazierung Plazierung
soziale
Herkunft C1 C2 C3 alle C1 C2 C3 alle
C1 50 0 0 50 25 17 8 50
C2 0 100 0 100 50 33 17 100
C3 0 0 150 150 75 50 25 150
alle 50 100 150 300 150 100 50 300
192 Die Konstruktion der Gesellschaft

Nun sind die Randverteilungen für die Plazierungen der Söhne bei Statusver-
erbung und Unabhängigkeit natürlich nicht mehr gleich, wie in Tabelle 4.10.
Und das ergibt zusammen:

Tabelle 4.12: Das aus Statusvererbung und Unabhängigkeit „gemischte“ Mobilitäts-


regime bei gesellschaftlichem Wandel ohne „systematischen“ Aufstieg
von der unteren in die obere Klasse

Soziale Bestimmung
soziale
Herkunft C1 C2 C3 alle
C1 75 17 8 100
C2 50 133 17 200
C3 75 50 175 300
alle 200 200 200 600

So entsprechen die Besetzungen der Felder noch einmal etwas mehr den em-
pirischen Mustern aus Tabelle 4.3. Und man könnte fast denken, daß die em-
pirischen Zahlen in der Tabelle 4.3 tatsächlich schon weitgehend über das
angenommene Mobilitätsregime einer Mischung von 50% Statusvererbung
und 50% Unabhängigkeit (für alle Klassen gleichermaßen) erklärbar wären.
Nur die immer noch relativ zahlreichen Aufstiege aus den unteren Klassen
gleich in die obere stören noch etwas, und auch, daß es bei den mittleren
Klassen die gleich hohe Statusvererbung geben soll wie bei den oberen und
den unteren. Und es sei auch nicht vergessen, daß der strukturelle Wandel in
unserer fiktiven Gesellschaft schon enorm war, deutlich größer jedenfalls als
in der Tabelle 4.3 für die USA im Jahre 1973, und eine Aufwärtsmobilität
erzeugt hat, die es empirisch kaum gibt.
Die unter den angenommenen Bedingungen theoretisch erwarteten Ziffern könnte man natür-
lich wiederum mit den „wirklichen“ empirischen Zahlen in Beziehung setzen und – ganz ana-
log wie mit der Kontingenztabelle als Referenzmodell – über die Berechnung der '2-Werte in
ihrem „Fit“ mit den empirischen Besetzungen testen. Die sog. log-lineare Analyse ist das sta-
tistische Instrument zur Modellierung bestimmter Hypothesen über Mobilitätsmuster und
Mobilitätsregimes und zum Test dieser Annahmen über empirische Daten (siehe dazu gleich
unten mehr zur formalen Modellierung der Mobilität).

Das alles wollen wir hier nicht mehr weiter verfolgen, weil es erst einmal auf
das Verständnis des Vorgehens ankam: Es werden – in zunächst möglichst
Soziale Ungleichheit 193

einfacher und abstrakter Weise – bestimmte typische Mobilitätsmuster ange-


nommen, die sich u.U. zu typischen Mobilitätsregimes überlagern und somit
ein bei gegebenen Randverteilungen theoretisch zu erwartendes Mobilitäts-
muster ergeben, das dann mit den empirischen Verhältnissen verglichen wer-
den kann. „Paßt“ das theoretische Modell mit den empirischen Daten, dann
kann man das als einen Hinweis werten, daß das erkennbare Muster durch das
angenommene Mobiltitätsregimne erzeugt wurde. Hier war das eine Mischung
von Statusvererbung und Unabängigkeit, und zwar zu gleichen Teilen. Paßt
das Modell dagegen nur schlecht, dann müssen weitere Annahmen gemacht
werden, etwa die, daß die Statusvererbung nicht überall gleich ist, sondern –
zum Beispiel – bei den Bauern und den oberen Schichten höher als bei den
mittleren Schichten.

Theoretische Begründungen

Es versteht sich von selbst, daß solche Änderungen in den Annahmen nicht
nur ad hoc eingeführt und auch nicht bloß den empirischen Daten zum Zwe-
cke des besseren Fit des Modells angepaßt werden dürfen: Es muß dafür mög-
lichst zwingende theoretische Gründe geben und dann möglichst auch solche,
die etwas mit der „Logik“ der speziellen Situation zu tun haben, denen die
Akteure in den diversen sozialen Klassen unterliegen. Eine derartige theoreti-
sche Begründung haben Robert Erikson und John H. Goldthorpe in ihrem
Buch über den „Constant Flux“ bei der sozialen Ungleichheit in den westli-
chen Industriegesellschaften gegeben. Der Hintergrund ist die Annahme, daß
es in den Industriegesellschaften letztlich nur ein einheitliches Mobilitätsre-
gime gebe, und daß alle beobachtbaren Unterschiede in der Mobilität zwi-
schen den Berufsgruppen und Klassen, etwa zwischen Schweden, England
oder Ungarn, über Unterschiede in den sektoralen Verteilungen und auf den
(noch) unterschiedlichen „Entwicklungsstand“ der betreffenden Länder erklärt
werden können.
Das Mobilitätsregime der Industriegesellschaften sehe dann im Groben etwa so aus:32 Es gebe
erstens Hierarchieeffekte im Sinne eines Soges von den unteren Klassen zu den attraktiveren
oberen; zweitens gewisse, aber nach den Klassen unterschiedliche Effekte der Statusverer-
bung, die sich vor allem durch die Verwiesenheit auf spezifische Kapitalien in den jeweiligen
Klassen zurückführen lassen; drittens Effekte der Sektorabgrenzung vor allem derart, daß es

32
Vgl. Robert Erikson und John H. Goldthorpe, Commonality and Variation in Social Flui-
dity in Industrial Nations. Part I: A Model for Evaluating the ‚FJH Hypothesis‘, in: Euro-
pean Sociological Review, 3, 1987, S. 65ff.; siehe auch Erikson und Goldthorpe 1992,
Kapitel 4, S. 114-140.
194 Die Konstruktion der Gesellschaft

zwischen der Landwirtschaft und allen anderen Sektoren deutliche Barrieren gebe, die sich
aus den besonderen, auch durchaus „vormodernen“ Produktionsbedingungen in der Land-
wirtschaft ergäben; und schließlich existierten bestimmte Affinitäten (oder auch Disaffinitä-
ten) zwischen „benachbarten“ Sektoren und Klassen, wie etwa zwischen der Dienstleistungs-
klasse und den nonmanual-Routinebeschäftigten, die einen Wechsel zwischen den Klassen
relativ erleichtern (oder erschweren), je nachdem, ob die Tätigkeiten und Lebensweisen ge-
wisse „Wahlverwandtschaften“ aufweisen oder nicht.

Eine noch etwas stärker abstrahierende und schon deutlich erkennbar an eine
WE-Erklärung heranreichende Begründung für diese Annahmen geben die
Autoren auch. Sie fassen sie in drei Punkten zusammen. Die Mobilität folge
„(i) the relative desirability of different class positions, considered as destinations;
(ii) the relative advantages afforded to individuals by different class origins – in the form of
economic, cultural and social resources; and
(iii) the relative barriers that face individuals in gaining access to different class positions –
which may be thought of in terms of requirements corresponding to the resources indica-
ted under (ii): for example, requirements for capital, qualifications, ‚knowing peo-
ple‘etc.“ (Erikson und Goldthorpe 1987, S. 64; Hervorhebungen nicht im Original)

Das ist, leicht erkennbar, wieder ein Entscheidungsmodell mit Nutzen- und
Kostenerwartungen für ein gewisses eigeninteressiertes und situationsorien-
tiertes Tun von Akteuren – und zwar auf den beiden Seiten, die über die Mo-
bilität bestimmen: die „Nachfrager“ nach Personen für gewisse Positionen
und die „Anbieter“ in Gestalt von Bewerbern auf diese Positionen (vgl. dazu
auch noch Kapitel 5 in diesem Band über „Inklusion und Exklusion“).
Die Nachfrager in den verschiedenen Sektoren achten, aufgrund der für sie in dem jeweiligen
Funktionssystem wichtigen sozialen Produktionsfunktion, auf die Eignung der Bewerber und
besetzen die Stellen im Durchschnitt selektiv mit Bewerbern aus bestimmten Herkunftsklas-
sen, weil die sich zwar vielleicht aus allen Klassen „anbieten“, sich aber nicht alle als geeig-
net erweisen, etwa aufgrund der nach den Klassen unterschiedlich häufigen Bildungsab-
schlüsse. Und schon die Bewerbungen fallen nach den Herkunftsklassen selektiv aus, weil
sich die Bewerber bereits in ihren Mobilitätsbemühungen unterscheiden und in den jeweils
vorgefundenen Möglichkeiten, die jeweils wichtigen Qualifikationen auch nur anzustreben,
geschweige denn zu erwerben (vgl. dazu auch noch gleich anschließend Abschnitt 4.5.2 über
das Problem der Statuszuweisung, sowie Abschnitt 7.1 in diesem Band mit einem Beispiel für
die Reproduktion der sozialen Ungleichheit auch bei Öffnung des Bildungssystems).

Die Existenz eines bestimmten Mobilitätsregimes wird also mit einer speziel-
len „Situationslogik“ begründet, der die Akteure in den verschiedenen Sekto-
ren und Klassen unterliegen – als „Nachfrager“ nach Personen für die Beset-
zung von Positionen einerseits und als „Anbieter“ ihrer Person für die Beset-
zung von Positionen andererseits. Es ist eine Art von Marktmodell mit gewis-
sen über die sozialen Klassen und Sektoren unterschiedlichen Segmentierun-
gen von Beharrungen, Barrieren und Affinitäten und dem allgemeinen Grund-
zug des menschlichen Handelns, daß, wenn es denn die Möglichkeiten gibt
Soziale Ungleichheit 195

und die Kosten nicht zu hoch sind, die attraktiveren Positionen angestrebt und
die besseren Bewerber bevorzugt werden.

Die formale Modellierung der Mobilität

Die theoretischen Begründungen für gewisse Prozesse und Bedingungen müs-


sen dann freilich wieder in ein statistisches Modell übersetzt werden, mit des-
sen Hilfe man die Haltbarkeit der Annahmen an empirischen Daten überprü-
fen kann. Eine wichtige Form einer solchen statistischen Modellierung von
Mobilitätsregimes ist die sog. log-lineare Analyse.33 Die Grundüberlegung bei
solchen Modellen ist, daß sich die theoretisch zu erwartende Häufigkeit in ei-
ner (Mobilitäts-)Tabelle aus unterschiedlichen inhaltlichen „Effekten“ ergibt,
aus typischen Mobilitätsmustern oder gar ganzen Mobilitätsregimes also, die
sich als theoretische Modelle formalisieren und in ein statistisches Modell,
etwa eines der log-linearen Analyse, übersetzen lassen.
Die allgemeine Basisgleichung der log-linearen Modellierung für die geschätzten Häufigkei-
ten E(Fij) in der Besetzung einer beliebigen Zelle ij aus einer zweidimensionalen (Mobili-
täts-)Tabelle lautet:

E(Fij) = (&)i&)j&)ij.

Die erwarteten Häufigkeiten werden also als Produkt einer Reihe von Parametern berechnet:
(,)i,)j und )ij (siehe dazu gleich unten mehr). Deshalb wird das Modell auch als multiplikati-
ves Modell bezeichnet. Es ist, sozusagen, die Erweiterung der Berechnung einer
„Kontingenztabelle“ für einen '2-Test, nun aber nicht nur für die Annahme der
Unabhängigkeit, sondern für alle theoretisch denkbaren Konstellationen von
Mobilitätsmustern und Mobilitätsregimes. Durch die Logarithmierung der Ausdrücke läßt
sich die multiplikative Gleichung für die geschätzten Häufigkeiten in eine additive Gleichung
von dann linear verknüpften Werten umformen (vgl. dazu etwa Andreß, Hagenaars und
Kühnel 1998, S. 147f.). Der (natürliche) Logarithmus von E(Fij), der Ausdruck ln(E(Fij)) also,
heiße E(Gij), und dafür gilt dann im „vollen“ Modell, in dem alle Parameter empirisch
geschätzt werden:

E(Gij) = ln(E(Fij)) = ln(()+ln()i)+ln()j)+ln()ij).

33
Vgl. zur formalen Modellierung von Prozessen der Mobilität allgemein Michael Hout,
Mobility Tables, Beverly Hills, London und New Delhi 1983. Siehe zur Einführung in die
Technik der log-linearen Analyse u.a. Hans-Jürgen Andreß, Jacques A. Hagenaars und
Steffen Kühnel, Analyse von Tabellen und kategorialen Daten. Log-lineare Modelle, la-
tente Klassenanalyse, logistische Regression und GSK-Ansatz, Berlin u.a. 1997, Kapitel
3: Log-lineare Analyse kategorialer Daten, S. 137-207.
196 Die Konstruktion der Gesellschaft

Damit wird das Modell vergleichbar zu der bekannten linearen Regression, obwohl die Logik
und die Art der Schätzung eine ganz andere sind. Daher auch die Bezeichnung „log-lineare“-
Modelle.

Die verschiedenen theoretischen Annahmen über gewisse Muster der Mobili-


tät oder bestimmte Mobilitätsregime lassen sich nun als spezielle Spezifikati-
onen dieser allgemeinen Basisgleichung modellieren. Das einfachste Basis-
modell ist dann noch „weniger“ als das der o.a. Unabhängigkeit. Es ist die
Annahme, daß alle Zellen die gleiche Häufigkeit aufweisen und daß somit in
jeder Zelle nur der Durchschnitt der Gesamtpopulation bezogen auf die m&n
Zellen der (Mobilitäts-)Tabelle steht. Bei den Zahlen der Tabelle 4.5 wäre das
die Häufigkeit 600/9=66.7. Die Gleichung bestünde dann nur aus der „Kon-
stanten“ (. Also in der nicht-logarithmierten Form der Gleichung:
E(Xij) = (.
Inhaltlich besagt das, daß es noch nicht einmal „strukturelle“ Effekte der
Randverteilungen auf die Mobilität gibt. Diese Annahme könnte man dann,
ganz analog zum '2-Test, an den Daten überprüfen. In unserem Fall wäre die-
ses Modell, wie so gut wie immer, ganz sicher falsch. Der nächste Schritt wä-
re die Einfügung der strukturellen Begrenzungen über die Berücksichtigung
der Randverteilungen. Das geht über die Schätzung der Effekte )i für die
Zeilenverteilungen und )j für die Spaltenverteilungen. Die, wiederum nicht-
logarithmierte, multiplikative Gleichung dafür würde dann so lauten:
E(Xij) = (&)i&)j.
Das aber ist genau das Modell der Unabhängigkeit: Die Mobilität folgt, auf
der Grundlage der Konstanten ( ausschließlich den strukturellen Bedingun-
gen und ist ansonsten eine „zufällige“ Angelegenheit. Auch dieses Modell ist
empirisch meist unzutreffend, vor allem weil es in der Tat auch in den offens-
ten Gesellschaften nicht unbeträchtliche Anteile von „überzufälliger“ Status-
vererbung und sektoralen Barrieren gibt. Solche Effekte der „Abhängigkeit“
der Mobilität von der jeweiligen Klassenlage werden über die Einbeziehung
auch des dritten Effektes modelliert, über den )ij-Effekt also, sozusagen ange-
hängt an die beiden anderen Effekte. Er beschreibt die statistische „Interakti-
on“ von Herkunfts- und Bestimmungsklasse und bezieht damit die Statusver-
erbung mit ein. Also:
E(Fij) = (&)i&)j&)ij.
Das ist, wie man sieht, für eine 2&2-Tabelle das oben schon beschriebene „vol-
le“ multiplikative Modell mit einer Konstanten, den beiden Randverteilungs-
effekten und dem Interaktionsterm. Mehr ist hier nicht möglich.
Soziale Ungleichheit 197

Wichtig ist noch, daß die verschiedenen Effekte bei Tabellen, die größer sind als eine 2&2-
Tabelle, wiederum variieren können. Man kann sich das leicht veranschaulichen: Die 3&3-
Tabelle, etwa aus Tabelle 4.5, läßt sich ja in vier 2&2-Untertabellen zerlegen, in so viele näm-
lich, wie die Tabelle Freiheitsgrade hat, hier also (3-1)(3-1)=4. Und für jede dieser Unterta-
bellen ließe sich dann wieder eine Modellierung und Schätzung vornehmen. Leicht werden
dann wieder Variationen vorstellbar, wie etwa die, daß die Parameter in den Untermodellen
alle gleich sind oder sich in bestimmter Weise unterscheiden. Auf diese Weise lassen sich
folglich ganz spezifische Mobilitätsregimes statistisch modellieren, und zwar über Annahmen
bei den diversen Interaktionseffekten, die in größeren Tabellen als 2&2 stets möglich sind (sie-
he dazu gleich unten mehr).

Die Modellierung solcher speziellen Effekte für größere Tabellen geht über
die Erstellung von sog. Designmatrizen (vgl. dazu etwa Andreß, Hagenaars
und Kühnel 1997, S. 167ff.). Wir wollen an dieser Stelle darauf nicht weiter
eingehen und auch nicht auf die statistischen Einzelheiten, etwa die der Schät-
zung der Koeffizienten, der „Anpassung“ und des Vergleichs der Modelle,
weil dazu der Platz hier nun wirklich nicht reicht und die Grundlogik des
Vorgehens auch so zu verstehen ist. Aber es sei noch soviel gesagt: Das „vol-
le“ Modell mit der Schätzung auch aller denkbarer Interaktionseffekte „muß“
mit den empirischen Daten übereinstimmen, weil es soviele Parameter be-
stimmt, wie Daten vorhanden sind und deshalb nichts schief gehen kann. Das
Modell ist dann, wie man auch sagt, „saturiert“. Es „paßt“ immer. Das ist aber
auch das Problem: Es ist nur eine Beschreibung des Geschehens und kein Test
gewisser riskanter theoretischer Annahmen mehr. Es ist, wie man sieht, wie-
der ein Fall des Problems der abnehmenden Abstraktion: Je einfacher das
Modell, um so informationshaltiger ist es, daher aber auch um so riskanter,
und jede „Anpassung“ an die stets bunte Wirklichkeit wird mit einem Verlust
an Informationsgehalt erkauft.

Die Modellierung von Mobilitätsregimes

Über die geschilderte Logik lassen sich nun leicht spezifische Hypothesen ü-
ber gewisse Mobilitätsregimes formal und statistisch modellieren und dann
auch empirisch testen – wenn sie nicht gleich „saturiert“ sind. In unserem fik-
tiven Beispiel oben waren wir für eine 3&3-Tabelle zunächst von der „reinen“
Unabhängigkeit ausgegangen. In diesem Modell werden also nur strukturelle
Effekte angenommen: Alle Zellen sind nach dem gleichen Prinzip besetzt,
nämlich der statistischen Zufälligkeit im Rahmen der Randverteilungen, und
es gibt für alle Zellen die gleiche Parametrisierung in der Schätzung der Häu-
figkeiten, nämlich E(Xij) = (&)i&)j. Diese Annahme ließe sich dadurch veran-
schaulichen, daß man in die Zellen der betreffenden Tabelle überall die glei-
che Kennziffer hineinschreibt, etwa eine 1, die anzeigen soll, daß unter allen
198 Die Konstruktion der Gesellschaft

Umständen nur dieses eine Mobilitätsmuster gelten soll (vgl. dazu Abbildung
4.14a).34

a. Unabhängigkeit c. „Corner“-Effekte
1 1 1 1 3 3
1 1 1 3 2 3
1 1 1 3 3 1

b. einheitliche d. quasi-perfekte Mobilität


Statusvererbung
1 2 2 2 4 4
2 1 2 4 3 4
2 2 1 4 4 1

Abb. 4.14: Die Parametrisierung verschiedener Modelle von Mobilitätsregimes

In einem zweiten Schritt hatten wir dann auch Effekte der Statusvererbung
hinzugefügt. Nun gibt es also auch einen Interaktionseffekt. Weil es eine 3&3-
Tabelle ist, kann dieser Interaktionseffekt in den vier möglichen 2&2-
Untertabellen variieren. Die nun wiederum einfachste – und daher informati-
onshaltigste – Annahme ist die, daß es bei allen Gruppen die gleiche Status-
vererbung gebe. Es gilt also E(Xij) = (&)i&)j&)ij mit )ij = )ji für alle Untergrup-
pen. Dieses Modell könnte man das Modell der einheitlichen Statusvererbung
nennen. Es steht in Abbildung 4.14b. Es gibt jetzt also zwei Mobilitätsmuster,
die sich zu einem schon etwas komplexeren Mobilitätsregime kombinieren.
Aber das sind auch noch relativ einfache Verhältnisse.
Gründe für die Statusvererbung sind leicht vorstellbar und sie sind letztlich in den theoreti-
schen Überlegungen von Erikson und Goldthorpe schon benannt. Die Klassen haben zunächst
– fast: logo – eine hohe Affinität „für sich“. Die oberen Klassen können außerdem, vor allem
auch mit ihrem besonderen sozialen und kulturellen Kapital, relativ leicht dafür sorgen, daß
der eigene Abstieg und das Eindringen von Aufsteigern vermieden wird. Und den unteren
Klassen fehlen viele Möglichkeiten zur Investition in einen Aufstieg, sie resignieren daher,

34
Wir folgen dabei der Darstellung bei David B. Grusky und Robert M. Hauser, Comparati-
ve Social Mobility Revisited: Models of Convergence and Divergence in 16 Countries, in:
American Sociological Review, 49, 1984, S. 23ff.
Soziale Ungleichheit 199

etwa bei den Bildungsanstrengungen, relativ rasch und müssen auch stets die weiteren Dis-
tanzen auf dem Weg nach ganz oben zurücklegen. Das ist etwas anders für die mittleren
Klassen: Hier sind die Distanzen nach oben und unten gleich weit, und es wird weder beson-
ders viel an spezifischem Aufstiegs-Kapital kontrolliert, noch gibt es besondere, klassenbe-
dingte Hemmnisse zur Mobilität.

Daher liegt in einem nächsten Schritt ein drittes Modell nahe: Die Statusver-
erbung ist über die drei Klassen nicht mehr gleich, sondern es gibt „Corner“-
Effekte derart, daß sich die oberen und die unteren Klassen stärker reprodu-
zieren als die mittleren, daß sie darin dann aber wieder gleich sind. Daraus er-
gibt sich das Modell in Abbildung 4.14c. Es wird als Corner-Modell bezeich-
net und besagt, daß es zwar überall Statusvererbungen gibt, daß die aber in
den mittleren Klassen deutlich geringer sind als ganz oben und ganz unten.
Eine ganz besondere Situation besteht für die Landwirte, worauf Erikson und Goldthorpe
ausdrücklich hinweisen und wie wir schon in den Daten der Tabelle von Featherman und
Hauser gleich zu Beginn dieses Abschnitts gesehen haben. Sie sind besonders immobil, und
die Positionen in dieser Gruppe wenig attraktiv. Das liegt einerseits natürlich am geringen
Status dieser Gruppe und an der doch immer noch recht unangenehmen Art der Arbeit, ande-
rerseits aber auch daran, daß die besonderen Reproduktionsbedingungen bei der Landwirt-
schaft ja tatsächlich und sogar in einem wörtlichen Sinne an die „Immobilien“ des Landbesit-
zes gebunden sind. Es wäre daher sinnvoll, wenngleich wieder ein weiteres Stückchen hinein
in eine nicht mehr so gehaltvolle abnehmende Abstraktion der Modellierung, zwischen den
beiden „Ecken“ ganz oben und ganz unten einen weiteren Unterschied in den Interaktionsef-
fekten vorzusehen, so daß es jetzt für alle drei Klassen jeweils ein eigenes Muster der Status-
vererbung gibt. Sie wäre dann am stärksten bei den Landwirten, am geringsten bei den mittle-
ren Klassen, und dazwischen liegen im Grad der Statusvererbung die oberen Klassen.

Das ergibt die Parametrisierung für das Modell d in Abbildung 4.14. Das
betreffende Modell wird auch als quasi-perfekte Mobilität bezeichnet (vgl.
dazu und zu weiteren Modellen Hout 1983, S. 19ff.; Grusky und Hauser 1984,
S. 23).

Ein inhaltliches Beispiel: Die Erklärung des Mobilitätsregimes der westlichen


Industriegesellschaften

Auf diese Weise haben Robert Erikson und John H. Goldthorpe ihre theoreti-
schen Überlegungen des Zusammenspiels von Hierarchieeffekten, Statusver-
erbung, Sektoreneffekten und (Dis-)Affinitäten auf die Erklärung der Unter-
schiede in den Mobilitätsmustern einiger wichtiger westlicher Industriegesell-
schaften und ihr doch schon recht komplexes 7-er Klassenschema angewandt
(vgl. Erikson und Goldthorpe 1987, S. 64ff.; Erikson und Goldthorpe 1992, S.
121ff.).
200 Die Konstruktion der Gesellschaft

Gegenüber dem einfachen Unabhängigkeitsmodell ergaben sich mit dem Modell für die ein-
zelnen betrachteten Länder (England, Frankreich, West-Deutschland, Ungarn, Irland, Nord-
Irland, Polen, Schottland und Schweden) Verminderungen des Misfits zwischen theoretisch
vorhergesagten und empirischen Werten zwischen 98 und 99% (!) und „Fehlern“ in der Vor-
hersage der empirischen Besetzungen über das theoretische Modell nicht größer als 2%
(wieder: !). Verschwiegen sollte aber auch nicht werden, daß schon ein wesentlich einfache-
res Modell, nämlich eines, das nur Randverteilungs- und konstante Interaktionseffekte ent-
hielt, gegenüber dem Modell der Unabhängigkeit zu einer Reduktion von fast 95% im Misfit
führte und Fehlklassifikationen nicht größer als 6% aufwies. Das war eigentlich auch schon
etwas.

Erikson und Goldthorpe werteten ihr Ergebnis als eine Bestätigung der sog.
FJH-Hypothese, wonach das Mobilitätsregime in allen westlichen Industrie-
gesellschaften letztlich das gleiche wäre. Die Bezeichnung „FJH“-Hypothese
stammt von einem Aufsatz von David L. Featherman, F. Lancaster Jones und
Robert M. Hauser, die diese These 1975 aufgestellt bzw. bekräftigt hatten.35
Sie war von Seymour M. Lipset und Hans L. Zetterberg in einem von Lipset
und Reinhard Bendix 1959 herausgegebenen Buch über die soziale Mobilität
in den westlichen Industriegesellschaften als Leitlinie für die dann folgenden
Untersuchungen so formuliert worden:
„ ... it will be useful to start at the outset, that the overall pattern of social mobility appears to
be much the same in the industrial societies of various Western countries.“36

Alle Unterschiede, so nun Erikson und Goldthorpe, zwischen den Ländern


seien lediglich Kompositionseffekte der unterschiedlichen Branchenentwick-
lungen in den verschiedenen Ländern einerseits und der ansonsten in allen
Ländern gleichermaßen zutreffenden Besonderheiten in der Reproduktion der
jeweiligen Klassen andererseits, statistisch modelliert jeweils über typische
Interaktionseffekte. Theoretisch begründet wurde diese Modellierung über die
oben geschilderten Annahmen von der Hierarchie der Klassen, der Statusver-
erbung, den Sektorenbesonderheiten und den (Dis-)Affinitäten. Und das Gan-
ze war dann eingebettet in eine Erklärung des Geschehens als Zusammenspiel
des Handelns von Akteuren, die versuchen, aus ihrer Situation das in den vor-
gefundenen Begrenzungen und Möglichkeiten jeweils Beste zu machen.

35
David L. Featherman, F. Lancaster Jones und Robert M. Hauser, Assumptions of Social
Mobility Research in the United States: The Case of Occupational Status, in: Social
Science Research, 4, 1975, S. 329-360.
36
Seymour M. Lipset und Hans L. Zetterberg, Social Mobility in Industrial Societies, in:
Lipset und Bendix 1959, S. 13; Hervorhebungen so nicht im Original. Vgl. dazu aber
auch schon Sorokin 1959, Kapitel XVII: Vertical Mobility within Western Societies, S.
414ff.
Soziale Ungleichheit 201

Wenn man die Mobilitätsmuster für die verschiedenen Klassen richtig

spezifiziere und statistisch angemessen modelliere, dann dürfte es besondere


nationale „Kontexteffekte“ oder besondere unerklärte Reste an Interaktionsef-
fekten nicht mehr geben.
Das kam dann ja auch heraus. Das Ergebnis ist ganz erheblich mehr als die
bloße Feststellung einer makrosozialen Regelmäßigkeit, eine bloß induktive
Verallgemeinerung oder eine makrosoziologische Generalisierung von Ähn-
lichkeiten. Weil Erikson und Goldthorpe diese Modellierungen vor dem Hin-
tergrund einer – überzeugenden – situationslogischen Erklärung der statisti-
schen Modellierung vorgenommen haben, haben sie die Zusammenhänge und
Effekte – und die „Ausnahmen“(!) – nicht nur statistisch, sondern auch
theoretisch „erklärt“, und wir „verstehen“ jetzt auch ganz „sinnhaft“, warum
es dieses „Gesetz“ des einheitlichen Mobilitätsregimes der westlichen
Industriegesellschaften gibt und warum es sich scheinbar(!) nicht überall
zeigt. Es ist ein wirklicher Musterfall für eine soziologische (Tiefen-
)Erklärung und deren empirische Überprüfung über die Anwendung der dazu
geeigneten statistischen Instrumente. Man könnte neidisch werden oder vor
Bewunderung niedersinken. Erikson und Goldthorpe haben das Letztere
verdient.

4.5.2 Statuszuweisung

In der „Süddeutschen“ fand sich in der Ausgabe vom 6. November 1999 auf
der Seite 2 ein Bericht der Journalistin Jeanne Rubner über einen gewissen
Gregor Markl, der kurz zuvor auf eine Hochschullehrerstelle für Gesteinskun-
de an die Universität Tübingen berufen worden war. Die Außergewöhnlich-
keit der Sache bestand in dem Alter des Herrn Professors: 28 Jahre. Das ist,
zumal für deutsche Verhältnisse, sensationell gering. Und daher war der junge
Herr Professor auch ganz mächtig stolz und erzählte bereitwillig über die Sta-
dien seiner atemberaubenden Karriere. Nur auf eines war er, wie Jeanne Rub-
ner auch noch zu vermelden wußte, nicht gut zu sprechen: auf seine soziale
Herkunft. Unangenehm war ihm dabei wohl weniger, daß seine Mutter Stu-
dienrätin für Biologie und Chemie war. Das geht inzwischen nicht wenigen,
die oben stehen, auch so ähnlich. Wohl aber war ihm offenbar besonders pein-
lich, wenn die Sprache auf seinen Vater, Prof. Dr. Dr. Hubert Markl, kam. Der
war ehemals Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft und danach
(und 1999 immer noch) der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, der wohl
bedeutendsten, reichsten und auch, von ihrem Gehabe her wenigstens, elitärs-
ten außeruniversitären Forschungseinrichtung hierzulande, in der selbst die
202 Die Konstruktion der Gesellschaft

mittelmäßigsten Direktoren, die es auch dort ohne Zweifel gibt, noch dicke
Dienstwagen fahren. Vater Markl war damit einer der wichtigsten und mäch-
tigsten Männer in der wissenschaftspolitischen Landschaft in Deutschland,
und sein Einfluß reichte dabei sicher bis weit in die Universitäten hinein.
Jeanne Rubner schreibt dazu:
„Nun dürfte man bei Markls am Mittagstisch mehr über Forschungspolitik und Mineralogie
geredet haben als über Fußball; der erfahrene Vater hat dem Sohn sicher manch guten Rat-
schlag in Sachen Karriere geben können. Protektion weist Markl junior aber weit von sich.
Spaß an der Arbeit und die Förderung durch einen unbürokratischen Doktorvater sind für ihn
die Geheimnisse seines Erfolgs.“

Und daß das so war, kann man ihm sicher auch glauben.

Die Status-attainment-Forschung

Die individuellen Umstände und Bedingungen des sozialen Auf- oder Ab-
stiegs und der Vererbung eines Status, etwa auch die eines Professorentitels
durch ein bildungsnahes Klima in der Familie oder das durch einen prominen-
ten Namen angeregte vorauseilende Wohlwollen einer Berufungskommission,
sieht man in den Mobilitätstabellen nicht. In der sog. Status-attainment-
Forschung geht es darum, genau das herauszufinden:37 Wer steigt unter wel-
chen Umständen warum auf oder ab? Bei diesen Untersuchungen stand stets
auch die Frage im Hintergrund, ob sich in den Umständen, die die Statuszu-
weisung der Akteure bestimmen, auch solche Bedingungen befinden, die mit
der „Offenheit“ von Gesellschaften weniger zu vereinbaren sind, also etwa
familiär vermittelte Vorteile oder Nachteile, auch schon für den wohl wich-
tigsten Zwischenschritt für den Statuserwerb im Berufsleben – die Bildung. In
offenen Gesellschaften sollte es ja ein hohes Ausmaß an horizontaler und ver-
tikaler individueller Mobilität innerhalb und zwischen den Generationen ge-
ben, ganz einfach, weil hier nicht mehr die Geburt und die Familie, sondern
nur noch die Leistung zählen sollten, ganz so wie bei Bayern München, wo ja
auch ein Methusalem namens Lothar Matthäus die Position des Libero solan-
ge besetzen konnte, wie der die „Leistung“ dazu brachte. Und Statusverer-
bungen und der Bonus eines besonderen Elternhauses hätten darin daher ei-
gentlich keinen legitimen Platz.
37
Vgl. dazu die Übersicht über die verschiedenen Stadien der Status-attainment-Forschung
bei Harry B. G. Ganzeboom, Donald J. Treiman und Wout C. Ultee, Comparative Inter-
generational Stratification Research: Three Generations and Beyond, in: Annual Review
of Sociology, 17, 1991, S. 277-302. Siehe auch die knappe Übersicht bei Kerbo 1996, S.
349ff.
204 Die Konstruktion der Gesellschaft

Berechnung dieser Koeffizienten.39 Pfadkoeffizienten sind im Prinzip nichts anderes als die
standardisierten partiellen Regressionskoeffizienten der jeweils betrachteten abhängigen auf
die jeweilige unabhängige Variable, die die Pfeile direkt miteinander verbinden. Sie beziffern
daher den direkten kausalen Einfluß der jeweiligen unabhängigen Variablen auf die abhängi-
ge, weil die anderen Einflüsse ja statistisch kontrolliert werden. Ein solcher direkter Effekt
liegt in dem Diagramm etwa in der Beziehung zwischen dem Beruf des Vaters zur Bildung
des Befragten mit einem Wert von 0.28 vor. Nicht vorkommende Pfeile zeigen an, daß es an
dieser Stelle keinen direkten kausalen Effekt gibt. Indirekte kausale Beziehungen lassen sich
dann als Produkt der Kette von Pfadkoeffizienten berechnen, die zwischen den beiden be-
trachteten Variablen vermitteln, etwa die indirekte kausale Beziehung zwischen dem Beruf
des Vaters und dem späteren Beruf des Befragten mit den Werten 0.22&0.28=0.06. Der ge-
samte kausale Effekt wäre dann die Summe aller direkten und indirekten kausalen Effekte,
hier also etwa zwischen dem Beruf des Vaters und dem ersten Beruf des Befragten der direk-
te kausale Effekt 0.44 plus dem indirekten Effekt in Höhe von 0.28&0.44=0.12. Das macht als
totalen kausalen Effekt einen Wert von 0.44+0.12=0.66. Außerdem gibt es unter Umständen
noch „korrelierte“ Effekte zwischen den Variablen. Das sind alle weiteren, nicht direkt oder
indirekt kausalen Beziehungen, solche also, die irgendwie noch über Korrelationen ohne aus-
drückliche Kausalrichtung verlaufen. Das wäre, wieder in dem Beispiel der Beziehung zwi-
schen dem Beruf des Vaters und dem ersten Beruf des Befragten, die Korrelation zwischen
dem Beruf und der Bildung des Vaters mit 0.52, nun aber noch multipliziert mit dem indirek-
ten kausalen Effekt 0.31&0.44=0.14, weil der korrelative „Pfad“ zwischen dem Beruf des Va-
ters und dem ersten Beruf des Befragten ja noch über alle diese kausalen Zwischenstationen
verläuft. Die von außen kommenden Pfeile sind ein Maß für die durch die aufgeführten Vari-
ablen nicht erklärten sonstigen Einflüsse. Je geringer diese Werte sind, um so besser ist die
Varianz in der jeweiligen Variable erklärt.

Man erkennt in dem Diagramm gut, wovon der zuletzt erreichte berufliche
Status abhängig ist.
Mit einer Stärke von 0.39 ist er direkt von der Bildung des Befragten abhängig und mit 0.28
direkt vom Status seines ersten Berufs. Der Status des ersten Berufs ist, nicht unerwartet, mit
0.44 direkt deutlich von der Bildung abhängig. Wir finden also einen starken direkten Effekt
der schon etwas zurückliegenden Bildungskarriere des Befragten auf den schließlich erreich-
ten beruflichen Status, aber auch eine durchaus merkliche indirekte Wirkung, vermittelt über
den ersten Beruf (in Höhe von 0.44&0.28=0.12). Von sehr großer Bedeutung ist dann aber ins-
besondere noch der familiäre Hintergrund des Befragten, gemessen über die Bildung und den
beruflichen Status des Vaters. Die Bildung des Vaters wirkt sich mit 0.31 direkt auf die Bil-
dung des Befragten aus – und darüber dann natürlich auch indirekt (etwa mit 0.31&0.39=0.12)
über die Bildung auf den letzten Beruf. Der Beruf des Vaters schließlich hat direkte Auswir-

39
Vgl. zur Pfadanalyse und deren Anwendung gerade auch im Bereich der Analyse von
Prozessen der Statuszuweisung und der Reproduktion von sozialer Ungleichheit die frü-
hen Beiträge bei Hans J. Hummell und Rolf Ziegler (Hrsg.), Korrelation und Kausalität, 3
Bände, Stuttgart 1976. Siehe zu den neueren Entwicklungen der statistischen Schätzung
sog. linearer Strukturgleichungsmodelle, den Weiterentwicklungen der Pfadanalyse u.a.,
John C. Loehlin, Latent Variable Models. An Introduction to Factor, Path, and Strucural
Analysis, 2. Aufl., Hillsdale, N.J., und London 1992; oder Kenneth A. Bollen, Structural
Equations with Latent Variables, New York u.a. 1989. Für eine kurze Skizze des Vorge-
hens siehe Rainer Schnell, Paul B. Hill und Elke Esser, Methoden der empirischen Sozial-
forschung, 6. Auflage, München und Wien 1999, S. 425ff.
Soziale Ungleichheit 205

direkte Auswirkungen auf alle drei Variablen der Karriere des Befragten: Mit 0.28 wirkt er
direkt auf die Bildung, mit 0.22 direkt auf den ersten und mit 0.12 sogar noch direkt auf den
letzten beruflichen Status.

Die relativ starken direkten Wirkungen des Elternhauses des Befragten auch
auf die späteren Stadien seiner beruflichen Karriere sind sehr bemerkenswert.
Eigentlich sollte man für eine offene Leistungsgesellschaft erwarten, daß sich
die Einflüsse des Elternhauses, wenn überhaupt, nur auf den Erwerb erster
Qualifikationen beziehen, vielleicht auch noch für die ersten Schritte ins Be-
rufsleben wichtig sind. Aber dann sollten nur noch die „individuellen“ Ver-
dienste zählen – und eben nicht mehr irgendwelche über das Elternhaus ver-
erbten Vorteile oder Nachteile. Die USA sind doch nicht Indien, sollte man
meinen. Aber eine solche Statusvererbung ist hier erkennbar der Fall: Wer
schon im Elternhaus etwas hat, dem wird auch sehr viel später mehr gege-
ben.40 In den Vereinigten Staaten von Amerika! Unglaublich.

Das Wisconsin-Modell: die Bedeutung von Aspirationen und Bezugsgruppen

Die Studie von Blau und Duncan beschreibt den „Pfad“ der Übernahme von
Statuspositionen im Lebenslauf einzelner Personen und der Bedingungen für
ihren sozialen Aufstieg – und damit die „individuellen“ Prozesse, die dem Ge-
schehen im Innern der Mobilitätstabellen zugrundeliegen und die „strukturel-
len“ Verhältnisse der Verteilung von Positionen letztlich erzeugen. Sie ist für
die sog. Status-attainment-Forschung richtungsweisend gewesen und hat eine
ganze Forschungstradition angestoßen. Sie hat insgesamt zum Ergebnis ge-
habt, daß trotz allen Wirtschaftswachstums und entgegen den Erwartungen
vieler Bemühungen um die Öffnung des Bildungswesens das Ausmaß der Sta-
tusvererbung in den modernen Industriegesellschaften sehr groß geblieben ist.
Das nach sozialen Schichten bzw. Klassen nach wie vor unterschiedliche Bil-

40
In einer ähnlich angelegten Studie hat Walter Müller im Jahre 1975 für die Bundesrepu-
blik Deutschland ähnliche – indirekte und auch direkte – Vererbungseffekte der Bildung
und des Status des Vaters auf die berufliche Karriere der Kinder, sowie deutliche weitere
direkte Einflüsse aus der Familie festgestellt, die über die Bildungs- und Statusvariablen
hinaus die berufliche Karriere der Kinder bestimmen. Walter Müller, Bildung und Mobili-
tätsprozeß. Eine Anwendung der Pfadanalyse, in: Zeitschrift für Soziologie, 1, 1972, S.
73ff.; Walter Müller, Familie, Schule, Beruf. Analysen zur sozialen Mobilität und Status-
zuweisung in der Bundesrepublik, Opladen 1975, S. 129ff. insbesondere. Vgl. auch die
Übersicht über die Entwicklung und die wichtigsten Ergebnisse der Status-attainment-
Forschung bei Kerbo 1996, S. 350ff. oder bei Grusky 1994, S. 317-358.
206 Die Konstruktion der Gesellschaft

dungsverhalten scheint hier eine entscheidende Rolle zu spielen.41 Das Bil-


dungsverhalten ist offenbar von einigen sozialen und sogar kulturellen Um-
ständen abhängig, die in besonderem Maße mit der familiären Situation in den
verschiedenen Schichten bzw. Klassen zusammenhängen. Das jedenfalls ha-
ben die Studien der sog. Wisconsin-Schule gezeigt, die, anknüpfend an Blau
und Duncan, eine Reihe von derartigen Zwischenvariablen in das Modell der
Statuseinnahme einfügen. Das bekannteste Modell hierfür ist das von Sewell,
Haller und Ohlendorf (vgl. Abbildung 4.16).42
Das Hauptergebnis ist die mit 0.46 überragende Bedeutung der Bildungs-
aspirationen (x4) auf das Bildungsverhalten (x2), das seinerseits mit 0.52 eine
starke direkte Wirkung auf die berufliche Plazierung (x1) hat. Von erheblicher
Wichtigkeit sind ferner die Einflüsse der unmittelbaren Bezugsumgebung auf
die Bildungsaspirationen, sowie, nicht zu vergessen, auch die individuellen
Fähigkeiten. Die soziale Situation im Elternhaus wirkt dagegen erkennbar nur
indirekt auf das Bildungsverhalten und die Statuseinnahme und dann, wenn-
gleich nicht so stark, nur über die Bezugsumgebung (vgl. dazu auch schon
Abschnitt 11.6 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen
Grundlagen“). Das zentrale Ergebnis dieser Erweiterungen des Blau-Duncan-
Modells ist die Erkenntnis gewesen, daß es bei der Statuseinnahme neben den
„Leistungs“-Variablen, wie Intelligenz, schulische Leistungen und das Bil-
dungsverhalten insgesamt, deutliche Einflüsse sozialer und kultureller Art
gibt, insbesondere aus dem Bereich der Familie und der daran gebundenen all-
täglichen Beziehungsnetzwerke, die einen ganz gehörigen Schuß von „Ascrip-
tion“ in das Geschehen hineinbringen. Dazu gehören vor allem die Bildungs-
aspirationen.

41
Vgl. dazu u.a. die schon erwähnten Studien von Erikson und Goldthorpe (1992); Shavit
und Blossfeld 1993, sowie verschiedene Beiträge bei Robert Erikson und Jan O. Jonsson
(Hrsg.), Can Education Be Equalized? The Swedish Case in Comparative Perspective,
Boulder, Col., und Oxford 1996. Siehe dazu auch das Beispiel zu den Bildungsentschei-
dungen in Abschnitt 7.2 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen
Grundlagen“, sowie auch noch Abschnitt 7.1 in diesem Band und das dort vorgestellte
Modell von Raymond Boudon zur Erklärung der Stabilität der Ungleichheit auch bei Öff-
nung des Bildungssystems.
42
William H. Sewell, Archibald O. Haller und George W. Ohlendorf, The Educational and
Early Occupational Status Attainment Process: Replication and Revision, in: American
Sociological Review, 35, 1970, S. 1014-1027.
Soziale Ungleichheit 207

Abb. 4.16: Bedingungen der Statuszuweisung mit den Variablen der Wisconsin-
Schule (nach Sewell, Haller und Ohlendorf 1970, S. 1023)

Aspirationen können als eine Art von „unbedingter“ Neigung, als ein „Wert“ also betrachtet
werden, an dem die Akteure auch gegen alle Schwierigkeiten festhalten. Aspirationen „fra-
men“ wie Werte das Denken und das Handeln so, daß über Alternativen gar nicht nachge-
dacht wird (vgl. dazu auch noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Aber sie stehen nicht isoliert da, sondern sind in Gemeinschaften als Selbstverständlichkeiten
des Alltagslebens kollektiv verbreitet und werden über alltägliche Interaktionen immer wie-
der bestärkt – ansonsten zerfallen sie rasch. Sie sind ein Teil der Kultur der betreffenden
Gruppierung und in das ganze System der Alltagsgestaltung und der Produktion vor allem der
sozialen Wertschätzung eingebettet (vgl. dazu auch noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser
„Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Besonders in den mittleren und oberen Schichten hat
die Bildung einen solchen Eigenwert, neben ihrer Bedeutung als äußerst nützlichem distinkti-
vem kulturellem Kapital, versteht sich, und, nicht zu vergessen, ihrem Wert für die Sicherung
der ökonomischen Position, besonders in den oberen Schichten. Auch heute noch sind ein
Abitur oder ein Diplom in, sagen wir, Mineralogie für ein Arbeiterkind nicht so viel wert wie,
sagen wir noch einmal, für den Sohn des Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft.
208 Die Konstruktion der Gesellschaft

Hinzu kommen ohne Zweifel gewisse „Zuschreibungen“, die auf der Seite der
Akteure geschehen, die für die Plazierung auf den diversen Positionen sorgen.
Das sind zunächst die Lehrer in den Schulen, dann aber auch die Arbeitgeber
oder Personalchefs in den Betrieben und Behörden, die die Positionen zuwei-
sen. Und sicher gibt es so etwas auch bei Berufungskommissionen. Im Zwei-
fel werden sie sich – auf mehr oder weniger subtile Weise – an gewissen
Merkmalen des kulturellen Kapitals der Kandidaten und Bewerber orientieren
und darüber – über die ohnehin bestehenden unterschiedlichen Affinitäten des
Schulsystems etwa zu den Mittel- und Oberschichten hinaus – für eine Bevor-
zugung der mittleren und der oberen Schichten sorgen.
An dieser Stelle wird erneut deutlich, daß es sich bei den Prozessen der Statuszuweisung um
eine „Transaktion“ handelt, bei der ein Angebot auf eine Nachfrage trifft. Der Statuserwerb
und alle damit zusammenhängenden Prozesse der Mobilität und der dadurch erzeugten
Schichtung der Bevölkerung einer Gesellschaft sind eine Angelegenheit der Entscheidungen
von mehreren Akteuren und der Verfügbarkeit über gewisse Opportunitäten, etwa freie Stel-
len, die zu besetzen sind – oder auch nicht. Es ist eine Entscheidung über die Plazierung von
Personen auf bestimmten Positionen im institutionellen Gefüge der Gesellschaft, insbesonde-
re im System der funktionalen Sphären, etwa über die Versetzung in die 12. Klasse oder über
die Zuteilung eines Studienplatzes in Medizin im Bildungssystem, die Vergabe einer Stelle
als Verkäuferin bei Aldi im System der Wirtschaft, die Ernennung zum Finanzbeamten im
System der staatlichen Verwaltung oder die Einweisung als Patient in ein Krankenhaus. In
den üblichen Statuszuweisungsmodellen wird dagegen nur das Geschehen auf der Seite der
„Anbieter“ für die Besetzung von Positionen betrachtet und – sozusagen – die Nachfrageseite
als konstante oder nicht-soziale Umgebung angenommen. Der Statuserwerb ist aber, wie man
leicht sehen kann, keine Sache bloß der, familiär wie auch immer begünstigten oder benach-
teiligten, individuellen Bemühungen, etwa des Erwerbs von Qualifikationen, die dann, sozu-
sagen automatisch und ungefragt, zur nächsten Karrierestufe führen. Es ist auch eine Angele-
genheit von Entscheidungen anderer Akteure, etwa eines Lehrers, der Noten vergibt und
Versetzungen ausspricht oder auch nicht, oder eines Arbeitgebers, der Einstellungen vor-
nimmt oder Entlassungen verfügt. Und die sind allemal nicht frei in ihren Entscheidungen
und können eben nicht jeden nehmen, der sich für eine Position interessiert – nicht zuletzt,
weil die Zahl der begehrten Positionen meist strukturell schon knapp und kaum vermehrbar
ist. Vollständige Erklärungen der Statuszuweisung hätten natürlich beide Seiten einzubezie-
hen und das Geschehen in der Tat als Transaktion und als Markt von Angeboten und Nach-
fragen zu modellieren (siehe dazu auch noch Kapitel 5 über „Inklusion und Exklusion“ in
diesem Band).

Auch in den modernsten Gesellschaften spielen also „ständische“ und kultu-


rell-spezifische Elemente eine wichtige Rolle bei der Statuszuweisung und bei
den Prozessen der Mobilität – und eben nicht nur die „Leistung“ und das ge-
neralisierte Kapital, wie das etwa die Intelligenz ist. Und das geht wohl kaum
anders, weil die Familie, an der so vieles hängt, von ihrer Konstruktion und
Funktion her immer eine spezifische, partikulare und askriptive Angelegen-
heit ist, die schon früh viel an Chancen und Bestrebungen vorentscheidet, was
Soziale Ungleichheit 209

dann in den „meritokratischen“ Institutionen, wie es die Schule eine sein soll,
nicht auszugleichen ist. Und auch die Sesamstraße hilft da nicht viel.

Modernisierung und die Öffnung der Statuszuweisung

Gleichwohl kann man vermuten, daß es in der Mischung von Ascription und
Achievement bei der Statuszuweisung Änderungen gibt, wenn sich die Ge-
sellschaften modernisieren. „Modernisierung“ heißt ja, wenn man einmal den
wohl wichtigsten Grundzug nimmt, die Zunahme in der funktionalen Diffe-
renzierung. Das hat mindestens zwei Folgen: Mit der Entfaltung der Eigenlo-
gik der Funktionssysteme können es sich die Akteure in den Funktionssyste-
men immer weniger leisten, funktionswidrige Plazierungen vorzunehmen, und
es gibt gleichzeitig eine Angleichung der funktionalen Bedeutsamkeit der ver-
schiedenen funktionalen Teilsysteme mit der Folge, daß dann – wenigstens in
der Tendenz – auch das Ausmaß der Ungleichheit unter den Menschen ab-
nehmen müßte (siehe dazu schon Abschnitt 3.1, sowie noch Kapitel 5 und
Abschnitt 9.2 in diesem Band). Man sollte also erwarten, daß in den stärker
modernisierten Gesellschaften die Determination der Plazierung durch die
familiären Umstände abnimmt, wenngleich sie wohl nicht vollkommen ver-
schwinden dürfte.
Genau zu dieser Frage haben Donald J. Treiman und Kam-Bor Yip im Jahr
1989 eine interessante Studie vorgelegt.43 Untersucht wurden die Verhältnisse
in insgesamt 21 Gesellschaften, davon 15 sog. kapitalistisch-industrialisierte
Gesellschaften, wie Australien, England, Japan, Deutschland, Schweden oder
die USA, zwei der damals sog. „socialist-bloc“-Gesellschaften, nämlich Un-
garn und Polen, und vier sog. kapitalistische Entwicklungsländer – Brasilien,
Indien, die Philippinen und Taiwan. Der Grad der Modernisierung dieser Län-
der wurde über den Stand der Industrialisierung einerseits und über das
Ausmaß der Statusgleichheit in der jeweiligen Gesellschaft andererseits (par-
tiell) definiert und entsprechend operationalisiert. Die Autoren gingen von
zwei deutlichen Hypothesen aus:
„Industrialized societies will tend to be more open than nonindustrialized societies.“
„Societies in which the degree of status inequality is high will tend to be less open than socie-
ties in which the degree of status inequality is low.“ (Ebd.; S. 375; Hervorhebungen so nicht
im Original)

43
Donald J. Treiman und Kam-Bor Yip, Educational and Occupational Attainment in 21
Countries, in: Melvin L. Kohn (Hrsg.), Cross-National Research in Sociology, Newbury
Park, London und New Delhi 1989, S. 373-394.
210 Die Konstruktion der Gesellschaft

Die Offenheit bei der Statuszuweisung wurde dann als Grad der (Nicht-)De-
termination des Bildungsstandes der Personen und ihrer Berufsposition durch
den sozialen Hintergund der Befragten, durch die Bildung und den Beruf des
Vaters nämlich, gemessen.
Das war für die Bildung einfacherweise der Anteil der durch die Bildung und die Berufsposi-
tion des jeweiligen Vaters erklärten Varianz, und für die Berufsposition die Höhe des partiel-
len Regressionskoeffizienten für die Wirkung des Berufs des Vaters auf die Berufsposition
des Befragten unter Kontrolle der Bildung des Befragten. Je geringer die erklärte Varianz
bzw. der partielle Regressionskoeffizient waren, um so offener sei das jeweilige gesellschaft-
liche System in Bezug auf die Muster der Statuseinnahme. Klingt eigentlich ganz plausibel,
und ist es wohl auch.

Die Ergebnisse lassen sich leicht zusammenfassen: In den meisten Ländern ist
die Bildung für die Statuseinnahme weit wichtiger als der Beruf des Vaters,
und die Bildung ist auch nicht sonderlich vom familiären Hintergrund be-
stimmt (!). Soweit die Bildung mit den Verhältnissen im Elternhaus zusam-
menhängt, ist die Bildung des Vaters deutlich wichtiger als dessen Berufssta-
tus. Vor allem aber gibt es in der Tat deutliche Unterschiede zwischen den
Ländern in der Offenheit, wobei dafür sowohl der Grad der Industrialisierung
wie die Status(un)gleichheit bedeutsam sind:
„Industrialized societies tend to be more open than developing societies, but this is mainly
because there tends to be less status inequality, particularly inequality in father‘s education, in
industrialzed societies. And both industrialization and status equality promote achievement at
the expense of ascription, as measured by the increased effect of education and the decreased
effect of father‘s occupation on occupational status attainment.“ (Ebd., S. 392f.; Hervorhe-
bung nicht im Original)

Es ist also etwas dran an der „offenen“ Gesellschaft in der Folge von funktio-
naler Differenzierung, Industrialisierung und Statusangleichung (siehe dazu
auch noch Abschnitt 4.6, Kapitel 5, Abschnitt 7.1 und Abschnitt 9.2 dieses
Bandes). Gleichwohl gibt es auch in den offensten Gesellschaften weiterhin
Askriptionen und Statusvererbungen und eine hohe Bedeutung der Familie bei
der Statuseinnahme. Und gelegentlich hat man das Gefühl, daß die feinen Un-
terschiede des familiär vermittelten kulturellen und sozialen Kapitals neuer-
dings in der immer weiter getriebenen funktionalen Differenzierung der end-
gültig entfesselten Moderne eher wieder wichtiger werden.

Strukturelle Begrenzungen und individuelle Bemühungen

Die Analysen der Mobilitätsmuster und Mobilitätsregimes anhand der Mobili-


tätstabellen hatten den Nachteil, daß dahinter die individuellen Prozesse der
Soziale Ungleichheit 211

Statuseinnahme und -zuweisung verschwanden, aber sie hatten den Vorzug,


daß in ihnen die strukturellen Begrenzungen der Mobilität systematisch be-
rücksichtigt wurden. Die Untersuchungen zum Status-attainment enthielten
zwar wichtige Informationen zu den individuellen Vorgängen, sie gingen aber
(fast) immer von der Fiktion aus, daß es nur eine Art von „Wahl“ oder nur die
Frage von Bemühungen und eines „Matches“ zwischen Angebot und Nach-
frage wäre, was das Geschehen antreibt. Und damit wurde, wenigstens impli-
zit, angenommen, daß es eine strukturelle Begrenzung bei der Statuseinnahme
nicht gebe.
Das aber ist eine ganz und gar unrealistische und – vor allem auch – unso-
ziologische Sichtweise. Daher liegt es nahe, die Stärken der beiden Zugangs-
weisen, der Mobilitätsanalyse und der Status-attainment-Forschung, zu kom-
binieren. Wie soll das aber gehen? Im Prinzip ist die Sache recht einfach: Man
müßte in die Status-attainment-Modelle neben die (üblichen) individuellen
Variablen, wie Bildung und Beruf des Vaters, Aspirationen und Bezugsgrup-
pen oder die eigene Bildung, auch kontextuelle Variablen einfügen, die die
strukturellen Begrenzungen der Statuseinnahme wiedergeben. Beispielsweise:
die strukturellen Veränderungen in den beruflichen Sektoren zwischen den
Generationen oder die Unterschiede darin zwischen den verschiedenen Län-
dern. Die individuellen Prozesse könnten ja nichts weiter sein als Scheineffek-
te der strukturellen Veränderungen, so wie sich das bei vielen Kontext-
analysen auch immer wieder zeigt (vgl. dazu schon Abschnitt 11.5 in Band 1,
„Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Was wie ei-
ne große „Offenheit“ des Systems aussieht, könnte dann u.U. nichts weiter
sein als die „logische“ Folge der Erweiterung des Statussystems nach oben
über den Ausbau von Sektoren und Branchen, in denen die höheren Positio-
nen zu vergeben sind. Und was als eine individuelle Mobilität erscheint,
könnte auch bloß die Folge einer Schrumpfung von Branchen sein, denen der
Markt oder die Politik das Leben ausgeblasen hat.
Wie eine solche Untersuchung aussehen kann, hat Per B. Kropp in seiner
Doktorarbeit gezeigt, die er am ICS (Interuniversity Centre for Social Science
Theory and Methodology der Universitäten Groningen, Utrecht und Nimwe-
gen) geschrieben hat.44 Es ging dabei u.a. um einen Spezialfall der Statuszu-
weisung bzw. des sozialen „Aufstiegs“: das Wiederfinden eines Arbeitsplat-
zes nach einer Periode der Arbeitslosigkeit. Interessant ist die Studie auch
deshalb, weil sie diese Vorgänge für die Umbruchszeit in der ehemaligen
DDR nach der Wende untersucht, die durch einen massiven Umbau des ge-

44
Per B. Kropp, Berufserfolg im Transformationsprozess. Eine theoretisch-empirische Stu-
die über die Gewinner und Verlierer der Wende in Ostdeutschland, Amsterdam 1998.
212 Die Konstruktion der Gesellschaft

samten sektoralen Systems und den Fortfall ganzer Branchen und Berufs-
zweige gekennzeichnet war. Die hier wichtige Besonderheit der Untersuchung
war, daß nicht nur gewisse individuelle Eigenschaften, wie die Bildung, die
Berufserfahrung oder die politische „Belastung“ zur Erklärung eines Endes
der Arbeitslosigkeit berücksichtigt wurden, sondern die Veränderungen in der
Beschäftigung in der jeweiligen Branche und Berufsgruppe insgesamt. Damit
wurden also sowohl die strukturellen Begrenzungen wie die individuellen
Eignungen oder Bemühungen zur Erklärung der individuellen Statuszuwei-
sung berücksichtigt. In einem später verfaßten Artikel findet sich eine Tabelle,
die die in der Doktorarbeit etwas komplizierter dargestellten Ergebnisse an-
schaulich wiedergibt (vgl. Tabelle 4.13).45

Tabelle 4.13:Bestimmungsgründe des Erwerbsstatus unter Kontrolle struktureller Ver-


änderungen in Form der Branchen- und Berufsgruppenentwicklung

45
Die Tabelle entstammt leicht gekürzt und verändert aus: Per B. Kropp, Strukturverände-
rungen und Humankapital. Eine Erklärung der Veränderungen von Berufserfolg in Ost-
deutschland. Vortrag zum Abschlußkolloquium des Schwerpunktprogramms „Sozialer
und politischer Wandel der DDR-Gesellschaft“ der DFG, Bonn 1999, S. 18. Vgl. zu wei-
teren Einzelheiten auch Kropp 1998, S. 130ff. Zur Bedeutung und Interpretation der Ko-
effizienten, sog. Logit-Koeffizienten, siehe Fußnote 6 in Abschnitt 7.1 dieses Bandes.
Soziale Ungleichheit 213

Variablen Modell 1 Modell 2 Modell 3

Branchenentwicklung 0.149 0.161


Berufsgruppenentwicklung 0.259 0.229

Ausbildung 0.277 0.089


Berufserfahrung -.511 -.508
geringe Branchenspezifik -.299 -.255
geringe familiäre Belastung 0.138 0.129
politische Funktion 0.212 -.019

Konstante 0.665 1.859 1.548


Pseudo-R2 0.040 0.084 0.104
N 439 460 436

fett: Irrtumswahrscheinlichkeit p<0.05


kursiv: Irrtumswahrscheinlichkeit p<0.10

Die Variablen „Branchenentwicklung“ und „Berufsgruppenentwicklung“ ge-


ben die strukturellen Begrenzungen und Opportunitäten wieder, die anderen
bestimmte individuelle Qualifikationen und Voraussetzungen, die das Wieder-
finden eines Arbeitsplatzes begünstigen oder erschweren könnten. Und man
sieht sofort: Zuerst (Modell 1) scheinen sich die individuellen Variablen, wie
die Ausbildung, die Berufserfahrung, die Abkömmlichkeit durch die Familie
und auch die frühere politische Funktion in der DDR, tatsächlich auszuwir-
ken, und auch die strukturellen Variablen haben alleine einen deutlichen
Einfluß (Modell 2). Aber fast alle individuellen Einflüsse verschwinden, wenn
die strukturellen Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt einbezogen werden,
auch die Effekte der Ausbildung (Modell 3). Nur die familiäre Belastung, die
aber ja auch als eine Art von Restriktion anzusehen ist, hat weiterhin einen
gewissen, schwach signifikanten Effekt. Oder anders gesagt: Die Positionen
werden von den Akteuren nicht so sehr „gewählt“ als die Akteure mit Gele-
genheiten konfrontiert sind, die dann einige von ihnen nutzen können, die ge-
rade die „passenden“ Eigenschaften haben. Wenn dagegen eine Branche ganz
abgewickelt worden ist, dann nutzen alle Netzwerke, alle Eignungen, alle Er-
fahrungen und Qualifikationen nicht mehr viel.
214 Die Konstruktion der Gesellschaft

Wer war das Volk?

So ist es, und es ist anders auch wohl kaum denkbar: Die materiellen und in-
stitutionellen Strukturen sind immer der weiteste Rahmen für alle weiteren
Prozesse der individuellen Statuseinnahme und Mobilität. Vor diesem Hinter-
grund darf jedoch erneut nicht vergessen werden, daß selbst solche ehernen
Makroentwicklungen wie die der Veränderung ganzer Branchen letztlich nie
etwas anderes sind als die – beabsichtigten wie unbeabsichtigten – Folgen des
Handelns von Akteuren. Denn wer hat den drastischen Umbau der DDR-
Gesellschaft verfügt, und wer hat die DDR-Wirtschaft, teilweise ganz rigoros,
einfach „abgewickelt“? Natürlich: Die damalige Bundesregierung unter Hel-
mut dem Großen, und zwar gegen den Rat aller Fachleute aus der Wirtschaft
und der Wissenschaft. Und dann die Treuhand und, für das Wissenschaftssys-
tem in der DDR, der Wissenschaftsrat, die beide wiederum auch nicht vom
Himmel gefallen sind und durchaus mit Personen bestückt waren, die ihre In-
teressen hatten und auch verfolgten, wie wir nicht erst heute wissen. Aber wer
hat Kohl zuvor gewählt und ihn sozusagen mit einer Blankovollmacht beauf-
tragt, die DDR abzuwickeln? Das Volk. Und wer hat die Wende herbeige-
führt, die das alles erst möglich machte? Sicher auch der etwas unkonzentrier-
te Günter Schabowski bei der legendären Pressekonferenz am 9. November
1989, mehr aber noch wieder das inzwischen nach 40 Jahren des Wartens auf
das sozialistische Paradies unwirsch gewordene Volk, das dann am gleichen
Abend noch, nachdem Hajo Friedrichs in der Tagesschau die ersten jubelnden
Ossis auf dem Kudamm gezeigt hatte, einfach über die Mauer ging – und
nicht ahnte, daß es dabei zu einem erheblichen Teil geradewegs in die eigene
Arbeitslosigkeit hineinfeierte.

4.6 Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen

Die Ungleichheit unter den Menschen scheint eine Universalie zu sein: Es


gibt keine bekannte Gesellschaft, die nicht – über die angeborenen Ungleich-
heiten nach Geschlecht, Alter, Körperkraft und Talenten und die „horizonta-
len“ Ungleichheiten in Geschmack und Gewohnheiten hinaus – mehr oder
weniger deutliche Unterschiede in der vertikalen Rangordnung der Akteure
kennen würde, die bestimmte Eigenschaften haben und bestimmte Arten von
Ressourcen kontrollieren.
Das gilt, wenngleich nur in sehr geringem Maße, selbst für die ganz einfachen Stammesge-
sellschaften, in denen es kaum etwas zu beherrschen, wenig zu verteilen und daher auch nicht
viel zu bewerten und in eine Rangordnung zu bringen gab (oder gibt). Und die beiden wich-
Soziale Ungleichheit 215

tigsten historischen Experimente zur Durchsetzung von Gleichheit (und Freiheit und Brüder-
lichkeit) sind, wie wir wissen, ganz eklatant gescheitert und schon sehr bald in Systeme mit
ganz deutlichen Hierarchien mutiert: die Französische Revolution mit Napoleon und einer
neuen absoluten Monarchie und die Oktoberrevolution mit Stalin und dem Staatssozialimus
des Sowjetreiches als Ergebnis. Es gibt, wie berichtet wird, nur eine wirklich anarchische, ba-
sisdemokratische, konsensgebundene „Gesellschaft“ ohne institutionalisierte Ungleichheit:
die Piratenschiffe in der Karibik – allerdings nur solange die See ruhig und/oder keine Beute
am Horizont zu sehen waren. Bei einem aufziehenden Sturm oder bei einer fetten Kogge am
Horizont hatte sofort alles auf seinem Platz zu sein und auf das Kommando des Käpt‘ns zu
hören, damit das Unternehmen Erfolg haben konnte.46

Kaum eine Frage hat die Soziologie mehr bewegt als diejenige, woher die
Ungleichheit unter den Menschen kommt und ob sich eine Gesellschaft ohne
soziale Ungleichheit überhaupt denken läßt. Es war, wie Ralf Dahrendorf in
seinem immer noch wichtigen und lesenswerten Überblick über das Thema
feststellt, „die erste Frage der soziologischen Wissenschaft“ überhaupt.47 Und
Niklas Luhmann war nicht der erste, der – bisher immer: voreilig – verkündet
hat, daß es eine Frage sei, die sich die Soziologie nicht mehr zu stellen brau-
che.

Zwei frühe unsoziologische Antworten: Gott und Natur

Die sozialphilosophischen Vorläufer der Soziologie hatten für die Frage nach
dem Ursprung der sozialen Ungleichheit insbesondere zwei Antworten gefun-
den (vgl. dazu Lenski 1973, S. 19ff.): den Willen Gottes und/oder die Gege-
benheiten der Natur. So meinte beispielsweise Aristoteles, daß es Freie und
Sklaven „von Natur“ aus gebe, ebenso wie die Rangunterschiede der Ge-
schlechter, und die soziale Ungleichheit wäre nur eine direkte Folge jener von
der Natur vorgegebenen Ungleichheiten, sei es die in Körperkraft, in Mut, in
Intelligenz, in Wissen oder Pflichtgefühl (vgl. dazu auch Dahrendorf 1974a,
S. 356f.). Und, wie wir aus der Geschichte des Christentums wissen, gab es
keineswegs nur im Hinduismus die Auffassung, daß die Ungleichheit unter
den Menschen von Gott verfügt und der Gehorsam gegenüber den Mächtigen
gottgefällig wäre.
Das waren Auffassungen, die die bestehenden Ungleichheiten als gottge-
geben oder „natürlich“, damit als unausweichlich und gut und daher auch als

46
Vgl. dazu Heiner Treinen, Parasitäre Anarchie. Die Karibische Piraterie im 17. Jahrhun-
dert, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 33, 1981, S. 84ff.
47
Ralf Dahrendorf, Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, in: Ralf Dah-
rendorf, Pfade aus Utopia. Arbeiten zur Theorie und Methode der Soziologie. Gesammel-
te Abhandlungen I, 3. Aufl., München 1974a, S. 353.
216 Die Konstruktion der Gesellschaft

rechtmäßig und gerecht legitimierten. Aus rein wissenschaftlicher Sicht wäre


das, wenn es denn stimmte, nicht weiter schlimm. Aber, und das ist schon be-
denklicher, es waren durch und durch unsoziologische Erklärungen für ein
ohne Zweifel soziales Phänomen: Die soziale Ungleichheit wurde als die di-
rekte Folge nicht-sozial begründeter Unterschiede unter den Menschen „er-
klärt“: hier die Unterschiede aus dem Ratschluß Gottes, dort aus den Launen
und Vorgaben der Natur.
Beide Auffassungen kamen daher auch sehr ins Gerede, als im Verlaufe
der Aufklärung, der Erstarkung des Bürgertums und der Schwächung des A-
dels ein anderes Postulat über das Verhältnis von Mensch und Gesellschaft
Plausibilität gewann und auch mit dem Willen Gottes und mit der Natur be-
gründet wurde: das Postulat von der grundsätzlichen Gleichheit aller Men-
schen. Und sofort erhebt sich dann die Frage, wie es angesichts der gottgege-
benen und/oder natürlichen Gleichheit aller Menschen zur Ungleichheit
kommt – und wie die oberen Schichten ihre privilegierte Stellung länger
rechtfertigen konnten, zumal nicht mehr zu verbergen war, daß sich dort kei-
neswegs allesamt Menschen mit den besseren Talenten, dem ausgeprägteren
Fleiß und dem größeren Mut aufhielten. Es war die Frage nach den gesell-
schaftlichen Ursachen der Ungleichheit – und wohl in der Tat einer der vielen
Anlässe, die Soziologie als Wissenschaft zu erfinden.

Zwei frühe soziologische Antworten: Privateigentum und Arbeitsteilung

Die ersten soziologischen Antworten auf die Frage nach der sozialen Un-
gleichheit knüpfen an zwei zentrale gesellschaftliche Einrichtungen an: das
Privateigentum und die Arbeitsteilung. Das Privateigentum wurde vor allem
von Jean Jacques Rousseau als Grund für die soziale Ungleichheit benannt.
Die Einrichtung des Privateigentums ist für ihn eine Art von Sündenfall ge-
wesen, mit dem die Vertreibung aus dem Paradies des Naturzustandes der
Gleichheit begann: Der erste Mensch, der sein Gebiet einzäunte und es für
sich privat beanspruchte, gab den Grund für eine privilegierte Kontrolle von
interessanten Ressourcen und für die spaltende Einteilung in Besitzende und
Nichtbesitzende. Die Arbeitsteilung, die Unterteilung einer Produktion in un-
terschiedliche spezielle „Funktionen“, erzwingt ebenfalls Unterschiede bei
den Menschen – die nach unterschiedlichen beruflichen Tätigkeiten und den
damit verbundenen Unterschieden in Entlohnung und Prestige, woher diese
bewertenden Unterschiede auch immer kommen mögen. Hierauf haben – nach
Adam Smith natürlich – insbesondere Friedrich Engels und Gustav Schmoller
hingewiesen (vgl. die Zusammenfassung bei Dahrendorf 1974a, S. 361ff.).
Soziale Ungleichheit 217

Klassenbildung

Arbeitsteilung und Privateigentum bedingen danach zusammen die soziale


Ungleichheit: Die zunächst bloß horizontale Ungleichheit nach beruflichen
Positionen wird über die Möglichkeit des Besitzes vs. des Nichtbesitzes in ei-
ne vertikale Rangordnung übersetzbar, wenngleich nicht allein schon aus „lo-
gischen“ Gründen darin auch wirklich übersetzt. Aber eine Reihe von nahe-
liegenden Mechanismen sorgt allzubald dafür, daß es dazu kommt. In den frü-
hen soziologischen Beiträgen zu dem Problem gab es hierfür fast nur nicht-
soziologische Begründungen, wie das Bedürfnis nach wertender Unterschei-
dung, das Gustav Schmoller bemühte. Es war dann insbesondere Karl Marx,
der die „Klassenbildung“ systematisch über die Kombination von Privateigen-
tum und Arbeitsteilung zu erklären versucht hat. Für ihn war beides sogar i-
dentisch. Nach seiner Auffassung bildeten sich die „Klassen“ ja nur aufgrund
der jeweiligen Eigentumsordnungen. Und die waren innerhalb der jeweiligen
Gesellschaften bestimmten arbeitsteiligen Funktionen zugeordnet: Sklaven-
halter und Sklaven, Feudalherren und Leibeigene, Proletarier und Kapitalis-
ten, zum Beispiel. Und daraus folgt, wie Karl Marx und Friedrich Engels in
der „Deutschen Ideologie“ schreiben:
„Mit der Teilung der Arbeit ... ist zu gleicher Zeit auch die Verteilung, und zwar die unglei-
che, sowohl quantitative wie qualitative Verteilung der Arbeit und ihrer Produkte gegeben,
also das Eigentum, das in der Familie, wo die Frau und die Kinder die Sklaven des Mannes
sind, schon seinen Keim, seine erste Form hat.“48

Und dann sogar noch weiter:


„Übrigens sind Teilung der Arbeit und Privateigentum identische Ausdrücke – in dem Einen
wird in Beziehung auf die Tätigkeit dasselbe ausgesagt, was in dem Andern in bezug auf das
Produkt der Tätigkeit ausgesagt wird.“ (Ebd.; Hervorhebung nicht im Original)

Wir sehen gleich schon das Problem in dieser Gleichsetzung: Die Arbeitstei-
lung ist ein Merkmal der sozialen Differenzierung in unterschiedliche funkti-
onale Systeme, das Privateigentum dagegen regelt die Bedingungen der Kon-
trolle über die Ressourcen, die die Akteure, etwa aus der Inklusion in diese
Teilsysteme, erhalten mögen. Aber soziale Differenzierung und soziale Un-
gleichheit sind, wie wir inzwischen wissen, nicht dasselbe. Solange man – mit
dem Klassenbegriff von Marx und Engels – meint, daß die Zuordnung der Ak-
teure zu den beruflichen Positionen alleine schon über das Privateigentum (an
Produktionsmitteln) geregelt ist und es keine zusätzlichen interessanten Res-

48
Karl Marx und Friedrich Engels, Die Deutsche Ideologie: I. Feuerbach, in: Marx-Engels-
Werke, Band 3, Berlin 1962, S. 32; Hervorhebungen im Original.
218 Die Konstruktion der Gesellschaft

sourcen gebe, verschließt sich der Blick für diese Unterscheidung von sozialer
Differenzierung und sozialer Ungleichheit, ganz ähnlich wie in den Feudalge-
sellschaften ja die „Stände“ auch als „Klassen“ von Akteuren mit typischen
gesellschaftlichen Funktionen verknüpft und damit sogar personen-identisch
waren. Der Klassenbegriff von Marx und Engels war, wenn man so will, die –
irreführende – Übertragung der „ständischen“ Kategorien der Feudalgesell-
schaft auf die jetzt nur noch in „Positionen“ funktional differenzierte
kapitalistische Gesellschaft.

Das erste und das zweite Gesetz der Verteilung von Lenski

Daß viele Beobachter im 18. und 19. Jahrhundert nach dem Verfall der
„natürlichen“ Erklärungen der sozialen Ungleichheit auf das Privateigentum
und die Arbeitsteilung als deren wichtigste Ursachen gekommen sind, ist so
unverständlich nicht: Die soziale Ungleichheit hat ja erstens etwas mit der
Kontrolle interessanter Ressourcen durch individuelle Akteure zu tun, und
damit etwas mit gewissen Rechten, darüber zu verfügen. Und das
Privateigentum ist die reinste Form eines individuellen Verfügungsrechtes
(vgl. dazu auch noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen
Grundlagen“). Zweitens kommt die soziale Ungleichheit als merkliches
soziales Phänomen nur in größeren und tatsächlich nach dem Prinzip der
Arbeitsteilung organisierten Gesellschaften vor, sei das in der Form der
großen Staatsgesellschaften mit ihren ausgebauten Verwaltungen und
stehenden Heeren, in der Form der Feudalgesellschaften mit ihrer typischen
Hierarchie der gesellschaftlichen Funktionen oder in der Form der (früh-
)kapitalistischen Gesellschaften mit ihrer Aufteilung der Funktionen zwischen
den gesellschaftlichen Klassen. In den einfachen „urkommunistischen“
Stammesgesellschaften gibt es – in nennenswertem Umfang – weder
Privateigentum, noch Arbeitsteilung und auch keine soziale Ungleichheit. Das
gerade hatte ja Rousseau – und mit ihm viele andere – so am „Naturzustand“
fasziniert. Es gibt dort aber auch – was Rousseau und wieder viele andere mit
ihm übersehen haben – nichts, was sich „ungleich“ verteilen ließe. Dort
herrscht, oft genug, die blanke Not, und gerade deshalb gibt es dort auch den
Kommunismus, den Kommunismus der Notgemeinschaft nämlich (vgl. dazu
auch
Damit
nochaber
Abschnitt 9 3 bei
sind wir in diesem
einem Band)
interessanten Zusammenhang, auf den ins-
besondere Gerhard Lenski hingewiesen hat. Zunächst formuliert er in dem
sog. „ersten Verteilungsgesetz“ eine allgemeine Hypothese darüber, wie die
Menschen die Produkte ihrer gemeinsamen Arbeit verteilen. Es besagt
Soziale Ungleichheit 219

„ ... daß die Menschen das Produkt ihrer Arbeit insoweit teilen, als dies zur Sicherung ihres
Überlebens und der kontinuierlichen Produktion jener notwendig ist, deren Handlungen für
sie selbst notwendig und nützlich sind.“ (Lenski 1973, S. 71)

In den Urgesellschaften ist die Gleichheit unter den Menschen also schlicht
die Folge des Mangels an Ressourcen, die in nennenswertem Umfang „un-
gleich“ zu verteilen wären. Erst wenn es gesellschaftlichen Reichtum –
„Surplus“ wie Lenski wohl im Anschluß an Marx sagt – gibt, kann es auch
soziale Ungleichheit geben. Und es gibt sie dann in aller Regel auch (vgl. da-
zu noch Abbildung 5.2 in Kapitel 5 dieses Bandes). Das ist das „zweite Ver-
teilungsgesetz“ nach Gerhard Lenski:
„Wenn wir davon ausgehen, daß viele Dinge, welche die Menschen erstreben, knapp sind,
dann muß es dieses Surplus wegen unweigerlich zu Konflikten und Kämpfen zwischen ihnen
kommen. Wenn wir Weber folgend Macht als die Chance definieren, innerhalb einer sozialen
Beziehung den eigenen Willen auch gegen das Widerstreben der anderen durchzusetzen,
dann folgt daraus, daß Macht weitgehend darüber bestimmt, wie der Surplus einer Gesell-
schaft verteilt wird.“ (Lenski 1973, S. 71; Hervorhebung so im Original)

Die soziale Ungleichheit ist laut Lenski also eine Folge erstens der Produktion
von gesellschaftlichem Reichtum, der über das Existenzminimum hinausgeht,
und zweitens der Verteilung des verfügbaren Surplus nach dem Prinzip der
Macht.

Die Voraussetzungen zur Produktion des Surplus: Arbeitsteilung und Privat-


eigentum

Wie aber kommt es zur Produktion des gesellschaftlichen Reichtums? Die


beiden gesellschaftlichen Erfindungen, die dazu maßgeblich, ja offenkundig
unerläßlich sind, kennen wir schon: Arbeitsteilung und Privateigentum.
Auf die produktiven Vorteile einer geschickten Teilung von Funktionen muß nicht weiter
hingewiesen werden. Dazu hat Adam Smith eigentlich schon alles Nötige gesagt (vgl. dazu
bereits Abschnitt 3.1 in diesem Band, sowie noch Band 3, „Soziales Handeln“, und Band 4,
„Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Die Vorteile liegen in
den technischen Produktionsfunktionen der meisten Produktionen begründet, wie Kostende-
gressionen und effizienzsteigernde Spezialisierungen. Das Privateigentum greift an einer an-
deren Stelle an: Viele wirtschaftlich effiziente Aktivitäten beruhen auf Innovationen, die,
wenn sie frei verfügbar wären, dem Erfinder nicht zugute kommen, wie etwa ein Software-
Programm, das andere flugs kopieren. Daneben gibt es bei „freier“ Nutzung von an sich
knappen Ressourcen, etwa bei der Jagd nach Pelztieren oder der Weide von Rindern auf Ge-
meineigentum, die Versuchung für jeden Einzelnen, das möglichst exzessiv zu tun, alleine
schon weil er befürchten muß, daß andere ihm zuvorkommen könnten und er dann ganz ohne
jeden Ertrag dasteht. Die „Lösung“ für beide Probleme ist jeweils die Einrichtung von Eigen-
tumsrechten, von Privateigentum also. So sind die Zäune entstanden, und auch die Patent-
rechte (vgl. dazu noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich).
220 Die Konstruktion der Gesellschaft

Kurz: Arbeitsteilung und Privateigentum haben – wenn nicht ausschließlich,


so doch zu einem ganz erheblichen Teil – höchst produktive Folgen. Sie sind
damit zuerst die Ursache für den gesellschaftlichen Reichtum gewesen – und
darüber dann auch die für die Entstehung der sozialen Ungleichheit. Letzteres
aber eher so, wie man die Heirat als die Ursache für eine Scheidung ansehen
kann: Ohne sie hätte es dazu gar nicht kommen können.

Herrschaft, Macht und soziale Ungleichheit

Weder die Einrichtung der Arbeitsteilung, noch gar die des Privateigentums
sind unproblematische Angelegenheiten – obwohl jeder eigentlich daran, al-
lein schon wegen der produktiven Folgen, ein großes Interesse haben müßte.
Bei der Arbeitsteilung müssen die Akteure nämlich gegenseitig befürchten, daß der andere
sich klammheimlich nicht richtig spezialisiert – und der dann die Preise für das Gut diktieren
kann, das der eine deshalb nicht selbst hat, weil er sich ganz auf „sein“ Produkt spezialisiert
hatte. Und zur Einrichtung des Privateigentums bedürfte es eines verpflichtenden Konsenses
darüber, daß man die Rechte des anderen auch wirklich respektiert. Aber das kann so ohne
weiteres, wie wir aus den Wildwestfilmen wissen, nicht garantiert werden: Allein schon die
Möglichkeit, daß sich irgendjemand nicht an die Vereinbarung hält, bringt alle dazu, der Ver-
pflichtung erst gar nicht zuzustimmen.

Die Lösung aus den beiden Sackgassen ist im Prinzip auch schon aus den
Wildwestfilmen bekannt: Ein Peacemaker in Gestalt einer dritten Instanz, die
als unumstrittener Souverän dafür sorgt, daß die mit den ökonomischen Spe-
zialisierungen einhergehenden Vorleistungen nicht ausgebeutet werden, und
daß das Privateigentum als Recht wirksam eingerichtet und dann auch wirk-
lich nicht angetastet wird. Der Souverän kann verschiedene Gestalten anneh-
men: ein Feudalherr oder eine staatliche Bürokratie, etwa. Er muß Züge einer
durch Regeln gebändigten, unumstrittenen, als legitim angesehenen Macht
aufweisen. Der allgemeine soziologische Begriff dafür ist der der Herrschaft
(vgl. dazu bereits Band 1, „Situationslogik und Handeln“, sowie noch Band 5,
„Institutionen“,dieser „Speziellen Grundlagen“).Wir sehen gleich: Die Herr-
schaft kann ohne weiteres auch als eine Art von Produktivkraft angesehen
werden. Sie sorgt dafür, daß die Voraussetzungen einer effizienten gesell-
schaftlichen Produktion, Arbeitsteilung und Privateigentum vor allem, ge-
schaffen werden und daß die Erzeugung des Surplus nicht an den kleinlichen
Befürchtungen und/oder den massiveren Konflikten zwischen den Menschen
scheitert.
Das Dumme ist nur: Herrschaft wird, auch wenn sie als eine eigene Institution, wie bei der
Monarchie, oder gar als spezielles funktionales System organisiert ist, wie in den parlamenta-
Soziale Ungleichheit 221

rischen Demokratien, stets von konkreten Personen ausgeübt, wenngleich u.U. nicht immer
sehr lange. Sie bedeutet, wie gesagt: schon von ihrem Prinzip her, die überlegene Kontrolle
gewisser Machtmittel. Damit aber ist die Herrschaft, sozusagen: logischerweise, unmittelbar
mit der Entstehung sozialer Ungleichheit verknüpft: Es gibt mit jeder Institution der Herr-
schaft gleich immer auch Akteure, die „mehr“ Macht haben als andere und diese dann, wie
die Menschen nun einmal sind, zu ihren Zwecken zu nutzen wissen. Die mit jeder Herrschaft
notwendig verbundene Macht erlaubt es ja zunächst schon ganz schlicht, sich den größeren
Teil des, auch mit Hilfe der Herrschaft erzeugten, gesellschaftlichen Reichtums zu sichern,
dann aber auch, sich dauerhaftere Privilegien zu den eigenen Gunsten einzurichten. Und aus
der jedermann erkennbaren Attraktivität der Herrschafts-Positionen leitet sich schließlich
auch oft genug ein gesellschaftliches Prestige ab, das den Innehabern der Positionen schließ-
lich sogar auch noch Ehre und Ansehen als Personen bringt.

Kurz: Die Herrschaft ist sowohl die Bedingung für die Erzeugung des verteil-
baren Surplus, wie dann auch – über die mit ihr verbundene Macht – die
Grundlage für die ungleiche Verteilung von Ressourcen, Privilegien und Pres-
tige. Arbeitsteilung und Privateigentum, Herrschaft und Macht, Surpluserzeu-
gung und soziale Ungleichheit bilden also eine Art von „System“, in dem alle
Teile, auch in ihrer historischen Entwicklung, ineinander greifen und offen-
kundig wechselseitig so voneinander abhängig sind, daß man sich eine größe-
re reiche Gesellschaft ohne Herrschaft und ohne soziale Ungleichheit kaum
denken kann. Und man erkennt leicht wieder jenen Grundzug der
gesellschaftlichen Existenz der Menschen, den man als antagonistische
Kooperation bezeichnet: Jeder ist zwar an der Produktion von Surplus
interessiert, möchte sich aber möglichst wenig den dazu nötigen
unangenehmen Einschränkungen unterwerfen und möglichst viel vom Kuchen
des gesellschaftlichen Reichtums abbekommen.

Die Doppelnatur der sozialen Ungleichheit

Die soziale Ungleichheit hat, wie man sieht, eine Art von Doppelnatur: Sie ist,
über die Bedingung der Organisation der Surplusproduktion durch Herrschaft
und über die fast immer sofort einsetzende Nutzung der Macht zur ungleichen
Verteilung des Surplus und zur Sicherung der einmal gewonnenen Herr-
schaftspositionen, einerseits durchaus repressiv und beruht zu einem guten
Teil schließlich tatsächlich auf Unterdrückung und Ausbeutung. Sie ist aber
auch nicht nur eine Folge, sondern – in Gestalt der nötigen Herrschaft insbe-
sondere – sogar eine Bedingung für die Produktion des Surplus und daher
auch in hohem Maße für wenigstens den materiellen Wohlstand der Menschen
funktional.
Diese Doppelnatur der sozialen Ungleichheit hat die Soziologie bis heute
sehr beschäftigt. Und lange Zeit hat es entsprechend auch zwei, sich teilweise
222 Die Konstruktion der Gesellschaft

heftig bekämpfende, Schulen der Erklärung der sozialen Ungleichheit gege-


ben. Die eine, die „repressive“ Auffassung, die konflikttheoretische (oder „ra-
dikale“) Schule, ist wohl am deutlichsten von Karl Marx vertreten worden:
Die soziale Ungleichheit sei die Folge der Unterdrückung und der Ausbeutung
durch die jeweils „herrschenden“ Klassen, und die Arbeitsteilung und das Pri-
vateigentum wären die gesellschaftlichen Bedingungen dafür. Die soziale Un-
gleichheit vergeht, so glaubte Marx deshalb, mit der Abschaffung des Privat-
eigentums und der – entfremdenden – Arbeitsteilung (vgl. dazu auch noch den
Exkurs über Entfremdung im Anschluß an Kapitel 9 unten in diesem Band).
Die andere, die funktionale (oder konservative) Auffassung betont demgegen-
über die „produktiven“ Folgen von Arbeitsteilung, Privateigentum und Herr-
schaft und – daran anschließend – der sozialen Ungleichheit selbst.

Funktionen und Dysfunktionen der sozialen Ungleichheit

Die konservative Auffassung von der Funktionalität der sozialen Ungleichheit


ist am deutlichsten in der sog. funktionalistischen Schichtungstheorie formu-
liert worden. Sie hat eine jahrelange Debatte provoziert. Die Auseinanderset-
zung nahm ihren Ausgang mit einem eher unscheinbar-kurzen Artikel von
Kingsley Davis und Wilbert E. Moore aus dem Jahre 1945.49 Die Autoren ge-
hen von der – nicht zu bestreitenden – Universalität der sozialen Ungleichheit
aus und schließen daraus, daß sie für das Funktionieren der Gesellschaften ei-
ne unentbehrliche Funktion haben müßte. Und warum? Die Argumentation ist
recht einfach: Es gibt in jeder Gesellschaft soziale Positionen zur Erfüllung
gewisser notwendiger Funktionen, wobei einige der Funktionen bzw. Positio-
nen funktional „wichtiger“ seien als andere. Gerade für die funktional beson-
ders wichtigen Positionen komme es aber darauf an, jene Akteure zu finden,
die dafür besonders talentiert seien und die erforderliche Ausbildung mit-
brächten. Talente sind aber knapp, und der oftmals mühseligen Ausbildung
für die betreffenden Positionen würde sich normalerweise kaum jemand un-
terziehen. Daher „müßten“ die knappen Talente motiviert werden, sich der
Mühen der nötigen Ausbildung zu unterziehen. Materielle und immaterielle
Entlohnungen wären die Anreize dafür. Die ungleiche Belohnung der Beset-
zung der funktional wichtigen gegenüber den funktional eher unwichtigen Po-
sitionen sei aber genau das, was die soziale Ungleichheit bzw. die soziale
Schichtung ausmache. Und daher sei es folgendermaßen:

49
Kingsley Davis und Wilbert E. Moore, Some Principles of Stratification, in: American
Sociological Review, 10, 1945, S. 242-249.
Soziale Ungleichheit 223

„Social inequality is thus an unconsciously evolved device by which societies insure that the
most important positions are conscientiously filled by the most qualified persons. Hence eve-
ry society, no matter how simple or complex, must differentiate persons in terms of both pres-
tige and esteem, and must therefore possess a certain amount of institutionalized inequality.“
(Davis und Moore 1945, S. 243; Hervorhebungen nicht im Origianl)

Die soziale Ungleichheit ist somit ein eigentlich unintendiertes, ja sogar zufäl-
liges Produkt, das den Gesellschaften einen Reproduktionsvorteil sichert, die
sie irgendwie eingerichtet haben. Und – so muß man Davis und Moore wohl
lesen – alle jene Gesellschaften, die die Besten nicht mit besonderen Anreizen
motivieren konnten, die Schlüsselstellungen zu übernehmen, oder es gar be-
wußt mit der Abschaffung der sozialen Ungleichheit versucht haben, gibt es
nicht mehr, weil sie evolutionär nicht mithalten konnten. Nicht nur auf den
ersten Blick ist wohl etwas Wahres daran. Das fehlgeschlagene sozialistische
Großexperiment ist noch in guter Erinnerung. Aber die Thesen sind schon
sehr provozierend und, wie sich dann gezeigt hat, ohne zahllose Einschrän-
kungen nicht haltbar.
Es ist daher kaum verwunderlich, daß die These von der Funktionalität und
Unentbehrlichkeit der sozialen Ungleichheit bald hart unter Beschuß kam,
insbesondere angesichts der empirisch ebenso unabweisbaren Beobachtung,
daß es zwar überall soziale Ungleichheit zu geben scheint, daß aber die obers-
ten Positionen keineswegs immer von den talentiertesten, am besten ausgebil-
deten und motiviertesten Akteuren besetzt sind. Am deutlichsten hat – acht
Jahre später – Melvin Tumin in einem fast ebenso bekannt gewordenen Arti-
kel widersprochen.50 Er faßt die verschiedenen Argumente in 7 Thesen zu-
sammen und geht sie einzeln durch. Die ersten vier der Thesen enthalten da-
bei die wesentlichen Punkte der Kritik (Tumin 1953, S. 388ff.).
Die erste Behauptung, wonach es Unterschiede in der funktionalen Bedeutung von Positionen
gebe, sei, so Tumin, nicht haltbar, weil, insbesondere in den funktional differenzierten Ge-
sellschaften, im Prinzip jede Position gleich wichtig wäre. Talente seien zweitens auch kei-
neswegs knapp, vielmehr habe hier die soziale Ungleichheit gerade eine umgekehrte dysfunk-
tionale Auswirkung: Sie verhindere die Entdeckung und Entfaltung der Talente geradezu. Die
zur Ausfüllung der höheren Positionen nötige Ausbildung bedeute drittens in keiner Weise
ein „Opfer“, wie Davis und Moore suggerierten, sondern gehe mit einer Reihe von Annehm-
lichkeiten einher, die jede Mühe überkompensierten, und sie lohne sich – last not least –
leicht mit dem damit erzielbaren Lebenseinkommen. Und die Besetzung der höheren Positio-
nen müsse viertens nicht noch mit zusätzlichen Anreizen versehen werden, weil die Arbeiten
dort, siehe unseren Strahlekanzler Schröder, ohnehin schon erheblich mehr „intrinsische“
Freude bereiteten als, sagen wir einmal, ein Job als Bergmann unter Tage, einer bei der Müll-
abfuhr, oder als Soziologieprofessor an einer sog. Reformuniversität, der immer nur so dicke
Bücher zu schreiben hat.

50
Melvin Tumin, Some Principles of Stratification: A Critical Analysis, in: American Socio-
logical Review, 18, 1953a, S. 387-394.
224 Die Konstruktion der Gesellschaft

Und daraus folge keineswegs die funktionale Notwendigkeit der sozialen Un-
gleichheit. Im Gegenteil: Man müsse sogar von einer Reihe von Dysfunktio-
nen ausgehen, zu denen insbesondere die Blockierung von Talenten, die Fehl-
allokation produktiver Ressourcen, die Verfestigung konservativer Ideologien,
die Verbreitung von Unzufriedenheiten und Mißtrauen in der Bevölkerung
und die Spaltung der Gesellschaft nach ihren Loyalitäten gehöre (vgl. Tumin
1953, S. 392f.).

Wer hat recht?

Melvin Tumin bringt damit die konfliktorientierte Sicht der sozialen Un-
gleichheit gegen die funktionalistische Schichtungstheorie wieder ins Spiel.
Der Streit drehte sich dann auch jahrelang um die Frage, welche der beiden
Sichtweisen die richtige sei.51 Inzwischen ist er mit den oben skizzierten en-
gen Verbindungen zwischen Arbeitsteilung, Privateigentum, Herrschaft und
Surpluserzeugung, die dann erst ungleiche Verteilungen und darüber auch un-
produktive Verfestigungen der Ungleichheit zuläßt, aufgelöst: Die soziale
Ungleichheit hat sowohl repressive und unproduktive wie gleichzeitig immer
auch funktionale und produktive Seiten. Und welche davon jeweils dominiert,
hängt von einigen Strukturmerkmalen der Gesellschaft ab.
Die wohl wichtigste strukturelle Besonderheit von Gesellschaften für die Dominanz der einen
oder anderen Seite ist ihre Offenheit und die Möglichkeit zur freien Mobilität: Die vorhande-
nen Talente können sich tatsächlich nur dann entfalten und sich auf die „wichtigen“ Positio-
nen verteilen, wenn die Positionen nach „Leistung“ und nach „Abgebot und Nachfrage“ be-
setzt werden – und nach sonst nichts. Das aber nützt sicher auch der „Gesellschaft“ insge-
samt: Leistungs- und wettbewerbsorientierte Systeme der sozialen Ungleichheit, wie, trotz al-
ler nötigen Abstriche, etwa in den USA oder auch (West-)Deutschland, lösen das Allokati-
onsproblem der talentierten Personen zu den wichtigen Positionen wohl tatsächlich effizienter

51
Vgl. die Entgegnung auf Tumin durch Kingsley Davis, Reply, in: American Sociological
Review, 18, 1953, S. 394-397; Wilbert E. Moore, Comment, in: American Sociological
Review, 18, 1953, S. 397; Melvin Tumin, Reply to Kingsley Davis, in: American Socio-
logical Review, 18, 1953b, S. 672-673. Siehe auch die folgenden Beiträge noch: Walter
Buckley, Social Stratification and the Functional Theory of Social Differentiation, in:
American Sociological Review, 23, 1958, S. 369-375; Dennis H. Wrong, The Functional
Theory of Stratification: Some Neglected Considerations, in: American Sociological Re-
view, 24, 1959, S. 772-782; Wlodzimierz Wesolowski, Some Notes on the Functional
Theory of Stratification, in: The Polish Sociological Bulletin, 3, 1962, S. 28-38; Renate
Mayntz, Kritische Bemerkungen zur funktionalistischen Schichtungstheorie, in: Glass und
König (1961), S. 10-28. Vgl. auch die Zusammenfassung bei Erich Weede, Mensch und
Gesellschaft. Soziologie aus der Perspektive des methodologischen Individualismus, Tü-
bingen 1992, Kapitel 17: Ungleichheit und Umverteilung, S. 206ff.
Soziale Ungleichheit 225

als solche, die auf Zuschreibung beruhen, wie etwa in Indien oder in der schlechten alten
DDR.

Aber das wissen wir auch: Wer einmal oben ist, hat auch die Mittel, die Posi-
tion nach außen zu verteidigen und gegen die freie Zirkulation der Talente ab-
zuschirmen. Und so gibt es stets Tendenzen, daß sich die funktionalen Seiten
der sozialen Ungleichheit immer wieder in dysfunktionale Verknöcherungen
verwandeln.

Der Markt der Positionen und die Ungleichheit der Menschen

Am gründlichsten scheinen Davis und Moore in ihrem Kernargument dane-


bengegriffen zu haben, wonach sich die gesellschaftlichen Positionen nach ih-
rer funktionalen Bedeutung unterscheiden: Es gibt kein Verfahren, über das
man die funktionale Wichtigkeit von Positionen für das „Überleben“ der Ge-
sellschaft feststellen könnte. Es ist vielmehr zu vermuten, daß in arbeitsteilig
organisierten Systemen jede Funktion und damit jede Position „funktional“
gleich wichtig und damit gleich „unentbehrlich“ sind: die der Müllarbeiter
wie die der Hals-, Nasen-, Ohrenärzte, beispielsweise. Gleichwohl haben Da-
vis und Moore eine richtige Intuition gehabt. Die für alle Positionen stets glei-
che funktionale Unentbehrlichkeit der Positionen bedeutet nämlich, daß die
„Nachfrage“ nach den Leistungen sehr „starr“ ist (vgl. dazu Weede 1992, S.
209): Der Preis für die Besetzung der Position, das Einkommen des Akteurs
darauf also, steigt stark an, wenn es dafür kaum Bewerber gibt, aber er fällt
auch sofort sehr, wenn die Bewerberzahl größer wird. Diesen Zusammenhang
kann man als eine Funktion zwischen dem Preis P für die Besetzung der Posi-
tion und der Menge X der Bewerber auf dem (Arbeits-) Markt darstellen (vgl.
die Linie D, von „demand“, in Abbildung 4.17a und b).
Soziale Ungleichheit 227

allgemein ansteigt, etwa weil die Wirtschaft wächst und die Bevölkerung hö-
here Ansprüche an Funktionserfüllung, etwa an die Müllabfuhr oder die ärzt-
liche Versorgung, stellen kann – und das, wie zu erwarten, auch tut. Das läßt
sich nun aber einfacherweise durch eine Rechtsverschiebung der Nachfrage-
kurve nach funktionalen Leistungen von der Linie D auf die neue Linie D'
darstellen: Zum jeweils gleichen Preis werden jetzt mehr an Müllabfuhr und
eine bessere ärztliche Versorgung nachgefragt, und die Wirtschaft bzw. der
Staat sorgt auch für die nötige Erweiterung der Positionen.
Aber, und das ist das Problem, es gibt die Bewerber auf die zahlreicher
gewordenen Positionen (noch) nicht. Nun werden die Unterschiede in den für
die Positionen nötigen Qualifikationen bedeutsam: Der Mehrbedarf an Müll-
werkern, etwa, läßt sich wegen der kurzen Anlernzeiten leicht von x* auf x-'
steigern, und das Einkommen der Müllwerker wächst ganz wenig – von p* auf
p-' Anders ist das bei den Ärzten. Hier dauert die Bereitstellung des Angebotes
länger, die Bewerber sind knapp, und die wenigen, die es noch gibt, lassen
sich das gut bezahlen. Die Menge steigt daher auch nur wenig, von x* auf x+'
an, der Preis dagegen sehr stark, von p* auf p+'.
Und was sehen wir? Nun gibt es eine soziale Ungleichheit: Die Ärzte ha-
ben (als Kategorie von Absteigern) ein höheres Einkommen als die Müllarbei-
ter, obwohl die Medizin funktional nicht wichtiger ist als die Müllabfuhr (je-
weils als funktionale Sphären, wohlgemerkt). Die soziale Ungleichheit liegt
also nicht an irgendwelchen Unterschieden in der funktionalen Bedeutung der
Positionen, sondern an den Unterschieden in den – teilweise auch technisch
und organisatorisch begrenzten – Möglichkeiten, rasch das Angebot an Be-
werbern auszuweiten, wenn die Nachfrage steigt. In the long run können sich
die Entlohnungen natürlich wieder angleichen: Nach einiger Zeit sind die
(Medizin-)-Studenten mit ihrer Ausbildung fertig und drängen alle auf den
Markt. Dann verliert die Angebotsfunktion wieder ihre Starre, und der Preis
beginnt zu sinken. Und so kann es kommen, daß mit einem Male die Müllar-
beiter gar nicht so sehr viel weniger verdienen als die Hals-, Nasen-, Ohren-
ärzte oder andere Akademiker.

Die Ko-Evolution von Herrschaft, gesellschaftlichem Reichtum und sozialer


Ungleichheit

In theoretischer Hinsicht sind damit die Fragen nach den Ursprüngen der Un-
gleichheit unter den Menschen eigentlich beantwortet: Herrschaft ist nötig zur
Einrichtung und Sicherung von Arbeitsteilung und Privateigentum, aus denen
sich erst der zu verteilende Surplus ergibt. Und die Herrschaft selbst wird von
228 Die Konstruktion der Gesellschaft

den Akteuren genutzt, um ihre Vorstellungen von der „richtigen“ Verteilung


durchzusetzen. Man könnte also meinen, daß alles an der Einrichtung der In-
stitution der Herrschaft läge, daß es dazu, allein aus „endogenen“ Gründen,
aber möglicherweise gar nicht komme, weil es über die Frage, „wer“ denn
herrschen soll, einen nicht zu beruhigenden Konflikt geben müsse, der verhin-
dert, daß es ohne externe Eingriffe und Entwicklungen zur Herrschaft kommt
(vgl. dazu schon Abschnitt 4.3 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, die-
ser „Speziellen Grundlagen“).
Die Frage nach dem Ursprung der sozialen Ungleichheit ist also letztlich: Wie kommt „Her-
schaft“ zustande? Es ist die Frage nach der Institutionalisierung von Regeln ganz allgemein,
und die wird, wieder ganz allgemein, über drei mögliche Mechanismen beantwortet: Dekret,
Vertrag oder Evolution (vgl. auch dazu noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen
Grundlagen“ ausführlich, sowie schon Abschnitt 3.1 oben in diesem Band). Dekrete zur Ein-
richtung der Herrschaft fallen als „endogener“ Mechanismus aus, weil sie die Herrschaft
schon voraussetzen. Und Verträge zur Einrichtung von Herrschaft sind, ohne daß es eine die
Verträge schon absichernde Herrschaft gäbe, für die Akteure so riskant, daß sie kaum ge-
schlossen werden.

Historisch ist daher, kaum verwunderlich, die Sache wohl in den meisten Fäl-
len anders gelaufen. Herrschaft ist zwar – oft genug – über brutale Gewalt von
außen, etwa durch Eroberungen, oktroyiert worden, und die darauf folgende
soziale Ungleichheit spiegelte dann die jeweiligen, von außen durchgesetzten
Machtverhältnisse. Sie ist aber auch vielfach über eine Art von ungeplanter
Ko-Evolution entstanden: als allmähliche, spontane, fast simultane Entstehung
von Herrschaft, Surplus-Erzeugung, ungleicher Verteilung über die Nutzung
der mit der Herrschaft verbundenen Macht und der daran anschließenden in-
stitutionellen Verfestigung der einmal entstandenen sozialen Ungleichheit
durch Privilegien und schließlich auch durch Prestige. Wie bei jeder Evoluti-
on hat sich der Vorgang der Entstehung von im Prinzip ja repressiver Herr-
schaft wohl auch so unmerklich und nicht-repressiv vollzogen, daß anfangs
auch die „Beherrschten“, oder gerade die!, sichtbar erleben konnten, daß ih-
nen ein Souverän sehr nützlich war, etwa indem er die unproduktiven internen
Streitigkeiten unterband und/oder die externen Bedrohungen fernhielt. Oft ge-
nug verfielen sie ihm sogar als einem charismatisch verehrten Führer. An-
fangs! Die – ungeplante und nahezu unmerkliche – Emergenz von Herr-
schaftszentren, etwa in Form größerer Höfe oder dörflicher Agglomerationen
zu einer Art von regionalem Koordinationszentrum, waren dann historisch
wohl die Vorraussetzung für den Übergang von den Notgemeinschaften der
Stammesgesellschaften zu den größeren gesellschaftlichen Verbänden, in de-
nen es dann erst Arbeitsteilung und Surpluserzeugung in größerem Maße ge-
ben konnte, zuerst die großen Staats- und Feudalgesellschaften und später die
funktional differenzierten Gesellschaften der Moderne mit der demokrati-
Soziale Ungleichheit 229

schen Organisation der Herrschaft (vgl. dazu auch noch Abschnitt 9.2 in die-
sem Band).

Die Reproduktion der sozialen Ungleichheit

Systeme der sozialen Ungleichheit neigen, wenn es sie einmal gibt, dazu, sich
zu verfestigen, und das, wenn es keine externen Störungen gibt, alsbald sogar
in der Form einer verfilzten Ständegesellschaft (vgl. dazu schon Abschnitt 4.2
oben). Das hat einige naheliegende Gründe. Den ersten kennen wir schon: Die
jeweils „herrschende“ Klasse hat alle Möglichkeiten, die zunächst rein „funk-
tional“ begründete Herrschaftsposition zur auch institutionellen Absicherung
ihrer „privilegierten“ Positionen zu nutzen. Und das tut sie auch. Dabei hel-
fen, gerade auch in Demokratien mit ihren verfassungsmäßig vorgesehenen
Möglichkeiten einer Zirkulation der Eliten, die während der Zeit der Herr-
schaft aufgebauten Netzwerke und Beziehungen sehr. Eliten bilden – über alle
sonstigen Interessen- und Ideologieunterschiede hinweg – gerne sog. Vertei-
lungskoalitionen, weil sie ein übergreifendes Interesse eint: das Interesse am
Erhalt der Herrschaft. Und genau deshalb gibt es die Rotarier, die Golfklubs,
die Festkomitees und die heimlichen Saunen in Ludwigshafen-Oggersheim,
sowie die dazugehörigen Underkonten.
Das ist die eine, die, wenn man so will, repressive und korruptive Seite der
Stabilisierung und Feudalisierung jeder einmal eingerichteten Herrschaft und
der dadurch erzeugten sozialen Ungleichheit. Es gibt aber auch die andere
Seite: die „freiwillige“ Hinnahme der unteren Positionen und der nicht er-
zwungene Verzicht auf Investitionen, entweder zum sozialen Aufstieg oder
aber zur Änderung des jeweils „herrschenden“ gesellschaftlichen Systems.
Die Etablierung einer Herrschaft hat dabei einen, sozusagen, eingebauten Mechanismus der
Selbststabilisierung: Mit der jeweiligen Herrschaft werden ja die nun alles „beherrschenden“
primären Zwischengüter und die erlaubten indirekten Zwischengüter festgelegt. Wer jetzt et-
was erreichen will, muß sich nach den jetzt geltenden sozialen Produktionsfunktionen richten
und den jeweils herrschenden „Normen“ fügen. Auf diese Weise wird in der Tat die
Konformität zu den Normen der Gesellschaft zu einem Allokationsmechanismus der
interessanten Ressourcen und darüber zu einer „Ursache“ der sozialen Ungleichheit, so wie
das Ralf Dahrendorf seinerzeit vorgeschlagen hat (vgl. Dahrendorf 1974a, S. 368ff.). Mit
einem Male werden, sagen wir einmal, wieder die roten Parteibücher interessant, während es
vorher die schwarzen waren. Und plötzlich wedeln, mit dem Wahlsieg der SPD und der
Grünen im Herbst 1998, die Kinkel-gewohnten Beamten des Außenministeriums um Joschka
Fischer herum, den sie vorher, und vielleicht insgeheim immer noch, eigentlich für einen
windigen Turnschuh und gefährlichen Chaoten halten. Es ist das Phänomen der Wendehälse,
der Märzgefallenen, der „Opportunisten“, der Karrieristen, das jede einmal zur Herrschaft
gekommene Herrschaft wie von selbst stabilisiert.
230 Die Konstruktion der Gesellschaft

Warum darüberhinaus alle Versuche der unteren Schichten, selbst entweder in


die herrschende Klassen einzudringen oder das gesamte System zu ändern, so
unwahrscheinlich sind, läßt sich mit dem Modell, das wir im Zusammenhang
der Bildungsentscheidungen in Abschnitt 7.2 von Band 1, „Situationslogik
und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ bereits kennengelernt haben,
leicht verstehen: Die Beibehaltung des Status quo bringt einen sicheren Er-
trag, jeder Versuch, den Aufstieg oder gar eine Revolution zu wagen, sind da-
gegen höchst unsicher und obendrein mit ganz erheblichen Kosten verbunden.
Und so bleibt es dabei, was sich so oft beobachten läßt: Die beherrschten
Massen fügen sich, und das, wie es scheint, ganz ohne besondere Gefühle der
Benachteiligung oder gar der Unterdrückung.
In diesem Zusammenhang ist das von Norbert Wiley entwickelte Konzept der Mobilitätsfalle
wichtig und interessant.52 Dabei wird davon ausgegangen, daß es bestimmte Kernbereiche in
einer Gesellschaft gibt, in die man hineinkommen muß, um im Statussystem ganz nach oben
zu kommen. Um diesen Kernbereich des „Stammes“ der Gesellschaft herum sind „Zweige“
von Neben- oder Randbereichen angeordnet, innerhalb derer es zwar auch Aufstiegsmöglich-
keiten gibt, die aber rasch an ihre Grenze stoßen. Beispiele dafür sind insbesondere die ethni-
schen Gruppen in einer Gesellschaft mit einem „herrschenden“ sozio-kulturellen Zentrum,
etwa die Farbigen bzw. die Hispanics gegenüber den White-Anglo-Saxon-Protestants in den
USA oder die Türken gegenüber der bundesdeutschen Bevölkerung. Für die „Rand“-Gruppen
gibt es nun, etwa wenn sie eine institutionell ausgebaute ethnische Gemeinde bilden, immer
zwei Möglichkeiten der Investition in einen sozialen Aufstieg: die relativ sichere Investition
zum Aufstieg in der jeweils eigenen Gruppe und die relativ unsichere Investition zum Auf-
stieg in der Kerngesellschaft. Über das o.a. „Status-quo“-Modell ist es nicht schwer vorherzu-
sagen, was geschieht: Die Mitglieder der „Rand“-Gruppen verzichten, weil der Erfolg meist
sehr ungewiß ist, auf die zum „richtigen“ Aufstieg nötigen Investitionen – und das auch dann,
wenn sie genau wissen, daß sie das bald in eine Sackgasse führen wird. Neben den ethnischen
Gruppen nennt Norbert Wiley noch andere Beispiele für solche Fallen: Mütter, die sich zu
ausschließlich auf ihre Kinder konzentrieren und dann plötzlich vor dem „empty nest“ stehen;
die Überspezialisierung in einem Beruf – etwa auch in einem soziologischen Paradigma oder
einer speziellen methodischen Fertigkeit; die Konzentration auf die lokalen Angelegenheiten;
und – ganz allgemein – die „minority group trap“, wozu nicht nur die ethnischen Gruppen,
sondern alle anderen „religious, female, radical political und other relatively powerless
groups“ gehören, die ein gewisses „advancement within their ghettos“ versprechen, aber an-
sonsten in das Abseits der Kerngesellschaft führen. Der Posten einer Frauenbeauftragten
wird, wie man sich jetzt leicht vorstellen kann, von den wirklich auf ihre Karriere bedachten
Frauen in der Tat nicht gerne übernommen.

Sozialer Aufstieg setzt also die konsequente Orientierung an der jeweils herr-
schenden Kernkultur einer Gesellschaft und die nachhaltige Entfremdung von
der eigenen Gruppe voraus. Und deshalb gibt es wohl auch keine wirklich
multikulturellen Gesellschaften, sondern stets – mehr oder weniger
ausgeprägte – ethnische Schichtungen: Die „Rand“-Gruppen verzichten
52
Norbert F. Wiley, The Ethnic Mobility Trap and Stratification Theory, in: Peter I. Rose
(Hrsg.), The Study of Society. An Integrated Anthology, 2. Aufl., New York und Toronto
1970, S. 397-408.
Soziale Ungleichheit 231

prägte – ethnische Schichtungen: Die „Rand“-Gruppen verzichten zumeist


ganz „freiwillig“ auf die für die „strukturelle Assimilation“ nötigen Investiti-
onen (vgl. dazu auch noch den Exkurs über Integration, Assimilation und die
sogenannte multikulturelle Gesellschaft im Anschluß an Kapitel 6 dieses
Bandes). Und deshalb bedarf es in aller Regel auch keiner repressiven Maß-
nahmen, „damit“ sich die einmal etablierte (Feudal-)Ordnung der sozialen
Ungleichheit nicht ändert. Es ist, wenn man so will, ein Fall der unmerkli-
chen, unintendierten, aber nichtsdestoweniger höchst wirksamen „strukturel-
len Gewalt“, vermittelt über die „Lebenswelten“ der jeweiligen „Rand“-
Gruppen und der darin immer auch vorhandenen Möglichkeiten, sich sein –
vergleichsweise bescheidenes – Leben einzurichten.

Soziale Ungleichheit und das Problem der Gerechtigkeit

Gleichwohl ist nicht davon auszugehen, daß die Menschen alle Formen der
sozialen Ungleichheit unterschiedslos als „gerecht“ empfinden: Hinnahme ist
etwas anderes als Anerkennung. Selbst die Mitglieder der (unteren) Kasten in
Indien hadern, wie man hört, gelegentlich mit ihrem Schicksal. Und nicht alle
Soziologen hat der Versuch von Davis und Moore überzeugt, daß es die sozia-
le Ungleichheit überall, also auch in den modernen Gesellschaften, geben
müsse, damit die Gesellschaft funktionieren könne und es den Menschen gut
gehe. Erich Weede stellt zu Recht fest:
„In keiner existierenden Gesellschaft können ... die beobachtbaren Ungleichheiten des Ein-
kommens und sonstiger Privilegierung mit dem Verweis auf funktionale Notwendigkeiten er-
klärt oder gerechtfertigt werden.“ (Weede 1992, S. 209; Hervorhebungen so nicht im Origi-
nal)

Aber natürlich wechselt das Ausmaß der Einsicht in die Richtigkeit und die
Gerechtigkeit eines einmal herrschenden Systems der sozialen Ungleichheit.
Es ist ein Spezialfall der Frage nach der Legitimität einer sozialen Ordnung
und der Integration der Gesellschaft (vgl. dazu noch Kapitel 6 dieses Bandes
ausführlich, sowie Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
In stark geschichteten und auf Zuschreibung beruhenden Gesellschaften sorgt,
wie wir eben gesehen haben, die Aussichtslosigkeit einer Änderung in gewis-
ser Weise für eine spezielle Art der Legitimation der sozialen Ungleichheit:
die resignative Hinnahme des unausweichlichen Schicksals. In den – formal
und rechtlich – offenen Gesellschaften ist die Rechtmäßigkeit der sozialen
Ungleichheit dagegen programmatisch umstritten: Alle Menschen sind vor
Gott oder der Natur gleich, und nur die „Leistung“ zählt. Statusvererbungen
und Diskriminierungen dürfen nicht vorkommen, wohl aber, auch sehr ausge-
232 Die Konstruktion der Gesellschaft

prägte, soziale Ungleichheiten als Ergebnis unterschiedlicher Leistungen und


des Verhältnisses von Angebot und Nachfrage auf einem offenen (Arbeits-)-
Markt.
Aber auch in den offensten Gesellschaften sind die „Leistungen“ nicht vor-
aussetzungslos: Es gibt immer Startvorteile und Startnachteile, und die wer-
den in der Familie verteilt, über auch durch Familien und Verwandtschaften
abgesicherte Netzwerke und Verteilungskoalitionen und durch die „primäre“
Zugehörigkeit zu gewissen Milieus und Bezugsgruppen gelenkt. Die Familie,
die Verwandtschaft und die primären Milieus und Bezugsgruppen kann sich
aber wiederum niemand selbst aussuchen. Und sofort stellt sich dann die Fra-
ge, wie sich diese Unterschiede in den über die Familie und die Milieus ver-
mittelten Startungleichheiten rechtfertigen lassen. Und so werden, etwas un-
vermutet, die Familie, die Sozialisation, die Gruppenzugehörigkeit und das
kulturelle Kapital ganz allgemein zum Ankerpunkt der Frage nach der Recht-
fertigung der sozialen Ungleichheiten – gerade wieder in den modernen
Gesellschaften. Weil nun aber niemand die Familie abschaffen kann (und
will) und jeder in ein primäres Milieu des Alltagslebens hineingeboren wird,
das ganz zu Anfang schon die Startvorteile oder -nachteile verteilt, gibt es
keine abschließende Antwort auf die Frage nach der Rechtfertigung der
sozialen Ungleichheit. Es ist das Problem der Integration von Gesellschaften
angesichts der Frage, wie sich die offenbar unvermeidlichen sozialen
Ungleichheiten rechtfertigen und die damit verbundenen Spannungen
regulieren lassen.
Kapitel 5

Inklusion und Exklusion

Wenn man den Statuserwerb als Plazierung von Akteuren in sozialen Syste-
men ansieht, wird deutlich, daß die soziale Ungleichheit der Bevölkerung ei-
ner Gesellschaft eng mit der sozialen Differenzierung dieser Gesellschaft in
soziale Systeme zusammenhängt: Die verschiedenen Ressourcen und Eigen-
schaften, aus denen sich die gesellschaftliche Lage der individuellen Akteure
ergibt, sind die – direkte oder indirekte – Folge der durch die Plazierungen
bewirkten Mitgliedschaft der Akteure in den verschiedenen sozialen Syste-
men, insbesondere in den funktionalen Sphären, wie dem Bildungssystem o-
der den verschiedenen Bereichen des Arbeitsmarktes, sei es in der Wirtschaft
oder in der staatlichen Verwaltung, sei diese Mitgliedschaft nun dauernd oder
nur zeitweise. Der Eintritt bzw. die vollzogene Mitgliedschaft von Akteuren
in sozialen Systemen wird auch als die Inklusion der Akteure in die „Gesell-
schaft“ bzw. ihre Teilsysteme bezeichnet. Statuserwerb ist so gut wie immer
Inklusion. Und wo es Inklusion gibt, da hat man auch das Gegenteil: die Ex-
klusion. Das ist schlicht die Nicht-Mitgliedschaft in einem bestimmten sozia-
len System, sei es, daß man nicht hineingekommen ist, etwa in die Oberstufe
oder in das Kabinett des Kanzlers Schröder, oder wieder ausscheidet. Freiwil-
lig oder nicht. Nicht wahr, Oskar!
Auf diese Weise werden auch die vielen anderen, gesellschaftlich „relevanten“ Eigenschaften
erzeugt, aus denen sich die gesellschaftlichen Lagen und Strukturen der Ungleichheit erge-
ben: Verheiratet wird man durch die „Inklusion“ in das System einer Ehe, und geschieden
durch die „Exklusion“ daraus mit dem formellen Akt der Scheidung. Deutscher wird man
durch den Erwerb der Staatsbürgerschaft, die aber auch wieder aberkannt werden kann. Oder
zum Patienten wird man durch die Einweisung in ein Krankenhaus, und mit dem Tag der Ent-
lassung ist man die Rolle des Patienten wieder los – auch wenn man sich noch ganz schlapp
fühlt.

Inklusion und Exklusion gibt es für alle sozialen Systeme, nicht nur für die
funktionalen Sphären der Gesellschaft.
Entsprechend werden auch die kulturellen und die normativen Dimensionen der gesellschaft-
lichen Lagen erworben oder wieder abgelegt: Zum Lebensstil etwa des
„Selbstverwirklichungstypus“ kommen die Akteure über die Inklusion in die kulturellen
234 Die Konstruktion der Gesellschaft

chungstypus“ kommen die Akteure über die Inklusion in die kulturellen Milieus der sog.
Hochkultur und der freiwilligen und hochnäsigen Exklusion aus den proletarischen Kreisen
des (Massen-)Sports – wenn sie nicht versuchen, diesen Stil von außen nachzuahmen, ohne
sich direkt an den betreffenden Milieus oder Szenen zu beteiligen. Wozu gibt es denn die
Szene-Zeitschriften? Und zum, meist mißtrauisch beäugten, „Fremden“ wird man, etwa,
durch Auswanderung und den schwierigen Versuch der „Integration“ in die neue Gesell-
schaft, oft genug mit der Folge einer Exklusion aus fast allen sozialen Systemen und damit,
daß sich die Fremden in einer Gesellschaft alsbald zu einem neuen sozialen System zusam-
menschließen, das – mehr oder weniger – außerhalb der Normen der Gesellschaft steht, dem
Devianz-System einer ethnischen Gemeinde zum Beispiel. Und plötzlich haben auch die an
sich höchst traditionalen law-and-order-Migranten aus Ostanatolien den Status der kulturellen
und normativen Devianz, weil sie nur diese eine Möglichkeit der Inklusion hatten: die in die
von ihnen gebildete Sub-Gesellschaft. Und wer jetzt noch versucht, in die besseren Kreise der
Aufnahmegesellschaft aufzusteigen, wird bald merken, daß er auf Widerstände und „exklusi-
ve“ Distinktionen stößt, die durch individuelle Bemühungen kaum zu überwinden sind.

Nahezu alles, was die Menschen „sind“, werden sie durch die Muster von In-
klusion und Exklusion in Bezug auf die verschiedenen sozialen Systeme der
Gesellschaft. Darüber entstehen dann typisch unterschiedliche soziale Aggre-
gate bzw. Kategorien, etwa nach Alter und Geschlecht, nach Familienstand,
nach Rasse und Klasse, nach Einkommen, Beruf und Bildung, oder nach nati-
onaler oder regionaler Zugehörigkeit. Natürlich gibt es noch andere, durchaus
auch gesellschaftlich relevante Unterschiede zwischen Akteuren, die sie nicht
unbedingt aus der Inklusion in bestimmte soziale Systeme beziehen müssen,
wie eine überlegene Intelligenz, eine große Körperkraft oder eine atemberau-
bende Schönheit. Aber auch diese, zunächst sehr „individuellen“ und „absolu-
ten“ Eigenschaften (vgl. auch Abschnitt 11.4 in Band 1, „Situationslogik und
Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“) werden oft erst dann für die Nut-
zenproduktion wichtig und wirksam, wenn sie in bestimmten sozialen Syste-
men zum Tragen kommen, wie etwa die Intelligenz in der Wissenschaft, die
Kraft bei der Schwerathletik oder die Schönheit in einem Nachtklub.
Und so kann man festhalten (vgl. auch schon Abschnitt 4.1 und Abbildung
4.4 in diesem Band): Über die Prozesse der Inklusion und Exklusion treten die
individuellen Akteure der Bevölkerung mit den sozialen Systemen der Gesell-
schaft systematisch in Beziehung. Die Akteure werden in durchaus vorhersag-
barer Weise in bestimmte soziale Systeme inkludiert – und in andere eben
nicht. Sie durchlaufen dabei jeweils bestimmte Karrieren von Inklusion und
Exklusion, die sich dann als typische biographische Muster bei den Akteuren
niederschlagen: Kindergarten, Grundschule, Abitur, Studium, erster Beruf,
Heirat, zweiter Beruf – und so weiter, evtl. bis zum Altersheim. Und über die
dabei erworbenen Eigenschaften und Ressourcen bestimmen sich die jeweili-
gen sozialen Lagen und darüber dann das Muster der sozialen Ungleichheit
Inklusion und Exklusion 235

der Bevölkerung einer Gesellschaft. Die soziale Ungleichheit ist, kurz gesagt,
die Folge typischer Muster von Inklusion und Exklusion der Akteure in die
sozialen Systeme einer Gesellschaft.

Prozesse der Inklusion

Es gibt zahllose, teilweise äußerst komplizierte, Vorgänge wie es zu Inklusion


und Exklusion kommt. Mindestens zwei verschiedene Dimensionen des Prob-
lems können unterschieden werden. Die erste Dimension ist der Mechanismus
der Inklusion der Akteure in die sozialen Systeme. Hier sind zwei Formen zu
unterscheiden: die Inklusion über die bloßen Interessen der Akteure und in der
Form von Märkten einerseits und über die Anwendung institutionalisierter
Regeln andererseits. Geschieht die Inklusion über Interessen und Märkte, wol-
len wir von Marktinklusion sprechen, erfolgt sie nach Regeln, von Regelinklu-
sion. Die zweite Dimension bezieht sich auf das Verhältnis der Akteure zu
den sozialen Systemen. Auch hier sind zwei Varianten zu unterscheiden: die
Plazierung von „externen“ Akteuren auf vakante Positionen in bereits beste-
hende soziale Systeme einerseits und die mit der Inklusion erst entstehende,
simultan erfolgende Konstitution der sozialen Systeme andererseits. Im ersten
Fall sei von Plazierungsinklusion, im zweiten von Konstitutionsinklusion ge-
sprochen. Mit der Kreuzung der beiden Dimensionen ergeben sich folglich
vier Typen von Prozessen der Inklusion von Akteuren in soziale Systeme
(Abbildung 5.1).

Markt Regel

Plazierung Berufsposition Staatsbürgerschaft

Konstitution Partnerschaft Staatenbildung

Abb. 5.1: Typen von Prozessen der Inklusion (mit Beispielsfällen)

In den Zellen des Diagramms ist jeweils ein typisches Beispiel für die betref-
fende Typenkombination aufgeführt. Wir gehen die Kombinationen der Reihe
nach durch.
236 Die Konstruktion der Gesellschaft

Fall 1: Plazierung auf Positionsmärkten

Die Inklusion über Interessen kann man sich am einfachsten für die Plazie-
rung über einen Markt der Besetzung von Positionen vorstellen, etwa bei der
Übernahme einer beruflichen Position (siehe dazu auch schon Abschnitt 4.5 in
diesem Band zur Statuszuweisung).
Plazierungen gibt es nur in den, etwa als Organisation schon bestehenden, sozialen Systemen
einer Gesellschaft. Dort existieren bestimmte, zeitweise vakante Positionen, die mit konkreten
Akteuren zu besetzen sind, etwa Arbeitsplätze in Betrieben, Lehrstühle an Fakultäten oder
Mandate in einem Parlament. Für diese Positionen interessieren sich nun die Akteure der Ge-
sellschaft, wenngleich nicht alle in der gleichen Weise und nicht zu allen Gelegenheiten. Wir
wollen die interessierten Akteure „außerhalb“ der sozialen Systeme als die Bewerber be-
zeichnen. Ob eine Position zu besetzen ist und wer sie bekommt, entscheiden ebenfalls wie-
der Akteure, nämlich diejenigen in den sozialen Systemen, die dort für die Besetzung der Po-
sitionen zuständig sind, davon ihren Lebensunterhalt beziehen und deshalb ein besonderes In-
teresse an der möglichst angemessenen Plazierung von Akteuren von „draußen“ haben: Un-
ternehmer bzw. Personalchefs, Berufungskommissionen oder der „Wähler“ bzw. vorher die
Delegiertenversammlungen der Parteien, etwa. Wir wollen diese – teilweise: kollektiven oder
korporativen – Akteure, die über die Plazierungen zu entscheiden haben, als Positionierer be-
zeichnen.

Die Bewerber entwickeln somit eine Nachfrage nach Positionen und bieten
sich den Positionierern zur Besetzung an, und die Positionierer bieten die Po-
sitionen an; und entwickeln eine Nachfrage nach ihnen geeignet erscheinen-
den Bewerbern. Zur Inklusion eines speziellen Bewerbers in ein soziales Sys-
tem kommt es dann, wenn sich Angebot und Nachfrage treffen. Und das heißt:
Wenn der Positionierer überhaupt eine Position anbieten kann und den Be-
werber annehmen will und wenn der Bewerber dem Angebot zu den gegebe-
nen Bedingungen, etwa dem für seine Leistungen angebotenen Einkommen,
zustimmt. Das aber ist genau ein Markt, auf dem sich ja auch Anbieter und
Nachfrager mit ihren Möglichkeiten und Interessen und zu einem gemeinsa-
men Preis von Leistung und Gegenleistung treffen (vgl. dazu ausführlich noch
Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Der Modellfall für diesen Vorgang der (nur) nach Interessen verlaufenden Marktinklusion in
bereits bestehende soziale Systeme als Aufeinandertreffen von Angebot und Nachfrage ist
wohl der Arbeitsmarkt, wiewohl gerade auch dieser Markt oft von allerlei Regeln und markt-
fremden Verzerrungen durchzogen ist. Hier gibt es in der Bevölkerung der Gesellschaft –
mehr oder weniger zahlreiche – Bewerber, die potentiellen „Arbeitnehmer“. Und es gibt die
„Arbeitgeber“, bzw. die Personalchefs, als die Positionierer in den Betrieben. Wenn die Be-
werber auf die Arbeitsplätze aus der Sicht der Arbeitgeber hinreichend geeignet erscheinen,
und wenn die angebotenen Gegenleistungen dem Bewerber ebenfalls zusagen, dann kommt
es zur Einstellung, zur „Inklusion“ in die funktionale Sphäre der Wirtschaft – bis zur Kündi-
gung oder Pensionierung.
Inklusion und Exklusion 237

Diese Form der Inklusion gibt es überall da, wo es Märkte gibt, vor allem aber
– natürlich – in der funktionalen Sphäre der Wirtschaft, aber auch, wenngleich
in komplizierterer Weise der Aggregation der vielen Entscheidungen, in der
Politik oder in vielen anderen Sphären des öffentlichen Lebens, in denen es
„Bewerbungen“ auf „Positionen“ gibt. Freilich sind das, meist mehr noch als
die Arbeitsmärkte, alles andere als „perfekte“ Märkte, sondern solche, die al-
len möglichen Beschränkungen und Regulierungen unterliegen.
Das ist etwa bei der Bildung der Fall, wo sich die Studenten ihre Universitäten und die Uni-
versitäten ihre Studenten eben nicht frei aussuchen können, und wo es deshalb zwar auch zu
Bildungsangeboten (in Form von Studienplätzen) und Bildungsnachfrage (in Form von Be-
werbungen auf Studienplätze) kommt, wo aber der jeweils entstehende „Markt“, etwa, durch
die künstliche Öffnung der Universitäten für alle (mit Abitur) bzw. durch den numerus clau-
sus für einige Fächer deutlich verzerrt ist (vgl. dazu auch noch das Beispiel zur Auswirkung
von Studiengebühren auf den Bildungs-„Markt“ in Band 4, „Opportunitäten und Restriktio-
nen“, dieser „Speziellen Grundlagen“).

Die Besonderheit hier ist jedoch stets die, daß sich die Akteure „draußen“ auf
die Positionen in sozialen Systemen bewerben, die auch ohne sie bestehen
würden und für die es eine – mehr oder weniger große – Zahl von Mitbewer-
bern, von Konkurrenten gibt, von der u.a. abhängt, wie hoch der Preis ist, den
jemand verlangen kann, wenn er eine bestimmte Position besetzen würde.
Gibt es viele konkurrierende Bewerber auf wenige Positionen, sinkt der Preis,
etwa für die Arbeit, und die Arbeitnehmer haben ein vergleichsweise niedri-
ges Einkommen. Und umgekehrt.
Die Plazierung in bestehende funktionale Systeme über den Mechanismus
des Marktes entspricht den Prinzipien der Entstehung von sozialer Ungleich-
heit in der Form von sozialen Klassen. Im einfachsten Fall also: Die Akteure
treffen mit ihren, unter anderem durch die Eigentumsordnung verteilten, Res-
sourcen „frei“ aufeinander, und diejenigen, die sich „außerhalb“, etwa des Be-
sitzes von Produktionsmitteln, befinden, müssen, um in das System der Ge-
sellschaft inkludiert zu werden, das anbieten, was sie haben – ihre Arbeits-
kraft. Die wird auch – immer noch – gerne genommen, weil sie die wichtigste
Produktivkraft ist. Aber wenn es mehr Bewerber als Plätze gibt, dann müssen
einige draußen bleiben. Und die senken das Einkommen bzw. die Qualität der
Gegenleistungen für alle diejenigen, die drinnen sind oder hinein möchten.
Karl Marx sprach angesichts der großen Massen an Arbeit suchenden Men-
schen vor den Toren der sich entwickelnden kapitalistischen Wirtschaft ganz
treffend auch von einer industriellen Reservearmee. Es gibt solche „Reserve-
armeen“ natürlich auch für die vielen anderen, bereits fest organisierten sozia-
len Systeme der Gesellschaft, insbesondere die der funktionalen Sphären. Und
in der sog. Dritten Welt sammeln sie sich in den trostlosen Elendsvierteln der
Metropolen, so wie das früher vor den Toren der Städte Europas schon einmal
238 Die Konstruktion der Gesellschaft

und inzwischen mit den Immigrantenvierteln hier auch wieder, der Fall (ge-
wesen) ist.

Fall 2: Konstitution als Marktgeschehen

Bei der Inklusion als Konstitution entsteht das betreffende soziale System im
Akt der Inklusion selbst. Ein besonders interessanter Fall einer solchen Kon-
stitutionsinklusion über den Mechanismus des Marktes ist jener der Bildung
von Partnerschaften, wie wir wissen. Auf dem Partnerschafts- oder Heirats-
markt gibt es „Bewerber“ und „Positionierer“ und sogar als „vakant“ empfun-
dene Plätze (an der jeweiligen „Seite“ nämlich). Aber es gibt, anders als bei
einem Betrieb und einer Behörde, das soziale System der Partnerschaft noch
nicht, in das hinein „plaziert“ werden könnte. Das dazu „nötige“ soziale Sys-
tem entsteht ja erst in dem Moment, in dem sich die (beiden) Akteure einigen,
die Beziehung einzugehen. Es handelt sich bei der Konstitution von Partner-
schaften überdies um den Sonderfall einer dyadischen, symmetrischen und re-
ziproken Inklusion: Jeder der beiden Akteure ist stets gleichzeitig Bewerber
und Positionierer, und erst mit der beiderseitigen Übereinkunft als Bewerber
und Positionierer entsteht das soziale System einer Partnerschaft (vgl. dazu
auch schon Kapitel 1 in diesem Band zur „Emergenz“ einer Freundschaft).
Partnerschaften wären damit besondere Fälle der Konstitutionsinklusion: Der
Konsens der Akteure schafft das soziale System und besorgt gleichzeitig –
uno actu – deren Inklusion darin. Und die Exklusion auch nur eines Akteurs,
etwa über das Verlassen des Partners oder den Tod, beendet es unmittelbar
wieder. Es besteht weder „vorher“, noch „nachher“. Und weil es auch hier,
wenn man nur etwas genauer hinsieht, um ein Zusammentreffen von Interes-
sen, von Angebot und Nachfrage geht, auch natürlich um unterschiedliche
„Preise, wenn es mehr oder weniger attraktive Mitbewerber gibt, ist es – in
der oben eingeführten Terminologie – ein Fall der Konstitutionsinklusion, der
sich als Markt-inklusion vollzieht.
Über diesen Vorgang der Konstitutionsinklusion nach dem Marktprinzip
entstehen, bestehen und wandeln sich zahllose andere Assoziationen, also
nicht-organisierte soziale Gebilde, auch solche mit einer Vielzahl von Akteu-
ren, wie etwa spontane Freizeitgruppen. Die nicht-organisierten kulturellen
Milieus und Szenen, etwa die der neuen sozialen Ungleichheit, entstehen und
„bestehen“ auch so – durch die fortwährende Beteiligung von Akteuren an
den diese sozialen Systeme „definierenden“ Aktivitäten und Stilisierungen.
Und ebenfalls ent- und bestehen und wandeln sich so die diversen Sub- und
Gegenkulturen der Devianz-Bereiche einer Gesellschaft. Sie gibt es nur über
Inklusion und Exklusion 239

die sie aktuell tragenden Akteure. Und sie variieren daher je nach der Anzahl
der so inkludierten Akteure unmittelbar in ihrem Umfang. Wenn die Sub- und
Gegenkulturen immer mehr Akteure mit bestimmten Interessen an sich zie-
hen, dann haben wir es sogar mit einer sozialen Bewegung zu tun. Auch die
konstituieren sich, etwa in der Form einer Demonstration, nur im Moment der
Inklusion der daran teilnehmenden Akteure – und verlaufen sich dann ggf.
wieder. Und weil die Partizipation an diesen sozialen Systemen im Prinzip
nicht geregelt ist, sondern sich (nur) über die Interessen der Akteure entwi-
ckelt, sind das auch alles Fälle der Inklusion über Interessen, und daher eben-
falls eine spezielle Form des Marktgeschehens.

Fall 3: Plazierung nach Regeln

Keineswegs alle Inklusionen erfolgen nur nach Interessen und nur nach dem
Prinzip des Marktes. Viele, womöglich die meisten, geschehen über Regeln,
insbesondere über Rechte und darauf gründende Ansprüche, oft dann aber
auch mit unabweisbaren Pflichten verbunden. Wieder kann danach unter-
schieden werden, ob es über die Anwendung von Regeln zu einer Plazierung
in bereits bestehende soziale Systeme kommt oder ob sich durch die Inklusion
nach Regeln ein soziales System erst konstituiert. Zu einer Plazierung nach
Regeln kommt es beispielsweise bei der Inklusion von Akteuren in einen Na-
tionalstaat durch die Verleihung der Staatsbürgerschaft nach den Bestimmun-
gen des Staatsbürgerschaftsrechtes des jeweiligen Landes. Den jeweiligen
Staat gibt es schon, und in ihm die „Positionen“ der Staatsbürger. Die Neuge-
borenen werden in ihn nach gewissen Regeln des Staatsbürgerschaftsrechtes
inkludiert, etwa nach dem jus soli, das besagt, daß jeder zum Staatsbürger
wird, der auf dem Boden des Staates geboren wird, oder nach dem jus sangui-
nis, das über die ethnische Abstammung bestimmt, wer per Geburt Staatsbür-
ger ist oder nicht. Wer – wie auch immer – eine doppelte Staatsbürgerschaft
besitzt, ist folglich auch gleich in zwei Staaten inkludiert. Und wer keine hat,
ist staatenlos und exkludiert.
Die Plazierungsinklusion nach Regeln gilt für alle möglichen Rechte und
deren Wahrnehmung durch die Akteure. Die Reichweite der Regeln ist dabei
durchaus unterschiedlich. Es gibt allgemeine und nicht ablegbare Rechte, wie
die Grundrechte, über die alle Menschen in die „Gesellschaft“ inkludiert sind
und zu „Bürgern“ werden, und vor denen es beispielsweise keine nicht als
„Menschen“ angesehene Sklaven gibt. Andere Rechte waren oder sind be-
schränkt oder gelten nur unter bestimmten Bedingungen, wie etwa das Wahl-
recht, das zunächst nur wenige hatten und dann erst allmählich zum „allge-
240 Die Konstruktion der Gesellschaft

meinen“ Recht wurde, oder die Anrechte auf die diversen Leistungen des
Wohlfahrtsstaates, wie das Recht auf Bildung, auf Gesundheitsversorgung
und auf Sozialhilfe, wenn alle Stricke reißen. Ein weiterer Fall der Plazie-
rungsinklusion nach Regeln wäre die Mitgliedschaft in – mehr oder weniger:
„exklusiven“ – Klubs, wie das etwa die Rotarier oder der ETUF, der Essener
Tennis- und Fechtverein, sind. Meist gibt es hier sogar sehr strenge Regeln,
gerade weil man nicht jeden, der Interesse hat, hineinlassen möchte, selbst
wenn das einzelne Mitglied das gerne sähe. Das oberste Gut solcher Klubs ist
die Exklusivität, und der freie Markt wäre nur etwas für den Pöbel.

Fall 4: Konstitution über Regeln

Fälle der Inklusion durch Konstitution nach sozialen Regeln sind nicht leicht
zu finden. Die Staatenbildung könnte man wohl als einen Fall der Konstituti-
onsinklusion nach Regeln ansehen. Mit dem verfassungsgebenden Akt der
Staatsgründung konstituiert sich der (National-)Staat als politische Gemein-
schaft aller derjenigen, die ihm nach einer bestimmten Regel formell zugehö-
ren, ob sie das wollen oder nicht. In ähnlicher Weise könnte man sich die Bil-
dung einer Organisation vorstellen, bei der Akteure beschließen, sich gegen-
seitig nach gewissen Regeln in eine solche Organisation zu inkludieren, etwa
indem sie einen Verein oder eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung grün-
den.

***

Die wichtigste Besonderheit der Inklusion nach Regeln, insbesondere die in


bestehende Systeme, ist, daß sie – im Prinzip – auch unabhängig von (bloßen)
Interessen und Marktgesichtspunkten oder sogar dagegen erfolgt oder gar er-
folgen soll. Es ist eine Plazierung eher nach den Prinzipien des Standes und
der mit gewissen Merkmalen verbundenen Privilegien. Die exklusive Selbst-
inklusion des Adels nach dem Kriterium der Geburt ist eines der markantesten
Beispiele dafür. Beim Adel ist nämlich, wie bei spontanen Gruppen, Ehen und
Familien, das Aggregat der „adligen“ Akteure deckungsgleich mit dem Adel
als einem sozialen System im Rahmen einer Feudalgesellschaft. Die diversen
Rechte, etwa die des Wohlfahrtsstaates, bringen somit ein durchaus ständi-
sches Element in die Gesellschaft, auch wenn sich ansonsten ihre Mitglieder
ganz allein nach Interessen und nach Marktgesichtspunkten auf die verschie-
denen sozialen Systeme verteilen.
Inklusion und Exklusion 241

Die Entstehung der Regeln und der Rechte

Die Regeln und Rechte auf Inklusion fallen natürlich nicht vom Himmel. Sie
werden, wenn man sich nicht konsensuell darauf verständigt, meist mühsam
den Herrschenden abgerungen und schließlich als Gegenleistung für die Erfül-
lung bestimmter Erwartungen zugestanden. Der Wohlfahrtsstaat mit seinen
Privilegien für die unteren Stände war beispielsweise auch als Korrektur der
durch den Markt entstandenen Ungleichheiten und der, so wurde das empfun-
den, damit verbundenen Ungerechtigkeiten und Loyalitätsprobleme gedacht.
Aber das war kein leichter Weg dahin. Denn letztlich ist jedes Zugeständnis
der Herrschenden ein Tausch, und ein Recht wird nur zugestanden, wenn es
dafür eine Gegenleistung gibt (vgl. dazu noch Band 3, „Soziales Handeln“,
dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Was sollte das aber für eine Ge-
genleistung der „Massen“ gewesen sein? Die Antwort ist nicht schwer: An-
ders noch als Karl Marx geglaubt hatte, besaßen die Massen im sich entfal-
tenden Kapitalismus und den sich ändernden Produktionsstrukturen durchaus
mehr als nur ihre Arbeitskraft, ihre Nachkommen und ihre Ketten. Der Staat
und die Wirtschaft brauchten zunehmend ihre Loyalität und ihre Qualifikation
und, nicht zuletzt, das Militär auch ihre Gesundheit. So wurden, beispielswei-
se, die allgemeine Schulpflicht eingeführt und die Kinderarbeit verboten –
und das ganze mit allerlei Moral und Soziallehre verziert. Die Rechte wurden
den Positionsträgern in der „Gesellschaft“ dabei geradezu abgerungen, und
stets die relativ „billigsten“ zuerst: am Anfang die noch verhältnismäßig kos-
tenfreien Bürgerrechte, dann die für die Herrschenden nicht ungefährlichen
politischen und dann erst die auch materiell teuren sozialen Rechte des Wohl-
fahrtsstaates.1 Und auch dann noch ging es immer streng nach Leistung und
Gegenleistung: Das Wahlrecht bekamen beispielsweise zuerst nur die Vermö-
genden, dann gab es das Dreiklassenwahlrecht und schließlich doch das heute
übliche allgemeine Wahlrecht nach dem Prinzip „one man, one vote“. Und in
der Schweiz durften bis vor kurzem tatsächlich nur die Männer wählen.

Märkte versus Regeln

Das aber zeigt, daß bei der Etablierung von Regeln – letztlich(!) – doch wie-
der die Interessen und der Markt das Geschehen bestimmen, und damit die mit
der Kontrolle über Ressourcen verbundene Macht der Akteure in gewissen

1
Vgl. dazu Thomas H. Marshall, Bürgerrechte und soziale Klassen. Zur Soziologie des
Wohlfahrtsstaates, Frankfurt/M. und New York 1992, S. 40-52 insbesondere.
242 Die Konstruktion der Gesellschaft

gesellschaftlichen Lagen. Sind die Regeln jedoch einmal eingerichtet, gibt es


– teilweise in Konkurrenz zu Macht und Markt – eine Fülle von Pfadabhän-
gigkeiten der weiteren institutionellen Entwicklung und oft irreversiblen
strukturellen Folgen. Der Sozialstaat, beispielsweise, hat längst seine ganz ei-
gene Eigendynamik entwickelt.
Aber auch bei vollzogener Etablierung von Regeln der Inklusion und ei-
gentlich zweifelsfreien „Ansprüchen“ sind die Knappheiten und die Interessen
nicht ausgeschaltet: Nicht alle, die eine neue Niere brauchen und darauf einen
„Anspruch“ hätten, können eine bekommen, und nicht für alle, die die Uni-
versität besuchen wollen und das Recht dazu haben, gibt es einen Studien-
platz. Und dann kommt es zu zusätzlichen Vorgängen, die die Inklusion bzw.
die Exklusion dann doch wieder über einen, wenngleich versteckten, Markt
regeln: Wartelisten für Nierenpatienten mit der Folge, daß einige vor der
Transplantation sterben, oder ein numerus clausus, der dazu führt, daß die
Professoren höhere Leistungen verlangen können als in dem Fall, daß jeder
Zutritt hätte. Letztlich treibt der Marktmechanismus also auch die Verände-
rung von Regeln der Inklusion und die Entstehung und Änderung der sozialen
Systeme: Sozialrechte, etwa, werden eingeschränkt, wenn das Ausmaß der
rechtlich einklagbaren Ansprüche die materiellen Möglichkeiten des Wohl-
fahrtsstaates übersteigen, und wenn die Universitäten die Massen an Studen-
ten, die Abitur machen und die Studierberechtigung erhalten, nicht mehr be-
wältigen können, dann gibt es Bestrebungen, die „wahren“ Knappheitsver-
hältnisse, wenigstens teilweise, etwa über Studiengebühren, zu regeln.

Funktionale Ausdifferenzierung und Inklusion: das Beispiel der Medizin und


des Gesundheitswesens (noch einmal)

Die Konstitution der sozialen Systeme und die Inklusion der Akteure ist, auch
in seiner gleichgewichtigen Reproduktion, kein statischer Vorgang, sondern
ein immerwährender Prozeß. Die Systeme können sich erweitern und immer
mehr Akteure einbeziehen, wie bei einer Modeströmung etwa, sie können a-
ber auch in ihrer Reichweite verfallen, weil die Akteure sich nicht mehr betei-
ligen mögen, wie das bei den großen Kirchen derzeit der Fall ist. Ein wichti-
ger Spezialfall der Systembildung gerade durch die zunehmende Inklusion
von zuvor „exkludierten“ Akteuren ist die „evolutionäre“ Entstehung einer
funktionalen Sphäre. Wir haben ihn bereits in Abschnitt 3.1 in diesem Band
am Beispiel der Ausdifferenzierung der modernen Medizin über die Einrich-
Inklusion und Exklusion 243

tung von Hospitälern im Mittelalter kennengelernt.2 Dieser Fall ist hier auch
deshalb interessant, weil sich an ihm zeigt, daß bei der Entstehung sozialer
Systeme ganz verschiedene Typen von Prozessen der Inklusion – gleichzeitig
oder nacheinander – beteiligt sein können.
Die fachlich-neugierige „Nachfrage“ der Ärzte nach möglichst vielen und bei Komplikatio-
nen während der medizinischen Experimente möglichst wenig widerspenstigen menschlichen
Körpern erzeugte einen Bedarf an, wie es auch heißt, „Publikumsrollen“. Das sind in der
Sprache der älteren Soziologie die den Ärzten mit ihren „Leistungsrollen“ zugeordneten „Po-
sitionen“ von Patienten. Bis dahin wußte das gemeine Volk außerhalb des fürstlichen Hofes
gar nicht, daß es für die Ärzte am Hof interessant sein könnte, und die Ärzte kamen zunächst
auch ganz gut ohne irgendein weiteres „Publikum“ aus. Daher gab es zunächst auch nur die
„Leistungsrollen“ der Ärzte bei Hof. Das gemeine Volk ließ sich natürlich nicht zweimal bit-
ten, und war auch zufrieden damit, nur als anonymer Körper in der formalen „Position“ eines
Patienten behandelt zu werden: Es hatte ein großes Interesse an der Inklusion in die sich ent-
wickelnde Medizin und stand bereitwillig zur „Ausweitung“ der Medizin auf die Publikums-
rolle zu Verfügung. Das aber führte – schrittweise – wiederum zu einer Homogenisierung der
Ärzte als medizinische Praktiker und gleichzeitig zu ihrer Spezialisierung, etwa als Chirur-
gen, Pharmazeuten oder Heilkundige, und zu einem Aufstieg der Krankenhausärzte vom Ar-
menmediziner zur professionellen Elite. Die zunehmende Inklusion der Massen aber, als Fol-
ge eines beiderseitigen Bedarfs danach, gibt dem so entstehenden sozialen System der Medi-
zin erste funktionsspezifische Konturen und verleiht ihm in den Hospitälern eine organisato-
rische Grundlage, mit schließlich sorgfältig verwalteten Positionen und Vakanzen – Betten,
Ärzte, Pflegepersonal – und allerlei Regeln der „Einweisung“ und der „Entlassung“.

Die Entwicklung der funktionalen Sphäre des Gesundheitswesens und der


Prozeß der „Ausweitung der Publikumsrollen“ verliefen also offenbar zu-
nächst mehr über die Markt- und die Konstitutionsinklusion, und erst später
mehr und mehr über die Plazierungs- und die Regelinklusion. Die schließlich
auch sozialstaatliche Institutionalisierung des „Gesundheitssystems“ mit
Krankenkassen, Bundesärztekammer und Gesundheitsministerium sowie dem
einklagbaren Anspruch von jedermann auf medizinische Versorgung bedeute-
te die endgültige Etablierung eines funktionalen Systems, das zunächst als ei-
ne Art von Hobby einiger Virtuosen der Heilkunst an den fürstlichen Höfen
begonnen hatte, Virtuosen, die für ihre Experimente die Körper des Volkes
brauchten, weil sich der Fürst das Experimentieren am Körper Seiner Durch-
laucht ganz schön verbeten hätte. Und die Folge des Geschehens nach einigen
hundert Jahren: Vor der Krankenkasse und der Gesundheitsreform sind alle,
wenigstens: grosso modo, gleich.

2
Vgl. Rudolf Stichweh, Inklusion in Funktionssysteme der modernen Gesellschaft, in: Re-
nate Mayntz, Bernd Rosewitz, Uwe Schimank und Rudolf Stichweh, Differenzierung und
Verselbständigung. Zur Entwicklung gesellschaftlicher Teilsysteme, Frankfurt/M. und
New York 1988, S. 263f.
244 Die Konstruktion der Gesellschaft

Inklusion und Konstitution: die Ko-Evolution von sozialer Differenzierung


und sozialer Ungleichheit

Die soziale Differenzierung einer Gesellschaft und die soziale Ungleichheit


der Akteure hängen, wie man sieht, auf das Engste zusammen, bedingen und
erzeugen sich gegenseitig. Sie sind beide eine emergente Folge des Handelns
der Akteure und dessen Folgen: Die soziale Ungleichheit folgt aus der Aggre-
gation der gesellschaftlichen Lagen, die sich aus der Inklusion der Akteure in
die verschiedenen soziale Systeme einer Gesellschaft ergeben. So entstehen
soziale Klassen, Stände, Schichten und – neuerdings – die NSU-Milieus, die
Gruppierungen der „neuen sozialen Ungleichheit“. Aus diesen Aggregaten der
Ungleichheit bilden sich dann – unter Umständen und auf oft verwickelte,
meist ungeplante Weise – wieder soziale Systeme, zum Beispiel Interessen-
verbände und Parteien, etwa Gewerkschaften und Arbeitergeberverbände,
SPD und CDU, verschiedene alternative Szenen, etwa jene „grünen“ Szenen
der Innehaber von Positionen in kulturellen und sozialen Berufen, auch die ei-
ne oder andere ethnische Gemeinde oder Subkultur der Armut, mitunter sozia-
le Bewegungen, etwa die Proteste der gelangweilten postmodernen Bürgers-
kinder, oder eine Revolution, etwa die der entrechteten Massen, die dann aber
doch nie stattfindet. So entstehen funktionale Sphären, kulturelle Milieus und
Devianz-Bereiche, aus denen sich dann wieder über die Inklusion typische ge-
sellschaftliche Lagen und Strukturen der sozialen Ungleichheit bilden. Und so
weiter, und so weiter. Die Inklusion der Akteure in die sozialen Systeme ist
der Mechanismus für die Erzeugung der sozialen Ungleichheit aus der sozia-
len Differenzierung, und die Konstitution der sozialen Systeme der Vorgang,
der aus der bloßen Ungleichheit der Akteure wiederum soziale Systeme und
die sozialen Differenzierungen entstehen läßt.

Die Gleichrangigkeit der Systeme und die Ungleichheit der Menschen

Die moderne Gesellschaft ist, wie wir schon mehrmals festgestellt haben,
durch einen speziellen Typ der sozialen Differenzierung geradezu definiert:
die funktionale Differenzierung. Das heißt: Die Gesellschaft ist unterteilt in
deutlich abgegrenzte Sub-Systeme mit jeweils ganz spezifischen funktionalen
Aufgaben und lebt fast ganz vom arbeitsteiligen Funktionieren der funktiona-
len Sphären. Die moderne Gesellschaft ist, wenn man so will, ein gigantischer
„Markt“ von unzähligen speziellen Angeboten und speziellen Nachfragen und
einer weit ausgebauten Arbeitsteilung und Interdependenz der verschiedenen
funktionalen Sphären. Wie bei jeder „funktionierenden“ Arbeitsteilung ist da-
Inklusion und Exklusion 245

bei kein Bereich „wichtiger“ oder „unwichtiger“ als ein anderer. Jede Funkti-
on ist, wenn das „System“ einmal so „besteht“, gleich bedeutsam und damit
auch gleichermaßen unentbehrlich. Diese funktionale Gleichheit der Systeme
ergibt sich dabei gerade aus ihrer funktionalen Unterschiedlichkeit und Un-
gleichartigkeit: Die Müllabfuhr, der Fluglotsendienst und die Finanzämter
sind jeweils etwas ganz anderes. Die Müllabfuhr ist aber genau deshalb funk-
tional ebenso wichtig wie, sagen wir, die Fluglotsen oder die Finanzbeamten,
weil außer der Müllabfuhr niemand den Müll wegräumen würde. Und wenn
ein Bereich einmal ausfällt, etwa weil die Müllarbeiter oder die Fluglotsen
streiken oder die Finanzbeamten wegen Überlastung nicht mehr mitkommen,
dann hat das gleich ernste Konsequenzen für alle.
Aus der Gleichheit der funktionalen Bedeutung der funktionalen Sphären
in den modernen Gesellschaften könnte man einen, wenn man nicht aufpaßt,
einfachen Schluß ziehen: Daß sich mit der zunehmenden funktionalen Gleich-
heit der funktionalen Systeme auch die vertikale Ungleichheit unter den Ak-
teuren verringern müsse oder, wenn nicht, daß dies ein unbeachtliches Neben-
produkt oder ein Relikt alter vormoderner Zeiten wäre. Was spricht, so fragt
Niklas Luhmann etwas spöttisch, dagegen, „daß Nobelpreisträger sich selbst
die Schuhe putzen müssen und ihre Freunde auf ihrem Sofa schlafen lassen?“.
Die Antwort: „Das Prinzip funktionaler Differenzierung spricht dafür.“3 So ist
es. Und so wird das Konzept der sozialen Klassen zu einer längst überholten
Form der Selbstbeschreibung der Gesellschaft, für die es nun keine strukturel-
le Grundlage (mehr) gebe:4 Die funktionale Ungleichartigkeit der Systeme er-
zwinge ihre funktionale Gleichrangigkeit und damit – wenigstens in der Ten-
denz – die gesellschaftliche wie soziologische(!) Bedeutungslosigkeit der ver-
tikalen (und auch der horizontalen) sozialen Ungleichheit – der Menschen, na-
türlich (siehe dazu auch noch den Exkurs über die unvermutete Entdeckung
der leibhaftigen Menschen und des Elends in der Welt durch die soziologische
Systemtheorie gleich unten).
Und in der Tat: Nach einer langen Geschichte der stetigen Zunahme der
sozialen Ungleichheit von der Urzeit der menschlichen Gesellschaften über
die großen Staats- und Feudalgesellschaften des Mittelalters hat es in den mo-
dernen Gesellschaften einen Umschwung des Trends zur zuerst immer größer
werdenden vertikalen Ungleichheit gegeben (vgl. Abbildung 5.2).

3
Niklas Luhmann, Zum Begriff der sozialen Klasse, in: Niklas Luhmann (Hrsg.), Soziale
Differenzierung. Zur Geschichte einer Idee, Opladen 1985, S. 145.
4
Ebd., S. 143ff.; vgl auch: Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frank-
furt/M. 1997, Kapitel 5, Abschnitt XVI.: Klassengesellschaft, S. 1055-1060.
Inklusion und Exklusion 247

mender funktionaler Differenzierung liegen auf der Hand. Zwei Prozesse sind
vor allem zu nennen: die sog. Vollinklusion der Akteure in die Gesellschaft
und die Kreuzung der sozialen Kreise. Hinzu kommt ein normativer Zug der
Modernisierung: die – auch politisch artikulierte – Forderung nach der Aufhe-
bung von Diskriminierungen, Ungerechtigkeiten und nicht durch „Leistung“
erzeugter Ungleichheit. Freiheit und Gleichheit sind die Imperative der mo-
dernen Gesellschaft, aber, das sei vorsichtshalber gleich hinzugefügt, nicht
zwingend auch noch die Brüderlichkeit. Das meinten zuletzt nur noch Oskar
Lafontaine und sein Staatssekretär Flassbeck, sowie der Papst aus Rom.

Vollinklusion

Mit Vollinklusion ist gemeint, daß im Zuge der funktionalen Ausdifferenzie-


rung der Gesellschaft immer mehr und schließlich ausnahmslos alle Akteure
in die verschiedenen funktionalen Sphären und Rechte einbezogen werden –
ob die das wollen oder nicht. Die Geschichte der Modernisierung über funkti-
onale Differenzierung kann geradezu als Geschichte dieses Prozesses be-
schrieben werden: Die zunächst auf wenige „Leistungsrollen“ beschränkten
Funktionssysteme breiten sich – als Teil ihrer weiteren Konstitution und Etab-
lierung als funktionale Sphäre(!) – auf ein zunächst draußen stehendes „Publi-
kum“ aus und beziehen dabei die Massen der Bevölkerung über gewisse
„Publikumsrollen“ in das Funktionieren ein. Dieser Prozeß geschieht schritt-
weise – bis alle Akteure, die zur Gesellschaft gezählt werden, erfaßt sind, et-
wa über das Wahlrecht in das politische System, über die Verbreitung von
Kaufkraft in das wirtschaftliche System, über das Recht auf Bildung in das
Erziehungswesen oder über die Pflichtversicherung in das Gesundheitswesen.
Die in Abschnitt 3.1 dieses Bandes und gerade eben wieder beschriebene Ent-
wicklung des Funktionssystems der Medizin ist ein anschauliches Beispiel
dafür: Mit der funktionalen Zuspitzung auf ganz spezifische „exklusive“ Leis-
tungen geht „die Universalität der Einbeziehung von jedermann“ (Stichweh
1988, S. 262; Hervorhebungen so nicht im Original) einher.
Die Vollinklusion, etwa über die Einrichtungen des Wohlfahrtsstaates,
sorgt dann natürlich dafür, daß soziale Ungleichheiten verringert werden und
daß sich mancher soziale Konflikt dadurch entschärft. Das war ja gerade der
Sinn der Sozialgesetzgebung für Bismarck und die damaligen Stände, die be-
gannen, die Arbeiterbewegung zu fürchten und sich auch deshalb daran mach-
ten, durch das Zugeständnis politischer und sozialer Rechte die ständische ge-
sellschaftliche Ordnung ihrer Zeit zu retten.
248 Die Konstruktion der Gesellschaft

Multiple Partialinklusion: die Kreuzung der sozialen Kreise

Die Kreuzung der sozialen Kreise ist, wie wir aus Kapitel 2 dieses Bandes und
mit Georg Simmel wissen, die gleichzeitige Mitgliedschaft in mehreren sozia-
len Systemen mit verschiedenen „Systemlogiken“. Man könnte auch von einer
multiplen Partialinklusion der Akteure sprechen. Ein schönes soziologisches
Kunstwort haben wir damit erfunden. Mal sehen, ob es sich durchsetzt in je-
nen Zweigen der Soziologie, die sich mit komplizierten Ausdrücken aufzu-
blähen pflegen. Gemeint ist, daß die Akteure einerseits keinem der sozialen
Systeme „ganz“ angehören, sondern immer nur ausschnittsweise mit einem
Teil ihrer Identität, daß sie auf diese Weise dann aber andererseits gleich in
mehrere soziale Systeme inkludiert sind, womöglich mit drastisch unter-
schiedlichen funktionalen Aufgaben und Codes.
Die wichtigste Folge davon sind hohe Statusinkonsistenzen und die „Indi-
vidualisierung“ der Akteure insofern, daß sie immer „exklusivere“ Kombina-
tionen von Zugehörigkeiten haben, die sie mit immer weniger anderen Akteu-
ren teilen. Auf diese Weise verringert sich erstens die schiere Zahl der Akteu-
re in gleichen gesellschaftlichen Lagen. Wegen der nurmehr partiellen Betei-
ligung ist zweitens auch die Identifikation mit dem System jeweils nur par-
tiell. Und es überkreuzen sich drittens wegen der unterschiedlichen Systemlo-
giken auch die Interessen und die Möglichkeiten und damit die Konfliktlinien.
Das hat eine weitere Folge: Die „Identität“ der Akteure zerfällt ebenfalls in
lauter verschiedene, in multiple Teilidentitäten, und die Menschen wissen
bald kaum mehr, wer oder was sie eigentlich „sind“ (vgl. dazu auch noch
Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Die Kreuzung der sozialen Kreise ist eine unmittelbare Folge der Logik der
funktionalen Differenzierung: Gerade weil es keine Inklusion mehr nach Ver-
erbung oder Zuschreibung, sondern nur noch nach „Leistung“ geben soll, ver-
teilen sich die Akteure mehr und mehr nach den Zufällen ihrer Rekrutierung
in die Funktionssysteme. Und daher wird die soziale Ungleichheit, das Muster
der durch die Inklusion erzeugten gesellschaftlichen Lagen, auch „zufällig“.
Meinte die soziologische Systemtheorie früher und erklärte die soziale Un-
gleichheit und die sozialen Klassen für ein Relikt der Vormoderne.

Die Verinnerlichung der Cleavages

Die grundsätzliche Vollinklusion in den Geltungsbereich aller Funktionssys-


teme der Gesellschaft und die Partialinklusion in nur bestimmte Kombinatio-
nen von konkreten Funktionssystemen, insbesondere in Familie, Beruf und
Inklusion und Exklusion 249

Freizeitbereiche, mit der Folge ganz „individueller“, „exklusiver“ sich in den


Interessen und Möglichkeiten kreuzenden gesellschaftlichen Lagen, sind die
Folge eines Prozesses. Dieser Prozeß stützt selbst wieder das Funktionieren
und die Zuspitzung der funktionalen Differenzierung: Jeder Akteur konzent-
riert sich ganz auf seinen funktionalen Bereich, und die „Spaltungen“ seiner
Interessen und seiner Identität verhindern, daß sich eventuell ansammelnde
Unzufriedenheiten zu einem gesellschaftlich bedeutsamen Konfliktpotential
aufbauen können. Außerdem sorgt die mit der funktionalen Differenzierung
mögliche Wohlstandssteigerung für genügend Ressourcen, die für vieles ent-
schädigen (vgl. dazu auch noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen
Grundlagen“ und das Konzept der „Legitimation durch Verfahren“). Der
Wohlstand ist auch die Grundlage für den Ausbau des Wohlfahrtsstaates und
der sorgt für die zivile, politische und soziale Vollinklusion der Akteure, im
Prinzip auch derjenigen, die – wider Erwartung – keinen „Platz“ in der Ge-
sellschaft gefunden haben. Und so ziehen sich die durchaus weiter bestehen-
den, ja sogar verstärkenden, Interessen- und Kontrollkonflikte und Cleavages
aus abgrenzbaren Aggregaten der Bevölkerung zurück und verlagern sich –
sozusagen – in das Innere der Psychen der Menschen. Die Klassenkämpfe
finden jetzt, so könnte man sagen, nicht mehr zwischen den Kollektiven von
innerlich ganz homogenen Akteuren, sondern in den in ihrer Identität sehr he-
terogen gewordenen Akteuren selbst statt – als steter Kampf widerstreitender
Interessen und Seelen „ach in meiner Brust“, ausgetragen mit viel Maalox und
Valium oder entschärft durch ein „moralisches Bewußtsein“, das die Diffe-
renzen der inneren Spaltungen zu einer neuen, übergreifenden Identität zu-
sammenfügen soll (vgl. dazu auch noch Kapitel 6 in diesem Band über die In-
tegration der Gesellschaft und der Menschen, sowie Band 6, „Sinn und Kul-
tur“, dieser „Speziellen Grundlagen“).

Totalexklusion

In die „Gesellschaft“ ganz allgemein waren die Menschen – bis auf wenige
Ausnahmen – eigentlich immer einbezogen. In den Stammesgesellschaften
der Urzeit gab es keine „Außenseiter“, weil sie keine Überlebenschance hat-
ten. Und auch in den Staats- und Feudalgesellschaften des Mittelalters blieb
es im Prinzip dabei, daß jeder dazugehörte und in seinem jeweiligen „Stand“
seinen Platz und seine Heimat fand. Und wenn nicht, dann waren er oder sie
wenigstens noch Kinder Gottes. Aber es gab sie in den Feudalgesellschaften
durchaus schon, die Exklusion aus der Gesellschaft. Niklas Luhmann be-
schreibt das sehr anschaulich so:
250 Die Konstruktion der Gesellschaft

„Man findet seinen sozialen Status (in den Feudalgesellschaften; HE) in der Schicht, der man
angehört. ... . Sie (die Inklusion; HE) obliegt den Familien bzw. (für Abhängige) den Famili-
enhaushalten. Irgendwo war man danach durch Geburt oder Aufnahme zu Hause. Exklusion
war, zum Beispiel aus Gründen der wirtschaftlichen Not oder mangelnder Heiratschancen,
möglich. Es gab zahlreiche Bettler. Auch konnten je nach Schichtlage die Klöster, die ‚unehr-
lichen‘ Berufe oder die Handels- und Kriegsmarine im Exklusionsbereich ihr Personal rekru-
tieren. Als Letztabnehmer blieben die Piratenschiffe der mittelamerikanischen Inselwelt. Es
wird sich, schon im Mittelalter und erst recht in der Frühmoderne, um eine beträchtliche Per-
sonenzahl gehandelt haben.“ (Luhmann 1997, S. 622; Hervorhebung nicht im Original)

Um ihre „Plätze“ in der Gesellschaft einnehmen zu können, wird bis dahin


von den Akteuren nicht viel verlangt. Sie müssen sich im Grunde nur den
„herrschenden Verhältnissen“ fügen. Die Moderne mit ihrem Übergang zur
funktionalen Differenzierung als Prinzip der Vergesellschaftung ändert das.
Jetzt gibt es keine „natürliche“ Inklusion mehr, etwa per Stammesmitglied-
schaft oder per Geburt in einen Stand, sondern die Akteure müssen an den
verschiedenen Funktionssystemen teilnehmen und mehr und mehr etwas
selbst investieren, um ihren „Status“ zu finden. Das ist, sozusagen, der Preis
für das Aufbrechen der Stammes- und der Standesgrenzen und für die Vollin-
klusion in die Funktionssysteme als Recht zur Teilnahme daran. Ein Recht auf
Inklusion heißt aber noch lange nicht, daß es dazu auch wirklich kommt. Ver-
heiraten darf sich jeder, aber viele bleiben allein. Meist sind an das prinzipiel-
le Recht auf Inklusion auch festumrissene Bedingungen geknüpft, ohne die es
nicht zur Inklusion kommt, wie beispielsweise das Abitur als Bedingung für
einen Studienplatz. Und schon ob das Abitur überhaupt angestrebt wurde,
hängt mit vielen Zufällen der Biographie zusammen, etwa vom Einreisealter
bei den Migrantenkindern, die als Halbwüchsige in die Sonderschulen ge-
steckt werden – und das war es dann mit der Inklusion in die zentralen Berei-
che der (Aufnahme-)Gesellschaft. Kurz: Jeder muß sich im Lande der formel-
len Vollinklusion aktiv und selbst um die Wahrung seiner Chancen kümmern.
Und wenn er es nicht tut oder Pech dabei hat, dann mißlingt die faktische In-
klusion, manchmal schon frühzeitig und dann ganz nachhaltig.

Die Logik der Funktionssysteme und die Maschinerie der Exklusionsverstär-


kung

Daß das Mißlingen von Inklusionskarrieren und die Erzeugung von ganzen
sozialen Klassen an „Zaungästen“ der Multifunktionsgesellschaft mit dem
weiteren Vordringen der funktionalen Differenzierung eher wahrscheinlicher
wird, liegt an der Logik der funktionalen Differenzierung selbst. Die Inklusio-
nen in die verschiedenen funktionalen Systeme hängen nämlich oft eng mit-
Inklusion und Exklusion 251

einander zusammen und verstärken einmal begonnene kleinere Abweichun-


gen: Nur wer in einem bestimmten funktionalen System schon vorher inklu-
diert war, hat Chancen, in ein anderes einzutreten. Und das ist deshalb so,
weil sich die verschiedenen funktionalen Systeme, wollen sie ihre spezifische
Leistung erbringen, nur noch wirklich „qualifizierte“ Bewerber leisten kön-
nen, die diese Qualifikation vorher in einem anderen Funktionssystem erwor-
ben haben müssen. Und in den Funktionssystemen sitzen die „Positionierer“,
die ihr Einkommen und ihren Arbeitsplatz gerade dadurch sichern, daß sie
schließlich nur die nehmen, die perfekt „passen“ und alles mitbringen, was
das System braucht.
Zum Professor ist ein Akteur beispielsweise erst durch die Berufung auf eine Professorenstel-
le geworden, nachdem er sich an einer anderen Fakultät habilitiert hatte, bei der er zuvor treu
gedient haben mußte. Bei der Berufung achtet die Kommission sehr darauf, keinen Fehlgriff
zu tun, und schon die kleinste Lücke in der wissenschaftlichen Biographie kann das Aus be-
deuten. Und so kommen die bekannten Zirkel zustande: Ein hohes Einkommen hat jemand,
weil er einen guten Job in einem Unternehmen ausübt, und den hat er nur bekommen, weil er
vorher das soziale System der Bildungseinrichtungen erfolgreich durchlaufen hat. Obdachlos
wird jemand, der als Minderqualifizierter aus dem inzwischen sehr „schlanken“ sozialen Sys-
tem der Wirtschaft herausgeflogen ist, deshalb seine Miete nicht mehr bezahlen kann und
auch nicht mehr dem sozialen System einer unterstützenden Familie angehört, weil sich seine
Gemahlin hat von ihm scheiden lassen. Es ist das Problem des Hauptmanns von Köpenik o-
der das des Asylbewerbers: ohne Arbeit kein Einkommen, ohne Einkommen keine Wohnung,
ohne Arbeit und Wohnung keine Aufenthaltserlaubnis und ohne Aufenthaltserlaubnis keine
Arbeit.

So kann es leicht dazu kommen, daß es schließlich mehr und mehr Menschen
gibt, die aus ganz unmerklichen Zufällen heraus in diese Exklusionsdynamik
hineingeraten, dann u.U. auch keinem einzigen funktionalen System mehr an-
gehören und zwischen allen Stühlen sitzen – inmitten einer reichen Gesell-
schaft. Dieser Vorgang wird auch als Marginalisierung bezeichnet: Die
Schnittmenge der Zugehörigkeiten ist gleich null. Und das einzige soziale
System, dem man dann noch angehört, ist die Szene der Obdachlosen am
Bahnhof oder die favelas draußen vor den Toren der großen Stadt. Tota-
lexklusionen und Marginalisierungen werden über solche Abweichungsver-
stärkungen und über die Mehrfachabhängigkeiten der Funktionssysteme zur
direkten Folge der funktionalen Differenzierung:
„Wer keine Adresse hat, kann nicht zur Schule angemeldet werden (Indien). Wer nicht lesen
und schreiben kann, hat kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt, und man kann ernsthaft disku-
tieren (Brasilien), ihn vom politischen Wahlrecht auszuschließen. Wer keine andere Möglich-
keit findet unterzukommen, als auf dem illegal besetzten Land der favelas, genießt im Ernst-
fall keinen Rechtsschutz; aber auch der Eigentümer kann seine Rechte nicht durchsetzen,
wenn die Zwangsräumung solcher Gebiete politisch zu viel Unruhe erzeugen würde. Die Bei-
spiele ließen sich vermehren ... .“ (Luhmann 1997, S. 631)
252 Die Konstruktion der Gesellschaft

Warum die Inklusionsbedingungen immer abhängiger voneinander werden, ist


auch leicht verständlich: Die verschiedenen funktionalen Systeme spezialisie-
ren sich im Zuge der funktionalen Differenzierung immer mehr auf ihr spezifi-
sches Oberziel. Und dann muß von den Positionsträgern in den funktionalen
Systemen immer stärker darauf geachtet werden, daß die „Bewerber“ auf die
„offenen Stellen“ in den sozialen Systemen auch genau die Anforderungen
des jeweiligen sozialen Systems erfüllen. Es ist die Bedingung dafür, daß sie
ihre Position im Funktionssystem nicht verlieren und nicht unversehens bald
selbst draußen stehen. Daran sieht man leicht, daß es – wieder einmal – eben
nicht die Logik der „Systeme“ ist, die den Prozeß so zuspitzt, sondern – wie-
der einmal – die Interessen der Akteure, hier gesteuert über ihre Position in
den funktionalen Systemen der Gesellschaft und den situationslogischen
Zwängen zur konsequenten Orientierung an deren Codes und Programmen.
Heute ist deshalb ein Abitur schon keine hinreichende Bedingung mehr, um
einen guten Job zu bekommen, während es früher fast die Eintrittskarte zu
Wohlstand und Ansehen war. Aus dieser Eigendynamik der funktionalen Dif-
ferenzierung als zunehmende Zuspitzung der „Funktionslogik“ der funktiona-
len Sphären und der damit einhergehenden Kopplung der Inklusionsbedin-
gungen läßt sich gut erklären, warum es in den 60er Jahren hierzulande kaum
Langzeitarbeitslose, kaum Obdachlose und kaum Heimatlose gab, heute aber
offenkundig immer mehr. Es ist die Totalexklusion von Menschen aus allen
Funktionssystemen in Gestalt von Obdachlosen, Drogensüchtigen, Bettlern.
Ausgestoßene und Unberührbare gab es freilich schon immer. Das Problem
der Totalexklusion als Massenschicksal ist aber historisch ganz neu. Anders
als noch in der Vormoderne fühlt sich nämlich – obendrein – in den funktional
differenzierten Gesellschaften kein Funktionssystem dafür zuständig – und die
einzelnen Menschen schon gar nicht. Sie haben mit sich selbst genug zu tun.
Und die Kirchen, die es eigentlich angehen sollte, sind meist auch mit anderen
Dingen beschäftigt, wie dem verbissenen Kampf gegen die Abtreibung, und
besorgen höchstens hier und da einmal einem armen Teufel ein Kirchenasyl.
Und so verlagert sich die Szene der Ausgeschlossenen, wenn man sie mit
Razzien am Bahnhof belästigt, einige hundert Meter weiter zur Hauptpost.
Und alles ist wie vorher.

Funktionale Gleichheit und vertikale Ungleichheit

Spätestens mit dem Phänomen der Totalexklusion sind wir wieder bei der
Frage angelangt, wie es kommen mag, daß es in den modernen Gesellschaften
zwar deutliche Egalisierungstendenzen gibt, aber auch weiterhin starke verti-
Inklusion und Exklusion 253

kale Ungleichheiten. Die Erklärung für diese Ko-Existenz der Gleichrangig-


keit der funktionalen Systeme und der vertikalen Ungleichheit der Menschen
ist jetzt leicht: Die Inklusion der Menschen in die funktionalen Systeme ist –
mehr und mehr – ein Marktgeschehen, und hier gelten die Gesetze von Ange-
bot und Nachfrage. So kann es kommen, daß zwar, sagen wir, die Müllabfuhr
als funktionales System genauso wichtig ist wie ein Entwicklungsbüro für
Software, daß aber die Müllwerker als Akteure deutlich weniger an Einkom-
men (und Ansehen) erhalten als die Computerspezialisten. Es hängt, wie ge-
sagt, nämlich auch von der Größe der jeweiligen „funktionalen“ Reservear-
mee ab, welche Angebote zu machen sind, damit ein Bewerber eine Stelle an-
nimmt. Und es gibt, trotz aller Gleichrangigkeit der funktionalen Bedeutung
nach wie vor funktionale Systeme mit großen und kleinen Anzahlen von Be-
werbern da draußen (vgl. dazu auch schon Abschnitt 4.6 in diesem Band).
Und entsprechend variieren auch die Preise und die Gegenleistungen für die
Positionseinnahme. Die aber ist die Grundlage der sozialen Ungleichheit, hier:
im Einkommen und im Prestige.

Klassen? Revolution?

Sieht man sich die Logik der funktionalen Differenzierung einmal auf diese
Weise an, dann wird schon verständlich, warum in der gegenwärtigen Sozio-
logie Begriffe wie „soziale Klasse“ nicht mehr so gerne verwendet werden. Es
gibt zwar soziale Ungleichheiten nach wie vor, ganz massive sogar, aber die
„Klassen“ im Sinne großer Aggregate mit ähnlichen Interessen gibt es an-
scheinend nicht mehr oder nur noch in immer feineren Differenzierungen, wie
die Weiterentwicklungen der Klassenschemata gezeigt haben (vgl. Abschnitt
4.3 in diesem Band). Es gibt, wenn man von den neueren Entwicklungen der
Totalexklusionen einmal absieht, offenbar nur noch partialinkludierte Akteure
mit einigen Rechten auf Vollinklusion, überkreuzten Zugehörigkeiten und
zersplitterten Identitäten.
Gerade wegen dieser „Individualisierung“ der funktionalen Inklusionen können sich jetzt
auch die kulturellen Gewohnheiten von den „Klassenlagen“ ablösen, und es können sich –
quer zu den funktionalen Sphären und sozialen Schichten – kulturelle Milieus als eigene Di-
mension der sozialen Differenzierung herausbilden (vgl. dazu schon Abschnitt 4.4 in diesem
Band). Genau aus dem gleichen Grunde bedürfen die funktional differenzierten Gesellschaf-
ten auch keiner übergreifenden Werte mehr: Sie „bestehen“ alleine durch das Ineinandergrei-
fen der Systeme. Und es gibt auch keine kollektiven „Subjekte“ mehr, die ein Interesse oder
die Möglichkeit hätten, daran etwas zu ändern.

In den modernen, funktional differenzierten Gesellschaften finden sich daher


zwar auch zahllose deviante Subkulturen und auch Gegenkulturen und eine
254 Die Konstruktion der Gesellschaft

Fülle von sozialen Bewegungen, aber keine systematischen Interessen-


Konflikte zwischen größeren Kollektiven von Akteuren (mehr). Und allein
deshalb wird dort auch keine Revolution gemacht, allenfalls auf Schalke,
wenn der Schiedsrichter beim Stande von 1:1 in der 92. Minute für Dortmund
einen unberechtigten Elfmeter pfeift, weil Andy Möller wieder einmal so
wunderbar dahingesunken ist. Das wird vielleicht wieder anders angesichts
des wieder wachsenden Elends der Welt und der größer werdenden Zahl von
Zaungästen und Verdammten dieser Erde, die durch die Maschinerie der
Totalexklusion erzeugt werden.5 Es gibt in der Tat Anzeichen für eine neue
Zwei-Klassengesellschaft, die sog. Zweidrittelgesellschaften des Westens, et-
wa mit der Klasse der wohlversorgten postmodern Partialinkludierten hier und
der chancenlosen Totalexkludierten dort. In den Ländern der Dritten Welt und
zwischen den Gesellschaften dieser Erde scheinen sich ähnliche Klassengren-
zen des Habens und des Nichthabens, der Inklusion und der Exklusion zu bil-
den oder zu verstärken. Revolutionen sind, wenigstens hierzulande, jedoch
kaum zu erwarten. Den Grund dafür kennen wir schon. Er liegt am sog. Toc-
queville-Paradox, wonach das Elend der Totalexklusion eher apathisch macht
als daß es die nötige revolutionäre Aufbruchsstimmung erzeugt.

Exkurs über die unvermutete Entdeckung der leibhaftigen Men-


schen und des Elends in der Welt durch die soziologische System-
theorie

Die Soziologie ist gewiß nicht arm an seltsamen Debatten, und ein steter
Quell für immer neue, wenngleich oft nicht unfruchtbare, Verwirrungen ist
die soziologische Systemtheorie, wie sie Niklas Luhmann in mehr als drei
Jahrzehnten einer gigantischen Bemühung entwickelt und kurz vor seinem
Tode mit dem opus maximum „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ in gewisser
Weise abgeschlossen hat. Darin kamen und kommen viele neue, höchst wich-
tige und richtungsweisende Einsichten und Perspektiven vor, aber auch zahl-
lose sonderbare Vorstellungen, etwa die, daß es beim Prozessieren der sozia-
len Systeme keine „Sinnlosigkeit“ geben könne, weil alles, was ein soziales
System sei, auch Sinn habe, denn wenn es den Sinn nicht hätte, dann gäbe es
das System als „soziales“ System nicht, weil die ja immer „sinnprozessieren-
de“ Systeme seien. Es ist ein wenig so wie bei den ohne Zweifel zutreffenden
Wahrheiten, daß Hypochonder nicht krank werden und Tautologien nicht

5
Vgl. verschiedene Beiträge bei Pierre Bourdieu u.a., Das Elend der Welt. Zeugnisse und
Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Konstanz 1997.
Inklusion und Exklusion 255

falsch sein könnten, weil Hypochonder und Tautologien ja just so definiert


sind.
Von Beginn an gehörte zu den grundlegenden Postulaten der soziologi-
schen Systemtheorie auch die Ansicht, daß die Bevölkerung und die lebendi-
gen Menschen für die Gesellschaft eigentlich nur eine Art unerheblicher Be-
satzung darstellten und nur unbeachtliches Spielmaterial des Prozessierens der
sozialen Systeme wären. Der folgende, oft zitierte, Satz faßt das programma-
tisch zusammen:
„Wir gehen davon aus, daß die sozialen Systeme nicht aus psychischen Systemen, geschwei-
ge denn aus leibhaftigen Menschen bestehen.“6

Und deshalb wäre, wenn man die leibhaftigen Menschen und deren Handeln
in die soziologische Theoriebildung miteinbeziehe, von der (Welt-)Ge-
sellschaft als einem entschieden zu unhandlichen Oktopus mit den 5 bis 6
Milliarden Krakenarmen auszugehen. Davon geht, wörtlich gesprochen, na-
türlich ohnehin niemand aus, auch der Methodologische Individualismus
selbstverständlich nicht, weil soziale Systeme ja auch in dieser Perspektive
stets ein emergentes Produkt des Handelns der Menschen sind und deshalb si-
cher nicht (allein) aus Menschen „bestehen“ (vgl. dazu auch schon Kapitel 1
in diesem Band). Aber auch das wird dementiert: Soziale Systeme bestünden
nicht aus Handlungen, sondern aus „Kommunikation“, und der Einwand, daß
jede Kommunikation auch nichts als ein emergentes Phänomen kommunikati-
ver Akte von menschlichen Akteuren sei, ist bis heute nicht beantwortet wor-
den. Kurz: Ein Methodologischer Individualismus und der systematische Ein-
bezug der Existenz und des Handelns der menschlichen Akteure in die Theo-
riebildung, wie sie für das Modell der soziologischen Erklärung so grundle-
gend sind, kommt für die soziologische Systemtheorie grundsätzlich nicht in
Frage. Menschen sind allenfalls als „psychische Systeme“ am sozialen Ge-
schehen beteiligt und ansonsten bloße „Umwelt“ der sozialen Systeme – und
nicht Träger, Motoren und Objekte des Geschehens. Für den Methodologi-
schen Individualismus und die Idee, daß Gesellschaften auch von leibhaftigen
Menschen „bevölkert“ sind, die die Vergesellschaftung über ihr Bemühen um
Reproduktion und Nutzenproduktion antreiben, und es leibhaftige Menschen
auch „außerhalb“ jeder (guten) Gesellschaft geben könne, hatte Luhmann da-
her auch nie eine Spur von Verständnis.
Seit einiger Zeit gibt es nun, daran unmittelbar anschließend, die gerade
oben erwähnte These, wonach es die soziale Ungleichheit zwar immer noch,

6
Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M.
1984, S. 346.
256 Die Konstruktion der Gesellschaft

auch deutlich und wahrnehmbar, gebe, daß sie aber soziologisch keine beson-
dere Bedeutung mehr habe. Sie wissen schon: Selbst Nobelpreisträger müssen
sich ihre Schuhe putzen. Und warum? Ganz einfach: War früher die Schich-
tung der Gesellschaft, etwa in Stände, in der Tat noch ein gesellschaftskonsti-
tutives Prinzip, so ist sie das heute unter dem Primat der funktionalen Diffe-
renzierung eben nicht mehr. Die Verteilung der Güter und Ressourcen ist nur
noch „dem Zufall überlassen“ (Luhmann 1985, S. 145), dem Zufall der Inklu-
sionskarrieren der Menschen, die aber ja – bis dahin wenigstens – ganz uner-
heblich sind für die soziologische Systemtheorie. Zählen tut nur das Prozes-
sieren und die – angeblich – akteursfreie Eigendynamik der funktionalen
Systeme.
Dann kam der favelas-Schock. Luhmann besuchte Anfang der 90er Jahre
Brasilien, erlebte – wie man hört: eher unfreiwillig – die favelas dort und
stellte erschrocken fest, daß es an den Rändern der modernen Gesellschaften –
unglaublich! – Bereiche gibt, in denen unsägliches Elend herrscht, wo die
Menschen nur noch als „Körper“ zählen, in bedrohlichen Massen ganz real
vorkommen und sich dort auch bemerkbar machen. Das aber ganz außerhalb
der „Gesellschaft“, so wie früher das gemeine Volk, die „Barbaren“ oder die
„Idioten“, der lange Zeit sehr große Rest der Bevölkerung eben, den es neben
der „guten Gesellschaft“ etwa des Adels auch noch gab, aber noch nicht in
Publikumsrollen einbezogen war. Was nun? Aufgearbeitet hat Luhmann den
Schock in einem Aufsatz, mit dem das Begriffspaar „Inklusion und Exklusi-
on“ seinen endgültigen Einzug in die soziologische Begrifflichkeit hielt.7 Das
Fazit: Offenbar gibt es doch außerhalb der sozialen Systeme leibhaftige Men-
schen, und inmitten einer sich modernisierenden Gesellschaft auch massive
und systematische soziale Ungleichheiten, in der Form des schreiendsten E-
lends sogar.
Die Erkenntnis muß für Luhmann und für die ihm stets brav folgenden
Systemtheoretiker auch ein unfaßbarer theoretischer Schock gewesen sein,
zumal sie der Meister selbst aufgeschrieben hat. Müßte man jetzt nicht eigent-
lich einige der zentralen Postulate ändern und vor allem endlich zugestehen,
daß es die lebendigen Menschen und ihre Versuche zur Reproduktion sind,
von denen alle gesellschaftlichen Prozesse alle ihre Dynamik beziehen? Und
wäre das jetzt nicht auch eine Gelegenheit, die soziale Ungleichheit der Ak-
teure neben der sozialen Differenzierung der Systeme auch als Teil der wirkli-
chen gesellschaftlichen Strukturen wieder anzuerkennen? Und in der Tat. Seit
einiger Zeit gibt es eine Reihe von Anläufen, die soziologische Systemtheorie

7
Niklas Luhmann, Inklusion und Exklusion, in: Niklas Luhmann, Soziologische Aufklä-
rung 6. Die Soziologie und der Mensch, Opladen 1995, S. 237-264.
Inklusion und Exklusion 257

dahin zu bringen, sich um das Problem der sozialen Ungleichheit systemati-


scher zu kümmern als bisher und die – systemtheoretisch gut ausgebaute –
Theorie der sozialen Differenzierung mit der – in der Soziologie ebenfalls gut
etablierten – Theorie und Empirie der sozialen Ungleichheit zu verbinden.8
Die soziologische Systemtheorie freilich wäre nicht sie selbst, wenn sie
damit nicht auf ihre Weise umgegangen wäre: Das Problem wird terminolo-
gisch neu etikettiert, und die faktisch vollzogene Aufgabe der Grundpostulate
begrifflich möglichst unsichtbar gemacht. Und das ging diesmal so. Zunächst
wird an den schon etwas älteren Begriff und an das Problem der „Sozialinteg-
ration“ erinnert, an das zuvor niemand von den Systemtheoretikern auch nur
gedacht hatte, etwa am Beispiel des Einbezugs von Menschen in soziale Sys-
teme, wie er etwa im Zusammenhang der „Integration“ von Migranten in die
Aufnahmegesellschaft seit langem diskutiert und untersucht wird (vgl. dazu
auch noch den Exkurs über Integration, Assimilation und die sogenannte mul-
tikulturelle Gesellschaft im Anschluß an Kapitel 6 dieses Bandes). Natürlich
kann man den Ausschluß von Akteuren aus gesellschaftlichen Sphären jetzt
nicht einfach „(Sozial-)Integration“ nennen, weil sonst sichtbar würde, daß
man mit den eigenen Mitteln nicht mehr weiterkommt und immer etwas
Wichtiges übersehen hatte. Und so wird das Wort „Inklusion“ erfunden:
„Gemeint ist (mit Inklusion; HE) vielmehr, daß das Gesellschaftssystem Personen vorsieht
und ihnen Plätze zuweist, in deren Rahmen sie erwartungskomplementär handeln können;
etwas romantisch könnte man auch sagen: sich als Individuen heimisch fühlen können.“
(Luhmann 1997, S. 621)

Genau das war aber immer schon in der sog. Rollentheorie gesagt worden und
stimmt, wenigstens teilweise, mit dem Konzept der „(Sozial-)Integration“ ü-
berein, so wie David Lockwood diesen Begriff im Jahre 1964 eingeführt hat.9
Und die Folge: Während es zuvor nur psychische und soziale Systeme gab,
die sich wechselseitig konstituieren und nicht unabhängig voneinander denk-
bar sind, gibt es nun tatsächlich auch Menschen, die in bereits bestehende
funktionale Systeme eingegliedert sind, und andere eben nicht. Und manche

8
Vgl. etwa Armin Nassehi, Inklusion oder Integration? Zeitdiagnostische Konsequenzen
einer Theorie von Exklusions- und Desintegrationsphänomenen, in: Karl-Siegbert Reh-
berg (Hrsg.), Differenz und Integration. Die Zukunft moderner Gesellschaften, Opladen
1997, S. 621; Uwe Schimank, Funktionale Differenzierung und soziale Ungleichheit: die
zwei Gesellschaftstheorien und ihre konflikttheoretische Verknüpfung, in: Hans-Joachim
Giegel (Hrsg.), Konflikt in modernen Gesellschaften, Frankfurt/M. 1998, S. 62ff.; Tho-
mas Schwinn, Soziale Ungleichheit und funktionale Differenzierung. Wiederaufnahme
einer Diskussion, in: Zeitschrift für Soziologie, 27, 1998, S. 4ff.
9
David Lockwood, Social Integration and System Integration, in: George K. Zollschan und
Walter Hirsch (Hrsg.), Explorations in Social Change, London 1964, S. 244-257.
258 Die Konstruktion der Gesellschaft

Menschen gehören sogar keinem funktionalen System an – und wären deshalb


eigentlich theoretisch undenkbar. Damit das Unmögliche aber wieder in die
Systemtheorie hineinpaßt, kommt es zur Verkündung einer neuen „Leitdiffe-
renz“ – die des Begriffspaares von „Inklusion und Exklusion“ als Beschrei-
bung des Verhältnisses „von psychischen Systemen (Individuen) und sozialen
Systemen“ (Luhmann 1997, S. 618). Psychische Systeme als „Individuen“!
Man denke! Unglaublich.
Mit dem Begriff der Inklusion ist das theoretische Leck im Schiff der Sys-
temtheorie also erst einmal terminologisch abgedichtet. Aber es ist schon viel
Wasser aus dem Meer des Methodologischen Individualismus eingedrungen,
und es gibt erste Anzeichen einer bedenklichen Schlagseite: Wenn Luhmann
und andere von Inklusion und Exklusion sprechen, wird, wie wir gerade schon
gesehen haben, auffälligerweise nicht mehr nur von psychischen Systemen,
sondern jetzt nahezu bruchlos auch von „Individuen“, ja von „konkreten Indi-
viduen“, von „Personen“, von „Menschen“ und sogar von der „Bevölkerung“
gesprochen. Beispielsweise:
„Denn die faktische Ausschließung aus einem Funktionssystem – keine Arbeit, kein Geldein-
kommen, kein Ausweis, keine stabilen Intimbeziehungen, kein Zugang zu Verträgen und zu
gerichtlichem Rechtsschutz, keine Möglichkeit, politische Wahlkampagnen von Karnevals-
veranstaltungen zu unterscheiden, Analphabetentum und medizinische wie auch ernährungs-
mäßige Unterversorgung – beschränkt das, was in anderen Systemen erreichbar ist und defi-
niert mehr oder weniger große Teile der Bevölkerung, die häufig dann auch wohnmäßig sepa-
riert und damit unsichtbar gemacht werden.“ (Ebd., S. 630f.; Hervorhebung nicht im Origi-
nal)

Die Gesellschaft wird doch tatsächlich von Menschen „bevölkert“, die ir-
gendwo leibhaftig wohnen, wenngleich für die gute Gesellschaft unsichtbar!
Unglaublich! Zwar wird auch weiterhin von allerlei gesellschaftlichen Seman-
tiken der Inklusion und der Exklusion der vielen menschlichen „Körper“ be-
richtet, so als ob erst die Semantiken irgendwelcher „Beobachter“ die Wirk-
lichkeit der Existenz von lebenden Menschen und ihrer Reproduktion herstell-
ten oder außer Kraft setzten. Menschen leben und vergesellschaften sich auch
unabhängig von bestimmten Semantiken ihrer Beschreibung oder Etikettie-
rung. Die Benennungen und Semantiken der Menschen da draußen machen
sie nicht unsichtbar und reduzieren sie auch nicht wieder auf bloße „psychi-
sche Systeme“. Sie sind ganz einfach da – als psycho-biologische Organismen
mit Bedürfnissen in einer sozialen Umgebung, die sie zu einer ganz eigenen
Form der Vergesellschaftung zwingt. Es sind zwar keine sechs Milliarden an
der Zahl, aber es gibt sie in durchaus beachtlicher Größenordnung. Und sie
beginnen, gerade weil die Zahl steigt, mit ihrer ganz eigenen Vergesellschaf-
tung, und zwar außerhalb der etablierten Funktionssysteme, in Brasilien und
wo immer sonst. Die Menschen in den favelas bilden, wenn man so will, ei-
Inklusion und Exklusion 259

nen Devianz-Bereich, um in aller Not ihre Reproduktion dennoch zu sichern,


und auch neue, bis dahin nicht gekannte kulturelle Milieus. Und wer weiß,
was daraus noch alles wird. Es ist jedenfalls jener Typus an Vergesellschaf-
tung, den Luhmann stets als unerheblich abgetan hat: Die Entstehung sozialer
Systeme und deren Erklärung als „Emergenz von unten“. Und so zeigt sich:
Nicht alles, was in der sozialen Welt geschieht, ist „Konstitution von oben“,
etwa als semantische Konstitution von Personen aus Körpern von irgendeiner
höheren Warte einer irgendwie schon „außerhalb“ der Menschen etablierten
und von Interessen und Akteuren unabhängigen „Gesellschaft“ her.
Jetzt wird auch sofort verständlich, warum die soziologische Systemtheorie
mit der sozialen Ungleichheit nicht viel anzufangen wußte: Die soziale Un-
gleichheit bezieht sich ja auf Aggregate von Akteuren, aber eigentlich sind ja
nur die sozialen Systeme und die soziale Differenzierung von Belang. Also ist
auch die soziale Ungleichheit nicht weiter wichtig. Und es wird auch ver-
ständlich, warum Niklas Luhmann ganz zum Schluß seiner Arbeiten noch die
sozialen Bewegungen entdeckt hat, die ja nichts anderes sind, als „Bewegun-
gen“ von lebendigen Akteuren, die gewisse Interessen, etwa ein Recht auf In-
klusion, durchsetzen wollen. Theoretisch ist er damit überhaupt nicht zuran-
degekommen. Der Abschnitt über „Protestbewegungen“ in der „Gesellschaft
der Gesellschaft“ wird einfach, wie er selbst etwas ratlos schreibt, „ange-
hängt“, und zwar „ohne Rücksicht auf Theorieästhetik“ (Ebd., S. 847). Die
Menschen und die von ihnen mit gewissen Interessen veranstalteten sozialen
Bewegungen passen ja auch wirklich nicht in die Systemtheorie hinein. Aber
es gibt sie, und eine Theorie, die sie jetzt einfach „anhängen“ muß, zeigt, daß
ihr etwas Wichtiges fehlt.
Mit der – unvermuteten und nur schwer zugestandenen – Entdeckung der
lebendigen Menschen durch die Systemtheorie wäre nun aber auch der Weg
zur Anerkennung der sozialen Ungleichheit als relevantem Merkmal der ge-
sellschaftlichen Strukturen nicht mehr weit. Denn die Bewohner der favelas
sind Kollektive von Akteuren in einer gemeinsamen gesellschaftlichen Lage.
Und sie sind als solche Kollektive ebenso real, wie es ehemals die sozialen
Klassen und die Stände, dann die Schichten und inzwischen die zunehmend
kleiner werdenden Grüppchen der neuen sozialen Ungleichheit in der Bundes-
republik ja auch wirklich gab oder gibt.
Alle diese Kollektive bilden sich durch jeweils typische Muster der Mitgliedschaft und der
Inklusion (bzw. Exklusion) in die sozialen Systeme, und die sozialen Systeme entstehen,
bestehen und wandeln sich auch in Reaktion auf diese kollektiven gesellschaftlichen Lagen
und immer wieder neu entstehenden gesellschaftlichen Spannungen. Es gibt, wie wir in den
Abschnitten oben gesehen haben, daher keinerlei Grund, die soziale Ungleichheit für
irgendwie unwichtiger oder wichtiger zu halten als die soziale Differenzierung.
Gesellschaften „bestehen“ und reproduzieren sich eben aus dem Zusammenspiel von beidem:
von sozialen Systemen und von Akteuren. Und so wie man deshalb nicht sagen kann, daß das
260 Die Konstruktion der Gesellschaft

men und von Akteuren. Und so wie man deshalb nicht sagen kann, daß das eine beachtlicher
oder wirklicher sei als das andere, kann man die funktionale Differenzierung auch nicht ge-
gen die soziale Ungleichheit ausspielen – und umgekehrt. Die Instrumente der soziologischen
Erklärung zeigen, wie sich das Zusammenspiel theoretisch erfassen läßt. Um dieses Wechsel-
spiel von funktionaler Differenzierung und sozialer Ungleichheit anzugehen, wird daher auch
keine, wie das zum Beispiel Uwe Schimank (1998, S. 76) vorschlägt, „Komplementarität“ ei-
ner „Differenzierungstheorie“ mit einer „Ungleichheitstheorie“ benötigt, weil es jeweils
wechselseitige „blinde Flecke“ gäbe. Man kann mit den Mitteln des Modells der soziologi-
schen Erklärung, wie wir gesehen haben, beide Phänomene in einem Akt und gleich sozusa-
gen mit stereoskopischer Tiefenschärfe behandeln – weil das Modell der soziologischen Er-
klärung die wechselseitige Konstitution von Mensch und Gesellschaft in seinem Zentrum hat
und die leibhaftigen Menschen nicht zur belanglosen Umwelt der sozialen Systeme erklärt,
sie aber auch nicht, wie das der Psychologismus und manche Variablensoziologie tun, zur
einzigen oder autonomen Größe des sozialen Geschehens hinaufstilisiert.

Soziale Ungleichheit und soziale Differenzierung sind beides strukturelle Fol-


gen der wechselseitigen Konstitution von Mensch und Gesellschaft. Und die
Menschen sind nicht nur „Umwelt“ der Gesellschaft, sondern auch ihre „leib-
haftigen“ Konstrukteure und Träger. Sie schaffen sich, wenn es nicht anders
geht, „ihre“ Gesellschaft sofort wieder auch draußen, in den favelas, auf den
Piratenschiffen oder auf den Strafinseln, sofern es dort genug zu essen, etwa
Schafe, gibt, auch wenn manche das jeweils für keine richtige „Gesellschaft“
halten mögen.
Kapitel 6

Integration

Die soziale Differenzierung bezieht sich auf die Unterschiedlichkeit der sozialen
Systeme einer Gesellschaft, die soziale Ungleichheit auf die der gesellschaftli-
chen Lagen der Akteure. Mit der Zunahme der funktionalen Differenzierung
wachsen die Widersprüchlichkeiten und die Eigensinnigkeiten in den Sinn-
Codierungen der sozialen Systeme. Und es nehmen darüber, nicht zuletzt über
den so möglichen gesellschaftlichen Surplus, auch die Chancen für vertikale so-
ziale Ungleichheiten und für Interessenunterschiede, für systematische Konflikt-
linien und für Gefühle der ungerechtfertigten Benachteiligung zu. Und sofort
stellen sich die beiden Fragen: Wie gelingt es, die zentrifugalen Tendenzen der
sozialen Differenzierung wieder aufzufangen, „damit“ das System der Gesell-
schaft nicht, sozusagen, „explodiert“? Und wie kann es zu einer Überbrückung
oder Neutralisierung der Spannungen aus der Zunahme der sozialen Ungleichheit
kommen, „damit“ die Gesellschaft nicht in unüberwindbare Spaltungen zerfällt?
Es ist die Frage nach der Integration der Gesellschaft und die nach der sozialen
Ordnung ganz allgemein.

Der Begriff der Integration

Unter Integration wird generell der Zusammenhalt von Teilen in einem „systemi-
schen“ Ganzen und die dadurch erzeugte Abgrenzung von einer unstrukturierten
Umgebung verstanden, gleichgültig zunächst worauf dieser Zusammenhalt be-
ruht.1 Die Teile müssen, wie man auch sagen könnte, ein „integraler“, also ein

1
Vgl. zu einem Überblick über die wichtigsten soziologischen Überlegungen und Konzepte
zum Problemkreis der Integration: Richard Münch, Elemente einer Theorie der Integrati-
on moderner Gesellschaften. Eine Bestandsaufnahme, in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.),
Was hält die Gesellschaft zusammen? Bundesrepublik Deutschland: Auf dem Weg von
der Konsens- zur Konfliktgesellschaft, Band 2, Frankfurt/M. 1997, S. 66-109. Siehe auch
verschiedene Beiträge in Jürgen Friedrichs und Wolfgang Jagodzinski (Hrsg.), Soziale In-
262 Die Konstruktion der Gesellschaft

nicht wegzudenkender, Bestandteil des Ganzen sein. Der Gegenbegriff ist der der
Segmentation oder des Zerfalls eines Systems und der Auflösung seiner Grenzen
zur Umgebung. Die Integration eines Systems ist somit über die Existenz von be-
stimmten Relationen zwischen den Einheiten und zur jeweiligen Umwelt defi-
niert. Und je nach Struktur dieser Relationen kann ein System auch „mehr“ oder
„weniger“ integriert sein. Der eine Extremfall ist die komplette Abhängigkeit des
„Verhaltens“ der Teile voneinander und die strikte Abgrenzung zur Umwelt, der
andere die komplette Unabhängigkeit der Teile und das „antropische“ Aufgehen
in die Umgebung.
Abhängigkeit bzw. Unabhängigkeit der Teile voneinander und Abgrenzungen kann es jeweils
natürlich auf ganz verschiedene Weise und für sehr unterschiedliche Arten von Systemen ge-
ben. Integriert wäre beispielsweise eine Nachbarschaft als soziales System, wenn sich die
Familien kennen und gegenseitig besuchen, sogar, wenn sie Krach miteinander haben, und
wenn man gut vorhersagen könnte, was die Familie X tut, wenn in der Familie Y, sagen wir,
die Großmutter stirbt. Nicht-integriert bzw. segmentiert wäre die Nachbarschaft, wenn die
Familien zwar räumlich beieinander wohnen, aber sonst nichts miteinander zu tun haben, iso-
liert nebeneinander her existieren und voneinander keinerlei Notiz nehmen – so, wie das
weitgehend noch für die Einzelnationen in Europa oder für Ost- und Westdeutschland der
Fall ist, die jeweils auch alle weit von einer wirklichen, nicht nur formalen „Integration“ ent-
fernt sind. Kulturelle Systeme sind, so hatten wir in Kapitel 2 festgehalten, mentale Modelle
der Orientierung und des Verhaltens in Form von Frames und Skripten. Auch die können, als
„belief systems“, mehr oder weniger integriert sein, beispielsweise in der Weise, daß es zu ei-
ner rahmenden Orientierung genau ein festliegendes Skript gibt, gegenüber dem Fall, daß al-
les offen bleibt und vom Akteur immer wieder neu „entschieden“ werden muß, was zu tun ist.
Schließlich können auch psychische Systeme unterschiedlich integriert sein: Entweder stehen
die verschiedenen Teile der „Identität“ des Akteurs zusammenhanglos nebeneinander, oder
sie bilden eine abgestimmte, übergreifende Einheit, etwa über das moralische Bewußtsein ei-
ner ausgebauten Ich-Identität (vgl. dazu schon Band 1, „Situationslogik und Handeln“, sowie
noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Wir betrachten im folgen-
den nur noch die Integration der sozialen Systeme.

Das Problem der „Einheit in der Vielfalt“ ist eine der Ausgangsfragen der So-
ziologie überhaupt. Es wird meist mit der These von Herbert Spencer in Ver-
bindung gebracht, der gemeint hatte, daß eine evolutionär sich vollziehende
arbeitsteilige Differenzierung von Gesellschaften stets von der Entwicklung
neuer Formen der Integration der dann ganz andersartig gewordenen Teile zu
einem dennoch kohärenten Ganzen begleitet sei. Spencer meinte ferner, daß
sich die Integration in den modernen, „industriellen“ Gesellschaften über die
anonyme Bindekraft bilateraler Verträge vollziehe, über die Kräfte des Mark-
tes also, und daß dort deshalb die traditionalen Formen der Integration, etwa
eine despotische Oberaufsicht, gesamtgesellschaftlich übergreifende Verträge
oder kollektive Gemeinschaftsgefühle, wie sie die „kriegerischen“ Gesell-

tegration, Sonderheft 39 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie,


Opladen 1999.
Integration 263

schaften zusammenbinden, zurücktreten und sich ganz auflösen würden, ja


müßten. Dem war bekanntlich Emile Durkheim kräftig entgegengetreten, der
die Gegenthese zu begründen versucht hatte, daß es die bilateralen Verträge,
von denen Spencer ausging, nicht geben könne, wenn es keinen übergreifen-
den „nichtkontraktuellen“ bindenden Rahmen, keine „organische“ Solidarität
beispielsweise, gebe (vgl. dazu schon die Kapitel 22 und 24 der „Soziologie.
Allgemeine Grundlagen“, sowie auch noch Band 3, „Soziales Handeln“, die-
ser „Speziellen Grundlagen“). Das war, so kann man es sehen, das soziologi-
sche und „kollektivistische“ Gegenprogramm zu den eher ökonomischen und
„individualistischen“ Vorstellungen über die Mechanismen der Integration
von Gesellschaften, die Herbert Spencer, nicht zuletzt im Anschluß an Adam
Smith, vertreten hatte, wonach schon die Konvergenz der Interessen der Men-
schen alleine ausreiche, um soziale Ordnung und gesellschaftliche Integration
entstehen zu lassen. Die Grundlage dieses Gegenprogramms war ganz allge-
mein die Annahme, daß für die Integration der Gesellschaft die Interessen al-
leine nicht ausreichen, daß dazu aber auch keine Herrschaft und kein Staat
benötigt würden, wovon ja Thomas Hobbes ausgegangen war, sondern daß es,
nicht zuletzt auch zur „Legitimation“ einer staatlichen Ordnung, immer ir-
gendeiner übergreifenden und kollektiv geteilten „moralischen“ Orientierung
und Bindung der Akteure bedürfe, einer Orientierung die sich auch inhaltlich
auf den Zusammenhalt der Gesellschaft als Ganzheit beziehen müsse. Ein
„Kollektiv“-Bewußtsein eben.

Integration als funktionales Erfordernis

Diese Idee hat dann, wie wir wissen, Talcott Parsons aufgegriffen und zu der
bekannten struktur-funktionalen Theorie der Soziologie weiterentwickelt, de-
ren Grundlage das sog. AGIL-Schema war. Das Kernstück der Überlegungen
war die These, daß die gleichgewichtige Existenz eines jeden sozialen Sys-
tems von der beständigen Erfüllung von genau vier funktionalen Erfordernis-
sen abhinge: Anpassung, Zielverwirklichung, Mustererhaltung und – eben –
die Integration des Systems. Für diese Funktion der Integration im Rahmen
des Gesellschaftssystems hatte Parsons dann – folgerichtig – ein eigenes ge-
sellschaftliches Sub-System angenommen: die gesellschaftliche Gemein-
schaft. Das war die gesellschaftliche Verortung der Gefühle der Solidarität
und der sozialen Mechanismen zu deren Erhalt und Stärkung im arbeitsteilig
gedachten Funktionszusammenhang des interaktiven Austausches mit den drei
anderen Sub-Systemen: Wirtschaft, Politik und Treuhandsystem. Die
„Integration“ der Gesellschaft bestand in dieser Sicht also aus einer doppelten
Vorkehrung: Aus der beständigen Erfüllung des funktionalen Erfordernisses
264 Die Konstruktion der Gesellschaft

kehrung: Aus der beständigen Erfüllung des funktionalen Erfordernisses der


Integration in der Stärkung der gesellschaftlichen Gemeinschaft und aus dem
Austausch der (vier) gesellschaftlichen Sub-Systeme untereinander mit Hilfe
der symbolisch generalisierten Medien und der dadurch möglichen „Interpe-
netration“ der vier Sub-Systeme. Der oberste steuernde Rahmen für alle diese
Prozesse waren dann die kollektiv geteilten „letzten“ Werte der Orientierung
für das Handeln der Akteure, die Parsons in dem sog. kulturellen System ver-
ankert sah, das für den ganzen Zusammenhang des sozialen Seins, für das, wie
er es nennt, Handlungssystem, die Funktion der Mustererhaltung innehat (vgl.
zu alledem bereits ausführlich die „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“, Ka-
pitel 23, sowie auch noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen
Grundlagen“).
Dieses Modell sollte für alle Typen von Gesellschaften gelten, natürlich
auch für die modernen funktional differenzierten Gesellschaften. Auch für die
wurde also angenommen, daß die Akteure gewisse kollektiv geteilte Gemein-
samkeiten in ihren kulturellen Überzeugungen, moralischen Vorstellungen
und „Werten“ hätten, und sie auch in der modernsten „Gesellschaft“ immer
noch eine Art von solidarischer und konsensueller „Gemeinschaft“ bilden.
Nicht zuletzt Niklas Luhmann ist dem entgegengetreten – und hat, so kann
man wohl sagen, dieser, wie er es nennt, „alteuropäischen“ Idee das Lebens-
licht ausgeblasen. Wir werden gleich sehen, warum. Dazu aber müssen wir
erst noch etwas weiter ausholen und uns die Frage stellen, wie man sich die
„Integration“ der Gesellschaft überhaupt als – mehr oder weniger oder auch
gar nicht: intendierte – Folge des Handelns von menschlichen Akteuren den-
ken kann.

Die Grundlage: Interdependenzen

Soziale Systeme, und damit die Gesellschaften, konstituieren sich über soziale
Relationen. Das sind wechselseitig aufeinander bezogene Orientierungen und
Akte, soziale Kontakte, Interaktionen, Kommunikationen, soziale Beziehungen
oder Transaktionen aller Art, die man zusammenfassend auch als soziales Han-
deln bezeichnet (vgl. dazu noch Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen
Grundlagen“ ausführlich). Aber das ist nur die empirische Oberfläche. Hinter
dem sozialen Handeln und, insbesondere, hinter jeder Kommunikation, die die
Relationen und damit die Integration der sozialen Systeme tragen, stehen stets
objektive Strukturen: die materiellen Interdependenzen, in die die Akteure über
typische Muster der Verteilung der Kontrolle über interessante Ressourcen ein-
gebunden sind, die institutionellen Regeln der „Verfassung“ der jeweiligen Ge-
Integration 265

sellschaft, die die Beziehungen zwischen den „Positionen“ in den sozialen Sys-
temen regeln, und die kulturellen Bezugsrahmen der Orientierungen in typischen
(sozialen) Situationen. Das wissen wir alles schon aus Kapitel 2 in diesem Band,
wenn nicht bereits aus Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen
Grundlagen“.

Drei Probleme und drei Mechanismen der Integration: Markt, Orientierung


und Organisation

Die Integration sozialer Systeme ist keine Sache der „Subjekte“ allein. Sie ist
vielmehr ein „Problem“ allein deshalb, weil die Menschen nicht immer ein un-
mittelbares Interesse daran haben oder gelegentlich sogar dagegen sind: Manch-
mal haben die Menschen übereinstimmende Interessen und bilden deshalb ohne
weiteres ein intern abgestimmtes und zusammenhängendes und nach außen ab-
gegrenztes soziales System, wie eine Dorfgemeinschaft oder einen Stammtisch,
manchmal aber eben nicht, wie eine Fakultät mit lauter Unikaten an Professoren,
die nur sich selbst kennen und wichtig nehmen. Und meist gibt es sowohl Kon-
vergenzen wie Divergenzen in den Interessen an bestimmten Relationen. Auch
die Integration ist also ein Problem der antagonistischen Kooperation. Drei Fälle
und drei dazugehörende Mechanismen der Integration lassen sich wieder unter-
scheiden (vgl. dazu bereits Band 1, „Situationslogik und Handeln“, und Band
3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ sowie auch wieder Ka-
pitel 2 in diesem Band).
Bei der „reinen“ Konvergenz der Interessen ist das Problem der Integration eigentlich gar
keines: Die Akteure finden sich „spontan“ zusammen, weil sie sich gegenseitig in ihren Inte-
ressen ergänzen und sie von der Systembildung individuell einen hohen Nutzen haben. Der
Markt ist das dieser Konstellation entsprechende soziale System. Die Integration erfolgt spon-
tan und nur auf der Grundlage der Interessen und der damit verbundenen Interdependenzen,
wenngleich mit Konsequenzen, die die Akteure meist so nicht vorhersehen können und auch
oft nicht wünschen, obwohl sie – und nur sie – diese Konsequenzen herbeiführen, wie bei-
spielsweise den steigenden Eierpreis zu Ostern aus dem gemeinsamen Interesse an der Eier-
suche am Ostermorgen. Bei der „reinen“ Divergenz der Interessen scheint zunächst eine In-
tegration schwierig oder gar ausgeschlossen, weil jede denkbare Anordnung zwingend eine
Gruppe schlechter stellen würde als die andere, mindestens relativ gesehen. Gleichwohl kann
es Interessen an einer Systembildung geben, weil die „Anarchie“ unter Umständen für alle die
noch schlechtere Lösung wäre als die Unterwerfung unter die jeweils andere Gruppe. Die
„Lösung“ des Problems ist die Organisation des sozialen Systems, notfalls unter Ausübung
von politischer, administrativer oder gar militärischer Herrschaft. Es ist zwingend eine „re-
pressive“ Lösung. Wenn sich die Konvergenzen und die Divergenzen der Interessen mischen,
sind die Akteure im Prinzip an einer Integration interessiert und könnten auch alle davon pro-
fitieren. Aber es gibt entweder hohe Unsicherheiten, wie es dazu kommen könnte, oder auch
Versuchungen, die Vorleistungen der anderen abzuwarten und ggf. auszubeuten bzw. die Be-
fürchtungen, daß die jeweils anderen das tun könnten. Es ist, wie man sieht, ein Spezialfall
266 Die Konstruktion der Gesellschaft

des Problems der antagonistischen Kooperation. Hier entsteht die Integration nicht spontan,
sie muß aber auch nicht „repressiv“ erzwungen werden. Es reichen einige – mehr oder weni-
ger – milde Einstellungen, die wir zusammenfassend als Orientierungen bezeichnen möchten:
Werte, Loyalitäten, moralische Verpflichtungen, die Orientierung an den Codes und Pro-
grammen typischer Situationen vor allem (vgl. dazu unten mehr, aber auch schon Kapitel 3,
insbesondere Abschnitt 3.1 oben in diesem Band).

Damit lassen sich drei grundlegende Mechanismen der Integration unterschei-


den, die je nach Konstellation der Interessen unter den Akteuren bedeutsam wer-
den: Integration über den Mechanismus des Marktes, über gewisse Orientierun-
gen der Akteure und über die geplante Organisation eines sozialen Gebildes
bzw. über die Ausübung von Herrschaft.
Empirisch sind freilich die Übergänge zwischen diesen Mechanismen fließend, sie bedingen
sich teilweise auch gegenseitig, und bei den meisten sozialen Systemen gibt es daher alle drei
Mechanismen der Integration auch gleichzeitig. Die europäische Integration ist, beispielswei-
se, zunächst eine des „gemeinsamen Marktes“ gewesen, immer mehr unterstützt durch hoheit-
liche politische Vorgaben und institutionelle Regelungen – mit „Brüssel“ und der EU-
Kommission als dem mißtrauisch beäugten Zentrum der Herrschaft der Europäischen Union.
Was noch fehlt, und was offenbar nur schwer hoheitlich zu „organisieren“ ist, ist die Entste-
hung einer Orientierung der europäischen Identität und Identifikation mit dem Kunstgebilde
der „Europäischen Gemeinschaft“. Vor diesem Hintergrund wird auch deutlich, daß die Integ-
ration der sozialen Systeme keineswegs mit „Harmonie“ und „Zustimmung“ verbunden sein
muß: Es gibt eine Integration auch im Konflikt, gelegentlich sogar durch den Konflikt. Ehe-
paare, die sich streiten, haben (noch) vieles gemeinsam. Erst wenn auch der Streit aufhört, ist
das soziale System der Ehe zerfallen, wahrscheinlich weil die Interessenkonvergenzen zu ge-
ring geworden sind und darüber dann auch die rahmende Orientierung auf die Beziehung als
„Ehe“ oder „Paar“ verfallen ist.

Die Fälle und Mechanismen sind, wie gesagt, auch nicht unverbunden miteinan-
der: Ohne jedes Interesse der Akteure am „Funktionieren“ des Systems läßt sich
auf die Dauer keine Organisation und keine Herrschaft halten, und die die Herr-
schaft evtl. legitimierenden und unterstützenden Orientierungen verfallen bald,
wenn die das Interesse stützenden Leistungen ausbleiben. Andererseits erzeugen
jede Organisation und Herrschaft auch wiederum bestimmte Möglichkeiten, Inte-
ressen und Interdependenzen, die vorher nicht da waren, und darüber dann auch
wieder die entsprechenden Orientierungen, Loyalitäten und Solidaritäten. Ob
sich das gesamte „System“ von Interessen, Orientierungen und Organisation
dann stabilisiert und erhält, hängt also – letztlich – davon ab, ob eine relativ
spannungsfreie und stabile Nutzenproduktion gelingt, freilich auch oft genug so,
daß einige der beteiligten Akteure und Gruppen deutlich mehr davon haben als
andere.
Integration 267

Horizontale und vertikale Integration

Die Integration über den Markt wird auch als horizontale Integration bezeich-
net: Die Akteure (bzw. die „Teile“) des Systems haben übereinander keinerlei
Weisungsbefugnis und sind nur über ihre Interessen und die Kontrolle der
Ressourcen miteinander verbunden. Von vertikaler Integration wird gespro-
chen, wenn das Handeln der Akteure (bzw. der Teile) über eine formale Or-
ganisation koordiniert ist. Hier gibt es Weisungsbefugnisse, und die Interessen
der Akteure sind von normativen und ggf. sanktionierten Erwartungen überla-
gert, die meist an bestimmte Positionen als „Rollen“-Erwartungen geknüpft
sind (vgl. dazu noch ausführlich Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen
Grundlagen“).
Die Unterscheidung von horizontaler und vertikaler Integration korrespondiert mit zwei For-
men der „governance“, die Oliver Williamson als „Markets“ einerseits und „Hierarchies“ an-
dererseits bezeichnet hat.2 Williamson beschäftigt sich dabei insbesondere mit der Frage,
wann es die eine oder die andere Form der Integration eines sozialen Systems gibt. Drei Fak-
toren sind hier entscheidend. Das ist erstens die sog. asset specificity der Güter, um die es in
den Beziehungen jeweils geht. Die asset specificity nimmt in dem Maße zu, wie die Güter ih-
ren Wert nur in der betreffenden speziellen Beziehung haben, wie das beispielsweise bei ei-
nem Zulieferer von Mercedessternen an Daimler-Chrysler oder bei Kindern in einer Partner-
schaft der Fall ist. Es ist nichts anderes als der Grad der Spezifizität des Kapitals der Akteure
(vgl. dazu schon Abschnitt 4.3 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen
Grundlagen“). Der zweite Faktor ist der (nie auszuschließende) Opportunismus der Akteure,
den anderen jeweils auszubeuten, wenn es sich lohnt. Und der dritte ist die Unsicherheit der
Akteure, ob sie einander trauen können. Zur vertikalen Integration in Form der „Hierarchie“
einer Organisation kommt es nach Williamson dann, wenn es eine hohe asset specificity gibt
und wenn das Potential an Opportunismus und die Unsicherheit der Akteure hoch sind. Dann
kaufen etwa Firmen ihre Zulieferer auf, um sich von der Abhängigkeit von ihnen zu befreien,
die auf dem freien Markt den Preis für das spezielle Produkt immer höher getrieben hätte.
Und wenn ein Kind kommt, bringen plötzlich auch die Paare ihre Beziehung in die Form ei-
ner vertikalen Integration und heiraten, die zuvor an nichts anderes dachten als an die hori-
zontale Integration einer freien Partnerschaft, aus der jeder verschwinden könnte, wenn es
ihm oder ihr so paßt.

Zwischen der horizontalen Integration auf Märkten und der vertikalen Integra-
tion in Organisationen gibt es zahllose „hybride“ Formen. Eine davon haben
wir oben bereits besprochen: die Integration über gewisse „integrierende“
Einstellungen und Orientierungen, die die Akteure u. U. auch dann teilen,
wenn sie nicht „organisiert“ sind. Andere Mischformen bestehen insbesondere
aus Vernetzungen der (noch) nicht-hierarchisierten Teile über persönliche o-

2
Oliver Williamson E., Markets and Hierarchies: Analysis and Antitrust Implications, New
York 1975. Vgl. auch speziell dazu noch ausführlich Band 5, „Institutionen“, dieser „Spe-
ziellen Grundlagen“.
268 Die Konstruktion der Gesellschaft

der soziale Beziehungen, wie das etwa bei den internationalen Eliten, zwi-
schen den Firmen einer Branche, deren Chefs sich schon seit jeher im Karne-
valsverein treffen, oder bei den sog. Policy-Netzwerken der Fall ist, die wir in
Kapitel 2 dieses Bandes erwähnt hatten, als von der Mehrebenen-Organisation
von Gesellschaften und davon die Rede war, daß die sog. Meso-Ebene gerne
auch aus solchen „Vermittlungsnetzwerken“ besteht.

Systemintegration und soziale Integration

Beim Problem der Integration wird die Spannung zwischen dem Systemaspekt
gesellschaftlicher Prozesse und dem „konstitutiven“ Beitrag der handelnden Ak-
teure besonders deutlich: Das integrierte Ganze besteht aus Relationen zwischen
seinen Teilen und zur Umgebung, aber diese Relationen sind, wie wir spätestens
aus Kapitel 1 und 2 diesen Bandes wissen, stets das meist so nicht intendierte
Produkt des Handelns der Akteure. Von dem britischen Soziologen David
Lockwood stammt eine Unterscheidung, auf die wir schon im Exkurs über die
unvermutete Entdeckung der leibhaftigen Menschen und des Elends in der Welt
durch die soziologische Systemtheorie im Anschluß an Kapitel 5 diesen Bandes
und im Zusammenhang mit der „Inklusion“ der Akteure in die Gesellschaft ge-
stoßen sind: die Unterscheidung von Systemintegration und sozialer Integration.
Als Systemintegration bezeichnet David Lockwood dabei „the orderly or
conflictful relationships between the parts“, als soziale Integration dagegen „the
orderly or conflictful relationships between the actors“ eines sozialen Systems.3

Integration und Netzwerkstrukturen

Am einsichtigsten wird die Unterscheidung von Systemintegration und sozia-


ler Integration an einem Spezialfall eines sozialen Systems, einem Netzwerk
von Akteuren, die über persönliche Beziehungen miteinander verbunden sind
(vgl. Abbildung 6.1).4

3
David Lockwood, Social Integration and System Integration, in: George K. Zollschan und
Walter Hirsch (Hrsg.), Explorations in Social Change, London 1964, S. 245; Hervorhe-
bungen im Original.
4
Nach Vincent Buskens, Social Networks and Trust, Amsterdam 1999, S. 29. Siehe insge-
samt zum Konzept des sozialen Netzwerks noch Band 4, „Opportunitäten und Restriktio-
nen“, dieser „Speziellen Grundlagen“.
270 Die Konstruktion der Gesellschaft

Wie man leicht auch noch sieht, können bei solchen Netzwerken Systemin-
tegration und soziale Integration - in gewissen Grenzen - unabhängig vonein-
ander variieren: Es gibt Akteure mit einer hohen und einer niedrigen Sozialin-
tegration sowohl in stärker wie schwächer systemintegrierten Netzwerken
bzw. sozialen Systemen. Die systemische und die soziale Integration sind in
sozialen Netzwerken gleichwohl immer in gewisser Weise schon logisch ver-
bunden, weil es bei extrem geringer Systemintegration auch nur eine geringe
Sozialintegration bei den Akteuren geben kann, und eine hohe Systemintegra-
tion bei einer gewissen Mindestzahl von Akteuren eine hohe Sozialintegration
bedeuten muß. In anderen sozialen Systemen als Netzwerken gibt es eine sol-
che „logische“ Beziehung zwischen systemischer und sozialer Integration
nicht unbedingt, weil ihre Integration nicht unbedingt von der Anzahl der per-
sönlichen (oder sonstigen) Beziehungen abhängt. Das gilt etwa für Märkte,
die ja nur auf bilateralen Beziehungen beruhen und die auch – oder gerade
dann! – besonders gut funktionieren, wenn die Akteure alle als Monaden agie-
ren.

Systemintegration

Die Systemintegration ist, ganz allgemein gesagt, dann jene Form der Relationie-
rung der Teile eines sozialen Systems, die sich unabhängig von den speziellen
Motiven und Beziehungen der individuellen Akteure und oft genug sogar auch
gegen ihre Absichten und Interessen, sozusagen anonym und hinter ihrem Rü-
cken, ergibt und durchsetzt, während die soziale Integration unmittelbar mit den
Motiven, Orientierungen, Absichten und – insbesondere – den Beziehungen der
Akteure zu tun hat. Es ist die Integration eines sozialen Systems „über die Köp-
fe“ der Akteure hinweg, die etwa durch den Weltmarkt, den Staat oder die gro-
ßen korporativen Akteure besorgte, spezielle Art der „Integration“ der (Welt-
)Gesellschaft, bei der die „natürlichen“ Personen oft nur ohnmächtig zusehen
können, was die Marktkräfte oder die „juristischen“ Personen, wie die Telekom
oder Daimler-Chrysler oder Vodafone und Mannesmann oder die Regierungen
der NATO-Staaten, so alles im Zuge der Systemintegration der Weltgesellschaft
mit ihnen anrichten.
Markt und Organisation sind die beiden grundlegenden Mechanismen der „a-
nonymen“ Systemintegration. Hinzu treten zwei weitere Vorgänge, die zwar ü-
ber die Orientierungen der Akteure verlaufen, aber gleichwohl unabhängig oder
sogar gegen die Motive und Absichten der Akteure integrativ „wirken“: Interpe-
netration und symbolisch generalisierte Medien.
Integration 271

Bei der systemischen Integration durch Interpenetration sind in den kulturellen Systemen
bzw. den mentalen Modellen, an denen sich die Akteure in ihrem Handeln in den jeweiligen
funktionalen Teilsystemen orientieren, jeweils auch Elemente der Logik, der Codes und der
Programme anderer Teilsysteme enthalten (vgl. dazu auch schon Kapitel 2 über die „System-
Durchdringung“ in diesem Band). Dadurch wird die „Radikalität“ der Eigenlogik der Syste-
me gebremst: In das wirtschaftliche Handeln, beispielsweise, gehen auch immer sofort
solidarische Verantwortlichkeiten ein, und in das politische Entscheiden auch immer
Gesichtspunkte des wissenschaftlichen Wissens zu einem Problem, etwa das Wissen der
Nationalökonomen bei der politisch thematisierten Frage, ob man heute noch eine
keynesianische Geldpolitik betreiben könne. Es ist eine spezielle Art der Orientierung der
Akteure in den jeweiligen sozialen Systemen und Teil der Programme des Handelns darin.
Die symbolisch generalisierten Medien sind dagegen „Spezialsprachen“ der jeweiligen
Systeme, mit denen bewirkt wird, daß die Akteure sofort den Codierungen der Systeme
folgen und, unabhängig von ihren sonstigen Motiven, wie selbstverständlich ganz spezifische
Handlungen ausführen, die dann das „Prozessieren“ der Systeme und damit systemintegrativ
ihren Zusammenhalt sichern (vgl. dazu schon Abschnitt 3.1 in diesem Band). Insofern
beruhen auch die symbolisch generalisierten Medien auf Orientierungen der Akteure, aber
diese Orientierungen werden, stärker noch als bei der Interpenetration, ganz automatisch
ausgelöst (vgl. dazu auch noch Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Das Geld ist das anschaulichste Beispiel dafür: Wenn es angeboten wird, wird es, egal welche
speziellen Wünsche und Motive die Menschen jeweils haben, so gut wie immer und sofort
genommen. Und jeder weiß dabei, daß es um „wirtschaftliches“ Tun geht und nicht um,
sagen wir, ein wissenschaftliches Argument, das man ja, ebensowenig wie die Liebe, mit
Geld nicht kaufen kann.
An der systemintegrativen Wirkung der Interpenetration und der symbolisch ge-
neralisierten Medien wird deutlich, daß alle Prozesse der Integration, auch die
der Systemintegration also, etwas mit den Akteuren zu tun haben: Es sind Orien-
tierungen, die die Akteure in bestimmten Situationen leiten und sie zu einem
Handeln bringen, dessen – meist unintendiertes – Ergebnis die Integration des
jeweiligen sozialen Systems ist.

Soziale Integration

Nicht immer nehmen, wie wir aus den Bemühungen zur Integration der Europäi-
schen Gemeinschaft wissen, die Akteure eine durchaus gelingende Systeminteg-
ration klaglos hin, und keineswegs immer identifizieren sie sich auch mit dem,
wie auch immer, etwa wirtschaftlich oder administrativ, integrierten sozialen
Gebilde. Die soziale Integration bezeichnet demgegenüber daher auch die Be-
ziehungen der Akteure zueinander und – über gewisse „soziale“ Einstellungen –
zum „Gesamt“-System. Es geht also bei der Sozialintegration um den Einbe-
zug der Akteure in einen gesellschaftlichen Zusammenhang, nicht bloß um
das äußerliche „Funktionieren“ der Gesellschaft als System. Mindestens vier
Varianten der Sozialintegration als sozialem Einbezug der Akteure in eine
Gesellschaft können unterschieden werden: Kulturation, Plazierung, Interakti-
on und Identifikation.
272 Die Konstruktion der Gesellschaft

Kulturation

Mit Kulturation ist gemeint, daß die Akteure das für ein sinnhaftes, verständi-
ges und erfolgreiches Agieren und Interagieren nötige Wissen besitzen und
bestimmte Kompetenzen haben. Das Wissen und die Kompetenzen beziehen
sich auf die Kenntnis der wichtigsten Codierungen von typischen Situationen
und die Beherrschung der daran anknüpfenden Programme des sozialen Han-
delns darin, vor allem auf die Normen und sozialen Drehbücher also. Wissen
und Kompetenzen sind dabei eine Art von (Human-)Kapital, in das die Akteu-
re auch investieren können oder müssen, wenn sie für andere Akteure interes-
sant sein wollen und, etwa, an der Besetzung gesellschaftlich angesehener Po-
sitionen interessiert sind oder an für sie selbst interessanten Interaktionen und
Transaktionen teilnehmen möchten. Die Sozialintegration als Kulturation ist
insbesondere ein Prozeß des Erwerbs des jeweiligen Wissens bzw. der jewei-
ligen Kompetenzen. Es ist ein Teil der Sozialisation des Menschen in die je-
weilige Gesellschaft, genauer: ein Teil der kognitiven Sozialisation. Die Kul-
turation der Menschen zu Beginn ihres Lebens wird auch als Enkulturation
bezeichnet, spätere Kulturationen an dann auch andere und neue gesellschaft-
liche Kontexte als Akkulturation (vgl. dazu auch noch Band 6, „Sinn und Kul-
tur“, dieser „Speziellen Grundlagen“).

Plazierung

Unter Plazierung wird, ganz allgemein, die Besetzung einer bestimmten ge-
sellschaftlichen Position durch einen Akteur verstanden. Auch das ist eine
Form des „Einbezugs“ der Akteure in eine Gesellschaft, die wichtigste wahr-
scheinlich sogar. Die Plazierung ist ein Spezialfall der Inklusion, jener der
Plazierungsinklusion nämlich (vgl. dazu schon Kapitel 5 in diesem Band):
Akteure werden in ein bereits bestehendes und mit Positionen versehenes
soziales System eingegliedert. Die wichtigsten Formen der sozialen
Integration durch (Plazierungs-)Inklusion sind die Verleihung bestimmter
Rechte, wie etwa das Staatsbürgerschaftsrecht oder, meist damit
zusammenhängend, das Wahlrecht, die Übernahme beruflicher und anderer
Positionen, meist abhängig vom Durchlaufen einer gewissen
Bildungskarriere, und die Eröffnung von sozialen Gelegenheiten zur
Anknüpfung und zum Unterhalt sozialer Beziehungen zu den anderen
Mitgliedern des sozialen Systems. Dabei ist die soziale Akzeptanz, das Fehlen
von „Vorurteilen“, Diskriminierungen und Schließungen also, eine wichtige
Bedingung der Plazierung.
Integration 273

Die soziale Integration durch Inklusion bzw. Plazierung ist eng mit dem Mechanismus der
Kulturation verbunden. Einerseits erwerben Akteure über die Plazierung auf bestimmte Posi-
tionen bestimmte Kompetenzen – oder aber auch nicht. Es ist für die Kulturation der Akteure
eben nicht gleichgültig, ob man in eine reiche oder eine arme Familie hineingeboren wird,
den Kindergarten besucht hat oder nicht, auf dem Lande lebt oder in der Stadt, eine gute be-
rufliche Position innehat oder arbeitslos ist. Andererseits ist die Kulturation oft ein wichtiger
Filter für die Plazierung der Akteure: Nur wer über eine gute Schulbildung verfügt, kann auf
einen akzeptablen Posten hoffen, und wer als kleiner Bub nur Bayerisch kann, muß aufpas-
sen, daß er auf dem Gymnasium in der Kreisstadt nicht sitzen bleibt. Wer bestimmte Kompe-
tenzen hat, verfügt daran anschließend über die Kontrolle von gesellschaftlich interessanten
Ressourcen und wird daher auch als „Person“ (oder „Gruppe“, wenn es sich um Aggregate
von Personen handelt) für andere Akteure im System interessant. Er verfügt damit – ganz all-
gemein – über eine gewisse Macht und wird darüber schließlich auch akzeptiert und sozial
anerkannt, wenn nicht sogar mit Ehren überhäuft.

Die soziale Integration über die Plazierung ist die wohl wichtigste Bedingung
zur Erlangung von gesellschaftlich generell verwendbaren Kapitalien, insbe-
sondere in der Form des ökonomischen Kapitals und des sog. Humankapitals
(vgl. dazu auch noch Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser
„Speziellen Grundlagen“ sowie noch den Exkurs über die Integration, Assimi-
lation und die sogenannte multikulturelle Gesellschaft gleich anschließend).
Mit der erfolgreichen Plazierung werden aber auch andere Arten von Kapital
erreichbar: institutionelles Kapital an noch weitergehenden Rechten und poli-
tisches Kapital an einer Vertretung der eigenen Interessen.

Interaktion

Interaktionen sind jener Spezialfall des sozialen Handelns, bei dem die Akteu-
re sich wechselseitig über Wissen und Symbole aneinander orientieren und so,
und über ihr Handeln, Relationen bilden. Es gibt drei Spezialfälle der Interak-
tion: die gedankliche Koorientierung, die sog. symbolische Interaktion und
die Kommunikation. Außerdem gibt es als wichtige Formen des sozialen Han-
delns noch die sog. sozialen Beziehungen und die sog. Transaktionen. Bei so-
zialen Beziehungen geschieht die Abstimmung der Akteure über mehr oder
weniger feste und verbindliche Regeln und orientierende mentale Modelle
„normaler“ Abläufe des sozialen Handelns, und Transaktionen sind Akte des
„Tausches“ von Gütern aller Art (vgl. dazu noch Band 3, „Soziales Handeln“,
dieser „Speziellen Grundlagen“). Sie alle, Interaktionen, soziale Beziehungen
und Transaktionen, sind wichtige Arten der sozialen Integration, die hier ein-
facherweise allesamt als „Interaktion“ bezeichnet werden sollen.
Über Interaktionen bilden sozial integrierte Akteure untereinander meist ganze „Netze“ von
Relationen, etwa solche des Kennens, der verschiedenen Formen der Kommunikation und der
274 Die Konstruktion der Gesellschaft

sozialen Beziehungen, etwa der von Freunden oder Ehepartnern, und solche der Transaktio-
nen aller Art. Man spricht daher auch von sozialen Netzwerken.5 Die sog. Netzwerkanalyse ist
ein Instrument zur formalen Bestimmung des Grades der Integration ganzer Netzwerke und
der einzelnen Akteure darin. So gibt es dicht geknüpfte Netzwerke, in denen jeder jeden
kennt, Cliquen mit lauter strong ties also. Und es gibt Netzwerke, in denen nicht mehr jeder
jeden kennt und in denen bestimmte Personen als Liaison-Personen die Cliquen mit ihren
strong ties indirekt verbinden. Solche indirekten Verbindungen über „Brückenbeziehungen“
werden auch als weak ties bezeichnet. Über weak ties wird dann auch die Integration größerer
Verbände von ansonsten isolierten Cliquen möglich.6 Daher könnte man die Sozialintegration
über weak ties durchaus auch als einen Mechanismus der Systemintegration ansehen. Je
nachdem wie dicht die Beziehungen einer bestimmten Person zu anderen Personen ist, lassen
sich auch Akteure mit unterschiedlichen Graden der (sozialen) Integration unterscheiden. Der
soziometrische Star, zum Beispiel, wird von allen geliebt, und es gibt die Marginalen, die mit
(fast) niemandem Beziehungen unterhalten.

Interaktionen sind ihrerseits Spezialfälle eines weiteren Spezialfalls der Inklu-


sion, der Konstitutionsinklusion nämlich (vgl. dazu wieder Kapitel 5 in die-
sem Band). Die wichtigsten Bedingungen für die Sozialintegration über die
Interaktion sind die o.a. Folgen der Kulturation und der Plazierung: die Kon-
trolle über allgemein interessierende Ressourcen, Kompetenzen, soziale Ak-
zeptanz und die Verfügung über Gelegenheiten der Anknüpfung und Verfesti-
gung von Kontakten. Die wichtigsten Folgen der Sozialintegration durch In-
teraktion sind der Erwerb von sog. kulturellem Kapital als bestimmten, nur in
Interaktionen erwerbbaren und nutzbaren Fertigkeiten, Vorlieben und Distink-
tionen, und von sog. sozialem Kapital, die Aktivierbarkeit von interessanten
Ressourcen, die sich aus der Einbettung in soziale Netzwerke ergibt (vgl. auch
dazu noch Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen
Grundlagen“).

Identifikation

Die Identifikation eines Akteurs mit einem sozialen System ist dann jene be-
sondere Einstellung eines Akteurs, in der er sich und das soziale Gebilde als

5
Vgl. dazu verschiedene Beiträge in Franz Urban Pappi, (Hrsg.), Methoden der Netzwerk-
analyse, München 1987, oder den Überblick bei David Knoke und James H. Kuklinski,
Network Analysis, Beverly Hills, London und New Delhi 1982. Vgl. ferner Ronald S.
Burt, Structural Holes. The Social Structure of Competition, Cambridge, Mass., und Lon-
don 1992, insbesondere Kapitel 1: The Social Structure of Competition, S. 8-49; John
Scott, Social Network Analysis. A Handbook, London, Newbury Park und New Delhi
1991; Buskens 1999, S. 34-44. Siehe dazu auch noch Band 4, „Opportunitäten und Re-
striktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“.
6
Vgl. dazu insbesondere Mark S. Granovetter, The Strength of Weak Ties, in: American
Journal of Sociology, 78, 1973, S. 1360-1380.
Integration 275

eine Einheit sieht und mit ihm „identisch“ wird. Es ist eine gedankliche und
emotionale Beziehung zwischen dem einzelnen Akteur und dem sozialen Sys-
tem als „Ganzheit“ bzw. als „Kollektiv“, die bei dem einzelnen Akteur als O-
rientierung mit einem kollektiven Inhalt besteht, etwa als Nationalstolz oder
als Wir-Gefühl zu den anderen Mitgliedern der Gesellschaft oder Gruppe (vgl.
dazu auch noch insgesamt Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen
Grundlagen“).

Drei Formen

Es gibt die soziale Integration über Identifikation in ganz unterschiedlichen


Stufen der Unterstützung des Systems. Wir wollen drei unterschiedlich inten-
sive Formen der Sozialintegration durch Identifikation unterscheiden: die em-
phatische Wertintegration und die Hinnahme des Systems über die beiden
Mechanismen der Verkettungsintegration und der Deferenzintegration.

Wertintegration

Der wohl deutlichste Fall der Sozialintegration als Identifikation ist die be-
wußte Loyalität zur „Gesellschaft“ und ihren herrschenden Institutionen, etwa
in Form der mit Werten begründeten Zustimmung zu den politischen Instan-
zen und deren Entscheidungen. Es ist die Integration der Gesellschaft über
ausgeprägte Gefühle der Solidarität, über unbedingte Werte und über die,
mehr oder weniger bewußte, sicher aber auch emotionale Identifikation der
Akteure mit dem System der Gesellschaft insgesamt. Die Wertintegration ist
die Art der ideologisch untermauerten und in den alltäglichen Interaktionen
immer wieder neu bekräftigten Unterstützung des „Systems“, wie sie – zeit-
weise – in Feudal- oder Nationalgesellschaften vorgekommen sein mag und
wie sie sich manche hierzulande auch für die Bundesrepublik Deutschland
und für Europa wünschen – und andere fürchten. Emile Durkheim und Talcott
Parsons meinten, daß es in allen Arten von Gesellschaften der solidarischen
Werte zu ihrer Integration bedürfe. Talcott Parsons hat, wie wir oben noch
einmal gezeigt haben, für die Funktion der Integration – der Logik des AGIL-
Schemas folgend – bekanntlich ein eigenes Sub-System der Gesellschaft, die
„gesellschaftliche Gemeinschaft“, vorgesehen. Und Jürgen Habermas hat den
„Ort“ dieser sozialintegrierenden Wissensformen, Motive, Orientierungen und
Interaktionen in der sog. Lebenswelt des alltäglichen Umgangs gesehen, die
aber, leider, durch die bloß systemintegrierenden Mechanismen der Märkte
276 Die Konstruktion der Gesellschaft

und der Herrschaft der korporativen Akteure immer mehr unter die Räder
komme (vgl. dazu weiter unten mehr, sowie insgesamt noch Band 6, „Sinn
und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“).

Die Hinnahme des Systems: Verkettungsintegration und Deferenzintegration

Die Zustimmung zur gesellschaftlichen Ordnung ist nicht die einzige Form
der sozialintegrativen Unterstützung. Es gibt auch Arten der unterstützenden
Sozialintegration, in denen jeder Rest an „integrierender“ Orientierung fehlt
und die nur noch auf besonderen Konstellationen der Interessen und der Mög-
lichkeiten der Akteure beruhen. Wir wollen diese Formen der „identifikati-
ven“ Sozialintegration als Integration durch Hinnahme – von Zumutungen un-
terschiedlicher Art – bezeichnen.
Zwei Arten der sozialen Integration durch Hinnahme können dabei unter-
schieden werden. Das ist erstens die Hinnahme des „Systems“ durch die Ak-
teure wegen der vielfachen Überkreuzung von inneren Konfliktfronten in ih-
rer Identität aus der – inkonsistenten – Kreuzung ihrer sozialen Kreise. Wegen
dieser Überkreuzungen und Inkonsistenzen der Orientierungen lassen sich die
Akteure nicht zu größeren Aggregaten gleicher Interessen und damit erst recht
nicht zu einem systemdesintegrierenden Tun, etwa einer Umwälzung der be-
stehenden gesellschaftlichen Verhältnisse, zusammenschließen. Und alles
bleibt – äußerlich – ruhig. Der Kampf findet im Innern der Akteure statt, und
statt einer Revolution gibt es nun Millionen von Magengeschwüren. Diese
Form der Sozialintegration sei als Verkettungsintegration bezeichnet. Sie ist
typisch für die modernen, funktional differenzierten Gesellschaften.
Bei der Verkettungsintegration tun die Akteure auch deshalb nichts gegen
die Integration des Systems, weil sie selbst – bei allen inneren Konflikten –
viel davon haben: Eigenheim, Landrover, Urlaub in der Karibik, auch für den
Gewerkschaftler. Es gibt in den reichen funktional differenzierten Gesell-
schaften aber auch stets, und neuerdings wieder vermehrt, die Verdammten
der Erde, die Ausgegrenzten aller Art und die Angehörigen der unteren und
der untersten Schichten. Auch die nehmen die „Gesellschaft“ meist hin, und
zwar aus der erlebten oder wahrgenommenen Aussichtslosigkeit irgendeines
Versuchs zur Änderung. Diese Form der hinnehmenden Sozialintegration sei
als Deferenzintegration bezeichnet. Es ist die schwächste Form der sozialen
„Integration“. Für die „Gesellschaft“ ist das aber nur selten eine gefährliche
Angelegenheit. Elend und Aussichtslosigkeit machen bekanntlich apathisch.
Diese verschiedenen Formen der Identifikation und der Hinnahme können natürlich auch zu-
sammenspielen. Die Kastengesellschaften erhalten sich beispielsweise bei allen Spaltungen
Integration 277

und Spannungen über eine Mischung von Wert- und Deferenzintegration als Einheit: Die hin-
duistische Religion bildet den übergreifenden Wertrahmen der Legitimation des gesamten
Systems, und die unteren Kasten und erst recht die Unberührbaren tun auch aus Deferenz
selbst dann nichts gegen die herrschende Ordnung, wenn sie nicht so recht glauben mögen,
daß ihnen die Fügung im jetzigen Leben etwas bringt in einem späteren (vgl. dazu auch schon
Abschnitt 4.2 oben in diesem Band).

Die zentrale Bedingung für den Aufbau einer emphatischen Unterstützung des
Systems ist eine zufriedenstellende Plazierung bzw. erfolgreiche Statuszuwei-
sung und die Einbettung in Interaktionen und soziale Beziehungen im betref-
fenden sozialen System, die ihrerseits an eine entsprechende Kulturation ge-
bunden sind. Die Verkettungsintegration hängt sogar ganz alleine von der
Zuweisung attraktiver Positionen und den damit verbundenen Belohnungen
zusammen, möglichst in einer komplizierten Kreuzung der Inklusionen. Nur
die Deferenzintegration kommt ohne „materielle“ Unterstützung aus. Sie
speist sich aus der Hoffnungslosigkeit der Lage und der Machtlosigkeit der
Akteure. Deshalb ist sie für die soziale Integration moderner Gesellschaften
kaum geeignet, weil hier die Akteure über sehr viel an Macht und Kompetenz
verfügen, um eine ihnen unerträglich erscheinende Lage zu ändern – und sei
es auch bloß die Macht der Wählerstimme.
Die Folge der Sozialintegration über die Identifikation ist die Unterstüt-
zung des Systems, entweder direkt durch die emphatische Loyalität oder indi-
rekt über den Verzicht auf „des“-integrative Aktionen: Die systemintegrativen
Mechanismen von Markt und Organisation müssen die ihr eigensinniges Pro-
zessieren stets gefährdenden Akteure dann nicht fürchten. Die Akteure sind
dann – in der Tat – so etwas wie eine mehr oder weniger freundliche, mindes-
tens aber unschädliche „Umwelt“ der sozialen Systeme, die sich nun erst in
ihrer Eigenlogik richtig breitmachen können.

Marginalität

Wenn die soziale Integration den Einbezug von Akteuren in ein gesellschaftli-
ches System bezeichnet, dann ist es natürlich nicht ausgeschlossen, daß es
Akteure gibt, die keinem gesellschaftlichen System zugehören. Das ist der Fall
der Exklusion, wie wir ihn in Kapitel 5 diesen Bandes diskutiert haben. Die
damit verbundene Situation für den einzelnen Akteur wird auch als
Marginalität bezeichnet: Er befindet sich zwischen allen Stühlen und fühlt
sich nirgendwo zu Hause (siehe dazu auch gleich unten den Exkurs über
Integration, Assimilation und die sogenannte multikulturelle Gesellschaft
gleich im Anschluß an dieses Kapitel). Er ist ein Fremder, wohin auch immer
er geht. Georg Simmel, Alfred Schütz, Robert E. Park und Everett V.
Stonequist haben diesem Typ von Menschenschicksal jeweils ein nachhaltiges
278 Die Konstruktion der Gesellschaft

ben diesem Typ von Menschenschicksal jeweils ein nachhaltiges soziologi-


sches Denkmal gesetzt, wobei Simmel die eigenartige Gleichzeitigkeit von
Nähe und Ferne und die unbestechliche Objektivität des Fremden, Schütz sei-
ne fundamentale Desorientierung wie seine, wie er es nennt, „zweifelhafte
Loyalität“, Park die besondere Empfindsamkeit und Einfühlungsfähigkeit und
Stonequist den „Kulturkonflikt“, den der „Marginal Man“ auszuhalten hat,
jeweils besonders betont haben.7 Es sieht so aus, als würden wir im Zuge der
Globalisierung und der zunehmenden Kreuzung aller sozialen Kreise allesamt
mehr und mehr zu solchen Fremden. Besonders darunter leiden muß man
nicht – wenn es einem ansonsten gut geht (vgl. dazu auch noch Abschnitt 9.3
in diesem Band und den Exkurs über Entfremdung im Anschluß daran).

Eine Übersicht...

Wir wollen, bevor es weitergeht, die verschiedenen Begrifflichkeiten und Zu-


sammenhänge zur systemischen und sozialen Integration von Gesellschaften
und Akteuren in einem Diagramm zusammenfassen (Abbildung 6.2).
In das Diagramm sind auch jeweils die verschiedenen Mechanismen und die
wichtigsten Bedingungen der systemischen bzw. der sozialen Integration ein-
getragen. Die Folgen und Wirkungen können dann so zusammengefaßt wer-
den: Die Mechanismen der Systemintegration, insbesondere die Märkte und
die Organisationen, steuern die Plazierung der Akteure auf Positionen, ihre
Inklusion in das System also, und darüber die Kulturation und die Interaktion
und so die Ausstattung der Akteure mit Kompetenzen und allen Arten von
Kapitalien. Und das alles bildet die Grundlage für die systemunterstützenden
Orientierungen, im Extremfall sogar die einer emphatischen Loyalität und So-
lidarität. Diese – mehr oder weniger moralische – Unterstützung des Systems
insgesamt erleichtert wiederum das relativ reibungslose Funktionieren der
Mechanismen der Systemintegration, der Märkte, der Interpenetration, der
Medien und der Organisation der gesellschaftlichen Herrschaft. Nötig sind sie
aber, wenigstens in den modernen Gesellschaften, nicht.

7
Georg Simmel, Exkurs über den Fremden, in: Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen
über die Formen der Vergesellschaftung, 5. Aufl., Berlin 1968 (zuerst: 1908), S. 509-512;
Alfred Schütz, Der Fremde, in: Alfred Schütz, Gesammelte Aufsätze, Band 2: Studien zur
soziologischen Theorie, Den Haag 1972, S. 53-69; Robert E. Park, Human Migration and
the Marginal Man, in: American Journal of Sociology, 33, 1928, S. 881-893; Everett V.
Stonequist, The Marginal Man. A Study in Personality and Culture Conflict, New York
u.a. 1937, insbesondere Kapitel XI: The Sociological Significance of the Marginal Man.
Integration 279

Integration

Systemintegration Sozialintegration

Kulturation Plazierung Interaktion Identifikation

* Markt * Wissen * Rechte * Netzwerk- * Werte


* Interpenetra- * Kompetenz * Positionen Position * Hinnahme
tion/Medien * Human- * Gelegenheiten/ * kulturelles
* Organisation kapital Akzeptanz Kapital
* ökonomisches/ * soziales
institutionelles/ Kapital/
politisches
Kapital

Abb. 6.2: Systemintegration und die vier Dimensionen der Sozialintegration

... und eine Zwischenbemerkung

Mit der Unterscheidung von Systemintegration und sozialer Integration wird


der Anschein erweckt, als ob es sich um zwei gänzlich verschiedene Typen
der Integration und der Bildung sozialer Systeme handele. Das ist aber, wie
die geschilderten Zusammenhänge zwischen den Mechanismen der System-
und der Sozialintegration zeigen, nicht der Fall: Jede Form der systemischen
Integration sozialer Systeme ist ein aggregiertes Ergebnis des – wie auch im-
mer motivierten – Handelns von Akteuren. Auch die Märkte und die Organi-
sationen, die Vorgänge der Interpenetration und das „Zirkulieren“ von symbo-
lisch generalisierten Medien sind nichts anderes als kollektive Vorgänge, die
stets in sozialintegrative Prozesse eingebettet sind, von diesen hervorgebracht
werden und sie selbst wieder steuern.
Davon gehen, wie sich zeigt, inzwischen auch weite Teile der neueren Diskussionen in der
Soziologie im Zusammenhang der Entdeckung der „Individualisierung“ und des Beitrages der
„Subjekte“ bei der Konstitution der Gesellschaften aus. Diese Debatten sind daher immer et-
was verwirrt und deshalb oft selbst auch wieder verwirrend, weil die Anwendung einfacher
Grundregeln, wie die der Unterscheidung von sozialen Systemen und Akteuren, von sozialer
Differenzierung und sozialer Ungleichheit oder von Absichten bzw. Handlungen und unbeab-
sichtigten kollektiven Folgen, wohl etwas ungewohnt ist und daher vieles durcheinander geht.
Ein – insgesamt gesehen: nicht einmal schlechtes – Beispiel dafür ist der Beitrag von Nina
280 Die Konstruktion der Gesellschaft

Degele, die, ganz offenbar ohne das Modell der soziologischen Erklärung auch nur zu ken-
nen, für das Problem der Integration differenzierter Gesellschaften meint, daß hierbei keines-
wegs nur die „systemischen“ und „organisatorischen“ Prozesse eine Rolle spielen. Sondern:
„Einen immer bedeutenderen Beitrag liefern Individuen. Sie sind ... angesichts gegenwärtiger
gesellschaftlicher Umbrüche mit neuartigen Integrationszumutungen konfrontiert, und nur
weil sie in der Lage sind, spezifische Integrationsleistungen zu erbringen, kann sich Gesell-
schaft weiter differenzieren.“8 Und: „Vielmehr übernehmen Personen entscheidende gesell-
schaftliche Integrationsleistungen und stellen diese wiederum gesellschaftlichen Institutionen
und Organisationen als Differenzierungsressource zur Verfügung: Individuen sind integrale
Bestandteile gesellschaftlicher Differenzierungsprozesse.“ (Ebd., S. 361; Hervorhebung nicht
im Original) Das ist ohne Zweifel nicht falsch. Es ist aber auch schon nahe an einer wiederum
irreleitenden psychologistischen Übertreibung der Bedeutung der „Subjekte“, vor der wir mit
Karl R. Poppers Idee der Situationslogik dann doch noch einmal eindringlich warnen möch-
ten (vgl. dazu schon Abschnitt 10.1 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Spe-
ziellen Grundlagen“): Die „Individualisierung“ der Gesellschaft heißt ja noch lange nicht, daß
es dann keine strukturierten Situationen mehr gäbe oder, erst recht, keine unintendierten Ef-
fekte und alles nur noch soziale Integration wäre. Die Alternative zu Durkheim oder Parsons
sind nicht das freie Subjekt und das Ende der Systemintegration. Im Gegenteil: Niemand ist
fester aneinander gebunden als die „freien“ Akteure auf den diversen Märkten der Funktions-
systeme. Und es ist mit dem Modell der soziologischen Erklärung nicht nötig, zwischen Dif-
ferenzierung und Ungleichheit, Systemlogiken und Akteursbeiträgen, systemischer und sozia-
ler Integration theoretisch zu unterscheiden, wenngleich begrifflich durchaus, weil mit den
drei Schritten des Modells der soziologischen Erklärung alle diese Aspekte uno actu erfaßt
werden – und es daher nicht mehr nötig ist, sie „komplementär“ wieder zusammenzufügen.
Aber immerhin: Auch dort, wo man es kaum vermuten dürfte, gewinnt die Idee des Methodo-
logischen Individualismus offenbar an Boden, und der Rest ist dann ja rasch gelernt, nicht zu-
letzt mit Hilfe dieser „Grundlagen“ der Soziologie. Hoffentlich.

Kurz: Wenn man verstanden hat, daß jedes Systemereignis mit den Orientie-
rungen und dem Handeln von Akteuren – wie auch immer – verknüpft ist, und
daß jede Orientierung und jedes Handeln wieder vom „System“ strukturiert
wird, dann entfällt die säuberliche Unterscheidung von System- und Sozialin-
tegration wieder. Die Integration der Gesellschaft ist in jedem Fall ein emer-
gentes Merkmal der Interdependenzen und des Zusammenwirkens der Akteu-
re. Die Integration der Gesellschaft ist, kurz gesagt, ein kollektives Phänomen
wie alle anderen gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse auch.

Desintegration

Selbstverständlich gibt es auch das Gegenteil von Integration – die Desintegrati-


on. Zwei Formen davon seien unterschieden: die Segmentation und der Zerfall
eines sozialen Systems.

8
Nina Degele, Soziale Differenzierung: Eine subjektorientierte Perspektive, in: Zeitschrift
für Soziologie, 28, 1999, S. 345 -364; Hervorhebungen im Original.
Integration 281

Segmentation und Zerfall

Die Segmentation ist die Spaltung eines zuvor einheitlichen sozialen Systems in
voneinander getrennte, nun eigenständig operierende Teile. Das kann auf zwei
verschiedene Weisen geschehen. Erstens durch die Entstehung von eigenständi-
gen Sub-Gesellschaften innerhalb einer bereits existierenden und weiter beste-
henden „dominanten“ Gesellschaft. Ein Beispiel dafür ist die Entstehung ausge-
bauter ethnischer Gemeinden in der Folge der Einwanderung größerer, kulturell
sehr unterschiedlicher Gruppen, wie das etwa für die Türken in Deutschland oder
die Algerier in Frankreich gilt (siehe dazu auch den Exkurs über Integration, As-
similation und die sogenannte multikulturelle Gesellschaft im Anschluß an dieses
Kapitel). Solche Sub-Gesellschaften entstehen sowohl spontan, insbesondere ü-
ber den Prozeß der Segregation, etwa so, wie ihn Thomas C. Schelling beschreibt
und modellierend erklärt (vgl. dazu noch Band 4, „Opportunitäten und Restrikti-
onen“, dieser „Speziellen Grundlagen“), als auch – mehr oder weniger – ab-
sichtsvoll oder gar geplant, wie beispielsweise bei der politisch gewollten Aus-
grenzung und „Ghettoisierung“ ganzer Bevölkerungsgruppen, etwa (früher) in
Südafrika und in Nazi-Deutschland. Gesellschaften können sich zweitens durch
Abspaltung desintegrieren und jeweils neue, eigenständige, „unabhängige“ Ge-
sellschaften bilden, wie das bei der Trennung von Slowakei und Tschechien in
der ehemaligen Tschechoslowakei oder bei der Abspaltung von Slowenien und
Kroatien von Serbien in dem ehemaligen Jugoslawien der Fall war (vgl. dazu
auch noch Kapitel 8 unten in diesem Band). Abspaltungen einer weiterhin durch-
aus als „Einheit“ bestehenden Gesellschaft in sich eigenständig fühlende religiö-
se und ethnische Gruppen, Regionen oder Sprachgemeinschaften sind natürlich
allesamt ebenfalls Formen der „Des“-Integration. Die Tendenzen zum Separa-
tismus und zur Autonomie kommen aus dem – naheliegenden – Bestreben, der
jeweils spezifischen eigenen Kultur und Lebensweise eine jeweils auf sie zuge-
schnittene staatliche und gesellschaftliche „Verfassung“ zu geben, bei der das
betreffende, und zuvor meist unterbewertete, kulturelle Kapital deutlich aufge-
wertet wird. Oft bedarf es in derart religiös, ethnisch, regional oder sprachlich
gespaltenen Gesellschaften schon einer recht repressiven Herrschaft oder ganz
massiver sonstiger Interessenkonvergenzen und Interdependenzen, damit die Ge-
sellschaft nicht auseinanderfällt. Unter Tito war das im ehemaligen Jugoslawien
der Fall, und unter dem Sowjetregime in der UdSSR.
Der Zerfall eines zuvor integrierten Systems findet – trivialerweise – dann
statt, wenn sich die für das System charakteristischen Relationen auflösen, seien
das Tauschbeziehungen, unterstützende Orientierungen oder die das Ganze orga-
nisierende Herrschaft. Diese Auflösung beginnt oft ganz unmerklich und voll-
zieht sich nur zum Schluß manchmal mit einem Paukenschlag. Wann es dazu
282 Die Konstruktion der Gesellschaft

kommt, läßt sich mit den o.a. Bedingungen der Integration gut sagen: Wenn die
Interessen der Menschen nicht mehr bedient werden, wenn dadurch die Plausibi-
lität der unterstützenden Orientierungen leidet und wenn dann schließlich die
Herrschaft immer „repressiver“ werden muß, damit das Ganze noch zu organisie-
ren ist. Das Nazi-Reich ist zwar von den Alliierten zerfegt worden, aber die DDR
ist an innerer Anämie gestorben.

Re-Integration

Ein soziales System kann natürlich auch in seinen Relationen deshalb zerfallen,
weil die beteiligten Akteure ganz einfach wegbleiben, sei es durch die innere o-
der durch eine wirkliche Emigration. Das gilt beispielsweise für Ehen, für Semi-
nare und für ganze Gesellschaften, etwa die untergegangene DDR. Hier gibt es
eine interessante Verbindung zwischen den Orientierungen der Akteure und der
Unmittelbarkeit, in der sich dieser Zerfall ereignet. Das Modell von Albert O.
Hirschman über den Zusammenhang von „Exit, Voice and Loyalty“ ist ein Bei-
spiel für Prozesse der Re-Integration von sozialen Systemen, die vom Zerfall
durch Abwanderung bedroht sind:9 Wenn die Loyalität mit dem jeweiligen Sys-
tem sehr hoch ist, dann versuchen die Akteure, wenn sie Anlaß zur Klage über
Leistungsverluste des Systems haben, zunächst das System wieder zu retten. Und
erst wenn sich das schließlich als aussichtslos erweist, gehen sie – manchmal in
der Tat mit der Folge, daß das System als integrierte Einheit zerfällt. Das Gefühl
der Loyalität ist natürlich nichts anderes als der sozialintegrative Mechanismus
der Identifikation in dem Modell von Hirschman.
An diesem Beispiel wird erneut deutlich, daß die Systemintegration gewissen
sozialintegrativen Bedingungen unterliegt: Nutzen schließlich alle Versuche der
Wiederherstellung der ursprünglichen Leistungen nichts mehr, dann verläßt der
Akteur das System – und das zerfällt dann, weil es die Akteure nicht mehr gibt,
die die Relationen ausfüllen, aus denen das soziale System besteht. Und das heißt
dann auch wieder: Die ein System unterstützenden Akte und Werte sind nicht
unabhängig von den Leistungen, die das System den Akteuren bringt, wie vermit-
telt das auch immer geschehen mag. Sozialintegration und Systemintegration be-
dingen, unterstützen und unterminieren sich ggf. gegenseitig.

9
Albert O. Hirschman, Exit, Voice, and Loyalty. Responses to Decline in Firms, Organiza-
tions, and States, Cambridge, Mass., 1970; deutsch: Abwanderung und Widerspruch. Re-
aktionen auf Leistungsabfall bei Unternehmungen, Organisationen und Staaten, Tübingen
1974; vgl. auch schon Kapitel 1 oben in diesem Band, sowie noch Kapitel 8, ebenfalls in
diesem Band, zu dem Modell von Hirschman.
Integration 283

Die Integration funktional differenzierter Gesellschaften:


drei Ansichten

Über die Art, wie sich Gesellschaften integrieren, gibt es in der Soziologie ver-
schiedene Ansichten (vgl. dazu auch noch ausführlich Band 3, „Soziales Han-
deln“, und Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“, sowie Ab-
schnitt 9.2 in diesem Band). Relativ einig ist man sich noch über die vormoder-
nen Gesellschaften: Die sog. segmentär differenzierten Gesellschaften, einfache
Stammesgesellschaften also zum Beispiel, integrieren sich danach so gut wie
ausschließlich über Mechanismen der Sozialintegration, über das Wissen um die
Gruppenzugehörigkeit, über dichte Interaktionen und die damit verbundene „me-
chanische“ Solidarität der Mitglieder. Bei den sog. stratifikatorisch differenzier-
ten Gesellschaften gibt es dagegen schon eine ausgebaute Form der Systeminteg-
ration: die Ausübung von organisatorischer Herrschaft. Jedoch beruht hier der
Zusammenhalt immer auch noch auf deutlichen und in den Alltagsinteraktionen
streng beachteten und stets neu bestätigten, meist religiös untermauerten Orien-
tierungen der Akteure über die Rechtmäßigkeit der gegebenen Ordnung. In mo-
dernen, funktional differenzierten Gesellschaften sei dagegen die Integration
primär auf die Systemintegration umgestellt: Märkte, Organisationen, Interpenet-
ration der Systeme und die Zirkulation der symbolisch generalisierten Medien
beherrschen das Geschehen.
Das ist für die modernen Gesellschaften auch nicht zu bestreiten. Die Ansich-
ten gehen über die Frage auseinander, ob es darüber hinaus überhaupt noch un-
terstützender sozialintegrativer Orientierungen bei den Akteuren bedarf. Oder
etwas anders gefragt: Können Märkte ohne Moral, Organisationen ohne Loyali-
tät, Interpenetration und Medien ohne Zustimmung und ohne kulturell geteiltes
Wissen funktionieren? Und muß es in den arbeitsteiligen, funktional differenzier-
ten Gesellschaften auch noch eine Solidarität geben, etwa die „organische“ Soli-
darität des Wissens um die latenten Verbundenheiten, und eine moralische Ver-
pflichtung, Verträge nicht zu brechen? Die Ansichten lassen sich auf der Achse
von einer rein systemintegrativen Antwort zu einer, die bei aller Systemintegrati-
on immer auch eine inhaltlich bestimmte Sozialintegration für unerläßlich hält,
anordnen.
Die strikt systemintegrative Sicht ist wohl am deutlichsten von Niklas
Luhmann formuliert worden (vgl. dazu auch schon Abschnitt 3.1 in diesem
Band): Die Eigensinnigkeit und die Eigendynamik der funktionalen Differen-
zierung erzeugt ihre eigene Integration immer wieder mit. Die Teilsysteme
sind so in die Maschinerie des funktionalen Austauschs verwickelt, daß es ein
Ausscheren nicht geben kann. Und die Menschen sind dabei nur noch das Ma-
terial des Prozessierens der Funktionssysteme, ihre zwar unerläßliche, aber in
ihren speziellen Befindlichkeiten ganz unerhebliche bio-psychische „Um-
284 Die Konstruktion der Gesellschaft

welt“. Auf der Unverzichtbarkeit einer „moralischen“ Sozialintegration bei al-


ler Systemintegration hat am nachhaltigsten Jürgen Habermas bestanden: Jede
Gesellschaft, auch die funktional differenzierte Gesellschaft, bedürfe eines
Kerns gemeinsamer, „kommunitärer“ sozial-moralischer Orientierungen, und
die müßten beständig neu in den alltäglichen Interaktionen der sog. Lebens-
welten kommunikativ bekräftigt werden.
Zwischen diesen beiden Extremauffassungen gibt es zahllose Zwischenschattierungen, von
denen wir nur eine herausgreifen möchten: das hier einmal so genannte ARD-ZDF-RTL-
Modell, das sich an Ideen des Politologen David Easton anlehnt.10 Es ist eine Art von
Tauschmodell: Das politische System erbringt für die Öffentlichkeit bestimmte Leistungen
und erhält dafür Legitimität und Loyalität als Gegenleistung. Die Öffentlichkeit entwickelt
dabei gewisse Ansprüche, die erfüllt werden müssen, damit der Transfer von Legitimität und
Loyalität weitergeführt wird. Kommt es nun aber zu einer Anspruchs-Realitäts-Diskrepanz
(ARD) und zur Zuschreibung des Fehlbetrags (ZDF) auf das politische System, dann erfolgt
eine Reduktion des Transfers von Legitimität und Loyalität (RTL) von den Akteuren auf das
politische System. Die sozialintegrierenden Orientierungen sind dabei also von systemischen
Leistungen, vom Funktionieren der Märkte und Organisationen, von der gelingenden System-
integration insgesamt also, abhängig – und unterstützen diese dann wiederum durch den
Transfer von Legitimität und Loyalität.

Was soll man davon halten? Auffällig ist bei Habermas schon der etwas roman-
tisch-altmodische Anklang an relativ überschaubare und harmonische Verhält-
nisse und an die Vorstellung, daß es zur Integration der Gesellschaft sozusagen
paralleler moralischer Vorstellungen der Menschen bedarf und daß die Men-
schen die Gesellschaft immer auch als Gemeinschaft im Sinn haben und inten-
dieren müßten. Easton berücksichtigt schon viel deutlicher das, was die Integra-
tion der moderen Gesellschaft ganz besonders ausmacht: den „Tausch“ von Leis-
tungen zwischen den interdependenten funktionalen Sphären, hier die der Politik
und der Öffentlichkeit. Und eine dieser Leistungen ist der Transfer von moralisch
getönter Legitimität und Loyalität gegen die auch merkbare Versorgung mit
wichtigen Ressourcen. Luhmann geht noch einen Schritt weiter. Er schlägt letzt-
lich etwas vor, was man auch als Systemintegration durch den anonymen Markt
bezeichnen könnte: Das „System“ hat sich in seinem arbeitsteiligen autopoieti-
schen Prozessieren ganz von den Akteuren und ihren Orientierungen und Mikro-
beziehungen verselbständigt, und daher bedarf es auch keinerlei „Repräsentati-
on“ der Gesellschaft in den Köpfen der Menschen und keiner Gemeinschaftsvor-
stellung oder inhaltlich bestimmter Legitimität oder Loyalität. Die Integration
wird über eine Legitimation durch formale „Verfahren“, und eben nicht über in-
haltlich bestimmte moralische Werte, besorgt.

10
David Easton, A Systems Analysis of Political Life, New York, London und Sydney
1965. Siehe dazu auch die Zusammenfassung bei Bettina Westle, Politische Legitimität –
Theorien, Konzepte, empirische Befunde, Baden-Baden 1989, Kapitel 2 insbesondere.
Integration 285

Luhmann hat die Auffassung von der Notwendigkeit der moralischen Wert-
integration auch der modernen Gesellschaften manchmal spöttisch als „alteuro-
päisch“ bezeichnet, weil er, wohl zu Recht, etwa gegenüber den Auffassungen
von Habermas, meinte, daß in den modernen, funktional differenzierten Gesell-
schaften eine (soziale) Integration über Werte gar nicht mehr möglich sei, son-
dern sich sozusagen von selbst aus dem eigenständigen Prozessieren der (funkti-
onalen) Systeme ergebe – auch ganz ohne die Unterstützung der Akteure. Natür-
lich geht diese Art der Systemintegration ohne Sozialintegration nicht ohne Ak-
teure. Aber die müssen die Integration der Gesellschaft nicht „wollen“, sondern
besorgen sie als oft genug ganz unintendierten Effekt ihrer Verkettung in die Ma-
schinerie des Prozessierens der Funktionssysteme und als Folge ihres kurzfristig
und kurzsichtig an der gegebenen Situation orientierten Handelns.

Integration und das Problem der sozialen Ordnung

Integration bedeutet, so sei noch einmal zusammengefaßt, den relativ gleichge-


wichtigen Zusammenhalt der Teile eines Ganzen und dessen Abgrenzung gegen
eine unspezifische Umgebung, bei sozialen Systemen durchaus auch gegen die
Absichten und Interessen der sie tragenden Akteure und gegen die gelegentlichen
zentrifugalen Tendenzen der Eigendynamik der Systeme. Die Frage nach ihren
Bedingungen, nach ihrer Entstehung und Stabilisierung ist die allgemeine Frage
nach der sozialen Ordnung. Alle sechs Bände dieser „Speziellen Grundlagen“,
wie schon die „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“ in ihrem ganzen Teil F über
die „Gesellschaft“, haben dieses Problem zum Thema, mal mehr, mal weniger.
Und das ist kein Zufall. Das Problem der sozialen Ordnung und das der Integra-
tion von Gesellschaften sind der zentrale Gegenstand des Nachdenkens über die
Gesellschaft immer gewesen. Es ist die Frage, wie die Gesellschaft als eine Ein-
heit in der Verschiedenheit ihrer Systeme und Akteure möglich ist, einer Ver-
schiedenheit, die sie so spannungsreich und gerade darüber dann so leistungsfä-
hig und damit wieder zusammenhängend macht.

Exkurs über Integration, Assimilation und die sogenannte multi-


kulturelle Gesellschaft

Der Begriff der Integration wird in der Öffentlichkeit nicht erst in letzter Zeit
besonders häufig im Zusammenhang mit der Situation der Ausländer in der
Bundesrepublik diskutiert, etwa bei der Frage, ob die Erleichterung der Ein-
bürgerung die Integration der Ausländer fördere oder nicht oder ob ihre Integ-
286 Die Konstruktion der Gesellschaft

ration nicht die Voraussetzung für die Gewährung der Staatsbürgerschaft sein
müsse. Meist bleibt sehr unklar, was damit gemeint ist. Und dann taucht rasch
auch der Begriff der Assimilation auf, die Vorstellung also, daß sich die Aus-
länder an die Bedingungen des Aufnahmelandes irgendwie schon anpassen
müßten und daß das eine Voraussetzung für ihre Integration wäre. Wir wollen
die oben entwickelte Begrifflichkeit nutzen, um etwas deutlicher zu machen,
worum es geht.

Zwei Bedeutungen

Üblicherweise werden mit dem Begriff der „Integration“ von Migranten und
ethnischen Minderheiten zwei sehr verschiedene Vorstellungen angesprochen:
erstens der Zusammenhalt und das relativ gleichgewichtige Funktionieren ei-
nes gesellschaftlichen Verbandes, wobei zunächst gleichgültig ist, ob es sich
um einen ethnisch homogenen oder ethnisch heterogenen Verband handelt;
und zweitens die Eingliederung der individuellen Mitglieder der ethnischen
Gruppen in die verschiedenen Sphären der Aufnahmegesellschaft, sei es in
der Form der Gewährung von Rechten und der Einnahme von Positionen, sei
es als Aufnahme interethnischer Kontakte und Beziehungen oder die emotio-
nale Identifikation mit dem Aufnahmeland. Die erste Bedeutung korrespon-
diert, wie man sieht, mit dem Konzept der Systemintegration der gesamten
Gesellschaft einschließlich der von ihr umschlossenen ethnischen Gruppen,
die zweite mit dem der Sozialintegration, sei es als Kulturation, als Plazie-
rung, als Interaktion oder als Identifikation.

Typen der Sozialintegration von Migranten und ethnischen Minderheiten

Sehen wir uns zunächst die Sozialintegration an. Die Sozialintegration kann
sich bei fremdethnischen Migranten und anderen ethnischen Minderheiten auf
(mindestens) drei gesellschaftliche „Systeme“ beziehen: das Herkunftsland,
das Aufnahmeland und die ethnische Gemeinde im Aufnahmeland. Da sich
die soziale Integration eines Akteurs zunächst nur auf irgendeinen gesell-
schaftlichen Kontext beziehen muß, ist die Frage seiner (sozialen) „Integrati-
on“ ganz unabhängig davon, ob das in Bezug auf das Herkunftsland, das Auf-
nahmeland oder die ethnische Gemeinde geschieht. Wenn man die ethnische
Gemeinde und die Herkunftsgesellschaft einerseits sowie die Aufnahmege-
sellschaft andererseits und danach unterscheidet, ob die Akteure darin jeweils
sozial integriert sind oder nicht, lassen sich sofort bestimmte Typen der Sozi-
Integration 287

alintegration von Migranten unterscheiden, wobei hier einstweilen die inhalt-


lichen Dimensionen der Kulturation, der Plazierung, der Interaktion und der
Identifikation, die wir gerade oben in diesem Kapitel noch auseinander gehal-
ten haben, nicht weiter beachtet werden sollen (vgl. Abbildung 6.3).

Sozialintegration in
Aufnahmegesellschaft

ja nein

Mehrfach-
Sozialintegration ja integration Segmentation
in Herkunftsgesell-
schaft/ethnische
Gemeinde nein Assimilation Marginalität

Abb. 6.3: Typen der (Sozial-)Integration von Migranten

Es ergeben sich so logischerweise vier Typen der Sozialintegration von


Migranten: erstens die hier so genannte Mehrfachintegration als die Sozialin-
te-gration eines Akteurs in beide Typen von Gesellschaften oder Milieus,
zweitens die ethnische Segmentation als die Sozialintegration in ein binnen-
ethnisches Milieu und die gleichzeitige Exklusion aus den Sphären und den
Milieus der Aufnahmegesellschaft und drittens die Assimilation als die Sozial-
integration in die Aufnahmegesellschaft unter Aufgabe der Sozialintegration
in die ethnischen Bezüge. Der vierte Typ ist schließlich die Marginalität als
der sozialintegrative Ausschluß aus allen Bereichen. Das ist der für die Migra-
tionssituation gerade der ersten Generation oft so typische Fall. Es ist die
nicht-vollzogene Sozialintegration von Akteuren in irgendwelche gesell-
schaftliche Zusammenhänge: Die alte Heimat ist verlassen und eine neue gibt
es (noch) nicht. Und entsprechend den genannten vier Dimensionen der Sozi-
alintegration kann es eine solche Marginalität in Bezug auf Kulturation, Pla-
zierung, Interaktion und Identifikation geben, beispielsweise derart, daß keine
Sprache richtig beherrscht wird, nirgendwo eine akzeptable Position besetzt
wird, keine sozialen Beziehungen unterhalten werden und man sich mit keiner
Gesellschaft identifiziert. Der marginale Akteur ist ein ausgestoßener, einsa-
mer und heimatloser Fremder, wohin auch immer er geht.
288 Die Konstruktion der Gesellschaft

Assimilation

Wie wäre dann aber eine „Integration“ der Migranten in die Aufnahmegesell-
schaft möglich? Es gibt nach dem Diagramm nur zwei Varianten: die Mehr-
fachintegration und die Assimilation. Die Mehrfachintegration ist ein logisch
zwar möglicher, faktisch jedoch kaum wahrscheinlicher Fall. Sie erfordert ein
Ausmaß an Lernaktivitäten und Gelegenheiten dazu, das den meisten Men-
schen verschlossen ist – und das erst recht bei den üblichen (Arbeits-)
Migranten. Dieser Typ der „multikulturellen“ Sozialintegration käme allen-
falls für Diplomatenkinder oder für Akademiker in Frage, in deren Familien
sich etwa die Eltern mit ihren Kindern in beiden Sprachen unterhalten. Und er
ist empirisch in der Tat außerordentlich selten. In den meisten Fällen gibt es
ein Übergewicht der (Sozial-)Integration der Migranten in den einen oder den
anderen Kontext. Die Sozialintegration in die Aufnahmegesellschaft ist also,
wie man dann sofort sieht, eigentlich nur in der Form der Assimilation mög-
lich: die Akkulturation an die Aufnahmegesellschaft in Hinsicht auf Wissen
und Kompetenzen, die Plazierung und Inklusion in die funktionalen Sphären
der Aufnahmegesellschaft, die Aufnahme von interethnischen Kontakten, so-
zialen Beziehungen und Tauschakten mit den Einheimischen und die emotio-
nale Unterstützung nicht der Herkunfts-, sondern der Aufnahmegesellschaft.

Assimilation und Ungleichheit

Zum Begriff der Assimilation sind noch einige Präzisierungen nötig. Unter
Assimilation wird zunächst – ganz allgemein – die „Angleichung“ der ver-
schiedenen Gruppen in bestimmten Eigenschaften verstanden, etwa im
Sprachverhalten oder in der Einnahme beruflicher Positionen. Dabei ist immer
von einer Angleichung in gewissen Verteilungen der verschiedenen Gruppen
auszugehen, weil ja auch die einheimische Bevölkerung nicht homogen ist.
„Assimilation“ auf dem Arbeitsmarkt läge dann etwa vor, wenn die verschie-
denen Gruppen das gleiche Muster der Inklusion aufwiesen und folglich alle
die gleichen Anteile etwa an der Verteilung auf die Branchen der Wirtschaft
hätten. Das heißt: Es kann selbstverständlich soziale Ungleichheiten auch bei
Assimilation geben, aber diese Ungleichheiten dürfen sich zwischen den eth-
nischen Gruppen nicht unterscheiden.
Integration 289

Vier Dimensionen

Üblicherweise werden vier inhaltliche Dimensionen der Assimilation ausein-


ander gehalten: die kulturelle Assimilation der Angleichung im Wissen und in
den Fertigkeiten, etwa die der Sprache; die strukturelle Assimilation der Be-
setzung von Positionen in den verschiedenen Funktionssystemen, etwa im
Bildungsbereich und vor allem auf dem Arbeitsmarkt; die soziale Assimilati-
on als die Angleichung in der sozialen Akzeptanz und in den Beziehungsmus-
tern, etwa im Heiratsverhalten; und die emotionale Assimilation, die Anglei-
chung in der gefühlsmäßigen Identifikation mit der Aufnahmegesellschaft.
Das entspricht, wie man sieht, den vier inhaltlichen Dimensionen der Sozial-
integration, die wir oben unterschieden haben: Kulturation, Plazierung, Inter-
aktion und Identifikation.

Assimilation und „Anpassung“

Die enge Beziehung zwischen der Sozialintegration in die Aufnahmegesell-


schaft und der Assimilation an die Verhältnisse dort ist eine Selbstverständ-
lichkeit, von der die frühere Migrationssoziologie stets ausgegangen ist. Sie
ist angesichts von Vorstellungen der Möglichkeit „multikultureller“ Gesell-
schaften etwas in Vergessenheit geraten, gelegentlich wird sie sogar verpönt.
Aber es ist unabweisbar: Die Sozialintegration etwa nur in die ethnische Ge-
meinde, die Beibehaltung der Sozialintegration in das Herkunftsland oder gar
die Marginalisierung der Personen und Gruppen zwischen allen Stühlen kann
mit der sozialen „Integration“ der Migranten ja sicher nicht gemeint sein. Da-
her kann man die vollzogene Sozialintegration von Migranten in die Aufnah-
megesellschaft realistischerweise, bis auf die wenigen Ausnahmen von Dip-
lomaten, Akademikern oder sonstigen Kosmopoliten, wohl kaum anders denn
als „Assimilation“ verstehen. Assimilation bedeutet dabei von ihrem Konzept
her, wie wir gesehen haben, ja auch keineswegs die einseitige „Anpassung“
an die Aufnahmegesellschaft. Die nötige „Angleichung“ kann auch dadurch
erfolgen, daß alle Teile der Bevölkerung sich derart verändern, daß die Vertei-
lungen der verschiedenen Merkmale über die verschiedenen Gruppen hinweg
gleich sind. Empirisch wird indessen auch beobachtet, daß solche allseitigen
Angleichungen nur selten sind, und wenn sie geschehen, dann in eher periphe-
ren Bereichen, wie bei den Eßgewohnheiten oder beim Freizeitverhalten. Die
für die „Inklusion“ in die Gesellschaft wichtigen Eigenschaften bleiben als
Bezug der „Angleichung“ nahezu unverändert, wie etwa die Beherrschnung
der Sprache oder die kulturellen Kompetenzen.
290 Die Konstruktion der Gesellschaft

Ethnische Differenzierung

Neben der Frage nach der sozialen Integration der Migranten, nach deren
(Ak-)Kulturation, Plazierung, Interaktion und Identifikation also, stellt sich
natürlich sofort auch die nach der Systemintegration der gesamten Gesell-
schaft. Diese Frage stellt sich speziell in der Hinsicht, ob die Systemintegrati-
on einer Aufnahmegesellschaft auch ohne eine assimilative Sozialintegration
der Migranten und ethnischen Minderheiten in diese Gesellschaft, und das
heißt: bei ethnischer Differenzierung der betreffenden Gesellschaft, auch nur
denkbar ist. Beide Konzepte – die (System-)Integration der Aufnahmegesell-
schaft und die (sozialintegrative) Assimilation der Akteure und Gruppen bzw.
das der ethnischen Differenzierung und die mit ihnen verbundenen Prozesse –
sind dabei zunächst logisch jedenfalls voneinander unabhängig.
Eine Systemintegration der ganzen Gesellschaft mit ihren Untergruppen
allgemein läge danach dann vor, wenn sich die verschiedenen Gruppen, Ein-
heimische untereinander und Ausländer der unterschiedlichen Herkunftslän-
der und Kulturen, in gleichgewichtigen, relativ spannungsfreien, wenngleich
nicht unbedingt „harmonischen“, Relationen zueinander befinden, worauf die-
se Beziehungen auch immer beruhen.
Bei der Systemintegration unter Einschluß von Migranten und anderen fremdkulturellen
Gruppen sind das vor allem Beziehungen über die verschiedenen Märkte, die Waren- und die
Arbeitsmärkte vor allem, die Orientierung an symbolisch generalisierten Medien, insbesonde-
re die Systemintegration über das Medium des Geldes oder über die Ausübung staatlicher
Herrschaft, etwa über die Gewährung von einigen Mindestrechten (und -pflichten), wie das
Recht zum Aufenthalt und die Pflicht, Steuern zu zahlen. Zu dieser Systemintegration wird
also nicht die Loyalität zum Aufnahmeland verlangt, und auch nicht unmittelbar irgendeine
kulturelle Gemeinsamkeit oder die Aufnahme interethnischer Kontakte. Arbeiten und Steuern
zahlen kann auch jeder, der die Sprache des Aufnahmelandes nicht versteht, nur unter Lands-
leuten in der ethnischen Gemeinde verkehrt oder emotional noch in der Türkei oder in Ma-
rokko lebt.

Damit wird aber vollends deutlich, daß die Systemintegration der Aufnahme-
gesellschaft mit der einer assimilativen Sozialintegration der Migranten und
ethnischen Gruppen nicht zwingend und mindestens nicht in jeder inhaltlichen
Hinsicht verbunden ist. Integration und Assimilation bzw. ethnische Differen-
zierung sind demnach begrifflich und logisch voneinander unabhängig, wenn-
gleich, wie wir noch sehen werden, keineswegs auch empirisch. Aus den bei-
den Dimensionen der Systemintegration einerseits und der Assimilation bzw.
der ethnischen Differenzierung andererseits ergibt sich nun eine einfache Ty-
pologie von Gesellschaften mit unterschiedlichen strukturellen Eigenschaften
(vgl. Abbildung 6.4):
Integration 291

(System-)Integration
ja nein

ehnisch homogene Klassen- oder


ja und integrierte regionale Konflikte
Gesellschaft im ethnisch
homogenen Milieu

(z.B. Italien, Portugal, (z.B. England im


Griechenland, BRD 19. Jhdt.,
vor 1967) amerikanischer
Bürgerkrieg,
Assimilation Frankreich, Spanien,
Großbritannien, BRD
nach der Wende)

nein multiethnische ethnische oder


Gesellschaft religiöse Konflikte
(z.B. Schweiz, USA, (z.B. Nordirland,
Südafrika heute, Südafrika früher,
Indien, BRD nach Jugoslawien, Ruanda-
1967) Burundi, GUS)

Abb. 6.4: (System-)Integration, Assimilation und unterschiedliche Typen des Verhältnisses


von Migranten und ethnischen Minderheiten

Die linke Spalte beschreibt (system-)integrierte Gesellschaften. Sie „funktio-


nieren“ relativ reibungslos und es gibt keine größeren oder systematischen
Konflikte zwischen den verschiedenen Gruppen. Im Alltag mag es durchaus
Spannungen und Konflikte geben. Aber die sind vorübergehend und finden in
wechselnden Konstellationen statt. Eine ausdrückliche Unterstützung des „Sy-
stems“ der Gesellschaft in Form einer auch expressiven Loyalität durch die
Akteure ist nicht notwendig, es reicht die „Hinnahme“. Dennoch halten die
Gesellschaften zusammen, insbesondere über die ökonomischen und poli-
tischen Interdependenzen und über das systemintegrative Wirken der ver-
schiedenen Märkte. Die rechte Spalte der Typologie gibt dagegen den Fall des
dau-
292 Die Konstruktion der Gesellschaft

erhaften und offenen Zwischengruppenkonfliktes wieder. Der Hintergrund


sind meist latente Interessenkonflikte über die grundlegende „Verfassung“ der
jeweiligen Gesellschaft.
Die Systemintegration einer Gesellschaft ist, wie ihr Gegenteil, der syste-
matische Zwischengruppenkonflikt innerhalb einer Gesellschaft, nun entwe-
der im ethnisch homogenen oder ethnisch heterogenen Milieu denkbar. Die
Bundesrepublik Deutschland war nach dem 2. Weltkrieg bis etwa 1967 ein
Beispielsfall für eine systemintegrierte ethnisch homogene Gesellschaft, eben-
so wie etwa, grosso modo wenigstens, Italien, Portugal oder Spanien. Nach
1967 setzte in der BRD die erste große Welle der Arbeitsmigration mit der
Folge einer ethnischen Differenzierung der weiterhin durchaus systeminteg-
rierten BRD ein. Andere Fälle ethnisch heterogener und (system-)integrierter
Gesellschaften sind die Schweiz, die USA, das jetzige Südafrika und auch In-
dien mit seinem Kastensystem, das ja die (mindestens: deferente) Unterstüt-
zung aller Kasten findet. Der Fall der systemintegrierten ethnisch heterogenen
Gesellschaft ohne Assimilation der verschiedenen Gruppen sei dann als multi-
ethnische Gesellschaft bezeichnet. Wegen ihrer Bedeutung für die weitere
Argumentation haben wir sie auch im Diagramm herausgehoben.
Nun zur fehlenden Systemintegration. Die sog. Klassenkonflikte sind das
wohl wichtigste Beispiel für systematische Konflikte und das Fehlen einer Sy-
stemintegration im ethnisch homogenen Milieu. Es gehören jedoch auch die
neuerdings wieder zunehmenden Regionalkonflikte dazu, wie etwa auch der
zwischen Ost- und Westdeutschland nach der sog. Wende oder die Regio-
nalkonflikte in Frankreich, Spanien oder Großbritannien. Ethnische (und
religiöse) Konflikte, wie sie etwa in Nordirland, früher in Südafrika, jetzt
wieder in Jugoslawien oder in Ruanda-Burundi oder zwischen Rußland und
Tschetschenien stattfanden oder stattfinden, beschreiben die Kombination von
fehlender Systemintegration und ethnischer Differenzierung einer
Gesellschaft.

Die multiethnische Gesellschaft

Wenn man systematische und dauerhafte Konflikte zwischen den verschiede-


nen Gruppen einer Gesellschaft ausschließen will, kommt für ein, auch poli-
tisch vertretbares, Konzept der Entwicklung der Beziehungen zwischen Mi-
granten und Einheimischen wohl nur die Systemintegration in Frage. Und
dann stellt sich die Frage, ob dies unter ethnische Heterogenität oder Homo-
genität geschehen soll oder wird. Es ist die Frage nach einer Integrationspoli-
tik, die entweder am Konzept der Assimilation oder an dem einer multiethni-
schen Gesellschaft orientiert ist. In den „klassischen“ Einwanderungsländern,
Integration 293

wie die USA, Australien oder Israel, zunächst auch Kanada, war lange Zeit
das Assimilationskonzept selbstverständlich, und Vorstellungen eines multi-
kulturellen Nebeneinanders der Gruppen waren allenfalls als Übergangssta-
dien gedacht. Die Konzeptualisierung der Gestaltung der interethnischen Be-
ziehungen im Zuge von Migrationen hat sich inzwischen vielerorts, wenn-
gleich nicht überall, geändert. In vielen Ländern wird, angesichts der anschei-
nend festen Etablierung nennenswerter Anteile fremdethnischer und anders-
sprachiger Minderheiten, mittlerweile vom Konzept der multiethnischen Ge-
sellschaft ausgegangen, und diese Vorstellung wird auch offiziell politisch
und teilweise wirtschaftlich unterstützt. Die multiethnische oder multikultu-
relle Gesellschaft als friedliches Nebeneinander der ethnischen Gruppen ist
eine Vorstellung, die, so scheint es, sowohl den Interessen der Migranten ent-
gegenkommt wie auch, wie es heißt, zu einer kulturellen Bereicherung der
Aufnahmegesellschaft ohne nennenswerte negative Folgen führe – zumal es in
diesem Rahmen jedem freisteht, auch den oft mühsamen Weg der „Assimila-
tion“ dennoch zu gehen.

Ethnische Schichtung

Nicht ohne Grund also genießt das Konzept der multiethnischen Gesellschaft
eine gewisse Attraktivität. Aber ist es ganz ohne Probleme oder auch nur rea-
listisch?
Das Assimilationskonzept jedenfalls ist nach wie vor durchaus keine unrealistische oder den
Migranten irgendwie als Zumutung aufgezwungene Vorstellung. Empirisch sehen die Prozes-
se der (Sozial-)Integration der Migranten, für viele Vertreter eines Konzeptes der multiethni-
schen Gesellschaft wohl überraschenderweise und entgegen auch manchem aktuellen Augen-
schein, immer noch sogar eher so aus, wie das der alte amerikanische Traum vom melting pot
vorsah: Nach einigen Generationen „assimilieren“ sich die Gruppen, wenngleich unterschied-
lich rasch und unterschiedlich nachhaltig, fast allesamt.11 Der Augenschein der nachhaltigen
ethnischen Differenzierung der westlichen Einwanderungsländer hat offenbar weniger damit
zu tun, daß es keine Assimilation (mehr) gäbe oder daß eine nachhaltige ethnische Differen-
zierung der jeweiligen Nationalstaaten begonnen hätte, als damit, daß im Zuge der weltweiten
Mobilisierung immer neue Gruppen als Erstgeneration mit dem mitunter durchaus langen
Prozeß der assimilativen „Inklusion“ in die Aufnahmegesellschaft beginnen. Und der Prozeß
der assimilativen Eingliederung hat auch in den klassischen Einwanderungsländern drei bis
vier Generationen und damit durchaus recht lange Zeiträume beansprucht.

11
Vgl. dazu auch die neuesten Ergebnisse zur Situation in den USA bei Richard Alba, Im-
migration and the American Realities of Assimilation and Multiculturalism, in: Sociologi-
cal Forum, 14, 1999, S. 3-25.
294 Die Konstruktion der Gesellschaft

Das Hauptproblem mit dem Konzept der multiethnischen Gesellschaft ist die
bisher nicht weiter betrachtete dritte Dimension der gesellschaftlichen Struk-
turierung interethnischer Beziehungen: das Vorliegen systematischer vertika-
ler sozialer Ungleichheiten zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen
oder deren Gleichheit in sozialstruktureller Hinsicht, etwa nach der durch-
schnittlichen Bildung, den ausgeübten Berufen, dem Einkommen, der Beteili-
gung an öffentlichen Angelegenheiten, insbesondere auch in Hinsicht auf die
politische Partizipation und Repräsentation, oder aber die systematische
Gleichheit aller Gruppen untereinander. Damit ist nicht der Aspekt gemeint,
ob es in der betreffenden Gesellschaft überhaupt vertikale soziale Ungleich-
heit gebe oder nicht; vertikale soziale Ungleichheiten gibt es in jeder Gesell-
schaft. Mit „Gleichheit“ ist vielmehr gemeint, daß sich die jeweils vorliegen-
den vertikalen sozialen Ungleichheiten schließlich auf die Individuen bezie-
hen und daß daher die verschiedenen (ethnischen) Gruppen in Bezug auf die
o.a. Indikatoren der vertikalen sozialen Ungleichheit grosso modo ähnlich
sind.
Im Fall der Assimilation aber ist diese Gleichheit der ethnischen Gruppen
in der sozialstrukturellen Hierarchie sozusagen vom Begriff her schon vorge-
sehen. Es ist die strukturelle Assimilation der Akteure als ihre ähnliche Ver-
teilung auf den o.a. Variablen der vertikalen sozialen Ungleichheit. Hier kann
es zwar durchaus soziale Ungleichheiten geben, diese kovariieren aber nicht
systematisch mit irgendwelchen ethnischen oder kulturellen Eigenschaften
oder Gruppenzugehörigkeiten. Wir müssen bei der Konstellation der system-
integrierten Gesellschaften und der Unterscheidung nach ethnischer
Homogenität und ethnischer Heterogenität also noch danach unterscheiden,
ob es nach gesellschaftlichen Gruppen systematische vertikale soziale
Ungleichheiten gibt oder nicht. Daraus ergibt sich das folgende Diagramm
(Abbildung 6.5):
Für das ethnisch homogene Milieu einer Gesellschaft bezeichnet die Unterscheidung nach
Gleichheit oder Ungleichheit zwischen den Gruppen zwei geläufige Fälle: im einen Fall die
Existenz von sozialen Schichten, Klassen oder gar Ständen, wobei nicht verkannt werden
darf, daß mit Schichten, Klassen und Ständen stets auch kulturelle Unterschiede einhergehen,
jedoch keine, die irgendwie „ethnisch“ definiert wären. Der andere Fall beschreibt die Auflö-
sung der Gruppenunterschiede, der „Klassen“ und der „Stände“ im ethnisch homogenen Mi-
lieu, wie sie unter der Etikettierung der „Individualisierung“ der modernen Gesellschaften
populär gemacht wurde. Damit geht auch die Angleichung der Akteure und der immer noch
bestehenden Gruppen in Hinsicht auf die mit den Klassen und Ständen gegebenen kulturellen
Unterschiede einher. Die Individualisierung als Auflösung der Klassen und der Stände ist
stets auch eine Pluralisierung von Lebensweisen und Lebensstilen im anonsten ethnisch ho-
mogenen Milieu.
Integration 295

vertikale soziale Ungleichheit

ja nein

Soziale Ungleichheit Soziale Gleichheit im


im ethnisch ethnisch homogenen
ja homogenen Milieu Milieu
(„Klassen“, „Stände“,
„Schichten“) („Individualisierung“)
Assimilation
ethnische
nein Ethnische Schichtung Pluralisierung
(„ethclasses“) („multikulturelle
Gesellschaft“)

Abb. 6.5: Assimilation und vertikale soziale Ungleichheit

Die untere Zeile des Diagramms zeigt dann zwei Fälle der ethnischen Diffe-
renzierung einer Gesellschaft und damit eine Differenzierung des Begriffs der
multiethnischen Gesellschaft. Rechts unten steht die wohl mit dem Begriff der
„multikulturellen Gesellschaft“ immer gemeinte Vorstellung: das gleichbe-
rechtigte Nebeneinander ethnisch, religiös und kulturell ganz unterschiedli-
cher und als eigene „Lebenswelten“ etablierter Gruppen – bei gleicher Teil-
habe an den gesellschaftlichen Ressourcen. Und links unten finden wir die
Konstellation der ethnischen Schichtung: die systematische Kovariation von
ethnischen Gruppen mit typischen Positionen im System der vertikalen sozia-
len Ungleichheit. Milton Gordon hat dafür vor langer Zeit einmal den treffen-
den Ausdruck der „ethclasses“ geprägt.12
Ethnische Schichtungen sind demnach gesellschaftliche Systeme der systematischen Über-
und Unterordnung ethnischer Gruppen in einer ethnisch differenzierten Gesellschaft.13 Es gibt
mildere und schärfere Formen der ethnischen Schichtung. Bei den milderen Formen bezieht
sich die Hierarchie immer nur auf ein bestimmtes Merkmal, die Einordnung der Personen ist
nicht exklusiv in dem Sinne, daß die Zugehörigkeit zu der Gruppe auch abgelegt werden

12
Milton M. Gordon, Assimilation in American Life. The Role of Race, Religion, and Nati-
onal Origins, New York 1964, S. 52.
13
Vgl. dazu: Hartmut Esser, Aspekte der Wanderungssoziologie. Assimilation und Integra-
tion von Wanderern, ethnischen Gruppen und Minderheiten. Eine handlungstheoretische
Analyse, Darmstadt und Neuwied 1980, S 121ff.; Hartmut Esser, Die multi-kulturelle Ge-
sellschaft. Ethnische Konflikte, in: Funkkolleg Humanökologie. Studienbrief 3, Weinheim
und Basel 1991, S. 29ff.
296 Die Konstruktion der Gesellschaft

kann, und die Ordnung ist nicht institutionalisiert. Bei den schärferen Formen bezieht sich die
Ordnung auf mehrere, im Extremfall auf alle Merkmale der Personen, die Zugehörigkeit kann
nicht abgelegt werden und es gelten auch formell sanktionierte institutionelle Regeln sowie
eine gesellschaftlich verbreitete Legitimation, zumindest bei den dominanten Gruppen. Oft
geht diese vertikale Anordnung mit einer gesellschaftlichen Funktionenteilung einher: Die
verschiedenen ethnischen Gruppen übernehmen typische berufliche Tätigkeiten und gesell-
schaftliche Funktionen, wobei eine ethnische Gruppe oft auch die politische, militärische,
geistliche, intellektuelle und wirtschaftliche Elite gleichzeitig bildet. Es ist das Strukturie-
rungsprinzip der sog. stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften, bei denen typisch um-
rissene Gruppen der Bevölkerung typische gesellschaftliche Funktionen innehaben und in ty-
pischer Weise vertikal angeordnet sind. Für ethnisch homogene Verhältnisse waren die mit-
teleuropäischen Feudalsysteme derart strukturiert. Die Kastensysteme sind ein Fall der „feu-
dalen“ ethnischen Stratifikation, wobei, wie bei den Feudalsystemen geläufig, eine
übergreifende, auch stark religiös verankerte Legitimation dieses Systems gilt – auch bei den
unteren „Kasten“. Insofern kann die Entstehung ethnischer Schichtungen in der Folge von
(Arbeits-)Migrationen in den modernen Gesellschaften als eine Art von Kastenbildung und
von Re-Feudalisierung durch systematische Unterschichtung der einheimischen Bevölkerung
verstanden werden. Weil jedoch dabei jede irgendwie geartete Legitimation fehlt, sollte
besser von Quasi-Kasten und von Quasi-Feudalismus gesprochen werden.

Bei der Beurteilung der beiden theoretisch ohne weiteres denkbaren Varianten
„ethnische Differenzierung vs. Assimilation“ als Konzept für die interethni-
schen Beziehungen in systemintegrierten Gesellschaften muß nun eine wich-
tige empirische Besonderheit beachtet werden: Alle dauerhaft ethnisch
differenzierten Gesellschaften sind, mehr oder weniger ausgeprägte, ethnische
Schichtungen. Es gibt praktisch keine ethnisch differenzierte Gesellschaft, die
nicht gleichzeitig eine ethnisch geschichtete Gesellschaft wäre.
Indien ist mit seinem nach ethnischen Gruppen aufgeteilten Kastensystem das wohl prägnan-
teste Beispiel dafür, die USA sind, mindestens in Hinsicht auf die Farbigen, ebenfalls nicht
ohne. Aber selbst in der Schweiz oder in Kanada ist das „Nebeneinander“ der ethnischen
Gruppen ein „Übereinander“, von den Verhältnissen der Migrantengruppen etwa in Frank-
reich, Großbritannien, Belgien, den Niederlanden und der Bundesrepublik ganz zu schwei-
gen. Und es sieht so aus, als ließe sich die Etablierung ethnischer Schichtungen nicht vermei-
den – wenn es nicht zur Assimilation der ethnischen Gruppen und damit zur Auflösung der
ethnischen Differenzierungen in der Aufnahmegesellschaft kommt (siehe dazu auch noch
gleich unten).

Die multiethnische Gesellschaft in der Form einer „multikulturellen Gesell-


schaft“ als dauerhaftes gleichberechtigtes Nebeneinander ethnischer Gruppen
in einer (system-)integrierten Gesellschaft ist allem Anschein nach also nichts
als ein schöner Traum, an dem auch alle Bemühungen um eine Durchsetzung
des „Multikulturalismus“ kaum etwas ändern werden.
Integration 297

Die Entstehung und Etablierung ethnischer Schichtungen

Die empirischen Beobachtungen, daß ethnische Differenzierungen so gut wie


immer in der Form ethnischer Schichtungen vorkommen oder rasch dahin mu-
tieren, lassen sich theoretisch unschwer erklären. Eigentlich ist kaum etwas
anderes zu erwarten. Wir wollen einige strukturelle Hintergründe und einige
Prozesse der Entstehung ethnischer Schichtungen, die dafür sorgen, daß ethni-
sche Differenzierungen fast immer gleich zu ethnischen Schichtungen mutie-
ren, kurz skizzieren.

Strukturelle Hintergründe

Ethnische Schichtungen haben stets „objektive“ bzw. strukturelle Hintergrün-


de. Es gibt sie nicht nur als Folge von Migrationen. Die auch symbolisch her-
vorgehobene „Ethnisierung“ der Gruppen ist eine kulturell gesteuerte und so-
zial definierte Folge insbesondere von ökonomischen und politischen Benach-
teiligungen oder Bevorzugungen. Es lassen sich im Wesentlichen zwei struk-
turelle Hintergründe der Entstehung und Verfestigung ethnischer Schichtun-
gen benennen: regionale Disparitäten und Differenzierungen des Arbeitsmark-
tes. Bei den regionalen Disparitäten handelt es sich um systematische Be-
nachteiligungen bestimmter Regionen eines Landes, sei es aus einem unter-
schiedlichen Tempo der internen Entwicklung, sei es als Folge einer politi-
schen Benachteiligung der Region gegenüber dem Zentrum des Landes.
Regionale Disparitäten sind vor allem in der Folge der Entkolonialisierung und der Bildung
neuer Nationalstaaten, insbesondere in der sog. Dritten Welt, aber auch früher in Europa, ent-
standen und haben teilweise zur Entstehung eines Systems geschichteter Sub-Nationen ge-
führt. Es gibt sie aber auch in der Form eines Systems des „internen Kolonialismus“ und der
„kulturellen Arbeitsteilung“ zwischen den Regionen, bei dem ein ausgeprägtes politisches,
administratives und wirtschaftliches Zentrum die peripheren Regionen dominiert und sogar
ausbeutet. Es gibt solche Varianten regionaler ethnischer Schichtungen in Großbritannien,
Frankreich und, insbesondere auch im heutigen Rußland im Anschluß an die Verhältnisse in
der ehemaligen Sowjetunion.

Unter der Differenzierung des Arbeitsmarktes wird die systematische Vertei-


lung bestimmter Gruppen auf bestimmte Branchen und die Einteilung in un-
terschiedliche Lohngruppen (bei gleicher Tätigkeit) verstanden. Es gibt solche
Differenzierungen nach Geschlecht, nach Alter, aber auch nach ethnischen
Kriterien. Bei den ethnischen Differenzierungen des Arbeitsmarktes sind wie-
derum zwei Fälle zu unterscheiden: die Spaltung und die Segmentation von
Arbeitsmärkten.
298 Die Konstruktion der Gesellschaft

Von der Spaltung eines Arbeitsmarktes ist dann die Rede, wenn es bei den Arbeitnehmern
Unterschiede in der Entlohnung der gleichen Tätigkeit, beispielsweise in Form von
Leichtlohngruppen, gibt. Eine ethnische Spaltung liegt dann vor, wenn die Aufteilung in
„Normal“-Arbeitsverhältnisse und Leichtlohngruppen systematisch nach ethnischer
Zugehörigkeit geschieht. Das aber tritt, in nicht zu stark reglementierten Arbeitsmärkten,
häufig als Folge von Immigrationen auf, bei denen die Einwanderer bereitwillig zunächst
auch erkennbar schlechter bezahlte Arbeitsverträge akzeptieren. Eine Segmentation des
Arbeitsmarktes gibt es, wenn sich die ethnischen Gruppen systematisch auf bestimmte
Branchen und Tätigkeiten verteilen. Bei Migranten und anderen ethnischen Minderheiten
geschieht dies oft unintendiert durch die Besetzung bestimmter, von den Einheimischen bzw.
der dominanten Bevölkerung nicht (mehr) besetzten ökonomischen Nischen, beispielsweise
in Form von Kleingewerbe, durch die Immigranten, dann teilweise auch für die speziellen
Nachfragen der Migrantenbevölkerung selbst.

Dauerhafte regionale Disparitäten und Differenzierungen des Arbeitsmarktes


sind eine wichtige Ursache nicht nur der Entstehung ethnischer Schichtungen,
sondern damit zusammenhängend auch von ethnischen Konflikten (siehe dazu
auch noch unten mehr). Sie sind, sozusagen, die „Basis“ eines objektiven ge-
meinsamen Schicksals, auf der sich die Stilisierung ethnischer, kultureller und
religiöser Unterschiede als schließlich sich auch verselbständigender und ra-
dikalisierender „Überbau“ erheben kann.

Mechanismen und Prozesse

Ethnische Differenzierungen und ethnische Schichtungen sind keine irgend-


wie „stabilen“ Strukturen, sondern werden durch alltägliche Handlungen und
Interaktionen im Alltag immer wieder neu „konstituiert“. In einer groben Ein-
teilung lassen sich zwei Mechanismen und Prozesse der Konstitution ethni-
scher Schichtungen benennen, die im Einzelfall auch zusammenspielen und
sich wechselseitig verstärken können: soziale Distanzierungen der Gruppen
untereinander und ihre Segmentation voneinander. Soziale Distanzierungen
sind Prozesse der externen Grenzziehung. Es gibt sie in der Form distanzie-
render Einstellungen, als „Vorurteile“, und als diskriminierende Handlungen
(vgl. dazu auch noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundla-
gen“).
Vorurteile sind dabei als mit anderen Einstellungen abgestimmte und in Konsonanz befindli-
che „belief systems“ anzusehen, die von den Akteuren in ihren jeweiligen Lebenswelten und
primären Bezugsgruppen geteilt und durch Interaktionen immer wieder neu bekräftigt wer-
den. Deshalb allein sind sie durch externe „Aufklärung“ und Kampagnen der Toleranz kaum
zu beeinflussen, zumal dann nicht, wenn sie ein fester Bestandteil der jeweiligen alltäglichen
Lebensweise sind. Es hat sich, damit gut übereinstimmend, außerdem gezeigt, daß Vorurteile
auch durch Kontakte zwischen den Gruppen alleine kaum zu ändern sind. Nur wenn es Kon-
takte von Personen mit gleichem Status in für beide Seiten problematischen Situationen gibt
und wenn diese das nachhaltige Erlebnis einer gemeinsamen Problemlösung sind, ändern sich
Integration 299

die (negativen) Stereotype und machen sympathischen Gefühlen Platz. Meist sind diese Sym-
pathien dann jedoch an bestimmte Personen oder spezielle Situationen gebunden, etwa an
Arbeitskollegen und die Situation im Betrieb. Diskriminierungen sind demgegenüber nichtge-
rechtfertigte Ungleichbehandlungen von Personen unterschiedlicher Gruppenzugehörigkeit.
Nicht jede Ungleichbehandlung ist freilich eine Diskriminierung. Stets müssen die Hinter-
gründe mitbedacht werden, etwa der Grad der Schulbildung bei der Vergabe beruflicher Posi-
tionen. Distanzierende Einstellungen und diskriminierende Handlungen müssen keineswegs
miteinander kovariieren. Es ist ein Spezialfall des Problems der weitgehenden Unabhängig-
keit von „Einstellung“ und „Verhalten“. Der Hauptgrund dafür ist, daß Handlungen in der
Regel, zum Teil sehr teure, Konsequenzen mit sich bringen, während das Äußern von Vorur-
teilen in einer Bezugsgruppe meist ohne weitere Folgen bleibt und dort oft sogar erwartet und
belohnt wird. Auf diese Weise wird auch verständlich, daß es durchaus zu Diskriminierungen
kommen kann, selbst wenn die betreffenden Akteure für die jeweiligen Gruppen oder Perso-
nen Sympathien hegen. Dies ist z.B. für den Wohnungsmarkt bekannt, auf dem sich neutrale
Hausbesitzer oft deshalb weigern, Migranten als Mieter zu akzeptieren, weil sie dadurch ei-
nen Verlust des Wohnwertes ihres Hauses bei den Mitmietern befürchten müssen.

Die Segmentation ethnischer Gruppen ist ein Prozeß der „freiwilligen“ Ab-
schließung von der umgebenden Gesellschaft durch den Zusammenschluß
nach innen. Sie gibt es in drei, in den segmentierenden Wirkungen jeweils ge-
steigerten Formen: als räumliche Segregation, als kulturelle Segmentation und
als die Institutionalisierung einer ethnischen Gemeinde. Die räumliche Segre-
gation ist die Konzentration bestimmter ethnischer Gruppen auf bestimmte
Regionen oder Stadtteile, wobei für Migranten insbesondere die innerstädti-
sche Segregation, für ethnische und sub-nationale Minderheiten vor allem die
regionale Konzentration typisch ist.
Die räumliche Segregation in städtischen Quartieren kann natürlich die Folge von Diskrimi-
nierungen, etwa auf dem Wohnungsmarkt, sein. Mindestens ebenso wichtig sind indirekte
Prozesse. Einer davon ist die durch Hintergrundmerkmale erzeugte systematische räumliche
Verteilung, etwa dadurch, daß die Migranten nur bestimmte Mieten zu zahlen in der Lage
sind und sich allein schon über die Einkommensunterschiede zu den Einheimischen auf indi-
rekte Weise auf typische Quartiere mit niedrigen Mieten und schlechter Wohnqualität kon-
zentrieren. Ein zweiter Vorgang ist der sog. Invasions-Sukzessions-Zyklus: Mit dem Einzug
einer ausländischen Familie in ein bestimmtes Haus einer bis dahin rein einheimischen Ge-
gend kann ein auf negativen Distanzierungen beruhender kumulativer Prozeß ausgelöst wer-
den, bei dem im Anschluß daran einheimische Familien ausziehen, deren leerstehende Woh-
nung den Anlaß für den Einzug weiterer ausländischer Familien gibt usw. Allerdings kann es
zu solchen Prozessen der Segregation auch ohne negative Distanzen, sondern schon allein auf
der Grundlage von Vorlieben für eine gewisse Mindestanzahl von Angehörigen der eigenen
Gruppe in einer Nachbarschaft kommen. Thomas C. Schelling hat in einem Modell der Seg-
regationsdynamik gezeigt, daß unter nahezu beliebigen Umständen schon aus minimalen bin-
nenethnischen Präferenzen starke Segregationen entstehen und daß es dazu „negativer“ Ab-
grenzungen nicht bedarf.14

14
Thomas C. Schelling, Dynamic Models of Segregation, in: Journal of Mathematical Soci-
ology, 1, 1971, S. 143-186. Siehe dazu auch noch Band 4, „Opportunitäten und Restrikti-
onen“, dieser „Speziellen Grundlagen“.
300 Die Konstruktion der Gesellschaft

Mit kultureller Segmentation ist das Gegenteil der kulturellen, der sozialen
und emotionalen „Assimilation“ gemeint: Die Migranten verbleiben – bewußt
oder nicht – der Kultur ihrer Herkunftsgesellschaft verhaftet, insbesondere in
bezug auf das Sprachverhalten, die alltäglichen Gewohnheiten und Interaktio-
nen und die emotionale Identifikation. Dazu neigen typischerweise Migranten
der ersten Generation, solche aus unterentwickelten Herkunftsregionen, mit
einem hohen Einreisealter, mit geringer Bildung, geringen beruflichen Quali-
fikationen und mit einer hohen kulturellen Distanz zur Aufnahmegesellschaft.
Das sind allesamt Umstände, die insbesondere eine strukturelle Assimilation
und die Besetzung von Positionen in zentralen Institutionen der Aufnahmege-
sellschaft erschweren. Die Folgen der kulturellen Segmentation sind eine wei-
tere Behinderung der strukturellen Assimilation und das Entstehen einer
wechselseitigen Verstärkung von kultureller und struktureller Segmentation.
Räumliche Segregationen und kulturelle Segmentationen verstärken sich
gegenseitig: Segregationen fördern über die strukturell erzeugte Kontaktdichte
der Akteure kulturelle Segmentationen, und die kulturellen Segmentationen
verstärken wiederum die räumlichen Segregationen. Besonders bei zahlenmä-
ßig großen Gruppen von Migranten wird es auf dieser Grundlage dann auch
wahrscheinlich, daß sich eine mehr oder weniger ausgebaute und vollständige
ethnische Gemeinde (bzw. ethnische Kolonie) institutionalisiert. Der kanadi-
sche Soziologe Raymond Breton spricht in diesem Zusammenhang auch von
der „institutionellen Vollständigkeit“ der ethnischen Gemeinden.15 Oft werden
solche ethnischen Gemeinden oder Kolonien zu ethnischen Sub-
Gesellschaften mit eigenen funktionalen Bereichen und einem eigenen
Schichtungssystem ausgebaut. Zur Aufnahme sozialer Kontakte, zur Abwick-
lung der alltäglichen Angelegenheiten und sogar für einen gewissen sozialen
Aufstieg kann der individuelle Migrant damit gänzlich innerhalb der ethni-
schen Sphäre verbleiben. Im Extremfall entwickelt sich so eine komplette
Segmentation von zwei oder mehr eigenständig bestehenden Gesellschaften
innerhalb eines (National-)Staates, wobei die ethnische Gemeinde als Sub-
Gesellschaft der Immigranten die Gesellschaft der Einheimischen unter-
schichtet und sich auf diese Weise ein System der ethnischen Schichtung e-
tabliert.

15
Raymond Breton, Institutional Completeness of Ethnic Communities and the Personal Re-
lations of Immigrants, in: American Journal of Sociology, 70, 1964, S. 193-205.
Integration 301

Binnenintegration und Mobilitätsfallen

Ethnische Gemeinden entstehen zunächst meist als eine Art von Notgemein-
schaft von Personen mit einem gemeinsamen Schicksal und zur Bewältigung
der gravierendsten Probleme in der Phase des ersten Aufenthalts. Ethnische
Gemeinden und Kolonien haben damit durchaus eine Art von Schutzfunktion
und könnten dadurch auch den weiteren Prozeß der Eingliederung in die Auf-
nahmegesellschaft fördern. Georg Elwert hat diese Funktion als Binneninteg-
ration bezeichnet.16 Nach dieser Konzeption verlassen die Migranten die eth-
nische Gemeinde jedoch, sobald der erste (Kultur-)Schock überwunden ist
und sich assimilative Alternativen der Lebensführung aufgetan haben. Empi-
risch findet dies jedoch kaum statt. Es ist eher so, daß mit der Etablierung ei-
ner ethnischen Gemeinde oder Kolonie die Tendenzen zur kulturellen und
strukturellen Assimilation auch bei solchen Akteuren deutlich absinken, die
alle Voraussetzungen dazu hätten, insbesondere weil der Verbleib in der eth-
nischen Gemeinde einen, wenngleich nicht sonderlich hohen, aber sicheren
„Gewinn“ verspricht, während das Verlassen der ethnischen Gemeinde und
der Versuch einer assimilativen Mobilität mit hohen (subjektiven) Risiken
und einem höchst ungewissen Ausgang verbunden werden.
In diesem Zusammenhang sei noch einmal an das Konzept der Mobilitätsfalle von Norbert F.
Wiley erinnert, mit dem er den „freiwilligen“ Verzicht auf sozialen Aufstieg auch bei
Migranten und ethnischen Minderheiten erklären kann (vgl. dazu auch schon Abschnitt 4.6 in
diesem Band).17 Die Überlegung von Wiley: Ein Mitglied einer ethnischen Gruppe muß sich
entscheiden, ob es einen Aufstieg innerhalb des Schichtungssystems seiner eigenen Gruppe
oder außerhalb der eigenen Gruppe in der dominanten Gesellschaft anstreben soll. Da man
annehmen kann, daß (subjektiv wie objektiv) die Chancen für eine Binnen-Karriere deutlich
höher sind als für den beschwerlichen Weg hinein in die fremde Kultur des Aufnahmelandes,
fällt diese Entscheidung – und mit dem institutionellen Ausbau einer ethnischen Gemeinde
erst recht – in der Regel für die Binnen-Karriere aus. Weil aber die ethnischen Gemeinden
bzw. Kolonien im Vergleich zur dominanten Gesellschaft die wesentlich schlechteren Positi-
onen auch an ihrer Spitze zu vergeben haben, findet sich der Migrant gerade nach einer „er-
folgreichen“ Karriere in seiner ethnischen Gemeinde in einer Position wieder, die deutlich
schlechter ist als die vergleichbare Position in der dominanten Gesellschaft – obwohl er
durchaus einen sozialen „Aufstieg“ vollzogen hat.

Weil die Entscheidung der Akteure nicht auf einem Irrtum beruht, sondern auf
einem u.U. durchaus „rationalen“ Abwägen von Risiken und möglichen Er-

16
Georg Elwert, Probleme der Ausländerintegration. Gesellschaftliche Integration durch
Binnenintegration?, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 34, 1982,
S. 717-731.
17
Norbert F. Wiley, The Ethnic Mobility Trap and Stratification Theory, in: Peter I. Rose
(Hrsg.), The Study of Society. An Integrated Anthology, 2. Aufl., New York und Toronto
1970, S. 397-408.
302 Die Konstruktion der Gesellschaft

trägen, kann von irgendeiner „Diskriminierung“ also nicht gesprochen wer-


den. Es ist eine „freiwillig“ betretene Sackgasse, in die die Akteure sogar mit
sehenden Augen gehen. Für eine Revision der Entscheidung ist es dann je-
doch auch meist zu spät: Bildungs- oder Karriereprozesse benötigen eine ge-
wisse Zeit, und ein Neubeginn ist nur selten möglich. Daher spricht Wiley
auch zutreffend von einer Mobilitätsfalle. Es gibt sie nicht nur im Bereich der
interethnischen Beziehungen und der strukturellen Assimilation von Migran-
ten, sondern überall da, wo es sichere, aber im Ertrag beschränkte, spezielle
Karrieremöglichkeiten gibt gegenüber riskanten, jedoch weit attraktiveren Al-
ternativen.

Segmentation und Stratifikation

Regionale und räumliche Segregationen, Arbeitsmarktspaltungen und Ar-


beitsmarktsegmentationen, kulturelle, soziale und emotionale Segmentationen
und die Ausbildung ethnischer Gemeinden und Kolonien spielen alle selbst-
verstärkend in einer Hinsicht zusammen: Sie erschweren oder verhindern die
strukturelle Assimilation der Migranten. Dieses Zusammenspiel aber hat die
Etablierung fester ethnischer Schichtungssysteme zur Folge, oft wieder ver-
stärkt und sichtbar gemacht durch die räumlichen, kulturellen, sozialen und
emotionalen Segmentationen.
Die gegenseitige Verstärkung kultureller und struktureller Segmentationen ist, nur scheinbar
paradoxerweise, gerade für moderne, funktional stark differenzierte Gesellschaften zu erwar-
ten. Der Grund liegt in der immer stärker werdenden Interdependenz der Funktionssysteme
und der damit zunehmenden Zuspitzung ihrer funktionalen Imperative (siehe dazu auch schon
Kapitel 5 oben in diesem Band). Und weil sich daher die verschiedenen Teilsysteme der mo-
dernen Gesellschaften mit ihrer voranschreitenden funktionalen Ausdifferenzierung immer
weniger funktional diffuse Ungenauigkeiten in der Positionsbesetzung leisten können, wird
der Erwerb der speziellen funktionalen Voraussetzungen zur Plazierung auf den zentralen Po-
sitionen immer dringlicher. Wer hier nur ein wenig zu kurz oder zu spät kommt, den bestra-
fen die Eigengesetzlichkeiten der Systeme nachhaltig, oft genug mit Totalexklusionen und
Marginalisierung, wie Dauerarbeitslosigkeit oder Obdachlosigkeit. Das gilt insbesondere für
die Bildung, die mehr und mehr zu einer nur noch „notwendigen“ und immer weniger zu ei-
ner auch schon „hinreichenden“ Bedingung der Positionsübernahme etwa auf dem Arbeits-
markt wird. Die zentralen institutionellen Positionen sind aber, insbesondere auch im Bil-
dungsbereich, eng mit den kulturellen Vorgaben der Aufnahmegesellschaft verbunden. Das ist
einer der Gründe für die so enorme und offenbar wachsende Bedeutung des sog. kulturellen
Kapitals bei den Plazierungen auf die Positionen in der Aufnahmegesellschaft. Und solange
die zentralen Institutionen der Aufnahmegesellschaften, und dabei erneut der Bildungsbe-
reich, um die nationalen Kulturen herum organisiert sind, ist das zur Plazierung erforderliche
oder hilfreiche kulturelle Kapital stets nur dasjenige der jeweiligen Nationalkultur – und eben
nicht das der ethnischen Gruppe.
Integration 303

Mit dem Verbleiben in ihren ethnischen Nischen kommen die Migranten und
ethnischen Minderheiten gerade also bei voranschreitender funktionaler Diffe-
renzierung der Aufnahmegesellschaften immer unausweichlicher zu spät und
zu kurz. Dieser Mechanismus wirkt um so nachhaltiger und reibungsloser bei
der Etablierung ethnischer Schichtungen, je größer die ethnische Gruppe und
je ausgebauter und daher je selbstgenügsamer jeweils die ethnische Gemeinde
ist. Daher wundert es nicht, daß etwa in der BRD die türkische Bevölkerung
inzwischen eine Art von „Sub“-Nation bildet, durchaus in der wörtlichen Be-
deutung des Präfixes „sub“.

Ethnische Schichtungen und ethnische Konflikte

Ethnische Schichtungen können ohne Zweifel auch einen strukturellen Grund


für Spaltungen und Konflikte zwischen den Gruppen abgeben und damit eine
Gefährdung der (System-)Integration der jeweiligen Gesellschaft bilden: Die
Akteure befinden sich in einer gesellschaftlichen Lage der Benachteiligung
und haben, auch deshalb, ohne weiteres keine besondere Loyalität zur Gesell-
schaft, in der sie leben.18 Gleichwohl geschieht aber meistens nichts: Die Sys-
temintegration vollzieht sich vor dem Hintergrund der besonderen Situation
gerade der untersten „Kasten“ in den geschichteten multiethnischen Gesell-
schaften über die sozialintegrative Form insbesondere der Deferenzintegrati-
on, von der die Wileysche Mobilitätsfalle ja nur ein Spezialfall ist. Die Farbi-
gen in den USA sind das wohl eindringlichste Beispiel dafür. Die wichtigste
Bedingung des Ausbrechens ethnischer Konflikte ist – neben dem Vorliegen
struktureller Spannungen – die Gleichheit der Gruppen. Aber die gibt es ja in
ethnisch geschichteten Gesellschaften gerade nicht. Auf die Apathie der be-
nachteiligten Gruppen kann jedoch nicht unbedingt Verlaß sein. Manchmal
können die über Deferenz abgepufferten Spannungen doch virulent werden,
und das geschieht auch gelegentlich, etwa in den spontanen Rassenkrawallen
oder den verschiedenen fundamentalistischen Bewegungen. Und mit der etwa
politisch geförderten „Emanzipation“ und Gleichheit der Gruppen steigt ja
sogar die Wahrscheinlichkeit des Ausbrechens ethnischer Konflikte. Eine
„wirkliche“ Integration habe, so hört man daher auch, damit zu tun, daß sich
die Migranten und Minderheiten in der Gesellschaft irgendwie auch „hei-
misch“ fühlen und darüber dann eventuell auch wertintegrative, emotional ge-

18
Vgl. dazu die Übersicht über verschiedene ethnische Konflikte in der (vor allem: Dritten)
Welt bei Donald L. Horowitz, Ethnic Groups in Conflict, Berkeley, Los Angeles und Lon-
don 1985.
304 Die Konstruktion der Gesellschaft

tönte Loyalitäten zur Gesellschaft als ganzer entwickeln können. Loyalitäten


sind eine besondere Form der Orientierung und der Bewertung. Sie entstehen
nur, wenn die übrige Situation als belohnend erlebt wird, wenn das der Situa-
tion auch „ursächlich“ zugeschrieben werden kann und wenn es keine bessere
Alternative gibt.

Die Unverzichtbarkeit der strukturellen Assimilation

Damit es zu einer Wertintegration (oder wenigstens zu einer Verkettungsin-


tegration) der ethnischen Gruppen kommen kann, müssen aber, wie wir oben
gesehen haben, auch die Migranten und Angehörigen der ethnischen Minder-
heiten die in der Gesellschaft als zentral bewerteten Ressourcen kontrollieren
können. Und das heißt: Sie müssen auch diejenigen „Plätze“ besetzen, die es
erlauben, die Leiter der vertikalen Ungleichheit nach oben zu klettern. Die
„Integration“ der Migranten und ethnischen Minderheiten bedeutet damit, ne-
ben der bloßen Systemintegration der Gesellschaft insgesamt, stets die „Inklu-
sion“ der Migranten und Minderheiten als Akteure in die Gesellschaft und de-
ren Plazierung auf zentralen Positionen in den funktionalen Sphären. Und das
sind jene Positionen, bei denen es unmittelbar um die primären Zwischengüter
und um die kulturellen Ziele der jeweiligen Kerngesellschaft geht.
Die „Integration“ durch Statuseinnahme geschieht daher zunächst natürlich über die allen
Staatsbürgern zustehenden Rechte, insbesondere die politischen Rechte, hier vor allem das
Wahlrecht und die sozialen Rechte des Wohlfahrtsstaates. Insofern ist die Verleihung der
Staatsbürgerschaft ganz ohne Zweifel ein Schritt zur (sozialen) „Integration“ der Migranten
und ethnischen Minderheiten, und zwar über die Inklusion der Akteure in die besonderen Pri-
vilegien der Staatsbürger. Das ist aber nur die eine Seite. Die politische Inklusion erzeugt
zwar sicher auch einige Tendenzen zur (System-)„Integration“, weil etwa die Wählerstimmen
der Ausländer ein gewisses Gewicht bekommen und die einheimischen politischen Parteien
dies nun berücksichtigen müssen. Sie garantiert aber noch in keiner Weise eine Plazierung
auf den zentralen Positionen der Funktionssysteme. In den funktional differenzierten Ein-
wanderungsgesellschaften der Gegenwart sind das in der Regel ja gehobene berufliche Posi-
tionen, vor allem in der Dienstleistungsklasse. Und um da hineinzukommen, muß – ebenfalls
in der Regel – das Bildungssystem durchlaufen werden, das, wie alle Bildungssysteme, stark
von der Kultur der Kernbereiche der jeweiligen Gesellschaft geprägt und durchdrungen ist.
Und um hier zu bestehen, bedarf es ganz besonders nachhaltiger Anstrengungen – vor allem
auch auf seiten der Migranten selbst!

Damit aber ergibt sich eine systematische Verbindung zwischen der Inklusion
als Plazierung in die Kernbereiche Aufnahmegesellschaft und den anderen
Arten der sozialen Integration: Nur über die Plazierung in die zentralen Funk-
tionsbereiche werden die Migranten und ethnischen Gruppen für die Einhei-
mischen so interessant, daß es auch für sie zu interessanten interethnischen
Integration 305

Kontakten kommen kann und sich schließlich sogar eine emotionale Identifi-
kation mit der neuen Heimat einstellt. Weil diese Plazierung aber an den vor-
herigen Erwerb gewisser Qualifikationen, Fertigkeiten und auch funktional
eigentlich „peripherer“, symbolisch jedoch höchst bedeutsamer „assimilati-
ver“ Eigenschaften gebunden ist, werden auch die anderen Dimensionen der
Assimilation bzw. der sozialen Integration in die Aufnahmegesellschaft wich-
tig: Die Akkulturation an das Wissen und der Erwerb von Kompetenzen des
Aufnahmelandes und die Aufnahme interethnischer Beziehungen, mindestens.
Eine gewisse Akkulturation und der Unterhalt gewisser interethnischer Be-
ziehungen gehören also, wie die strukturelle Assimilation, unverzichtbar zur
sozialen Integration der Migranten und zur Stabilisierung auch der Systemin-
tegration der Aufnahmegesellschaft. Etwas anders ist es dagegen mit der emo-
tionalen Assimilation bzw. mit der sozialen Integration als Identifikation mit
dem Aufnahmeland. Auch das hat mit den Besonderheiten der modernen Ge-
sellschaften zu tun: Die modernen, funktional differenzierten Gesellschaften
kommen immer mehr ohne irgendwelche wertgeladenen Loyalitäten und
Identifikationen mit der „Gesellschaft“ als ganzer aus. Sie „funktionieren“
mehr und mehr nur noch als Märkte bzw. als anonyme Organisationen und
korporative Akteure und insbesondere aus der ökonomischen und politischen
Interdependenz ihrer Teile. Kurz: Moderne Gesellschaften sind so stark sys-
temintegriert, daß sie der Identifikation ihrer Mitglieder als sozialer Integrati-
on nicht bedürfen.
Das wäre zunächst durchaus ein Argument für die sog. multikulturelle Ge-
sellschaft: Die Gruppen leben unter dem organisatorischen Dach einer staatli-
chen Verwaltung zusammen, mit dem sie sich nicht sonderlich identifizieren
müssen, und alles andere besorgen der Markt und das Prozessieren der Funk-
tionssysteme. Die Beobachtung von der zunehmenden Bedeutung systeminte-
grativer Prozesse in modernen Gesellschaften unterstützt jedoch dann wieder
das Argument von der Unumgänglichkeit der strukturellen Assimilation der
Migranten für deren Sozialintegration, diesmal nicht nur zur Verhinderung
von ethnischen Schichtungen, sondern zur Stärkung der Systemintegration ge-
rade von solchen Gesellschaften, die sich von besonderen – nationalen oder
politischen – Loyalitäten losgelöst haben und nur noch auf dem reibungslosen
„Prozessieren“ ihrer Funktionssysteme beruhen.
Der Grund dafür ist nach den oben dargestellten Zusammenhängen von systemischer und so-
zialer Integration nicht schwer zu verstehen: Die Systemintegration alleine über Interdepen-
denzen setzt die wechselseitige Kontrolle von interessanten Ressourcen voraus. In jeder Ge-
sellschaft gibt es nun aber zentrale Ressourcen, deren Kontrolle erst Akteure oder Gruppen
für andere Akteure oder Gruppen interessant macht. Erst mit der Kontrolle dieser zentralen
Ressourcen werden Machtgewinn und „Inter“-Dependenzen möglich. Diese Ressourcen wie-
derum werden nur über die Besetzung von Positionen in den zentralen Institutionen verteilt,
306 Die Konstruktion der Gesellschaft

und ihre Kontrolle setzt Bemühungen um einen sozialen Aufstieg in der Aufnahmegesell-
schaft voraus. Dazu aber ist der Erwerb von Humankapital, kulturellem und sozialem Kapital
aus der Aufnahmegesellschaft nötig, wie Sprachkenntnisse, Gewohnheiten, Bekanntschaften,
Geschmack, Ambitionen und alle weiteren Eigenschaften und Fertigkeiten, die abgrenzende
Distinktionen erlauben oder Diskriminierungen nachsichziehen.

Die erfolgreiche Plazierung auf den wichtigen Positionen der Aufnahmege-


sellschaft hat also systematische Auswirkungen auch für die Systemintegrati-
on gerade der modernen, funktional differenzierten Gesellschaften. Ohne die
Inklusion in die Kernbereiche der Aufnahmegesellschaft kontrollieren die Mi-
granten und ethnischen Minderheiten nur wenig, was ihnen Marktmacht oder
„organizational assets“ bringt. Und erst darüber integrieren sich die Akteure
und Gruppen ja auch „systemisch“ zu einer zusammenhängenden gesell-
schaftlichen Einheit.
Kurz: Die strukturelle Assimilation, die Inklusion in der Form der Plazie-
rung auf den zentralen Positionen der Aufnahmegesellschaft also, ist die Be-
dingung für alle anderen Formen der sozialen Integration von Migranten und
ethnischen Minderheiten in die Aufnahmegesellschaft. Und sie ist gleichzeitig
ein wichtiger und längerfristig unverzichtbarer Teil der Systemintegration
dieser Gesellschaft. Und alles das gilt gerade für die Verhältnisse in den
modernen, funktional differenzierten Gesellschaften. Entgegen den immer
etwas naiven Auffassungen von den Möglichkeiten eines bloß horizontalen
Nebeneinanders der Gruppen in multiethnischen Gesellschaften und des
Verzichts auf kulturelle Angleichungen, gibt es, wenn ethnische Schichtungen
vermieden werden sollen, also keine Alternative zur (strukturellen)
Assimilation. Sie ist die Bedingung der sozialen Integration der Migranten
und Minderheiten in die Aufnahmegesellschaft und einer Systemintegration,
die auf mehr beruhen soll als auf der deferenten Hinnahme des Schicksals der
Unterschichtung.
Kapitel 7

Sozialer Wandel

Soziale Differenzierung, soziale Ungleichheit und soziale Ordnung sind die


drei grundlegenden Formen der Strukturierung einer Gesellschaft (vgl. dazu
auch noch die Systematisierung der verschiedenen gesellschaftlichen Struktu-
ren und Prozesse in Abschnitt 9.1 unten in diesem Band). Diese Strukturie-
rungen können, wie etwa in einer Feudalgesellschaft, fest und unverrückbar,
sie können aber auch sehr flüchtig sein, wie die in den sog. postmodernen Ge-
sellschaften, in denen ja anscheinend nichts so überholt zu sein scheint wie
die Selbstverständlichkeiten von voriger Woche. Selbst die kompaktesten so-
zialen Gebilde und Strukturen aber ändern sich, manchmal freilich erst nach
langen Zeiträumen oder nur unmerklich und allmählich. Gelegentlich tun sie
das aber auch rasch, mit einem großen Knall und unter Umwälzung von allem
bisher Dagewesenen. Systematische und nachhaltige Änderungen der gesell-
schaftlichen Strukturen werden, einem von William F. Ogburn in die Soziolo-
gie eingeführten Ausdruck folgend, als sozialer Wandel bezeichnet. Darunter
verstand er im Wesentlichen einen Prozeß der Evolution.1 Mit dem Ausdruck
„Social Change“ wollte er die zu seiner Zeit mit dem Wort „Evolution“ meist
assoziierten Bedeutungen wie „sozialer Fortschritt“ oder „Höherentwicklung“
und die damit auch oft verbundenen positiven Wertungen und teleologischen
Annahmen vermeiden. Und so, als ganz neutral bewertete und nach vorne
immer offene Evolution, die auch Rückschritte und Abwege einbezieht, wird
der Begriff des sozialen Wandels auch heute verwendet. Es ist eigentlich die
einzige seriöse Art, über den Wandel von Gesellschaften zu sprechen.
Der soziale Wandel ist, neben der sozialen Differenzierung, der sozialen
Ungleichheit und der sozialen Ordnung, der vierte grundlegende soziale Pro-
zeß, der allen gesellschaftlichen Vorgängen zugrunde liegt. Und gerade in der

1
Vgl. William F. Ogburn, Social Change: With Respect to Cultural and Original Nature,
New York 1922, S. 56ff. insbesondere. Vgl. auch die späteren Notizen von Ogburn dazu:
William F. Ogburn, Social Evolution Reconsidered, in: William F. Ogburn, On Culture
and Social Change. Selected Papers, Chicago und London 1964, S. 18ff.
308 Die Konstruktion der Gesellschaft

Suche nach gewissen Regelmäßigkeiten oder gar nach „Gesetzen“ des sozia-
len Wandels hat die Soziologie lange Zeit eine ihrer zentralen Aufgaben gese-
hen.
Es hat sogar einmal so ausgesehen, als ob die Suche nach den „Entwicklungsgesetzen“ der
Gesellschaft(en) das wichtigste Thema der Soziologie überhaupt gewesen sei oder immer
noch wäre. Als Beispiele seien genannt: Auguste Comte mit seinem berühmten Dreistadien-
gesetz, wonach auf die theologische und militärische Epoche die metaphysische und juridi-
sche Epoche folge, und darauf dann, als Krönung sozusagen, die „positive“ wissenschaftliche
und industrielle Epoche; Karl Marx mit seiner Hypothese von der Geschichte als Geschichte
der Klassenkämpfe und der Prognose von der unvermeidlichen Überwindung des Kapitalis-
mus und des historisch letzen Klassengegensatzes in der kommunistischen Gesellschaft; Os-
wald Spengler mit seiner These vom Untergang des Abendlandes; Pitirim A. Sorokin mit der
Behauptung von der ständigen Oszillation zwischen Vernunft und Mystik; Albert O.
Hirschman mit seinem Modell vom stetigen Hin und Her zwischen dem Engagement mit öf-
fentlichen Angelegenheiten und dem Rückzug in die Privatheit und in die Individualisierung;
Daniel Lerner mit seiner These vom Übergang der traditionalen Gesellschaften in die Moder-
ne über die Stadien der Alphabetisierung, der Urbanisierung, der Medienbeteiligung und der
Verbreitung einer Einstellung der Empathie; oder schließlich Talcott Parsons mit seiner
Hypothese von der immer weiter getriebenen evolutionären Ausdifferenzierung der Gesell-
schaften und ihrem stetigen „upgrading“ bis hin zur kompletten Durchmodernisierung der
ganzen Welt, die in der gegenwärtigen Soziologie in der soziologischen Systemtheorie unter
der These von der immer weiter sich zuspitzenden funktionalen Differenzierung und einer als
unvermeidlich angesehenen Globalisierung mit der Heraufkunft einer Weltgesellschaft fort-
lebt.2

Warum in der Soziologie solche Vorstellungen nur noch selten ernsthaft ver-
treten werden und warum man vor allem nach gesellschaftlichen Entwick-

2
Vgl. zu einer Übersicht über die wichtigsten soziologischen Ansätze zum sozialen Wandel
und einige einschlägige „klassische“ Beiträge u.a. die Textsammlung bei Wolfgang Zapf
(Hrsg.), Theorien des sozialen Wandels, Köln und Berlin 1971 und den Überblick über
die verschiedenen Richtungen, auch in ihrer soziologiegeschichtlichen Entwicklung bei
Stephen K. Sanderson, Social Evolutionism. A Critical History, Cambridge, Mass, 1990.
Siehe auch die knappen Übersichten bei Susan C. Randall und Hermann Strasser, Zur
Konzeptualisierung des sozialen Wandels: Probleme der Definition, des empirischen Be-
zugs und der Erklärung, in: Hermann Strasser und Susan C. Randall (Hrsg.), Einführung
in die Theorien des sozialen Wandels, Darmstadt und Neuwied 1979a, S. 23-50; Susan C.
Randall und Hermann Strasser, Theoretische Ansätze zur Erklärung des sozialen Wan-
dels, in: Strasser und Randall 1979b, S. 51-107. Vgl. auch die kurze Darstellung des „Ver-
falls“ des Themas und die aktuelle Diskussion darüber in der aktuellen Soziologie bei:
Hans-Peter Müller und Michael Schmid, Paradigm Lost? Von der Theorie sozialen Wan-
dels zur Theorie dynamischer Systeme, in: Hans-Peter Müller und Michael Schmid
(Hrsg.), Sozialer Wandel. Modellbildung und theoretische Ansätze, Frankfurt/M. 1995, S.
9-55; sowie auch: Michael Schmid, Theorie des sozialen Wandels, Opladen 1982. Siehe
zu den wichtigsten Ansätzen von genuin soziologischen Theorien des sozialen Wandels
noch Abschnitt 7.5 in diesem Band unten; und zu einer kritischen Bestandsaufnahme der
Soziologie des sozialen Wandels allgemein: Raymond Boudon, Theories of Social Chan-
ge. A Critical Appraisal, Cambridge 1986.
Sozialer Wandel 309

lungsgesetzen schon lange nicht mehr sucht, soll in dem nun folgenden Kapi-
tel auch deutlich werden. Im Grunde können wir die Antwort jetzt schon ge-
ben: Solche übergreifenden Entwicklungsgesetze des Wandels ganzer Gesell-
schaften „an sich“ könnten ja eigentlich nur makrosoziologischer Art sein.
Die aber leiden, wie wir in der Einleitung zu Band 1, „Situationslogik und
Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ja noch einmal festgehalten haben,
unvermeidlicherweise an dem Problem der Unvollständigkeit, ganz zu
schweigen von dem der „Sinnlosigkeit“, wonach ein sozialer Wandel, der auf
gewissen übergreifenden „Gesetzen“ beruhen soll, die mit dem Denken, Füh-
len und Handeln der Menschen nichts zu tun haben, immer „unverständlich“
bleiben muß – worauf nicht zuletzt Max Weber stets deutlich hingewiesen hat.
Und so muß man davon ausgehen, daß es zwar ohne Frage sozialen Wandel
und oft sogar eine gewisse „Richtung“ desselben gibt, der dann wie ein „Ge-
setz“ aussehen kann, daß dessen Richtung aber nicht aus eigenständigen „Ge-
setzen“ des Wandels entsteht und darüber dann auch nicht „erklärt“ werden
kann, sondern, wie auch die soziale Differenzierung, die soziale Ungleichheit
und die soziale Ordnung, als das meist unintendierte kollektive Ergebnis des
situationsbezogenen Handelns menschlicher Akteure zu interpretieren und
angemessen nur über das Modell der soziologischen Erklärung zu erfassen ist.
Und das wollen wir jetzt auch (wieder) tun.

7.1 Strukturen als Prozesse

Gelegentlich findet man in der Soziologie die Vorstellung, als ob der soziale
Wandel irgendwie zu den Strukturen der sozialen Differenzierung, der sozia-
len Ungleichheit und der sozialen Ordnung hinzutreten müsse, damit sich et-
was ändert, und daß es daher einen solchen Wandel nur aufgrund von äußeren
Anstößen geben könne, die die bis dahin eigentlich „stabilen“ Strukturen aus
der Bahn bringen. Diese Vorstellung war insbesondere durch den soziologi-
schen Strukturfunktionalismus nahegelegt worden: Alle sozialen Gebilde, ein-
schließlich kompletter Gesellschaften, neigen, so die Annahme, aus sich her-
aus zu einem funktionalen Gleichgewicht und zur inneren Abstimmung der
Strukturen, das, wenn es gestört wird, über gewisse Mechanismen der Selbst-
regulation bald wieder hergestellt ist (vgl. dazu auch noch Abschnitt 7.4 und
das Konzept der funktionalen Reproduktion gleich unten in diesem Band).
Die gesellschaftlichen Strukturen – soziale Differenzierung, soziale Ungleich-
heit, soziale Ordnung – stehen in dieser Sicht fest und kompakt und in einem
sich gegenseitig stützenden und selbsterhaltenden System da. Und dann käme
– unter Umständen – der soziale Wandel dazu, der alles ändert.
310 Die Konstruktion der Gesellschaft

Das ist schon eine sehr statische, eine „petrifizierende“ und „substanzielle“ Vorstellung von
der Gesellschaft der Menschen. Sie ist, wie wir aus der „Soziologie. Allgemeine Grundla-
gen“, Teil F, wissen, bald und nachhaltig kritisiert worden, etwa von George C. Homans oder
von seiten des sog. Symbolischen Interaktionismus (siehe auch die Einleitung zu diesen
„Speziellen Grundlagen“ in Band 1, „Situationslogik und Handeln“). Nicht zuletzt hat auch
die sog. soziologische Systemtheorie mit ihrer konsequenten „Temporalisierung“ aller sozia-
len Vorgänge daraus einen Teil ihrer Anziehungskraft gewonnen. Und noch vor relativ kurzer
Zeit konnte etwa Norbert Elias mit seiner von ihm so genannten Prozeß- und Figurationsso-
ziologie große Aufmerksamkeit auf sich ziehen, als er gegen diese statische Sicht der Gesell-
schaft – zu Recht – zu Felde zog.3 Das Argument ist naheliegend und folgt unmittelbar auch
aus den Vorgaben der erklärenden Soziologie: Die „Strukturen“ der Gesellschaft (oder der
sozialen Systeme und Gebilde ganz allgemein) bestehen nicht irgendwie „unabhängig“ von
den Handlungen der individuellen Akteure, sondern sind deren immer wieder neu konstituier-
tes und konstruiertes, oft genug natürlich auch unintendiertes, Ergebnis. Sie haben auch keine
irgendwie geartete kompakte „Substanz“, sondern werden in jedem Augenblick als punktuelle
Ereignisse immer wieder neu geschaffen. Und nur die auf der sichtbaren Oberfläche erschei-
nende regelmäßige Reproduktion erzeugt den Anschein der Stabilität und Unverrückbarkeit
ihrer „Strukturen“.

Kurz: Die gesellschaftlichen Strukturen beruhen stets nur auf Prozessen, und
diese Prozesse haben – unter Umständen, natürlich nicht unbedingt – eine ge-
wisse „strukturierte“ Regelhaftigkeit. Insofern gibt es keine sozialen Struktu-
ren ohne soziale Prozesse. Mehr noch: Alle Strukturen sind nichts als Prozes-
se, einschließlich natürlich solche einer „funktionalen“ Reproduktion von
Gleichgewichten und Stabilität und des gerichteten sozialen Wandels. Das ist
der – über alle sonstigen Unterschiede hinweg bestehende – gemeinsame Kern
aller neueren theoretischen Konzepte in der Soziologie, etwa von Norbert Eli-
as mit seiner Prozeß- und Figurationssoziologie, von Anthony Giddens mit
seiner Idee der „structuration“ der Strukturen durch das Handeln der Men-
schen oder von Niklas Luhmann mit seinem Konzept der wechselseitigen
Konstitution und prozessualen Autopoiese der sozialen und der psychischen
Systeme.

Ein Beispiel: Der Wandel des Bildungssystems und die Reproduktion der so-
zialen Ungleichheit

Was man sich konkret unter „sozialem Wandel“ vorzustellen hat, wollen wir
uns an einem übersichtlichen empirischen Beispiel einmal genauer ansehen.
Eine der nachhaltigsten Änderungen der institutionellen Strukturen der west-

3
Vgl. etwa Norbert Elias, Was ist Soziologie? München 1970, Einleitung, S. 9-31; Norbert
Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersu-
chungen, 1. Band: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des A-
bendlandes, Frankfurt/M. 1976, Einleitung, S. XXIIIff. insbesondere.
Sozialer Wandel 311

lichen Industriegesellschaften war die sog. Bildungsreform in den 60er und


70er Jahren. Das war eine bewußte politische Entscheidung, motiviert u.a.
durch den sog. Sputnik-Schock von 1958, als es so schien als sei der sog. Ost-
block in der Lage, dem Westen technologisch und wirtschaftlich den Rang
abzulaufen. Man könnte die Bildungsreform daher als einen exogen angereg-
ten sozialen Wandel dieser Gesellschaften ansehen (siehe zu den verschiede-
nen Arten von Prozessen und des sozialen Wandels noch die Abschnitte 7.3
und 7.4 unten in diesem Band). Daß diese politische Entscheidung auch auf
andere gesellschaftliche Strukturen gewirkt hat, darüber kann es keinen Zwei-
fel geben. In einer empirischen Analyse der Bildungsbeteiligung verschiede-
ner Geburtsjahrgänge der (west-)deutschen Bevölkerung durch Peter Bloss-
feld mit den Daten des sog. Sozioökonomischen Panels (SOEP) zeigt sich das
ganz deutlich (vgl. Tabelle 7.1).4
Zwei Trends werden sichtbar (vgl. dazu insgesamt auch schon Abschnitt
4.5 in diesem Band über „Statuszuweisung und Mobilität“): Die jüngeren
Jahrgänge haben im Durchschnitt die deutlich besseren Schulabschlüsse, und
es ist auch zu erkennen, daß dies wohl eine Folge des Ausbaus des Bildungs-
systems in den 60er und 70er Jahren war. Interessant ist auch die Angleichung
der Geschlechter im Bildungsverhalten. Die niedrigsten Schulabschlüsse sind
bei der jüngsten Kohorte inzwischen sogar schon mehr von den Männern be-
setzt als von den Frauen. Insofern hat es durchaus einen erkennbaren sozialen
Wandel im funktionalen System der Bildung gegeben, und auch das Muster
der „Inklusion“ der Akteure darin hat sich geändert. Und so war es ja auch
gedacht: Eines der wichtigsten Ziele bei der Bildungsreform der 60er und
70er Jahre war die Ausschöpfung der sog. Bildungsreserven.
Man hatte dabei offenbar angenommen, daß in den unteren Schichten der Bevölkerung noch
viele Talente schlummerten, und daß man es sich im Wettkampf der Systeme zwischen Kapi-
talismus und Sozialismus nicht länger leisten könne, die ungenutzt zu lassen. Das war dann
auch die Zeit, in der die sog. funktionalistische Schichtungstheorie, die ja schon viel früher
formuliert worden war, innerhalb der soziologischen Diskussion sehr unter Beschuß kam
(vgl. dazu schon Abschnitt 4.6 oben in diesem Band): Die soziale Ungleichheit sei eben keine
Voraussetzung zur Mobilisierung der Talente, sondern, geradezu im Gegenteil, ein Mecha-
nismus, sie zu verknappen. Offenbar wurde angenommen, daß es Talente überall gibt, viel-
leicht weil Talente, etwa die Intelligenz, genetisch vererbt werden und sich daher zufällig ü-
ber die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, obere und untere Schichten, Schwarze und
Weiße, Männer und Frauen, etwa, verteilen, daß aber die bis dahin bestehenden Klassen- und
Rassenschranken und die Diskriminierung der Geschlechter die Ausschöpfung der Talente
verhindert hätte. Eine solche Ausschöpfung der Talente aber würde bedeuten, daß die Klas-

4
Vgl. Hans-Peter Blossfeld, Changes in Educational Opportunities in the Federal Republic
of Germany. A Longitudinal Study of Cohorts Born Between 1916 and 1965, in: Yossi
Shavit und Hans-Peter Blossfeld (Hrsg.), Persistent Inequality. Changing Educational At-
tainment in Thirteen Countries, Boulder, San Francisco und Oxford 1993, S. 51-74.
312 Die Konstruktion der Gesellschaft

sen- und Rassenbarrieren und die Unterschiede der Geschlechter im Zugang zum Bildungs-
system fallen müßten und daß sich deshalb auch die soziale Ungleichheit, wenigstens was die
Statusvererbung angeht, insgesamt verringern müßte.

Tabelle 7.1: Die Änderung der Bildungsbeteiligung verschiedener Geburtskohorten in


(West-)Deutschland, getrennt nach Geschlecht: Anteil höchster erreichter
Bildungsabschluß (Auszug aus: Blossfeld 1993, S. 60f.)

Frauen
Kohorten
1921-1925 1931-1935 1941-1945 1951-1955 1961-1965

Pflichtschule 79.0 77.3 68.8 57.3 40.0


Realschule/
Fachhoch- 18.0 17.0 25.3 29.0 41.8
schulreife
Abitur 3.0 5.7 5.9 13.7 18.2

100.0 100.0 100.0 100.0 100.0

Männer
Kohorten
1921-1925 1931-1935 1941-1945 1951-1955 1961-1965

Pflichtschule 70.0 73.3 59.3 54.5 47.7


Realschule/
Fachhoch- 17.7 18.4 24.9 26.3 28.5
schulreife
Abitur 12.3 8.3 19.8 19.2 23.8

100.0 100.0 100.0 100.0 100.0

Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind, was die Bildungsbeteili-


gung angeht, mit der Bildungsreform in der Tat, wie auch die Tabelle 7.1
zeigt, geschwunden. Derzeit kann man eher schon davon ausgehen, daß die
Mädchen, die besseren Schulabschlüsse machen. Wie sieht es aber mit den
Sozialer Wandel 313

Klassenunterschieden und mit der Vererbung des Bildungsstatus aus? In Ab-


schnitt 4.5 oben in diesem Band hatten wir dazu ja schon die frühe Untersu-
chung von Peter M. Blau und Otis D. Duncan von 1961 kennengelernt.5 Da-
mals schien es so zu sein, daß es immer noch starke Effekte der Vererbung
des sozialen Status gebe und daß dabei vor allem die Beziehung zwischen der
Bildung und dem Beruf des Vaters und der Bildung der Söhne stark war.
Auch dazu gibt es in der Untersuchung von Blossfeld eine aufschlußreiche
Tabelle (vgl. Tabelle 7.2).
Und was sehen wir? Bei den Männern hat, wenn man die Höhe der Logit-
Koeffizienten über die Kohorten vergleicht, zunächst in der Tat der Einfluß
der sozialen Herkunft abgenommen, ist aber in der jüngsten Kohorte wieder
deutlich angestiegen. Bei den Frauen sieht es ganz ähnlich aus. Auch hier ist
die Bildungsvererbung nicht gesunken, sondern neuerdings eher wieder ge-
stiegen. Kurz:
„Thus, the conclusion is that the impact of social origin on the transition from lower seconda-
ry school qualification to intermediate school qualification has not changed substantively. We
find, however, a declining disadvantage for women across the younger birth cohorts“. (Bloss-
feld 1994, S. 65f.; Hervorhebung nicht im Original)

Nebenbei bestätigt Blossfeld im übrigen dann auch einige andere geläufige


Ergebnisse der Forschungen zur Bildungsungleichheit, wie das, wonach sich
die Bildungsungleichheit mit der Bildungskarriere selbst verringert: Wer es
aus den unteren Schichten in der Schule einmal geschafft hat, hat wieder bes-
sere Chancen, durch- und weiterzukommen (vgl. dazu auch schon Abschnitt
7.1 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundla-
gen“). Es ist schon so: Immer noch fällt der Apfel nicht sehr weit vom Stamm,
auch wenn die Bäume allesamt inzwischen etwas höher geworden sind.

Tabelle 7.2: Die Auswirkung von Bildung und Beruf des Vaters auf den Übergang von der
Grundschule zur mittleren Bildung (Realschule, Fachoberschule) für
verschiedene Geburtsjahrgänge (Logit-Koeffizienten; Auszug aus Blossfeld
1994, S. 68f.)6

5
Peter M. Blau und Otis D. Duncan, The American Occupational Structure, New York,
London und Sydney 1967, S. 169ff.
6
Die in der Tabelle aufgeführten Koeffizienten sind sog. Logit-Koeffizienten. Sie geben
das Gewicht der jeweiligen unabhängigen Variable auf die Wahrscheinlichkeit des Über-
314 Die Konstruktion der Gesellschaft

Männer Frauen
Bildung Beruf Bildung Beruf
Jahrgang Konstante Konstante
Vater Vater Vater Vater
1921-1925 -9.92 0.596 0.045 -5.41 0.226 0.030
1931-1935 -6.92 0.456 0.025 -5.62 0.351 0.011°°
1941-1945 -3.92 0.149° 0.026 -4.07 0.194 0.020
1951-1955 -3.95 0.144° 0.027 -4.68 0.319 0.020
1961-1965 -7.46 0.452 0.043 -4.69 0.530 0.005

Sozialer Wandel und die Stabilität der Strukturen: das Modell von Raymond
Boudon

Zwei Dinge lassen sich also festhalten: Erstens hat es beim Bildungssystem
und bei der Bildungsbeteiligung ganz allgemein in der Tat einen erkennbaren
sozialen Wandel gegeben, was sich u.a. in der Angleichung der Geschlechter
in den Bildungsabschlüssen zeigt. Zweitens aber sind die Ungleichheitsstruk-
turen in der Vererbung der Bildung nach dem sozialen Status nahezu unver-
ändert geblieben und sie haben sich neuerdings eher wieder verstärkt. Es ist
also tatsächlich schon so etwas zu erkennen wie ein „Fahrstuhleffekt“: Das
ganze „System“ ist nach oben geschoben worden, aber die Unterschiede zwi-
schen den Klassen und Schichten sind, wenigstens was die Vererbung der
Bildung angeht, geblieben. Insofern beobachten wir mit dem Wandel des Bil-
dungssystems gleichzeitig eine Stabilität des Systems der sozialen Ungleich-
heit. Und sofort stellt sich wieder die Frage: Wie kann man sich das alles er-
klären. Es ist die Frage nach der Erklärung eines offensichtlichen sozialen

gangs von einer unteren zur mittleren Bildungsstufe an. Etwas vereinfachend gesagt: Hö-
here Ziffern der Logit-Koeffizienten zeigen, ganz ähnlich wie die üblichen Regressions-
koeffizienten, ein höheres Gewicht an als niedrigere. Alle Effekte sind signifikant mit
mindestens p<0.05, bis auf die mit o und oo gekennzeichneten Koeffizienten: Die beiden
Koeffizienten mit dem Zeichen o haben eine Signifikanz von p<0.10, der mit dem Zeichen
oo
ist nicht signifikant. Vgl. zu näheren Einzelheiten der sog. logistischen Regression und
zur Interpretation der Logit-Koeffizienten etwa Hans-Jürgen Andreß, Jacques A. Hagen-
aars und Steffen Kühnel, Analyse von Tabellen und kategorialen Daten. Log-lineare Mo-
delle, latente Klassenanalyse, logistische Regression und GSK-Ansatz, Berlin u.a. 1997,
Kapitel 5: Logistische Modelle für Individualdaten, S. 267ff. insbesondere.
Sozialer Wandel 315

Wandels und der Prozesse, die in einem solchen Wandel gleichzeitig wieder
stabile Strukturen reproduzieren.
Die Erklärung des Wandels des Bildungssystems der Gesellschaft und des Bildungsverhaltens
der Bevölkerung war in unserem Falle relativ naheliegend und einfach: Er war die Folge einer
„exogen“ angestoßenen politischen Entscheidung zur Erleichterung des Bildungszugangs, der
die Bevölkerung auch in allen ihren Untergruppen, aus leicht nachvollziehbaren Gründen, ge-
folgt ist, ja folgen mußte (vgl. dazu auch noch die Bemerkungen zur Bildung als sog. Positi-
onsgut am Schluß dieses Abschnitts). Wie aber ist die Stabilität der Bildungsungleichheit
nach sozialen Schichten zu erklären? Denn eigentlich sollte man doch erwarten, daß bei Öff-
nung des Bildungssystems die Klassengrenzen durchlässiger werden müßten!

Für den Fall der Vererbung von Statusunterschieden auch bei Ausweitung der
Bildungsbeteiligung hat nun Raymond Boudon schon vor einiger Zeit ein im
Grunde einfaches, einsichtiges und in seiner grundlegenden Logik überzeu-
gendes Modell entwickelt.7 Es besagt in einem Satz: Wenn sich die Positionen
auf dem Arbeitsmarkt nicht in ähnlicher Weise vermehren wie die Bildungs-
abschlüsse, dann bleibt die Struktur der sozialen Ungleichheit auch bei Aus-
bau des Bildungssystems unverändert.
Seine Überlegungen sind auch für viele ähnliche Prozesse gültig, bei denen sich die Anrechte
auf eine „Inklusion“ zwar mehren und diese Anrechte auch wahrgenommen werden, bei de-
nen jedoch die faktische Zahl der mit den Anrechten „eigentlich“ zu besetzenden Positionen
konstant bleibt. Und immer gibt es die gleiche Folge: Die Konkurrenz der Bewerber auf die
Positionen wird größer, und an den Ungleichheiten im Zugang zu den Positionen ändert sich
kaum etwas. Es ist also ein sog. Strukturmodell, ein Modell, das sich auf inhaltlich und histo-
risch ganz unterschiedliche Situationen der gleichen grundlegenden Struktur anwenden läßt
(siehe dazu auch noch Kapitel 8, sowie schon Kapitel 1 in diesem Band)

Zunächst wird von Boudon – der Einfachheit halber – angenommen, daß die
Gesellschaft nur aus drei sozialen Klassen bestehe: K1, K2 und K3, wobei K1
die obere und die K3 die untere Klasse bezeichne. Es gebe außerdem sechs
Bildungsstufen mit S1 als der höchsten und S6 als der niedrigsten. In einem
Ausgangszeitpunkt t1 gebe es eine bestimmte Verteilung der Bildungsbeteili-

7
Raymond Boudon, Education, Opportunity, and Social Inequality. Changing Prospects in
Western Society, New York u.a. 1974. Das Modell ist hier in seiner Kurzform übernom-
men aus Raymond Boudon, Die Logik des gesellschaftlichen Handelns. Eine Einführung
in die soziologische Denk- und Arbeitsweise, Darmstadt und Neuwied 1980, S. 93ff. Es
entspricht – unter teilweise merklichen – Rundungsfehlern den Perioden t1 und t3 in der
ursprünglichen Version bei Boudon 1974, S. 146ff. Vgl. für eine Erweiterung und
Verallgemeinerung des Modells von Boudon neuerdings Volker Müller-Benedict,
Strukturelle Grenzen sozialer Mobilität, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und
Sozialpsychologie, 51, 1999, S. 313-338. Eine analytische Fassung des Modells der
Statuszuweisung auf vakante Positionen und der dadurch erzeugten strukturellen Effekte
findet sich bei Aage B. Sørensen, The Structure of Inequality and the Process of
Attainment, in: American Sociological Review, 42, 1977, S. 965-978.
316 Die Konstruktion der Gesellschaft

gung auf die drei Klassen, etwa derart, daß 23% der Mitglieder der oberen
Klasse den höchsten Bildungsgrad, einen Hochschulabschluß nämlich, errei-
chen, 5% der mittleren und nur 1% der unteren Klasse. Nun öffnet sich das
System, und zu einem Zeitpunkt t2 habe sich entsprechend das Bildungsver-
halten der Bevölkerung aller Klassen geändert, etwa derart, daß nun 31% der
oberen Klasse, 9% der mittleren und 2% der unteren Klasse einen Hochschu-
labschluß machen. In Tabelle 7.3 sind diese Verhältnisse und die Veränderun-
gen zwischen den Perioden t1 und t2 für die drei Klassen und in Bezug auf die
angenommenen sechs möglichen Bildungsabschlüsse zusammengefaßt. Sie
sind als Wahrscheinlichkeiten dargestellt, als Kind einer bestimmten Klasse
einen bestimmten Schulabschluß zu erreichen, wobei wir auf die inhaltliche
Benennung der mittleren Schulabschlüsse verzichtet haben.

Tabelle 7.3: Die Veränderung der Bildungsbeteiligung zwischen den Perioden t1 und
t2 im Modell von Boudon (jeweils in Anteilen des erreichten Abschlusses
nach sozialer Klasse; nach Boudon 1980, S. 94, bzw. Boudon 1974, S. 146)

Zeitpunkt t1
Schulabschluß
Hochschule Hauptschule
Soziale
Herkunft S1 S2 S3 S4 S5 S6
K1 .23 .10 .06 .17 .26 .18 1.00
K2 .05 .05 .04 .15 .36 .35 1.00
K3 .01 .02 .02 .08 .33 .54 1.00

Zeitpunkt t2
Schulabschluß
Hochschule Hauptschule
Soziale
Herkunft S1 S2 S3 S4 S5 S6
K1 .31 .10 .06 .16 .22 .15 1.00
K2 .09 .07 .05 .17 .34 .28 1.00
K3 .02 .03 .03 .12 .36 .44 1.00
Sozialer Wandel 319

eine Art von Berechtigungsschein darstellen, mit dem die Jugendlichen mit
einer gewissen Chance bestimmte soziale Positionen bekleiden können. Die
Anzahl der Positionen ist dabei jeweils begrenzt, und die begehrtesten werden
mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vorrangig an jene mit den höchsten
Bildungsabschlüssen vergeben. Das geschieht so lange, bis der Bestand an
Positionen oder Jugendlichen ausgeschöpft ist. Diese Wahrscheinlichkeit wird
als Erfolgsquote bezeichnet. Sie wird in dem Modell von Boudon mit 70%
angenommen. Dann geht es mit einem evtl. Überschuß an qualifizierten Be-
werbern an die nächst niedrigeren Positionen bzw. Abschlüsse. Und so weiter.
Mit der Erfolgsquote soll einerseits ausgedrückt werden, daß nicht alle, die den formalen
Abschluß haben, auch ihre Chance wirklich wahrnehmen, und andererseits, daß nicht alle
Bewerber mit dem betreffenden, formal berechtigenden Abschluß auch tatsächlich genom-
men werden. Es gibt also einen gewissen Spielraum bei der Besetzung der Positionen nach
Bildung. Der Wert von 70% ist hier durchaus willkürlich angenommen. Die Ziffer ist eine Art
von „meritokratischem“ Knappheitskoeffizient, und sie drückt auch aus, daß ein gewisser
Bildungsabschluß für die Einnahme einer oberen Position zwar notwendig, aber leider nicht
hinreichend ist. Es könnten ohne weiteres auch andere Werte angenommen werden. Je nied-
riger der Koeffizient ist, um so höher wäre die Zurückhaltung der Bewerber oder, was viel
wahrscheinlicher ist, die Konkurrenz um die begehrten Positionen – und um so weniger „hin-
reichend“ wäre der jeweilige Abschluß für die Einnahme der oberen Positionen. Bei 100%
Erfolgsquote gäbe es nur Interessenten und keine Konkurrenz, und der Bildungsabschluß wä-
re, wie das früher einmal für das Abitur hierzulande grosso modo tatsächlich der Fall war, ein
gern genommener Freifahrtschein für die Reise ins gelobte Land der beruflichen Karriere.8

Insgesamt bestehe nun die Bevölkerung der fiktiven Gesellschaft des Modells
aus 10000 Personen, und die verteile sich zu 1000 auf die Klasse K1, zu 3000
auf die Klasse K2 und zu 6000 auf die Klasse K3. Es seien dann auch wieder
genau 10000 Positionen zu besetzen, und zwar wieder 1000 auf der Ebene der
oberen Klasse, 3000 auf der der mittleren und 6000 auf der der unteren. Das
heißt: Die soziale Struktur als die zahlenmäßige Verteilung der Bevölkerung
auf die drei Klassen wird über den Vorgang der Vermittlung des Status von
den Eltern auf die Kinder hinweg und für die beiden Perioden als konstant an-
genommen.
Der erste Schritt der Simulation des Prozesses der Statuszuweisung über
die Bildungsbeteiligung besteht nun in der Berechnung der „absoluten“ Ver-
teilung der 10000 Kinder auf die sechs Bildungsabschlüsse. Die ergibt sich
unmittelbar aus den Daten der Tabelle 7.3, die ja die Proportionen der Vertei-
lung der Klassen auf die sechs Bildungsstufen enthielt. Das Ergebnis dieser
Umrechnung steht in der rechten Spalte der Tabelle 7.4.

8
Vgl. dazu auch die Änderungen der Ergebnisse bei Variation der Erfolgsquote, wie sie
Müller-Benedict (1999, S. 324ff.) in einer verallgemeinernden Simulation findet.
320 Die Konstruktion der Gesellschaft

Die Ziffern für die absolute Besetzung der 6 Bildungsebenen berechnen sich dabei ganz ein-
fach. Beispielsweise verteilten sich in Tabelle 7.3 ja zum Zeitpunkt t1 23% der oberen Klasse,
5% der mittleren und 1% der unteren Klasse auf den Hochschulabschluß. 23% der 1000 Ju-
gendlichen aus der oberen Klasse sind nun aber in absoluten Zahlen 0.23&1000=230, 5% der
3000 Jugendlichen der mittleren Klasse ergeben 0.05&3000=150 und 1% der 6000 Jugendli-
chen der unteren Klasse 0.01&6000=60. Zusammen gibt es also 230+150+60=440 Jugendli-
che, die zum Zeitpunkt t1 einen Hochschulabschluß machen. Das ergibt die erste Ziffer in der
rechten Spalte der Tabelle 7.4. Und so weiter.

Nun erfolgt der zweite Schritt: die Verteilung der Absolventen der verschie-
denen Schulabschlüsse auf die sozialen Positionen, die die drei Klassen dann
wieder ausmachen. Auch das ist eine einfache Rechnung. Sie folgt (zunächst)
der Regel der Zuweisung gemäß der Erfolgsquote der Bildung.
Insgesamt stehen beispielsweise zum Zeitpunkt t1 440 Kandidaten mit Hochschulabschluß zur
Verteilung auf die sozialen Positionen der Klassen zur Verfügung (siehe Tabelle 7.4a, rechte
Spalte oben). Nach der oben beschriebenen Logik der Verteilung auf die Positionen gemäß
der Erfolgsquote von 70% übernehmen zum Zeitpunkt t1 von den 440 Kandidaten mit Hoch-
schulabschluß 308 die oberen Positionen K1. Übrig bleiben 132 Bewerber mit Hochschu-
labschluß. Von denen werden wiederum 70% in die mittleren Positionen K2 eingewiesen, das
sind 92. Übrig bleiben also noch 40, die sich mit den unteren Positionen K3 begnügen müs-
sen. Das ergibt die erste Zeile der Zellenbesetzungen in Tabelle 7.4, die sich zu den 440 Kan-
didaten aufaddiert, die die Hochschule besucht hatten. Und so weiter.

Wenn man diese Regel immer weiter anwendet, können indessen an einer be-
stimmten Stelle nicht alle Kandidaten, die „eigentlich“ dran wären, in die obe-
ren (und dann auch nicht in die mittleren) Positionen hinein, weil es von de-
nen ja nur 1000 (bzw. 3000) gibt. Beispielsweise „passen“ zwar noch alle
70% der Bildungsgruppen 2 und 3 in K1 (0.70&370=259 bzw. 0.70&300=210).
Aber 70% von 1100 wären ja alleine schon 770, und es stehen bis dahin nur
noch 1000-(308+259+210)=223 freie Plätze in K1 zur Verfügung. Nun greift
eine weitere Regel: Von den nun noch freien Plätzen werden auf die jeweilige
Bildungsgruppe, die gerade am Zuge ist, wiederum nur 70% verteilt, hier also:
0.70&223=156. Danach bleiben noch 67 Plätze übrig, weil 223-156=67 ausma-
chen. Davon gehen nun wiederum 70% an die nächst niedrige Bildungsgrup-
pe. Das sind hier 0.70&67=47. Und übrig bleiben zuletzt noch 20 Plätze, die al-
lesamt an die Hauptschüler, die unterste Bildungsgruppe also, gehen.
Mit den beiden Zuteilungsregeln wird, wie man sieht, eine gewisse Offenheit in das System ein-
gebaut: Auch Hauptschüler können in die obere Klasse hinein, und auch Hochschulabsolventen
müssen damit rechnen, unten zu landen. Gleichzeitig wird systematisch berücksichtigt, daß es
strukturelle Begrenzungen gibt: Zwar gibt es soviel Positionen wie Akteure, und zu einer „Exklu-
sion“ muß es nicht kommen. Aber die Anzahl insbesondere der begehrten Positionen ist limitiert,
und nicht alle, die ein Interesse hätten oder geeignet wären, können daher bedient werden.

Wenn man die beschriebenen beiden „meritokratischen“ Regeln für alle sozia-
len Klassen, Abschlüsse und Positionen zum Zeitpunkt t1 anwendet, ergeben
Sozialer Wandel 321

sich die Ziffern in Tabelle 7.4a, und für den Zeitpunkt t2 entsprechend die in
Tabelle 7.4b.

Tabelle 7.4: Bildungsabschlüsse und die Verteilung auf die sozialen Positionen in dem
Modell von Boudon (nach Boudon 1980, S. 95, bzw. Boudon 1974, S. 147)

a. Zeitpunkt t1
soziale Position
Bildungsabschluß zu t1 K1 K2 K3 insgesamt

1 Hochschule 308 92 40 440


2 259 77 34 370
3 210 63 27 300
4 156 661 283 1100
5 47 1475 1798 3320
6 Hauptschule 20 632 3818 4470

insgesamt 1000 3000 6000 10000

b. Zeitpunkt t2
soziale Position
Bildungsabschluß zu t2 K1 K2 K3 insgesamt

1 Hochschule 490 147 63 700


2 343 103 44 490
3 117 191 82 390
4 35 949 407 1390
5 11 1127 2262 3400
6 Hauptschule 4 483 3142 3630

insgesamt 1000 3000 6000 10000

Aus diesen Verteilungen lassen sich nun leicht wiederum die Wahrscheinlich-
keiten berechnen, daß jemand mit einem bestimmten Schulabschluß, eine be-
stimmte soziale Position einnimmt. Das ist der dritte Schritt der Modellierung.
So ist beispielsweise für jemanden in der Periode t1 die Chance, mit dem Ab-
schluß S2 in die obere Klasse K1 zu gelangen, genau gleich 259/370=0.70, und
322 Die Konstruktion der Gesellschaft

und für jemanden in Periode t2, mit dem Abschluß S6 in die mittlere Klasse K2
zu kommen, ist sie entsprechend 483/3630=0.13. Auf diese Weise erhält man
die

Übergangswahrscheinlichkeiten von den sechs Schulabschlüssen in die drei


Arten von sozialen Positionen, die dann wieder die sozialen Klassen K1, K2
und K3 ausmachen, für die beiden Perioden t1 und t2 (Tabelle 7.5):

Tabelle 7.5: Übergangswahrscheinlichkeit von den Schulabschlüssen auf die sozialen


Positionen nach dem Boudon-Modell (vgl. auch Boudon 1974, S. 147)

a. Zeitpunkt t1
soziale Position
Bildungsabschluß zu t1 K1 K2 K3 insgesamt

1 Hochschule .70 .21 .09 1.00


2 .70 .21 .09 1.00
3 .70 .21 .09 1.00
4 .16 .59 .25 1.00
5 .02 .44 .54 1.00
6 Hauptschule .00 .15 .85 1.00

b. Zeitpunkt t2
soziale Position
Bildungsabschluß zu t2 K1 K2 K3

1 Hochschule .70 .21 .09 1.00


2 .70 .21 .09 1.00
3 .30 .49 .21 1.00
4 .02 .68 .30 1.00
5 .00 .33 .67 1.00
6 Hauptschule .00 .13 .87 1.00

Nun kommt der vierte und abschließende Schritt, bei dem es um die Verbin-
dung zwischen der sozialen Herkunft der Kinder und ihre soziale „Bestim-
mung“ in die drei sozialen Klassen über die Mechanismen von Bildungsbetei-
Sozialer Wandel 323

ligung und Statuszuweisung geht, also um Aufstieg, Abstieg oder Statusver-


erbung. In Tabelle 7.3 standen die Chancen der IEO-Übergänge von den sozi-
alen Klassen in das Bildungssystem, und in Tabelle 7.5 finden sich die Wahr-
scheinlichkeiten für die ISO-Übergänge vom Bildungssystem wieder in die
sozialen Klassen, jeweils für t1 vor und für t2 nach der Bildungsreform. Aus
diesen beiden Übergangsmatrizen lassen sich die Wahrscheinlichkeiten leicht
berechnen, daß jemand aus einer bestimmten sozialen Klasse über die Bil-
dungsbeteiligung und die Positionszuweisung in eine bestimmte soziale Klas-
se hineinkommt.
Diese Berechnung geschieht als Matrix-Multiplikation der beiden Tabellen 7.3 und 7.5, jeweils
für die beiden Perioden. Dabei werden die Werte aus einer Zeile i aus der Tabelle 7.3 für eine be-
stimmte Periode mit einer Spalte k aus der Tabelle 7.5 schrittweise multipliziert und aufaddiert.
Das ergibt dann die Wahrscheinlichkeit des Übergangs von der Klasse Ki in die Klasse Kk, ver-
mittelt über die Wahrscheinlichkeit, von der Klasse Ki aus den Schulabschluß Sj zu erhalten und
mit einem Schulabschluß Sj eine Position in der Klasse Kk zu übernehmen. Beispielsweise errech-
net sich die Übergangswahrscheinlichkeit für die Periode t1 von der Klasse K2 in die Klasse K2
über die sechs Schulabschlüsse auf diese Weise dann so:

(0.05&0.21)+(0.05&0.21)+(0.04&0.21)+(0.15&0.60)+(0.36&0.44)+(0.35&0.14)=
0.0105+0.0105+0.008+0.090+0.158+0.049=
0.326.

So entsteht eine Matrix mit den drei Herkunftsklassen in den Zeilen und den
drei Bestimmungsklassen in den Spalten, sowie den Übergangswahrschein-
lichkeiten von einer Klasse i in die Klasse k in den jeweiligen Zellen ik. Der
Übergang von einer Klasse Ki wieder in die Klasse Ki beschreibt dann also die
Wahrscheinlichkeit einer Statusvererbung. Diese Wahrscheinlichkeiten stehen
folglich in der Hauptdiagonale der neuen Matrix in Tabelle 7.6.
324 Die Konstruktion der Gesellschaft

Tabelle 7.6: Der Übergang zwischen den sozialen Klassen als Folge von klassenspezi-
fischer Bildungsbeteiligung und „meritokratischer“ Statuszuweisung zu
zwei Perioden nach dem Modell von Boudon (vgl. auch Boudon 1974, S.
152)

a. Zeitpunkt t1
soziale Bestimmung

K1 K2 K3 insgesamt

K1 .305 .323 .372 1.00


soziale Herkunft K2 .131 .326 .543 1.00
K3 .050 .283 .667 1.00

b. Zeitpunkt t2
soziale Bestimmung

K1 K2 K3

K1 .308 .319 .373 1.00


soziale Herkunft K2 .132 .324 .544 1.00
K3 .049 .285 .666 1.00

Über die absoluten Größen der sozialen Klassen – 1000 bei K1, 3000 bei K2
und 6000 bei K3 – lassen sich dann die Übergänge bzw. die Statusvererbun-
gen auch wieder in „absoluten“ Anzahlen von „Personen“ ausdrücken, die
aufsteigen, absteigen oder den Status ihrer Eltern wieder erben. Dazu müssen
nur die Übergangswahrscheinlichkeiten zeilenweise mit den Klassengrößen
der sozialen Herkunft multipliziert werden. Das Ergebnis steht in Tabelle 7.7.
Sozialer Wandel 325

Tabelle 7.7: Der Übergang zwischen den sozialen Klassen in absoluten Zahlen nach
dem Modell von Boudon (vgl. auch Boudon 1980, S. 97)

a. Zeitpunkt t1
soziale Bestimmung

K1 K2 K3 insgesamt

K1 305 323 372 1000


soziale Herkunft K2 382 989 1629 3000
K3 313 1688 3999 6000

b. Zeitpunkt t2
soziale Bestimmung

K1 K2 K3

K1 308 319 373 1000


soziale Herkunft K2 396 972 1632 3000
K3 296 1709 3995 6000

Und was sieht man? Genau: Obwohl sich das Bildungssystem nachhaltig ge-
wandelt und für alle Schichten nach oben geöffnet hat, hat sich an der Status-
vererbung zwischen den sozialen Klassen im Vergleich der beiden Perioden t1
und t2 kaum etwas geändert:
„In sum, the model indicates that a drastic change in school attendance as well as in overall edu-
cational attainment, even when combined with a nonnegligible decrease in IEO, has but a small
impact on the structure of intergenerational mobility.“ (Boudon 1974, S. 153; Hervorhebungen
nicht im Original)

Also: Die Bildungschancen haben sich vermehrt, aber die soziale Ungleich-
heit ist geblieben, genauso wie das Blossfeld empirisch gefunden hat (siehe
oben). Und warum das so ist, ist nun auch leicht zu verstehen: Weil sich die
Zahl der besseren Positionen eben nicht mit den Bildungschancen gleichzeitig
erhöht hat, gibt es jetzt eine – strukturell bedingte – schärfere Konkurrenz un-
ter den Bewerbern mit den höheren Bildungsabschlüssen. Und der Grund da-
für:
326 Die Konstruktion der Gesellschaft

„Die Stabilität der Struktur hinsichtlich der Mobilitätsströme ergibt sich aus der Interdependenz
zwischen den Agenten: Parallel zu dem Rückgang der Disparitäten bei den Bildungschancen voll-
zieht sich ein Anwachsen der Warteschlange, was wiederum einen komplexen Abwertungseffekt
der Berechtigungsscheine hervorruft.“ (Boudon 1980, S. 97)

Alle müssen sich also jetzt auf die Zehen stellen, und keiner sieht besser als
vorher. Das Bildungsniveau ist ohne Zweifel insgesamt gestiegen, und inso-
fern hat sich etwas geändert. Aber die Schichtungsstruktur ist geblieben: Bei
dem Wettlauf um die besseren Positionen haben weiterhin die oberen Schich-
ten die besseren Karten, weil sie, ausgestattet mit kulturellem und sozialem
Kapital und einem familial vermittelten Erbe der Bildungsvorteile, immer
wieder mit deutlich höheren Anteilen an Kandidaten mit den höheren Ab-
schlüssen an den Start gehen. Und wenn man, was Boudon dann realisti-
scherweise auch noch tut, auch unmittelbare Vorteile der oberen Klassen bei
der Positionsvergabe berücksichtigt, dann stabilisiert sich die Statusvererbung
mit der Öffnung des Bildungssystems noch weiter.9 Und die Folge:
„Das Verhalten der Individuen hat sich zwischen t1 und t2 (zwar; HE) geändert: Unter sonst glei-
chen Bedingungen strebt ein Individuum der Kohorte t2 gegenüber einem vergleichbaren Indivi-
duum der Kohorte t1 nach einem höheren Bildungsniveau. Das durchschnittliche Bildungsniveau
jeder Kategorie ist demnach angestiegen; außerdem machte sich der Wandel bei den niedrigen
Kategorien stärker bemerkbar. Dessen ungeachtet und trotz der Tatsache, daß dem Bildungsni-
veau ein großer Anteil bei der Festsetzung des sozialen Status zukommt, bleibt (jedoch; HE) die
Struktur der sozialen Mobilität stabil.“ (Boudon 1980, S. 97f.; Hervorhebungen nicht im Original)

Boudon nennt den Vorgang der strukturellen Abbremsung der Mobilität bei
verstärkten Bildungsanstrengungen aller Schichten einen „Neutralisierungsef-
fekt“: Der Wandel der individuellen Verhaltensweisen, ausgelöst durch einen
„externen“ politischen Anstoß, löst Folgen aus, die sich gegenseitig aufheben:
Der Erhöhung der Qualifikationen folgt in gleichem Maße eine Verstärkung

9
Vgl. die Einführung des sog. Dominanzeffekts in das Modell, wonach Kinder aus den o-
beren Klassen bei der Zuteilung der Absolventen der verschiedenen Schulabschlüsse der
Reihe nach bevorzugt werden, wenn es um die Auffüllung der evtl. noch offenen Positio-
nen geht; vgl. Boudon 1974, S. 155ff. Solche Dominanzeffekte lassen sich soziologisch
gut belegen: Die Kinder oberer Klassen haben eine Reihe von Vorteilen, in der Konkur-
renz mit den Kindern unterer Klassen auch bei gleicher Qualifikation die besseren Posten
zu erhalten, wie etwa das kulturelle Kapital des „guten“ Geschmacks aus dem bildungs-
bürgerlichen Elternhaus oder gewisse „Beziehungen“ unter den oberen 3 Millionen, was
man inzwischen als soziales Kapital bezeichnet. Vgl. dazu auch Müller-Benedict 1999, S.
319f. Vgl. zu den Konzepten des sozialen und des kulturellen Kapitals auch noch Band 4,
„Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“.
Sozialer Wandel 327

der Konkurrenz. Außerdem zeigt Boudon noch, daß die stabilisierenden Ef-
fekte auch unter Bedingungen einer noch stärkeren Öffnung des Bildungssys-
tems erhalten bleiben.10
Wichtig ist dabei vor allem, daß sich diese Verhältnisse der Statusvererbung zwar gleich ein-
stellen, daß aber gleichwohl das Bildungsniveau einen Einfluß auf die Statuseinnahme der
Individuen hat. Insofern handelt es sich eben nicht um die Perpetuierung der sozialen Un-
gleichheit aufgrund irgendwelcher Diskriminierungen oder um ein Kastensystem der askrip-
tiv fixierten Zuweisung von Positionen und ohne jede Bewegung zwischen den Schichten:
Eine gute Bildung verschafft durchaus einen Vorteil für die Individuen an der Warteschlange
vor der Einweisung in die höheren Positionen. Aber an der Struktur der sozialen Ungleichheit
ändert sich dadurch kaum etwas.

Hinzu tritt im übrigen ein weiterer, schier unaufhaltsamer Prozeß der sozusa-
gen „kumulativen“ Entwertung der höheren Bildungsabschlüsse. Raymond
Boudon hat diesen Vorgang zum Schluß seines wirklich richtungsweisenden
Buches so beschrieben:
„ ... every individual has a definite advantage in trying to obtain as much education as possible –
the higher the educational level, the more favorable the status expectations. But as soon as all in-
dividuals want more education, the expectations associated with most educational levels tend to
degenerate, and this has the effect of inciting people to demand still more education in the next pe-
riod.“ (Boudon 1974, S. 198)

Die Bildung ist mit der Öffnung des Bildungssystems also offenbar eine Art
von Positionsgut geworden. Das sind Güter, die nur dem nutzen, der sie als
erster besitzt (vgl. dazu auch noch Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Spe-
ziellen Grundlagen“). Das hat die leicht einsehbare Folge eines gnadenlosen
runs auf ein solches Gut, wenn es denn überhaupt erreichbar erscheint. Einmal
durch die Bildungsreform in Gang gesetzt beginnt also so etwas wie ein „ei-
gendynamischer“, sich selbst verstärkender und nicht aufzuhaltender Prozeß
eines Wettlaufs um die höhere Bildung (siehe dazu auch noch Abschnitt 7.4
unten in diesem Band). Es ist die Fortsetzung des Rüstungswettlaufs der gro-
ßen Systeme in der Weltraumfahrt in den 60er Jahren im Innern der Gesell-
schaften seitdem. Und an dem „müssen“ alle teilnehmen, weil sie sonst sofort
schon das Rennen um die guten Plätze verloren hätten. Und das tun sie dann
auch, selbst wenn sie dafür gar nicht geeignet sind und – statt ein mühseliges
Abitur und ein mittelmäßiges Magisterexamen in Politik und Germanistik zu
machen und einer ungesicherten akademischen Zukunft entgegenzusehen –

10
Vgl. dazu aber auch die davon abweichenden Ergebnisse bei Müller-Benedict (1999, S.
325ff.), der in einer verallgemeinernden Simulation des Modells von Boudon feststellt,
daß sich die Statusvererbung doch verringern kann, wenn die Bildungsungleichheit weiter
sinkt und sich die Erfolgsquoten der Bildung erhöhen. Vgl. dazu auch noch den Schluß
von Abschnitt 7.4 unten in diesem Band.
328 Die Konstruktion der Gesellschaft

besser eine wohlhabende Metzgerin geheiratet hätten, jetzt zufrieden in Bad


Wörishofen an der Kasse lehnten und sich in der Seele zufrieden anhören
dürften, daß die feine ungeräucherte Kalbsleberwurst von letztens wirklich
ganz ausgezeichnet gewesen wäre und daß das, was der Sauter über den Herrn
Ministerpräsidenten sage, nichts als ein übler Schafskäs’ wär.

7.2 „Gesetze“ des sozialen Wandels?

Jeder soziale Wandel ist ein Prozeß – ein Prozeß der Genese bestimmter Se-
quenzen der Änderung der gesellschaftlichen Strukturen. Und auch vollkom-
men stabile Strukturen sind, wie wir gesehen haben, nichts als die Folge von
solchen „genetischen“ Prozessen der Abfolge von aneinander anschließenden
Sequenzen einer soziologischen Erklärung: Eltern aus bestimmten sozialen
Klassen schicken ihre Kinder systematisch auf bestimmte Schulen, und die
Arbeitgeber verteilen die Positionen wiederum systematisch nach den Schul-
abschlüssen. Und daraus ergibt sich dann die Reproduktion der sozialen Un-
gleichheit oder ggf. auch ihr Wandel. Die „Logik“ des sozialen Wandels be-
steht also nicht aus irgendwelchen übergreifenden „Gesetzen“ des sozialen
Wandels, sondern aus der „Situationslogik“ des immer wieder neu zu erklä-
renden „Anschlusses“ von einzelnen Sequenzen der soziologischen (Tiefen-)
Erklärung an die vorhergehende.
Das hatte die Soziologie eine lange Zeit anders gesehen (vgl. auch die Anmerkungen zu Be-
ginn dieses Kapitels). Sie wollte inhaltlich definierte übergreifende Abläufe und Zusammen-
hänge benennen und begründen, wie die der Ko-Evolution von Industriegesellschaft und
Kernfamilie bei Emile Durkheim oder die Sequenz von Alphabetisierung, Urbanisierung,
Medienverbreitung und Empathie bei Daniel Lerner. Und sie ging dabei von der festen Über-
zeugung aus, daß es unverrückbare und „allgemeine“ soziologische „Gesetze“ des Wandels
auf der Makroebene gesellschaftlicher Prozesse gäbe. Sie hat daher auch immer strikt daran
festgehalten, daß es ganz und gar unnötig, ja irreführend sei, die Vertiefungen auf die Mikro-
ebene, die möglichen Variationen in der Definition der Situation etwa, die komplexen Inter-
dependenzen der Akteure oder die Komplikationen bei der Aggregation der individuellen Ef-
fekte in kollektive Folgen, systematisch zu beachten: Die Individuen interessian mi überhaapt
net, brummt Peter Plora unentwegt als Begründung für das Programm „seiner“ institutionalis-
tischen Makrosoziologie der Entwicklungen der Wohlfahrtsstaaten in Westeuropa, und zeigt
damit, daß er, wie so mancher andere, wohl nie verstehen will oder kann, worum es beim Me-
thodologischen Individualismus und beim Modell der soziologischen Erklärung geht. Denn:
Die „Individuen“ sind ja auch im Modell der soziologischen Erklärung ganz und gar uninte-
ressant, und es interessieren auch hier nur die, wie das etwa Alexis Toqueville im Zusam-
menhang mit dem „Baumfalken“ so nachdrücklich betont hat, sozialen Klassen (vgl. dazu
auch schon die Kapitel 10 und 12 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziel-
len Grundlagen“).
Sozialer Wandel 329

Daß die Annahme fester soziologischer Gesetze eine äußerst waghalsige An-
gelegenheit ist, und daß es dafür stets mehr Ausnahmen als Regeln gab, ist
nicht zuletzt auch einer der Startpunkte für das Modell der soziologischen Er-
klärung gewesen: Es gibt, wie sich inzwischen nachhaltig gezeigt hat, solche
„Gesetze“ auf der Makroebene nicht, und mit den zahllosen Ausnahmen von
diesen Gesetzen des sozialen Wandels ist die bloß makrosoziologisch argu-
mentierende Soziologie nicht ohne Grund nie zu Rande gekommen.
Gleichwohl kann nicht bestritten werden, daß es gewisse Regelmäßigkeiten
des Wandels gibt und sogar bestimmte „Stadien“ von Abläufen der „Entwick-
lung“. Diese Regelmäßigkeiten aber, so festgefügt auch immer sie sein mö-
gen, „erklären“ den Wandel nicht, sie beschreiben ihn nur. Daher sind sie
auch kein Explanans für eine Theorie des sozialen Wandels, wie das die her-
kömmliche Soziologie immer meinte, sondern nun ihr Explanandum: Die be-
obachteten Regelmäßigkeiten müssen, einschließlich ihrer evtl. auch vorlie-
genden Anomalien, immer erst noch erklärt werden – und zwar über eine re-
gelgerechte soziologische Erklärung, natürlich, und damit über die Angabe
der Umstände, wie die Akteure dazu kommen, die Prozesse des Wandels so
voranzutreiben, wie es die soziologischen Gesetze des sozialen Wandels pos-
tulieren. An Hand eines eher harmlos erscheinenden Beispiels wollen wir nun
etwas ausführlicher zeigen, was mit der soziologischen Erklärung von „Geset-
zen“ des sozialen Wandels und ihrer Ausnahmen und mit der „Ko-Evolution“
von Akteuren, sozialen Systemen und Strukturen – gemeint ist.

Die „Erklärung“ eines „Gesetzes“ des sozialen Wandels: das Beispiel des
Race Relation Cycle

Das „Gesetz“, um das es bei der folgenden Rekonstruktion bzw. soziologi-


schen Tiefenerklärung geht, ist die Behauptung von Robert E. Park, daß sich
die Beziehungen zwischen neu eingewanderten ethnischen Minderheiten und
der einheimischen Bevölkerung stets nach einer typischen Stufenfolge voll-
ziehen: Kontakt, Konflikt, Akkomodation und Assimilation.11 Er nannte die-
ses „Gesetz“ den Race Relations Cycle (RRC).
Die Phase des Kontaktes ist die Situation unmittelbar nach der Immigration der ersten „Pionier“-
Wanderer einer fremdethnischen Gruppe in ein Aufnahmeland. Hier herrschen freundliche Neu-
gier und friedliche Kontaktnahme vor. In der zweiten Phase beginnt, vor allem aufgrund der ver-
stärkten Nachwanderung weiterer Angehöriger der Minderheitengruppe, der Konflikt um die be-

11
Robert E. Park, Our Racial Frontier on the Pacific, in: Robert E. Park, Race and Culture,
Glencoe, Ill., 1950, S. 149ff.
330 Die Konstruktion der Gesellschaft

gehrten, aber knappen Ressourcen – um Arbeitsplätze und Wohnungen insbesondere. Dieser


Konflikt ist meist nur latent, mündet aber unter Umständen auch in offene Auseinandersetzungen,
wie Rassenunruhen oder Diskriminierungen. Danach aber entwickelt sich nach und nach die
Etablierung der ethnischen Minderheit und ein modus vivendi unter Aufgabe einseitiger Ansprü-
che. Das ist die Phase der Akkomodation. Sie ist bestimmt durch die Verfestigung typischer ethni-
scher Arbeitsteilungen, räumlicher Segregationen und beruflicher Insulationen, so gut wie immer
auch begleitet von der Entstehung eines Systems der ethnischen Schichtung. Die vierte Phase, die
Assimilation, ergibt sich schließlich als Folge der in der Zeit als unvermeidlich angesehenen zu-
nehmenden Vermischung der Gruppen über alle spaltenden Linien der ethnischen Differenzie-
rung hinweg – bis hin zum Verschwinden der ethnischen Dimension als Strukturmerkmal der
betreffenden Gesellschaft, wobei sich dieser Prozeß der Assimilation meist über mehrere Genera-
tionen erstreckt (vgl. dazu auch schon die Ausführungen zur „Integration“ von Migranten im Ex-
kurs über Integration, Assimilation und die sogenannte multikulturelle Gesellschaft im Anschluß
an Kapitel 6 dieses Bandes).

Park stellt zu dieser Abfolge von Kontakt-Konflikt-Akkomodation-


Assimilation ganz unmißverständlich fest, daß es sich dabei seiner Meinung
nach nicht bloß um eine empirische Regularität handele, sondern um einen
allgemeinen, eigendynamischen, unwiderstehlichen und irreversiblen, gar um
einen „kosmischen“ Prozeß, fast von der Art eines Gesetzes der Astronomie
also:
„The impression that emerges from this review of international and race relations is that the forces
which have brought about the existing interpenetration of peoples are so vast and irresistible that
the resulting changes assume the character of a cosmic process ... . In the relations of races there is
a cycle of events, which tends everywhere to repeat itself ... . The race relations cycle ... is appa-
rently progressive and irreversible. Customs regulations, immigration restrictions and racial bar-
riers may slacken the tempo of the movement; may perhaps halt it altogether for a time; but can-
not change its direction; cannot at any rate, reverse it.“ (Park 1950, S. 149f.; Hervorhebungen
nicht im Original)

Dieses Modell und insbesondere die Behauptung seiner Allgemeinheit und


Unwiderstehlichkeit ist, wie andere, ähnliche Zyklus-Modelle der Entwick-
lung interethnischer Beziehungen, bald kritisiert worden: Alles kann auch
dauerhaft in ein System ethnischer Schichtung einmünden, und es kann auch
wieder zu „Regressionen“ von der Assimilation zur Akkomodation und zum
Konflikt, gar auch zur Sympathie kommen, etwa wenn es um gemeinsame
Gegner geht.12 Vor allem aber: Der RRC ist ersichtlich keine Erklärung der
„Entwicklung“ der interethnischen Beziehungen, es ist allenfalls deren induk-
tive Beschreibung aus der Zusammenfassung vieler Beobachtungen. Denn

12
Vgl. zur Kritik an den Modellen des RRC allgemein u.a. Tamotsu Shibutani und Kian
Kwan, Ethnic Stratification. A Comparative Approach, New York und London 1965, S.
131f.; Stanford M. Lyman, The Race Relations Cycle of Robert E. Park, in: The Pacific
Sociological Review, 11, 1968, S. 17ff.; Charles A. Price, The Study of Assimilation, in:
John A. Jackson (Hrsg.), Migration, Cambridge 1969, S. 213ff.
Sozialer Wandel 331

beispielsweise: Was soll dabei der alles treibende Mechanismus sein? Und
wie hat man sich genau vorzustellen, warum und unter welchen Bedingungen
die einzelnen Phasen sich einander ablösen? Wir wollen daher nun ein Modell
skizzieren, das die Entstehung eines solchen RRC tatsächlich erklärt – und
gleichzeitig zeigen kann, wann und warum es zu Abweichungen von dem
„kosmischen“ Gesetz kommt.

Die Annahmen des Modells

Das Modell beginnt mit der Unterscheidung von drei Typen von Akteuren:13
Die Einheimischen, die Migranten und die im Herkunftsland verbliebenen
Personen, die sog. Verbliebenen. Sie sind über drei typische Interdependenzen
miteinander verbunden und bilden insofern ein „Interdependenz“-System
(siehe dazu gleich unten mehr). Diese drei Gruppen von Akteuren haben je-
weils typische Alternativen des Handelns bzw. der Orientierung: Die Einhei-
mischen die der Akzeptanz (A) gegenüber der Distanz (D) zu den Migranten,
die Migranten die der Assimilation (S) oder die der Segmentation (G) in eine
ethnische Gemeinde, und die Verbliebenen die des weiteren Verbleibens (V)
im Herkunftsland gegenüber der Nachwanderung (M) dorthin, wo die
Migranten schon sind.
Für den mit den jeweiligen Alternativen zu erwartenden (Netto-)Nutzen,
von dem die jeweiligen Entscheidungen der Akteure abhängen, sei nun ein-
facherweise angenommen, daß es nur materiellen Nutzen Um bzw. materielle
Kosten Cm und sozialen Nutzen Us bzw. soziale Kosten Cs gebe.
Die materiellen Komponenten beziehen sich dabei etwa auf das zu erwartende Einkommen
und das Prestige der jeweiligen beruflichen Tätigkeit, die sozialen Komponenten auf den Er-
halt sozialer Anerkennung oder der Wahrung einer Identität über die Einbettung in soziale
Netzwerke. Es geht also wieder um die Nutzenproduktion über die Bedienung der beiden all-
gemeinen Bedürfnisse nach physischem Wohlbefinden und sozialer Wertschätzung.

Ganz allgemein und für alle Typen von Akteuren und Alternativen gilt somit
das folgende, durchaus triviale, weil inhaltlich noch nicht ausgefüllte Ent-
scheidungsmodell für eine Alternative i der sechs genannten Möglichkeiten:
EU(i) = (pimUm + pisUs) - (qimCm + qisCs)

13
Die folgende Modellierung orientiert sich an dem Beitrag von Hartmut Esser, Soziale Dif-
ferenzierung als ungeplante Folge absichtsvollen Handelns: Der Fall der ethnischen Seg-
mentation, in: Zeitschrift für Soziologie, 14, 1985, S. 438ff.
332 Die Konstruktion der Gesellschaft

Der Rest der Modellierung besteht aus der Strukturierung der Einzelgewichte
der verschiedenen Alternativen und aus der Änderung der Einzelgewichte als
Folge eines („eigendynamisch“) ablaufenden Prozesses, der sich aus drei typi-
schen Interdependenzen der Akteure ergibt.

Die erste Interdependenz: soziale Distanz und die Anzahl der Migranten

Wir wollen annehmen, daß das Geschehen mit der Einwanderung einiger we-
niger Pioniere beginnt und daß diese Migration von den Einheimischen sogar
gewünscht wird, etwa zur Entlastung eines überhitzten Arbeitsmarktes oder
für bestimmte Tätigkeiten, die die Einheimischen selbst nicht (mehr) ausüben
mögen. Ansonsten gebe es bei den Einheimischen nur neutrale Gefühle ge-
genüber den Immigranten. Es läßt sich also zunächst für die Einheimischen
die folgende EU-Gewichtung der Alternativen Akzeptanz versus Distanz an-
nehmen:
EU(A) = pamUm
EU(D) = 0.

Also: freundliche Akzeptanz aus naheliegenden materiellen Gründen und weil


es für die Distanzierung keinen Anlaß gibt.
Die EU-Gewichte müssen aber natürlich nicht so bleiben. Der wirtschaftli-
che Nutzen der Migranten für die Einheimischen, etwa, hängt vor allem von
der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt ab und damit (auch) von der schieren
Anzahl weiterer Immigranten und der Arbeitsmarktsituation der Einheimi-
schen. Es ist dann zu erwarten, daß die zunächst freundliche Einschätzung mit
der Zunahme einer Konkurrenz in eine ethnozentristisch begründete, schlie-
ßende Abwehr umschlägt, zumal dann, wenn die Migranten damit beginnen,
sich in ihrer Lebensgestaltung in die ethnischen Gemeinden zurückzuziehen
und ihre eigene Kultur auch demonstrativ gegen die Kultur des Aufnahmelan-
des zu pflegen. Diese Beziehungen verbinden das Akzeptanzverhalten der
Einheimischen mit dem weiteren Migrationsgeschehen und dem Verhalten der
Migranten. Es ist eine erste Interdependenz im „System“ der drei Typen von
Akteuren.

Die zweite Interdependenz: ethnische Segmentation und Gruppengröße

Für das Verhalten der Migranten seien dann, wiederum vereinfachend, zu-
nächst nur die materiellen Chancen im Aufnahmeland wichtig, insbesondere
Sozialer Wandel 333

weil es wegen des Fehlens einer ethnischen Gemeinde in der Phase der Pio-
nierwanderung keinerlei Möglichkeiten für irgendeinen materiellen oder sozi-
alen Nutzengewinn durch die ethnische Segmentation gibt. Also läßt sich für
die Alternativen Assimilation versus Segmentation bei den Migranten zu-
nächst annehmen:
EU(S) = psmUm
EU(G) = 0.

Das heißt inhaltlich: Die Segmentation ist als Alternative nicht verfügbar, und
nur über die Assimilation ist das Leben zu fristen. Genau das ist auch der
Grund für die gut belegte Beobachtung, daß sich die Pionierwanderer meist
relativ rasch in die Aufnahmegesellschaft hinein integrieren: Sie haben eigent-
lich keine Alternative.
Auch das kann sich selbstverständlich ändern. Der wohl wichtigste Grund
ist – ebenfalls – die Zunahme der reinen Anzahl weiterer Migranten. Sie sen-
ken über die nun einsetzende Konkurrenz die materielle Nutzenerwartung für
die (strukturelle) Assimilation, und sie eröffnen jetzt Chancen für ein vor al-
lem in kultureller und sozialer Hinsicht erträgliches Leben in einer ethnischen
Gemeinde. Das ist die Verbindung zwischen dem weiteren Migrationsgesche-
hen und dem Verhalten der Migranten, das seinerseits über die mit der Grup-
pengröße variierenden sozialen Distanzierungen mit dem Verhalten der Ein-
heimischen verknüpft ist. Es ist die zweite Interdependenz der Akteure.

Die dritte Interdependenz: Kettenwanderungen

Vieles hängt also davon ab, ob es bei den wenigen Pionierwanderern bleibt
oder nicht. Nun kommen die Verbliebenen ins Spiel. Sie sind im Herkunfts-
land geblieben, weil für sie die Bilanz einer Migration gegenüber dem
Verbleiben negativ war. Das lag, so sei angenommen, daran, daß es eine be-
sondere materielle Nutzenerwartung der Migration bei ihnen (einstweilen)
nicht gab, wie wohl bei den Älteren oder bei den Frauen, und daß die Aufgabe
der sozialen Bindungen an den Herkunftskontext einen deutlichen Nutzenver-
lust nach sich ziehen würde. Die EU-Gewichte für die Entscheidung zum
Verbleiben oder zur Wanderung lassen sich für die Verbliebenen dann so mo-
dellieren:
EU(V) = pvsUs
EU(M) = -qmsCs.
334 Die Konstruktion der Gesellschaft

Also: Die Migration würde einen hohen (Trennungs-)Schmerz erzeugen, und


beim Verbleiben werden die sozialen Bindungen erhalten. Weil hier die Bi-
lanz für eine Migration eindeutig negativ ist, sind die Verbliebenen zunächst
auch nicht gewandert.
Aber auch das kann sich ändern, und zwar ebenfalls durch den Prozeß der
Migration selbst: Mit der vollzogenen Abwanderung der Pionierwanderer, et-
wa von jungen Familienvätern, Verlobten oder Freunden, verlagert sich für
die Verbliebenen ein Teil des sozialen Nutzens von der Alternative „Verblei-
ben“ auf die Alternative „Migration“. Und im Herkunftsland verringert sich,
wegen des Trennungsschmerzes und der nun auch einsetzenden Verdünnung
der sozialen Netzwerke am Ort ganz allgemein, auch der soziale Nutzen als-
bald. Damit verändert sich die zuerst negative Bilanz bei den Verbliebenen
zugunsten der Alternative der Migration – mit der evtl. Folge, daß sich nun
einige zur Migration entscheiden, die das ohne die Pionierwanderungen nicht
getan hätten – die jungen Ehefrauen ohne kleine Kinder oder die etwas ent-
fernteren Bekannten zum Beispiel. Das aber kann dann wiederum für weitere
Gruppen, die einen noch höheren Schwellenwert bei der Entscheidung zur
Migration haben, wie bei den älteren Personen oder den Ehefrauen mit klei-
nen Kindern, der Grund sein, daß sie jetzt auch abwandern. Und wenn die
Verteilung der Schwellenwerte für die Migration über die Population der Ver-
bliebenen hinweg keine allzu großen Lücken aufweist, gibt es den Domino-
Prozeß einer kaum noch aufzuhaltenden „Kettenwanderung“ – im Extremfall
mit der Folge, daß nun alle ehemaligen „Verbliebenen“, etwa aus einem Dorf
in Süditalien, ihren Verwandten und Bekannten in das Aufnahmeland nach-
gewandert sind (vgl. zu den Schwellenwertmodellen von solchen Domino-
Prozessen auch schon Abschnitt 10.4 in Band 1, „Situationslogik und Han-
deln“, sowie noch ausführlich Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“,
dieser „Speziellen Grundlagen“). Das ist die dritte Interdependenz im System
der Akteure.

Das Zusammenspiel der Interdependenzen

Insgesamt läuft mit diesen drei Interdependenzen, wenn die nötigen Annah-
men zutreffen, also ein eigendynamischer Prozeß ab, der deshalb in der Tat
nicht aufzuhalten ist, weil sich nach und nach die verschiedenen Terme der
EU-Gleichungen und damit auch die EU-Gewichte der Alternativen bei allen
drei Gruppen verschieben und sich gegenseitig immer wieder mit neuen Än-
derungen anstecken und so den Prozeß weitertreiben.
Sozialer Wandel 335

Wiederum für den einfachsten Fall sieht dieser mehrfach verbundene Prozeß so aus: Die Abwan-
derung der Pionierwanderer verändert die EU-Gewichte bei einem Teil der Verbliebenen so, daß
die sich nun zur Wanderung entschließen. Dadurch steigt im Aufnahmeland sukzessiv die Grup-
pengröße der Migranten. Das hat zwei Folgen: Erstens nimmt nun die Konkurrenz um die knap-
pen Ressourcen, auch mit den Einheimischen, zu. Und zweitens wird mit der Vergrößerung der
Gruppe die ethnische Segmentation der Migranten möglich und auch attraktiv. Es sinkt daher
nach und nach die Neigung der Migranten zur Assimilation ebenfalls. Beides zusammen sorgt
allmählich für die Veränderung der Orientierungen bei den Einheimischen, die, so sei angenom-
men, soziale Distanzen in dem Maße aufbauen, wie die Gruppengröße der Migranten zunimmt
und sich die ethnischen Gemeinden etablieren.

Die drei Prozesse – Nachwanderung und Erhöhung der Gruppengröße, Kon-


kurrenz zu den Einheimischen und Entstehung sozialer Distanzen, Aufbau ei-
ner ethnischen Gemeinde und verstärkte ethnische Segmentation – sind dabei
also allesamt miteinander verbunden, beeinflussen und steigern sich gegensei-
tig und bilden ein System der „Ko-Evolution“ einer typischen Sequenz des
sozialen Wandels (siehe dazu noch Abschnitt 7.4 unten in diesem Band). Nun
aber kann, anders als bei der bloßen Beschreibung der Sequenz, leicht erklärt
werden, warum es den RRC in der Tat in der Abfolge von Kontakt-Konflikt-
Akkommodation-Assimilation als feste Sequenz durchaus gibt.
Zuerst muß jedoch noch festgelegt werden, worin die verschiedenen Stadien des RRC als kollek-
tive Sachverhalte in der Logik des beschriebenen Modells bestehen sollen. Es geht also um die
Transformationsregeln für die Ableitung der „emergenten“ kollektiven Zustände, die jeweils die
Stadien des RRC bedeuten sollen (vgl. dazu Kapitel 1 dieses Bandes). Es liegt nahe, die Grup-
pengröße und das Verhalten der Gruppen gemäß dem Verlauf der EU-Gewichte für die Alternati-
ven „Assimilation“ versus „Segmentation“ als Definitionskriterium für das Vorliegen der Stadien
des RRC zu nehmen: Die Phase des Kontaktes liege dann vor, wenn die Gruppengröße klein ist
und (daher) die EU-Gewichte der Alternative „Assimilation“ deutlich höher sind als die für die
Alternative „Segmentation“ – und damit über die beschriebene Verbindung zum Verhalten der
Einheimischen die sozialen Distanzen ebenfalls geringe Werte haben. Dann erhöht sich über den
beschriebenen Mechanismus der Kettenmigration die Größe der ethnischen Gruppe, und es ver-
stärken sich darüber die sozialen Distanzen wie die segmentären Tendenzen. Das ist die Phase des
Konfliktes zwischen den Gruppen. Die gleichzeitig beginnende ethnische Segmentation forciert
nun die Nachwanderung von zunächst eher zurückhaltenden Verbliebenen mit vorwiegend sozia-
len Motiven noch weiter, so daß jetzt auch die ethnischen Gemeinden mit allen Elementen der
verwandtschaftlichen Vernetzung und primärer Umwelten ausgebaut werden können. Nun be-
ginnt die dritte Phase – der letztendliche Umschlag der assimilativen Orientierung in die Segmen-
tation und der Rückzug in die ethnische Kolonie, auch durch Migranten, die dies eigentlich zuvor
nicht geplant hatten. Zwar steigen nach dem Modell auch die sozialen Distanzen der Einheimi-
schen mit der Segmentation der Minderheiten weiter. Aber wegen des Rückzugs der ethnischen
Minderheiten aus den umkämpften Märkten in die binnenethnischen Nischen wird dieser Konflikt
gleichzeitig wieder entschärft. Das ist die Phase der Akkomodation, in der zwar die Konflikte
zwischen den Gruppen latent als Animositäten durchaus weiterleben und sich sogar als kulturell
verankerte und offensiv symbolisierte Selbstverständlichkeiten etablieren können, aber eben nicht
mehr offen ausgetragen werden und einer Stimmung des eher neutralen „leben-und-leben-lassen“
Platz machen.
336 Die Konstruktion der Gesellschaft

Die Phasen des RRC werden also über das Verhältnis der EU-Gewichte für
die Assimilation bzw. die Segmentation der Migranten (partiell) definiert. Es
ist, wie man leicht sieht, ein Fall der Festlegung gewisser Regeln der „Trans-
formation“ individueller Effekte in kollektive Sachverhalte (vgl. dazu bereits
Kapitel 1 dieses Bandes).
Zu den emergenten Effekten des Vorgangs können, auch unabhängig von weiteren empirischen
Zugaben, schon einige konkretere Dinge gesagt werden. Weil die beiden entscheidenden, von der
Gruppengröße abhängigen Funktionen, die EU-Gewichte für die Assimilation und für die Seg-
mentation, gegenläufig variieren, muß es, wenn die Gruppengröße aufgrund der Kettenmigration
hinreichend anwächst, zu einem Schnittpunkt der beiden Funktionen und damit zu einem Um-
schlag der Orientierungen bei den Migranten und darüber auch bei den Einheimischen kommen.
Außerdem können für den speziellen Verlauf der beiden Funktionen zwei Annahmen gemacht
werden: Das EU-Gewicht für die Assimilation verläuft, wenn man sie als reziproke Funktion der
Gruppengröße N, etwa mit 1/N, annimmt, als eine gegen null gehende asymptotische Funktion.
Und das EU-Gewicht für die Segmentation nimmt mit der Variation der Gruppengröße die Form
einer logistischen Funktion an, ganz wie die eines Prozesses des Bevölkerungswachstums, weil
über die Kettenmigration zunächst immer weitere Teile der verbliebenen Population erfaßt wer-
den, die dann aber wegen der Nachwanderung ja immer kleiner wird (vgl. dazu schon das Modell
in Kapitel 19 der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“).

In Abbildung 7.3 sind diese Beziehungen und Verläufe zusammengefaßt.


338 Die Konstruktion der Gesellschaft

auch nicht unmittelbar „endogen“ aus den beschriebenen Zusammenhängen


erfolgt. Das Modell muß also erweitert werden. Etwa so: Die späteren Gene-
rationen haben unvermeidlicherweise eine höhere Chance zur Aufnahme in-
terethnischer Kontakte als die erste Generation, wobei diese Chancen durch-
aus stark variieren mögen, etwa nach dem Grad der ethnischen Segmentation
der ersten Generation oder nach den sozialen Distanzen gegen eine bestimmte
ethnische Gruppe. Damit aber verändert sich „automatisch“ für die späteren
Generationen der Verlauf der EU(S)-Funktion, weil mit der Zunahme der in-
terethnischen Kontakte auch der Erwerb von gewissen „assimilativen“ Kom-
petenzen verbunden ist, etwa von Sprachkenntnissen. Wenn diese Verschie-
bung groß genug ist und über den Verlauf der Alternativen EU(G) hinausgeht,
wie bei der in Abbildung 7.3 eingezeichneten Funktion EU(S’), dann tritt die
Phase der Assimilation ein: Die Nachfolgegenerationen der Migranten verlas-
sen die ethnische Gemeinde, weil für sie die assimilative Orientierung die hö-
here – materielle wie soziale – Nutzenerwartung hat, auch wenn es die ethni-
schen Gemeinden immer noch geben mag, in denen die Eltern von der Sonne
Kretas und einer guten Rente aus Deutschland träumen.

Das „Gesetz“ des RRC und die Erklärung seiner Ausnahmen

Unmittelbar wird nachvollziehbar, worin die zwingende „Logik“ des RRC be-
steht. Es ist die Logik der sich ändernden Gelegenheiten und der dadurch ver-
änderten Gewichte für die verschiedenen Alternativen. Man kann sich nun
auch leicht Konstellationen vorstellen, in denen die Logik des RRC unterbro-
chen ist. Alles hängt ja an den Annahmen, etwa über die Verteilung der
Schwellenwerte für das Anlaufen und für die Fortsetzung der Kettenmigrati-
on, und an vielen anderen empirischen Gegebenheiten, die den Prozeß sonst
noch stoppen können.
Wenn beispielsweise die Schwellenwerte zur Nachwanderung in der Herkunftsregion nicht so
verteilt sind, daß eine Kettenwanderung zu erwarten ist, dann endet der Prozeß auch bald –
und es bleibt bei der Phase des Kontaktes mit der anschließenden Assimilation der (wenigen)
Migranten, auch schon in der ersten Generation und ohne alle die Zwischenschritte des RRC.
Auch können selbstverständlich jederzeit exogene Ereignisse den Prozeß ändern. Beispiels-
weise hat der drohende Anwerbestop für Gastarbeiter im Jahre 1973 die Nachwanderung der
Familien und eine auch darüber weit hinausgehende Kettenmigration ganz drastisch in Gang
gebracht – und dadurch erst manches Problem geschaffen, das er gerade verhindern sollte.
Und sicher „muß“ es die vierte Phase des RRC, die der Assimilation der Folgegenerationen,
auch in keiner Weise zwingend wirklich geben. Wenn sich beispielsweise ein ethnisches
Sozialer Wandel 339

Schichtungssystem einmal etabliert hat, wird es auch für eine dritte oder vierte Generation
sehr schwer, aus der ethnischen Mobilitätsfalle herauszufinden.

Alles in allem wird aber auch deutlich, daß die Behauptungen von Robert E.
Park über die Zwangsläufigkeit des Prozesses des RRC keineswegs unbe-
gründet waren: Unter einer Vielzahl von variierenden Bedingungen dürfte der
Vorgang tatsächlich so ablaufen, wie ihn Park – aufgrund einer Unzahl von
sorgfältigen Einzelbeobachtungen – beschrieben hat. Wir wissen mit dem
Modell der Erklärung des RRC jetzt aber, anders als Park, schon eher, warum
das so ist und, vor allem, wann und warum es den Prozeß so eben nicht gibt.

7.3 Die Logik des sozialen Wandels

Prozesse des Wandels gibt es inhaltlich, wie es scheint, unendlich viele, und
auch die Formen scheinen schier unzählbar zu sein. Es gibt die stetige Repro-
duktion des Immergleichen, die Oszillation zwischen verschiedenen Zustän-
den, die sukzessive Verstärkung von einmal begonnenen Abweichungen wie
deren Abschwächung und die Wiederherstellung eines Gleichgewichts nach
einer Störung, sowie den Übergang von einem Systemzustand in den anderen,
die Transformation. Es gibt den rein endogen angelegten, „eigendynami-
schen“ Wandel wie den durch exogene Ereignisse ausgelösten. Und es gibt
die allmähliche und schrittweise (Ko-)Evolution wie die plötzliche und radi-
kale Revolution. Mit dem auf soziale Prozesse angewandten Modell der so-
ziologischen Erklärung lassen sich diese verschiedenen Formen des Wandels
auf eine einfache Weise systematisieren. Von dem norwegischen Soziologen
und Demographen Gudmund Hernes stammt dazu ein Vorschlag, der es er-
laubt, die verschiedenen Arten von Prozessen über gewisse formale Grund-
strukturen zu ordnen. Und Raymond Boudon hat, daran anknüpfend, ein so-
ziologisches Modell der Logik des sozialen Wandels vorgeschlagen, das als
Grundinstrument für die Analyse von Prozessen des sozialen Wandels unent-
behrlich geworden ist.14

14
Vgl. Gudmund Hernes, Structural Change in Social Processes, in: American Journal of
Sociology, 82, 1976, S. 513-547; Raymond Boudon, Soziologie und sozialer Wandel:
reproduktive Prozesse, in: Boudon (1980a), S. 120ff.
340 Die Konstruktion der Gesellschaft

Output, Prozeß und Parameter

Soziale Prozesse sind für Hernes zunächst nichts anderes als Sequenzen von
aufeinander folgenden Strukturen. Der Ausgangspunkt jeder Sequenz eines
Prozesses ist ein gewisser Input xt zu einem Zeitpunkt t, und das Resultat die
von Hernes so genannte Outputstruktur Yt+1 zu einem Zeitpunkt t+1 danach.
Die Outputstruktur besteht dabei aus den (kollektiven) Ergebnissen des Han-
delns der Akteure zu dem Zeitpunkt t+1, beispielsweise die Verteilung von
Schulabschlüssen oder eines Index der sozialen Ungleichheit, ein Migrations-
saldo, eine Bevölkerungspyramide, ein Wahlergebnis, eine politische Ent-
scheidung oder eine Revolte. Erklärt wird diese Outputstruktur über einen be-
stimmten generierenden Prozeß T in Abhängigkeit des Input xt. Mit T faßt
Hernes alle kausalen, logischen und mit der ablaufenden „Zeit“ verbundenen
Beziehungen zwischen den Variablen zusammen, die den Output erklären sol-
len, im Idealfall in Form eines mathematischen Modells. Die dazu nötigen
kausalen und logischen Funktionen zwischen den Variablen bilden die sog.
Prozeßstruktur f. Die Funktionen enthalten, wie alle Funktionen, bestimmte
Parameter, etwa Regressionsgewichte oder Konstante, die Hernes auch als
Operatoren bezeichnet. Daraus setzt sich die sog. Parameterstruktur a zu-
sammen.
Die Grundidee ist nun, daß sich die Outputstruktur im Zeitpunkt t+1 so-
wohl auf die Prozeßstruktur wie auf die Parameterstruktur für einen danach
folgenden Zeitpunkt t+2 auswirken kann. Damit werden in den Vorgang ge-
wisse Rückkopplungen systematisch eingebaut, die dem Prozeß seinen, auf
den jeweiligen endogenen Zusammenhängen beruhenden, „eigendynami-
schen“ Charakter verleihen. Zusätzlich gibt es, natürlich, noch gewisse exo-
gene Einflüsse, die sich sowohl auf die Prozeßstruktur wie auf die Parameter-
struktur auswirken können, und das wieder in bestimmter funktionaler Form.
Insgesamt sind damit – in noch sehr abstrakter Weise – vier mögliche Beziehungsmuster zu
beachten. Der Input zum Zeitpunkt t ist mit der Outputstruktur zum Zeitpunkt t+1 durch den
Prozeß T über die Funktion f verbunden. Es gilt also erstens:

Yt+1 = T(f; xt).

Zweitens gilt, daß der Input xt+2 zu dem danach folgenden Zeitpunkt t+2 über eine Funktion q
von dem Output bei t+1 abhängt:

xt+2 = q(Yt+1).
Sozialer Wandel 341

Das ist eigentlich selbstverständlich, weil der Output jeder Vorperiode natürlich der Input an
Randbedingungen für die jeweils nächste Sequenz ist. Die Outputstruktur Yt+1 wirkt nun aber
zum Zeitpunkt t+1 – möglicherweise, nicht unbedingt immer – drittens auch auf die Parame-
terstruktur a der Funktion f, und zwar nach der Funktion g:

at+2 = g(Yt+1)

Schließlich kann viertens auch die Prozeßstruktur f selbst in der danach folgenden Periode
t+2 eine Funktion des Outputs zu t+1 sein, und zwar nach der Funktion h:

ft+2 = h(Yt+1).

Und so weiter.

Die Beziehungen zwischen den vier zentralen Größen des Modells lassen sich
dann wie in Abbildung 7.4 zusammenfassen, wobei die Ereignisse D+ wieder
gewisse exogene Einflüsse darstellen, die sich auf die Prozeßstruktur wie auf
die Parameterstruktur auswirken und darüber dann den Output verändern kön-
nen.
342 Die Konstruktion der Gesellschaft

Abb. 7.4: Die Beziehungen zwischen Input, Prozeß und Output im Modell von Hernes
(modifiziert nach Hernes 1976, S. 523)

Leicht ist zu erkennen, daß das Modell von Hernes nichts weiter ist als eine
etwas abstraktere Form des als Sequenz verstandenen Modells der soziologi-
schen Erklärung, die aber, und das ist das besondere Verdienst des Modells
von Hernes, systematische Hinweise darauf enthält, an welchen zentralen
Stellen solcher Prozesse sich der Wandel von „Strukturen“ ereignen kann. Es
sind genau drei Ebenen, auf denen das passieren kann: Die Outputstruktur Y,
die Parameterstruktur a oder aber die Prozeßstruktur f insgesamt.
Eine Änderung der Outputstruktur liegt beispielsweise bei dem in Abschnitt 7.2 beschriebenen
Prozeß der Kettenmigration vor, bei dem sich sukzessive die Anzahl der Migranten in einer Auf-
nahmegesellschaft erhöht. Andere Beispiele wären die Zunahme der Scheidungsraten oder die e-
benfalls oben angesprochene Bildungsreform und die Änderung des Bildungsverhaltens der Be-
völkerung. Bei der Rekonstruktion des Race Relation Cycle von Robert E. Park oben in Abschnitt
7.2 war, etwa für die Zunahme der Konkurrenz auf den Märkten, eine einfache Funktion ange-
nommen worden, nämlich die, daß sich die subjektive Wahrscheinlichkeit für die Nutzenproduk-
tion über eine Assimilation proportional mit der Gruppengröße ändere, am einfachsten also etwa
über die Funktion psm=1/N, wenn N die Gruppengröße ist. Darüber verringert sich dann das EU-
Gewicht für die Alternative S, die Assimilation, mit der Zunahme der Gruppengröße kontinuier-
lich, aber mit einer abnehmenden Rate. Wenn sich die Parameter dieser Funktion aufgrund des
Outputs ändern, liegt nun ein Wandel der Parameterstruktur vor – und der Prozeß nimmt, natür-
Sozialer Wandel 343

lich: ceteris paribus, einen anderen Verlauf. Beispielsweise könnte man davon ausgehen, daß sich
psm ab einer gewissen Gruppengröße nicht mehr weiter verringert und daher auch bei einem gro-
ßen N nicht gegen null geht. Ändert sich nun aber die ganze Funktion, etwa derart, daß psm nicht
nur von der Gruppengröße, sondern auch von anderen Variablen, etwa vom Grad der sozialen
Distanzen der Einheimischen, bestimmt wird, dann läge ein Wandel der ganzen Prozeßstruktur
vor.

Der soziale Wandel kann nun in beliebigen Kombinationen der Änderung o-


der der Konstanz der drei Ebenen geschehen, etwa gleichzeitig auf allen drei-
en, nur auf einer Ebene, etwa der der Parameterstruktur, auf zweien, welchen
auch immer – oder aber auch überhaupt nicht.

Einfache Reproduktion, erweiterte Reproduktion, Transition und Transforma-


tion

Es lassen sich aus diesen Möglichkeiten an Änderungen auf den drei Ebenen
der Output-, Parameter- und Prozeßstruktur vier typische Prozeßarten unter-
scheiden: die einfache und die erweiterte Reproduktion, die Transition und die
Transformation des Systems.
Bei der Stabilität aller drei Ebenen liegt die einfache Reproduktion vor: Ein
Output erzeugt immer wieder den gleichen Output – über einen in seinen
Funktionen und Parametern unveränderten inneren Prozeß. Das war etwa bei
dem Modell der Reproduktion der sozialen Ungleichheit von Boudon der Fall,
das wir oben in Abschnitt 7.1 besprochen haben. Verändert sich die Output-
struktur, ohne daß sich die Parameter- und die Prozeßstrukturen wandeln, gibt
es den Fall der erweiterten Reproduktion: Das System bleibt in seinen „inne-
ren“ Beziehungen konstant, ändert sich aber auf der Oberfläche des sichtbaren
Outputs. Die Veränderung der Gruppengröße der Migranten im RRC-Modell
oben aufgrund einer Kettenmigration wäre dafür ein Beispiel. Die Transition
ist dann ein Wandel sowohl der Outputstruktur wie auch der Parameter der
Funktionen. Nur die Struktur der Funktionen des Prozesses selbst bleibt dabei
erhalten.
Der sog. demographische Übergang wäre ein besonders typisches Beispiel dafür: Die Größe einer
Bevölkerung ist stets das „additive“ Resultat von Geburten und Sterbefällen. Fertilität und Morta-
lität sind die beiden grundlegenden Prozesse dabei, und die Geburtenneigung wie die Mortalitäts-
rate die dabei entscheidenden Parameter. Noch bis zur frühen Neuzeit war die Bevölkerung relativ
stabil, weil zwar die Fertilität recht hoch war, aber auch die Mortalität, besonders die der kleinen
Kinder. Sowohl die Mortalität wie die Fertilität veränderten sich nun mit der allmählichen Zu-
nahme des wirtschaftlichen Wohlstandes, und damit die wichtigsten Parameter der demographi-
schen Reproduktion über Geburten und Sterbefälle. Als Folge veränderte sich auch der Output
deutlich – von einem „reproduktiven“ Gleichgewicht zahlreicher Geburten und Todesfälle über
ein massives Ansteigen der Bevölkerung zu einem neuen reproduktiven Gleichgewicht mit gerin-
344 Die Konstruktion der Gesellschaft

gen Geburtenzahlen und einer deutlich gesunkenen Mortalität (von Kindern) und einer wieder
konstanten (bzw. sogar leicht schrumpfenden) Bevölkerung (vgl. dazu bereits Abschnitt 18.3 in
„Soziologie. Allgemeine Grundlagen“).

Die Veränderung aller drei Ebenen bedeutet schließlich die komplette Trans-
formation des Systems in ein ganz anderes, einschließlich der funktionalen
Beziehungen und deren Parameter, die den Prozeß tragen. Der säkulare Wan-
del der menschlichen Gesellschaft von den einfachen, segmentär differenzier-
ten Stammesgesellschaften der Vorzeit über die geschichteten Feudal- und
Staatsgesellschaften der Antike und des Mittelalters zu den modernen, funkti-
onal differenzierten Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften der Gegen-
wart sind ein wichtiges Beispiel für derartige komplette „Transformationen“
von Gesellschaften – auch in den grundlegenden inneren Prozessen ihres
„Funktionierens“ (siehe dazu noch Abschnitt 9.2 unten in diesem Band). In
Abbildung 7.5 ist diese Systematik zusammengefaßt.

Ebene der einfache erweiterte


Änderung Reproduktion Reproduktion Transition Transformation

Output - + + +
Parameter - - + +
Prozeß - - - +

Abb. 7.5: Typen von Prozessen des sozialen Wandels (nach Hernes 1976, S. 524)

Auch hier wird wieder deutlich, daß, wie bei der einfachen Reproduktion,
auch die Stabilität der gesellschaftlichen Strukturen, als Stabilität des Outputs,
stets auf „Prozessen“ beruht, aber auch, daß es Änderungen geben kann, wenn
die inneren Strukturen des Systems unverändert bleiben, wie bei der erweiter-
ten Reproduktion.

Ausgänge, Interaktionssystem und Umwelt

Auch auf der Grundlage der Systematik von Hernes hat Raymond Boudon ein
„soziologisches“ Modell der Logik des sozialen Wandels entwickelt, über das
sich eine „soziologische“ Systematik von Typen sozialer Prozesse und des so-
zialen Wandels ableiten läßt. Boudon betrachtet dabei nicht so sehr die eher
formalen Aspekte der Prozeßfunktionen und -parameter als vielmehr die ge-
Sozialer Wandel 345

sellschaftlichen Ebenen, auf denen sich der soziale Wandel, auch in der ge-
genseitigen Beeinflussung der drei Ebenen, abspielt. Er unterscheidet drei sol-
cher Ebenen: die Ausgänge des Systems, das Interaktionssystem der Akteure
und die Umwelt.
Die Ausgänge des Systems entsprechen der Outputstruktur bei Hernes und umfassen damit al-
le möglichen gesellschaftlichen Ereignisse, Verteilungen und sonstigen kollektiven Phäno-
mene und Strukturen, die sich aus gewissen individuellen Effekten und deren Aggregation
ergeben. Das von Boudon so genannte Interaktionssystem besteht aus den, wie auch immer
gearteten, Beziehungen zwischen typischen Kategorien und „Gruppen“ von Akteuren
untereinander, die in diesem Rahmen handeln. Eigentlich müßte es „Interdependenzsystem“
heißen, weil „Interaktionen“ nur eine bestimmte Art von Beziehungen unter Akteuren
umfassen, wie die gedankliche Einfühlung oder symbolisch gesteuertes gemeinsames
Handeln bzw. Kommunikation, hier aber alle, auch indirekte Formen der Verbundenheit
gemeint sind, wie, insbesondere, die Abhängigkeit der eigenen Situation vom Tun der
anderen Akteure (vgl. dazu auch noch ausführlich Band 3, „Soziales Handeln“, dieser
„Speziellen Grundlagen“). Die Umwelt bezeichnet schließlich alle sonstigen, dem
Interaktionssystem „externen“, Gegebenheiten, die vorliegenden materiellen Opportunitäten,
die geltenden institutionellen Regeln, die kulturellen und symbolischen Orientierungen, die
„Gesellschaft“ insgesamt, in die das Interaktionssystem eingebettet ist, und alle übrigen, auch
historisch ganz spezifischen Konstellationen.

Die Umwelt bildet, sozusagen, den weitesten Rahmen des Geschehens. Sie hat
in dem Modell einen direkten Einfluß auf das Interaktionssystem der Akteure,
und zwar in der Form von „strukturellen Effekten“, wie sie aus der sog. Kon-
text- und Mehrebenenanalyse bekannt sind (vgl. dazu Kapitel 11 in Band 1,
„Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Die Aus-
gänge sind dann das unmittelbare – emergente und aggregierte – Ergebnis des
Handelns der im Interaktionssystem zusammengeschlossenen Kategorien von
Akteuren. Die Umwelt wirkt sich auf die Ausgänge also nur indirekt aus – ü-
ber ihren „strukturellen“ Einfluß auf das Interaktionssystem der Akteure.
Am Beispiel des Modells für die Erklärung des RRC lassen sich die drei Ebenen des Modells von
Boudon leicht illustrieren. Die Ausgänge sind die aggregierten Ergebnisse der Vorgänge, also et-
wa die jeweilige Gruppengröße der Migranten, die Verteilung von freundlichen und distanzierten
Einstellungen bei den Einheimischen oder das Ausmaß der Assimilation der Migranten bzw. die
Entstehung von ethnischen Gemeinden. Das Interaktionssystem wird von drei großen Kategorien
von Akteuren gebildet: Einheimische, Migranten und Verbliebene. Ihre „Interaktion“ besteht aus
den im Modell skizzierten Beziehungen zwischen den Parametern der EU-Gewichte für die ver-
schiedenen Alternativen und dem jeweiligen Output des Prozesses, wie beispielsweise die Ver-
stärkung der sozialen Nutzenerwartung für eine Migration bei den Verbliebenen, wenn es schon
Pionierwanderer gibt. Die Umwelt schließlich wird durch das gesamte setting gebildet, in dem der
Prozeß abläuft: das Lohngefälle zwischen den Regionen, die bestehenden institutionellen Rege-
lungen, insbesondere die für Einreise, den Aufenthalt oder ggf. für die Einbürgerung, oder auch
gewisse historische Traditionen der Migration, wie etwa bei den Italienern, die vorwiegend aus
dem armen Süden ihres Landes kommen, die Freizügigkeit des Wohnortes als EU-Mitglieder ge-
nießen und sich seit alters her vorzugsweise im Südwesten Deutschlands niederlassen, wo der
346 Die Konstruktion der Gesellschaft

Wein wächst, es etwas zu verdienen gibt und der Hauptbahnhof mit dem Zug nach Palermo nicht
so weit ist.

Neben den beiden „linearen“ Beziehungen von der Umwelt auf das Interde-
pendenzsystem einerseits und vom Interaktionssystem auf die Ausgänge ande-
rerseits sieht Boudon drei Mechanismen der Rückkopplung vor. Erstens die
Rückwirkung von den Ausgängen auf das Interaktionssystem, zweitens die
Rückwirkung von den Ausgängen auf die Umwelt und drittens die Rückwir-
kung vom Interaktionssystem auf die Umwelt.
Auch diese drei feedback-Beziehungen lassen sich mit dem Beispiel des RRC-Modells gut ver-
deutlichen. Die Rückwirkungen der Ausgänge auf das Interaktionssystem sind unmittelbar er-
sichtlich: Die Veränderung der Gruppengröße verändert die Gewichte für die Handlungsalternati-
ven aller Beteiligten im Interaktionssystem, die darauf wieder handeln ... und so weiter. Darin
liegt gerade der Kern dieses Modells und seiner inneren Dynamik. Das Modell des RRC kommt,
so wie es, bewußt vereinfachend, formuliert war, ohne Rückwirkungseffekte auf die Umwelt aus.
Leicht lassen sich aber Vorgänge einfügen, die solche Rückwirkungen betreffen. Beispielsweise
wäre der sog. Anwerbestopp von 1973 als eine Rückwirkung von den Ausgängen des Migrati-
onsgeschehens auf den politischen Kontext und damit als ein feedback zurück zur Umwelt des In-
teraktionssystems zu verstehen: Die Zunahme der Gruppengröße der Migranten veranlaßte die
politische Entscheidung, die weitere Steigerung der Migration zu verhindern. Insofern dabei Teile
der Mitglieder des Interaktionssystems auf die politische „Umwelt“ Einfluß genommen haben,
wäre das ein Vorgang der Rückwirkung vom Interaktionssystem auf die Umwelt, beispielsweise
als „schließende“ Reaktion der Einheimischen auf die zunehmende Konkurrenz oder die mit der
Familienzusammenführung neu entstandenen sozialen Probleme in den Wohnvierteln und Schu-
len, die es zuvor, bei der reinen „Gastarbeiter“-Migration der Pionierwanderer nicht gegeben hat.

In Abbildung 7.6 sind die drei Ebenen, die beiden direkten Beziehungen und
die drei feedback-Schleifen zusammenfassend skizziert.
Exogene Einflüsse sieht Boudon nicht weiter vor. Sie könnten, ähnlich wie
bei Hernes, auf das Interaktionssystem und auf die Umwelt einwirken und ü-
ber die Beziehungen a bis d die Ausgänge beeinflussen. Insofern ist in dem
Modell von Boudon die „Umwelt“ ein Teil des ganzen „Systems“ selbst und
gehört eben nicht zu dessen „Umwelt“. Das nur noch als Erläuterung, damit
die Luhmann-Enthusiasten nicht ganz durcheinanderkommen (vgl. dazu auch
schon Kapitel 2 dieses Bandes).
Sozialer Wandel 349

7.4 Reproduktion und Evolution

Der soziale Wandel besteht oft also, wie die Beispiele und die Modelle von
Hernes und Boudon zeigen, nicht einfach nur aus aneinander anschließenden
Sequenzen, sondern oft aus Abläufen, die, obwohl stets nur vom Agieren der
Menschen getragen, einer unentrinnbaren „Logik“ folgen. Das ist ohne Zwei-
fel nicht immer nur eine „lineare“ Logik, bei der einfach ein Zustand auf den
anderen folgt, sondern häufig auch eine, bei der die zuvor „abhängige“ Vari-
able wieder zur „unabhängigen“ für den nächsten Schritt wird. Aus solchen
„nicht-linearen“ Rückkopplungen ergeben sich oft ganz eigenartige und inte-
ressante Muster von Abläufen, wie etwa die sog. Selbstregulation von Syste-
men, zyklische Schwankungen, „deterministisches Chaos“ und sogar „Katast-
rophen“, der plötzliche Wechsel des Systemzustandes also.
Kaum etwas hat gerade jene Soziologen, die nicht viel von anderen analytisch und erklärend vor-
gehenden Wissenschaften wissen oder auch wissen wollen, wie die Demographie, die Ökonomie
oder auch die Physik, die sich gerade mit derartigen „nicht-linearen“ Beziehungen immer schon
befassen, mehr zu großartigen Wortschöpfungen und geheimnisvollen Begrifflichkeiten gebracht,
als diese Vorgänge der nichtlinearen Rückbezüglichkeiten. „Selbstreferentialität“ und „Autokata-
lyse“, „Chaostheorie“, „Katastrophentheorie“ und Systeme nicht-linearer Gleichungen müssen es
dann gerade bei den Soziologen sein, die von Mathematik nicht die geringste Ahnung haben und
nicht müde werden, an anderer Stelle, etwa wenn es um die Modelle der soziologischen Erklärung
oder um die Statistik und die empirische Sozialforschung geht, dagegen zu polemisieren und sie
angesichts der flexiblen Wortschöpfungen der „Systemtheorie“ für gänzlich unzureichend zu hal-
ten. Die soziologische Systemtheorie um Niklas Luhmann lebt geradezu davon, daß sie zwar rich-
tigerweise derartige Nichtlinearitäten bemerkt und berücksichtigt, aber ansonsten nicht die Spur
einer Ahnung davon hat, was sie damit anfangen soll. Und dann ist es wie immer, wenn man über
die nötigen theoretischen Mittel nicht verfügt: Man erfindet neue beeindruckende Worte – Eigen-
dynamik, Figuration, Konstitution, Selbstorganisation, Reflexivität, Autopoiesis, zum Beispiel.
Und weil in dieser (hegelianischen) Tradition ein Begriff schon die Sache ist, scheint dann auch
alles in Butter zu sein, und gelehrte Worte, sprachlich erzeugte Paradoxien und „Leitreferenzen“
sollen, wieder einmal, die nötigen Erklärungen ersetzen.15

Anhand der in Abschnitt 7.3 dargestellten Modelle und Typen der Logik des
sozialen Wandels lassen sich die wichtigsten Arten sozialer Prozesse und
innerer Mechanismen von Systemen (formal und abstrakt) leicht rekonstruie-
ren. Insbesondere zwei grundlegende Vorgänge sind bei Vorgängen des sozia-
len Wandels zu beachten: die (funktionale) Reproduktion sozialer Systeme
und ihre Evolution. Sie beruhen auf speziellen Konstellationen von Mecha-
nismen des inneren Prozesses der jeweiligen Systeme. Und es sind allesamt,

15
Vgl. dazu besonders lautstark und wolkig seit längerem: Helmut Willke, Systemtheorie.
Eine Einführung in die Grundprobleme der Theorie sozialer Systeme, 4. Aufl., Stuttgart
und Jena 1993. Vgl. als jüngstes Beispiel auch, noch einmal, Niklas Luhmann, Die Ge-
sellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1997, Kapitel 3: Evolution, S. 413ff.
350 Die Konstruktion der Gesellschaft

wie wir noch sehen werden, Spezialfälle der Logik der soziologischen Erklä-
rung.

Kumulation, Dämpfung und Oszillation

Änderungen im Output bzw. in den Ausgängen eines Prozesses sind auf sehr
verschiedene Weise denkbar. Davon sind drei spezielle Muster besonders
wichtig: Kumulation, Dämpfung und Oszillation.
Bei Kumulationen verstärken sich einmal begonnene Änderungen des
Outputs, bei Dämpfungen werden sie kleiner. Oszillationen sind demgegen-
über eine Art von „zyklischem“ Gleichgewicht: Der „konstante“ Output be-
zieht sich auf ein ganzes Muster von Ergebnissen, die über mehrere Perioden
hinweg beobachtet werden. Sie können damit als eine spezielle Art der einfa-
chen Reproduktion als Folge einer bestimmten Kombination von Kumulation
und Dämpfung angesehen werden, wie beim sog. Schweinezyklus, bei dem es
in zyklischen Abständen zu Über- und Unterproduktionen von Schweinen
und einem entsprechenden Preisverfall bzw. Preisanstieg für die Koteletts
kommt.
Boudon hat mit seinem Typ der „Kumulation“, die Rückwirkung also von den Ausgängen auf das
Interaktionssystem, offenkundig etwas anderes gemeint. Diese Rückwirkung könnte sicher kumu-
lativ sein, aber natürlich auch dämpfend oder in der Form von Oszillationen vorkommen. Boudon
selbst bemerkt das auch und fügt den Vorgang der Oszillation als „Teilkategorie innerhalb der
kumulativen Prozesse“ (Boudon 1980, S. 149) ein.

Oft gibt es Mischungen dieser Vorgänge. Unter Umständen findet etwa ein
System bei einer Mischung von Kumulation und der Dämpfung auch wieder
zu einem neuen Gleichgewicht der einfachen Reproduktion zurück – so wie
das auch bei dem System der Kettenmigration der Fall ist, das sich erst
kumulativ verstärkt und dann wieder abebbt, weil es mit dem Voranschreiten
des Prozesses immer weniger „Verbliebene“ gibt, die noch erfaßt werden
könnten. Und es gibt auch Mixturen aller drei Formen, etwa Oszillationen,
die auf einer Kombination von Kumulation und Dämpfung beruhen. Das ist
beispielsweise bei den sog. Räuber-Beute-Modellen der Fall, in denen, etwa,
eine Population von Hasen rasch wächst, damit Nahrung für eine zunächst
kleine Population von Füchsen liefert, worauf die Population der Hasen „auf-
gezehrt“ wird, was dann den Füchsen wieder zu schaffen macht, die nichts
mehr zu fressen haben und an Hunger sterben, worauf sich die Hasen wieder
vermehren können – und so weiter in einer stetigen Oszillation von Schrump-
fung und Wachstum der beiden Populationen (vgl. dazu insgesamt und zu ein-
Sozialer Wandel 351

zelnen Modellen solcher Prozesse auch noch ausführlich Band 4, „Opportuni-


täten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“).

Feedback und Selbstregulation

Kumulationen und Dämpfungen beruhen auf den im System eingebauten


feedbacks. Bei Hernes waren das die Rückwirkungen des Output auf die Pa-
rameter- bzw. die Prozeßstruktur, bei Boudon, die von den Ausgängen auf das
Interaktionssystem und die Umwelt und vom Interaktionssystem auf die Um-
welt. Kumulationen entstehen bei einem positiven feedback. Hierbei verstär-
ken sich die Abweichungen über den internen Prozeß des Systems von der
einfachen Reproduktion jeweils im nächsten Schritt. Dämpfungen sind die
Folge eines negativen feedback, bei dem sich die Abweichungen gegenüber
der Vorperiode verringern. Prozesse des negativen feedback sind für die sog.
Selbstregulation von Systemen entscheidend: Sie sorgen dafür, daß das Sys-
tem bei evtl. Abweichungen oder „Störungen“ seiner einfachen Reproduktion
alsbald wieder zu ihrem Gleichgewicht findet. Die sog. funktionale Reproduk-
tion von Systemen beruht auf solchen Mechanismen der Selbstregulation (sie-
he dazu gleich unten mehr).

Endogener und exogener Wandel

Die sozialen Prozesse, denen ein System unterliegt, können rein endogen an-
gelegt sein und einer allein durch die innere „Konstruktion“ des Systems fol-
genden Logik unterliegen. Es ist ein Spezialfall der „Situationslogik“. So war
das Modell von Boudon angelegt. Es kann aber auch – beständige oder punk-
tuelle – exogene Einflüsse auf die jeweiligen Prozeßstrukturen und Ebenen
geben. Das hatte Hernes mit seinen Einflüssen von außen auf die Parameter-
und die Prozeßstruktur in seinem Modell vorgesehen, aber dann nicht weiter
beachtet. Besonders wichtig sind dann endogene oder exogene Vorgänge, die
ein System der (einfachen) Reproduktion aus einem „Gleichgewicht“ seiner
(einfachen) Reproduktion bringen und dafür sorgen, daß aus der Wiederho-
lung des immer Gleichen ein Prozeß der Änderung wird – in welche Richtung
auch immer.
Bei endogenen Abweichungen gerät das System aufgrund seiner besonde-
ren inneren Entwicklungsdynamik und seiner speziellen „Pfadabhängigkeit“
(siehe dazu auch noch unten) durch den angelegten Prozeß von selbst aus dem
Gleichgewicht, wie etwa bei der als unvermeidlich gedachten Zuspitzung der
352 Die Konstruktion der Gesellschaft

Klassenwidersprüche im (Spät-)Kapitalismus oder bei der immer weiter be-


schleunigten deflationären Abwärtsbewegung des Sparens eines Staates, der
auch dadurch sinkenden Einkommen seiner Bürger, der dadurch weiter ver-
ringerten Steuereinnahmen des Staates, der daraufhin das Sparen weiter ver-
schärft – und so weiter. Das war der Fall der Kumulation wie er aufgrund von
Prozessen des positiven feedback zu erwarten ist. Wenn nichts weiter ge-
schieht, was das System wieder zu (s)einem Gleichgewicht zurückbringt, dro-
hen eine „Explosion“ oder eine „Implosion“ des Systems, je nachdem, und
schließlich eine nachhaltige Änderung des ganzen Systemzustandes, schlimm-
stenfalls sogar der Zerfall des Systems (vgl. dazu gleich unten noch zum Pro-
zeß der funktionalen Reproduktion). Das wäre dann ein Prozeß der
Transformation des Systems – einer grundlegenden Änderung seiner „Verfas-
sung“, wozu man auch sein Ende zählen könnte: die Transformation eines
Typs von Gesellschaft in den exit des Universums der Geschichte, wie der
DDR und der UdSSR seligen Angedenkens.
Exogene Störungen sind dann, na klar, dem System externe Ereignisse, die
es ggf. aus der Bahn werfen, während es ohne diese externen Ereignisse auf
dem Pfad seiner endogenen Dynamik bzw. seiner Reproduktion geblieben wä-
re. Beispiele für solche exogenen Störungen der an sich endogen stabilen ge-
sellschaftlichen Reproduktion wären die Eroberung eines Landes durch eine
Kolonialmacht, die Einwanderung fremdethnischer Gruppen in ein Land oder
aber auch die durch den Sputnikschock exogen angeregte politische Entschei-
dung für die Bildungsreform in den 60er Jahren. Auch solche exogen eingelei-
teten Ablenkungen vom Gleichgewicht können natürlich dann endogene Pro-
zesse der Kumulation oder der Transformation auslösen, und wenn das Sys-
tem nicht „adaptiv“ genug ist, kann es daraufhin auch plötzlich zerfallen,
nachdem es vorher lange Zeit ganz fest und unverrückbar erschienen war.
Man denke wieder nur an die gute alte DDR oder an die große Sowjetunion
und den in seiner Persönlichkeitsstruktur durchaus auch etwas „exogenen“
Gorbatschow, der wohl vieles von dem ganz „persönlich“ zu verantworten
hat, was dann gelaufen ist.

Funktionale Reproduktion

Gesellschaften und die zahllosen sozialen Gebilde, sind, wie alle sozialen Sys-
teme, Prozesse, und zwar Prozesse der wechselseitigen Konstitution der Be-
dingungen des Handelns und des Handelns von Akteuren, einschließlich der
symbolisch gesteuerten Orientierungen und Kommunikationen. Das wissen
wir jetzt. Zur Genüge. Hoffentlich. Im Regelfall bilden die Gesellschaften und
Sozialer Wandel 353

sozialen Gebilde dabei aber den Spezialfall von Prozessen, der oben als Re-
produktion, genauer: als einfache Reproduktion, bezeichnet wurde: Mit jeder
Sequenz wiederholen sich die kollektiven Ereignisse, die die betreffende
Struktur bzw. das betreffende System „definieren“ und konstituieren. Weil
sich bei diesem fortwährenden Prozeß auf der sichtbaren makrosozialen Ober-
fläche in der Tat nichts tut, kann man auch davon sprechen, daß sich das Sys-
tem in einem Gleichgewicht befindet, unter Umständen freilich auch einem
Gleichgewicht, in dem es allen schlechter geht als es eigentlich möglich wäre.
Wenn sich, wie hier zunächst angenommen, mit jeder Sequenz in der Tat ge-
nau die gleichen Eigenschaften wieder reproduzieren, sei von repetitiver Re-
produktion gesprochen.
Die bloß repetitive einfache Reproduktion aber ist ein empirisch kaum vor-
findbarer Spezialfall der Reproduktion sozialer Systeme, erst recht nicht der
Reproduktion von „dynamischen“ Gesellschaften, zu denen die modernen Ge-
sellschaften ohne Zweifel gehören. Wichtiger und empirisch häufiger ist für
das „Prozessieren“ sozialer Systeme ein anderer Spezialfall: die hier jetzt so
genannte funktionale Reproduktion. Dabei wird nicht immer alles genau wie-
der reproduziert. Es kommen vielmehr durchaus Abweichungen vom Gleich-
gewicht vor. Aber bei irgendwelchen Abweichungen vom „normalen“ Gleich-
gewichtszustand findet das „System“ über gewisse Mechanismen und
Zwischenstadien immer wieder zu seinem alten Zustand der gleichgewichti-
gen Reproduktion und der Stabilität zurück. Viele soziale Systeme „funktio-
nieren“ nur so: Märkte, Freundschaften und Organisationen beispielsweise. Es
ist eine Art eingebauter „sozialer Kontrolle“, die dafür sorgt, daß es zwar Ab-
weichungen geben kann, daß aber bald auch wieder – aufgrund der internen
Struktur des Systems selbst – das alte Gleichgewicht erreicht wird. „Sozialer
Wandel“ im Sinne einer grundlegenden und nicht-reversiblen Änderung der
Strukturen findet also nicht statt, wohl aber Abweichungen und Übergänge
immer wieder zurück zum alten Gleichgewicht.
Die repetitive wie die funktionale Reproduktion sind Spezialfälle der endogenen Dynamik ei-
nes Systems, wobei insbesondere bei der funktionalen „Selbstregulation“ eines Systems nach
einer Störung Vorgänge des negativen feedback wichtig werden: In der nächsten Sequenz
werden aufgrund der inneren Mechanismen Abweichungen erzeugt, die wieder kleiner sind
als die vorhergehenden (vgl. dazu auch noch insgesamt die diversen Marktmodelle in Band 4,
„Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Bei einer „funktionie-
renden“ funktionalen Reproduktion ändert das System daher zwar zunächst seinen, wie auch
immer ausgelenkten, Zustand, findet dann aber, meist über einige Zwischenstadien, wieder
zum Gleichgewicht zurück.

Wichtig ist dabei insbesondere, daß die Gegenbewegung durch die Auslen-
kung selbst ausgelöst wird. Man spricht daher auch zu Recht von einer Selbst-
regulation bzw. von der Homöostase des Systems.
354 Die Konstruktion der Gesellschaft

Für biologische Systeme wäre etwa die Aktivierung des Immunsystems und die dadurch mögliche
Erholung nach einer Infektion ein Beispiel dafür, oder der Entschluß des Bewußtseins eines Ak-
teurs, mit dem Rauchen aufzuhören, nachdem sein Körper gemerkt hat, daß ihn die (Pfad-) Ab-
hängigkeit der Nikotinsucht endogen und kumulativ immer stärker runterzieht und eine gewisse
Transformation, die in den Lungenkrebs nämlich, droht, aus der es kein frohes funktionales Zu-
rück mehr gibt. Für Gesellschaften und andere soziale Gebilde, wie Regierungskoalitionen, Fir-
men, Ehen oder Freundschaften, wäre die erfolgreiche Bewältigung von „Krisen“ durch bestimm-
te, darauf eingeleitete oder eintretende Gegenmaßnahmen ein solcher Fall der funktionalen Re-
produktion, so wie etwa der Ständestaat des Bismarck-Reiches sich über die Einführung der Sozi-
algesetzgebung als Reaktion auf die „soziale Frage“ konsolidierte, oder wie der „Kulturschock“
der Anwesenheit fremdethnischer Gruppen meist allmählich über die Assimilation bzw. die Ab-
sorption der Gruppen verarbeitet wird. Im Fall der exogen eingeführten Bildungsexpansion sorgte
die Knappheit der Positionen und die Verschärfung der Konkurrenz auf dem Markt der Positio-
nen für die „Neutralisierung“ der an sich durchaus systemverändernden Effekte der Bildungsre-
form.

Bei der repetitiven Reproduktion gibt es also keine externen Einflüsse, aber
auch keine erkennbare endogene Selbstregulation: Alles wiederholt sich, wie
bei der Reproduktion einer stationären Bevölkerung, in der immer genauso
viele Menschen sterben wie geboren werden. Systeme mit der Fähigkeit zur
adaptiven funktionalen Reproduktion sehen oft auf der Oberfläche genauso
aus. Daß sie sich „funktional“ reproduzieren, merkt man erst bei einer Störung
– bei einer latent endogen angelegten, jetzt erst bemerkbar gewordenen oder
aber bei einer exogenen Störung. In Abbildung 7.8 sind die beiden Fälle der
repetitiven und der funktionalen Reproduktion in jeweils denkbaren Sequen-
zen ihres Prozessierens schematisiert.
Wir betrachten der Einfachheit halber das Geschehen nur auf seiner „emer-
genten“ Oberfläche und beachten die Makro-Mikro-Makro-„Konstitution“ der
Prozesse durch das situationsorientierte Agieren der Akteure und die nötigen
Transformationen hier einmal nicht weiter. Weil sich bei der repetitiven Repro-
duktion der einmal eingespielte Zustand S1 immer wieder neu einstellt, könnte
man die gleichgewichtige Reproduktion auch über eine „selbstreferentielle“ oder
„reflexive“ Rückkopplungsschleife symbolisieren, wie das in Abbildung 7.3a am
Ende der Sequenz auch geschehen ist. Störungen treten hier, so die Annahme,
nicht weiter auf, und alles bleibt wie es ist – in einem beständigen Prozeß, bei
dem eins am andern anschließt, und zwar immer und immer wieder. Es ist die
ewige und ungestörte Wiederkehr des Gleichen, etwa in einem Eifeldorf oder in
einer langweilig-kommoden Ehe.
Sozialer Wandel 355

Abb. 7.8: Repetitive und funktionale Reproduktion

Bei der funktionalen Reproduktion werden das zunächst auch bloß repetitive Ge-
schehen und die stetige Reproduktion von S1 entweder durch die innere Entwick-
lungsdynamik des Systems selbst oder durch einen exogenen Einfluß von ihrer
reproduktiven Bahn abgelenkt. In Abbildung 7.3b haben wir eine exogene Stö-
rung angenommen (siehe den Pfeil von D+ als irgendeinem externen störenden
Ereignis). Dadurch entstehe – wegen der Änderung der Randbedingungen bei S1
– die Systemablenkung S2. Über die mit S3 zusammengefaßten, im Einzelfall
u.U. komplizierten und mehr oder weniger langen, Zwischenschritte findet das
System dann aber wieder „selbstregulativ“ zum alten reproduktiven Gleichge-
wicht S1 zurück – und verbleibt dort, so wollen wir annehmen, wieder für längere
Zeit in einem Gleichgewicht der repetitiven Reproduktion – bis zur nächsten
Störung von außen.

Funktionale Gleichgewichte und Funktionalismus

Jedes einigermaßen gegenüber gewissen Variationen in der Umgebung wider-


ständige, „adaptive“ und „prozeßstabile“ soziale System muß wohl solche selbst-
regulativen funktionalen Mechanismen aufweisen. Es wäre sonst viel zu anfällig
gegenüber externen Störungen oder gegen endogene Fehlentwicklungen. Das
war der Grundgedanke der guten alten funktionalistischen Soziologie: Empirisch
existierende soziale Systeme „müssen“ Prozesse der funktionalen Reproduktion
356 Die Konstruktion der Gesellschaft

aufweisen – denn sonst gäbe es sie ja nicht (vgl. dazu auch noch einmal Kapitel
22 und 23 der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“). Dieser Gedanke war nicht
grundsätzlich falsch, denn Gesellschaften (und andere „bestehende“ soziale Ge-
bilde) bilden in der Tat ja stets (auch) Gleichgewichte der funktionalen Repro-
duktion. Auf diese Weise „konstituieren“ sie sich ja. Nur: Es gibt keine den sozi-
alen Systemen irgendwie „innewohnende“ Tendenz zu einem solchen Gleichge-
wicht und für eine gelingende funktionale Reproduktion. Es gibt nur – mehr oder
weniger geschickte, wenngleich meist ungeplante und auch unbekannte – Arran-
gements und kausale Beziehungen innerhalb des Systems, die dafür sorgen, daß
es immer wieder zur Reproduktion und zur Bewältigung von Krisen kommt. Und
daher ist der soziologische Funktionalismus mit seinem Postulat einer vorgege-
benen Neigung der sozialen Systeme zum Gleichgewicht auch zu Recht vergan-
gen. Aber viele haben darüber das Kind mit dem Bade ausgeschüttet und verges-
sen, daß es, auch ohne eine den Systemen innewohnende apriorische Tendenz
zum Gleichgewicht, trotzdem so etwas geben kann wie eine rein kausal und
„blind“ ablaufende funktionale Reproduktion. Ohne sie gäbe es weder die Men-
schen als psycho-biologische Systeme, noch die Gesellschaften und ihre vielen
Untersysteme und sozialen Gebilde. Und mit dem Modell der soziologischen Er-
klärung läßt sich auch ohne jede apriorische Annahme zeigen, wann und warum
es zu einer solchen funktionalen Reproduktion und zur (prozessualen) Stabilität
der gesellschaftlichen Strukturen kommt.

Evolution

Ein ganz besonderer Vorgang des sozialen Wandels ist der der gesellschaftlichen
Evolution. Evolutionen sind, ganz allgemein gesagt, Prozesse, bei denen sich ein
gleichgewichtig reproduzierendes System zufällig in seinem Zustand ändert, ein
neues Gleichgewicht in einer bestimmten Umwelt findet und dabei Systeme, die
sich nicht geändert haben, allmählich verdrängt und sich in der jeweiligen Um-
gebung stabilisiert. Es ist eine spezielle Art der Transformation eines Systems in
einen neuen Typ, der die anderen verdrängt. Der Grund für die Verdrängung ist
die bessere „differentielle Reproduktion“ des „neuen“ Systems: Es ist in der je-
weiligen Umwelt erfolgreicher in der Herstellung von „Kopien“ seiner grundle-
genden Bestandteile und der Exemplare, aus denen seine „Population“ besteht.
Der Musterfall dafür ist natürlich die sog. biogenetische Evolution (vgl. dazu die Einzelheiten in
Teil C, „Biologische und anthropologische Grundlagen“, der „Soziologie. Allgemeine Grundla-
gen“). Der Bezugspunkt der biogenetischen Evolution ist dabei ein bestimmter Gen-Pool. Er ist
als Genotyp in den individuellen Exemplaren der Population einer bestimmten Art oder Spezies
verankert. Der Genotyp sorgt für das empirische Auftreten der konkreten Organismen, der Popu-
lation als Phänotypen in einer bestimmten Umgebung anderer Spezies und natürlicher Ressour-
Sozialer Wandel 357

cen. Genotypen sind Muster von Erbinformationen, die im Akt der Fortpflanzung der Art norma-
lerweise „reproduktiv“ weitergegeben werden und so zur Reproduktion der betreffenden Spezies
und zur Erzeugung des jeweiligen Gen-Pools führt. Die Weitergabe erfolgt durch die Erzeugung
von Kopien und die Rekombination der Gene der dabei beteiligten Organismen. Dabei treten
manchmal zufällige Abweichungen, die sog. Mutationen auf. Die meisten dieser Mutationen füh-
ren zu Phänotypen von Organismen, die in der betreffenden Umwelt nicht überlebens- oder rela-
tiv weniger reproduktionsfähig sind. Bei einigen wenigen aber haben die Änderungen gewisse re-
produktive Vorteile zur Folge – in der betreffenden Umgebung! Wegen dieser Vorteile gegenüber
der „alten“ Spezies verdrängt der neue Genotyp allmählich den alten. Das ist der Mechanismus
der sog. differentiellen Reproduktion. Er sorgt, nicht, wie es oft heißt, über einen Kampf zwischen
den Arten, bei dem eine obsiegt, sondern über die erfolgreichere Reproduktion der eigenen Art
für die allmähliche Selektion eines neuen Genotyps und damit auch einer neuen Spezies mit einem
neuen Phänotyp. Die Durchsetzung des neuen Geno- bzw. Phänotyps und die endgültige Stabili-
sierung eines neuen reproduktiven Gleichgewichts wird auch als Retention bezeichnet.

Mutation, Selektion über differentielle Reproduktion und die Retention, als die
„strukturelle“ Stabilisierung des neuen Typus, sind also die drei grundlegenden
Prozesse der Evolution. Solche evolutionären Vorgänge lassen sich auch für so-
ziale Systeme beobachten, und sicher auch für Gesellschaften:16 Es gibt gelegent-
lich „Mutationen“ in den gesellschaftlichen Strukturen, wie etwa mit der Erfin-
dung des Telefons oder der Entdeckung Amerikas, und daraufhin erfolgen diffe-
rentielle Reproduktionen und die Selektion und Stabilisierung „neuer“ Arten so-
zialer Systeme, die dann, unter Umständen, die alten verdrängen. Das wird auch
als soziokulturelle Evolution bezeichnet.17
In Analogie zur funktionalen Reproduktion kann man dabei auch danach unterscheiden, ob sich
die „Mutationen“ aufgrund der endogenen Dynamik des Systems oder aufgrund exogener Ereig-
nisse einstellen. Meist ist das nicht leicht auseinander zu halten. War die Entdeckung Amerikas
ein exogener Zufall, abhängig vom individuellen und einmaligen Wagemut eines Kolumbus, oder
war das eine letztlich zwangsläufige Konsequenz allgemeiner Entwicklungen, wie die Zunahme
des Handels und die Entwicklung von Wissenschaft und Technik am Ende des sog. Mittelalters?
Und was war mit Hitler? Mit Gorbatschow? Mit Kohl? Es ist die Frage nach dem Einfluß gewis-
ser „Persönlichkeiten“ auf den Lauf der Geschichte (vgl. dazu auch noch Abschnitt 7.5 unten):
Erzeugen die evolutionären Prozesse die Persönlichkeiten gleich mit, oder haben die Persönlich-
keiten einen eigenen Einfluß, etwa auch derart, daß sie endogen angelegte Entwicklungen stoppen
oder gar ändern können? Bei Hitler ist man sich inzwischen einig: Einige Dinge wären auch ohne
ihn geschehen, wie die Diskriminierung der Juden und wahrscheinlich sogar der Zweite Welt-
krieg, andere Dinge ohne ihn sicher nicht, wie die Massenvernichtung der Juden.

16
Vgl. dazu insbesondere Donald T. Campbell, Variation and Selective Retention in Socio-
Cultural Evolution, in: General Systems, 14, 1969, S. 69-85.
17
Vgl. zur Kritik an der herkömmlichen soziologischen Soziologie des sozialen Wandels
und zum aktuellen Stand der analytisch orientierten soziologischen Evolutionstheorie ins-
besondere Michael Schmid, Soziologische Evolutionstheorie, in: Michael Schmid, Sozia-
les Handeln und strukturelle Selektion, Opladen und Wiesbaden 1998, S. 264ff. Dort wird
eine Konzeption vorgestellt, die in ihren Grundzügen vollauf dem Modell der soziologi-
schen Erklärung entspricht.
358 Die Konstruktion der Gesellschaft

Evolution heißt dabei, genau wie bei der funktionalen Reproduktion, in keiner
Weise, daß sich die „Entwicklung“ auf ein bestimmtes vorgegebenes Ziel, auf
eine gewisse „Bestimmung“ also, hinbewege, daß die neu entstehenden Systeme
irgendwie „besser“ oder „überlegen“ wären oder daß es nicht doch ganz plötzlich
auch zu einem Untergang kommen könnte. Keine Evolution hat ein irgendwie
„apriori“ bestehendes Ziel, auf das sie hinsteuert. Die Evolution ist blind, und
niemand kann wissen, wann alles zu Ende ist oder wieder in einen Zustand
regrediert, der schon längst überwunden schien. Auch bedeutet sie nicht, daß die
„alten“ Systeme nicht bestehen bleiben könnten. Stammes- und Kastengesell-
schaften gibt es auch heute noch. Alles hängt davon ab, ob die Systeme zu ihrer
jeweiligen Umwelt „passen“ oder nicht. Und was heute eine überlegene Fitness
bedeutet, mag morgen das entscheidende Handicap für die erfolgreichere diffe-
rentielle Reproduktion sein – etwa die Verwertung ausschließlich fossiler Brenn-
stoffe und der Verzicht auf die Pflege einer Kultur der Zurückhaltung. Empirisch
ist – bisher! – allerdings sowohl für die biogenetische wie für die soziokulturelle
oder soziogenetische Evolution von Gesellschaften doch eine Art von „Rich-
tung“ festzustellen: Die „neuen“ Systeme sind intern immer differenzierter, im-
mer aktiver und gegenüber ihrer Umwelt immer unabhängiger geworden, und sie
verbreiten sich auch immer mehr und verdrängen schließlich doch die „alten“.
Sie verbrauchen aber auch immer mehr an Energie. Die derzeit zu beobachtende
„Globalisierung“ der Gesellschaften ist nur noch ein weiterer Schritt auf diesem
Wege (vgl. dazu auch noch Abschnitt 9.2 in diesem Band). Der letzte vielleicht?
Bei der Evolution „transformieren“ sich also die Systeme allmählich. Sie han-
geln sich, sozusagen, von einem Gleichgewicht der funktionalen Reproduktion in
einer bestimmten Umwelt zum nächsten und stabilisieren sich dort eine Zeit lang
– bis zur nächsten Mutation, womöglich bei einem anderen System in der jewei-
ligen Umgebung. In Abbildung 7.9 ist dieser Vorgang skizziert, wobei wir im
zweiten Schritt wieder einen exogenen Anstoß D+ angenommen haben. Der Rest
läuft auf einem endogen vorgeschriebenen Weg der evolutionären „Pfadabhän-
gigkeit“ des Systems. Ganz zum Schluß mündet, so wollen wir noch annehmen,
alles doch wieder in ein Gleichgewicht der repetitiven oder der funktionalen Re-
produktion. Vielleicht steht das System dort ja auch schon kurz vor seinem Un-
tergang. Wir wissen es aber noch nicht und müßten die ganze „Geschichte“ erst
einmal abwarten.
Sozialer Wandel 359

Abb. 7.9: Der Prozeß der Evolution

Weil Prozesse der Evolution grundsätzlich jeweils „neue“ Verhältnisse nach


sich ziehen, liegt jedem evolutionären Prozeß eine historische Dimension zu-
grunde: Das, was jetzt vorliegt, ist so noch nie dagewesen. Aber es gibt stets
auch eine funktionale Dimension: Das System reproduziert sich wenigstens in
Teilen auch während der Veränderungen, und manchmal mündet es, wie in
der Abbildung angedeutet, auch wieder in ein länger andauerndes stabiles
Gleichgewicht.

Ko-Evolution

Die Evolution allgemein, ganz bestimmt aber die soziokulturelle Evolution,


bringt stets typische Kombinationen von Merkmalen auf den verschiedenen Ebe-
nen der jeweiligen Systeme hervor, und sie geschieht auch nur in der gleichzeiti-
gen und sich gegenseitig ebenso unterstützenden wie begrenzenden Veränderung
und Stabilisierung ihrer verschiedenen Eigenschaften und Ebenen. In Kapitel 2
dieses Bandes war bereits auf die gleichzeitige „Konstitution“ von psychischen,
kulturellen und sozialen Systemen hingewiesen und das dann als Ko-
Konstitution bezeichnet worden. Die gleichzeitige evolutionäre Veränderung in
der Ko-Konstitution ist entsprechend eine Ko-Evolution. Das gilt insbesondere
für die gemeinsame und simultane „Entwicklung“ von strukturellen Merkmalen
der sozialen Gebilde und den psychischen Dispositionen der Individuen. Und
dann kann man auch nicht sagen, daß das eine die „Ursache“ und das andere die
„Folge“ sei.
Das ist ein in der Soziologie allgemein seit langem ganz geläufiger Gedanke.
Daniel Lerner beispielsweise, von dem die, inzwischen längst abgelegte, Hypo-
these stammt, daß sich die Gesellschaften über die Abfolge der Alphabetisie-
360 Die Konstruktion der Gesellschaft

rung, der Urbanisierung, der Verbreitung von Massenmedien und der psychi-
schen Disposition der Empathie bei den Menschen modernisierten, hat das als
allgemeine Richtschnur für seine Analyse so beschrieben:
„To wit: social change operates through persons and places. Either individuals and their environ-
ments modernize together or modernization leads elsewhere than intended. If new institutions of
political, economic, cultural behavior are to change in compatible ways, then inner coherence
must be provided by the personality matrix which governs individual behavior. We conceive mo-
dernity as a participant style of life; we identify its distinctive personality mechanism as empathy.
Modernizing individuals and institutions, like chicken and egg, reproduce these traits in each o-
ther.“18

Gesellschaften hat man sich geradezu als Typen von „Wahlverwandtschaften“


ganz bestimmter und „einmaliger“ Eigenschaftskonstellationen vorzustellen, die
sich nur in dieser Konstellation haben gemeinsam entwickeln und stabilisieren
können und daher auch in den Phasen ihrer funktionalen Reproduktion jeweils
typische Muster der Kompatibilität und der Kohärenz ihrer Eigenschaften und
inneren Mechanismen aufweisen. Genau deshalb sind Gesellschaften „totale“ so-
ziale Phänomene, wie das Marcel Mauss einmal so treffend ausgedrückt hat: Sie
„bestehen“ in der simultanen Konstitution typischer Muster der demographi-
schen Reproduktion und „Bevölkerungsweise“, von Opportunitäten, Institutio-
nen und kulturellen Vorstellungen, von Funktionssystemen, Lebensweisen und
Milieus und von Strukturen der sozialen Ungleichheit, und sie ändern sich auch
darin, über mehr oder weniger drastische „transitorische“ Übergänge wiederum
simultan und gemeinsam. Wir werden im Anschluß an diesen Abschnitt gleich
ein wichtiges und berühmt gewordenes Beispiel für eine solche Ko-Evolution
besprechen, die Beziehungen zwischen der protestantischen Ethik und dem Geist
des Kapitalismus, zwischen bestimmten Ideen einerseits und bestimmten Institu-
tionen und Interessen andererseits also. Und in Abschnitt 9.2 unten werden wir
die Ko-Evolution der menschlichen Gesellschaft über drei ganz verschiedene
Typen mit ganz unterschiedlichen Systemmechanismen beschreiben: der Über-
gang von den segmentär differenzierten Stammesgesellschaften über die stratifi-
katorisch differenzierten Staatsgesellschaften zu den funktional differenzierten
Gesellschaften der (Post-)Moderne.

18
Daniel Lerner, The Passing of Traditional Society. Modernizing the Middle East, Glen-
coe, Ill., 1958, S. 78; Hervorhebungen so nicht im Original.
Sozialer Wandel 361

Revolution

Ein Spezialfall der Evolution ist die Revolution. Das sind plötzliche, abrupte,
grundlegende und wenigstens teilweise geplante Änderungen von Systemzustän-
den der Gesellschaft, insbesondere verbunden mit Änderungen ihrer „Verfas-
sung“, der politischen, der wirtschaftlichen, der rechtlichen wie auch der
kulturellen Verfassung, unter Umständen. Diese Änderungen können auch
wieder exogen erzeugt sein, wie bei der Eroberung eines Landes durch eine
Kolonialmacht oder bei einem Militärputsch. Oder aber sie können als explosiver
Schlußpunkt auf eine endogene Entwicklungsdynamik folgen, wie bei der
kommunistischen Revolution als vorletzter Stufe in dem endogen angelegten hi-
storischen Prozeß der Überwindung der Klassengegensätze, wie sich das Karl
Marx gedacht hatte, oder wie bei den revolutionären Bewegungen in Deutsch-
land am Ende des Ersten Weltkriegs, die sicher auch mit der Not zu tun hatten,
die der Krieg erzeugt hatte, der seinerseits aus einer besonders verwickelten en-
dogenen Dynamik entstanden war, in die sich die Mächte Europas zu Beginn des
20. Jahrhunderts verstrickt hatten.

Eigendynamik und Pfadabhängigkeit

Sowohl die (funktionale) Reproduktion wie die Evolution folgen, wenn sie
nicht weiter „exogen“ beeinflußt werden, gewissen, durch den inneren Aufbau
der Systeme selbst angelegten und daher endogenen kausalen Sequenzen. Die-
se kausale, endogen angelegte Folgerichtigkeit der Prozesse wird auch als die
Eigendynamik eines Systems bezeichnet. Man spricht manchmal auch von der
Pfadabhängigkeit der Abläufe, die, wenn sie einmal in eine bestimmte Rich-
tung gelenkt sind, von alleine weiterlaufen und sich, wie man auch sagt, dann
selbst tragen (siehe dazu auch schon oben über den endogenen Wandel)19. Wir
werden in den folgenden Bänden zahlreiche Beispiele dafür kennenlernen,
wie etwa die unaufhaltsame Mobilisierung von sozialen Bewegungen, die oft
unvermeidliche Entstehung von räumlichen Segregationen oder eine unter be-
stimmten Umständen durch nichts zu vermeidende gegenseitige Schädigung
von Akteuren, obwohl sie wissen, daß es für sie alle besser wäre, es nicht zu
tun.

19
Vgl. auch die Übersicht bei Renate Mayntz und Birgitta Nedelmann, Eigendynamische
soziale Prozesse. Anmerkungen zu einem analytischen Paradigma, in: Kölner Zeitschrift
für Soziologie und Sozialpsychologie, 39, 1987, S. 648-668.
362 Die Konstruktion der Gesellschaft

Eigendynamische Prozesse der (funktionalen) Reproduktion sind dann solche


der „selbstregulativen“ und endogen angelegten Erzeugung funktionaler Gleich-
gewichte. Sie sind insofern „ahistorisch“, weil nichts neues geschieht. Die „Ge-
schichte“ käme nur als Geschichte exogener Einflüsse ins Spiel, etwa die der
Launen der Herrscher oder der Irrtümer ihrer Ratgeber. Eigendynamische Evolu-
tionen folgen entsprechend einem festliegenden „Entwicklungspfad“ und haben,
weil sich die Systemzustände unentwegt ändern, natürlich auch eine „histori-
sche“ Dimension. Der norwegische Soziologe Stein Rokkan hat beispielsweise
in einer gigantischen Bemühung versucht, die Pfadabhängigkeit der Entwick-
lung der Nationalstaaten Westeuropas aus einigen grundlegenden Spaltungsli-
nien zu erklären: nach Besitz vs. Arbeit, nach Staat vs. Kirche, nach Stadt vs.
Land und nach ethnischen bzw. sprachlichen Spaltungen.20 Leider war das
keine wirkliche „Erklärung“, sondern, wie Rokkan selbst zugibt, nur eine
„konzeptuelle Karte“ bzw. eine „Typologie“. Seltsamerweise hält Rokkan das
gleichwohl schon für das gewünschte Ergebnis: ein (erklärendes) Verstehen
der Eigendynamik der Entwicklungen in Westeuropa über die Jahrhunderte.
Eine radikalisierte Form der Annahme einer eigendynamischen Pfadabhän-
gigkeit ist dann die Vorstellung, daß es anders als bei den „exogenen“ gesell-
schaftlichen Mutationen, eine sozusagen vorhersehbare und deterministisch fest-
liegende „Geschichte“ gebe, deren Gesetze bekannt sind und für die man jetzt
schon, wie für den Lauf der Gestirne aufgrund der Gesetze der Astronomie, für
alle denkbaren Zukünfte jeweils exakt vorhersagen kann, was wann der Fall sein
wird – und wo ggf. alles endet.
Das hatten viele Soziologen einmal im Auge als sie davon träumten, die mehr oder weniger eher-
nen „Gesetze“ der Gesellschaft oder der Geschichte aufzuspüren. Warum dieser Traum von den
soziologischen Gesetzen des sozialen Wandels vergeblich war – und warum es auch eher ein Alp-
traum wäre – hat einen leicht einsehbaren Grund. Der wichtigste kann hier schon genannt werden:
Es müssen immer alle Randbedingungen bekannt sein und dann auch konstant bleiben. Und selbst
wenn man, was kaum denkbar ist, alle wichtigen Randbedingungen im Griff hätte: Exogene Ein-
flüsse können von der Natur ihrer „Zufälligkeit“ her niemals ausgeschlossen oder gar vorherge-
sagt werden, und wir können niemals wissen, was morgen geschieht (vgl. dazu auch noch Ab-
schnitt 7.5 unten u.a. über das „Elend des Historizismus“). Außerdem müßten die Modelle, erst
recht für komplexere Systeme, wie es Gesellschaften ohne Zweifel sind, in ihren vielen Annah-
men und Funktionen auch stimmen. Das haben selbst die Meteorologen nicht geschafft, deren
„Prognosen“ nicht ohne Grund nur darin bestehen, für ein, zwei Tage zu extrapolieren, was ihnen
die Wettersatelliten gemeldet haben. Und über Gesellschaftssatelliten verfügen die Soziologen
leider nicht, wenn man nicht schon den ALLBUS oder das SOEP dazu zählen möchte.

20
Vgl. z.B. die Zusammenfassung der Grundideen bei Stein Rokkan, Eine Familie von Mo-
dellen für die vergleichende Geschichte Europas, in: Zeitschrift für Soziologie, 9, 1980, S.
118-128; sowie neuerdings: Peter Flora (Hrsg.), State Formation, Nation-Building, and
Mass Politics in Europe. The Theory of Stein Rokkan, Oxford 1999.
Sozialer Wandel 363

Allerdings sind solche Modelle der endogenen soziogenetischen Evolution für


die soziologische Analyse keineswegs wertlos. Sie können als begrenzte und für
ganz bestimmte Konstellationen von Randbedingungen formulierte Gedanken-
experimente dienen und so klären helfen, wie bestimmte Prozesse ablaufen
„würden“, wenn die Bedingungen alle vorhanden wären. Die – das Modell von
Raymond Boudon aus Abschnitt 7.1 oben erweiternde – Simulation des Neutrali-
sierungseffektes der Bildungsreform durch Volker Müller-Benedict, etwa, ist ein
vorzügliches Beispiel für eine derartige „Modellierung sozialer Prozesse“, und es
hat mit Geschichtsprophetie oder „Teleologie“ nichts zu tun. Solche Modelle der
Eigendynamik sozialer Systeme eignen sich daher besonders gut auch zur „a-
historischen“ Analyse von anscheinend historisch ganz spezifischen Vorgängen
– wie beispielsweise von Revolutionen oder dem Verlauf interethnischer Bezie-
hungen, die es zwar immer nur als historische Einzelereignisse gibt, deren Ab-
läufe aber auf eine verblüffende Weise den gleichen Voraussetzungen und den
gleichen Dynamiken zu folgen scheinen (vgl. dazu insbesondere noch Band 4,
„Opportunitäten und Restriktionen“, und Band 5, „Institutionen“, dieser „Spe-
ziellen Grundlagen“).

Ein historisches Beispiel der Pfadabhängigkeit: die Rheinlandbesetzung und


die Appeasement-Politik der Alliierten

Wir wollen die „Eigendynamik“ und die besondere Logik der Pfadabhängigkeit
eines Prozesses am Beispiel eines historisch wohlbekannten Falles und mit Hilfe
der Logik des sozialen Wandels nach Boudon demonstrieren (vgl. dazu Boudon
1980, S. 140ff.; das Beispiel wurde dazu leicht modifiziert). Es geht darum, wie
es kam, daß Frankreich und Großbritannien sich gegen die zunehmende Aggres-
sivität Hitlers nach der Besetzung des Rheinlandes immer weniger zur Wehr
setzten und dann auch noch den Anschluß Österreichs, die Abtretung des Suden-
tenlandes und schließlich sogar die Besetzung der Tschechoslowakei hinnahmen,
ein Vorgang, der schließlich in den Zweiten Weltkrieg einmündete. Das Modell
beginnt mit einer vereinfachenden Skizze der strategischen Situation der beiden
Parteien, die das Interaktionssystem bilden: Großbritannien und Frankreich auf
der einen Seite und das Deutsche Reich auf der anderen. Weil die „Umwelt“ hier
einstweilen als konstant angenommen werden kann, geht es also (zunächst) nur
um die „eigendynamische“ Rückwirkung von den „Ausgängen“ wieder zum In-
teraktionssystem (siehe aber auch noch weiter unten).
Der Ausgangspunkt ist die Überlegung, wie die beiden Parteien gewisse Ergebnisse ihres
Tuns bewerten. Jede der Parteien hat zwei Alternativen: die Aggressivität A oder die Zurück-
haltung Z. Die Besetzung des Rheinlandes durch das Deutsche Reich wäre beispielsweise ei-
364 Die Konstruktion der Gesellschaft

ne aggressive Reaktion, ebenso wie die Intervention der Alliierten Großbritannien und Frank-
reich. Wenn sich beide zurückhalten (Kombination ZZ), gebe es den mit jeweils 0 bewerteten
Status quo. Bei einem Erfolg der Aggression ohne Eingreifen der Alliierten (AZ) gewinne
das Deutsche Reich eine Einheit, während Großbritannien und Frankreich einen Prestigever-
lust von -1 hinnehmen müßten. Greifen die Alliierten dagegen – sozusagen: präventiv – ein
und das Deutsche Reich verhält sich zurückhaltend (ZA), dann müssen die Alliierten wieder
Aufwendungen in Höhe von -1 tragen, und es gibt für das Deutsche Reich einen Schaden von
-2. Deutlicher zum Status quo sind die Unterschiede, wenn das Deutsche Reich angreift und
die Alliierten daraufhin intervenieren (AA): Der Schaden für das Deutsche Reich betrage
dann -20 und für Großbritannien und Frankreich -2. Das ist nicht unrealistisch: Das Deutsche
Reich hätte nach einer erneuten Besetzung des Rheinlandes alle inzwischen, etwa durch Stre-
semann ausgehandelten, Lockerungen des Versailler Vertrages wieder verloren, während
Großbritannien und Frankreich etwas mehr als bei einer „einseitigen“ Aktion hätten hinneh-
men oder aufbringen müssen, aber gleichwohl wesentlich besser davon gekommen wären als
das Deutsche Reich.

Dieses „Interaktionssystem“, bestehend aus den Alliierten Großbritannien und


Frankreich einerseits und dem deutschen Reich andererseits, läßt sich dann in ei-
ner einfachen Tabelle so wie in Abbildung 7.10 zusammenfassen. Die jeweils
erste Ziffer in den Zellen der Tabelle gibt die Auszahlung an das Deutsche Reich,
die zweite die an Großbritannien bzw. Frankreich wieder.

Großbritannien/Frankreich
Zurückhaltung Angriff

Zurückhaltung 0, 0 -2, -1
Deutsches
Reich
Angriff 1, -1 -20, -2

Abb. 7.10: Die Ausgangssituation bei der Rheinlandkrise

Für beide (kollektiven bzw. korporativen) Akteure wäre demnach die Kombina-
tion AA am schlimmsten, und man sollte denken, es käme nicht dazu. Das ist im
Grunde auch so: Jeder versucht schon, die beiderseitige Aggression zu vermei-
den. Gleichwohl gibt es immer die Versuchung, abzuwarten, was der jeweils an-
dere tut und ob der vielleicht doch die Nerven verliert und rechtzeitig einen
Rückzieher macht. Wenn zum Beispiel das Deutsche Reich davon ausgehen
müßte, daß die Alliierten auf jeden Fall eingreifen würden, etwa, weil sie sich
das gegenseitig vertraglich zugesichert haben, dann wäre es für das Deutsche
Reich klüger, nachzugeben. Ebenso, wie das für die Alliierten zuträfe, wenn es
Sozialer Wandel 365

unzweifelhafte Hinweise darauf gäbe, daß das Deutsche Reich unter allen Um-
ständen aggressiv sein würde, etwa weil sein „Führer“ ein verrückter tough guy
ist.
Es ist die Situation von James Dean in dem Film „Denn sie wissen nicht, was sie tun“ und
dem Autorennen auf den Abgrund zu: Wer zuerst aussteigt, hat verloren, aber wer weiter-
fährt, ist tot. Es ist ein spezieller Fall eines sog. strategischen Spieles. Es wird auch als Chi-
cken Game bezeichnet (vgl. dazu noch ausführlich Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Spe-
ziellen Grundlagen“). Die Struktur dieses Spiels legt nicht „a priori“ fest, was geschieht. Zwei
Ergebnisse sind wahrscheinlich: AZ oder ZA, kaum jedoch ZZ oder AA. Welche der beiden
wahrscheinlichen Kombinationen - AZ oder ZA - eintritt, kann ohne weiteres nicht gesagt
werden. Nur eines ist klar: Wenn der andere offenkundig nicht anders kann, als aggressiv zu
sein, dann ist es in der Tat klüger, nachzugeben.

Wir wollen die oben beschriebene Situation als S1 bezeichnen. Sie schließt – von
der strategischen Struktur des Spieles her – die Kombination AA so gut wie aus,
weil jeder letztlich doch vor dem Äußersten zurückschreckt. Damit geht es nur
noch darum, ob sich AZ oder ZA ereignet, also – ob die Alliierten oder das Deut-
sche Reich von der gemeinsamen Fahrt in den Abgrund zuerst „aussteigen“. His-
torisch hat sich, wie wir wissen, die Kombination AZ ereignet: Hitler hat das
Rheinland besetzt, und Großbritannien und Frankreich haben nicht reagiert.
Warum die Alliierten nicht eingegriffen haben, ist bis heute nicht ganz geklärt. Einer der
Gründe war wohl, daß sie aufgrund vieler erkennbarer Umstände davon ausgehen mußten,
daß Hitler bedingungslos angreifen würde, obwohl er, wie man heute weiß, durchaus die Ho-
sen voll hatte. Außerdem sind Demokratien gegenüber Diktaturen immer im Nachteil, wenn
es um eine rasche Mobilisierung zu einem Krieg geht. Und wenn sich einmal die Überzeu-
gung durchgesetzt hat, daß der andere auf jeden Fall (eher) angreifen wird, dann bleibt aus
„rationalen“ Erwägungen erst recht keine Wahl mehr: Dann ist es besser, sich zurückzuhal-
ten, um die noch größeren Kosten eines Konfliktes zu vermeiden.

Die erfolgreiche und unbehinderte Besetzung des Rheinlandes veränderte aber


die Situation. Der Einfachheit halber wollen wir alles andere gleich lassen und
uns nur ansehen, wie jetzt die Konstellation AA für eine nächste Aggressions-
drohung des Deutschen Reiches ausgesehen haben könnte.
Beide Auszahlungen dürften sich verändert haben: Die Kosten des nächsten aggressiven Ak-
tes dürften für das Deutsche Reich nun gesunken sein und für Großbritannien und Frankreich
gestiegen. Es sind einerseits Hemmschwellen gefallen, es wurden militärische Erfahrungen
gesammelt und die Stärke des Reiches hat insgesamt zugenommen. Und allein deshalb wäre
andererseits eine Intervention jetzt für die Alliierten teurer geworden. Für die nächste Gele-
genheit, die Drohung mit dem Anschluß Österreichs also, könnte man daher die Auszahlun-
gen für die Konstellation AA mit -10,-5 annehmen. Ansonsten bleibt die Tabelle gleich.

Das sei die Situation S2, wie sie sich als Folge des Ergebnisses der Situation S1
eingestellt hat. Im Grunde gibt es jetzt zwar das gleiche Problem wie zuvor, daß
eigentlich jede der Parteien vor der Konstellation AA zurückschrecken müßte.
366 Die Konstruktion der Gesellschaft

Aber die Neigung der Alliierten zur Zurückhaltung und die des Deutschen Rei-
ches zum Angriff sind jetzt beide gestiegen, so daß das Ergebnis, das wir alle
kennen, nämlich der „Anschluß“ Österreichs, schon weit weniger verwundert als
das Vabanquespiel Hitlers bei der Rheinlandbesetzung. Das hatte dann auch
wieder Folgen, nämlich eine weitere Senkung der Aggressionskosten für das
Deutsche Reich und deren weitere Erhöhung für die Alliierten – die Situation S3.
Dadurch wird noch einmal unwahrscheinlicher, daß sich Hitler jetzt zufriedenge-
ben würde, wenn sich eine neue Gelegenheit böte. Und so wurde auch die Beset-
zung der Tschechoslowakei hingenommen.
Das Ganze bekam dann auch einen Namen: Appeasement-Politik, die Politik der Beschwich-
tigung und des Gewährenlassens. Sie entsprang ein wenig wohl auch aus dem schlechten
Gewissen über den Versailler Vertrag, beruhte insbesondere aber auf der Hoffnung, daß der
Hunger des Diktators bald gestillt wäre, zumal der ja auch nicht müde wurde, zu verkünden,
daß er jetzt bald keine territorialen Forderungen mehr haben würde.

Kurz: Einmal begonnen, gewinnt der Prozeß durch die sukzessive Änderung der
Auszahlungsstrukturen (als Folge des Prozesses selbst) eine Eigendynamik, die
sich aus der immer größer werdenden Schere der Anreize für die einseitige Ag-
gression des Deutschen Reiches gegenüber jedem anderen Ausgang ergibt. Das
meint das Wort von der „Pfadabhängigkeit“: Ist einmal der erste Schritt in die
falsche Richtung getan, führen alle weiteren schrittweise, aber unweigerlich ins
Verderben, weil sich nur noch diese eine Alternative bietet, solange nichts von
außen geschieht, was die Sache grundlegend ändern würde. Solche Pfadabhän-
gigkeiten gibt es natürlich auch in die andere Richtung, nämlich ins Glück, etwa
bei zunächst zögerlichen Liebespaaren, die sich dann doch „trauen“ und merken,
daß sie zueinander passen, und durch ihr daran orientiertes Tun ihr Glück immer
weiter vervollkommnen. Und so hätte die Sache auch für die Alliierten in eine
andere Richtung gehen können: Wenn sie gleich eingegriffen hätten, wäre der
Schaden für das Deutsche Reich unabsehbar gewesen, und die Kosten eines neu-
erlichen Angriffs wären für die Alliierten gesunken (etwa auf die Auszahlungen -
30,-1 für die Kombination AA). Das sei die Situation S0. Diese Konstellation hät-
te für die nächste Gelegenheit die Wahrscheinlichkeit eines aggressiven Aktes
des Deutschen Reiches deutlich gesenkt – und alles wäre noch einmal gut gegan-
gen. So wie beim Kosovo-Krieg, der wohl auch vor dem Hintergrund dieser Er-
fahrungen gegen einen ähnlich aggressiv gesonnenen Diktator geführt wurde, um
Schlimmeres zu verhindern.
Die Struktur dieses Prozesses läßt sich dann im Rahmen des Boudon-Schemas
wie in Abbildung 7.11 skizzieren (vgl. Boudon 1980, S. 144):
368 Die Konstruktion der Gesellschaft

mehr oder weniger – wieder der Status quo herausgekommen – die „Reprodukti-
on“ der Situation also. Das Eingreifen der Alliierten bei der Rheinlandbesetzung
hätte die neue, für das Deutsche Reich sehr unerfreuliche, Situation S0 erzeugt,
und dabei wäre es – vorläufig – geblieben. Erst die hingenommene Besetzung
des Rheinlandes bedeutete das Beschreiten eines Pfades, der die folgenden Er-
eignisse immer zwangsläufiger werden ließ.
Bei Boudon steht am Schluß ein Pfeil vom Ausgang AZ zu der Abkürzung
„usw.“. Dahinter hätte er auch schreiben können: Überfall auf Polen. Diesen Ü-
berfall wagte Hitler ja durchaus auf der Grundlage der geschilderten Vorge-
schichte (sowie des Paktes mit Stalin). Nicht ohne weiteres hätte er dagegen hin-
schreiben können: „Zweiter Weltkrieg“. Denn nach der Logik des Vorgangs wä-
re auch Polen von den Alliierten hingenommen worden. Aber dann geschah be-
kanntlich etwas, was auch Hitler nicht mehr erwartet hatte: Derselbe Chamber-
lain, der noch „München“ mitgemacht und Hitler seinen Friedenswillen abge-
nommen hatte, änderte jetzt seine Einstellung, seine subjektive „Definition“ der
Situation also: Er gab die Appeasement-Politik auf und schwenkte auf die (be-
dingungslose) Gegenaggression um, deren Ausführung dann freilich Churchill
vollzog. Es war, in der Sprache des Modells von Boudon, ein Wandel vom Typ
der „Transformation“: Der letzte Ausgang, die Besetzung der Tschechoslowakei,
war nicht nur ein „materieller“ Akt, sondern auch das letzte Zeichen, daß die bis
dahin unterstellte Annahme der grundsätzlichen Friedensliebe Hitlers nicht
stimme. Das änderte die Einstellung der Alliierten (in der Person Chamberlains
vertreten), die zuvor zur unveränderten „Umwelt“ des ganzen Geschehens ge-
zählt hatte. Nach welchen Gesetzmäßigkeiten das ging, kann man nur ahnen. Wir
vermuten, daß es den Gesetzen folgte, die ganz allgemein das (Re-)„Framing“
einer Situation erklären (vgl. dazu noch Band 6, „Sinn und Kultur“ dieser „Spe-
ziellen Grundlagen“): Irgendwann ändert sich, wenn sich die Anreize und die
Anzeichen mehren, daß eine andere Sicht der Dinge „angesagt“ wäre, die kom-
plette Sichtweise auf die Situation und das ganze „Programm“ des Handelns mit
ihr. Und so gab es nun ein ganz anderes „Spiel“. Hitler überfiel Polen am 1. Sep-
tember 1939, und Großbritannien und Frankreich erklärten ihm am 3. September
1939 nach einem Ultimatum den Krieg. Sie konnten gar nicht mehr anders. Und
Hitler fragte Göring ganz fassungslos: Was nun?

„Wirklicher“ sozialer Wandel

Die Analyse des „wirklichen“ sozialen Wandels ist nicht immer in so einfacher
Weise möglich wie in dem Beispiel vorhin (vgl. dazu auch noch Kapitel 8 unten
in diesem Band). „Wirkliche“ Gesellschaften bestehen und wandeln sich über al-
Sozialer Wandel 369

le möglichen Formen, Konzepte, Typen und Modelle von Prozessen. Es gibt ein-
fache und funktionale Reproduktion, Transition und Transformation, Kumulati-
on, Dämpfung und Oszillation, endogene Eigendynamik und Pfadabhängigkei-
ten, wie exogene Ereignisse, die alles in eine ganz andere Richtung lenken kön-
nen, Evolution und manchmal sogar auch eine Revolution. Auch schon an dem
noch recht übersichtlichen Beispiel der Bildungs-„Revolution“, der Expansion
des Bildungssystems und der Stabilität der sozialen Ungleichheit, das wir oben in
Abschnitt 7.1 besprochen haben, lassen sich etwa für die Verhältnisse in
Deutschland, alle möglichen Arten von Vorgängen sozialer Prozesse und des so-
zialen Wandels beobachten.
Das Geschehen beginne, weil man immer irgendwo anfangen muß, mit der deutlichen (repetiti-
ven) Reproduktion der Strukturen der sozialen Ungleichheit zu Beginn dieses Jahrhunderts. Das
Bildungsverhalten der sozialen Klassen ist im Kaiserreich und auch noch in der Weimarer Repu-
blik ebenso festgefügt wie die Statusvererbung, und beides reproduziert sich gegenseitig zu einem
System nahezu ständischer oder gar kastenähnlicher Verhältnisse, unterstützt nicht zuletzt über
die damals sehr lebendigen sog. sozialmoralischen Milieus, etwa das der sozialdemokratischen
Arbeiterschaft oder das der Katholiken. Viele Entwicklungen der besonderen Eigendynamik der
funktionalen Differenzierung sorgen jedoch auch schon endogen allmählich dafür, daß sich die
Verhältnisse langsam, aber stetig verändern (vgl. dazu auch schon die Abschnitte 4.3 und 4.4 in
diesem Band). Und, das muß man wohl auch sagen, die Verhältnisse und Ereignisse im Dritten
Reich und im Zweiten Weltkrieg haben ihren ganz besonderen – exogenen? endogenen? –
Einfluß auf die soziale Ungleichheit und deren Reproduktion und die weitere Eigendynamik der
funktionalen Differenzierung gehabt. Gerade aber die endogen immer weiter beschleunigte funk-
tionale Differenzierung erzeugt mit der Bildungsreform einen weiteren Schub der Öffnung des
Bildungssystems, wobei man wieder nicht sagen kann, ob der Sputnik, der mit seinem Schock al-
les ausgelöst oder mindestens beschleunigt hat, ein exogenes Ereignis war – oder die Folge einer
im kalten Krieg der Systeme damals endogen angelegten Entwicklung des Gesamtsystems der
Weltgesellschaft.

In seiner Erweiterung des Boudon-Modells der Reproduktion der sozialen Un-


gleichheit hat sich Volker Müller-Benedict an Hand des kumulierten Datensatzes
des ALLBUS auch einmal angesehen, was mit der sozialen Mobilität in Deutsch-
land für die Geburtsjahrgänge noch aus der Weimarer Zeit bis nach der Bil-
dungsreform empirisch geschehen ist. In Abbildung 7.12 sind die Ergebnisse für
das Chancenverhältnis eines Auf- oder Abstiegs zwischen der sog. Dienstklasse,
als einer oberen Schicht, und allen anderen Schichten bzw. den Arbeitern aufge-
führt.
Anders als das Boudon mit seinem Modell angenommen hatte, haben sich al-
so die Verhältnisse, wenn man einen längeren Zeitraum betrachtet, durchaus ge-
ändert. Anfangs gab es die Mobilitätsschranken zwar noch, sie bauen sich aber
schon für die Kriegsgeneration deutlich ab. Die Bildungsreform hat dann – inte-
ressanterweise – in der Tat kaum noch eine nennenswerte eigene Wirkung. Es
sieht eher so aus, als hätten die Umwälzungen im Zuge des Dritten Reiches und
des Zweiten Weltkriegs einen Schub der Öffnung und der Auflösung von Klas-
370 Die Konstruktion der Gesellschaft

sen- und Standesgrenzen bewirkt, den die Bildungsreform dann nur noch institu-
tionell begleitet hat. Und insgesamt gesehen erkennt man schon einen durchge-
henden Trend: den Abbau der Klassengrenzen und die Modernisierung der deut-
schen Gesellschaft. Der ALLBUS enthält, darauf sollte man auch noch hinwei-
sen, nur Daten über die deutsche Bevölkerung. Wenn man die rund 8% Auslän-
der hinzufügt, ergibt sich ein anderes Bild: Es hat sich, inmitten der Mobilität der
Neuen Mitte und der (post-)modernen Individualisierung, eine Art von neo-
feudaler Unterschichtung entwickelt, bei der die vertikale soziale Ungleichheit
mit bestimmten kulturellen Lebensweisen eng kovariiert und die Lebenswelten
und Verkehrskreise sorgfältig getrennt sind. Es ist fast so wie in Indien – aber als
Folge der eher sich noch weiter verstärkenden internationalen Migration wahr-
scheinlich nur ein weiterer Schritt auf dem Wege der Universalisierung und der
Modernisierung der Weltgesellschaft insgesamt.

Abb. 7.12: Die Entwicklung der Mobilität für verschiedene Geburtskohorten (Männer,
Westdeutschland; nach Müller-Benedict 1999, S. 334)
Sozialer Wandel 371

Exkurs über die Ko-Evolution von Basis und Überbau am Beispiel


der protestantischen Ethik und des Geistes des Kapitalismus und
über die Lehren, die man daraus für die Erklärung des sozialen
Wandels ziehen kann

Eine der berühmtesten Studien in der Soziologie insgesamt ist der Versuch von
Max Weber gewesen, einen inneren Zusammenhang zwischen der – wie Max
Weber sich ausdrückt – protestantischen Ethik und dem Geist des Kapitalismus
nachzuweisen.21 Beide Erscheinungen haben – unter anderem – zwei Gemein-
samkeiten: einerseits die unablässige innere Unruhe, die das Leben sowohl der
Protestanten wie der Kapitalisten durchzieht, und die nicht stillzustellende Suche
nach Hinweisen, ob denn alles seine Ordnung habe, andererseits die Verselb-
ständigung der jeweiligen „Sphären“ zu eigenständigen Funktionssystemen mit
ihrer jeweils ganz eigenen Logik, die der Religion hier, die der Wirtschaft dort,
und ihrer Verkettung in einem sich gegenseitig stützenden und begrenzenden
„System“. Der Ausgangspunkt war für Max Weber eine interessante und bis heu-
te noch rätselhafte, manchen damaligen Kirchentag sehr beschäftigende Korrela-
tion, betreffend nämlich den
„ ... ganz protestantischen Charakter des Kapitalbesitzes und Unternehmertums sowohl, wie der
oberen gelernten Schichten der Arbeiterschaft, namentlich aber des höheren technisch oder kauf-
männisch vorgebildeten Personals der modernen Unternehmungen.“ (Ebd., S. 18; Hervorhebung
im Original)

Es geht Max Weber um die Erklärung dieses Zusammenhangs – ganz so also,


wie man das immer als Soziologe möchte, der auf eine soziale Regelmäßigkeit
stößt, die zunächst unverständlich ist und der soziologischen Aufklärung durch
eine soziologische Erklärung bedarf. Unter der protestantischen Ethik verstand
Max Weber dabei eine spezielle Form der „Beziehung zwischen religiösem Le-
ben und irdischem Handeln“: die „puritanische Weltzugewendetheit, das heißt:
Wertung des innerweltlichen Lebens als Aufgabe.“ (Ebd., S. 80; Hervorhebun-
gen so nicht im Original) – im Unterschied zur typischen Weltabgewandtheit an-
derer religiöser Vorstellungen etwa des Katholizismus. Der „‚Geist‘ des Kapita-
lismus“ bestand für Max Weber in jener besonderen Art der Orientierung am
Gelderwerb an sich, „ ... so gänzlich aller eudämonistischen oder gar hedonisti-
schen Gesichtspunkte entkleidet“. Gelderwerb als Selbstzweck also:

21
Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Max Weber,
Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band 1, 7. Aufl., Tübingen 1978a (zuerst:
1920), S. 17-206.
372 Die Konstruktion der Gesellschaft

„Der Mensch ist auf das Erwerben als Zweck seines Lebens, nicht mehr das Erwerben auf den
Menschen als Mittel zum Zweck der Befriedigung seiner materiellen Lebensbedürfnisse bezo-
gen.“ (Ebd., S. 35f.; Hervorhebungen nicht im Original)

Das zentrale Argument für die Begründung des Zusammenhangs zwischen der
protestantischen Ethik und dem Geist des Kapitalismus liegt in der beiden Orien-
tierungen gemeinsamen Kombination von Weltzugewandtheit und Askese: die
sog. innerweltliche Askese. Wie ist diese aber in die Welt gekommen? Zunächst
ist der Protestantismus – als religiöse Doktrin – immer schon eine stärker welt-
zugewandte Angelegenheit als etwa der Katholizismus gewesen, wenngleich
nicht in allen seinen Varianten gleichermaßen. Max Weber berichtet ausführlich
über das Konzept des „Berufes“ bei Luther. Eine besondere Zuspitzung und
Richtung erhielt diese Orientierung an einer innerweltlichen Askese jedoch erst
im Calvinismus – und zwar: durch ein zunächst ganz und gar religiös definiertes
Detail. Der Calvinismus nahm nämlich in einem wichtigen Kernteil seines Glau-
bens, der Prädestinationslehre bzw. der „Lehre von der Gnadenwahl“, an, daß die
Menschen bereits von Geburt an in ihrem jenseitigen Schicksal vorherbestimmt
seien: ewige Verdammnis oder ewiges Heil. Durch irdische Werke war daran –
ganz anders als für die Katholiken – auch nichts mehr zu ändern: Gott ist der
Allmächtige und läßt sich durch bestimmte Formen der Werksfrömmigkeit nicht
ins Handwerk und in seinen ganz und gar unergründlichen „heimlichen
Ratschluß“ (ebd., S. 90ff.) pfuschen.
Wer an diese Lehre glaubte, auf dem lastete natürlich eine tiefe und das ganze
Leben durchziehende, wohl auch zu Fatalismus verführende, irritierende Unge-
wißheit: Bin ich denn nun erwählt oder bin ich verdammt? (Ebd., S. 102ff.) Wie
wichtig wäre es dann aber, wenn es ein – noch so undeutliches – Zeichen für die
Erwählung, für die certitudo salutatis, gäbe! Nicht zuletzt aus der Sicht der Seel-
sorger: Um einem zunächst naheliegenden, aus ihrer Sicht aber sehr schädlichen
Fatalismus der Schicksalsergebenheit in die Vorherbestimmung des Heils vorzu-
beugen! Der würde ja drohen, wenn sich ein jeder sagte: Es ist ja ohnehin egal,
was ich tue – alles ist vorherbestimmt. Jetzt mußten sich also die Seelsorger et-
was einfallen lassen. Und siehe, sie fanden eine Lösung: Es gibt ein Zeichen, das
die Ungewißheit zwar nicht auflöst, aber in einer bestimmten Weise beeinflussen
und die Last der Furcht vor der Verdammnis etwas mildern kann. (Ebd., S.
104ff.) Es ist das Zeichen des irdischen Erfolgs im Berufsleben. Wichtig ist da-
bei, daß nicht das Bemühen bereits ausreicht, etwa eine bestimmte (gute) Absicht
oder ein bestimmtes „Handeln“, sondern nur das Ergebnis dieses Bemühens:
„Aber da schon nach Calvins Ansicht alle bloßen Gefühle und Stimmungen, mögen sie noch so
erhaben zu sein scheinen, trügerisch sind, muß der Glaube sich in seinen objektiven Wirkungen
bewähren, um der certitudo salutis als sichere Unterlage dienen zu können.“ (Ebd., S. 108; Her-
vorhebung im Original)
Sozialer Wandel 373

Dieses Zeichen des irdischen Erfolgs ist – wenn man es so sagen will – ein not-
wendiges, aber – leider – kein hinreichendes Zeichen für die Erwählung zum e-
wigen Heil. Diese verbleibende Unsicherheit hat eine weitreichende Folge: Nur
ein einziger Moment des Versagens ist der sichere Hinweis auf die Verdammnis:
„Jede einzelne Sünde vernichtet alles, was im Lauf eines ganzen Lebens an ‚Verdienst‘ durch
‚gute Werke‘ aufgehäuft sein könnte ... . Es findet eben nicht, wie im Katholizismus, eine Art
Kontokorrent mit Saldo-Abrechnung statt ... , sondern für das ganze Leben gilt das schroffe Ent-
weder-Oder: Gnadenstand oder Verwerfung.“ (Ebd., S. 115, Fn. 2; Hervorhebungen im Original)

Daher darf es keinen einzigen schwachen Augenblick geben. Und die Folge: Das
Leben wird systematisiert und durch und durch „berechnet“. Die Askese wendet
sich dadurch nicht wie im katholischen Mönchstum von dem weltlichen Alltags-
leben ab, sondern in die Welt hinein. Und die Folge dieser Ausrichtung der Le-
bensführung auf eine innerweltliche Askese:
„Der Calvinismus fügte aber im Verlauf seiner Entwicklung etwas Positives: den Gedanken der
Notwendigkeit der Bewährung des Glaubens im weltlichen Berufsleben hinzu. Er gab damit den
breiteren Schichten der religiös orientierten Naturen den positiven Antrieb zur Askese ... .“ (Ebd.,
S. 120; Hervorhebungen im Original)

Die Ansammlung von Reichtum, der nicht dem Genuß, sondern der produktiven
Wiederverwendung dient, ist somit kein Nadelöhr auf dem Weg ins Himmel-
reich, sondern ein – mögliches, aber nie: sicheres! – Zeichen der Erwählung. Und
genau dies, die durch den Zwang zur lückenlosen Dokumentation einer mögli-
chen Erwählung erzwungene Systematisierung der Lebensführung, ist es, die die
protestantische Ethik durchdringt und den Geist des Kapitalismus ausmacht. Max
Weber faßt diese „Zusammenhänge der religiösen Grundvorstellungen des aske-
tischen Protestantismus mit den Maximen des ökonomischen Alltagslebens“
(Ebd., S. 163) noch einmal so zusammen:
„Entscheidend aber für unsere Betrachtung war immer wieder, um es zu rekapitulieren, die bei al-
len Denominationen wiederkehrende Auffassung des religiösen ‚Gnadenstandes‘ eben als eines
Standes (status), welcher den Menschen von der Verworfenheit des Kreatürlichen, von der
‚Welt‘, abscheidet, dessen Besitz aber – wie immer er nach der Dogmatik der betreffenden De-
nomination erlangt wurde – nicht durch irgendwelche magisch-sakramentalen Mittel oder durch
Entlastung in der Beichte oder durch einzelne fromme Leistungen garantiert werden konnte, son-
dern nur durch die Bewährung in einem spezifisch gearteten von dem Lebensstil des ‚natürlichen‘
Menschen unzweideutig verschiedenen Wandel. Daraus folgte für den einzelnen der Antrieb zur
methodischen Kontrolle seines Gnadenstandes in der Lebensführung und damit zu deren asketi-
scher Durchdringung. Dieser asketische Lebensstil aber bedeutete eben, wie wir sahen, eine an
Gottes Willen orientierte rationale Gestaltung des ganzen Daseins.“ (Ebd., S. 162f.; Hervorhe-
bungen im Original)

So konnten aus Calvinisten bzw. aus Puritanern religiös motivierte Kapitalisten


werden. Wie aber die Ansammlung von irdischem Reichtum als Frucht einer in-
374 Die Konstruktion der Gesellschaft

nerweltlich gerichteten Askese dem Calvinisten das Leben mit der Ungewißheit
der Prädestination etwas erleichtert, so kommt die religiöse Doktrin des Calvi-
nismus bzw. des Puritanismus auch dem – vielleicht zunächst noch sehr katholi-
schen, an das Gleichnis von dem Kamel und dem Nadelöhr fest glaubenden und
deshalb mit einem sehr schlechten Gewissen versehenen – Kapitalisten entgegen,
dessen Schicksal es ja ist, hienieden irdischen Reichtum zu akkumulieren und zu
reinvestieren – oder in der gnadenlosen Konkurrenz am Markte unterzugehen.
Eine Lehre der Weltabgewandtheit oder gar der Gegnerschaft zu irdischem Er-
folg wäre eine allzu schwere psychische Hypothek für jemanden, dessen Ge-
schäft tagtäglich davon abhängt, daß er sich eben nicht dem Genusse oder einer
Ethik der Brüderlichkeit ohne Rücksicht auf eventuelle objektive Folgen unkon-
trolliert hingibt. Und was ist wohl schlimmer: Verdammnis im Jenseits oder der
Untergang auf dem Markte? Dann ist es sogar als Glaubensüberzeugung optimal:
Erfolg auf dem Markte als Zeichen, daß die Erwählung wenigstens nicht ausge-
schlossen ist.
Die protestantische Ethik stellte somit einen gedanklichen Ausweg aus dem
Dilemma zwischen jenseitsorientierter Religiosität und diesseitsbezogenem Er-
folg dar. Sie bildete nicht nur einen von diesem psychischen Druck entlastenden,
sondern sogar einen legitimierenden Ideenhorizont für das kapitalistisch-
berechnende Handeln und für die damit verbundenen Vorgaben und Interessen.
Auf diese Weise konnten Kapitalisten zu Puritanern werden – wenn sie nach ih-
rem Ableben in den Himmel kommen, aber in dem Leben vor dem Tode auch
nicht schon weltlich untergehen wollten. Und die Folge: Weltliches Interesse und
religiöse Idee ergänzen und stützen einander. Die Protestantische Ethik und der
Geist des Kapitalismus stehen also – so der Ausdruck von Max Weber, einem
Stück von Goethe folgend – in einem Verhältnis der Wahlverwandtschaft. Der
Hintergrund dieser Wahlverwandtschaft ist die mit der modernen Gesellschaft
endgültig in die Welt gekommene und nicht zu beseitigende, grundlegende Unsi-
cherheit und Unruhe der Menschen einerseits und die sagenhaften Beträge von
möglichen Gewinnen und Verlusten dort andererseits. Wo alles gesellschaftlich
seinen Platz hat, wie in den Feudalgesellschaften, oder wo es nicht viel zu vertei-
len gibt, wie in den Stammesgesellschaften, da gibt es, bei aller existentiellen
Unsicherheit, gleichwohl keinen – vernünftigen! – Grund zur Unruhe, zur Re-
duktion von Unsicherheit und zur ständigen Suche nach neuen Informationen. In
modernen Gesellschaften aber treffen alle Bedingungen für die Erzeugung von
Unruhe zu: Kein Platz ist mehr sicher, und die unbedachte Hingabe an Stimmun-
gen und Beschaulichkeit kann dort sehr teuer werden. Und das bleibt auch einst-
weilen so, wahrscheinlich bis – wie Max Weber bekanntlich etwas düster vermu-
tet hat – „ ... der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist.“ (Ebd., S. 203)
Es fällt nicht schwer, hinter den Beschreibungen und Erläuterungen von Weber
Sozialer Wandel 375

über die inneren Zusammenhänge und Wahlverwandtschaften und über die ein-
zelnen Prozesse der Ko-Evolution des Protestantismus und des Kapitalismus das
Muster der soziologischen Erklärung wiederzuerkennen. Aber das ist ja auch
weiter kein Wunder: Max Weber kann geradezu als der Erfinder des Grundsatzes
des Methodologischen Individualismus und der „verstehenden“ soziologischen
Erklärung gelten.
Die Analyse von Weber ist später oft als eine Antwort auf die These von Karl
Marx gelesen worden, wonach die materielle Basis alleine den institutionellen
und kulturellen Überbau bestimme, ebenso aber auch als eine Kritik am Idealis-
mus, der den Ideen oder den „Werten“ die alles bewegende Kraft zuschreibt.
Weber ist bald, vor allem natürlich von den immer alles besser wissenden Histo-
rikern und den nicht zu Unrecht schockierten Theologen, aber auch von Soziolo-
gen heftig kritisiert worden, und auch für diesen Zusammenhang hat man, wie
für fast alles, wovon man glaubte, daß es ein „soziologisches Gesetz“ wäre, zahl-
lose Ausnahmen gefunden.22 Das alles ist hier aber in seinen Details ganz und
gar uninteressant. Wichtig ist etwas anderes: Die Studie ist ein Muster für die so-
ziologisch-„verstehende“ Rekonstruktion des Prozesses einer gesellschaftlichen
Ko-Evolution geworden – und wie dabei die institutionell und materiell gepräg-
ten Interessen der Menschen ihre kulturellen Vorstellungen und Ideen beeinflus-
sen und diese wiederum die Institutionen und Ideen und wie das alles in ein
Gleichgewicht und schließlich in eine sich verselbständigende Eigendynamik ge-
raten kann. Insofern ist es auch eine – nur allzu verständliche – Korrektur „unili-
nearer“ Hypothesen, wonach entweder die materiellen Interessen, die institutio-
nellen Regeln oder die kulturellen Ideen jeweils das alleinige oder letzte „mo-
vens“ der Geschichte oder der Gesellschaft wären. Sie alle gehören zusammen
und ko-evoluieren nur gemeinsam – zu jeweils historisch ganz einmaligen Typen
von Gesellschaften, aber auf der Grundlage von allgemeinen und ganz und gar
„ahistorischen“ Mechanismen, wie die der Rückkopplung oder der funktionalen
Reproduktion (vgl. dazu auch noch Kapitel 9 insgesamt).

22
Das Hauptmerkmal der erfolgreichen Unternehmer im Frühkapitalismus scheint nicht so
sehr die spezielle Religion, sondern die Tatsache ihrer Emigration gewesen zu sein: Die
von Weber so besonders betrachteten Genfer Calvinisten waren fast alle Emigranten und
niemand war schweizer Abstammung. Sie kamen vielmehr aus dem katholischen Flan-
dern, ebenso wie die Mehrzahl der Geschäftsleute in Holland, in Hamburg und in
Deutschland ganz allgemein. Auch in Köln und in Holland waren die (erfolgreichen) Un-
ternehmer überwiegend katholisch und stammten vornehmlich aus Antwerpen und aus
Lüttich. Die Übernahme der calvinistischen Lehre war eher die Folge als die Ursache ih-
rer Lebenswelt und Betätigung. Vgl. dazu die Anmerkungen bei Boudon (1986, S.
147ff.).
376 Die Konstruktion der Gesellschaft

7.5 Die Soziologie des sozialen Wandels

Zu Beginn dieses Kapitels hatten wir erwähnt, daß der soziale Wandel lange Zeit
das Thema der Soziologie gewesen ist, inzwischen aber nicht mehr. Nun dürfte
verständlich geworden sein, warum die Soziologie einen ihrer ehemaligen
Hauptgegenstände verloren hat: Makrosoziologische „Gesetze“ des Wandels gibt
es nicht, und wenn Regelmäßigkeiten der Veränderung angetroffen werden, dann
beruhen sie auf – mehr oder weniger komplexen – Makro-Mikro-Makro-
Sequenzen, die es über die Logik der soziologischen Erklärung zu dekomponie-
ren gilt. Gleichwohl lohnt sich ein Blick auf die wichtigsten, wenngleich inzwi-
schen meist etwas bleich gewordenen „Ansätze“ der sog. Soziologie des sozialen
Wandels.
Es hat eine ganze Reihe von Vorschlägen für Gesetze des sozialen Wandels gegeben. Einige
davon werden schon lange kaum noch beachtet, wie die Zyklustheorien etwa bei Oswald
Spengler oder Pitirim A. Sorokin, oder die Theorie des cultural lag von William F. Ogburn.
Auch an die Stadientheorien, etwa in der Art wie sie Auguste Comte vorgeschlagen hat,
glaubt so gut wie niemand mehr. Dabei kann sicher nicht bestritten werden, daß es so etwas
wie Zyklen und Kreisläufe, die zeitverzögerte Änderung der Kultur durch technische Innova-
tionen oder gewisse typische Sequenzen von Abläufen empirisch tatsächlich gibt. Es gibt ja
„Konjunkturen“ und Oszillationen, kulturellen Wandel der Werte nach Änderungen in der
materiellen „Basis“ oder gewisse Phasen der Entwicklung, etwa die der interethnischen Be-
ziehungen, wie sie Robert E. Park beschrieben hat. Aber es gibt diese Dinge eben nicht als
feste „Gesetze“, sondern als von vielen (Rand-)Bedingungen („pfad“-)abhängige Sequenzen
von Makro-Mikro-Makro-Übergängen.

Übrig geblieben ist von allen diesen Versuchen und Ansätzen eigentlich nur
noch eine Variante der Theorie des sozialen Wandels: die evolutionäre Erklärung
des Wandels von Gesellschaften und des gesamten Systems der Weltgesellschaft.
Und es sieht fast so aus, als gäbe es hierfür in der Tat sogar eine gewisse Rich-
tung – die der durchgreifenden funktionalen Differenzierung und „Modernisie-
rung“ der Welt insgesamt. Unter dem Schlagwort der Globalisierung wird diese
Idee derzeit diskutiert und geglaubt.
Die Evolutionstheorie des sozialen Wandels gibt es in drei Varianten, von denen die ersten
beiden inzwischen wohl als widerlegt oder mindestens als „unvollständig“ gelten können:
erstens die auf Karl Marx zurückgehende konflikttheoretische Vorstellung, daß sich die
Gesellschaften über Konflikte weiterbewegten und daß es schließlich zur Überwindung der
alles bewegenden Gegensätze der Klassen kommen werde, nein: müsse (vgl. Abschnitt 7.5.1
unten). Zweitens die funktionalistischen Hypothesen einer eher allmählichen Entwicklung der
Gesellschaften auf einem Pfad der immer stärkeren funktionalen Differenzierung – mit dem
„Ziel“ der vollständigen Durchuniversalisierung der Welt (siehe Abschnitt 7.5.2 unten), und
drittens schließlich die Idee der multilinearen Evolution, wonach der soziale Wandel zwar
gewisse Pfade einschlägt, daß es aber immer wieder zu Verzweigungen kommen kann, von
denen ab ein einmal eingeschlagener Entwicklungspfad eine gänzlich neue Richtung nimmt
(siehe Abschnitt 7.5.3 unten).
Sozialer Wandel 377

Der Grundgedanke ist bei allen diesen Varianten der gleiche (siehe auch Ab-
schnitt 7.4 schon zum Konzept der Evolution): Gesellschaften bilden zeitweise
einigermaßen stabile (Prozeß-)Gleichgewichte der funktionalen Reproduktion,
geraten dann aber, warum auch immer, in einen Prozeß der Wandlung ihrer inne-
ren Strukturen und sind in der damit sich verändernden Konstellation und in den
jeweiligen natürlichen wie sozialen Umgebungen unterschiedlich reproduktions-
fähig. Die drei Richtungen lassen sich vor diesem gemeinsamen Hintergrund ü-
ber drei verschiedene inhaltliche Dimensionen einigermaßen unterscheidbar sor-
tieren: die jeweils das Geschehen bewegende typische Kraft, die Zielgerichtetheit
des Prozesses und die Endogenität bzw. Exogenität des Wandels.

7.5.1 Der konflikttheoretische Ansatz

Der Hauptvertreter der konflikttheoretisch begründeten Evolutionstheorie des so-


zialen Wandels ist ohne Zweifel Karl Marx gewesen. Den Grundgedanken seiner
Gesellschaftstheorie haben wir bereits mehrfach angesprochen (vgl. etwa die Ab-
schnitte 4.3 und 12.3 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, sowie Abschnitt
4.2 in diesem Band). Er läßt sich mit drei Zitaten aus dem Kommunistischen
Manifest noch einmal prägnant zusammenfassen.23 Erstens also:
„Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“ (Ebd., S.
462)

Zweitens dann:
„Alle bisherigen Bewegungen waren Bewegungen von Minoritäten oder im Interesse von Minori-
täten. Die proletarische Bewegung ist die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im
Interesse der ungeheuren Mehrzahl.“ (Ebd., S. 472)

Und schließlich drittens:


„An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt
eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwick-
lung aller ist.“ (482)

Danach ist der Konflikt zwischen typischen gesellschaftlichen Gruppen das


Kennzeichen einer jeden gesellschaftlich-historischen Epoche, der innere Keim
ihres Untergangs und des geradezu zwangsläufigen Übergangs zur nächsten ge-
sellschaftlich-historischen Epoche: Auf die Sklaverei in den antiken Staaten folg-
te der Feudalismus des Mittelalters und darauf der Kapitalismus mit der Herr-

23
Karl Marx und Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: Marx-Engels-
Werke, Band 4, Berlin 1964, S. 459-493.
378 Die Konstruktion der Gesellschaft

schaft des Bürgertums und des Geldes, jeweils nach mehr oder weniger langen
Epochen der „Transformation“ und des Übergangs. Stets standen Unterdrücker
und Unterdrückte gegeneinander. Ihr Kampf führte schließlich zum gemeinsa-
men Untergang beider Gruppen, und herauf kam jeweils eine völlig neue Art von
Gesellschaft, in der der „alte“ Gegensatz zwar „aufgehoben“ war, an dessen Stel-
le aber sofort ein neuer trat. Und so weiter.
Unschwer ist bei dieser Skizze der hegelianische Hintergrund eines „dialekti-
schen“ Prozesses zu erkennen: These steht gegen Antithese, und beide werden in
einer neuen Synthese aufgehoben, die dann den Beginn für den nächsten Schritt
bildet. Die ganze „Geschichte“ hat dabei für Marx eine zwingende „dialektische“
Logik, bei der sich eine Epoche zwangsläufig aus der endogen angelegten Über-
windung der Klassengegensätze in der folgenden Epoche ergibt. Und buchstäb-
lich am Ende der Geschichte stehen dann der Kapitalismus mit dem historisch
letzten Antagonismus, dem von Arbeit und Kapital, die proletarische Revolution
und die Heraufkunft der Kommunistischen Gesellschaft, in der es erstmals keine
Klassengegensätze mehr gibt, weil die historisch letzte Klasse, die überhaupt
noch beherrscht werden konnte, die des Proletariats, in den sich entwickelnden
Industriegesellschaften, nunmehr die Herrschaft übernommen hat, die „Volks“-
Herrschaft eben. Daher gibt es jetzt erst- und letztmals den einen zentralen Grund
für alle gesellschaftliche „Bewegung“ nicht mehr – den Konflikt zwischen ir-
gendwelchen Gruppen eben. Die wichtigste Voraussetzung dafür ist nach Marx
die Abschaffung der Arbeitsteilung und des Privateigentums, die für die Ent-
fremdung und die Ausbeutung der Menschen und für die Konflikte in den Inte-
ressen ja erst sorgen (vgl. dazu auch noch den Exkurs über Entfremdung ganz am
Ende dieses Bandes). Und alles wird schließlich gut: In der kommunistischen
Gesellschaft werden „ ... die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst
das erste Lebensbedürfnis“ sein, die „Springquellen des genossenschaftlichen
Reichtums voller fließen“, alle trennenden Schranken zwischen den Menschen
fallen, und eine Welt der Solidarität im Überfluß kann endlich errichtet werden.
Und dann kann endlich
„ ... die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen
Bedürfnissen!“24

Kurz also: Es kommt das Paradies auf Erden. Es blieben dann nur noch zwei
Fragen: Wie kommen die Proletarier dahin? Und stimmt es wirklich, daß mit der
Abschaffung des Privateigentums und der Arbeitsteilung die Konflikte zwischen
den Menschen verschwinden und – last not least – auch wirklich und nachhaltig

24
Alle Zitate aus Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, in: Marx-Engels-Werke, Band
19, Berlin 1962, S. 21.
Sozialer Wandel 379

und bald im irdischen Leben die „Springquellen“ des gesellschaftlichen


Wohlstands fließen. Am Ende des Kommunistischen Manifestes steht zwar die
berühmte Aufforderung: „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“ (Marx 1974,
S. 493). Aber genau das haben die Proletarier keineswegs getan. Und der Probe-
lauf für die Kommunistische Gesellschaft, der sog. real existierende Sozialismus,
ist, bis auf einige Restbestände, im Jahre 1989 vor allem deshalb beendet wor-
den, weil die Springquellen des gesellschaftlichen Reichtums unter den instituti-
onellen Bedingungen des Fehlens von Privateigentum und marktwirtschaftlich
operierender Arbeitsteilung eben nicht geflossen ist.

Die Besonderheiten des konflikttheoretischen Ansatzes

Die von Marx entwickelte „Dialektik“ des sozialen Wandels aus der immerwäh-
renden Zuspitzung, Überwindung und Neubildung gesellschaftlicher Widersprü-
che und Konflikte ist ohne Zweifel eine Hypothese, die der Logik der Idee von –
endogen erzeugter! – Variation und struktureller Selektion folgt und daher ohne
weiteres als eine Variante der Evolutionstheorie interpretiert werden kann. Karl
Marx hat das auch selbst so gesehen: Jede neue Epoche ist gegenüber der vo-
rausgehenden ein „Fortschritt“, und am Ende steht ein Gebilde mit einer ganz
überlegenen Reproduktionskraft. Der zentrale Motor der „Entwicklung“ sind,
wie gesagt, die unvermeidlichen Konflikte, die sich aus der bislang stets nötigen
Herrschaft als Ordnungsmechanismus ergeben, und die Geschichte dieser Ent-
wicklung ist ein durch und durch endogen und damit auch „zwangsläufig“ ange-
legter Vorgang. Daher ist das Ende der Entwicklung für Marx auch nicht offen,
sondern wird schließlich mit nahezu naturgesetzlicher Notwendigkeit erreicht.
Gegen dieses Gesetz mögen sich die Menschen unter Umständen zwar sträuben,
aber letztlich gibt es kein Mittel und kein Entrinnen aus dem „objektiven“ Lauf
der Geschichte: „Den Sossialissmus in seijnem Lauouwff, halten nicht Ochs
noch Esel auouwff“ stammelte Erich Honecker nur wenige Stunden, bevor alles
zu Ende war – mit dem Sozialismus und mit ihm persönlich. Die sozialistische
Revolution ist dabei nicht das Entscheidende. Sie ist nur der beiläufige Abschluß
einer zwangsläufigen Entwicklung und
„ ... sie kommt nur, um den Schlußsatz unter eine vollständige Reihe von Prämissen zu
schreiben. ... . Sie ist ihrem Wesen nach Revolution in der Fülle der Zeit.“25

25
Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 7. Aufl., Tübingen
und Basel 1993 (zuerst: 1942), S. 100; Hervorhebungen nicht im Original.
380 Die Konstruktion der Gesellschaft

Kurz: Die Marxsche Theorie des sozialen Wandels ist teleologisch angelegt, und
nicht wenige haben, wohl nicht zu Unrecht, sie als eine Fortsetzung der christli-
chen Erlösungslehre mit den Mitteln der Soziologie angesehen – was der Sozio-
logie in ihrem öffentlichen Bild nicht gut getan hat.
In unseren drei Dimensionen wird die Marxsche Variante einer Soziologie des
sozialen Wandels also als konflikttheoretisch, endogen und teleologisch zu be-
zeichnen sein.
Konflikte sind dabei ohne Zweifel wichtige endogene Anlässe für die Entste-
hung sozialer Dynamiken, etwa solcher eines Rüstungswettlaufs. Und sie können
durchaus auch empirisch in der Form der dialektischen Triade auftreten und sich
„entwickeln“. Unhaltbar ist, neben den vielen inhaltlichen Problemen der Marx-
schen Theorie, jedoch vor allem ihr teleologischer Charakter und die Annahme
gewesen, daß die beschriebene Sequenz sozusagen naturnotwenig wäre. Entklei-
det man das Modell von Marx indessen von seinem teleologischen und ge-
schichtsdeterministischen Korsett, dann enthält seine Theorie einen außerordent-
lich wichtigen und richtigen Kern: Jede gesellschaftliche Ordnung beruht letzt-
lich, wenigstens: auch, auf repressiven Elementen der Herrschaft und zieht daher
in nahezu „logischer“ Weise gesellschaftliche Konflikte nach sich (vgl. dazu
schon Kapitel 12 über „Soziale Klassen“ in Band 1, „Situationslogik und Han-
deln“, sowie noch Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“
insgesamt). Diese, aus der Ordnung der Gesellschaft selbst entstehenden Kon-
flikte sind – unter anderem freilich – in der Tat auch wichtige Kräfte der Dyna-
mik der Gesellschaft und der fortwährenden Änderung der Verhältnisse, durch-
aus auch in gewissen Eigendynamiken einer auch längere Sequenzen umfassen-
den Situationslogik, wie das etwa bei den ethnischen Konflikten der Fall ist (vgl.
dazu noch das Beispiel in Kapitel 8 gleich unten in diesem Band). Aber das Ge-
schehen unterliegt eben keiner übergreifenden „makro“-soziologischen Gesetz-
mäßigkeit, sondern kann an vielen Verzweigungspunkten einen ganz anderen
Weg nehmen (siehe dazu gleich auch unten noch zur sog. multilinearen Evoluti-
on). Und ein „Ziel“ hat die Geschichte ohne Zweifel nicht, schon gar keines, auf
das sie auf einem jetzt schon fest stehenden Pfad der Entwicklung sozusagen a
priori einsehbar hinstrebte.

Korrekturen

Von Ralf Dahrendorf stammen die wichtigsten Korrekturen der Marxschen The-
orie und die Grundelemente einer dann durchaus akzeptablen Konflikttheorie des
Sozialer Wandel 381

sozialen Wandels.26 Sie mündet in eine Art von Theorie der Oszillation der Herr-
schaft, wie sie unter anderem zuvor von Gaetano Mosca und von Vilfredo Pareto
mit ihren Theorien von der Zirkulation der Eliten vertreten wurde, und insbeson-
dere in die These von der Unvermeidlichkeit und Universalität der Herrschaft
und deren kumulativer Eigendynamik, wie sie etwa Robert Michels mit seinem
Ehernen Gesetz der Oligarchie formuliert hatte. In jedem Fall aber enthält sie die
wohl richtige Annahme, daß es gesellschaftliche Ordnung ohne Herrschaft nicht
geben kann, und daß daher jede einmal etablierte Ordnung durchaus schon den
Keim ihrer Überwindung in sich trägt, mindestens aber, daß es mit der Tatsache
der Herrschaft gesellschaftliche Gruppen geben muß, die sich in ihren Interessen
widersprechen.
In einer gewissen Weise hat Karl Marx dann aber wieder sogar Recht gehabt:
In den modernen Gesellschaften gibt es keine scharfen und eindeutigen Klassen-
gegensätze mehr, wenngleich ohne weiteres weiterhin Konflikte. Die Akteure
befinden sich vielmehr in einer vielfachen Überkreuzung ihrer gesellschaftlichen
Lagen, und die damit verbundenen Interessen- oder Kontrollkonflikte heben sich,
sozusagen, in der Regel gegenseitig auf. Deshalb klingt heute auch das Konzept
von Dahrendorf schon etwas sehr veraltet und wie von gestern. Ohne Zweifel
gibt es weiter „Herrschaft“ und Konflikte und die sorgen auch für viel „Bewe-
gung“. Aber die (politische) Herrschaft wird nicht mehr zwischen bestimmten,
deutlich abgrenzbaren Teilgruppen der Bevölkerung ausgefochten, sondern ist
mehr und mehr zu einem eigenen Teil-System der Gesellschaft geworden, und es
ist ziemlich egal, wer sie gerade ausübt. Schröder machte 1999 die Politik, die
eigentlich die CDU hätte machen sollen, und Norbert Blüm tat ganz scheinheilig
so, als hätte er statt Lafontaine und Riester Finanz- bzw. Arbeitsminister sein
müssen. Und das ist kein Zufall: Es gibt in den modernen Gesellschaften keine
konsistenten Konfliktlinien und daher auch keine eindeutigen Bewegungen mehr
in eine bestimmte Richtung, sondern nur noch eine Art von
mehrfach gekreuzter Dauermobilisierung der Gesellschaft, die gerade dadurch
„besteht“ und sich reproduziert, daß alles in Bewegung ist, und für die der be-
ständige soziale Wandel fast das Einzige ist, was Bestand hat.

26
Vgl. insbesondere Ralf Dahrendorf, Pfade aus Utopia. Arbeiten zur Theorie und Methode
der Soziologie, Gesammelte Abhandlungen I, 3. Aufl., München 1974, insbesondere Ka-
pitel 10: Pfade aus Utopia. Zu einer Neuorientierung der soziologischen Analyse, S. 242-
263, Kapitel 12: Karl Marx und die Theorie des sozialen Wandels, S. 277-293, und Kapi-
tel 14: Amba, Amerikaner und Kommunisten. Zur These der Universalität der Herrschaft,
S. 315-336.
382 Die Konstruktion der Gesellschaft

7.5.2 Der funktionalistische Ansatz

Der funktionalistische Ansatz der Soziologie des sozialen Wandels ist, wie der
gesamte Funktionalismus in der Soziologie, mit Emile Durkheim und daran an-
schließend natürlich mit Talcott Parsons verbunden (vgl. dazu auch schon die
Kapitel 22 bis 24 in der „Soziologie. Allgemeinen Grundlagen“). Die grundle-
gende Idee besteht in der Annahme, daß sich der soziale Wandel als fortschrei-
tende funktionale Differenzierung der Gesellschaften vollzieht und daß sich da-
bei die Mechanismen der funktional-gleichgewichtigen Reproduktion und der
dadurch gewährleisteten Integration und Ordnung simultan und in einem Prozeß
der Ko-Evolution mitentwickeln würden. Der Ausgangspunkt jedes einzelnen
Schrittes ist dabei ein bestimmtes funktionales Gleichgewicht, das jedoch unter
Umständen – aufgrund endogener Vorgänge wie exogener Anstöße – an seine
Leistungsgrenzen stößt. Unter bestimmten Bedingungen, die Parsons als evoluti-
onäre Universalien bezeichnet hat (siehe dazu gleich unten mehr), löst die „Ge-
sellschaft“ das so entstandene Problem, und zwar durch einen weiteren Schub
der funktionalen Differenzierung und einen Ausbau der für die funktionale Re-
produktion nun nötigen Integration des komplexer und widersprüchlicher gewor-
denen sozialen Gebildes.

Durkheim

Die Erklärung der Arbeitsteilung bei Emile Durkheim und des Übergangs von
einfach strukturierten zu komplexeren Gesellschaften ist das „Paradigma“ für
den Gedanken des funktionalistischen Ansatzes der Soziologie des sozialen
Wandels.27
Ein Hintergrund war die Bewunderung der genialen Erklärung der Entwicklung der Arten durch
Charles Darwin und der Versuch, diese Art der Erklärung auf die „organische“ Entwicklung von
Gesellschaften zu übertragen. Beispielsweise hatte der britische Soziologe Herbert Spencer
(1820-1903) im Anschluß an die Überlegungen von Adam Smith über die wohlstandsfördernden
Wirkungen der egoistischen Interessen und der Arbeitsteilung in seinen „Principien der Soziolo-
gie“ eine damals einflußreiche Theorie der gesellschaftlichen Evolution entwickelt, in der er da-
von ausging, daß sich aus den vorwiegend „militärisch“ organisierten Gesellschaften durch die
gleichzeitige Steigerung von Differenzierung und Integration schließlich die „industriellen“ Ge-
sellschaften durchsetzen würden.28

27
Emile Durkheim, Über die Teilung der sozialen Arbeit, Frankfurt/M. 1977.
28
Herbert Spencer, Die Principien der Soziologie, III. Band, Stuttgart 1889.
Sozialer Wandel 383

Emile Durkheim nahm Herbert Spencer zum kritischen Ausgangspunkt seiner


Überlegungen. Er folgte Spencer in einer fundamentalen Annahme nicht: daß al-
lein schon die Einsicht in die Vorteile der Arbeitsteilung die Menschen dazu
bringe, sie auch wirklich einzuführen (vgl. dazu auch noch Band 3, „Soziales
Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Der Ausgangspunkt der Überlegungen von Durkheim sind die segmentär differenzierten Stam-
mesgesellschaften ohne besondere gesellschaftliche Arbeitsteilung und mit einer sehr geringen
Bevölkerungszahl. Der integrative Mechanismus ist dabei, so Durkheim, die sog. mechanische
Solidarität, ein einheitliches Kollektivbewußtsein bei allen individuellen Mitgliedern der (Stam-
mes-)Gesellschaft (vgl. Durkheim 1977, 2. Kapitel: Mechanische Solidarität oder Solidarität der
Ähnlichkeiten). Nun geschieht etwas, was dieses System aus dem Gleichgewicht bringt: Die Be-
völkerung wächst, ausgelöst etwa durch exogene Faktoren, wie bessere medizinische oder hygie-
nische Kenntnisse, oder durch eine technische Erfindung, die die Ernährungslage bessert, und da-
von ausgehend auch endogen getragen von Prozessen der Bevölkerungsdynamik (vgl. auch dazu
schon Teil E, „Die Bevölkerung der Gesellschaft“, der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“).
Dies führt, wieder in der Sprache von Durkheim, nicht nur zu einer Vergrößerung des „Volu-
mens“ der Bevölkerung einer Gesellschaft, sondern auch zu einer höheren „Dichte“: Es entstehen
Konkurrenzen, wo es vorher keine gab, und die gesellschaftliche Integration ist in Gefahr, weil
die mechanische Solidarität für diesen Fall der Konkurrenz nicht ausreicht. Und dann die (funkti-
onalistische) Lösung des Problems: die Entschärfung der Konkurrenz durch die Übernahme spe-
zieller Tätigkeiten in gewissen Nischen, deren Produkte dann getauscht werden. Das ist die Ar-
beitsteilung. Darüber entsteht dann – wieder simultan und ko-evolutiv – eine neue Form der In-
tegration, die sich gerade aus der Unterschiedlichkeit der Akteure durch ihre Spezialisierung er-
gibt: die organische Solidarität. Das ist das – mehr oder weniger reflektierte – Bewußtsein der
Menschen einer gegenseitigen Abhängigkeit in diesem neuen System der arbeitsteiligen „funktio-
nalen“ Differenzierung (vgl. Durkheim 1977, 3. Kapitel: Die Solidarität, die von der Arbeitstei-
lung abhängt, oder die organische Solidarität; vgl. dazu auch schon Abschnitt 2.1 dieses Bandes
ausführlich).

Die Gesellschaft ändert also ihre „materielle“ und institutionelle Struktur und
gleichzeitig aber auch den kulturellen Rahmen, unter dem die Integration ge-
schieht: Die organische Solidarität ersetzt die mechanische Solidarität. Ein wich-
tiger Grundsatz der funktionalistischen Ansätze nicht nur des sozialen Wandels
wird hier auch sehr deutlich (vgl. dazu auch noch Band 3, „Soziales Handeln“,
dieser „Speziellen Grundlagen“): Alle Gesellschaften, wie differenziert und
„komplex“ auch immer sie sein mögen, können als integrierte soziale Gebilde
nur bestehen, wenn die Mitglieder sich an irgendeinem Rahmen der Solidarität,
der Zustimmung, der Loyalität, der normativen Orientierung, der Werte, der I-
dentifikation orientieren (vgl. dazu auch schon Kapitel 6 über das Problem der
„Integration“ in diesem Band). Dieser Rahmen ändert sich zwar im Inhalt, etwa
von der mechanischen zur organischen Solidarität, aber es bleibt, auch in den al-
lermodernsten Gesellschaften, immer bei einem solchen Rahmen wenigstens von
Resten eines „Kollektiv“-Bewußtseins und des Gefühls der Zusammengehörig-
keit. Glaubte Durkheim.
384 Die Konstruktion der Gesellschaft

Der Übergang von der segmentär zur funktional differenzierten Gesellschaft


vollzieht sich demnach über zwei grundlegende und miteinander verwobene Pro-
zesse (vgl. dazu auch noch Abschnitt 9.2 über die „Entwicklung der menschli-
chen Gesellschaft“ unten in diesem Band): die Umstellung von der funktionalen
Diffusität auf die arbeitsteilige funktionale Spezialisierung und Differenzierung
und der Übergang des Integrationsmodus von der mechanischen auf die organi-
sche Solidarität. Es gibt dabei eine erkennbare Richtung: eine Zunahme der
„Komplexität“ des sozialen Systems „Gesellschaft“ über die Entstehung eigen-
ständiger funktionaler Sphären einerseits sowie die Abstraktion und Generalisie-
rung der Wertinhalte der „Solidarität“, über die sich das komplexer gewordene
soziale Gebilde dann wieder integriert.

Parsons

Der Beitrag von Talcott Parsons kann dann als eine Erweiterung und Systemati-
sierung dieser Grundideen von Durkheim verstanden werden. Parsons kommt auf
das Problem des sozialen Wandels erst relativ spät in seinen Arbeiten zu spre-
chen, dann aber sehr deutlich und mit dezidierten Hypothesen.29 Die Erweiterung
bezieht sich auf die konsequente Anwendung des AGIL-Schemas auf die Be-
trachtung der „Entwicklung“ der Gesellschaften (vgl. zum AGIL-Schema und
zum gesamten „System“ der Theorie von Parsons schon Kapitel 23 der „Sozio-
logie. Allgemeine Grundlagen“, sowie noch Band 6, „Sinn und Kultur“ dieser
„Speziellen Grundlagen“). Die arbeitsteilige Spezialisierung betrifft ja eigentlich
nur ein Teil-System der Gesellschaft, das A-System der Adaption bzw. der Or-
ganisation der Wirtschaft nämlich. Die Umstellung in der Solidarität von der me-
chanischen auf die organische verweist schon auf ein zweites Teil-System, das
L-System der Mustererhaltung und der alle Normen, sozialen Beziehungen und
Handlungen steuernden kulturellen Werte. Folgerichtig „müssen“ sich mit dem
Prozeß der „evolutionären“ sozialen Differenzierung auch die anderen Teil-
Systeme ändern: Das G-System der Zielerreichung bzw. das der Politik muß
immer stärker auch spezifische politische Ziele angehen können und im Gesamt-
zusammenhang des ganzen Systems durchzusetzen versuchen. Und beim I-
System der Integration bzw. der gesellschaftlichen Gemeinschaft kommt es auf
die immer weiter gezogene „Inklusion“ von zuvor „exkludierten“ Gruppen und

29
Vgl. dazu insbesondere Talcott Parsons, Gesellschaften. Evolutionäre und komparative
Perspektiven, Frankfurt/M. 1975 (zuerst: 1966); Talcott Parsons, Das System moderner
Gesellschaften, München 1972. Vgl. für eine Zusammenfassung der Theorie des sozialen
Wandels von Parsons: Uwe Schimank, Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, Opla-
den 1996, Abschnitt 3.4.
Sozialer Wandel 385

Personen an. Die „soziale Differenzierung“ der Gesellschaft ist demnach nicht
nur ein Prozeß der arbeitsteiligen Spezialisierung und der damit verbesserten
„Anpassung“, sondern einer der Ko-Evolution mit allen drei weiteren Teil-
Systemen: Steigerung der Fähigkeit zum „goal attainment“ in der Politik, Steige-
rung der Inklusionsfähigkeit in die „gesellschaftliche Gemeinschaft“ und fort-
schreitende Abstrahierung und Generalisierung der kulturellen Leitideen bei der
„latent pattern maintenance“.
Das klingt etwas abstrakt, und ist es durchaus auch. Vor allem Neil J. Smelser hat jedoch in in-
haltlich interessanten Studien zum Prozeß der Industrialisierung im 19. Jahrhundert gezeigt, wie
man sich in dem funktionalistischen Paradigma diese Ko-Evolution der Separierung gewisser
funktionaler Sphären gedacht hat. Eines seiner Beispiele ist die Analyse des Wandels der Famili-
enstrukturen im Zuge der industriellen Revolution mit ihren vielen Einzelheiten, wie etwa die
gleichzeitige Entwicklung der allgemeinen Schulpflicht und des Verbotes der Kinderarbeit.30 Im
Zuge der Industrialisierung und der dadurch erzwungenen Trennung von Haushalt und Arbeits-
platz wird die traditionelle landwirtschaftliche Haushaltsökonomie beseitigt, bei der die Kinder als
Arbeitskräfte eingesetzt wurden. Hierdurch entsteht ein Freiraum für eine arbeitsunabhängige fa-
miliale Sozialisation und für die Einrichtung einer von der Familie wiederum unabhängigen schu-
lischen Sozialisation, die es dann wiederum erlaubt, die von der industriellen Produktion her be-
nötigten speziellen Qualifikationen zu vermitteln, die sich in der Familie selbst kaum beibringen
lassen.

Der Kern des Prozesses der funktionalen Ausdifferenzierung ist also die Tren-
nung der Funktionen, stets, auch etwa von Smelser und den anderen Parsons-
Schülern, entlang den Vorgaben des AGIL-Schemas und als „Reaktionen“ eines
kompletten „sozialen Systems“ und seiner Unter-Systeme gedacht. Für Parsons
kam dann noch eine Besonderheit hinzu, die ganz dem ihm eigenen theoretischen
System entsprungen ist: Der „Fortschritt“ der Gesellschaften bestehe auch darin,
daß sie sich in ihren Strukturen immer mehr der Logik des AGIL-Schema annä-
hern und daß sie die vier funktionalen Erfordernisse immer deutlicher als eigene
Teil-Systeme ausdifferenzieren. Und je näher eine Gesellschaft dem Schema
kommt, um so größer wäre seine evolutionäre Überlegenheit. Die nach diesem
Schema konsequent durchdifferenzierte „moderne“ Gesellschaft wäre im Grunde
nicht mehr gefährdet. Sie wäre ultra-stabil, und das gerade wegen ihrer Komple-
xität.

30
Vgl. Neil J. Smelser, Social Change in the Industrial Revolution. An Application of Theo-
ry to the Lancashire Cotton Industry 1770-1840, London und Beccles 1959, S. 237ff.,
286ff. Siehe auch Neil J. Smelser, Essays in Sociological Explanation, Englewood Cliffs,
N.J., 1968, Kapitel 4: Sociological History: The Industrial Revolution and the British-
Working Class Family, S. 76-91.
386 Die Konstruktion der Gesellschaft

Konkrete Analysen

Es sollte nicht unerwähnt bleiben, daß das AGIL-Schema in den „funktiona-


listischen“ empirischen Studien zum sozialen Wandel immer nur als eine Art
begrifflicher Folie für die Sortierung der historischen Beschreibungen ver-
wendet wurde. Das Hauptinstrument ihrer „Theorie“ waren Vierfeldertafeln,
die nach der „Logik“ des AGIL-Schemas mit konkreten Sachverhalten, Um-
ständen oder Vorgängen gefüllt wurden, meist so, wie das Neil J. Smelser in
seiner Auffüllung der zunächst leeren „theoretical boxes“ bei seiner Analyse
der zunehmenden strukturellen Differenzierung der britischen Baumwollin-
dustrie getan hat. Er schreibt zu Beginn der inhaltlichen Ausfüllung der Par-
sons-Kategorien:
„This chapter parallels the preceding in outline. Instead of dealing with abstract units, relati-
onships, and functions, however, we shall clothe the anonymous Social System S in empirical
dress by applying it to an Industry C – specifically the cotton-textile industry. The empty ana-
lytical propositions ... will thereby become empirical propositons concerning the industry,
which will serve in turn as framework for analysing its historical development.“ (Smelser
1959, S. 21)

Ein Beispiel? Bitte: Das Erfordernis der A-Funktion ist in der Baumwollin-
dustrie die Bereitstellung von Kapital und innerhalb dieses Systems wird die
I-Funktion von den „structural arrangements of capital“ wahrgenommen
(ebd., S. 18 und 43). Und das in vier-mal-vier-gleich-sechszehn Feldern.
Smelser sagt selbst, worum es sich bei dieser Art der funktionalen Analyse
handelt: um ein begriffliches „framework“ der verschiedenen Bereiche und
Vorgänge, die jetzt empirisch und „historisch“ durchgegangen werden. Viele,
durchaus nicht gehaltlose, soziologische Studien nicht nur des sozialen Wan-
dels, sind nach dieser Art entstanden, und auch heute gibt es noch manche So-
ziologen, wie Richard Münch aus Bamberg, früher Düsseldorf, die die Welt
nur durch die Brille von Vierfeldertafeln sehen können – und sich wundern,
daß das im Jahre 1999 für eine zufriedenstellende soziologische Erklärung
nicht ausreicht.
Warum das so ist, hat seinerzeit George C. Homans in einer beißenden Kri-
tik am Funktionalismus klar gemacht, bei der er sich Smelser als einen von
vielen besonders vorgeknöpft hat.31 Der Hauptpunkt bei Homans ist, daß die
Funktionalisten immer dann, wenn sie wirklich etwas „erklären“ wollen, ihre
kollektivistisch-systemtheoretische Rhetorik sofort aufgeben und, wie das
auch jede richtige soziologische Erklärung tut, auf die situationsbezogenen

31
George C. Homans, Wider den Soziologismus, in: George C. Homans, Grundfragen so-
ziologischer Theorie, Opladen 1972, S. 53ff.
Sozialer Wandel 387

Motive und Handlungen von Akteuren und die davon erzeugten kollektiven
Folgen sieht. Beispielsweise „erklärt“ Smelser den sozialen Wandel der vo-
ranschreitenden strukturellen Differenzierung der Baumwollindustrie als eine
Sequenz von sieben Schritten, deren erste so lautet:
„(1) Dissatisfaction with the productive achievements of the industry or its relevant sub-
sectors and a sense of opportunity in terms of the potential availability of adequate facilities
to reach a higher level of productivity.“ (Smelser 1959, S. 29; siehe auch Smelser 1968, S.
79f.)

Was ist denn das? Sehr richtig: Es gibt Unzufriedenheiten und die Wahrneh-
mung von Opportunitäten für eine bessere Nutzenproduktion über einen höhe-
ren „level of productivity“ der jeweiligen Fabrik. Und wo gibt es diese Unzu-
friedenheiten und den „sense of opportunity“. Dreimal dürfen sie raten! Der
zweite Schritt sind die mit den Änderungen ausgelösten „symptoms of distur-
bance“ bei der betroffenen Belegschaft und Bevölkerung – als unintendierter
Effekt der Umstellungen in der Produktion. Und die wiederum lösen Bemü-
hungen aus, die entstandenen Spannungen zu lösen – bis es schließlich im
siebten Schritt zur Akzeptanz der Änderungen „as part of the standard of li-
ving and their incorporation into the routine functions of production“ kommt
(ebd.).
Also doch: Akteure sind unzufrieden, tun etwas dagegen, schaffen (unin-
tendierte und intendierte) Folgen, die die Situation für andere Akteure und für
sie selbst wieder verändern, die daraufhin etwas tun, was wieder Folgen hat ...
und so weiter. Der einzige „funktionalistische“ Zug dieser Sequenz ist der ste-
te Blick auf eine Erfolgsstory: Zum Schluß hat sich das System geändert und
zu einem neuen Gleichgewicht gefunden, und alle Schritte waren – irgendwie
– darauf ausgerichtet. In Köln sagt man „et hätt noch emmer jot jejange“. Es
ist der Leitspruch des Funktionalismus (gewesen), der davon ausging, daß die
sozialen Systeme, gibt es sie einmal, von selbst zu einem reproduktiven
Gleichgewicht neigen. Wir wissen, daß das ohne Zweifel vorkommt. Wir wis-
sen aber auch, daß es keine a-priori-Tendenz dazu gibt. Und so hat der Funk-
tionalismus oft einfach übersehen, daß es Sequenzen auch in das definitive
Ende eines sozialen Systems geben kann und keineswegs alles immer wieder
einen „Anschluß“ findet.
Manche waren über diese Blindheit für die vielen Kontingenzen gerade
auch der funktionalen Reproduktion von sozialen Systemen, vor allem aber
über die Chuzpe, mit der die Funktionalisten einerseits so taten als hätten sie
mit ihrer System-„Theorie“ die soziologische Methode gefunden und anderer-
seits aber unverhohlen „individualistisch“ argumentierten, wenn es ernst wur-
de, sehr empört. Und das, wie wir gesehen haben, nicht zu Unrecht. Zum
Schluß seines Aufsatzes „Wider den Soziologismus“ läßt Homans dann auch
388 Die Konstruktion der Gesellschaft

seinem Ärger darüber freien Lauf: Die Funktionalisten verstecken, wie auch
alle anderen Makrosoziologen und Systemtheoretiker, so sollte man noch hin-
zufügen, ihre handlungstheoretischen Erklärungen unter dem Tisch und zie-
hen den Methodologischen Individualismus „verstohlen wie eine Flasche
Whisky hervor, um sie zu benutzen, wenn sie Hilfe brauchen“. (Homans
1972, S. 57). Und die brauchen sie so gut wie immer. Nicht nur Smelser.

Evolutionäre Universalien und der Prozeß der Modernisierung

Wie kommt es zu der empirisch kaum zu bestreitenden Eigendynamik der funk-


tionalen Durchdifferenzierung? Und warum ist dieser Prozeß empirisch offenbar
in der Tat so stark, daß man fast von einem Ehernen Gesetz sprechen könnte, aus
dem es kein Entrinnen gibt? Diese Frage hatte sich Max Weber schon gestellt. In
der Vorbemerkung zu den „Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie“
lautet sie so:
„ ... : welche Verkettung von Umständen hat dazu geführt, daß gerade auf dem Boden des Okzi-
dents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch – wie wenigstens wir uns gern
vorstellen – in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen?“32

Talcott Parsons war mit Max Weber der Ansicht, daß der Prozeß der evolutionä-
ren Ausdifferenzierung von Gesellschaften ganz bestimmten und einzigartigen
historischen Quellen und Konstellationen entsprungen ist und von dort aus – in
einer Art unaufhaltsamer Eigendynamik – nach und nach die ganze Welt erfaßt
(hat). Diese historische Quelle ist der „okzidentale Rationalismus“, die Welt des
Westens also.33 Dafür gab es seiner Meinung nach einige davor liegende gesell-
schaftliche Ursprünge: das antike Israel und das antike Griechenland. Er nannte
sie die „Saatbeet“-Gesellschaften (Parsons 1975, Kapitel VI). In ihnen seien die
wichtigsten Voraussetzungen institutionalisiert gewesen, von denen letztlich jede
evolutionäre Differenzierung ausgehe. Diese Voraussetzungen nannte Parsons
evolutionäre Universalien.34

32
Max Weber, Vorbemerkung, in: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziolo-
gie, Band 1, 7. Auflage, Tübingen 1978b, S. 1; Hervorhebung so nicht im Original.
33
Vgl. dazu auch die Übereinstimmungen in so verschiedenen Beiträgen zu dieser These
wie bei Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Band 1: Handlungsra-
tionalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt/M. 1981a, Abschnitt II: Max
Webers Theorie der Rationalisierung; oder bei Erich Weede, Der Sonderweg des Wes-
tens, in: Zeitschrift für Soziologie, 17, 1988, S. 172-186.
34
Talcott Parsons, Evolutionary Universals in Society, in: American Sociological Review,
29, 1964, S. 339-357; eine deutsche Übersetzung findet sich in Zapf 1971, S. 55-74.
Sozialer Wandel 389

Für den Übergang von den einfachen Stammesgesellschaften zur ersten Zwischenstufe, den später
von Niklas Luhmann so genannten stratifikatorisch differenzierten Staats- und Feudalgesellschaf-
ten (vgl. auch dazu noch Abschnitt 9.2 unten in diesem Band ausführlich), sind zwei solcher evo-
lutionärer Universalien nötig: die soziale Schichtung und die explizite kulturelle Legitimation der
gesellschaftlichen Verhältnisse. Für die Entstehung der vormodernen großen Staats- und Feudal-
gesellschaften waren dann weiter die bürokratische Herrschaft und die Einführung von Märkten
mit dem Tauschmedium Geld erforderlich. Beim Übergang von den strikt hierarchisch geglieder-
ten stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften auf die funktional differenzierten „modernen“
Gesellschaften treten dann zwei weitere evolutionäre Universalien dazu: das universalistische
Recht, das, im Anschluß an das Römische Recht, die staatliche und die kulturelle Sphäre von der
eigentlich „rechtlichen“ der Mustererhaltung trennt; und die demokratische Assoziation, bei der
die politische Herrschaft an die Zustimmung der Bevölkerung gebunden wird.

Die moderne Gesellschaft ist danach von einer doppelten Bewegung erfaßt: die
Steigerung der weiteren Ausdifferenzierung und die damit einsetzende Erhöhung
der Reproduktionsfähigkeit gegenüber allen anderen Gesellschaftstypen einer-
seits; und die wechselseitige Begrenzung der verschiedenen Vorgänge der Diffe-
renzierung derart, daß sich das System in seiner Dynamik sozusagen selbst im-
mer wieder einfängt und sich selbst durch die gegenseitigen Beschränkungen
immer wieder integriert. Niklas Luhmann hat diese Besonderheit später mit dem
eigentlich etwas hilflosen, weil weiter nichts sagenden, Begriff der „Autopoiesis“
belegt. Die Voraussetzung für alles ist die Auflösung auch der letzten Reste an
„Askription“ und an „Fundamentalismus“ und an einer Vorstellung, daß die Ge-
sellschaft irgendwie von einem Zentrum, gemeinsam geteilten, inhaltlich spezifi-
schen Werten oder bestimmten Grundstrukturen abhängig wäre, etwa einer guten
Regierung, einer florierenden Wirtschaft, der Orientierung an einer politischen
Utopie oder auch daran, daß die Juden, die Kapitalisten oder Gerhard Schröder
an allem schuld wären.
Insofern müßte man alle Gegenbewegungen zu dem geschilderten universalen Prozeß der evolu-
tionären Ausdifferenzierung als mittelfristig nicht überlebensfähige Atavismen ansehen. In der
Tat hat Parsons schon relativ früh vermutet, daß es die (stalinistische) Sowjetunion nicht mehr
lange machen würde, und auch, daß der Nationalsozialismus eine Gesellschaftsform mit nur ge-
ringer evolutionärer Reproduktionskraft wäre (vgl. Parsons 1972, S. 158ff., 165ff.). In ähnlicher
Weise müßte man von der Position des funktionalistischen Ansatzes des sozialen Wandels die
derzeitigen fundamentalistischen Bewegungen und ethno-religiösen Konflikte in der Welt beurtei-
len: Es sind Gegenreaktionen gegen den weiter um sich greifenden universalen Prozeß der funkti-
onalen Differenzierung, halten aber auf die Dauer der überlegenen differentiellen funktionalen
Reproduktion der „Modernisierung“ nicht stand.

Das allgemeinste Kennzeichen der funktionalen Ausdifferenzierung als evolutio-


närer Prozeß ist, daß es keine spezifischen Leistungen, Ideen oder Strukturen
mehr sind, auf die sich die Gesellschaft oder die Menschen stützen könnten.
Die Teile werden einerseits immer spezifischer und individueller, der Zusam-
menhalt dagegen andererseits immer stärker auf universalistische, generalisie-
390 Die Konstruktion der Gesellschaft

rende und abstrakte, zunehmend „eigendynamische“ Mechanismen und Prozesse


umgestellt. Und diesen Prozeß kann, so die Leitidee, niemand mehr aufhalten.

Luhmann

Niklas Luhmann hat später daraus ganz konsequent die Konsequenz gezogen
und gemeint, daß sich die moderne Gesellschaft sozusagen von ganz alleine wei-
terentwickelt, keinerlei besonderer Unterstützung durch die Menschen mehr be-
dürfe und daß es auch kein Teil-System mehr gebe, das irgendwie noch eine
Leitfunktion innehaben könnte, wie das Parsons noch für das sog. kulturelle Sys-
tem vorgesehen hatte. Das alles war bei dem (späten) Parsons allerdings schon
deutlich angelegt, und Luhmann hat Parsons sozusagen nur weitergeschrieben,
wo dieser nicht mehr weiter wollte. Und er hat dabei auch noch den letzten Rest
von „Durkheim“ aus „Parsons“ ausgeschieden: die Vorstellung nämlich, daß es
zur Integration auch in den komplexen Gesellschaften noch der „Solidarität“ be-
dürfe. Die funktionieren, so Luhmann, ohne jede kulturellen Werte und ohne je-
de kollektive Orientierung. Die modernen Gesellschaften haben endgültig keine
„gesellschaftliche Gemeinschaft“ mehr nötig, sondern sind, etwas anders ausge-
drückt, zu Märkten geworden und nur noch „Gesellschaft“ im Sinne von Ferdi-
nand Tönnies (vgl. dazu auch noch Abschnitt 9.3 in diesem Band).

Modernisierung

Der funktionalistische Ansatz der Soziologie des sozialen Wandels hat, wie wir
auch am Beispiel der Analyse von Smelser gesehen haben, stets einen – mehr
oder weniger offenen – teleologischen Zungenschlag gehabt, obwohl wohl nie-
mand seiner Vertreter an ein wirklich apriorisches Ziel oder an irgendeine „Vor-
sehung“ dachte. Aber man hielt (und hält weiterhin hier und da) offenbar die
selbsttragenden Eigendynamiken des Vorgangs für so stark, daß die Hypothese
von einer gewissen Unvermeidlichkeit und Unumkehrbarkeit nicht allzu waghal-
sig erschien. Als der wohl vorläufig letzte Vertreter der These von der Unver-
meidlichkeit und Unumkehrbarkeit der funktionalen Differenzierung der ganzen
Welt kann auch wiederum Niklas Luhmann gelten. Er hat sie in seinem theoreti-
schen Testament, „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ von 1997, noch einmal be-
kräftigt, wenngleich mit gewissen Vorbehalten der möglichen Heraufkunft einer
neuen „Leitdifferenz“, der von „Inklusion und Exklusion“ nämlich (vgl. dazu
auch schon Kapitel 5 in diesem Band).
Sozialer Wandel 391

Die These von der Unvermeidlichkeit der weiteren funktionalen Differenzierung, der Durchratio-
nalisierung und der unumkehrbaren Entzauberung der Welt ist vor allem in den 60er Jahren und
im Kontext der Hochblüte des soziologischen Funktionalismus einmal sehr populär gewesen. Sie
hat ihren deutlichsten Niederschlag in einer speziellen Variante der funktionalistischen Theorie
des sozialen Wandels gefunden – in den sog. Modernisierungstheorien (vgl. dazu u.a. die Beiträge
von Gabriel A. Almond, Joan Robinson, Walt W. Rostow, Shmuel N. Eisenstadt, Karl W.
Deutsch, Daniel Lerner oder Reinhard Bendix in dem Sammelband von Wolfgang Zapf 1971).
Die Modernisierung wird in diesen Ansätzen als die Ko-Evolution von mindestens zwei Prozes-
sen verstanden: der Industrialisierung der ökonomischen Produktion und der Differenzierung der
sozialen Struktur der Gesellschaften, einschließlich der kulturellen und der normativen, neben der
ohnehin zentralen funktionalen, Differenzierung also. Das Vorbild war der „take off“ der europäi-
schen Staaten im 19. Jahrhundert, der jetzt auf die „Entwicklung“ der dann auch so genannten
Entwicklungsländer übertragen wurde. Ganze Listen von als notwendig, teilweise sogar als hin-
reichend gedachten Bedingungen wurden dafür zusammengestellt: die Bereitstellung einer gewis-
sen materiellen Infrastruktur, wie Eisenbahn- und Straßennetze und das nötige Humankapital bei
der Bevölkerung, die Demokratisierung der Politik als wichtigste institutionale Voraussetzung
und die Diffusion gewisser kultureller Wertvorstellungen, wie etwa die protestantische Ethik oder
ein funktionales Äquivalent dazu. Typischerweise werden dabei dann drei (bzw. vier) Phasen un-
terschieden: die vorindustrielle, die frühindustrielle, die spätindustrielle und die postindustrielle
(oder postmoderne) Phase einer „reflexiven Modernisierung“, wie es auch manchmal heißt. Die
verschiedenen Phasen lassen sich durch das Übergewicht bestimmter Sektoren der Beschäftigung
kennzeichnen: die frühindustrielle Phase durch das Übergewicht des primären Sektors der land-
wirtschaftlichen Produktion, die frühindustrielle über das Aufkommen des sekundären Sektors
der industriellen Produktion, die spätindustrielle Phase über den Übergang zum tertiären Sektor
der Dienstleistungen und schließlich die postindustrielle Phase durch das Vordringen des quart-
ären Sektors der Verarbeitung und Verbreitung von Wissen und Informationen.

Inzwischen hat sich zwar gezeigt, daß die „Entwicklung“ hin zur Modernisierung
ein sehr viel verschlungenerer Weg ist, als damals in den 60er Jahren mancher
geglaubt hat. Und viele Schwellenländer sind wieder auf einen Stand abge-
rutscht, der ihre weitere Entwicklung kaum denkbar erscheinen läßt. Aber empi-
risch findet ein solcher Prozeß ohne Zweifel statt, und es gibt viele theoretische
Gründe, warum das auch kaum anders zu erwarten ist. Nahezu überall haben sich
beispielsweise die Gewichte in den Sektoren der Beschäftigung in der Tat in der
beschriebenen Sequenz verlagert – und sie tun das auch weiter. Und manches,
was wie ein „Rückschritt“ bei der Modernisierung aussieht, wie die nationalisti-
schen, ethnischen und religiösen Partikularbewegungen in der Folge der Trans-
formation nach 1989, ist vielleicht nur ein kleiner Schlenker auf dem breiten Pfad
der Globalisierung, auf dem die ganze Welt sich inzwischen offenbar befindet.35

35
Vgl. dazu Hartmut Esser, Ethnische Differenzierung und moderne Gesellschaft, in: Zeit-
schrift für Soziologie, 17, 1988, S. 246f.
392 Die Konstruktion der Gesellschaft

Die Besonderheiten des funktionalistischen Ansatzes

Der funktionalistische Ansatz der Soziologie des sozialen Wandels läßt sich über
die drei o.a. Dimensionen dann so beschreiben: Er geht nicht von den Konflikten
als bewegendem Mechanismus aus, sondern von der differentiellen funktionalen
Reproduktion von Gesellschaften in evolutionärer „Konkurrenz“ zu den jeweils
anderen. Im Grunde ist der Weg weitgehend auch schon – von den Anfängen in
den Saatbeet-Gesellschaften ausgehend – endogen angelegt. Die Überwindung
der verschiedenen Schwellen des Übergangs von der segmentären zur stratifika-
torischen und von dort zur funktionalen Differenzierung ist dann allerdings wie-
der von gewissen „exogenen“ Umständen, gelegentlich sogar zufälligen Konstel-
lationen abhängig, wie etwa die Entstehung erster Formen der sozialen Schich-
tung in den Gartenbaugesellschaften oder die „Demokratisierung“ der Adelsge-
sellschaften durch den ökonomisch erzwungenen Verkauf von Privilegien an
Nicht-Adlige, wovon dann der ganze Prozeß einen neuen Schub erhalten konnte
(vgl. dazu auch noch Abschnitt 9.2 unten in diesem Band). Sicher ist die funktio-
nalistische Theorie des sozialen Wandels nicht teleologisch in dem Sinne, wie
das Karl Marx für seine Theorie angenommen hatte. Aber es ist, wie wir vor al-
lem an den sog. Modernisierungstheorien gesehen haben, schon eine Art von
Quasi-Teleologie gewesen: Alle Gesellschaften werden schließlich von dem Pro-
zeß der funktionalen Differenzierung erfaßt, und die endgültige Modernisierung
der Welt ist nur eine Frage der Zeit.

7.5.3 Sozialer Wandel als multilineare Evolution

Dem funktionalistischen Ansatz der Soziologie des sozialen Wandels ist schon
während seiner Blüte in den 60er Jahren viel vorgehalten worden: Er sei zu sehr
an den Gleichgewichten orientiert gewesen, er habe die Bedeutung von Konflik-
ten und endogener Prozesse der Spannungserzeugung unterschätzt und er sei im
Grunde gar nicht explanativ, weil man mit „Leitformeln“ wie dies das AGIL-
Schema eine ist, nicht wirklich erklären könne. Vor allem aber wurde ihm vor-
gehalten, nur eine „unilineare“ Entwicklung zu kennen, und daß dies weder all-
gemein auf den sozialen Wandel noch gar auf jenen speziellen Fall des Wandels,
den der Modernisierung, zutreffe.
Und in der Tat. Die Modernisierung war und ist alles andere als ein froher Weg in eine differen-
zierte Zukunft.36 Die Ausdifferenzierung funktionaler Sphären ist ein zunächst ganz und gar un-

36
Vgl. zu dieser Korrektur der unilinearen Konzepte der Modernisierung insbesondere Diet-
rich Rüschemeyer, Reflections on Structural Differentiation, in: Zeitschrift für Soziologie,
Sozialer Wandel 393

wahrscheinlicher Prozeß und an viele einzelne Bedingungen gebunden. Es „muß“ einen gewissen
nachhaltigen „Druck“ zur Einrichtung von arbeitsteiliger Spezialisierung geben, wie etwa die Zu-
nahme der Bevölkerung. Weil es sich bei der Spezialisierung um ein soziales Dilemma handelt,
bei dem normalerweise zu erwarten ist, daß sich niemand daran beteiligt, weil er sich zunächst
einseitig von allen anderen abhängig macht, muß es selektive Anreize geben und/oder gewisse
Versicherungen, daß die Spezialisierung nicht ausgenutzt wird (vgl. dazu auch noch Band 3, „So-
ziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Allein deshalb dürfen auch bei je-
dem einzelnen „Schub“ an funktionaler Differenzierung die unvermeidlichen Kosten, wie Ano-
mie, Entfremdung, ohne Zweifel auch für gewisse Teile der Bevölkerung materielle Not und
Ausbeutung, nicht zu hoch sein. Die „evolutionäre“ Ausdifferenzierung verläuft allein daher nicht
ohne Gegenbewegungen, nicht ohne Stagnationen oder auch Regredierungen auf „vormoderne“
Verhältnisse, wie etwa im Iran, in Rußland oder im ehemaligen Jugoslawien. Die soziale Diffe-
renzierung kann auch dauerhaft gestoppt werden, wenn die Folgeprobleme keine institutionelle
Lösung finden oder die Machteliten andere Verhältnisse auch gegen den mainstream durchzuset-
zen vermögen, wie etwa derzeit in China oder in Kuba. Es kann auch zu enormen Schüben einer
partiellen Modernisierung und gleichzeitig zu grausigen Formen des Rückfalls in die Barbarei
kommen, wie im sog. Dritten Reich, zur Persistenz kastenähnlicher Verhältnisse inmitten einer
weit getriebenen Modernität, wie in den USA mit der Quasi-Kaste der Farbigen, oder zu Re-
Feudalisierungen bereits moderner Gesellschaften, wie in den westeuropäischen Gesellschaften in
der Folge der Arbeitsmigration.

Die allgemeine theoretische Lehre aus allen diesen Beobachtungen liegt auf der
Hand, und sie ist mit dem neueren Konzept der Evolution eigentlich ganz selbst-
verständlich: Es gibt vielleicht zwar empirische „Richtungen“ des Wandels, aber
es gibt keine Unvermeidlichkeit, keine Unumkehrbarkeit und kein festes Ziel der
„Entwicklung“. Kurz: Es gibt kein „Gesetz“ des sozialen Wandels und auch kei-
nes einer unilinearen Evolution.
In Abschnitt 7.2 haben wir gesehen, wie man sich das vorzustellen hat: Die
Beobachtung einer unilinearen Sequenz muß theoretisch in verschiedene Schritte
zerlegt werden, und dann wird klar, daß an jedem Übergang ein neues Erklä-
rungsproblem beginnt und daß jeweils auch ganz neue externe Ereignisse eintre-
ten können, die den „endogenen“ Pfad der Entwicklung stoppen, umkehren oder
auf eine ganz andere Bahn mit einer evtl. neuen eigenen Entwicklungsdynamik
zu bringen vermögen. Das ist das Konzept der multilinearen Evolution (vgl. dazu
die Zusammenfassung bei Randall und Strasser 1979, S. 82ff.). Es besagt, daß
sich die Gesellschaften der Menschen entlang von unterschiedlichen Pfaden ent-
falten und ganz verschiedene Typen von Gesellschaften mit ihrer jeweils eigenen
Entwicklungsdynamik hervorbringen können, wobei sich die verschiedenen ko-
existierenden Pfade und Typen wiederum gegenseitig zu beeinflussen vermögen.

3, 1974, S. 279-294; Dietrich Rüschemeyer, Structural Differentiation, Efficiency, and


Power, in: American Journal of Sociology, 83, 1977, S. 1-25; Dietrich Rüschemeyer, Po-
wer and the Division of Labour, Stanford 1986. Siehe auch: Hartmut Esser, Aspekte der
Wanderungssoziologie. Assimilation und Integration von Wanderern, ethnischen Gruppen
und Minderheiten. Eine handlungstheoretische Analyse, Darmstadt und Neuwied 1980, S.
239ff.
394 Die Konstruktion der Gesellschaft

Es ist eigentlich nichts weiter als die konsequente Anwendung der Grundgedan-
ken der (neueren) Evolutionstheorie der differentiellen Reproduktion der Arten
auf die Gesellschaften der Menschen. Wichtige frühe Vertreter dieser Konzepti-
on waren die Anthropologen Marshall D. Sahlins und Elman R. Service. Neuere
Beiträge sind die von Marvin Harris, Stephen K. Sanderson und Gerhard bzw.
Jean Lenski.37

Die Grundregeln des Konzeptes

Von Michael Schmid stammt eine programmatische aktuelle Zusammenfassung


der theoretischen Grundannahmen dieser Konzeption.38 Es ist letztlich nichts an-
deres als die Anmahnung, bei der „evolutionären“ Erklärung des sozialen Wan-
dels die Regeln und die inzwischen vorhandenen Möglichkeiten des Modells der
soziologischen Erklärung auch wirklich anzuwenden und von jeder Vorstellung
übergreifender makrosoziologischer „Gesetze“ abzurücken. Und das heißt: Es
muß eine Mikrofundierung der Prozesse und Mechanismen geben. Dazu bedarf
es einer expliziten handlungstheoretischen Grundlage, aus der sich die Folgen
der situationsbezogenen Reaktionen der Akteure auf die sich ändernden Umstän-
de ableiten lassen. Und die Folgen müssen wieder zu den situationalen Umstän-
den „rekursiv“ rückverbunden werden, möglichst unter Angabe bestimmter Me-
chanismen und Regelmäßigkeiten der „strukturellen Selektion“. Die Grundphilo-
sophie dieser „Theorie der strukturellen Selektion“ faßt Schmid dann so zusam-
men:
„Will man das Kernmodell der revidierten soziologischen Evolutionstheorie in einem Satz be-
schreiben, dann wird man sich auf den Hinweis beschränken können, daß Akteure auf der Suche
nach einer Lösung ihrer unausrottbaren Abstimmungsprobleme Regulierungsvorschläge machen,
über deren differenzielle Reproduktionschancen ihrerseits regelbasierte, ressourcenabhängige Se-
lektionsmechanismen entscheiden, deren kaum vorhersagbare Evolution nach demselben Muster
von Regelvariation und Regelselektion verläuft, wobei veränderte Interessenslagen, unerwartete
bzw. aversive Handlungsfolgen sowie die Erschöpfung von Ressourcenausstattungen und Kom-

37
Siehe Marshall D. Sahlins und Elman R. Service (Hrsg.), Evolution and Culture, Ann Ar-
bor 1960; Stephen K. Sanderson, Macrosociology. An Introduction to Human Societies,
2. Aufl., New York 1991; Sanderson 1990, Kapitel 10; Gerhard Lenski, Macht und Privi-
leg. Eine Theorie der sozialen Schichtung, Frankfurt/M. 1973; Gerhard Lenski und Jean
Lenski, Human Societies. An Introduction to Macrosociology, 5. Aufl., New York u.a.
1987; Marvin Harris, Kulturanthropologie. Ein Lehrbuch, Frankfurt/M. und New York
1989. Vgl. dazu auch noch Abschnitt 9.2 in diesem Band.
38
Michael Schmid, Soziologische Evolutionstheorie, in: Michael Schmid, Soziales Handeln
und strukturelle Selektion. Beiträge zur Theorie sozialer Systeme, Opladen und Wiesba-
den 1998, S. 264ff.
Sozialer Wandel 395

petenzen jenen Veränderungsdruck hervorrufen, auf den die Akteure mit gleichbleibend unsiche-
ren Erfolgsaussichten reagieren oder aber die soziale Bühne verlassen müssen.“ (Schmid 1998, S.
278f.)

Das war in der Tat ein Satz, wennzwar ein langer, aber auch ein eindeutiger. Ste-
phen K. Sanderson faßt die gleiche Grundidee sehr viel ausführlicher in neun
Regeln einer seiner Ansicht nach angemessenen Erklärung des evolutionären so-
zialen Wandels zusammen. Sie lauten:
„1. recognize general directional trends in world history, while at the same time acknowledging
the importance of many forms of historical uniqueness and divergence;

2. eschew any sort of developmentalist explanatory principle, i.e., refuse to explain directional
trends in world history as the result of some sort of unfolding of a predetermined pattern from be-
ginning to end; a good evolutionary theory is antidevelopmentalist and antiteleological;

3. adopt a multidimensional materialist conception of explanation emphasizing the causal priority


of demographic, ecological, technological, and economic factors (while at the same time allowing
for a certain amount of ‚superstructural feedback‘); moreover, it would explicitly recognize that
which of these factors (or which combination of factors) is most causally significant varies from
one historical period and type of social transformation to another;

4. start with the assumption that evolutionary events are adaptations, while at the same time re-
cognizing that these adaptations may not lead to any absolute improvement in adaptedness (and in
fact may be associated with decreases in overall absolute adaptedness); it therefore eschews any
identification of evolutionary transformation with social progress;

5. make the individual, rather than some abstract social system, the unit of adaptation and thus as-
sume that evolutionary events are somehow rooted in the cost-benefit calculations of individuals
caught up in particular circumstances;

6. see evolutionary events as the product of human agency, while recognizing that much of what
happens in these events is different from, or even contradictory to, human intentions; in other
words, a good evolutionary theory takes seriously Giddens’s notion of the duality of structure in
social life;

7. eschew any strict endogenism with respect to the ‚location‘ of evolutionary events; sociocultu-
ral evolution occurs not only within societies, but also within whole networks or ‚world-systems‘
of societies, and it is often impossible to understand evolution within a single society without situ-
ating that society within its larger ‚world-systemic‘context; this is especially true in the modern
capitalist world, but it is also true to a considerable extent in many precapitalist social systems;

8. assume that both ‚gradualist‘ and ‚punctuationalist‘ forms of change characterize the social
evolutionary record; the pace of change varies from one historical situation to another, and it is a
matter for empirical study;

9. eschew any overly close identification of sociocultural evolution with biological evolution;
while the two forms of evolution have much in common, and thus while social evolutionists can
learn from biological evolutionists, theories of social evolution must be formulated and evaluated
largely on their own terms“. (Sanderson 1990, S. 223f.)
396 Die Konstruktion der Gesellschaft

Dem ist nicht mehr viel hinzuzufügen. Es ist der letzte Stand der Dinge. Nicht
ohne Grund gehen nahezu alle aktuellen soziologischen Beiträge zum sozialen
Wandel davon aus, daß es zwar unter Umständen Richtungen des sozialen Wan-
dels gibt, daß es sich dabei aber um ein Geschehen handelt, das nur noch als Re-
sultat komplexer „polykontextoraler“ Prozesse von in „Figurationen“ verflochte-
nen Akteuren verstanden werden kann, die den sozialen Wandel, etwa die Ko-
Evolution der abendländischen Zivilisation und der Affektkontrolle der Men-
schen, wie sie Norbert Elias so eindringlich beschrieben hat, unabhängig und
auch gegen ihre Absichten hervorbringen.39

Die Besonderheiten des Konzeptes der multilinearen Evolution

Das Konzept der multilinearen Evolution entspricht, bis in die Einzelheiten, wie
man an den allgemeinen Äußerungen von Schmid und an den neun speziellen
Regeln von Sanderson leicht sieht, vollauf dem Konzept einer richtigen soziolo-
gischen Erklärung. Die sich in funktionalen Gleichgewichten der Reproduktion
vollziehende Nutzenproduktion und deren materiellen und institutionellen
Grundlagen und kulturellen Rahmungen sind der Kern des Geschehens, und –
exogene wie endogene – Änderungen an einzelnen Stellen ziehen Änderungen
an anderen Stellen und im ganzen „System“ der Nutzenproduktion nach sich. Bei
der Analyse des Geschehens werden daher sowohl die funktionalen Gleichge-
wichte wie die inneren und äußeren Spannungen, die endogenen Verkettungen
wie die exogenen „Störungen“, wie auch die „kausale“ Eigendynamik und die
evolutionäre Offenheit als jeweils gleichermaßen mögliche Varianten der Vor-
gänge beachtet. Und es führt, weil es die übergreifenden und vereinfachenden
„Gesetze“ des sozialen Wandels nicht gibt, auch kein Weg an der oft mühevollen
Rekonstruktion des sozialen Wandels als Sequenz von Makro-Mikro-Makro-
Übergängen vorbei. Das Modell der soziologischen Erklärung wäre daher die
Methode der Wahl für jede Analyse des sozialen Wandels, auch wenn viele, die
intuitiv den gleichen Grundgedanken haben, nicht viel davon wissen (wollen)
und meinen, daß es ausreiche, die nicht selten komplizierten Zusammenhänge,
etwa der Aggregation und der Transformation der individuellen Effekte in die
emergenten evolutionären Prozesse und Strukturen, bloß verbal zu beschreiben,
in Kästchen aus dem verstaubten Fond des AGIL- Funktionalismus einzusortie-
ren oder mit neumodischen systemtheoretischen oder postmodernistischen Vo-
kabeln nur noch einmal zu wiederholen, was man gerade sieht.

39
Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische
Untersuchungen, Band 1 und 2, Frankfurt/M. 1976a,b.
Sozialer Wandel 397

Vor allem aber ist jetzt jeder Rest an Teleologie und an der Vorstellung auf-
gegeben, als gäbe es so etwas wie übergreifende „Gesetze“ der Evolution und
des sozialen Wandels und als hätten die Menschen mit allen diesen Vorgängen
nichts zu tun. Natürlich haben sie damit zu tun. Wer denn sonst? Und das gilt
auch dann, wenn die einzelnen Akteure und Beobachter des Geschehens oft den
Eindruck haben, daß die „Geschichte“ über ihre Köpfe hinwegfegt und sich nie-
mand dagegen sträuben kann.
Kapitel 8

Soziologie und Geschichte

Mit dem Ende des Traumes von den soziologischen Bewegungsgesetzen der
Gesellschaft und mit dem Konzept der nach vorne offenen multilinearen
Evolution sind wir bei einem uralten und bis heute nicht gelösten Problem
angelangt – dem Verhältnis von Soziologie und Geschichte. Denn: Wenn es
keine besonderen soziologischen „Gesetze“ des sozialen Wandels gibt und wenn
alles ohnehin auf die situationslogische Rekonstruktion der sozialen Prozesse
und auf die Beschreibung der Randbedingungen einschließlich gewisser
„exogener“ Ereignisse hinausläuft – was tun denn die Historiker dann anderes als
das, was eine gute soziologische Erklärung verlangt? Und müssen dann nicht die
Soziologen, wenn sie an die Rekonstruktion der Situationslogiken gehen, denen
die Akteure unterworfen sind, eigentlich genauso vorgehen wie die Historiker?
Und was ist dann mit den altehrwürdigen Abgrenzungen, etwa zwischen
Einmaligkeit und Allgemeinheit, Verstehen und Erklären, Sinn und Kausalität,
Freiheit und Notwendigkeit und dergleichen, an die sich die Soziologen und die
Historiker so sehr gewöhnt haben und aus denen sich eine lange Zeit die
gegenseitigen Abgrenzungen, Vorhaltungen, Überlegenheitsansprüche – und
Einseitigkeiten – speisten?

Ein Beispiel: der Zerfall von Jugoslawien

Wir wollen das etwas sperrige Thema des Verhältnisses von Soziologie und
Geschichte mit einer „Geschichte“ beginnen – dem traurigen Kapitel des
blutigen Zerfalls von Jugoslawien zu Beginn der 90er Jahre mit seinen teilweise
unglaublichen Einzelereignissen und vor allem mit dem Ausbruch ethno-
religiöser Feindseligkeiten, die man am Ende des 20. Jahrhunderts eigentlich
nicht für möglich hätte halten sollen.1 Ohne Zweifel handelt es sich dabei um

1
Vgl. für Zusammenfassungen der Abläufe und Hintergründe u.a. Marie-Janine Calic,
Krieg und Frieden in Bosnien-Hercegovina, Frankfurt/M. 1996; George Schöpflin, The
400 Die Konstruktion der Gesellschaft

einen „sozialen Wandel“ und auch um ein historisch „einmaliges“ Ereignis: Es


gibt auch andere Fälle regionaler Konflikte, des Zusammenbruchs von
Nationalstaaten und der Aufteilung eines zuvor integrierten Staates in autonome
Teilgebiete, wie etwa der amerikanische Bürgerkrieg, die Auflösung des
österreichischen Kaiserreiches nach dem Ersten Weltkrieg oder die Teilung der
Tschechoslowakei in Tschechien und die Slowakei in den 90er Jahren. Und
ebenso ohne Zweifel gab und gibt es den Fall Jugoslawien und die historischen
Figuren eines Tito oder eines Miloševi! so nicht noch einmal, und alles, was jetzt
noch geschehen mag, kann schon logischerweise keine Wiederholung der
Vergangenheit sein, weil dann die Vorgeschichte der Geschichte ja schon wieder
eine andere ist als zuvor. Alles in der Welt, auch das, was in der unbelebten
Natur vor sich geht, ist strenggenommen „historisch“ und „einmalig“. Jedesmal
aber dreht es sich im Grunde um die gleiche Frage, egal ob Historiker oder
Soziologen sie stellen: Wie konnte geschehen, was passiert ist? Und um hierauf
eine Antwort zu finden, muß man natürlich erst einmal aufschreiben, was sich
tatsächlich ereignet hat.
Jede Erklärung historischer Vorgänge beginnt also mit einer Beschreibung – mit der Be-
schreibung des Explanandums nämlich und den vielen Ereignissen, die für die Erklärung als
Randbedingungen wichtig sein könnten. Diese „historische“ Beschreibung muß irgendwo be-
ginnen und sie kann auch nicht alle Einzelheiten nennen. Jeder Beschreibung liegen also
schon Zusammenfassungen und Abstraktionen zugrunde, und es gibt zunächst auch wenig
Anhaltspunkte, wie genau man sein muß. Meist geht das nicht ohne irgendeine – und sei es
eine noch so vage – vorgängige Vorstellung von einer Erklärung des Geschehens, und sei es
auch nur als Abfolge einer bestimmten Sequenz typischer Phasen. Wir wollen die folgende
Skizze der Abläufe daher auch schon in vier Teile untergliedern, die durch jeweils ganz ein-
schneidende historische Daten gekennzeichnet sind: die Vorgeschichte des Konfliktes bis
zum Ende des Zweiten Weltkriegs, die Phase der staatlichen Einheit unter Tito, die Erosion
des Systems nach dem Tod von Tito und der endgültige Ausbruch des Bürgerkrieges im
Sommer 1991 im Zuge des Zusammenbruchs des sog. Ostblocks insgesamt. Auf die danach
einsetzenden Ereignisse, wie auf den Konflikt in Bosnien-Hercegowina 1995 oder den Krieg
im Kosovo 1999, werden wir nicht weiter eingehen.

Zuerst also in aller Kürze die Vorgeschichte. Jugoslawien entstand als staatliches
Gebilde am 1. Dezember 1918 als Zusammenfassung der Völker der Serben,

Rise and Fall of Yugoslavia, in: John McGarry und Brendan O’Leary (Hrsg.), The Politics
of Ethnic Conflict Regulation. Case Studies of Protracted Ethnic Conflicts, London und
New York 1993, S. 172-203; Barry R. Weingast, Constructing Trust: The Political and
Economic Roots of Ethnic and Regional Conflict, in: Karol Soltan, Eric M. Uslaner und
Virginia Haufler (Hrsg.), Institutions and Social Order, Ann Arbor 1998, S. 176-180;
Russell Hardin, One For All. The Logic of Group Conflict, Princeton, N.J., 1995, S. 156-
163; sowie verschiedene Einzelbeiträge bei Josip Furkes und Karl-Heinz Schlarp (Hrsg.),
Jugoslawien: Ein Staat zerfällt. Der Balkan – Europas Pulverfaß, Reinbek 1991; oder neu-
erdings in Dunja Mel"i! (Hrsg.), Der Jugoslawien-Krieg. Handbuch zu Vorgeschichte,
Verlauf und Konsequenzen, Opladen und Wiesbaden 1999.
Soziologie und Geschichte 401

Kroaten und Slowenen unter einer Nation. Es erhielt seinen Namen jedoch erst
im Jahre 1929. Seine Gründung war die Folge der Neuordnung Europas nach
dem Ersten Weltkrieg und insbesondere des Zusammenbruchs des
Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn. Sie folgte den schon im 19. Jahrhundert,
wie auch anderswo in Europa, aufkommenden Ideen der übergreifenden
nationalen Einigung von bis dahin unterschiedlichen Gruppierungen, „Stämmen“
und „Völkern“ unter einem staatlichen Dach. Hier war das die Idee des
„Illyrismus“, die Annahme einer ethnischen, kulturellen und sprachlichen
Verwandtschaft der in dem Gebiet des Balkan lebenden Slawen. Einer der
Hintergründe dieser Vorstellung war dabei die gemeinsame Gegnerschaft gegen
die österreichische Herrschaft, die alle damals bestehenden Unterschiede
überlagerte, so wie es etwa die deutsche Nationalstaatsbewegung kaum ohne die
napoleonischen Eroberungen gegeben hätte. Von Beginn an litt der neue Staat
jedoch, bei allen Interessengemeinsamkeiten der Gruppen und Völker, unter
enormen Integrationsproblemen, die sich aus der Gleichzeitigkeit von
Unterschieden auf sehr verschiedenen Dimensionen ergaben: massive
Unterschiede in den Rechts-, Wirtschafts- und Verwaltungsstrukturen, separierte
Arbeits- und Warenmärkte und – vor allem – ein deutliches Gefälle in der
ökonomischen Leistungsfähigkeit zwischen den von den Slowenen und Kroaten
mehrheitlich bewohnten Regionen im Norden einerseits und den von den Serben
im Süden andererseits. Erst nach längerem Tauziehen wurde 1921 eine
zentralistische Verfassung für den ganzen Staat erlassen, die jedoch der
Gegenstand dauerhafter Auseinandersetzungen blieb.
Der Grund dafür war auch leicht einzusehen: eine deutliche „Statusinkonsistenz“ zwischen
den Serben einerseits und den Kroaten bzw. Slowenen andererseits sowie ein daran anknüp-
fender „konstitutioneller“ Konflikt: Die Serben hatten die politische Vorrrangstellung inne,
die Kroaten und die Slowenen die ökonomische. Das speiste die Auseinandersetzungen um
die grundlegende Frage einer stärkeren Zentralisierung des Staates oder einer stärkeren Föde-
ralisierung – wobei Sie dreimal raten dürfen, wer für die Zentralisierung und wer für die Fö-
deralisierung war. Das Problem wurde dann noch einmal durch den Sachverhalt verschärft,
daß es sowohl Serben gab, die auf kroatischem (und slowenischem) Gebiet lebten, wie Kroa-
ten (und Slowenen), die in Serbien wohnten.

Alles aber hielt zusammen, weil es dafür eine Reihe, wenngleich verschiedener
guter Gründe für jede der Gruppen gab und weil jede Gruppe von der Einheit
immer noch mehr hatte als von der Selbständigkeit. Aber das Gleichgewicht war
nur labil und von einer Reihe von blutigen Ereignissen durchzogen. Und daher
war es kein Wunder, daß der Staat mit dem Überfall durch die Nazis im Jahre
1941 sofort kollabierte. Die Ereignisse im Zweiten Weltkrieg verschärften dann
die zuvor, trotz aller auch blutigen Einzelvorfälle, eher nur latenten Gegensätze
auf eine dramatische Weise: Kroatien begann unter dem nazitreuen Ustasa-
Regime ab 1941 mit Unterstützung durch die deutsche Besatzung mit grausamen
402 Die Konstruktion der Gesellschaft

„ethnischen Säuberungen“ in den serbischen Siedlungsgebieten, und in Serbien


verfolgten die nationalistisch und monarchistisch gesonnenen Cetnics den Traum
eines großserbischen Reiches mit nicht minder gewalttätigen Mitteln. Nach dem
Krieg hatte jede Gruppe über die andere einen anderen, für sie jeweils
gleichermaßen einsichtigen Grund zur Empörung: Die Kroaten waren für die
Serben allesamt Vertreter des Ustasa-Staates, der mit den Nazis kollaboriert und
mit ihnen den Krieg verloren hatte, und die Serben waren für die Kroaten
allesamt monarchistisch gesonnene Zentralisten, die von einem Jugoslawien
unter serbischer Vorherrschaft träumten – und rückständige Nutznießer der
Befreiung durch die Partisanen und des nach dem Zweiten Weltkrieg
eingerichteten kommunistischen Tito-Staates.
So weit die Vorgeschichte. Nun die zweite Phase: die Zeit der staatlichen
Einheit und der ethnischen Koexistenz unter Tito. Nach dem Zweiten Weltkrieg
übernahmen die Führer der kommunistischen Partisanenbewegung die Macht im
zuvor zerschlagenen jugoslawischen Staat, der nun unter dem vormaligen
Partisanengeneral Tito als sozialistische Bundesrepublik wieder eingerichtet
wurde. Ihre uneingeschränkte Vorrangstellung verdankten die Partisanen und
Tito dem militärischen Sieg über die deutsche Besatzung und der Annahme der
breiteren Bevölkerung in Jugoslawien insgesamt, daß es nur mit ihrer Hilfe einen
Ausweg aus den für unüberbrückbar gehaltenen Gegensätzen zwischen den
(Ustasa-)Kroaten und den (Cetnic-)Serben geben könne: „In 1945, they (die
Partisanen; HE) were definitely the masters“. (Schöpflin 1993, S. 179) Bald aber
lebte auch unter dem kommunistischen Regime der alte Streit zwischen den
serbischen Zentralisten und den kroatisch-slowenischen Föderalisten wieder auf.
Der Hintergrund für diesen Streit war der gleiche wie zuvor: deutliche Unterschiede in den
wirtschaftlichen Ressourcen hier und in der politischen Macht dort. Dabei spielten durchaus
auch die mit der politischen Zentralisierung verbundenen Ansprüche auf Transferzahlungen
von den wirtschaftlich entwickelten, aber politisch peripheren kroatisch-slowenischen Regio-
nen des Nordens an die wirtschaftlich rückständigen, aber politisch zentralen serbischen Re-
gionen des Südens eine wichtige Rolle – und der Widerstand des kroatisch-slowenischen
Nordens dagegen. Hinzu traten die fast „perfekten“ Übereinstimmungen der regional-
ökonomisch-politischen Konfliktlinien mit ethnischen, kulturellen und auch sprachlichen
Grenzen und – insbesondere – mit der religiösen Zugehörigkeit: als Träger des kulturellen
und politischen Lebens spielte bei den Serben die orthodoxe Kirche und bei den Kroaten
(bzw. bei den Slowenen) die katholische Kirche eine zentrale Rolle. Als dritte ethno-religiöse
Gruppe traten nach dem Zweiten Weltkrieg und unter dem Dach des Titoismus dann auch
noch die bosnischen Muslime auf. Daß diese Gruppe jetzt auch bemerkt wurde und sich be-
merkbar machte, war die Folge der noch einmal besonderen ethno-religiösen Verhältnisse in
Bosnien-Hercegowina, das sich sozusagen zwischen den beiden Blöcken der Kroaten und
Slowenen einerseits und der Serben andererseits wiederfand. Alles das trug später zu einer
nicht unbeträchtlichen weiteren Verkomplizierung der Situation im Balkan bei.
Soziologie und Geschichte 403

Unter Tito verschwinden also die ethno-regionalen Konflikte nicht, sie sind aber
deutlich entschärft, wenngleich die strukturellen Hintergründe geblieben sind. Es
folgt nun eine längere Zeit der friedlichen Koexistenz, nicht zuletzt auch der
Bevölkerung in den ethnisch gemischten Gebieten. Dafür gibt es eine Reihe von
Gründen, und nicht der geringste davon ist die charismatische Gestalt Titos
selbst. Wichtiger als seine „Persönlichkeit“ sind aber die von ihm getroffenen
institutionellen Maßnahmen zur Integration des Landes und zur Erhaltung des
Gleichgewichts zwischen den Gruppen und Regionen gewesen.
Drei Dinge sind es insbesondere, die dazu beitragen. Erstens wurden nun viele Entscheidun-
gen dezentralisiert, so daß die serbisch kontrollierte Zentrale an Macht verlor und – insbeson-
dere – ihr politisches und militätisches Potential nicht einfach gegen die anderen Gruppen
einsetzen konnte. Tito verbot zweitens jede Möglichkeit der politischen Beschwerde der
Gruppen gegeneinander. Und drittens wurde für die Entscheidungen, die den Gesamtstaat be-
trafen, das Veto-Recht eingeführt. Alles das hatte zur Folge, daß keine der Gruppen einen Al-
leingang der jeweils anderen befürchten mußte und daß sich – bei allen Interessengegensät-
zen – ein gewisses Klima des gegenseitigen Vertrauens herausbilden und stabilisieren konnte.

Mit dieser aus der bestehenden latenten Konfliktkonstellation nahezu


unvermeidlichen und besonders in den 70er Jahren vorangetriebenen
Föderalisierung Jugoslawiens aber war der Keim für die folgenden offenen
Konflikte schon gelegt: Die Republiken wurden zu (Teil-)Zentren auch der
politischen Macht oder sahen sich zumindest als solche. Alles ging noch leidlich
gut, solange die Wirtschaft florierte und es im Rahmen der inzwischen
verfestigten Ost-West-Ordnung keine Alternative zur Einheit Jugoslawiens gab,
ja man sich zeitweise sogar im Prestige der erstarkenden Sowjetunion sonnen
und an die Einheit der Arbeiterklasse glauben konnte, mit deren Sieg alle
ethnischen und religiösen Gegensätze, wie es schien, überwunden waren. Aber
die latenten Probleme und Konflikte zwischen den Gruppen und Regionen waren
natürlich nicht verschwunden. Und diese Konflikte traten daher auch sofort
wieder in den Vordergrund als gegen Ende der 70er Jahre Titos Macht und
Charisma, nicht nur seines voranschreitenden Alters wegen, zu schwinden
begannen und als auch die wirtschaftliche Entwicklung stagnierte und es zu
ernsten ökonomischen Problemen kam.
Mit Titos Tod am 4. Mai 1980 endet die zweite Phase. Nun erwachen überall
nationalistische Bewegungen, und 1981 kommt es beispielsweise im Kosovo zu
schon blutigen Unruhen, als die dort lebenden Albaner die Anerkennung des
Kosovo als siebte Teilrepublik fordern, und die Serben die Gewalttaten der
Albaner anprangern und vergelten. Es wird überdeutlich, daß der jugoslawische
Staat dringend einer politischen und ökonomischen Reform bedarf. Hier tritt nun
eine zweite zentrale Figur auf: Slobodan Miloševi!. Als Alt-Kommunist ist er im
Grunde kein Reformer, und zunächst scheint es auch so, als seien seine Tage
gezählt und Jugoslawien auf dem Wege zu einer Demokratisierung. In dieser
404 Die Konstruktion der Gesellschaft

Atmosphäre der Unsicherheit über den weiteren Weg startet Miloševi! eine
ethnizistische Kampagne mit der Propagierung der Idee eines großserbischen
Reiches. Das Ziel von Miloševi! ist klar: Er will mit dieser Kampagne seine
Stellung in Serbien festigen, deren Basis die politische Macht und die Kontrolle
über die jugoslawische Armee ist. Das hat aber zunächst nur geringe
Auswirkungen: Die Menschen selbst in Serbien unmittelbar haben keinen Sinn
für die nationalistischen Tiraden und Provokationen von Miloševi!.
Dies leitet zur dritten Phase über: die „Ethnisierung“ der jugoslawischen
Situation. Viele einzelne, sich teilweise gegenseitig bedingende und verstärkende
Ereignisse gab es auf diesem Pfad in den, wie sich schließlich zeigte,
gnadenlosen Krieg aller ethnischen und religiösen Gruppen gegen alle.
Milsovic brach zunächst das unter Tito eingehaltene Verdikt feindseliger Äußerungen über
die anderen Gruppen und er begann gleichzeitig damit, die serbisch kontrollierte Armee auf-
zurüsten, was den Beschwörungen eines großserbischen Reiches und den verbalen Attacken
auf die anderen Gruppen einen auch objektiv bedrohlichen Hintergrund gab. Als Reaktion
darauf verstärkten die Kroaten (und die Slowenen) ihrerseits Maßnahmen zu ihrer Sicherung,
zumal Miloševi! beispielsweise im Konflikt mit den Albanern im Kosovo sichtbar jede Zu-
rückhaltung aufgegeben hatte und sich offenkundig an keinerlei Abmachungen hielt. Die kro-
atischen Reaktionen ihrerseits verstärkten die Attacken von Miloševi! nur weiter. Kroatien
startete daraufhin schließlich unter Franco Tudjman, ebenfalls einem Alt-Kommunisten, mit
Unabhängigkeitsbestrebungen und übernahm in diesem Zusammenhang auch die Symbole
und die Flagge des Ustasa-Regimes – seinerseits eine Provokation an Serbien ohnegleichen.
Der wohl wichtigste Schritt in die blutige Ethnisierung der Konflikte war aber die Aufnahme
eines Guerillakrieges zwischen Kroaten und Serben auf dem Gebiet Kroatiens. Es begann mit
der Ausgliederung der Serben aus der kroatischen Polizei, weil man sich – angeblich – der
Loyalität der in Kroatien lebenden Serben nicht mehr gewiß war. Die kroatischen Serben in-
terpretierten diesen Schritt natürlich nicht nur als Beschneidung von Gleichheitsrechten, son-
dern als unmittelbaren feindseligen Akt. Und wie kaum anders zu erwarten war, kam es dann
auch tatsächlich zu Grausamkeiten – und zwar: auf beiden Seiten. Und die mußte jede Seite
dann wiederum als Beweis für die grundsätzliche Feindseligkeit der jeweils anderen Seite in-
terpretieren. Alles fand überdies im Fernsehen, das die blutigen Bilder in jedes Wohnzimmer
übermittelte, und somit vor den Augen einer weltweiten Öffentlichkeit statt, und jede der Par-
teien versuchte sich in den Bezichtigungen der jeweils anderen Seite durch das Herzeigen
grausamster Bilder von Untaten der jeweiligen Gegenseite zu überbieten.

Vorangegangen war eine immer mehr beschleunigte Auflösung der


zentralstaatlichen Strukturen, die aufgrund des weit vorangetriebenen
Föderalismus rasch um sich greifen konnte, als der Anfang einmal gemacht war.
Ein wichtiges Ereignis dabei war die Auflösung auch der letzten
einheitsstiftenden Bastion: die kommunistische Partei als Einheit. Während die
slowenischen und kroatischen Reformkommunisten auf die Einführung einer
Demokratie nach westlichem Muster drängten, beharrte die serbische
Parteiführung auf dem Konzept der Einheitspartei – wiederum aus den alten,
oben bereits beschriebenen, naheliegenden Gründen, die die Serben einerseits
und die Slowenen (und Kroaten) andererseits stets in den gleichen Dissens über
Soziologie und Geschichte 405

die „Verfassung“ des Staates gebracht hatten. Die Spaltung der Einheitspartei
zog die Auflösung des jugoslawischen Rechtssystems nach sich. Mit der auch
aufgrund der politischen Ereignisse sich weiter verschlechternden
wirtschaftlichen Situation verschärften sich die mit den Transferleistungen des
Nordens an den Süden bestehenden Spannungen noch weiter. Im März 1990
erklärte Slowenien schließlich seine wirtschaftliche Unabhängigkeit und stellte
alle Zahlungen an den Bund ein. Nach und nach gingen nun alle Teilrepubliken
zu einer Art von Wirtschaftskrieg gegeneinander über und zu einer jeweils
eigenständigen Poltik. Diese dritte Phase der Ethnisierung und der
„Balkanisierung“ des Balkans endet mit Souveränitätserklärungen der meisten
jugoslawischen Teilrepubliken um die Jahreswende 1990/1.
Diese Ereignisse leiten unmittelbar zur vierten Phase, zum endgültigen Zerfall
des jugoslawischen Staates und zum anschließenden Krieg zwischen Kroatien
und Serbien über, bei dem die deutsche Bundesregierung über die relativ rasche
völkerrechtliche Anerkennung von Kroatien und Slowenien eine
beschleunigende und den Konflikt wohl auch intensivierende Rolle spielte, weil
gerade dadurch auch die alten Ressentiments aus dem Zweiten Weltkrieg wieder
neue Nahrung finden konnten. Der Außenminister Genscher und schließlich auch
die EG insgesamt fungierten dabei aber, so kann man es durchaus sehen, eher nur
als Hebammen, die die Geburt der neuen Staaten erleichterten (und den Tod des
alten Staates besiegelten), letztlich aber daran ursächlich nicht weiter beteiligt
waren.
Mit der auch formell anerkannten Selbständigkeit von Slowenien und
Kroatien beginnt schließlich eine Entwicklung, die bis heute nicht abgeschlossen
ist, deren Grundstrukturen aber aufgrund der voraufgegangenen Ereignisse und
Basislinien unschwer zu erkennen sind: die Koninzidenz von materiellen und
institutionellen Grenzziehungen und dadurch strukturierten Interessenkonflikten,
die auf tief eingelagerte ethnische, kulturelle und religöse Unterschiede treffen,
die durch historische Erfahrungen verfestigt sind und durch aktuelle Ereignisse
immer wieder neu bestätigt und bestärkt werden: eine Tragödie vor unseren
Augen, die offenkundig auch nicht dadurch beendet werden kann, daß man
inzwischen ziemlich genau weiß, was geschah und warum sich alles so ereignete,
wie es denn passiert ist.

Historische Erklärungen

So wie oben sehen viele Beiträge zur Erklärung des Geschehens in Jugoslawien
aus: Die groben Züge der Abläufe werden erkennbar, man „versteht“ auch
irgendwie die Zusammenhänge, wenigstens besser als vorher, und man bekommt
406 Die Konstruktion der Gesellschaft

auch schon eine Vorstellung über die eigenartige „Logik“, die das Ganze erzeugt
und vorangetrieben hat. Letztlich zufrieden ist aber kaum jemand: Für die
Historiker dürfte die Darstellung, wenngleich vielleicht nicht grob falsch, so
doch an vielen Stellen viel zu ungenau und unvollständig sein, und für die
Soziologen ist wohl viel zu wenig an „richtiger“ Erklärung und viel zu viel an
bloßer historischer „Narration“ darin, der besonders die Seniorenstudenten so
gerne lauschen. Und beide haben jeweils auch nicht Unrecht. Hinter diesem
Unbehagen steckt ein alter Streit, der sich besonders im deutschsprachigen
Bereich kultiviert hat: Eigentlich könne es, so meinen die Historiker oft, bei
historischen Abläufen gar keine „Erklärung“ geben, jedenfalls keine, die den
Regeln der Hempel-Oppenheim-Erklärung (oder kurz: H-O-Erklärung) zu folgen
versuche – sofern sie überhaupt wissen, was das ist (vgl. dazu schon Kapitel 4,
„Die Logik der Erklärung“, in der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“).
Denn: Es gebe keine „allgemeinen“ Gesetze, deren sich eine solche „historische“ Erklärung
bedienen könne, sondern nur historische Einmaligkeiten. Und die Menschen handelten ja
auch nicht von irgendwelchen „kausalen“ Ursachen getrieben, sondern hätten – mehr oder
weniger – „gute Gründe“, denen sie in ihrem Tun folgten, und dafür gäbe es nur ein nach-
vollziehendes „Verstehen“ und eben keine „kausale“ Erklärung, wie das in den Naturwissen-
schaften vielleicht möglich wäre. Alles was ein Historiker angesichts dieser Sachlage tun
könne, wäre die möglichst korrekte Beschreibung des Geschehens – „wie es denn wirklich
gewesen ist“ – die Rekonstruktion der (subjektiven) guten Gründe der diversen Akteure und
der von deren Handeln, meist unbeabsichtigt, produzierten Folgen und die möglichst griffige
konzeptionelle Bezeichnung ganzer Komplexe des Geschehens, wie etwa als die „Französi-
sche Revolution“, als der „Zweite Weltkrieg“, als die „Wende“ oder eben auch als der „ju-
goslwische Bürgerkrieg“.

Diese grundlegenden Einwände gegen jede „analytische“ oder gar „kausale“


Betrachtung historischer Prozesse und gegen die Möglichkeit „allgemeiner“
Erklärungen in der Geschichte sind unter der Bezeichnung des Historismus
zusammengefaßt worden und am deutlichsten wohl im sog. Älteren
Methodenstreit gegen Ende des 19. Jahrhunderts zwischen Gustav Schmoller auf
der einen und Carl Menger auf der anderen ausgetragen worden (vgl. dazu auch
schon Kapitel 28 der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“).
Die Geschichte könne danach nur ideographisch-beschreibend und „verstehend“ und eben
nicht nomothetisch-erklärend vorgehen, sie habe es immer mit „einmaligen“ Einzelfällen und
eben nicht nicht mit leeren Verallgemeinerungen zu tun, bei ihr seien quantitative Methoden
und Experimente nicht anwendbar, die gesellschaftlichen Prozesse könnten nicht als das blo-
ße Ergebnis des Handelns von individuellen Akteuren und einer „Emergenz von unten“ auf-
gefaßt werden, sondern müßten als Resultat einer „Konstitution von oben“ durch eigenstän-
dig operierende „Ganzheiten“ aufgefaßt werden und alle „allgemeinen“ Gesetze, die eine er-
klärende Soziologie unterstellen oder finden könne, seien ohnehin immer nur historisch be-
dingte Gesetze, deren Geltung sich mit der Änderung der historischen Situation ebenfalls än-
dere, wie beispielsweise das Gesetz des rationalen Handelns, das, so wird gesagt, nur in den
„rationalen“ Gesellschaften des Kapitalismus gelte.
Soziologie und Geschichte 407

Der Streit ist bis heute nicht beigelegt, und ein Teil der Argumente von
Schmoller gegen eine analytisch-nomologisch betriebene Sozialwissenschaft lebt
heute weiter, etwa in der sog. qualitativen Sozialforschung, in weiten Teilen der
Politikwissenschaft und der sog. Zeitgeschichte oder in der soziologischen
Systemtheorie. Die (erklärenden) Soziologen ihrerseits verweisen darauf, daß
keine noch so genaue Beschreibung und keine noch so bezeichnende begriffliche
Abstraktion und Etikettierung irgendetwas zu „erklären“ vermöge und daß, wenn
die Historiker nichts weiter täten als das aufzuschreiben, was geschehen ist, alle
Fragen nach dem „warum“ unbeantwortet blieben. Insbesondere aber haben sie
schon bald eingewandt, daß die Historiker sehr wohl auch „allgemeine“ und
„kausale“ Erklärungen wenigstens beabsichtigen und sich daran auch versuchen,
und daß dies auch gar nicht anders ginge, weil jede Beschreibung
notwendigerweise in übergreifende theoretische Überlegungen eingebettet sei:
„Reine“ Beschreibungen sind unmöglich, und schon jede Selektion aus den
Myriaden von Einzelereignissen erfordere ein theoretisches Kriterium. Den
Historikern wird also vorgehalten, daß sie, ohne es freilich meist zu wissen, sehr
wohl auch „allgemeine“ Gesetze annehmen, wie etwa das, daß die Menschen
absichtsvoll, subjektiv nachvollziehbar und „verständlich“ handeln, was ja nur
ein anderer Ausdruck für ein „rationales“ Handeln ist (siehe dazu schon Kapitel
6 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Kurz: Die Besonderheiten der geschichtlichen Analyse gäben keinerlei Anlaß,
auf die Möglichkeiten einer regelrechten Erklärung nach dem Schema der H-O-
Erklärung zu verzichten.
Die methodologischen Argumente sind in einer längeren Debatte ausgetauscht
worden, und es ist inzwischen ganz gut geklärt, worin die besonderen Probleme
bei historischen Erklärungen liegen und worauf man zu achten hat.2

2
Vgl. zu diesem Streit und zur schließlichen Auflösung des Problems u.a. Wolfgang Steg-
müller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie,
Band 1: Wissenschaftliche Erklärung und Begründung, Berlin, Heidelberg und New York
1969, insbesondere Kapitel VI. Historische, psychologische und rationale Erklärung; Vik-
tor Kraft, Geschichtsforschung als strenge Wissenschaft, in: Ernst Topitsch (Hrsg.), Logik
der Sozialwissenschaften, 8. Aufl., Köln 1972, S. 72-82; Seymour M. Lipset, A Sociolo-
gist Looks at History, in: The Pacific Sociological Review, 1, 1958, S. 13-17; Hartmut Es-
ser, Klaus Klenovits und Helmut Zehnpfennig, Wissenschaftstheorie, Band 2: Funktional-
analyse und hermeneutisch-dialektische Ansätze, Stuttgart 1977, S. 104 - 121: Soziologie
und Geschichte. Siehe auch verschiedene Beiträge bei Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Ge-
schichte und Soziologie, Köln 1972; sowie Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft. Un-
tersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, Frankfurt/M.
1983, S. 9-59. Siehe für eine neuere Zusammenfassung des Standes der Diskussion Chris
Lorenz, Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie,
Köln,Weimar und Wien 1997.
408 Die Konstruktion der Gesellschaft

Das wichtigste Ergebnis war, daß es historische Erklärungen im Anschluß an das H-O-
Schema sehr wohl geben kann, daß es dabei aber ohne Zweifel zu besonderen Schwierigkei-
ten kommt, die nicht einfach übergangen werden können. Die Annäherungen sind von beiden
Seiten ausgegangen: Einerseits wird – bis auf wenige Ausnahmen – inzwischen auch von der
Soziologie anerkannt, daß es zwar vielleicht empirische Trends, aber sicher keine „allgemei-
nen“ Gesetze historischer Entwicklungen gibt und daß jede historische Erklärung die beson-
dere Situation der Akteure, ihre „guten Gründe“, ihr Handeln und die dadurch bewirkten Fol-
gen systematisch zu berücksichtigen hat. Andererseits weiß man inzwischen auch, daß die
Rekonstruktion der „guten Gründe“ der Akteure und ihr „Verstehen“ nichts anderes ist als die
„rationale“ Erklärung des Handelns der Akteure, etwa mit Hilfe der Wert-Erwartungstheorie.
Und das ist eine H-O-Erklärung. Vor diesem Hintergrund ist inzwischen auch klar, daß es
sich bei historischen Erklärungen um einen Spezialfall der sog. genetischen Erklärung han-
delt, allerdings in der Sonderversion von Sequenzen des elementaren Modells einer soziologi-
schen Erklärung mit ihren Übergängen von der Makro- zur Mikroebene und von dort wieder
auf die Makroebene hinauf (vgl. dazu schon ausführlich Teil B der „Soziologie. Allgemeinen
Grundlagen“, die Einleitung und Kapitel 6 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser
„Speziellen Grundlagen“, sowie das vorige Kapitel 7 über den sozialen Wandel in diesem
Band).

Gleichwohl würde man die Sachlage verkennen, wenn man nicht beachtete, daß
es sich bei der Erklärung der allermeisten historischen Vorgänge um Dinge
handelt, die sich nicht immer der Methodologie einer „reinen“ und vollständigen
Erklärung nach dem H-O-Schema fügen. Der Hauptgrund liegt darin, daß die
Einzelereignisse meist nur über die Zusammenführung einer Vielzahl einzelner
„Gesetze“ und „Randbedingungen“ erklärbar sind, daß manchmal ganz
unscheinbare Details dem Ganzen eine andere Wendung geben können und –
insbesondere – daß das Geschehen von einer Vielzahl externer Umstände und
Einflüsse umgeben ist, die nicht aus dem „endogenen“ Geschehen selbst folgen,
sondern „narrativ“ eingefügt werden müssen und nicht alle gleichzeitig erklärt
werden können. Das liegt einfacherweise daran, daß es eben in der Tat keine
übergreifenden Sukzessions- oder Entwicklungsgesetze gibt, sondern „nur“
Einzelereignisse, die zwar „kausal“, aber immer auch nur höchst „kontingent“,
also an gewisse exogene Bedingungen gebunden, miteinander verknüpft sind.
Für einen vergleichsweise noch sehr einfachen Fall eines bloß
naturwissenschaftlichen Geschehens hat Karl R. Popper das Problem einmal so
beschrieben:
„Wenn der Wind einen Baum schüttelt und Newtons Apfel zu Boden fällt, dann wird nie-
mand leugnen, daß diese Ereignisse mit Hilfe von Kausalgesetzen beschrieben werden kön-
nen. Es gibt jedoch nicht ein Gesetz wie das der Schwerkraft, nicht einmal ein bestimmtes
System von Gesetzen, das die tatsächliche, konkrete Sukzession kausal verknüpfter Ereignis-
se beschreiben würde. Außer der Schwerkraft müßten wir die Gesetze des Winddrucks be-
rücksichtigen, dazu noch die Schüttelbewegungen des Zweiges, die Spannung im Stengel des
Soziologie und Geschichte 409

Apfels, die Quetschung des Apfels beim Aufprall, die chemischen Prozesse, die aus der Quet-
schung des Apfels resultieren usw.“3

Und daraus folgert Popper:


„Die Vorstellung, daß (außer in Fällen wie dem der Pendelbewegung oder eines Sonnensys-
tems) irgendeine konkrete Abfolge von Ereignissen durch ein Gesetz oder ein bestimmtes
System von Gesetzen beschrieben oder erklärt werden könnte, ist einfach falsch. Es gibt we-
der Sukzessions- noch Entwicklungsgesetze.“ (Ebd.; Hervorhebungen im Original)

Darauf sind wir schon in Kapitel 7 bei der Besprechung des Verfalls der
Makrosoziologie des sozialen Wandels ausführlich eingegangen. Die Annahme
von übergreifenden Sukzessions- und Entwicklungsgesetzen war dann auch
gerade der grundlegende Fehler des von Popper so genannten Historizismus,
einer speziellen Variante der (Makro-)Soziologie des sozialen Wandels: die
Annahme, daß sich die verschiedenen Epochen der Menschheitsgeschichte zwar
„qualitativ“ unterschieden und miteinander letztlich nicht vergleichbar und jede
für sich „unmittelbar zu Gott“ wäre(n), daß sie dann aber nach einem einzigen
übergreifenden Entwicklungsgesetz aufeinander folgten. Mit dieser Vorstellung
war auch die Idee verbunden, die Geschichts- und die Gesellschafts-
wissenschaften wie die Naturwissenschaften zu betreiben und den Lauf der
historischen Prozesse wie den der Gestirne anzusehen. Karl Marx war der wohl
exponierteste Vertreter dieser Auffassung, und im Vorwort zum „Kapital“
schreibt er auch den ebenso beeindruckenden wie aus heutiger Sicht schon sehr
naiven Satz:
„Auch wenn eine Gesellschaft dem Naturgesetz ihrer Bewegung auf die Spur gekommen ist –
und es ist der letzte Endzweck dieses Werks, das ökonomische Bewegungsgesetz der moder-
nen Gesellschaft zu enthüllen –, kann sie naturgemäße Entwicklungsphasen weder übersprin-
gen noch wegdekretieren. Aber sie kann die Geburtswehen abkürzen und mildern.“4

Wenn es nun auch sicher keine übergreifenden Entwicklungsgesetze gibt, muß


man allerdings auch nicht das Kind mit dem Bade ausschütten und meinen, daß
(H-O-)Erklärungen geschichtlicher Ereignisse und Entwicklungen unmöglich
wären und daß es nicht sehr wohl Sinn machen könnte, empirische
Beobachtungen langfristiger Trends im Nachhinein zu erklären, wie das etwa die
moderne Theorie der soziokulturellen Evolution tut.

3
Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, 4. Aufl., Tübingen 1974 (zuerst: 1960), S.
92.
4
Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Erster Band, Berlin 1969,
Vorwort zur ersten Auflage, S. 15f.
410 Die Konstruktion der Gesellschaft

In diesem Zusammenhang ist eine schon etwas ältere und heftige Auseinandersetzung zwi-
schen Gerhard Lenski und Robert A. Nisbet immer noch erwähnenswert.5 Nisbet hatte be-
hauptet, daß es eine sinnvolle Soziologie des evolutionären sozialen Wandels grundsätzlich
nicht geben könne, weil dabei eine Reihe unhaltbarer Annahmen gemacht werden müßten:
Der gesellschaftliche Wandel sei der Normalfall, er sei gerichtet, immanent, kontinuierlich
und kumulativ, notwendig und beruhe auf einigen wenigen treibenden „Ursachen“. Tatsäch-
lich sei es aber so, daß der gesellschaftliche Wandel alles andere als der Normalfall wäre, er
sei nicht gerichtet, von exogenen Faktoren bestimmt, nicht kumulativ und nicht auf wenige
„Konstanten“ zurückführbar. Nisbet hatte daraus gefolgert, daß es eigentlich nur „histori-
sche“ Beschreibungen des sozialen Wandels geben könne, aber keine soziologische „Theo-
rie“ desselben. Dem hatte Lenski, nicht zuletzt auf der Grundlage seiner eigenen intensiven
Untersuchungen zur Evolution der menschlichen Gesellschaft (vgl. dazu auch noch Abschnitt
9.2 dieses Bandes), entgegengehalten, daß man zwar sicher nicht von übergreifenden oder gar
auf ein Ziel gerichteten Prozessen der Entwicklung ausgehen könne, daß es aber dennoch
auch im sozio-kulturellen Bereich sehr wohl „gerichtete“ Entwicklungen gäbe, deren erkenn-
bare Dynamik sich ohne weiteres mit den Mitteln der modernen, kausal-erklärenden Evoluti-
onstheorie verständlich machen lasse.

Die Lehre aus diesen Streitigkeiten war dann, daß historische Erklärungen
keineswegs unmöglich, aber sicher schwierig sind und daß sie auch beim besten
Willen nicht immer „vollständig“ sein können. Warum es diese Schwierigkeiten
gibt, ist leicht gesagt: Anders als bei den „reinen“ kausal-genetischen
Erklärungen, die alleine auf endogenen Kausalsequenzen beruhen, müssen bei
den historischen Erklärungen meist Dinge eingefügt werden, die nicht sofort
auch schon selbst wieder erklärt werden können (vgl. dazu auch schon Abschnitt
7.4 dieses Bandes). Wolfgang Stegmüller nennt solche Erklärungen daher auch
historisch-genetische Erklärungen. Er erläutert, was gemeint ist, an einem
interessanten Beispiel der dabei nötigen, stets aber auch etwas unbefriedigenden
Bemühungen: die Entstehung des Ablasses. Dabei folgt er einer These des
Historikers Gottlob, der versucht hatte, den Ablaß über gewisse Motive der
Päpste und Bischöfe zu erklären und der dabei darauf stieß, daß es sich um ein
Nebenprodukt der Auseinandersetzungen zwischen dem Islam und dem
Christentum zur Zeit der Kreuzzüge gehandelt habe:
„Den Ursprung bilden danach die Glaubenskriege zwischen Christen und Mohammedanern.
Während die gläubigen Moslems, gestützt auf die Lehre Mohammeds, mit der festen Über-
zeugung in den Heiligen Krieg zogen, daß ihnen im Fall des Getötetwerdens in der Schlacht
der Himmel sicher sei, mußten sich die christlichen Glaubensstreiter die bange Frage stellen,
ob sich ihnen die Tore des Paradieses auch öffnen würden, wenn sie keine Zeit gefunden hät-
ten, rechtzeitig Buße für ihre Sünden zu tun. Solche Zweifel konnten sie dazu bewegen, lieber

5
Robert A. Nisbet, Social Change and History. Aspects of the Western Theory of Deve-
lopment, London 1969; Gerhard Lenski, History and Social Change, in: American Journal
of Sociology, 82, 1976, S. 548-564. Vgl. dazu auch Raymond Boudon, Individual Action
and Social Change: A No-Theory of Social Change, in: The British Journal of Sociology,
34, 1983, S. 1-18.
Soziologie und Geschichte 411

zu Hause zu bleiben. Die Päpste versuchten daher, diese Zweifel zu zerstreuen. So stellte be-
reits 853 Papst Leo IV. den in der Schlacht getöteten Glaubenskämpfern mit großer Zuver-
sicht den himmlischen Lohn in Aussicht. Sein Nachfolger, Papst Johannes VIII., gewährte
877 den Glaubenskriegern Absolution von ihren kirchlichen Vergehen. Diese Heilsverspre-
chen stellten zwar keine Ablässe dar, da sie sich auf tote Glaubenskämpfer und nicht auf le-
bende Büßer bezogen. Aber in einer Zeit, die so hoch vom Glaubenskrieg dachte, lag es nahe,
die Teilnahme an diesem Kampf als Äquivalent für die Bußleistungen zu betrachten. Vermut-
lich im 11. Jhd. wurde so der Erlaß der Bußstrafe erstmals als Truppenwerbemittel verwen-
det. Damit war der sogenannte Kreuzablaß geschaffen, der Erlaß der Bußstrafen als Beloh-
nung für die Teilnahme an einem Religionskrieg: ‚Erinnert man sich, welche Unbequemlich-
keiten, welche kirchlichen und bürgerlichen Nachteile die kirchlichen Bußstrafen mit sich
brachten, dann begreift man, daß die Büßer ganz eifrig zu diesem Ablasse drängten‘. Da die
kirchlichen Bußstrafen als Ersatzstrafen für die Reinigungsstrafen im Fegefeuer galten, er-
hielt der Ablaß zugleich eine transzendente Bedeutung: Wer ihn erwarb, wurde nicht nur von
den diesseitigen kirchlichen Bußstrafen, sondern auch von den entsprechenden jenseitigen
Strafen im Fegefeuer befreit. Dies bildete ein weiteres starkes Motiv, Ablaß zu begehren.
Beim Ablaß als Truppenwerbemittel blieb es aber nicht. Die Wohltaten des Ablasses wurden
zunächst auf alte und gebrechliche Personen ausgedehnt, sofern sie die Geldmittel bereitstell-
ten, um einen Ersatzmann in den Kreuzzug zu schicken. 1199 wurde von Papst Innozenz III.
allgemein die Spendung eines ausreichenden Geldalmosens als adäquates Äquivalent aner-
kannt, um an den Gnaden der Kreuzablässe teilzunehmen. Damit war der Almosenablaß ge-
schaffen: der Ablaß verwandelte sich von einem Truppenwerbemittel zu einem Mittel des
Gelderwerbs, zu einer immer häufiger geübten Form der Besteuerung der Gläubigen. In dem
Maße, als die Begeisterung für Glaubenskriege in der Bevölkerung abnahm, mußten, um sich
diese Einnahmequelle offenzuhalten, neue Wege zur Erzeugung zugkräftiger Motive für den
Erwerb von Ablässen gesucht werden. Papst Bonifaz VIII. schuf im Jahr 1300 den sogenann-
ten Jubiläumsablaß, der alle hundert Jahre wiederholt werden sollte. Vom Ablaßerwerber war
ursprünglich eine Wallfahrt nach Rom gefordert worden. Wie beim Kreuzablaß wurde aber
auch hier die persönliche Leistung durch eine dingliche Leistung: eine Geldabgabe, ersetzt.
Die große Geldsumme, die dieser Jubiläumsablaß einbrachte, führte dazu, daß das Zeitinter-
vall zwischen zwei Jubiläumsjahren sukzessive verringert wurde: zunächst auf 50, dann auf
33, schließlich auf 25 Jahre. Von 1393 an war der Ablaß nicht nur in Rom, sondern überall in
Europa über Priester erhältlich, die mit den ausgedehntesten Beichtvollmachten ausgestattet
waren. Der Gläubige konnte sich von einem Ablaßpriester zunächst durch Beichte Erlaß der
Höllenstrafen und darauf durch den Erwerb des Ablasses den Erlaß der Strafe des Fegefeuers
und weltlicher Kirchenstrafen verschaffen. Der Erwerb dieser ‚heiligen Ware‘ Ablaß wurde
durch ein eigenes Wertpapier, den Ablaßbrief, bescheinigt. Im Jahre 1477 erließ Papst Sixtus
IV. eine dogmatische Erklärung, durch die der sogenannte Totenablaß eingeführt wurde. Da-
nach war es möglich, Ablaß auch für bereits Verstorbene, für die armen Seelen im Fegefeuer,
zu erhalten.“ (Stegmüller 1969, S. 355f., Hervorhebungen im Original)

Ob die vorgeführte Theorie zur Erklärung der Entstehung des Ablasses (oder
auch die Eingangs geschilderte „Erklärung“ des Zusammenbruchs des
jugoslawischen Staates) richtig ist oder nicht und selbst ob die Einzelfakten
stimmen oder nicht, ist (diesmal) unerheblich. Wichtig ist hier nur das formale
Vorgehen: Der Historiker versucht in der „Erzählung“ der „Geschichte“ zu
zeigen, wie ein Zustand zum nächsten führt und wie man vom Anfang bis zum
Ende möglichst ohne „logische“ Lücke gelangt.
Soziologie und Geschichte 413

„Lücken“ in der kausalen Sequenz noch etwas deutlicher gemacht worden und
damit die in fast allen Fällen gegebene Notwendigkeit, sie durch „historische“
Erzählungen über zusätzliche exogene Randbedingungen zu füllen.
Die mindestens praktische Unmöglichkeit, alle diese exogenen Lücken in ein einziges Se-
quenzmodell hineinzunehmen und erklärend zu „endogenisieren“ ist es dann vor allem, was
den alten, durchaus auch bedrohlichen Traum von dem übergreifenden Gesetz der Geschichte
zur unhaltbaren Utopie werden läßt. Außerdem muß immer mit „Zufällen“ gerechnet werden,
die, an der historisch jeweils „richtigen“ Stelle, einen gerichteten Prozeß in eine ganz andere
Bahn lenken können. Was wäre beispielsweise geschehen, wenn Stauffenberg Hitler wirklich
getötet hätte? Oder was, wenn die Leipziger Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989
gleich nach den 40-Jahresfeiern zur Gründung der DDR aufgrund einer anderen Stimmung
im Politbüro der SED zusammengeschossen worden wäre? Und was, wenn Tito im
Partisanenkrieg gefallen wäre? Bei manchen dieser Beispiele ahnen wir, daß die Geschichte
sehr wohl hätte anders verlaufen können, wie etwa beim Attentat auf Hitler, bei anderen wohl
weniger, wie beim Zerfall der DDR, die ja schon strukturell auf nur sehr schwachen Füßen
stand. Die eigenständige „Wirkung“ von Tito auf die Entstehung des jugoslawischen Ein-
heitsstaates nach 1945 ist schwer einzuschätzen. Aber weil die Verhältnisse dort letztlich im-
mer schon recht indifferent waren, kann man schon von einem großen Einfluß einer einzelnen
charismatischen Person ausgehen. Die Historiker könnten uns sicher mehr dazu erzählen, a-
ber klären kann man solche Fragen letztlich wohl nie: In der Geschichte gibt es weder Wie-
derholungen noch Experimente.

Solche Einzelzufälle, die einer ganzen Geschichte eine andere Richtung geben
können, werden auch als Cournot-Effekte bezeichnet. Dazu gehört auch das
mehr oder weniger akzidentelle Zusammentreffen verschiedener nicht-zufälliger
Entwicklungen an einem bestimmten „historischen“ Punkt.6 Alles kommt
zusammen, wie der Eisberg und die Titanic, und wirklich nicht viel hätte gefehlt,
daß alles auch hätte anders kommen können. Solche Cournot-Effekte können,
weil sie eben auf dem „Zufall“ beruhen, grundsätzlich nur als exogene Einflüsse
narrativ eingefügt werden. Leider weiß man nicht immer, ob es wirklich ein
Zufall war oder irgendeine unerkannte „logische“ Konsequenz des
vorhergehenden Geschehens. Und weil ein Wissenschaftler eigentlich nie so
recht mit der Erklärung zufrieden ist, daß es eben der Zufall war, der alles
bewirkte, sucht er unverdrossen weiter nach Hinweisen, die entweder den Zufall
als unwichtig erscheinen lassen, wie etwa starke „strukturelle“ Kräfte, die den
Zufall letztlich überspielen, oder aber ihn als endogenen Faktor des Geschehens
erkennbar werden lassen, wie etwa Hitler oder Tito als Figuren der Geschichte,
die sich auch in anderen Personen manifestiert hätten, weil die Zeit einfach „reif“
für sie war.

6
Vgl. Raymond Boudon, Theories of Social Change. A Critical Appraisal, Cambridge
1986, S. 173ff. Vgl. zu diesem Problem allgemein auch Fritz W. Scharpf, Games Real
Actors Play. Actor-Centered Institutionalism in Policy Research, Boulder, Col., und Ox-
ford 1997, Kapitel 1: Policy Research in the Face of Complexity, S. 22ff. insbesondere.
414 Die Konstruktion der Gesellschaft

Die Aufgabe der Soziologie

Insgesamt aber wird jetzt vollends klar, daß eine „historische“ Erklärung von der
grundlegenden Logik her nichts anderes ist als das, was auch in einer
soziologischen Erklärung geschieht, die ja auch nicht immer „vollständig“ sein
kann und stets auch immer mit „exogenen“ Annahmen „narrativ“ gefüllt werden
muß: Es müssen immer die jeweiligen Randbedingungen korrekt beschrieben
und es muß daran anschließend das Handeln der Akteure „verstehend“ erklärt
werden, dessen Folgen dann wieder wenigstens einen Teil der Randbedingungen
für die nächste Sequenz bilden. Aber es können nicht alle wichtigen
Randbedingungen wiederum in derselben Analyse ihrerseits erklärt werden.
Beschreiben und „verstehen“ müssen also auch die Soziologen, und „erklären“
wollen ja auch die meisten Historiker. Und beide müßten eigentlich der gleichen
Methodologie folgen – dem Modell der soziologischen Erklärung. Warum dann
also überhaupt noch zwei verschiedene Disziplinen?
Das ist eine gute Frage, die allein deshalb meist nur verlegene Antworten
nach sich zieht, weil es in der Tat kaum einen wirklich stichhaltigen Grund für
die Trennung von Soziologie und Geschichte gibt. Eigentlich sollte es, wie das
im übrigen auch schon Karl Marx gemeint hatte, nur eine Wissenschaft von der
Gesellschaft und ihrer geschichtlichen Entwicklung geben. Wir wollen hier aber
einen Gedanken von Raymond Boudon und François Bourricaud aufgreifen, die
eine interessante und wohl auch fruchtbare Form der Arbeitsteilung zwischen
Soziologie und Geschichte vorgeschlagen haben.7 Danach sollte die Soziologie
sich auf die Ausarbeitung von abstrakteren Zusammenhängen insbesondere in
der Form der sog. Strukturmodelle spezialisieren, und die Historiker sollten sich
mehr ihrer besonderen Stärke zuwenden, der detailgenauen Untersuchung und
Beschreibung historischer Einzelereignisse und dem Aufspüren, der Über-
prüfung und der Einordnung der geschichtlichen Quellen.

Strukturmodelle

Was Strukturmodelle sind, haben wir bereits in Kapitel 1, „Emergenz und


Transformation“, dieses Bandes erläutert. Es sind Musterlösungen für formal
ähnliche Konstellationen, die auf ganz unterschiedliche inhaltliche Pro-
blemfelder angewandt werden können – sofern die situativen und „historischen“
Bedingungen eine Anwendung tatsächlich zulassen.

7
Raymond Boudon und François Bourricaud: Geschichte und Soziologie, in: Raymond
Boudon und François Bourricaud, Soziologische Stichworte, Opladen 1992a, S. 165-173.
Soziologie und Geschichte 415

In Kapitel 1 war, im Anschluß an den Vorschlag von Boudon, das exit-voice-and-loyalty-


Modell von Albert O. Hirschman als ein Musterbeispiel für ein solches Strukturmodell ge-
nannt worden. Es ist zunächst nichts weiter als ein vereinfachendes Modell einer sozialen
Konstellation mit typischen Folgen, jeweils auf der Grundlage einiger typischer Annahmen
über die Konstellation. In diesem Fall sind dies die Annahmen, daß sich Akteure einem ge-
wissen „Angebot“ gegenübersehen, auf das sie sich einlassen können oder auch nicht, daß sie
für den Fall, daß sich das Angebot verschlechtert, nur zwei Alternativen haben – der Über-
gang zu einem anderen „Anbieter“ oder der Versuch, den bisherigen Anbieter zu einer Wie-
derherstellung der ursprünglichen Qualität zu bewegen, exit oder voice also in der Sprache
von Hirschman, daß die Wahl einer Alternative von ihrem jeweils erwarteten Nutzen abhängt,
daß es bei Vorliegen einer gewissen „loyalty“ auch dann nicht sofort zu einem exit kommt,
wenn die Alternative „exit“ die höhere Nutzenerwartung hat, und – vor allem – daß bei leich-
ten exit-Möglichkeiten – ceteris paribus – gegen die Leistungsverschlechterungen weniger
protestiert wird als bei schwierigen exit-Bedinmgungen und daß damit auch die Produktquali-
täten im jeweiligen „System“ sinken.

Mit diesem Modell lassen sich, sozusagen auf einen Schlag, so unterschiedliche
Phänomene wie das Fehlen sozialer Bewegungen in Nord-Ost-Brasilien, das
niedrige Niveau der öffentlichen Bildungsanstalten der amerikanischen Ostküste
oder die Lethargie vieler französischer Universitäten allesamt über das gleiche
abstrakte Strukturmuster erklären – ein enormer Gewinn im Preis-
Leistungsverhältnis der Analyse, die nun eben nicht immer wieder das (exit-
voice-)Rad von Hirschman neu erfinden muß.
Andere Strukturmodelle mit ähnlichen Vereinfachungsleistungen wären etwa das Modell von
Boudon zur Erklärung der Reproduktion von sozialen Ungleichheiten auch bei einer Expan-
sion der Berechtigungen zur Besetzung von Positionen, das wir oben in Abschnitt 7.1 darge-
stellt haben, oder auch das sog. habit-Modell, das wir in Band 1, „Situationslogik und Han-
deln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ in verschiedenen Zusammenhängen, etwa in Kapitel 8,
benutzt haben (und in den folgenden Bänden immer wieder und in ganz verschiedenen Zu-
sammenhängen nutzen werden), um die bemerkenswerte Trägheit zu erklären, mit der Men-
schen an eingelebten Verhältnissen hängen.

Die Besonderheit solcher Strukturmodelle ist, daß sie einerseits auf einer Reihe
allgemeiner Annahmen beruhen und andererseits auf eine große Vielzahl von
inhaltlich ganz unterschiedlichen und historisch durchaus einmaligen Vorgängen
angewandt werden können:
„Es geht hier (bei der Formulierung von Strukturmodellen; HE) nicht um die Ermittlung em-
pirischer Regelmäßigkeiten, sondern um die Konstruktion von Schemata, die sich bei ent-
sprechender Spezifikation auf Wirklichkeiten anwenden lassen, die ihrem Erscheinungsbild
nach sehr verschiedenartig sein können.“ (Boudon und Bourricaud 1992a, S. 173)

Mit Hilfe solcher „allgemeiner“ Strukturmodelle lassen sich dann also sowohl
ganze Klassen inhaltlich spezifischer Phänomene, wie auch ganz einzigartige
historische Vorgänge (er)klären – wie erneut durch das Modell von Hirschman
Ehescheidungen einerseits oder die Frage, warum es in den Vereinigten Staaten
keinen Sozialismus gibt.
416 Die Konstruktion der Gesellschaft

Strukturmodelle sind dabei „mehr“ als bloß formale Modelle, etwa solche von gewissen Situ-
ationskonstellationen, wie sie in der Spieltheorie entwickelt worden sind, oder solche
bestimmter dynamischer Prozesse, wie etwa in den Wachstums- oder Diffusionsmodellen
(vgl. dazu auch schon Kapitel 1 in diesem Band). Die Strukturmodelle können solche
formalen Modelle als „Module“ durchaus enthalten. Allein daraus ergeben sich ja schon
weitere beträchtliche Vereinfachungen der Analyse: Wenn man etwa erkannt hat, daß eine
gewisse historische Situation dem Typ eines Gefangenendilemmas oder dem eines Chicken
Game entspricht, dann wäre eine ganz bestimmte Folge davon mit dem Hinweis auf das
Modell des Gefangenendilemmas „erklärt“ (vgl. dazu auch schon das Beispiel der
Appeasement-Politik gegen Hitler in Abschnitt 7.4 oben in diesem Band). Und man müßte
nicht wieder mühevoll auch dieses Rad neu erfinden – was viele tun, die von den formalen
Modellen nichts wissen. Anders als die formalen Modelle verweisen die Strukturmodelle
jedoch immer auch schon auf gewisse inhaltliche Elemente, wie etwa die Alternativen exit
oder voice oder den verzögernden Sachverhalt der Loyalität im Modell von Hirschman.

Mit der Suche nach und der Ausarbeitung von Strukturmodellen tun die
Soziologen also ohne Zweifel etwas, das für die Soziologie typisch ist und von
manchem Historiker mit einer Mischung aus Argwohn und Überheblichkeit
betrachtet wird – sie verallgemeinern. Aber sie verallgemeinern nicht wie ein
Historiker, der einen ganzen Komplex von Ereignissen begrifflich zusammenfaßt
und etwa vom „Bürgertum“ oder von den „Kreuzzügen“ spricht und dabei
jeweils auch ganze Muster von auch „kausalen“ Zusammenhängen und Abläufen
meint, ohne die kausalen Muster genauer zu benennen (vgl. dazu auch noch den
Exkurs über die Frage, wie sinnvoll es ist, „Typen“ der Gesellschaft zu
unterscheiden im Anschluß an Abschnitt 9.2 dieses Bandes). Und sie
verallgemeinern auch nicht in der in der Weise, wie das etwa die alte Soziologie
des sozialen Wandels versucht hat: Es wird bei den Strukturmodellen eben nicht
nach übergreifenden Gesetzen des Wandels oder der Evolution gesucht. Aber es
geschieht auch deutlich mehr, als bloß das Geschehen noch einmal abstrakt zu
beschreiben. Man geht, sozusagen ausgerüstet mit einem Werkzeugkasten von
Mustermodellen und mit wenigen systematischen Hypothesen vorbereitet, gezielt
an die Sache, und die Kunst besteht dann darin, hinter den bunten
Beschreibungen und der Unzahl von Einzelinformationen das Muster eines (oder
mehrerer) Strukturmodelle wiederzuerkennen. Es empfiehlt sich dabei
selbstverständlich jeweils, noch einmal sorgfältig hinzusehen und immer noch
einmal genauer zu überprüfen, ob die jeweiligen Anwendungsbedingungen auch
tatsächlich gegeben sind. Dabei wären die kritischen Analysen der Historiker
besonders wichtig. Wenn aber die Anwendbarkeit gegeben ist, vereinfacht sich
die Analyse sofort ganz beträchtlich: Man „weiß“ jetzt für ganze Komplexe von
Abläufen, die den Bedingungen eines bestimmten Strukturmodells genügen,
warum alles so geschah, weil das zuvor einmal bei der Konstruktion des
Strukturmodells geklärt worden war. Und das reicht nun.
Soziologie und Geschichte 417

Strukturtheorien als „Theorien mittlerer Reichweite“

Verschiedene Strukturmodelle können dann ihrerseits wieder nach Belieben


aneinandergereiht werden – wenn das die historischen Umstände nahelegen. Die
Übergänge zwischen den Stadien werden also mit ganzen Bausteinen fertiger
Strukturmodelle gefüllt, und es muß „nur“ narrativ begründet werden, daß die
nötigen Randbedingungen für die Anwendbarkeit der jeweiligen Strukturmodelle
auch tatsächlich gegeben sind. Für ganze Komplexe von inhaltlichen
Problemfeldern können dann wiederum typische Kombinationen von
Strukturmodellen bzw. von formalen Modellen zu einer übergreifenden, wie wir
sie nennen wollen, Strukturtheorie dieses Gegenstandsbereichs zusammengefaßt
werden, etwa die Strukturtheorie von Revolutionen oder die der Entstehung von
Institutionen. Die „soziologische Theorie“ bestünde dann letztlich aus nichts
anderem als aus einem Arsenal von Strukturtheorien für die verschiedenen
inhaltlichen Bereiche, einschließlich des Hauptgegenstandes der Soziologie –
dem der Gesellschaft als soziales System ganz allgemein.
Robert K. Merton hat solche Theorien für gewisse Problembereiche einmal
als Theorien mittlerer Reichweite bezeichnet: Es sind deutlich mehr als bloße
Beschreibungen, etwas anderes als leere Generalisierungen, aber auch keine
übergreifenden „Gesetze“, die „alles“ aus einem generellen Prinzip oder einer
allgemeinen Entwicklungslogik erklären könnten.8
Die Entwicklung von Strukturmodellen und von Strukturtheorien (mittlerer
Reichweite) wäre damit die erste Aufgabe der Soziologie. Sie sind erkennbar
mehr als bloße Hilfen bei der aggregierenden Transformation individueller
Effekte in kollektive Sachverhalte. Es sind zu einheitlichen Modellen
zusammengefaßte und inhaltlich wenigstens teilweise schon spezifizierte
Komplexe von soziologischen Erklärungen. Wenn es sie gibt und wenn sie unter
den Sozialwissenschaftlern bekannt sind, geht es bei der „Erklärung“ der
konkreten Abläufe fast so zu wie an einem Stammtisch von langjährigen
Saufbrüdern: Man muß sich die Witze nicht mehr umständlich erzählen, sondern
ruft sich gegenseitig die inzwischen etablierten Nummern der Witze bzw. die
Bezeichnungen der Modelle zu. Am Stammtisch schüttelt sich alles vor Lachen,
wenn jemand etwa die Nummer 43 ruft. Auf einem Vortrag zur Erklärung des
Zerfalls des jugoslawischen Staates würde etwa jemand nur sagen müssen:
Nullsummenkonflikt, „trust game“ und „soziales Framing“ – und schon würden
alle stumm nicken, wissen, was gemeint ist und verstehen, warum sich die
Menschen, die zuvor friedlich nebeneinander gelebt hatten, plötzlich mit

8
Robert K. Merton, Social Theory and Social Structure, 11. Aufl., New York und London
1967, S. 9.
418 Die Konstruktion der Gesellschaft

blutigem Haß verfolgen, weil es durch die jeweiligen Strukturmodelle „erklärt“


ist. Die anwesenden Historiker würden, falls sie ebenfalls mit den
Strukturmodellen vertraut wären, sicher ebenso beifällig nicken und noch das
eine oder andere Detail beisteuern können. Und der Streit würde dann wohl
allenfalls darüber beginnen, ob die Anwendbarkeit des Strukturmodells oder der
jeweiligen Theorie mittlerer Reichweite gegeben ist oder nicht, aber nicht darum,
ob die Geschichte nur ideographisch-deskriptiv und die Soziologie nur
nomothetisch-explanativ vorgehen könne und ob das jeweils andere Fach den
Gegenstand komplett verfehle.

Ein Beispiel für eine Strukturtheorie: die Situationslogik ethnischer Konflikte

Damit die Konzeption der speziellen Aufgaben der Soziologie – im Unterschied


zu dem, was die Historiker so gerne und so trefflich tun, aber auch im
Unterschied zu dem, was manche Soziologen unter soziologischer „Theorie“
verstehen – und insbesondere damit die Idee von den Strukturmodellen und den
Struktutheorien noch etwas deutlicher wird, seien abschließend die Umrisse einer
Strukturtheorie (mittlerer Reichweite) der Entstehung und der Dynamik von
ethnischen Konflikten skizziert. Es handelt sich um ein Modell, das so
möglicherweise auf keinen der empirisch vorfindbaren Einzelfälle ethnischer,
religiöser und regionaler Konflikte anwendbar ist, aber Elemente enthält, die auf
die eine oder andere Weise überall vorkommen: beim Konflikt etwa in
Nordirland, in Somalia, in Burundi und Ruanda, beim amerikanischen
Bürgerkrieg, in Kanada, in Spanien mit dem Baskenkonflikt oder im heutigen
Rußland und seinem Konflikt in Tschetschenien. Die Grundlage ist, wie könnte
es anders sein, das Modell der soziologischen Erklärung, und die Grundidee ist,
daß sich die verschiedenen Stadien und Zusammenhänge aus einer gewissen
inneren Situationslogik der Abläufe und jeweils gesondert zu erklärender
„Anschlüsse“ ergeben.
Das strukturtheoretische Modell der Situationslogik ethnischer Konflikte enthält sechs typi-
sche Phasen bzw. Erklärungsprobleme. Das erste Problem ist die Frage nach dem strukturel-
len Grund für den Konflikt zwischen bestimmten gesellschaftlichen Gruppen. Daran schließt
sich zweitens das Problem der Mobilisierung der Gruppen und drittens die Frage an, warum
es mit der Mobilisierung zu einer affektuellen und kulturellen Aufladung des Konfliktes
kommt. Das ist das Problem des ethnischen, religiösen, emotionalen oder allgemein des kul-
turellen Framings des Konfliktes. Unter bestimmten Umständen gewinnen die Mobilisierung
und das (ethnische) Framing eine eigene Dynamik der gegenseitigen Steigerung, die hier als
Eskalation des Konfliktes bezeichnet werden soll. Das fünfte Problem ist dann die Verbrei-
tung des
Soziologie und Geschichte 419

Konfliktes über die meist engen Grenzen der zunächst nur beteiligten Gruppen hinaus, und
das sechste schließlich die Frage nach den Umständen der Auflösung des Konfliktes, mög-
lichst wieder aus mit dem Prozeß selbst gegebenen endogenen Vorgängen.9

Die Strukturtheorie ethnischer Konflikte besteht also aus der Verknüpfung von
sechs Problembereichen und damit befaßten „Modulen“: die Konstitution eines
strukturellen Konfliktes, die Mobilisierung der Konfliktparteien, die kulturelle
Rahmung der Orientierungen und der Handlungen der Akteure, die Eskalation
des Konfliktes, die Verbreitung in der weiteren Population und schließlich der
„endogene“ Verfall des Konfliktes. Jedem dieser sechs Problemfelder wäre nun
mindestens ein formales Modell oder ein spezielles Strukturmodell zuzuordnen.
Und in der empirischen Analyse käme es darauf an, die Bedingungen für die
Anwendbarkeit der jeweiligen Modelle narrativ zu belegen bzw. zu zeigen,
worin die Abweichung bestand.
Das erste Problem ist die Frage nach dem strukturellen Hintergrund aller ethnischen Konflik-
te. Nach dem hier vorgeschlagenen Modell liegt dieser Hintergrund stets in einem „konstitu-
tionellen“ Interessen-Konflikt, so wie er in Abschnitt 4.3 von Band 1, „Situationslogik und
Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ konzipiert worden war: Zwei Gruppen von Akteu-
ren kontrollieren unterschiedliche Arten von Ressourcen, deren Wert davon abhängt, welche
„Verfassung“ jeweils gilt, wobei jeweils immer nur eine Gruppe von einer Verfassung profi-
tiert. Hinzu muß kommen, daß die beiden Gruppen nur wenig an generalisiertem Kapital kon-
trollieren, das seinen Wert auch auch unabhängig von irgendeiner spezifischen Verfassung
hat. Formal beschreibt diese Situation ein sog. Konstant- oder Nullsummenspiel, eventuell
sogar in der Art eines Negativsummenspiels, bei dem die eine Partei auf Kosten der anderen
Partei nur weniger zu verlieren hat. Das ist insbesondere bei Gruppen der Fall, deren Le-
bensweisen sich sehr unterscheiden und denen es jeweils kaum möglich ist, dafür eine Alter-
native zu finden. Der strukturelle Hintergrund ist also ein „konstitutionelles“ Interesse an der
Bewahrung oder Durchsetzung einer hohen Bewertung eines spezifischen Kapitals, das umso
höher ist, je mehr die jeweilige Gruppe zu verlieren hat, wenn die jeweils andere Gruppe ob-
siegt und je geringer die gemeinsamen Interessen der beiden Gruppen sind. Das wäre das ers-
te Modul der Strukturtheorie ethnischer Konflikte (vgl. dazu Abschnitt 4.3 von Band 1, „Si-
tuationslogik und Handeln“, sowie Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundla-
gen“). Ohne diese Konstellation würde es zu den nächsten Phasen erst gar nicht kommen.
Kein noch so starkes „konstitutionelles“ Interesse aber bringt ein Aggregat von Akteuren
dazu, dieses Interesse auch kollektiv wahrzunehmen. Das ist die nächste Phase und das zweite
Problem, das es jeweils zu klären gilt: die Mobilisierung der Gruppe. Den Grund für dieses
Problem hat Mancur Olson schon vor einiger Zeit in einer Kritik an der Revolutionstheorie
von Karl Marx aufgezeigt: Die erfolgreiche Mobilisierung einer Gruppe ist ein sog. Kollek-
tivgut, das auch denen zugute kommt, die nichts dafür getan haben. Weil aber der Erfolg un-
gewiß ist, die Risiken und Kosten einzelner Aktionen für die betreffenden Akteure aber si-
cher und hoch sind, unterbleiben kollektive Mobilisierungen meist – wenn nicht zusätzliche
Anreize hinzutreten, wie etwa ein Heilsversprechen oder die soziale Kontrolle in der Nahum-

9
Vgl. ausführlicher dazu Hartmut Esser, Die Situationslogik ethnischer Konflikte. Auch ei-
ne Anmerkung zum Beitrag „Ethnische Mobilisierung und die Logik von Identitätskämp-
fen“ von Klaus Eder und Oliver Schmidtke (ZfS 6/98), in: Zeitschrift für Soziologie, 28,
1999, S. 245-262.
420 Die Konstruktion der Gesellschaft

gebung. Das wäre das zweite Modul: die Theorie des kollektiven Handelns nach Olson mit
den Bedingungen, unter denen kollektive Mobilisierungen dennoch gelingen (vgl. dazu noch
ausführlich Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
An dieser Stelle wird der dritte Aspekt, das soziale Framing des Konfliktes, wichtig. Das
soziale Framing von Situationen ist ein Vorgang, bei dem die Akteure die Perspektive ihrer
Orientierung und ihres Handelns aufgrund gewisser Ereignisse von einer eher individualis-
tisch-rationalen Orientierung auf eine kollektiv-emotionale Orientierung umstellen, etwa in
Form einer ethnischen Identifikation, aber auch einer religiösen oder einer sonstigen „ge-
meinschaftlichen“ Rahmung mit solidarischen kollektiven Affekten. Hier werden Prozesse
der kollektiven Definition der Situation bedeutsam, ausgelöst meist von „signifikanten“ Sym-
bolen, die die Erinnerung an ganze „kulturelle Systeme“ und „mentale Modelle“ der Grenz-
ziehung und Abwertung nach außen und der bedingungslosen Solidarität nach innen aktivie-
ren und verstärken. Möglich und erleichtert werden solche kulturellen und emotionalen Rah-
mungen durch bis dahin eher latente, aber in den Gedächtnissen der Akteure vorhandene Er-
innerungen an ähnliche Grenzziehungen und frühere Auseinandersetzungen – und durch den
Gewinn, den eine kollektive Mobilisierung insgesamt erbringen würde. Ohne solche latenten
Erinnerungen und ohne irgendwelche „Gewinne“ aus dem kollektiven Framing bleiben alle
Rahmungsversuche, die etwa auch die jeweiligen Eliten beginnen würden, folgenlos. Bei den
beschriebenen konstitutionellen Interessenkonflikten sind solche Versuche jedoch sehr plau-
sibel und gelingen dann auch sozusagen aus dem Nichts heraus (vgl. zum sozialen Framing
insbesondere noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Hinzuzufü-
gen wäre noch, daß sich das soziale Framing und die kollektive Mobilisierung gegenseitig
verstärken können: Mit erkennbaren Akten der Mobilisierung der einen Seite muß die jeweils
andere Seite damit rechnen, daß sich die Definition der Situation geändert hat, und das wie-
derum gibt Anlaß zur eigenen Mobilisierung und kollektiven Rahmung der Situation.
Mit dem einmal begonnenen Framing des Konfliktes als „Gruppen“-Prozeß sind alle Ak-
teure der jeweiligen Gruppen gezwungen, die Situation nur noch als antagonistisch wahrzu-
nehmen, selbst wenn sie selbst nicht aggressiv oder gruppenbezogen gesonnen sind: Da mit
einer hohen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, daß der jeweils andere Akteur die ei-
gene Zurückhaltung ausnutzen würde, bleibt niemandem etwas anderes übrig als die eigene
präventive Aggression. So entsteht nahezu automatisch das vierte Stadium – die Eskalation
des Konfliktes. Das Ergebnis ist der gnadenlose Krieg aller gegen alle. Die formale Grund-
struktur der Situation ist die eines Gefangenendilemmas und des Prozesses eines Rüstungs-
wettlaufs, aus dem es bekanntlich endogen keinen einfachen Ausweg gibt (vgl. dazu insbe-
sondere noch Band 3, „Soziales Handeln“, und Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“,
dieser „Speziellen Grundlagen“). Das ist das vierte Modul der Strukturtheorie ethnischer
Konflikte.
Sind in den Konflikt, wie oft, die Eliten der jeweiligen Gruppen verwickelt oder tragen
ihn gar im wesentlichen allein, dann tritt das fünfte Problem, die Verbreitung über die gesam-
te Gesellschaft oder Region, nicht gesondert auf. Jetzt werden ja über herrschaftliche Akte
ohnehin alle Ressourcen der jeweiligen Gruppen „mobilisiert“. Ist das jedoch nicht der Fall,
könnte der Konflikt bald versanden. Nun kommt es darauf an, ob andere Gruppen mit dem
Anlaufen des Konfliktes gewisse Chancen zur Wahrnehmung ihrer eigenen Interessen sehen.
Auf diese Weise kann sich ein eskalierender, aber zunächst nur auf wenige Gruppen begrenz-
ter Konflikt auch eigendynamisch verbreiten und die ganze Region bzw. Gesellschaft nach
und nach erfassen – je nach Verteilung der Bereitschaften über die verschiedenen Gruppen,
sich der „Bewegung“ anzuschließen. Hier werden die in Band 1, „Situationslogik und Han-
deln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ bereits angesprochenen Schwellenwert- und Diffusi-
onsmodelle bedeutsam, um verschiedene Verläufe der Mobilisierung und der Verbreitung
von Protesten verständlich zu machen (vgl. zu anderen Modellen dieser Art noch Band 4,
Soziologie und Geschichte 421

„Opportunitäten und Restriktionen“, und Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grund-


lagen“ ausführlich). Das wäre das fünfte Modul.
Ein einmal angelaufener und nachhaltig ethnisierter Konflikt ist von sich aus kaum noch
zu beenden. Das ist der sechste Problembereich des Modells. Der Grund für diese Eigendy-
namik ist der gleiche, der für die Eskalation verantwortlich ist. Nun ist die Beendigung des
Konfliktes ist ein Gefangendilemma: Jeder, der zuerst aufhören würde, verlöre alles, und des-
halb wird bis zum bitteren Ende weitergemacht, falls nicht ein externer Leviathan auftaucht,
der, etwa in Gestalt der UNO oder der NATO, dem Treiben ein Ende macht. Allerdings gibt
es auch einen endogenen Grund dafür, daß der Konflikt nicht endlos so weitergeht. Das ist
die Aufzehrung der Reserven und die zunehmende Drohung eines gemeinsamen Untergangs
bei Fortsetzung des Konflikts. Dadurch wandelt sich – aufgrund alleine der Fortsetzung des
Konfliktes! – das Gefangenendilemma der Konfliktbeendigung nach und nach in ein sog.
Chicken Game, und dabei kommt es nur darauf an, wer als erster die Nerven verliert und ein-
seitig aufhört. Allerdings sind solche Verhältnisse nicht stabil, und es beginnen nach den di-
versen „Waffenstillständen“ die Auseinandersetzungen immer wieder bald aufs Neue. Dies-
mal sind aber die Chancen für ein freundliches Ende schon deutlich besser: Wenn jetzt „nur“
noch ein gewisses gemeinsames Interesse hinzutritt, etwa ein gemeinsamer Gegner oder die
Aussicht auf gemeinsame ökonomische Vorteile, dann gibt es bald auch Grund, dem anderen
nicht mehr nur zu mißtrauen. Und so kann sich, unter gewissen Bedingungen, auch wieder
eine Situation einer Evolution einer Kooperation ergeben, bei der, wenn sie anhält, die Akteu-
re später nicht mehr wissen wollen, was einmal an schrecklichen Dingen geschehen ist. Für
dieses sechste und letzte Modul gibt es, wie man sieht, also ein ganzes Arsenal von formalen
Modellen der Spieltheorie – Gefangenendilemma, Chicken Game, Assurance Game u.a., auf
die wir insbesondere noch in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ zu
sprechen kommen werden.

Die grobe Skizze einer Strukturtheorie der ethnischen Konflikte könnte dann so
aussehen wie in Abbildung 8.2. Mit Hilfe dieses Modells wäre es nun
beispielsweise möglich, den Fall Jugoslawiens, der zu Beginn dieses Kapitels
eher historisch beschreibend dargestellt worden war, noch einmal systematisch
zu rekonstruieren und in seinem Ablauf über die „narrative“ Begündung für die
Einsetzbarkeit der jeweiligen Module zu erklären.
Der strukturelle Hintergrund des Konfliktes ist nach den Beschreibungen der Lage Jugosla-
wiens überdeutlich: Die katholischen Kroaten und Slowenen im Norden kontrollierten seit je
her das ökonomische, die orthodoxen Serben im Süden das politische Kapital – und sonst je-
weils nichts. Das alleine erklärt schon den durchgehenden Verfassungskonflikt mit den kroa-
tischen und slowenischen Föderalisten im Norden und den serbischen Zentralisten im Süden.
Für die Mobilisierung der Gruppen sorgten jeweils am Erhalt ihrer Positionen interessierte E-
liten, bei den Serben nicht zuletzt auch mit Unterstützung durch die von ihnen kontrollierte
Armee. Die Koinzidenz der kulturellen, ethnischen und religiösen Zugehörigkeiten und eini-
ge ältere, sowie gewiß auch die jüngeren Erinnerungen an die Vorgänge im Zweiten Welt-
krieg erleichterten dann das ethnische Framing dieses massiven Interessen-Konfliktes ganz
beträchtlich. Das jedoch erst nach der Verdünnung der gemeinsamen Interessen der verschie-
denen Gruppen, dem Verfall der charismatischen Kraft von Tito und dem zunächst schlei-
chenden, dann aber immer mehr beschleunigten Zusammenbruch der institutionellen Grund-
lagen des zuvor durchaus vorhandenen Vertrauens unter den Gruppen. Mit der einmal begon-
nenen Erosion des Vertrauens und dem Anlaufen der Ethnisierung begann dann ein sich ge-
genseitig verstärkender Wettlauf von Präventivmaßnahmen, Provokationen und Reaktionen
darauf, der schließlich das ganze Land und auch jene erfaßte, die sich dagegen gestemmt ha-
Soziologie und Geschichte 423

Noch einmal: die Aufgaben der Soziologen und die der Historiker

Die von Boudon und Bourricaud vorgeschlagene Arbeitsteilung zwischen


Soziologie und Geschichte wäre aber wohl eine für alle akzeptable Lösung der
nun einmal vorhandenen Unterschiede, nicht nur im Vorgehen, sondern auch in
den Talenten und Fachkulturen hier und dort. Allein deshalb müßten auch
Historiker sich für die Strukturmodelle und Strukturtheorien der Soziologen
interessieren können, wie sie in den folgenden Bänden der „Speziellen
Grundlagen“ noch ausführlich zur Sprache kommen werden. Und auch die
Soziologen sollten sich ein Beispiel an der Detailverliebtheit und analytischen
Schärfe historischer Rekonstruktionen nehmen, wie etwa die der Einordnung des
kürzlich erst gefundenen Dienstkalenders Himmlers und des Versuchs der
Beantwortung der Frage, wie es im Laufe des Jahres 1941 zu dem unglaublichen
Beschluß zur Vernichtung der Juden durch die Nazi-Führung kam, auch wenn
dadurch kaum erklärt werden kann, warum es zum Faschismus in Deutschland
(und anderswo) mitten im 20. Jahrhundert überhaupt kommen konnte.
Kapitel 9

Die Gesellschaft der Menschen

Die Gesellschaft ist jenes besondere soziale System, das keine soziale Umge-
bung mehr hat. Sie zieht die weiteste Grenze der sozial nutzbaren materiellen
und technischen Möglichkeiten, der Geltung der institutionellen Regeln, des
Sinns der kulturellen Bezugsrahmen und der Bedeutung der damit verbunde-
nen Symbole, und sie umfaßt dabei alle anderen sozialen Systeme und
konkreten sozialen Gebilde. Darüber herrscht eine in der Soziologie ansonsten
unübliche Einigkeit – bis hinein in die neuesten und auch die wunderlichsten
Varianten der sog. Gesellschaftstheorie.1
Die Gesellschaft ist dabei, wie das mit Peter L. Berger und Thomas Luckmann in der Einlei-
tung ganz zu Beginn von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, und in Kapitel 2 dieses
Bandes der „Speziellen Grundlagen“ noch einmal systematisch festgehalten wurde, das Er-
gebnis einer „gesellschaftlichen Konstruktion“: Sie konstituiert und wandelt sich als soziales
System in der wechselseitigen Begrenzung und Ermöglichung der psychischen Systeme in
Gestalt der menschlichen Akteure und der kulturellen Systeme der sozial geteilten und sym-
bolisierten mentalen Modelle der Orientierung und des Handelns. Diese Konstruktion der Ge-
sellschaft als Ko-Konstitution und Ko-Evolution von sozialen, psychischen und kulturellen
Systemen läßt sich im Rahmen des Modells der soziologischen Erklärung, wie wir in den vo-
rangegangenen Kapiteln auch schon gesehen haben, als fortlaufende situationslogische Se-
quenz des Dreierschrittes der Logik der Situation, der Logik der Selektion und der Logik der
Aggregation rekonstruieren. Die Grundlage des Geschehens ist die von den Akteuren zu ih-
rem Überleben angestrebte Reproduktion des Alltags und die Produktion und Verteilung der
dazu nötigen Ressourcen.

Diese, von den menschlichen Akteuren getragene, auf sie selbst wieder zu-
rückwirkende und sie als vergesellschaftete Subjekte jeweils wieder konstitu-
ierende Konstruktion geht stets von typischen Strukturen aus – und mündet
stets wieder darin. Die Strukturen der Gesellschaft entstehen und „bestehen“

1
Vgl. so auch zuletzt noch: Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frank-
furt/M. 1997, S. 78f. Vgl. auch die Übersicht bei Ansgar Weymann, Gesell-
schaft/Gesellschaftstheorie, in: Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie,
Band 1, Hamburg 1999, S. 470-480. Siehe auch Kapitel 20: „Der Begriff der Gesell-
schaft“, in der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“.
426 Die Konstruktion der Gesellschaft

dabei aber nur als Ergebnis von ununterbrochenen Prozessen der beständigen
„Hervorbringung“, von Prozessen, die sich manchmal verfestigen und in ein
übergreifendes, wenngleich im Prinzip stets nur temporäres, Gleichgewicht
eines bestimmten „Typs“ von Gesellschaft münden, etwa den antiken Stadt-
staat oder die großen Reiche in China oder in Indien. In diesem Prozeß der
gleichgewichtigen Reproduktion ändern sich die Strukturen aber immer auch
fortfährend, meist langsam, graduell und unmerklich, gelegentlich aber auch
abrupt, komplett und mit einem Donnerschlag.

9.1 Die Strukturierung der Gesellschaft

Das (soziale) Handeln, das die „Konstruktion“ der Gesellschaft durch die
menschlichen Akteure trägt, folgt, so wissen wir inzwischen auch, den Vor-
gaben der subjektiven Definition der Situation und den Regeln der WE-
Theorie. Es war, nach Karl R. Popper mit seinem Konzept der Situationslogik,
vor allem Robert K. Merton, der diese im Prinzip richtige Annahme von der
stets subjektiven Definition der Situation vor einem allzu leichtfertigen Sub-
jektivismus und Psychologismus zu bewahren versucht hat: Auch die nach
psychologischen Gesetzen ablaufende subjektive Definition der Situation
unterliegt objektiven Vorgaben, ebenso wie das darauf folgende Handeln
(dann) objektiv strukturiert ist und die Aggregation der kollektiven Folgen
selbstverständlich auch.2
Diese Objektivierung bezieht sich insbesondere schon auf die Logik der Si-
tuation, der sich die Akteure immer wieder gegenübersehen: Die überhaupt
nur möglichen Alternativen des Handelns, die Erwartungen und die Bewer-
tungen und darüber dann die Orientierungen der Akteure sind deutlich vor-
strukturiert. Der allgemeine Hintergrund dieser Strukturierung der Logik der
Situation und der möglichen Alternativen sind die Strukturen der Gesellschaft
insgesamt: die Infrastruktur, die soziale Struktur und die Superstruktur (siehe
dazu gleich unten mehr), insbesondere aber die institutionelle „Verfassung“
der Gesellschaft – die Festlegung der primären und der indirekten Zwischen-
güter, der kulturellen Ziele und der institutionalisierten Mittel über die jeweils
geltenden sozialen Produktionsfunktionen.

2
Vgl. zur Rekonstruktion der Art der soziologischen Analyse und des Gesellschaftskon-
zepts von Robert K. Merton: Arthur L. Stinchcombe, Merton’s Theory of Social Structu-
re, in: Lewis A. Coser (Hrsg.), The Idea of Social Structure. Papers in Honor of Robert K.
Merton, New York u.a. 1975, S. 11-33. Siehe auch schon Kapitel 3 und 5 in Band 1, „Si-
tuationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“.
Die Gesellschaft der Menschen 427

Darüber bestimmen sich die drei grundlegenden äußeren Bedingungen der


Situation der Akteure: die materiellen und technischen Opportunitäten, die in-
stitutionellen Regeln und die kulturellen Bezugsrahmen des Sinns des Han-
delns in den Situationen. Sie steuern die objektive Definition der Situation und
legen insbesondere die Alternativen für die Akteure in strukturierter Weise
fest. Die äußeren Bedingungen der Situation, die materiellen Opportunitäten,
die institutionellen Regeln und die kulturellen Bezugsrahmen also, „bestehen“
dabei als Strukturen nur in ihrer beständigen und gleichgewichtigen gesell-
schaftlichen Reproduktion: Die aggregrierten Ergebnisse des strukturierten
Handelns der Akteure wirken derart wieder auf das soziale System der Gesell-
schaft zurück, daß es sie als relativ stabile Gegebenheiten und als „Struktu-
ren“ der Gesellschaft gibt. Der Vorgang der Aggregation des Handelns der
Akteure zu – oft unintendierten – strukturellen Folgen sei als systemische
Konstitution bezeichnet, weil die Konstitution des sozialen Systems der Ge-
sellschaft zwar nur über das Handeln von Akteuren, aber weitgehend unab-
hängig von ihren speziellen individuellen psychischen Verfassungen und Mo-
tiven abläuft.
Die inneren Bedingungen der Situation sind ebenso vorstrukturiert. Es ist
die – durch Willensakte allein nicht zu beeinflussende und in Prozesse der In-
teraktion und der Sozialisation eingelagerte – Identität der Akteure. Erst im
Zusammentreffen der äußeren und der inneren Strukturen der Situation erge-
ben sich die das Handeln leitenden Orientierungen und deren Struktur wieder-
um, und zwar als deutlich strukturierte subjektive Definition der Situation, aus
der sich, vor dem Hintergrund der objektiven Definition der Situation, eine
strukturierte Sicht auf die Situation ergibt. Auch die inneren Bedingungen der
Situation werden beständig neu reproduziert und systematisch strukturiert.
Das geht, wie wir aus der bio-psychologischen und der soziologischen Anth-
ropologie gut wissen, nur über die Einbettung der Akteure in „primäre“
Nahumwelten, in relativ kleine und „insulierte“, selbst wieder stabile und sich
über Interaktionen mit „identisch“ bleibenden Akteuren reproduzierende
Gruppen, genauer in sog. Primär-Gruppen, in Lebenswelten, aber auch über
die Einflüsse und Orientierungen aus den sog. Bezugsgruppen.3 Die Nahum-
welten der (Primär-)Gruppen, Lebenswelten und Bezugsgruppen besorgen
dabei die Vermittlung der äußeren objektiven Bedingungen in die inneren sub-
jektiven Befindlichkeiten der Menschen. Diese (Mikro-)Vermittlung der (Ma-
kro-)Strukturen verläuft typischerweise über Prozesse der Interaktion, speziell
aber der Kommunikation, und der damit zusammenhängenden Vorgänge des

3
Vgl. dazu besonders eindringlich: Dieter Claessens, Das Konkrete und das Abstrakte. So-
ziologische Skizzen zur Anthropologie, Frankfurt/M. 1980, insbesondere Kapitel 2 und 3.
428 Die Konstruktion der Gesellschaft

gänge des sozialen Vergleichs, des sozialen Einflusses und der Identifikation
mit der Gruppe und – allgemein – der Sozialisation der Menschen (vgl. dazu
insgesamt noch Band 3, „Soziales Handeln“, sowie Band 6, „Sinn und Kul-
tur“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). In ihrem Bestand und ihren
jeweils eigenen Strukturen sind die Nahumwelten und die Prozesse der inter-
aktiven Vermittlung selbst wiederum von dem Rahmen der gesellschaftlichen
Reproduktion und den Strukturen der Gesellschaft insgesamt abhängig, und
sie tragen diesen Rahmen und diese Strukturen indirekt über die Strukturie-
rung der Orientierungen der Akteure, wie das etwa in dem Konzept der le-
bensweltlich unterstützten Wertintegration der Gesellschaft angenommen
wird. Sie selbst werden aber nur über das unmittelbare Handeln von in per-
sönlicher Beziehung stehenden Akteuren konstituiert. Dieser Vorgang sei da-
her als soziale Konstitution bezeichnet.
Mit der Strukturierung der Logik der Situation ist auch das Handeln der
Menschen schon deutlich vorstrukturiert. Die Strukturierung des Handelns ist
aber keine Frage der „gesellschaftlichen“ Strukturierung oder der „subjekti-
ven“ Definition der Situation allein, sondern auch eine der Gültigkeit der nun
eingesetzten Handlungstheorie und der psychologischen Annahmen über die
Logik der Selektion des Handelns. Mit der WE-Theorie gibt es für diese „Lo-
gik“ eine einfache, theoretisch fruchtbare und empirisch erfolgreiche Lösung
(vgl. dazu schon die Kapitel 7 und 8 in Band 1, „Situationslogik und Han-
deln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Sie gilt, so wird ange-
nommen, ganz allgemein und ist von räumlichen, sachlichen, gesellschaftli-
chen und historischen Bedingungen unabhängig. Deshalb muß darüber jetzt
nicht mehr viel gesagt werden: Die Logik des Handelns nach der WE-Theorie
ist bio-psychisch strukturiert und in der Hardware des menschlichen Organis-
mus verankert. Sie unterliegt deshalb keinem gesellschaftlichen Wandel,
höchstens einem der biologischen Evolution. Und das dauert.
Die Logik der Aggregation folgt schließlich der Anwendung bestimmter
Transformationsregeln auf die durch das Handeln der Akteure erzeugten indi-
viduellen Effekte unter gewissen Annahmen der sog. Transformationsbedin-
gungen (vgl. dazu ausführlich Kapitel 1 in diesem Band). Es gibt auch dafür
strukturierte „Typen“ von Aggregationen, wie etwa die Modelle der Spielthe-
orie, die von Marktprozessen und von Verhandlungen oder die Modelle der
Diffusion und der Ansteckung, sowie die sog. Strukturmodelle (vgl. dazu auch
schon Kapitel 8 in diesem Band). Über solche Aggregationen sind die Prozes-
se der systemischen Konstitution der gesellschaftlichen Strukturen und die der
sozialen Konstitution der Nahumwelten und der Identitäten der Akteure er-
klärbar. Und ist das geschehen, kann alles von vorne beginnen.
Die Gesellschaft der Menschen 429

Auf diese Weise einer sequentiellen situationslogischen Erklärung lassen


sich – im Prinzip – die Entstehung, die Etablierung und der Wandel der ge-
sellschaftlichen Strukturen und aller ihrer Gebilde und die der „Identitäten“
der daran beteiligten Akteure simultan erklären: als strukturiertes und selbst
wieder strukturierendes Geschehen der wechselseitigen Konstitution von
Mensch und Gesellschaft. Die „Strukturen“ bestehen dabei aus der – relativ –
gleichgewichtigen Reproduktion der äußeren und der inneren Bedingungen
der Situation. Diese gleichgewichtige Reproduktion bildet den funktionalen
Aspekt der Konstruktion der Gesellschaft.
Die in ihrer gleichgewichtigen Reproduktion äußerlich stabilen Strukturen
der Gesellschaft lassen sich im Prinzip als drei verschiedene Ebenen differen-
zieren, die der Unterscheidung der materiellen Opportunitäten, der institutio-
nellen Regeln und der kulturellen Bezugsrahmen folgen (siehe dazu auch
schon oben): die Infrastruktur, die soziale Struktur und die Superstruktur der
Gesellschaft (vgl. dazu auch schon Kapitel 25: „Die Strukturen der Gesell-
schaft“, in der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“). Die „Basis“ der Ge-
sellschaft bildet dabei die Infrastruktur der technischen, der geographischen,
der sonstigen materiellen und, nicht zu vergessen, auch der demographischen
Verhältnisse, Möglichkeiten und Begrenzungen. Sie ist der weiteste Rahmen
für alles, was geschehen kann. Die soziale Struktur beschreibt dann, ganz all-
gemein, die „gesellschaftlichen Verhältnisse“, die sich die Akteure zur Orga-
nisation ihrer alltäglichen Reproduktion zugelegt haben. Sie wiederum umfaßt
verschiedene Aspekte der Ordnung, Differenzierung und Strukturierung.
Zur sozialen Struktur einer Gesellschaft gehört zu allererst die institutionelle Struktur, im
weitesten Sinn also die „Verfassung“ der Gesellschaft und damit die sozialen Produktions-
funktionen. Die damit gegebene Definition der kulturellen Ziele und der institutionellen Mit-
tel liefert dreierlei: erstens die Strukturierung der (latenten) Machtverhältnisse und Interde-
pendenzen aus der Verteilung von Interesse und Kontrolle bei den Ressourcen. Das erzeugt
die Interdependenzstruktur, der die Menschen in der Gesellschaft unterliegen. Zweitens wird
mit den sozialen Produktionsfunktionen die Sinnstruktur der Orientierungen in Form der Co-
des und der Programme für die diversen sozialen Systeme definiert, aus denen die Gesell-
schaft „besteht“. Daran schließt sich die Bewertungsstruktur an, die Rangordnung des Wertes
der Ressourcen und Eigenschaften, die die Akteure unter Kontrolle haben oder anstreben
könnten, einschließlich der Regeln für die Vergabe bestimmter Privilegien und für das Presti-
ge der Eigenschaften und Ressourcen. Daraus ergeben sich die Differenzierungstruktur und
die Ungleichheitsstruktur. Die Differenzierungsstruktur beschreibt die Unterschiedlichkeit der
Gesellschaft in Hinsicht auf ihre sozialen Systeme, die funktionalen Sphären, die kulturellen
Milieus und die Devianz-Bereiche also. Die Ungleichheitsstruktur bezieht sich auf die Unter-
schiedlichkeit in den gesellschaftlichen Lagen der Akteure der Gesellschaft, sei das in hori-
zontaler Hinsicht aus der Aggregation von Akteuren mit ähnlichen Eigenschaften, sei das,
über die Bewertungsstruktur geordnet, in vertikaler Hinsicht. In der horizontalen Dimension
lassen sich dann, entsprechend den Systemen der Differenzierungsstruktur, eine funktionale,
eine kulturelle und eine normative Ungleichheit unterscheiden, und in der vertikalen Dimen-
sion die verschiedenen typischen Formen der sozialen Ungleichheit der Klassen und Stände
430 Die Konstruktion der Gesellschaft

(und des Sonderfalls der Kasten) und der sozialen Schichten. In den diversen Gruppierungen
und Milieus der sog. neuen sozialen Ungleichheit kombinieren sich typische Aspekte der ho-
rizontalen mit Aspekten der vertikalen Ungleichheit. Die Akteure aggregieren sich vor die-
sem Hintergrund in ganz unterschiedliche Typen sozialer Systeme: in soziale Kategorien, auf
denen die soziale Ungleichheit beruht, in soziale Aggregate, kollektive und korporative Ak-
teure (vgl. dazu auch schon Kapitel 2 in diesem Band näher). Diese Formen sozialer Systeme
und Gebilde seien zusammenfassend als die korporative Struktur der Gesellschaft bezeichnet.
Aus alledem ergeben sich dann die Beziehungen der Menschen und der verschiedenen „kol-
lektiven“ Gebilde der korporativen Strukur untereinander, gleichgültig wie sie geregelt sind,
sei es als strategisches Handeln, sei es als über Wissen und Symbole gesteuerte Interaktionen,
sei es als auch normativ geregelte soziale Beziehungen oder in der Form von Transaktionen,
etwa des „Tausches“ der Arbeitskraft gegen Einkommen. Das sei insgesamt die Beziehungs-
struktur unter den Akteuren und sozialen Gebilden (aller Art) einer Gesellschaft.

Über die Infrastruktur und über die soziale Struktur wölbt sich, wie Karl Marx
das ausgedrückt hat, dann, wenngleich nicht unbedingt in allen Gesellschaften
gleichermaßen verbindlich und steuernd, der „Überbau“ einer Superstruktur:
die von den Akteuren geteilten, auf die Gesellschaft als „Ganzes“ gerichteten
und sie trotz aller inneren Spannungen integrierenden „Ideen“ und „kollekti-
ven Repräsentationen“, insbesondere in der Form von Werten, Solidaritäten
und Ideologien, wie etwa die hinduistische Religion in Indien, der Glaube an
die Grande Nation in Frankreich oder der American Dream in den USA. In
Abbildung 9.1 sind die verschiedenen Ebenen und Dimensionen der Struktu-
ren der Gesellschaft zusammengefaßt.
Jede einigermaßen strukturierte Gesellschaft bildet eine reproduktive Ein-
heit der wechselseitigen Konstitution aller dieser Strukturen. Die materiellen
und technischen Möglichkeiten und die damit verknüpften Interessen, Institu-
tionen und Ideen bilden im funktionalen Gleichgewicht ihrer Reproduktion
eine strukturierte Einheit – mit unterschiedlichen Graden der inneren Diffe-
renzierung und Ungleichheit. Und sie bilden in dieser Einheit unverwechsel-
bare „Typen“ der funktionalen Abstimmung und des Gleichgewichts aller ih-
rer Elemente (vgl. dazu auch noch den Exkurs über die Frage, wie sinnvoll es
ist, „Typen“ der Gesellschaft zu unterscheiden, gleich unten im Anschluß an
Abschnitt 9.2). Aber auch die gleichgewichtige funktionale Reproduktion der
Gesellschaft findet, wie wir oben bereits festgehalten haben, nur als fortlau-
fender Prozeß statt. Die gesellschaftlichen Strukturen wandeln sich, selbst in
der äußerlich unverrückbarsten Stabilität, fortwährend, wenngleich meist nur
unmerklich.
Die Gesellschaft der Menschen 431

Superstruktur

soziale Struktur

* institutionelle Struktur
* Interdependenz-Struktur
* Sinnstruktur
* Bewertungsstruktur
* Differenzierungsstruktur

– funktionale Sphären
– kulturelle Milieus
– Devianz-Bereiche

* Ungleichheitsstruktur

– horizontal: funktionale Ungleichheit


kulturelle Ungleichheit
normative Ungleichheit

– vertikal: Klassen und Stände


soziale Schichten
neue soziale Ungleichheit

* korporative Struktur
* Beziehungsstruktur

Infrastruktur

Abb. 9.1: Die Strukturen der Gesellschaft

Oft ist dieser Wandel endogen als eine innere Eigendynamik oder als eine Pfadabhängigkeit
eines einmal eingeschlagenen und kaum noch zu revidierenden Weges angelegt. Es kann aber
auch jederzeit exogene Ereignisse geben, die ein bestehendes Gleichgewicht oder einen vor-
gezeichneten Prozeßablauf unabhängig von der endogenen Eigendynamik stören können (vgl.
dazu schon Abschnitt 7.4 in diesem Band). Von einer endogenen Abweichung oder einer e-
xogenen Störung kann die Gesellschaft dann – unter Umständen – wieder zu dem alten
funktionalen Gleichgewicht zurückfinden. Sie kann aber auch einen ganz anderen Pfad der
durch die Störung eingeleiteten weiteren endogenen Entwicklung einschlagen und zu einem
neuen Gleichgewicht und zu einer neuen Struktur gelangen – oder im Nichts der Geschichte
verschwinden, wie das u.a. dem Römischen Imperium oder der guten alten DDR passiert ist.
432 Die Konstruktion der Gesellschaft

Auch im Prozeß der gleichgewichtigen Reproduktion werden daher immer


wieder im Prinzip neue gesellschaftliche Strukturen hervorgebracht. Das ge-
schieht dann, wenn sich der evolutionäre Prozeß wieder in ein funktionales
Gleichgewicht der Reproduktion einfindet, wobei zur Bildung solcher Gleich-
gewichte der Vorgang der sog. strukturellen Selektion entscheidend ist: Jeder
Wandel von Strukturen beschreibt unvermeidlicherweise eine Sequenz von
definitiv ausgeschlossenen Alternativen und nun erst möglicher, wahrschein-
licher oder gar zwingender nächster Schritte.4 Die fortwährende, mehr oder
weniger rasche und gravierende, prozessuale Änderung der Reproduktion auf
einem nach vorne offenen Pfad der strukturellen Selektion und der, sozusa-
gen, von hinten kausal getriebenen und dadurch auch nach vorne gerichteten
Entwicklung ist der evolutionäre oder historische Aspekt der sozialen Konsti-
tution der Gesellschaft. Dieser Pfad bewegt sich meist nicht linear, sondern in
einem Wechsel von, mehr oder weniger abrupten, Übergängen von einem
funktionalen Gleichgewicht zu einem anderen. Er ist in seiner vergangenen
Entwicklung oft gut zu rekonstruieren, in die Zukunft hinein jedoch grund-
sätzlich nicht vorherzusagen: Es gibt keine „Gesetze“ der Entwicklung von
Gesellschaften oder gar der Geschichte insgesamt, und damit sind auch Prog-
nosen über längerfristige gesellschaftliche Entwicklungen grundsätzlich nicht
möglich.5
Zur Verdeutlichung der beschriebenen Zusammenhänge sei das Konzept
der prozessualen Strukturierung der Strukturen der Gesellschaft und ihres
evolutionär-historischen Wandels in einem vereinfachenden Schema zusam-
mengefaßt. Es lehnt sich an die Rekonstruktion der theoretischen Überlegun-
gen Mertons durch Arthur Stinchcombe an und erweitert und integriert es in
das Modell der soziologischen Erklärung (Abbildung 9.2; vgl. Stinchcombe
1975, S. 13). Die systemische Konstitution der obersten Makroebene der Ge-
sellschaft ist in dem Diagramm über die beiden Prozesse der funktionalen Re-
produktion und des – mehr oder weniger raschen – evolutionären Wandels der
Strukturen der Gesellschaft, der Superstruktur, der sozialen Struktur und der
Infrastruktur, beschrieben. Diese Strukturen strukturieren die materiellen Op-
portunitäten, die institutionellen Regeln, damit insbesondere die sozialen Pro-
duktionsfunktionen, und darüber die kulturellen Bezugsrahmen der „kollekti-
ven Repräsentationen“. Das alles sind, es sei wiederholt, objektive Vorgaben

4
Vgl. dazu programmatisch: Michael Schmid, Soziales Handeln und strukturelle Selektion.
Beiträge zur Theorie sozialer Systeme, Opladen 1998, S. 264ff.
5
Vgl. dazu besonders nachdrücklich: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, 4.
Aufl., Tübingen 1974 (zuerst: 1960), Kapitel 27: Gibt es ein Entwicklungsgesetz? Gesetze
und Trends, S. 83-94; vgl. dazu auch schon die Abschnitte 7.2 und 7.4, sowie Kapitel 8 in
diesem Band.
Die Gesellschaft der Menschen 433

für die Orientierungen und das Handeln der Akteure, wenngleich nur sie –
und nur sie – die Strukturierung der gesellschaftlichen Strukturen tragen. Die
Pfeile „hinein“ in das Diagramm und die wieder „hinaus“ sollen andeuten,
daß es sich um einen Ausschnitt aus einem fortlaufenden Geschehen handelt,
das sowohl eine erklärend-rekonstruierbare Vorgeschichte wie eine – in Gren-
zen und mit vielen Vorbehalten freilich – auch prognostizierbare Zukunft hat.
Das Diagramm enthält in geraffter Form (fast) alles, was in den „Allgemei-
nen“ und den „Speziellen Grundlagen“, teilweise in recht vertiefender Weise,
zur Sprache kommt und zum Verständnis und zur Erklärung der Konstruktion
der Gesellschaft nötig ist. Es kann auch zur Lokalisierung der vielen Einzel-
heiten im Gesamtzusammenhang des Konzeptes der soziologischen Erklärung
und der Konstruktion der Gesellschaft benutzt werden, die dabei behandelt
und verstanden werden müssen.
Die Gesellschaft der Menschen 435

9.2 Die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft

Die Gesellschaft der Menschen hat sich geschichtlich in einer Abfolge der
Bildung, der Auflösung und der Neukonstitution von funktionalen Gleichge-
wichten entwickelt, ausgehend von den weitgehend unbekannten Anfängen
aus den Horden der Hominiden über die Urgesellschaften der Jäger und der
Sammler, die Gartenbau- und Agrargesellschaften, die antiken Stadtstaaten
und Imperien, die asiatischen Reiche und die europäischen Feudalgesellschaf-
ten des Mittelalters bis zu den heutigen Formen der „modernen“ industriellen
Großgesellschaften. Es war ein stetiger Wechsel der gleichgewichtigen funk-
tionalen Reproduktion und des evolutionären, manchmal auch des abrupt-
revolutionären Übergangs auf einen jeweils historisch ganz neuen „Typ“ des
Gleichgewichtes, meist eingeleitet durch gewisse „revolutionäre“ Erfindun-
gen, wie die Kultivierung von Pflanzen, die Einführung des Pfluges, der
Dampfmaschine, des Telephons und des Fernsehens, zum Beispiel. In einer
groben Einteilung läßt sich diese Entwicklung als die Abfolge von drei Typen
der gesellschaftlichen Reproduktion mit zwei Übergängen zusammenfassen:
als Übergang vom Typ der sog. segmentär differenzierten Gesellschaften zu
den sog. stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften und von dort zu den
sog. funktional differenzierten Gesellschaften.
Die drei Typen der segmentär, der stratifikatorisch und der funktional differenzierten Gesell-
schaften unterscheiden sich insbesondere in der jeweils ganz speziellen Kombination von so-
zialer Differenzierung und sozialer Ungleichheit. In den segmentär differenzierten Gesell-
schaften gibt es, natürlich nur typisierend-vereinfachend gesehen, weder eine besondere sozi-
ale Differenzierung noch eine nennenswerte soziale Ungleichheit. Die stratifikatorisch diffe-
renzierten Gesellschaften weisen sowohl eine ausgeprägte soziale Differenzierung, vor allem
die einer gesellschaftlichen Funktionsaufteilung, wie eine deutliche soziale Ungleichheit auf.
In den funktional differenzierten Gesellschaften schließlich gibt es eine starke soziale Diffe-
renzierung und extreme Formen der funktionalen Arbeitsteilung, und gleichzeitig die Auflö-
sung der systematischen Zuordnung der Akteure zu den funktionalen Positionen. Dadurch
entkoppeln sich dort die soziale Differenzierung der sozialen Systeme und die soziale
Ungleichheit der Akteure. Und als Folge sinkt das Ausmaß der sozialen Ungleichheit unter
den Menschen, wenngleich in keiner Weise wieder auf den Egalitarismus der segmentären
Gesellschaften.

In diesem Abschnitt werden wir den Vorgang der Entwicklung der menschli-
chen Gesellschaft über die drei Typen der gesellschaftlichen Differenzierung
kurz skizzieren.6 Es ist, sozusagen, eine auch historisch ausgreifende Über-

6
Wir stützen diese Skizze insbesondere auf die Übersichten bei Gerhard Lenski, Macht und
Privileg. Eine Theorie der sozialen Schichtung, Frankfurt/M. 1973, Kapitel 5-13; Gerhard
Lenski und Jean Lenski, Human Societies. An Introduction to Macrosociology, 5. Aufl.,
New York u.a. 1987, insbesondere die kurze Übersicht in Kapitel 4: Types of Human So-
cieties; Marvin Harris, Kulturanthropologie. Ein Lehrbuch, Frankfurt/M. und New York
436 Die Konstruktion der Gesellschaft

sicht über die gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse, um die es in den


„Speziellen Grundlagen“ geht: die Entstehung von sozialer Ordnung und so-
zialem Wandel und alle damit zusammenhängenden Einzelvorgänge, vor al-
lem die des sozialen Handelns und der damit zusammenhängenden Prozesse
der Konstitution und des Wandels der Infrastruktur, der sozialen Strukturen
und der Superstruktur von Gesellschaften.

9.2.1 Segmentär differenzierte Gesellschaften

Ursprünglich haben die Menschen in kleinen insulierten Gruppen zusammen-


gelebt.7 Von „Gesellschaft“ konnte man dabei noch nicht reden, weil die (Le-
bens-)Welt der kleinen Gruppe mit der „Gesellschaft“ zusammenfiel. Erst in
der Zusammenfassung solcher kleiner Gruppen zu größeren Verbänden, etwa
einer Horde, entsteht „Gesellschaft“, wahrscheinlich durch bloße Bevölke-
rungsvermehrung und Teilung der Gruppen. Horden sind dabei nichts weiter
als die „Addition“ der kleinen Gruppen, die man nun auch als Familien be-
zeichnen könnte, weil sie ab jetzt schon eine besondere „Funktion“ haben: die
demographische Reproduktion. Größere Einheiten sind schon dreistufig auf-
gebaut, etwa über Familien, Dörfer und Stämme. Die Besonderheit ist die ge-
genseitige Unabhängigkeit, die dadurch mögliche Autonomie und die Ähn-
lichkeit der Gruppen untereinander, die die „Gesellschaft“ der Horden bzw.
der Stämme ausmachen: Wenn eine Gruppe ausfällt, stört das den Gesamtver-
band so gut wie nicht, und eine Gesellschaft kann durch eine einfache „Zell-
teilung“ wachsen, ohne daß sich irgendetwas ändert.
Dieses Muster der Unterteilung einer Gesellschaft in prinzipiell gleich
strukturierte und autonom und unabhängig operierende Untereinheiten wird

1989, insbesondere die Kapitel 4 bis 12 und 16; Stephen K. Sanderson, Macrosociology.
An Introduction to Human Societies, 2. Aufl., New York 1991; Harold R. Kerbo, Social
Stratification and Inequality. Class Conflict in Historical and Comparative Perspective, 3.
Aufl., New York u.a. 1996, Kapitel 3: Social Stratification in Human Societies: The
History of Inequality; Thomas Schwinn, Soziale Ungleichheit und funktionale Differen-
zierung. Wiederaufnahme einer Diskussion, in: Zeitschrift für Soziologie, 27, 1998, S. 3-
17; Luhmann 1997, Kapitel 4: Differenzierung. Vgl. insgesamt zur Unterscheidung von
segmentärer und funktionaler (arbeitsteiliger) Differenzierung natürlich: Emile Durkheim,
Über die Teilung der sozialen Arbeit, Frankfurt/M. 1977.
7
Claessens 1980, Kapitel 2. Siehe auch Kapitel 12 der „Soziologie. Allgemeine Grundla-
gen“.
Die Gesellschaft der Menschen 437

als segmentäre Differenzierung bezeichnet.8 Die frühen Jäger- und Sammler-


gesellschaften, aber auch einige heute oder bis vor kurzem noch existierende
Gesellschaften, etwa die der Ureinwohner Australiens, die Pygmäen und
Buschmenschen in Afrika oder einige Indianerstämme in Nordamerika gehö-
ren dazu. Es sind, wie Emile Durkheim das ausgedrückt hat, Gesellschaften,
die „aus einer einfachen Wiederholung von Grundsubstanzen“, den „Horden“,
bestehen, und „deren Teile sich untereinander nicht unterscheiden“ (Durk-
heim 1977, S. 215).

Strukturen

Die Infrastruktur der segmentär differenzierten Gesellschaften besteht aus


sehr einfachen Mitteln der Reproduktion, insbesondere der Nahrungsmittel-
produktion, der Behausung, der Herstellung von Werkzeugen und Waffen und
des Transports. Die Technik der Metallverarbeitung ist unbekannt. Die Grup-
pen sind zahlenmäßig sehr klein, so daß sich beispielsweise eine über die Ge-
schlechterrollen hinausgehende Arbeitsteilung nicht einrichten läßt. Die Effi-
zienz der Produktion ist sehr gering, mit der Folge, daß die Gruppen beständig
am Rande des Existenzminimums leben. Und deswegen gibt es auch keinen
Überschuß an Ressourcen, den es zu verteilen gäbe.
Das zentrale Kennzeichen der sozialen Struktur der segmentär differenzier-
ten Gesellschaften ist die Existenz einer einzigen, übergreifenden sozialen
Produktionsfunktion mit einem einzigen Imperativ: Nahrungssicherung. Eine
irgendwie geartete funktionale Differenzierung gibt es so gut wie nicht, wenn-
gleich gewisse „Funktionen“, wie die der politischen Herrschaft durch einen
Häuptling oder die der Spannungsbewältigung durch einen Schamanen,
durchaus schon an dazu auserkorene Personen übertragen werden. Das sind
aber keine institutionalisierten Funktionen, sondern sie unterliegen sehr stark
den jeweiligen „Leistungen“ der Personen. Wegen des Fehlens der funktiona-
len Differenzierung gibt es – im Prinzip – auch nur einen Code und ein Pro-
gramm des Handelns. Das Kennzeichen der segmentär differenzierten Gesell-
schaften ist, kurz gesagt, die funktionale Diffusität. Es fehlen – daher – auch
die anderen Formen der sozialen Differenzierung: Es gibt nur ein kulturelles
Milieu, und Devianz-Bereiche sind unbekannt. Abweichungen werden unver-
züglich und „repressiv“ geahndet, meist mit der Eliminierung des Missetäters.

8
Vgl. dazu näher Durkheim 1977, S. 215ff.; Lenski 1973, Kapitel 5: Jäger- und Sammler-
gesellschaften; Harris 1989 passim; Kerbo 1996, S. 57ff.; Luhmann 1997, Kapitel 4, Ab-
schnitt IV: Segmentäre Gesellschaften, S. 634ff.
438 Die Konstruktion der Gesellschaft

Besondere Privilegien und ein besonderes Prestige gibt es ebenfalls kaum,


und wenn, dann ausschließlich (wieder) auf personalisierter Basis, vor allem
aufgrund besonderer Leistungen, etwa als erfolgreicher Jäger, mutiger Krieger
oder weiser Alter. Allein schon wegen der fehlenden Ressourcen gibt es auch
keine soziale Ungleichheit. In den Jäger- und Sammlergesellschaften herrscht
der Urkommunismus der Notgemeinschaften. Und schon wegen der geringen
Größe und aufgrund der fehlenden Interessengegensätze zwischen irgendwel-
chen Untergruppen ist auch an irgendeine Form der korporativen Strukturie-
rung nicht zu denken. Die Beziehungen der Menschen finden als unmittelbare
Zusammenkunft und als Interaktion statt, meist als eine Art von symbolischer
Interaktion und Gestenkonversation und – vor allem – über die mündliche
Sprache.
Die Superstruktur der geteilten Ideen und Ideologien spiegelt die extreme
Abhängigkeit der Gruppen von der äußeren Natur und deren Zufälligkeiten
wider. „Zufall“ kann als „Erklärung“ für unerklärliche Ereignisse nicht akzep-
tiert werden. Das wäre unerträglich. Für alles sind Geister und magische
Mächte verantwortlich, auf die man in allerlei ritueller Weise Einfluß zu neh-
men versucht (vgl. dazu auch schon Abschnitt 6.6 in Band 1, „Situationslogik
und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ über das sog. prälogische Den-
ken der sog. Primitiven). Animismus und der Glaube an eine Ordnung des
Kosmos, jedenfalls nicht an einen personalisierten „Schöpfer“ Gott, sind die
typischen Kennzeichen der gedanklichen Konstruktionen, um mit dem Unfaß-
baren fertig zu werden, das immer sehr nah ist.

Konstitution und Integration

Die Reproduktion der segmentär differenzierten Gesellschaften erfolgt aus-


schließlich über Formen der sozialen Konstitution: Die „Gesellschaft“ ist die
„Lebenswelt“, und jede Systemintegration geschieht über die soziale Integra-
tion. Jeder sieht beständig jeden, und alles ist von allem und jeder von jedem
abhängig. Für individuelle Abweichungen von den grundlegenden Imperati-
ven ist wenig Platz, und es herrschen eine ausgeprägte kollektive Identität und
Identifikation mit der Gruppe insgesamt. Segmentäre Gesellschaften sind, wie
das Marcel Mauss einmal ausgedrückt hat, totale soziale Phänomene, in denen
alles seine funktionale Bedeutung und Unentbehrlichkeit hat. Das gilt auch in
einer anderen Hinsicht: Der „Totalität“ der Stammesgesellschaft können sich
die Akteure nicht entziehen. Sie sind voll inkludiert – oder ganz draußen. We-
gen der persönlichen Begegnungen entwickelt sich gleichwohl eine hohe
„Personalität“ in den Beziehungen, in denen die – im Rahmen der Gruppe
Die Gesellschaft der Menschen 439

bleibende – individuelle Eigenart der Menschen in hohem Maße respektiert


wird. Wegen des Fehlens jeder Alternative und wegen der extremen Abhän-
gigkeit der Akteure voneinander ist der Zusammenhalt der Gruppen keinerlei
„Problem“. Er erfolgt nahezu automatisch. Emile Durkheim sprach daher ganz
treffend auch von der „mechanischen“ Solidarität der Menschen aus der Ähn-
lichkeit ihrer Befindlichkeiten und der Stärke der kollektiven Identifikationen
heraus (Durkheim 1977, S. 111ff.).
Die Wege zur Nutzenproduktion, zu sozialer Wertschätzung vor allem,
sind in den segmentären Gesellschaften extrem kurz. Und dies erleben die
Menschen – bei aller sonstigen Begrenzung – als durchaus angenehm: Sie
fühlen sich in ihrer Lebenswelt geborgen und hätten für „individuelle“ Selbst-
verwirklichung wenig Sinn. Die wäre auch gar nicht möglich, weil das Netz
der sozialen Kontrolle allein wegen der Übersichtlichkeit der Gesellschaft so
dicht ist. Wegen der in segmentären Gesellschaften immer großen Ressour-
cenknappheit und starken Abhängigkeit von den Bedrohungen aus der Umge-
bung der Gruppe besteht gleichzeitig eine gewisse Unterversorgung mit den
Lebensmitteln für das physische Wohlbefinden. Darum vor allem empfinden
die Menschen das Leben in der solidarischen Enge der einfachen Stammesge-
sellschaften nicht immer nur als angenehm. Und darum haben sie immer auch
nach Wegen gesucht, den derart „geschlossenen“ Gesellschaften zu entkom-
men (vgl. dazu auch noch die Anmerkungen zu „Gemeinschaft und Gesell-
schaft“ in Abschnitt 9.3 sowie den Exkurs über Entfremdung gleich im An-
schluß daran in diesem Band).
Der Typus der segmentär differenzierten Gesellschaften hat die Geschichte
der Menschheit bei weitem am längsten bestimmt (vgl. Lenski und Lenski
1987, S. 83ff.; Kerbo 1996, S. 57f.). Man schätzt, daß es die segmentären Ge-
sellschaften der Jäger und Sammler seit mehr als 14000 Jahren gibt. Sie wan-
delten sich extrem langsam, wenn überhaupt. Zuerst traten vor etwa 12000
Jahren Fischergesellschaften an ihre Seite, dann vor etwa 8000 Jahren die
Gartenbau- und Hirtengesellschaften. Anfangs waren sie praktisch der einzige
Typ von Gesellschaft. Mit dem Aufkommen der anderen Formen der Gesell-
schaft nahmen sie in absoluten und relativen Anteilen immer mehr ab. Heute
gibt es sie praktisch nicht mehr. Außer in der Eifel, in der Pfalz und in Köln-
Zollstock.

Übergänge

Die Entwicklung von den segmentären hin zu den stratifikatorisch differen-


zierten Gesellschaften kommt u.a. durch die Entdeckung in Gang, daß einige
440 Die Konstruktion der Gesellschaft

der Pflanzen, von denen die Ernährung abhing, angebaut und kultiviert wer-
den konnten. Hinzu kommen erste Geräte, wie der Grabstock, die Hacke und
später der Holzpflug. Schließlich werden die künstliche Bewässerung ent-
deckt, die Düngung des Bodens, erst durch Brandrodung, dann durch Überflu-
ten, später auch durch den Fruchtwechsel. Und alles beschleunigt sich endgül-
tig mit dem Gebrauch von Metall und der Erfindung von Metallwerkzeugen
(vgl. Lenski 1973, S. 164ff.; Kerbo 1996, S. 61f.).
Die wohl wichtigste Folge ist die Erzeugung eines merklichen Surplus.
Nun werden Mittel frei, die das Bevölkerungswachstum beschleunigen und
eine bereits ausgebautere Arbeitsteilung erlauben. Jetzt gibt es auch etwas zu
verteilen, und nennenswerte Grade der sozialen Ungleichheit werden möglich.
Hierdurch kann es – erstmals – eine Oberschicht geben, die sich auf die Orga-
nisation größerer gesellschaftlicher Einheiten durch „Herrschaft“, sozusagen,
spezialisieren kann. Es ist der Beginn der stratifikatorischen Differenzierung,
wie sie vor allem in den sog. Agrargesellschaften des Mittelalters vorherr-
schend war. Den ersten Übergang dazu dürften gewisse Ansammlungen von
Ansiedlungen gebildet haben, an denen sich erste Zentralfunktionen, wie ein
Markt oder eine Schiedsstelle, ankristallisierten und den Vorgang der Zentra-
lisierung verstärkten:
„Der Differenzierungsvorgang kann also irgendwo und irgendwie beginnen und dann die ein-
getretene Abweichung verstärken. Unter vielen Siedlungen bildet sich ein bevorzugter Ort, an
dem Zentralisierungsvorteile sich wechselseitig stützen, so daß schließlich eine neue Dif-
ferenz von Stadt und Land entsteht. Erst dadurch werden die übrigen Siedlungen zu ‚Dörfern‘
im Unterschied zur Stadt und richten sich allmählich darauf ein, daß es auch eine Stadt gibt,
in der ein anderes Leben gelebt werden kann als im Dorf und die als Umwelt des Dorfes des-
sen Möglichkeiten verändert.“ (Luhmann 1997, S. 598f.)

Kurz: Es bildet sich eine Differenz zwischen einem Zentrum und einer Peri-
pherie heraus. Und an dieser Differenz wird eine ganz neue Art der gesell-
schaftlichen Reproduktion möglich: die über „Herrschaft“ und soziale Un-
gleichheit organisierte „Arbeitsteilung“ zwischen Gruppen von Akteuren in
relativ großen und untereinander zusammenhängenden gesellschaftlichen
Verbänden.

9.2.2 Stratifikatorisch differenzierte Gesellschaften

Unter stratifikatorischer Differenzierung wird jener Typus von Gesellschaften


gefaßt, bei dem die soziale Differenzierung nach sozialen Systemen mit der
sozialen Ungleichheit der Akteure koinzidieren und – so muß man es schon
sagen – festumrissene Gruppen von Akteuren die sozialen Systeme bilden. Es
Die Gesellschaft der Menschen 441

ist ein System einer stark nach Rechten und Prestige geschichteten Aufgaben-
und Machtverteilung zwischen typisch verschiedenen und scharf voneinander
abgegrenzten Gruppen, und eine Kreuzung der sozialen Kreise ist so gut wie
unbekannt. Anders als bei den segmentär differenzierten Gesellschaften wird
dadurch eine ausgeprägte gesellschaftliche Arbeitsteilung und die Organisati-
on auch großer Bevölkerungen zu integrierten Gesellschaften möglich. Zu den
stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften in diesem Sinne sind schon die
Stadtstaaten in Griechenland und die großen Staatsgesellschaften der Antike
zu zählen, dann aber insbesondere die großen Reiche in Asien und die Feu-
dalgesellschaften des europäischen Mittelalters (vgl. dazu Lenski 1973, Kapi-
tel 8 und 9; Kerbo 1996, S. 64-72; Luhmann 1997, Kapitel 4, Abschnitt VI).
Die antiken, die asiatischen und vor allem die europäisch-mittelalterlichen
Staatsgesellschaften dieses Typs der stratifikatorischen Differenzierung waren
alle nach einem ähnlichen Prinzip aufgebaut: ein System des Tausches von
Organisation und Schutz durch die Herrschaft einer Oberschicht bzw. einer
staatlichen Zentralgewalt gegen gewisse Gegenleistungen und die Abtretung
von Rechten von seiten des (gemeinen) Volkes, das freilich oft genug nicht
wußte, worin die „Gegenleistung“ der Oberschicht eigentlich bestand.
Eine solche Organisation von Funktionen über eindeutig zugeordnete Ag-
gregate von Akteuren geht natürlich nur, wenn die sozialen Systeme dieser
Organisation fest mit der Zuordnung der Akteure verkoppelt sind, am sichers-
ten und daher am besten über die Geburt. Daher sind stratifikatorisch diffe-
renzierte Gesellschaften in aller Regel auch Adelsgesellschaften, und das
selbst dann, wenn, wie in Rom oder China, der „Adel“ aus hohen Beamten,
Militärs oder anderen Experten bestand, und wenn es auch andere Wege der
Rekrutierung als über die Geburt, und hier und da auch Mobilität gab. Immer
bleibt es jedoch bei deutlichen Unterschieden im Zugang und Einfluß zwi-
schen einer (sehr) kleinen Oberschicht und dem breiten „Rest“ der Gesell-
schaft. Diese Oberschicht eines Adels besteht daher auch eben nicht (nur) als
Aggregat von „Individuen“, sondern als soziales System, und es ist, wie Nik-
las Luhmann treffend schreibt, „eine Ordnung von Familien, nicht von Indivi-
duen.“ (Luhmann 1997, S. 679; Hervorhebung nicht im Original)

Strukturen

Die Infrastruktur der Feudalgesellschaften, an denen wir uns bei der Be-
schreibung der stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften insbesondere
orientieren wollen, beruht vor allem auf den technischen Grundlagen der ent-
wickelten Agrargesellschaften: Metallpflüge, die Nutzung tierischer Energie,
442 Die Konstruktion der Gesellschaft

neue Formen der Architektur, des Bauens und des Verkehrs, sowie – nicht zu-
letzt – eine gänzlich veränderte Militärtechnik, in deren Mittelpunkt die Be-
wegung großer Heere stand. Damit verbunden waren ein (weiteres) deutliches
Wachstum der Bevölkerung und die Ausweitung beherrschbarer Territorien.
Feudalgesellschaften waren Kriegsgesellschaften. Die grundlegende Sub-
sistenzbasis ist weiterhin die Landwirtschaft, und die überwältigende Mehr-
heit der Bevölkerung bestand aus Bauern. Es gibt, ausgehend von „zentralen“
Agglomerationen von Siedlungen, eine Vielzahl von Städten, oft mit einer
Hauptstadt als dem Zentrum einer weiten Peripherie, wobei jedoch weite Tei-
le in der Peripherie der „Reiche“ lange Zeit nicht einmal wußten, daß sie ei-
nem Reiche angehörten – bis der Inspektor des Zentralherrschers damit be-
gann, den Tribut zu fordern, Steuern einzutreiben und zum Waffendienst zu
rekrutieren. Die Städte dominierten, obwohl die städtische Bevölkerung nur
eine sehr kleine Minderheit war, das Umland in nahezu jeder Hinsicht: poli-
tisch, ökonomisch, kulturell und religiös.
Die soziale Struktur der stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften ist
durch eine überaus interessante Form der Definition der sozialen Produktions-
funktionen bestimmt: Feudalgesellschaften beruhen schon auf einer Art von
ausgeprägter arbeitsteiliger „Organisation“ der Gesellschaft mit der Zuwei-
sung fester, funktional definierter, aber sehr unterschiedlich bewerteter Posi-
tionen zu bestimmten Gruppen der Bevölkerung: Adel, Priester, Ritter, Hand-
werker, Händler, Bauern bilden soziale Kategorien und funktionale Systeme
gleichzeitig. Über dieser, sozusagen: ständisch-funktionalen, Differenzierung
der Gruppen und Funktionen herrscht eine alle Gruppen übergreifende soziale
Produktionsfunktion: Die mit den herrschenden Oberschichten verbundene
Ehre und deren Insignien sind der allgemeine Imperativ der Gesellschaft, und
der Adel ist das politische und kulturelle Zentrum der Gesellschaft. Daran an-
knüpfend gibt es deutliche Unterschiede in Privilegien und im Prestige zwi-
schen den Gruppen, die mit der Nähe der Gruppen zur Oberschicht variiert.
Stratifikatorisch differenzierte Gesellschaften beruhen insofern auf einer ü-
bergreifend geteilten Bewertungsstruktur von Prestige und Privilegien, unter-
stützt durch die Kontrolle staatlich organisierter Macht, insbesondere von
Verwaltungen und militärischen Einheiten:
„Von Stratifikation wollen wir nur sprechen, wenn die Gesellschaft (überall!; HE) als Rang-
ordnung repräsentiert wird und Ordnung ohne Rangdifferenzen unvorstellbar geworden ist.“
(Ebd.; Hervorhebung nicht im Original)

Alles dreht sich in den stratifikatorisch differenzierten (Feudal-


)Gesellschaften also um die ständische Ehre, um den Herrscher und um den
Adel als dem Zentrum der Herrschaft und der Kultur der gesamten Gesell-
schaft: Der Staat, das bin ich, kann der absolute Herrscher mit Recht sagen.
Die Gesellschaft der Menschen 443

Neben der großen Anzahl an Bauern auf dem Lande gab es, vor allem in
den Städten, dann jedoch schon eine enorme Vielfalt an Berufen und funktio-
nalen Spezialisierungen: Beamte, Priester, Gelehrte, Schreiber, Kaufleute,
Diener, Soldaten, Handwerker, Arbeiter und sogar auch den „Beruf“ der Bett-
ler. Alle hatten ihren wohldefinierten Platz im Gefüge der Gesellschaft – hori-
zontal nach ihren Funktionen und den kulturellen Stilisierungen, und vertikal
nach Prestige, Privilegien und Macht. Selbst die sog. unehrenhaften Tätigkei-
ten waren, wennzwar verachtet, so doch gesellschaftlich als unentbehrlich an-
erkannt, wie die der Prostituierten, der Henker oder der Rikscha-Kulis. Nur
wenige Personen waren ausgeschlossen und „entbehrlich“. Und um die küm-
merten sich die Einrichtungen der Mildtätigkeit, mit denen sich die Staatsreli-
gionen auch umgaben, nicht zuletzt wohl, um nicht vollends ihre Glaubwür-
digkeit zu verlieren. Nur mit den Abweichlern, vor allem denjenigen, die es
wagten, die feudale Gesellschaftsordnung insgesamt in Frage zu stellen und
so verwegene Gedanken wie den der Gleichheit der Menschen zu predigen,
ging man erbarmungslos um. Nennenswerte Devianz-Bereiche gab es daher,
wenn überhaupt, nur in Gestalt der Gruppe der „Entbehrlichen“, der entlaufe-
nen Strafgefangenen, der Deserteure, der Vogelfreien und der Vagabunden
etwa. Ohne Zweifel gab es auch Varianzen innerhalb der verschiedenen
Gruppen, wie reiche und arme Kaufleute oder einen unteren und einen oberen
Adel. Am „ständischen“ Aufbau der Gesellschaft und an der festen Inklusion
der Menschen unter dem Dach des Herrschers und der herrschenden Ober-
schicht ändert das nichts. In stilisierter Weise läßt sich der Aufbau einer strati-
fikatorisch differenzierten Gesellschaft wie in Abbildung 9.3 darstellen (nach
Lenski 1973, S. 377).
Da die ständisch voneinander differenzierten Gruppen selbst wiederum je-
weils spezifische funktionale Zuordnungen haben, gelten in ihnen jeweils
wieder spezifische soziale Produktionsfunktionen und damit jeweils spezifi-
sche kulturelle Ziele bzw. Codes der Orientierung und Programme des Han-
delns – immer freilich im „Rahmen“ des übergreifenden Ober-Frames der
ständischen Ehre und der Feudalordnung insgesamt. Am deutlichsten ist das
bei den Zünften und Gilden sichtbar. Durch die funktionale Untergliederung
hängen die Gruppen, wenigstens latent, stark voneinander ab, wenngleich mit
deutlichen Unterschieden in der Macht, die sie übereinander ausüben. Und
daher sind auch die Oberschichten alles andere als allmächtig, und in den
funktionierenden Adelsgesellschaften galt das noblesse oblige nicht ohne
Grund: Feudalgesellschaften sind Systeme des Tausches funktionaler Leis-
tungen zwischen kompletten Gruppen von Akteuren.
Die Gesellschaft der Menschen 445

„Zur regierenden Klasse zu gehören, war gleichbedeutend mit dem verbrieften und durch die
höchste Macht im Land garantierten Recht darauf, am wirtschaftlichen Surplus, den die Bau-
ernmassen und die Handwerker in den Städten produzierten, zu partizipieren. Dies war der
Lohn dafür, daß die Angehörigen dieser Klasse für die Aufrechterhaltung der Autorität des
bestehenden Regimes im allgemeinen und des Herrschers im besonderen sorgten und ihr die
nötige Geltung verschafften.“ (Lenski 1973, S. 296)

Feudalgesellschaften sind daher, nun eigentlich leicht verständlich, die Ge-


sellschaften mit den höchsten Graden der (relativen) Ungleichheit in der Ge-
schichte der Menschheit. Und auch die anderen Unterschiede in den sozialen
Produktionsfunktionen und den Handlungsmöglichkeiten zwischen den Mit-
gliedern verschiedener Gruppen könnten größer nicht sein als in den derart
nach Ständen oder gar nach Kasten geschichteten Feudalgesellschaften. Das
liegt allein schon daran, daß es dort „allgemeine“ und „gleiche“ Rechte –
„Bürgerrechte“ zum Beispiel oder politische und soziale Rechte – eben nicht
gibt. Ganz im Gegenteil: Gerade die Ungleichbehandlung, etwa bei den glei-
chen Straftaten, ist der Normalfall, und sie wird geradezu erwartet, auch von
denen, für die es beim gleichen Delikt die härtere Sanktion gibt. Die Unter-
schiede zwischen den Gruppen folgen auch daraus, daß es – anders als in den
Stammesgesellschaften mit ihrer ganz „diffusen“ Verteilung von Interessen
und funktionalen Imperativen – eine sehr spezifische Verteilung und Kombi-
nation von Interessen, funktionalen Aufgaben und kulturellen Stilen gibt: Die
gesamte gesellschaftliche Varianz ist eine solche, die zwischen den Gruppen
besteht. Innerhalb der Gruppen sind die Menschen einander sehr ähnlich. Und
sie können sich kaum etwas anderes vorstellen als ihr von Geburt an zugeteil-
tes und vorbestimmtes Leben.
Mit der funktionalen Zuordnung der Gruppen gibt es jedoch auch schon
deutliche Interessenkonstellationen, sowohl nach innen wie nach außen. Da-
her entstehen auch bald korporative Strukturen der verschiedenen Gruppen,
am ausgeprägtesten noch da, wo die Positionen nicht durch feste Privilegien
abgesichert sind, wie bei den Zünften und Gilden der Handwerker und der
Kaufleute. Dort gibt es auch strenge Regeln des Umgangs miteinander und
mit den Angehörigen der anderen Gruppen. In stratifikatorisch differenzierten
Gesellschaften sind daher die funktionalen Sphären mit den kulturellen Milie-
us
deckungsgleich. Und weil hier die sozialen Systeme aus den zu „Ständen“
aggregierten Menschen „bestehen“, ist auch die funktionale Ungleichheit
der Menschen mit ihrer kulturellen Ungleichheit fest verbunden. Am ausge-
prägtesten sind diese Verhältnisse in den Kastengesellschaften zu finden.
Auf diese Weise entstehen deutliche kulturelle Differenzierungen und typi-
sche Lebensweisen der funktional verschiedenen Gruppen, wobei der beson-
446 Die Konstruktion der Gesellschaft

dere

„Lebensstil“ der adligen Oberschichten, insbesondere mit der sorgfältig ge-


pflegten Attitüde des Müßiggangs, als ein für (fast) alle erstrebenswertes Ideal
erscheint, den man sich jedoch nicht leisten kann oder darf:
„Die Oberschicht ist nach Existenz, Stil und Geschmack selektiv. Die Unterschicht hat es mit
Notwendigkeiten zu tun. Die Oberschicht führt Jagdhunde, die Unterschicht Maultiere; die
Oberschicht schläft lange, die Unterschicht muß vor dem Sonnenaufgang aufstehen.“ (Luh-
mann 1997, S. 686)

Typisch für die stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften ist schließlich


die peinlich eingehaltene Beschränkung der Interaktionen auf Angehörige der
jeweils eigenen Gruppe, insbesondere auch bei der Heirat. Der Verkehr zwi-
schen den Gruppen ist auf das stärkste mit allerlei Regeln der Etikette verse-
hen. Die Akteure begegnen sich gerade hierbei nicht als „individuelle“ Perso-
nen, sondern als Vertreter ihres jeweiligen Standes, und sie haben daher auch
eine ganz bestimmte kollektive Orientierung auf ihre jeweilige Gruppe, ein
Standesbewußtsein, wie wir noch heute sagen.
Mit der allgemeinen Lebenslage der Akteure in den stratifikatorisch diffe-
renzierten Gesellschaften ist dann schließlich nur eine ideologische Super-
struktur vereinbar, die das weltliche Herrschaftssystem auch kosmologisch
legitimieren kann. Daher verwundert es kaum, daß nun die animistischen Vor-
stellungen zurücktreten und solche eines personalisierten Gottes plausibler
werden, der die Welt schafft und sie lenkt und mit der Geistlichkeit eine
machtvolle und unumstrittene Vertretung auf Erden hat. Und die Geistlichkeit
tut, weil sie damit von der staatlichen Herrschaft profitieren kann, alles, damit
aus den überkommenen lokalen und lokal variierenden Kulten und Magien
des Geisterglaubens ein zentralisiertes und wohlorganisiertes Gebilde zur
kosmologischen Legitimation des weltlichen Ordnungsgefüges wird. Staat
und Kirche gehen so eine für beide Seiten profitable, wenngleich oftmals sehr
unheilige, Allianz ein. Und die Masse der Bevölkerung, gerade auf dem Lan-
de, folgt den geistlichen Legitimatoren der weltlichen Macht. Der Grund für
diese Gefolgschaft war dann auch naheliegend: Wer nicht sichtbar an eine
Entlohnung im Jenseits glaubte, hatte schon hienieden von den weltlichen
Mächten, mit denen sich die Geistlichkeit verbündet hatte, nicht viel zu erwar-
ten.
Die Gesellschaft der Menschen 447

Konstitution und Integration

In den stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften gibt es – ganz anders als


vorher bei den Horden der Urgesellschaften – mit einem Male ein Problem
der gesellschaftlichen Legitimation: Warum gibt es eigentlich Herrschaft und
Ungleichheit und eine Oberschicht, deren Mitglieder sich oft genug aufführen
wie die Parasiten? Und deshalb gibt es jetzt erstmals auch ein Problem der In-
tegration: Was hält eine derart vertikal geschichtete und funktional zutiefst
gespaltene Gesellschaft zusammen, zumal sich jetzt in der Tat schon nicht
mehr alle miteinander persönlich kennen können?
Die funktionale Einheit der stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft
beruht auf auf zwei Grundlagen: auf der Geltung eines übergreifenden Werte-
rahmens, der insbesondere religiös fundiert ist, und dessen Inhalt zu einer ü-
bergreifenden Einstellung führt, die man als „ideologische“ Solidarität be-
zeichnen könnte, einerseits. Und auf der fortwährenden „Konstitution“ des
gesamten Systems durch den arbeitsteiligen Tausch zwischen den ständischen
Gruppen und der intensiven Interaktion innerhalb der Gruppen andererseits.
Die Reproduktion der stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften beruht
also sowohl auf Prozessen der sozialen wie der systemischen Konstitution,
und die Integration der stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften ist so-
wohl eine systemische wie eine soziale Integration.
Der „Ort“, an dem die soziale und die systemische Konstitution der strati-
fikatorisch differenzierten Gesellschaften und deren systemische und soziale
Integration sozusagen gleichzeitig stattfindet, ist der Haushalt. Haushalte sind
die grundlegenden Produktions- wie Beschaffungsgemeinschaften und damit
gleichzeitig die Orte der persönlichen Begegnung der Vertreter verschiedener
„Stände“. Hier kann zwanglos und in erkennbar „funktionalen“ und daher
auch sehr plausiblen Bezügen die Einhaltung der Rangunterschiede praktiziert
und ritualisiert werden, und die gesamte gesellschaftliche Rangstruktur kann
auf diese Weise immer wieder aufs Neue eine „lebensweltliche“ Bekräftigung
erhalten.
Eine wichtige Bedingung für die über die Gruppengrenzen und damit über
die Funktionssysteme hinweg stattfindende systemische Konstitution ist dann
die Erfindung der Schriftsprache und ihre massenhafte Verbreitung über den
Buchdruck gewesen. Hierüber wird es möglich, gewisse Informationen von
ihrem „interaktiven“ Kontext der mündlichen Überlieferung zu befreien, die
Inhalte zu „objektivieren“ und der Kritik auszusetzen, und – vor allem – Ak-
ten anzulegen und damit eine effiziente und auch schon sehr „unpersönliche“
Verwaltung der Herrschaft aufzubauen (vgl. dazu auch noch Band 3, „Sozia-
les Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). In ähnlich „generalisierender“
448 Die Konstruktion der Gesellschaft

Weise wirkt das Geld, das mehr und mehr den Naturaltausch ablöst und damit
auch eine flexiblere Handhabung der „Gegenleistungen“ der unteren Schich-
ten durch die herrschende Schicht erlaubt: Steuerzahlungen treten an die Stel-
le von Handdiensten, und das so eingenommene Geld kann ganz anders und
zu anderen Zeitpunkten verwendet werden, etwa zur Rekrutierung von Söld-
nern oder für den Konsum von Luxusgütern, die findige Händler von weit her
holen und sich dafür teuer bezahlen lassen. Diese „Generalisierung“ der Me-
dien, besonders der Übergang zur Geldwirtschaft, war aber auch schon einer
der Gründe für den späteren Verfall der Feudalgesellschaften (siehe dazu
gleich unten).
Stratifikatorisch differenzierte Gesellschaften verbinden offenkundig in
gewisser Weise die Verhältnisse der segmentär differenzierten Gesellschaften
mit denen einer funktionalen Differenzierung: Die arbeitsteilige Verbunden-
heit und die Medien der Schrift und des Geldes erzeugen bereits eine Art von
systemischer Konstitution und Integration, teilweise auch schon deutlich ge-
gen die Vorstellungen der Menschen, besonders natürlich denen aus den nied-
rigen Ständen. Die personale Interaktion innerhalb der Gruppen und die rituel-
le Interaktion zwischen den Gruppen, ausgetragen und verankert in den Pro-
duktionsgemeinschaften der Haushalte, sorgen für die als fraglos geltende so-
ziale Konstitution der gruppenspezifischen Identitäten der Menschen und für
die Vermittlung der (religiösen und anderen) Legitimationen, die das ganze
„System“ in Form einer übergreifenden Wertorientierung tragen und so auch
sozial integrieren. Ebenso wie in den segmentär differenzierten Gesellschaften
finden – im Prinzip – alle Menschen ihren Platz, diesmal in dem ihnen vorge-
gebenen Stand. Hier kommt es – in der Tat – zu einer Integration des Systems
der ganzen Gesellschaft über die Interaktionen in den „Lebenswelten“ der
Haushalte, in denen die allen gemeinsame Wertorientierung, daß die „herr-
schende“ Ordnung gut und gerecht sei, immer wieder neu bestärkt wird.
Dies alles, die Einbindung überschaubarer Lebenswelten in ein arbeitsteili-
ges, hierarchisch aufgebautes System, machte die Feudalgesellschaften so –
vergleichsweise – leistungsfähig, immer noch recht übersichtlich, aber auch
latent spannungsreich und davon abhängig, daß der Nutzen produzierende
feudale Austausch – übergreifende Organisation und Sicherheit gegen Dienste
und Abgaben – weiter funktioniert, und daß der das alles legitimierende und
sichernde Werterahmen nicht schwindet. Verfällt die Organisation der wech-
selseitigen Nutzenproduktion, dann verfällt auch die Überzeugungskraft der
diese Gesellschaftsform legitimierenden Weltbilder und religiösen Symbol-
welten. Und unter bestimmten, gerade unter stratifikatorischer Differenzie-
rung keineswegs immer auch vorhandenen, Bedingungen bricht das Gebäude
Die Gesellschaft der Menschen 449

dann mit einem großen Krach zusammen – wie das beispielsweise die Franzö-
sische Revolution gezeigt hat.

Übergänge

Die stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften begannen ihren Aufstieg


und die – partielle – Verdrängung der anderen Gesellschaftstypen vor etwa
5000 Jahren, und sie hatten ihren Höhepunkt vor 700 bis 500 Jahren. Ange-
sichts der enormen Ungleichheiten und Unterschiede in den Privilegien ist ih-
re Stabilität schon erstaunlich, aber auch nicht unverständlich: Gerhard Lenski
faßt den Grund für das Funktionieren des Systems von Agrargesellschaften,
wie er die stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften auch nannte, so zu-
sammen:
„Kurz, obwohl Herrscher und regierende Klassen in Agrargesellschaften weit mehr für ihre
Dienste forderten, als das Volk freiwillig zu zahlen bereit war, leisteten sie gewisse wertvolle
Dienste (man könnte hinzufügen, wertvoll für sie selbst und für die anderen). Obschon ihr
Verhältnis zum Volk also ein höchst ausbeuterisches und parasitäres war, waren sie nicht nur
ausbeuterisch und parasitär. In dieser Tatsache dürfte einer der Hauptgründe für die Langle-
bigkeit des Agrarstaates als Institution liegen. Es gab einfach keine Alternative.“ (Lenski
1973, S. 392)

An die Stelle der stratifikatorisch differenzierten Agrargesellschaften sind in-


zwischen als Form der Organisation großer Gesellschaften die funktional dif-
ferenzierten Industriegesellschaften getreten, in denen die politische, die mili-
tärische und die religiöse Herrschaft eben nicht mehr das Zentrum der Gesell-
schaft bilden, und es, mehr noch, überhaupt kein „Zentrum“ mehr zu geben
scheint (vgl. dazu noch Abschnitt 9.2.3 gleich unten). Eine Reihe von Um-
ständen, die teilweise schon in der Konstruktion der stratifikatorisch differen-
zierten Gesellschaft angelegt waren, haben diesen Übergang besorgt (vgl. da-
zu Lenski 1973, S. 413ff.; Luhmann 1997, Kapitel 4, Abschnitt VII; vgl. auch
die kurze Zusammenfassung bei Kerbo 1996, S. 72ff.). Der wohl wichtigste
Umstand war die Zunahme an Macht bei den nicht zum Adel und nicht zur
politischen Führungsschicht gehörenden Gruppen, die aber für den Adel und
die politische Führungsschicht immer wichtigere und interessantere Leistun-
gen erbrachten: die Produzenten und die Händler. Das hatte zum Teil ganz
banale Gründe: Was nützt der schönste, durch das Adelsprivileg gesicherte
Müßiggang, wenn man sich die verlockenden Genüsse der Welt, auch die aus
der Welt ganz weit draußen, nicht leisten kann? Und natürlich sind die neuen
Güter und Leistungen – aller Art: ökonomisch, militärisch, kulturell – auch
für die Ausübung und die Absicherung der eigenen Herrschaft von größtem
450 Die Konstruktion der Gesellschaft

Wert (vgl. dazu Lenski 1973, S. 331ff. näher). Außerdem kommt es jetzt auch
schon mehr und mehr darauf an, die vielen Talente in der breiten Bevölkerung
besser zu nutzen und ihnen wenigstens hier und da den Aufstieg in die höhe-
ren Positionen zu gestatten.
Das hat zwei Folgen. Der Zuwachs an Interesse an Ressourcen, die ein an-
derer kontrolliert, bedeutet erstens gleichzeitig immer die latente Abnahme der
eigenen Macht. Das aber wiederum zieht nach sich, daß die Leistungen der
nicht-adligen Gruppen im Preis steigen. Die beginnende Auflösung der festen,
über Geburt geregelten Zuordnung von Personen zu Positionen bedeutet zwei-
tens schon eine gewisse Trennung der sozialen „Systeme“ von den Akteuren
und die Ausdifferenzierung von nun eigenständig operierenden Funktionssys-
temen. Beides führt dazu, daß die Grundlage des Feudalsystems ausgehöhlt
wird: die „Exklusivität“ des Adels und die Übereinstimmung der Funktions-
systeme mit eng umrissenen sozialen Kategorien von Akteuren. Die die unte-
ren Schichten brennend interessierende Gegenleistung für (fast) alles war im
Rahmen der Werteordnung der Feudalgesellschaften aber gerade das Gut, auf
dem die ganze Ordnung beruhte: die ständische Ehre und der Eintritt in den
Adelsstand. Das aber war auch das einzige für andere interessante Gut, das
der Adel wirklich, neben der Schutzfunktion und der herrschenden Koordina-
tion, zu vergeben hatte. Und dieses Gut wurde schließlich auch angeboten,
wenngleich der Adel hätte wissen müssen, daß er sich damit selbst abschaffte.
Der Übergang zu eigenständig operierenden Funktionssystemen – der Politik,
der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Kunst zum Beispiel – hieß schließlich,
sie aus der Kontrolle der Oberschicht und damit aus der Kontrolle konkreter,
leibhaftiger Menschen und fest umrissener Gruppen zu entlassen.
Wenn man also die Gründe für die – weitgehend endogen angelegte! – Un-
terminierung der Feudalgesellschaften zusammenfassen will, dann sind es die-
se beiden: die – schleichende – Abtretung von zuvor exklusiven Rechten an
nicht-adlige Gruppierungen und die Gestattung von Mobilität der Akteure auf
gewisse „Positionen“ in den nun nicht mehr allein über die Geburt mit Perso-
nen besetzten Funktionssystemen und die dadurch ermöglichte und beschleu-
nigte Entstehung von eigenständig operierenden Funktionssystemen, die nicht
mehr fest mit bestimmten Personen aus bestimmten Schichten besetzt werden.
Diese Prozesse der inneren De-Stabilisierung des Adels und der Autonomisie-
rung der Funktionssysteme sind eingelagert in „exogene“ Vorgänge eines ers-
ten Schubes an „Globalisierung“: die Entdeckung neuer Bereiche der Welt
und der Beginn eines Systems der Weltwirtschaft und einer De-
Zentralisierung der Feudalreiche.
Einen ganz eigenen, wenngleich mit den geschilderten Entwicklungen eng
verbundenen, Beitrag lieferte die „Generalisierung“ der Interaktionen mit der
Die Gesellschaft der Menschen 451

Schrift und mit dem Geld. Die Integration der Gesellschaft wird nicht mehr
(alleine) über die in lebensweltlichen Interaktionen bestärkte Orientierung an
einer geteilten Wertordnung gesichert, sondern mehr und mehr über „anony-
me“ Medien. Die Schrift ist aber zur Verwaltung der großen Reiche unerläß-
lich, und das Geld zur Erhöhung der Flexibilität der für das System immer
wichtiger werdenden Leistungen der „produktiven“ nicht-bäuerlichen Schich-
ten.
Überall kommt es nach und nach zu solchen „Trennungen“: der sozialen
Systeme von den Akteuren, der Positionen von den Personen und der sozialen
Systeme voneinander. Haushalt und Produktion trennen sich, politische und
militärische Herrschaft, Kapital und Arbeit, funktionale Sphären und kulturel-
le Milieus. Und überall
„ ... findet man die Umstellung auf Eigendynamik und die Ablösung von Prämissen, die
durch Stratifikation gesichert gewesen waren.“ (Luhmann 1997, S. 731)

Es ist die Auflösung der festen Kopplung der sozialen Differenzierung der
Gesellschaft in soziale Systeme von der sozialen Ungleichheit der Menschen
in ihren gesellschaftlichen Lagen und damit – sozusagen – die endgültige Ver-
treibung aus dem Paradies, als die Menschen und die Gesellschaft noch de-
ckungsgleich waren. Und es ist der Abschied von der Vorstellung, daß die
Gesellschaft, sozusagen, auch als „Ganzes“ in den Köpfen der Menschen
repräsentiert sein könnte und ihre Grundlage in den Erfahrungen und
Interaktionen der Lebenswelten haben müsse. Es ist, wie das Niklas Luhmann
so oft ausgedrückt hat, der Abschied von „Alteuropa“.

9.2.3 Funktional differenzierte Gesellschaften

Die segmentär differenzierten Gesellschaften kannten weder Arbeitsteilung,


noch soziale Ungleichheit, die stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften
hatten beides. Die modernen funktional differenzierten Gesellschaften sind
durch eine stark ausgebaute gesellschaftliche Arbeitsteilung unter Abwesen-
heit von sozialer Ungleichheit als „Prinzip“ des Gesellschaftsaufbaus gekenn-
zeichnet, wenngleich es Ungleichheit ohne Zweifel, auch in starkem Ausmaß,
weiter gibt (vgl. dazu insgesamt Luhmann 1997, Kapitel 4, Abschnitt VIII;
siehe auch schon die Abschnitte 3.1, 4.2, 4.6, sowie Kapitel 5 in diesem
Band). Die gesellschaftliche Arbeitsteilung wird jetzt nicht mehr in der Form
einer „Hierarchie“ von Gruppierungen von Menschen organisiert, sondern ü-
ber die Aufteilung der Funktionen auf eigenständige soziale Systeme. Die so-
zialen Systeme „bestehen“ zwar weiterhin – wie könnte es anders sein? – aus
452 Die Konstruktion der Gesellschaft

den Aktivitäten von Menschen, aber eben nicht mehr dem Tun von „konkre-
ten“ Individuen fester Herkunft und sozialer Verortung, sondern aus ersetzba-
ren Akteuren auf den „Positionen“ der Systeme. Dadurch werden einerseits
die funktionalen Beiträge der Systeme sehr ungleich: Jedes System hat seine
ganz spezifische und unverzichtbare funktionale Aufgabe. Aber gerade da-
durch zerfällt andererseits die „feudale“ Hierarchie der Systeme: Die Müllab-
fuhr wird nun genauso wichtig wie, sagen wir, der Fluglotsendienst, und ein
Bundeskanzler hat fast weniger Einfluß als der Vize-Präsident von Bayern
München. Es zerfällt damit auch die enge Kopplung der funktionalen Arbeits-
teilung mit der sozialen Ungleichheit: Auch die Nobelpreisträger müssen sich
ihre Schuhe selber putzen. Damit ist freilich nicht gesagt, daß es die soziale
Ungleichheit empirisch nicht mehr gäbe. Aber es gibt sie nicht mehr als die
institutionelle Grundlage der arbeitsteiligen Organisation der Gesellschaft,
wie das für die stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften so typisch war.
Und alles, was geschieht, entzieht sich, wie es scheint, zunehmend der Steue-
rung durch irgendein Zentrum und erst recht den Absichten bestimmter Per-
sonen oder Gruppen. Die funktional differenzierte moderne Gesellschaft ist
eine Gesellschaft, die ganz der ihr eigenen Funktionslogik und Eigendynamik
unterliegt – und in diesem Prozeß ihre Stabilität und Integration gewinnt (vgl.
dazu insgesamt auch schon Abschnitt 3.1, sowie Kapitel 6 in diesem Band).

Strukturen

Die Infrastruktur der funktional differenzierten Gesellschaften besteht im we-


sentlichen aus den Bedingungen der industriellen Produktion (vgl. dazu insbe-
sondere Lenski 1973, Kapitel 10 bis 12; Harris 1987, Kapitel 16: Die Ethno-
logie einer Industriegesellschaft). Technische Erfindungen, maschinelle Pro-
duktion und Automation, die extensive Nutzung der natürlichen Ressourcen,
insbesondere die der Energiegewinnung, sind die wichtigste Grundlage. Dazu
kommt die Verfügung über große Bevölkerungen, der Ausbau des Bildungs-
wesens, die Ausschöpfung der kreativen Talente aus allen Schichten und dar-
über die Verfügung über ein zuvor nicht gekanntes Potential an Humankapi-
tal. Es gibt nun große Metropolen, teilweise riesige Agglomerationen von
Städten und Industriezonen und inzwischen weltweit ausgebaute Kommunika-
tions-techniken und Verkehrs- und Transportwege zu Lande, zu Wasser und
in der Luft, über die sich der nötige Austausch schon technisch sehr beschleu-
nigen und intensivieren kann. Viele institutionelle Erfindungen ermöglichen
und erleichtern eine enorme Vielfalt und Menge an Ressourcenproduktion,
beschleunigen die dazu nötigen Transaktionen und begrenzen deren Risiken,
Die Gesellschaft der Menschen 453

wie etwa ein funktionierendes Bankensystem, staatlich abgestützte Versiche-


rungen oder auch ein Wohlfahrtsstaat mit seinen integrativen und damit pro-
duktiven und standortsfördernden Wirkungen. Und eine breit ausgebaute wis-
senschaftliche Forschung sorgt dafür, daß, droht die eine Quelle des Reich-
tums zu verknappen, wie etwa die der fossilen Energieträger, alsbald tausend
andere zur Verfügung zu stehen scheinen, und sich – wundersamerweise – die
begrenzten Ressourcen der Welt immer weiter verbilligen, obwohl sich der
Verbrauch beschleunigt.
Die soziale Struktur der funktional differenzierten Gesellschaften ist durch
einen einzigen Imperativ ihrer sozialen Produktionsfunktion bestimmt: die
Produktion von wirtschaftlichem Wachstum und von materiellem Wohlstand,
jeweils geronnen und symbolisiert im Medium des Geldes. In den segmentär
differenzierten Gesellschaften war der übergreifende Imperativ das bloße Ü-
berleben, in den stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften war es die Eh-
re. Jetzt dreht sich alles um den Mammon. Und allenfalls die politischen Ver-
fassungen der verschiedenen Nationalstaaten, in deren Rahmen sich die funk-
tionale Differenzierung immer noch vollzieht, sorgen hier für gewisse ideolo-
gische oder kulturelle Variationen. Aufgrund der immer enger werdenden
funktionalen Verflechtung der Funktionssysteme sind die Interdependenzen
der Systeme so stark wie nie zuvor, und gleichzeitig deren spezifische soziale
Produktionsfunktionen, ihre Codes und Programme also, so unterschiedlich
und „radikal“ wie nie. Es gibt nun kein Zentrum und keine Peripherie und
kein Oben und kein Unten mehr. Und es kann sich, so scheint es, auch nie-
mand mehr dem Zugriff der Inklusionen der Systeme entziehen, sei es durch
Rechte, sei es durch Pflichten: Jeder hat nun das Wahlrecht und Anspruch auf
Sozialhilfe, wenn das Leben schief läuft, jeder muß aber auch zur Schule und
unterliegt der Steuer- und der Meldepflicht. Das bringt eine strukturelle Ten-
denz zur Gleichheit, und erstmals in der Geschichte der Menschheit nimmt
das Ausmaß der sozialen Ungleichheit, trotz des enorm wachsenden Surplus,
nicht mehr zu, sondern eher etwas ab (vgl. dazu Lenski 1973, S. 575). Mit der
Auflösung der ständischen Verhältnisse entkoppeln sich die funktionalen
Sphären auch von den kulturellen Sphären, und jeder kann sich ganz „indivi-
duell“ seinen eigenen Lebensstil suchen. Nun ist auch Platz – und Anlaß! –
zur Entstehung ausgebauter Devianzbereiche: Wer nicht über die institutionell
vorgeschriebenen Mittel zur Wohlstandsmehrung verfügt, ist auf „innovative“
Wege angewiesen, und die sind manchmal nicht legal. Und weil es keine fes-
ten Plätze mehr gibt und vieles möglich erscheint, kann es nun auch soziale
Bewegungen für sehr partikulare und ephemere Interessen geben, während
ausgewachsene Revolutionen kaum eine Chance haben und auch kaum je-
manden interessieren. Die Akteure nehmen – mehr oder weniger vollständig
454 Die Konstruktion der Gesellschaft

und mehr oder weniger dauerhaft – ihre Plätze in den funktionalen Systemen
ein. Und weil das sehr verschiedene Systeme sein können, überkreuzen sich
die Mitgliedschaften und die Interessen der Akteure mehr und mehr. Über die
gleichwohl vorhandenen und mit – letztlich: unbegrenzten – Ansprüchen ver-
sehenen Interessenlagen entstehen in einem großen Umfang korporative Inte-
ressenvertretungen – Gewerkschaften und Arbeitgeberbände, Krankenkassen
und kassenärztliche Vereinigungen, Radfahrerverband und ADAC, etwa. Das
hat zwei Folgen: Einerseits treten diese Korporationen und Verbände als in-
termediäre Instanzen vermittelnd zwischen die Individuen und die verschie-
denen funktionalen Systeme, insbesondere dem des politischen Systems, dem
ja immer noch die Gesetzgebung mit seinen durchschlagenden Folgen unter-
liegt. Andererseits entstehen nun sehr asymmetrische Beziehungen: Die kor-
porativen Akteure der Verbände sind mächtig, unsterblich und anonym, die
einzelnen Menschen, die mit ihnen zu tun haben, jedoch ohnmächtig, sterblich
und einzigartig. Allein schon aufgrund der immensen Größe der Bevölkerung
sind enge und persönliche Kontakte mit allen Mitgliedern einer Gesellschaft
unmöglich, und finden weiterhin auch nun nur in kleinen Verkehrskreisen
statt. Es nehmen jedoch die sog. weak ties immer mehr zu: die sporadischen
und nur partiellen, oft lediglich funktional begründeten Gelegenheitskontakte.
Und die sorgen auf eine indirekte Weise für die Verknüpfung der Verkehrs-
kreise und Lebenswelten – und ungewollt zur (systemischen) Integration des
gesamten Systems. Es kommt ferner zu einer verbreiteten Kreuzung der sozia-
len Kreise und damit unvermeidlicherweise zu einer „Spaltung“ der Identitä-
ten der Menschen, darüber zu ihrer „Individualisierung“ und zum Gefühl ei-
nes „Selbst“-Bewußtseins. Und insgesamt nimmt, so scheint es, das Ausmaß
der Wählbarkeit von Lebenslagen, Beziehungen und Biographien und die
„Rationalität“ der dazu nötigen Entscheidungen zu. Nicht alle empfinden das
als einen Vorteil, und genau genommen stimmt dieser subjektive Eindruck ob-
jektiv auch nicht.
Über die Superstruktur der funktional differenzierten Gesellschaften läßt
sich nur schwer etwas sagen. Legitimierende Werte mit spezifischem Inhalt
kann es kaum noch geben, weil jeder spezifische Inhalt sich unweigerlich ge-
gen den funktionalen Imperativ irgendeines der vielen Funktionssysteme rich-
ten müßte, die aber ja alle gleichermaßen unentbehrlich sind. Und abstrakte
Werte, wie der Kategorische Imperativ, die Norm der Fairneß, irgendeine „or-
ganische Solidarität“ des Gefühls der arbeitsteiligen Verbundenheit, eine uni-
versale Moral des herrschaftsfreien Konsenses oder die Berufung auf so etwas
wie die freiheitlich demokratische Grundordnung oder soziale Gerechtigkeit
sind viel zu wenig handlungsrelevant und mindestens zu interpretationsbe-
dürftig, als daß sie etwas auszurichten vermögen. Jetzt ist eben das „Ganze“
Die Gesellschaft der Menschen 455

der Gesellschaft nicht mehr in den Köpfen der Menschen präsent, und das
kann es auch gar nicht sein. Nicht ohne Grund mutiert die Religion in den
modernen Gesellschaften entweder in den Kirchen zu einem Funktionssystem
unter vielen oder sie wird in den zahllosen Sekten und neuen esoterischen
Kulten zur Privatangelegenheit, sofern nicht ohnehin die Menschen nicht
mehr an einen Gott zu glauben vermögen, der für alles verantwortlich wäre
und die Welt, den Herrscher und die Gesellschaft lenkt. Es scheint vielmehr
so zu sein: Mit dem eigenständigen Operieren der Systeme und mit der Über-
kreuzung der sozialen Kreise und Interessen bei den Akteuren stabilisiert und
integriert sich das System der funktional differenzierten Gesellschaften sozu-
sagen von selbst – und das unter Umständen auch gegen die Absichten der
Akteure, die in dieses Funktionieren eingebunden sind, darunter ächzen, sich
aber auch nichts Besseres vorstellen können und alles tun, um darin zu blei-
ben, wenn beispielsweise die Arbeitslosigkeit oder die Frühverrentung drohen
(vgl. dazu auch schon das Konzept der Verkettungsintegration in Kapitel 6
oben in diesem Band).

Konstitution und Integration

Damit ist auch schon die Antwort auf die Art der Konstitution der funktional
differenzierten Gesellschaften gegeben: Es ist ganz vorwiegend eine systemi-
sche Konstitution. Hierbei spielen die Mechanismen der systemischen
Integration eine zentrale Rolle: die Märkte, die Interpenetration der Systeme,
die symbolisch generalisierten Medien und die Organisationen. Weil die
Transaktionen zwar vor dem Hintergrund institutioneller Regeln stattfinden,
aber sonst mehr und mehr dereguliert und von „ständischen“ und
„solidarischen“ Vorgaben befreit werden, regieren schließlich nur noch die
Möglichkeiten und die relativen Knappheiten (vgl. dazu auch noch Band 4,
„Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Und
weil die strikte Orientierung an den Codes und den Programmen der
Funktionssysteme für die Nutzenproduktion der Akteure immer wichtiger
wird, können die Systeme ihre Eigendynamik ganz entfalten. Auf diese Weise
überziehen die relativen Knappheiten der Märkte und die Imperative der
Funktionssysteme die Situa-tion der Menschen mit einer zwingenden Kraft
wie nie zuvor in der Geschichte und in keinem anderen Typ der
gesellschaftlichen Organisation der Nutzenproduktion. Die Akteure sind
gezwungen, sich den Gesetzen der Märkte und den Imperativen der
Funktionssysteme zu beugen – nicht zuletzt, um sich darüber die Mittel zu
beschaffen, mit denen sie die Erlebnisse ihres ideosynkratischen Lebensstils
weitab von den Verpflichtungen und Entfremdungen der funktionalen
456 Die Konstruktion der Gesellschaft

gen der funktionalen Sphären erzeugen und sich so die Illusion einer „Multi-
optionsgesellschaft“ schaffen können.
In den funktional differenzierten Gesellschaften wird aber gleichzeitig, ge-
rade wegen der Effizienz der Arbeitsteilung, wegen des freien Spiels der
Märkte, der koordinierenden Kraft der generalisierten Medien und der Durch-
setzungsmacht der Organisationen ein unglaubliches Ausmaß an Surplus und
Reichtum produziert – mit der Folge, daß sich jeder in der Tat nun ganz priva-
te „Erlebnisse“ leisten kann und von der unmittelbaren Kooperation mit ande-
ren „individuellen“ Menschen immer unabhängiger wird. Und gerade wegen
dieses ungeheuren Surplus lassen die Menschen von der modernen Gesell-
schaft auch nicht, obwohl sie in einem fort darüber jammern, wie unübersicht-
lich, einsam und entfremdet das Leben inzwischen geworden sei (vgl. dazu
auch noch Abschnitt 9.3 unten und den Exkurs über Entfremdung im An-
schluß daran).
In die funktional differenzierten Gesellschaften sind die Menschen zu-
nächst ebenfalls voll inkludiert – über die verschiedenen allgemeinen Rechte,
die zivilen, die politischen und die sozialen Rechte vor allem. Aber das ist,
ganz anders als in allen Gesellschaftsformen zuvor, nur noch eine formale und
eine partielle Inklusion. Faktisch gehören die Akteure in den funktional diffe-
renzierten Gesellschaften meist nur ausschnittsweise und temporär den ver-
schiedenen sozialen Systemen an und bilden daraus u.U. ganz individuelle
Kombinationen der Mitgliedschaft zu bestimmten funktionalen Sphären, kul-
turellen Milieus und ggf. einem Devianz-Bereich, und darüber dann auch ganz
individuelle Biographien des Wechsels von einem System zum anderen.
Erstmals gibt es jetzt auch die Möglichkeit der Totalexklusion in der Gesell-
schaft: Jeder kann durchaus auch aus allen Funktionssystemen herausfallen,
und dann wären nur noch das Diakonische Werk, die Caritas oder die Bahn-
hofsszene da, wenn überhaupt. In den segmentären und in den stratifikatorisch
differenzierten Gesellschaften hätte die Totalexklusion stets auch die Exklusi-
on aus der ganzen Gesellschaft bedeutet.

Übergänge?

Die Industriegesellschaften gibt es noch nicht sehr lange, etwa seit 150 Jah-
ren, und der Typus der funktional differenzierten Gesellschaft hat sich, wenn
überhaupt, erst in den letzten 60 bis 40 Jahren und dann auch nur in wenigen
Teilen der Welt entwickelt. Bisher waren die Industriegesellschaften voll von
Resten der ständischen Verhältnisse, und sie beruhten, etwa mit den Milieus
ihrer Berufsgruppen und konfessionellen Gemeinschaften, in ihrem Zusam-
Die Gesellschaft der Menschen 457

menhalt zu einem großen Teil darauf. Erst seit ganz kurzer Zeit scheinen sich
die Dinge in die Richtung einer „wirklich“ modernen Moderne hin zu bewe-
gen – einer funktionalen Differenzierung der Gesellschaft und einer Individu-
alisierung der Akteure ganz „jenseits von Klasse und Stand“. Aber selbst dar-
an gibt es Zweifel: Was sich aufgelöst hat, sind vielleicht nur einige alte
Strukturen, etwa die der Kovariation von funktionaler und kultureller sozialer
Ungleichheit. Aber gleichzeitig haben sich neue gesellschaftliche Lagen, neue
Gruppierungen und neue „Milieus“ gebildet, mit nicht minder das Leben be-
stimmenden Vorgaben und Selbstverständlichkeiten. Gleichwohl scheint es in
der Tendenz jedenfalls nicht drastisch falsch zu sein, von einer Zunahme der
funktionalen Differenzierung und der Individualisierung zu sprechen. Und
schon seit einiger Zeit ist ja auch von der postmodernen, gar von der post-
postmodernen Gesellschaft und einer „reflexiven Modernisierung“ die Rede –
whatever it is.
Wohin geht die Reise also? Entfaltet sich die Moderne erst noch weiter?
Deutet sich ein Übergang auf ein neues Prinzip der Vergesellschaftung der
Menschen an? Stehen wir vielleicht kurz vor einem Zusammenbruch eines in
die Überhitzung getriebenen Prozesses der Modernisierung und Mobilisie-
rung? Das kann, natürlich, niemand sagen. Eine mögliche Perspektive wäre in
der Tat die komplette Durchmodernisierung der Welt, wie sie ja im Zuge der
sog. Globalisierung bereits erste Züge anzunehmen beginnt. Die vielen Trans-
formationen der Gegenwart, in der Dritten Welt, in den Schwellenländern, im
Gefolge der Auflösung des Ost-West-Konfliktes u.a. könnten als ein Schritt
auf diesem Wege angesehen werden. Und die jetzt beobachtbaren Begleiter-
scheinungen, etwa die ethnischen und religiösen Konflikte und die Tota-
lexklusionen großer Gruppen Entbehrlicher, etwa in Gestalt der Langzeitar-
beitslosen hierzulande oder der Bewohner der Slums in den Metropolen nicht
nur der Dritten Welt, müssen auch keineswegs als Zeichen für eine Umkehr
des Prozesses der Modernisierung oder für eine neue „Leitdifferenz“, die von
„Inklusion und Exklusion“ etwa, angesehen werden. Das alles sind vielleicht
nichts weiter als auch früher in „Alteuropa“ übliche, den Prozeß vielleicht
verzögernde, aber letztlich nicht verhindernde, Reaktionen und Folgen, die
nur anzeigen, daß die funktionalen Systeme ihre Eigendynamik jetzt auch
weltweit entfalten. Und mit der globalen funktionalen Differenzierung und
Wohlfahrtssteigerung (!) müßten diese Reaktionen und Folgen auch ein Ende
haben.
Kann das aber wirklich geschehen? Kaum. Denn was ist die infrastruktu-
relle Grundlage von alledem? Genau: die Ausbeutung der Rohstoffe und E-
nergiereserven der Welt, und die sind begrenzt und ihre volle Nutzung führt
zu existentiellen Grenzen, vor allem die der Umweltbelastung durch Emissio-
458 Die Konstruktion der Gesellschaft

nen oder Folgelasten. Und so gewinnt die zunächst etwas fernliegende apoka-
lyptische Vision von Max Weber schließlich doch einiges an Realitätsnähe,
als er davon sprach, daß der einmal entfesselte Vorgang der Entzauberung der
Welt, was ja nur ein anderer Ausdruck für ihre Durchmodernisierung und für

die globale funktionale Differenzierung ist, solange weitergehe, bis der letzte
Zentner fossilen Brennstoffs verglüht sei. Das wäre dann schon ganz bald der
Fall.

***

Die Entwicklung von der segmentären über die stratifikatorische zur funktio-
nalen Differenzierung scheint für den Prozeß der Vergesellschaftung jenen
Vorgang zu wiederholen, wie er für die Evolution des Lebens – bisher – all-
gemein zugetroffen hat: die stetige und sogar exponentiell zunehmende Stei-
gerung des Aktivitätsniveaus und der Autonomie von der Umwelt, stets be-
gleitet von einer Erhöhung des Energieverbrauchs (siehe dazu auch Kapitel 11
über „Evolution“ in der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“). Das läßt ei-
gentlich nur jene düsteren Prognosen zu, wie wir sie eben mit Max Weber
wiederholt haben. Niemand weiß beispielsweise bisher, wie dem weltweiten
Bevölkerungszuwachs zu begegnen ist, zumal das einzige wirklich nachhaltig
wirksame Mittel dagegen die deutliche Steigerung des Wohlstandes ist, die
technisch und institutionell wohl nur mit den Mitteln der energieintensiven
funktionalen Differenzierung möglich ist. Immer aber haben die Menschen
geglaubt, mit ihrer Zeit sei alles zu Ende. Und immer ist es bisher, trotz einer
Reihe von Unterbrechungen oder gar Katastrophen und „Untergängen“, wei-
tergegangen: Et hätt noch immer jot jejange.9 So auch wohl diesmal. Einem
Schamanen aus dem Neolithicum oder einem absoluten Herrscher aus der
Feudalzeit müßte der Reichtum des Durchschnittsbürgers hierzulande mär-
chenhaft vorkommen, und manche Dinge hätte er für unmöglich halten müs-
sen, wie das Farbfernsehen, das schmerzlose Ziehen eines Zahnes, die politi-
sche Herrschaft des gemeinen Volkes oder die Institution der Rentenversiche-
rung. Wir können eben nicht wissen, welchen Weg die Entwicklung der
menschlichen Gesellschaft morgen einschlagen wird, allein schon deshalb
nicht, weil niemand absehen kann, mit welchen Erfindungen die Menschen
mit all ihrer Kreativität und Raffinesse noch aufwarten werden. Dazu gehören

9
Siehe auch Hartmut Esser, Kleines Lexikon der Kölner Schule, 3., wesentlich erweiterte
Aufl., Ratingen und Bergisch Gladbach 2000 (zuerst: 1990), Stichwort „Funktionalis-
mus“.
Die Gesellschaft der Menschen 459

sicher zuerst technische, aber auch soziale Erfindungen, wie solche zur Ver-
hinderung jener Totalexklusionen, die den Weg der funktionalen Differenzie-
rung zu säumen und zu gefährden beginnen. Die Wissenschaft ist jene funkti-
onale Sphäre, die zur Vorbereitung solcher Erfindungen besonders berufen,
und eine Produktivkraft, die dazu auch in der Lage ist. Und die Soziologie ist
dabei jene Wissenschaft, die hier auch ihre ganz spezielle und unverzichtbare
Aufgabe hat. Sie hätte die Frage zu beantworten, wie die gesellschaftlichen
Verhältnisse aussehen müßten, damit die Welt für alle, die darin leben, auch
in Zukunft ein wohnlicher Platz sein kann. Bisher wissen wir mehr darüber,
was nicht geht, welche Maßnahme unwirksam und welche Hoffnung trüge-
risch ist, wie beispielsweise die Herstellung des herrschaftsfreien kommunis-
tischen Paradieses über die Abschaffung des Privateigentums. Wir wissen a-
ber auch, was für diese Aufgabe mindestens nötig ist: eine gute und erklä-
rungskräftige theoretische Grundlage. Allgemeine und spezielle Grundlagen.

Exkurs über die Frage, wie sinnvoll es ist, „Typen“ der Gesell-
schaft zu unterscheiden

Die Besonderheiten der segmentären, der stratifikatorischen und der funktio-


nalen Differenzierung beschreiben, wenngleich in teilweise extrem abstrahie-
render Weise, jeweils Grundaspekte von Gesellschaften, die es historisch
„wirklich“ gegeben hat oder noch gibt: Stammesgesellschaften, Feudalgesell-
schaften, Industriegesellschaften. Es waren, wie wir gesehen haben, typische
Kovariationen von Strukturmerkmalen und Konstitutionsprozessen für gesell-
schaftliche Verhältnisse, die sich eine Zeit lang funktional reproduzierten, in-
tern, meist unmerklich, wandelten und schließlich evolutionär in einen Pfad
einmündeten, der, nach einigen Übergängen und Turbulenzen, zum nächsten
Gleichgewicht und zu einem neuen Typ führte. Im „Exkurs über die Ko-
Evolution von Basis und Überbau am Beispiel der protestantischen Ethik und
des Geistes des Kapitalismus und über die Lehren, die man daraus für die Er-
klärung des sozialen Wandels ziehen kann“ im Anschluß an Kapitel 7 in die-
sem Band ist ein besonders berühmtes Beispiel einer solchen Kovariation der
sozialen Konstitution und gesellschaftlichen Konstruktion beschrieben wor-
den: die gegenseitige Erzeugung des Kapitalismus, der protestantischen Ethik
und der damit zusammenhängenden Glaubensvorstellungen, Orientierungen,
Haltungen und Verhaltensweisen der Menschen. Es war ein, wie wir jetzt sa-
gen können, funktionales Prozeßgleichgewicht, bei dem sich die materiellen
Verhältnisse und Interessen, die gesellschaftlichen Institutionen und die reli-
giösen Ideen gegenseitig ermöglichten, ergänzten und stützten.
460 Die Konstruktion der Gesellschaft

Die Grundidee

Bei der Beschreibung und, vor allem, bei der Begründung der „Wahlver-
wandtschaft“ von protestantischer Ethik und kapitalistischer Gesellschafts-
ordnung hat Max Weber die Sache, wie das für die Soziologie im Unterschied
zur Geschichtswissenschaft üblich und richtig ist, sehr stilisiert, nicht zuletzt
durch den Trick, eine besonders extreme Variante des Protestantismus, den
Calvinismus, für seine Argumente heranzuziehen. Andere Versionen des Pro-
testantismus wären viel weniger geeignet gewesen. So aber hatte alles eine
ganz besondere „situationslogische“ Reinheit, die dem Verständnis der
Grundprozesse sehr zustatten gekommen ist. Sowohl die dabei geschilderte
innere Einstellung der protestantischen Ethik wie die des Geistes des Kapita-
lismus waren aber – so hat das Max Weber selbst immer gesehen – empirisch
zu keiner Zeit in ihrer stilisierten Reinheit so vorhanden wie er dies formuliert
und zugespitzt hat. Und auch der Zusammenhang zwischen den drei Elemen-
ten – die wechselseitige Konstitution von protestantischem Glauben, der Wirt-
schaftsordnung des Kapitalismus und der innerweltlichen Askese der Men-
schen – ist keineswegs eine historisch vollkommen zutreffende Konstellation
gewesen. Auch dies war eine stilisierende Übertreibung.
Denn: Die Calvinisten waren in den Ländern und Epochen, in denen sie eine strikte sektiere-
rische Intoleranz zu begründen vermochten, keineswegs innovativer als die Katholiken in den
katholischen Ländern. Den Geist des Kapitalismus trugen vielmehr vor allem Emigranten und
Ausgestoßene aller Art: Juden, Katholiken und freilich auch Calvinisten, die wegen ihres
Glaubens auswandern mußten. Sie – die Ausgestoßenen und zu einem marginalen Dasein Ge-
zwungenen – waren es, denen der klösterliche Müßiggang und die kirchliche Verschwen-
dungssucht auf die Nerven gingen und damit ihrem Daseinsentwurf, der sich auch aus ihrer
aktuellen Lebenslage und den dadurch erzeugten Interessen ergab, zutiefst widersprachen.

Gleichwohl hat die These von der Wahlverwandtschaft der calvinistischen E-


thik mit den Daseinsinteressen des kapitalistischen Geschäftslebens eine
wichtige theoretische Funktion gehabt, die sich, so glaubte Max Weber, für
die soziologische Analyse bestimmter historischer gesellschaftlicher Konstel-
lationen ganz allgemein anzubieten schien. Es handelt sich, wie es Max We-
ber ausgedrückt hat, um die Konstruktion eines Idealtypus – um eine zuspit-
zende und gleichzeitig ganz verschiedene inhaltliche und historische besonde-
re Gesichtspunkte zusammenfassende und zu einem Gesamtkomplex verein-
heitlichende gedankliche Konstruktion. Sie dient der Verdeutlichung eines
Zusammenhangs von inhaltlichen Sachverhalten eines bestimmten sozial oder
historisch ganz spezifischen gesellschaftlichen Phänomens (vgl. zur Technik
der Typenbildung bereits den „Exkurs über Typenbildung“ im Anschluß an
Abschnitt 12.1 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen
Grundlagen“).
Die Gesellschaft der Menschen 461

Die wichtigsten Einzelheiten zum Konzept des Idealtypus hat Max Weber in einem seiner be-
rühmtesten Aufsätze zur Wissenschaftslehre, dem über „Die ‚Objektivität‘ sozialwissen-
schaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ von 1904, zusammengefaßt.10 Ihm geht es da-
bei um eine Art von Ausweg aus dem Trilemma der ganz auf den Einzelfall bezogenen Be-
trachtungsweise der Historiker, der nicht nur für ihn recht leeren ökonomischen Generalisie-
rungen etwa im Grenznutzengesetz und der wissenschaftlich nicht begründbaren Wertungen
der Sozialpolitiker seiner Zeit. Kurz: Weber sucht nach einer Methode, die es erlaubt, gleich-
zeitig historisch spezifisch und beschreibend, modellierend allgemein und erklärend (und
wertneutral) zu sein – so wie dies die moderne erklärende Soziologie ja auch zu tun beabsich-
tigt.

Was ist nun ein Idealtypus? Für Max Weber vereinigt ein Idealtypus
„ ... bestimmte Beziehungen und Vorgänge des historischen Lebens zu einem in sich wider-
spruchslosen Kosmos gedachter Zusammenhänge.“ (Weber 1982, S. 190; Hervorhebungen
so nicht im Original)

Gewonnen wird er
„ ... durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusam-
menschluß einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht,
vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten
fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankengebilde.“ (Ebd., S. 191; Hervorhebungen so
nicht im Original)

Auf den ersten Blick könnte man also meinen, Idealtypen wären so etwas wie
abstrahierende Modelle sozialer Prozesse oder Gleichgewichte, von denen wir
ja in diesem Buch schon reichlich Gebrauch gemacht haben und in den fol-
genden Bänden noch werden. Das wäre aber ein Trugschluß: Idealtypen sind
keine abstrakten formalen Modelle, es sind auch keine allgemeinen und auf
andere inhaltliche Konstellationen anwendbaren Strukturmodelle (vgl. dazu
schon die Kapitel 1 und 8 in diesem Band). Deren Besonderheit ist ja, daß sie
eben keine inhaltlichen „Wahlverwandtschaften“, sondern ausschließlich for-
male oder strukturelle Muster und Zusammenhänge enthalten, die dann auf
ganz verschiedene inhaltliche Vorgänge angewandt werden können. Idealty-
pen sind vielmehr vereinfachende, „bereinigende“ und auf ausgewählte Ge-
sichtspunkte zuspitzende Beschreibungen von inhaltlichen und historisch-
spezifischen Zusammenhängen. Dabei geht es auch nicht um die Darstellung
der „wirklichen“ Verhältnisse, sondern darum,

10
Max Weber, Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis,
in: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 5. Aufl., Tübingen 1982
(zuerst: 1904), S. 190. Vgl. zur methodologischen Rekonstruktion des Konzeptes des Ide-
altypus bei Weber auch: Michael Schmid, Idealisierung und Idealtyp. Zur Logik der Ty-
penbildung bei Max Weber, in: Gerhard Wagner und Heinz Zipprian (Hrsg.), Max We-
bers Wissenschaftslehre. Interpretation und Kritik, Frankfurt/M. 1994, S. 422ff.
462 Die Konstruktion der Gesellschaft

„ ... die Eigenart dieses Zusammenhangs an einem Idealtypus pragmatisch veranschaulichen


und verständlich machen (zu) können.“ (Ebd., S. 190; Hervorhebungen so nicht im Original)

Da Idealtypen die bloße gedanklich vereinfachte Kovariation von typischen


Variablen eines sozialen Gebildes wiedergeben, sind sie – anders als die for-
malen Modelle und als die Strukturmodelle – also ein ausschließlich heuristi-
sches Hilfsmittel – und eben kein Erklärungsargument. Sie besagen nur: Es
gibt die Kovariation der calvinistischen Prädestinationslehre und der frühkapi-
talistischen Systematisierung der Lebensführung, etwa. Mehr nicht. Man kann
sich zwar auch in etwa zusammenreimen, wie diese Kovariation zustande-
kommt – über die Wahlverwandtschaft der religiös motivierten Affektkontrol-
le mit dem ökonomisch erzwungenen Motiv zur Reinvestition jedes Gewin-
nes, etwa. Aber eine Erklärung ist der Hinweis auf eine idealtypische Wahl-
verwandtschaft noch lange nicht.

Idealtypus und Realtypus

Idealtypen hatten für Max Weber zunächst genau auch diese Funktion: Sie
sind ein Hilfsmittel der stilisierenden und vereinfachenden Darstellung und
dienen der weiteren Hypothesengewinnung:
„Diese Möglichkeit (der Veranschaulichung durch den Idealtypus; HE) kann sowohl heuris-
tisch wie für die Darstellung von Wert, ja unentbehrlich sein. Für die Forschung will der ide-
altypische Begriff das Zurechnungsurteil schulen: er ist keine ‚Hypothese‘, aber er will der
Hypothesenbildung die Richtung weisen. Er ist nicht eine Darstellung des Wirklichen, aber er
will der Darstellung eindeutige Ausdrucksmittel verleihen.“ (Ebd., S. 190)

Und wegen dieser heuristischen Funktion gilt auch das, was wir oben schon
der historischen Genauigkeit wegen für den Zusammenhang von protestanti-
scher Ethik und dem Geist des Kapitalismus haben sagen müssen:
„In seiner begrifflichen Reinheit ist dieses Gedankenbild nirgends in der Wirklichkeit empi-
risch vorfindbar, es ist eine Utopie, und für die historische Arbeit erwächst die Aufgabe, in
jedem einzelnen Falle festzustellen, wie nahe oder wie fern die Wirklichkeit jenem Idealbilde
steht ... .“ (Ebd., S. 191)

Ein Idealtypus ist also eine „Idee“ – eine Idee, die der Wissenschaftler hat,
nicht unbedingt aber auch die Menschen, von denen er spricht. Die Kovariati-
onen der Variablen werden dabei gedacht. Sie sind keine empirischen Kovari-
ationen. Ein Idealtypus
„ ... ist ein Gedankenbild, welches nicht die historische Wirklichkeit oder gar die ‚eigentliche‘
Wirklichkeit ist, ... sondern welches die Bedeutung eines rein idealen Grenzbegriffes hat, an
Die Gesellschaft der Menschen 463

welchem die Wirklichkeit zur Verdeutlichung bestimmter bedeutsamer Bestandteile ihres


empirischen Gehaltes gemessen, mit dem sie verglichen wird.“ (Ebd., S. 194)

Die Merkmale des Idealtypus kommen also in der Wirklichkeit in ihrer gan-
zen aseptischen Reinlichkeit nicht vor – selbst innerhalb der engen Grenzen
nicht, in denen er dann doch wenigstens einmal dem Gedankenmodell auch
historisch nahekam: Auch die Calvinisten hatten alle ihre schwachen Momen-
te, und natürlich ließen es sich auch die Frükapitalisten schon einmal kräftig
gut gehen. Aber immerhin kommt auch die etwas schmutzige Wirklichkeit
nicht vollkommen regellos daher, sondern oft genug in Mustern und Clustern
– in realen Mustern und Clustern. Die empirischen Kovariationen bestimmter
Variablen in sozialen Gebilden werden auch als Realtypus bezeichnet. Mit
ihm wird der Idealtypus verglichen. Und dann kann – bei systematischen Ab-
weichungen im Einzelfall – unter anderem gefragt werden, woran denn wohl
die Abweichung vom Idealtypus gelegen haben mag.

Der Idealtypus als Referenzmodell

In der Aufklärung solcher Abweichungen realer Abläufe von einem Idealty-


pus sah Max Weber dann auch die Hauptaufgabe der Soziologie. Beispiels-
weise: Der Idealtypus eines streng „zweckrationalen“ Ablaufes einer Börsen-
panik oder einer politischen oder militärischen Aktion:
„Für die typenbildende wissenschaftliche Betrachtung werden nun alle irrationalen, affektuell
bedingten, Sinnzusammenhänge des Sichverhaltens, die das Handeln beeinflussen, am über-
sehbarsten als ‚Ablenkungen‘von einem konstruierten rein zweckrationalen Verlauf dessel-
ben erforscht und dargestellt. Z.B. wird bei einer Erklärung einer ‚Börsenpanik‘ zweckmäßi-
gerweise zunächst festgestellt: wie ohne Beeinflussung durch irrationale Affekte das Handeln
abgelaufen wäre, und dann werden jene irrationalen Komponenten als ‚Störungen‘ eingetra-
gen. Ebenso wird bei einer politischen oder militärischen Aktion zunächst zweckmäßigerwei-
se festgestellt: wie das Handeln bei Kenntnis aller Umstände und aller Absichten der Mitbe-
teiligten und bei streng zweckrationaler, an der uns gültig scheinenden Erfahrung orientierter,
Wahl der Mittel verlaufen wäre. Nur dadurch wird alsdann die kausale Zurechnung von Ab-
weichungen davon zu den sie bedingenden Irrationalitäten möglich.“11

Der Spezialfall der Zweckrationalität dient – Max Weber jedenfalls – also als
eine Art von Referenzmodell der Hypothesenbildung:
„Solche idealtypische Konstruktionen ... stellen dar, wie ein bestimmt geartetes, menschliches
Handeln ablaufen würde, wenn es streng zweckrational, durch Irrtum und Affekte ungestört,
... wäre.“ (Ebd., S. 4; Hervorhebungen im Original)

11
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5.
Aufl., Tübingen 1972 (zuerst: 1922), S. 2f.; Hervorhebungen im Original.
464 Die Konstruktion der Gesellschaft

Die Annahme der Zweckrationalität bietet sich nach Weber insbesondere des-
halb an, weil sie, wie wir aus Abschnitt 6.3 in Band 1, „Situationslogik und
Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ wissen, für ihn das „Höchstmaß an
‚Evidenz‘“, an „Verständlichkeit“ und „Sinn“ eines Handelns oder eines
Handlungszusammenhangs liefert. Aber:
„Das reale Handeln verläuft nur in seltenen Fällen (Börse) und auch dann nur annäherungs-
weise so, wie im Idealtypus konstruiert.“ (Ebd.; Hervorhebung nicht im Original)

Die Funktion der Konstruktion eines Idealtypus ist also nicht die „Abbildung“
der wirklichen Vorgänge. Sondern:
„Die Konstruktion eines streng zweckrationalen Handelns also dient in diesen Fällen der So-
ziologie, seiner evidenten Verständlichkeit und seiner – an der Rationalität haftenden – Ein-
deutigkeit wegen, als Typus (‚Idealtypus‘), um das reale, durch Irrationalitäten aller Art (Af-
fekte, Irrtümer) beeinflußte Handeln als ‚Abweichung‘ von dem bei rein rationalem Verhalten
zu gewärtigenden Verlaufe zu verstehen.“ (Ebd., S. 3; Hervorhebung im Original)

Mit der Verwendung von Idealtypen ist – darauf besteht Max Weber ganz
nachdrücklich – also in keiner Weise auch bereits behauptet, daß die Welt tat-
sächlich so aussehe. Idealtypen sind auch, anders als die formalen Modelle
und anders als die Strukturmodelle, keine Versuche einer modellierenden so-
ziologischen Erklärung, sondern ausschließlich ein heuristischer Ausgangs-
punkt dafür.

Historische Individuen

Weil Idealtypen eben keine formalen Modelle sind, sondern stilisierende Be-
schreibungen inhaltlich-spezifischer Zusammenhänge, stehen sie in einem je-
weils besonderen historischen Kontext und sind auch nur in diesem speziellen
Kontext „sinnhaft“ und „verständlich“. Es sind, wie Max Weber sagt, „histo-
rische Individuen“. Das sind Konstellationen von Zusammenhängen von Insti-
tutionen, Ideen, Interessen und Handlungsweisen, die eine ganz besondere,
unverwechselbare und nur an diesen Typus und an die betreffende Gesell-
schaft oder Epoche gebundene „Kulturbedeutung“ tragen: Die protestantische
Ethik, speziell den Calvinismus, gab es nur einmal, ebenso wie die besondere
Form der kapitalistischen Lebensführung in der Art einer innerweltlichen As-
kese – nicht vorher und in dieser Form auch nicht nachher. Und dies ist ja der
Kern der immer wieder neuen Geschichte der Menschen: Der „Sinn“ muß
immer ein neuer sein, da er ja stets auf den bereits versunkenen Entwicklun-
gen aufbaut.
Die Gesellschaft der Menschen 465

Neben Idealtypen von historischen Individuen unterscheidet Max Weber auch solche von
sog. „Gattungsbegriffen“. Damit meint er offenbar bestimmte „ahistorische“ Gesetze – etwa
das Gesetz des abnehmenden Grenznutzens, das des abnehmenden Grenzertrags bei den
meisten Produktionsfunktionen oder die „reinen“ Gesetze des Tausches und der Nachfrage,
von denen Carl Menger sprach, als er sich gegen den Historismus eines Gustav Schmoller ab-
setzen wollte und meinte, daß es irgendwann genug sei mit der historischen Beschreibung
von Zusammenhängen, etwa zwischen Preis und Nachfrage nach einem Gut: „Man denke nur
an die Fleischpreise von Elberfeld! von Pforzheim! von Mülheim! von Hildesheim! von
Germersheim! von Zwickau! u.s f.“12, spottete er gegen Schmoller und die detailverliebten
Historiker ganz allgemein. Idealtypen von Gattungsbegriffen sind also ganz abstrakte, von je-
dem „historischen“ Inhalt bereinigte und gegen störende Einflüsse gedanklich isolierte Zu-
sammenhänge – wie die erwähnte Gesetzmäßigkeit, daß allgemein und immer die Nachfrage
nach einem beliebigen Gut mit steigendem Preis sinkt – nicht nur in Elberfeld, Pforzheim,
Mühlheim, Hildesheim, Germersheim und Zwickau. Die theoretischen Gesetze der National-
ökonomie beruhen darauf. Es handelt sich dabei um nichts anderes als um formale Modelle
der Situationslogik. Und die „gelten“, wie man glaubt, ja als Modelle ganz ohne jeden „Sinn“,
kontextfrei und ohne jede besondere „Kulturbedeutung“.

Dagegen enthalten die historischen Individuen als zentrale Merkmale immer


auch inhaltliche Angaben über ihre Kulturbedeutung. Es sind Idealtypen be-
stimmter Konstellationen des historisch-spezifischen subjektiven Sinns einer
Epoche oder einer bestimmten Gesellschaft. Max Weber kannte die Unter-
scheidung von formalen Modellen und Idealtypen noch nicht. Daraus ergaben
sich eine Reihe von Ungereimtheiten bei der Beurteilung dessen, was er als
„Idealtypus“ insgesamt bezeichnet hat. Zur Vermeidung von Mißverständnis-
sen wird im folgenden immer nur von Idealtypen im Sinne historischer Indi-
viduen die Rede sein.

Idealtypen als situationslogische Gleichgewichte

Wenn man so will, stellen Idealtypen als Stilisierungen historischer Individu-


en gewisse Kombinationen der Kovarianz bestimmter inhaltlicher Variablen
dar, die zu einem temporären Gleichgewicht gekommen sind – ein Gleichge-
wicht, das das Ergebnis einer situationslogischen Entwicklung, einer gleich-
gewichtigen Reproduktion also, angesehen werden kann. Für solche Gleich-
gewichte kann man dann auch griffige Namen finden: für eine Epoche, wie
Altertum oder Neuzeit, für ein soziales Gebilde, wie das Christentum oder ei-
ne Bürokratie, oder für einen sozialen Zusammenhang, wie der von Protestan-
tismus und Kapitalismus. Das „Gleichgewicht“ – und die Etikettierung – kann
sich dann auch auf – temporär (!) gleichförmig und nach „Gesetzen“ regelmä-

12
Carl Menger, Die Irrthümer des Historismus in der Deutschen Nationalökonomie, Wien
1884, S. 38.
466 Die Konstruktion der Gesellschaft

ßig verlaufende – Entwicklungen beziehen, etwa: einen Prozeß der „Moderni-


sierung“ oder den der „Individualisierung“. In allen diesen Fällen – Epochen,
Gebilde, Zusammenhänge, Entwicklungen – handelt es sich nicht um „allge-
meine“ oder verallgemeinerbare Zusammenhänge, sondern immer um histo-
risch spezifische Abläufe, die ein Sukzessionsgleichgewicht einer wechselsei-
tigen kausalen Verflechtung bestimmter Bestandteile gefunden haben. Max
Weber spricht in diesem Zusammenhang bezeichnenderweise auch vom Ver-
such,
„ ... historische Individuen oder deren Einzelbestandteile in genetische Begriffe zu fassen.“
(Weber 1982, S. 194; Hervorhebung im Original)

Damit meint er die Betrachtung bestimmter Merkmale als


„ ... wesentlich, weil sie in adäquater ursächlicher Beziehung zu jenen Wirkungen stehen.“
(Ebd., Hervorhebungen so nicht im Original)

Idealtypen sind somit für Max Weber eine Art von, wie er selbst sagt, „Beg-
riffsstenographie“ (Ebd.; S. 195) über einen, wie wir sagen könnten, von
Störgrößen befreiten situationslogischen Prozeß, der zu einer stabilen Kovari-
ation bestimmter inhaltlicher, historisch spezifischer Merkmale geführt hat,
sich für eine Zeit lang reproduziert, vom Wissenschaftler mit einem griffigen
Kürzel versehen werden kann – Kapitalismus, Stadt, Handwerk, Sekte, Land-
wirtschaft, Bürokratie und so weiter – und ihm als gedanklicher Referenz-
punkt für seine Hypothesenbildung im Vergleich zu den realen Verhältnissen
dienen kann.
Gänzlich neu sind diese Gedanken ohne Zweifel nicht. In der – uns inzwischen etwas ge-
wohnteren – Sprache der erklärenden Soziologie lassen sie sich so umschreiben: Idealtypen
sind Bündel von stilisierten Situationsbeschreibungen bzw. von Brückenhypothesen und typi-
schen stabilisierten aggregierten Effekten für einen besonderen, historisch eventuell einmali-
gen, Fall – wie beispielsweise der Idealtypus des Locals und der des Cosmopolitans in unse-
rem Beispiel der Studentenunruhen an den amerikanischen Universitäten in den 60er Jahren
(vgl. dazu u.a. Kapitel 1, 3 und 10 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziel-
len Grundlagen“) oder die Unterscheidung der drei Typen von segmentär, stratifikatorisch
und funktional differenzierten Gesellschaften in Abschnitt 9.2 gerade oben.

Idealtypen sind damit ohne Zweifel wichtige und höchst nützliche Vorstufen
für die „eigentliche“ Erklärung gesellschaftlicher Prozesse und funktionaler
Gleichgewichte. Sie informieren über die grundlegenden Alternativen, Motiv-
und Wissensstrukturen der Akteure, über deren typisches Tun und über typi-
sche Folgen ihres Tuns in einem historisch spezifischen Kontext. Es sind ge-
dankliche Abstraktionen für die wichtigen Randbedingungen und für typische
kollektive Folgen bei der gesuchten Erklärung. In sie geht – meist in undeutli-
Die Gesellschaft der Menschen 467

chen Umschreibungen verpackt – immer sehr viel an Hintergrundwissen und


an Annahmen ein, beispielsweise auch in den Idealtypus des Zusammenhangs
von protestantischer Ethik und dem Geist des Kapitalismus:
„Die von Weber behauptete Wahlverwandtschaft zwischen der protestantischen Ethik, und
dem Geist des Kapitalismus stellt sich keineswegs als ein unmittelbar verständlicher Zusam-
menhang gleichsinniger Denkweisen dar. Sie ergibt sich vielmehr aus einem komplexen his-
torischen Prozeß, in den nicht nur mehr oder weniger stabile Zustände des Kollektivbewußt-
seins eingehen, sondern auch Strategien der Indoktrinierung, der Dissidenz und der (an wirt-
schaftliche Interessen, die Bürger und Kaufleute in Gegensatz zu den privilegierten Klassen
bringen, gebundenen) Vertreibung, die durch historische Kontingenzen bedingt sind (wie den
der Entdeckung Amerikas folgenden Zufluß von Wertmetallen nach Europa).“13

Oft fehlt für die eigentliche Erklärung des als Hypothese im Idealtypus be-
haupteten und im Realtypus hoffentlich auch gefundenen Zusammenhangs
aber noch viel. Bei gut – das heißt immer: mit viel Hintergrundwissen – kon-
struierten Idealtypen ist es bis zu einer korrekten soziologischen Erklärung al-
lerdings meist kein besonders weiter Weg mehr, weil die wichtigste Arbeit
schon begonnen wurde: die typisierende Beschreibung der Logik der Situation
und der wichtigsten materiellen, institutionellen und kulturellen Umstände zur
korrekten Ableitung der aggregierten Wirkungen des Handelns der Menschen.

Historische Entwicklungen

Idealtypen haben ihre Stärke in der typisierenden Beschreibung historisch-


einmaliger Konstellationen – der sog. historischen Individuen, Altertum, Mit-
telalter, Industriezeitalter etwa. Historische Individuen folgen in typischer und
historisch ebenfalls individueller Weise aufeinander: Den antiken Sklavenhal-
tergesellschaften folgten historisch-„genetisch“ die feudalen und diesen die
kapitalistischen Gesellschaften. Auch derartige Sukzessionen von Idealtypen
lassen sich dann wieder in idealtypischer Weise darstellen: als Idealtypus ei-
ner historischen Entwicklung. Wieder Max Weber:
„Auch Entwicklungen lassen sich nämlich als Idealtypen konstruieren, und diese Konstrukti-
onen können ganz erheblichen heuristischen Wert haben.“ (Weber 1982, S. 203; Hervorhe-
bung im Original)

So weit, so harmlos und so nützlich – wenn man die Soziologie nicht als eine
Wissenschaft mißversteht, die zwar kausale Erklärungen anstrebt, jedoch
glaubt, daß diese kausalen Erklärungen – womöglich: nur – über „Gesetze“

13
Raymond Boudon und François Bourricaud, Religion, in: Raymond Boudon und François
Bourricaud, Soziologische Stichworte, Opladen 1992b, S. 421.
468 Die Konstruktion der Gesellschaft

der gesellschaftlichen Entwicklung möglich sei, und daß die Idealtypen von
Entwicklungen auch empirische Gesetze von makrosozialen Entwicklungen
wiedergeben würden.
Dazu ein etwas anderes Beispiel. So lassen sich etwa die typischen Bevölkerungsweisen des
Mittelalters und des Industriezeitalters als einfache Formen von Idealtypen verstehen. Die
mittelalterliche Bevölkerungsweise ist in idealtypischer Weise durch hohe Geburtenzahlen
und eine enorme Sterblichkeit besonders der Kinder und der Mütter gekennzeichnet. Die Be-
völkerungsweise des Industriezeitalters ist dem genau entgegengesetzt: eine niedrige Sterb-
lichkeit und eine ebenfalls niedrige Geburtenrate. Historisch sind in Europa beide Bevölke-
rungsweisen aufeinandergefolgt: von einer stagnierenden bzw. nur langsam wachsenden Be-
völkerung mit einem hohen „Umsatz“ an Geburten und Sterbefällen zu einer stagnierenden
bzw. leicht schrumpfenden Bevölkerung bei geringen Geburtenraten und niedriger Sterbezif-
fer. Die Entwicklung von der einen zur anderen Bevölkerungsweise – jeweils Idealtypen –
wurde ihrerseits in einem idealtypischen Modell zusammengefaßt: der sog. „Theorie vom
demographischen Übergang“. Es ist eine Stilisierung des historischen Verlaufs des Wechsels
der einen auf die andere Bevölkerungsweise. Und hier wird das von Weber angesprochene
Problem unmittelbar und handgreiflich deutlich: Der „demographische Übergang“ ist nicht
das „Gesetz“, das die Entwicklung vorantrieb, sondern nur eine begriffliche Stilisierung und
typisierende Beschreibung des Ablaufs. Die „realen“ Prozesse hatten vielmehr mit einem
durchaus komplexen Zusammenspiel von medizinischen Fortschritten, Bevölkerungswachs-
tum, Wohlstandsmehrung und einem dadurch erzeugten Nachlassen der „Nachfrage“ nach
Kindern zu tun.14

Nicht also die begriffliche Zuspitzung der besonderen Bevölkerungsweisen


von Mittelalter und neuerer Zeit, auch nicht die Stilisierung der Entwicklung
als „Theorie“ des „demographischen Übergangs“ sind das Problem, vor dem
Max Weber warnt. Wohl aber: die Annahme, daß der Prozeß „wirklich“ so
abgelaufen wäre und – viel folgenschwerer und unverzeihlicher – die Vorstel-
lung, daß der „demographische Übergang“ es gewesen wäre, der die Gebur-
tenrate gesenkt hätte. Genauso könnte man einen Temperatursturz im Juli als
kausale Wirkung der Schafskälte erklären. Erklärungen über „Begriffe“ gibt
es aber nicht. Und Idealtypen sind nichts anderes als solche stenographischen
Begriffe. Max Weber nennt auch dieses Problem in der ihm eigenen Weise
deutlich beim Namen:
„Nun aber tritt eine Komplikation ein, welche das naturalistische Vorurteil, daß das Ziel der
Sozialwissenschaften die Reduktion der Wirklichkeit auf ‚Gesetze‘ sein müsse, mit Hilfe des
Begriffes des ‚Typischen‘ außerordentlich leicht wieder hereinpraktiziert. ... Aber es entsteht
dabei in ganz besonders hohem Maße die Gefahr, daß Idealtypus und Wirklichkeit ineinander
geschoben werden.“ (Weber 1982, S. 203; Hervorhebung im Original)

14
Vgl. dazu die anschauliche Darstellung bei Bernhard Felderer und Michael Sauga, Bevöl-
kerung und Wirtschaftsentwicklung, Frankfurt/M. und New York 1988, Teil I und III,
sowie Teil E der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“.
Die Gesellschaft der Menschen 469

Für die gedankliche „Erprobung einer Hypothese“ ist dies nach Weber alles
ganz unproblematisch:
„Der Vorgang bietet keinerlei methodologische Bedenken, so lange man sich stets gegenwär-
tig hält, daß idealtypische Entwicklungskonstruktion und Geschichte zwei streng zu schei-
dende Dinge sind und daß die Konstruktion hier lediglich das Mittel war, planvoll die gültige
Zurechnung eines historischen Vorgangs zu seinen wirklichen Ursachen aus dem Kreise der
nach Lage unserer Erkenntnis möglichen zu vollziehen.“ (Ebd., S. 203f.; Hervorhebungen im
Original)

Das Problem entsteht aber sofort dann, wenn die aus heuristischen Zwecken
vorgenommene Vereinfachung der Abfolge „von Idealtypen bestimmter Kul-
turgebilde“ zu einer „genetischen Klassifikation“ mit dem wirklichen ge-
schichtlichen Ablauf eins gesetzt und „ineinander gearbeitet“ wird:
„Die nach den gewählten Begriffsmerkmalen sich ergebende Reihenfolge der Typen erscheint
dann als eine gesetzlich notwendige historische Aufeinanderfolge derselben. Logische Ord-
nung der Begriffe einerseits und empirische Anordnung des Begriffenen in Raum, Zeit und
ursächlicher Verknüpfung andererseits erscheinen dann so miteinander verkittet, daß die Ver-
suchung, der Wirklichkeit Gewalt anzutun, um die reale Geltung der Konstruktion in der
Wirklichkeit zu erhärten, fast unwiderstehlich wird.“ (Ebd., S. 204; Hervorhebungen nicht im
Original)

Namentlich erwähnt Max Weber in diesem Zusammenhang dann den, wie er


ihn jetzt nennt, „großen Denker“ Karl Marx, dessen „‚Gesetze‘“ und „Ent-
wicklungskonstruktionen“ in ganz besonderem Maße der Gefahr einer Ver-
wechslung von gedanklichem Konstrukt und wirklichem Ablauf ausgesetzt
wären. Und daß diese Gefahr einen realen Hintergrund hatte, wissen wir in-
zwischen.

Idealtypen und Werturteile

Aus heutiger Sicht mag ein dritter Aspekt der idealtypischen Konstruktionen,
mit dem sich Max Weber in dem Objektivitätsaufsatz noch beschäftigt, zu-
nächst etwas überholt klingen. Wir fügen ihn gleichwohl an dieser Stelle nicht
nur der Vollständigkeit halber kurz ein, weil nicht oft genug an das Problem
erinnert werden kann: die möglichst deutliche Scheidung der beschreibenden
und der wertenden Aspekte von „Ideal“-Typen und die Trennung von sozio-
logischer Erklärung der Gesellschaft und der eventuellen Folgen solcher Er-
klärungen wieder für die Konstruktion der Gesellschaft. Idealtypen sollen –
nach Max Weber – in ihrer Konstruktion nur den logischen und methodischen
Kriterien folgen, die wir oben besprochen haben. Sie haben nichts damit zu
tun, daß sie selbst als „im praktischen Sinne: vorbildliche Typen“ (Ebd., S.
470 Die Konstruktion der Gesellschaft

199; Hervorhebungen im Original) sein könnten oder gelten sollen. Es ist


vielmehr
„ ... eine elementare Pflicht der wissenschaftlichen Selbstkontrolle und das einzige Mittel zur
Verhütung von Erschleichungen, die logisch vergleichende Beziehung der Wirklichkeit auf
Idealtypen im logischen Sinne von der wertenden Beurteilung der Wirklichkeit aus Idealen
heraus scharf zu scheiden.“ (Ebd., S. 200; Hervorhebungen im Original)

Ein logisch „vollkommener“ Idealtypus hat mit einer „wertenden Beurtei-


lung“ nichts zu tun: „Es gibt Idealtypen von Bordellen so gut wie von Religi-
onen.“ (Ebd.) So ist es. In der Tat. Und sie haben ihre theoretischen Vorzüge
und Schwächen – ganz unabhängig davon, ob man Bordelle oder den Katholi-
zismus, den Calvinismus oder den Islam mag oder nicht.

Idealtypen als Selbstbeschreibungen

Die idealtypische Vereinfachung ist ein nach wie vor beliebtes Stilmittel der
Soziologie – vor allem zur griffigen und überzeichnenden Etikettierung eines
zentralen Gesichtspunktes, unter den die Analyse gestellt werden soll, insbe-
sondere um einen bestimmten Gedanken einer weiteren Öffentlichkeit einfach
und griffig zu verkaufen. Dies geschieht besonders gerne bei den sog. Gesell-
schaftsanalysen. Sie stehen oft unter einem Etikett, das die gesamte Untersu-
chung leitet und die Aufmerksamkeit auf einen Gesichtspunkt lenken soll.
Meist sind diese Etikettierungen sehr übertrieben.
Ulrich Beck übertrieb – beispielsweise – in diesem Sinne zweifellos mit seinem Buch von der
„Risikogesellschaft“, ebenso wie Gerhard Schulze oder Peter Gross, die beide mit der „Erleb-
nisgesellschaft“ und der „Multioptionsgesellschaft“ nicht nachstehen wollten. Alle hatten
durchaus nachvollziehbare Gründe für ihre Übertreibungen, auch dann, wenn die sorgfältige-
re soziologische Forschung manche der Annahmen hinterher als fragwürdig erwiesen hat: In
der modernen Gesellschaft ist für die Menschen vieles tatsächlich riskanter geworden, als sie
mehr und mehr selbst entscheiden müssen, was vorher Schicksal war – ihre Biographie und
die Ausgesetztheit gegenüber selbst erzeugten Risiken vor allem. Und mit dem wachsenden
Wohlstand tritt wohl tatsächlich das Motiv zu dem unmittelbaren Konsum-Erlebnis gegen-
über einem eigenen Motiv zur asketischen Investition in den Hintergrund – auch weil wir alle
im Alltag ohnehin etwas sein müssen, was der Puritaner sein wollte, und wodurch der mate-
rielle Hintergrund der Erlebnisgesellschaft erst geschaffen wird: Berufsmensch. In der Rich-
tung, nicht in den „wirklichen“ Verhältnissen, haben Ulrich Beck und Gerhard Schulze bzw.
Peter Gross durchaus eine wichtige Aufklärungsarbeit über bestimmte gesellschaftliche Zu-
sammenhänge geleistet. Aber festgeschriebene Biographien, Zwänge und Restriktionen und
nicht-„konstruierte“ Naturkatastrophen gibt es nach wie vor. Und allzu viele Menschen kön-
nen sich einen Landrover für die Produktion des Erlebnisses einer Geländefahrt durch die
Fußgängerzone weder heute noch in Zukunft leisten.
Die Gesellschaft der Menschen 471

Manchmal wirken solche idealtypischen Vereinfachungen als von den Sozio-


logen angefertigte Konstruktionen der Gesellschaft, etwa als „Werte“, als U-
topien, als Selbstbeschreibungen oder als Selbstvergewisserungen, wieder in
Gesellschaft hinein. Aber ihre Gültigkeit und Brauchbarkeit für die Erklärung
des sozialen Geschehens ist von solchen denkbaren Wirkungen oder Bewer-
tungen – wenigstens: zunächst einmal und für den Moment, in dem sie ange-
fertigt werden – ganz und gar unabhängig. Was denn auch sonst? Denn: Ob
die Rede von der Risikogesellschaft, etwa im dem Sinne einer, sagen wir, seit
den 50er Jahren einsetzenden Individualisierung, triftig ist oder nicht, hat
nichts, aber gar nichts, damit zu tun, ob der Begriff der Risikogesellschaft o-
der der der Individualisierung dann später in aller Munde ist oder nicht. Oder
etwa doch? Im Epilog ganz zum Schluß der sechs Bände dieser „Speziellen
Grundlagen“ geht die Geschichte noch ein wenig weiter.

9.3 Gemeinschaft und Gesellschaft

Die segmentäre, die stratifikatorische und die funktionale Differenzierung


sind äußerst verschiedene Formen der gesellschaftlichen Organisation der
Nutzenproduktion. Schwer ist jedoch zu sagen, welche der drei Formen dabei
für die Nutzenproduktion insgesamt leistungsfähiger ist. Einfach wäre die Ge-
schichte dann, wenn es strukturell erzeugte Defizite gäbe, die bei einem ande-
ren Typus beseitigt sind. Aus der Sicht der Akteure gibt es aber offenbar im-
mer Defizite bei der Nutzenproduktion. Wohlstand sei, so hört man gelegent-
lich, nur der Übergang von der Armut zur Unzufriedenheit. Und dann suchen
die Menschen verständlicherweise nach Auswegen – manchmal unter dem
Preis, daß die Aufhebung des einen die Ursache für ein neues Defizit ist, ei-
nes, das möglicherweise zuvor unbekannt war. Dies führt zu Überlegungen
darüber, daß es möglicherweise Formen der gesellschaftlichen Organisation
der sozialen Produktionsfunktionen gibt, die jeweils aus ihrer strukturellen
Form her solche Unterversorgungen systematisch und unvermeidlich nach
sich ziehen und darüber dann typische Tendenzen auslösen, die Unterversor-
gung auszugleichen. In diesem Zusammenhang gerät die Unterscheidung
zweier Arten der sozialen Organisation wieder in den Blick, die Ferdinand
Tönnies in einem berühmt gewordenen Buchtitel als „Gemeinschaft und Ge-
sellschaft“ bezeichnet hat.15

15
Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, Leipzig 1887.
472 Die Konstruktion der Gesellschaft

„Gemeinschaft“

Unter „Gemeinschaft“ faßte Tönnies jene Art der Organisation der sozialen
Beziehungen, die auf Gefühlen der unbefragten Solidarität und Zusammenge-
hörigkeit beruht: Blutsverwandtschaft, enge Nachbarschaften, Freundschaften
und als prototypisches Beispiel die Beziehung zwischen Mutter und Kind.
Davon unterschied er die „Gesellschaft“, deren wesentliches Merkmal die ra-
tionalen Abwägungen von Vorteil und Nachteil und die egoistischen Interes-
sen als Grundlage der Beziehungen der Menschen sei. Nicht notwendigerwei-
se, aber empirisch häufig und theoretisch leicht erklärbar, sind Gemeinschaf-
ten in aller Regel zahlenmäßig recht kleine und in ihrer personalen Zusam-
mensetzung auch stabile Gruppierungen: Affektuell geprägte Solidarität kann
man schon aus Gründen zeitlicher Restriktionen mit nur wenigen konkreten
„signifikanten“ Anderen und aus psycho-physischen Gründen nur mit „iden-
tisch“ bleibenden Personen entwickeln. Gemeinschaften sind als eigenständi-
ge soziale Gebilde nicht ohne Grund so gut wie nur in der Form von kleinen
und dauerhaft organisierten Lebenswelten, etwa von Familien und Verwandt-
schaftssystemen sowie – auf der Ebene kompletter Gesellschaften – in der Art
von Stammesgesellschaften vorfindbar.
Ethnische und nationale Zusammengehörigkeiten sind weiter gezogene und daher grundsätz-
lich schon weniger effiziente Quellen der Produktion von Wertschätzung über gemeinschaft-
liche Solidarität als die kleinen Lebenswelten des Alltags. Sie beruhen aber auch immer dar-
auf, daß es stabile Verhältnisse und Nahumwelten gibt, die die abstrakten Gruppensolidaritä-
ten in den Alltag hineintragen. Gibt es diese Stabilität und insbesondere die Nahumwelten
nicht, dann verfallen die übergreifenden Solidaritäten rasch – wie in Nazi-Deutschland zum
Ende des 2. Weltkrieges oder in Jugoslawien mit dem Zerfall des Sozialismus. Wie voraus-
setzungsreich die Entstehung affektueller Gemeinsamkeiten ist, sieht man leicht bei den
Schwierigkeiten für den Aufbau eines Gefühls der europäischen Identität (vgl. dazu insge-
samt auch noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“).

In den kleinen Lebenswelten einer personalen Verbundenheit läßt sich aus


„technischen“ Gründen die soziale Wertschätzung in höchst effizienter Weise
produzieren. Und das geschieht auch.

Sharing Groups

Aber die soziale Wertschätzung ist ja nicht alles, und sie macht auch nur be-
grenzt satt. Typisch ist in den funktional diffus organisierten kleinen Stam-
mesgesellschaften dann auch die Knappheit und die Unterversorgung mit den
Mitteln für die Erzeugung von physischem Wohlbefinden, jenem zweiten all-
gemeinen Bedürfnis, von dem in Kapitel 3 in Band 1, „Situationslogik und
Die Gesellschaft der Menschen 473

Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ bei der Besprechung des Konzep-


tes der sozialen Produktionsfunktionen die Rede war: Isolierte und stabil-
stagnierende Lebenswelten und Stammesgesellschaften sind zu klein und zu
ineffizient, als daß darin viel an Wohlstand und Lebensmitteln erzeugt werden
könnte. Arbeitsteilung und Wohlstandssteigerung setzen größere Bevölkerun-
gen voraus. Mit der Größe der Gruppe sinkt aber gleichzeitig auch die Mög-
lichkeit, mit allen Mitgliedern solidarische Beziehungen zu unterhalten. Inte-
ressanterweise verstärken nun aber die materiellen Knappheiten sogar die
Versorgung der Menschen mit Wertschätzung und psychischer Sicherheit. Bei
Knappheit der Mittel und mit dem Fehlen von Alternativen werden Koopera-
tionen ja erst recht lebenswichtig (vgl. dazu noch Band 3, „Soziales Handeln“,
dieser „Speziellen Grundlagen“): Wenn drei Bauern sich nur einen Mähdre-
scher anschaffen können, dann müssen sie sich auf eine Regel einigen, wer
den Mähdrescher wann benutzen kann.
Solche Gruppen, in denen sich die Akteure gewisse Ressourcen zu ihrem
Überleben teilen müssen, werden auch als Sharing Groups bezeichnet.16 Sie
entstehen aus Not und erzeugen Abstimmungs- und Normbedarf. Und dies
wiederum zieht – zumal am Abend nach der gemeinsam eingebrachten Ernte
– viel an Orientierungssicherheit und sozialer Wertschätzung nach sich. Sieg-
wart Lindenberg hat diesen Gedanken der aus dem Zwang zum Teilen und zur
Absprache entstehenden unintendierten Erzeugung von sozialer Wertschät-
zung so zusammengefaßt:
„Sharinggruppen sind nicht nur Quellen von Normen, sondern auch Quellen von kontinuierli-
cher informeller Interaktion und von Homogenisierung der Gruppe. Je mehr Güter geteilt
werden, desto größer die gegenseitige Abhängigkeit ... und Kommunikation. Sharinggruppen
schaffen daher auch Affekt, gestützt durch Normen, und relative Konsistenz der Erwartun-
gen. Je mehr Güter geteilt werden, desto höher also das Versorgungsniveau mit Affekt und
Bestätigung, ceteris paribus.“ (Lindenberg 1984, S. 179)

Und aus alledem ergibt sich eine interessante Korrelation: Gemeinschaften


neigen aus strukturellen Gründen zu einer Unterversorgung bei den materiel-
len Mitteln für die Erzeugung von physischem Wohlbefinden und – gerade:
daher! – zu einer recht guten Versorgung mit Orientierung, sozialer Wert-
schätzung und einem positiven Selbstbild – wenn man sich an deren Regeln
hält! Nicht immer ist den Menschen in den Gemeinschaften diese Asymmetrie
in der Versorgung mit sozialer Wertschätzung gegenüber der im physischen
Wohlbefinden aber auch bewußt. Ihr Streben ist eher auf einen Ausgleich in

16
Vgl. Siegwart Lindenberg, Sharing Groups: Theory and Suggested Applications, in: Jour-
nal of Mathematical Sociology, 9, 1982, S. 33ff.; Siegwart Lindenberg, Normen und die
Allokation sozialer Wertschätzung, in: Horst Todt (Hrsg.), Normengeleitetes Verhalten in
den Sozialwissenschaften, Berlin 1984, S. 178ff.
474 Die Konstruktion der Gesellschaft

dem jeweils unterversorgten Bereich gerichtet. Und deshalb gibt es meist auch
kein Halten mehr, wenn sich die Chance bietet, aus der Enge der zwar solida-
rischen, aber meist nur der Not gehorchenden Gemeinschaften auszubrechen.
Max Weber hat dieses Drängen so beschrieben:
„Die inneren und äußeren Motive, welche das Schrumpfen der straffen Hausgewalt bedingen,
steigern sich im Verlauf der Kulturentwicklung. Von innen her wirkt die Entfaltung und Dif-
ferenzierung der Fähigkeiten und Bedürfnisse in Verbindung mit der quantitativen Zunahme
der ökonomischen Mittel. Denn mit Vervielfältigung der Lebensmöglichkeiten erträgt schon
an sich der Einzelne die Bindung an feste undifferenzierte Lebensformen, welche die Ge-
meinschaft vorschreibt, immer schwerer und begehrt zunehmend, sein Leben individuell zu
gestalten und den Ertrag seiner individuellen Fähigkeiten nach Belieben zu genießen.“ (We-
ber 1972, S. 226)

Dies alles zeigt die Unwiderstehlichkeit des Weges hin zu einer effizienteren
Produktion der Mittel für das physische Wohlbefinden, hin zu mehr an Ar-
beitsteilung und damit hin zur funktionalen Differenzierung und zur Entwick-
lung von Formen der Organisation der Nutzenproduktion vom Typ der „Ge-
sellschaft“.

„Gesellschaft“

„Gesellschaften“ sind in der Begrifflichkeit von Ferdinand Tönnies komplexe,


arbeitsteilig organisierte, große und dynamisch-instabile soziale Gebilde. Aus
ihrer schieren Größe heraus und von ihrer inneren Dynamik und Leistungsfä-
higkeit her erlauben sie die vergleichsweise üppige Produktion der Zwischen-
produkte für das physische Wohlbefinden: materiellen Wohlstand und wohl-
fahrtsstaatliche Vorsorge gegen vielerlei Gefährdungen. Hier gibt es eine an-
dere Asymmetrie: Die funktionale Form der Nutzenproduktion und die dafür
schon technisch erforderliche Größe der beteiligten Population führt – gerade
als Folge ihrer so effizienten Organisation der materiellen Produktion –
gleichzeitig zu einer „Rationalisierung“ der sozialen Beziehungen, zu einer
Umstellung der Alltagsinteraktionen auf ausschließlich funktional definierte
Kontakte und generalisierte Medien und auf das egoistische Interesse, sowie
zu einer strukturell angelegten Gefährdung des Vertrauens in die Verläßlich-
keit anderer Akteure. Dies sind sämtlich bereits aus „technischen“ Gründen
keine guten Bedingungen für die Bedienung jenes zweiten Grundbedürfnisses
der Menschen: soziale Wertschätzung.
Die Produktion sozialer Wertschätzung ist nämlich nur begrenzt über „generalisierte“ Symbo-
le und über Ersatzgüter wie Geld oder Status möglich. Sie ist insbesondere von der Versor-
gung mit Verhaltensbestätigung und Affekten abhängig. Und das geht nur, wenn die Men-
schen sich gut und lange kennen und sich immer wieder im Laufe ihres Lebens in möglichst
Die Gesellschaft der Menschen 475

vielen Situationen persönlich und nicht in bloß funktional-spezifischen Kontakten begegnen


(vgl. dazu schon Abschnitt 9.4 über „Soziabilität und Sozialität“ in der „Soziologie. Allge-
meine Grundlagen“). Affekte werden allein deshalb in den funktionalen Sphären und in den
kulturellen Milieus nur sehr schwer erzeugt. Und das erleben die Menschen als psychisches
und soziales Elend inmitten des materiellen Wohlstands – und oft genug auch inmitten der
Szene eines kulturellen Milieus, das sie aufgesucht haben, um wieder etwas Wertschätzung
und Emotionalität abzubekommen.

Unter den strukturellen Bedingungen der funktionalen Differenzierung ist die


Produktion von sozialer Wertschätzung also wesentlich schwerer als bei seg-
mentärer Differenzierung: Die Akteure wechseln ständig, sie ändern auch ihre
„Identität“ je nach dem funktionalen Bereich, in dem man sie antrifft, sie han-
deln immer nur „funktional spezifisch“ und anderes mehr. Wegen der sehr ef-
fizienten Produktion der materiellen Ressourcen verfällt auch der in den
Stammesgesellschaften aus der Not geborene Zwang zur Abstimmung und zur
Normierung des Handelns: Nun kann sich jeder Bauer einen Mähdrescher
leisten, drischt ganz allein, einsam und ohne jeden Abstimmungszwang vor
sich hin – und singt von den guten alten Zeiten der Not und der Solidarität.
Und die – so nicht intendierte – Folge aus alledem: eine relativ gute Versor-
gung mit den Mitteln für das physische Wohlbefinden und – aus den gleichen
strukturellen Gründen! – eine chronische Unterversorgung mit Orientierung
und sozialer Wertschätzung in den funktional differenzierten „Gesellschaften“
der Moderne.

Strukturelle Unterversorgung und Utopie

Das haben die Menschen sicher nicht bedacht, als sie der Enge des Haus-
kommunismus entfliehen wollten. Aber: Das Bedürfnis nach sozialer Wert-
schätzung ist ganz allgemein und verschwindet in der Entzauberung der Welt
in der Moderne in keiner Weise. Mit der über die funktionale Differenzierung
strukturell erzeugten Unterversorgung in Orientierung und sozialer Wert-
schätzung entsteht dort eher ein ganz besonders artikulierter Bedarf danach.
Nun
„ ... klagt man über den Egoismus des Menschen und seine materialistische Neigung, die phy-
sisches Wohlbefinden weit höher als geistige Werte und Sorge um seine Mitmenschen stellt.
Man wird auch das System kritisieren, das jeden dazu antreibt, in einem Wettrennen um hö-
heren Status gegen alle anderen anzutreten. Dagegen träumt man von einer Gesellschaft, in
der man sich um den anderen sorgt, in der gemeinsame Werte wieder zwischenmenschliche
Beziehungen bestimmen, in der die nur scheinbar altmodische Unterscheidung von ‚richtig
und falsch‘ dem Individuum wieder einen Halt gibt.“ (Lindenberg 1984, S. 190)
476 Die Konstruktion der Gesellschaft

Daraus allein erklärt sich leicht das stete Neuentstehen solcher lebensweltli-
chen Gemeinschaften – oder wenigstens: der Nachfrage danach – gerade beim
Voranschreiten der Modernisierung und der funktionalen Differenzierung. Die
Familie, nicht unbedingt die Verwandtschaft oder die Nachbarschaft, eher
schon ein Freundeskreis, noch weniger der Nationalstaat und schon gar nicht
die „Menschheit“, werden daher als „Gemeinschaft“ eher wichtiger mit der
funktionalen Differenzierung und mit der Entstehung von „Gesellschaft“. Und
wo sie als „Gemeinschaft“ ausfallen, da suchen sich die Menschen ihre Sub-
stitute, wo immer es sie dann noch zu geben scheint: Jugendsekten, rechts-
wie linksradikale Milieus und Wohn-„Gemeinschaften“ zum Beispiel. Auch
die Wiederentdeckung der ethnischen Gemeinschaften gerade in den sich
rasch modernisierenden Gesellschaften ist ein Zeichen dafür, daß es mit der
Bedienung des Bedürfnisses nach physischem Wohlbefinden alleine bei wei-
tem nicht getan ist.
Alles hängt aber dann davon ab, ob es in diesem Rahmen wieder die klei-
nen und stabilen Lebenswelten gibt, die die Voraussetzung für eine effiziente
Produktion von sozialer Wertschätzung bilden. Und gerade die sind ja durch
die anonymen „Systeme“ der modernen „Gesellschaft“ in hohem Grade ge-
fährdet. Es tut sich also ein gesellschaftlich ohne Zweifel folgenschweres Di-
lemma auf: Es gibt – vor die Wahl von „Gemeinschaft“ oder „Gesellschaft“
gestellt – offenbar eine unvermeidliche Unterversorgung bei jeweils einem der
beiden allgemeinen Bedürfnisse.
Die jeweilige Art der Unterversorgung hat – darauf kann nicht oft genug hingewiesen werden
– jeweils unhintergehbare technische Gründe der speziellen gesellschaftlichen Organisation
der sozialen Produktionsfunktionen. Sie sind allein deshalb strukturell angelegt und – zu-
nächst jedenfalls – ganz und gar unvermeidlich: Was den Wohlstand erzeugt, unterminiert
notwendigerweise die Versorgung mit Affekt und Wertschätzung. Und was Affekt und Wert-
schätzung bereitstellen kann, gefährdet unvermeidlich die effiziente Produktion der materiel-
len Lebensmittel.

Nicht ohne Grund lebt die Soziologie besonders in ihren sozialphilosophi-


schen Varianten bis in die jüngste Gegenwart hinein von immer wiederkeh-
renden Utopien, die aus diesem Dilemma der strukturellen Unterversorgung
bei jeweils einem der beiden anthropologischen Grundbedürfnisse einen Aus-
weg verheißen. Auch Karl Marx hat von einer solchen Utopie geträumt: In der
kommunistischen Gesellschaft sollte eine Welt der Solidarität im Überfluß
errichtet werden. Mit dem Fehlschlagen des dazu angelaufenen historischen
Großexperiments müssen sich die Menschen erst einmal wieder mit – im Ver-
gleich dazu – deutlich kleiner gefaßten Notlösungen zufriedengeben: Die Le-
benswelten und die „Gemeinschaften“ der Familie, der Teerunden, der
Wohngemeinschaften, der Anarcho-Szene, der Jugendsekten, der Rockerban-
Die Gesellschaft der Menschen 477

den und der Rockkonzerte, wohl auch so manche rechtsradikale Glatzkopf-


Clique, für die Produktion von sozialer Wertschätzung – inmitten der Systeme
einer durchrationalisierten modernen „Gesellschaft“ und ihrer, auch
wohlfahrtsstaatlich untermauerten, Grundversorgung mit den materiellen
Gütern für das physische Wohlbefinden.

Exkurs über Entfremdung

Funktionale Sphären sind eine Form der Organisation sozialer Produktions-


funktionen, die den Akteuren grundsätzlich fremd vorkommen muß: Sie müs-
sen sich den funktionalen Imperativen beugen, weil sie erst dann überhaupt
eine Möglichkeit haben, an die sie eigentlich auch persönlich interessierenden
primären Zwischengüter heranzukommen. Das ist der Preis für die Abkopp-
lung der Funktionserfüllung von den unmittelbaren privaten Motiven der
Menschen.
Wer interessiert sich in der Politik denn eigentlich wirklich für die lieben Wählerinnen und
Wähler da draußen in diesem unserem Lande? Wahrscheinlich niemand. Warum tun die Poli-
tiker dann aber immer so beflissen, als ob? Die Antwort ist leicht zu geben: Erst müssen ein-
mal Wählerstimmen gewonnen werden, weil sonst nichts geht in der Politik – und in der Lö-
sung der privaten sozialen Frage unseres Politikers. Die Maximierung der Wählerstimmen ist
das primäre Zwischengut bzw. der funktionale Imperativ in der demokratischen Organisation
der Politik. Und darum dreht sich dort letztlich alles – und eben nicht vordergründig um die
private Nutzenmaximierung der Politiker. Gerade das Gegenteil ist ja der Fall: Er ist verloren,
wenn herauskommt, daß ihn im Grunde nur sein eigenes Wohl interessiert. Und wenn die Po-
litik für einen sog. Berufspolitiker die einzige soziale Produktionsfunktion auch seiner priva-
ten Existenz abgibt, dann geht der auch schon einmal zu einem lächerlichen Krabbenpulen,
obwohl er auch das nicht richtig kann und wohl selbst etwas lachhaft findet. Und er lügt –
wenn‘s denn sein muß – seine lieben Wählerinnen und Wähler mit treuestem Softieblick an,
daß sich die Balken biegen.

Aber seien wir nicht allzu pharisäerhaft. Denn erst mit einer gewonnenen
Wahl kann unser Berufspolitiker ja an die Produktion der ihn wirklich interes-
sierenden personalen Zwischengüter denken: Ansehen draußen im Lande, ei-
ne Villa und eine Geliebte im Tessin oder ein Platz im Buche der Geschichte,
vielleicht ja sogar die Durchsetzung der politischen Idee, wegen der er ange-
treten ist und gewählt wurde. Auch Politiker zählen ja zur Spezies des homo
sapiens und teilen mit allen anderen Exemplaren dieser Gattung das Bedürfnis
nach sozialer Wertschätzung und nach physischem Wohlbefinden. Und des-
halb tut auch ein Politiker – wie jeder normale „Rollenträger“ – alles, was das
Amt und die Funktion von ihm verlangen, obwohl es ihn oft genug „eigent-
478 Die Konstruktion der Gesellschaft

lich“ nicht die Bohne interessiert. Und wenn er seine Sache gut, also nach den
Vorgaben der Imperative der funktionalen Sphäre der Politik, macht, dann
sollten uns seine Motive auch ganz egal sein.
Durch die funktionale Art der Nutzenproduktion wird also auf strukturelle
und damit: unvermeidliche, Weise eine gewisse „Entfremdung“ der Menschen
von dem erzeugt, was sie „eigentlich“ wollen. Sie wünschen sich immer nur
soziale Wertschätzung und physisches Wohlbefinden. Sie können diese Wün-
sche aber nur über Zwischengüter erfüllen. Bei arbeitsteiliger, funktionaler
Organisation der primären Zwischengüter sind diese Zwischenprodukte schon
strukturell relativ weit weg von dem, was die Menschen tatsächlich umtreibt –
weil sie Interessen entwickeln müssen für Dinge, die zwar funktional „pri-
mär“ sind, aber für sie selber oft alles andere als von primärer Bedeutung und
unmittelbarer Nähe zu ihren Bedürfnissen.
Deshalb sind moderne Gesellschaften stets – und von ihrer Konstruktion
her: unvermeidlicherweise – von einem starken Hauch der Entfremdung
durchzogen. Entfremdung ist die unmittelbare und unvermeidliche Folge der
Arbeitsteilung, der Entstehung spezifischer funktionaler Sphären und der ge-
neralisierten Medien ohne jeden weiteren „konsummatorischen“ Gehalt – und
der Preis dafür, daß die Mittel für das physische Wohlbefinden drastisch
reichhaltiger zur Verfügung stehen als – etwa – in den geschlossenen Anstal-
ten der einfachen Stammesgesellschaften.
Der Begriff der Entfremdung hat eine lange philosophische Tradition und spielte in der So-
ziologie bis vor kurzem eine durchaus beachtliche Rolle. Unter Entfremdung wird – ganz all-
gemein – eine bestimmte Beziehung der Akteure zu ihrer Umwelt verstanden: Die Umwelt
erscheint den Akteuren als eine fremde und unkontrollierbare Macht, und das Handeln wird
in dieser Umwelt als eine inhalts-, sinn- und beziehungslose Tätigkeit gesehen. Der Begriff
kann auf die Sozialphilosophen Jean Jacques Rousseau (1712-1778) und Georg Wilhelm
Friedrich Hegel (1770-1831) zurückgeführt werden. Rousseau meinte, daß mit dem Privatei-
gentum und mit der Arbeitsteilung der eigentlich ganz zufriedenstellende Naturzustand been-
det worden sei und daß die damit verbundene Unterwerfung des Menschen unter einen Ge-
sellschaftsvertrag zur „Entäußerung“ von der ursprünglichen Freiheit und zur Entfremdung
von seinem natürlichen Wesen geführt habe. Hegel sieht in einer besonderen Form der Orga-
nisation der gesellschaftlichen „Arbeit“ das Problem. Einerseits sei die Arbeit das entschei-
dende Mittel zur Aneignung der Welt, zur Überwindung der Fremdheit mit der objektiven
Welt und zur Vergrößerung der Kontrolle darüber: Arbeit sei Teil der „Selbsterzeugung“ des
Menschen. Entfremdung entstehe dann, wenn durch die Arbeit eine solche „Selbst“-
Erzeugung nicht mehr erfolge. Dies sei besonders dann der Fall, wenn die Produktion und die
Aneignung der Produkte auseinanderfallen – wie bei der Arbeitsteilung und unter den Regeln
des Privateigentums. Kurz: Wenn es ein Allokationsproblem bei der Arbeit als sog. Koopera-
tionsgut gebe (vgl. dazu noch Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“).

Die soziologische Diskussion des Begriffs der Entfremdung ist eng mit Karl
Marx verbunden. Mit Hegel interpretiert er die Arbeit als Selbsterzeugung des
Menschen, und von Rousseau und von Hegel übernimmt er die Überzeugung,
Die Gesellschaft der Menschen 479

daß das Privateigentum und die Arbeitsteilung diesen Prozeß der Selbsterzeu-
gung unterbreche. Anders als Rousseau glaubt Marx aber, daß der Mensch
immer ein vergesellschaftetes Wesen sei und daß es jedenfalls die Vergesell-
schaftung des Menschen selbst nicht wäre, die zwingend zur Entfremdung
führt. Es ist – so Karl Marx – vielmehr der mit dem Privateigentum und mit
der Arbeitsteilung in den kapitalistischen Gesellschaften zum Höhepunkt ge-
kommene „Warencharakter“ der Arbeit, der zur Entfremdung des Menschen
von seiner Tätigkeit führt, nicht aber die Arbeit an sich oder das Ende des Na-
turzustandes (vgl. dazu auch schon die Abschnitte 3.1 und 4.6 in diesem
Band). Das ist – wie Karl Marx in seiner Jugend vor allem noch träumte – in
der kommunistischen Gesellschaft ganz anders. Dort gibt es das Privateigen-
tum nicht mehr, sind folglich die sozialen Klassen und die Klassenkonflikte
aufgehoben, und alle Menschen haben nur noch gemeinsame Interessen (siehe
dazu auch schon Abschnitt 12.3 in Band 1, „Siutationslogik und Handeln“,
dieser „Speziellen Grundlagen“). Entfremdung herrscht solange wie die
„ ... Spaltung zwischen dem besondern und gemeinsamen Interesse existiert, solange die Tä-
tigkeit also nicht freiwillig, sondern naturwüchsig geteilt ist, die eigne Tat des Menschen ihm
zu einer fremden, gegenüberstehenden Macht wird, die ihn unterjocht, statt daß er sie be-
herrscht. Sowie nämlich die Arbeit verteilt zu werden anfängt, hat Jeder einen bestimmten
ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann;
er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker und muß es bleiben, wenn er nicht die
Mittel zum Leben verlieren will ... .“17

Anders gesagt: Die primären Zwischengüter – und erst recht: die Mittel zu de-
ren Erzeugung – sind bei der „naturwüchsigen“, von den Menschen nicht kon-
trollierten, Arbeitsteilung sehr weit weg von den „eigentlichen“ Bedürfnissen,
von der Erzeugung von sozialer Wertschätzung und physischem Wohlbefin-
den also:
„Die soziale Macht, ... die durch das in der Teilung der Arbeit bedingte Zusammenwirken der
verschiedenen Individuen entsteht, erscheint diesen Individuen, weil das Zusammenwirken
selbst nicht freiwillig, sondern naturwüchsig ist, nicht als ihre eigne, vereinte Macht, sondern
als eine fremde, außer ihnen stehende Gewalt, von der sie nicht wissen woher und wohin, die
sie also nicht mehr beherrschen können, die im Gegenteil nun eine eigentümliche, vom Wol-
len und Laufen der Menschen unabhängige, ja dies Wollen und Laufen erst dirigierende Rei-
henfolge von Phasen und Entwicklungsstufen durchläuft.“ (Ebd., S. 34; Hervorhebung nicht
im Original)

Das ist in der kommunistischen Gesellschaft ganz anders,

17
Karl Marx und Friedrich Engels, Die Deutsche Ideologie: I. Feuerbach, in: Marx-Engels-
Werke Band 3, Berlin 1962, S. 33.
480 Die Konstruktion der Gesellschaft

„ ... wo Jeder nicht einen ausschließlichen Teil der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem belie-
bigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben
dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu
fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust ha-
be, ohne je Jäger oder Hirt oder Kritiker zu werden.“ (Ebd.; S. 33)

Die kommunistische Gesellschaft ist, trotz nachhaltiger Bemühungen zu ihrer


Einrichtung, nicht heraufgekommen. Im Gegenteil. Karl Marx hat wohl über-
sehen, daß der materielle Überfluß, der erst die von ihm geschilderte kommu-
nistische Erlebnisgesellschaft ermöglicht, in der jeder das tun kann, wozu er
gerade Lust hat, auch wirklich und verläßlich produziert werden muß. Die
„Gesellschaft“ tut das aber nicht, sondern immer nur die Menschen. Und für
diese Produktion ist eine – in einem gewissen Maß auch entfremdende – Ar-
beitsteilung ganz unvermeidlich, bei der eben – wenigstens zeitweise – nun
wirklich nicht jeder „heute dies, morgen jenes tun“ kann. Und sie ist wohl
auch nicht möglich ohne die Institution des Privateigentums (vgl. dazu auch
noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Woher soll
denn jemand motiviert sein, eine Arbeit zu tun, deren Früchte er nicht behal-
ten kann? Kurz: Ohne Arbeitsteilung und ohne Privateigentum sähe es bald
überall so aus wie in den Häusern an der Hafenstraße, wie in einer WG in
Kreuzberg oder wie in der DDR zum Ende ihrer Tage – und zum großen Teil
auch heute noch. Aber die Sache ist so hoffnungslos nicht: Die Menschen
müssen nur hinreichend motiviert sein, die gesellschaftlichen Funktionen zu
übernehmen, die für eine weitläufig organisierte arbeitsteilige Produktion er-
forderlich sind. Die Motivation über eine bloß „gesellschaftlich“ – und nicht
auch „lebensweltlich“ – vermittelte soziale Wertschätzung stößt aber rasch an
Grenzen, weil – beispielsweise – auf die Dauer der Titel eines Helden der Ar-
beiterklasse etwas wenig ist, wenn die Mittel für das physische Wohlbefinden
fehlen und die Menschen in ihrem Alltag nur noch mitleidig und resigniert auf
„die da oben“ im Politbüro blicken können. Letztlich muß auch etwas heraus-
kommen, was die Akteure unmittelbar interessiert, oder was sie ganz nach ih-
rem Belieben für die Nutzenproduktion einsetzen können.
Ein anderer Weg der Aufhebung der Entfremdung wäre die Internalisierung der funktionalen
Pflichten als ein Bedürfnis der Akteure. Und in der Tat hat die Soziologie – vor allem mit
Emile Durkheim und Talcott Parsons – auf diese moralische Karte gesetzt: Das personale
System müsse mit dem sozialen und mit dem kulturellen System über die „Sozialisation“ der
Menschen in Deckung gebracht werden. Aber: Das wird dann immer schwieriger, je hetero-
gener die funktionalen Felder sind, in denen die Menschen sich aufhalten. Und für „komple-
xe“ Gesellschaften kann es auch immer nur eine sehr allgemeine und abstrakte Moral sein,
auf die hin sozialisiert wird. Und die Folge: Auch die Internalisierung ist keine Lösung des
Entfremdungsproblems – jedenfalls um so weniger, je komplexer und je stärker funktional
differenziert die Gesellschaften werden.
Die Gesellschaft der Menschen 481

In diesem Zusammenhang – dem Problem der Motivation der Menschen für


die Übernahme von Funktionen, die sie „eigentlich“ gar nicht interessieren –
spielt die Erfindung der generalisierten Medien, insbesondere die des Geldes
eine interessante und wichtige, ja eigentlich unersetzliche Rolle. Weil Geld in
seiner Wirkung schon fast ein Verfügungsrecht über unspezifizierte Gegen-
leistungen – fast – aller Art darstellt, fungiert es als ein indirektes Zwischen-
gut mit einer sehr hohen Effizienz für – fast – alle Akteure mit – fast – belie-
bigen Motiven in – fast – allen Situationen: Es ist ein generalisiertes primäres
Zwischengut, ein ganz allgemeines und hochwirksames Medium der Nutzen-
produktion und der Situationsdefinition, das die Menschen mit ganz unter-
schiedlichen privaten Motiven dazu bringt, ohne Klagen und ohne Fragen eine
ihnen im Grunde immer recht fremd vorkommende Arbeit zu tun. Wegen die-
ser enormen Effizienz als praktisch beliebig einsetzbares – und deshalb so
ungemein interessantes – „Medium“ ist Geld so begehrt. Geld stinkt genau
deshalb nicht. Und deshalb ist es auch – mit der Liebe und der Ehre – einer
der wichtigsten und häufigsten Anlässe für Mord und Totschlag.
Durch Geld können also – ganz anders als dies das Gejammer vor allem
dann der großbürgerlichen Anhänger der Kritischen Theorie über die Ent-
fremdung der Menschen in der Warengesellschaft einst gemeint hat – die Ent-
fremdung der Menschen von seiner Tätigkeit in den funktionalen Sphären
durchaus verringert und die Effizienz der Wohlstandsproduktion in der Folge
der Arbeitsteilung deutlich erhöht werden. Man muß nur genug davon haben
oder als Entlohnung für seine entfremdete Tätigkeit bekommen. Dann kann
man sich auch die unter Umständen teuren personalen primären Zwischengü-
ter für die ganz privaten Motive wirklich leisten, an die man eigentlich immer
– als Datenschützer, als Ausländerbeauftragte oder als Bundeskanzler – nur
insgeheim denkt, aber immer so tun muß, als interessierte das alles nicht. Geld
allein, so wußte Arthur Schopenhauer, sei das „absolut Gute“. Wer davon ge-
nügend habe, werde immun gegen Bedürftigkeit und Plage und sei ein wahr-
haftig freier Mensch. Nur er dürfe jeden Morgen sagen: „Der Tag ist mein!“.
Jetzt fehlt nur noch eines: die Zeit, es für die ganz persönlichen primären Zwi-
schengüter auszugeben. Aber auch die kann man sich für Geld kaufen. Es ist
alles nur eine Frage des Preises, der Höhe des Budgets oder der Erbschaft.
Frag nach bei Jan Philipp Reemtsma.
„Entfremdung“ heißt in dieser Hinsicht also nur „Unterbezahlung“. Mit
Geld kann man sich aber vermutlich nicht die Solidarität und jene affektuell
geprägte Wertschätzung kaufen, die sich aus der gemeinsam gewollten Pro-
duktion von sehr primären Zwischengütern ergibt. Und für diese Produktion
sind die funktionalen Sphären und die Bezahlung mit Geld in der Tat meist
nicht sehr geeignet. Deshalb – und nicht so sehr wegen der Entfremdung von
482 Die Konstruktion der Gesellschaft

der Selbsterzeugung durch die Arbeit – bilden sich in den – unvermeidlich:


entfremdenden – funktionalen Sphären unweigerlich bald die bekannten klei-
nen Lebenswelten der Teerunden und der Bürofreundschaften aus. Sie sind
ein Ergebnis der immer auch vorhandenen Nachfrage zur Erzeugung sozialer
Wertschätzung – gerade inmitten eines Überflusses an Geld und materiellem
Wohlstand.
Jürgen Habermas hat die Felder der Erzeugung fragloser Verständigung und nicht-
entfremdeter Solidarität im Alltag als „Lebenswelt“, die gesellschaftlichen Orte der auf ano-
nymen Beziehungen und entfremdeter Tätigkeit beruhenden funktionalen Sphären – Märkte,
Großorganisationen, Bürokratien und staatliche Organe – als „Systeme“ bezeichnet.18 Seine
grundlegende Hypothese ist, daß in diesen Systemen nicht genügend an kommunikativer Ver-
ständigung und an fragloser Solidarität erzeugt werden kann, daß diese Systeme die Lebens-
welten der fraglosen Solidaritätserzeugung bedrohen und in ihren Imperativen in sie hinein
„durchgreifen“ und daß daher Gesellschaften, die vorwiegend über „Systeme“ organisiert
sind, ein strukturell erzeugtes Defizit an Solidarität und legitimierender Unterstützung haben
(vgl. dazu schon Kapitel 6 in diesem Band und noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Spe-
ziellen Grundlagen“). Aus diesem Defizit ergebe sich eine strukturelle Grenze für die immer
weiter getriebene funktionale Differenzierung und „Entzauberung“ der Gesellschaft und eine
strukturelle Tendenz zur Entwicklung von moralisch hochstehenden Lebenswelten – zum
Beispiel in den neuen sozialen Bewegungen des alternativen Milieus.

Die Lebenswelten der Teerunden und Kaffeekränzchen inmitten der Systeme


der funktionalen Sphären sind also durchaus nichts Verwunderliches oder et-
was Anachronistisches: Weil die Produktion der sozialen Wertschätzung ein
allgemeines Bedürfnis der Menschen als Gattung ist, bleibt auch in der kom-
plexesten Gesellschaft und bei aller Versorgung mit materiellem Reichtum
und mit Geld immer das Bestreben, auch die dafür nötigen primären Zwi-
schengüter herzustellen. Und wenn die Lebenswelten, die das bisher geleistet
haben, verfallen, dann organisieren die so vermißten Erlebnisse einer „authen-
tischen“ Gemeinschaft eben Unternehmer, die dafür viel Geld nehmen. Aber
das Geld dafür haben die Menschen. Und gerade wegen ihres Wohlstandes
sind sie so entfremdet und bedürfen der kostspieligen Organisation von Ge-
meinschaften, die ihnen die Entfremdung wieder nehmen, wenigstens für ein
paar Stunden.

18
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Register

Abweichung, abweichendes Verhalten Devianz-Bereich(e) 46, 97f., 101ff.


92f., 101ff. Differenzierung
Aggregate 48ff. ethnische 290ff.
Aggregatpsychologie 2 funktionale 64ff., 71ff., 242f., 246f.,
AGIL-Schema 72, 384ff. 385f.
Akteure kulturelle 79ff.
kollektive 48f. normative 97ff.
korporative 48f. soziale 51ff., 63ff., 109, 244ff.
Akteurskonstellation 47ff. und Integration 78
Aktivitätssysteme, situierte 44 Diskriminierung 299
Anomie 100f. Distanzierung, soziale 298f.
Anomie-Schema 98ff. Distinktion 82ff.
Arbeitsteilung 64f. Effekte, individuelle 1ff., 16ff.
Aspirationen 205ff. Ehre 140f.
Assimilation 285ff., 287ff., 338, 294f., Eigendynamik 361ff., 431
304ff. Emergenz 2ff., 18
Assoziation 40 deskriptive 4ff
Bedürfnisse 89ff., 479 explanatorische 4ff.
Bewegung 48 von unten 7ff.
alte soziale 106 Ensembles 44
neue soziale 106f. Entfremdung 477ff.
Protest- 46 Entwicklungsgesetze 308
soziale 46, 104ff. Erklärung
Beziehung, soziale 14, 32 genetische 408f.
Bezugsgruppen 206f., 427 H-O- 19, 406ff.
Bezugsrahmen 427 historische 405ff.
Biographie 127 historisch-genetische 410ff.
Chaos, deterministisches 349 Tiefen- 9ff., 19
Cournot-Effekte 413 Erlebnisse 86f.
Dämpfung 350 Evolution 73ff., 307, 349ff., 356ff.,
Definition der Situation 458f.
objektive 427, 434 biogenetische 356f.
subjektive 427, 434 Ko- 36, 359f., 371ff., 425
Definition, partielle 20f. multilineare 393f.
Dekret 72 soziokulturelle 357f.
Desintegration 280f. unilineare 393
deviante Alternativen 47 evolutionäre Universalien 388f.
Devianz 100f.
498 Register

Exklusion 52f., 233ff. Historismus 406f.


Total- 249f. Historizismus 409
-sverstärkung 250ff. Homöostase 354
Expression 85 Idealtypus 460ff.
Feedback Identifikation 274f., 427
negatives 351 Identität 427
positives 351 Individualisierung 163ff., 166ff.
Fehlschluß, individualistischer 1 Individualismus, Methodologischer 3f.,
Figuration 44 8, 13
FJH-Hypothese 200f. Industrialisierung 209f.
funktionale Imperative 47, 67f. Initiative 46, 105
funktionale Sphäre(n) 45, 68f. Inklusion 52f., 233ff., 257f.
Funktionalismus 355f. Konstitutions- 235ff.
funktionalistische Schichtungstheorie Markt- 235ff.
221ff. multiple Partial- 248
Funktionsverlust 66f. Plazierungs- 235ff.
Ganzheit 6f. Regel- 235ff.
Gebilde, soziale 36f. Voll- 247
Gegenkultur(en) 46, 103f. Integration 78f., 257, 261ff., 285ff.
Geld 481f. als funktionales Erfordernis 263f.
Gemeinschaft und Gesellschaft 471ff. Begriff der 261ff.
Gerechtigkeit 230 Binnen- 301f.
Geschichte (und Soziologie) 399ff. Deferenz- 276f.
Gesellschaft 1, 51, 425ff. Des- 280f.
Entwicklung der menschlichen horizontale 267f.
435ff. Mehrfach- 287
Entwicklungsgesetze der 308 Re- 282
funktional differenzierte 283ff., Sozial- 257f., 268, 271ff., 286f.
451ff. System- 78f., 268, 270ff., 290ff.
multiethnische 291ff. und Netzwerkstrukturen 268ff.
multikulturelle 285ff. Verkettungs- 276f.
segmentär differenzierte 436ff. vertikale 267f.
stratifikatorisch differenzierte 440ff. Wert- 275f.
Sub- 281 Interaktion 32, 273f., 427
Gini-Index 117f. Interaktionssystem 344ff.
Gleichgewicht 353ff. Interdependenz(en) 37, 121, 264f.
funktionales 355f. intermediäre Instanzen 61f.
situationslogisches 465ff. Internalisierung 480
Globalisierung 391 Interpenetration 270f.
Gruppe(n) 40ff., 427 Irreduzibilität 5ff.
Bezugs- 206f., 427 Kapital, kulturelles 327
Primär- 427 Kaste(n) 131, 136ff.
Habitus 82ff. in Indien 137f.
Handeln Quasi- 138f.
nicht-soziales 32 Katastrophe 349
soziales 32 Kategorien 47ff.
strategisches 32 Klasse 131ff., 317ff.
Handlungsfelder 44 Klassenschema(ta) 153ff.
Herrschaft 39, 219f. nach Goldthorpe 158ff., 164
Register 499

nach Müller 164f. Markt 39, 140f., 224f., 265f., 270f.


nach Wright 153ff. Medien, symbolisch generalisierte 270f.
Klubs 48 Mehrebenen
Koalitionen 48 -Inklusion 60
Kollektivbegriff(e) 5 -Organisation 60f.
Kollektivbewußtsein 7 -System 59
Kollektive 47ff. Meso-Ebene 60ff.
Kollektivismus, Methodologischer 3f. Milieus, soziale 171ff.
Kommunikation 32f., 427 Minderheiten, ethnische 286ff.
Konflikte 39, 121 Mobilität
ethnische 291, 303f., 418ff. Abstrom- 178f.
Klassen- 291 horizontale 182
regionale 291 individuelle 181f.
religiöse 291 intergenerationale 183
Konstitution intragenerationale 183
Ko- 36, 425, 430 kollektive 183f.
soziale 428 soziale 175ff., 311ff.
systemische 427 strukturelle 181f.
von oben 7ff. vertikale 182
Kooperation 32, 121 Zirkulations- 181
antagonistische 38 Zustrom- 178f.
Koorientierung 14ff. Mobilitätsfalle 229f., 301f.
Kulturation 272 Mobilitätsregime(s) 188ff.
kulturelle Fokalobjekte 47, 81 Modelle
kulturelle Milieu(s) 45, 80ff. formale 23f.
Kumulation 347f., 350 Prozeß- 23f.
Lage Situations- 23f.
gesellschaftliche 47ff., 118ff. Struktur- 27ff., 315
soziale 169f. Modernisierung 209f., 388ff., 392f.
Lebensführung 81ff. Nahumwelt 427
Lebensstil 80, 86ff., 171ff. Narration 406
Lebensstilgruppen 80, 172 Netzwerk(e) 40ff.
Lebensweise 79ff. Policy- 61f.
Lebenswelt 427, 482 Vermittlungs- 61f.
Leistungsrollen 243 operative Geschlossenheit 8
Log-lineare Analyse 195 Opportunitäten 427
Logik des sozialen Wandels 339ff. Ordnung, soziale 37ff., 285
nach Boudon 344ff. Organisation 40ff., 265f., 270f.
nach Hernes 340ff. Orientierung 265f., 426
Logik Oszillation 350
der Aggregation 13ff., 19ff., 428f. Pfadabhängigkeit 361ff., 431
der Selektion 428 Pfadanalyse 203f.
der Situation 426f. Plazierung 272f.
Logistische Regression 314 Positionsgut 328
Lorenzkurve 115f. Prestige 83ff., 129f.
Macht 44, 130 Privilegien 129f.
Machtbalance 44 Protest 105
Marginalisierung 251 Psychologismus 13
Marginalität 277f., 287 Publikumsrollen 243
500 Register

Race Relation Cycle 330ff. Beziehungs- 430


Realtypus 462f. Differenzierungs- 429
Rechte 241 Infra- 426, 429
Reduktion 5ff., 9ff., 13 institutionelle 429
Reduktionismus 9ff., 12ff. Interdependenz- 429
Regeln 241f., 427 korporative 430
Reintegration 282 Sinn- 429
Repräsentationen, kollektive 7 soziale 309ff., 426, 429
Reproduktion 347ff. Super- 426, 429
einfache 343f. Ungleichheits- 429
erweiterte 343f. Strukturierung, gesellschaftliche 426ff.
funktionale 349f., 352ff. Strukturmodelle 27ff., 315, 414
gleichgewichtige 429 Strukturtheorien 417ff.
repetitive 353f. Subkultur(en) 46, 102f.
Requisiten, funktionale 7 System
Revolte 46, 106 -Abgrenzung 53f.
Revolution 46, 105, 361 -Aggregation 58f.
Schichtindex 152f. -beziehungen 53ff.
Schichtung -Durchdringung 57f.
ethnische 138f., 293ff., 303f. -Inklusion 54f.
soziale 131, 143 ff. kulturelles 34f.
Schichtungsmodell psychisches 34f.
nach Bolte 148f. -Relationen 57
nach Dahrendorf 149f. soziales 14ff., 31ff., 34f., 234f.
nach Geiger 145f. Systemtheorie, soziologische 6ff., 254ff.
nach Geißler 149ff. Szene(n) 45, 79f., 86ff.
Schließung 84f. Theorien mittlerer Reichweite 29, 417ff.
Segmentation 281f., 287, 299ff. Transaktion 32
Segregation 299f. Transformation 343f., 347f., 356ff.
Selbstorganisation 95 Transformationsbedingung 16ff., 24f.
Selbstregulation 349, 351, 353ff. Transformationsregeln 2ff., 13ff., 16ff.,
Selektion, strukturelle 394ff., 432 20ff., 24f., 336f.
Sharing-Groups 472ff. als institutionelle Regeln 21f.
Situation als formale Modelle 23f.
parametrische 32 als partielle Definitionen 20f.
soziale 32 als statistische Aggregationen 21
Situationslogik 1, 418ff. einfache 20f.
Situs 182 Kombination der 26f.
Sozialisation 272, 428 komplexe 21ff.
Staat 162f. Transition 343f.
Stand 131ff., 135f. Ungleichheit
Status 182 Bildungs- 317ff.
sozio-ökonomischer 151ff. biographische 127f.
Statussymbol(e) 84f. Chancen- 317ff.
Statusvererbung 177, 185ff., 327ff. demographische 122
Statuszuweisung 175ff., 201ff. Erklärung nach Lenski 217f.
Modelle der 203ff. funktionale 123f., 429ff.
Struktur(en) 425ff. Funktionen der 221ff.
Bewertungs- 429 horizontale 128f., 431
Register 501

kulturelle 123ff., 429ff.


neue soziale 132, 166ff.
normative 123ff., 429ff.
Reproduktion der sozialen 228ff.,
318ff.
soziale 51ff., 113ff., 244ff.
-sstruktur 130f.
theoretische Konzepte der sozialen
131ff.
Ursachen der 214ff.
vertikale 128f., 431
Utopie 475f.
Variablensoziologie 2
Verbände 48f.
Verfassung 72
Verhandlungen 43f.
Vertrag 73
Vorurteile 298
Wandel
als multilineare Evolution 392ff.
endogener 351f., 431
exogener 351f., 431
funktionalistischer Ansatz des 382ff.
Gesetze des sozialen 329f.
konflikttheoretischer Ansatz des
sozialen 377ff.
Logik des sozialen 339ff.
sozialer 307ff.
Soziologie des sozialen 376ff.
Theorien des sozialen 308
„wirklicher“ sozialer 368ff.
Werturteile 469ff.
Zusammenkunft 40ff.
Zwischengüter
indirekte 89
personale 89f.
primäre 89f.

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