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Hartmut Esser
Soziologie
Spezielle Grundlagen
Campus Verlag
Frankfurt/New York
Soziologie
Spezielle Grundlagen
Vorwort VII
6. Integration 261
Exkurs über die Ko-Evolution von Basis und Überbau am Beispiel 371
der protestantischen Ethik und des Geistes des Kapitalismus und
über die Lehren, die man daraus für die Erklärung des sozialen Wan-
dels ziehen kann
7.5 Die Soziologie des sozialen Wandels 376
Literatur 483
Register 497
Vorwort
Eine Gesellschaft ist nicht einfach die Summe ihrer Teile, und soziale
Prozesse lassen sich meist auch nicht schlicht nur über die Einstellungen und
das Handeln der Akteure erklären.
In Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ war ausführlich
der Fall der studentischen Unruhen an den amerikanischen Universitäten in den 60er Jahren
besprochen worden. Dabei gab es eine, auf den ersten Blick zunächst wenigstens, recht
unverständliche Paradoxie: Die Unruhen gab es zuerst und am heftigsten an den
Eliteuniversitäten, wie Berkeley oder Yale, und eben nicht dort, wo man hätte wirklich
unzufrieden sein können – in der muffigen Provinz. Die naheliegende „idealistische“
Hypothese, wonach sich diese Paradoxie über das besondere kritische Bewußtsein der
„Elite“-Studenten erklären ließe, erwies sich bald angesichts einer ganz anderen
„Situationslogik“ als wenig plausibel: Die Studenten fühlten sich an den Eliteuniversitäten
mit ihren horrenden Gebühren stark vernachlässigt, weil es hier zwar die Stars der
Wissenschaft als ihre Hochschullehrer gab, die aber weniger auf dem Campus als in der Luft
und auf weltweiten Kongreßreisen zu finden waren, was der „strukturelle“ Grund für die
Unzufriedenheit der Studenten mit den „gesellschaftlichen Verhältnissen“ war. Bis an diese
Stelle der Analyse funktionierte die „situations-logische“ Rekonstruktion des Geschehens
noch ganz gut, insbesondere weil es jetzt nur noch eine Annahme gab, um den
Zusammenhang zwischen dem Ansehen der Universität und dem Entstehen der studentischen
Proteste zu erklären – die Annahme nämlich, daß Frustrationen auch – mehr oder weniger
unmittelbar – Widerstand und Revolten erzeugen. Das ist aber, wie wir spätestens seit Alexis
de Toqueville mit seinem sog. Toqueville-Paradox wissen, eine viel zu einfache Annahme:
Revolutionen und Unzufriedenheiten hängen keineswegs direkt miteinander zusammen, und
oft sind es kleine, scheinbar unbedeutende Umstände, die das Faß zum Überlaufen bringen,
oft genug sogar dann, wenn die Unzufriedenheiten gar nicht besonders stark sind. Und zum
Schluß von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, wurden dann, etwa in den Abschnitten
10.4 und 12.3, einige Hinweise darauf gegeben, warum genau Revolten und Revolutionen
nicht einfach bloß das Ergebnis der „Addition“ individueller Frustrationen sind, sondern von
manchmal sehr speziellen Bedingungen abhängig sind.
Mit den Einstellungen und den daraus – eventuell – folgenden Handlungen der
Akteure hat man also in der Tat nur einen Teil eines „gesellschaftlichen“
Phänomens erklärt – die sog. individuellen Effekte. Gelegentlich wird zwar
angenommen, daß die individuellen Effekte in der Tat schon alles seien und
daß das Ganze tatsächlich nichts weiter wäre, als die einfache Summation
2 Die Konstruktion der Gesellschaft
Emergenz
Aus der Sicht einer rein aggregatpsychologischen Erklärung wären einige der
Schwellenwerteffekte oder das Tocqueville-Paradox, von denen in Band 1,
„Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ berichtet
worden war, eine Anomalie: Ein Kollektiv mit einem höheren
durchschnittlichen Protestpotential sollte eigentlich für die Aktivierung des
Protestes anfälliger sein als eines mit einem geringeren. Aber was geschah?
Genau: Manchmal stimmte das, manchmal nicht, und je größer gar die
„betroffenen“ Gruppen sind, um so unwahrscheinlicher wird, daß sie sich zu
einem kollektiven Handeln zusammenschließen. Unglaublich, aber wohl
wahr! Es ist, so könnte man meinen, etwas aufgetaucht, was eigentlich nicht
zu erwarten war: Revolutionen brechen eben nicht unbedingt schon dann aus,
wenn die Not am größten ist und wenn sehr viele ein Interesse an ihr haben.
Der philosophische Fachausdruck für derartige Phänomene des
Auftauchens neuer Vorgänge, die entstehen können, wenn sich Teile zu einem
Ganzen zusammenfügen, ist der der Emergenz, abgeleitet von dem lateini-
1
Vgl. dazu insbesondere schon die frühen Vorschläge von Siegwart Lindenberg,
Individuelle Effekte, kollektive Phänomene und das Problem der Transformation, in:
Klaus Eichner und Werner Habermehl (Hrsg.), Probleme der Erklärung sozialen
Verhaltens, Meisenheim am Glan 1977, S. 46-84; Siegwart Lindenberg und Reinhard
Wippler, Theorienvergleich. Elemente der Rekonstruktion, in: Karl Otto Hondrich und
Joachim Matthes, Theorienvergleich in den Sozialwissenschaften, Darmstadt und
Neuwied 1978, S. 219-231.
Emergenz und Transformation 3
schen Wort „emergere“ für „auftauchen“.2 Gemeint ist dabei, daß das „Ganze“
eine Art von neuer Seinsqualität hat, die sich über die Eigenschaften der Teile
allein nicht erfassen läßt.
Ausgangspunkt für die These von der Emergenz sind im naturwissenschaftlichen Bereich Be-
obachtungen gewesen, wie etwa die, daß aus den Eigenschaften von Wasserstoff und Sauer-
stoff alleine nicht erklärt werden kann, daß daraus Wasser entsteht und daß, etwa, dieses
Wasser Durst löschen und Leben erhalten kann. Jeweils müsse noch etwas „hinzu“ kommen,
was in den „Teilen“ – Sauerstoff und Wasserstoff – nicht vorhanden ist. Im sozialen Bereich
sind es Phänomene wie die Entstehung von sozialen Beziehungen, die Etablierung von Hie-
rarchien, die Genese von Normen oder die soziale Geltung kollektiver Repräsentationen, von
„sozialen Systemen“ also allgemein (vgl. dazu auch noch Kapitel 2 in diesem Band), die, so
glaubt man, aus den Eigenschaften und dem Handeln „isolierter“ Akteure alleine nicht ableit-
bar seien.
2
Vgl. dazu vor allem: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, 4. Auflage, Tübingen
1974 (zuerst: 1960), insbesondere Kapitel 23: Kritik des Holismus. Vgl. zu den
verschiedenen Positionen für und gegen die These von der Emergenz die
Zusammenfassungen einer langen allgemeinen methodologischen Debatte bei: John
O’Neill (Hrsg.), Modes of Individualism and Collectivism, London 1973, darunter
insbesondere die Beiträge von Joseph Agassi, May Brodbeck, Arthur C. Danto, Ernest A.
Gellner, Leon J. Goldstein und John W. Watkins. Vgl. für die Diskussion und Kritik der
sozialwissenschaftlichen Varianten der Emergenzthese und zum Problem der „Reduktion“
speziell der Soziologie auf Aussagen der Psychologie: Hans J. Hummell und Karl-Dieter
Opp, Die Reduzierbarkeit von Soziologie auf Psychologie. Eine These, ihr Test und ihre
theoretische Bedeutung, Braunschweig 1971, insbesondere Kapitel I und II; Alfred
Bohnen, Individualismus und Gesellschaftstheorie. Eine Betrachtung zu zwei
rivalisierenden soziologischen Erkenntnisprogrammen, Tübingen 1975, insbesondere
Kapitel II: Das soziologische Erkenntnisprogramm Emile Durkheims; Alfred Bohnen,
Handlungsprinzipien oder Systemgesetze. Über Traditionen und Tendenzen theoretischer
Sozialerkenntnis, Tübingen 2000; Viktor Vanberg, Die zwei Soziologien, Individualismus
und Kollektivismus in der Sozialtheorie, Tübingen 1975, insbesondere Kapitel 5: Die
kollektivistische Tradition in der Sozialtheorie; Karl-Dieter Opp, Individualistische
Sozialwissenschaft, Stuttgart 1979, S. 86ff., 136ff. Vgl. als neuere Übersicht über den
Problembereich der Emergenz allgemein verschiedene Beiträge bei Ansgar Beckermann,
Hans Flohr und Jaegwon Kim (Hrsg.), Emergence or Reduction? Essays on the Prospects
of Nonreductive Physicalism, Berlin und New York 1992.
4 Die Konstruktion der Gesellschaft
Personen (vgl. dazu auch noch das Beispiel weiter unten). Zu den
„individuellen“ Effekten der Veränderung bei Einzelpersonen tritt also in der
Tat jeweils tatsächlich noch etwas hinzu, und sei es nur, wie bei der
„Emergenz“ einer Freundschaft, eine Definition darüber, wann überhaupt von
einem solchen kollektiven Ereignis gesprochen werden soll, und die Angabe
des Sachverhalts, daß dazu empirisch die Bedingungen vorliegen oder nicht.
Wir sehen daran mindestens aber schon: Ob etwas „emergent“ ist oder
nicht, steht nicht ein für allemal, sozusagen ontologisch, fest, sondern ist von
einigen Vorentscheidungen, etwa über die Definition des kollektiven
Sachverhaltes, insbesondere aber von dem theoretischen Wissen abhängig,
das zur Verfügung steht. Heute findet sich, etwa, die Erklärung, warum
Wasser mit seinen Eigenschaften der Transparenz und der Flüssigkeit, sowie
auch seiner nach Temperatur unterschiedlichen Aggregateigenschaften als Eis
oder Wasserdampf zum Beispiel, aus den chemischen Elementen Wasserstoff
und Sauerstoff entsteht und warum es für biologische Prozesse so wichtig ist,
im Stoff der allgemeinen Schulausbildung, und niemand betrachtet die Sache
mehr als rätselhaft oder sonderlich „emergent“. Sicher ist Wasser „mehr“ als
die Summe seiner beiden Teile Wasserstoff und Sauerstoff. Aber mit den nun
auch einem jeden Oberschüler bekannten chemischen Gesetzmäßigkeiten ist
das Erklärungsproblem seiner Emergenz gelöst. Und in der Soziologie wissen
wir inzwischen sehr genau, wann es, beispielsweise, zu sozialer Ordnung oder
zur Bildung des sozialen Systems etwa einer Protestbewegung kommt und
wann eben nicht (vgl. dazu u.a. noch Band 3, „Soziales Handeln“, dieser
„Speziellen Grundlagen“).
Die These von der Emergenz hat, wenn man genauer hinsieht, eine doppelte
Bedeutung (vgl. dazu Hummell und Opp 1971, S. 11ff.). Sie besagt erstens,
daß es kollektive Phänomene gibt, deren Begriffe sich nicht auf irgendwelche
individuellen Effekte beziehen lassen und daher schon nicht über Begriffe zu
definieren sind, die sich auf Eigenschaften von Individuen beziehen. Das ist
die These von der deskriptiven Emergenz. Beispiele wären der Begriff eines
Kollektivbewußtseins, der der Anomie einer Gesellschaft oder der Begriff der
Gesellschaft als „totales soziales Phänomen“. Das seien, so die These, Sach-
verhalte, die mit den Individuen nichts zu tun hätten und daher nur über
„Kollektiv“-Begriffe zu bezeichnen wären.
Wie bei der Behauptung von der Emergenz ganz allgemein ist es auch hier:
Ob ein Phänomen deskriptiv emergent ist oder nicht, liegt nicht schon von
Emergenz und Transformation 5
vornherein fest, sondern hängt davon ab, was man mit dem Sachverhalt genau
meint und worauf man sich als Sprachregelung einigen kann. Und dabei hat
sich ein interessantes Ergebnis eingestellt: Bisher ist es stets gelungen, die
fraglichen Kollektivbegriffe „individualistisch“ zu deuten, aufzulösen und
begrifflich zu „reduzieren“, wenn man es denn ernsthaft versucht hat.
Versuchen Sie doch einmal selbst, einen reinen Kollektivbegriff zu finden!
Bei der begrifflichen Reduktion der Kollektivbegriffe zeigt sich meist auch, daß selbst die
strikt kollektivistisch argumentierenden Autoren und Verfechter der These von der
deskriptiven Emergenz sich ihrerseits, wenigstens implizit, immer schon, wenigstens partiell,
auf individuelle Effekte beziehen. So ist das, was etwa Emile Durkheim als
Kollektivbewußtsein bezeichnet hat, nichts weiter als der Sachverhalt, daß die individuellen
Akteure einer Gruppe eine bestimmte Einstellung miteinander teilen und daß diese
Einstellung bestimmte kollektive Vorstellungen bei den individuellen Akteuren zum Inhalt
hat, etwa die eines Wir-Gefühls oder einer großen gemeinsamen Vergangenheit. Die
gesellschaftliche Anomie wäre, ebenfalls der Lesart von Durkheim folgend, definierbar als
Auflösung der moralischen Bindungen bei den Individuen, freilich wiederum abhängig von
bestimmten strukturellen Umständen, wie etwa die Verringerung der Kontaktdichte der
Menschen oder ein Wirtschaftsaufschwung. Und ein „totales soziales Phänomen“ schließlich
wäre eines, bei dem die verschiedenen Abläufe der Orientierung, des Handelns, der
Produktion, der Verteilung und der gesamten Reproduktion des Alltags, allesamt also
Vorgänge, die von Akteuren getragen werden, eng aufeinander bezogen sind und
ineinandergreifen. Und immer stellt sich sofort auch die Gegenfrage: Wie sollten ein
Kollektivbewußtsein, die Anomie oder ein „totales soziales Phänomen“ ganz ohne Bezug auf
individuelles Handeln oder individuelle Eigenschaften konzipiert werden können? Als über
den Häuptern schwebender „Gruppengeist“, als Verdünnung eines kollektiven „Milieus“ oder
als eigenständiger kollektiver „Akteur“ ja wohl nicht.
Die zweite These ist die eigentliche Emergenzbehauptung. Es ist die These
von der explanatorischen Emergenz. Sie besagt, daß es grundsätzlich
unmöglich sei, bestimmte Phänomene mit „Ganzheits“-Charakter aus
Theorien abzuleiten, die sich auf die Teile dieser Ganzheiten beziehen.
Beispielsweise: Biologische Prozesse seien grundsätzlich nicht auf
physikalische oder chemi-sche Theorien zurückführbar, oder psychologische
Vorgänge nicht auf biologische, chemische oder physikalische Prozesse: Den
Geist könne man auf phy-siologische Vorgänge nicht reduzieren, und Leib
und Seele seien daher von ihrem Wesen her getrennte Einheiten. Erklären
könne man, so die These von der explanatorischen Emergenz, die
Ganzheitsphänomene nur durch Theorien, die auf der jeweiligen
Emergenzstufe ihres Gegenstandsbereiches angesiedelt sind: biologische
Vorgänge nur über Gesetze der Biologie, psychologische Phänomene nur über
Gesetze der Psychologie und entsprechend soziale Prozesse nur über Gesetze,
die sich auf die Ebene der sozialen Systeme selbst be-ziehen. Soziales nur
über Soziales eben. Es ist die These von der (grundsätzlichen) Irreduzibilität
von Theorien auf einer „Makro“-Ebene des Prozessierens von „Ganzheiten“
6 Die Konstruktion der Gesellschaft
auf Theorien, die sich auf die „Mikro“-Ebene der jeweiligen „Teile“ des
jeweiligen „Ganzen“ beziehen (siehe dazu auch gleich unten).
Die allgemeine Antwort auf die These von der explanatorischen Emergenz
kennen wir im Grunde schon: Ob ein Phänomen „emergent“ ist oder nicht, ob
es „irreduzibel“ ist oder nicht, steht nicht schon a priori und ontologisch fest,
sondern ist eine Frage des Entwicklungsstandes der jeweils verfügbaren er-
klärenden Theorien, insbesondere der zur Auflösung der Emergenzen fast
immer nötigen Mikro-Theorien, etwa die Theorie der chemischen Reaktionen
von Wasserstoff und Sauerstoff, die eben keine Theorie des Wassers „an sich“
ist; oder die soziologische Erklärung von Protesten, die eben auf Akteure und
deren Handeln Bezug nehmen muß, um die „emergenten“ Paradoxien auflösen
zu können. Daher schreiben die „Erfinder“ des Erklärungsschemas, Carl G.
Hempel und Paul Oppenheim, in ihrem epochemachenden Artikel zu dem
Phänomen der Emergenz auch ganz richtig:
„ ... emergence of a characteristic is not an ontological trait inherent in some phenomena;
rather it is indicative of the scope of our knowledge at a given time; thus it has no absolute,
but a relative character; and what is emergent with respect to the theories available today may
lose its emergent status tomorrow.“3
Und das trifft natürlich auch für die sozialwissenschaftlichen Theorien und die
Güte und Leistungsfähigkeit der jeweiligen soziologischen Erklärungen zu.
Die Irreduzibilität des Sozialen, die Ganzheit der Gesellschaft und die
soziologische Systemtheorie
In der Soziologie wird die These von der explanatorischen Emergenz bzw.
von der Irreduzibilität des Sozialen vor allem von der sog. soziologischen
Systemtheorie vertreten, wie sie von Talcott Parsons im Anschluß an einige –
durchaus nicht „irreduzible“! – Überlegungen von Emile Durkheim begonnen
und zu einem imponierenden theoretischen System ausgearbeitet wurde und
die dann von Niklas Luhmann in die heutige Form gebracht wurde.4 Die
These von der explanatorischen Emergenz sozialer Prozesse und Gebilde
besagt in ihrem Kern, formuliert von einem der klarsten Kritiker des
soziologischen Ganzheitsdenkens, Alfred Bohnen:
3
Carl G. Hempel und Paul Oppenheim, Studies in the Logic of Explanation, in: Philosophy
of Science, 15, 1948, S. 150f.; Hervorhebungen nicht im Original.
4
Vgl. dazu die „abschließende“ Darstellung der soziologischen Systemtheorie bei Niklas
Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1997.
Emergenz und Transformation 7
Heute vertritt daher aus guten Gründen eigentlich niemand mehr ernsthaft
irgendwelche holistischen Hypothesen. Schon Max Weber hat ihnen
eigentlich den Garaus gemacht. Er schrieb kurz vor seinem Tod in einem
5
Alfred Bohnen, Die Systemtheorie und das Dogma von der Irreduzibilität des Sozialen,
in: Zeitschrift für Soziologie, 23, 1994, S. 292; Hervorhebung im Original.
8 Die Konstruktion der Gesellschaft
Brief an seinen Schüler Robert Liefmann vom 9. März 1920 sogar, daß er
Soziologe geworden sei, „um dem immer noch spukenden Betrieb, der mit
Kollektivbegriffen arbeitet, ein Ende zu machen“6. Die Soziologie müsse endlich
„strikt individualistisch in der Methode“ betrieben werden – genauso wie es das
Modell der soziologischen Erklärung ja auch tut. Nicht zuletzt Niklas Luhmann
hat sich vom einfachen Holismus auch stets eindeutig distanziert.7 Immer aber
wird von der soziologischen Systemtheorie noch etwas anderes vorgebracht:
Daß die verschiedenen Systeme, die diversen sozialen und die psychischen
Systeme, jeweils ganz unterschiedliche und „überschneidungsfreie“ Weisen
ihres „Operierens“ hätten, daß sie daher als „operativ geschlossene Einheiten“
mit jeweils ganz spezifischem „Sinn“ zu gelten hätten und daß diesen
Vorgängen mit einer individualistischen, handlungstheoretischen oder auf
reale Akteure bezogenen Herangehensweise grundsätzlich nicht
beizukommen wäre. Ein derartiges „individualistisches“ Vorgehen hätte
vielmehr die Konsequenz, daß
„ ... die Gesellschaft als ein riesiger Oktopus erscheinen (müßte; HE), als eine Einheit mit
nicht nur 8 sondern mit 5 oder 6 Milliarden relativ unabhängig, jedenfalls gleichzeitig
agierenden Organen, die mit einem Minimum an ‚Gehirn‘ auskommt und im übrigen auch gar
nicht das Tempo der Koordinationsvorgänge erreichen könnte, das notwendig wäre, um die
riesigen, der Umwelt ausgesetzten Flächen unter Kontrolle zu bringen.“ (Ebd.)
6
Max Weber, Brief an Robert Liefmann, 1920, Geheimes Staatsarchiv (GStA) Berlin, Rep.
92, Nachlaß Max Weber, Nr. 30, Band 8, S. 76-80.
7
Niklas Luhmann, Gesellschaft als Differenz. Zu den Beiträgen von Gerhard Wagner und
Alfred Bohnen in der Zeitschrift für Soziologie Heft 4 (1994), in: Zeitschrift für
Soziologie, 23, 1994, S. 480.
Emergenz und Transformation 9
tion der sozialen Systeme zunächst einmal ohnehin nur als – schlechte, unvollständige, wohl
auch unverstandene, bloß auf der Oberfläche des Makrogeschehens bleibende und nur be-
schreibende – Analogie aus der modernen Molekularbiologie und nur als etikettierenden Beg-
riff, dem der „Autopoiesis“ nämlich, und eben nicht als reduktives und in die (chemisch-
physikalischen) Mikrobereiche hinein vertiefendes Erklärungsmodell, was es dort ist (vgl. da-
zu die detaillierten Erläuterungen und Hinweise bei Bohnen 1994, S. 298f.). Die soziale Kon-
stitution und das „eigensinnige“ Prozessieren der sozialen Systeme lassen sich im Rahmen
des Modells der soziologischen Erklärung leicht rekonstruieren und methodologisch ange-
messen erklären, etwa als Folge einer durch die Definition der sozialen Produktionsfunktio-
nen gesteuerten und von den daran orientierten Akteuren immer wieder neu erzeugten Eigen-
dynamik der funktionalen Sphären einer Gesellschaft (vgl. dazu noch Kapitel 2 allgemein,
sowie speziell Abschnitt 3.1 über die funktionale Differenzierung in diesem Band und in vie-
len Beispielen – unter anderem – Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, und Band 6,
„Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Aus der Sicht von Luhmann und der an ihn anschließenden soziologischen
Systemtheorie ist das Bild von der (Welt-)Gesellschaft als Oktopus mit 6
Milliarden Krakenarmen natürlich absurd. Es ist aber für das, was der Metho-
dologische Individualismus wirklich kann und tut und was es mit dem Modell
der soziologischen Erklärung tatsächlich auf sich hat, selbst ein höchst
absurder Vergleich: Es geht eben nicht darum, die sozialen Prozesse aus dem
Handeln aller leibhaftigen lebenden Menschen zu erklären, sondern darum,
unter Bezug auf Theorien auch – jedoch nicht nur! – des Handelns
individueller Akteure, mehr oder weniger abstrakte und „anonyme“ Modelle
sozialer Prozesse zu formulieren, aus denen sich die fraglichen sozialen
Prozesse ableiten lassen. Das Bild vom Oktopus wird allenfalls dann
verständlich, wenn man sich gegen (aggregat-)psychologistische Erklärungen
wendet, die ja, wie man inzwischen auch in Bielefeld wissen sollte, mit dem
Methodologischen Individualismus nichts gemein haben. Aber selbst die
einfachste Aggregatpsychologie kennt und benutzt natürlich schon längst
Methoden der aggregierenden Zusammenfassung der Eigenschaften selbst von
6 Milliarden Menschen zu kollektiven Effekten, wie etwa Mittelwerte, Raten
und Korrelationen. Über den Marktmechanismus läßt sich, beispielsweise, auf
eine sehr einfache Weise erklären, wie es zu einer Ordnung ganz ohne
„Gehirn“ gerade unter unendlich vielen Anbietern und Nachfragern kommt
(vgl. dazu auch noch Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser
„Speziellen Grundlagen“). Und man fragt sich, warum das alles von der
soziologischen Systemtheorie so notorisch übergangen wird.
Die These von der Emergenz ist gleichbedeutend mit der These der
Irreduzibilität: Die Soziologie, so heißt es, lasse sich etwa auf die Psychologie
10 Die Konstruktion der Gesellschaft
8
Vgl. etwa zur mikrosoziologischen „Erklärung“ der makrosoziologischen Wanderungs-
theorien Frank Kalter, Wohnortwechsel in Deutschland. Ein Beitrag zur Migrationstheorie
und zur empirischen Anwendung von Rational-Choice-Modellen, Opladen 1997,
insbesondere Kapitel 2; und vgl. etwa zur Integration der verschiedenen speziellen
Theorien des abweichenden Verhaltens u.a. noch Band 5, „Institutionen“, dieser
„Speziellen Grundlagen“.
12 Die Konstruktion der Gesellschaft
Das Modell der soziologischen Erklärung bietet, wenn sie richtig gemacht ist,
eine solche „reduktive“ Tiefenerklärung für die Zusammenhänge auf der
Makro-Ebene – und es ist daher allein schon aus methodologischen Gründen
jeder bloß „makro“-soziologisch bleibenden Analyse überlegen: Sie hat den
höheren Allgemeinheitsgrad, die größere Tiefenschärfe und den höheren
Informationsgehalt.
Reduktionismus ist dann jene wissenschaftliche Programmatik, durch die „Reduktion“ spe-
zieller Theorien auf allgemeinere das Wissen um die speziellen Bedingungen der Geltung der
speziellen Theorien systematisch zu erweitern: Wenn wir wissen, warum es unter der Bedin-
gung großer Gruppen nicht zu Revolutionen kommt, dann wissen wir mehr als vorher in der
naiven speziellen Theorie, die da sagte, daß die Wahrscheinlichkeit einer Revolution mit der
Gruppengröße „additiv“ zunehme. Nun kann die Anomalie des Tocqueville-Paradoxons auf-
gelöst werden: Die Inaktivität großer und deprivierter Gruppen wird jetzt theoretisch erwartet
– und ist folglich nicht mehr geheimnisvoll und „emergent“. Es ist, in einem etwas beschei-
deneren Rahmen, die gleiche Art von Wissensfortschritt wie bei der Relativitätstheorie. In ei-
nem engeren Sinne wird dann Reduktionismus als das Bestreben verstanden, alle möglichen
„molaren“ Ganzheitsphänomene auf die „molekulare“ Ebene der Mikro-Prozesse zu reduzie-
ren, weil die molaren Phänomene stets die spezielleren Vorgänge sind. In seiner Extremform
nimmt der Reduktionismus an, daß sich so – schrittweise und natürlich unter Angabe der je-
Emergenz und Transformation 13
„Reduktion“ ist also alles andere als das Schrumpfen des Wissens, und
„Reduktionismus“ ist daher auch keineswegs eine besonders engstirnige Form
der monadischen Verbohrtheit, obwohl zahllose Soziologen nicht müde
werden, sich das immer wieder einzureden. Oder, auf unseren Fall angewandt,
noch einmal: Der Methodologische Individualismus und das Modell der
soziologischen Erklärung sind eben kein „atomistischer“ Psychologismus, der
das spezifisch „Soziale“ unter den Tisch fallen läßt. Ganz im Gegenteil!
Transformationsregeln
Das klingt noch sehr unanschaulich. Sehen wir uns daher zunächst einmal ein
relativ einfaches Beispiel an: die Entstehung einer Freundschaft. Eine
Freundschaft ist, ganz allgemein gesprochen, eine Relation zwischen zwei
zuvor, in dieser Beziehung jedenfalls, „autonomen“ Akteuren.
Die Entstehung von Relationen ist ein besonders wichtiger Fall eines „emergenten“
kollektiven Phänomens, eines Phänomens mit gewissen Ganzheitseigenschaften. Und daher
ist eine Freundschaft, obwohl es sich immer um eine sehr private Angelegenheit zwischen
zwei Personen handelt, auch kein „Mikro“-Phänomen, sondern ein kollektives Makro-
Ereignis, das sich in dieser Hinsicht, seiner Emergenz aus individuellen Effekten, von
wirklichen „Groß“-Ereignissen, wie etwa dem Wandel einer ganzen Gesellschaft, nicht
unterscheidet. Oder anders gesagt: Ob ein soziologischer Sachverhalt „Makro“ oder „Mikro“
ist, hat mit dem Vorliegen eines Aggregationsproblems zu tun – und eben nicht damit, ob es
sich um viele oder nur um wenige Akteure handelt. Genau das hatte Niklas Luhmann wohl
nicht verstanden, als er vom individualistischen Oktopus mit seinen Milliarden von Organen
sprach und meinte, daß der Methodologische Individualismus alles nur als atomistisch
gedachtes „Mikro“-Phänomen betrachte oder gar betrachten müsse.
Eine Freundschaft ist ein Spezialfall einer sozialen Beziehung. Darunter wird
in der Soziologie allgemein eine von mehreren Personen geteilte Einstellung
eines speziellen „Sinngehaltes“ verstanden, über die sich die Akteure in be-
stimmten Situationen in ihrem „Sichverhalten“, wie Max Weber sagt,
wechselseitig „orientieren“.9 In dieser Wechselseitigkeit der Orientierung
besteht die „Ganzheits“-Eigenschaft einer Freundschaft als sozialem System.
Für Freundschaften gehören zu dieser geteilten Einstellung in unserem Kulturkreis etwa eine
gewisse Sympathie, die Kenntnis relativ intimer Details der Befindlichkeit des jeweils
anderen, Vertrauen, Altruismus und Hilfsbereitschaft gerade in Notsituationen, eine gewisse
Exklusivität des Umgangs miteinander, sowie bestimmte gemeinsame Überzeugungen und
Werte, in denen sich jeder im anderen auch selbst bestätigt sehen kann, jedoch keine sexuell
geprägte Liebesbeziehung und sicher auch kein „rational“-kalkulierender Umgang
miteinander, wenngleich alles das in gewissen Situationen auch eine Rolle spielen mag oder
ineinander übergeht, wie das etwa bei den so genannten sehr guten Freunden oder unter
Geschäftsfreunden auch der Fall sein mag.
Eine Freundschaft ist, kurz gesagt, eine Koorientierung von Akteuren mit
9
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5.
Aufl., Tübingen 1972 (zuerst: 1922), S. 13. Vgl. dazu auch noch Band 3, „Soziales
Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“.
Emergenz und Transformation 15
einem speziellen Inhalt. Das ist das zu erklärende Phänomen. Es sei mit F
bezeichnet. Wir wollen den Satz an inhaltlichen Besonderheiten, die die
Beziehung einer Freundschaft als spezielle Koorientierung konstituieren, mit f
abkürzen. Wie entsteht nun aber eine solche wunderbare Freundschaft? Die
einfachste Kurzantwort der Soziologie der Freundschaftswahlen und der
Bildung von Partnerschaften: durch meeting und mating.10 Dahinter steckt
aber ein im Einzelfall durchaus komplizierter Vorgang.
Der Beginn jeder möglichen Freundschaft ist danach zunächst immer das Zusammentreffen
von Akteuren, das meeting. Daher sind für die Entstehung von Freundschaften die sog.
Opportunitätsstrukturen wichtig: die nach Alter, Geschlecht, Berufsgruppe, Freizeitangeboten
und Wohnort systematischen „Fokal“-Punkte, an denen sich Menschen mit bestimmten
Eigenschaften, oft ganz unintendiert, treffen und darüber die Gelegenheit erhalten,
Freundschaften schließen zu können: Kindergarten, Schule, Wochenmarkt, Vorlesung,
Sekretariat, Gran Canaria, Tennisclub, Altersheim, Friedhof. Mit dem Treffen alleine ist es
aber noch nicht getan. Jetzt muß es noch zur gemeinsamen, von den Akteuren geteilten
Einstellung f kommen. Und das geht über den Prozeß des mating, für den es keinen griffigen
deutschen Ausdruck gibt. Damit ist, etwas vereinfachend gesagt, die Entstehung von (Wert-
)Über-einstimmungen gemeint, insbesondere durch die Entdeckung gemeinsamer Interessen,
und zwar als Folge fortgesetzter Kontakte und der dabei gemachten positiven Erfahrungen.
Alle einzelnen Schritte dabei sind Vorgänge, die von den beiden Akteuren jeweils für sich
erlebt und initiiert werden und bei denen sich die anfänglichen Einstellungen der beiden
Akteure in einer bestimmten Weise ändern – bis schließlich die Einstellung f mit allen ihren
Details der jeweiligen kulturellen Definition des Codes und des Programms einer
Freundschaft bei beiden Akteuren entstanden ist und sie in ihren gemeinsamen
Orientierungen und ihrem Handeln leitet.
Wie entsteht eine solche Koorientierung nun aber? Wir wollen diese Er-
klärung in die Erklärung eines weiteren Sachverhaltes einbetten, das
Phänomen nämlich, daß Freundschaften meist von der Art des „gleich und
gleich gesellt sich gern“ sind, also, wie die Soziologie sagt, die Eingenschaft
der Homophilie haben. Zunächst müssen dazu natürlich die individuellen
Effekte erklärt werden, die zu dem Phänomen der Freundschaft als
Koorientierung führen. Es muß, wie üblich, die Logik der Situation bestimmt
10
Vgl. zur Erklärung der Entstehung von Freundschaften u.a. die Beiträge von Scott L.
Feld, The Focused Organization of Social Ties, in: American Journal of Sociology, 86,
1981, S. 1015-1035; Maureen T. Hallinan, The Process of Friendship Formation, in:
Social Networks, 1, 1978, S. 193-210; Paul F. Lazarsfeld und Robert K. Merton,
Friendship as Social Process: A Substantive and Methodological Analysis, in: Morroe
Berger, Theodore Abel und Charles H. Page, Freedom and Control in Modern Society,
Toronto, New York und London 1954, S. 18-66; Lois M. Verbrugge, The Structure of
Adult Friendship Choices, in: Social Forces, 56, 1977, S. 576-597; Christof Wolf, Gleich
und gleich gesellt sich. Individuelle und strukturelle Einflüsse auf die Entstehung von
Freundschaften, Hamburg 1996, insbesondere Kapitel 3: Theorien zur Entstehung von
Freundschaften.
16 Die Konstruktion der Gesellschaft
Jetzt erst kann der dritte Schritt, derjenige von der Mikroebene wieder hinauf
auf die Makroebene, beginnen. Weil hier Mikroereignisse mit Ma-
krozuständen verbunden werden müssen, wird zunächst eine Regel benötigt,
in der gewisse individuelle Effekte mit denkbaren Makrozuständen logisch
verbunden werden – eine Transformationsregel eben. In unserem Fall ist sie
nicht schwer zu finden. Die Transformationsregel TRf für das kollektive
Phänomen einer Freundschaft laute, so wollen wir nun explizit festlegen:
Das kollektive Ereignis einer Freundschaft F zwischen zwei Akteuren A und B besteht genau
dann, wenn bei beiden Akteuren die Einstellung f entstanden ist und sie in ihrem Handeln
(ko-)orientiert.
Und das Ergebnis: Jetzt hat die Erklärungskette von der sozialen Situation
einer Treffgelegenheit bis zur (homophilen) Freundschaft als kollektivem
Phänomen keine logische oder empirische Lücke mehr: Die individuellen
Effekte IEf wurden zuvor wie üblich über die Logik der Situation und die
Logik der Selektion erklärt und dann auf die Transformationsregel TRf und
Emergenz und Transformation 19
sind die Transformationsregeln einerseits und einige, meist unvermeidliche, zusätzliche An-
nahmen, etwa über gewisse Vereinfachungen und Idealisierungen, um das Modell nicht zu
kompliziert werden zu lassen, andererseits. Diese Annahmen könnten natürlich jederzeit im
Rahmen des Prinzips der abnehmenden Abstraktion gelockert werden.
„Emergenz“ eines kollektiven Phänomens zu lüften: Zwar ist das Ganze sicher
(meist) mehr als die bloße Summe seiner Teile, aber wir wissen mit der
gelungenen Transformation, was es mit diesem „mehr“ auf sich hat.
Neben der im Beispiel der Entstehung einer Freundschaft benutzten Art einer
Definition als Transformationsregel gibt es noch einige andere Formen (vgl.
dazu insbesondere Lindenberg 1977, S. 52-57, 64-78; Lindenberg und
Wippler 1978, S. 223ff.). Wir wollen dabei nach einfachen und komplexen
Transformationsregeln unterscheiden, und dann darin noch einmal nach
verschiedenen Varianten.
Einfache Transformationsregeln
Komplexe Transformationsregeln
Die einfache Botschaft aus allen diesen denkbaren Komplikationen ist dann
jene hier: Die jeweiligen institutionellen Regeln bilden die
Transformationsregeln, über die die individuellen Effekte der reinen Anzahlen
bzw. der einfachen Proportionen in das gesuchte kollektive Ereignis überführt
werden. Das ist, wie man sieht, schon anders als bei den partiellen
Definitionen und den statistischen Aggregationen, keine bloße analytische
Transformation mehr, sondern eine, die auf realen sozialen Prozessen und
erwartbaren sozialen Regelmäßigkeiten beruht: Auf der Geltung der
institutionellen Regeln in der betreffenden Gesellschaft. Und deshalb muß,
wenn man ganz genau sein will, auch noch als zusätzliche (Rand-)Bedingung
angenommen werden, daß im gegebenen Fall die Akteure sich an die
institutionellen Regeln auch wirklich halten – und daß etwa nicht, wie in den
sog. Bananenrepubliken dem Hörensagen nach, das Militär zu putschen
beginnt, wenn ihm das Wahlergebnis nicht ins Konzept paßt. Es bleibt aber
auch jetzt bei dem grundlegenden formalen Muster aus Abbildung 1.1:
Transformationsregeln, angenommene (Rand-)Bedingungen und die
individuellen Effekte überführen zusammen das Handeln der – in unserem
Beispiel etwa 60,5 Millionen – individuellen Wahlberechtigten in ein
Parlament. Von „Oktopus“ also keine Rede.
Emergenz und Transformation 23
Von da aus entsteht ein neues interessantes Erklärungs- bzw. Transformationsproblem, dem
man jetzt nachgehen könnte: Welche Regierung wird nun gebildet? Im Fall der absoluten
Mehrheit und einer geschlossenen Partei bzw. Fraktion ist dieser Schritt relativ einfach: Jetzt
wird der Kanzlerkandidat mit hoher Wahrscheinlichkeit wirklich Kanzler, und keiner zuckt
mehr mit irgendwelchen Augenbrauen. Bei unklaren Mehrheiten und internen Spaltungen der
Parteien und Fraktionen ist die Sache natürlich schwieriger. Aber um auch diesen, manchmal
sehr verzwickten, Schritt von den „individuellen“ Parlamentariern zu der einen Regierung
und zu dem einen Bundeskanzler als emergenten Ereignissen auf der Grundlage einer Viel-
zahl individueller Effekte nach der Wahl des Wahlvolkes zu tun, gibt es (inzwischen) eine
ganze Reihe von theoretischen Instrumenten, die hier als Transformationsregeln dienen kön-
nen, Verhandlungs- und Koalitionstheorien zum Beispiel. Und das Ergebnis ist in jedem Fall:
die Erklärung der Ordnung eines großen Kollektivs als Ergebnis des Agierens vieler indivi-
dueller Akteure. Das auch noch einmal zu Luhmanns Vorstellung vom vielarmigen Oktopus
des Methodologischen Individualismus!
Damit sind wir bei der zweiten Art von komplexen Transformationsregeln
angelangt – bei den formalen Modellen. Das sind, ebenfalls: mehr oder
weniger, komplizierte Algorithmen, über die sich die Aggregation
individueller Akte zu typischen kollektiven Phänomenen ableiten lassen –
unter jeweils anzu-nehmenden, oft stark idealisierenden, Bedingungen.11 Ein
Beispiel dafür sind die Schwellenwertmodelle aus Abschnitt 10.4 in Band 1,
„Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“: Je nach
empirischer Verteilung der individuellen Eigenschaften der Akteure ergibt
sich ein typisch anderer Prozeß der „Interaktion“ der individuellen Akteure
mit einem typischen kollektiven Ergebnis. Zwei Arten solcher formaler
Modelle können unterschieden werden: Situationsmodelle und
Prozeßmodelle.
Zu den Situationsmodellen zählen insbesondere die Modelle der sog. Spieltheorie. Darin wer-
den typische Konstellationen sozialer Situationen modelliert und – unter der Annahme des
„rationalen“ Handelns der Akteure – typische aggregierte, oftmals gegen die Interessen der
Akteure gerichtete, Ergebnisse abgeleitet – die sog. Lösungen der Spiele, insbesondere im
Aufspüren von sog. Gleichgewichten. Die Spieltheorie kann insofern als eine Ansammlung
von formalen Transformationsregeln (und von Brückenhypothesen!) für bestimmte Typen so-
zialer Situationen angesehen werden. In Band 3 über „Soziales Handeln“ dieser „Speziellen
Grundlagen“ werden wir darauf noch sehr ausführlich eingehen. Die o.a. Schwellenwertmo-
delle sind, als Spezialfall sog. Diffusionsmodelle, ein Beispiel für die Prozeßmodelle. Darin
werden typische Sequenzen von aneinander anschließenden Situationen, individuellen Effek-
ten und aggregierten Folgen modelliert, die dann wieder, zusammen mit bestimmten (Rand-)
Bedingungen, der Ausgangspunkt für die nächste Sequenz sind – bis zu einem bestimmten
Ergebnis, das u.U. auch wieder ein Gleichgewicht sein kann, oder aber auch eine Art von Os-
zillation, eine Amplifikation, ein Verfall – oder eine Geschichte der „Evolution“ des Prozes-
ses ohne ersichtliches Ende (vgl. dazu auch noch Abschnitt 7.3 und 7.4 in diesem Band, so-
11
Vgl. für eine aktuelle Übersicht über die wichtigsten Typen formaler Modelle für die So-
ziologie: Volker Müller-Benedict, Selbstorganisation in sozialen Systemen. Erkennung,
Modelle und Beispiele nichtlinearer sozialer Dynamik, Opladen 2000.
24 Die Konstruktion der Gesellschaft
wie vor allem Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Auch bei den formalen Modellen gibt es wieder die typische Kombination von
(formaler) Transformationsregel in Form eines Algorithmus, etwa dem des
logistischen Wachstums bei der Diffusion einer Neuerung, den zur
Anwendung nötigen idealisierenden (Rand-)Bedingungen und den zuvor
wieder jeweils „situationslogisch“ erklärten individuellen Effekten. Gerade in
den formalen Modellen zeigt sich die Stärke des Vorgehens: Jetzt werden oft
ganz unglaubliche „Emergenzen“ erkenn- und erklärbar, wie die, daß unter
speziellen Umständen in der Tat ein Schmetterlingsschlag ausreicht, um einen
massiven kollektiven Effekt auszulösen, während bei äußerlich scheinbar
gleichen Umständen auch größte Anstrengungen nichts an Änderungen zu
bewirken scheinen. Die formalen Modelle, zu denen auch solche der sog.
Chaos- und Katastrophentheorie gehören, sind Instrumente zur kausalen
Erklärung von ansonsten ganz unerklärlich, nicht-kausal und „nicht-linear“
erscheinenden kollektiven Effekten12. Um sie formal zu verstehen, muß man
einiges an Mathematik beherrschen. Und um sie verständig auf ein
inhaltliches Problem anzuwenden, muß man einiges von der Soziologie und
den realen Gesellschaften wissen. Nur selten paaren sich die drei Begabungen
und Kompetenzen.
12
Siehe dazu auch u.a. Renate Mayntz und Birgitta Nedelmann, Eigendynamische soziale
Prozesse. Anmerkungen zu einem analytischen Paradigma, in: Kölner Zeitschrift für So-
ziologie und Sozialpsychologie, 39, 1987, S. 648-668.
Emergenz und Transformation 25
gesellschaftlicher Vorgänge. Das hat sich etwa bei der Erklärung von
Ehescheidungen gezeigt. Eine Scheidung ist ja zunächst nur ein juristischer
Akt, und man könnte das „emergente“ Ergebnis „Scheidung“ als den
vollzogenen juristischen Akt (partiell) definieren. Welche individuellen
Effekte aber führen über gewisse Transformationsbedingungen zu dem
juristischen Akt, der die Auflösung der Beziehung besiegelt?
Der letzte Schritt ist sicher der Spruch des Richters. Jeder Ehescheidung geht aber, so wollen
wir voraussetzen, der psychologische Tod der Ehe voraus: Mindestens einer der Partner sieht
die Ehe in ihrer inhaltlichen Definition als nicht mehr existent an und möchte sie beenden.
Zuvor muß viel geschehen sein, das auch vorher erklärt werden muß: die Feststellung von
Unverträglichkeiten, der anschließende Verfall der Ehequalität, darüber dann die Zunahme
von Unzufriedenheiten, die Suche nach einem neuen Partner und der Wechsel in der Orientie-
rung, daß diese Ehe noch eine Zukunft habe. Das alles sind natürlich Dinge, die die Akteure
in Abhängigkeit von ihren jeweiligen Situationen durch ihr Handeln und ihre Interaktionen
tragen, wenngleich oft genug in Form von unintendierten Eigendynamiken, Fallen, Verflech-
tungen und Pfadabhängigkeiten.
Auf dem Weg vom psychischen Tod der Ehe zur letztlichen juristischen
Scheidung gibt es nun aber unterschiedlich festgelegte Wege, die die Akteure
selbst nicht alleine in der Hand haben, sondern von institutionellen Regeln
bestimmt sind. Vor der Reform des Scheidungsrechtes im Jahre 1977 war es
beispielsweise notwendig, daß beide Partner gleichzeitig die Scheidung
wollten, danach reichte die Erklärung nur eines Partners und, bei
Widerstreben, eine gewisse Wartefrist. Danach war kein Widerspruch mehr
möglich, und die Ehe wurde geschieden, wenn nur einer der Partner dazu den
Antrag stellte. Es gibt also, sozusagen, zwei verschiedene
Transformationsbedingungen für eine Scheidung, eine für die Zeit vor und
eine für die Zeit nach 1977.
Die Transformationsbedingung für die Zeit vor 1977 sah so ähnlich aus wie unsere Transfor-
mationsbedingung für die Entstehung einer Freundschaft oben: „Wenn die verheirateten Ak-
teure A und B erklären, die Ehe scheiden lassen zu wollen, dann entsteht das kollektive Er-
eignis einer Ehescheidung“. Für die Zeit nach 1977 ist die Sache etwas anders: „Wenn die
verheirateten Akteure A und/oder B erklären, die Ehe scheiden zu lassen, dann entsteht das
kollektive Ereignis einer Ehescheidung“.
Mehrfache Transformationen
Selten gibt es ein soziologisches Erklärungsproblem, das sich schon mit einer
Sorte von Transformationsregeln lösen ließe. Das Beispiel mit der
Regierungsbildung und mit der Ableitung der Scheidungsraten hat das schon
gezeigt. Deshalb ist es ratsam, sich vorsorglich mit allen denkbaren Formen
und Varianten von Transformationsregeln zu wappnen oder sie sich
anzueignen, wenn es dann soweit ist. Die Kunst der erklärenden Modellierung
besteht dann vor allem darin, das jeweilige inhaltliche Problem so zu
zerlegen, daß an den verschiedenen kritischen Stellen des
Erklärungsargumentes jeweils das „passende“ Modell der Transformation
steht. Und dazu muß man diese Modelle möglichst vorher schon einmal
kennengelernt haben.
Im Beispiel der Bundestagswahl im September 1998 kämen dafür also in Frage: die Berech-
nung der Proportionen aus den auf die Parteien entfallenden Stimmen, die Anwendung der
Emergenz und Transformation 27
Bestimmungen des Wahlsystems, insbesondere die der 5%-Klausel, auf dieses Ergebnis, ein
Verhandlungsmodell und eine Koalitionstheorie, etwa, für die Erklärung der Entstehung der
rot-grünen Koalition und der schließlichen Wahl von Bundeskanzler Schröder als – nicht ü-
berall intendierter – Effekt jener historischen Situation auf die einzelnen Wähler, die man
grob wohl mit „Spätphase der Ära Kohl“ umschreiben könnte. In ähnlicher Weise ließen sich
dann auch schon für mehr generalisierende inhaltliche Konstellationen und Sequenzen typi-
sche Anordnungen von Transformationsmodellen benennen, etwa für den typischen Verlauf
eines ethnischen Konfliktes (vgl. dazu auch noch Kapitel 8 unten in diesem Band): Am Be-
ginn steht die strategische Situation eines sog. Konstantsummenspiels zwischen zwei Grup-
pen, etwa ein Sprachenstreit. Dann „muß“ das Problem des kollektiven Handelns für diese
Gruppen gelöst werden, wobei die nach der Verteilung von Schwellenwerten zu erwartende
Mobilisierung der nächste Schritt wäre. Ist der Konflikt einmal angelaufen, läßt sich mit Hilfe
des Modells des sog. Gefangenendilemmas leicht zeigen, warum er „von alleine“ nicht aufhö-
ren kann – bis zu dem Zeitpunkt, zu dem sich durch den Konflikt die Ressourcen in einem
solchen Maß erschöpfen, daß sich das Gefangenendilemma in ein sogenanntes Chicken-
Game verwandelt, bei dem jetzt wenigstens so etwas möglich ist, wie auch einseitige
Angebote für einen Waffenstillstand.
Einen Teil der in den beiden Beispielen verwendeten Konzepte werden Sie
noch nicht verstehen können, wie etwa den Begriff des Chicken Game. Es
sind Hinweise auf inzwischen gut etablierte Modelle von
Transformationsregeln für typische Konstellationen von Situationen. Die noch
folgenden Bände dieser „Speziellen Grundlagen“ sind, neben vielem anderen,
auch Sammlungen von solchen Transformationsmodellen für typische
Erklärungsprobleme. Sie kann man, sozusagen, als fertige Module aus der
Werkzeugkiste des soziologischen Modellbaus herausnehmen und an der
inhaltlich jeweils passenden Stelle einsetzen. Dazu muß man sie freilich erst
einmal in ihrem Sinn und in ihrer Logik verstanden haben. Hat man sie aber
so verstanden, dann bereitet es oft keine besondere Mühe mehr, in den bunten
Daten der realen Welt auch die meist immer etwas verborgenen
Grundstrukturen der Modelle (wieder) zu erkennen. Und jetzt erst kann die
soziologische Phantasie so richtig ihre Flügel breiten und zum – analytisch
gesteuerten und daher besonders eleganten – Fluge ansetzen.
Strukturmodelle
Eines der besten Beispiele für ein solches Strukturmodell wäre dasjenige, das Albert O.
Hirschman für den Zusammenhang zwischen Unzufriedenheit, Protest und Loyalität entwi-
ckelt hat.13 Der Ausgangspunkt ist eine Situation, in der ein Akteur feststellen muß, daß sich
die Leistungen der sozialen Umgebung, in der er sich befindet, verschlechtern, etwa daß die
Qualität des Autos, das er bisher immer von einer bestimmten Marke gekauft hatte, plötzlich
zu wünschen übrig läßt. Dabei wird angenommen, daß der Akteur von diesen Leistungen bis-
her viel hatte und daher in gewisser Weise daran hängt. Das ist die Loyalität des Akteurs, im
Beispiel also die Markentreue. Unter dieser Bedingung wird der Akteur zunächst über Protes-
te versuchen, die soziale Umgebung wieder zur alten Leistung zurückzubringen. Und erst
wenn das nach einigen Versuchen fehlschlägt, wird er sich eine andere Umgebung, einen „e-
xit“ also, suchen. Und das heißt hier: Er wechselt die Automarke. In allen diesen Fällen tritt
nach Hirschman dann auch das ein: Haben die Proteste schließlich keinen Erfolg, dann
kommt es zum exit. Es wird dann schließlich doch, wie zuvor beim Auto, eine neue Frau
bzw. ein neuer Mann gesucht, das Seminar geschwänzt oder schlicht ausgewandert. Und die
Folge: Der Qualitätsverfall füttert die Unzufriedenheit und darüber den Protest. Abwanderung
und Widerspruch stehen jedoch in einem einander begrenzenden Verhältnis: Wenn es leichte
Möglichkeiten zur Abwanderung gibt, dann wird der Protest geringer und die Produktqualität
kann auch dauerhaft absinken. Abwanderung unterminiert also nach dem Strukturmodell von
Exit, Voice und Loyalty die Wahrscheinlichkeit für individuelle oder kollektive Bemühungen
der „Reform“. Das gilt für Aktienbesitzer, für Ehepaare und für die Klasse der Arbeiter:
Wenn andere Aktien leicht erwerbbar, andere Partner leicht verfügbar oder die Möglichkeiten
unbegrenzt sind (oder wenigstens so erscheinen), dann schwindet der Protest – und das jewei-
lige System bricht eventuell wegen Auszehrung zusammen.
Bei Hirschman wird das hier nur verbal beschriebene Modell in seinen
wichtigsten Einzelheiten ausführlich auch formal begründet – als eine
analytisch ableitbare Folge von Effekten unter bestimmten, aneinander
anschließenden Bedingungen. Es ist, sozusagen, eine nunmehr als ein
Transformationsmodell fungierende Kombination verschiedener Teile
einzelner Situationstypen und darauf passender Transformationsregeln,
zugespitzt auf einen schon stark inhaltlich bestimmten Fall: Die Reaktion von
Akteuren auf Leistungsabfall bei Loyalität. Dieses Strukturmodell kann man
nun auf inhaltlich ähnliche Sachverhalte übertragen und als fertiges
Erklärungsmodul anwenden, in denen es zu Leistungsabfall bei Loyalität
kommt.
Eine solche „analoge“ Übertragung des Strukturmodells wäre etwa die auf eheliche Konflikte
als Reaktion auf den Verfall des sog. Ehegewinns unter sich einander im Grunde immer noch
liebenden Gatten. Auch wäre eine Anwendung etwa auf Beschwerden von Studenten über die
schlechte Vorbereitung des Dozenten in einem Seminar denkbar und sinnvoll, das sie an sich
ganz interessant und wichtig finden. Und sicher wäre das Modell auch auf den Protest gegen
die herrschende Regierung anwendbar, gerade dann, wenn die Bürger ihr Land lieben, aber
mit ansehen müssen, wie es heruntergewirtschaftet wird.
13
Albert O. Hirschman, Exit, Voice, and Loyalty. Responses to Decline in Firms, Organiza-
tions, and States, Cambridge, Mass., 1970; deutsch: Abwanderung und Widerspruch. Re-
aktionen auf Leistungsabfall bei Unternehmungen, Organisationen und Staaten, Tübingen
1974.
Emergenz und Transformation 29
Freilich müßte dabei immer wieder sehr sorgfältig geprüft werden, ob die
(Rand-)Bedingungen für die Anwendung auch gegeben sind. Aber das ist ja
für alle Transformationen und ihre immer auch vereinfachenden Annahmen
erforderlich. Was wäre beispielsweise im Falle der sog. Protestwähler? Wäre
auch hierauf das Strukturmodell von Hirschman anwendbar, da diese Wähler
ja eine andere Partei wählen, um der Partei, an der sie hängen, einen
Denkzettel zu verpassen? Oder wie war es in der DDR, als ein exit so gut wie
unmöglich und auch dem Protest nur enge Grenzen gezogen waren und es
trotzdem zum Schluß zu einer für das Regime desaströsen Interaktion von
Abwanderung und Widerspruch kam?14
Strukturmodelle sind außerordentlich hilfreiche Instrumente, weil jetzt vieles
von ansonsten mühseliger Modellierungsarbeit abgekürzt werden kann. Es ist
wohl das, was Robert K. Merton einmal als „Theorien mittlerer Reichweite“
bezeichnet hat.15 Leider gibt es (noch) nicht viele davon in der Soziologie, und
wenn die Soziologie eine spezielle Aufgabe hat, die sie – und nur sie – erfüllen
kann, dann wäre es diese: die Formulierung und Weiterentwicklung von solchen
Strukturmodellen oder „Theorien mittlerer Reichweite“ für die grundlegenden
sozialen Prozesse – soziale Ordnung, soziale Differenzierung, soziale Ungleich-
heit und sozialer Wandel. Immerhin sind die Anfänge dazu durchaus schon
gemacht.
14
Vgl. dazu die Modifikation des Exit-Voice-Modells durch Hirschman selbst angesichts
der Besonderheiten des Untergangs der DDR. Hier spielten, wenigstens in der letzten
Phase des Bestands der DDR, der Protest gegen das Regime und die Abwanderung in der
Erzeugung des Zusammenbruchs ineinander – und wechselten eben nicht ab, wie im ur-
sprünglichen Modell. Vgl. Albert O. Hirschman, Abwanderung, Widerspruch und das
Schicksal der Deutschen Demokratischen Republik. Ein Essay zur konzeptuellen Ge-
schichte, in: Leviathan, 20, 1992, S. 332ff.
15
Robert K. Merton, Social Theory and Social Structure, 11. Aufl., New York und London
1967, S. 9.
Kapitel 2
Die Grundlage der alltäglichen Reproduktion der Menschen sind die Produk-
tion von Ressourcen und deren Verteilung. Produktion und Verteilung sind
die Basis der Nutzenproduktion, von der letztlich alles abhängt. Die Produkti-
on des Nutzens ist nun aber keine Angelegenheit, die in Einsamkeit und Frei-
heit zu bewältigen wäre, sondern muß „organisiert“ werden. Und um die Or-
ganisation der Nutzenproduktion dreht sich daher alles, was in der Gesell-
schaft geschieht: Welche Institutionen, sozialen Gebilde und Strukturen ent-
stehen, wie sie sich intern untergliedern, welche Unterschiede zwischen den
Menschen bestehen, welche Werte gelten und welche Überzeugungen das
Handeln leiten und ob es Bestrebungen gibt, die gesellschaftlichen Verhältnis-
se zu ändern. Die gesellschaftliche Nutzenproduktion geschieht an zahllosen
Plätzen und über sehr unterschiedliche Arten der Organisation: in Familien
und Verwandtschaften, in Haushalten, Betrieben und Behörden, auf Wochen-
märkten oder bei Kaffeefahrten, in Kegelklubs oder in den vielen „Szenen“
der Jugendkultur, in dem „Milieu“ der Neuen Mitte oder in dem der grünen
Hedonisten, in Kindergärten, Schulen und Universitäten, in Gerichtsverhand-
lungen, Gefängnissen, psychiatrischen Anstalten und Polizeiwachen, in Dör-
fern, Städten und Ballungsräumen, in Clans, ethnischen Gruppen, Regional-
bewegungen oder Nationalstaaten, beispielsweise.
Die Träger und die „Motoren“ des gesellschaftlichen Geschehens sind natür-
lich nur die menschlichen Akteure und deren Handeln. Wer sonst? Was sonst?
Das zentrale Motiv dabei ist die möglichst zuträgliche Reproduktion des eige-
nen Lebens – wenngleich meist nicht unter den Akteuren freigestellten Um-
ständen und mit Folgen, die sie oft nicht wünschen. Bei diesem Handeln las-
sen sich zwei grundlegende Formen unterscheiden: das nicht-soziale und das
32 Die Konstruktion der Gesellschaft
soziale Handeln (vgl. dazu ausführlich noch Band 3, „Soziales Handeln“, die-
ser „Speziellen Grundlagen“).
Das nicht-soziale Handeln ist ein Tun, bei dem die Akteure nur auf eine
ansonsten nicht weiter bedachte Umgebung achten, die als gegeben ange-
nommen wird und von der selbst kein Agieren mit Bezug auf die Absichten
des Akteurs erwartet wird. Es ist das Handeln in den sog. parametrischen Si-
tuationen. Das ist beim sozialen Handeln typischerweise anders. Hier wird –
im Prinzip – in Rechnung gestellt, daß andere Akteure auf das eigene Handeln
reagieren. Das soziale Handeln findet, wie es heißt, unter doppelter Kontin-
genz statt – der gegenseitigen Abhängigkeit der Ergebnisse des Tuns von den
Absichten, Überlegungen und dem Handeln des jeweils anderen. Es ist ein
Handeln in sozialen Situationen. Das soziale Handeln kommt in drei typi-
schen Formen vor: als strategisches Handeln, bei dem nur die Interessen der
Akteure zählen, als Interaktion, dem sozialen Handeln, bei dem die Akteure
auch gedanklich, symbolisch und kommunikativ aufeinander Bezug nehmen,
und als soziale Beziehung, als Orientierung der Akteure an gewissen „Einstel-
lungen“, in der sie gemeinsam die Situation sehen.
Die meisten interessanten Ressourcen lassen sich nun nur über irgendeine
Form der Kooperation herstellen. Oft stellt sich dann aber heraus, daß nicht
jeder das kontrolliert, was ihn besonders interessiert. Die Nutzenproduktion
kann daher oft noch durch eine geschickte Transaktion, vor allem durch den
Tausch der Ressourcen, durch Verhandlungen, durch das Schließen von
Kompromissen, Vereinbarungen und Verträgen, aber auch durch eine über-
greifende „Organisation“ der Verteilung, durch staatliche Verordnungen und
Transfers, natürlich auch durch Mildtätigkeit beträchtlich gesteigert werden.
Kooperation und Transaktion sind die für die Nutzenerzeugung und damit für
die Reproduktion wichtigsten Formen des (sozialen) Handelns.
Schatz“ anspricht, der natürlich genau weiß, was damit gemeint ist. Das Han-
deln im „Rahmen“ dieser Codierung fungiert, wie schon die drei Beispiele
zeigen, auch wenn es nicht ausdrücklich so beabsichtigt ist, immer auch als
Signal und Symbol für den Inhalt des Codes, für die soziale „Richtigkeit“ der
jeweiligen Orientierung und für die Angemessenheit des Handelns, des
aktuellen wie des darauf eventuell wieder folgenden. Das „materielle“
Handeln ist in diesem Sinne also immer gleichzeitig auch symbolische
Kommunikation. Es verstärkt über seinen so stets mitlaufenden
kommunikativen Gehalt damit immer auch den „Sinn“ des jeweiligen Tuns
und die Strukturen der einmal angelaufen Sequenzen und eingespielten
Routinen und Regeln.
Soziale Systeme sind somit Prozesse, deren Ergebnisse sich immer wieder
selbst „füttern“, stabilisieren und verstärken – materiell wie symbolisch bzw.
kommunikativ. Sie werden, wenn es sie denn gibt, von individuellen Akteuren
34 Die Konstruktion der Gesellschaft
und deren Handlungen getragen, aber nicht von ganz bestimmten Individuen.
Es müssen sich immer nur jeweils irgendwelche Akteure an der „Konstituti-
on“ der jeweiligen sozialen Systeme beteiligen, „damit“ sie „bestehen“ – wie
etwa bei der Techno-Szene oder dem Hedonisten-Milieu, die es auch dann als
stabiles soziales System gäbe, wenn die darin involvierten Akteure jeweils nur
einmal dabei wären (vgl. dazu auch schon Band 1, „Situationslogik und Han-
deln“, sowie noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundla-
gen“). Insofern sind die menschlichen Akteure und die sozialen Systeme, wie
das Niklas Luhmann zur Verwunderung vieler immer wieder betont hat, in ei-
ner gewissen Weise in der Tat voneinander unabhängig. Und sie bilden, wie-
der ganz im Sinne der soziologischen Systemtheorie, jeweils auch eine ganz
bestimmte „Umwelt“ füreinander, die sie einerseits begrenzt, manchmal sogar
„irritiert“, die sie andererseits aber auch benötigen. Die sozialen Systeme
„brauchen“ die Akteure und die Akteure „brauchen“ die sozialen Systeme –
wenngleich nicht jedes alle und nicht alle jedes zur gleichen Zeit und im glei-
chen Maße.
Die sozialen Systeme „bestehen“ also in der Tat nicht irgendwie für sich. An
ihrem Prozessieren sind immer – irgendwelche, keine bestimmten! – lebendi-
gen menschlichen Akteure beteiligt. Das geschieht aber immer nur in selekti-
ven Ausschnitten, weil die Akteure bei der jeweiligen Nutzenproduktion im-
mer nur in einem höchst selektiven Aspekt ihrer Identität, Befindlichkeit und
Kompetenz wichtig werden: Als Vater, Mutter oder Kind in der Familie, als
Kegelbruder oder -schwester im Kegelclub, als Drücker oder potentieller
Heizdeckenkäufer bei der Kaffeefahrt oder als Wähler oder Kandidat bei einer
Bundestagswahl, beispielsweise. Man spricht, um diese Selektivität auszudrü-
cken, deshalb auch nicht von Akteuren als den „Trägern“ der sozialen Syste-
me, sondern von psychischen Systemen: Collagen von Mustern der Orientie-
rung und des Agierens in typischen Situationen. Dafür war in Band 1, „Situa-
tionslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ der Begriff der I-
dentität eingeführt worden.
Lebendige Menschen sind also auch „Systeme“: Sie „bestehen“ nur als Prozeßgleichgewichte
von biologischen und psycho-sozialen Abläufen. Vier Aspekte dieser Systemhaftigkeit müs-
sen unterschieden werden, wenn von einem „Akteur“ als individuellem menschlichen Wesen
die Rede ist. Das ist erstens der Aspekt des biologischen Organismus, der Körper, den jeder
Akteur „benötigt“ und um dessen physisches und psycho-soziales Überleben sich letztlich je-
de Nutzenproduktion dreht. Der Aspekt des psychischen Systems ist der zweite Gesichts-
punkt, nämlich der, daß die Akteure immer nur in Ausschnitten ihrer Identität am Prozessie-
Akteure und soziale Systeme 35
ren der verschiedenen sozialen Systeme beteiligt sind. Akteure „bestehen“ als psychische
Systeme aus einer im Gedächtnis gespeicherten Ansammlung von mentalen Modellen für die
Orientierung und das Handeln in typischen Situationen, die über Symbole und Mustererken-
nung die Verbindung zwischen der Orientierung der Akteure und den jeweiligen sozialen Si-
tuationen herstellen (siehe dazu auch gleich noch die sog. kulturellen Modelle). Akteure sind
drittens Personen in dem Sinne, daß sie „sozialisiert“ sind und mit einem – mehr oder weni-
ger – abgestimmten und integrierten System von Wissen, Werten und Orientierungen, mit ei-
ner personalen „Verfassung“, vielleicht sogar mit einer veritablen Ich-Identität, ausgestattet
sind. Und zu Subjekten werden die Akteure schließlich dadurch, daß sie Absichten entwi-
ckeln und danach reflektiert und intentional handeln, und daß ihnen das auch als von ihnen
verantwortbares Handeln zugeschrieben wird.
Woher aber wissen die jeweiligen Akteure bzw. psychischen Systeme, wel-
cher Ausschnitt ihrer Identität gerade „relevant“ ist und um welche Art von
sozialem System es gerade geht? Die Lösung des Problems ist für die Nutzen-
produktion wichtig, fällt den Akteuren meist aber auch nicht schwer. Wichtig
ist die Lösung der Frage, weil die Nutzenproduktion gerade auf der Selektivi-
tät der Orientierungen und des Handelns, der Festlegung der sozialen Produk-
tionsfunktionen und damit der Codierung des jeweiligen sozialen Sinns in
dem jeweiligen sozialen System also, beruht. Und nicht schwer zu finden ist
sie, weil die sozialen Systeme allesamt in einer typischen Weise markiert und
mit einem, oft sogar deutlich, symbolisierten kulturellen Bezugsrahmen ver-
sehen sind. Den haben die Akteure als psychische Systeme mit den mentalen
Modellen für typische Situationen in ihrem Gedächtnis gespeichert, den sie
mit anderen Akteuren eines bestimmten Kulturkreises teilen und der ihnen
über die Identifikation des Typs des jeweiligen sozialen Systems die „richti-
ge“ Definition der Situation und das darin jeweils angemessene Handeln er-
laubt, oft sogar nachhaltig aufdrängt, und über den sie, anders gesagt, mitein-
ander im Code des jeweiligen sozialen Systems kommunizieren.
Die im Gedächtnis der Akteure gespeicherten mentalen Modelle der sozial
geteilten und mit Symbolen markierten kulturellen Bezugsrahmen seien als
kulturelle Systeme bezeichnet. Es sind die Frames der Orientierung und die
Skripte des Handelns, die Codes und die Programme der Nutzenproduktion,
die für die jeweiligen sozialen Systeme gelten und über die der jeweilige sozi-
ale Sinn definiert ist (vgl. dazu bereits Band 1, „Situationslogik und Handeln“,
sowie Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Die kultu-
rellen Systeme vermitteln – sozusagen – zwischen den psychischen und den
sozialen Systemen und helfen ganz beträchtlich dabei, daß die Akteure verläß-
lich den jeweils geltenden sozialen Sinn korrekt treffen – und deshalb auch re-
lativ unaufwendig den angezielten Nutzen in Kooperation und Transaktion
produzieren können.
36 Die Konstruktion der Gesellschaft
Soziale Systeme unterscheiden sich unter anderem auch darin, wie stabil
die Abläufe dabei jeweils sind, also: ob es sich bei dem Prozeß um eine nach
vorne sehr offene Evolution handelt, wie bei einem flüchtigen Gespräch oder
der offenen Fortentwicklung eines Musikstils, oder um einen sehr gleichge-
wichtigen, stark geregelten oder repetitiven Vorgang, wie das etwa ein Wo-
chenmarkt, ein Finanzamt oder ein Stammtisch wären. Der Vorgang der
„Konstruktion“ der Gesellschaft und ihrer Teile als Ko-Konstitution und Ko-
Evolution von psychischen, kulturellen und sozialen Systemen ist ein Thema,
das sich quer durch die „Speziellen Grundlagen“ in allen ihren sechs Bänden
zieht.
Konkrete soziale Systeme, wie eine Familie, ein Betrieb, ein Kindergarten, ei-
ne Stadt, eine Regierung oder eine Gang von Glatzen werden auch als soziale
Akteure und soziale Systeme 37
Bei der Bestimmung der Art der Interdependenzen der Akteure kommt es ins-
besondere darauf an, ob die Interessen der Akteure übereinstimmen oder
nicht. Hier gibt es drei typisch unterschiedliche Konstellationen: die Konver-
genz der Interessen, die antagonistische Kooperation und die Divergenz der
Interessen.
Die Ordnungsbildung bei Konvergenz der Interessen ist meist bereits durch
nicht-soziales, ja durch „egoistisches“ Handeln möglich oder dann oft sogar
1
Vgl. zu einem der wenigen systematischen Versuche zu einer solchen begrifflichen Ord-
nung Fritz W. Scharpf, Games Real Actors Play. Actor-Centered Institutionalism in Poli-
cy Research, Boulder, Col., und Oxford 1997, Kapitel 3 und 4.
38 Die Konstruktion der Gesellschaft
erst besonders effizient: Die Akteure tun nur das, was ihnen aus ihrer jeweili-
gen „privaten“ Sicht am vorteilhaftesten erscheint, und das ohne jede beson-
dere Berücksichtigung der Motive der anderen Akteure. Die verschiedenen
Handlungen fügen sich dennoch – meist unintendiert – zu einem gleichge-
wichtigen sozialen System, etwa zu einem Marktgleichgewicht. Einer beson-
deren Regelung bedarf es nicht, allenfalls, wenn es zu Koordinationsproble-
men kommt, wie bei Radfahrern, die aber nur eine Absprache, eine Geste oder
ein Schild brauchen, ob Rechts- oder Linksverkehr gilt, ansonsten aber „indi-
viduell“ darin vollkommen übereinstimmen, keinen Zusammenstoß riskieren
zu wollen, und sich deshalb gerne an jede Absprache halten. Die Ordnung er-
gibt sich bei dieser Art der Interdependenz ganz und gar spontan – schon da-
durch, daß die Akteure alleine ihren privaten Neigungen folgen. Oder aber sie
entsteht, wie es heißt, „self-enforcing“ und ohne jede weitere äußere Zutat,
weil die Beachtung der höchstens nötigen Koordinationsregeln, wie etwa die
der StVO, auch schon im individuellen Interesse der Akteure liegt. Kurz: Es
reichen entweder alleine schon die Interessen oder einfache konventionelle
Regeln aus, damit die Ordnung entsteht und sich erhält.
Im Fall der antagonistischen Kooperation – als Mischung von konvergie-
renden und divergierenden Interessen – gibt es aus den entstehenden Dilem-
ma-Situationen keinen alleine auf den Interessen basierenden Ausweg: Einer-
seits sind die Akteure an der Kooperation interessiert, beispielsweise beim
sportlichen Wettkampf oder in einer Koalition, andererseits aber fürchten sie,
daß sie sich ohne weitere Absicherung den Winkelzügen, Tricks und Wort-
brüchen der anderen ausliefern. Und weil alle so denken, unterbleibt womög-
lich die Kooperation, obwohl alle etwas von einer Einigung hätten und daran
auch interessiert sind. Zur Lösung des Problems werden Bindungen oder Re-
geln erforderlich, die die egoistischen Versuchungen zugunsten eines im
Grunde für alle günstigen Ergebnisses zu überspielen vermögen. Dazu gehö-
ren Absprachen, etwa über das Verhalten in Streitfällen oder über Abstim-
mungsregeln, oder Versprechungen. Ein besonderes Problem dabei ist die
Bindewirkung solcher Absprachen und Versprechungen. Die muß wegen der
„antagonistischen“ Kooperation über die individuellen Interessen und über
einfache „konventionelle“ Einigungen hinausgehen und auf gewissen essen-
tiellen, das heißt: wirksam bindenden, aber nicht erzwungenen Regeln beru-
hen. Diese Bindewirkung kann etwa aus einem besonderen Vertrauen beste-
hen oder der persönlichen Bekanntschaft oder aber auch der Bindewirkung ei-
ner „unbedingten“ Moral, wie etwa bei den Fairneßregeln im Sport. Die Vor-
aussetzung für die Wirksamkeit solcher „essentieller“ Bindungen und Regeln
ist freilich, daß sich die Interessen nicht vollkommen widersprechen, daß auch
der „Unterlegene“ etwas von der Beachtung der getroffenen Festlegungen hat
Akteure und soziale Systeme 39
Vor dem Hintergrund der drei genannten Arten von Interdependenzen und
strategischen Situationen und den zur Ordnungsbildung jeweils „nötigen“
Formen der Vergesellschaftung lassen sich dann drei grundlegende Typen von
sozialen Systemen theoretisch unterscheiden: Märkte, Assoziationen und Or-
ganisationen.1
Ein Markt ist ein System von bilateralen Transaktions- bzw. Tauschbezie-
hungen zwischen Anbietern und Nachfragern, etwa von Schweinekoteletts,
bei dem nur die Interessen der Akteure zählen und bei dem die Ordnung un-
geplant und in der Tat ganz und gar spontan entsteht. Die wichtigsten Parame-
ter, die das System eines Marktes bestimmen, sind das Gesetz der Nachfrage
und das Gesetz des Angebotes: Wenn der Preis für ein Kotelett steigt, dann
sinkt die Nachfrage, und es erhöht sich das Angebot – vice versa. Unter be-
stimmten Bedingungen stellt sich ein Gleichgewicht auf dem Markt ein – ein
Preis, bei dem genau so viel nachgefragt wie angeboten wird. Die Beziehun-
gen der Akteure sind dabei hoch-selektiv und anonym, denn die Grundlage
der Ordnung ist allein die Konvergenz der privaten Interessen.
1
Vgl. zu den verschiedenen Formen sozialer Systeme zwischen den Polen von Markt und
Organisation: Viktor Vanberg, Markt und Organisation. Individualistische Sozialtheorie
und das Problem korporativen Handelns, Tübingen 1982, insbesondere Kapitel 1, S. 8-36.
40 Die Konstruktion der Gesellschaft
Eine Assoziation ist ein soziales System, bei dem die Akteure sowohl kon-
vergierende wie divergierende Interessen haben, sich in ihren Handlungen a-
ber an gewissen übergreifenden Bindungen und Regeln orientieren, die eine
Übereinkunft auch angesichts der Divergenz der Interessen erlauben. Assozia-
tionen sind – mehr oder weniger – geregelte soziale Systeme, bei denen die
Regelung jedoch gerade nicht alleine über „Interessen“ und Marktprozesse,
aber auch nicht schlicht über „Befehl“ und formal sanktionierte Ordnung,
sondern über informelle Einverständnisse, Routinen, „Haltungen“ und
interaktiv immer wieder neu bestärkte „Einstellungen“ erfolgt – und dies zur
Regelung auch schon ausreicht. Bei den Assoziationen können dann noch
(mindestens) drei Untertypen danach unterschieden werden, auf welchen
Grundlagen die für diese Assoziationen typischen, weil mindestens
erforderlichen Bindungen und Regeln beruhen: Zusammenkünfte, Netzwerke
und Gruppen.
Als Zusammenkunft sei eine Assoziation bezeichnet, bei der sich mehrere Akteure persönlich
und unmittelbar begegnen und diese Unmittelbarkeit auch wahrnehmen und gegenseitig in
Rechnung stellen, wie beispielsweise die Situation in einem Friseurladen, einer Fakultätssit-
zung oder bei einer Koalitionsverhandlung. Hier spielen ohne Zweifel die Interessen eine
große Rolle, jedoch auch bestimmte Bindungen, etwa persönliche Bekanntschaften oder Ver-
pflichtungen, und mehr oder weniger explizite Regeln des Umgangs aus früheren Zusam-
menkünften. Oft sind solche Zusammenkünfte aber auch noch nicht so recht geregelt, und ein
Gleichgewicht stellt sich dann, besonders wenn die Interessen nicht deutlich konvergieren,
nur mühsam ein. Daher sind in diesen Fällen gewisse „Themen“ – das Wetter, die Schuppen-
flechte oder der tragische Tod von Lady Di etwa – für die lockere, aber nicht unbestimmte
Regelung der Zusammenkünfte von besonderer Wichtigkeit. Netzwerke sind Muster von Be-
ziehungen zwischen Akteuren, wie etwa ein Geflecht von Bekanntschaften, bei dem zwar
nicht jeder jeden unmittelbar kennen muß und auch nicht jeden kennt, gleichwohl aber über
indirekte Wege von jedem erreichbar ist. Netzwerke binden, anders als die Zusammenkünfte,
„identisch“ bleibende Akteure zusammen, wenngleich gelegentlich nur über sehr indirekte
Pfade von „weak ties“. Daher sind sie schon deutlich dauerhafter, abgegrenzter und „organi-
sierter“ als Zusammenkünfte. Und deshalb entstehen in ihrem Rahmen oft auch bald Bezie-
hungen der Verpflichtung, des Vertrauens, ja der Sympathie, auf deren Grundlage sich dann
auch weitere Bindungen bilden, die jede explizite Regelung überflüssig machen können und
auch größere Interessendivergenzen zu überspielen vermögen. Gruppen beruhen ebenfalls auf
persönlichen und unmittelbaren Begegnungen von benennbaren, identischen Personen, je-
doch ist die Mitgliedschaft noch dauerhafter und unmittelbarer, bezieht sich auf eine Vielzahl
von diffusen Beziehungen und Aspekten gleichzeitig und ist durch eine noch deutlichere
Grenze nach außen erkennbar als bei den Netzwerken. Die Gruppenmitglieder haben ein ge-
meinsames Motiv oder Ziel, aber die Ziele und Motive sind, ebenso wie die Mitgliedschaft,
nicht formell geregelt. In den Gruppen bilden sich alsbald gewisse Standardisierungen, Rol-
lenmuster, Hierarchien, und Normen heraus, und mit der distanzierenden Abgrenzung nach
außen auch eine solidarische Gruppenidentität nach innen. Insofern gibt es hier nicht nur
Bindungen und Regeln, sondern auch ein vertikales System von nahezu „herrschaftlichen“
Weisungsbefugnissen, denen, wenngleich nicht formell geregelt, meist auch gefolgt wird.
ganisation und eine daran orientierte formelle „Verfassung“. Darin ist festge-
legt, welche Leistungen die Mitglieder typischerweise zu erbringen haben und
was ihnen als Gegenleistung dafür formell zusteht. Die Besonderheit der Or-
ganisation ist die vorrangige Bedeutung der Weisungen und deren klaglose
Akzeptanz. Die Grundlage ist die Institutionalisierung von (legitimer) Herr-
schaft. Organisationen sind, ganz anders als die Assoziationen, nicht an die
„Identität“ der Akteure gebunden. Im Gegenteil: Es kommt hier ausschließlich
auf die Festlegung gewisser Positionen an. Und diese Positionen können dann
beliebige individuelle Akteure übernehmen. Insofern sind Organisationen
auch wieder eine „anonyme“ Form der Ordnung, und sie gleichen in dieser
Hinsicht den Märkten.
Zwei Dimensionen
Bei einem Markt regieren also nur die Interessen und das nicht-soziale Han-
deln, bei den Assoziationen treten gewisse Bindungen zu den Interessen hin-
zu, und bei einer Organisation kommt noch der herrschaftliche Befehl dazu.
Die Organisation ist, so gesehen, offenbar der theoretische Gegenpol zu einem
Markt: Die Ordnung einer Organisation entsteht geplant und beruht auf einer
explizit eingeführten Verfassung, deren Regeln über Herrschaft und einen (im
Prinzip: repressiven) Sanktionsapparat abgesichert sind. Die Ordnung auf ei-
nem Markt stellt sich dagegen ungeplant oder „konventionell“ und – bis auf
Restgrößen einer Regulierung von kriminellen Akten – zuweilen auch ganz
und gar anarchisch ein. Die Assoziationen enthalten dagegen sowohl spontan-
ungeplante-konventionelle wie organisiert-geplante-repressive Elemente. Aus
dieser Mischung besteht, so könnte man sagen, ihre eigenartige „essentielle“
Bindewirkung, die ja weder alleine auf Interessen, noch alleine auf Herrschaft
gegründet sein kann oder darf. Die Bedingungen der Ordnungsbildung stehen
erkennbar in einem hierarchischen Verhältnis zueinander: Jede Interessen-
konvergenz ließe sich auch noch über essentielle Bindungen und jede Assozi-
ation auch noch über Herrschaft steuern. Aber das wäre jeweils „überflüssig“
und würde der jeweiligen Ordnungsform ihre Besonderheit nehmen. Das
Umgekehrte würde jedoch sicher nicht gehen: Assoziationen beruhen auf
mehr als auf Interessenkonvergenzen und Organisationen auf mehr als auf
selbst „essentiellen“ Bindungen.
Daraus ergibt sich unmittelbar eine zweite Dimension der Ordnungsbil-
dung: Markt und Organisation sind Formen der anonymen Ordnung, sei es
über den bilateralen anonymen Tausch beim Markt, sei es über die Besetzung
von Positionen durch ansonsten anonyme, austauschbare Akteure. Assoziatio-
42 Die Konstruktion der Gesellschaft
Eine Systematik
Die Beziehungen zwischen den Umständen und der Art der Ordnungsbildung
und dem Typ des sozialen Systems lassen sich vor diesem Hintergrund dann
in zweierlei Weise zusammenfassen (vgl. Abbildung 2.1): erstens als Hierar-
chie von Markt, Assoziation und Organisation als sozialen Systemen mit im-
mer größeren Anteilen von geplanter zu spontaner Ordnung; und zweitens als
Unterscheidung von anonymer und nicht-anonymer Art der Ordnungsbildung
bei Markt und Organisation einerseits und bei den Assoziationen andererseits.
Akteure und soziale Systeme 43
Interessenkonvergenz/
nicht-soziales Handeln/ x x x
spontane/konventionelle
Ordnung
antagonistische
Kooperation/ Bindungen x x
und Regeln/ essentielle
Ordnung
Interessendivergenz/
Herrschaft/ geplante/ x
repressive Ordnung
Anonymität + - +
Abb. 2.1: Arten der Ordnungsbildung und Typen von sozialen Systemen
Die verschiedenen Dimensionen und Formen der Ordnung, spontan und ge-
plant, anonym und interaktiv-persönlich bzw. systemisch und lebensweltlich,
kommen, bis auf ganz wenige Ausnahmen, wie bei den frühzeitlichen Jäger-
und Sammlergesellschaften, die keine Märkte und keine Organisationen, son-
dern ganz überwiegend nur Gruppen kannten, in allen menschlichen Gesell-
schaften vor, wenngleich jeweils in unterschiedlicher Gewichtung und Zu-
sammensetzung.
Mischformen
Die meisten konkreten sozialen Gebilde lassen sich als Mischformen der drei
Typen der Ordnungsbildung rekonstruieren. Drei solcher „gemischter“ sozia-
ler Systeme wollen wir gesondert benennen: Verhandlungen, situierte Aktivi-
tätssysteme bzw. Handlungsfelder und Ensembles.
Verhandlungen sind eine, meist als Zusammenkunft stattfindende, spezielle Art von Marktge-
schehen, bei denen gegenseitig „Angebote“ gemacht und abgelehnt oder angenommen wer-
den. Das Ergebnis erfolgreicher Verhandlungen ist meist ein „Kompromiß“, bei dem beide
Seiten zwar jeweils etwas abgegeben haben, was sie gerne behalten hätten, mit dem Kom-
promiß aber insgesamt besser dastehen, als wären die Verhandlungen ergebnislos abgebro-
chen worden. Hilfreich für erfolgreiche Verhandlungen ist, wenn sie in einen „assoziativen“
44 Die Konstruktion der Gesellschaft
Rahmen vorher entstandener Bindungen und Regeln eingebettet sind, etwa, wenn die Ver-
handlungspartner vernetzt sind oder sich aus früheren Zusammenkünften gut kennen. Oft
geht es dabei zunächst um das „Aushandeln“ der „Definition“ der betreffenden Situation:
Was soll als wichtig gelten und wie sieht die Agenda aus? Viele Alltagssituationen, die gar
nicht wie Verhandlungen aussehen, bestehen gleichwohl aus diesem Kampf um die „richtige“
Sicht der Dinge. Ein besonders interessanter Mischtyp eines sozialen Systems sind die situier-
ten Aktivitätssysteme oder Handlungsfelder. Das sind soziale Systeme, die sowohl Merkmale
von Zusammenkünften wie von Organisationen, aber auch von Verhandlungen haben: Die
Akteure begegnen sich unmittelbar in einem auch formell geregelten setting und unter be-
stimmten Interdependenzen ihres Tuns. Beispiele dafür wären eine Operation mit Chefarzt,
Assistenzarzt und Schwestern, das Haareschneiden im Friseursalon, eine Fakultätssitzung o-
der ein Fußballspiel. Zwar gibt es klare Regeln und deutliche Vorgaben und Grenzen des
Tuns, es gibt aber auch beträchtliche Spielräume für die strategische Nutzung oder Ab-
wandlung der Regeln, wie für die nicht an die Regeln gebundene Macht, die etwa ein Assis-
tenzarzt über den Chefarzt allein deshalb hat, weil die guten Nerven auch des Assistenzarztes
zum Gelingen der Operation beitragen, für die der Chefarzt verantwortlich ist. Ein Spezialfall
davon wiederum sind die sog. Ensembles. Das ist ein System von Akteuren, deren Leistung
darin besteht, bei anderen Akteuren über eine bestimmte Rollenverteilung ein bestimmtes
„Schauspiel“ zu liefern, wie etwa ein feierliches Abendessen, eine Arztpraxis, Restaurants
oder eine Senatssitzung in der Universität. Auch hier gibt es formelle Regelungen, aber auch
deutliche Interdependenzen der Akteure untereinander. Das wichtigste Merkmal der En-
sembles ist die Unterteilung des settings in Darsteller und Publikum, oft in wechselnder „Rol-
le“. Und wie beim richtigen Theater gibt es auch im richtigen Leben Vorder- und Hinterbüh-
nen, wie etwa das Rektoratszimmer, in dem die Schauspieler in den Rollen von Rektor, Kanz-
ler und der grauen Eminenz, die jede Universität aufweisen kann, vor dem Theater der Se-
natssitzung noch rasch die letzten Intrigen und strategischen Rollenverteilungen absprechen.
Der Begriff der Figuration, ein Ausdruck, den Norbert Elias geprägt hat, faßt
schließlich alle denkbaren Formen von sozialen Systemen unter dem Ge-
sichtspunkt zusammen, daß letztlich jeder soziale Vorgang das Ergebnis von,
wie es heißt, prozessualen Machtbalancen wäre. Damit ist gemeint, daß bei
praktisch jedem sozialen Geschehen und jedem sozialen System drei Dinge
zusammenspielen: die Interessen der Akteure und darüber ihre jeweiligen Zie-
le, die institutionellen Regeln und damit gewisse Rechte und Pflichten für ihr
Tun und schließlich die schiere Macht, die die Akteure, auch in ihrer instituti-
onellen Bändigung als Herrschaft, übereinander dadurch ausüben, daß sie in
unterschiedlicher Weise die Kontrolle über die interessanten Ressourcen ha-
ben. Ein Fußballspiel, ein Fürstenhof oder ein Parteivorstand sind nur so zu
verstehen: als prozessierende „Balance“ von Interessen, Regeln und Macht.
Der Begriff der Figuration ist die Erinnerung daran, daß es die Strukturen und
die Regeln alleine nicht sind, die das Prozessieren der sozialen Systeme aus-
machen und erklären, sondern das an Regeln orientierte, in Interdependenzen
verwickelte, von Interessen getriebene und in ungeplante Folgen einmünden-
de Handeln von menschlichen Akteuren.
Akteure und soziale Systeme 45
Szenen oder Milieus können natürlich auch solche sein, die in ihren Mit-
teln oder sogar in ihren Zielen illegitim oder wenigstens ungewohnt und neu-
artig sind. Zur Nutzenproduktion geschehen dann Dinge, die nicht mit den e-
tablierten und anerkannten institutionellen Regeln vereinbar sind oder sogar
auf deren grundlegende Änderung abzielen. Diese Bereiche bzw. sozialen Sy-
steme sind die Devianz-Bereiche der Gesellschaft. In den devianten sozialen
Systemen ist die Nutzenproduktion wenigstens im Vergleich zu den etablier-
ten Regeln neuartig organisiert, wenn nicht schon so, wie es die Polizei nicht
mehr erlaubt.
Zu den den Milieus, die nur andere, neue und darunter dann auch illegitime Mittel pflegen,
aber ansonsten mit den gesellschaftlichen Zielen übereinstimmen, zählen die diversen, mehr
oder weniger: halbseidenen, Subkulturen, etwa die bestimmter sexueller Obsessionen,
verpönter Arten der Lebensführung oder die der mehr oder weniger organisierten Kriminali-
tät. Die inzwischen entstandenen ethnischen Gemeinden der Immigranten in vielen
westeuropäischen Ländern können, wenn man sie als „neue“, aber in den übergreifenden
Zielen durchaus konforme Elemente der jeweiligen Gesellschaft ansehen möchte, auch zu
solchen Subkulturen gezählt werden. Milieus, die auch ganz andere als die gesellschaftlich
etablierten Ziele anstreben, werden als Gegenkulturen bezeichnet. Ganz früher bildeten
Häretiker und Eiferer solche Gegenkulturen, wie die Wiedertäufer in Münster. Sie wurden
meist gnadenlos verfolgt. In der neueren Geschichte waren das einst die APO und später die
RAF und einige „alternative“ oder „underground“-Milieus. Derzeit sind es etwa noch die
Autonomen- oder die Glatzen-Szene, auf keinen Fall jedoch mehr die Grünen. Die
Immigrantenmilieus hierzulande, die ethnischen Gemeinden und ethnischen Assoziationen,
sind, bis auf kleine fundamentalistische Einsprengel, sicher auch keine Gegenkulturen,
könnten es aber werden. Eine soziale Bewegung schließlich ist ein „dynamisches“ System des
kollektiven Handelns von Akteuren, die ein bestimmtes „alternatives“ Interesse, eine
bestimmte „alternative“ Zielsetzung, mindestens aber ein bestimmtes „alternatives“ Thema
eint. Sie kommen in verschieden „radikalen“ Formen vor: als Initiative, als Protestbewegung,
als Revolte oder als ausgewachsene Revolution, als Bewegung also, deren Ziel die Änderung
der Grundverfassung der Gesellschaft ist. „Dynamisch“ sind die sozialen Systeme sozialer
Bewegungen, weil sie darauf angelegt, ja darauf angewiesen sind, daß immer größere Teile
der Bevölkerung davon erfaßt werden – bis das Ziel erreicht ist. Dann sterben sie sozusagen
eines natürlichen Todes, wenn sie nicht schon vorher an Auszehrung eingegangen sind oder
von der Gewalt des „herrschenden“ gesellschaftlichen Systems abgewürgt wurden.
Gelegentlich wird über eine soziale Bewegung das, was zuerst Sub- oder gar
Gegenkultur war, zu einem anerkannten und funktionalen, ja herrschenden
Teil der Gesellschaft, wie das einst bei den „Protestanten“ und zuletzt bei den
„alternativen“ Grünen der Fall gewesen ist. Dann hat sich die „Verfassung“
der Gesellschaft so geändert, daß die zuvor neuen, abweichenden oder gar il-
legitimen Mittel und Ziele zu etablierten kulturellen Zielen und institutionali-
sierten Mitteln geworden sind.
Die Unterteilung nach funktionalen Sphären, kulturellen Milieus und Devi-
anz-Bereichen folgt der Art und der gesellschaftlichen Geltung der jeweiligen
sozialen Produktionsfunktionen: In den funktionalen Sphären geht es um be-
Akteure und soziale Systeme 47
stimmte funktionale Oberziele oder funktionale Imperative, wie etwa die Gü-
terversorgung oder die Sanktionierung von Normübertretungen, in den kultu-
rellen Milieus um die Pflege gewisser Werte, Praktiken oder Lebensstile, um,
wie wir sagen wollen, ganz spezifische kulturelle Fokalobjekte, und in den
Devianz-Bereichen um die Etablierung entweder neuer institutionalisierter
Mittel oder sogar neuer kultureller Ziele, um deviante Alternativen also. Die
funktionalen Imperative, die kulturellen Fokalobjekte und die devianten Al-
ternativen definieren die primären Zwischengüter der jeweiligen sozialen Sys-
teme und damit die Codes der Orientierung und – indirekt – die Programme
des Handelns dafür. Die Codes und Programme sind wiederum als Frames
und Skripte in den kulturellen Systemen verankert, die die Akteure in ihrem
Gedächtnis als mentale Modelle haben, die sie untereinander teilen, über die
sie sich in ihren Orientierungen und in ihrem Handeln symbolisch und kom-
munikativ aufeinander beziehen – und darüber die sozialen Systeme „konsti-
tuieren“, sie von anderen sozialen Systemen in ihrem typischen „Sinn“ ab-
grenzen und von ihnen immer wieder neu selbst konstituiert werden.
Aus der Art der Beteiligung der individuellen Akteure an der „Konstitution“
der sozialen Systeme lassen sich bestimmte Formen von Kollektiven oder von
Akteurskonstellationen beschreiben, die teilweise wiederum soziale Systeme
darstellen, teilweise aber auch nicht. Die wichtigsten Formen von Kollektiven
bzw. Akteurskonstellationen sind soziale Kategorien, soziale Aggregate, kol-
lektive Akteure und korporative Akteure.
Unter sozialen Kategorien werden ansonsten unverbundene Mengen von
Akteuren mit ähnlichen Eigenschaften, ähnlicher Ausstattung mit Ressourcen
und ähnlichen Werten und Verhaltensweisen, kurz: mit einer ähnlichen gesell-
schaftlichen Lage verstanden (vgl. dazu noch Kapitel 4 dieses Bandes insbe-
sondere). Alles, was geschieht, beruht allein auf den Eigenschaften oder den
Entscheidungen der individuellen Akteure, ohne daß diese selbst irgendwie
aufeinander Bezug nähmen. Wegen der Ähnlichkeit der Akteure in einer be-
stimmten Lage oder Kategorie kann man, wenn man einen „Typ“ von Akteur
kennt, Aussagen über das Verhalten der Akteure in der gesamten restlichen
Kategorie machen, wie etwa über das Wahlverhalten, wenn die Interessen und
die Parteiidentifikation bekannt sind. Kategorial ähnliche Akteure werden da-
her auch als „anonyme Individuen“ bezeichnet und zu einem „Typ“, etwa dem
einer bestimmten sozialen Klasse, zusammengefaßt.
48 Die Konstruktion der Gesellschaft
Soziale Kategorie x
Soziales Aggregat x x
Kollektiver Akteur x x x
Korporativer Akteur x x x x
Abb. 2.2: Die Systematik von sozialen Kategorien, sozialen Aggregaten, kollektiven
Akteuren und korporativen Akteuren.
Wenn soziale Systeme als Prozesse des – materiell und/oder symbolisch – an-
einander anschließenden Handelns von Akteuren verstanden werden, dann
sind die sozialen Kategorien keine sozialen Systeme: Alles, was geschieht,
passiert ohne jede „soziale“ Koordination und ohne jeden weiteren kausalen,
Akteure und soziale Systeme 51
Die Gesellschaft ist auch ein soziales System, ein ganz besonderes sogar (vgl.
dazu schon Teil F der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“ ausführlich). Sie
bildet den weitesten materiellen, institutionellen und kulturellen Rahmen des
Handelns und seines Sinns sowie des „Prozessierens“ der vielen von ihr um-
schlossenen sozialen Systeme. Sie gleicht einer Organisation dadurch, daß ih-
re Grenzen oft formell durch die Grenzen der Geltung ihrer jeweiligen staat-
lichen Verfassung festgelegt sind. Und sie hat Ähnlichkeit mit einem Markt
insofern als die vielen sozialen Systeme, aus denen sie „besteht“, als ein gi-
gantisches Geflecht von Angebot und Nachfrage für bestimmte Nutzenpro-
duktionen verstanden werden können, die sich in einem umfassenden Gleich-
gewicht befinden. Die Organisation der Nutzenproduktion ist auch in den ein-
fachsten Gesellschaften keine Angelegenheit, in der jeder das gleiche tut oder
jeder das gleiche erhält. Arbeitsteilung, etwa, und unterschiedliche Haltungen,
Praktiken und Stile des Handelns gibt es praktisch in jeder Gesellschaft, ge-
wiß auch Devianz-Bereiche, wie etwa die Prostitution. Gesellschaften unter-
scheiden sich typischerweise darin, wie unterschiedlich die von ihr umschlos-
senen sozialen Systeme sind, nach welchen Prinzipien diese Unter-
schiedlichkeit aufgebaut ist und wie sich die Bevölkerung der Gesellschaft
darin anordnet (vgl. dazu auch noch Kapitel 9, insbesondere aber Abschnitt
9.2, dieses Bandes).
renzierung einer Gesellschaft bezieht sich auf die Arten und die Unterschied-
lichkeit der sozialen Systeme (vgl. dazu noch Kapitel 3 dieses Bandes ausführ-
lich). Beispielsweise: Gibt es nur Dörfer oder auch schon Städte, die auf die
umliegende Landwirtschaft angewiesen sind? Gibt es ein Gesundheits- und
ein Bildungswesen, das allen offensteht, oder nicht? Finden Familienleben
und Erwerbsarbeit an einem Ort statt oder sind sie als soziale Systeme ge-
trennt? Gibt es nur eine kulturell einheitliche Form des Lebens oder handelt es
sich um eine multikulturelle Gesellschaft mit vielen verschiedenen Werthal-
tungen und Lebensstilen? Existieren Subkulturen, in denen Verbotenes ge-
schieht, oder gar Gegenkulturen, in denen der Umsturz der Gesellschaft ge-
plant wird?
Die soziale Ungleichheit verweist demgegenüber auf die Unterschiedlich-
keiten in typischen gesellschaftlichen Lagen, in die die Akteure in der betref-
fenden Gesellschaft kommen können, und darüber dann auf die typischen so-
zialen Kategorien von Ähnlichkeiten in den gesellschaftlichen Lagen, in die
sich die Bevölkerung einer Gesellschaft unterteilt: in Männer und Frauen,
Arme und Reiche, Arbeiter, Angestellte, Beamte und Selbständige, Ausländer
und Einheimische, Katholiken und Protestanten, Materialisten und Postmate-
rialisten, Traditionalisten und Hedonisten – oder irgendeine beliebige Kombi-
nation davon, zum Beispiel. Die wichtigsten Formen der sozialen Ungleich-
heit sind die sozialen Klassen, die Stände und die Kasten, die verschiedenen
sozialen Schichten und – neuerdings – die sog. Lebensstilgruppen (vgl. dazu
noch Kapitel 4 dieses Bandes ausführlich).
Die soziale Differenzierung ist also, wenn man so will, die Ungleichheit
der sozialen Systeme, die soziale Ungleichheit die der Akteure einer Gesell-
schaft. Zwischen sozialer Differenzierung und sozialer Ungleichheit bestehen
indessen enge Beziehungen: Die soziale Ungleichheit bezeichnet das Muster
typischer Unterschiede in der gesellschaftlichen Lage von typischen Katego-
rien von Akteuren, wie sie sich vor allem aus den Mitgliedschaften und Betei-
ligungen der Akteure an den verschiedenen sozialen Systemen ergeben. Es
geht um den Einbezug oder die Ausgrenzung, um die Inklusion bzw. die Ex-
klusion der Akteure in bestimmte bzw. aus bestimmten sozialen Systemen
(vgl. dazu noch Kapitel 5 in diesem Band): Ein hohes Einkommen hat je-
mand, weil er einen guten Job in einem Unternehmen ausübt, und den hat er
nur bekommen, weil er vorher das soziale System der Bildungseinrichtungen
erfolgreich durchlaufen hat. Und obdachlos wird jemand, der als Minder-
qualifizierter aus dem inzwischen sehr „schlanken“ sozialen System der Wirt-
schaft herausgeflogen ist, deshalb seine Miete nicht mehr bezahlen kann, und
auch nicht mehr dem sozialen System einer unterstützenden Familie angehört,
weil sich seine vermögende Gemahlin von ihm hat scheiden lassen. Und je
Akteure und soziale Systeme 53
nach der empirischen Verteilung der Akteure einer Bevölkerung auf die ver-
schiedenen gesellschaftlichen Lagen ergeben sich die sozialen Kategorien und
daraus das Muster der sozialen Ungleichheit in der Gesellschaft – etwa die
Verteilung nach reich und arm, nach der Vorliebe für Heino oder für Guildo,
nach Gesetzestreue oder nach Subversion.
Die soziale Differenzierung der sozialen Systeme und die soziale Un-
gleichheit der Kategorien der Akteure sind die beiden wichtigsten Aspekte der
sozialen Struktur des Systems einer Gesellschaft (siehe dazu dann noch die
Übersicht in Abschnitt 9.1 in diesem Band).
Systembeziehungen
Die Akteure und die verschiedenen Kollektive der Gesellschaft, die sozialen
Kategorien und die sozialen Systeme, „komponieren“ und aggregieren sich al-
so auf unterschiedliche Weise zu einem „Ganzen“. Und natürlich gibt es auch
Beziehungen der Akteure zueinander und zu den sozialen Systemen und der
sozialen Systeme untereinander, wie etwa die des Tausches, die der Mitglied-
schaft in einem Verein oder die der Abgrenzung etwa der Sphäre der Familie
von der des Rotlichtmilieus. Fünf Arten der Bezugnahme der Systeme einer
Gesellschaft aufeinander seien auseinandergehalten: die System-Abgrenzung,
die System-Inklusion (bzw. komplementär dazu: die System-Exklusion), die
System-Relation, die System-Durchdringung und die System-Aggregation.
System-Abgrenzung
grenzen sich auch die kulturellen Systeme ab: über die in den Gehirnen der Akteure gespei-
cherten und sozial geteilten mentalen Modelle des Bewußtseins und des Handelns für die ver-
schiedenen Situationen mit ihren jeweils typischen Codes und Programmen, die mit den Co-
des der betreffenden sozialen Systeme korrespondieren.
Die System-Abgrenzung bezeichnet also das, was das betreffende System von
allen anderen unterscheidet: Das Bewußtsein und das Handeln trennen die
psychischen Systeme der Akteure von den sozialen Systemen, weil soziale
Systeme nicht selbst fühlen, denken und handeln können. Und die Codes der
sozialen Produktionsfunktionen trennen die sozialen und die kulturellen Sys-
teme voneinander nach dem jeweils typischen sozialen „Sinn“, der in ihnen
herrscht, der zur Nutzenproduktion verlangt wird und bestimmt, was jeweils
von und im betreffenden System überhaupt als relevant oder auch nur sinnvoll
„verstanden“ wird.
System-Inklusion
Georg Simmel. Ein Beispiel dafür wären Priester und Gläubige in einer katholischen Kir-
chengemeinde, die Teil eines Dekanates ist, das selbst einem Bistum zugehört ... bis zum all-
umfassenden Rahmen der Heiligen Römisch-Katholischen Kirche mit dem Papst an der Spit-
ze, der sozusagen der Repräsentant der konzentrischen System-Inklusion der Kirche in noch
weitere, unfaßbare, Sphären ist. Alles, was von ganz oben kommt, wird ganz ungebrochen
nach unten weitergereicht und dort klaglos akzeptiert, weil immer die gleiche „Systemlogik“
gilt: der Glaube an die Heilige Römisch-Katholische Kirche, an die Unfehlbarkeit des Papstes
und an den Allmächtigen, der alles lenkt. Eine Segmentation der System-Inklusion gibt es,
wenn sich die Mitgliedschaften der Untereinheiten auf genau ein System beschränken, wie
das bei Klöstern, Eifeldörfern oder Stämmen der Fall ist: Jeder Akteur gehört immer nur dem
betreffenden Kloster, Eifeldorf oder Stamm an – und sonst keinem anderen sozialen System
(wenn man einmal davon absieht, daß in Klöstern, Eifeldörfern und Stämmen es sicher auch
noch eine Reihe verschiedener sozialer Systeme gibt). Die Inklusion in ansonsten getrennte
konzentrische Kreise wäre natürlich auch ein Fall einer solchen Segmentation. Christen seg-
mentieren sich in dieser Weise von den Muslimen, das Dorf Kall in der Eifel von dem Dorf
Much gleich nebenan und die Flamen von den Wallonen in Belgien – und die verschiedenen
sozialen Systeme haben jeweils ihre Mitglieder ganz exklusiv für sich. Ein wichtiger Spezial-
fall der Segmentation von Systemen ist die Ko-Existenz von getrennt existierenden und
selbstgenügsamen sozialen Systemen. Ein Beispiel dafür wäre die Koexistenz von Dörfern,
Stämmen und Regionen im Rahmen eines Nationalstaates, wobei die Dörfer, Stämme und
Regionen jeweils für sich als selbstgenügsame Systeme existieren. Auch hier wären die ein-
zelnen Akteure Mitglieder in einem System konzentrischer Kreise: Jeder ist Bewohner nur
eines Dorfes, das Teil nur eines bestimmten Stammes ist, der selbst wieder nur zu einer be-
stimmten Region gehört. Von einer Kreuzung der System-Inklusionen, von der „Kreuzung
der sozialen Kreise“ mit Georg Simmel gesprochen, ist schließlich dann die Rede, wenn eine
Untereinheit, wieder im einfachsten Fall ein individueller Akteur, Mitglied in mehreren sozia-
len Systemen, die nicht wiederum bloß (echte) Teilmengen bilden, gleichzeitig ist: Herr
Schmitz ist etwa Familienvater, Angestellter in der Stadtverwaltung, Gewerkschaftsmitglied
und Kassierer des CDU-Ortsverbandes in seinem Stadtteil und als solcher Mitglied und Teil
der Systeme Familie, Stadtverwaltung und Partei – gleichzeitig. Wenn die Anforderungen aus
den verschiedenen Mitgliedschaften von ihrer jeweiligen Systemlogik her in die gleiche Rich-
tung weisen, sind sie in ihrer Wirkung auf die Orientierungen und das Handeln kongruent o-
der konsistent. Eine solche Kongruenz der Mitgliedschaften bzw. des Status gibt es bei-
spielsweise bei dem Gewerkschaftler, der auch noch SPD-Mitglied ist, oder bei dem selb-
ständigen Liberalen. Man spricht auch von Statuskongruenz, Statuskonsistenz oder Status-
kristallisation. Die Konzentration wäre damit ein Spezialfall der Kreuzung der sozialen Krei-
se: die Zugehörigkeit zu mehreren, sich als Teilmengen kreuzenden Systemen bei Kongruenz
der Anforderungen. Gehen die Systemlogiken in verschiedene Richtungen, dann liegt ent-
sprechend eine Inkongruenz der Mitgliedschaften bzw. der System-Inklusion bzw. eine Statu-
sinkonsistenz oder Statusinkongruenz vor. Bei Herrn Schmitz wäre das insofern der Fall, als
er Gewerkschaftsmitglied und CDU-Aktivist gleichzeitig ist. Und das verträgt sich immer
noch nicht so gut wie eine Kombination von SPD-Mitgliedschaft und Gewerkschaft. Über
solche Kreuzungen der System-Inklusionen in soziale Kreise, deren Anforderungen sich wi-
dersprechen, geraten die Akteure u.U. in ganz spezielle gesellschaftliche Lagen mit glegent-
lich stark divergierenden und inkongruenten Orientierungen und Vorgaben für das Tun. Viel-
leicht ist der betreffende Akteur sogar der Einzige, der gerade diese Kombination von Mit-
gliedschaften aufweist und der diese besondere gesellschaftliche Lage mit ihren Widersprü-
chen und die damit verbundenen Spaltungen seiner Identität mit niemandem anderen teilt.
Und dadurch glaubt er möglicherweise, daß er ein ganz einzigartiges „Individuum“ wäre, das
alle Konflikte alleine in sich austrägt. Tatsächlich bezieht Herr Schmitz, zum Beispiel, jedoch
diese Individualität alleine durch die besondere Kreuzung seiner Zugehörigkeiten zu sozialen
Akteure und soziale Systeme 57
Das gilt etwa für die Erklärung des Wahlverhaltens allein schon als Folge der politischen In-
teressenlage der Akteure, die sich beispielsweise daraus ergibt, daß sie selbständig oder
Sozialhilfeempfänger sind, für die Erklärung der Unterbeteiligung von Frauen an Füh-
rungspositionen durch ihre in der Regel immer noch besondere familiäre Position oder für die
Erklärung des Anstiegs der Scheidungsraten als einfache Aggregation des (zeitweisen) Aus-
stiegs aus dem sozialen System der Ehe, weil die individuellen Akteure mehr und mehr Al-
ternativen zu einer schlechten Ehe haben.
Eine soziale Klasse ist, so gesehen, nur ein Spezialfall der System-Inklusion
von Akteuren, einer dadurch erzeugten gesellschaftlichen „Stellung“ und so-
zialen Kategorie von Akteuren mit typischen Interessen und einer typischen
Kontrolle von Ressourcen. Und die sog. Klassenanalyse ist nichts anderes als
die Vorhersage eines an die gesellschaftliche Lage anknüpfenden typischen
Handelns und dadurch bewirkter typischer kollektiver Folgen. Die Variablen-
Soziologie, gerade auch die in der Form der Kontext- und Mehr-
ebenenanalyse, geht ebenfalls so vor (vgl. dazu bereits Kapitel 10 bis 12 in
Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“): Sie
beschreibt über die sog. sozial-demographischen Variablen und Kontexte ty-
pische Mitgliedschaften und Statuskonfigurationen, darüber typische gesell-
schaftliche Lagen der Akteure und versucht darüber dann möglichst viel an
„Varianz“ in einem bestimmten Handeln zu erklären.
System-Relationen
System-Durchdringung
der
System-Aggregation
die nach einem Kompromiß suchen, ein Mittagessen als eingespieltes Ritual
von einander gut bekannten Personen oder das kulturelle System einer Grup-
penidentität als Ergebnis eines Prozesses der Verfestigung von Erwartungen
durch vorausgegangene Interaktionen, etwa bei Soldaten im Schützengraben,
die sich gegenseitig nach einiger Zeit als „Kameraden“ sehen, obwohl sie vor-
her nichts miteinander zu tun hatten. System-Aggregationen sind meist weit
mehr als jene einfache „Summe“ der Teile, die für die System-Inklusion kenn-
zeichnend war.
Wir können die verschiedenen System-Relationen und die daran anschließenden komplexeren
System-Aggregationen der Teile zu einem Ganzen hier nicht alle aufführen. Das ganze Buch
handelt davon in allen seinen sechs Bänden. Nur eines ist an dieser Stelle noch wichtig: Es
können grundsätzlich alle Arten von sozialen Systemen untereinander und mit individuellen
Akteuren in Beziehung kommen. Beispielsweise: Einzelpersonen können von VW ein Auto
kaufen, das die Produktionsarbeiter angefertigt haben, und VW kann versuchen, sich der Be-
steuerung seiner Gewinne durch das Finanzamt zu entziehen, worüber dann der Ministerprä-
sident von Niedersachsen mit dem Vorstandssprecher von VW beim Opernball in Wien ein
paar nette Worte wechselt und damit den Standort Deutschland im Rahmen der Glo-
balisierung sichert. Und zum Opernball ist der Ministerpräsident gekommen, weil er und sei-
ne (zeitweilige) Gattin seit langem gut mit den Spitzen der Wirtschaft aus der Sauna bekannt
waren und weil alle dachten, daß der gemeinsame Besuch des Opernballs mit dem Learjet der
Firma eine gute Gelegenheit zur Erzeugung von physischem Wohlbefinden und sozialer
Wertschätzung auch im Interesse des Wohlergehens der Gesellschaft sein könnte. In Köln
nennt man diese Form der System-Aggregation Klüngel, im Ruhrgebiet Filz, im Süden Vet-
terleswirtschaft. Inzwischen hat es sogar einen Namen: das System Kohl. In den vornehmeren
Versionen der Sozialwissenschaft kennt man kein knappes Wort dafür und hat deshalb den
umständlichen Ausdruck „informal governance structure“ erfinden müssen.
Alle sozialen Systeme „bestehen“ letztlich nur über die Beiträge individueller
Akteure zu ihrem Prozessieren. Insofern sind soziale Systeme notwendiger-
weise Mehrebenen-Systeme mit (mindestens) einer Mikro- und einer Makro-
60 Die Konstruktion der Gesellschaft
Ebene (vgl. dazu auch schon Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser
„Speziellen Grundlagen“). Akteure sind – als psychische Systeme – die immer
beteiligten Mikro-Elemente, die ja erst durch ihren Beitrag das aggregierte
Makro-Phänomen einer Zusammenkunft konstituieren. Alle sozialen Systeme
sind in diesem Sinne also immer schon „Makro“-Systeme.
Die sozialen Systeme selbst können nun wiederum in weitere Makro-
Ebenen sozialer Systeme eingebettet, im einfachsten Fall also: inkludiert, sein.
Zusammenkünfte, Gruppen und Organisationen gibt es zum Beispiel immer
nur im „Kontext“ des sozialen Systems einer Gesellschaft. Solche Zwischen-
stufen zwischen der Mikroebene der Akteure (oder „kleiner“ Sozialsysteme
wie Familien, Gruppen oder Dörfer) und einer weiter gezogenen Makroebene
als „Kontext“ sind nicht selten, wie bei der Katholischen Kirche mit den De-
kanaten und Bistümern als Ebenen zwischen den Gläubigen und den Priestern
einerseits und der allumfassenden Kirche andererseits; oder wie bei der SPD
mit den Ortsvereinen, Unterbezirken und Bezirken als Ebenen zwischen den
einfachen Parteimitgliedern und der Bundespartei mit dem Bundesvorstand
und Rudolf, Oskar oder Gerhard an der Spitze. Die Systeme, die diese Zwi-
schenstufe zwischen der Mikro-Ebene der individuellen Akteure und irgend-
einem Makro-System ausmachen, bilden die sog. Meso-Ebene.
Auch das Verhältnis zwischen den verschiedenen Ebenen einer Ge-
sellschaft oder eines anderen sozialen Gebildes kann ganz unterschiedlich und
ganz verschieden komplex sein. Drei Formen von Mehrebenensystemen las-
sen sich vor diesem Hintergrund unterscheiden: Die Mehrebenen-Inklusion,
die Mehrebenen-Organisation und die Vermittlungs-Netzwerke.
Die Mehrebenen-Inklusion ist, ganz in Entsprechung zur oben behandelten System-Inklusion,
die einfache Mitgliedschaft der „Mikro“-Einheiten in die weiter gezogenen Systeme einer
Makroebene, ohne daß es außer der bloßen Bildung von größeren Einheiten noch eine weitere
Organisation oder Aggregation der Systeme gäbe. Familien bilden auf diese Weise Ver-
wandtschaften, die wiederum aggregieren sich zu Clans, und daraus setzt sich dann ein
Stamm zusammen; Schüler sind Mitglieder von Schulklassen, die wiederum sind Teile von
Schulen, die ihrerseits einem Schuldistrikt in einem bestimmten Bundesland zugehören; Dör-
fer und Städte sind Teile von Regionen, die wieder Teile von Nationen und die wiederum
Teile von transnationalen Organisationen. Die Besonderheit ist, daß es sich nur um eine ein-
fache Aggregation von Teilen zu einem Ganzen handelt, wobei jedoch die Mitgliedschaften
der Teile in unterschiedlichen Obereinheiten durchaus Folgen für deren Handeln haben kön-
nen. Die in Kapitel 11 von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grund-
lagen“ besprochene Kontext- und Mehrebenenanalyse geht von diesem Konzept der Mehr-
ebenen-Inklusion aus. Die Mehrebenen-Inklusion ist also, wie man sieht, nur ein Spezialfall
der System-Inklusion: Das Ganze ist die Summe seiner Teile. Sonst nichts. Eine Mehrebenen-
Organisation ist „mehr“ als die bloße Summe ihrer Teile. Es sind Fälle von System-
Relationen. Dabei bilden die Untereinheiten im Rahmen und zusammen mit der Obereinheit
ein neues und eigenständig operierendes soziales System, beispielsweise einen Betrieb mit
seinen Unterabteilungen und informellen Gruppen, in denen die Personen agieren, einen Ver-
band, der seine Mitglieder in der Bonner bzw. Berliner Lobby vertritt, oder die Europäische
Akteure und soziale Systeme 61
Union mit ihren Mitgliedstaaten und deren (jeweils wohl wechselnden) Koalitionen gegen
„Brüssel“. Bei den Mehr-ebenen-Organisationen lassen sich drei Typen von System-
Relationen unterscheiden: die hierarchische Organisation, die genossenschaftliche Organisa-
tion und die Vermittlungs-Netzwerke. Bei der hierarchischen Mehrebenen-Organisation be-
ruhen die Beziehungen der verschiedenen Ebenen auf vertikal bindenden Weisungsbefugnis-
sen „von oben nach unten“, wie etwa bei einer Behörde oder bei einer militärischen Einheit.
Die genossenschaftliche Mehrebenen-Organisation erfolgt dagegen über horizontale Koordi-
nationen und über die Delegation von Befugnissen und deren Repräsentation „von unten nach
oben“. Vermittlungs-Netzwerke sind eine Art von Kombination der hierarchischen und der
genossenschaftlichen Mehrebenen-Organisation: mehr oder weniger lockere Verbünde, bei
denen es über informelle Koalitionen, gute Bekanntschaften, eingeschliffene Praktiken, Ver-
handlungen, Kompromisse, Absprachen und zahlreiche Tauschgeschäfte zu einer Vermittlung
der Interessen der jeweils vertretenen „unteren“ Ebene mit der „oberen“ Ebene kommt. Die
Vertreter der Verbünde interagieren dabei häufig alsbald auch auf der ganz persönlichen und
privaten Ebene. Und es stellen sich rasch auch jene Verhältnisse ein, die wir oben mit Filz,
Klüngel oder informal governance structure bezeichnet haben. Man muß diese Verflech-
tungen, Koalitionen und, wie sie auch genannt werden, „Policy-Netzwerke“1 wegen ihrer in-
tegrativen Vermittlungsfunktionen keineswegs immer nur mit Besorgnis wahrnehmen. Anlaß
zur Besorgnis gibt es erst dann, wenn die beteiligten Verbände und Korporationen nur noch
als „Lobbyisten“ ihrer Sache auftreten, egoistisch ihren kurzfristigen Vorteil suchen und sich
nur noch zu dem Zweck zusammenfinden, bei der Verteilung des andernorts produzierten ge-
sellschaftlichen Reichtums selbst möglichst gut wegzukommen.
Die Verbände und korporativen Akteure auf der Meso-Ebene, die die Interes-
sen der individuellen Akteure bündeln, nach außen vertreten und bei den ge-
sellschaftlichen Entscheidungsinstanzen zu artikulieren und durchzusetzen
versuchen, wie die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände oder die sog.
gesellschaftlich relevanten Gruppen,wie die Kirchen oder der Deutsche Fuß-
ballbund, werden zusammenfassend auch als intermediäre Instanzen bezeich-
net. Sie vermitteln zwischen der Mikro-Ebene der individuellen Akteure und
der Makro-Ebene etwa des politischen Systems. Eine solche (neo–
)korporatistische Mehrebenen-Organisation der Gesellschaft leistet, wie ver-
mutet wird, in den modernen Gesellschaften einen wichtigen Beitrag zur
Vermittlung und zum Ausgleich der Interessen und trägt so zu deren Integra-
tion bei. Die wichtigsten Voraussetzungen für diese Vermittlungsleistung sind
die Eigenständigkeit, die Pluralität und die Kreuzung der sozialen Kreise bei
den intermediären Instanzen. Nur so kommt es zu einer „wirklichen“ Interes-
senvermittlung, und nicht, wie in der guten alten DDR, bloß zu einem Abblo-
1
Vgl. Renate Mayntz, Policy-Netzwerke und die Logik von Verhandlungssystemen, in:
Renate Mayntz, Soziale Dynamik und politische Steuerung. Theoretische und methodolo-
gische Überlegungen, Frankfurt/M. und New York 1997, S. 239-262; Renate Mayntz,
Funktionelle Teilsysteme in der Theorie sozialer Differenzierung, in: Renate Mayntz,
Bernd Rosewitz, Uwe Schimank, Rudolf Stichweh, Differenzierung und Verselbständi-
gung. Zur Entwicklung gesellschaftlicher Teilsysteme, Frankfurt/M. und New York 1988,
S. 22f.
62 Die Konstruktion der Gesellschaft
cken der Wünsche von unten und einem Abnicken der Entscheidungen von
oben. Daher sind für diese Funktion allenfalls die genossenschaftliche Mehr-
ebenen-Organisation, besonders aber die Vermittlungs-Netzwerke geeignet,
keinesfalls jedoch die der hierarchischen Mehrebenen-Organisation. Viel-
leicht spielt dabei auch die kulturell eingespielte Fusion in den Handlungs-
programmen eine Rolle, mit denen die Vertreter der intermediären Instanzen
miteinander umgehen – und deshalb auch bei allen Interessengegensätzen,
fernab von Frau und Kind, in Brüssel oder sonstwo gelegentlich die Sauna
gemeinsam besuchen.
Soziale Differenzierung
1
Vgl. zum Problembereich der funktionalen Differenzierung insbesondere die folgenden
Übersichten: Hartmann Tyrell, Anfragen an die Theorie der gesellschaftlichen Differen-
zierung, in: Zeitschrift für Soziologie, 7, 1978, S. 175-193; Renate Mayntz, Funktionelle
Teilsysteme in der Theorie sozialer Differenzierung, in: Renate Mayntz, Bernd Rosewitz,
Uwe Schimank und Rudolf Stichweh, Differenzierung und Verselbständigung. Zur Ent-
wicklung gesellschaftlicher Teilsysteme, Frankfurt/M. und New York 1988, S. 11-44;
Uwe Schimank, Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, Opladen 1996, insbesondere
Kapitel 1 bis 3; Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1997, S.
595-608.
Soziale Differenzierung 65
menarbeit, auch ein gemeinsames Interesse daran, daß das gesamte System
der arbeitsteiligen Produktion auch funktioniert.
Das ist die eine, die kooperative Seite der Arbeitsteilung und der
funktionalen Differenzierung. Auf der anderen Seite haben jeder
Einzelbereich, jede spezielle funktionale Sphäre, bzw. die darin agierenden
Akteure (!) aber auch ein sehr spezielles egoistisches oder gar
antagonistisches Interesse: den Wert und die Bedeutung des jeweiligen
speziellen Beitrags möglichst zu erhöhen und bei der Verteilung des Ertrags
der gemeinsamen Produktion möglichst günstig dazustehen. Daher entwickeln
die verschiedenen funktionalen Sphären – über ihre Codierung und die daran
orientierte Nutzenproduktion der Akteure in den funktionalen Sphären –
nahezu unausweichlich Tendenzen, ihre jeweilige „Eigenlogik“ möglichst
zuzuspitzen und in ihrer Geltung im Gesamtsystem durchzusetzen. Kurz: Der
funktionalen Differenzierung wohnen immer zentripetale integrative
Tendenzen inne, hier vor allem das gemeinsame Interesse der Akteure in den
verschiedenen funktionalen Sphären an der arbeitsteiligen Kooperation, und
zentrifugale desintegrative Tendenzen, die vor allem mit dem Interesse der
Akteure in den funktionalen Sphären zur Ausweitung der Eigenlogik der
Sphäre und dem Interesse daran zu tun haben, bei der Verteilung des
gemeinsam erstellten Produktes möglichst günstig dazustehen. Kurz: Die
funktionale Differenzierung ist ein besonders interessanter und wichtiger Fall
der antagonistischen Kooperation und der Einrichtung einer sozialen
Ordnung (vgl. dazu insbesondere auch noch Band 3, „Soziales Handeln“,
dieser „Speziellen Grundlagen“).
zifisch organisiert sind, wie wohl die über die Produktion von Autos oder die
über die Entfernung eines Blinddarmes. Genau deshalb gibt es ja die Arbeits-
teilung. Das gilt vor allem für die Bereitstellung der materiellen Zwischen-
produkte für die Nutzenerzeugung. Die Bereitstellung von Wertschätzung,
insbesondere die Vermittlung von Affekten, leidet jedoch eher unter der Zu-
nahme von funktionaler Spezialisierung: Man will anerkannt und geliebt wer-
den, so wie man insgesamt ist, und eben nicht bloß als Autokunde oder als
Blinddarmpatient. Daher hätten die Menschen am liebsten den Hausarzt als
Spezialisten. Aber den gibt es nicht. Und so entstehen neben den funktional
spezifischen Angeboten der Fachärzte auch funktional spezifische Angebote
für funktional diffuse Leistungen, wenn es einem allgemein schlecht geht: Na-
turheilverfahren, Heilpraktiker, Esoterik – in sorgfältiger Abgrenzung und
Arbeitsteilung zur sog. Schulmedizin.
temen in einem Maße angewiesen sind, wie das vorher nicht der Fall war.
Man könnte fast meinen, daß sich das System in der Trennung der Bereiche
selbst wieder bindet. Mit solchen Metaphern eines dialektischen Verhältnisses
von „Differenzierung und Integration“ wollen wir uns nicht zufrieden geben.
Denn oft genug unterbleibt die Spezialisierung auch oder wird wieder aufge-
geben. Die Differenzierung einer Gesellschaft trägt ihre Integration eben nicht
schon gewissermaßen logisch in sich (vgl. dazu auch noch unten mehr dazu,
sowie Kapitel 6 diesen Bandes). Und spätestens dann wird erkennbar, daß al-
les, was soziale Systeme tun oder sind, ob sie sich in ihrer vorangetriebenen
funktionalen Differenzierung auch immer wieder integrieren oder nicht, die
im Ergebnis stets offene Folge des Handelns von menschlichen Akteuren ist.
Funktionale Imperative
Die zentrale Besonderheit der jeweiligen funktionalen Sphären ist also deren
jeweilige Spezialisierung. Um diese spezielle Leistung dreht sich in der funk-
tionalen Sphäre alles. Es ist das jeweilige kulturelle bzw. funktionale Ziel der
Sphäre, das für sie geltende primäre Zwischengut. Das ist der funktionale Im-
perativ, um den herum alles andere in der jeweiligen Sphäre aufgebaut ist. In
der Buchhaltung gilt, um das Beispiel von dem Betrieb noch einmal auf-
zugreifen, eben ein anderer funktionaler Imperativ als in der Marketingabtei-
lung, und bei der Computertomographie ein anderer als bei der romantischen
Liebe einer Zweierbeziehung. Und der Betrieb insgesamt unterliegt in seinen
weiteren Verflechtungen wiederum einem anderen funktionalen Imperativ als,
sagen wir einmal, ein Finanzamt, so wie das auch für die Facharztpraxis oder
ein Liebespaar gilt. Und wehe, dieser Imperativ wird von einem Akteur nicht
erkannt oder gar verwechselt!
Arbeitsteilige Spezialisierungen, funktionale Sphären und damit: funktio-
nale Imperative gibt es wie Sand am Meer. Wichtig für die Bestimmung einer
typischen funktionalen Sphäre ist nur, daß es innerhalb jeder Sphäre eine be-
sondere und typisch von anderen Sphären abgegrenzte Orientierung und je-
weils ein Oberziel gibt, um das sich in dieser Sphäre alles dreht.
Im Bereich der Wirtschaft geht es – beispielsweise – um das Oberziel der Gewinnmaximie-
rung, in der Politik um die Gewinnung von Legitimation und Wählerstimmen, in Familien um
Liebe, Expressivität und Affekterzeugung, im System des Rechts um formale Gerechtigkeit
und Normbewahrung, in der Wissenschaft um die Wahrheit, im Sport um Rekorde, in den
Massenmedien um Sensationen und möglichst üble Neuigkeiten, letztlich jedoch um Aufla-
gen und Einschaltquoten, in einer Gärtnerei um schöne grüne Pflanzen, im Restaurant um ein
gutes Essen und eine angenehme Atmosphäre – und so weiter.
68 Die Konstruktion der Gesellschaft
Die funktionalen Imperative bestimmen damit den sozialen Sinn des Handelns
in der jeweiligen funktionalen Sphäre. Sie sind der Kern der jeweiligen „Ei-
genlogik“ des Handelns in den verschiedenen funktionalen Sphären einer Ge-
sellschaft. Das konkrete Handeln ist dann nichts anderes als das sichtbare Er-
gebnis des Bestrebens, die funktional spezifischen primären Zwischengüter
möglichst günstig unter Kontrolle zu bekommen. Und dies geschieht dann am
Soziale Differenzierung 69
order, an Ausländerbelangen und an den Interna der Fakultät. Und sie verlieren diesen Enthu-
siasmus rasch wieder, sobald sie die Position nicht mehr innehaben. Dies sind alles weitere
Antworten auf die Frage nach dem Enthusiasmus beim Rollenhandeln aus Band 1, „Situati-
onslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“: Jeder Bundesligaprofi wünscht sich
nichts sehnlicher, als gerade dem Verein eine Niederlage zu bereiten, bei dem er just vorher
war, um sich und den anderen zu zeigen, wie wichtig ihm die jetzt geltende soziale Produkti-
onsfunktion ist, die ihm der neue Verein bietet. Das ist auch eine Antwort auf die stete Sorge
vieler Sozialphilosophen und Sozialpädagogen um die in der Moderne angeblich besonders
bedrohte „Identität“ der Menschen. Solange die Menschen den „Sinn“ ihres Tuns einigerma-
ßen einsehen können, können die Sozialphilosophen und die Sozialpädagogen unbesorgt sein.
Die meisten Menschen haben bei ihrem Wechsel zwischen den Sphären des Alltags ohnehin
immer nur eines im Sinn: Geld und Ansehen. Und das reicht für eine stabile Identität in den
allermeisten Fällen auch vollkommen aus (vgl. dazu auch noch den Exkurs über Entfremdung
im Anschluß an Kapitel 9). Kurz: Gerade weil es in den funktionalen Sphären darum geht,
sich die Mittel zu beschaffen, mit denen die ganz privaten primären Zwischengüter erst noch
hergestellt werden müssen – aber auch können -, ist es nicht erforderlich, daß sich die Men-
schen mit der jeweiligen funktionalen Sphäre auch unmittelbar und persönlich identifizieren.
Sie müssen nur begriffen haben, daß es in ihrem Interesse ist, die funktionalen Imperative zu
beachten.
Sphären mit ihren jeweiligen Eigenlogiken dann in die Quere, wie etwa bei
der deutschen Wiedervereinigung, als die Politik die Währungsunion und die
politische Vereinigung gegen jede ökonomische Vernunft durchzog.
Ein wichtiges Beispiel für die Einteilung einer Gesellschaft in typische funktionale Sphären
mit typischen funktionalen Imperativen stammt von Talcott Parsons (vgl. dazu bereits das
Kapitel 23 in der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“, sowie noch Band 6, „Sinn und Kul-
tur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Parsons unterscheidet mit seinem AGIL-Schema be-
kanntlich vier grundlegende funktionale Requisiten, die für jede Gesellschaft bzw. für jedes
soziale System erfüllt sein müssen: Adaptation, Goal-Attainment, Integration, Latent Pattern
Maintenance – abgekürzt: AGIL eben. Diese Requisiten beschreiben vier verschiedene funk-
tionale Oberziele, die jeweils von einem speziellen gesellschaftlichen Sub-System erfüllt
werden „müssen“. Das geschieht konkret in den Sub-Systemen der Wirtschaft, der Politik,
der gesellschaftlichen Gemeinschaft und des Treuhandsystems, jeweils unter dem besonderen
funktionalen Oberziel Adaptation, Goal-Attainment, Integration, Latent Pattern Maintenance.
In diesen Sub-Systemen gelten die jeweiligen Oberziele als die Codes der normativen Orien-
tierung für das Handeln der Akteure.
Wieviele und welche funktionalen Teilsysteme die Gesellschaft hat und wie
sie miteinander zusammenhängen ist der Hauptgegenstand der sog. soziologi-
schen Systemtheorie. Die hat, so könnte man sagen, mit Emile Durkheim be-
gonnen, mit Talcott Parsons einen gewissen Höhepunkt erreicht, ist von Nik-
las Luhmann „prozessual“ und evolutionstheoretisch umformuliert worden –
und bewegt sich, ohne daß sie das so recht weiß, inzwischen kräftig auf eine
Perspektive zu, die uns inzwischen nicht ganz ungeläufig ist: Die funktionale
Differenzierung von Gesellschaften ist das – mehr oder weniger: unintendierte
– Ergebnis des Handelns von Akteuren, die ihre Nutzenproduktion verbessern
möchten und sich in arbeitsteiligen Interdependenzen verstricken, die die
„Entwicklung“ der Gesellschaft eigendynamisch vorantreiben – in die immer
stärkere funktionale Differenzierung hinein (vgl. dazu insbesondere auch
Schimank 1996, Kapitel 5).
Die Entstehung von funktionaler Differenzierung ist ein Spezialfall des Pro-
zesses der Institutionalisierung (vgl. dazu noch Band 5, „Institutionen“, dieser
„Speziellen Grundlagen“). Drei Vorgänge lassen sich unterscheiden: Dekret,
Vertrag und Evolution.
Über Dekret entsteht eine arbeitsteilige funktionale Differenzierung durch
einen Beschluß, der dann umgesetzt wird, etwa bei der Gründung einer Orga-
nisation: Es wird in der Verfassung der Organisation formell festgelegt, wel-
Soziale Differenzierung 73
che Abteilungen und Positionen mit welchen Aufgaben es geben soll. Zu den
Positionen gibt es jeweils ganz bestimmte Erwartungen an das Verhalten des-
jenigen, der die betreffende Position einnimmt. Oft wird für jede Stelle sogar
eine „Stellenbeschreibung“ angefertigt, in der genau steht, was in der jeweili-
gen Abteilung auf jeder Position zu tun ist. Viele der Erwartungen sind jedoch
nicht formell festgelegt, dafür aber nicht weniger bedeutsam. Diese formell
festgelegten oder informell institutionalisierten Erwartungen an die Positions-
inhaber werden auch als soziale Rollen bezeichnet. Damit es zu dieser Art der
Entstehung einer funktionalen Differenzierung kommt, muß es jedoch schon
ein Herrschaftszentrum geben, das die Möglichkeiten hat, die beschlossene
Organisationsstruktur durchzusetzen.
Eine arbeitsteilige Spezialisierung können Akteure natürlich auch verabre-
den und über einen Vertrag regeln. So etwas geschieht, wenngleich meist mit
nur sehr „impliziten“ Verträgen, in Haushalten und ehelichen Beziehungen, in
denen der eine die Hausarbeit macht und die andere arbeiten geht (oder um-
gekehrt). Das Problem dabei ist etwas versteckt: Wenn der Vertrag nicht wirk-
lich bindend ist, dann besteht die Gefahr, daß sich die Akteure nicht vollstän-
dig spezialisieren, einfach weil sie dann ja komplett vom anderen abhängig
wären. Und schon allein aus Vorsicht heraus mag man sich nicht so einfach
ganz spezialisieren. Deshalb bedarf es bei der vertraglichen Entstehung von
arbeitsteiliger funktionaler Differenzierung immer noch gewisser „nicht-
vertraglicher“ bindender Elemente. Auf dieses Problem hat vor allem Emile
Durkheim hingewiesen (vgl. dazu auch noch Band 3, „Soziales Handeln“, die-
ser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich).
Viele Systeme der arbeitsteiligen Spezialisierung sind aber weder durch
Dekret, noch durch Vertrag, sondern durch eine Form der Evolution entstan-
den. Der einfachste Fall einer solchen evolutionären Entstehung arbeitsteiliger
Spezialisierung ist die Herausbildung von Tauschmärkten: Akteure bieten,
warum auch immer, bestimmte Produkte an und finden für sie relativ prob-
lemlos Nachfrager, die ihnen dafür etwas geben, was sie schätzen. Die Grund-
lage sind gegenseitig vorhandene Interessen, die sog. Interessenkonvergenz.
Und wenn das zum allseitigen Vorteil einige Male geschehen ist, dann sinkt
das (subjektive) Risiko des impliziten Vertrages, der bei jedem dieser einzel-
nen Tauschakte immer besteht – daß der Nachfrager den Anbieter auf seinem
Angebot sitzen läßt, bzw. daß der Nachfrager keinen Anbieter findet. Auf die-
se Weise können nicht nur arbeitsteilig spezialisierte Warenmärkte entstehen,
sondern im Prinzip alle Arten von funktionalen Sphären: die Funktionsberei-
che der Bildung, der Wissenschaft, der Medizin, der Kirche, der Politik, des
Sports, der Kunst und so weiter. Wir wollen die evolutionäre Entstehung von
74 Die Konstruktion der Gesellschaft
Die eher ungeplante Entstehung der Medizin als Funktionssystem hat Rudolf
Stichweh beschrieben:2 Es gab an den Höfen der Könige und Fürsten natür-
lich schon Spezialisten, die für die Gesundheit des Königs oder Fürsten zu
sorgen hatten, aber noch kein spezialisiertes Funktionssystem der Gesund-
heitsvorsorge für die Gesellschaft und deshalb auch keine Hospitäler. Die
Ärzte entwickelten nun – aus vielerlei naheliegenden Gründen – allmählich
ein ganz eigenes medizinisches Interesse: Sie wollten genauer wissen, wie der
menschliche Körper ganz allgemein funktioniert, nicht zuletzt, um durch die
Verbesserung ihrer medizinischen Kompetenz ihre Stellung bei Hof zu si-
chern, aber durchaus auch aus rein wissenschaftlichem Interesse. Aber dazu
konnten sie immer nur den Körper des Fürsten studieren, der, nicht nur wenn
er litt, den Wissensdrang der Ärzte durchaus begrenzen konnte. Die Ärzte ent-
falteten also eine Nachfrage nach anderen „Körpern“, nach möglichst vielen
sogar und nach solchen, bei denen sie, ganz ähnlich wie heute immer noch bei
den Tierversuchen, keine besonderen Rücksichten nehmen mußten, und die
auch gefahrlos einmal an der „Behandlung“ leiden oder gar daran sterben
konnten. Auf der anderen Seite gab es natürlich eine gewaltige Nachfrage in
der restlichen Bevölkerung nach medizinischer Behandlung und folglich ein
hohes Angebot an Körpern. Was lag da näher, als Hospitäler zu gründen, in
denen die Nachfrage nach Körpern und das Angebot derselben zusammentref-
fen konnten, zumal das alles ganz gut mit den moralischen Postulaten der
christlichen Nächstenliebe zu garnieren und zu begründen war? Interessan-
terweise entstand so auch die Sorgfalt um eine besondere Hygiene in den
Hospitälern: Nur wenn die Körper nicht an der Behandlung selbst starben,
konnte man feststellen, welche Maßnahme erfolgreich war und welche nicht.
2
Rudolf Stichweh, Inklusion in Funktionssysteme der modernen Gesellschaft, in: Renate
Mayntz, Bernd Rosewitz, Uwe Schimank und Rudolf Stichweh, Differenzierung und Ver-
selbständigung. Zur Entwicklung gesellschaftlicher Teilsysteme, Frankfurt/M. und New
York 1988, S. 263f. Vgl. auch noch Kapitel 5 in diesem Band dazu.
Soziale Differenzierung 75
Eine von den grundlegenden Prozessen her ganz ähnliche Erklärung schlägt
Pierre Bourdieu für die Entstehung des modernen Sports als eigenständigem
Funktionssystem vor:3
„Meiner Ansicht nach lassen sich Praxis und Konsum von Sport – von Rugby, Fußball,
Schwimmen, Leichtathletik, Tennis, Golf usw. – in ihrer Gesamtheit und ohne damit der Rea-
lität allzusehr Gewalt anzutun, als eine Art Angebot verstehen, das auf eine gesellschaftliche
Nachfrage stößt.“ (Ebd., S. 91; Hervorhebungen im Orginal)
Beides, das Angebot an Sport wie die Nachfrage danach habe sich allmählich
und in gegenseitiger Steigerung entwickelt. Bourdieu nimmt sich zum Beleg
für seine These die historische Entwicklung des Fußballs und des Rugby in
England vor. Das „Angebot“ habe sich dabei als Übergang von eher spieleri-
schen Betätigungen der Eliten in den ihnen vorbehaltenen public schools voll-
zogen. Die Elite machte sich bestimmte körperliche Bewegungen, auch in der
Übernahme traditioneller und volkstümlicher Spiele, zu eigen und koppelte
sie dabei von den dazu sonst üblichen Anlässen ab, wie etwa die Erntefeste.
Damit werden sie, als erstem Schritt der „funktionalen Verselbständigung,
von den anderen rituellen Zusammenhängen abgelöst, in die sie bis dahin ein-
gebettet sind. In den Schulen werden die betreffenden körperlichen Betäti-
gungen dann in Aktivitäten umgewandelt, die als l’art pour l’art ihren Zweck
in sich selbst tragen. Sie werden damit zu einem wichtigen Bestandteil des
Lebensstils der Eliten, deren Besonderheit ja gerade auch darauf beruht, von
den alltäglichen Zwecktätigkeiten befreit zu sein und sich das Leben in ge-
wählter Distanz zu irgendwelchen Pflichten einrichten zu können.
Das war der Anfang. Die weiteren Schritte der Verselbständigung einer ei-
genen Sphäre des Sports sind dann leicht erzählt: Der Autonomisierung der
Betätigungen folgt die Rationalisierung der sportlichen Praktiken, die Entste-
hung expliziter Regeln, für deren Entwicklung und Beachtung jetzt auch Ex-
perten benötigt werden. Damit sind die Weichen für eine Verbreitung des
Sports über den Bereich der Schule hinaus gestellt – und so weiter, bis hin zur
jetzt beobachtbaren Etablierung eines eigenen Funktionssystems mit einer ei-
genen Sportkultur und einem eigenen Institutionen- und Organisationssystem.
Die Verbreitung und „reflexive“ Verfestigung des Sports wäre jedoch nicht
möglich gewesen, wenn dieses „Angebot“ nicht von immer mehr Akteuren
auch in anderen Schichten für attraktiv gefunden worden wäre und wenn es
also keine weitere „Nachfrage“ danach gegeben hätte. Bourdieu schildert eine
3
Pierre Bourdieu, Historische und soziale Voraussetzungen modernen Sports, in: Merkur,
39, 1985, S. 575-590.
76 Die Konstruktion der Gesellschaft
Reihe von Mechanismen und Besonderheiten des Sports, die ihn für weite
Teile der Bevölkerung aus unterschiedlichen Gründen und für sehr verschie-
dene Zwecke äußerst „funktional“ gemacht haben. Nur ein Beispiel: In den
Schulen der Eliten, die als totale Institutionen mit einer Aufsichtspflicht rund
um die Uhr organisiert waren, erschien der Sport als ein ideales Mittel zur
„Charakterbildung“, vor allem aber als eine kostensparende Möglichkeit zur
Überwachung und einer „gesunden“ Alternative der Aggressionsabfuhr. Diese
Möglichkeiten der leichten Einbindung und Überwachung von Jugendlichen
erkannten natürlich auch andere Organisationen mit anderen Zwecksetzungen:
„Ein derart sparsames Mittel gleichzeitig zur Mobilisierung, Beschäftigung und Kontrolle der
Jugendlichen war wie geschaffen als Instrument und Gegenstand der Auseinandersetzungen
zwischen den zur politischen Mobilisierung und Bindung der Massen ganz oder partiell orga-
nisierten, damit gleicherweise um die symbolische Beherrschung der Jugendlichen konkurrie-
renden Institutionen – seien es Partein, Gewerkschaften, Kirchen oder auch paternalistisch
eingestellte Unternehmer.“ (Ebd., S. 584; Hervorhebung im Original)
Reflexive Verselbständigung
Bei jeder funktionalen Spezialisierung bleibt freilich immer die Gefahr beste-
hen, von der bei der vertraglichen Entstehung der Arbeitsteilung oben schon
die Rede war: Allein schon aus Vorsicht möchte man sich nicht zu einseitig
spezialisieren. Und wenn das jeder so sieht, dann unterbleibt das an sich so er-
tragreiche Unternehmen der funktionalen Differenzierung oder verfällt nach
ihrem zaghaften Beginn bald wieder. Hier gibt es jedoch eine Gegentendenz,
die in der funktionalen Differenzierung selbst angelegt ist: die reflexive Ver-
selbständigung der funktionalen Sphären.
Mit reflexiver Verselbständigung ist gemeint, daß der funktionale Imperativ, der den sozialen
Sinn der jeweiligen funktionalen Sphäre definiert, sich immer mehr zuspitzt und schließlich
zum alles beherrschenden Oberziel wird, das dann sogar nur noch als Eigenzweck erscheint.
Es gibt, wie es auch heißt, keine natürliche Stopregel mehr, an der die Spezialisierung anhal-
ten könnte. Das geschieht insbesondere durch die Anwendung des jeweiligen funktionalen
Prinzips auf sich selbst: Geld etwa ist zunächst nur ein einfaches Mittel, um den Tausch auf
Warenmärkten zu erleichtern. Es kann aber, worauf besonders Karl Marx hingewiesen hat,
auch selbst zur Ware werden, für die es einen Preis gibt und deren Ertrag man maximieren
kann. Und schließlich wird das Geld nicht mehr verdient, um davon die Mittel zum Leben zu
kaufen, sondern, um damit noch mehr Geld zu verdienen ... und so weiter, bis man vielleicht
darin baden kann und so wieder, wie man in Entenhausen glaubt, etwas von den „wirklichen“
Genüssen des Lebens hat. Auf diese Weise können sich alle funktionalen Oberziele reflexiv
verselbständigen: Das Lehren wird gelehrt, und wie das geht, wird wiederum gelehrt. Für die
Werbung wird geworben, und dafür werben die Werbeagenturen. Und die Sanktionierer wer-
den sanktioniert, wenn sie nicht sanktionieren. Und schon haben wir die Funktionssysteme
der Erziehung, der Werbung und der sozialen Kontrolle mit ihrem jeweils ganz eigenen funk-
tionalen Imperativ, der sich durch die interne Wiederholung der Funktion immer weiter zu-
spitzt, und ihren jeweils ganz besonderen und immer deutlicher hervorgehobenen und ge-
trennten „Wertsphären“, wie das Max Weber genannt hat. Niklas Luhmann hat diese einfa-
chen „reflexiven“ Feedbackschleifen der funktionalen Selbstverstärkung, wie immer etwas
hochtrabend, im Anschluß an einen ansonsten völlig unbekannten Mathematiker, George
Spencer Brown, mit „re-entry“ bezeichnet.
gung der funktionalen Sphären ist ein Musterfall für das Prinzip einer nahezu
unentrinnbaren Situationslogik, die sich schließlich auch gegen die Interessen
der darin verwickelten Menschen richten kann.
Leicht ist jetzt die Widersprüchlichkeit zu erkennen, die für jede funktionale
Differenzierung so kennzeichnend ist: Einerseits sind die Akteure an der ar-
beitsteiligen Spezialisierung wegen deren Produktivität interessiert, anderer-
seits fürchten sie aber auch die einseitige Abhängigkeit. Einerseits sorgt die
Entkopplung der Motive für das reibungslose Funktionieren der Systeme, an-
dererseits müssen sich die Akteure in eine Art von Charaktermasken aufspal-
ten, damit es zu dem reibungslosen Funktionieren kommt. Einerseits bringt
die funktionale Differenzierung die Akteure in eine übergreifende Abhängig-
keit voneinander, von der sie letztlich auch wissen oder die sie wenigstens ab
und an einmal verspüren, wie etwa bei einem Streik der Müllabfuhr, anderer-
seits tendieren die funktionalen Sphären aufgrund der Eigendynamik der Spe-
zialisierung und – insbesondere – wegen der reflexiven Verselbständigung zu
ihrer Radikalisierung und Trennung, eventuell sogar so weit, daß daraus
nachhaltige negative Folgen für die Menschen entstehen, wie bei dem wild-
gewordenen Turbokapitalismus unserer Tage, der nur noch eines kennt: Effi-
zienz, Leistung und Profit, egal wofür. Diese Widersprüchlichkeiten der funk-
tionalen Differenzierung erzeugen – sozusagen: uno actu – die Frage nach der
Integration funktional differenzierter sozialer Systeme, genauer: die Frage
nach der Systemintegration (vgl. dazu auch noch Kapitel 6 in diesem Band).
Es ist eine der zentralen Fragen der Soziologie überhaupt: die nach der sozia-
len Ordnung angesichts der funktionalen Widersprüche.
Die Antwort darauf kreist um zwei sehr verschiedene Auffassungen: Bedarf es zur Integrati-
on von „komplexen“ Gesellschaften einer übergreifenden moralischen Ordnung? Oder ge-
schieht die Integration so, wie die Ökonomie die Integration der wirtschaftlichen Spezialisie-
rungen erklärt hat: als Markt, also als unintendierte Folge eines gigantischen Geflechts von
Interdependenzen und ertragreichen Tauschakten, auch ganz ohne ein Motiv der Akteure,
dieses Geflecht als „Ganzes“ zu wollen oder zu unterstützen? Die soziologische Systemtheo-
Soziale Differenzierung 79
rie sieht eine dritte Möglichkeit: die Integration durch die symbolisch generalisierten Medien,
durch ihre symbolisch bindende Kraft zur Definition der Situation oder durch die „Interpenet-
ration“ der Systeme über die Fusion der Inhalte ihrer Programme.
Um Moral, Markt und Medien drehen sich alle Vorschläge zur Erklärung je-
nes immer noch wundersamen Sachverhaltes, daß sich die modernen, hoch-
gradig funktional differenzierten Gesellschaften gerade in ihrer inneren Unter-
schiedlichkeit als „System“ erhalten und sogar immer weiter entfalten, auch
wenn die „Wertsphären“ immer stärker auseinandertreten (vgl. dazu auch
noch die Abschnitte 9.2 und 9.3 in diesem Band).
Die funktionale Form der Nutzenproduktion ist meist sehr umständlich, ent-
fremdend und von zahllosen, eigentlich ganz un-„interessanten“ Vorinvestiti-
onen durchzogen: Die primären Zwischengüter sind, als gesellschaftlich defi-
nierte Vorgaben, oft weit entfernt von den Bedingungen des unmittelbar wich-
tigen Alltags und der nahen Lebenswelt, insbesondere aber von den persona-
len Ideosynkrasien und den innersten Wünschen der individuellen Akteure
(vgl. dazu auch noch den Exkurs über Entfremdung im Anschluß an Kapitel 9
in diesem Band).
Viele der als „primär“ eingestuften primären Zwischengüter sind ja – bei näherem Hinsehen –
alles andere als von „primärem“ Interesse: Ein Orden schmeckt nicht, ein Titel löscht keinen
Durst, Geld allein macht nicht glücklich, die ehrenvolle Präsidentschaft ist lästig, und die luk-
rative Leitung eines Institutes nervt. Auch die Teilnahme an einem komplizierten Abendessen
unter entfernten, aber möglicherweise wichtigen Bekannten, das Erlernen von Altgriechisch
und Latein, ein Ehemann, ein van Gogh u.a. sind oft genug keineswegs schon das, was die
Menschen unmittelbar wollen. Es sind meist Investitionen in materielles, soziales und kultu-
relles Kapital zur Erzeugung der gesellschaftlich festgelegten primären Zwischengüter oder
deren symbolischer Anzeichen, ohne die es Anerkennung und Wohlbefinden nicht gibt, oft
genug aber dann doch nicht das, was die Menschen persönlich interessiert und was ihnen in
ihrem Alltag wichtig ist.
Von daher wird leicht vorstellbar, daß es neben den funktionalen Sphären mit
ihren oft sehr „entfremdenden“ funktionalen Imperativen eine zweite wichtige
Form der Organisation der Nutzenproduktion und der Definition primärer
Zwischengüter gibt: die Pflege von spezifischen und ideosynkratischen primä-
ren Zwischengütern in speziellen Unterbereichen der Gesellschaft, auch jen-
seits der streng an der Logik der funktionalen Sphären angeschlossenen Defi-
nition der primären Zwischengüter.
Zwei solcher Unterbereiche wollen wir unterscheiden: Erstens die sozialen Systeme bestimm-
ter Lebensweisen als typischen Mustern des Handelns und Verhaltens einer alltäglichen Le-
80 Die Konstruktion der Gesellschaft
bensführung, die die individuellen Menschen in ihren jeweiligen Lebenswelten pflegen oder
die sie aus ihrer Zugehörigkeit zu gewissen funktionalen Sphären übernehmen und die sie
dann für verschiedene Zwecke sehr brauchbar finden, etwa zur Unterscheidung von anderen
und zur „Definition“ ihres eigenen Platzes in der Gesellschaft. Und zweitens die sozialen Sys-
teme und Orte einer Nutzenproduktion, in denen das Handeln dem individuellen Geschmack
und der Nachfrage nach personal erwünschten „Erlebnissen“ schon eher nahekommt als in
den entfremdenden Bereichen der funktionalen Sphären: die Milieus bestimmter Szenen der
Erlebnisproduktion mit der Pflege eines gewissen Handelns und Verhaltens als Lebensstil der
individuellen Akteure, etwa in Freizeitgruppen, „spontanen“ Vereinigungen oder bestimmten
(legalen) „Subkulturen“ für das Ausleben gewisser ideosynkratischer Obsessionen, für die in
den funktionalen Systemen kein Platz ist, von ihnen nicht in der gewünschten Weise angebo-
ten werden oder aber auch sich, wie etwa die Ikea-Kultur oder der Laura-Ashley-Stil, ir-
gendwie zufällig herausgebildet und dann institutionalisiert hat.
Die sozialen Systeme der Lebensweisen mit ihren typischen Mustern der Le-
bensführung einerseits und die Szenen der verschiedenen Lebensstile anderer-
seits seien zusammenfassend als kulturelle Milieus bezeichnet.
Die Beschreibung der – alten und der neuen – sozialen Systeme der kulturellen Milieus ist,
verstärkt seit etwa Mitte der 80er-Jahre, das Thema insbesondere der sog. Lebensstilfor-
schung und der Theorien der sog. Neuen Sozialen Ungleichheit.4 Dort wird nicht immer sorg-
fältig zwischen dem Aspekt der sozialen Differenzierung einerseits und dem der sozialen Un-
gleichheit andererseits unterschieden. Um es noch einmal zu wiederholen (vgl. auch schon
Kapitel 2 oben in diesem Band dazu): Die kulturellen Milieus sind unterschiedliche soziale
Systeme – Lebensweisen als Systeme von Praktiken der Lebensführung oder Szenen als Sys-
teme der Pflege von Lebensstilen. Die soziale Ungleichheit bezieht sich jedoch nicht auf die
kulturellen Milieus als soziale Systeme, sondern auf die Eigenschaften der Akteure, die sich –
unter anderem! – aus ihrer Teilnahme an bestimmten kulturellen Milieus ergeben, und die
damit einhergehenden gesellschaftlichen Lagen und sozialen Kategorien. Es gibt dann soziale
Kategorien von Akteuren mit bestimmten Mustern der Lebensführung oder Lebensstilen. Und
die können sich dann mit anderen Eigenschaften kombinieren: Alter, Geschlecht, Nationalität,
Einkommen, Bildung und berufliche Stellung. Folglich ergibt sich, wenn man alles zusam-
men nimmt, theoretisch ein vieldimensionaler Merkmalsraum, in den sich die Bevölkerung
einer Gesellschaft dann empirisch verteilt, meist in typischen Clustern, etwa einem Cluster
von Unterschichten, die gerne Heino hören und nach Mallorca fahren, gegenüber einem
Cluster von alternativen Bildungsbürgern, die eher klassische Musik lieben und die es eher in
die Toscana zieht. Solche Cluster seien als Lebensführungs- bzw. als Lebensstilgruppen be-
zeichnet (vgl. dazu auch noch Kapitel 4 in diesem Band insgesamt). Das ist aber etwas ande-
res als die Systeme der Lebensweisen und der Szenen, die es, ganz ähnlich wie die funktiona-
len Sphären, gewissermaßen unabhängig von der „Bevölkerung“ gibt.
4
Vgl. dazu u.a.: Hartmut Lüdtke, Expressive Ungleichheit. Zur Soziologie der Lebensstile,
Opladen 1989; Hans-Peter Müller, Sozialstruktur und Lebensstile. Der neuere theoreti-
sche Diskurs über soziale Ungleichheit, Frankfurt/M. 1992; Werner Georg, Soziale Lage
und Lebensstil. Eine Typologie, Opladen 1998. Vgl. auch verschiedene Beiträge in Peter
A. Berger und Stefan Hradil (Hrsg.), Lebenslagen, Lebensläufe, Lebensstile, Sonderband
7 der Sozialen Welt, Göttingen 1990; Peter Hartmann, Lebensstilforschung, Opladen
1999. Siehe zum Konzept der sog. Neuen Sozialen Ungleichheit auch noch Abschnitt 4.4
unten in diesem Band.
Soziale Differenzierung 81
zu einer echten Lebensform, einer geschlossenen Seemannskultur mit ihren bestimmten Sit-
ten, ihrem bestimmten Ethos, ihrer bestimmten Musikalität, ihrem besonderen Erzählstil, ih-
rem eigenartigen Weltbild usw.“5
Und die Folge: Mit den verschiedenen funktionalen Positionen und den damit
verbundenen Aktivitäten verbinden sich schließlich typische Muster der Le-
bensführung:
„Der Habitus bewirkt, daß die Gesamtheit der Praxisformen eines Akteurs (oder einer Gruppe
von aus ähnlichen Soziallagen hervorgegangenen Akteuren) als Produkt der Anwendung i-
dentischer (oder wechselseitig austauschbarer) Schemata zugleich systematischen Charakter
tragen und systematisch unterschieden sind von den konstitutiven Praxisformen eines anderen
Lebensstils.“ (Ebd., S. 278)
5
Erich Rothacker, Geschichtsphilosophie, München und Berlin 1934, S. 46.
6
Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft,
Frankfurt/M. 1982, Kapitel 3: Der Habitus und der Raum der Lebensstile.
Soziale Differenzierung 83
In den Habitus gehen schließlich auch Elemente ein, die „eigentlich“ mit der
funktionalen Position und mit der bloßen Ökonomisierung der Nutzenproduk-
tion nicht unmittelbar in Verbindung stehen. Es entstehen distinktive Zeichen
der Zugehörigkeit zu einer bestimmten – vor allem: begehrten und geehrten! –
sozialen Kategorie oder funktionalen Position. Eines dieser Zeichen ist die
Demonstration einer besonders zugespitzten Verfeinerung und Stilisierung der
entsprechenden Lebensweise. Die Folge ist eine über die „objektiven“ Unter-
schiede deutlich hinausgehende und überpointierende, auch symbolisch ver-
deutlichte und weiter vertiefte Trennung zwischen den verschiedenen sozialen
Kategorien und funktionalen Positionen. Der weiße Kittel des Arztes oder der
strenge Blick der Oberschwester gehören ebenso dazu, wie die Zerstreutheit
des Professors oder die aufdringliche Besserwisserei des Journalisten. Der ty-
pische „Geschmack“ und Stil einer Gruppe, einer sozialen Klasse oder einer
funktionalen Position
„ ... verwandelt objektiv klassifizierte Praxisformen ... in klassifizierende, d h. in einen sym-
bolischen Ausdruck der Klassenstellung ... .“ (Ebd.; S. 285; Hervorhebung nicht im Original)
Und die „in den Grenzen des ökonomisch Möglichen und des Unmöglichen“
gepflegten Formen der Lebensführung
„ ... bilden also systematische Produkte des Habitus, die in ihren Wechselbeziehungen ent-
sprechend den Schemata des Habitus wahrgenommen, Systeme gesellschaftlich qualifizierter
Merkmale (wie ‚distinguiert‘, ‚vulgär‘, etc.) konstituieren.“ (Ebd.; S. 281)
Die aus der Alltagspraxis entstandenen Arten der Lebensführung sind also
nicht einfach bloß kostensparende und eingelebte Formen der Routine. Sie
stellen nicht einfach nur Varianten der Alltagsgestaltung dar, die man auch
lassen könnte. Sondern: Es sind schließlich in besonderer Art bewertete und
mit unterschiedlichem Prestige versehene kulturelle Praktiken, die zum Sym-
bol der Mitgliedschaft zu einer bestimmten Gruppe, Klasse oder Position, wie
insbesondere für den Rang eines Akteurs im Gesamtsystem der Positionen in
84 Die Konstruktion der Gesellschaft
einer Gesellschaft werden. Und die „Haltungen“ sind daher schließlich – ganz
unabhängig von ihrer „funktionalen“ Bedeutung – etwas, mit denen die Ak-
teure Gefühle von Stolz, Würde und Ehre verbinden und die sie daher oft ge-
nug auch „wollend und vorsätzlich“ und wohl auch „demonstrativ“ und mit
einem besonderen „expressiven“ Gestus einsetzen, um Status, Anerkennung
und Selbstachtung zu gewinnen oder zu behalten (vgl. dazu auch schon den
Exkurs über die Ehre im Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Spe-
ziellen Grundlagen“).
Die Muster der Lebensführung und die Besonderheiten eines distinktiven Ge-
schmacks werden noch in einer weiteren Weise für die Menschen interessant:
als Mittel zur Abschließung der eigenen Position gegen unliebsame Konkur-
renz. Letztlich geht es dabei um die Absicherung des Wertes eines gut kon-
trollierten, aber von der Geltung des Prestigesystems in seinem Wert komplett
abgängigen Kapitals, eines Kapitals, das seinen ganzen Wert daraus bezieht,
daß es nicht zu viele andere Akteure besitzen – etwa: die Beherrschung be-
stimmter Tischsitten oder den Besitz eines Titels. Die Stilisierung der Lebens-
führung und die Verfeinerung eines bestimmten Geschmacks sind dann Teil
der
„ ... Strategien der Individuen und Familien mit dem Ziel der Wahrung und Verbesserung ih-
rer Position im Sozialraum ... .“ (Ebd; S. 227; Hervorhebungen nicht im Original)
Woran sich die Stilisierung im konkreten Fall kristallisiert, ist vorab sehr
schwer vorherzusagen. Meist rankt sie sich um anders motivierte und zaghaft
begonnene, anfangs bloß funktional gedachten Handlungen oder Konventio-
nen.
Beispielsweise: Ein leistungsfähiger PC wird von einem guten und fleißigen Wissenschaftler
funktional dringend benötigt und auch zu den Zwecken der Wahrheitsfindung benutzt, wird
dann aber rasch zu einem Statussymbol auch für diejenigen, die eigentlich nichts damit an-
fangen können. Englisch ist die Konferenzsprache der Wissenschaft. Und wer viel mit Ame-
rikanern zu tun hat, gewöhnt sich deren Slang an. Und plötzlich wird das amerikanisierte
Englisch zum wohlgepflegten Habitus und zum Instrument der Erzeugung von sozialer Wert-
schätzung und der Abgrenzung und Schließung – zunächst einmal unabhängig davon, was
der Betreffende inhaltlich sagt. Viele Rituale des Alltags und manche, mittlerweile ganz selb-
ständig gewordene Sphäre der Gesellschaft – wie der Sport – sind über solche Stilisierungen
anfänglich funktionaler Abläufe einmal entstanden. „Rekorde“ – als die primären Zwischen-
güter eines jeden mittelmäßigen Sportfestes – sind nichts anderes als die eigenständig gewor-
dene Stilisierung von ursprünglich einmal lediglich funktional wichtigen Leistungen: Wer
schneller, weiter, höher konnte, war im Kampf und bei der Jagd wichtig – und deshalb ange-
sehen. Und jetzt ist der Weltrekordler dies ohne jeden weiteren unmittelbaren funktionalen
Soziale Differenzierung 85
Hintergrund- außer im gesellschaftlichen Sub-System des Sports und der Medien, die beide
über den Code der Außergewöhnlichkeit definiert sind.
tiges können daher durchaus eine Frage von Leben und Tod sein – und das
besonders dann, wenn die betreffende Lebensweise der einzige Ort der sozia-
len und physischen Existenz der Akteure ist, wie das bei ethnischen oder reli-
giösen Gruppen der Fall ist, die alles verlieren, wenn man ihnen das Ausleben
ihrer angestammten Art der Lebensführung verwehren würde.
Von daher kann es nicht verwundern, daß die menschlichen Akteure, sobald
das nur irgendwie möglich war, versucht haben, die Pfade der Nutzenproduk-
tion zu verkürzen und die Zwischengüter, die sie ganz unmittelbar und per-
sönlich interessieren, ohne jeden unnötigen „gesellschaftlichen“ Umweg her-
zustellen.
Handeln ist dann eben nicht mehr um die bloß instrumentelle Sicherung aller
möglichen Vorprodukte und indirekten Zwischengüter, sondern um das „kon-
sumatorische“ Erleben der Bedürfnisbefriedigung unmittelbar herum organi-
siert. Es dient der Bedienung der speziellen individuellen Präferenzen, die es
neben allen sozial geprägten Vorlieben und neben allen „allgemeinen“ Funk-
tionserfordernissen des Organismus stets auch noch gibt. Die dazu geeigneten,
sozusagen, „primär“-primären Zwischengüter sind die Erlebnisse der unmit-
telbaren Erzeugung von Nutzen. Das allerdings setzt einen gewissen Überfluß
voraus: Die Produktion von Erlebnissen wird erst möglich, wenn nicht alles
7
Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt/M.
und New York 1992, S. 51.
Soziale Differenzierung 87
Das letzte Ziel aller Anstrengungen – die Bedienung der „inneren“ Bedürfnis-
se der Akteure „bei sich selbst“ – gerät mit dem Überfluß über alle möglichen
Zwischengüter immer mehr in Reichweite, bis das Handeln jeden Rest an in-
vestiver Vorleistung verloren hat und nur noch dem einen dient – dem Erleb-
nis der inneren Nutzenproduktion ganz unmittelbar:
„Erlebnisse werden dabei nicht bloß als Begleiterscheinung des Handelns angesehen, sondern
als dessen hauptsächlicher Zweck.“ (Ebd., S. 41; Hervorhebung nicht im Original)
Lebensstile
Szenen
Szenen sind dann die „Milieus“, die sozialen Systeme also, dieser unmittelba-
ren Produktion ganz spezieller Erlebnisse zur Bedienung von ideosynkrati-
schen personalen Präferenzen, denen die Akteure im normalen Alltag nicht
nachgehen können.
Schachliebhaber tun sich – beispielsweise – zu einem Schachklub zusammen und enthusias-
mieren sich gegenseitig über verwickelte Varianten der Sizilianischen Verteidigung – und
wären sonst wohl lieber Feldherren geworden, wenn es die schönen Sandkastenkriege noch
gäbe. Aber der Schachklub „besteht“ als Teil der Szene zur Pflege des Lebensstils des
Schachs unabhängig von den konkreten Mitgliedern, wenngleich nicht ohne irgendwelche
Mitglieder. Thekenfußballer finden sich in stets wechselnder Besetzung auf einem Rasen-
stück am Rhein zusammen, weil ihnen der bürokratische Betrieb des DFB auf die Nerven
geht, und weil man so als FC Rote Socke so schön folgenlos ein bißchen proletarisch sein
kann. Aber diese Gruppe gibt es nur solange, wie irgendjemand noch kommt. Danach eben
nicht mehr. Sado-Masochisten bilden ihre bizarre Szene mit allem dazu erforderlichen E-
Soziale Differenzierung 89
quipment zur Bedienung ihrer geheimsten Bedürfnisse des physischen Wohlbefindens, für die
die betreffende Gesellschaft leider keinen funktional verkleideten anderen Ort – etwa das
Amt eines Inquisitors, Henkers oder Paukers – mehr anbietet. Rechtsradikale besaufen sich an
den Symbolen einer vermeintlichen kollektiven Größe, der sie von Geburt an und unwiderruf-
lich zuzugehören meinen, von der sie als arme Würstchen auch etwas abbekommen möchten
und die sie mit keinem teilen wollen, weil es ja das einzige erbärmlich kleine kulturelle Kapi-
tal ist, das sie zu kontrollieren glauben. Besucher von Rockkonzerten, Fußballspielen und
Demonstrationen suchen das Erlebnis der Gemeinsamkeit in der Menge und der Rauschzu-
stände, die gewisse Inszenierungen von Großritualen offenbar herbeiführen können, und wo-
zu es früher einmal Reichsparteitage gab. Und so weiter.
Die Szenen wechseln ihr Personal und ihre inhaltlichen Ausgestaltungen des
speziellen Lebensstils rascher als die Lebensweisen ihr Personal und ihre
Muster der Lebensführung. Sie sind von bestimmten funktionalen Positionen
noch stärker abgekoppelt als die Lebensweisen – eben weil es hier ganz be-
sonders um „Erlebnisse“ und um die „personale“ Nutzenproduktion geht. Ihre
Mitglieder kommen, wie es dann heißt, aus „allen gesellschaftlichen Grup-
pen“. Und das ist auch leicht erklärbar: Schachliebhaber, Freizeitfußballer,
Sado-Masochisten, arme Würstchen und Bedarf nach Massenritualen gibt es
ja quer durch die Gesellschaft, jenseits aller funktionalen Sphären und daher
auch in allen gesellschaftlichen Lagen.
Personale Zwischengüter
Wie aber wäre das Entstehen solcher personaler Präferenzen und Ideosynkra-
sien „soziologisch“ zu erklären?
Hier hilft zunächst schon die Idee der sozialen Produktionsfunktionen weiter, die wir in Kapi-
tel 3 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich
besprochen haben. Danach streben alle Menschen im Grunde nur nach der Erfüllung zweier
Grundbedürfnisse, soziale Wertschätzung und physisches Wohlbefinden. Aber zur Befriedi-
gung dieser Bedürfnisse gibt es gewisse Vorgaben in Form von „primären“ (und darüber hin-
aus auch von „indirekten“) Zwischengütern, über deren Kontrolle erst die Befriedigung der
Bedürfnisse möglich ist, wie etwa eine Nobelvilla, die den Vorzug hat, sogar beide „allge-
meinen“ Bedürfnisse gleichzeitig erfüllen zu helfen. Die wichtige Besonderheit dabei ist nun,
daß diese Zwischengüter gesellschaftlich festgelegt sind und daß sich damit das Interesse an
ihnen mit der jeweils geltenden „Verfassung“ der Gesellschaft ändert: Ehre ist eine Sache der
Feudalgesellschaft und materieller Wohlstand eine des Kapitalismus. Die Zwischengüter
„vermitteln“ also zwischen dem biologischen Organismus des Menschen und den allgemei-
nen Bedürfnissen aller Exemplare des homo sapiens einerseits und den jeweils historisch-
spezifischen und immer „konstruierten“ gesellschaftlichen Institutionen andererseits, in denen
jeweils festgelegt ist, welche Ressourcen für die Akteure überhaupt von Interesse sind und
welche nicht. Und so wie sich die „Verfassung“ der Gesellschaft ändert, so ändern sich auch
die „Präferenzen“ der Menschen und ihre Interessen an den Dingen dieser Welt, obwohl die
Bedürfnisse immer die gleichen sind. Revolutionen sind eben nicht nur Umwälzungen der ge-
90 Die Konstruktion der Gesellschaft
sellschaftlichen Verhältnisse, sondern auch solche der Vorlieben, der Interessen und sogar
des Geschmacks.
An dieser Stelle entsteht aber ein theoretisches Problem, das unsere bisher so
saubere Abgrenzung zwischen organismischen Bedürfnissen und den primä-
ren Zwischengütern sowie den Verzicht auf das Reden von „persönlichen“
Präferenzen aus Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen
Grundlagen“ etwas zu verwischen droht. Zunächst scheint die Sache noch ein-
fach: Zwar haben alle Menschen die beiden Bedürfnisse nach einem positiven
Selbstbild bzw. nach sozialer Wertschätzung und nach physischem Wohlbe-
finden, aber nicht alle Menschen benötigen dafür die gleichen primären Zwi-
schengüter. Und wir waren davon ausgegangen, daß die „Definition“ der pri-
mären Zwischengüter ausschließlich eine Frage der sozialen Produktionsfunk-
tionen sei, und daß alle Menschen einer spezifischen sozialen Konstellation
darin gleich seien. Das erlaubte es ja, die Präferenzen als ausschließlich sozial
konstruierte Variablen aufzufassen. Mit dem Verweis auf die Erlebnisse als
unmittelbare Ziele des Handelns wird aber angesprochen, daß es auch „inne-
re“, von den personalen Ideosynkrasien abhängige, „individuelle“ primäre
Zwischengüter gibt. Etwa: der Spaß an Schach als Folge von vererbten Intel-
ligenzunterschieden; oder genetisch bedingte Vorlieben für bestimmte Spei-
sen oder sexuelle Obsessionen. Damit aber müssen wir eine Zusatzannahme
machen, ohne die nicht erklärt werden kann, warum die Menschen jenseits ih-
rer Gruppeninteressen und über der funktionalen Imperative hinaus sofort
personalisierte Zwischengüter und „Erlebnisse“ anstreben, wenn es nur eben
geht und die „Gesellschaft“ das erlaubt.
Die Grenze zwischen Organismus und sozialer Umwelt, die in Band 1, „Si-
tuationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ über die Funkti-
onen SW=g1(Z) und PW=g2(Z) beschrieben worden war, müßte demnach also
in Hinsicht auf personale Ideosynkrasien differenziert werden: Zwischen die
primären Zwischengüter Z und die Bedürfnisse SW bzw. PW treten vermit-
telnd auch Zwischengüter, die mit den personalen Besonderheiten des indivi-
duellen Akteurs bzw. mit den subkulturellen Ideosynkrasien „seiner“ Le-
benswelt – Familie, peer-group, informelle Gruppe im Betrieb, Spezialmilieu
des Alltags – zu tun haben. Sie seien allesamt mit P abgekürzt. Diesen Fall
könnte man dann als Spezialfall des Schemas aus Abbildung 3.4 in Band 1,
„Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ so skizzieren
(Abbildung 3.1):
92 Die Konstruktion der Gesellschaft
schieden werden. Es ist ein Fall für das Problem der abnehmenden Abstrakti-
on.
Die Pflege eines bestimmten Lebensstils, insbesondere aber die damit verbun-
dene Erzeugung von Erlebnissen, sind damit die Oberziele des Handelns in
den jeweiligen Szenen. Um sie dreht sich, wie bei den „einfachen“ primären
Zwischengütern, alles. Sie bestimmen die Codierung der Orientierungen in
den jeweiligen sozialen Systemen und steuern die Herausbildung und den
Wandel der speziellen kulturellen Fokalobjekte in den jeweiligen Szenen.
höherer Effizienz, je mehr andere dabei zusehen. Genau aus dem gleichen strukturellen
Grund der Effizienz einer bestimmten sozialen Produktionsfunktion gehen aber auch rot-lila
oder schwarz gekleidete Atomkraftgegner gerade dann gern zu ihren Demonstrationen, wenn
das Fernsehen und viel Polizei erwartet werden und wenn so besonders wirksam den eigenen
Leuten gezeigt werden kann, daß man die Ziele der betreffenden Subkultur bedingungslos
teilt.
So lassen sich schließlich auch die Extremfälle der Sekten erklären, in denen
die Mitglieder offenbar das höchste Glück darin finden, sich kollektiv umzu-
bringen – und zwar: immer nur in „Gemeinschaft“, nie still auf dem Zimmer
jeder für sich allein, wie dies die normalen Selbstmörder zu tun pflegen. Nach
außen sieht das alles wie eine unglaubliche Tollheit aus. Wer das Binnenmi-
lieu und den Inhalt des Prestigesystems der Gruppe aber kennt, sieht gleich,
daß dem aus der Sicht der Akteure heraus keineswegs so ist. Sie produzieren
Erlebnisse sind ohne Zweifel eine sehr individuelle Angelegenheit. Aber ganz
alleine kann man sie sich kaum besorgen, besonders dann, wenn es um Erleb-
nisse geht, die an die „Gemeinschaft“ mit anderen Akteuren gebunden sind.
Kurz: Auch Erlebnisse müssen produziert, und diese Produktion muß sozial
organisiert werden. Unter den Bedingungen hoher Knappheiten wäre die ge-
sellschaftliche Organisation der Erlebnisproduktion ein Luxus, den sich kaum
jemand leisten könnte. Sobald der gesellschaftlich erzeugte materielle Ü-
berfluß das aber möglich macht, entsteht sofort ein organisierbares Interesse
an den „primär“-primären Zwischengütern der Erlebnisse. Die Orte einer sol-
chen sozialen Organisation der Erlebnisproduktion sind uns wohlbekannt:
Vereine, Freizeitgruppen, Cliquen, Treffs, Subkulturen und Milieus, die Sze-
nen der Erlebnisproduktion eben.
Die, mitunter nur kleinen, Variationen in den individuellen Ideosynkrasien
erzeugen – sofern die Zahl der Akteure nur groß genug ist – eine kollektive
Nachfrage nach ganz besonderen, oft höchst eigenartigen primären Zwischen-
gütern, die dann der Hintergrund für das Entstehen auch ganz spezieller kultu-
reller Milieus sind. Gibt es diese Milieus aber einmal, dann kann sich ihre E-
xistenz von den ursprünglichen Ideosynkrasien ablösen, weil die eingespielten
kulturellen Konventionen und Praktiken einen Ankerpunkt für ganz verschie-
dene Formen der Produktion sozialer Anerkennung bilden und – sehr rasch
94 Die Konstruktion der Gesellschaft
Fokus-Wandel
Die kulturellen Fokalobjekte der Muster einer Lebensführung bzw. einer ein-
gespielten Lebensweise verändern sich kaum. Sie sind ja Teil der ganz norma-
len funktionalen Organisation des Alltags und eines daran anknüpfenden ü-
bergreifend geltenden Prestigesystems. Dagegen ändern sich die kulturellen
Fokalobjekte der Lebensstile und Szenen fortwährend – ganz anders als die
funktionalen Imperative der funktionalen Sphären. Das ist es ja gerade: Le-
bensstile werden wegen gewisser „Erlebnisse“ jenseits der funktionalen
Zwänge gepflegt. Und gerade der Wandel, die immer weiter geführte Stilisie-
rung und die Verfeinerung des kulturellen Fokalobjektes, macht die Beson-
derheit vieler Lebensstile und Szenen für die daran beteiligten Akteure aus.
Dieser Wandel ist auch möglich, weil die kulturellen Fokalobjekte dort typi-
scherweise extrafunktionale, eigentlich ganz überflüssige Bereiche der Ge-
sellschaft berühren, deren kulturelle Ziele weder durch materielle Knapphei-
ten eingegrenzt, noch durch funktionale Aufgaben durchkreuzt oder durch
eingespielte Formen der Lebensführung verfestigt sind.
Der rasche Wandel, die stets weiter getriebene Zuspitzung und Skurrilität des kulturellen Fo-
kalobjektes ist für manche Szene sogar das eigentlich interessierende primäre Zwischenpro-
dukt – wie in der Mode und in der Kunst, die ja im Wesentlichen nur von ihrem Wettlauf um
etwas nie Dagewesenes leben. Das liegt daran, daß es eigentlich nicht um ein konkretes be-
gehrtes oder als solches lebenswichtiges Zwischengut, sondern vielmehr darum geht, daß
man möglichst der Erste und der Einzige ist, der das Gut besitzt. Stilisierungen sind eben Po-
sitionsgüter oder dienen der Absicherung anderer Positionsgüter (vgl. dazu noch Band 3,
„Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Und genau deshalb ist der Wettlauf um
das Erlebnis der Distinktion so ganz besonders gnadenlos – obwohl es doch materiell und ei-
gentlich, wie man glauben möchte, um buchstäblich nichts geht.
Alle Statussymbole und die meisten Fokalobjekte oder Insignien der Jugend-
kultur, des Musikstils, der Literatur oder der modernen Malerei unterliegen
auch genau deshalb jener offenbar eingebauten Dynamik von zögerndem Be-
ginn durch Pioniere, trendsetter oder opinion leader, wachsender Verbreitung
und Erfassung auch der zurückhaltenderen Teile der Bevölkerung, Kulminati-
on und der gerade dadurch bewirkten Entwertung des betreffenden Fokalob-
jektes, der alle Positionsgüter unterliegen: Wenn alle ihren Miró besitzen,
dann wird er für die Avantgarde sehr bald zum Trivialkitsch – weil man einen
Soziale Differenzierung 95
echten imitierten Miró nun auch schon in der Galerie Mensing billig bekom-
men kann. Wenn jeder Geschäftsführer eines öffentlich finanzierten Instituts
Professor – ordentlich, außerplanmäßig oder als Honorarprofessor – ist, dann
ist der Titel selbst bald nichts mehr wert. Und wenn alle unverstandenen Leh-
rerInnen – Du, irgendwie – zum Töpfern in die Toscana fahren oder über glü-
hende Kohlen laufen, dann hilft das schließlich auch nicht mehr viel bei der
Gewinnung von sozialer Wertschätzung im Milieu der Waldorfschulen, selbst
wenn es zuvor eine ganz und gar ausgefallene Sache gewesen sein sollte, und
das ganze Lehrerzimmer ganz ergriffen schwieg, wenn jemand darüber mit
verträumtem Blick zu erzählen begann. Diese Entwertung ist der eingebaute
Mechanismus für den schließlichen Verfall, dem die meisten Lebensstile und
Szenen unterliegen. Sie leben ab da nur noch in gewissen Nischen weiter –
oder werden zu einem neuen Teil der etablierten Kultur einer Gesellschaft, zu
einer Lebensweise und oft genug zu einem neuen funktionalen System, wie
das etwa beim Tourismus oder bei den lila Grünen der Fall gewesen ist.
Die Zugehörigkeit zu gewissen Szenen können sich die Akteure – in den „of-
fenen“ Gesellschaften jedenfalls – meist relativ frei aussuchen. Wegen dieser
Offenheit der Zuordnung zu konkreten Personen und wegen ihrer Unabhän-
gigkeit von den funktionalen Sphären einer Gesellschaft sind die Produkti-
onswege für den Nutzen ja gerade so kurz. Diese Offenheit hat aber einen
strukturellen Preis: Die Produktionsfunktionen in den Szenen sind nicht durch
besondere Funktionen institutionell gesichert, sondern von der immer wieder
neu zu motivierenden Beteiligung wechselnder Akteure abhängig. Dies hat
noch einen weiteren, sehr „strukturellen“ Grund: Die Menschen können sich
ja auch nur recht punktuell in den Szenen aufhalten, weil das Leben bekannt-
lich auch in den wohlhabendsten Kreisen nicht nur mit Schachabenden, Frei-
zeitfußball, Sado-Masochismus, rechtsradikalen Besäufnissen und Massen-
hysterien zu bestreiten ist. Kurz: Viele Milieus und Szenen ähneln eher den
auf- und abschwellenden „sozialen Bewegungen“ als stabilen Institutionen.
Gleichwohl können sich solche Szenen – wie die Lebensweisen – als kollekti-
ves Phänomen ganz dauerhaft einrichten – etwa als eine immer in Bewegung
befindliche Jugendkultur, als eine Subkultur gewisser sexueller Praktiken oder
als ein Milieu eines bestimmten Freizeitstils. Diese Milieus „bestehen“ dabei,
es sei wiederholt, nur als ständig sich „selbst“ neu reproduzierendes und in
seinem Inhalt sich wandelndes kulturelles System der jeweiligen Fokalobjekte
und als soziales System der entsprechenden aneinander anschließenden Hand-
96 Die Konstruktion der Gesellschaft
lungen. Bei der immer wieder neu erfolgenden Konstitution der „Systeme“
der Szenen sind zwar immer Akteure beteiligt. Wie sollte das auch anders
möglich sein? Es sind aber nicht immer die gleichen Akteure, die die Szenen
tragen. Auch das ist eigentlich kaum anders vorstellbar.
Kurz: Die Szenen leben von einem hohen – und meist sogar unvermeidli-
chen – Wechsel des Personals: Alle Jugendlichen werden älter – aber die Ju-
gendkultur gibt es weiter. Alle Hedonisten übernehmen irgendwann einmal
Verantwortung, wenn sie nicht als Drogentote geendet sind – aber Sinus und
tausend weitere Lebensstilforscher finden immer noch das hedonistische Mi-
lieu. Und Ikea verkauft seine teuren Billigmöbel auch dann noch an die Nach-
folgeszene des 68er-Milieus, wenn die Gründergeneration der Frankfurter
Schule längst in den spätkapitalistischen Schrankwänden aus Brabanteiche
eingerichtet sich hat. Die Erklärung für das Überdauern der Lebensstile und
der Szenen als „Systeme“ bei allem Wechsel des Personals und des Wandels
der konkreten Fokalobjekte ist leicht: Eine Szene wird mit ihrem Lebensstil
zwar immer nur aktuell konstituiert, aber es müssen nicht die gleichen Perso-
nen sein, die den Prozeß tragen, und es müssen nicht immer die identischen
Objekte sein, um die sie sich scharen. Szenen (und auch die Lebensweisen)
sind ein besonders instruktives Beispiel für sich „selbstorganisierende“ und
„evolutionäre“ soziale Systeme. Sie sind ein Spezialfall dessen, was allgemein
als die „Konstitution“ der Gesellschaft bezeichnet wird (vgl. dazu auch noch
Kapitel 9, insbesondere Abschnitt 9.1 unten in diesem Band).
In den Milieus bestimmter Weisen der Lebensführung und bei den Szenen der
Erlebnisproduktion geht es, ähnlich wie bei den funktionalen Imperativen,
immer um ganz spezielle Oberziele und Codes. Dies sind, wie schon gesagt,
einmal die Inhalte der jeweiligen Stilisierungen der Lebensführung – der Ha-
bitus, der Geschmack, die Symbolik der Distinktion – und dann die Besonder-
heiten des Lebensstils und der Erlebnisse, um deren Produktion es in einer
Lebensweise bzw. Szene „primär“ geht. Diese Oberziele und Codes sind die
„fokalen“ Objekte der jeweiligen Lebensweise, des jeweiligen Lebensstils o-
der der jeweiligen Szene – die kulturellen Fokalobjekte. Um sie dreht sich je-
weils alles. Sie sind der Rahmen der Situationsdefinition in den betreffenden
kulturellen Milieus. Oft kombiniert sich in dem kulturellen Fokalobjekt die
distinktive Stilisierung einer Lebensweise mit einer speziellen Erlebnispro-
duktion einer Szene. Zu dem Fokalobjekt gehört dann – zusammen mit dem
Oberziel der Erzeugung eines speziellen Erlebnisses – auch ein bestimmter
Soziale Differenzierung 97
Habitus des Benehmens, des Aussehens und auch der sonstigen Lebensgestal-
tung bei der Erlebnisproduktion, dessen Einhaltung für die Nutzenproduktion
in dem jeweiligen Milieu wichtig ist. Der Habitus ist dann gleichzeitig eine
Stilisierung der wichtigsten Elemente des Erlebnis-Codes, Erkennungszeichen
für die Anhänger der Szene, Statussymbol für die Gewinnung sozialer Aner-
kennung innerhalb des Milieus, gelegentlich gleichzeitig ein Stigma nach au-
ßen, das es zu verbergen gilt, und vor dessen outing man sich sehr fürchtet.
Dieser Code muß von den Novizen der jeweiligen Subkultur oft erst noch
richtig gelernt werden – auch wenn sie genau wissen, was das Oberziel ist und
worum es geht. Und wer sich nicht daran hält oder zufälligerweise verläuft,
erlebt – an einem FKK-Strand, in einer Schwulenkneipe oder in einer Punker-
versammlung etwa – sein blaues Wunder.
Dies alles verweist darauf, daß letztlich auch die kulturellen Milieus der ganz
und gar unkonventionellen Lebensstile und Szenen auf gesellschaftlich festge-
legten Produktionsfunktionen beruhen; für die Muster der Lebensführung bei
den Lebensweisen gilt das ja sowieso. Auch ganz ideosynkratische Erlebnisse
bedürfen – zumal: wenn man sie wiederholt und kostengünstig genießen will
– offenbar einer sozialen Organisation ihrer Produktion. Und oft genug mu-
tiert – mit der Etablierung des jeweiligen kulturellen Milieus als Folge der
verläßlicheren Einrichtung des Milieus – die Produktion von ursprünglich als
sehr primär und spontan erlebten Ereignissen in einen ganz und gar entfrem-
denden Terror der Beachtung absurder Spielregeln und Distinktionspraktiken:
Aufnahmeprüfungen, Mutproben, Kleidungsvorschriften, wie bei schlagenden
Verbindungen zum Beispiel. Und oft weiß dann niemand mehr, wie das jewei-
lige kulturelle Fokalobjekt einmal entstanden ist, geschweige denn, daß es
einmal um ganz persönliche „Erlebnisse“ ging – und eben nicht um ein dump-
fes Ritual mit Vorsitzendem, Schriftführer und Kassenwart im Nudistenver-
ein.
Das Anomie-Schema
8
Robert K. Merton, Social Structure and Anomie, in: Robert K. Merton, Social Theory and
Social Structure, 11. Aufl., New York und London 1967a, S. 131-160.
Soziale Differenzierung 99
„An effective equilibrium between these two phases of the social structure is maintained so
long as satisfactions accrue to individuals conforming to both cultural constraints, viz., satis-
factions from the achievement of goals and satisfactions emerging directly from the instituti-
onally canalized modes of striving to attain them.“ (Ebd., S. 134)
Ein Gleichgewicht der Gesellschaft besteht also dann, wenn die Akteure so-
wohl alle die kulturellen Ziele verfolgen und sich dabei an die institutionali-
sierten Mittel halten. Das dazu gehörende Verhalten nennt Merton Konformi-
tät. Dieses Gleichgewicht der Konformität und der Unterstützung sowohl der
kulturellen Ziele wie der institutionalisierten Mittel ist aber durch nichts ga-
rantiert. Merton geht vielmehr davon aus, daß beide Elemente der Verfassung
einer Gesellschaft – kulturelle Ziele und institutionalisierte Mittel – auch un-
abhängig voneinander variieren können: Die Ziele, an denen sich die Akteure
orientieren und deren Erfüllung für das Funktionieren der Gesellschaft wich-
tig sind, und die Mittel, mit denen die Akteure hantieren und die in unter-
schiedlicher Weise gesellschaftlich legitimiert sind, fallen unter Umständen
auseinander. In Bezug auf dieses Auseinandertreten der Orientierungen an ge-
sellschaftlich wichtige Ziele und Regelungen der Mittel unterscheidet Merton
dann vier typische Formen des Ungleichgewichtes einer Gesellschaft. Die vier
Typen der „Anpassung“ an diese Ungleichgewichte ergeben sich aus der sys-
tematischen Variation der beiden Variablen „kulturelle Ziele“ und „institutio-
nalisierte Mittel“.
Zur Erreichung der Ziele kann als Abweichung von der Konformität – erstens – auf Mittel
zugegriffen werden, die nicht institutionalisiert, innerhalb der gegebenen Verfassung neuartig
oder sogar verboten sind. Dieses Verhalten nennt Merton Innovation. In Abschnitt 12.2 von
Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ haben wir diesen
Fall bereits behandelt – bei der Erklärung der Unterschichtenkriminalität als Reaktion auf die
Blockade bei den institutionalisierten Mitteln zur Erreichung des in der amerikanischen
Gesellschaft alles übergreifenden Zieles: materieller Wohlstand. Die Beachtung der
Legitimität der Mittel kann sich aber auch – zweitens – von den kulturellen Zielen der
Gesellschaft ablösen, verselbständigen und zum „Selbstzweck“ werden. Robert K. Merton
spricht in diesem Fall von Ritualismus. Auch diesen Fall haben wir in Abschnitt 12.2 von
Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ schon näher als
typische Reaktion der unteren Mittelschichten in der amerikanischen Gesellschaft
besprochen. Weiter können – drittens – sowohl die kulturellen Ziele als unerreichbar oder als
unwichtig angesehen und gleichzeitig auch die institutionalisierten Mittel als nicht
verbindlich abgelehnt werden. Diese Reaktion bezeichnet Merton als Rückzug. Beispiele
dafür sind Drogensüchtige, Clochards und Aussteiger aller Art, einschließlich der „inneren
Emigranten“. Und schließlich ist es – viertens – auch möglich, daß Akteure an die Stelle einer
abgelehnten gesellschaftlichen Verfassung eine komplett neue mit nun anders definierten
kulturellen Zielen und anders geregelten institutionalisierten Mittel setzen wollen: die
Rebellion als Reaktion auf eine in ihren Grundstrukturen abgelehnte Gesellschaft vor dem
Hintergrund der Utopie einer neuen Gesellschaftsordnung, deren kulturellen Ziele und
institutionalisierten Mittel – in dann konformer Weise also – unterstützt werden.
100 Die Konstruktion der Gesellschaft
Diese insgesamt fünf Muster der Anpassung an die Strukturen der kulturellen
Ziele bzw. der institutionalisierten Mittel hat Merton in einer, wie er sagt,
„Typology of Modes of Individual Adaptation“ zusammengefaßt (Abbildung
3.2).
Diese Typologie der fünf Muster strukturierter Anpassungen ist das besag-
Abb. 3.2: Die Typologie der Anpassungsmuster an kulturelle Ziele und institutionali-
sierte Mittel (nach Merton 1967a, S. 140)
te Anomie-Schema.
Anpassungsmuster Kulturelle Ziele Institut. Mittel
Anomie
Konfund Devianz
ormität + +
Innovation + -
DenRitua
Begriff „Anomie“ für das in der
lismus - Typologie beschriebene
+ Problem hat
Robert K. Merton gewählt, weil er in -dem Verfall der Verbindlichkeiten
Rückzug - über-
greifender
Rebellionkultureller Ziele und in der
+/- Ablehnung der normativen
+/- Regelung
des Handelns durch die Akteure alle Merkmale jenes Zustandes zu erkennen
glaubt, den Emile Durkheim als Anomie bezeichnet hatte (vgl. dazu auch
schon den Exkurs über die sechs Lesarten des Thomas-Theorems in Band 1,
„Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Emile Durkheim hat den Begriff der Anomie in zwei Bedeutungen verwendet. Die eine
stammt aus dem Zusammenhang der Untersuchung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung.
Dort bezeichnet Emile Durkheim das Verschwinden der „Solidarität“, die Auflösung der so-
zialen Beziehungen und die Verdünnung des Gefühls der gegenseitigen Abhängigkeit mit
Anomie. Die andere Bedeutung hat Emile Durkheim im „Selbstmord“ verwandt: Die Auflö-
sung aller Schranken der Orientierung und der Begrenzung der Ansprüche, wie sie gerade in
Zeiten des Wohlstands und der Expansion aufzutreten pflegen. Damit erklärt Emile Durkheim
die eigenartige empirische Regelmäßigkeit, daß die Selbstmordraten in Phasen der wirtschaft-
lichen Expansion ansteigen und in Kriegen besonders niedrig liegen. Diese Art des Selbst-
mordes nennt Durkheim daher auch den „anomischen Selbstmord“ – in Abgrenzung vom „e-
goistischen“ Selbstmord, der beispielsweise die Selbstmordraten bei den „individualisierten“
Protestanten im Vergleich zu den Katholiken in die Höhe treibt; und in Abgrenzung zum „alt-
Soziale Differenzierung 101
ruistischen Selbstmord“ etwa eines Kamikaze-Fliegers oder eines Offiziers, der einen Ehrver-
lust nicht ertragen kann und daher gerade in Konformität zu einem bestimmten „esprit du
corps“ Hand an sich legt.9
Das sind schon durchaus verschiedene Sachverhalte: die Auflösung von sozia-
len Beziehungen einerseits und die Auflösung von Anspruchsbegrenzungen.
Sie sollten auch auseinandergehalten werden, weil das eine die Ursache für
das andere sein kann: Die Auflösung sozialer Beziehungen kann auch zur
Auflösung von Schranken in den Ansprüchen der Menschen und so zur Orien-
tierungslosigkeit führen. Merton hat aber offenbar eine dritte Variante der
Anomie im Sinn: die Mißachtung der institutionellen Begrenzungen, gerade
um die ansonsten nicht einlösbaren Ansprüche doch noch zu verwirklichen –
mit der schließlichen Folge des kompletten Zusammenbruchs des Systems der
institutionellen Begrenzungen. Derartige anomische Tendenzen sieht Merton
zunächst überall da, wo die kulturellen Ziele besonders wichtig und aus-
schließlich für Wertschätzung und Wohlbefinden der Menschen bedeutsam
sind und wo es technisch sehr effiziente, aber unerlaubte Möglichkeiten gibt,
diese Ziele zu erreichen. Nicht immer sind die Menschen dann gegen die Ver-
suchung gefeit, die begrenzenden Regeln der institutionalisierten Mittel zu
beachten. Als Beispiel nennt Merton den Wettkampfsport, in dem – auch da-
mals wohl schon als Merton seinen Artikel schrieb – keineswegs die Teil-
nahme schon alles bedeutet:
„Thus, in competitive athletics, when the aim of victory is shorn of its institutional trappings
and success becomes construed as ‚winning the game‘ rather than ‚winning under the rules of
the game‘, a premium is implicitly set upon the use of illegitimate but technically efficient
means.“ (Merton 1967a, S. 135; Hervorhebung nicht im Original)
9
Vgl. Emile Durkheim, Über die Teilung der sozialen Arbeit, Frankfurt/M. 1977, S. 410f.;
Emile Durkheim, Der Selbstmord, Neuwied und Berlin 1973, S. 279ff., 290f.
102 Die Konstruktion der Gesellschaft
Bei den Devianz-Bereichen können zwei verschiedene Arten von sozialen Sy-
stemen unterschieden werden: Subkulturen bzw. Gegenkulturen einerseits und
soziale Bewegungen andererseits. Sub- bzw. Gegenkulturen sind – mehr oder
weniger – stabile soziale Systeme, in denen „alternative“ Ziele gelten
und/oder „alternative“ Mittel als erlaubt definiert sind. Subkulturen sind dann
jene sozialen Systeme der Nutzenproduktion, bei denen die etablierten kultu-
rellen Ziele einer Gesellschaft weiterhin gelten, aber die institutionalisierten
Mittel nicht (mehr) angewandt werden oder sogar bewußt und mit Emphase
abgelehnt werden.10 Kriminelle Subkulturen, speziell in der Form der organi-
10
Vgl. zum Konzept der Subkultur u.a. Albert K. Cohen und James F. Short, Jr., Research
in Delinquent Subcultures, in: The Journal of Social Issues, 14, 1958, S. 20-37; Walter B.
Miller, Lower Class Culture as a Generating Milieu of Gang Delinquency, in: The Journal
of Social Issues, 14, 1958, S. 5-19; Günter Albrecht, Die „Subkultur der Armut“ und die
Entwicklungsproblematik, in: René König (Hrsg.), Aspekte der Entwicklungssoziologie,
Sonderheft 13 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Köln und
Opladen 1969, S. 430-471. Vgl. insgesamt auch die Übersicht bei Siegfried Lamnek, The-
Soziale Differenzierung 103
sierten Kriminalität, sind das eingängigste Beispiel dafür: Die kulturellen Zie-
le der Gesellschaft – Wohlstand und Prestige zum Beispiel – werden darin
durchaus akzeptiert und sogar unterstützt, aber es werden „alternative“ Mittel
angewandt, um diese Ziele zu erreichen. Zu den „Mitteln“ gehören dann nicht
unbedingt nur bestimmte „Taten“, sondern unter Umständen auch wieder be-
sondere Bewertungen von Handlungsweisen oder Überzeugungen, die von der
„dominanten“ Gesellschaft nicht geteilt werden. In gewissen Unterschichten
oder Jugendgruppen werden beispielsweise Gewalt, Maskulinität und Härte
als ein besonderer Wert angesehen. Und die Ausübung selbst von brutaler
Gewalt ist dann auch kein Akt der „Abweichung“, der ein schlechtes Gewis-
sen hervorrufen würde, sondern – geradezu im Gegenteil – ein Beweis für die
Konformität mit der betreffenden (Bezugs-)Gruppe und ein höchst nahelie-
gender Akt zur Gewinnung sozialer Wertschätzung darin. „Abweichend“ ist
das Verhalten in einer devianten Subkultur also nur in Bezug auf die Stan-
dards der dominanten Gesellschaft.
Subkulturen bilden sich zunächst exakt so, wie auch die „individuelle“ Abweichung entsteht:
als „anpassende“ und schließlich als soziales System stabilisierte Reaktion der Nutzenproduk-
tion auf die jeweiligen Gegebenheiten, die eine nicht-deviante Nutzenproduktion nicht erlau-
ben würden. Voraussetzung für ihre Konstitution als soziales System ist stets eine gewisse
Alternativlosigkeit und Abhängigkeit von der Gruppe, wie das etwa in Gefängnissen, auf Pi-
ratenschiffen, bei perspektivlosen Jugendlichen oder bei neu eingereisten Migranten der Fall
zu sein pflegt. Es ist ein Spezialfall der Entstehung von sozialer Ordnung, einer „devianten“
Ordnung freilich. Besonders bei Jugendlichen ist es der Mangel an „legitimen“ Alternativen
zur Gewinnung von sozialer Wertschätzung, der stets aufs Neue für Nachschub bei den diver-
sen Subkulturen sorgt – zumal in der Phase der Gewinnung einer eigenen Identität die mög-
lichst provokante „Abweichung“ von den Konventionen der Erwachsenenwelt die Devianz
ein Erlebnis mit einem ganz besonderen thrill sein muß. Und was ist da geeigneter als beson-
ders brutale Gewalt gegen wehrlose Ausländer oder ein Hakenkreuz, wenn ansonsten schon
alle Tabus millionenfach gebrochen sind?
Theorien abweichenden Verhaltens, 5. Aufl., München 1993, Abschnitt 2.3: Theorien der
Subkultur und des Kulturkonflikts, S. 142-185.
104 Die Konstruktion der Gesellschaft
Subkulturen bewegen sich, bei aller Devianz in den Handlungen der Ak-
teure, immer noch im Rahmen der kulturellen Ziele einer Gesellschaft. Das ist
bei den Gegenkulturen typischerweise anders:11 Die Normen und Werte einer
Gegenkultur werden in bewußter Ablehnung der kulturellen Ziele einer Ge-
sellschaft entwickelt und verfolgt. Die Codierung der Orientierungen sind ge-
wisse alternative Ziele, Ziele, die in einem – mehr oder weniger ausgeprägten
und radikalen – Konflikt zu den kulturellen Zielen der betreffenden Gesell-
schaft stehen. Daher auch die Bezeichnung „Gegen“-Kultur. Beispiele für sol-
che Gegenkulturen wären gewisse Sekten, die eine „andere“ Gesellschaft an-
streben, die ehemalige Hippie-Bewegung, die RAF oder – aktueller – gewisse
rechtsradikale Gruppierungen. Sie alle eint ein Gegen-Thema, eine Gegen-
Ideologie oder gar eine Gegen-Moral, unter deren Imperativ dann auch gele-
gentlich heilige blutige Kriege geführt werden. Die Akteure, die die Gegen-
Kulturen tragen, wollen – letztlich – eine andere Verfassung der Gesellschaft,
die in den Subkulturen wollen das nicht.
Soziale Bewegungen
Eine soziale Bewegung ist ein „dynamisches“ Prozeß-System, bei dem zu-
nehmende Teile der Bevölkerung in ihrem Tun in der Unterstützung alternati-
ver Ziele bzw. Mittel einer Gesellschaft erfaßt werden und das gerade aus
dem Prozeß dieser zunehmenden „Erfassung“ besteht – und mit dem Ende der
weiteren Erfassung als soziale „Bewegung“ auch wieder abstirbt. Soziale Be-
wegungen beinhalten immer auch ein gewisses Element der „kollektiven Iden-
tität“: Die in ihnen zusammengeschlossenen Akteure empfinden sich als an
einer gemeinsamen Sache arbeitend.12
11
Vgl. zum Konzept der Gegenkultur insbesondere: J. Milton Yinger, Contraculture and
Subculture, in: American Sociological Review, 25, 1960, S. 625-635.
12
Vgl. zu einem Überblick über die verschiedenen Spielarten sozialer Bewegungen u.a. Die-
ter Rucht, Modernisierung und neue soziale Bewegungen, Frankfurt/M. und New York
1994, insbesondere Abschnitt 1.2 und Kapitel 3. Vgl. auch, insbesondere aber zu den sog.
neuen sozialen Bewegungen: Heinrich W. Ahlemeyer, Was ist eine soziale Bewegung?
Zur Distinktion und Einheit eines sozialen Phänomens, in: Zeitschrift für Soziologie, 18,
1989, S. 175-191; Klaus P. Japp, Neue soziale Bewegungen und die Kontinuität der Mo-
derne, in: Johannes Berger (Hrsg.), Die Moderne - Kontinuitäten und Zäsuren, Sonder-
band 4 der Sozialen Welt, Göttingen 1986, S. 311-333; Werner Bergmann, Was bewegt
die soziale Bewegung? Überlegungen zur Selbstkonstitution der „neuen“ sozialen Bewe-
gungen, in: Dirk Baecker u.a. (Hrsg.), Theorie als Passion. Niklas Luhmann zum 60. Ge-
burtstag, Frankfurt/M. 1987, S. 362-393.
Soziale Differenzierung 105
unangetastet. Und alles geschieht ganz und gar im Rahmen der Konventionen. Zu ihrem Er-
folg als Massenbewegung wird es daher jeweils nötig, das enge partikulare Interesse als ein
übergreifendes und moralisch gebotenes darzustellen und zu „rahmen“. Hierfür gibt es inzwi-
schen regelrechte Framing-Unternehmer und Marketing-Virtuosen, wie etwa bei Greenpeace,
einem letztlich knallharten kapitalistischen Unternehmen, das es geschafft hat, seine Ge-
schäftsinteressen mit einem hochmoralischen Interesse zu verbinden – in heimlicher Koope-
ration mit den an Sensationen immer verlegenen Medien und unter Ausnutzung der Opferbe-
reitschaft vieler guter sinnsuchender Menschen. Am radikalsten sind natürlich die Revolutio-
nen. Hier geht es um die komplette „Umwälzung“ der Verfassung einer Gesellschaft. Dazwi-
schen angesiedelt sind die Proteste und die Revolten. Proteste sind stärker emotionalisierte
und „spontane“ Reaktionen auf als untragbar wahrgenommene Einzelereignisse durch spe-
zielle Gruppen: Landwirte, die gegen die Kürzung ihrer Subventionen protestieren, Stahlar-
beiter gegen die Schließung ihres Betriebs, Atomkraftgegner gegen die Castortransporte, et-
wa. Proteste gibt es in mehr konventionellen Formen, als behördlich angemeldete und ge-
nehmigte gewaltfreie Demonstration etwa, oder auch in unkonventionellen, ja unerlaubten
Varianten, wie die Blockade von Schienen oder das Werfen von Steinen. Bei den Revolten
geht es schon um mehr. Das sind Aufstände ganzer Gruppen von Akteuren, denen es – zu-
nächst wenigstens – nur um die Beseitigung eines speziellen Mißstandes geht, wie etwa Ge-
fängnisrevolten, Sklaven- und Bauernaufstände. Die Änderung der Verfassung einer Gesell-
schaft wird dabei – zunächst jedenfalls – nicht angestrebt. Wenn das dann noch dazu kommt,
dann haben wir es mit einer veritablen Revolution zu tun.
listen, Frauen gegen Männer. Es ist einer der – inzwischen seltenen – Fälle, in denen ein sozi-
ales System, sozusagen, sein festes Personal hat. Die neuen sozialen Bewegungen haben
demgegenüber kein spezielles Ziel und sie lassen sich auch nicht eindeutig zu gewissen Inte-
ressen abgrenzbarer sozialer Kategorien zuordnen. Sie gehen, wie man so sagt, „durch alle
gesellschaftlichen Schichten“, denn sie wenden sich gegen generelle Bedrohungen und Be-
schränkungen und treten für das ganz allgemeine Ziel der Entfaltung der Individualität und
der Selbstverwirklichung ein: gegen die existentielle Bedrohung durch die Zerstörung der
Umwelt, gegen die korporatistische Schließung einer nur noch formal demokratischen Ge-
sellschaft, gegen das Eindringen der „Systeme“ in die „Lebenswelten“ der Menschen, gegen
Globalisierung und Ellbogengesellschaft, gegen die zunehmende Perspektiv- und Sinnlosig-
keit des Lebens und stets für die ungehinderte Verwirklichung des Selbst. Eindeutige Interes-
senzuordnungen gibt es nicht und deshalb auch keine Interessenkonflikte. Man ist gegen alles
und gegen jeden, und einen greifbaren Adressaten des Protestes gibt es nicht. Und deshalb
können sich die neuen sozialen Bewegungen auch relativ leicht an irgendwelche flüchtigen
Ereignisse, Stimmungen und Werte anhängen. Die – inzwischen auch schon etwas älter ge-
wordenen – neuen sozialen Bewegungen verstehen sich dabei meist als „progressiv“: eman-
zipatorisch, anti- bzw. wenigstens: postmaterialistisch und basisdemokratisch. Sie werden ü-
berwiegend von (jugendlichen) Angehörigen der gebildeten Mittelschichten und Akteuren
aus wohlfahrtsstaatlichen Berufen getragen. Ihr Ziel ist eine Art von Kombination möglichst
großer individueller Entfaltung und Partizipation mit der Sicherung sinnstiftender Lebenswel-
ten bei gleichzeitigem Erhalt der materiellen Wohlversorgung (vgl. dazu auch noch den Ex-
kurs über die Frage, ob die sogenannte Individualisierung überhaupt eine ist, im Anschluß an
Abschnitt 4.3 unten in diesem Band). Der politische Ausläufer der „progressiven“ neuen so-
zialen Bewegungen sind die Grünen. Die, wie Niklas Luhmann sie nennt, „neueste neue sozi-
ale Bewegung“ ist die „Bewegung der Ausländerfeinde“, deren von kriminellen Gewalttaten
begleiteten Proteste, wie er meint, vor allem der „‚Selbstverwirklichung‘ im Modus von Un-
terschichtenverhalten“ dienten. Auch sie thematisieren ganz allgemeine Ängste und haben
zeitweise durchaus Erfolg damit (Luhmann 1997, S. 849f.). Aber alle diese neuen und neues-
ten sozialen Bewegungen leben auch davon, inwieweit es ihnen gelingt, ihr jeweiliges spe-
zielles Anliegen als ein tatsächlich allgemeines zu deklarieren und entsprechend zu „rahmen“.
Und das geht auch ganz gut – gerade weil die jeweiligen „Themen“ der neuen sozialen Be-
wegungen nur selten unmittelbare spezielle Interessen berühren: Moral und Werte können
sich dann besonders leicht durchsetzen, wenn sie nicht viel kosten und solange es keine greif-
baren Interessen gibt, die dagegen sprechen könnten. Aber von großer Dauer oder Nachhal-
tigkeit sind die einzelnen neuen sozialen Bewegungen gerade deshalb dann auch wieder
nicht: Wenn es ernst wird, geht ihnen das Personal aus, das immer auch noch andere Interes-
sen und meist nicht viel Zeit hat.
Soziale Bewegungen sind, anders als die Sub- und die Gegenkulturen, keine
sozialen Systeme der unmittelbaren „konsummatorischen“ Nutzenproduktion,
wenngleich es bei den einzelnen Aktionen sicher auch viel zu „erleben“ gibt.
Es sind eher so etwas wie Investitionen in die Verbesserung der Grundlagen
der Nutzenproduktion über die Veränderung der sozialen Produktionsfunktio-
nen. Daher unterliegen die sozialen Bewegungen auch in dieser Zielrichtung
jeweils einem spezifischen Oberziel, um das herum sich alle Orientierungen
und Aktivitäten gruppieren. Es ist das jeweilige spezielle Anliegen der sozia-
len Bewegung: die Beseitigung eines speziellen Mißstandes oder einer beson-
deren Benachteiligung bei den „alten“, irgendein ideosynkratisches Thema
108 Die Konstruktion der Gesellschaft
Eine Zusammenfassung
Die Anzahl und die Unterschiedlichkeit der funktionalen Sphären, der kultu-
rellen Milieus und der Devianz-Bereiche einer Gesellschaft, die funktionale,
die kulturelle und die normative Differenzierung also, bestimmen zusammen
die soziale Differenzierung – den Grad der Homogenität oder Heterogenität in
arbeitsteiliger Spezialisierung, kultureller Verschiedenheit und der Existenz
von devianten Systemen der Nutzenproduktion bzw. von Bewegungen zu de-
ren Veränderung. Die verschiedenen sozialen Systeme, die die soziale Diffe-
renzierung einer Gesellschaft ausmachen, sind jeweils in besonderer Weise
codiert – und zwar nach dem Inhalt der jeweiligen Umstände und Oberziele
der Nutzenproduktion und der jeweils geltenden sozialen Produktionsfunktio-
nen. In Abbildung 3.3 sind die verschiedenen Systeme der Nutzenproduktion
mit ihren jeweiligen Oberzielen bzw. Codierungen noch einmal zur leichteren
Übersicht zusammengefaßt.
Die Unterteilung der sozialen Systeme einer Gesellschaft in funktionale
Sphären, kulturelle Milieus und Devianz-Bereiche folgt den inhaltlichen De-
finitionen der jeweiligen Codierungen. Sie liegt damit „quer“ zu den eher
formalen Unterscheidungen der sozialen Systeme, die in Kapitel 2 oben in
diesem Band vorgenommen wurden und Märkte, Assoziationen und Organisa-
tionen bzw. kollektive und korporative Akteure als soziale Systeme unter-
schied. Funktionale Sphären, kulturelle Milieus und Devianz-Bereiche „be-
stehen“ ohne Frage aus den verschiedenen „Formen“ sozialer Systeme –
Soziale Differenzierung 109
***
13
Emile Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode. Herausgegeben und eingeleitet
von René König, 5. Auflage, Darmstadt und Neuwied 1976 (zuerst: 1895), S. 160f.
Soziale Differenzierung 111
denke nur an Konrad Schily, Joschka Fischer oder auch Gerhard Schröder
höchstselbst. Gesellschaften unterscheiden sich systematisch in der Kopplung
der funktionalen Sphären und kulturellen Milieus und der Existenz von Devi-
anz-Bereichen und daran anknüpfenden Formen der sozialen Ungleichheit
(vgl. dazu auch noch Abschnitt 9.2 in diesem Band).
In den einfachen Stammesgesellschaften gibt es keine besondere ausgeprägte funktionale und
kulturelle Differenzierung. Es kommt zwar abweichendes Verhalten vor, aber nur sehr punk-
tuell, und eigenständige Devianz-Bereiche sind unbekannt. Die sozialen Systeme dort sind
funktional diffus und kulturell homogen, und die Menschen bilden eine große soziale Katego-
rie, allenfalls unterschieden nach Alter und Geschlecht. Funktionale und kulturelle Differen-
zierungen gibt es dagegen sehr deutlich in den Feudal-Gesellschaften. Sie sind dort fest mit
dem System der sozialen Ungleichheit, der Unterteilung in fest umrissene Stände, verbunden.
Hier kombinieren sich die „gesellschaftlichen“ Funktionen mit den „ständischen“ Lebenswei-
sen und die Übernahme fester gesellschaftlicher Positionen mit der Ausübung streng kontrol-
lierter Formen der Lebensführung. Abweichungen gibt es nun zwar durchaus, sogar massen-
haft und als dauerhafte oder wenigstens wiederkehrende Erscheinungen, etwa als Bauernre-
volten oder Häresie-Bewegungen. Aber es gibt sie noch nicht als „reguläre“ soziale Systeme:
Die Bestrafung von Normübertretungen und die Verfolgung der Häretiker war gnadenlos und
auf die Eliminierung der Abweichler ausgerichtet. Eine besondere normative Differenzierung
nach Devianz-Bereichen gibt es daher dort (noch) nicht. Nur das zeitweise durchaus sehr
groß werdende Heer der sog. Entbehrlichen – Vagabunden, Bettler, Verfemte, Exkommuni-
zierte – bildete schon so etwas wie einen eigenständigen Devianz-Bereich. Fluktuierende Le-
bensweisen, Szenen der Erlebniserzeugung und „offene“ Lebensstile sind, ebenso wie die
Koexistenz aller möglichen Sub- und sogar Gegenkulturen und sozialen Bewegungen, dage-
gen ein typisches Produkt der Moderne – und des Überflusses. Die Partizipation an den ver-
schiedenen Systemen der Nutzenproduktion steht – im Prinzip – jedem offen, sie ist – Gott
sei Dank – freiwillig oder – allenfalls – durch spezielle Lebenslagen nahegelegt, aber eben
nicht institutionell vorgeschrieben oder gar erzwungen. Daher löst sich auch im Verlauf der
Modernisierung die feste Verbindung von funktionaler und kultureller Differenzierung mit
der sozialen Ungleichheit mehr und mehr auf. Und „Abweichung“ und „Innovation“ und die
Etablierung von Devianz-Bereichen sind inzwischen sogar fast zu „normalen“, ja nachgerade
zu erwarteten Erscheinungen geworden.
Modernisierung ist, etwas vereinfachend gesagt, auch ein Prozeß der zuneh-
menden Entkopplung von funktionaler und kultureller Differenzierung, der
Normalisierung des Unnormalen und des Unerwarteten und der „Individuali-
sierung“ der Menschen in der Weise, daß sich die Muster des Einbezugs der
Akteure in die funktionalen Sphären, die kulturellen Milieus und die Devianz-
Bereiche zunehmend überkreuzen, vervielfältigen, „entstandardisieren“ und
„entstrukturieren“. Mit einer Auflösung der Strukturen der sozialen Differen-
zierung hat das alles aber nichts zu tun. Soziale Systeme gibt es immer. Ohne
sie wäre die Reproduktion von Mensch und Gesellschaft unmöglich. Das gilt
ganz besonders für die sozialen Systeme der funktionalen Differenzierung, auf
denen die gesellschaftliche Organisation der Nutzenproduktion in den moder-
nen Gesellschaften immer stärker beruht. Ganz im Gegenteil: Die funktiona-
len Sphären werden in der modernen Gesellschaft in ihren Codierungen im-
112 Die Konstruktion der Gesellschaft
mer zugespitzter und immer verbindlicher, jedenfalls für die, die an diesen
Systemen teilnehmen, die also nicht weitgehend aus allen funktionalen Sphä-
ren der Gesellschaft ausgeschlossen sind, wie die Langzeitarbeitslosen und die
Obdachlosen, oder die es nicht vorziehen, ganz aus ihnen „auszusteigen“.
Kapitel 4
Soziale Ungleichheit
Die soziale Ungleichheit bezeichnet, ganz allgemein, das Ausmaß und die Art
der Unterschiedlichkeiten in typischen gesellschaftlichen Lagen der Akteure
der Bevölkerung einer Gesellschaft – im Unterschied zur sozialen Differen-
zierung, die die Unterschiedlichkeit einer Gesellschaft in Hinsicht auf ihre so-
zialen Systeme beschreibt (vgl. dazu auch schon Kapitel 2 und 3 in diesem
Band).1 Was dann mit sozialer Ungleichheit gemeint ist, läßt sich besonders
anschaulich mit der Verteilung einer der wichtigsten Größen der sozialen Un-
gleichheit, dem Einkommen, über die Bevölkerung einer Gesellschaft zeigen.
1
Vgl. zu den verschiedenen theoretischen Begriffen, den empirischen Formen und der Ent-
wicklung von Theorien zur sozialen Ungleichheit u.a. die folgenden Sammelbände: David
V. Glass und René König (Hrsg.), Soziale Schichtung und soziale Mobilität, Sonderheft 5
der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Köln und Opladen 1961;
Reinhard Bendix und Seymour M. Lipset (Hrsg.), Class, Status, and Power. Social
Stratification in Comparative Perspective, 2. Aufl., New York und London 1966; Celia S.
Heller (Hrsg.), Structured Social Inequality. A Reader in Comparative Social Stratificati-
on, New York und London 1969; David B. Grusky (Hrsg.), Social Stratification. Class,
Race and Gender in Sociological Perspective, Boulder, San Francisco und Oxford 1994.
Vgl. dazu ferner auch etwa: Reinhard Kreckel, Politische Soziologie der sozialen Un-
gleichheit, Frankfurt/M. und New York 1992; Harold R. Kerbo, Social Stratification and
Inequality. Class Conflict in Historical and Comparative Perspective, 3. Aufl., New York
u.a. 1996. Zur Struktur der sozialen Ungleichheit in der Bundesrepublik Deutschland vgl.
u.a. Wolfgang Glatzer und Wolfgang Zapf (Hrsg.), Lebensqualität in der Bundesrepublik.
Objektive Lebensbedingungen und subjektives Wohlbefinden, Frankfurt/M. und New Y-
ork 1984; Rainer Geißler, Die Sozialstruktur Deutschlands. Zur gesellschaftlichen Ent-
wicklung mit einer Zwischenbilanz zur Vereinigung, 2. Auflage, Opladen 1996; Bernhard
Schäfers, Sozialstruktur und sozialer Wandel in Deutschland, 7. Aufl., Stuttgart 1998. Für
den historischen und den internationalen Vergleich siehe: Gerhard Lenski, Macht und Pri-
vileg. Eine Theorie der sozialen Schichtung, Frankfurt/M. 1973; Gøsta Esping-Andersen
(Hrsg.), Changing Classes. Stratification and Mobility in Post-Industrial Societies, Lon-
don, Newbury Park und New Delhi 1993; Yossi Shavit und Hans-Peter Blossfeld (Hrsg.),
Persistent Inequality. Changing Educational Attainment in Thirteen Countries, Boulder,
San Francisco und Oxford 1993. Und für einen knappen Überblick über den Problembe-
reich siehe Anthony Giddens, Soziologie, Graz und Wien 1995, Kapitel 17: Schichtung
und Klassenstruktur, S. 229-268.
Soziale Ungleichheit 115
Einkommen? Das sieht man nicht so leicht. Sehen wir uns nun aber einmal die
Tabelle 4.1 an. Sie enthält drei verschiedene Arten der Verteilung des gesam-
ten zur Verfügung stehenden Einkommens für eine – der Übersichtlichkeit
halber – in Quintile eingeteilte Bevölkerung.
Tabelle 4.1: Drei verschiedene Grade der sozialen Ungleichheit am Beispiel der Ein-
kommensverteilung (dargestellt in Prozent des Gesamteinkommens)
Das Ausmaß der sozialen Ungleichheit läßt sich für eine kontinuierliche Vari-
able, wie es das Einkommen eine ist, sehr anschaulich auch über die sog. Lo-
renzkurve darstellen (Abbildung 4.2).
Soziale Ungleichheit 117
ser Linie gibt dann das Ausmaß der Ungleichheit an: Je größer die Ungleichheit, desto stärker
ist die Abweichung von der Diagonalen.
Neben den tabellarischen und graphischen Darstellungen des Grades der sozi-
alen Ungleichheit gibt es auch statistische Kennziffern. Die bekannteste davon
ist der sog. Gini-Index.
Der Gini-Index G mißt den Grad der Ungleichheit einer Verteilung als Anteil der Fläche zwi-
schen der Lorenzkurve und der Diagonalen zu der gesamten Fläche unterhalb der Diagonalen
im Diagramm. Wenn A die Fläche zwischen der Diagonalen und der Lorenzkurve ist, und B
die restliche Fläche unterhalb der Lorenzkurve, dann gilt für den Gini-Index G=A/(A+B). Er
nimmt Werte zwischen 0 für die vollkommene Gleichheit und 1 für die vollkommene Un-
gleichheit an (vgl. Lambert 1993, S. 35). Bei vollkommener Gleichheit gilt ja A=0 und daher
G=0/(0+B)=0, und bei vollkommener Ungleichheit B=0 und somit G=A/(A+0)=1.
Harold H. Kerbo hat mit Hilfe des Gini-Index die Entwicklung der Einkom-
mensungleichheit in den USA zwischen 1947 und 1992 beschrieben und eine
interessante Entwicklung festgestellt (vgl. Abbildung 4.3). Das Diagramm
zeigt, daß nach 1947 die Einkommensungleichheit der amerikanischen Fami-
lien zunächst, in der Tendenz wenigstens, abgenommen hat, und etwa Mitte
der 60er Jahre, zu den Zeiten von Lassie und Fury und des sog. Baby-Booms,
ihren Tiefstand erreichte, danach aber wieder anstieg. Und daß sie mit dem
Beginn der „Reaganomics“ in den 80er Jahren ein bis dahin nicht gekanntes
Ausmaß erreichte. Das Einkommen ist natürlich nicht die einzige Ressource
oder Eigenschaft, die für die soziale Ungleichheit unter den Menschen von
Bedeutung ist. Aber es ist schon ein sehr wichtiger Aspekt, und zu Recht be-
faßt sich die Soziologie der sozialen Ungleichheit stets auch mit dieser zu-
nächst ja „nur“ ökonomischen Dimension der Situation der Akteure.
Soziale Ungleichheit 119
fassend auch noch Abschnitt 9.1 in diesem Band). Die Gründe für diese Be-
deutung der sozialen Ungleichheit haben wir schon kennengelernt: Die soziale
Ungleichheit spiegelt die Unterschiede in der gesellschaftlichen Lage be-
stimmter Untergruppen der Bevölkerung einer Gesellschaft und der (eventuel-
len) Spaltung der Gesellschaft in dann auch typisch unterschiedliche soziale
Kategorien, Kollektive bzw. Aggregate.3 Die gesellschaftliche Lage bildet da-
bei für die Akteure in dem betreffenden Kollektiv eine typische und objektive
Strukturierung ihrer Situation – mit den entsprechenden Folgen für das Han-
deln und die daran – mehr oder weniger: unmittelbar – anknüpfenden gesell-
schaftlichen Folgen – ganz so, wie sich das im Prinzip Karl Marx für die sozi-
alen Klassen ausgedacht hat (vgl. dazu bereits Kapitel 12 in Band 1, „Situati-
onslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Um bei dem Bei-
spiel des Einkommens zu bleiben: Wer mehr als 25000 DM im Monat ver-
dient, hat ganz andere Möglichkeiten und Interessen als derjenige, der sich
mit weniger als 1000 DM begnügen muß. Und je nachdem wie sich die (Su-
per-) Reichen und die Armen auch in der zahlenmäßigen Größenordnung in
einer Gesellschaft verteilen, ist mit jeweils unterschiedlichen gesellschaftli-
chen Vorgängen zu rechnen: In der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ der
50er Jahre geht es anders zu als in der Zwei-Drittel-Gesellschaft der Neuen
Mitte, und in einer in eindeutige soziale Klassen gespaltenen Gesellschaft an-
ders als in einer, in der sich alle Zugehörigkeiten „überkreuzen“ und „indivi-
dualisieren“, in der sich dadurch die verschiedenen Konfliktfronten sozusagen
gegenseitig neutralisieren und sich die gesellschaftlichen Widersprüche, wie
es hier und da so schön geschwollen und hochstaplerisch heißt, „polykontex-
tural“ aufheben.
Die gesellschaftliche Lage eines Akteurs bestimmt sich, ganz allgemein, zu-
nächst einmal aus allen möglichen Eigenschaften. Insofern befinden sich Alte
und Junge, Bayern und Niedersachsen, Einheimische und Ausländer, Ärzte
und Aldi-VerkäuferInnen, Opernliebhaber und Anhänger der Volksmusik,
Verdienstkreuzträger und Vorbestrafte in jeweils für sich gleichen und von
3
Vgl. dazu etwa die Einteilung der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland in typi-
sche „soziale Lagen“ bei Walter Müller, Klassenlagen und soziale Lagen in der Bundes-
republik, in: Johann Handl, Karl Ulrich Mayer und Walter Müller (Hrsg.), Klassenlagen
und Sozialstruktur. Empirische Untersuchungen für die Bundesrepublik Deutschland,
Frankfurt/M. und New York 1977, 27ff. Vgl. dazu auch noch das Konzept des Klassen-
schemas in Abschnitt 4.2 unten.
120 Die Konstruktion der Gesellschaft
Bei der Frage, welche Eigenschaften oder Merkmale wann und warum „rele-
vant“ sind und wann und warum nicht, hilft uns jedoch – wieder einmal und
trotz ihrer generalisierten „Leere“ – die theoretische Grundlage des Modells
der soziologischen Erklärung: Die WE-Theorie und das Konzept der sozialen
Produktionsfunktionen. Danach läßt sich – zunächst noch ganz allgemein –
festhalten, daß die „Relevanz“ sich daran mißt, ob die betreffenden Eigen-
schaften die Erwartungen und Bewertungen der Akteure systematisch und ty-
pischerweise strukturieren – oder nicht. Ob das der Fall ist, ist dann durch die
„Verfassung“ der Gesellschaft und die damit zusammenhängenden sozialen
Produktionsfunktionen „definiert“: Um welche primären Zwischengüter bzw.
kulturellen Ziele geht es jeweils? Welche indirekten Zwischengüter bzw.
institutionalisierten Mittel sind geeignet und/oder erlaubt?
Das variiert, wie wir wissen, freilich von Gesellschaft zu Gesellschaft und
wandelt sich natürlich auch fortwährend. Immer jedoch ist das Kriterium die
Bedeutung der Eigenschaft für die Nutzenproduktion: Solange die Nasenlänge
nicht systematisch mit der Nutzenproduktion in einer Gesellschaft zusam-
menhängt, etwa derart, daß jene mit langen Nasen besonders geachtet sind
oder das Wahlrecht haben und jene mit kurzen Nasen eben nicht, solange kon-
stituiert die Nasenlänge keine gesellschaftlich „relevante“ gesellschaftliche
Lage. Wenn doch, sieht die Sache natürlich anders aus. Und was gelegentlich
für das biologische Merkmal „Hautfarbe“ gilt, könnte, wer wollte das
auschließen?, irgendwann auch einmal für die Nasenlänge gelten. Es ist eine
Soziale Ungleichheit 121
cen ergeben sich ganz unterschiedliche Konstellationen von Kooperation und Konflikt zwi-
schen den verschiedenen sozialen Gruppen und ganz unterschiedliche Muster der gesell-
schaftlichen Entwicklung insgesamt.
Genau darin aber liegt die Bedeutung der sozialen Ungleichheit für das Ver-
ständnis der sozialen Vorgänge in einer Gesellschaft: Die Akteure in den je-
weiligen gemeinsamen gesellschaftlichen Lagen drängen – je nach Interesse
und Möglichkeit – auf den Erhalt günstiger und auf die Verbesserung ungüns-
tiger Aspekte ihrer gesellschaftlichen Lage. Und sie produzieren darüber jene
Spannungen und jene Dynamik, von der die sozialen Systeme der Gesellschaft
leben und über die sie sich fortwährend wandeln.
Demographische Ungleichheit
Die Reproduktion der Bevölkerung einer Gesellschaft beruht auf drei grund-
legenden Prozessen (vgl. dazu auch Teil E: „Die Bevölkerung der Gesell-
schaft“, der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“): Geburten, Sterbefälle und
Migration. Aus den damit zusammenhängenden demographischen Vorgängen
ergeben sich bereits einige grundlegende Eigenschaften und gesellschaftliche
Lagen: die Ungleichheit nach Geschlecht und nach Alter zunächst, und dann
auch nach regionaler Herkunft, nach ethnischer, rassischer oder nationaler
Zugehörigkeit.
Demographische Merkmale sind zunächst „soziologisch“ noch bedeutungslos, weil sie „an
sich“ ja noch nicht mit der Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Systemen verbunden sind.
Empirisch sind sie jedoch oft mit gewissen Positionen, Zuschreibungen, Opportunitäten, Er-
wartungen, Vorlieben, Fertigkeiten, Gewohnheiten verbunden, wie über die Geschlechterrol-
len oder über die Zugehörigkeit zu ethnischen Subkulturen. Die Ungleichheit nach demogra-
phischen Merkmalen ist aber auch schon in ihrer „vor“-soziologischen Form durchaus von
Bedeutung. Die zahlenmäßige Verteilung der Geschlechter ist zum Beispiel nicht immer und
nicht für alle Altersgruppen gleich. Und daher gibt es manchmal Über- oder Unterschüsse,
etwa auf dem Markt der Partnerschaften – mit den entsprechenden Folgen für die Chance, ei-
nen Partner zu finden, oder für das Risiko der Ehescheidung beim sog. marriage squeeze.
Ähnliches gilt auch schon für die Wirkung der schieren Größenverhältnisse etwa zwischen
ethnischen Gruppen und der Wahrscheinlichkeit für interethnische Beziehungen (vgl. dazu
insgesamt auch noch Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grund-
lagen“): Wenn die ethnischen Gruppen in etwa gleichverteilt sind, ist die Wahrscheinlichkeit
für das Verbleiben in den Gruppen schon strukturell höher als in dem Fall, daß es Minderhei-
ten und Mehrheiten gibt. Wer als einziger Eskimo in Deutschland einen Partner finden will,
muß eine interethnische Beziehung aufnehmen. Diese, mit der Reproduktion der Bevölkerung
einer Gesellschaft zusammenhängenden Formen der Ungleichheit, seien als demographische
Ungleichheit bezeichnet.
Soziale Ungleichheit 123
Funktionale Ungleichheit
Die funktionalen Sphären existieren als soziale Systeme nur über das an den
jeweiligen funktionalen Imperativen orientierte Handeln von Akteuren, wenn-
gleich natürlich nicht immer der gleichen Akteure. Die „Verbindung“ zwi-
schen den funktionalen Sphären und den Akteuren sind die Positionen inner-
halb der jeweiligen funktionalen Sphären, etwa die eines Bundeskanzlers in
der Regierung, eines Realschülers im System der Realschulen, eines Müll-
werkers bei der Müllabfuhr, eines Kranken im Krankenhaus, oder eines Kochs
in einer Klosterküche. Die Inklusion der Akteure in die jeweiligen sozialen
funktionalen Sphären erfolgt dann durch irgendeine Plazierung in die jeweili-
gen funktionalen Sphären, etwa durch die Wahl zum Bundeskanzler, durch
den Besuch der Realschule, durch die Vermittlung zur Müllabfuhr, durch die
Überweisung in ein Krankenhaus durch den Hausarzt oder durch die Ent-
scheidung des Abts, daß der stets etwas grüblerische Bruder Johannes am bes-
ten wohl in der Klosterküche aufgehoben sei (vgl. dazu auch noch Kapitel 5
über „Inklusion und Exklusion“ in diesem Band). Das Handeln der über die
Positionsübernahme in die funktionalen Sphären inkludierten individuellen
Akteure ist dann typischerweise durch die mit der jeweiligen Position verbun-
denen sozialen Rollen und das damit verknüpfte Rollenhandeln bestimmt (vgl.
dazu auch noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ aus-
führlich).
Das hat natürlich Folgen für die Eigenschaften der individuellen Akteure:
Sie haben aktuell einen bestimmten Positions- und Rollensatz, und sie verfü-
124 Die Konstruktion der Gesellschaft
Kulturelle Ungleichheit
Auch die kulturellen Milieus gibt es als soziale Systeme nur über das Handeln
von individuellen Akteuren, die dem jeweiligen Code des Handelns, dem je-
weiligen kulturellen Fokalobjekt also, folgen, etwa einem bestimmten Stil des
Malens im „Expressionismus“ oder der Kleidung und des Schminkens in der
Kultur des Rokoko. Die strukturelle Verbindung zwischen den kulturellen Mi-
lieus als sozialen Systemen und den individuellen Akteuren erfolgt insbeson-
dere durch den Prozeß der kulturellen Sozialisation, der sich im Verlaufe der
Beteiligung an dem jeweiligen kulturellen Milieu ergibt (vgl. dazu auch noch
Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“): die Einübung in
die zum jeweiligen kulturellen Milieu gehörenden Orientierungen, Stilisie-
rungen und Handlungsweisen als Folge der Beteiligung an der jeweiligen Le-
bensweise bzw. Szene. Diese Sozialisation kann natürlich auch als Übernah-
me des jeweiligen Stils aus den Medien oder durch Beobachtung und Imitati-
on erfolgen. Das Ergebnis der kulturellen Sozialisation sind für die individuel-
len Akteure eine ganz bestimmte kulturelle Biographie und der Erwerb von
mehr oder weniger festen kulturellen Dispositionen eines bestimmten Habitus
und Geschmacks und einer bestimmten Wertorientierung. Aus der Verteilung
typischer kultureller Biographien und kultureller Dispositionen über die Be-
völkerung einer Gesellschaft entstehen wiederum ganz typische kulturelle La-
gen und typische kulturelle Kategorien von individuellen Akteuren mit typi-
Soziale Ungleichheit 125
schen Mustern von Lebensführung und Lebensstil. Und die können sich natür-
lich mit den oben besprochenen funktionalen gesellschaftlichen Lagen bzw.
Kategorien überkreuzen oder in typischer Weise kombinieren – wie bei dem
muslimischen türkischen Müllwerker oder dem katholischen bayerischen
CSU-Funktionär. Das Ergebnis ist diesmal eine bestimmte Struktur der kultu-
rellen Ungleichheit.
Normative Ungleichheit
Ganz analog zur Inklusion der Akteure in die funktionalen Sphären und kultu-
rellen Milieus sieht die Verbindung zwischen den Devianz-Bereichen und den
individuellen Akteuren aus. Die strukturelle Verbindung ist die – wie auch
immer „frei“ entschiedene, nahegelegte, zugeschriebene, erzwungene oder
wegen Mangels an Alternativen unvermeidliche – Zugehörigkeit zu einer Sub-
oder Gegenkultur bzw. die Beteiligung an einer sozialen Bewegung mit ihren
jeweiligen Oberzielen und Codierungen. Daran schließt sich ein ganz be-
stimmtes abweichendes Verhalten der individuellen Akteure an, ein damit
verknüpftes Muster der aktuellen Devianz, eine bestimmte, von außen vorge-
nommene Zuschreibung, etwa der Beteiligung an einer Straftat oder der Eti-
kettierung als „Drogenfreak“, und eine damit verbundene, oftmals durch die
soziale Umgebung zunehmend aufgezwungene Devianz-Karriere im Lebens-
lauf. Und daraus wiederum ergeben sich ebenfalls wieder typische gesell-
schaftliche Lagen und Kategorien: Typische normative gesellschaftliche La-
gen bzw. deviante Kategorien – etwa eine solche irgendeines Musters der
Abweichung von der Konformität mit den kulturellen Zielen und institutiona-
lisierten Mitteln der Gesellschaft, wie bei den farbigen Ghettobewohnern in
Harlem, im Unterschied zur überwiegenden Konformität damit, etwa bei den
White-Anglo-Saxon-Protestants in den USA und ihrer doppelbödigen Entrüs-
tung über Bill und Monica und die Zigarre im Weißen Haus. Und so ergibt
sich, ganz ähnlich wie zuvor bei der funktionalen und der kulturellen Un-
gleichheit, ein typisches Muster der normativen Ungleichheit unter den Men-
schen einer Gesellschaft.
126 Die Konstruktion der Gesellschaft
Eine Zusammenfassung
Abb. 4.4: Die Inklusion der Akteure in die sozialen Systeme der sozialen Differen-
zierung und Formen der sozialen Ungleichheit
Soziale Ungleichheit 127
Die soziale Ungleichheit in einer Gesellschaft ergibt sich also unmittelbar aus
der Struktur der sozialen Differenzierung und den Mustern der Inklusion der
Akteure der Bevölkerung einer Gesellschaft in die verschiedenen sozialen Sys-
teme, die die soziale Differenzierung der Gesellschaft ausmachen (vgl. dazu
vor allem Kapitel 5 in diesem Band noch näher).
Biographische Ungleichheit
Nicht nur die aktuelle Mitgliedschaft in einem sozialen System bestimmt also
die gesellschaftliche Lage, sondern das tun auch die Folgen der früheren Mit-
gliedschaften: Man erwirbt etwa als Generaldirektor oder Minister Vermögen
und Pensionsansprüche und hat dann von der Mitgliedschaft auch nach dem
Ausscheiden aus dem Amte etwas. Man internalisiert in der Familie bestimm-
te Werte und Gewohnheiten – und bleibt dabei, auch wenn man längst ir-
gendwo anders lebt. Und eine Jugendsünde mit der entsprechenden Vorstrafe
bleibt unter Umständen auch dann noch ein schlimmer Makel, wenn man
längst ein anderes Leben führt. Kurz: Die Mitgliedschaften zu den Systemen
der funktionalen, kulturellen und normativen Differenzierung bestimmen ganz
allgemein und nachhaltig die Biographie der Akteure und erzeugen auf diese
Weise auch Unterschiede in der gesellschaftlichen Lage der Akteure. In der
Zusammenfassung in Abbildung 4.4 war daher entsprechend auch von funkti-
onalen, kulturellen und normativen Biographien die Rede. Die aus den Bio-
graphien der Akteure entstehende Art der sozialen Ungleichheit sei als bio-
graphische Ungleichheit bezeichnet.
Es ist die Unterschiedlichkeit der Akteure in den Mustern ihrer Biographien. Denn auch über
den Lebenslauf hinweg entstehen ja gesellschaftliche Lagen, und frühe Ereignisse haben oft
eine lebenslange Auswirkung. Etwa: Man wird als Junge oder Mädchen geboren, wird katho-
lisch oder evangelisch getauft, kommt in den Kindergarten und in die Schule, macht eine
Lehre oder das Abitur oder beide nicht, ergreift einen Beruf oder nicht, heiratet oder nicht,
bekommt Kinder oder nicht, wird geschieden oder nicht, wird arbeitslos oder wechselt den
Beruf, steigt auf oder ab, wird straffällig oder nicht, wird krank oder bleibt gesund, wird
frühverrentet oder scheidet erst mit 65 aus dem Berufsleben aus – und stirbt irgendwann und
ist dann meist, ganz zuletzt, noch (oder wieder) Teil eines der wichtigsten Funktionssysteme
der Gesellschaft: der Religion.
4
Ronald Hitzler und Anne Honer, Bastelexistenz. Über subjektive Konsequenzen der Indi-
vidualisierung, in: Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim (Hrsg.), Riskante Freihei-
ten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt/M. 1994, S. 311; Hervor-
hebung im Original.
Soziale Ungleichheit 129
Ein höheres Einkommen und ein Abitur zählen eben mehr als ein niedrigeres
Einkommen und der Hauptschulabschluß, ein Asylbewerber hat nur einge-
schränkte Rechte und „zählt“ daher weniger, etwa wenn es um politische Ent-
scheidungen geht, und ein Müllwerker hat ein geringeres Prestige als, sagen
wir wieder, ein Filialleiter bei Edeka. Aus den derart unterschiedlich bewerte-
ten gesellschaftlichen Lagen ergibt sich dann die vertikale Ungleichheit der
Bevölkerung der Gesellschaft.
Die soziale Bewertung der Eigenschaften und Ressourcen erfolgt über drei
Kriterien: Prestige, Privilegien und Macht.
Prestige ist die gesellschaftlich geteilte Wertschätzung, die ein Akteur mit
der Kontrolle der jeweiligen Ressource oder Eigenschaft unmittelbar erhält.
Prestige kann nicht „verordnet“ werden. Es ist der kulturelle Reflex der Be-
wunderung oder der Anerkennung gewisser Leistungen von Personen oder
Personengruppen mit gewissen Eigenschaften, etwa die Heldentaten eines
Häuptlings, dessen Ruhm sich dann auf seine Familie und schließlich auf die
soziale Kategorie aller Häuptlinge überträgt (vgl. dazu auch bereits den Ex-
kurs über die Ehre in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziel-
len Grundlagen“).
Privilegien sind besondere Rechte (aller Art), über die ein Akteur verfügt,
wenn er die jeweilige Ressource kontrolliert, sei es über Zuschreibungen oder
über gewisse Leistungen, die als Bedingung für die Verleihung des Privilegs
gelten. Die Vergabe von Privilegien beruht insbesondere auf den institutionel-
len Regeln einer Gesellschaft: Das Wahlrecht hat hierzulande nur jemand, der
die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, und wer seine Schwiegermutter er-
mordet und deshalb lebenslänglich ins Gefängnis geht, verliert meist auch sei-
ne bürgerlichen Ehrenrechte. Die Verleihung oder Verweigerung von Rechten
ist eine „rechtlich“ geregelte Angelegenheit, die in erster Linie von der
jeweils etablierten Herrschaft in einer Gesellschaft abhängt (vgl. dazu auch
schon Abschnitt 4.2 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Spezi-
ellen Grundlagen“).
Prestige und Privilegien sind, theoretisch und oft auch empirisch, unabhängig voneinander:
Ein eingebürgerter türkischer Arzt hat zwar die deutsche Staatsangehörigkeit und genießt dar-
130 Die Konstruktion der Gesellschaft
darüber auch gewisse Privilegien, wie die Möglichkeit der Ernennung zum Beamten, rangiert
als Türke aber nicht sehr hoch auf der Prestigeskala der ethnischen Gruppen, kann das jedoch
durch sein Prestige als Arzt wieder wettmachen. Auf dieser Unabhängigkeit beruht der Sinn
der Konstruktion der sog. Schicht-Indizes, in denen Aspekte von Prestige und Privilegien
(und von Macht) buchstäblich addiert werden und sich gegenseitig „ausgleichen“ können
(vgl. dazu auch noch Abschnitt 4.3 in diesem Band).
Prestige und Privilegien sind stets „abgeleitete“ Größen. Sie beruhen – letzt-
lich – auf der Macht der Akteure mit den betreffenden Eigenschaften. Macht
ist, wie wir aus Abschnitt 4.2 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, die-
ser „Speziellen Grundlagen“ schon wissen, der Grad der Kontrolle von für
andere interessante Ressourcen (vgl. dazu auch noch Band 3, „Soziales Han-
deln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Sie ist daher, anders als
das Prestige und die Privilegien, keine Angelegenheit ausschließlich der kul-
turell verankerten „Werte“ und der herrschaftlich abgesicherten institutionel-
len Regeln, sondern zuerst eine Frage der Verteilung der materiellen Ressour-
cen, der Verteilung von Interesse und Kontrolle der Eigenschaften und Res-
sourcen eben. Und die Kontrolle der interessanten Eigenschaften und Res-
sourcen kann sich auch ganz unabhängig von kulturellen Bewertungen oder
besonderen institutionellen Regeln verteilen: Das Know-How des dringend
benötigten Klempners oder die begehrte Ware des an sich etwas windigen
Händlers verschafft – jenseits von Prestige und Privilegien – stets Vorteile bei
der Bewertung ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Lage. Sie haben ihren Kun-
den ganz einfach in der Hand. Und der hofiert sie schließlich auch, obwohl er
sie nicht sonderlich schätzt, und sie gesellschaftlich vielleicht sogar richtig
marginalisiert sind.
Die Ungleichheitsstruktur
Die Ungleichheit einer Gesellschaft besteht dann aus der Kombination der
verschiedenen Dimensionen der horizontalen und der vertikalen sozialen Un-
gleichheit. Die verschiedenen Dimensionen der horizontalen Ungleichheit –
die demographische, biographische, funktionale, kulturelle und normative
Ungleichheit also – und die vertikale Dimension von Prestige, Privilegien und
Macht können dabei in nahezu beliebiger Weise kovariieren.
Es gibt zum Beispiel Gesellschaften, in denen die Zugehörigkeit zu den funktionalen Sphären
fest mit gewissen Lebensweisen und darüber dann auch typischen Lebensstilen verbunden
und in einer klaren Rangordnung angeordnet sind – wie beim Adel auf der einen und bei den
Bauern auf der anderen Seite in den Feudalgesellschaften des Mittelalters. Ähnliches gilt für
die Kastengesellschaft Indiens oder auch für die Bundesrepublik Deutschland mit ihrer türki-
schen Subnation. Es gibt aber auch Gesellschaften, in denen alle diese Dimensionen ausei-
nanderfallen, etwa derart, daß auch die Bankdirektoren nach Mallorca fahren, und die Arbei-
Soziale Ungleichheit 131
ter in die Oper gehen (vgl. dazu auch noch Abschnitt 9.2 in diesem Band). Das Auseinander-
fallen von horizontaler und vertikaler sozialer Ungleichheit und die Entstandardisierung bei
der biographischen Ungleichheit wird manchmal auch als „Individualisierung“ bezeichnet: Im
Prinzip könnte jeder einzelne Akteur eine ganz eigene Kombination von gesellschaftlichen
Lagen aufweisen, bei der sich die vertikale Bewertung als ein Sammelindex der Bewertung
der einzelnen Eigenschaften und Ressourcen ergibt – etwa ein Index von Einkommen, Bil-
dung und Berufsprestige (vgl. dazu auch noch die Abschnitte 4.3 und 4.5 unten).
Die Vieldimensionalität der sozialen Ungleichheit ist zunächst eine bloß theo-
retische Größe, die sich aus der Überkreuzung der verschiedenen Dimensio-
nen in der Horizontalen und der Vertikalen als n-dimensionaler Merkmals-
raum ergibt (vgl. dazu auch schon den Exkurs über Typenbildung in Band 1,
„Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). In den empi-
risch vorfindbaren Gesellschaften sind keineswegs alle Felder besetzt, und es
kommt meist zu deutlichen Kovariationen und Clusterbildungen bei den ge-
sellschaftlichen Lagen und darüber zu starken Vereinfachungen in der Un-
gleichheitsstruktur. Diese Strukturierung ist in den Feudal- und den Klassen-
gesellschaften am stärksten, und sie schwächt sich – wenigstens in der Ten-
denz – in den funktional differenzierten, komplexen Gesellschaften der Mo-
derne, teilweise bedeutend, ab. Vor diesem Hintergrund der Beobachtung un-
terschiedlicher Arten und Grade der Strukturierung der sozialen Ungleichheit,
sind in der Soziologie verschiedene Konzepte der sozialen Ungleichheit ent-
wickelt worden.
Die wichtigsten Konzepte der sozialen Ungleichheit sind – nach wie vor – die der sozialen
Klasse und des Standes (bzw. das der Kaste als einem Spezialfall des Standes). Klasse und
Stand bilden die theoretische Begrifflichkeit der „klassischen“ Soziologie und sind insbeson-
dere mit den Namen Karl Marx und Max Weber verbunden. Ergänzt und teilweise abgelöst
wurden diese Konzepte bei der Beschreibung der Verhältnisse in den komplexen Gesellschaf-
ten der Gegenwart zunächst durch das Konzept der sozialen Schichtung und – daran an-
schließend und auf die „Individualisierung“ der Gesellschaft und auf die „Entstandardisie-
rung“ der Ungleichheitsstruktur reagierend – durch verschiedene Konzepte der sog. Neuen
Sozialen Ungleichheit, wie etwa das der „sozialen Lagen“ oder das der diversen „sozialen Mi-
lieus“. In grober Weise lassen sich die verschiedenen Konzepte und die Entwicklungen von
der „klassischen“ zur „neuen“ sozialen Ungleichheit mit der Antwort von Max Weber auf
132 Die Konstruktion der Gesellschaft
Karl Marx ordnen.5 Für Marx war die Vorstellung von der sozialen Ungleichheit als einem
auf eine Grundgröße, dem Konzept der Klasse, reduzierbaren, allein materiellen bzw. ökono-
mischen und daher eindimensionalen und die Gesellschaftsentwicklung fest determinierenden
Phänomen selbstverständlich. Weber hat dem die universale Wichtigkeit auch anderer Kon-
zepte der sozialen Ungleichheit, besonders die des Konzeptes des Standes, die Bedeutung der
Ehre und der kulturellen Dimensionen und damit die Mehrdimensionalität der sozialen Un-
gleichheit und den Gedanken gegenübergestellt, daß sich auch aus sehr deutlichen Verhält-
nissen der sozialen Ungleichheit nicht sicher ableiten läßt, was mit der Gesellschaft insgesamt
geschieht.
Klassen und Stände sind die „klassischen“ Konzepte der Soziologie der sozia-
len Ungleichheit. Heute sind sie etwas aus der Mode geraten, weil man viel-
fach meint, daß sich die damit verbundenen klaren Grenzen und Zugehörig-
keiten mit den dafür jeweils typischen Dispositionen, Orientierungen und
Handlungen aufgelöst hätten. Inwieweit das auch immer stimmt: Auch die
„neuen“ sozialen Ungleichheiten beziehen sich auf Elemente der Klassen und
der Stände. Und weil die Konzepte der Klasse und des Standes so einfach zu
verstehen sind, kann man an ihnen nach wie vor am besten verdeutlichen,
worum es bei der soziologischen Analyse der Ungleichheitsstrukturen eigent-
lich geht.
Klassen
5
Vgl. dazu etwa: Kreckel 1992, Kapitel II, Absatz 1: Marx und Weber: Klasse und Stand,
S. 52-66.
Soziale Ungleichheit 133
Für Karl Marx bestimmen sich, soweit sei an das Kapitel 12 in Band 1, „Situ-
ationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ erinnert, die sozia-
len Klassen über die „Dieselbigkeit der Revenuen“, und im Fall der kapitalis-
tischen Gesellschaftsordnung über den Arbeitslohn und das Kapital. Hieraus
ergeben sich eindeutige und einfache, letztlich stets sogar nur: dichotome,
Spaltungen in der Gesellschaft – „gesellschaftliche Widersprüche“ –, die
zwingend auf ihre Überwindung drängen. Max Weber versteht den Begriff
nicht grundsätzlich anders, differenziert ihn aber in verschiedene Arten von
„Klassenlagen“ und nimmt ihm vor allem die Ausschließlichkeit und die ge-
schichtsprägende Kraft, die für das Konzept von Marx so kennzeichnend
war.6 Eine „Klassenlage“ bedeutet für Weber daher auch nur eine „typische
Chance“ (Weber 1972, S. 177; Hervorhebung nicht im Original) und kein fes-
tes Schicksal. Es die typische Chance von Akteuren
„1. der Güterversorgung,
2. der äußeren Lebensstellung,
3. des inneren Lebensschicksals ... .“ (Ebd.)
Eine Klasse ist dann „jede in einer gleichen Klassenlage befindliche Gruppe
von Menschen“ (ebd.) nach ähnlicher „Verfügungsgewalt“ und „Verwertbar-
keit“ von „Gütern“, also: nach ähnlichen sozialen Produktionsfunktionen, so
wie wir das schon in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziel-
len Grundlagen“ allgemein und auch für den Klassenbegriff von Marx fest-
gehalten hatten. Weber unterscheidet daran anschließend zunächst zwei Arten
von Klassen: Die Besitzklasse und die Erwerbsklasse. Also:
„a) Besitzklasse soll eine Klasse insoweit heißen, als Besitzunterschiede die Klassenlage pri-
mär bestimmen.
6
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5.
Aufl., Tübingen 1972 (zuerst: 1922), S. 177ff., 531ff. Vgl. zu den beiden Klassenkonzep-
ten u.a auch: M. Rainer Lepsius, Soziale Ungleichheit und Klassenstrukturen in der Bun-
desrepublik Deutschland. Lebenslagen, Interessenvermittlung und Wertorientierungen, in:
Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Klassen in der europäischen Sozialgeschichte, Göttingen
1979, S. 167ff., S. 192ff.
134 Die Konstruktion der Gesellschaft
b) Erwerbsklasse soll eine Klasse insoweit heißen, als die Chancen der Marktverwertung
von Gütern oder Leistungen die Klassenlage primär bestimmen.“ (Ebd; Hervorhebungen
im Original)
Daneben benennt Weber noch eine dritte Art der Klasse, die „soziale Klasse“:
c) Soziale Klasse soll die Gesamtheit derjenigen Klassenlagen heißen, zwischen denen ein
Wechsel
$. persönlich,
%. in der Generationenfolge
leicht möglich ist und typisch stattzufinden pflegt.“ (Ebd., S. 177; Hervorhebungen im
Original)
Das ist eine ganz andere Sache. Hier wird nicht auf die Art der Reproduktion
der Gruppen abgestellt, sondern auf die Offenheit der Klassengrenzen und die
Möglichkeit der Mobilität. Weber nimmt mit dem Begriff der „sozialen Klas-
se“ ganz offensichtlich das Konzept der sozialen Schichtung vorweg (vgl. da-
zu noch Abschnitt 4.3 gleich unten, sowie Abschnitt 4.5).
Insoweit sind die Vorstellungen von Marx und Weber also noch ganz ähn-
lich. Bei allem anderen aber unterscheiden sie sich sehr: Für Weber gibt es in-
nerhalb gegebener Klassen immer auch – mehr oder weniger große – wirksa-
me Varianzen. Das Klasseninteresse ist aus der Klassenlage nicht eindeutig
ableitbar. Und ob es zu einer Vergemeinschaftung oder gar Politisierung der
Klassen kommt, ist für ihn vollkommen offen und von einer Vielzahl speziel-
ler Umstände abhängig:
„Es sind nach dieser Terminologie eindeutig ökonomische Interessen, und zwar an die Exis-
tenz des ‚Markts‘ gebundene, welche die ‚Klasse‘ schaffen. Gleichwohl aber ist der Begriff
‚Klasseninteresse‘ ein vieldeutiger und zwar nicht einmal eindeutig empirischer Begriff, so-
bald man darunter etwas anderes versteht als: die aus der Klassenlage mit einer gewissen
Wahrscheinlichkeit folgende faktische Interessenrichtung eines gewissen ‚Durchschnitts‘ der
ihr Unterworfenen. Bei gleicher Klassenlage und auch sonst gleichen Umständen kann näm-
lich die Richtung, in welcher etwa der einzelne Arbeiter seine Interessen mit Wahrscheinlich-
Soziale Ungleichheit 135
keit verfolgen wird, höchst verschieden sein, je nachdem er z.B. für die betreffende Leistung
nach seiner Veranlagung hoch, durchschnittlich oder schlecht qualifiziert ist. ... . Eine noch so
starke Differenzierung der Lebenschancen an sich gebiert ein ‚Klassenhandeln‘ (Gemein-
schaftshandeln der Klassenzugehörigen) nach allen Erfahrungen keineswegs. Es muß die Be-
dingtheit und Wirkung der Klassenlage deutlich erkennbar sein. .... . Jede Klasse kann also
zwar Träger irgendeines, in unzähligen Formen möglichen ‚Klassenhandelns‘ sein, aber sie
muß es nicht sein, und jedenfalls ist sie selbst keine Gemeinschaft, und es führt zu Schiefhei-
ten, wenn man sie mit Gemeinschaften begrifflich gleichwertig behandelt.“ (Ebd., S. 532f.;
Hervorhebungen so nicht im Original)
Wenn man die Unterschiede der Klassenkonzepte von Marx und Weber auf
einen Punkt bringen will, dann ist es wohl der, daß für Weber, dem Ansatz
seiner „verstehenden“ Soziologie folgend, die Klassenlage nur ein anderer
Ausdruck für bestimmte Konstellationen von auch subjektiv erst noch zu deu-
tenden Situationen ist, dann aber nichts weiter fest determiniert, geradeso, wie
das ja auch das Modell der soziologischen Erklärung tut, das ja immer auch
noch die Situationsdefinitionen, die Subjektivitäten und die Entscheidungen
der Akteure und die aggregierten Folgen beachtet. Und daß Marx, den Weber
offenbar meint, als er in diesem Zusammenhang von einem „begabten Schrift-
steller“ spricht, diese Subjektivierungen nur als „falsches Bewußtsein“ hätte
ansehen können, und damit – letztlich – eine ziemlich einfach gestrickte de-
terministische Situationslogik verbunden hätte.
Stände
Unter Ständen werden Aggregate mit einer ähnlichen „ständischen Lage“ be-
zeichnet. Auch hierfür gibt es die „klassische“ Formulierung bei Max Weber:
„Ständische Lage soll heißen eine typisch wirksam in Anspruch genommene positive oder
negative Privilegierung in der sozialen Schätzung, begründet auf:
a) Lebensführungsart, – daher
b) formale Erziehungsweise, ... ;
c) Abstammungsprestige oder Berufsprestige.“ (Ebd., S. 179; Hervorhebungen im Original)
Die ständische Lage drückt sich ferner noch vor allem in gewissen Formen
der sozialen Beziehungen, – „connubium“ und „Kommensalität“, Binnen-
gruppenheirat und nach innen gerichtete Interaktionen also – und der „mono-
polistischen Appropriation von privilegierten Erwerbschancen“ bzw. „Er-
werbstätigkeiten“ (ebd.) aus. Die Grundlage der ständischen Ordnung bilden
also vier Elemente: eine spezifische, gesellschaftlich geteilte, positive oder
negative „soziale Einschätzung der Ehre“, also das typische Prestige eines be-
stimmten Standes, die „Zumutung einer spezifisch gearteten Lebensführung“
(ebd., S. 535; Hervorhebung im Original), die Monopolisierung bestimmter
136 Die Konstruktion der Gesellschaft
Kasten
Kasten sind „gesteigerte“ Spezialfälle der Stände.7 Es gibt bei ihnen beson-
ders deutlich und streng vorgeschriebene Formen der Lebensführung und des
sozialen Verkehrs, bestimmter Arten der Erwerbstätigkeit und – erst recht –
stark unterschiedlicher Grade der gesellschaftlich verteilten Ehre und des
Prestiges. Die ständische Abschließung und Ordnung wird – zusätzlich zu der
rechtlichen und konventionellen Absicherung der Stände – noch religiös legi-
timiert und auch dadurch rituell garantiert, daß jede physische Berührung mit
einem Mitglied einer niedrigeren Kaste für die Angehörigen einer höheren
Kaste als „Verunreinigung“ und als religiös zu sühnender Makel gilt. Die
ständische „Steigerung“ bei den Kasten besteht dazu noch darin, daß es – an-
7
Vgl. zum Konzept der Kaste etwa: Gerald D. Berreman, Caste, in: David L. Sills (Hrsg.),
International Encyclopedia of the Social Sciences, Band 2, New York 1968, S. 333ff.;
Adrian C. Mayer, The Indian Caste System, in: David L. Sills (Hrsg.), International En-
cyclopedia of the Social Sciences, Band 2, New York 1968, S. 339ff.; Günter Endruweit,
Kaste, in: Günter Endruweit und Gisela Trommsdorff (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie,
Band 2, Stuttgart 1989, S. 325-327; Ursula Sharma, Caste, Buckingham and Philadelphia
1999. Siehe natürlich auch Weber 1972, S. 536f.
Soziale Ungleichheit 137
ders als zwischen den Ständen durchaus und erst recht, wenngleich ohne
Zweifel immer noch in begrenztem Umfang, zwischen den Klassen – für die
Individuen keinerlei Möglichkeit der Mobilität oder eines sonstigen „exits“
aus dem System gibt. Kasten sind daher geradezu Extremfälle für die
Kovariation von Prestige, Bildung, Beruf, kulturellen Normierungen und
Gewohnheiten und der damit einhergehenden Statuskristallisation – wie sie in
der Tendenz nach auch für die Stände und für die Klassen typisch ist.
Daneben – genauer: darunter – gibt es dann noch, bekanntlich, die Parias, die
„Unberührbaren“, als die Bevölkerungsgruppe mit der niedrigsten sozialen
Position. Sie bilden keine Kaste und gelten damit als ganz außerhalb der Ge-
sellschaft stehend. Sogar ihren Schatten dürfen Angehörige der Kasten nicht
138 Die Konstruktion der Gesellschaft
berühren. Und noch heute gehen in manchen südlichen Regionen Indiens die
Leute nur Mittags aus, weil dann, wegen der kurzen Schatten, die Gefahr ei-
ner solchen Berührung mit dem Schatten der Unberührbaren noch am gerings-
ten ist. Die Parias üben nach wie vor die verachtetsten Berufe aus, wie Toten-
gräber oder Straßenfeger, und leben, immer noch, unter meist menschenun-
würdigen Bedingungen. Das Wahlrecht haben sie erst im neuen Indien erhal-
ten.
Empirisch ist das indische Kastensystem wesentlich differenzierter als die
Unterteilung in die geschilderten vier Kasten und die Unberührbaren. Es gibt
zwischen 3000 und 6000, auch regional sehr unterschiedliche, Unterkasten
mit z.T. noch wirksameren Grenzen als die zwischen den Hauptkasten. Inner-
halb der Kasten gibt es spezifische, auf die Förderung der Interessen der
Kastenmitglieder ausgerichtete Organisationen, teilweise eigene
Bildungseinrichtungen und Massenmedien, Sparvereine, Krankenhäuser,
Wohngemeinschaften und dergleichen. Auf diese Weise werden innerhalb des
Gefüges der zahllosen Unterkasten kollektive Auf- und Abstiege und die
Entstehung neuer Kastengliederungen möglich. Man vermutet, daß diese
„kollektive“ Flexibilität des indischen Kastensystems einer der Gründe dafür
ist, daß es sich bei aller, auch in Indien voranschreitenden, Modernisierung
bis heute hat erhalten können.
Kasten sind eine typische Folge der Vergesellschaftung von zunächst neben-
einander lebenden ethnischen Gruppen, die im Zuge dieser Vergesellschaf-
tung nach und nach typisch verschiedene Positionen auf der vertikalen Di-
mension von Prestige, Privilegien und Macht und gleichzeitig auf der horizon-
talen Dimension der funktionalen, kulturellen und normativen Ungleichheit
einnehmen, etwa in der Verteilung typischer, und zum Teil von den etablier-
ten Normen abweichender Berufstätigkeiten und Erwerbsarten auf die kultu-
rell unterschiedlichen ethnischen Gruppen:
„Die ‚Kaste‘ ist geradezu die normale Form, in welcher ethnische, an Blutsverwandtschaft
glaubende, das Konnubium und den sozialen Verkehr nach außen ausschließende Gemein-
schaften miteinander ‚vergesellschaftet‘ zu leben pflegen. ... Die zur ‚Kaste‘ gesteigerte ‚stän-
dische‘ und die bloß ‚ethnische‘ Scheidung differieren in ihrer Struktur darin, daß die erstere
aus dem horizontalen unverbundenen Nebeneinander der letzteren ein vertikales soziales
Uebereinander macht.“ (Weber 1972, S. 536; Hervorhebungen nicht im Original)
Ein interessantes Rätsel ist die – nach wie vor zu beobachtende – Stabilität der
Kastensysteme, einschließlich die der Systeme der ethnischen Schichtung. Für
das indische Kastensystem ist die Antwort verhältnismäßig naheliegend: Zwar
ist nach hinduistischem Glauben ein Aufstieg in eine höhere Kaste im Dies-
seits unmöglich, jedoch über den Umweg der Wiedergeburt – sofern im Dies-
seits alle religiösen Regeln befolgt wurden, wozu insbesondere die Fügung in
das Kastenschicksal gehört. Für die Quasi-Kasten-Systeme gibt es auch eine
naheliegende Antwort: Anders als der gesunde Menschenverstand glaubt, nei-
gen unterprivilegierte Gruppen, wie wir etwa schon aus Abschnitt 10.4 in
Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ wis-
sen, gerade nicht zu Rebellion oder gar Revolution, einfach weil sie an einen
Erfolg entsprechender Versuche vernünftigerweise nicht glauben können. Und
so bleibt meist alles beim alten, auch wenn die Ungleichheit und die damit
verbundene Ungerechtigkeit noch so schreiend sind (vgl. dazu auch noch Ka-
pitel 6 über die Integration der Gesellschaft in diesem Band). Und weil die
Menschen in den unteren und untersten Kasten ihre Unterprivilegierung und
die Aussichtslosigkeit einer Änderung zwar deutlich spüren, gleichwohl aber
nicht auf ein positives Selbstbild verzichten können, greifen sie typischerwei-
se zu einem naheliegenden Ausweg: Wenn schon ihr Reich nicht von dieser
8
Vgl. dazu auch Gerald D. Berreman, Caste in India and the United States, in: American
Journal of Sociology, 66, 1960, S. 120-127; Donald L. Noel, A Theory of the Origin of
Ethnic Stratification, in: Social Problems, 16, 1968, S. 157-172.
140 Die Konstruktion der Gesellschaft
Welt ist, dann gibt es wenigstens noch die glaubhafte Aussicht auf eine besse-
re Zukunft:
„Das Würdegefühl der negativ privilegierten Schichten kann sich naturgemäß [nur] auf eine
jenseits der Gegenwart liegende, diesseitige oder jenseitige Zukunft beziehen, es muß sich
mit anderen Worten aus dem Glauben an eine providentielle ‚Mission‘, an eine spezifische
Ehre vor Gott als ‚auserwähltes Volk‘, also daraus speisen, daß entweder in einem Jenseits
‚die letzten die ersten‘ sein werden oder daß im Diesseits ein Heiland erscheinen und die vor
der Welt verborgene Ehre des von ihr verworfenen Pariavolkes (Juden) oder -standes an das
Licht bringen werde.“ (Weber 1972, S. 536)
Am Beispiel der Kasten wird, wie wir sehen, jenes Problem am deutlichsten,
das mit jeder vertikalen sozialen Ungleichheit verbunden ist: die Hinnahme
einer einmal zugewiesenen und durch eigene Leistung oft kaum mehr zu ver-
ändernden sozialen Position der Unterprivilegierung. Es ist das Problem der
Integration einer vertikal nach Prestige, Privilegien und Macht gegliederten
Gesellschaft, und hier speziell das der Legitimation der (vertikalen) Ungleich-
heiten und der damit oft verbundenen – offenen wie versteckten – Ungerech-
tigkeiten.
Klassen sind wegen ihrer Verankerung in der Produktion und Verteilung von
materiellen Gütern Angelegenheiten der einfachen Aggregation und des ano-
nymen Marktes. Stände sind dagegen, wie wir oben schon festgehalten haben,
eher so etwas wie sehr große soziale Gruppen mit einer hohen Interaktions-
dichte nach innen, der teilweise extremen und gewollten Abgrenzung nach
außen und einer eigenen Gruppenidentität, dem sog. Standesbewußtsein. Es
sind, wie Max Weber feststellt,
„ ... im Gegensatz zu den Klassen, normalerweise Gemeinschaften, wenn auch oft solche von
amorpher Art.“ (Ebd., S. 534; Hervorhebungen nicht im Original)
Zwischen den Klassen als „anonymen“ Aggregationen und den Ständen als
„Gemeinschaften“ gibt es fraglos zahllose Zwischen- und Mischformen. Max
Weber hat etwa die folgende Beobachtung vermerkt:
„In der sog. reinen, d h. jeder ausdrücklich geordneten ständischen Privilegierung Einzelner
entbehrenden, modernen ‚Demokratie‘ kommt es z.B. vor, daß nur die Familien von annä-
hernd gleicher Steuerklasse miteinander tanzen (wie dies z.B. für einzelne kleinere Schweizer
Städte erzählt wird).“ (Ebd., S. 535)
Und genau deshalb kommt es gerade für die oberen Stände, die immer auch
viel mehr zu verlieren haben als nur ihre ständische Ehre, sehr darauf an, die
Formen der Lebensführung und des Lebensstils so zu kultivieren, daß sie
nicht so einfach mehr übernommen oder nachgeahmt werden können, wenn
man nicht von Geburt an dem betreffenden Stand zugehört: Über deren virtu-
ose Handhabung wird der „echte“ Adel leicht erkannt, ebenso wie der unge-
schickte Parvenü, der zwar vielleicht das Talent, das Wissen und das Geld hat,
aber, gottlob, nicht weiß, wie man sich benimmt (vgl. dazu auch schon den
Exkurs über die Ehre in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Spe-
ziellen Grundlagen“ und Abschnitt 3.2 in diesem Band über die Distinktion
durch Stilisierungen der Lebensführung und über die Bedeutung des sog. kul-
turellen Kapitals für die Schließung der Gruppen gegen unerwünschte Ein-
dringlinge).
Aber hilft das auf die Dauer gegen die unwiderstehliche Macht der Märk-
te? Karl Marx war der festen Überzeugung, daß sich im Verlaufe der kapita-
listischen Entwicklung die ständischen Unterschiede bald ganz auflösen wür-
den. Im Kommunistischen Manifest heißt es dazu ganz unmißverständlich:
„Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller ge-
sellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepo-
sche vor allen anderen aus. Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von alt-
ehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten,
ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird
142 Die Konstruktion der Gesellschaft
entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen
Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.“9
Diese Sicht war aus der Zeit heraus, in der Karl Marx lebte, nicht unverständ-
lich. Es war die Zeit des endgültigen Niedergangs und der Auflösung der mit-
telalterlichen Ständegesellschaft und des offenbar unaufhaltsamen Vordrin-
gens der „kalten Zweckrationalität kapitalistischen Wirtschaftens“ (Kreckel
1992, S. 64). Max Weber, der zu den Zeiten von Wilhelm Zwo im Deutschen
Kaiserreich lebte, hatte demgegenüber wieder eine ganz andere Erfahrung:
Der Kapitalismus hatte sich zwar durchgesetzt, aber es gab keine proletarische
Revolution. Eher ganz im Gegenteil: Es verbreitete sich ein chauvinistischer
Nationalismus gerade auch bei manchen Proletariern, die Zahl der Verwal-
tungsangestellten und der Beamten nahm zu, und es kam überall – beim Mili-
tär, im Bürgertum, ja selbst unter Wissenschaftlern – zu Erscheinungen, die
sich alle um „Ehre“, „Status“ und „Comment“ drehten. Man denke nur an die
Studentenverbindungen. Und was war der Hintergrund? Ganz offensichtlich
eine lange Periode des Friedens und der allmählichen Etablierung von ständi-
schen Verkehrskreisen mit den einträglichsten Querverbindungen hin und her
und quer durch die dann gar nicht mehr so anonymen Märkte: Mer kenne uns,
mer hellepe uns, wie man im Rheinland zu sagen pflegt. Kohl, also. Und wohl
auch daher gelangte Weber zu der folgenden Hypothese:
„Ueber die allgemeinen ökonomischen Bedingungen des Vorherrschens ‚ständischer‘ Gliede-
rung läßt sich ... allgemein nur sagen: daß eine gewisse (relative) Stabilität der Grundlagen
von Gütererwerb und Güterverteilung sie begünstigt, während jede technisch-ökonomische
Erschütterung und Umwälzung sie bedroht und die ‚Klassenlage‘ in den Vordergrund schiebt.
Zeitalter und Länder vorwiegender Bedeutung der nackten Klassenlage sind in der Regel
technisch-ökonomische Umwälzungszeiten, während jede Verlangsamung der ökonomischen
Umschichtungsprozesse alsbald zum Aufwachsen ‚ständischer‘ Bildungen führt und die sozi-
ale ‚Ehre‘ wieder in ihrer Bedeutung restituiert.“ (Weber 1972, S. 539)
9
Karl Marx und Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: Marx-Engels-
Werke, Band 4, Berlin 1964, S. 465.
Soziale Ungleichheit 143
Und daraus ergibt sich ein Dilemma zwischen den beiden Prinzipien des
Marktes und der Ehre bzw. des Standes und der Klasse, das wohl unauflöslich
ist:
„Die fortlaufenden Reallokationen und Reorganisationen, die zur höchstmöglichen Befriedi-
gung aller unserer anderen individuellen Bedürfnisse (seien sie materieller Art oder nicht) nö-
tig sind, sind für gewöhnlich nicht mit den stabilen oder dauerhaften persönlichen Beziehun-
gen vereinbar, welche die meisten Menschen zu schätzen und zu brauchen scheinen.“ (Ebd.)
Und, so sei hinzugefügt, welche sie nur dann in einer Klasse finden, wenn die
unversehens in einen Stand mutiert ist. Wenigstens eine Zeit lang war das so
im Ruhrgebiet mit den katholischen polnischen Bergarbeitern, denen die Fa-
milie Krupp erfolgreich einreden konnte, daß ihre schlecht bezahlte Arbeit
tatsächlich ein „Gebet“ sei.
Klassen, Stände – und besonders natürlich die Kasten – haben scharfe und nur
schwer überwindbare Grenzen. Sie unterteilen eine Gesellschaft in deutlich
unterschiedene Segmente, in eine klare vertikale Rangordnung des wirtschaft-
lichen Wohlstands, des Prestiges, der Privilegien, der Macht und der sozialen
Chancen ganz allgemein, sowie in deutliche horizontale Unterschiede der In-
teressen, der Einstellungen und Mentalitäten, der alltäglichen Lebensführung,
der kulturellen Praktiken und der sozialen Beziehungen, teilweise sogar der
Devianz von den „herrschenden“ Normen einer Gesellschaft. Die sog. moder-
10
Mancur Olson, Umfassende Ökonomie, Tübingen 1991, S. 184; Hervorhebung nicht im
Original.
144 Die Konstruktion der Gesellschaft
ne Gesellschaft mit der für sie typischen funktionalen Differenzierung, mit der
damit möglichen und auch einhergehenden Mobilität und einer vielfältigen
Kreuzung der sozialen Kreise hat – wenigstens in der Tendenz – diese Seg-
mentierungen gemildert und die einfache vertikale Anordnung der Bevölke-
rung in ein vieldimensionales System unterschiedlicher Bewertungskriterien
ohne scharfe Grenzen gebracht. Die Reaktion der Soziologie darauf war zu-
nächst ein – nach Marx und Weber – neues theoretisches Konzept: das Kon-
zept der sozialen Schichtung.
Gesellschaftliche Entwicklungen
Die Einführung des Begriffs der sozialen Schichtung wurde durch gewisse ge-
sellschaftliche Entwicklungen in den westlichen Industrieländern sozusagen
erzwungen. Die Klassenstruktur dort wurde im Laufe des 19. und des 20.
Jahrhunderts, anders als Karl Marx gemeint hatte, nicht homogener und nicht
einfacher, sondern differenzierter und komplexer, und die Klassengegensätze
spitzten sich nicht zu, sondern flauten deutlich ab. Drei spezielle Vorgänge
sind zu nennen.
Das ist erstens die Beobachtung, daß die Varianzen in den Klassen (und den verbliebenen
Ständen), anders als Karl Marx geglaubt hatte, eher zu- als abgenommen haben. Es gab bald
Arbeitereliten und leitende Angestellte in den kapitalistischen Betrieben einerseits und Klein-
unternehmer und „Tagewerker für eigene Rechnung“ andererseits, die jeweils nicht so recht
in das dichotome Klassenschema von Marx paßten. Ebenfalls anders als Karl Marx das ver-
mutet hatte, versanken zweitens auch die sog. Mittelklassen keineswegs in die Proletarisie-
rung und/oder lösten sich gar auf. Es gab weiterhin ein Kleinbürgertum, selbständige Bauern
und Handwerker, mehr und mehr traten Angestellte und Beamte in Erscheinung, und es er-
folgte ein bis heute nicht beendeter Aufstieg der Manager, der technischen Intelligenz und der
Personen in den Dienstleistungsberufen. Die dritte Entwicklung war die höhere Durchlässig-
keit der Klassen- und Standesgrenzen und die damit einsetzende Mobilität. Das war die Folge
der Umstellung der Positionszuweisung von askriptiven Kriterien auf solche der „Leistung“
in der Folge der steigenden funktionalen Differenzierung. Und die Folge davon waren die
Zunahme von Statusinkonsistenzen und die tendenzielle Auflösung der Gemeinsamkeiten in
Interessen, Bewußtsein, Mentalität, Habitus und Verkehrskreisen – weil die Menschen nun
immer weniger nur in konzentrischen Kreisen ihrer sozialen Zugehörigkeit zu verkehren ge-
zwungen waren.
Empirisch sind diese Vorgänge nicht zu bezweifeln. In den 50er und 60er Jah-
ren entstand hierzulande zeitweise sogar die Illusion von der „nivellierten
Mittelstandsgesellschaft“, und heute wird die komplette „Individualisierung“
der Menschen und die endgültige Auflösung der Klassen und der Stände be-
schworen (vgl. dazu auch noch Abschnitt 4.4 und den Exkurs über die Frage,
ob die sogenannte Individualisierung überhaupt eine ist, unten in diesem
Soziale Ungleichheit 145
Band). Das war und ist zwar stark übertrieben, verweist aber auf eine nicht
länger nur als „Anomalie“ zu betrachtende generelle und globale Entwick-
lung: die Modernisierung der Gesellschaften und der Welt insgesamt.
Theodor Geiger
Als einer der ersten Soziologen hat Theodor Geiger mit seinem Buch über
„Die soziale Schichtung des deutschen Volkes“ von 1932 auf diese Vorgänge
reagiert.11 Soziale Schichten werden von Theodor Geiger zunächst ebenfalls
wieder als „klassifizierte Menschen“ bzw. als „‚Bevölkerungsteile‘“ verstan-
den, und sie bilden auch noch relativ fest umrissene „soziale Blocks“ gemein-
samer „Lagen“, „Interessen“ und „Mentalitäten“. Aber das Bild ist nun kom-
plizierter geworden:
„Auch hier wird es nicht bei einem einfachen Schichtungsbild bleiben; mannigfach wie die
widerstreitenden Bestrebungen und Interessen sind die entsprechenden Schichtungen; sie ü-
berkreuzen, durchdringen und überdecken einander. ... . Die Zahl der möglichen Reihen sol-
cher Schichten ist also grundsätzlich nicht begrenzt; soviel Antagonismen und Varianten ich
im Wirtschaftsdenken der Bevölkerung beobachte, soviel verschiedene Schichtungen finde
ich vor.“ (Ebd., S. 5; Hervorhebung im Original)
11
Theodor Geiger, Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Soziographischer Versuch
auf statistischer Grundlage, Stuttgart 1932.
Soziale Ungleichheit 147
die – weiterhin – am alten Konzept der Klasse bzw. des Standes. Und entspre-
chend wurden Schichtungsmodelle vorgeschlagen, ebenso wie sogenannte
Klassenschemata.
Das Modell von Theodor Geiger ist ein früher Vorschlag für ein Klassenschema gewesen: Es
geht weiter von relativ fest umrissenen und durch qualitativ unterschiedliche Lebenslagen ge-
kennzeichnete „Blocks“ aus. Und mit der Anordnung in der vertikalen Dimension ist immer
auch eine Komponente der horizontalen und diskontinuierlichen Unterschiedlichkeit der
Gruppen verbunden. Die Schichtungsmodelle sehen die Gesellschaft anders: Es gibt keine
klaren Grenzen (mehr), die Unterschiede zwischen den Menschen sind eigentlich gar keine
„Gruppen“-Unterschiede mehr, sie sind quantitativ und kontinuierlich und sie beschränken
sich auf die vertikale Dimension eines aus verschiedenen Bewertungsdimensionen zusam-
mengezogenen Index des sozio-ökonomischen „Status“. Die zu Beginn des Kapitels bespro-
chene Verteilung des Einkommens ist das Modell, das der Idee der Schichtung zugrundeliegt:
die Unterteilung in Einkommensgruppen, die man eher aus pragmatischen als aus inhaltlichen
Gründen vornimmt.
Kurz: Es geht bei den Klassenschemata, anders als bei den Schichtungsmodel-
len, nicht bloß um einen eindimensionalen und kontinuierlichen „Status“, ge-
messen etwa an Einkommen, Berufsprestige und Bildung, sondern weiterhin
um diskontinuierliche Strukturierungen der Situation auch inhaltlicher Art mit
systematischer Bedeutung für die Interessen, die Vorlieben, das Wissen, die
Einstellungen, die Gewohnheiten und das Handeln der Menschen – wenn-
gleich nicht mehr nur für zwei „Klassen“.
Schichtungsmodelle
Das Konzept der sozialen Schichtung ist am Bild der geologischen Formatio-
nen orientiert: Es gibt über- und untereinander gelagerte Formationen unter-
schiedlicher Gesteinsarten mit unterschiedlich scharfen Übergängen zwischen
den verschiedenen „Schichten“. In Analogie dazu versuchen die Schich-
tungsmodelle, die Struktur und die „Breite“ der „Lagerungen“ der gesell-
schaftlichen Schichtung verschiedener Statusgruppen in der Vertikalen zu be-
schreiben. Dazu gibt es seit langem eine Reihe von Vorschlägen.12 Ein oft
präsentiertes älteres Beispiel ist die manchmal so genannte Bolte-Zwiebel,
und ein aktuelleres die, so wollen wir das Modell nennen, Geißler-Residenz.
Alle diese Modelle kommen, so sei schon angemerkt, nicht ohne Anleihen an
den Konzepten von Klasse und Stand aus.
12
Vgl. dazu etwa Karl Martin Bolte, Dieter Kappe und Friedhelm Neidhardt, Soziale Un-
gleichheit, 4. Aufl., Opladen 1975, S. 94-99; Karl Martin Bolte und Stefan Hradil, Soziale
Ungleichheit in der Bundesrepublik Deutschland, 5. Aufl., Opladen 1984, Kapitel 6.
Soziale Ungleichheit 149
einen alten und einen neuen Mittelstand. Die Statuszonen sind – mehr oder weniger: willkür-
lich – unterteilte Ebenen auf der vertikalen Dimension, ein „Kontinuum von Schichtballungen
mit unscharfen Grenzen“, wie Bolte, Kappe und Neidhardt (1975, S. 99) schreiben. Ober-
schicht und sozial Verachtete bilden jeweils eine eigene Statuszone, und die anderen drei Ka-
tegorien verteilen sich, teilweise überlappend, auf die restlichen fünf Statuszonen der oberen
Mitte, der mittleren Mitte, der untersten Mitte bzw. des oberen Unten und des Unten.
Das Hauptproblem bei der Bolte-Zwiebel ist, wie bei den Schichtungsmodel-
len insgesamt, daß die Kategorisierungen theoretisch und auch empirisch
nicht eindeutig begründet sind, und daß daher die Einteilungen in die Katego-
rien und „Statuszonen“ einer gewissen Willkür nicht entbehren. Es ist die
Folge des durch die gesellschaftlichen Entwicklungen nahezu erzwungenen
Verzichts auf ein deduktives Kriterium der Klasseneinteilung. Und das hat den
Schichtungsmodellen alsbald den Vorwurf der „bürgerlichen“ Beliebigkeit, ja
der ideologischen Verschleierung der wirklichen Ungleichheitsstrukturen ein-
gebracht.
Die Geißler-Residenz
und Wände“ sind (noch) durchlässiger geworden, weil sich die Schichten
noch stärker überlappen und überkreuzen als früher und weil es vielerlei Än-
derungen und Lockerungen gibt:
„Um im Bild des Hauses zu bleiben: die Stockwerke und Zimmer der Residenz sind nicht
durch durchgehende Decken und Wände gegeneinander abgeschottet, sondern verstellbare
Wände, Raumteiler und halboffene Etagen zeigen viele Durch- und Übergänge an. Die Bin-
nenarchitektur des Hauses ermöglicht heute noch stärker als in den 60er Jahren ‚offenes
Wohnen‘ in nicht deutlich voneinander getrennten Etagen und Räumen.“ (Geißler 1996, S.
87)
Das alles heißt aber nicht, daß nun alles im Fluß sei und jeder sich seinen
Platz frei suchen könnte. Nach wie vor sind die Menschen genötigt, sich „vor-
nehmlich in bestimmten Wohnbereichen aufzuhalten.“ (Ebd.) Und das liegt,
so möchte man ergänzen, nach wie vor insbesondere an der Einnahme von
Positionen im System der Produktionsverhältnisse und den dadurch eröffneten
oder verschlossenen Möglichkeiten, sich im Haus der Gesellschaft zu bewe-
gen. Denn die Mieten in den verschiedenen Zimmern der Residenz sind sicher
nicht alle gleich hoch.
Das ist die Logik der Bildung der sog. Schicht-Indizes. Sie bestimmen in einer
– auf unterschiedliche Weise durchgeführten – Summation den Status der ein-
zelnen Akteure in Hinsicht auf seine ökonomische und sonstige soziale Lage,
wozu üblicherweise das Einkommen, das Berufsprestige und die Bildung ge-
hört.
Ein Schicht-Index ist nichts anderes als die Abbildung bestimmter Kombinationen der einzel-
nen Schichtungsdimensionen in das System der (natürlichen) Zahlen (vgl. dazu schon den
Exkurs über Typenbildung in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen
Grundlagen“).14 Üblicherweise werden den verschiedenen Werten der Einzeldimensionen zu-
nächst Ziffern zugeordnet, die dann für jeden Einzelfall über die betrachteten Dimensionen
der Ungleichheit – Einkommen, Berufsprestige und Bildung – addiert werden. Personen mit
gleichen Summen dieses Sammelindex wird dann ein gleicher „Rang“ oder „Status“ zugeord-
net. Wenn es beispielsweise fünf Einkommensklassen gibt, fünf Grade des Berufsprestiges
und fünf Stufen der Bildung, dann hätte die Skala die Extremwerte 3 und 15. Jede dazwi-
schen liegende Kombination mit der gleichen Summe, etwa: acht, hätte den gleichen Status-
wert. Dazu könnte es daher über ganz verschiedene Zusammensetzungen von Einkommen,
Berufsprestige und Bildung kommen. Etwa: Rang 5 im Einkommen, Rang 2 im Prestige und
Rang 1 in der Bildung bei einem Schrotthändler, gegenüber Rang 1 im Einkommen, Rang 2
im Prestige und Rang 5 in der Bildung bei einem arbeitslosen Doktor der Philosophie. Die
Messung der einzelnen Dimensionen, die Zuweisung der Rangziffern und die schließliche Art
der Summation sind alles andere als trivial. Insbesondere die Bestimmung des Berufspresti-
ges ist schwierig und umstritten, allein deshalb, weil das Berufsprestige in besonderem Maße
gesellschaftlichen Wandlungen unterliegt und zwischen den Gesellschaften z.T. stark variiert.
14
Die wichtigsten Vorschläge zur Messung des Berufsprestiges stammen von Otis D. Dun-
can und Donald J. Treiman. Vgl. Otis D. Duncan, A Socioeconomic Index for all Occupa-
tions, in: Albert J. Reiss, Jr., (Hrsg.), Occupations and Social Status, New York 1961, S.
109-138; Donald J. Treiman, Occupational Prestige in Comparative Perspective, New Y-
ork, San Francisco und London 1977.
Soziale Ungleichheit 153
Klassenschemata
Erik O. Wright
Karl Marx schon mußte sich mit der Frage auseinandersetzen, ob es „wirk-
lich“ immer nur zwei Klassen sind, die eine Gesellschaft kennzeichnen und
deren Antagonismus die Geschichte vorantreibt. Die oben geschilderten ge-
sellschaftlichen Entwicklungen, insbesondere die fortdauernde Existenz und
sogar das Aufblühen der „Mittelklassen“ hat daher die traditionelle Klassen-
theorie nach Marx bald in ernste Ungelegenheiten gebracht. In der Folge hat
es eine Reihe von Versuchen gegeben, der empirisch unabweisbaren Existenz
weiterer Klassenkategorien Genüge zu tun und das einfach-dichotome Klas-
154 Die Konstruktion der Gesellschaft
15
Erik O. Wright, Class Boundaries in Advanced Capitalist Societies, in: New Left Review,
98, 1976, S. 3-41; Eric O. Wright, Varieties of Marxist Conceptions of Class Structure, in:
Grusky (1994), S. 94-98. Vgl. dazu auch die Zusammenfassung bei Johannes Berger, Was
behauptet die Marxsche Klassentheorie – und was ist davon haltbar?, in: Hans-Joachim
Giegel (Hrsg.), Konflikt in modernen Gesellschaften, Frankfurt/M. 1998, S. 30ff.
Soziale Ungleichheit 155
kapitalistische einfache
Produktionsweise Warenproduktion
Bourgeoisie
Kleinunternehmer
Manager und
Kleinbürgertum
leitende Angestellte
halbautonome
Lohnabhängige
Proletariat
Klassen
widersprüchliche Klassenlagen
Die Grundlage der Überlegungen von Erik O. Wright war in diesem Schema
die Annahme, daß Beziehungen der Dominanz in der Kontrolle von Geld,
physischem Kapital und Arbeit die Klassenlagen bestimmen. Später hat Erik
O. Wright, nach einer Auseinandersetzung mit John E. Roemer, seine alte
Auffassung zugunsten der von Roemer revidiert und ein anderes Klassen-
schema entwickelt.16
16
Erik O. Wright, A General Framework for the Analysis of Class Structure, in: Erik O.
Wright, The Debate on Classes, London und New York 1989, S. 3-43.
156 Die Konstruktion der Gesellschaft
Die Auseinandersetzung von Wright mit Roemer17 ging um die Frage, ob man die Klassen-
einteilung auf die Kategorie der Dominanz gründen dürfe oder ob nicht vielmehr dafür das
Konzept der Ausbeutung das geeignetere sei. Wright gibt schließlich zu, daß das Konzept der
Ausbeutung das angemessenere sei. Selten liest man von einem Wissenschaftler ein solch of-
fenes Bekenntnis zu einem eingesehenen Irrtum. Aber der Grund für das Umdenken wird
auch gleich klar: Wright hielt die Konzeption von Roemer schließlich für eine werksgetreuere
Fortsetzung der Marxschen Gedanken. Und genau darauf kam es ihm immer an: Den Mar-
xismus – mit allen seinen auch geschichtsphilosophischen Aussagen – gegen allen (spät-)-
kapitalistischen Augenschein zu retten. Also: doch wohl keine Einsicht, sondern ein beson-
ders raffinierter Fall von Unbeugsamkeit?
17
Vgl. John E. Roemer, A General Theory of Exploitation and Class, Cambridge, Mass.,
und London 1982; Erik O. Wright, The Status of the Political in the Concept of Class
Structure, in: Politics and Society, 11, 1982, S. 321-341.
Soziale Ungleichheit 157
Mit seinem Klassenschema wollte Erik O. Wright, wie man vermuten darf,
den Kern der Marxschen Gesellschaftstheorie retten. Deshalb interpretierte er
die von ihm unterschiedenen Klassen auch ganz „realistisch“: Es handele sich
bei aller Differenzierung nicht um bloße statistische Konstrukte, sondern um
„wirkliche“ und für die Chancen, die Interessen und das Handeln „relevante“
gesellschaftliche Lagen. Den empirischen Analysen zufolge, die Wright selbst
durchgeführt hat (vgl. die prozentualen Verteilungen der Klassen für die USA
und Schweden in der Abbildung 4.8), scheint es, wenigstens vor dem Hinter-
grund des so revidierten Klassenkonzeptes, in den fortgeschrittenen, spät- o-
der postkapitalistischen Gesellschaften tatsächlich weiterhin „Klassen“ mit
einiger Relevanz für die Interessen, die Einstellungen und das Handeln der
Menschen zu geben (vgl. Berger 1998, S. 34ff.). Von einem, wie manche et-
was vorschnell geglaubt haben, Ende der Klassengesellschaft kann also die
Rede kaum sein.
158 Die Konstruktion der Gesellschaft
Aber, das sieht man gleich, das Klassenschema, das für die Abbildung die-
ser Strukturen nötig ist, entbehrt deutlich jener zuspitzenden Einfachheit, die
für den spröden Charme der Marxschen Theorie so kennzeichnend war. Und
es ist in seiner Differenzierung nicht weit entfernt von den „bürgerlichen“
Modellen der sozialen Schichtung, gegen die es doch eigentlich gerichtet war.
Es hat den etwas naiven Modellen der Ober-Mittel-Unterschichten-
Unterscheidungen jedoch – mit Marx – etwas Wichtiges voraus: das Bemühen
um eine explizite theoretische Begründung. Und alleine das ist schon etwas,
was Anerkennung verdient, auch wenn man den marxistisch-dogmatischen
Geschmack der Beiträge von Wright nicht mögen sollte.
John H. Goldthorpe
Eine ganz ähnlich „objektivierende“ und auf spezifische Inhalte der „Klassen-
lage“ abstellende Position wie Erik O. Wright bezieht John H. Goldthorpe in
seiner Begründung für das von ihm entwickelte Klassenschema zur Analyse
der Mobilität. Es müsse sich, so schreiben er und sein schwedischer Kollege
Robert Erikson in ihrem Buch über die vergleichende Analyse der Mobilität
in den wichtigsten Industriegesellschaften, bei den Einteilungen, zwischen
denen die Mobilität der Akteure erfolgt, um weit mehr handeln als um die
bloße Anordnung auf einer vertikalen Achse.18 Denn die Mobilität sei kein
bloßer Auf- oder Abstieg auf einer eindimensionalen SES-Skala, sondern der
Wechsel des „involvements“ der Akteure in typischen Beziehungen, die sie
auf dem Arbeitsmarkt und in den Produktionseinheiten unterhalten. Im Unter-
schied zu den „social groupings found at similar levels of prestige or status“
in den eindimensionalen Schichtungsmodellen
„ ... classes ... can be expected to show some degree of homogeneity not only in the kinds and
levels of resources that their members command but further in their exposure to structural
changes and, in turn, in the range of at least potential interests that they may seek to uphold.“
(Erikson und Goldthorpe 1992, S. 31; Hervorhebungen nicht im Original)
18
Robert Erikson und John H. Goldthorpe, The Constant Flux. A Study of Class Mobility in
Industrial Societies, Oxford 1992. Vgl. zu einigen wichtigen Vorüberlegungen John
Goldthorpe, On the Service Class, its Formation and Future, in: Anthony Giddens und
Gavin Mackenzie (Hrsg.), Social Class and the Division of Labour. Essays in Honour of
Ilya Neustadt, Cambridge u.a. 1982, S. 162-185.
Soziale Ungleichheit 159
„ ... in terms of class categories – such as, say, those of industrial wage-workers, peasants or
farmers, salaried employees, proprietors and self-employed workers, etc. – rather than in
terms of categories which represent simply levels distinguished within a prestige or status
continuum.“ (Ebd., S. 32; Hervorhebung nicht im Original)
Form of regulation
of employment
Industry Agriculture Industry Agriculture Higher Lower Higher Lower Skilled Non-skilled Agriculture
grade grade grade grade
Abb. 4.10: Die Ableitung des Klassenschemas nach Goldthorpe (nach Erikson und
Goldthorpe 1992, S. 36)
Unterklassen (zu den römischen Ziffern siehe gleich unten). Besonders inte-
ressant ist dann die Begründung für die Differenzierung der Arbeitnehmer-
klassen nach den Arbeitsbeziehungen und der Form der Arbeitsverträge.
John H. Goldthorpe unterscheidet dabei zwei Arten von Tätigkeiten und dazugehörigen Ar-
beitsverträgen: einen „short-term and specific exchange of money for effort“ und einen „lon-
ger-term and generally more diffuse exchange.“ (Ebd., S. 41f.) Die letztere Art von Tätigkei-
ten beruht typischerweise auf delegierter Weisungsbefugnis und auf spezialisiertem Wissen.
Daher muß diesen Arbeitnehmern ein besonderes Vertrauen und eine gewisse Autonomie zu-
gestanden werden, die das für diese, kaum kontrollierbaren, Tätigkeiten unerläßliche „moral
commitment“ sichern. Das alles gilt für die erstere Art an Tätigkeiten nicht. Und aus dieser
grundlegenden Unterscheidung von zwei typisch verschiedenen Arten von Arbeitsbeziehun-
gen – spezifischer Tausch hier, generalisierter Tausch da zwischen Arbeitgebern und Arbeit-
nehmern (vgl. dazu auch noch Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“)
– entsteht eine grundlegende Differenzierung unter den Arbeitnehmern nach „labour
contract“ und nach „service class“ – und einer Gruppe von „intermediate“ Tätigkeiten dazwi-
schen. Im ersten Fall ist die Entlohnung unmittelbar auf die spezifische Leistung gerichtet,
etwa nach Stundenlohn oder Akkord, im zweiten Fall auf angemessenen Unterhalt, Pensions-
rechte oder Karriereaussichten. Es ist die Unterscheidung zwischen „arbeitenden“ Arbeitern
einerseits und dienstleistenden Angestellten (und Beamten) andererseits (vgl. dazu auch
Goldthorpe 1982, S. 167ff.).
manual workers“. Das dann auf sieben Klassen reduzierte Klassenschema ist
das in der empirischen Forschung wohl gebräuchlichste geworden. Es sieht so
aus (Abbildung 4.11):
Abb. 4.11: Das auf sieben Klassen reduzierte Klassenschema (nach Erikson und
Goldthorpe (1992, S. 37f.).
Deutlich wird erkennbar, daß es sich bei dem Klassenschema von John H.
Goldthorpe um mehr als bloß eine vertikale Statushierarchie handelt. Es gibt –
insbesondere mit der Berücksichtigung der beiden grundlegend verschiedenen
Arten von Arbeitsverträgen bei den Arbeitnehmern – deutlich unterschiedli-
162 Die Konstruktion der Gesellschaft
che materielle und institutionelle Vorgaben wieder, die, so kann man anneh-
men, für das sonstige alltägliche Leben und für die Interessenlage der Akteure
von hoher Bedeutung sind.
***
Mit dem Klassenschema von Wright teilt das Schema von Goldthorpe den
Anspruch, die objektive Lebenslage der Akteure zu treffen. Anders als bei
Wright ist das Klassenschema für Goldthorpe jedoch keine realistische „‚map‘
of the class structure“, sondern ein, wie er ausdrücklich schreibt, bloßes „in-
strument du travail“ (ebd., S. 46), das seine Berechtigung erst aus seinem
explanativen Erfolg bei der Analyse spezifischer Vorgänge, etwa von Mobili-
tätsprozessen, beziehen kann. Und allein deshalb ist es nicht „marxistisch“.
Aber das macht ja auch nichts weiter aus.
Karl Marx kannte nur die beiden Pole „Arbeit“ und „Kapital“, und sowohl die
Schichtungsmodelle wie die Klassenschemata halten im Prinzip daran fest,
daß sich hierüber die Ungleichheitsstruktur auch einer sich wandelnden und
offenen Gesellschaft vor allem bestimmt. Nach wie vor sind Eigentum und
Erwerbsarbeit die wichtigsten Quellen des Einkommens, und davon hängt ei-
gentlich immer mehr ab, in welcher „Lage“ sich die Menschen befinden. Die
gesellschaftliche Entwicklung der modernen Industriegesellschaften ist aber
noch durch eine andere Entwicklung gekennzeichnet: die zunehmende Bedeu-
tung des Staates, sei es als Wohlfahrtsstaat mit allen seinen Zwangsabgaben
und Transferleistungen, oder sei es als Arbeitgeber für die zahllosen Beamten
und anderen Beschäftigten im sog. Öffentlichen Dienst. Manche Autoren ha-
ben daraus den Schluß gezogen, neben die Kategorien von Arbeit und Kapital
den Staat als dritten Pol im Bunde bei der Konstituierung der sozialen Un-
gleichheit systematisch einzubeziehen.19 Und das ist auch nicht unplausibel:
Die Beschäftigten im Öffentlichen Dienst, immerhin mehr als 20% aller ab-
hängig Beschäftigten hierzulande, unterliegen eher politischen Vorgaben und
bürokratischen Reglements als dem Verkauf ihrer Arbeitskraft an einen Kapi-
talisten. Und diejenigen, die – direkt oder indirekt – vom Funktionieren des
Wohlfahrtsstaates abhängen, als Sozialhilfeempfänger, als Sozialarbeiter oder
19
So insbesondere Reinhard Kreckel, Klassentheorie am Ende der Klassengesellschaft, in:
Peter A. Berger und Michael Vester (Hrsg.), Alte Ungleichheiten - Neue Spaltungen,
Opladen 1998, S. 39; vgl. dazu ausführlicher Kreckel 1992, S. 149-165.
Soziale Ungleichheit 163
als Lehrer zum Beispiel, entwickeln daher auch ganz typische Interessen, die
durchaus quer zu den „alten“ Kategorien von Kapital und Arbeit verlaufen,
auch das Interesse, daß die von ihnen betreuten Problemlagen – die von Ju-
gendlichen, Drogensüchtigen, Behinderten, geschlagenen Frauen, Ausländern,
Alten – nicht übersehen und nicht vergessen werden. Und sie sorgen, wie alle
nur etwas dauerhaften „Klassen“, dafür, daß sich ihre speziellen Interessen
auch im politischen Raum bemerkbar machen.
Damit wird deutlich, daß sich die Konzepte der sozialen Ungleichheit als Be-
schreibungen typischer „Situationslogiken“ mit dem Wandel der Gesellschaf-
ten immer auch mitändern (müssen). Und das, was einst als richtig, angemes-
sen und erklärungskräftig galt, muß es nicht für alle Zeiten sein. Die durch
gewisse gesellschaftliche Wandlungen abgeschwächte „Relevanz“ bestimmter
Einteilungen darf dabei jedoch keinesfalls mit der Vorstellung verwechselt
werden, daß es jetzt plötzlich keine sozialen Strukturen mehr gäbe und die
Menschen irgendwie „individueller“ geworden wären. Es gibt, so könnte die
Gegenthese lauten, keine Abschwächung der Strukturen, sondern andere
Strukturen, und die soziologischen Konzepte, Begriffe und Operationalisie-
rungen haben dem Rechnung zu tragen.
Was damit gemeint ist, wird durch einige Überlegungen von Walter Müller
zur Modifikation des Goldthorpeschen Klassenschemas zur Erklärung des
klassenbedingten Wahlverhaltens besonders deutlich.20 Es geht um die Frage,
ob sich die Zusammenhänge zwischen einigen sozialstrukturellen Variablen
und dem Wahlverhalten, insbesondere aber der Einfluß der Klassenzugehö-
rigkeit, abgeschwächt haben, wie es einige Interpretationen und empirische
Studien zu der These von der Individualisierung der Gesellschaft nahelegen
(siehe dazu auch noch gleich unten Abschnitt 4.4)21. Es gebe, so heißt es dort
beispielsweise, keine fest umrissenen Interessen bestimmter Gruppen mehr,
sondern immer mehr nur noch „individuelle“ Nachfragen nach politischer Par-
20
Walter Müller, Klassenstruktur und Parteiensystem. Zum Wandel der Klassenspaltung im
Wahlverhalten, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 50, 1998, S.
6ff. insbesondere.
21
Rainer Schnell und Ulrich Kohler, Empirische Untersuchung einer Individualisierungs-
hypothese am Beispiel der Parteipräferenz 1953-1992, in: Kölner Zeitschrift für Soziolo-
gie und Sozialpsychologie, 47, 1995, S. 634-657.
164 Die Konstruktion der Gesellschaft
tizipation, und die Grünen seien jene Partei, die diesen geänderten Verhältnis-
sen eine politische Artikulation habe verleihen können. Dieser Deutung wi-
derspricht Müller ganz ausdrücklich und stellt ihr die These gegenüber, daß
die empirischen Ergebnisse zur angeblich nachlassenden Erklärungskraft der
Klassenzugehörigkeit (auf das Wahlverhalten) nur dadurch gefunden würden,
daß „keine adäquaten Begriffe und Operationalisierungen verwendet wurden.“
(Ebd., S. 6)
Das zentrale Argument setzt am Konzept der Dienstklasse des Goldthorpe-
schen Klassenschemas an (ebd., S. 7f.). Die Dienstklasse ist ja jene Klasse,
deren Tätigkeit durch delegierte Autorität, spezialisiertes Wissen und Experti-
se gekennzeichnet ist und deren Angehörige deswegen besondere Arbeitsbe-
ziehungen unterhalten, zu denen insbesondere Vertrauen und Loyalität von ih-
rer Seite und eine Bezahlung auf der Basis längerfristiger Leistungen sowie
einige Vergünstigungen von der Arbeitgeberseite her gehören (vgl. dazu die
Ausführungen gerade oben zum Goldthorpe-Schema). Daraus ergebe sich, so
hatte Goldthorpe gemeint, eine im Kern konservative Einstellung und die
Tendenz zur Wahl der entsprechenden Parteien. Müller schlägt nun eine Dif-
ferenzierung der Dienstklasse vor, weil er diese Gruppe für nicht (mehr) so
homogen hält, wie das Goldthorpe offenbar annimmt.
Er unterscheidet zunächst Akteure, die tatsächlich vorwiegend delegierte Autorität ausüben,
etwa in administrativen Hierarchien, die also eine Organisation leiten, Entscheidungen für die
Organisation treffen und die Arbeit anderer in der Organisation anweisen und überwachen.
Diese Gruppe ist also in der Tat an der Macht der betreffenden Organisation beteiligt und
sollte daher auch ganz ähnliche politische Auffassungen wie die „principals“ haben, in deren
Diensten sie stehen. Müller nennt diese Klasse die administrative Dienstklasse. Daneben
werden nun diejenigen unterschieden, die in ihrer Tätigkeit spezialisiertes Wissen und Exper-
tise anwenden. Für diese Gruppe werde nicht der Bezug auf „ihre“ Organisation allein wich-
tig, sondern die Orientierung an gewissen, für ihre Tätigkeit zentralen „professionellen“ Stan-
dards. Das aber durchbricht die einfache Loyalität zur Organisation und zum jeweiligen
Prinzipal und legt eine gewisse Autonomie in der Interpretation und der Ausübung der jewei-
ligen Tätigkeit nahe. Dieser Zug der Unabhängigkeit und der „individuellen“ Gestaltung der
Tätigkeit sei nun besonders hoch bei den sog. sozialen und kulturellen Diensten, etwa in der
medizinischen Versorgung, im kulturellen Bereich, in der Kunst, in den Medien, in der
Betreuung usw. Hier wirke sich zusätzlich aus, daß zum Erfolg der jeweiligen Tätigkeit oft
die Kooperation mit den Klienten und ein besonderes Einfühlungsvermögen wichtig seien.
Diese Gruppe nennt Müller zusammenfassend soziale Dienste. Daneben gebe es natürlich
noch die Experten im Technik- und Ingenieurswesen, die auch professionelles Wissen an-
wenden und auf Autonomie dringen, aber nicht unbedingt für ihre Klienten Partei ergreifen
(müssen), wenn sie Erfolg haben wollen. Das sind die Experten in dem (neuen) Schema von
Müller.
Nicht die Auflösung der Strukturen, sondern die Änderung ihrer Inhalte
und ihre Differenzierung sind also das, was die „Modernisierung“ der Gesell-
schaft ausmacht. Mit einem bei irgendwie „autonomen“ Individuen stattfin-
denden Wertewandel, bloßer politischer Sozialisation und Individualisierung
im Sinne von Vereinzelung hat das alles, so kann man jetzt annehmen, nicht
viel zu tun. Auch bei den Grünen und Alternativen hat das Sein das Bewußt-
sein bestimmt, und die Werte und die Lebensstile, etwa die des Postmateria-
lismus und der reflexiven Selbstbestimmung, sind nur der ideologische Wi-
derschein davon gewesen.
Obwohl man also sehr vorsichtig sein muß mit allen Thesen von der zuneh-
menden Irrelevanz der gesellschaftlichen Strukturen, kann jedoch auch nicht
bezweifelt werden, daß der strukturelle Wandel der Industriegesellschaften
Elemente enthält, die einen solchen Gedanken nahelegen können. Die gesell-
schaftliche Entwicklung ist ja ohne Zweifel auch durch eine weitgehende Auf-
lösung der hergebrachten ständischen Strukturen, eine starke Differenzierung
der „alten“ Klassen und eine weitgehende Entschärfung der Klassengegensät-
ze gekennzeichnet. Und diese Entwicklung ist auch nach dem Aufwachsen der
– so gar nicht – „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ der 50er und 60er Jah-
re und der Entdeckung des Schichtungskonzeptes nicht stehengeblieben.
Die Individualisierungsthese
Diese Entwicklungen in den 70er und den darauf folgenden Jahren lassen sich
unter dem Stichwort der Individualisierung zusammenfassen, mit dem Ulrich
Beck im Jahre 1983 in einem dann nachhaltig beachteten Beitrag mit dem Ti-
tel „Jenseits von Stand und Klasse“ diese schon länger verspürten Tendenzen
auf den Punkt brachte und seitdem in immer neuen Variationen essayistisch
weiterspinnt. Unter dem Begriff der „Individualisierung“ werden – mindes-
tens – sechs, teilweise sehr verschiedene, Vorgänge zusammengefaßt.22
22
Ulrich Beck, Jenseits von Stand und Klasse? Soziale Ungleichheiten, gesellschaftliche In-
dividualisierungsprozesse und die Entstehung neuer sozialer Formationen und Identitäten,
in: Reinhard Kreckel (Hrsg.), Soziale Ungleichheiten, Sonderband 2 der Sozialen Welt,
Göttingen 1983, S. 35-74. Vgl. dazu auch verschiedene Beiträge in Jürgen Friedrichs
(Hrsg.), Die Individualisierungs-These, Opladen 1998.
Soziale Ungleichheit 167
Der erste Vorgang betrifft zunächst das, was man sich vom Wortlaut des Titels des Aufsatzes
von Beck her sofort vorstellt: die weitere Entstrukturierung der sozialen Zugehörigkeiten der
Menschen, speziell die weitere Differenzierung, Dimensionierung, ja „Auflösung“ der „alten“
Kategorien der sozialen Ungleichheit von Klasse und Stand. Hinzu tritt die Hypothese von
der Entkopplung der Klassenlagen und der damit immer noch verbundenen Mentalitäten, kul-
turellen Vorlieben und Gewohnheiten, damit die von der Auflösung der klassen- und schicht-
spezifischen Subkulturen und der sogenannten „sozial-kulturellen Milieus“, etwa das sozial-
demokratische und das katholische, wie sie noch die Weimarer Republik stark geprägt ha-
ben23, sowie die der Vereinzelung der Menschen durch die Auflösung der traditionellen
Netzwerke, Verkehrskreise und Lebenswelten. Das alles umfaßt im wesentlichen das, was
Georg Simmel mit der Kreuzung der sozialen Kreise bezeichnet hat, einschließlich der „Frei-
setzung“ der Menschen aus den lebensweltlichen Bindungen und dem damit einhergehenden
Zwang, viele Entscheidungen plötzlich autonom treffen und sein Leben selbst als „Bastelexis-
tenz“ zusammenstellen zu müssen. Damit eng verbunden, aber nicht identisch, ist zweitens
die Pluralisierung, Neuentstehung und Verselbständigung bestimmter Formen der Lebensfüh-
rung, die zuvor eng an die Klassen und Stände gebunden waren, zu einer Vielzahl eigener
kultureller Milieus in Form von Lebensweisen und Lebensstilen, die letztlich immer mehr
zum Selbstzweck der Erlebnisproduktion werden (vgl. dazu auch schon Abschnitt 3.2 in die-
sem Band). Das verweist auf den dritten Vorgang: die Subjektivierung der gesellschaftlichen
Lagen. Weil sich die „objektiven“ Zugehörigkeiten immer mehr überkreuzen, sich immer ra-
scher wandeln und sonstwie verdünnen, komme es mehr und mehr darauf an, wie die Men-
schen ihre Situation selbst erleben, interpretieren, verarbeiten und so einen eigenen Weg fin-
den. Ein Korrelat dieses Vorgangs ist die Entstehung und Verbreitung der Einstellung des
„Individualismus“, die Betonung des Wertes der einzelnen Person und deren „Individualität“
und das Zurücktreten von Kollektivgefühlen und auf das Ganze bezogener Solidaritäten. Vor
dem Hintergrund aller dieser Entwicklungen treten viertens mit anderen gesellschaftlichen
Entwicklungen, wie die Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit, der Ehescheidungen oder der
grenzüberschreitenden Arbeitsmigration, „neue“ Formen der sozialen Ungleichheit in den
Blick: Ungleichheiten nach Geschlecht, nach Alter und Generationenzugehörigkeit, nach Fa-
milienstand, nach Region und nach nationaler oder ethnischer Zugehörigkeit. Die Gemein-
samkeit dieser „neuen“ Kategorien der sozialen Ungleichheit ist die, daß zuvor durch die gro-
ben Gußformen von Stand und Klasse alle anderen Unterschiede, etwa die der demographi-
schen Ungleichheit, sozusagen überrollt wurden, obwohl es sie natürlich immer schon gab.
Aber, etwa, mit dem Ende des bürgerlichen Patriarchismus wird aus der Familie und einem
Haushaltsvorstand, der alles für die ganze Familie entschied, eine komplexe Organisation
(mindestens) zweier selbständiger Individuen, die sich jeweils für sich in einer nun ganz ei-
genen „Klassenlage“ befinden: Männer und Frauen eben. Ähnliches gilt für die anderen Ka-
tegorien der demographischen Ungleichheit: Sie werden zunehmend wichtiger als nunmehr
relevant gewordene Parameter der Situation. Die fünfte Entwicklung ist eine der Ursachen für
alle diese Prozesse der Freisetzung und Pluralisierung: die allgemeine Wohlfahrtssteigerung
durch die Ausweitung der ökonomischen Produktion und den dadurch möglichen „Fahrstuhl-
effekt“ eines kollektiven Aufstiegs. Dadurch erweitern sich die Optionen, etwa für einen Ur-
laub in der Karibik, für fast alle Schichten. Das läßt die unteren Schichten und die Eliten in
durchaus „nivellierender“ Weise aneinanderrücken – und bei „denen da oben“ den Bedarf an
Distinktion deutlich ansteigen. Das alles geschieht aber, man sollte es nicht vergessen, auf ei-
nem Sockel der „Unterschichtung“ der Gesellschaft durch inzwischen fast 10% an Auslän-
dern und deren Familien, für die der Luxus der Erlebnisgesellschaft in keiner Weise gilt. Der
23
Vgl. dazu M. Rainer Lepsius, Parteiensystem und Sozialstruktur: zum Problem der De-
mokratisierung der deutschen Gesellschaft, in: Gerhard A. Ritter (Hrsg.), Deutsche Partei-
en vor 1918, Köln 1973, S. 56-80.
168 Die Konstruktion der Gesellschaft
sechste Vorgang schließlich sieht wie das Gegenteil von „Individualisierung“ aus. Es ist die
Entstehung eines gewissen, alle Gruppen erfassenden gemeinsamen Schicksals, teils im Gu-
ten, teils im Bösen. Eher im Guten ist das die Etablierung des Wohlfahrtsstaates gewesen, der
die Ungleichheiten wenigstens etwas eingeebnet hat. Im Bösen sind es dagegen die inzwi-
schen globalen Gefahren und Risiken der Umweltzerstörung, atomarer Unfälle und weltwei-
ter kriegerischer Auseinandersetzungen. Davon werden die Akteure unterschiedslos getrof-
fen: Jeder stirbt für sich allein. Dazu treten die Entwicklungen, die inzwischen als Globalisie-
rung bezeichnet werden – das Entstehen von weltumspannenden, vor allem ökonomischen In-
terdependenzen, von denen man nicht so eindeutig sagen kann, ob sie eher gut oder böse sind.
Für die soziologische Befassung mit diesen neuen Entwicklungen hat das
zwei Folgen gehabt. Das ist erstens eine enorme Konjunktur von theoreti-
schen und empirischen Beiträgen zum Thema der sog. neuen sozialen Un-
gleichheit, bei denen es vor allem um die Fragen ging, ob die Thesen von der
Entstrukturierung und Individualisierung wirklich stimmen, was wirklich neu
wäre an der neuen sozialen Ungleichheit, und wer von den bekannteren Sozio-
logen – Georg Simmel, Peter M. Blau oder Anthony Giddens etwa – sich da-
mit vielleicht früher schon befaßt hätte.24 Und zweitens eine ebenso starke
Konjunktur von empirischen Beiträgen zur weiteren Entstrukturierung der „al-
ten“ Klassengesellschaft und vor allem zur sog. Milieu- oder Lebensstilfor-
schung und der Entdeckung immer neuer Gruppen mit typischen Formen der
Stilisierung von Geschmack und Kultur.
Wir werfen hier nur einen kurzen Blick auf die empirischen Untersuchun-
gen zu den „neuen“ Formen der sozialen Ungleichheit und zu den dabei vor-
genommenen Änderungen der Schichtungsmodelle bzw. Klassenschemata,
nicht zuletzt weil das Feld derzeit sehr im Fluß ist. Dabei sind zwei verschie-
dene Arten von Herangehensweisen sichtbar geworden (vgl. Geißler 1996, S.
79ff.): das Konzept der sog. sozialen Lagen und das der sog. sozialen Milieus.
24
Vgl. etwa Peter A. Berger, Entstrukturierte Klassengesellschaft? Klassenbildung und
Strukturen sozialer Ungleichheit im historischen Wandel, Opladen 1986; Stefan Hradil,
Individualisierung, Pluralisierung, Polarisierung: Was ist von den Schichten und Klassen
geblieben?, in: Robert Hettlage (Hrsg.), Die Bundesrepublik. Eine historische Bilanz,
München 1990, S. 111-138; Peter A. Berger und Stefan Hradil, Die Modernisierung sozi-
aler Ungleichheit – und die neuen Konturen ihrer Erforschung, in: Peter A. Berger und
Stefan Hradil (Hrsg.), Lebenslagen, Lebensläufe, Lebensstile, Sonderband 7 der Sozialen
Welt, Göttingen 1990a, S. 3-24; Hans-Peter Müller, Sozialstruktur und Lebensstile. Der
neuere theoretische Diskurs über soziale Ungleichheit, Frankfurt/M. 1992; sowie ver-
schiedene Beiträge bei Peter A. Berger und Michael Vester, Alte Ungleichheiten – Neue
Spaltungen, Opladen 1998.
Soziale Ungleichheit 169
Soziale Lagen
Das Konzept der sozialen Lagen strebt eine systematische Einbeziehung der
inzwischen als relevant wahrgenommenen Dimensionen der „neuen“ sozialen
Ungleichheit an. Es geht auf Überlegungen und lange Vorarbeiten von Wolf-
gang Zapf zurück.25 Neben den „klassischen“ Kategorien der Klassenschema-
ta nach Berufsgruppen, werden jetzt auch nicht-erwerbstätige Personen, wie
Arbeitslose, Studenten und Rentner, Männer und Frauen und Ausländer als
eigene Kategorien aufgeführt (vgl. Tabelle 4.2). Weiterhin werden die Berufs-
tätigkeiten in ihrer vertikalen Dimension betrachtet, sowie die damit verbun-
denen Einkommensflüsse, jeweils gesondert für die horizontalen Dimensionen
der Geschlechter und der Ausländer. Eine wichtige Besonderheit ist dann
noch der Einbezug der subjektiven Befindlichkeiten, der Lebenszufriedenheit
und der Zukunftserwartungen, in die Beschreibung der verschiedenen sozialen
Lagen. Das ist nur folgerichtig: Wenn die „objektiven“ gesellschaftlichen La-
gen immer weniger verbindlich werden, dann kommt es zunehmend auf die
subjektiven Einstellungen der Menschen an.
Auffällig ist bei dieser Art der Beschreibung der sozialen Ungleichheit die
Vielzahl der sozialen Lagen, die durch die Kreuzung der vertikalen mit meh-
reren horizontalen Dimensionen erzeugt wird. Was vorher bei den Schich-
tungsmodellen und den Klassenschemata noch implizit geblieben war, die ho-
rizontale Dimension der sozialen Ungleichheit, wird mit dem Modell der so-
zialen Lagen explizit gemacht. Ob diese Dimensionen dann auch „Relevanz“
haben, müßte sich an systematischen Unterschieden zeigen. Die gibt es ohne
Zweifel beim Einkommen, dagegen sehr viel weniger für die Lebenszufrie-
denheit. Und das ist auch nicht weiter verwunderlich, weil sich die (Un-)Zu-
friedenheiten der Menschen an ihren Nahumwelten und Bezugsgruppen zu o-
rientieren pflegen und weil nicht die absolute, sondern die relative Deprivati-
on für die subjektive Befindlichkeit entscheidend ist (vgl. dazu auch noch
Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
25
Vgl. Wolfgang Zapf, Sozialstruktur und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik
Deutschland, in: Werner Weidenfeld und Hartmut Zimmermann (Hrsg.), Deutschland-
Handbuch. Eine doppelte Bilanz 1949-1989, Bonn 1989, S. 99-124.
170 Die Konstruktion der Gesellschaft
1 Niemals erwerbstätig
2 Bzw. frühere Stellung/ frühere Stellung des Ehemanns
Soziale Ungleichheit 171
Soziale Milieus
Sehr viel bunter sehen die – inzwischen fast zur lästigen Mode gewordenen –
Untersuchungen zu den sozialen Milieus aus. Hier geht es, ganz anders als in
der klassischen Ungleichheitsforschung, zuerst um die subjektiven Befind-
lichkeiten, Werte, Bewußtseinsformen und Lebensstile der Menschen. Und
dann wird – unter Umständen – danach gesucht, ob sich die dann auch in ir-
gendwelchen „objektiven“ Lagen wiederfinden lassen, etwa nach den sozialen
Schichten der traditionellen Ungleichheitsforschung. Daraus ergeben sich
dann Diagramme, in denen die vertikale Dimension der „alten“ sozialen Un-
gleichheiten mit diversen horizontalen Dimensionen der subjektiven Orientie-
rungen und Werte gekreuzt werden. Eines der bekanntesten dieser Diagramme
ist das der sog. SINUS-Studie, ein nach kaum nachvollziehbaren Methoden
gewonnenes zweidimensionales Tableau von verschiedenen „Milieus“. Es ist,
leicht vereinfacht, für die westdeutsche Bevölkerung (für die 90er) Jahre in
Abbildung 4.12 wiedergegeben.26
Wir wollen die inhaltlichen (und die methodischen) Einzelheiten der Dar-
stellung hier nicht weiter diskutieren. Es gibt inzwischen eine Unzahl von
ähnlich vorgehenden Untersuchungen, reichlich auch aus dem Bereich der
Freizeit- und Konsumforschung, mit teilweise ganz anderen Ergebnissen.27
Manche Ergebnisse, auch die der SINUS-Studie, sind allzu trivial, wie etwa
das, daß sich das Arbeitermilieu unten befindet und die verschiedenen „geho-
benen“ Milieus oben. Immerhin läßt sich, wenn man den Methoden der Auto-
ren trauen darf, aber festhalten, daß es tatsächlich so etwas gibt wie die Ent-
kopplung von objektiver gesellschaftlicher Lage und den subjektiven Befind-
lichkeiten. Jedoch findet man auch weiterhin recht starke Bindungen der Ori-
entierungen an die „vertikale“ Dimension der Möglichkeiten. Hedonisten gibt
es zwar, so können wir dem Diagramm entnehmen, in fast allen Schichten,
aber es gibt ein auf die oberen Schichten begrenztes konservatives Milieu.
Auch die postmaterialistischen Alternativen kommen geschlossen aus den
besseren Kreisen. Und die untere rechte Ecke ist ganz frei. Postmoderne Un-
26
Vgl. die Beschreibung der Milieus bei Jörg Ueltzhöffer und Bodo Berthold Flaig, Spuren
der Gemeinsamkeit? Soziale Milieus in Ost- und Westdeutschland, in: Werner Weiden-
feld (Hrsg.), Deutschland. Eine Nation – doppelte Geschichte. Materialien zum deutschen
Selbstverständnis, Köln 1993, S. 61-81.
27
Vgl. dazu die kritische Übersicht bei Peter Hartmann, Lebensstilforschung, Opladen 1999.
Siehe für eine theoretische Begründung vor dem Hintergrund der traditionellen Ungleich-
heitsforschung: Gunnar Otte, Auf der Suche nach „neuen sozialen Formationen und Iden-
titäten“ – Soziale Integration durch Klassen oder Lebensstile?, in: Friedrichs 1998, S.
190ff.
Soziale Ungleichheit 173
Karl Marx müßte sich, so sollte man denken, im Grabe herumdrehen, wenn er
erführe, daß nur 12% der Arbeiter traditionslos seien und die Kleinbürger
mehr als ein Fünftel der westdeutschen Bevölkerung in den 90er Jahren des
20. Jahrhunderts ausmachen. Und das erst recht, wenn er mitbekäme, daß der
Kapitalismus in seiner Entfaltung die objektiven Widersprüche nicht nur nicht
zugespitzt und überwunden hat, sondern ganz offensichtlich mit seiner Wohl-
standsproduktion die Freiräume bereitstellt, die es jedem, fast ganz egal aus
welcher Schicht oder Klasse er kommt, erlaubt, seinen eigenen Stil zu pflegen
und es ihm möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, wie er gerade
Lust hat, und nur daran interessiert zu sein, möglichst viel zu erleben (vgl. da-
zu auch noch den Exkurs über Entfremdung im Anschluß an Kapitel 9 in die-
sem Band). Aber nach dem ersten Schock müßte er sich eigentlich auch
bestätigt fühlen können. Denn die Lebensstile und die Werte spiegeln ja of-
fenbar nichts anderes als spezielle Bedingungen der materiellen Reproduktion
der Menschen in den in der Tat etwas turbulenten Gesellschaften des entfalte-
ten Kapitalismus, so wie das etwa Walter Müller für die unterschiedlichen
Verhältnisse bei der sog. Dienstklasse beim Wahlverhalten gezeigt hat, je
nachdem ob es sich um die administrative Dienstklasse, die Experten oder die
sozialen Dienste gehandelt hat.
Erneut wird für das systematische Verständnis der Zusammenhänge hier das Konzept der so-
zialen Produktionsfunktionen wichtig. Zum Postmaterialisten wird man ja nicht aus gusto,
sondern vielleicht auch dadurch, daß man auf seiner Position im Beruf erlebt und lernt, wie
wichtig Einfühlungsvermögen und Sensibilität, etwa für den Verkaufserfolg oder für die
Betreuung von Klienten sind, erst vielleicht nur als Mittel, dann aber auch bald als Teil der
Codierung des jeweiligen sozialen Systems, etwa das einer Werbeagentur oder der Sozialar-
beit. Kurz: Wenn das Sein der Codierungen der Systeme schließlich auch das Bewußtsein der
Orientierungen bestimmt und wenn im Postkapitalismus das Sein wirklich differenzierter und
„individueller“, „reflexiver“ und einfühlsamer geworden ist, dann muß es nicht verwundern,
wenn das auch für die Formen des Bewußtseins und die Stilisierungen des Lebens gilt.
Außerdem ist es nach wie vor so, daß sich der Geschmack und das kulturelle
Kapital, etwa des Kunstverstandes, deutlich nach den objektiven Lebenslagen
und den darin möglichen Erfahrungen strukturiert. Wer zuhause keine Sona-
ten gehört hat, wird später klassische Musik kaum mögen, weil er sie nicht
„versteht“ (vgl. dazu auch noch Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“,
dieser „Speziellen Grundlagen“ und das dort ausführlicher behandelte Kon-
zept des kulturellen Kapitals). Daher verteilen sich die Lebensstile weiterhin
vor allem nach der Bildung.28 Heino liebt man eben unter Akademikern im-
mer noch nicht, es sei denn wieder als Kultobjekt mit der dazugehörigen iro-
28
Vgl. dazu Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart,
Frankfurt/M. und New York 1992, Kapitel 3.
174 Die Konstruktion der Gesellschaft
***
Die soziale Ungleichheit in einer Gesellschaft ist die Folge der Plazierung der
Akteure auf bestimmten Positionen in den verschiedenen sozialen Systemen
einer Gesellschaft, insbesondere in den Funktionssystemen und funktionalen
Sphären (vgl. dazu schon Abschnitt 4.1 sowie noch ausführlich Kapitel 5 über
„Inklusion und Exklusion“ in diesem Band). Diese Plazierung auf Positionen
wird auch als Statuszuweisung oder als Statuseinnahme und in der englisch-
sprachigen Literatur als status attainment bezeichnet. Da die Akteure eine be-
rufliche Biographie durchlaufen und sterblich sind, muß es einen Austausch
der Akteure auf den verschiedenen sozialen Positionen geben, etwa im Ver-
gleich zwischen zwei Generationen. Dabei kann es dann natürlich auch zu
Veränderungen in den Verteilungen über die verschiedenen Berufgsgruppen
bzw. Klassenkategorien kommen. Derartige Änderungen in der Besetzung
von Positionen durch Akteure werden ganz allgemein auch als soziale Mobili-
tät bezeichnet. Untersuchungen zur Statuszuweisung und zur sozialen Mobili-
tät bilden bis heute einen großen Teil der soziologischen Analyse der sozialen
Ungleichheit, und sie sind einer der interessantesten Zweige der international
vergleichenden Sozialforschung geworden.29
29
Vgl. zu diesen beiden Problembereichen u.a. die folgenden Übersichten und Zusammen-
stellungen etwa bei Heller 1969, Teil V: Social Mobility, S. 309-373; bei Grusky 1994,
Teil IV: Generating Stratification, S. 245-393; oder bei Kerbo 1996, Kapitel 11: Social
Mobility: Class Ascription and Achievement, S. 325- 366. Siehe zu einer Übersicht über
die Forschungstradition zum Thema auch Karin Kurz und Walter Müller, Class Mobility
in the Industrial World, in: Annual Review of Sociology, 13, 1987, S. 417-442. Eine ein-
fache Einführung in den Problembereich bietet Thomas A. Herz, Klassen, Schichten, Mo-
bilität, Stuttgart 1983, Kapitel 6: Soziale Mobilität, S. 152-225. Siehe für empirische Un-
tersuchungen, insbesondere vergleichender Art, den frühen Beitrag von Seymour M.
Lipset und Reinhard Bendix, Social Mobility in Industrial Society, London, Melbourne
und Toronto 1959; sowie neuderdings u.a. Erikson und Goldthorpe 1992; Esping-
Andersen 1993 oder Shavit und Blossfeld 1993. Vgl. für die (west-)deutsche Situation:
Walter Müller, Soziale Mobilität: Die Bundesrepublik im internationalen Vergleich, in:
Max Kaase (Hrsg.), Politische Wissenschaft und politische Ordnung. Analysen zu Theorie
und Empirie demokratischer Regierungsweise. Festschrift zum 65. Geburtstag von Rudolf
Wildenmann, Opladen 1986, S. 339-354. Vgl. zur Modellierung des Prozesses der Status-
übernahme und der Reproduktion sozialer Ungleichheit über Vorgänge der Statuseinnah-
me insbesondere noch Raymond Boudon, Education, Opportunity, and Social Inequality.
Changing Prospects in Western Society, New York u.a. 1974, Kapitel 1; Aage B. Søren-
sen, The Structure of Inequality and the Process of Attainment, in: American Sociological
Review, 42, 1977, S. 965-978; oder Hubert M. Blalock, Jr., Understanding Social Inequa-
lity. Modeling Allocation Processes, Newbury Park, London und New Delhi 1991. Siehe
dazu auch noch Abschnitt 7.1 unten in diesem Band.
176 Die Konstruktion der Gesellschaft
4.5.1 Mobilität
Wir beginnen mit der Analyse von Prozessen der Mobilität. In einer der ersten
soziologischen Arbeiten zu dem Problem heißt es:
„By social mobility is understood any transition of an individual or social object or value –
anything that has been created or modified by human activity – from one social position to
another.“30
Es geht also um den Wechsel, den gewisse individuelle oder soziale „Objek-
te“ durchlaufen, indem sie bestimmte „Positionen“ ändern. Es gibt vor diesem
allgemeinen Hintergrund eine Reihe ganz unterschiedlicher Prozesse der Mo-
bilität (siehe dazu auch gleich unten mehr). Im Zusammenhang des Problems
der sozialen Ungleichheit ist häufig jedoch der Wechsel von Akteuren in den
beruflichen Positionen gemeint. Worum es dabei geht, läßt sich am anschau-
lichsten über die sog. Mobilitätstabellen beschreiben. David L. Featherman
und Robert M. Hauser finden beispielsweise für die USA und für das Jahr
1973 in ihrer Stichprobe die folgenden Verteilungen im Beruf der Söhne von
Vätern bestimmter Berufe:31
Die Tabelle läßt sich in ganz unterschiedlicher Weise lesen. Interessant
sind zunächst schon die Randverteilungen, denn sie geben die jeweiligen
„strukturellen“ Verhältnisse und die Änderungen zwischen den beiden Gene-
rationen an – eine soziologisch höchst bedeutsame Information über die
Struktur der sozialen Ungleichheit auch schon unabhängig von dem Gesche-
hen im „Innern“ der Tabelle. Man sieht allein bereits an den absoluten Zahlen
deutlich die Veränderungen in der Ungleichheitsstruktur der beruflichen Sek-
toren: Die Anzahl der Landwirte ist drastisch gesunken (von 4650 bei den Vä-
tern auf 2265 bei den Söhnen) und die der oberen Klassen hat zugenommen,
etwa bei den upper-nonmanuals von 2920 auf 4101 (siehe dazu auch noch
gleich unten zu den „strukturellen Begrenzungen“). Dann ist das „innere“ Ge-
schehen natürlich auch äußerst bemerkenswert: Es beschreibt innerhalb des
30
Pitirim A. Sorokin, Social and Cultural Mobility, Glencoe, Ill., und London 1959 (zuerst:
1927), S. 133; Hervorhebungen nicht im Original.
31
Aus David L. Featherman und Robert M. Hauser, Opportunity and Change, New York,
San Francisco und London 1978, S. 41ff; siehe ebd. S. 150. Die aufgeführten Kategorien
fassen verschiedene Berufsgruppen zusammen, die in etwa den Klassen des Goldthorpe-
Schemas entsprechen, das wir in Abschnitt 4.3 oben besprochen haben, und zwar so: Die
upper nonmanuals entsprechen den Klassen I und II, die lower nonmanuals den Klassen
III, IVa und IVb, die upper manuals den Klassen V und VI, die lower manuals der Klasse
VIIa und die Kategorie „farm“ den Klassen IVc und VIIb. Die Anordnung der Klassen
läßt sich auch als eine ordinale Rangfolge ansehen, wenn man, was nicht ganz abwegig
ist, die Bauern und die Landarbeiter ganz unten ansiedelt.
Soziale Ungleichheit 177
Tabelle 4.3: Plazierung auf berufliche Positionen zwischen zwei Generationen für die
USA im Jahre 1973 (nur Männer im Alter zwischen 20 und 64)
Man kann die Tabelle in drei Sektoren unterteilen, in denen es jeweils ein
ganz typisches Geschehen gibt. Das sind erstens die Werte in der Diagonalen.
Sie sind zur besseren Übersicht mit Klammern versehen. Die Werte in der Di-
agonalen beschreiben die Statusvererbung bzw. die Selbstrekrutierung der je-
weiligen Klassen. Beispielsweise stammen 3325 Söhne in der lower-manual-
Klasse selbst schon aus der lower-manual-Klasse, und 1414 der upper-
nonmanual-Klasse entsprechend ebenfalls. Die Region links unterhalb der Di-
agonalen beschreibt dann zweitens die sozialen Aufstiege: Die Söhne sind in
eine höhere Klasse gekommen als ihre Väter. So sind 756 Söhne aus lower-
manual-Familien in die upper-nonmanual-Klasse aufgestiegen, und 1611 Far-
merskinder zu lower-manuals geworden, was natürlich kein besonderer „Auf-
stieg“ war. Aber immerhin. Entsprechend finden sich in der Region rechts o-
berhalb der Diagonalen drittens die sozialen Abstiege, wie etwa die 40 „Aus-
steiger“ aus der upper-nonmanual-Klasse, die Landwirt geworden sind, oder
jene 254 Personen aus der lower-nonmanual-Gruppe, die in die upper-manual-
Klasse gewechselt sind und dabei einen Statusverlust haben hinnehmen müs-
sen.
178 Die Konstruktion der Gesellschaft
ohnehin erst einmal zahlreiche Söhne von Landwirten einen anderen Beruf
suchen mußten (und in den lower-manual-Berufen auch fanden) und kaum
jemand von außen hineingekonnt hätte, wenn es denn jemand überhaupt ge-
wollt hätte. Und so bleibt der Rest der Bauern und Landarbeiter, der es nicht
nach draußen schafft, unter sich.
Tabelle 4.4: Abstrom- und Zustrommobilität für die Daten aus Tabelle 4.3
a. Abstrommobilität
b. Zustrommobilität
Faßt man die Absolutwerte auf der Diagonalen in Tabelle 4.3 zusammen,
dann erhält man die Anzahl der Familien mit Statusvererbung. Das sind hier
180 Die Konstruktion der Gesellschaft
7951 Fälle, die auch als Stayers bezeichnet werden. Der Rest, insgesamt also
11961 der insgesamt 19912 Akteure, sind dann Movers. Von den Movers sind
wiederum 7429 Aufsteiger (alle Fälle unterhalb der Diagonalen) und 4532
Absteiger (alle Fälle oberhalb der Diagonalen). Das ergibt in Anteilen der Ge-
samtpopulation von 19912 Fällen einen Wert von 39.9% an Statusvererbung
und von 60.1% an „Bewegungs“-Mobilität, mit 37.3% Aufsteigern und 22.8%
Absteigern.
Offene Gesellschaft?
Für eine „offene“ Gesellschaft, wie es die USA, wenigstens im Vergleich und
nach ihrem Selbstverständnis sind, sind die hohen Raten an Statusvererbung,
gerade in den „Ecken“ des Systems, schon erstaunlich. Aber es ist auch er-
sichtlich, daß zwischen den beiden Generationen jeweils die Aufstiege aus ei-
ner Klasse in eine bestimmte andere häufiger waren als die entsprechenden
Abstiege. Die jeweils vergleichbaren Werte im Dreieck unter der Diagonalen
der Zustromtabelle in Tabelle 4.4b sind jedenfalls immer größer als im oberen
Dreieck. Das „System“ der Gesellschaft hat sich also durchaus geöffnet und
den Angehörigen der unteren Klassen den Weg nach oben geebnet, wenn-
gleich nicht im Sinne völlig „unbegrenzter“ Möglichkeiten. Und es gibt trotz
dieses „kollektiven“ Aufstiegs auch einen mit fast 23% nennenswerten Anteil
von sozialem Abstieg, was ja sicher auch ein Merkmal einer wirklich „offe-
nen“ Gesellschaft ist.
Strukturelle Begrenzungen
tergeneration wiedergibt, und die Abstromtabelle in der untersten Zeile die für
die Söhnegeneration. Insofern könnte man über diese beiden Verteilungen
gewisse sektorale Veränderungen in der Gesellschaft feststellen, die die struk-
turellen Grenzen für das Geschehen innerhalb dieser Grenzen festlegen. Und
es hat, wie wir oben an den Tabellen 4.3 und 4.4 schon sehen konnten, tat-
sächlich einige Änderungen gegeben. So ist zwischen den Generationen der
Anteil der Landwirte von 23.3% bei den Vätern auf 11.4% bei den Söhnen
geschrumpft, es hat eine Verdoppelung der lower-nonmanual-Berufe gegeben,
und auch der Anteil der obersten Positionen ist gestiegen, wenngleich nicht
dramatisch, nämlich von 14.7% bei der Vätergeneration auf 20.5% bei der
Söhnegeneration.
Entsprechend läßt sich eine strukturelle Mobilität, die sich aus der Änderung
der Gesellschaft insgesamt und der damit einhergehenden Änderung in der
Verteilung der Klassen zwischen zwei Zeitpunkten bzw. Generationen ergibt,
von einer individuellen Mobilität (oder, wie es auch heißt, „Zirkulationsmobi-
lität“) unterscheiden, bei der es um das Ausmaß der Bewegung der Individuen
in den strukturellen gesellschaftlichen Grenzen und um die jeweiligen indivi-
duellen Aufstiege und Abstiege in den Familien geht.
Das bloße Ausmaß der strukturellen gegenüber der individuellen Mobilität läßt sich leicht be-
rechnen. Zunächst muß die Anzahl der Änderungen bestimmt werden, die sich aus der Ände-
rung der Verteilung der Klassen schon rein rechnerisch ergibt. Das ist in Tabelle 4.3 für jede
Klasse der Absolutwert der Differenz in der Häufigkeit ihrer Besetzung zwischen den beiden
Zeitpunkten, also etwa |2920-4101| = 1181 für die upper-nonmanuals oder |4086-798| = 1462
für die upper-manuals. Diese Werte werden für alle Klassen aufaddiert, und im Beispiel er-
gibt das somit |2920-4101| + |2253-2964| + |4086-2624| + |6003-7958| + |4650-2265| = 1181
+ 711 + 1462 + 1955 + 2385 = 7694 an Fällen mit Mobilität, die sich allein schon durch die
Änderungen in der sektoralen Verteilung ergibt.
Die individuelle Mobilität bzw. die Zirkulationsmobilität ist nun der Anteil an
der Mobilität der Mover, der nicht schon durch diese strukturell erzwungenen
Wechsel erklärt wird. Mover sind dabei, wie wir schon wissen, diejenigen, die
überhaupt ihre Klasse gewechselt und ihren Status nicht einfach geerbt haben
– die Aufsteiger und die Absteiger zusammen also. An solchen Movers gab es
insgesamt 11961 Akteure, davon, wie wir oben auch schon gesehen haben,
7429 Aufsteiger und 4532 Absteiger. Das ergibt 11961-7694 = 4267 Akteure,
die überhaupt mobil waren und nicht aus strukturellen Gründen ihre Position
geändert haben. Diese 4267 Akteure sind die Anzahl derjenigen mit individu-
eller Mobilität. Es gibt somit einen Anteil von 35.7% an individueller Mobili-
182 Die Konstruktion der Gesellschaft
tät und entsprechend einen Anteil von 64.3% an struktureller Mobilität – je-
weils nur gemessen an der Gesamtmobilität der Movers, wohlgemerkt.
Man sieht also, daß sehr viel, was zunächst wie das Ergebnis rein individu-
eller Bemühungen aussieht, nichts weiter ist als die Folge von gesellschaftli-
chen Veränderungen, denen sich die Akteure fügen müssen – wobei, das sei
dann jedoch doch noch hinzugefügt, die strukturellen Veränderungen natür-
lich auch nicht vom Himmel fallen, sondern ihrerseits das – oft genug so nicht
beabsichtigte – Ergebnis des Handelns von Akteuren ist, etwa das von Unter-
nehmern, die Arbeitsplätze schaffen, oder von Politikern, die das Bildungssys-
tem ausbauen oder die Treuhandanstalt einrichten, um die marode Industrie
der untergegangenen DDR abzuwickeln (vgl. dazu auch noch den Schluß die-
ses Kapitels und Abschnitt 7.1 in diesem Band).
Es gibt also, wie wir gesehen haben, ganz verschiedene Aspekte und Arten
von Mobilität und Maßzahlen, sie zu beschreiben. Es gibt die Statusvererbung
bzw. die Selbstrekrutierung einerseits und Aufstiege und Abstiege anderer-
seits, sowie die individuelle Mobilität bzw. die Zirkulationsmobilität im Un-
terschied zur strukturellen Mobilität. Daneben werden noch einige weitere
Dimensionen und Arten der Mobilität unterschieden, auf die sich die o.a.
Konzepte dann wieder anwenden lassen.
Im Beispiel hatten wir den Fall einer vertikalen Mobilität betrachtet, bei
der die verschiedenen Positionen unterschiedlich bewertete Ränge haben.
Man spricht dabei auch von Änderungen im Status, etwa wenn jemand vom
Verkäufer zum Konzernchef aufsteigt. Daneben gibt es die horizontale Mobi-
lität, bei der nur der Platz, der sog. Situs, aber nicht der Rang bzw. der Status
gewechselt wird, wie etwa beim Wechsel vom Lager bei Aldi zu einem Reini-
gungsdienst als einem Wechsel innerhalb der Klasse der lower-manual-
Positionen.
Zur horizontalen Mobilität gehören im Prinzip auch der Wechsel der Religion, einer politi-
schen Partei oder der Familie, sei es durch Heirat, sei es durch Scheidung und das Finden ei-
nes neuen Partners mit dessen Anhang. Nicht dazu zählen würde ein Wechsel im Geschlecht
oder der eher automatische Wechsel der gesellschaftlichen Lage mit dem Alter. Nicht einge-
schlossen in die Mobilitätsanalyse werden üblicherweise auch die räumliche Mobilität, die
Migration also, wohl aber deren Folgen für die Positionsbesetzung, etwa bei Arbeitsmigran-
ten: Die sog. strukturelle Assimilation der Arbeitsmigranten ist ein Spezialfall der vertikalen
Mobilität (vgl. dazu auch noch den Exkurs über Integration, Assimilation und die sogenannte
multikulturelle Gesellschaft unten in diesem Band).
Soziale Ungleichheit 183
Geschehen die Änderungen in Status oder Situs während der Biographie eines
Akteurs, so spricht man von intragenerationaler Mobilität, geht es um Ände-
rungen zwischen den Generationen, von intergenerationaler Mobilität. Wir
hatten in dem Beispiel die intergenerationale Mobilität betrachtet, unten in
Abschnitt 4.5.2 werden wir auch auf Prozesse der individuellen Karriere im
Lebenslauf eingehen.
Kollektive Mobilität
territorial, religiös,
individuell horizontal familiär, beruflich
Soziale
Mobilität
individuelle
Infiltration;
Aufstieg Schaffung bzw.
Aufwertung einer
ganzen Gruppe
kollektiv vertikal
individuelles
Absinken;
Abstieg Absinken oder
Desintegration
einer ganzen
Gruppe
Bemerkenswert ist, daß Sorokin sich den sozialen Aufstieg von Personen of-
fenbar nur als „Infiltration“ in fest umrissene Gruppierungen vorstellen konn-
te, für die dann ihrerseits Auf- oder Abstieg als Ganzes möglich war und die
dabei die Individuen sozusagen mitnahmen. Als Sorokin das schrieb, hatte er
offenbar noch den Aufstieg und den Abstieg ganzer Dynastien, Kulturen und
Reiche vor Augen. Und es ist ja auch tatsächlich noch nicht sehr lange her,
daß man sich über den Untergang des Abendlandes Gedanken machte und
sich in gewissen Kreisen über den Aufstieg der Arbeiterklasse und der Sozial-
demokratie sorgte. Heute werden in der Soziologie der Mobilität andere Din-
ge beachtet, insbesondere die Formen und Bestimmungsgründe der
individuellen Mobilität und der Unterschiede zwischen den Ländern im
Ausmaß und in den Formen darin. Aber so ganz verschwunden ist der Blick
auf die kollektive Mobilität auch heute noch nicht. Denken Sie nur an die
Sorgen, beim Wettrennen um das Wirtschaftswachstum im Zuge der
Globalisierung nicht ins Hintertreffen zu geraten und in der Rangordnung der
Nationen zurückzufallen. Und auch der „Fahrstuhleffekt“ der allgemeinen
Wohlstandssteigerung bei Erhalt der Ungleichheitsstrukturen in
Soziale Ungleichheit 185
a. Statusvererbung b. Unabhängigkeit
Plazierung Plazierung
soziale
Herkunft C1 C2 C3 alle C1 C2 C3 alle
C1 100 0 0 100 17 33 50 100
C2 0 200 0 200 33 67 100 200
C3 0 0 300 300 50 100 150 300
alle 100 200 300 600 100 200 300 600
Schon auf den ersten Blick löst die Tabelle ein Rätsel, mit dem sich mancher
in der Soziologie immer noch herumschlägt: Die Stabilität der gesellschaftli-
chen Strukturen kann über ganz unterschiedliche Formen des individuellen
Verhaltens reproduziert werden, und auch eine extreme individuelle Mobilität
ist vollauf mit der völligen Stabilität der sozialen Ungleichheiten vereinbar.
Die Zellenbesetzungen in der Tabelle für den Fall der Statusvererbung ergeben sich unmittel-
bar aus der Annahme, daß es nur Zuströme aus der gleichen Klasse und keine Abströme dar-
aus gibt. Die Besetzungen für die Annahme der Unabhängigkeit folgt der Definition der sta-
tistischen Unabhängigkeit. Danach ist die Häufigkeit in einer Zelle fij genau gleich dem Pro-
dukt der Häufigkeiten der jeweiligen Randkategorien von i, fi , und j, f&j, geteilt durch die Ge-
samtzahl der Fälle N, also fij=(fi &f j)/N. Das ergibt beispielsweise für die Kombination C2, C3
einen Wert von f23=f2+&f+3= (200&300)/600=100, der sich auch empirisch ergeben müßte, wenn
die Annahme der Unabhängigkeit zutrifft. Das Ganze entspricht der Berechnung der sog.
Kontingenztabelle beim allseits bekannten '2-Test: Es wird eine Verteilung der Häufigkeiten
in den Zellen angenommen unter der Annahme, daß die Verteilungen in allen Untergruppen
den Randverteilungen der gesamten Tabelle entsprechen und es damit keinen Zusammenhang
zwischen den „Variablen“ gibt. Jede Abweichung von dieser Verteilung würde also eine Ver-
letzung der Annahme von der „zufälligen“ Plazierung der Akteure auf die Positionen bedeu-
ten. Die Annahme der Unabhängigkeit kann damit als eine Art von Bezugs- oder Nullmodell
dienen, und der '2-Test als der statistische Test für die Haltbarkeit dieser Annahme: Wäre
beim Vergleich der Zellenbesetzungen unter der Annahme der Unabhängigkeit mit den empi-
rischen Zellenbesetzungen das '2 „signifikant“, dann wäre die Annahme der „Unabhängig-
keit“ beim Prozeß der Statuszuweisung nicht haltbar, und man müßte sich Gedanken über an-
dere Mechanismen machen, wie etwa den, daß es (auch) Statusvererbung gibt (siehe dazu
auch gleich unten mehr).
es gibt Aufstiege auch der unteren Schichten und Abstiege der oberen Klas-
sen, sowie auch eine gewisse Statusvererbung, aber die ist nur „zufällig“. Das
Statusvererbungsmodell ist das andere Extrem – das Modell einer komplett
„geschlossenen“ Gesellschaft, in der jede Gruppe unter sich bleibt. Hier ist die
Determination des Status der Söhne durch den Status der Eltern perfekt und
unausweichlich, und der statistische Zusammenhang zwischen sozialer Her-
kunft und Statuseinnahme perfekt. So war es wohl im Mittelalter und ist es in
Indien und im Sauerland noch, weitgehend jedenfalls.
Nun ändere sich die Gesellschaft. Wir nehmen an, daß sich, ausgehend von
der gleichen Verteilung wie oben, zwischen den Generationen die Gesell-
schaft „egalisiere“: Jede der drei Klassen ist nun für die Generation der Söhne
gleich stark besetzt. Und wieder wollen wir uns ansehen, was geschieht, je-
weils unter der Annahme einer maximalen Statusvererbung einerseits und ei-
ner kompletten Unabhängigkeit andererseits (vgl. Tabelle 4.6).
a. Statusvererbung b. Unabhängigkeit
Plazierung Plazierung
soziale
Herkunft C1 C2 C3 alle C1 C2 C3 alle
C1 100 0 0 100 33 33 33 100
C2 0 200 0 200 67 67 67 200
C3 100 0 200 300 100 100 100 300
alle 200 200 200 600 200 200 200 600
Einfach und einsichtig ist der Fall der Unabhängigkeit: Nun verteilen sich,
weil die Randverteilung über die Klassen gleich geworden ist, die Söhne aus
den drei Klassen in genau gleichen absoluten Ziffern und Anteilen auf die drei
neu gebildeten Klassen. Etwas kontraintuitiv ist dagegen der Fall der struktu-
rellen Mobilität unter dem Muster der Statusvererbung: Weil die obere Klasse
an Positionen gewonnen hat, „muß“ es einen Zustrom dorthin gegeben haben.
Der könnte natürlich im Prinzip aus allen anderen Klassen kommen, aber weil
wir annehmen, daß die Akteure strikt an der Statusvererbung festhalten, wenn
es denn eben geht (!), und weil die untere Klasse strukturell an Positionen
verliert, „muß“ dieser Zustrom aus der unteren Klasse erfolgen. Denn andere
188 Die Konstruktion der Gesellschaft
Vorgänge, wie die Migration oder eine differentielle Fertilität, haben wir ja
ausgeschlossen. Das erkennbare Muster – der Aufstieg von 100 Söhnen aus
der unteren Klasse gleich in die obere – ist also das Ergebnis einer strikten
Statusvererbung in allen Klassen einerseits und der angenommenen strukturel-
len Veränderungen in der Struktur der sozialen Ungleichheit.
Mobilitätsregimes
Die reine Statusvererbung und die völlige Unabhängigkeit sind natürlich ex-
treme Annahmen, die in der Wirklichkeit kaum einmal zutreffen. Empirisch
gibt es eine bunte Vielfalt von Verteilungen über die ganze Mobilitätstabelle
hinweg, die sich aber, interessanterweise, oft aus nur wenigen Mobilitätsmus-
tern zu typischen „Mobilitätsregimes“ zusammenfügen lassen. Damit die Lo-
gik der Konstitution solcher Mobilitätsregimes möglichst deutlich wird, wol-
len wir die beiden o.a. Mobilitätsmuster – das Muster der Statusvererbung und
das der Unabhängigkeit – in einer gewissen Weise kombinieren.
Das wohl einfachste Modell einer solchen Kombination der beiden „rei-
nen“ Muster wäre, daß es einerseits eine gewisse, aber über alle Klassen hin-
weg konstante Statusvererbung gebe, ansonsten aber wieder die reine Zufäl-
ligkeit der Plazierung. Dazu sei angenommen, daß jeweils 50% der Familien
aus einer Herkunftsklasse der Statusvererbung unterliegen, und der Rest dann
der zufälligen Plazierung. Die Population der Familien wird also in einen Teil
aufgeteilt, der der reinen Statusvererbung unterliegt, und in einen der Plazie-
rung nach dem Prinzip der Unabhängigkeit, und zwar jeweils zur Hälfte. Das
ist, mindestens für die westlichen Gesellschaften, kein ganz unrealistischer
Fall, denn auch in den „modernsten“ Gesellschaften gibt es, neben aller Of-
fenheit und „Mobilität“, ohne Zweifel einen weiterhin gehörigen Anteil an
Statusvererbung, wie wir ja in Tabelle 4.3 schon gesehen haben. Wieder wol-
len wir auch die beiden Fälle der gesellschaftlichen Stabilität und des gesell-
schaftlichen Wandels gesondert betrachten. Unter der Bedingung der Stabili-
tät der Ungleichheitsstrukturen ergäben sich die folgenden beiden Mobilitäts-
tabellen für jeweils die beiden „Hälften“ der betrachteten Population (Tabelle
4.7):
Soziale Ungleichheit 189
a. Statusvererbung b. Unabhängigkeit
Plazierung Plazierung
soziale
Herkunft C1 C2 C3 alle C1 C2 C3 alle
C1 50 0 0 50 8 17 25 50
C2 0 100 0 100 17 33 50 100
C3 0 0 150 150 25 50 75 150
alle 50 100 150 300 50 100 150 300
Soziale Bestimmung
soziale
Herkunft C1 C2 C3 alle
C1 58 17 25 100
C2 17 133 50 200
C3 25 50 225 300
alle 100 200 300 600
Diese Verteilung entspricht in ihren Grundstrukturen schon sehr viel eher der-
jenigen aus Tabelle 4.3, die ja aus dem wirklichen Leben gegriffen war. Aber
es fallen auch noch einige Unterschiede dazu auf: Die Aufstiege und die Ab-
stiege sind genau symmetrisch, und die oberen Klassen und die Bauern haben,
wenn man die Zufallsplazierungen berücksichtigt, die gleiche Rate der Selbst-
rekrutierung wie die mittlere Klasse.
Das alles könnte aber auch daran liegen, daß wir eine statische Gesellschaft
angenommen haben und, etwa, nicht in Rechnung gestellt ist, daß in Wirk-
190 Die Konstruktion der Gesellschaft
lichkeit der Sektor der Landwirtschaft geschrumpft ist und der Anteil der Po-
sitionen in der oberen Klasse zugenommen hat. Für die Verhältnisse unter
Bedingungen des sozialen Wandels ergeben sich in analoger Weise die fol-
genden getrennten Verteilungen für die beiden Mobilitätsmuster der Status-
vererbung und der Unabhängigkeit, wobei, wohlgemerkt, es zwar die Annah-
me der Statusvererbung zu 50% bezogen auf die Herkunftsklasse gibt, gleich-
zeitig aber, ganz analog zu Tabelle 4.6, auch einen strukturell erzwungenen
Wechsel von 50 Personen aus der unteren zu der oberen Klasse, und dieser
strukturell erzwungene Wechsel ist dann natürlich weder Statusvererbung
noch Zufall (vgl. Tabelle 4.9).
a. Statusvererbung b. Unabhängigkeit
Plazierung Plazierung
soziale
Herkunft C1 C2 C3 alle C1 C2 C3 alle
C1 50 0 0 50 17 17 17 50
C2 0 100 0 100 33 33 33 100
C3 50 0 100 150 50 50 75 150
alle 100 100 100 300 100 100 100 300
Und daraus ergibt sich wieder die folgende kombinierte Verteilung (Tabelle
4.10):
Soziale Ungleichheit 191
Soziale Bestimmung
soziale
Herkunft C1 C2 C3 alle
C1 67 17 17 100
C2 33 133 33 200
C3 100 50 150 300
alle 200 200 200 600
Nun sind die Auf- und die Abstiege nicht mehr symmetrisch, aber die starke
Besetzung der Kombination C3,C1 fällt schon aus dem Rahmen. Man könnte
diesen Fall aber auch anders modellieren, etwa so, daß man nur die „reine“
Statusvererbung der Herkunftsklasse (zu 50%) nimmt und die strukturell er-
zwungenen Aufstiege in die obere Klasse allesamt dem Zufall überläßt und
damit also auch Aufstiege aus der mittleren Klasse zuläßt. Das ergibt die Zah-
len in Tabelle 4.11:
a. Statusvererbung b. Unabhängigkeit
Plazierung Plazierung
soziale
Herkunft C1 C2 C3 alle C1 C2 C3 alle
C1 50 0 0 50 25 17 8 50
C2 0 100 0 100 50 33 17 100
C3 0 0 150 150 75 50 25 150
alle 50 100 150 300 150 100 50 300
192 Die Konstruktion der Gesellschaft
Nun sind die Randverteilungen für die Plazierungen der Söhne bei Statusver-
erbung und Unabhängigkeit natürlich nicht mehr gleich, wie in Tabelle 4.10.
Und das ergibt zusammen:
Soziale Bestimmung
soziale
Herkunft C1 C2 C3 alle
C1 75 17 8 100
C2 50 133 17 200
C3 75 50 175 300
alle 200 200 200 600
So entsprechen die Besetzungen der Felder noch einmal etwas mehr den em-
pirischen Mustern aus Tabelle 4.3. Und man könnte fast denken, daß die em-
pirischen Zahlen in der Tabelle 4.3 tatsächlich schon weitgehend über das
angenommene Mobilitätsregime einer Mischung von 50% Statusvererbung
und 50% Unabhängigkeit (für alle Klassen gleichermaßen) erklärbar wären.
Nur die immer noch relativ zahlreichen Aufstiege aus den unteren Klassen
gleich in die obere stören noch etwas, und auch, daß es bei den mittleren
Klassen die gleich hohe Statusvererbung geben soll wie bei den oberen und
den unteren. Und es sei auch nicht vergessen, daß der strukturelle Wandel in
unserer fiktiven Gesellschaft schon enorm war, deutlich größer jedenfalls als
in der Tabelle 4.3 für die USA im Jahre 1973, und eine Aufwärtsmobilität
erzeugt hat, die es empirisch kaum gibt.
Die unter den angenommenen Bedingungen theoretisch erwarteten Ziffern könnte man natür-
lich wiederum mit den „wirklichen“ empirischen Zahlen in Beziehung setzen und – ganz ana-
log wie mit der Kontingenztabelle als Referenzmodell – über die Berechnung der '2-Werte in
ihrem „Fit“ mit den empirischen Besetzungen testen. Die sog. log-lineare Analyse ist das sta-
tistische Instrument zur Modellierung bestimmter Hypothesen über Mobilitätsmuster und
Mobilitätsregimes und zum Test dieser Annahmen über empirische Daten (siehe dazu gleich
unten mehr zur formalen Modellierung der Mobilität).
Das alles wollen wir hier nicht mehr weiter verfolgen, weil es erst einmal auf
das Verständnis des Vorgehens ankam: Es werden – in zunächst möglichst
Soziale Ungleichheit 193
Theoretische Begründungen
Es versteht sich von selbst, daß solche Änderungen in den Annahmen nicht
nur ad hoc eingeführt und auch nicht bloß den empirischen Daten zum Zwe-
cke des besseren Fit des Modells angepaßt werden dürfen: Es muß dafür mög-
lichst zwingende theoretische Gründe geben und dann möglichst auch solche,
die etwas mit der „Logik“ der speziellen Situation zu tun haben, denen die
Akteure in den diversen sozialen Klassen unterliegen. Eine derartige theoreti-
sche Begründung haben Robert Erikson und John H. Goldthorpe in ihrem
Buch über den „Constant Flux“ bei der sozialen Ungleichheit in den westli-
chen Industriegesellschaften gegeben. Der Hintergrund ist die Annahme, daß
es in den Industriegesellschaften letztlich nur ein einheitliches Mobilitätsre-
gime gebe, und daß alle beobachtbaren Unterschiede in der Mobilität zwi-
schen den Berufsgruppen und Klassen, etwa zwischen Schweden, England
oder Ungarn, über Unterschiede in den sektoralen Verteilungen und auf den
(noch) unterschiedlichen „Entwicklungsstand“ der betreffenden Länder erklärt
werden können.
Das Mobilitätsregime der Industriegesellschaften sehe dann im Groben etwa so aus:32 Es gebe
erstens Hierarchieeffekte im Sinne eines Soges von den unteren Klassen zu den attraktiveren
oberen; zweitens gewisse, aber nach den Klassen unterschiedliche Effekte der Statusverer-
bung, die sich vor allem durch die Verwiesenheit auf spezifische Kapitalien in den jeweiligen
Klassen zurückführen lassen; drittens Effekte der Sektorabgrenzung vor allem derart, daß es
32
Vgl. Robert Erikson und John H. Goldthorpe, Commonality and Variation in Social Flui-
dity in Industrial Nations. Part I: A Model for Evaluating the ‚FJH Hypothesis‘, in: Euro-
pean Sociological Review, 3, 1987, S. 65ff.; siehe auch Erikson und Goldthorpe 1992,
Kapitel 4, S. 114-140.
194 Die Konstruktion der Gesellschaft
zwischen der Landwirtschaft und allen anderen Sektoren deutliche Barrieren gebe, die sich
aus den besonderen, auch durchaus „vormodernen“ Produktionsbedingungen in der Land-
wirtschaft ergäben; und schließlich existierten bestimmte Affinitäten (oder auch Disaffinitä-
ten) zwischen „benachbarten“ Sektoren und Klassen, wie etwa zwischen der Dienstleistungs-
klasse und den nonmanual-Routinebeschäftigten, die einen Wechsel zwischen den Klassen
relativ erleichtern (oder erschweren), je nachdem, ob die Tätigkeiten und Lebensweisen ge-
wisse „Wahlverwandtschaften“ aufweisen oder nicht.
Eine noch etwas stärker abstrahierende und schon deutlich erkennbar an eine
WE-Erklärung heranreichende Begründung für diese Annahmen geben die
Autoren auch. Sie fassen sie in drei Punkten zusammen. Die Mobilität folge
„(i) the relative desirability of different class positions, considered as destinations;
(ii) the relative advantages afforded to individuals by different class origins – in the form of
economic, cultural and social resources; and
(iii) the relative barriers that face individuals in gaining access to different class positions –
which may be thought of in terms of requirements corresponding to the resources indica-
ted under (ii): for example, requirements for capital, qualifications, ‚knowing peo-
ple‘etc.“ (Erikson und Goldthorpe 1987, S. 64; Hervorhebungen nicht im Original)
Das ist, leicht erkennbar, wieder ein Entscheidungsmodell mit Nutzen- und
Kostenerwartungen für ein gewisses eigeninteressiertes und situationsorien-
tiertes Tun von Akteuren – und zwar auf den beiden Seiten, die über die Mo-
bilität bestimmen: die „Nachfrager“ nach Personen für gewisse Positionen
und die „Anbieter“ in Gestalt von Bewerbern auf diese Positionen (vgl. dazu
auch noch Kapitel 5 in diesem Band über „Inklusion und Exklusion“).
Die Nachfrager in den verschiedenen Sektoren achten, aufgrund der für sie in dem jeweiligen
Funktionssystem wichtigen sozialen Produktionsfunktion, auf die Eignung der Bewerber und
besetzen die Stellen im Durchschnitt selektiv mit Bewerbern aus bestimmten Herkunftsklas-
sen, weil die sich zwar vielleicht aus allen Klassen „anbieten“, sich aber nicht alle als geeig-
net erweisen, etwa aufgrund der nach den Klassen unterschiedlich häufigen Bildungsab-
schlüsse. Und schon die Bewerbungen fallen nach den Herkunftsklassen selektiv aus, weil
sich die Bewerber bereits in ihren Mobilitätsbemühungen unterscheiden und in den jeweils
vorgefundenen Möglichkeiten, die jeweils wichtigen Qualifikationen auch nur anzustreben,
geschweige denn zu erwerben (vgl. dazu auch noch gleich anschließend Abschnitt 4.5.2 über
das Problem der Statuszuweisung, sowie Abschnitt 7.1 in diesem Band mit einem Beispiel für
die Reproduktion der sozialen Ungleichheit auch bei Öffnung des Bildungssystems).
Die Existenz eines bestimmten Mobilitätsregimes wird also mit einer speziel-
len „Situationslogik“ begründet, der die Akteure in den verschiedenen Sekto-
ren und Klassen unterliegen – als „Nachfrager“ nach Personen für die Beset-
zung von Positionen einerseits und als „Anbieter“ ihrer Person für die Beset-
zung von Positionen andererseits. Es ist eine Art von Marktmodell mit gewis-
sen über die sozialen Klassen und Sektoren unterschiedlichen Segmentierun-
gen von Beharrungen, Barrieren und Affinitäten und dem allgemeinen Grund-
zug des menschlichen Handelns, daß, wenn es denn die Möglichkeiten gibt
Soziale Ungleichheit 195
und die Kosten nicht zu hoch sind, die attraktiveren Positionen angestrebt und
die besseren Bewerber bevorzugt werden.
E(Fij) = (&)i&)j&)ij.
Die erwarteten Häufigkeiten werden also als Produkt einer Reihe von Parametern berechnet:
(,)i,)j und )ij (siehe dazu gleich unten mehr). Deshalb wird das Modell auch als multiplikati-
ves Modell bezeichnet. Es ist, sozusagen, die Erweiterung der Berechnung einer
„Kontingenztabelle“ für einen '2-Test, nun aber nicht nur für die Annahme der
Unabhängigkeit, sondern für alle theoretisch denkbaren Konstellationen von
Mobilitätsmustern und Mobilitätsregimes. Durch die Logarithmierung der Ausdrücke läßt
sich die multiplikative Gleichung für die geschätzten Häufigkeiten in eine additive Gleichung
von dann linear verknüpften Werten umformen (vgl. dazu etwa Andreß, Hagenaars und
Kühnel 1998, S. 147f.). Der (natürliche) Logarithmus von E(Fij), der Ausdruck ln(E(Fij)) also,
heiße E(Gij), und dafür gilt dann im „vollen“ Modell, in dem alle Parameter empirisch
geschätzt werden:
33
Vgl. zur formalen Modellierung von Prozessen der Mobilität allgemein Michael Hout,
Mobility Tables, Beverly Hills, London und New Delhi 1983. Siehe zur Einführung in die
Technik der log-linearen Analyse u.a. Hans-Jürgen Andreß, Jacques A. Hagenaars und
Steffen Kühnel, Analyse von Tabellen und kategorialen Daten. Log-lineare Modelle, la-
tente Klassenanalyse, logistische Regression und GSK-Ansatz, Berlin u.a. 1997, Kapitel
3: Log-lineare Analyse kategorialer Daten, S. 137-207.
196 Die Konstruktion der Gesellschaft
Damit wird das Modell vergleichbar zu der bekannten linearen Regression, obwohl die Logik
und die Art der Schätzung eine ganz andere sind. Daher auch die Bezeichnung „log-lineare“-
Modelle.
Wichtig ist noch, daß die verschiedenen Effekte bei Tabellen, die größer sind als eine 2&2-
Tabelle, wiederum variieren können. Man kann sich das leicht veranschaulichen: Die 3&3-
Tabelle, etwa aus Tabelle 4.5, läßt sich ja in vier 2&2-Untertabellen zerlegen, in so viele näm-
lich, wie die Tabelle Freiheitsgrade hat, hier also (3-1)(3-1)=4. Und für jede dieser Unterta-
bellen ließe sich dann wieder eine Modellierung und Schätzung vornehmen. Leicht werden
dann wieder Variationen vorstellbar, wie etwa die, daß die Parameter in den Untermodellen
alle gleich sind oder sich in bestimmter Weise unterscheiden. Auf diese Weise lassen sich
folglich ganz spezifische Mobilitätsregimes statistisch modellieren, und zwar über Annahmen
bei den diversen Interaktionseffekten, die in größeren Tabellen als 2&2 stets möglich sind (sie-
he dazu gleich unten mehr).
Die Modellierung solcher speziellen Effekte für größere Tabellen geht über
die Erstellung von sog. Designmatrizen (vgl. dazu etwa Andreß, Hagenaars
und Kühnel 1997, S. 167ff.). Wir wollen an dieser Stelle darauf nicht weiter
eingehen und auch nicht auf die statistischen Einzelheiten, etwa die der Schät-
zung der Koeffizienten, der „Anpassung“ und des Vergleichs der Modelle,
weil dazu der Platz hier nun wirklich nicht reicht und die Grundlogik des
Vorgehens auch so zu verstehen ist. Aber es sei noch soviel gesagt: Das „vol-
le“ Modell mit der Schätzung auch aller denkbarer Interaktionseffekte „muß“
mit den empirischen Daten übereinstimmen, weil es soviele Parameter be-
stimmt, wie Daten vorhanden sind und deshalb nichts schief gehen kann. Das
Modell ist dann, wie man auch sagt, „saturiert“. Es „paßt“ immer. Das ist aber
auch das Problem: Es ist nur eine Beschreibung des Geschehens und kein Test
gewisser riskanter theoretischer Annahmen mehr. Es ist, wie man sieht, wie-
der ein Fall des Problems der abnehmenden Abstraktion: Je einfacher das
Modell, um so informationshaltiger ist es, daher aber auch um so riskanter,
und jede „Anpassung“ an die stets bunte Wirklichkeit wird mit einem Verlust
an Informationsgehalt erkauft.
Über die geschilderte Logik lassen sich nun leicht spezifische Hypothesen ü-
ber gewisse Mobilitätsregimes formal und statistisch modellieren und dann
auch empirisch testen – wenn sie nicht gleich „saturiert“ sind. In unserem fik-
tiven Beispiel oben waren wir für eine 3&3-Tabelle zunächst von der „reinen“
Unabhängigkeit ausgegangen. In diesem Modell werden also nur strukturelle
Effekte angenommen: Alle Zellen sind nach dem gleichen Prinzip besetzt,
nämlich der statistischen Zufälligkeit im Rahmen der Randverteilungen, und
es gibt für alle Zellen die gleiche Parametrisierung in der Schätzung der Häu-
figkeiten, nämlich E(Xij) = (&)i&)j. Diese Annahme ließe sich dadurch veran-
schaulichen, daß man in die Zellen der betreffenden Tabelle überall die glei-
che Kennziffer hineinschreibt, etwa eine 1, die anzeigen soll, daß unter allen
198 Die Konstruktion der Gesellschaft
Umständen nur dieses eine Mobilitätsmuster gelten soll (vgl. dazu Abbildung
4.14a).34
a. Unabhängigkeit c. „Corner“-Effekte
1 1 1 1 3 3
1 1 1 3 2 3
1 1 1 3 3 1
In einem zweiten Schritt hatten wir dann auch Effekte der Statusvererbung
hinzugefügt. Nun gibt es also auch einen Interaktionseffekt. Weil es eine 3&3-
Tabelle ist, kann dieser Interaktionseffekt in den vier möglichen 2&2-
Untertabellen variieren. Die nun wiederum einfachste – und daher informati-
onshaltigste – Annahme ist die, daß es bei allen Gruppen die gleiche Status-
vererbung gebe. Es gilt also E(Xij) = (&)i&)j&)ij mit )ij = )ji für alle Untergrup-
pen. Dieses Modell könnte man das Modell der einheitlichen Statusvererbung
nennen. Es steht in Abbildung 4.14b. Es gibt jetzt also zwei Mobilitätsmuster,
die sich zu einem schon etwas komplexeren Mobilitätsregime kombinieren.
Aber das sind auch noch relativ einfache Verhältnisse.
Gründe für die Statusvererbung sind leicht vorstellbar und sie sind letztlich in den theoreti-
schen Überlegungen von Erikson und Goldthorpe schon benannt. Die Klassen haben zunächst
– fast: logo – eine hohe Affinität „für sich“. Die oberen Klassen können außerdem, vor allem
auch mit ihrem besonderen sozialen und kulturellen Kapital, relativ leicht dafür sorgen, daß
der eigene Abstieg und das Eindringen von Aufsteigern vermieden wird. Und den unteren
Klassen fehlen viele Möglichkeiten zur Investition in einen Aufstieg, sie resignieren daher,
34
Wir folgen dabei der Darstellung bei David B. Grusky und Robert M. Hauser, Comparati-
ve Social Mobility Revisited: Models of Convergence and Divergence in 16 Countries, in:
American Sociological Review, 49, 1984, S. 23ff.
Soziale Ungleichheit 199
etwa bei den Bildungsanstrengungen, relativ rasch und müssen auch stets die weiteren Dis-
tanzen auf dem Weg nach ganz oben zurücklegen. Das ist etwas anders für die mittleren
Klassen: Hier sind die Distanzen nach oben und unten gleich weit, und es wird weder beson-
ders viel an spezifischem Aufstiegs-Kapital kontrolliert, noch gibt es besondere, klassenbe-
dingte Hemmnisse zur Mobilität.
Daher liegt in einem nächsten Schritt ein drittes Modell nahe: Die Statusver-
erbung ist über die drei Klassen nicht mehr gleich, sondern es gibt „Corner“-
Effekte derart, daß sich die oberen und die unteren Klassen stärker reprodu-
zieren als die mittleren, daß sie darin dann aber wieder gleich sind. Daraus er-
gibt sich das Modell in Abbildung 4.14c. Es wird als Corner-Modell bezeich-
net und besagt, daß es zwar überall Statusvererbungen gibt, daß die aber in
den mittleren Klassen deutlich geringer sind als ganz oben und ganz unten.
Eine ganz besondere Situation besteht für die Landwirte, worauf Erikson und Goldthorpe
ausdrücklich hinweisen und wie wir schon in den Daten der Tabelle von Featherman und
Hauser gleich zu Beginn dieses Abschnitts gesehen haben. Sie sind besonders immobil, und
die Positionen in dieser Gruppe wenig attraktiv. Das liegt einerseits natürlich am geringen
Status dieser Gruppe und an der doch immer noch recht unangenehmen Art der Arbeit, ande-
rerseits aber auch daran, daß die besonderen Reproduktionsbedingungen bei der Landwirt-
schaft ja tatsächlich und sogar in einem wörtlichen Sinne an die „Immobilien“ des Landbesit-
zes gebunden sind. Es wäre daher sinnvoll, wenngleich wieder ein weiteres Stückchen hinein
in eine nicht mehr so gehaltvolle abnehmende Abstraktion der Modellierung, zwischen den
beiden „Ecken“ ganz oben und ganz unten einen weiteren Unterschied in den Interaktionsef-
fekten vorzusehen, so daß es jetzt für alle drei Klassen jeweils ein eigenes Muster der Status-
vererbung gibt. Sie wäre dann am stärksten bei den Landwirten, am geringsten bei den mittle-
ren Klassen, und dazwischen liegen im Grad der Statusvererbung die oberen Klassen.
Das ergibt die Parametrisierung für das Modell d in Abbildung 4.14. Das
betreffende Modell wird auch als quasi-perfekte Mobilität bezeichnet (vgl.
dazu und zu weiteren Modellen Hout 1983, S. 19ff.; Grusky und Hauser 1984,
S. 23).
Auf diese Weise haben Robert Erikson und John H. Goldthorpe ihre theoreti-
schen Überlegungen des Zusammenspiels von Hierarchieeffekten, Statusver-
erbung, Sektoreneffekten und (Dis-)Affinitäten auf die Erklärung der Unter-
schiede in den Mobilitätsmustern einiger wichtiger westlicher Industriegesell-
schaften und ihr doch schon recht komplexes 7-er Klassenschema angewandt
(vgl. Erikson und Goldthorpe 1987, S. 64ff.; Erikson und Goldthorpe 1992, S.
121ff.).
200 Die Konstruktion der Gesellschaft
Gegenüber dem einfachen Unabhängigkeitsmodell ergaben sich mit dem Modell für die ein-
zelnen betrachteten Länder (England, Frankreich, West-Deutschland, Ungarn, Irland, Nord-
Irland, Polen, Schottland und Schweden) Verminderungen des Misfits zwischen theoretisch
vorhergesagten und empirischen Werten zwischen 98 und 99% (!) und „Fehlern“ in der Vor-
hersage der empirischen Besetzungen über das theoretische Modell nicht größer als 2%
(wieder: !). Verschwiegen sollte aber auch nicht werden, daß schon ein wesentlich einfache-
res Modell, nämlich eines, das nur Randverteilungs- und konstante Interaktionseffekte ent-
hielt, gegenüber dem Modell der Unabhängigkeit zu einer Reduktion von fast 95% im Misfit
führte und Fehlklassifikationen nicht größer als 6% aufwies. Das war eigentlich auch schon
etwas.
Erikson und Goldthorpe werteten ihr Ergebnis als eine Bestätigung der sog.
FJH-Hypothese, wonach das Mobilitätsregime in allen westlichen Industrie-
gesellschaften letztlich das gleiche wäre. Die Bezeichnung „FJH“-Hypothese
stammt von einem Aufsatz von David L. Featherman, F. Lancaster Jones und
Robert M. Hauser, die diese These 1975 aufgestellt bzw. bekräftigt hatten.35
Sie war von Seymour M. Lipset und Hans L. Zetterberg in einem von Lipset
und Reinhard Bendix 1959 herausgegebenen Buch über die soziale Mobilität
in den westlichen Industriegesellschaften als Leitlinie für die dann folgenden
Untersuchungen so formuliert worden:
„ ... it will be useful to start at the outset, that the overall pattern of social mobility appears to
be much the same in the industrial societies of various Western countries.“36
35
David L. Featherman, F. Lancaster Jones und Robert M. Hauser, Assumptions of Social
Mobility Research in the United States: The Case of Occupational Status, in: Social
Science Research, 4, 1975, S. 329-360.
36
Seymour M. Lipset und Hans L. Zetterberg, Social Mobility in Industrial Societies, in:
Lipset und Bendix 1959, S. 13; Hervorhebungen so nicht im Original. Vgl. dazu aber
auch schon Sorokin 1959, Kapitel XVII: Vertical Mobility within Western Societies, S.
414ff.
Soziale Ungleichheit 201
4.5.2 Statuszuweisung
In der „Süddeutschen“ fand sich in der Ausgabe vom 6. November 1999 auf
der Seite 2 ein Bericht der Journalistin Jeanne Rubner über einen gewissen
Gregor Markl, der kurz zuvor auf eine Hochschullehrerstelle für Gesteinskun-
de an die Universität Tübingen berufen worden war. Die Außergewöhnlich-
keit der Sache bestand in dem Alter des Herrn Professors: 28 Jahre. Das ist,
zumal für deutsche Verhältnisse, sensationell gering. Und daher war der junge
Herr Professor auch ganz mächtig stolz und erzählte bereitwillig über die Sta-
dien seiner atemberaubenden Karriere. Nur auf eines war er, wie Jeanne Rub-
ner auch noch zu vermelden wußte, nicht gut zu sprechen: auf seine soziale
Herkunft. Unangenehm war ihm dabei wohl weniger, daß seine Mutter Stu-
dienrätin für Biologie und Chemie war. Das geht inzwischen nicht wenigen,
die oben stehen, auch so ähnlich. Wohl aber war ihm offenbar besonders pein-
lich, wenn die Sprache auf seinen Vater, Prof. Dr. Dr. Hubert Markl, kam. Der
war ehemals Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft und danach
(und 1999 immer noch) der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, der wohl
bedeutendsten, reichsten und auch, von ihrem Gehabe her wenigstens, elitärs-
ten außeruniversitären Forschungseinrichtung hierzulande, in der selbst die
202 Die Konstruktion der Gesellschaft
mittelmäßigsten Direktoren, die es auch dort ohne Zweifel gibt, noch dicke
Dienstwagen fahren. Vater Markl war damit einer der wichtigsten und mäch-
tigsten Männer in der wissenschaftspolitischen Landschaft in Deutschland,
und sein Einfluß reichte dabei sicher bis weit in die Universitäten hinein.
Jeanne Rubner schreibt dazu:
„Nun dürfte man bei Markls am Mittagstisch mehr über Forschungspolitik und Mineralogie
geredet haben als über Fußball; der erfahrene Vater hat dem Sohn sicher manch guten Rat-
schlag in Sachen Karriere geben können. Protektion weist Markl junior aber weit von sich.
Spaß an der Arbeit und die Förderung durch einen unbürokratischen Doktorvater sind für ihn
die Geheimnisse seines Erfolgs.“
Und daß das so war, kann man ihm sicher auch glauben.
Die Status-attainment-Forschung
Die individuellen Umstände und Bedingungen des sozialen Auf- oder Ab-
stiegs und der Vererbung eines Status, etwa auch die eines Professorentitels
durch ein bildungsnahes Klima in der Familie oder das durch einen prominen-
ten Namen angeregte vorauseilende Wohlwollen einer Berufungskommission,
sieht man in den Mobilitätstabellen nicht. In der sog. Status-attainment-
Forschung geht es darum, genau das herauszufinden:37 Wer steigt unter wel-
chen Umständen warum auf oder ab? Bei diesen Untersuchungen stand stets
auch die Frage im Hintergrund, ob sich in den Umständen, die die Statuszu-
weisung der Akteure bestimmen, auch solche Bedingungen befinden, die mit
der „Offenheit“ von Gesellschaften weniger zu vereinbaren sind, also etwa
familiär vermittelte Vorteile oder Nachteile, auch schon für den wohl wich-
tigsten Zwischenschritt für den Statuserwerb im Berufsleben – die Bildung. In
offenen Gesellschaften sollte es ja ein hohes Ausmaß an horizontaler und ver-
tikaler individueller Mobilität innerhalb und zwischen den Generationen ge-
ben, ganz einfach, weil hier nicht mehr die Geburt und die Familie, sondern
nur noch die Leistung zählen sollten, ganz so wie bei Bayern München, wo ja
auch ein Methusalem namens Lothar Matthäus die Position des Libero solan-
ge besetzen konnte, wie der die „Leistung“ dazu brachte. Und Statusverer-
bungen und der Bonus eines besonderen Elternhauses hätten darin daher ei-
gentlich keinen legitimen Platz.
37
Vgl. dazu die Übersicht über die verschiedenen Stadien der Status-attainment-Forschung
bei Harry B. G. Ganzeboom, Donald J. Treiman und Wout C. Ultee, Comparative Inter-
generational Stratification Research: Three Generations and Beyond, in: Annual Review
of Sociology, 17, 1991, S. 277-302. Siehe auch die knappe Übersicht bei Kerbo 1996, S.
349ff.
204 Die Konstruktion der Gesellschaft
Berechnung dieser Koeffizienten.39 Pfadkoeffizienten sind im Prinzip nichts anderes als die
standardisierten partiellen Regressionskoeffizienten der jeweils betrachteten abhängigen auf
die jeweilige unabhängige Variable, die die Pfeile direkt miteinander verbinden. Sie beziffern
daher den direkten kausalen Einfluß der jeweiligen unabhängigen Variablen auf die abhängi-
ge, weil die anderen Einflüsse ja statistisch kontrolliert werden. Ein solcher direkter Effekt
liegt in dem Diagramm etwa in der Beziehung zwischen dem Beruf des Vaters zur Bildung
des Befragten mit einem Wert von 0.28 vor. Nicht vorkommende Pfeile zeigen an, daß es an
dieser Stelle keinen direkten kausalen Effekt gibt. Indirekte kausale Beziehungen lassen sich
dann als Produkt der Kette von Pfadkoeffizienten berechnen, die zwischen den beiden be-
trachteten Variablen vermitteln, etwa die indirekte kausale Beziehung zwischen dem Beruf
des Vaters und dem späteren Beruf des Befragten mit den Werten 0.22&0.28=0.06. Der ge-
samte kausale Effekt wäre dann die Summe aller direkten und indirekten kausalen Effekte,
hier also etwa zwischen dem Beruf des Vaters und dem ersten Beruf des Befragten der direk-
te kausale Effekt 0.44 plus dem indirekten Effekt in Höhe von 0.28&0.44=0.12. Das macht als
totalen kausalen Effekt einen Wert von 0.44+0.12=0.66. Außerdem gibt es unter Umständen
noch „korrelierte“ Effekte zwischen den Variablen. Das sind alle weiteren, nicht direkt oder
indirekt kausalen Beziehungen, solche also, die irgendwie noch über Korrelationen ohne aus-
drückliche Kausalrichtung verlaufen. Das wäre, wieder in dem Beispiel der Beziehung zwi-
schen dem Beruf des Vaters und dem ersten Beruf des Befragten, die Korrelation zwischen
dem Beruf und der Bildung des Vaters mit 0.52, nun aber noch multipliziert mit dem indirek-
ten kausalen Effekt 0.31&0.44=0.14, weil der korrelative „Pfad“ zwischen dem Beruf des Va-
ters und dem ersten Beruf des Befragten ja noch über alle diese kausalen Zwischenstationen
verläuft. Die von außen kommenden Pfeile sind ein Maß für die durch die aufgeführten Vari-
ablen nicht erklärten sonstigen Einflüsse. Je geringer diese Werte sind, um so besser ist die
Varianz in der jeweiligen Variable erklärt.
Man erkennt in dem Diagramm gut, wovon der zuletzt erreichte berufliche
Status abhängig ist.
Mit einer Stärke von 0.39 ist er direkt von der Bildung des Befragten abhängig und mit 0.28
direkt vom Status seines ersten Berufs. Der Status des ersten Berufs ist, nicht unerwartet, mit
0.44 direkt deutlich von der Bildung abhängig. Wir finden also einen starken direkten Effekt
der schon etwas zurückliegenden Bildungskarriere des Befragten auf den schließlich erreich-
ten beruflichen Status, aber auch eine durchaus merkliche indirekte Wirkung, vermittelt über
den ersten Beruf (in Höhe von 0.44&0.28=0.12). Von sehr großer Bedeutung ist dann aber ins-
besondere noch der familiäre Hintergrund des Befragten, gemessen über die Bildung und den
beruflichen Status des Vaters. Die Bildung des Vaters wirkt sich mit 0.31 direkt auf die Bil-
dung des Befragten aus – und darüber dann natürlich auch indirekt (etwa mit 0.31&0.39=0.12)
über die Bildung auf den letzten Beruf. Der Beruf des Vaters schließlich hat direkte Auswir-
39
Vgl. zur Pfadanalyse und deren Anwendung gerade auch im Bereich der Analyse von
Prozessen der Statuszuweisung und der Reproduktion von sozialer Ungleichheit die frü-
hen Beiträge bei Hans J. Hummell und Rolf Ziegler (Hrsg.), Korrelation und Kausalität, 3
Bände, Stuttgart 1976. Siehe zu den neueren Entwicklungen der statistischen Schätzung
sog. linearer Strukturgleichungsmodelle, den Weiterentwicklungen der Pfadanalyse u.a.,
John C. Loehlin, Latent Variable Models. An Introduction to Factor, Path, and Strucural
Analysis, 2. Aufl., Hillsdale, N.J., und London 1992; oder Kenneth A. Bollen, Structural
Equations with Latent Variables, New York u.a. 1989. Für eine kurze Skizze des Vorge-
hens siehe Rainer Schnell, Paul B. Hill und Elke Esser, Methoden der empirischen Sozial-
forschung, 6. Auflage, München und Wien 1999, S. 425ff.
Soziale Ungleichheit 205
direkte Auswirkungen auf alle drei Variablen der Karriere des Befragten: Mit 0.28 wirkt er
direkt auf die Bildung, mit 0.22 direkt auf den ersten und mit 0.12 sogar noch direkt auf den
letzten beruflichen Status.
Die relativ starken direkten Wirkungen des Elternhauses des Befragten auch
auf die späteren Stadien seiner beruflichen Karriere sind sehr bemerkenswert.
Eigentlich sollte man für eine offene Leistungsgesellschaft erwarten, daß sich
die Einflüsse des Elternhauses, wenn überhaupt, nur auf den Erwerb erster
Qualifikationen beziehen, vielleicht auch noch für die ersten Schritte ins Be-
rufsleben wichtig sind. Aber dann sollten nur noch die „individuellen“ Ver-
dienste zählen – und eben nicht mehr irgendwelche über das Elternhaus ver-
erbten Vorteile oder Nachteile. Die USA sind doch nicht Indien, sollte man
meinen. Aber eine solche Statusvererbung ist hier erkennbar der Fall: Wer
schon im Elternhaus etwas hat, dem wird auch sehr viel später mehr gege-
ben.40 In den Vereinigten Staaten von Amerika! Unglaublich.
Die Studie von Blau und Duncan beschreibt den „Pfad“ der Übernahme von
Statuspositionen im Lebenslauf einzelner Personen und der Bedingungen für
ihren sozialen Aufstieg – und damit die „individuellen“ Prozesse, die dem Ge-
schehen im Innern der Mobilitätstabellen zugrundeliegen und die „strukturel-
len“ Verhältnisse der Verteilung von Positionen letztlich erzeugen. Sie ist für
die sog. Status-attainment-Forschung richtungsweisend gewesen und hat eine
ganze Forschungstradition angestoßen. Sie hat insgesamt zum Ergebnis ge-
habt, daß trotz allen Wirtschaftswachstums und entgegen den Erwartungen
vieler Bemühungen um die Öffnung des Bildungswesens das Ausmaß der Sta-
tusvererbung in den modernen Industriegesellschaften sehr groß geblieben ist.
Das nach sozialen Schichten bzw. Klassen nach wie vor unterschiedliche Bil-
40
In einer ähnlich angelegten Studie hat Walter Müller im Jahre 1975 für die Bundesrepu-
blik Deutschland ähnliche – indirekte und auch direkte – Vererbungseffekte der Bildung
und des Status des Vaters auf die berufliche Karriere der Kinder, sowie deutliche weitere
direkte Einflüsse aus der Familie festgestellt, die über die Bildungs- und Statusvariablen
hinaus die berufliche Karriere der Kinder bestimmen. Walter Müller, Bildung und Mobili-
tätsprozeß. Eine Anwendung der Pfadanalyse, in: Zeitschrift für Soziologie, 1, 1972, S.
73ff.; Walter Müller, Familie, Schule, Beruf. Analysen zur sozialen Mobilität und Status-
zuweisung in der Bundesrepublik, Opladen 1975, S. 129ff. insbesondere. Vgl. auch die
Übersicht über die Entwicklung und die wichtigsten Ergebnisse der Status-attainment-
Forschung bei Kerbo 1996, S. 350ff. oder bei Grusky 1994, S. 317-358.
206 Die Konstruktion der Gesellschaft
41
Vgl. dazu u.a. die schon erwähnten Studien von Erikson und Goldthorpe (1992); Shavit
und Blossfeld 1993, sowie verschiedene Beiträge bei Robert Erikson und Jan O. Jonsson
(Hrsg.), Can Education Be Equalized? The Swedish Case in Comparative Perspective,
Boulder, Col., und Oxford 1996. Siehe dazu auch das Beispiel zu den Bildungsentschei-
dungen in Abschnitt 7.2 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen
Grundlagen“, sowie auch noch Abschnitt 7.1 in diesem Band und das dort vorgestellte
Modell von Raymond Boudon zur Erklärung der Stabilität der Ungleichheit auch bei Öff-
nung des Bildungssystems.
42
William H. Sewell, Archibald O. Haller und George W. Ohlendorf, The Educational and
Early Occupational Status Attainment Process: Replication and Revision, in: American
Sociological Review, 35, 1970, S. 1014-1027.
Soziale Ungleichheit 207
Abb. 4.16: Bedingungen der Statuszuweisung mit den Variablen der Wisconsin-
Schule (nach Sewell, Haller und Ohlendorf 1970, S. 1023)
Aspirationen können als eine Art von „unbedingter“ Neigung, als ein „Wert“ also betrachtet
werden, an dem die Akteure auch gegen alle Schwierigkeiten festhalten. Aspirationen „fra-
men“ wie Werte das Denken und das Handeln so, daß über Alternativen gar nicht nachge-
dacht wird (vgl. dazu auch noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Aber sie stehen nicht isoliert da, sondern sind in Gemeinschaften als Selbstverständlichkeiten
des Alltagslebens kollektiv verbreitet und werden über alltägliche Interaktionen immer wie-
der bestärkt – ansonsten zerfallen sie rasch. Sie sind ein Teil der Kultur der betreffenden
Gruppierung und in das ganze System der Alltagsgestaltung und der Produktion vor allem der
sozialen Wertschätzung eingebettet (vgl. dazu auch noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser
„Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Besonders in den mittleren und oberen Schichten hat
die Bildung einen solchen Eigenwert, neben ihrer Bedeutung als äußerst nützlichem distinkti-
vem kulturellem Kapital, versteht sich, und, nicht zu vergessen, ihrem Wert für die Sicherung
der ökonomischen Position, besonders in den oberen Schichten. Auch heute noch sind ein
Abitur oder ein Diplom in, sagen wir, Mineralogie für ein Arbeiterkind nicht so viel wert wie,
sagen wir noch einmal, für den Sohn des Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft.
208 Die Konstruktion der Gesellschaft
Hinzu kommen ohne Zweifel gewisse „Zuschreibungen“, die auf der Seite der
Akteure geschehen, die für die Plazierung auf den diversen Positionen sorgen.
Das sind zunächst die Lehrer in den Schulen, dann aber auch die Arbeitgeber
oder Personalchefs in den Betrieben und Behörden, die die Positionen zuwei-
sen. Und sicher gibt es so etwas auch bei Berufungskommissionen. Im Zwei-
fel werden sie sich – auf mehr oder weniger subtile Weise – an gewissen
Merkmalen des kulturellen Kapitals der Kandidaten und Bewerber orientieren
und darüber – über die ohnehin bestehenden unterschiedlichen Affinitäten des
Schulsystems etwa zu den Mittel- und Oberschichten hinaus – für eine Bevor-
zugung der mittleren und der oberen Schichten sorgen.
An dieser Stelle wird erneut deutlich, daß es sich bei den Prozessen der Statuszuweisung um
eine „Transaktion“ handelt, bei der ein Angebot auf eine Nachfrage trifft. Der Statuserwerb
und alle damit zusammenhängenden Prozesse der Mobilität und der dadurch erzeugten
Schichtung der Bevölkerung einer Gesellschaft sind eine Angelegenheit der Entscheidungen
von mehreren Akteuren und der Verfügbarkeit über gewisse Opportunitäten, etwa freie Stel-
len, die zu besetzen sind – oder auch nicht. Es ist eine Entscheidung über die Plazierung von
Personen auf bestimmten Positionen im institutionellen Gefüge der Gesellschaft, insbesonde-
re im System der funktionalen Sphären, etwa über die Versetzung in die 12. Klasse oder über
die Zuteilung eines Studienplatzes in Medizin im Bildungssystem, die Vergabe einer Stelle
als Verkäuferin bei Aldi im System der Wirtschaft, die Ernennung zum Finanzbeamten im
System der staatlichen Verwaltung oder die Einweisung als Patient in ein Krankenhaus. In
den üblichen Statuszuweisungsmodellen wird dagegen nur das Geschehen auf der Seite der
„Anbieter“ für die Besetzung von Positionen betrachtet und – sozusagen – die Nachfrageseite
als konstante oder nicht-soziale Umgebung angenommen. Der Statuserwerb ist aber, wie man
leicht sehen kann, keine Sache bloß der, familiär wie auch immer begünstigten oder benach-
teiligten, individuellen Bemühungen, etwa des Erwerbs von Qualifikationen, die dann, sozu-
sagen automatisch und ungefragt, zur nächsten Karrierestufe führen. Es ist auch eine Angele-
genheit von Entscheidungen anderer Akteure, etwa eines Lehrers, der Noten vergibt und
Versetzungen ausspricht oder auch nicht, oder eines Arbeitgebers, der Einstellungen vor-
nimmt oder Entlassungen verfügt. Und die sind allemal nicht frei in ihren Entscheidungen
und können eben nicht jeden nehmen, der sich für eine Position interessiert – nicht zuletzt,
weil die Zahl der begehrten Positionen meist strukturell schon knapp und kaum vermehrbar
ist. Vollständige Erklärungen der Statuszuweisung hätten natürlich beide Seiten einzubezie-
hen und das Geschehen in der Tat als Transaktion und als Markt von Angeboten und Nach-
fragen zu modellieren (siehe dazu auch noch Kapitel 5 über „Inklusion und Exklusion“ in
diesem Band).
dann in den „meritokratischen“ Institutionen, wie es die Schule eine sein soll,
nicht auszugleichen ist. Und auch die Sesamstraße hilft da nicht viel.
Gleichwohl kann man vermuten, daß es in der Mischung von Ascription und
Achievement bei der Statuszuweisung Änderungen gibt, wenn sich die Ge-
sellschaften modernisieren. „Modernisierung“ heißt ja, wenn man einmal den
wohl wichtigsten Grundzug nimmt, die Zunahme in der funktionalen Diffe-
renzierung. Das hat mindestens zwei Folgen: Mit der Entfaltung der Eigenlo-
gik der Funktionssysteme können es sich die Akteure in den Funktionssyste-
men immer weniger leisten, funktionswidrige Plazierungen vorzunehmen, und
es gibt gleichzeitig eine Angleichung der funktionalen Bedeutsamkeit der ver-
schiedenen funktionalen Teilsysteme mit der Folge, daß dann – wenigstens in
der Tendenz – auch das Ausmaß der Ungleichheit unter den Menschen ab-
nehmen müßte (siehe dazu schon Abschnitt 3.1, sowie noch Kapitel 5 und
Abschnitt 9.2 in diesem Band). Man sollte also erwarten, daß in den stärker
modernisierten Gesellschaften die Determination der Plazierung durch die
familiären Umstände abnimmt, wenngleich sie wohl nicht vollkommen ver-
schwinden dürfte.
Genau zu dieser Frage haben Donald J. Treiman und Kam-Bor Yip im Jahr
1989 eine interessante Studie vorgelegt.43 Untersucht wurden die Verhältnisse
in insgesamt 21 Gesellschaften, davon 15 sog. kapitalistisch-industrialisierte
Gesellschaften, wie Australien, England, Japan, Deutschland, Schweden oder
die USA, zwei der damals sog. „socialist-bloc“-Gesellschaften, nämlich Un-
garn und Polen, und vier sog. kapitalistische Entwicklungsländer – Brasilien,
Indien, die Philippinen und Taiwan. Der Grad der Modernisierung dieser Län-
der wurde über den Stand der Industrialisierung einerseits und über das
Ausmaß der Statusgleichheit in der jeweiligen Gesellschaft andererseits (par-
tiell) definiert und entsprechend operationalisiert. Die Autoren gingen von
zwei deutlichen Hypothesen aus:
„Industrialized societies will tend to be more open than nonindustrialized societies.“
„Societies in which the degree of status inequality is high will tend to be less open than socie-
ties in which the degree of status inequality is low.“ (Ebd.; S. 375; Hervorhebungen so nicht
im Original)
43
Donald J. Treiman und Kam-Bor Yip, Educational and Occupational Attainment in 21
Countries, in: Melvin L. Kohn (Hrsg.), Cross-National Research in Sociology, Newbury
Park, London und New Delhi 1989, S. 373-394.
210 Die Konstruktion der Gesellschaft
Die Offenheit bei der Statuszuweisung wurde dann als Grad der (Nicht-)De-
termination des Bildungsstandes der Personen und ihrer Berufsposition durch
den sozialen Hintergund der Befragten, durch die Bildung und den Beruf des
Vaters nämlich, gemessen.
Das war für die Bildung einfacherweise der Anteil der durch die Bildung und die Berufsposi-
tion des jeweiligen Vaters erklärten Varianz, und für die Berufsposition die Höhe des partiel-
len Regressionskoeffizienten für die Wirkung des Berufs des Vaters auf die Berufsposition
des Befragten unter Kontrolle der Bildung des Befragten. Je geringer die erklärte Varianz
bzw. der partielle Regressionskoeffizient waren, um so offener sei das jeweilige gesellschaft-
liche System in Bezug auf die Muster der Statuseinnahme. Klingt eigentlich ganz plausibel,
und ist es wohl auch.
Die Ergebnisse lassen sich leicht zusammenfassen: In den meisten Ländern ist
die Bildung für die Statuseinnahme weit wichtiger als der Beruf des Vaters,
und die Bildung ist auch nicht sonderlich vom familiären Hintergrund be-
stimmt (!). Soweit die Bildung mit den Verhältnissen im Elternhaus zusam-
menhängt, ist die Bildung des Vaters deutlich wichtiger als dessen Berufssta-
tus. Vor allem aber gibt es in der Tat deutliche Unterschiede zwischen den
Ländern in der Offenheit, wobei dafür sowohl der Grad der Industrialisierung
wie die Status(un)gleichheit bedeutsam sind:
„Industrialized societies tend to be more open than developing societies, but this is mainly
because there tends to be less status inequality, particularly inequality in father‘s education, in
industrialzed societies. And both industrialization and status equality promote achievement at
the expense of ascription, as measured by the increased effect of education and the decreased
effect of father‘s occupation on occupational status attainment.“ (Ebd., S. 392f.; Hervorhe-
bung nicht im Original)
Es ist also etwas dran an der „offenen“ Gesellschaft in der Folge von funktio-
naler Differenzierung, Industrialisierung und Statusangleichung (siehe dazu
auch noch Abschnitt 4.6, Kapitel 5, Abschnitt 7.1 und Abschnitt 9.2 dieses
Bandes). Gleichwohl gibt es auch in den offensten Gesellschaften weiterhin
Askriptionen und Statusvererbungen und eine hohe Bedeutung der Familie bei
der Statuseinnahme. Und gelegentlich hat man das Gefühl, daß die feinen Un-
terschiede des familiär vermittelten kulturellen und sozialen Kapitals neuer-
dings in der immer weiter getriebenen funktionalen Differenzierung der end-
gültig entfesselten Moderne eher wieder wichtiger werden.
44
Per B. Kropp, Berufserfolg im Transformationsprozess. Eine theoretisch-empirische Stu-
die über die Gewinner und Verlierer der Wende in Ostdeutschland, Amsterdam 1998.
212 Die Konstruktion der Gesellschaft
samten sektoralen Systems und den Fortfall ganzer Branchen und Berufs-
zweige gekennzeichnet war. Die hier wichtige Besonderheit der Untersuchung
war, daß nicht nur gewisse individuelle Eigenschaften, wie die Bildung, die
Berufserfahrung oder die politische „Belastung“ zur Erklärung eines Endes
der Arbeitslosigkeit berücksichtigt wurden, sondern die Veränderungen in der
Beschäftigung in der jeweiligen Branche und Berufsgruppe insgesamt. Damit
wurden also sowohl die strukturellen Begrenzungen wie die individuellen
Eignungen oder Bemühungen zur Erklärung der individuellen Statuszuwei-
sung berücksichtigt. In einem später verfaßten Artikel findet sich eine Tabelle,
die die in der Doktorarbeit etwas komplizierter dargestellten Ergebnisse an-
schaulich wiedergibt (vgl. Tabelle 4.13).45
45
Die Tabelle entstammt leicht gekürzt und verändert aus: Per B. Kropp, Strukturverände-
rungen und Humankapital. Eine Erklärung der Veränderungen von Berufserfolg in Ost-
deutschland. Vortrag zum Abschlußkolloquium des Schwerpunktprogramms „Sozialer
und politischer Wandel der DDR-Gesellschaft“ der DFG, Bonn 1999, S. 18. Vgl. zu wei-
teren Einzelheiten auch Kropp 1998, S. 130ff. Zur Bedeutung und Interpretation der Ko-
effizienten, sog. Logit-Koeffizienten, siehe Fußnote 6 in Abschnitt 7.1 dieses Bandes.
Soziale Ungleichheit 213
So ist es, und es ist anders auch wohl kaum denkbar: Die materiellen und in-
stitutionellen Strukturen sind immer der weiteste Rahmen für alle weiteren
Prozesse der individuellen Statuseinnahme und Mobilität. Vor diesem Hinter-
grund darf jedoch erneut nicht vergessen werden, daß selbst solche ehernen
Makroentwicklungen wie die der Veränderung ganzer Branchen letztlich nie
etwas anderes sind als die – beabsichtigten wie unbeabsichtigten – Folgen des
Handelns von Akteuren. Denn wer hat den drastischen Umbau der DDR-
Gesellschaft verfügt, und wer hat die DDR-Wirtschaft, teilweise ganz rigoros,
einfach „abgewickelt“? Natürlich: Die damalige Bundesregierung unter Hel-
mut dem Großen, und zwar gegen den Rat aller Fachleute aus der Wirtschaft
und der Wissenschaft. Und dann die Treuhand und, für das Wissenschaftssys-
tem in der DDR, der Wissenschaftsrat, die beide wiederum auch nicht vom
Himmel gefallen sind und durchaus mit Personen bestückt waren, die ihre In-
teressen hatten und auch verfolgten, wie wir nicht erst heute wissen. Aber wer
hat Kohl zuvor gewählt und ihn sozusagen mit einer Blankovollmacht beauf-
tragt, die DDR abzuwickeln? Das Volk. Und wer hat die Wende herbeige-
führt, die das alles erst möglich machte? Sicher auch der etwas unkonzentrier-
te Günter Schabowski bei der legendären Pressekonferenz am 9. November
1989, mehr aber noch wieder das inzwischen nach 40 Jahren des Wartens auf
das sozialistische Paradies unwirsch gewordene Volk, das dann am gleichen
Abend noch, nachdem Hajo Friedrichs in der Tagesschau die ersten jubelnden
Ossis auf dem Kudamm gezeigt hatte, einfach über die Mauer ging – und
nicht ahnte, daß es dabei zu einem erheblichen Teil geradewegs in die eigene
Arbeitslosigkeit hineinfeierte.
tigsten historischen Experimente zur Durchsetzung von Gleichheit (und Freiheit und Brüder-
lichkeit) sind, wie wir wissen, ganz eklatant gescheitert und schon sehr bald in Systeme mit
ganz deutlichen Hierarchien mutiert: die Französische Revolution mit Napoleon und einer
neuen absoluten Monarchie und die Oktoberrevolution mit Stalin und dem Staatssozialimus
des Sowjetreiches als Ergebnis. Es gibt, wie berichtet wird, nur eine wirklich anarchische, ba-
sisdemokratische, konsensgebundene „Gesellschaft“ ohne institutionalisierte Ungleichheit:
die Piratenschiffe in der Karibik – allerdings nur solange die See ruhig und/oder keine Beute
am Horizont zu sehen waren. Bei einem aufziehenden Sturm oder bei einer fetten Kogge am
Horizont hatte sofort alles auf seinem Platz zu sein und auf das Kommando des Käpt‘ns zu
hören, damit das Unternehmen Erfolg haben konnte.46
Kaum eine Frage hat die Soziologie mehr bewegt als diejenige, woher die
Ungleichheit unter den Menschen kommt und ob sich eine Gesellschaft ohne
soziale Ungleichheit überhaupt denken läßt. Es war, wie Ralf Dahrendorf in
seinem immer noch wichtigen und lesenswerten Überblick über das Thema
feststellt, „die erste Frage der soziologischen Wissenschaft“ überhaupt.47 Und
Niklas Luhmann war nicht der erste, der – bisher immer: voreilig – verkündet
hat, daß es eine Frage sei, die sich die Soziologie nicht mehr zu stellen brau-
che.
Die sozialphilosophischen Vorläufer der Soziologie hatten für die Frage nach
dem Ursprung der sozialen Ungleichheit insbesondere zwei Antworten gefun-
den (vgl. dazu Lenski 1973, S. 19ff.): den Willen Gottes und/oder die Gege-
benheiten der Natur. So meinte beispielsweise Aristoteles, daß es Freie und
Sklaven „von Natur“ aus gebe, ebenso wie die Rangunterschiede der Ge-
schlechter, und die soziale Ungleichheit wäre nur eine direkte Folge jener von
der Natur vorgegebenen Ungleichheiten, sei es die in Körperkraft, in Mut, in
Intelligenz, in Wissen oder Pflichtgefühl (vgl. dazu auch Dahrendorf 1974a,
S. 356f.). Und, wie wir aus der Geschichte des Christentums wissen, gab es
keineswegs nur im Hinduismus die Auffassung, daß die Ungleichheit unter
den Menschen von Gott verfügt und der Gehorsam gegenüber den Mächtigen
gottgefällig wäre.
Das waren Auffassungen, die die bestehenden Ungleichheiten als gottge-
geben oder „natürlich“, damit als unausweichlich und gut und daher auch als
46
Vgl. dazu Heiner Treinen, Parasitäre Anarchie. Die Karibische Piraterie im 17. Jahrhun-
dert, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 33, 1981, S. 84ff.
47
Ralf Dahrendorf, Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, in: Ralf Dah-
rendorf, Pfade aus Utopia. Arbeiten zur Theorie und Methode der Soziologie. Gesammel-
te Abhandlungen I, 3. Aufl., München 1974a, S. 353.
216 Die Konstruktion der Gesellschaft
Die ersten soziologischen Antworten auf die Frage nach der sozialen Un-
gleichheit knüpfen an zwei zentrale gesellschaftliche Einrichtungen an: das
Privateigentum und die Arbeitsteilung. Das Privateigentum wurde vor allem
von Jean Jacques Rousseau als Grund für die soziale Ungleichheit benannt.
Die Einrichtung des Privateigentums ist für ihn eine Art von Sündenfall ge-
wesen, mit dem die Vertreibung aus dem Paradies des Naturzustandes der
Gleichheit begann: Der erste Mensch, der sein Gebiet einzäunte und es für
sich privat beanspruchte, gab den Grund für eine privilegierte Kontrolle von
interessanten Ressourcen und für die spaltende Einteilung in Besitzende und
Nichtbesitzende. Die Arbeitsteilung, die Unterteilung einer Produktion in un-
terschiedliche spezielle „Funktionen“, erzwingt ebenfalls Unterschiede bei
den Menschen – die nach unterschiedlichen beruflichen Tätigkeiten und den
damit verbundenen Unterschieden in Entlohnung und Prestige, woher diese
bewertenden Unterschiede auch immer kommen mögen. Hierauf haben – nach
Adam Smith natürlich – insbesondere Friedrich Engels und Gustav Schmoller
hingewiesen (vgl. die Zusammenfassung bei Dahrendorf 1974a, S. 361ff.).
Soziale Ungleichheit 217
Klassenbildung
Wir sehen gleich schon das Problem in dieser Gleichsetzung: Die Arbeitstei-
lung ist ein Merkmal der sozialen Differenzierung in unterschiedliche funkti-
onale Systeme, das Privateigentum dagegen regelt die Bedingungen der Kon-
trolle über die Ressourcen, die die Akteure, etwa aus der Inklusion in diese
Teilsysteme, erhalten mögen. Aber soziale Differenzierung und soziale Un-
gleichheit sind, wie wir inzwischen wissen, nicht dasselbe. Solange man – mit
dem Klassenbegriff von Marx und Engels – meint, daß die Zuordnung der Ak-
teure zu den beruflichen Positionen alleine schon über das Privateigentum (an
Produktionsmitteln) geregelt ist und es keine zusätzlichen interessanten Res-
48
Karl Marx und Friedrich Engels, Die Deutsche Ideologie: I. Feuerbach, in: Marx-Engels-
Werke, Band 3, Berlin 1962, S. 32; Hervorhebungen im Original.
218 Die Konstruktion der Gesellschaft
sourcen gebe, verschließt sich der Blick für diese Unterscheidung von sozialer
Differenzierung und sozialer Ungleichheit, ganz ähnlich wie in den Feudalge-
sellschaften ja die „Stände“ auch als „Klassen“ von Akteuren mit typischen
gesellschaftlichen Funktionen verknüpft und damit sogar personen-identisch
waren. Der Klassenbegriff von Marx und Engels war, wenn man so will, die –
irreführende – Übertragung der „ständischen“ Kategorien der Feudalgesell-
schaft auf die jetzt nur noch in „Positionen“ funktional differenzierte
kapitalistische Gesellschaft.
Das erste und das zweite Gesetz der Verteilung von Lenski
Daß viele Beobachter im 18. und 19. Jahrhundert nach dem Verfall der
„natürlichen“ Erklärungen der sozialen Ungleichheit auf das Privateigentum
und die Arbeitsteilung als deren wichtigste Ursachen gekommen sind, ist so
unverständlich nicht: Die soziale Ungleichheit hat ja erstens etwas mit der
Kontrolle interessanter Ressourcen durch individuelle Akteure zu tun, und
damit etwas mit gewissen Rechten, darüber zu verfügen. Und das
Privateigentum ist die reinste Form eines individuellen Verfügungsrechtes
(vgl. dazu auch noch Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen
Grundlagen“). Zweitens kommt die soziale Ungleichheit als merkliches
soziales Phänomen nur in größeren und tatsächlich nach dem Prinzip der
Arbeitsteilung organisierten Gesellschaften vor, sei das in der Form der
großen Staatsgesellschaften mit ihren ausgebauten Verwaltungen und
stehenden Heeren, in der Form der Feudalgesellschaften mit ihrer typischen
Hierarchie der gesellschaftlichen Funktionen oder in der Form der (früh-
)kapitalistischen Gesellschaften mit ihrer Aufteilung der Funktionen zwischen
den gesellschaftlichen Klassen. In den einfachen „urkommunistischen“
Stammesgesellschaften gibt es – in nennenswertem Umfang – weder
Privateigentum, noch Arbeitsteilung und auch keine soziale Ungleichheit. Das
gerade hatte ja Rousseau – und mit ihm viele andere – so am „Naturzustand“
fasziniert. Es gibt dort aber auch – was Rousseau und wieder viele andere mit
ihm übersehen haben – nichts, was sich „ungleich“ verteilen ließe. Dort
herrscht, oft genug, die blanke Not, und gerade deshalb gibt es dort auch den
Kommunismus, den Kommunismus der Notgemeinschaft nämlich (vgl. dazu
auch
Damit
nochaber
Abschnitt 9 3 bei
sind wir in diesem
einem Band)
interessanten Zusammenhang, auf den ins-
besondere Gerhard Lenski hingewiesen hat. Zunächst formuliert er in dem
sog. „ersten Verteilungsgesetz“ eine allgemeine Hypothese darüber, wie die
Menschen die Produkte ihrer gemeinsamen Arbeit verteilen. Es besagt
Soziale Ungleichheit 219
„ ... daß die Menschen das Produkt ihrer Arbeit insoweit teilen, als dies zur Sicherung ihres
Überlebens und der kontinuierlichen Produktion jener notwendig ist, deren Handlungen für
sie selbst notwendig und nützlich sind.“ (Lenski 1973, S. 71)
In den Urgesellschaften ist die Gleichheit unter den Menschen also schlicht
die Folge des Mangels an Ressourcen, die in nennenswertem Umfang „un-
gleich“ zu verteilen wären. Erst wenn es gesellschaftlichen Reichtum –
„Surplus“ wie Lenski wohl im Anschluß an Marx sagt – gibt, kann es auch
soziale Ungleichheit geben. Und es gibt sie dann in aller Regel auch (vgl. da-
zu noch Abbildung 5.2 in Kapitel 5 dieses Bandes). Das ist das „zweite Ver-
teilungsgesetz“ nach Gerhard Lenski:
„Wenn wir davon ausgehen, daß viele Dinge, welche die Menschen erstreben, knapp sind,
dann muß es dieses Surplus wegen unweigerlich zu Konflikten und Kämpfen zwischen ihnen
kommen. Wenn wir Weber folgend Macht als die Chance definieren, innerhalb einer sozialen
Beziehung den eigenen Willen auch gegen das Widerstreben der anderen durchzusetzen,
dann folgt daraus, daß Macht weitgehend darüber bestimmt, wie der Surplus einer Gesell-
schaft verteilt wird.“ (Lenski 1973, S. 71; Hervorhebung so im Original)
Die soziale Ungleichheit ist laut Lenski also eine Folge erstens der Produktion
von gesellschaftlichem Reichtum, der über das Existenzminimum hinausgeht,
und zweitens der Verteilung des verfügbaren Surplus nach dem Prinzip der
Macht.
Weder die Einrichtung der Arbeitsteilung, noch gar die des Privateigentums
sind unproblematische Angelegenheiten – obwohl jeder eigentlich daran, al-
lein schon wegen der produktiven Folgen, ein großes Interesse haben müßte.
Bei der Arbeitsteilung müssen die Akteure nämlich gegenseitig befürchten, daß der andere
sich klammheimlich nicht richtig spezialisiert – und der dann die Preise für das Gut diktieren
kann, das der eine deshalb nicht selbst hat, weil er sich ganz auf „sein“ Produkt spezialisiert
hatte. Und zur Einrichtung des Privateigentums bedürfte es eines verpflichtenden Konsenses
darüber, daß man die Rechte des anderen auch wirklich respektiert. Aber das kann so ohne
weiteres, wie wir aus den Wildwestfilmen wissen, nicht garantiert werden: Allein schon die
Möglichkeit, daß sich irgendjemand nicht an die Vereinbarung hält, bringt alle dazu, der Ver-
pflichtung erst gar nicht zuzustimmen.
Die Lösung aus den beiden Sackgassen ist im Prinzip auch schon aus den
Wildwestfilmen bekannt: Ein Peacemaker in Gestalt einer dritten Instanz, die
als unumstrittener Souverän dafür sorgt, daß die mit den ökonomischen Spe-
zialisierungen einhergehenden Vorleistungen nicht ausgebeutet werden, und
daß das Privateigentum als Recht wirksam eingerichtet und dann auch wirk-
lich nicht angetastet wird. Der Souverän kann verschiedene Gestalten anneh-
men: ein Feudalherr oder eine staatliche Bürokratie, etwa. Er muß Züge einer
durch Regeln gebändigten, unumstrittenen, als legitim angesehenen Macht
aufweisen. Der allgemeine soziologische Begriff dafür ist der der Herrschaft
(vgl. dazu bereits Band 1, „Situationslogik und Handeln“, sowie noch Band 5,
„Institutionen“,dieser „Speziellen Grundlagen“).Wir sehen gleich: Die Herr-
schaft kann ohne weiteres auch als eine Art von Produktivkraft angesehen
werden. Sie sorgt dafür, daß die Voraussetzungen einer effizienten gesell-
schaftlichen Produktion, Arbeitsteilung und Privateigentum vor allem, ge-
schaffen werden und daß die Erzeugung des Surplus nicht an den kleinlichen
Befürchtungen und/oder den massiveren Konflikten zwischen den Menschen
scheitert.
Das Dumme ist nur: Herrschaft wird, auch wenn sie als eine eigene Institution, wie bei der
Monarchie, oder gar als spezielles funktionales System organisiert ist, wie in den parlamenta-
Soziale Ungleichheit 221
rischen Demokratien, stets von konkreten Personen ausgeübt, wenngleich u.U. nicht immer
sehr lange. Sie bedeutet, wie gesagt: schon von ihrem Prinzip her, die überlegene Kontrolle
gewisser Machtmittel. Damit aber ist die Herrschaft, sozusagen: logischerweise, unmittelbar
mit der Entstehung sozialer Ungleichheit verknüpft: Es gibt mit jeder Institution der Herr-
schaft gleich immer auch Akteure, die „mehr“ Macht haben als andere und diese dann, wie
die Menschen nun einmal sind, zu ihren Zwecken zu nutzen wissen. Die mit jeder Herrschaft
notwendig verbundene Macht erlaubt es ja zunächst schon ganz schlicht, sich den größeren
Teil des, auch mit Hilfe der Herrschaft erzeugten, gesellschaftlichen Reichtums zu sichern,
dann aber auch, sich dauerhaftere Privilegien zu den eigenen Gunsten einzurichten. Und aus
der jedermann erkennbaren Attraktivität der Herrschafts-Positionen leitet sich schließlich
auch oft genug ein gesellschaftliches Prestige ab, das den Innehabern der Positionen schließ-
lich sogar auch noch Ehre und Ansehen als Personen bringt.
Kurz: Die Herrschaft ist sowohl die Bedingung für die Erzeugung des verteil-
baren Surplus, wie dann auch – über die mit ihr verbundene Macht – die
Grundlage für die ungleiche Verteilung von Ressourcen, Privilegien und Pres-
tige. Arbeitsteilung und Privateigentum, Herrschaft und Macht, Surpluserzeu-
gung und soziale Ungleichheit bilden also eine Art von „System“, in dem alle
Teile, auch in ihrer historischen Entwicklung, ineinander greifen und offen-
kundig wechselseitig so voneinander abhängig sind, daß man sich eine größe-
re reiche Gesellschaft ohne Herrschaft und ohne soziale Ungleichheit kaum
denken kann. Und man erkennt leicht wieder jenen Grundzug der
gesellschaftlichen Existenz der Menschen, den man als antagonistische
Kooperation bezeichnet: Jeder ist zwar an der Produktion von Surplus
interessiert, möchte sich aber möglichst wenig den dazu nötigen
unangenehmen Einschränkungen unterwerfen und möglichst viel vom Kuchen
des gesellschaftlichen Reichtums abbekommen.
Die soziale Ungleichheit hat, wie man sieht, eine Art von Doppelnatur: Sie ist,
über die Bedingung der Organisation der Surplusproduktion durch Herrschaft
und über die fast immer sofort einsetzende Nutzung der Macht zur ungleichen
Verteilung des Surplus und zur Sicherung der einmal gewonnenen Herr-
schaftspositionen, einerseits durchaus repressiv und beruht zu einem guten
Teil schließlich tatsächlich auf Unterdrückung und Ausbeutung. Sie ist aber
auch nicht nur eine Folge, sondern – in Gestalt der nötigen Herrschaft insbe-
sondere – sogar eine Bedingung für die Produktion des Surplus und daher
auch in hohem Maße für wenigstens den materiellen Wohlstand der Menschen
funktional.
Diese Doppelnatur der sozialen Ungleichheit hat die Soziologie bis heute
sehr beschäftigt. Und lange Zeit hat es entsprechend auch zwei, sich teilweise
222 Die Konstruktion der Gesellschaft
49
Kingsley Davis und Wilbert E. Moore, Some Principles of Stratification, in: American
Sociological Review, 10, 1945, S. 242-249.
Soziale Ungleichheit 223
„Social inequality is thus an unconsciously evolved device by which societies insure that the
most important positions are conscientiously filled by the most qualified persons. Hence eve-
ry society, no matter how simple or complex, must differentiate persons in terms of both pres-
tige and esteem, and must therefore possess a certain amount of institutionalized inequality.“
(Davis und Moore 1945, S. 243; Hervorhebungen nicht im Origianl)
Die soziale Ungleichheit ist somit ein eigentlich unintendiertes, ja sogar zufäl-
liges Produkt, das den Gesellschaften einen Reproduktionsvorteil sichert, die
sie irgendwie eingerichtet haben. Und – so muß man Davis und Moore wohl
lesen – alle jene Gesellschaften, die die Besten nicht mit besonderen Anreizen
motivieren konnten, die Schlüsselstellungen zu übernehmen, oder es gar be-
wußt mit der Abschaffung der sozialen Ungleichheit versucht haben, gibt es
nicht mehr, weil sie evolutionär nicht mithalten konnten. Nicht nur auf den
ersten Blick ist wohl etwas Wahres daran. Das fehlgeschlagene sozialistische
Großexperiment ist noch in guter Erinnerung. Aber die Thesen sind schon
sehr provozierend und, wie sich dann gezeigt hat, ohne zahllose Einschrän-
kungen nicht haltbar.
Es ist daher kaum verwunderlich, daß die These von der Funktionalität und
Unentbehrlichkeit der sozialen Ungleichheit bald hart unter Beschuß kam,
insbesondere angesichts der empirisch ebenso unabweisbaren Beobachtung,
daß es zwar überall soziale Ungleichheit zu geben scheint, daß aber die obers-
ten Positionen keineswegs immer von den talentiertesten, am besten ausgebil-
deten und motiviertesten Akteuren besetzt sind. Am deutlichsten hat – acht
Jahre später – Melvin Tumin in einem fast ebenso bekannt gewordenen Arti-
kel widersprochen.50 Er faßt die verschiedenen Argumente in 7 Thesen zu-
sammen und geht sie einzeln durch. Die ersten vier der Thesen enthalten da-
bei die wesentlichen Punkte der Kritik (Tumin 1953, S. 388ff.).
Die erste Behauptung, wonach es Unterschiede in der funktionalen Bedeutung von Positionen
gebe, sei, so Tumin, nicht haltbar, weil, insbesondere in den funktional differenzierten Ge-
sellschaften, im Prinzip jede Position gleich wichtig wäre. Talente seien zweitens auch kei-
neswegs knapp, vielmehr habe hier die soziale Ungleichheit gerade eine umgekehrte dysfunk-
tionale Auswirkung: Sie verhindere die Entdeckung und Entfaltung der Talente geradezu. Die
zur Ausfüllung der höheren Positionen nötige Ausbildung bedeute drittens in keiner Weise
ein „Opfer“, wie Davis und Moore suggerierten, sondern gehe mit einer Reihe von Annehm-
lichkeiten einher, die jede Mühe überkompensierten, und sie lohne sich – last not least –
leicht mit dem damit erzielbaren Lebenseinkommen. Und die Besetzung der höheren Positio-
nen müsse viertens nicht noch mit zusätzlichen Anreizen versehen werden, weil die Arbeiten
dort, siehe unseren Strahlekanzler Schröder, ohnehin schon erheblich mehr „intrinsische“
Freude bereiteten als, sagen wir einmal, ein Job als Bergmann unter Tage, einer bei der Müll-
abfuhr, oder als Soziologieprofessor an einer sog. Reformuniversität, der immer nur so dicke
Bücher zu schreiben hat.
50
Melvin Tumin, Some Principles of Stratification: A Critical Analysis, in: American Socio-
logical Review, 18, 1953a, S. 387-394.
224 Die Konstruktion der Gesellschaft
Und daraus folge keineswegs die funktionale Notwendigkeit der sozialen Un-
gleichheit. Im Gegenteil: Man müsse sogar von einer Reihe von Dysfunktio-
nen ausgehen, zu denen insbesondere die Blockierung von Talenten, die Fehl-
allokation produktiver Ressourcen, die Verfestigung konservativer Ideologien,
die Verbreitung von Unzufriedenheiten und Mißtrauen in der Bevölkerung
und die Spaltung der Gesellschaft nach ihren Loyalitäten gehöre (vgl. Tumin
1953, S. 392f.).
Melvin Tumin bringt damit die konfliktorientierte Sicht der sozialen Un-
gleichheit gegen die funktionalistische Schichtungstheorie wieder ins Spiel.
Der Streit drehte sich dann auch jahrelang um die Frage, welche der beiden
Sichtweisen die richtige sei.51 Inzwischen ist er mit den oben skizzierten en-
gen Verbindungen zwischen Arbeitsteilung, Privateigentum, Herrschaft und
Surpluserzeugung, die dann erst ungleiche Verteilungen und darüber auch un-
produktive Verfestigungen der Ungleichheit zuläßt, aufgelöst: Die soziale
Ungleichheit hat sowohl repressive und unproduktive wie gleichzeitig immer
auch funktionale und produktive Seiten. Und welche davon jeweils dominiert,
hängt von einigen Strukturmerkmalen der Gesellschaft ab.
Die wohl wichtigste strukturelle Besonderheit von Gesellschaften für die Dominanz der einen
oder anderen Seite ist ihre Offenheit und die Möglichkeit zur freien Mobilität: Die vorhande-
nen Talente können sich tatsächlich nur dann entfalten und sich auf die „wichtigen“ Positio-
nen verteilen, wenn die Positionen nach „Leistung“ und nach „Abgebot und Nachfrage“ be-
setzt werden – und nach sonst nichts. Das aber nützt sicher auch der „Gesellschaft“ insge-
samt: Leistungs- und wettbewerbsorientierte Systeme der sozialen Ungleichheit, wie, trotz al-
ler nötigen Abstriche, etwa in den USA oder auch (West-)Deutschland, lösen das Allokati-
onsproblem der talentierten Personen zu den wichtigen Positionen wohl tatsächlich effizienter
51
Vgl. die Entgegnung auf Tumin durch Kingsley Davis, Reply, in: American Sociological
Review, 18, 1953, S. 394-397; Wilbert E. Moore, Comment, in: American Sociological
Review, 18, 1953, S. 397; Melvin Tumin, Reply to Kingsley Davis, in: American Socio-
logical Review, 18, 1953b, S. 672-673. Siehe auch die folgenden Beiträge noch: Walter
Buckley, Social Stratification and the Functional Theory of Social Differentiation, in:
American Sociological Review, 23, 1958, S. 369-375; Dennis H. Wrong, The Functional
Theory of Stratification: Some Neglected Considerations, in: American Sociological Re-
view, 24, 1959, S. 772-782; Wlodzimierz Wesolowski, Some Notes on the Functional
Theory of Stratification, in: The Polish Sociological Bulletin, 3, 1962, S. 28-38; Renate
Mayntz, Kritische Bemerkungen zur funktionalistischen Schichtungstheorie, in: Glass und
König (1961), S. 10-28. Vgl. auch die Zusammenfassung bei Erich Weede, Mensch und
Gesellschaft. Soziologie aus der Perspektive des methodologischen Individualismus, Tü-
bingen 1992, Kapitel 17: Ungleichheit und Umverteilung, S. 206ff.
Soziale Ungleichheit 225
als solche, die auf Zuschreibung beruhen, wie etwa in Indien oder in der schlechten alten
DDR.
Aber das wissen wir auch: Wer einmal oben ist, hat auch die Mittel, die Posi-
tion nach außen zu verteidigen und gegen die freie Zirkulation der Talente ab-
zuschirmen. Und so gibt es stets Tendenzen, daß sich die funktionalen Seiten
der sozialen Ungleichheit immer wieder in dysfunktionale Verknöcherungen
verwandeln.
allgemein ansteigt, etwa weil die Wirtschaft wächst und die Bevölkerung hö-
here Ansprüche an Funktionserfüllung, etwa an die Müllabfuhr oder die ärzt-
liche Versorgung, stellen kann – und das, wie zu erwarten, auch tut. Das läßt
sich nun aber einfacherweise durch eine Rechtsverschiebung der Nachfrage-
kurve nach funktionalen Leistungen von der Linie D auf die neue Linie D'
darstellen: Zum jeweils gleichen Preis werden jetzt mehr an Müllabfuhr und
eine bessere ärztliche Versorgung nachgefragt, und die Wirtschaft bzw. der
Staat sorgt auch für die nötige Erweiterung der Positionen.
Aber, und das ist das Problem, es gibt die Bewerber auf die zahlreicher
gewordenen Positionen (noch) nicht. Nun werden die Unterschiede in den für
die Positionen nötigen Qualifikationen bedeutsam: Der Mehrbedarf an Müll-
werkern, etwa, läßt sich wegen der kurzen Anlernzeiten leicht von x* auf x-'
steigern, und das Einkommen der Müllwerker wächst ganz wenig – von p* auf
p-' Anders ist das bei den Ärzten. Hier dauert die Bereitstellung des Angebotes
länger, die Bewerber sind knapp, und die wenigen, die es noch gibt, lassen
sich das gut bezahlen. Die Menge steigt daher auch nur wenig, von x* auf x+'
an, der Preis dagegen sehr stark, von p* auf p+'.
Und was sehen wir? Nun gibt es eine soziale Ungleichheit: Die Ärzte ha-
ben (als Kategorie von Absteigern) ein höheres Einkommen als die Müllarbei-
ter, obwohl die Medizin funktional nicht wichtiger ist als die Müllabfuhr (je-
weils als funktionale Sphären, wohlgemerkt). Die soziale Ungleichheit liegt
also nicht an irgendwelchen Unterschieden in der funktionalen Bedeutung der
Positionen, sondern an den Unterschieden in den – teilweise auch technisch
und organisatorisch begrenzten – Möglichkeiten, rasch das Angebot an Be-
werbern auszuweiten, wenn die Nachfrage steigt. In the long run können sich
die Entlohnungen natürlich wieder angleichen: Nach einiger Zeit sind die
(Medizin-)-Studenten mit ihrer Ausbildung fertig und drängen alle auf den
Markt. Dann verliert die Angebotsfunktion wieder ihre Starre, und der Preis
beginnt zu sinken. Und so kann es kommen, daß mit einem Male die Müllar-
beiter gar nicht so sehr viel weniger verdienen als die Hals-, Nasen-, Ohren-
ärzte oder andere Akademiker.
In theoretischer Hinsicht sind damit die Fragen nach den Ursprüngen der Un-
gleichheit unter den Menschen eigentlich beantwortet: Herrschaft ist nötig zur
Einrichtung und Sicherung von Arbeitsteilung und Privateigentum, aus denen
sich erst der zu verteilende Surplus ergibt. Und die Herrschaft selbst wird von
228 Die Konstruktion der Gesellschaft
Historisch ist daher, kaum verwunderlich, die Sache wohl in den meisten Fäl-
len anders gelaufen. Herrschaft ist zwar – oft genug – über brutale Gewalt von
außen, etwa durch Eroberungen, oktroyiert worden, und die darauf folgende
soziale Ungleichheit spiegelte dann die jeweiligen, von außen durchgesetzten
Machtverhältnisse. Sie ist aber auch vielfach über eine Art von ungeplanter
Ko-Evolution entstanden: als allmähliche, spontane, fast simultane Entstehung
von Herrschaft, Surplus-Erzeugung, ungleicher Verteilung über die Nutzung
der mit der Herrschaft verbundenen Macht und der daran anschließenden in-
stitutionellen Verfestigung der einmal entstandenen sozialen Ungleichheit
durch Privilegien und schließlich auch durch Prestige. Wie bei jeder Evoluti-
on hat sich der Vorgang der Entstehung von im Prinzip ja repressiver Herr-
schaft wohl auch so unmerklich und nicht-repressiv vollzogen, daß anfangs
auch die „Beherrschten“, oder gerade die!, sichtbar erleben konnten, daß ih-
nen ein Souverän sehr nützlich war, etwa indem er die unproduktiven internen
Streitigkeiten unterband und/oder die externen Bedrohungen fernhielt. Oft ge-
nug verfielen sie ihm sogar als einem charismatisch verehrten Führer. An-
fangs! Die – ungeplante und nahezu unmerkliche – Emergenz von Herr-
schaftszentren, etwa in Form größerer Höfe oder dörflicher Agglomerationen
zu einer Art von regionalem Koordinationszentrum, waren dann historisch
wohl die Vorraussetzung für den Übergang von den Notgemeinschaften der
Stammesgesellschaften zu den größeren gesellschaftlichen Verbänden, in de-
nen es dann erst Arbeitsteilung und Surpluserzeugung in größerem Maße ge-
ben konnte, zuerst die großen Staats- und Feudalgesellschaften und später die
funktional differenzierten Gesellschaften der Moderne mit der demokrati-
Soziale Ungleichheit 229
schen Organisation der Herrschaft (vgl. dazu auch noch Abschnitt 9.2 in die-
sem Band).
Systeme der sozialen Ungleichheit neigen, wenn es sie einmal gibt, dazu, sich
zu verfestigen, und das, wenn es keine externen Störungen gibt, alsbald sogar
in der Form einer verfilzten Ständegesellschaft (vgl. dazu schon Abschnitt 4.2
oben). Das hat einige naheliegende Gründe. Den ersten kennen wir schon: Die
jeweils „herrschende“ Klasse hat alle Möglichkeiten, die zunächst rein „funk-
tional“ begründete Herrschaftsposition zur auch institutionellen Absicherung
ihrer „privilegierten“ Positionen zu nutzen. Und das tut sie auch. Dabei hel-
fen, gerade auch in Demokratien mit ihren verfassungsmäßig vorgesehenen
Möglichkeiten einer Zirkulation der Eliten, die während der Zeit der Herr-
schaft aufgebauten Netzwerke und Beziehungen sehr. Eliten bilden – über alle
sonstigen Interessen- und Ideologieunterschiede hinweg – gerne sog. Vertei-
lungskoalitionen, weil sie ein übergreifendes Interesse eint: das Interesse am
Erhalt der Herrschaft. Und genau deshalb gibt es die Rotarier, die Golfklubs,
die Festkomitees und die heimlichen Saunen in Ludwigshafen-Oggersheim,
sowie die dazugehörigen Underkonten.
Das ist die eine, die, wenn man so will, repressive und korruptive Seite der
Stabilisierung und Feudalisierung jeder einmal eingerichteten Herrschaft und
der dadurch erzeugten sozialen Ungleichheit. Es gibt aber auch die andere
Seite: die „freiwillige“ Hinnahme der unteren Positionen und der nicht er-
zwungene Verzicht auf Investitionen, entweder zum sozialen Aufstieg oder
aber zur Änderung des jeweils „herrschenden“ gesellschaftlichen Systems.
Die Etablierung einer Herrschaft hat dabei einen, sozusagen, eingebauten Mechanismus der
Selbststabilisierung: Mit der jeweiligen Herrschaft werden ja die nun alles „beherrschenden“
primären Zwischengüter und die erlaubten indirekten Zwischengüter festgelegt. Wer jetzt et-
was erreichen will, muß sich nach den jetzt geltenden sozialen Produktionsfunktionen richten
und den jeweils herrschenden „Normen“ fügen. Auf diese Weise wird in der Tat die
Konformität zu den Normen der Gesellschaft zu einem Allokationsmechanismus der
interessanten Ressourcen und darüber zu einer „Ursache“ der sozialen Ungleichheit, so wie
das Ralf Dahrendorf seinerzeit vorgeschlagen hat (vgl. Dahrendorf 1974a, S. 368ff.). Mit
einem Male werden, sagen wir einmal, wieder die roten Parteibücher interessant, während es
vorher die schwarzen waren. Und plötzlich wedeln, mit dem Wahlsieg der SPD und der
Grünen im Herbst 1998, die Kinkel-gewohnten Beamten des Außenministeriums um Joschka
Fischer herum, den sie vorher, und vielleicht insgeheim immer noch, eigentlich für einen
windigen Turnschuh und gefährlichen Chaoten halten. Es ist das Phänomen der Wendehälse,
der Märzgefallenen, der „Opportunisten“, der Karrieristen, das jede einmal zur Herrschaft
gekommene Herrschaft wie von selbst stabilisiert.
230 Die Konstruktion der Gesellschaft
Sozialer Aufstieg setzt also die konsequente Orientierung an der jeweils herr-
schenden Kernkultur einer Gesellschaft und die nachhaltige Entfremdung von
der eigenen Gruppe voraus. Und deshalb gibt es wohl auch keine wirklich
multikulturellen Gesellschaften, sondern stets – mehr oder weniger
ausgeprägte – ethnische Schichtungen: Die „Rand“-Gruppen verzichten
52
Norbert F. Wiley, The Ethnic Mobility Trap and Stratification Theory, in: Peter I. Rose
(Hrsg.), The Study of Society. An Integrated Anthology, 2. Aufl., New York und Toronto
1970, S. 397-408.
Soziale Ungleichheit 231
Gleichwohl ist nicht davon auszugehen, daß die Menschen alle Formen der
sozialen Ungleichheit unterschiedslos als „gerecht“ empfinden: Hinnahme ist
etwas anderes als Anerkennung. Selbst die Mitglieder der (unteren) Kasten in
Indien hadern, wie man hört, gelegentlich mit ihrem Schicksal. Und nicht alle
Soziologen hat der Versuch von Davis und Moore überzeugt, daß es die sozia-
le Ungleichheit überall, also auch in den modernen Gesellschaften, geben
müsse, damit die Gesellschaft funktionieren könne und es den Menschen gut
gehe. Erich Weede stellt zu Recht fest:
„In keiner existierenden Gesellschaft können ... die beobachtbaren Ungleichheiten des Ein-
kommens und sonstiger Privilegierung mit dem Verweis auf funktionale Notwendigkeiten er-
klärt oder gerechtfertigt werden.“ (Weede 1992, S. 209; Hervorhebungen so nicht im Origi-
nal)
Aber natürlich wechselt das Ausmaß der Einsicht in die Richtigkeit und die
Gerechtigkeit eines einmal herrschenden Systems der sozialen Ungleichheit.
Es ist ein Spezialfall der Frage nach der Legitimität einer sozialen Ordnung
und der Integration der Gesellschaft (vgl. dazu noch Kapitel 6 dieses Bandes
ausführlich, sowie Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
In stark geschichteten und auf Zuschreibung beruhenden Gesellschaften sorgt,
wie wir eben gesehen haben, die Aussichtslosigkeit einer Änderung in gewis-
ser Weise für eine spezielle Art der Legitimation der sozialen Ungleichheit:
die resignative Hinnahme des unausweichlichen Schicksals. In den – formal
und rechtlich – offenen Gesellschaften ist die Rechtmäßigkeit der sozialen
Ungleichheit dagegen programmatisch umstritten: Alle Menschen sind vor
Gott oder der Natur gleich, und nur die „Leistung“ zählt. Statusvererbungen
und Diskriminierungen dürfen nicht vorkommen, wohl aber, auch sehr ausge-
232 Die Konstruktion der Gesellschaft
Wenn man den Statuserwerb als Plazierung von Akteuren in sozialen Syste-
men ansieht, wird deutlich, daß die soziale Ungleichheit der Bevölkerung ei-
ner Gesellschaft eng mit der sozialen Differenzierung dieser Gesellschaft in
soziale Systeme zusammenhängt: Die verschiedenen Ressourcen und Eigen-
schaften, aus denen sich die gesellschaftliche Lage der individuellen Akteure
ergibt, sind die – direkte oder indirekte – Folge der durch die Plazierungen
bewirkten Mitgliedschaft der Akteure in den verschiedenen sozialen Syste-
men, insbesondere in den funktionalen Sphären, wie dem Bildungssystem o-
der den verschiedenen Bereichen des Arbeitsmarktes, sei es in der Wirtschaft
oder in der staatlichen Verwaltung, sei diese Mitgliedschaft nun dauernd oder
nur zeitweise. Der Eintritt bzw. die vollzogene Mitgliedschaft von Akteuren
in sozialen Systemen wird auch als die Inklusion der Akteure in die „Gesell-
schaft“ bzw. ihre Teilsysteme bezeichnet. Statuserwerb ist so gut wie immer
Inklusion. Und wo es Inklusion gibt, da hat man auch das Gegenteil: die Ex-
klusion. Das ist schlicht die Nicht-Mitgliedschaft in einem bestimmten sozia-
len System, sei es, daß man nicht hineingekommen ist, etwa in die Oberstufe
oder in das Kabinett des Kanzlers Schröder, oder wieder ausscheidet. Freiwil-
lig oder nicht. Nicht wahr, Oskar!
Auf diese Weise werden auch die vielen anderen, gesellschaftlich „relevanten“ Eigenschaften
erzeugt, aus denen sich die gesellschaftlichen Lagen und Strukturen der Ungleichheit erge-
ben: Verheiratet wird man durch die „Inklusion“ in das System einer Ehe, und geschieden
durch die „Exklusion“ daraus mit dem formellen Akt der Scheidung. Deutscher wird man
durch den Erwerb der Staatsbürgerschaft, die aber auch wieder aberkannt werden kann. Oder
zum Patienten wird man durch die Einweisung in ein Krankenhaus, und mit dem Tag der Ent-
lassung ist man die Rolle des Patienten wieder los – auch wenn man sich noch ganz schlapp
fühlt.
Inklusion und Exklusion gibt es für alle sozialen Systeme, nicht nur für die
funktionalen Sphären der Gesellschaft.
Entsprechend werden auch die kulturellen und die normativen Dimensionen der gesellschaft-
lichen Lagen erworben oder wieder abgelegt: Zum Lebensstil etwa des
„Selbstverwirklichungstypus“ kommen die Akteure über die Inklusion in die kulturellen
234 Die Konstruktion der Gesellschaft
chungstypus“ kommen die Akteure über die Inklusion in die kulturellen Milieus der sog.
Hochkultur und der freiwilligen und hochnäsigen Exklusion aus den proletarischen Kreisen
des (Massen-)Sports – wenn sie nicht versuchen, diesen Stil von außen nachzuahmen, ohne
sich direkt an den betreffenden Milieus oder Szenen zu beteiligen. Wozu gibt es denn die
Szene-Zeitschriften? Und zum, meist mißtrauisch beäugten, „Fremden“ wird man, etwa,
durch Auswanderung und den schwierigen Versuch der „Integration“ in die neue Gesell-
schaft, oft genug mit der Folge einer Exklusion aus fast allen sozialen Systemen und damit,
daß sich die Fremden in einer Gesellschaft alsbald zu einem neuen sozialen System zusam-
menschließen, das – mehr oder weniger – außerhalb der Normen der Gesellschaft steht, dem
Devianz-System einer ethnischen Gemeinde zum Beispiel. Und plötzlich haben auch die an
sich höchst traditionalen law-and-order-Migranten aus Ostanatolien den Status der kulturellen
und normativen Devianz, weil sie nur diese eine Möglichkeit der Inklusion hatten: die in die
von ihnen gebildete Sub-Gesellschaft. Und wer jetzt noch versucht, in die besseren Kreise der
Aufnahmegesellschaft aufzusteigen, wird bald merken, daß er auf Widerstände und „exklusi-
ve“ Distinktionen stößt, die durch individuelle Bemühungen kaum zu überwinden sind.
Nahezu alles, was die Menschen „sind“, werden sie durch die Muster von In-
klusion und Exklusion in Bezug auf die verschiedenen sozialen Systeme der
Gesellschaft. Darüber entstehen dann typisch unterschiedliche soziale Aggre-
gate bzw. Kategorien, etwa nach Alter und Geschlecht, nach Familienstand,
nach Rasse und Klasse, nach Einkommen, Beruf und Bildung, oder nach nati-
onaler oder regionaler Zugehörigkeit. Natürlich gibt es noch andere, durchaus
auch gesellschaftlich relevante Unterschiede zwischen Akteuren, die sie nicht
unbedingt aus der Inklusion in bestimmte soziale Systeme beziehen müssen,
wie eine überlegene Intelligenz, eine große Körperkraft oder eine atemberau-
bende Schönheit. Aber auch diese, zunächst sehr „individuellen“ und „absolu-
ten“ Eigenschaften (vgl. auch Abschnitt 11.4 in Band 1, „Situationslogik und
Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“) werden oft erst dann für die Nut-
zenproduktion wichtig und wirksam, wenn sie in bestimmten sozialen Syste-
men zum Tragen kommen, wie etwa die Intelligenz in der Wissenschaft, die
Kraft bei der Schwerathletik oder die Schönheit in einem Nachtklub.
Und so kann man festhalten (vgl. auch schon Abschnitt 4.1 und Abbildung
4.4 in diesem Band): Über die Prozesse der Inklusion und Exklusion treten die
individuellen Akteure der Bevölkerung mit den sozialen Systemen der Gesell-
schaft systematisch in Beziehung. Die Akteure werden in durchaus vorhersag-
barer Weise in bestimmte soziale Systeme inkludiert – und in andere eben
nicht. Sie durchlaufen dabei jeweils bestimmte Karrieren von Inklusion und
Exklusion, die sich dann als typische biographische Muster bei den Akteuren
niederschlagen: Kindergarten, Grundschule, Abitur, Studium, erster Beruf,
Heirat, zweiter Beruf – und so weiter, evtl. bis zum Altersheim. Und über die
dabei erworbenen Eigenschaften und Ressourcen bestimmen sich die jeweili-
gen sozialen Lagen und darüber dann das Muster der sozialen Ungleichheit
Inklusion und Exklusion 235
der Bevölkerung einer Gesellschaft. Die soziale Ungleichheit ist, kurz gesagt,
die Folge typischer Muster von Inklusion und Exklusion der Akteure in die
sozialen Systeme einer Gesellschaft.
Markt Regel
In den Zellen des Diagramms ist jeweils ein typisches Beispiel für die betref-
fende Typenkombination aufgeführt. Wir gehen die Kombinationen der Reihe
nach durch.
236 Die Konstruktion der Gesellschaft
Die Inklusion über Interessen kann man sich am einfachsten für die Plazie-
rung über einen Markt der Besetzung von Positionen vorstellen, etwa bei der
Übernahme einer beruflichen Position (siehe dazu auch schon Abschnitt 4.5 in
diesem Band zur Statuszuweisung).
Plazierungen gibt es nur in den, etwa als Organisation schon bestehenden, sozialen Systemen
einer Gesellschaft. Dort existieren bestimmte, zeitweise vakante Positionen, die mit konkreten
Akteuren zu besetzen sind, etwa Arbeitsplätze in Betrieben, Lehrstühle an Fakultäten oder
Mandate in einem Parlament. Für diese Positionen interessieren sich nun die Akteure der Ge-
sellschaft, wenngleich nicht alle in der gleichen Weise und nicht zu allen Gelegenheiten. Wir
wollen die interessierten Akteure „außerhalb“ der sozialen Systeme als die Bewerber be-
zeichnen. Ob eine Position zu besetzen ist und wer sie bekommt, entscheiden ebenfalls wie-
der Akteure, nämlich diejenigen in den sozialen Systemen, die dort für die Besetzung der Po-
sitionen zuständig sind, davon ihren Lebensunterhalt beziehen und deshalb ein besonderes In-
teresse an der möglichst angemessenen Plazierung von Akteuren von „draußen“ haben: Un-
ternehmer bzw. Personalchefs, Berufungskommissionen oder der „Wähler“ bzw. vorher die
Delegiertenversammlungen der Parteien, etwa. Wir wollen diese – teilweise: kollektiven oder
korporativen – Akteure, die über die Plazierungen zu entscheiden haben, als Positionierer be-
zeichnen.
Die Bewerber entwickeln somit eine Nachfrage nach Positionen und bieten
sich den Positionierern zur Besetzung an, und die Positionierer bieten die Po-
sitionen an; und entwickeln eine Nachfrage nach ihnen geeignet erscheinen-
den Bewerbern. Zur Inklusion eines speziellen Bewerbers in ein soziales Sys-
tem kommt es dann, wenn sich Angebot und Nachfrage treffen. Und das heißt:
Wenn der Positionierer überhaupt eine Position anbieten kann und den Be-
werber annehmen will und wenn der Bewerber dem Angebot zu den gegebe-
nen Bedingungen, etwa dem für seine Leistungen angebotenen Einkommen,
zustimmt. Das aber ist genau ein Markt, auf dem sich ja auch Anbieter und
Nachfrager mit ihren Möglichkeiten und Interessen und zu einem gemeinsa-
men Preis von Leistung und Gegenleistung treffen (vgl. dazu ausführlich noch
Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Der Modellfall für diesen Vorgang der (nur) nach Interessen verlaufenden Marktinklusion in
bereits bestehende soziale Systeme als Aufeinandertreffen von Angebot und Nachfrage ist
wohl der Arbeitsmarkt, wiewohl gerade auch dieser Markt oft von allerlei Regeln und markt-
fremden Verzerrungen durchzogen ist. Hier gibt es in der Bevölkerung der Gesellschaft –
mehr oder weniger zahlreiche – Bewerber, die potentiellen „Arbeitnehmer“. Und es gibt die
„Arbeitgeber“, bzw. die Personalchefs, als die Positionierer in den Betrieben. Wenn die Be-
werber auf die Arbeitsplätze aus der Sicht der Arbeitgeber hinreichend geeignet erscheinen,
und wenn die angebotenen Gegenleistungen dem Bewerber ebenfalls zusagen, dann kommt
es zur Einstellung, zur „Inklusion“ in die funktionale Sphäre der Wirtschaft – bis zur Kündi-
gung oder Pensionierung.
Inklusion und Exklusion 237
Diese Form der Inklusion gibt es überall da, wo es Märkte gibt, vor allem aber
– natürlich – in der funktionalen Sphäre der Wirtschaft, aber auch, wenngleich
in komplizierterer Weise der Aggregation der vielen Entscheidungen, in der
Politik oder in vielen anderen Sphären des öffentlichen Lebens, in denen es
„Bewerbungen“ auf „Positionen“ gibt. Freilich sind das, meist mehr noch als
die Arbeitsmärkte, alles andere als „perfekte“ Märkte, sondern solche, die al-
len möglichen Beschränkungen und Regulierungen unterliegen.
Das ist etwa bei der Bildung der Fall, wo sich die Studenten ihre Universitäten und die Uni-
versitäten ihre Studenten eben nicht frei aussuchen können, und wo es deshalb zwar auch zu
Bildungsangeboten (in Form von Studienplätzen) und Bildungsnachfrage (in Form von Be-
werbungen auf Studienplätze) kommt, wo aber der jeweils entstehende „Markt“, etwa, durch
die künstliche Öffnung der Universitäten für alle (mit Abitur) bzw. durch den numerus clau-
sus für einige Fächer deutlich verzerrt ist (vgl. dazu auch noch das Beispiel zur Auswirkung
von Studiengebühren auf den Bildungs-„Markt“ in Band 4, „Opportunitäten und Restriktio-
nen“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Die Besonderheit hier ist jedoch stets die, daß sich die Akteure „draußen“ auf
die Positionen in sozialen Systemen bewerben, die auch ohne sie bestehen
würden und für die es eine – mehr oder weniger große – Zahl von Mitbewer-
bern, von Konkurrenten gibt, von der u.a. abhängt, wie hoch der Preis ist, den
jemand verlangen kann, wenn er eine bestimmte Position besetzen würde.
Gibt es viele konkurrierende Bewerber auf wenige Positionen, sinkt der Preis,
etwa für die Arbeit, und die Arbeitnehmer haben ein vergleichsweise niedri-
ges Einkommen. Und umgekehrt.
Die Plazierung in bestehende funktionale Systeme über den Mechanismus
des Marktes entspricht den Prinzipien der Entstehung von sozialer Ungleich-
heit in der Form von sozialen Klassen. Im einfachsten Fall also: Die Akteure
treffen mit ihren, unter anderem durch die Eigentumsordnung verteilten, Res-
sourcen „frei“ aufeinander, und diejenigen, die sich „außerhalb“, etwa des Be-
sitzes von Produktionsmitteln, befinden, müssen, um in das System der Ge-
sellschaft inkludiert zu werden, das anbieten, was sie haben – ihre Arbeits-
kraft. Die wird auch – immer noch – gerne genommen, weil sie die wichtigste
Produktivkraft ist. Aber wenn es mehr Bewerber als Plätze gibt, dann müssen
einige draußen bleiben. Und die senken das Einkommen bzw. die Qualität der
Gegenleistungen für alle diejenigen, die drinnen sind oder hinein möchten.
Karl Marx sprach angesichts der großen Massen an Arbeit suchenden Men-
schen vor den Toren der sich entwickelnden kapitalistischen Wirtschaft ganz
treffend auch von einer industriellen Reservearmee. Es gibt solche „Reserve-
armeen“ natürlich auch für die vielen anderen, bereits fest organisierten sozia-
len Systeme der Gesellschaft, insbesondere die der funktionalen Sphären. Und
in der sog. Dritten Welt sammeln sie sich in den trostlosen Elendsvierteln der
Metropolen, so wie das früher vor den Toren der Städte Europas schon einmal
238 Die Konstruktion der Gesellschaft
und inzwischen mit den Immigrantenvierteln hier auch wieder, der Fall (ge-
wesen) ist.
Bei der Inklusion als Konstitution entsteht das betreffende soziale System im
Akt der Inklusion selbst. Ein besonders interessanter Fall einer solchen Kon-
stitutionsinklusion über den Mechanismus des Marktes ist jener der Bildung
von Partnerschaften, wie wir wissen. Auf dem Partnerschafts- oder Heirats-
markt gibt es „Bewerber“ und „Positionierer“ und sogar als „vakant“ empfun-
dene Plätze (an der jeweiligen „Seite“ nämlich). Aber es gibt, anders als bei
einem Betrieb und einer Behörde, das soziale System der Partnerschaft noch
nicht, in das hinein „plaziert“ werden könnte. Das dazu „nötige“ soziale Sys-
tem entsteht ja erst in dem Moment, in dem sich die (beiden) Akteure einigen,
die Beziehung einzugehen. Es handelt sich bei der Konstitution von Partner-
schaften überdies um den Sonderfall einer dyadischen, symmetrischen und re-
ziproken Inklusion: Jeder der beiden Akteure ist stets gleichzeitig Bewerber
und Positionierer, und erst mit der beiderseitigen Übereinkunft als Bewerber
und Positionierer entsteht das soziale System einer Partnerschaft (vgl. dazu
auch schon Kapitel 1 in diesem Band zur „Emergenz“ einer Freundschaft).
Partnerschaften wären damit besondere Fälle der Konstitutionsinklusion: Der
Konsens der Akteure schafft das soziale System und besorgt gleichzeitig –
uno actu – deren Inklusion darin. Und die Exklusion auch nur eines Akteurs,
etwa über das Verlassen des Partners oder den Tod, beendet es unmittelbar
wieder. Es besteht weder „vorher“, noch „nachher“. Und weil es auch hier,
wenn man nur etwas genauer hinsieht, um ein Zusammentreffen von Interes-
sen, von Angebot und Nachfrage geht, auch natürlich um unterschiedliche
„Preise, wenn es mehr oder weniger attraktive Mitbewerber gibt, ist es – in
der oben eingeführten Terminologie – ein Fall der Konstitutionsinklusion, der
sich als Markt-inklusion vollzieht.
Über diesen Vorgang der Konstitutionsinklusion nach dem Marktprinzip
entstehen, bestehen und wandeln sich zahllose andere Assoziationen, also
nicht-organisierte soziale Gebilde, auch solche mit einer Vielzahl von Akteu-
ren, wie etwa spontane Freizeitgruppen. Die nicht-organisierten kulturellen
Milieus und Szenen, etwa die der neuen sozialen Ungleichheit, entstehen und
„bestehen“ auch so – durch die fortwährende Beteiligung von Akteuren an
den diese sozialen Systeme „definierenden“ Aktivitäten und Stilisierungen.
Und ebenfalls ent- und bestehen und wandeln sich so die diversen Sub- und
Gegenkulturen der Devianz-Bereiche einer Gesellschaft. Sie gibt es nur über
Inklusion und Exklusion 239
die sie aktuell tragenden Akteure. Und sie variieren daher je nach der Anzahl
der so inkludierten Akteure unmittelbar in ihrem Umfang. Wenn die Sub- und
Gegenkulturen immer mehr Akteure mit bestimmten Interessen an sich zie-
hen, dann haben wir es sogar mit einer sozialen Bewegung zu tun. Auch die
konstituieren sich, etwa in der Form einer Demonstration, nur im Moment der
Inklusion der daran teilnehmenden Akteure – und verlaufen sich dann ggf.
wieder. Und weil die Partizipation an diesen sozialen Systemen im Prinzip
nicht geregelt ist, sondern sich (nur) über die Interessen der Akteure entwi-
ckelt, sind das auch alles Fälle der Inklusion über Interessen, und daher eben-
falls eine spezielle Form des Marktgeschehens.
Keineswegs alle Inklusionen erfolgen nur nach Interessen und nur nach dem
Prinzip des Marktes. Viele, womöglich die meisten, geschehen über Regeln,
insbesondere über Rechte und darauf gründende Ansprüche, oft dann aber
auch mit unabweisbaren Pflichten verbunden. Wieder kann danach unter-
schieden werden, ob es über die Anwendung von Regeln zu einer Plazierung
in bereits bestehende soziale Systeme kommt oder ob sich durch die Inklusion
nach Regeln ein soziales System erst konstituiert. Zu einer Plazierung nach
Regeln kommt es beispielsweise bei der Inklusion von Akteuren in einen Na-
tionalstaat durch die Verleihung der Staatsbürgerschaft nach den Bestimmun-
gen des Staatsbürgerschaftsrechtes des jeweiligen Landes. Den jeweiligen
Staat gibt es schon, und in ihm die „Positionen“ der Staatsbürger. Die Neuge-
borenen werden in ihn nach gewissen Regeln des Staatsbürgerschaftsrechtes
inkludiert, etwa nach dem jus soli, das besagt, daß jeder zum Staatsbürger
wird, der auf dem Boden des Staates geboren wird, oder nach dem jus sangui-
nis, das über die ethnische Abstammung bestimmt, wer per Geburt Staatsbür-
ger ist oder nicht. Wer – wie auch immer – eine doppelte Staatsbürgerschaft
besitzt, ist folglich auch gleich in zwei Staaten inkludiert. Und wer keine hat,
ist staatenlos und exkludiert.
Die Plazierungsinklusion nach Regeln gilt für alle möglichen Rechte und
deren Wahrnehmung durch die Akteure. Die Reichweite der Regeln ist dabei
durchaus unterschiedlich. Es gibt allgemeine und nicht ablegbare Rechte, wie
die Grundrechte, über die alle Menschen in die „Gesellschaft“ inkludiert sind
und zu „Bürgern“ werden, und vor denen es beispielsweise keine nicht als
„Menschen“ angesehene Sklaven gibt. Andere Rechte waren oder sind be-
schränkt oder gelten nur unter bestimmten Bedingungen, wie etwa das Wahl-
recht, das zunächst nur wenige hatten und dann erst allmählich zum „allge-
240 Die Konstruktion der Gesellschaft
meinen“ Recht wurde, oder die Anrechte auf die diversen Leistungen des
Wohlfahrtsstaates, wie das Recht auf Bildung, auf Gesundheitsversorgung
und auf Sozialhilfe, wenn alle Stricke reißen. Ein weiterer Fall der Plazie-
rungsinklusion nach Regeln wäre die Mitgliedschaft in – mehr oder weniger:
„exklusiven“ – Klubs, wie das etwa die Rotarier oder der ETUF, der Essener
Tennis- und Fechtverein, sind. Meist gibt es hier sogar sehr strenge Regeln,
gerade weil man nicht jeden, der Interesse hat, hineinlassen möchte, selbst
wenn das einzelne Mitglied das gerne sähe. Das oberste Gut solcher Klubs ist
die Exklusivität, und der freie Markt wäre nur etwas für den Pöbel.
Fälle der Inklusion durch Konstitution nach sozialen Regeln sind nicht leicht
zu finden. Die Staatenbildung könnte man wohl als einen Fall der Konstituti-
onsinklusion nach Regeln ansehen. Mit dem verfassungsgebenden Akt der
Staatsgründung konstituiert sich der (National-)Staat als politische Gemein-
schaft aller derjenigen, die ihm nach einer bestimmten Regel formell zugehö-
ren, ob sie das wollen oder nicht. In ähnlicher Weise könnte man sich die Bil-
dung einer Organisation vorstellen, bei der Akteure beschließen, sich gegen-
seitig nach gewissen Regeln in eine solche Organisation zu inkludieren, etwa
indem sie einen Verein oder eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung grün-
den.
***
Die Regeln und Rechte auf Inklusion fallen natürlich nicht vom Himmel. Sie
werden, wenn man sich nicht konsensuell darauf verständigt, meist mühsam
den Herrschenden abgerungen und schließlich als Gegenleistung für die Erfül-
lung bestimmter Erwartungen zugestanden. Der Wohlfahrtsstaat mit seinen
Privilegien für die unteren Stände war beispielsweise auch als Korrektur der
durch den Markt entstandenen Ungleichheiten und der, so wurde das empfun-
den, damit verbundenen Ungerechtigkeiten und Loyalitätsprobleme gedacht.
Aber das war kein leichter Weg dahin. Denn letztlich ist jedes Zugeständnis
der Herrschenden ein Tausch, und ein Recht wird nur zugestanden, wenn es
dafür eine Gegenleistung gibt (vgl. dazu noch Band 3, „Soziales Handeln“,
dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Was sollte das aber für eine Ge-
genleistung der „Massen“ gewesen sein? Die Antwort ist nicht schwer: An-
ders noch als Karl Marx geglaubt hatte, besaßen die Massen im sich entfal-
tenden Kapitalismus und den sich ändernden Produktionsstrukturen durchaus
mehr als nur ihre Arbeitskraft, ihre Nachkommen und ihre Ketten. Der Staat
und die Wirtschaft brauchten zunehmend ihre Loyalität und ihre Qualifikation
und, nicht zuletzt, das Militär auch ihre Gesundheit. So wurden, beispielswei-
se, die allgemeine Schulpflicht eingeführt und die Kinderarbeit verboten –
und das ganze mit allerlei Moral und Soziallehre verziert. Die Rechte wurden
den Positionsträgern in der „Gesellschaft“ dabei geradezu abgerungen, und
stets die relativ „billigsten“ zuerst: am Anfang die noch verhältnismäßig kos-
tenfreien Bürgerrechte, dann die für die Herrschenden nicht ungefährlichen
politischen und dann erst die auch materiell teuren sozialen Rechte des Wohl-
fahrtsstaates.1 Und auch dann noch ging es immer streng nach Leistung und
Gegenleistung: Das Wahlrecht bekamen beispielsweise zuerst nur die Vermö-
genden, dann gab es das Dreiklassenwahlrecht und schließlich doch das heute
übliche allgemeine Wahlrecht nach dem Prinzip „one man, one vote“. Und in
der Schweiz durften bis vor kurzem tatsächlich nur die Männer wählen.
Das aber zeigt, daß bei der Etablierung von Regeln – letztlich(!) – doch wie-
der die Interessen und der Markt das Geschehen bestimmen, und damit die mit
der Kontrolle über Ressourcen verbundene Macht der Akteure in gewissen
1
Vgl. dazu Thomas H. Marshall, Bürgerrechte und soziale Klassen. Zur Soziologie des
Wohlfahrtsstaates, Frankfurt/M. und New York 1992, S. 40-52 insbesondere.
242 Die Konstruktion der Gesellschaft
Die Konstitution der sozialen Systeme und die Inklusion der Akteure ist, auch
in seiner gleichgewichtigen Reproduktion, kein statischer Vorgang, sondern
ein immerwährender Prozeß. Die Systeme können sich erweitern und immer
mehr Akteure einbeziehen, wie bei einer Modeströmung etwa, sie können a-
ber auch in ihrer Reichweite verfallen, weil die Akteure sich nicht mehr betei-
ligen mögen, wie das bei den großen Kirchen derzeit der Fall ist. Ein wichti-
ger Spezialfall der Systembildung gerade durch die zunehmende Inklusion
von zuvor „exkludierten“ Akteuren ist die „evolutionäre“ Entstehung einer
funktionalen Sphäre. Wir haben ihn bereits in Abschnitt 3.1 in diesem Band
am Beispiel der Ausdifferenzierung der modernen Medizin über die Einrich-
Inklusion und Exklusion 243
tung von Hospitälern im Mittelalter kennengelernt.2 Dieser Fall ist hier auch
deshalb interessant, weil sich an ihm zeigt, daß bei der Entstehung sozialer
Systeme ganz verschiedene Typen von Prozessen der Inklusion – gleichzeitig
oder nacheinander – beteiligt sein können.
Die fachlich-neugierige „Nachfrage“ der Ärzte nach möglichst vielen und bei Komplikatio-
nen während der medizinischen Experimente möglichst wenig widerspenstigen menschlichen
Körpern erzeugte einen Bedarf an, wie es auch heißt, „Publikumsrollen“. Das sind in der
Sprache der älteren Soziologie die den Ärzten mit ihren „Leistungsrollen“ zugeordneten „Po-
sitionen“ von Patienten. Bis dahin wußte das gemeine Volk außerhalb des fürstlichen Hofes
gar nicht, daß es für die Ärzte am Hof interessant sein könnte, und die Ärzte kamen zunächst
auch ganz gut ohne irgendein weiteres „Publikum“ aus. Daher gab es zunächst auch nur die
„Leistungsrollen“ der Ärzte bei Hof. Das gemeine Volk ließ sich natürlich nicht zweimal bit-
ten, und war auch zufrieden damit, nur als anonymer Körper in der formalen „Position“ eines
Patienten behandelt zu werden: Es hatte ein großes Interesse an der Inklusion in die sich ent-
wickelnde Medizin und stand bereitwillig zur „Ausweitung“ der Medizin auf die Publikums-
rolle zu Verfügung. Das aber führte – schrittweise – wiederum zu einer Homogenisierung der
Ärzte als medizinische Praktiker und gleichzeitig zu ihrer Spezialisierung, etwa als Chirur-
gen, Pharmazeuten oder Heilkundige, und zu einem Aufstieg der Krankenhausärzte vom Ar-
menmediziner zur professionellen Elite. Die zunehmende Inklusion der Massen aber, als Fol-
ge eines beiderseitigen Bedarfs danach, gibt dem so entstehenden sozialen System der Medi-
zin erste funktionsspezifische Konturen und verleiht ihm in den Hospitälern eine organisato-
rische Grundlage, mit schließlich sorgfältig verwalteten Positionen und Vakanzen – Betten,
Ärzte, Pflegepersonal – und allerlei Regeln der „Einweisung“ und der „Entlassung“.
2
Vgl. Rudolf Stichweh, Inklusion in Funktionssysteme der modernen Gesellschaft, in: Re-
nate Mayntz, Bernd Rosewitz, Uwe Schimank und Rudolf Stichweh, Differenzierung und
Verselbständigung. Zur Entwicklung gesellschaftlicher Teilsysteme, Frankfurt/M. und
New York 1988, S. 263f.
244 Die Konstruktion der Gesellschaft
Die moderne Gesellschaft ist, wie wir schon mehrmals festgestellt haben,
durch einen speziellen Typ der sozialen Differenzierung geradezu definiert:
die funktionale Differenzierung. Das heißt: Die Gesellschaft ist unterteilt in
deutlich abgegrenzte Sub-Systeme mit jeweils ganz spezifischen funktionalen
Aufgaben und lebt fast ganz vom arbeitsteiligen Funktionieren der funktiona-
len Sphären. Die moderne Gesellschaft ist, wenn man so will, ein gigantischer
„Markt“ von unzähligen speziellen Angeboten und speziellen Nachfragen und
einer weit ausgebauten Arbeitsteilung und Interdependenz der verschiedenen
funktionalen Sphären. Wie bei jeder „funktionierenden“ Arbeitsteilung ist da-
Inklusion und Exklusion 245
bei kein Bereich „wichtiger“ oder „unwichtiger“ als ein anderer. Jede Funkti-
on ist, wenn das „System“ einmal so „besteht“, gleich bedeutsam und damit
auch gleichermaßen unentbehrlich. Diese funktionale Gleichheit der Systeme
ergibt sich dabei gerade aus ihrer funktionalen Unterschiedlichkeit und Un-
gleichartigkeit: Die Müllabfuhr, der Fluglotsendienst und die Finanzämter
sind jeweils etwas ganz anderes. Die Müllabfuhr ist aber genau deshalb funk-
tional ebenso wichtig wie, sagen wir, die Fluglotsen oder die Finanzbeamten,
weil außer der Müllabfuhr niemand den Müll wegräumen würde. Und wenn
ein Bereich einmal ausfällt, etwa weil die Müllarbeiter oder die Fluglotsen
streiken oder die Finanzbeamten wegen Überlastung nicht mehr mitkommen,
dann hat das gleich ernste Konsequenzen für alle.
Aus der Gleichheit der funktionalen Bedeutung der funktionalen Sphären
in den modernen Gesellschaften könnte man einen, wenn man nicht aufpaßt,
einfachen Schluß ziehen: Daß sich mit der zunehmenden funktionalen Gleich-
heit der funktionalen Systeme auch die vertikale Ungleichheit unter den Ak-
teuren verringern müsse oder, wenn nicht, daß dies ein unbeachtliches Neben-
produkt oder ein Relikt alter vormoderner Zeiten wäre. Was spricht, so fragt
Niklas Luhmann etwas spöttisch, dagegen, „daß Nobelpreisträger sich selbst
die Schuhe putzen müssen und ihre Freunde auf ihrem Sofa schlafen lassen?“.
Die Antwort: „Das Prinzip funktionaler Differenzierung spricht dafür.“3 So ist
es. Und so wird das Konzept der sozialen Klassen zu einer längst überholten
Form der Selbstbeschreibung der Gesellschaft, für die es nun keine strukturel-
le Grundlage (mehr) gebe:4 Die funktionale Ungleichartigkeit der Systeme er-
zwinge ihre funktionale Gleichrangigkeit und damit – wenigstens in der Ten-
denz – die gesellschaftliche wie soziologische(!) Bedeutungslosigkeit der ver-
tikalen (und auch der horizontalen) sozialen Ungleichheit – der Menschen, na-
türlich (siehe dazu auch noch den Exkurs über die unvermutete Entdeckung
der leibhaftigen Menschen und des Elends in der Welt durch die soziologische
Systemtheorie gleich unten).
Und in der Tat: Nach einer langen Geschichte der stetigen Zunahme der
sozialen Ungleichheit von der Urzeit der menschlichen Gesellschaften über
die großen Staats- und Feudalgesellschaften des Mittelalters hat es in den mo-
dernen Gesellschaften einen Umschwung des Trends zur zuerst immer größer
werdenden vertikalen Ungleichheit gegeben (vgl. Abbildung 5.2).
3
Niklas Luhmann, Zum Begriff der sozialen Klasse, in: Niklas Luhmann (Hrsg.), Soziale
Differenzierung. Zur Geschichte einer Idee, Opladen 1985, S. 145.
4
Ebd., S. 143ff.; vgl auch: Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frank-
furt/M. 1997, Kapitel 5, Abschnitt XVI.: Klassengesellschaft, S. 1055-1060.
Inklusion und Exklusion 247
mender funktionaler Differenzierung liegen auf der Hand. Zwei Prozesse sind
vor allem zu nennen: die sog. Vollinklusion der Akteure in die Gesellschaft
und die Kreuzung der sozialen Kreise. Hinzu kommt ein normativer Zug der
Modernisierung: die – auch politisch artikulierte – Forderung nach der Aufhe-
bung von Diskriminierungen, Ungerechtigkeiten und nicht durch „Leistung“
erzeugter Ungleichheit. Freiheit und Gleichheit sind die Imperative der mo-
dernen Gesellschaft, aber, das sei vorsichtshalber gleich hinzugefügt, nicht
zwingend auch noch die Brüderlichkeit. Das meinten zuletzt nur noch Oskar
Lafontaine und sein Staatssekretär Flassbeck, sowie der Papst aus Rom.
Vollinklusion
Die Kreuzung der sozialen Kreise ist, wie wir aus Kapitel 2 dieses Bandes und
mit Georg Simmel wissen, die gleichzeitige Mitgliedschaft in mehreren sozia-
len Systemen mit verschiedenen „Systemlogiken“. Man könnte auch von einer
multiplen Partialinklusion der Akteure sprechen. Ein schönes soziologisches
Kunstwort haben wir damit erfunden. Mal sehen, ob es sich durchsetzt in je-
nen Zweigen der Soziologie, die sich mit komplizierten Ausdrücken aufzu-
blähen pflegen. Gemeint ist, daß die Akteure einerseits keinem der sozialen
Systeme „ganz“ angehören, sondern immer nur ausschnittsweise mit einem
Teil ihrer Identität, daß sie auf diese Weise dann aber andererseits gleich in
mehrere soziale Systeme inkludiert sind, womöglich mit drastisch unter-
schiedlichen funktionalen Aufgaben und Codes.
Die wichtigste Folge davon sind hohe Statusinkonsistenzen und die „Indi-
vidualisierung“ der Akteure insofern, daß sie immer „exklusivere“ Kombina-
tionen von Zugehörigkeiten haben, die sie mit immer weniger anderen Akteu-
ren teilen. Auf diese Weise verringert sich erstens die schiere Zahl der Akteu-
re in gleichen gesellschaftlichen Lagen. Wegen der nurmehr partiellen Betei-
ligung ist zweitens auch die Identifikation mit dem System jeweils nur par-
tiell. Und es überkreuzen sich drittens wegen der unterschiedlichen Systemlo-
giken auch die Interessen und die Möglichkeiten und damit die Konfliktlinien.
Das hat eine weitere Folge: Die „Identität“ der Akteure zerfällt ebenfalls in
lauter verschiedene, in multiple Teilidentitäten, und die Menschen wissen
bald kaum mehr, wer oder was sie eigentlich „sind“ (vgl. dazu auch noch
Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Die Kreuzung der sozialen Kreise ist eine unmittelbare Folge der Logik der
funktionalen Differenzierung: Gerade weil es keine Inklusion mehr nach Ver-
erbung oder Zuschreibung, sondern nur noch nach „Leistung“ geben soll, ver-
teilen sich die Akteure mehr und mehr nach den Zufällen ihrer Rekrutierung
in die Funktionssysteme. Und daher wird die soziale Ungleichheit, das Muster
der durch die Inklusion erzeugten gesellschaftlichen Lagen, auch „zufällig“.
Meinte die soziologische Systemtheorie früher und erklärte die soziale Un-
gleichheit und die sozialen Klassen für ein Relikt der Vormoderne.
Totalexklusion
In die „Gesellschaft“ ganz allgemein waren die Menschen – bis auf wenige
Ausnahmen – eigentlich immer einbezogen. In den Stammesgesellschaften
der Urzeit gab es keine „Außenseiter“, weil sie keine Überlebenschance hat-
ten. Und auch in den Staats- und Feudalgesellschaften des Mittelalters blieb
es im Prinzip dabei, daß jeder dazugehörte und in seinem jeweiligen „Stand“
seinen Platz und seine Heimat fand. Und wenn nicht, dann waren er oder sie
wenigstens noch Kinder Gottes. Aber es gab sie in den Feudalgesellschaften
durchaus schon, die Exklusion aus der Gesellschaft. Niklas Luhmann be-
schreibt das sehr anschaulich so:
250 Die Konstruktion der Gesellschaft
„Man findet seinen sozialen Status (in den Feudalgesellschaften; HE) in der Schicht, der man
angehört. ... . Sie (die Inklusion; HE) obliegt den Familien bzw. (für Abhängige) den Famili-
enhaushalten. Irgendwo war man danach durch Geburt oder Aufnahme zu Hause. Exklusion
war, zum Beispiel aus Gründen der wirtschaftlichen Not oder mangelnder Heiratschancen,
möglich. Es gab zahlreiche Bettler. Auch konnten je nach Schichtlage die Klöster, die ‚unehr-
lichen‘ Berufe oder die Handels- und Kriegsmarine im Exklusionsbereich ihr Personal rekru-
tieren. Als Letztabnehmer blieben die Piratenschiffe der mittelamerikanischen Inselwelt. Es
wird sich, schon im Mittelalter und erst recht in der Frühmoderne, um eine beträchtliche Per-
sonenzahl gehandelt haben.“ (Luhmann 1997, S. 622; Hervorhebung nicht im Original)
Daß das Mißlingen von Inklusionskarrieren und die Erzeugung von ganzen
sozialen Klassen an „Zaungästen“ der Multifunktionsgesellschaft mit dem
weiteren Vordringen der funktionalen Differenzierung eher wahrscheinlicher
wird, liegt an der Logik der funktionalen Differenzierung selbst. Die Inklusio-
nen in die verschiedenen funktionalen Systeme hängen nämlich oft eng mit-
Inklusion und Exklusion 251
So kann es leicht dazu kommen, daß es schließlich mehr und mehr Menschen
gibt, die aus ganz unmerklichen Zufällen heraus in diese Exklusionsdynamik
hineingeraten, dann u.U. auch keinem einzigen funktionalen System mehr an-
gehören und zwischen allen Stühlen sitzen – inmitten einer reichen Gesell-
schaft. Dieser Vorgang wird auch als Marginalisierung bezeichnet: Die
Schnittmenge der Zugehörigkeiten ist gleich null. Und das einzige soziale
System, dem man dann noch angehört, ist die Szene der Obdachlosen am
Bahnhof oder die favelas draußen vor den Toren der großen Stadt. Tota-
lexklusionen und Marginalisierungen werden über solche Abweichungsver-
stärkungen und über die Mehrfachabhängigkeiten der Funktionssysteme zur
direkten Folge der funktionalen Differenzierung:
„Wer keine Adresse hat, kann nicht zur Schule angemeldet werden (Indien). Wer nicht lesen
und schreiben kann, hat kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt, und man kann ernsthaft disku-
tieren (Brasilien), ihn vom politischen Wahlrecht auszuschließen. Wer keine andere Möglich-
keit findet unterzukommen, als auf dem illegal besetzten Land der favelas, genießt im Ernst-
fall keinen Rechtsschutz; aber auch der Eigentümer kann seine Rechte nicht durchsetzen,
wenn die Zwangsräumung solcher Gebiete politisch zu viel Unruhe erzeugen würde. Die Bei-
spiele ließen sich vermehren ... .“ (Luhmann 1997, S. 631)
252 Die Konstruktion der Gesellschaft
Spätestens mit dem Phänomen der Totalexklusion sind wir wieder bei der
Frage angelangt, wie es kommen mag, daß es in den modernen Gesellschaften
zwar deutliche Egalisierungstendenzen gibt, aber auch weiterhin starke verti-
Inklusion und Exklusion 253
Klassen? Revolution?
Sieht man sich die Logik der funktionalen Differenzierung einmal auf diese
Weise an, dann wird schon verständlich, warum in der gegenwärtigen Sozio-
logie Begriffe wie „soziale Klasse“ nicht mehr so gerne verwendet werden. Es
gibt zwar soziale Ungleichheiten nach wie vor, ganz massive sogar, aber die
„Klassen“ im Sinne großer Aggregate mit ähnlichen Interessen gibt es an-
scheinend nicht mehr oder nur noch in immer feineren Differenzierungen, wie
die Weiterentwicklungen der Klassenschemata gezeigt haben (vgl. Abschnitt
4.3 in diesem Band). Es gibt, wenn man von den neueren Entwicklungen der
Totalexklusionen einmal absieht, offenbar nur noch partialinkludierte Akteure
mit einigen Rechten auf Vollinklusion, überkreuzten Zugehörigkeiten und
zersplitterten Identitäten.
Gerade wegen dieser „Individualisierung“ der funktionalen Inklusionen können sich jetzt
auch die kulturellen Gewohnheiten von den „Klassenlagen“ ablösen, und es können sich –
quer zu den funktionalen Sphären und sozialen Schichten – kulturelle Milieus als eigene Di-
mension der sozialen Differenzierung herausbilden (vgl. dazu schon Abschnitt 4.4 in diesem
Band). Genau aus dem gleichen Grunde bedürfen die funktional differenzierten Gesellschaf-
ten auch keiner übergreifenden Werte mehr: Sie „bestehen“ alleine durch das Ineinandergrei-
fen der Systeme. Und es gibt auch keine kollektiven „Subjekte“ mehr, die ein Interesse oder
die Möglichkeit hätten, daran etwas zu ändern.
Die Soziologie ist gewiß nicht arm an seltsamen Debatten, und ein steter
Quell für immer neue, wenngleich oft nicht unfruchtbare, Verwirrungen ist
die soziologische Systemtheorie, wie sie Niklas Luhmann in mehr als drei
Jahrzehnten einer gigantischen Bemühung entwickelt und kurz vor seinem
Tode mit dem opus maximum „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ in gewisser
Weise abgeschlossen hat. Darin kamen und kommen viele neue, höchst wich-
tige und richtungsweisende Einsichten und Perspektiven vor, aber auch zahl-
lose sonderbare Vorstellungen, etwa die, daß es beim Prozessieren der sozia-
len Systeme keine „Sinnlosigkeit“ geben könne, weil alles, was ein soziales
System sei, auch Sinn habe, denn wenn es den Sinn nicht hätte, dann gäbe es
das System als „soziales“ System nicht, weil die ja immer „sinnprozessieren-
de“ Systeme seien. Es ist ein wenig so wie bei den ohne Zweifel zutreffenden
Wahrheiten, daß Hypochonder nicht krank werden und Tautologien nicht
5
Vgl. verschiedene Beiträge bei Pierre Bourdieu u.a., Das Elend der Welt. Zeugnisse und
Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Konstanz 1997.
Inklusion und Exklusion 255
Und deshalb wäre, wenn man die leibhaftigen Menschen und deren Handeln
in die soziologische Theoriebildung miteinbeziehe, von der (Welt-)Ge-
sellschaft als einem entschieden zu unhandlichen Oktopus mit den 5 bis 6
Milliarden Krakenarmen auszugehen. Davon geht, wörtlich gesprochen, na-
türlich ohnehin niemand aus, auch der Methodologische Individualismus
selbstverständlich nicht, weil soziale Systeme ja auch in dieser Perspektive
stets ein emergentes Produkt des Handelns der Menschen sind und deshalb si-
cher nicht (allein) aus Menschen „bestehen“ (vgl. dazu auch schon Kapitel 1
in diesem Band). Aber auch das wird dementiert: Soziale Systeme bestünden
nicht aus Handlungen, sondern aus „Kommunikation“, und der Einwand, daß
jede Kommunikation auch nichts als ein emergentes Phänomen kommunikati-
ver Akte von menschlichen Akteuren sei, ist bis heute nicht beantwortet wor-
den. Kurz: Ein Methodologischer Individualismus und der systematische Ein-
bezug der Existenz und des Handelns der menschlichen Akteure in die Theo-
riebildung, wie sie für das Modell der soziologischen Erklärung so grundle-
gend sind, kommt für die soziologische Systemtheorie grundsätzlich nicht in
Frage. Menschen sind allenfalls als „psychische Systeme“ am sozialen Ge-
schehen beteiligt und ansonsten bloße „Umwelt“ der sozialen Systeme – und
nicht Träger, Motoren und Objekte des Geschehens. Für den Methodologi-
schen Individualismus und die Idee, daß Gesellschaften auch von leibhaftigen
Menschen „bevölkert“ sind, die die Vergesellschaftung über ihr Bemühen um
Reproduktion und Nutzenproduktion antreiben, und es leibhaftige Menschen
auch „außerhalb“ jeder (guten) Gesellschaft geben könne, hatte Luhmann da-
her auch nie eine Spur von Verständnis.
Seit einiger Zeit gibt es nun, daran unmittelbar anschließend, die gerade
oben erwähnte These, wonach es die soziale Ungleichheit zwar immer noch,
6
Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M.
1984, S. 346.
256 Die Konstruktion der Gesellschaft
auch deutlich und wahrnehmbar, gebe, daß sie aber soziologisch keine beson-
dere Bedeutung mehr habe. Sie wissen schon: Selbst Nobelpreisträger müssen
sich ihre Schuhe putzen. Und warum? Ganz einfach: War früher die Schich-
tung der Gesellschaft, etwa in Stände, in der Tat noch ein gesellschaftskonsti-
tutives Prinzip, so ist sie das heute unter dem Primat der funktionalen Diffe-
renzierung eben nicht mehr. Die Verteilung der Güter und Ressourcen ist nur
noch „dem Zufall überlassen“ (Luhmann 1985, S. 145), dem Zufall der Inklu-
sionskarrieren der Menschen, die aber ja – bis dahin wenigstens – ganz uner-
heblich sind für die soziologische Systemtheorie. Zählen tut nur das Prozes-
sieren und die – angeblich – akteursfreie Eigendynamik der funktionalen
Systeme.
Dann kam der favelas-Schock. Luhmann besuchte Anfang der 90er Jahre
Brasilien, erlebte – wie man hört: eher unfreiwillig – die favelas dort und
stellte erschrocken fest, daß es an den Rändern der modernen Gesellschaften –
unglaublich! – Bereiche gibt, in denen unsägliches Elend herrscht, wo die
Menschen nur noch als „Körper“ zählen, in bedrohlichen Massen ganz real
vorkommen und sich dort auch bemerkbar machen. Das aber ganz außerhalb
der „Gesellschaft“, so wie früher das gemeine Volk, die „Barbaren“ oder die
„Idioten“, der lange Zeit sehr große Rest der Bevölkerung eben, den es neben
der „guten Gesellschaft“ etwa des Adels auch noch gab, aber noch nicht in
Publikumsrollen einbezogen war. Was nun? Aufgearbeitet hat Luhmann den
Schock in einem Aufsatz, mit dem das Begriffspaar „Inklusion und Exklusi-
on“ seinen endgültigen Einzug in die soziologische Begrifflichkeit hielt.7 Das
Fazit: Offenbar gibt es doch außerhalb der sozialen Systeme leibhaftige Men-
schen, und inmitten einer sich modernisierenden Gesellschaft auch massive
und systematische soziale Ungleichheiten, in der Form des schreiendsten E-
lends sogar.
Die Erkenntnis muß für Luhmann und für die ihm stets brav folgenden
Systemtheoretiker auch ein unfaßbarer theoretischer Schock gewesen sein,
zumal sie der Meister selbst aufgeschrieben hat. Müßte man jetzt nicht eigent-
lich einige der zentralen Postulate ändern und vor allem endlich zugestehen,
daß es die lebendigen Menschen und ihre Versuche zur Reproduktion sind,
von denen alle gesellschaftlichen Prozesse alle ihre Dynamik beziehen? Und
wäre das jetzt nicht auch eine Gelegenheit, die soziale Ungleichheit der Ak-
teure neben der sozialen Differenzierung der Systeme auch als Teil der wirkli-
chen gesellschaftlichen Strukturen wieder anzuerkennen? Und in der Tat. Seit
einiger Zeit gibt es eine Reihe von Anläufen, die soziologische Systemtheorie
7
Niklas Luhmann, Inklusion und Exklusion, in: Niklas Luhmann, Soziologische Aufklä-
rung 6. Die Soziologie und der Mensch, Opladen 1995, S. 237-264.
Inklusion und Exklusion 257
Genau das war aber immer schon in der sog. Rollentheorie gesagt worden und
stimmt, wenigstens teilweise, mit dem Konzept der „(Sozial-)Integration“ ü-
berein, so wie David Lockwood diesen Begriff im Jahre 1964 eingeführt hat.9
Und die Folge: Während es zuvor nur psychische und soziale Systeme gab,
die sich wechselseitig konstituieren und nicht unabhängig voneinander denk-
bar sind, gibt es nun tatsächlich auch Menschen, die in bereits bestehende
funktionale Systeme eingegliedert sind, und andere eben nicht. Und manche
8
Vgl. etwa Armin Nassehi, Inklusion oder Integration? Zeitdiagnostische Konsequenzen
einer Theorie von Exklusions- und Desintegrationsphänomenen, in: Karl-Siegbert Reh-
berg (Hrsg.), Differenz und Integration. Die Zukunft moderner Gesellschaften, Opladen
1997, S. 621; Uwe Schimank, Funktionale Differenzierung und soziale Ungleichheit: die
zwei Gesellschaftstheorien und ihre konflikttheoretische Verknüpfung, in: Hans-Joachim
Giegel (Hrsg.), Konflikt in modernen Gesellschaften, Frankfurt/M. 1998, S. 62ff.; Tho-
mas Schwinn, Soziale Ungleichheit und funktionale Differenzierung. Wiederaufnahme
einer Diskussion, in: Zeitschrift für Soziologie, 27, 1998, S. 4ff.
9
David Lockwood, Social Integration and System Integration, in: George K. Zollschan und
Walter Hirsch (Hrsg.), Explorations in Social Change, London 1964, S. 244-257.
258 Die Konstruktion der Gesellschaft
Die Gesellschaft wird doch tatsächlich von Menschen „bevölkert“, die ir-
gendwo leibhaftig wohnen, wenngleich für die gute Gesellschaft unsichtbar!
Unglaublich! Zwar wird auch weiterhin von allerlei gesellschaftlichen Seman-
tiken der Inklusion und der Exklusion der vielen menschlichen „Körper“ be-
richtet, so als ob erst die Semantiken irgendwelcher „Beobachter“ die Wirk-
lichkeit der Existenz von lebenden Menschen und ihrer Reproduktion herstell-
ten oder außer Kraft setzten. Menschen leben und vergesellschaften sich auch
unabhängig von bestimmten Semantiken ihrer Beschreibung oder Etikettie-
rung. Die Benennungen und Semantiken der Menschen da draußen machen
sie nicht unsichtbar und reduzieren sie auch nicht wieder auf bloße „psychi-
sche Systeme“. Sie sind ganz einfach da – als psycho-biologische Organismen
mit Bedürfnissen in einer sozialen Umgebung, die sie zu einer ganz eigenen
Form der Vergesellschaftung zwingt. Es sind zwar keine sechs Milliarden an
der Zahl, aber es gibt sie in durchaus beachtlicher Größenordnung. Und sie
beginnen, gerade weil die Zahl steigt, mit ihrer ganz eigenen Vergesellschaf-
tung, und zwar außerhalb der etablierten Funktionssysteme, in Brasilien und
wo immer sonst. Die Menschen in den favelas bilden, wenn man so will, ei-
Inklusion und Exklusion 259
men und von Akteuren. Und so wie man deshalb nicht sagen kann, daß das eine beachtlicher
oder wirklicher sei als das andere, kann man die funktionale Differenzierung auch nicht ge-
gen die soziale Ungleichheit ausspielen – und umgekehrt. Die Instrumente der soziologischen
Erklärung zeigen, wie sich das Zusammenspiel theoretisch erfassen läßt. Um dieses Wechsel-
spiel von funktionaler Differenzierung und sozialer Ungleichheit anzugehen, wird daher auch
keine, wie das zum Beispiel Uwe Schimank (1998, S. 76) vorschlägt, „Komplementarität“ ei-
ner „Differenzierungstheorie“ mit einer „Ungleichheitstheorie“ benötigt, weil es jeweils
wechselseitige „blinde Flecke“ gäbe. Man kann mit den Mitteln des Modells der soziologi-
schen Erklärung, wie wir gesehen haben, beide Phänomene in einem Akt und gleich sozusa-
gen mit stereoskopischer Tiefenschärfe behandeln – weil das Modell der soziologischen Er-
klärung die wechselseitige Konstitution von Mensch und Gesellschaft in seinem Zentrum hat
und die leibhaftigen Menschen nicht zur belanglosen Umwelt der sozialen Systeme erklärt,
sie aber auch nicht, wie das der Psychologismus und manche Variablensoziologie tun, zur
einzigen oder autonomen Größe des sozialen Geschehens hinaufstilisiert.
Integration
Die soziale Differenzierung bezieht sich auf die Unterschiedlichkeit der sozialen
Systeme einer Gesellschaft, die soziale Ungleichheit auf die der gesellschaftli-
chen Lagen der Akteure. Mit der Zunahme der funktionalen Differenzierung
wachsen die Widersprüchlichkeiten und die Eigensinnigkeiten in den Sinn-
Codierungen der sozialen Systeme. Und es nehmen darüber, nicht zuletzt über
den so möglichen gesellschaftlichen Surplus, auch die Chancen für vertikale so-
ziale Ungleichheiten und für Interessenunterschiede, für systematische Konflikt-
linien und für Gefühle der ungerechtfertigten Benachteiligung zu. Und sofort
stellen sich die beiden Fragen: Wie gelingt es, die zentrifugalen Tendenzen der
sozialen Differenzierung wieder aufzufangen, „damit“ das System der Gesell-
schaft nicht, sozusagen, „explodiert“? Und wie kann es zu einer Überbrückung
oder Neutralisierung der Spannungen aus der Zunahme der sozialen Ungleichheit
kommen, „damit“ die Gesellschaft nicht in unüberwindbare Spaltungen zerfällt?
Es ist die Frage nach der Integration der Gesellschaft und die nach der sozialen
Ordnung ganz allgemein.
Unter Integration wird generell der Zusammenhalt von Teilen in einem „systemi-
schen“ Ganzen und die dadurch erzeugte Abgrenzung von einer unstrukturierten
Umgebung verstanden, gleichgültig zunächst worauf dieser Zusammenhalt be-
ruht.1 Die Teile müssen, wie man auch sagen könnte, ein „integraler“, also ein
1
Vgl. zu einem Überblick über die wichtigsten soziologischen Überlegungen und Konzepte
zum Problemkreis der Integration: Richard Münch, Elemente einer Theorie der Integrati-
on moderner Gesellschaften. Eine Bestandsaufnahme, in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.),
Was hält die Gesellschaft zusammen? Bundesrepublik Deutschland: Auf dem Weg von
der Konsens- zur Konfliktgesellschaft, Band 2, Frankfurt/M. 1997, S. 66-109. Siehe auch
verschiedene Beiträge in Jürgen Friedrichs und Wolfgang Jagodzinski (Hrsg.), Soziale In-
262 Die Konstruktion der Gesellschaft
nicht wegzudenkender, Bestandteil des Ganzen sein. Der Gegenbegriff ist der der
Segmentation oder des Zerfalls eines Systems und der Auflösung seiner Grenzen
zur Umgebung. Die Integration eines Systems ist somit über die Existenz von be-
stimmten Relationen zwischen den Einheiten und zur jeweiligen Umwelt defi-
niert. Und je nach Struktur dieser Relationen kann ein System auch „mehr“ oder
„weniger“ integriert sein. Der eine Extremfall ist die komplette Abhängigkeit des
„Verhaltens“ der Teile voneinander und die strikte Abgrenzung zur Umwelt, der
andere die komplette Unabhängigkeit der Teile und das „antropische“ Aufgehen
in die Umgebung.
Abhängigkeit bzw. Unabhängigkeit der Teile voneinander und Abgrenzungen kann es jeweils
natürlich auf ganz verschiedene Weise und für sehr unterschiedliche Arten von Systemen ge-
ben. Integriert wäre beispielsweise eine Nachbarschaft als soziales System, wenn sich die
Familien kennen und gegenseitig besuchen, sogar, wenn sie Krach miteinander haben, und
wenn man gut vorhersagen könnte, was die Familie X tut, wenn in der Familie Y, sagen wir,
die Großmutter stirbt. Nicht-integriert bzw. segmentiert wäre die Nachbarschaft, wenn die
Familien zwar räumlich beieinander wohnen, aber sonst nichts miteinander zu tun haben, iso-
liert nebeneinander her existieren und voneinander keinerlei Notiz nehmen – so, wie das
weitgehend noch für die Einzelnationen in Europa oder für Ost- und Westdeutschland der
Fall ist, die jeweils auch alle weit von einer wirklichen, nicht nur formalen „Integration“ ent-
fernt sind. Kulturelle Systeme sind, so hatten wir in Kapitel 2 festgehalten, mentale Modelle
der Orientierung und des Verhaltens in Form von Frames und Skripten. Auch die können, als
„belief systems“, mehr oder weniger integriert sein, beispielsweise in der Weise, daß es zu ei-
ner rahmenden Orientierung genau ein festliegendes Skript gibt, gegenüber dem Fall, daß al-
les offen bleibt und vom Akteur immer wieder neu „entschieden“ werden muß, was zu tun ist.
Schließlich können auch psychische Systeme unterschiedlich integriert sein: Entweder stehen
die verschiedenen Teile der „Identität“ des Akteurs zusammenhanglos nebeneinander, oder
sie bilden eine abgestimmte, übergreifende Einheit, etwa über das moralische Bewußtsein ei-
ner ausgebauten Ich-Identität (vgl. dazu schon Band 1, „Situationslogik und Handeln“, sowie
noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Wir betrachten im folgen-
den nur noch die Integration der sozialen Systeme.
Das Problem der „Einheit in der Vielfalt“ ist eine der Ausgangsfragen der So-
ziologie überhaupt. Es wird meist mit der These von Herbert Spencer in Ver-
bindung gebracht, der gemeint hatte, daß eine evolutionär sich vollziehende
arbeitsteilige Differenzierung von Gesellschaften stets von der Entwicklung
neuer Formen der Integration der dann ganz andersartig gewordenen Teile zu
einem dennoch kohärenten Ganzen begleitet sei. Spencer meinte ferner, daß
sich die Integration in den modernen, „industriellen“ Gesellschaften über die
anonyme Bindekraft bilateraler Verträge vollziehe, über die Kräfte des Mark-
tes also, und daß dort deshalb die traditionalen Formen der Integration, etwa
eine despotische Oberaufsicht, gesamtgesellschaftlich übergreifende Verträge
oder kollektive Gemeinschaftsgefühle, wie sie die „kriegerischen“ Gesell-
Diese Idee hat dann, wie wir wissen, Talcott Parsons aufgegriffen und zu der
bekannten struktur-funktionalen Theorie der Soziologie weiterentwickelt, de-
ren Grundlage das sog. AGIL-Schema war. Das Kernstück der Überlegungen
war die These, daß die gleichgewichtige Existenz eines jeden sozialen Sys-
tems von der beständigen Erfüllung von genau vier funktionalen Erfordernis-
sen abhinge: Anpassung, Zielverwirklichung, Mustererhaltung und – eben –
die Integration des Systems. Für diese Funktion der Integration im Rahmen
des Gesellschaftssystems hatte Parsons dann – folgerichtig – ein eigenes ge-
sellschaftliches Sub-System angenommen: die gesellschaftliche Gemein-
schaft. Das war die gesellschaftliche Verortung der Gefühle der Solidarität
und der sozialen Mechanismen zu deren Erhalt und Stärkung im arbeitsteilig
gedachten Funktionszusammenhang des interaktiven Austausches mit den drei
anderen Sub-Systemen: Wirtschaft, Politik und Treuhandsystem. Die
„Integration“ der Gesellschaft bestand in dieser Sicht also aus einer doppelten
Vorkehrung: Aus der beständigen Erfüllung des funktionalen Erfordernisses
264 Die Konstruktion der Gesellschaft
Soziale Systeme, und damit die Gesellschaften, konstituieren sich über soziale
Relationen. Das sind wechselseitig aufeinander bezogene Orientierungen und
Akte, soziale Kontakte, Interaktionen, Kommunikationen, soziale Beziehungen
oder Transaktionen aller Art, die man zusammenfassend auch als soziales Han-
deln bezeichnet (vgl. dazu noch Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen
Grundlagen“ ausführlich). Aber das ist nur die empirische Oberfläche. Hinter
dem sozialen Handeln und, insbesondere, hinter jeder Kommunikation, die die
Relationen und damit die Integration der sozialen Systeme tragen, stehen stets
objektive Strukturen: die materiellen Interdependenzen, in die die Akteure über
typische Muster der Verteilung der Kontrolle über interessante Ressourcen ein-
gebunden sind, die institutionellen Regeln der „Verfassung“ der jeweiligen Ge-
Integration 265
sellschaft, die die Beziehungen zwischen den „Positionen“ in den sozialen Sys-
temen regeln, und die kulturellen Bezugsrahmen der Orientierungen in typischen
(sozialen) Situationen. Das wissen wir alles schon aus Kapitel 2 in diesem Band,
wenn nicht bereits aus Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen
Grundlagen“.
Die Integration sozialer Systeme ist keine Sache der „Subjekte“ allein. Sie ist
vielmehr ein „Problem“ allein deshalb, weil die Menschen nicht immer ein un-
mittelbares Interesse daran haben oder gelegentlich sogar dagegen sind: Manch-
mal haben die Menschen übereinstimmende Interessen und bilden deshalb ohne
weiteres ein intern abgestimmtes und zusammenhängendes und nach außen ab-
gegrenztes soziales System, wie eine Dorfgemeinschaft oder einen Stammtisch,
manchmal aber eben nicht, wie eine Fakultät mit lauter Unikaten an Professoren,
die nur sich selbst kennen und wichtig nehmen. Und meist gibt es sowohl Kon-
vergenzen wie Divergenzen in den Interessen an bestimmten Relationen. Auch
die Integration ist also ein Problem der antagonistischen Kooperation. Drei Fälle
und drei dazugehörende Mechanismen der Integration lassen sich wieder unter-
scheiden (vgl. dazu bereits Band 1, „Situationslogik und Handeln“, und Band
3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ sowie auch wieder Ka-
pitel 2 in diesem Band).
Bei der „reinen“ Konvergenz der Interessen ist das Problem der Integration eigentlich gar
keines: Die Akteure finden sich „spontan“ zusammen, weil sie sich gegenseitig in ihren Inte-
ressen ergänzen und sie von der Systembildung individuell einen hohen Nutzen haben. Der
Markt ist das dieser Konstellation entsprechende soziale System. Die Integration erfolgt spon-
tan und nur auf der Grundlage der Interessen und der damit verbundenen Interdependenzen,
wenngleich mit Konsequenzen, die die Akteure meist so nicht vorhersehen können und auch
oft nicht wünschen, obwohl sie – und nur sie – diese Konsequenzen herbeiführen, wie bei-
spielsweise den steigenden Eierpreis zu Ostern aus dem gemeinsamen Interesse an der Eier-
suche am Ostermorgen. Bei der „reinen“ Divergenz der Interessen scheint zunächst eine In-
tegration schwierig oder gar ausgeschlossen, weil jede denkbare Anordnung zwingend eine
Gruppe schlechter stellen würde als die andere, mindestens relativ gesehen. Gleichwohl kann
es Interessen an einer Systembildung geben, weil die „Anarchie“ unter Umständen für alle die
noch schlechtere Lösung wäre als die Unterwerfung unter die jeweils andere Gruppe. Die
„Lösung“ des Problems ist die Organisation des sozialen Systems, notfalls unter Ausübung
von politischer, administrativer oder gar militärischer Herrschaft. Es ist zwingend eine „re-
pressive“ Lösung. Wenn sich die Konvergenzen und die Divergenzen der Interessen mischen,
sind die Akteure im Prinzip an einer Integration interessiert und könnten auch alle davon pro-
fitieren. Aber es gibt entweder hohe Unsicherheiten, wie es dazu kommen könnte, oder auch
Versuchungen, die Vorleistungen der anderen abzuwarten und ggf. auszubeuten bzw. die Be-
fürchtungen, daß die jeweils anderen das tun könnten. Es ist, wie man sieht, ein Spezialfall
266 Die Konstruktion der Gesellschaft
des Problems der antagonistischen Kooperation. Hier entsteht die Integration nicht spontan,
sie muß aber auch nicht „repressiv“ erzwungen werden. Es reichen einige – mehr oder weni-
ger – milde Einstellungen, die wir zusammenfassend als Orientierungen bezeichnen möchten:
Werte, Loyalitäten, moralische Verpflichtungen, die Orientierung an den Codes und Pro-
grammen typischer Situationen vor allem (vgl. dazu unten mehr, aber auch schon Kapitel 3,
insbesondere Abschnitt 3.1 oben in diesem Band).
Die Fälle und Mechanismen sind, wie gesagt, auch nicht unverbunden miteinan-
der: Ohne jedes Interesse der Akteure am „Funktionieren“ des Systems läßt sich
auf die Dauer keine Organisation und keine Herrschaft halten, und die die Herr-
schaft evtl. legitimierenden und unterstützenden Orientierungen verfallen bald,
wenn die das Interesse stützenden Leistungen ausbleiben. Andererseits erzeugen
jede Organisation und Herrschaft auch wiederum bestimmte Möglichkeiten, Inte-
ressen und Interdependenzen, die vorher nicht da waren, und darüber dann auch
wieder die entsprechenden Orientierungen, Loyalitäten und Solidaritäten. Ob
sich das gesamte „System“ von Interessen, Orientierungen und Organisation
dann stabilisiert und erhält, hängt also – letztlich – davon ab, ob eine relativ
spannungsfreie und stabile Nutzenproduktion gelingt, freilich auch oft genug so,
daß einige der beteiligten Akteure und Gruppen deutlich mehr davon haben als
andere.
Integration 267
Die Integration über den Markt wird auch als horizontale Integration bezeich-
net: Die Akteure (bzw. die „Teile“) des Systems haben übereinander keinerlei
Weisungsbefugnis und sind nur über ihre Interessen und die Kontrolle der
Ressourcen miteinander verbunden. Von vertikaler Integration wird gespro-
chen, wenn das Handeln der Akteure (bzw. der Teile) über eine formale Or-
ganisation koordiniert ist. Hier gibt es Weisungsbefugnisse, und die Interessen
der Akteure sind von normativen und ggf. sanktionierten Erwartungen überla-
gert, die meist an bestimmte Positionen als „Rollen“-Erwartungen geknüpft
sind (vgl. dazu noch ausführlich Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen
Grundlagen“).
Die Unterscheidung von horizontaler und vertikaler Integration korrespondiert mit zwei For-
men der „governance“, die Oliver Williamson als „Markets“ einerseits und „Hierarchies“ an-
dererseits bezeichnet hat.2 Williamson beschäftigt sich dabei insbesondere mit der Frage,
wann es die eine oder die andere Form der Integration eines sozialen Systems gibt. Drei Fak-
toren sind hier entscheidend. Das ist erstens die sog. asset specificity der Güter, um die es in
den Beziehungen jeweils geht. Die asset specificity nimmt in dem Maße zu, wie die Güter ih-
ren Wert nur in der betreffenden speziellen Beziehung haben, wie das beispielsweise bei ei-
nem Zulieferer von Mercedessternen an Daimler-Chrysler oder bei Kindern in einer Partner-
schaft der Fall ist. Es ist nichts anderes als der Grad der Spezifizität des Kapitals der Akteure
(vgl. dazu schon Abschnitt 4.3 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen
Grundlagen“). Der zweite Faktor ist der (nie auszuschließende) Opportunismus der Akteure,
den anderen jeweils auszubeuten, wenn es sich lohnt. Und der dritte ist die Unsicherheit der
Akteure, ob sie einander trauen können. Zur vertikalen Integration in Form der „Hierarchie“
einer Organisation kommt es nach Williamson dann, wenn es eine hohe asset specificity gibt
und wenn das Potential an Opportunismus und die Unsicherheit der Akteure hoch sind. Dann
kaufen etwa Firmen ihre Zulieferer auf, um sich von der Abhängigkeit von ihnen zu befreien,
die auf dem freien Markt den Preis für das spezielle Produkt immer höher getrieben hätte.
Und wenn ein Kind kommt, bringen plötzlich auch die Paare ihre Beziehung in die Form ei-
ner vertikalen Integration und heiraten, die zuvor an nichts anderes dachten als an die hori-
zontale Integration einer freien Partnerschaft, aus der jeder verschwinden könnte, wenn es
ihm oder ihr so paßt.
Zwischen der horizontalen Integration auf Märkten und der vertikalen Integra-
tion in Organisationen gibt es zahllose „hybride“ Formen. Eine davon haben
wir oben bereits besprochen: die Integration über gewisse „integrierende“
Einstellungen und Orientierungen, die die Akteure u. U. auch dann teilen,
wenn sie nicht „organisiert“ sind. Andere Mischformen bestehen insbesondere
aus Vernetzungen der (noch) nicht-hierarchisierten Teile über persönliche o-
2
Oliver Williamson E., Markets and Hierarchies: Analysis and Antitrust Implications, New
York 1975. Vgl. auch speziell dazu noch ausführlich Band 5, „Institutionen“, dieser „Spe-
ziellen Grundlagen“.
268 Die Konstruktion der Gesellschaft
der soziale Beziehungen, wie das etwa bei den internationalen Eliten, zwi-
schen den Firmen einer Branche, deren Chefs sich schon seit jeher im Karne-
valsverein treffen, oder bei den sog. Policy-Netzwerken der Fall ist, die wir in
Kapitel 2 dieses Bandes erwähnt hatten, als von der Mehrebenen-Organisation
von Gesellschaften und davon die Rede war, daß die sog. Meso-Ebene gerne
auch aus solchen „Vermittlungsnetzwerken“ besteht.
Beim Problem der Integration wird die Spannung zwischen dem Systemaspekt
gesellschaftlicher Prozesse und dem „konstitutiven“ Beitrag der handelnden Ak-
teure besonders deutlich: Das integrierte Ganze besteht aus Relationen zwischen
seinen Teilen und zur Umgebung, aber diese Relationen sind, wie wir spätestens
aus Kapitel 1 und 2 diesen Bandes wissen, stets das meist so nicht intendierte
Produkt des Handelns der Akteure. Von dem britischen Soziologen David
Lockwood stammt eine Unterscheidung, auf die wir schon im Exkurs über die
unvermutete Entdeckung der leibhaftigen Menschen und des Elends in der Welt
durch die soziologische Systemtheorie im Anschluß an Kapitel 5 diesen Bandes
und im Zusammenhang mit der „Inklusion“ der Akteure in die Gesellschaft ge-
stoßen sind: die Unterscheidung von Systemintegration und sozialer Integration.
Als Systemintegration bezeichnet David Lockwood dabei „the orderly or
conflictful relationships between the parts“, als soziale Integration dagegen „the
orderly or conflictful relationships between the actors“ eines sozialen Systems.3
3
David Lockwood, Social Integration and System Integration, in: George K. Zollschan und
Walter Hirsch (Hrsg.), Explorations in Social Change, London 1964, S. 245; Hervorhe-
bungen im Original.
4
Nach Vincent Buskens, Social Networks and Trust, Amsterdam 1999, S. 29. Siehe insge-
samt zum Konzept des sozialen Netzwerks noch Band 4, „Opportunitäten und Restriktio-
nen“, dieser „Speziellen Grundlagen“.
270 Die Konstruktion der Gesellschaft
Wie man leicht auch noch sieht, können bei solchen Netzwerken Systemin-
tegration und soziale Integration - in gewissen Grenzen - unabhängig vonein-
ander variieren: Es gibt Akteure mit einer hohen und einer niedrigen Sozialin-
tegration sowohl in stärker wie schwächer systemintegrierten Netzwerken
bzw. sozialen Systemen. Die systemische und die soziale Integration sind in
sozialen Netzwerken gleichwohl immer in gewisser Weise schon logisch ver-
bunden, weil es bei extrem geringer Systemintegration auch nur eine geringe
Sozialintegration bei den Akteuren geben kann, und eine hohe Systemintegra-
tion bei einer gewissen Mindestzahl von Akteuren eine hohe Sozialintegration
bedeuten muß. In anderen sozialen Systemen als Netzwerken gibt es eine sol-
che „logische“ Beziehung zwischen systemischer und sozialer Integration
nicht unbedingt, weil ihre Integration nicht unbedingt von der Anzahl der per-
sönlichen (oder sonstigen) Beziehungen abhängt. Das gilt etwa für Märkte,
die ja nur auf bilateralen Beziehungen beruhen und die auch – oder gerade
dann! – besonders gut funktionieren, wenn die Akteure alle als Monaden agie-
ren.
Systemintegration
Die Systemintegration ist, ganz allgemein gesagt, dann jene Form der Relationie-
rung der Teile eines sozialen Systems, die sich unabhängig von den speziellen
Motiven und Beziehungen der individuellen Akteure und oft genug sogar auch
gegen ihre Absichten und Interessen, sozusagen anonym und hinter ihrem Rü-
cken, ergibt und durchsetzt, während die soziale Integration unmittelbar mit den
Motiven, Orientierungen, Absichten und – insbesondere – den Beziehungen der
Akteure zu tun hat. Es ist die Integration eines sozialen Systems „über die Köp-
fe“ der Akteure hinweg, die etwa durch den Weltmarkt, den Staat oder die gro-
ßen korporativen Akteure besorgte, spezielle Art der „Integration“ der (Welt-
)Gesellschaft, bei der die „natürlichen“ Personen oft nur ohnmächtig zusehen
können, was die Marktkräfte oder die „juristischen“ Personen, wie die Telekom
oder Daimler-Chrysler oder Vodafone und Mannesmann oder die Regierungen
der NATO-Staaten, so alles im Zuge der Systemintegration der Weltgesellschaft
mit ihnen anrichten.
Markt und Organisation sind die beiden grundlegenden Mechanismen der „a-
nonymen“ Systemintegration. Hinzu treten zwei weitere Vorgänge, die zwar ü-
ber die Orientierungen der Akteure verlaufen, aber gleichwohl unabhängig oder
sogar gegen die Motive und Absichten der Akteure integrativ „wirken“: Interpe-
netration und symbolisch generalisierte Medien.
Integration 271
Bei der systemischen Integration durch Interpenetration sind in den kulturellen Systemen
bzw. den mentalen Modellen, an denen sich die Akteure in ihrem Handeln in den jeweiligen
funktionalen Teilsystemen orientieren, jeweils auch Elemente der Logik, der Codes und der
Programme anderer Teilsysteme enthalten (vgl. dazu auch schon Kapitel 2 über die „System-
Durchdringung“ in diesem Band). Dadurch wird die „Radikalität“ der Eigenlogik der Syste-
me gebremst: In das wirtschaftliche Handeln, beispielsweise, gehen auch immer sofort
solidarische Verantwortlichkeiten ein, und in das politische Entscheiden auch immer
Gesichtspunkte des wissenschaftlichen Wissens zu einem Problem, etwa das Wissen der
Nationalökonomen bei der politisch thematisierten Frage, ob man heute noch eine
keynesianische Geldpolitik betreiben könne. Es ist eine spezielle Art der Orientierung der
Akteure in den jeweiligen sozialen Systemen und Teil der Programme des Handelns darin.
Die symbolisch generalisierten Medien sind dagegen „Spezialsprachen“ der jeweiligen
Systeme, mit denen bewirkt wird, daß die Akteure sofort den Codierungen der Systeme
folgen und, unabhängig von ihren sonstigen Motiven, wie selbstverständlich ganz spezifische
Handlungen ausführen, die dann das „Prozessieren“ der Systeme und damit systemintegrativ
ihren Zusammenhalt sichern (vgl. dazu schon Abschnitt 3.1 in diesem Band). Insofern
beruhen auch die symbolisch generalisierten Medien auf Orientierungen der Akteure, aber
diese Orientierungen werden, stärker noch als bei der Interpenetration, ganz automatisch
ausgelöst (vgl. dazu auch noch Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Das Geld ist das anschaulichste Beispiel dafür: Wenn es angeboten wird, wird es, egal welche
speziellen Wünsche und Motive die Menschen jeweils haben, so gut wie immer und sofort
genommen. Und jeder weiß dabei, daß es um „wirtschaftliches“ Tun geht und nicht um,
sagen wir, ein wissenschaftliches Argument, das man ja, ebensowenig wie die Liebe, mit
Geld nicht kaufen kann.
An der systemintegrativen Wirkung der Interpenetration und der symbolisch ge-
neralisierten Medien wird deutlich, daß alle Prozesse der Integration, auch die
der Systemintegration also, etwas mit den Akteuren zu tun haben: Es sind Orien-
tierungen, die die Akteure in bestimmten Situationen leiten und sie zu einem
Handeln bringen, dessen – meist unintendiertes – Ergebnis die Integration des
jeweiligen sozialen Systems ist.
Soziale Integration
Nicht immer nehmen, wie wir aus den Bemühungen zur Integration der Europäi-
schen Gemeinschaft wissen, die Akteure eine durchaus gelingende Systeminteg-
ration klaglos hin, und keineswegs immer identifizieren sie sich auch mit dem,
wie auch immer, etwa wirtschaftlich oder administrativ, integrierten sozialen
Gebilde. Die soziale Integration bezeichnet demgegenüber daher auch die Be-
ziehungen der Akteure zueinander und – über gewisse „soziale“ Einstellungen –
zum „Gesamt“-System. Es geht also bei der Sozialintegration um den Einbe-
zug der Akteure in einen gesellschaftlichen Zusammenhang, nicht bloß um
das äußerliche „Funktionieren“ der Gesellschaft als System. Mindestens vier
Varianten der Sozialintegration als sozialem Einbezug der Akteure in eine
Gesellschaft können unterschieden werden: Kulturation, Plazierung, Interakti-
on und Identifikation.
272 Die Konstruktion der Gesellschaft
Kulturation
Mit Kulturation ist gemeint, daß die Akteure das für ein sinnhaftes, verständi-
ges und erfolgreiches Agieren und Interagieren nötige Wissen besitzen und
bestimmte Kompetenzen haben. Das Wissen und die Kompetenzen beziehen
sich auf die Kenntnis der wichtigsten Codierungen von typischen Situationen
und die Beherrschung der daran anknüpfenden Programme des sozialen Han-
delns darin, vor allem auf die Normen und sozialen Drehbücher also. Wissen
und Kompetenzen sind dabei eine Art von (Human-)Kapital, in das die Akteu-
re auch investieren können oder müssen, wenn sie für andere Akteure interes-
sant sein wollen und, etwa, an der Besetzung gesellschaftlich angesehener Po-
sitionen interessiert sind oder an für sie selbst interessanten Interaktionen und
Transaktionen teilnehmen möchten. Die Sozialintegration als Kulturation ist
insbesondere ein Prozeß des Erwerbs des jeweiligen Wissens bzw. der jewei-
ligen Kompetenzen. Es ist ein Teil der Sozialisation des Menschen in die je-
weilige Gesellschaft, genauer: ein Teil der kognitiven Sozialisation. Die Kul-
turation der Menschen zu Beginn ihres Lebens wird auch als Enkulturation
bezeichnet, spätere Kulturationen an dann auch andere und neue gesellschaft-
liche Kontexte als Akkulturation (vgl. dazu auch noch Band 6, „Sinn und Kul-
tur“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Plazierung
Unter Plazierung wird, ganz allgemein, die Besetzung einer bestimmten ge-
sellschaftlichen Position durch einen Akteur verstanden. Auch das ist eine
Form des „Einbezugs“ der Akteure in eine Gesellschaft, die wichtigste wahr-
scheinlich sogar. Die Plazierung ist ein Spezialfall der Inklusion, jener der
Plazierungsinklusion nämlich (vgl. dazu schon Kapitel 5 in diesem Band):
Akteure werden in ein bereits bestehendes und mit Positionen versehenes
soziales System eingegliedert. Die wichtigsten Formen der sozialen
Integration durch (Plazierungs-)Inklusion sind die Verleihung bestimmter
Rechte, wie etwa das Staatsbürgerschaftsrecht oder, meist damit
zusammenhängend, das Wahlrecht, die Übernahme beruflicher und anderer
Positionen, meist abhängig vom Durchlaufen einer gewissen
Bildungskarriere, und die Eröffnung von sozialen Gelegenheiten zur
Anknüpfung und zum Unterhalt sozialer Beziehungen zu den anderen
Mitgliedern des sozialen Systems. Dabei ist die soziale Akzeptanz, das Fehlen
von „Vorurteilen“, Diskriminierungen und Schließungen also, eine wichtige
Bedingung der Plazierung.
Integration 273
Die soziale Integration durch Inklusion bzw. Plazierung ist eng mit dem Mechanismus der
Kulturation verbunden. Einerseits erwerben Akteure über die Plazierung auf bestimmte Posi-
tionen bestimmte Kompetenzen – oder aber auch nicht. Es ist für die Kulturation der Akteure
eben nicht gleichgültig, ob man in eine reiche oder eine arme Familie hineingeboren wird,
den Kindergarten besucht hat oder nicht, auf dem Lande lebt oder in der Stadt, eine gute be-
rufliche Position innehat oder arbeitslos ist. Andererseits ist die Kulturation oft ein wichtiger
Filter für die Plazierung der Akteure: Nur wer über eine gute Schulbildung verfügt, kann auf
einen akzeptablen Posten hoffen, und wer als kleiner Bub nur Bayerisch kann, muß aufpas-
sen, daß er auf dem Gymnasium in der Kreisstadt nicht sitzen bleibt. Wer bestimmte Kompe-
tenzen hat, verfügt daran anschließend über die Kontrolle von gesellschaftlich interessanten
Ressourcen und wird daher auch als „Person“ (oder „Gruppe“, wenn es sich um Aggregate
von Personen handelt) für andere Akteure im System interessant. Er verfügt damit – ganz all-
gemein – über eine gewisse Macht und wird darüber schließlich auch akzeptiert und sozial
anerkannt, wenn nicht sogar mit Ehren überhäuft.
Die soziale Integration über die Plazierung ist die wohl wichtigste Bedingung
zur Erlangung von gesellschaftlich generell verwendbaren Kapitalien, insbe-
sondere in der Form des ökonomischen Kapitals und des sog. Humankapitals
(vgl. dazu auch noch Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser
„Speziellen Grundlagen“ sowie noch den Exkurs über die Integration, Assimi-
lation und die sogenannte multikulturelle Gesellschaft gleich anschließend).
Mit der erfolgreichen Plazierung werden aber auch andere Arten von Kapital
erreichbar: institutionelles Kapital an noch weitergehenden Rechten und poli-
tisches Kapital an einer Vertretung der eigenen Interessen.
Interaktion
Interaktionen sind jener Spezialfall des sozialen Handelns, bei dem die Akteu-
re sich wechselseitig über Wissen und Symbole aneinander orientieren und so,
und über ihr Handeln, Relationen bilden. Es gibt drei Spezialfälle der Interak-
tion: die gedankliche Koorientierung, die sog. symbolische Interaktion und
die Kommunikation. Außerdem gibt es als wichtige Formen des sozialen Han-
delns noch die sog. sozialen Beziehungen und die sog. Transaktionen. Bei so-
zialen Beziehungen geschieht die Abstimmung der Akteure über mehr oder
weniger feste und verbindliche Regeln und orientierende mentale Modelle
„normaler“ Abläufe des sozialen Handelns, und Transaktionen sind Akte des
„Tausches“ von Gütern aller Art (vgl. dazu noch Band 3, „Soziales Handeln“,
dieser „Speziellen Grundlagen“). Sie alle, Interaktionen, soziale Beziehungen
und Transaktionen, sind wichtige Arten der sozialen Integration, die hier ein-
facherweise allesamt als „Interaktion“ bezeichnet werden sollen.
Über Interaktionen bilden sozial integrierte Akteure untereinander meist ganze „Netze“ von
Relationen, etwa solche des Kennens, der verschiedenen Formen der Kommunikation und der
274 Die Konstruktion der Gesellschaft
sozialen Beziehungen, etwa der von Freunden oder Ehepartnern, und solche der Transaktio-
nen aller Art. Man spricht daher auch von sozialen Netzwerken.5 Die sog. Netzwerkanalyse ist
ein Instrument zur formalen Bestimmung des Grades der Integration ganzer Netzwerke und
der einzelnen Akteure darin. So gibt es dicht geknüpfte Netzwerke, in denen jeder jeden
kennt, Cliquen mit lauter strong ties also. Und es gibt Netzwerke, in denen nicht mehr jeder
jeden kennt und in denen bestimmte Personen als Liaison-Personen die Cliquen mit ihren
strong ties indirekt verbinden. Solche indirekten Verbindungen über „Brückenbeziehungen“
werden auch als weak ties bezeichnet. Über weak ties wird dann auch die Integration größerer
Verbände von ansonsten isolierten Cliquen möglich.6 Daher könnte man die Sozialintegration
über weak ties durchaus auch als einen Mechanismus der Systemintegration ansehen. Je
nachdem wie dicht die Beziehungen einer bestimmten Person zu anderen Personen ist, lassen
sich auch Akteure mit unterschiedlichen Graden der (sozialen) Integration unterscheiden. Der
soziometrische Star, zum Beispiel, wird von allen geliebt, und es gibt die Marginalen, die mit
(fast) niemandem Beziehungen unterhalten.
Identifikation
Die Identifikation eines Akteurs mit einem sozialen System ist dann jene be-
sondere Einstellung eines Akteurs, in der er sich und das soziale Gebilde als
5
Vgl. dazu verschiedene Beiträge in Franz Urban Pappi, (Hrsg.), Methoden der Netzwerk-
analyse, München 1987, oder den Überblick bei David Knoke und James H. Kuklinski,
Network Analysis, Beverly Hills, London und New Delhi 1982. Vgl. ferner Ronald S.
Burt, Structural Holes. The Social Structure of Competition, Cambridge, Mass., und Lon-
don 1992, insbesondere Kapitel 1: The Social Structure of Competition, S. 8-49; John
Scott, Social Network Analysis. A Handbook, London, Newbury Park und New Delhi
1991; Buskens 1999, S. 34-44. Siehe dazu auch noch Band 4, „Opportunitäten und Re-
striktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“.
6
Vgl. dazu insbesondere Mark S. Granovetter, The Strength of Weak Ties, in: American
Journal of Sociology, 78, 1973, S. 1360-1380.
Integration 275
eine Einheit sieht und mit ihm „identisch“ wird. Es ist eine gedankliche und
emotionale Beziehung zwischen dem einzelnen Akteur und dem sozialen Sys-
tem als „Ganzheit“ bzw. als „Kollektiv“, die bei dem einzelnen Akteur als O-
rientierung mit einem kollektiven Inhalt besteht, etwa als Nationalstolz oder
als Wir-Gefühl zu den anderen Mitgliedern der Gesellschaft oder Gruppe (vgl.
dazu auch noch insgesamt Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen
Grundlagen“).
Drei Formen
Wertintegration
Der wohl deutlichste Fall der Sozialintegration als Identifikation ist die be-
wußte Loyalität zur „Gesellschaft“ und ihren herrschenden Institutionen, etwa
in Form der mit Werten begründeten Zustimmung zu den politischen Instan-
zen und deren Entscheidungen. Es ist die Integration der Gesellschaft über
ausgeprägte Gefühle der Solidarität, über unbedingte Werte und über die,
mehr oder weniger bewußte, sicher aber auch emotionale Identifikation der
Akteure mit dem System der Gesellschaft insgesamt. Die Wertintegration ist
die Art der ideologisch untermauerten und in den alltäglichen Interaktionen
immer wieder neu bekräftigten Unterstützung des „Systems“, wie sie – zeit-
weise – in Feudal- oder Nationalgesellschaften vorgekommen sein mag und
wie sie sich manche hierzulande auch für die Bundesrepublik Deutschland
und für Europa wünschen – und andere fürchten. Emile Durkheim und Talcott
Parsons meinten, daß es in allen Arten von Gesellschaften der solidarischen
Werte zu ihrer Integration bedürfe. Talcott Parsons hat, wie wir oben noch
einmal gezeigt haben, für die Funktion der Integration – der Logik des AGIL-
Schemas folgend – bekanntlich ein eigenes Sub-System der Gesellschaft, die
„gesellschaftliche Gemeinschaft“, vorgesehen. Und Jürgen Habermas hat den
„Ort“ dieser sozialintegrierenden Wissensformen, Motive, Orientierungen und
Interaktionen in der sog. Lebenswelt des alltäglichen Umgangs gesehen, die
aber, leider, durch die bloß systemintegrierenden Mechanismen der Märkte
276 Die Konstruktion der Gesellschaft
und der Herrschaft der korporativen Akteure immer mehr unter die Räder
komme (vgl. dazu weiter unten mehr, sowie insgesamt noch Band 6, „Sinn
und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Die Zustimmung zur gesellschaftlichen Ordnung ist nicht die einzige Form
der sozialintegrativen Unterstützung. Es gibt auch Arten der unterstützenden
Sozialintegration, in denen jeder Rest an „integrierender“ Orientierung fehlt
und die nur noch auf besonderen Konstellationen der Interessen und der Mög-
lichkeiten der Akteure beruhen. Wir wollen diese Formen der „identifikati-
ven“ Sozialintegration als Integration durch Hinnahme – von Zumutungen un-
terschiedlicher Art – bezeichnen.
Zwei Arten der sozialen Integration durch Hinnahme können dabei unter-
schieden werden. Das ist erstens die Hinnahme des „Systems“ durch die Ak-
teure wegen der vielfachen Überkreuzung von inneren Konfliktfronten in ih-
rer Identität aus der – inkonsistenten – Kreuzung ihrer sozialen Kreise. Wegen
dieser Überkreuzungen und Inkonsistenzen der Orientierungen lassen sich die
Akteure nicht zu größeren Aggregaten gleicher Interessen und damit erst recht
nicht zu einem systemdesintegrierenden Tun, etwa einer Umwälzung der be-
stehenden gesellschaftlichen Verhältnisse, zusammenschließen. Und alles
bleibt – äußerlich – ruhig. Der Kampf findet im Innern der Akteure statt, und
statt einer Revolution gibt es nun Millionen von Magengeschwüren. Diese
Form der Sozialintegration sei als Verkettungsintegration bezeichnet. Sie ist
typisch für die modernen, funktional differenzierten Gesellschaften.
Bei der Verkettungsintegration tun die Akteure auch deshalb nichts gegen
die Integration des Systems, weil sie selbst – bei allen inneren Konflikten –
viel davon haben: Eigenheim, Landrover, Urlaub in der Karibik, auch für den
Gewerkschaftler. Es gibt in den reichen funktional differenzierten Gesell-
schaften aber auch stets, und neuerdings wieder vermehrt, die Verdammten
der Erde, die Ausgegrenzten aller Art und die Angehörigen der unteren und
der untersten Schichten. Auch die nehmen die „Gesellschaft“ meist hin, und
zwar aus der erlebten oder wahrgenommenen Aussichtslosigkeit irgendeines
Versuchs zur Änderung. Diese Form der hinnehmenden Sozialintegration sei
als Deferenzintegration bezeichnet. Es ist die schwächste Form der sozialen
„Integration“. Für die „Gesellschaft“ ist das aber nur selten eine gefährliche
Angelegenheit. Elend und Aussichtslosigkeit machen bekanntlich apathisch.
Diese verschiedenen Formen der Identifikation und der Hinnahme können natürlich auch zu-
sammenspielen. Die Kastengesellschaften erhalten sich beispielsweise bei allen Spaltungen
Integration 277
und Spannungen über eine Mischung von Wert- und Deferenzintegration als Einheit: Die hin-
duistische Religion bildet den übergreifenden Wertrahmen der Legitimation des gesamten
Systems, und die unteren Kasten und erst recht die Unberührbaren tun auch aus Deferenz
selbst dann nichts gegen die herrschende Ordnung, wenn sie nicht so recht glauben mögen,
daß ihnen die Fügung im jetzigen Leben etwas bringt in einem späteren (vgl. dazu auch schon
Abschnitt 4.2 oben in diesem Band).
Die zentrale Bedingung für den Aufbau einer emphatischen Unterstützung des
Systems ist eine zufriedenstellende Plazierung bzw. erfolgreiche Statuszuwei-
sung und die Einbettung in Interaktionen und soziale Beziehungen im betref-
fenden sozialen System, die ihrerseits an eine entsprechende Kulturation ge-
bunden sind. Die Verkettungsintegration hängt sogar ganz alleine von der
Zuweisung attraktiver Positionen und den damit verbundenen Belohnungen
zusammen, möglichst in einer komplizierten Kreuzung der Inklusionen. Nur
die Deferenzintegration kommt ohne „materielle“ Unterstützung aus. Sie
speist sich aus der Hoffnungslosigkeit der Lage und der Machtlosigkeit der
Akteure. Deshalb ist sie für die soziale Integration moderner Gesellschaften
kaum geeignet, weil hier die Akteure über sehr viel an Macht und Kompetenz
verfügen, um eine ihnen unerträglich erscheinende Lage zu ändern – und sei
es auch bloß die Macht der Wählerstimme.
Die Folge der Sozialintegration über die Identifikation ist die Unterstüt-
zung des Systems, entweder direkt durch die emphatische Loyalität oder indi-
rekt über den Verzicht auf „des“-integrative Aktionen: Die systemintegrativen
Mechanismen von Markt und Organisation müssen die ihr eigensinniges Pro-
zessieren stets gefährdenden Akteure dann nicht fürchten. Die Akteure sind
dann – in der Tat – so etwas wie eine mehr oder weniger freundliche, mindes-
tens aber unschädliche „Umwelt“ der sozialen Systeme, die sich nun erst in
ihrer Eigenlogik richtig breitmachen können.
Marginalität
Wenn die soziale Integration den Einbezug von Akteuren in ein gesellschaftli-
ches System bezeichnet, dann ist es natürlich nicht ausgeschlossen, daß es
Akteure gibt, die keinem gesellschaftlichen System zugehören. Das ist der Fall
der Exklusion, wie wir ihn in Kapitel 5 diesen Bandes diskutiert haben. Die
damit verbundene Situation für den einzelnen Akteur wird auch als
Marginalität bezeichnet: Er befindet sich zwischen allen Stühlen und fühlt
sich nirgendwo zu Hause (siehe dazu auch gleich unten den Exkurs über
Integration, Assimilation und die sogenannte multikulturelle Gesellschaft
gleich im Anschluß an dieses Kapitel). Er ist ein Fremder, wohin auch immer
er geht. Georg Simmel, Alfred Schütz, Robert E. Park und Everett V.
Stonequist haben diesem Typ von Menschenschicksal jeweils ein nachhaltiges
278 Die Konstruktion der Gesellschaft
Eine Übersicht...
7
Georg Simmel, Exkurs über den Fremden, in: Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen
über die Formen der Vergesellschaftung, 5. Aufl., Berlin 1968 (zuerst: 1908), S. 509-512;
Alfred Schütz, Der Fremde, in: Alfred Schütz, Gesammelte Aufsätze, Band 2: Studien zur
soziologischen Theorie, Den Haag 1972, S. 53-69; Robert E. Park, Human Migration and
the Marginal Man, in: American Journal of Sociology, 33, 1928, S. 881-893; Everett V.
Stonequist, The Marginal Man. A Study in Personality and Culture Conflict, New York
u.a. 1937, insbesondere Kapitel XI: The Sociological Significance of the Marginal Man.
Integration 279
Integration
Systemintegration Sozialintegration
Degele, die, ganz offenbar ohne das Modell der soziologischen Erklärung auch nur zu ken-
nen, für das Problem der Integration differenzierter Gesellschaften meint, daß hierbei keines-
wegs nur die „systemischen“ und „organisatorischen“ Prozesse eine Rolle spielen. Sondern:
„Einen immer bedeutenderen Beitrag liefern Individuen. Sie sind ... angesichts gegenwärtiger
gesellschaftlicher Umbrüche mit neuartigen Integrationszumutungen konfrontiert, und nur
weil sie in der Lage sind, spezifische Integrationsleistungen zu erbringen, kann sich Gesell-
schaft weiter differenzieren.“8 Und: „Vielmehr übernehmen Personen entscheidende gesell-
schaftliche Integrationsleistungen und stellen diese wiederum gesellschaftlichen Institutionen
und Organisationen als Differenzierungsressource zur Verfügung: Individuen sind integrale
Bestandteile gesellschaftlicher Differenzierungsprozesse.“ (Ebd., S. 361; Hervorhebung nicht
im Original) Das ist ohne Zweifel nicht falsch. Es ist aber auch schon nahe an einer wiederum
irreleitenden psychologistischen Übertreibung der Bedeutung der „Subjekte“, vor der wir mit
Karl R. Poppers Idee der Situationslogik dann doch noch einmal eindringlich warnen möch-
ten (vgl. dazu schon Abschnitt 10.1 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Spe-
ziellen Grundlagen“): Die „Individualisierung“ der Gesellschaft heißt ja noch lange nicht, daß
es dann keine strukturierten Situationen mehr gäbe oder, erst recht, keine unintendierten Ef-
fekte und alles nur noch soziale Integration wäre. Die Alternative zu Durkheim oder Parsons
sind nicht das freie Subjekt und das Ende der Systemintegration. Im Gegenteil: Niemand ist
fester aneinander gebunden als die „freien“ Akteure auf den diversen Märkten der Funktions-
systeme. Und es ist mit dem Modell der soziologischen Erklärung nicht nötig, zwischen Dif-
ferenzierung und Ungleichheit, Systemlogiken und Akteursbeiträgen, systemischer und sozia-
ler Integration theoretisch zu unterscheiden, wenngleich begrifflich durchaus, weil mit den
drei Schritten des Modells der soziologischen Erklärung alle diese Aspekte uno actu erfaßt
werden – und es daher nicht mehr nötig ist, sie „komplementär“ wieder zusammenzufügen.
Aber immerhin: Auch dort, wo man es kaum vermuten dürfte, gewinnt die Idee des Methodo-
logischen Individualismus offenbar an Boden, und der Rest ist dann ja rasch gelernt, nicht zu-
letzt mit Hilfe dieser „Grundlagen“ der Soziologie. Hoffentlich.
Kurz: Wenn man verstanden hat, daß jedes Systemereignis mit den Orientie-
rungen und dem Handeln von Akteuren – wie auch immer – verknüpft ist, und
daß jede Orientierung und jedes Handeln wieder vom „System“ strukturiert
wird, dann entfällt die säuberliche Unterscheidung von System- und Sozialin-
tegration wieder. Die Integration der Gesellschaft ist in jedem Fall ein emer-
gentes Merkmal der Interdependenzen und des Zusammenwirkens der Akteu-
re. Die Integration der Gesellschaft ist, kurz gesagt, ein kollektives Phänomen
wie alle anderen gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse auch.
Desintegration
8
Nina Degele, Soziale Differenzierung: Eine subjektorientierte Perspektive, in: Zeitschrift
für Soziologie, 28, 1999, S. 345 -364; Hervorhebungen im Original.
Integration 281
Die Segmentation ist die Spaltung eines zuvor einheitlichen sozialen Systems in
voneinander getrennte, nun eigenständig operierende Teile. Das kann auf zwei
verschiedene Weisen geschehen. Erstens durch die Entstehung von eigenständi-
gen Sub-Gesellschaften innerhalb einer bereits existierenden und weiter beste-
henden „dominanten“ Gesellschaft. Ein Beispiel dafür ist die Entstehung ausge-
bauter ethnischer Gemeinden in der Folge der Einwanderung größerer, kulturell
sehr unterschiedlicher Gruppen, wie das etwa für die Türken in Deutschland oder
die Algerier in Frankreich gilt (siehe dazu auch den Exkurs über Integration, As-
similation und die sogenannte multikulturelle Gesellschaft im Anschluß an dieses
Kapitel). Solche Sub-Gesellschaften entstehen sowohl spontan, insbesondere ü-
ber den Prozeß der Segregation, etwa so, wie ihn Thomas C. Schelling beschreibt
und modellierend erklärt (vgl. dazu noch Band 4, „Opportunitäten und Restrikti-
onen“, dieser „Speziellen Grundlagen“), als auch – mehr oder weniger – ab-
sichtsvoll oder gar geplant, wie beispielsweise bei der politisch gewollten Aus-
grenzung und „Ghettoisierung“ ganzer Bevölkerungsgruppen, etwa (früher) in
Südafrika und in Nazi-Deutschland. Gesellschaften können sich zweitens durch
Abspaltung desintegrieren und jeweils neue, eigenständige, „unabhängige“ Ge-
sellschaften bilden, wie das bei der Trennung von Slowakei und Tschechien in
der ehemaligen Tschechoslowakei oder bei der Abspaltung von Slowenien und
Kroatien von Serbien in dem ehemaligen Jugoslawien der Fall war (vgl. dazu
auch noch Kapitel 8 unten in diesem Band). Abspaltungen einer weiterhin durch-
aus als „Einheit“ bestehenden Gesellschaft in sich eigenständig fühlende religiö-
se und ethnische Gruppen, Regionen oder Sprachgemeinschaften sind natürlich
allesamt ebenfalls Formen der „Des“-Integration. Die Tendenzen zum Separa-
tismus und zur Autonomie kommen aus dem – naheliegenden – Bestreben, der
jeweils spezifischen eigenen Kultur und Lebensweise eine jeweils auf sie zuge-
schnittene staatliche und gesellschaftliche „Verfassung“ zu geben, bei der das
betreffende, und zuvor meist unterbewertete, kulturelle Kapital deutlich aufge-
wertet wird. Oft bedarf es in derart religiös, ethnisch, regional oder sprachlich
gespaltenen Gesellschaften schon einer recht repressiven Herrschaft oder ganz
massiver sonstiger Interessenkonvergenzen und Interdependenzen, damit die Ge-
sellschaft nicht auseinanderfällt. Unter Tito war das im ehemaligen Jugoslawien
der Fall, und unter dem Sowjetregime in der UdSSR.
Der Zerfall eines zuvor integrierten Systems findet – trivialerweise – dann
statt, wenn sich die für das System charakteristischen Relationen auflösen, seien
das Tauschbeziehungen, unterstützende Orientierungen oder die das Ganze orga-
nisierende Herrschaft. Diese Auflösung beginnt oft ganz unmerklich und voll-
zieht sich nur zum Schluß manchmal mit einem Paukenschlag. Wann es dazu
282 Die Konstruktion der Gesellschaft
kommt, läßt sich mit den o.a. Bedingungen der Integration gut sagen: Wenn die
Interessen der Menschen nicht mehr bedient werden, wenn dadurch die Plausibi-
lität der unterstützenden Orientierungen leidet und wenn dann schließlich die
Herrschaft immer „repressiver“ werden muß, damit das Ganze noch zu organisie-
ren ist. Das Nazi-Reich ist zwar von den Alliierten zerfegt worden, aber die DDR
ist an innerer Anämie gestorben.
Re-Integration
Ein soziales System kann natürlich auch in seinen Relationen deshalb zerfallen,
weil die beteiligten Akteure ganz einfach wegbleiben, sei es durch die innere o-
der durch eine wirkliche Emigration. Das gilt beispielsweise für Ehen, für Semi-
nare und für ganze Gesellschaften, etwa die untergegangene DDR. Hier gibt es
eine interessante Verbindung zwischen den Orientierungen der Akteure und der
Unmittelbarkeit, in der sich dieser Zerfall ereignet. Das Modell von Albert O.
Hirschman über den Zusammenhang von „Exit, Voice and Loyalty“ ist ein Bei-
spiel für Prozesse der Re-Integration von sozialen Systemen, die vom Zerfall
durch Abwanderung bedroht sind:9 Wenn die Loyalität mit dem jeweiligen Sys-
tem sehr hoch ist, dann versuchen die Akteure, wenn sie Anlaß zur Klage über
Leistungsverluste des Systems haben, zunächst das System wieder zu retten. Und
erst wenn sich das schließlich als aussichtslos erweist, gehen sie – manchmal in
der Tat mit der Folge, daß das System als integrierte Einheit zerfällt. Das Gefühl
der Loyalität ist natürlich nichts anderes als der sozialintegrative Mechanismus
der Identifikation in dem Modell von Hirschman.
An diesem Beispiel wird erneut deutlich, daß die Systemintegration gewissen
sozialintegrativen Bedingungen unterliegt: Nutzen schließlich alle Versuche der
Wiederherstellung der ursprünglichen Leistungen nichts mehr, dann verläßt der
Akteur das System – und das zerfällt dann, weil es die Akteure nicht mehr gibt,
die die Relationen ausfüllen, aus denen das soziale System besteht. Und das heißt
dann auch wieder: Die ein System unterstützenden Akte und Werte sind nicht
unabhängig von den Leistungen, die das System den Akteuren bringt, wie vermit-
telt das auch immer geschehen mag. Sozialintegration und Systemintegration be-
dingen, unterstützen und unterminieren sich ggf. gegenseitig.
9
Albert O. Hirschman, Exit, Voice, and Loyalty. Responses to Decline in Firms, Organiza-
tions, and States, Cambridge, Mass., 1970; deutsch: Abwanderung und Widerspruch. Re-
aktionen auf Leistungsabfall bei Unternehmungen, Organisationen und Staaten, Tübingen
1974; vgl. auch schon Kapitel 1 oben in diesem Band, sowie noch Kapitel 8, ebenfalls in
diesem Band, zu dem Modell von Hirschman.
Integration 283
Über die Art, wie sich Gesellschaften integrieren, gibt es in der Soziologie ver-
schiedene Ansichten (vgl. dazu auch noch ausführlich Band 3, „Soziales Han-
deln“, und Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“, sowie Ab-
schnitt 9.2 in diesem Band). Relativ einig ist man sich noch über die vormoder-
nen Gesellschaften: Die sog. segmentär differenzierten Gesellschaften, einfache
Stammesgesellschaften also zum Beispiel, integrieren sich danach so gut wie
ausschließlich über Mechanismen der Sozialintegration, über das Wissen um die
Gruppenzugehörigkeit, über dichte Interaktionen und die damit verbundene „me-
chanische“ Solidarität der Mitglieder. Bei den sog. stratifikatorisch differenzier-
ten Gesellschaften gibt es dagegen schon eine ausgebaute Form der Systeminteg-
ration: die Ausübung von organisatorischer Herrschaft. Jedoch beruht hier der
Zusammenhalt immer auch noch auf deutlichen und in den Alltagsinteraktionen
streng beachteten und stets neu bestätigten, meist religiös untermauerten Orien-
tierungen der Akteure über die Rechtmäßigkeit der gegebenen Ordnung. In mo-
dernen, funktional differenzierten Gesellschaften sei dagegen die Integration
primär auf die Systemintegration umgestellt: Märkte, Organisationen, Interpenet-
ration der Systeme und die Zirkulation der symbolisch generalisierten Medien
beherrschen das Geschehen.
Das ist für die modernen Gesellschaften auch nicht zu bestreiten. Die Ansich-
ten gehen über die Frage auseinander, ob es darüber hinaus überhaupt noch un-
terstützender sozialintegrativer Orientierungen bei den Akteuren bedarf. Oder
etwas anders gefragt: Können Märkte ohne Moral, Organisationen ohne Loyali-
tät, Interpenetration und Medien ohne Zustimmung und ohne kulturell geteiltes
Wissen funktionieren? Und muß es in den arbeitsteiligen, funktional differenzier-
ten Gesellschaften auch noch eine Solidarität geben, etwa die „organische“ Soli-
darität des Wissens um die latenten Verbundenheiten, und eine moralische Ver-
pflichtung, Verträge nicht zu brechen? Die Ansichten lassen sich auf der Achse
von einer rein systemintegrativen Antwort zu einer, die bei aller Systemintegrati-
on immer auch eine inhaltlich bestimmte Sozialintegration für unerläßlich hält,
anordnen.
Die strikt systemintegrative Sicht ist wohl am deutlichsten von Niklas
Luhmann formuliert worden (vgl. dazu auch schon Abschnitt 3.1 in diesem
Band): Die Eigensinnigkeit und die Eigendynamik der funktionalen Differen-
zierung erzeugt ihre eigene Integration immer wieder mit. Die Teilsysteme
sind so in die Maschinerie des funktionalen Austauschs verwickelt, daß es ein
Ausscheren nicht geben kann. Und die Menschen sind dabei nur noch das Ma-
terial des Prozessierens der Funktionssysteme, ihre zwar unerläßliche, aber in
ihren speziellen Befindlichkeiten ganz unerhebliche bio-psychische „Um-
284 Die Konstruktion der Gesellschaft
Was soll man davon halten? Auffällig ist bei Habermas schon der etwas roman-
tisch-altmodische Anklang an relativ überschaubare und harmonische Verhält-
nisse und an die Vorstellung, daß es zur Integration der Gesellschaft sozusagen
paralleler moralischer Vorstellungen der Menschen bedarf und daß die Men-
schen die Gesellschaft immer auch als Gemeinschaft im Sinn haben und inten-
dieren müßten. Easton berücksichtigt schon viel deutlicher das, was die Integra-
tion der moderen Gesellschaft ganz besonders ausmacht: den „Tausch“ von Leis-
tungen zwischen den interdependenten funktionalen Sphären, hier die der Politik
und der Öffentlichkeit. Und eine dieser Leistungen ist der Transfer von moralisch
getönter Legitimität und Loyalität gegen die auch merkbare Versorgung mit
wichtigen Ressourcen. Luhmann geht noch einen Schritt weiter. Er schlägt letzt-
lich etwas vor, was man auch als Systemintegration durch den anonymen Markt
bezeichnen könnte: Das „System“ hat sich in seinem arbeitsteiligen autopoieti-
schen Prozessieren ganz von den Akteuren und ihren Orientierungen und Mikro-
beziehungen verselbständigt, und daher bedarf es auch keinerlei „Repräsentati-
on“ der Gesellschaft in den Köpfen der Menschen und keiner Gemeinschaftsvor-
stellung oder inhaltlich bestimmter Legitimität oder Loyalität. Die Integration
wird über eine Legitimation durch formale „Verfahren“, und eben nicht über in-
haltlich bestimmte moralische Werte, besorgt.
10
David Easton, A Systems Analysis of Political Life, New York, London und Sydney
1965. Siehe dazu auch die Zusammenfassung bei Bettina Westle, Politische Legitimität –
Theorien, Konzepte, empirische Befunde, Baden-Baden 1989, Kapitel 2 insbesondere.
Integration 285
Luhmann hat die Auffassung von der Notwendigkeit der moralischen Wert-
integration auch der modernen Gesellschaften manchmal spöttisch als „alteuro-
päisch“ bezeichnet, weil er, wohl zu Recht, etwa gegenüber den Auffassungen
von Habermas, meinte, daß in den modernen, funktional differenzierten Gesell-
schaften eine (soziale) Integration über Werte gar nicht mehr möglich sei, son-
dern sich sozusagen von selbst aus dem eigenständigen Prozessieren der (funkti-
onalen) Systeme ergebe – auch ganz ohne die Unterstützung der Akteure. Natür-
lich geht diese Art der Systemintegration ohne Sozialintegration nicht ohne Ak-
teure. Aber die müssen die Integration der Gesellschaft nicht „wollen“, sondern
besorgen sie als oft genug ganz unintendierten Effekt ihrer Verkettung in die Ma-
schinerie des Prozessierens der Funktionssysteme und als Folge ihres kurzfristig
und kurzsichtig an der gegebenen Situation orientierten Handelns.
Der Begriff der Integration wird in der Öffentlichkeit nicht erst in letzter Zeit
besonders häufig im Zusammenhang mit der Situation der Ausländer in der
Bundesrepublik diskutiert, etwa bei der Frage, ob die Erleichterung der Ein-
bürgerung die Integration der Ausländer fördere oder nicht oder ob ihre Integ-
286 Die Konstruktion der Gesellschaft
ration nicht die Voraussetzung für die Gewährung der Staatsbürgerschaft sein
müsse. Meist bleibt sehr unklar, was damit gemeint ist. Und dann taucht rasch
auch der Begriff der Assimilation auf, die Vorstellung also, daß sich die Aus-
länder an die Bedingungen des Aufnahmelandes irgendwie schon anpassen
müßten und daß das eine Voraussetzung für ihre Integration wäre. Wir wollen
die oben entwickelte Begrifflichkeit nutzen, um etwas deutlicher zu machen,
worum es geht.
Zwei Bedeutungen
Üblicherweise werden mit dem Begriff der „Integration“ von Migranten und
ethnischen Minderheiten zwei sehr verschiedene Vorstellungen angesprochen:
erstens der Zusammenhalt und das relativ gleichgewichtige Funktionieren ei-
nes gesellschaftlichen Verbandes, wobei zunächst gleichgültig ist, ob es sich
um einen ethnisch homogenen oder ethnisch heterogenen Verband handelt;
und zweitens die Eingliederung der individuellen Mitglieder der ethnischen
Gruppen in die verschiedenen Sphären der Aufnahmegesellschaft, sei es in
der Form der Gewährung von Rechten und der Einnahme von Positionen, sei
es als Aufnahme interethnischer Kontakte und Beziehungen oder die emotio-
nale Identifikation mit dem Aufnahmeland. Die erste Bedeutung korrespon-
diert, wie man sieht, mit dem Konzept der Systemintegration der gesamten
Gesellschaft einschließlich der von ihr umschlossenen ethnischen Gruppen,
die zweite mit dem der Sozialintegration, sei es als Kulturation, als Plazie-
rung, als Interaktion oder als Identifikation.
Sehen wir uns zunächst die Sozialintegration an. Die Sozialintegration kann
sich bei fremdethnischen Migranten und anderen ethnischen Minderheiten auf
(mindestens) drei gesellschaftliche „Systeme“ beziehen: das Herkunftsland,
das Aufnahmeland und die ethnische Gemeinde im Aufnahmeland. Da sich
die soziale Integration eines Akteurs zunächst nur auf irgendeinen gesell-
schaftlichen Kontext beziehen muß, ist die Frage seiner (sozialen) „Integrati-
on“ ganz unabhängig davon, ob das in Bezug auf das Herkunftsland, das Auf-
nahmeland oder die ethnische Gemeinde geschieht. Wenn man die ethnische
Gemeinde und die Herkunftsgesellschaft einerseits sowie die Aufnahmege-
sellschaft andererseits und danach unterscheidet, ob die Akteure darin jeweils
sozial integriert sind oder nicht, lassen sich sofort bestimmte Typen der Sozi-
Integration 287
Sozialintegration in
Aufnahmegesellschaft
ja nein
Mehrfach-
Sozialintegration ja integration Segmentation
in Herkunftsgesell-
schaft/ethnische
Gemeinde nein Assimilation Marginalität
Assimilation
Wie wäre dann aber eine „Integration“ der Migranten in die Aufnahmegesell-
schaft möglich? Es gibt nach dem Diagramm nur zwei Varianten: die Mehr-
fachintegration und die Assimilation. Die Mehrfachintegration ist ein logisch
zwar möglicher, faktisch jedoch kaum wahrscheinlicher Fall. Sie erfordert ein
Ausmaß an Lernaktivitäten und Gelegenheiten dazu, das den meisten Men-
schen verschlossen ist – und das erst recht bei den üblichen (Arbeits-)
Migranten. Dieser Typ der „multikulturellen“ Sozialintegration käme allen-
falls für Diplomatenkinder oder für Akademiker in Frage, in deren Familien
sich etwa die Eltern mit ihren Kindern in beiden Sprachen unterhalten. Und er
ist empirisch in der Tat außerordentlich selten. In den meisten Fällen gibt es
ein Übergewicht der (Sozial-)Integration der Migranten in den einen oder den
anderen Kontext. Die Sozialintegration in die Aufnahmegesellschaft ist also,
wie man dann sofort sieht, eigentlich nur in der Form der Assimilation mög-
lich: die Akkulturation an die Aufnahmegesellschaft in Hinsicht auf Wissen
und Kompetenzen, die Plazierung und Inklusion in die funktionalen Sphären
der Aufnahmegesellschaft, die Aufnahme von interethnischen Kontakten, so-
zialen Beziehungen und Tauschakten mit den Einheimischen und die emotio-
nale Unterstützung nicht der Herkunfts-, sondern der Aufnahmegesellschaft.
Zum Begriff der Assimilation sind noch einige Präzisierungen nötig. Unter
Assimilation wird zunächst – ganz allgemein – die „Angleichung“ der ver-
schiedenen Gruppen in bestimmten Eigenschaften verstanden, etwa im
Sprachverhalten oder in der Einnahme beruflicher Positionen. Dabei ist immer
von einer Angleichung in gewissen Verteilungen der verschiedenen Gruppen
auszugehen, weil ja auch die einheimische Bevölkerung nicht homogen ist.
„Assimilation“ auf dem Arbeitsmarkt läge dann etwa vor, wenn die verschie-
denen Gruppen das gleiche Muster der Inklusion aufwiesen und folglich alle
die gleichen Anteile etwa an der Verteilung auf die Branchen der Wirtschaft
hätten. Das heißt: Es kann selbstverständlich soziale Ungleichheiten auch bei
Assimilation geben, aber diese Ungleichheiten dürfen sich zwischen den eth-
nischen Gruppen nicht unterscheiden.
Integration 289
Vier Dimensionen
Ethnische Differenzierung
Neben der Frage nach der sozialen Integration der Migranten, nach deren
(Ak-)Kulturation, Plazierung, Interaktion und Identifikation also, stellt sich
natürlich sofort auch die nach der Systemintegration der gesamten Gesell-
schaft. Diese Frage stellt sich speziell in der Hinsicht, ob die Systemintegrati-
on einer Aufnahmegesellschaft auch ohne eine assimilative Sozialintegration
der Migranten und ethnischen Minderheiten in diese Gesellschaft, und das
heißt: bei ethnischer Differenzierung der betreffenden Gesellschaft, auch nur
denkbar ist. Beide Konzepte – die (System-)Integration der Aufnahmegesell-
schaft und die (sozialintegrative) Assimilation der Akteure und Gruppen bzw.
das der ethnischen Differenzierung und die mit ihnen verbundenen Prozesse –
sind dabei zunächst logisch jedenfalls voneinander unabhängig.
Eine Systemintegration der ganzen Gesellschaft mit ihren Untergruppen
allgemein läge danach dann vor, wenn sich die verschiedenen Gruppen, Ein-
heimische untereinander und Ausländer der unterschiedlichen Herkunftslän-
der und Kulturen, in gleichgewichtigen, relativ spannungsfreien, wenngleich
nicht unbedingt „harmonischen“, Relationen zueinander befinden, worauf die-
se Beziehungen auch immer beruhen.
Bei der Systemintegration unter Einschluß von Migranten und anderen fremdkulturellen
Gruppen sind das vor allem Beziehungen über die verschiedenen Märkte, die Waren- und die
Arbeitsmärkte vor allem, die Orientierung an symbolisch generalisierten Medien, insbesonde-
re die Systemintegration über das Medium des Geldes oder über die Ausübung staatlicher
Herrschaft, etwa über die Gewährung von einigen Mindestrechten (und -pflichten), wie das
Recht zum Aufenthalt und die Pflicht, Steuern zu zahlen. Zu dieser Systemintegration wird
also nicht die Loyalität zum Aufnahmeland verlangt, und auch nicht unmittelbar irgendeine
kulturelle Gemeinsamkeit oder die Aufnahme interethnischer Kontakte. Arbeiten und Steuern
zahlen kann auch jeder, der die Sprache des Aufnahmelandes nicht versteht, nur unter Lands-
leuten in der ethnischen Gemeinde verkehrt oder emotional noch in der Türkei oder in Ma-
rokko lebt.
Damit wird aber vollends deutlich, daß die Systemintegration der Aufnahme-
gesellschaft mit der einer assimilativen Sozialintegration der Migranten und
ethnischen Gruppen nicht zwingend und mindestens nicht in jeder inhaltlichen
Hinsicht verbunden ist. Integration und Assimilation bzw. ethnische Differen-
zierung sind demnach begrifflich und logisch voneinander unabhängig, wenn-
gleich, wie wir noch sehen werden, keineswegs auch empirisch. Aus den bei-
den Dimensionen der Systemintegration einerseits und der Assimilation bzw.
der ethnischen Differenzierung andererseits ergibt sich nun eine einfache Ty-
pologie von Gesellschaften mit unterschiedlichen strukturellen Eigenschaften
(vgl. Abbildung 6.4):
Integration 291
(System-)Integration
ja nein
wie die USA, Australien oder Israel, zunächst auch Kanada, war lange Zeit
das Assimilationskonzept selbstverständlich, und Vorstellungen eines multi-
kulturellen Nebeneinanders der Gruppen waren allenfalls als Übergangssta-
dien gedacht. Die Konzeptualisierung der Gestaltung der interethnischen Be-
ziehungen im Zuge von Migrationen hat sich inzwischen vielerorts, wenn-
gleich nicht überall, geändert. In vielen Ländern wird, angesichts der anschei-
nend festen Etablierung nennenswerter Anteile fremdethnischer und anders-
sprachiger Minderheiten, mittlerweile vom Konzept der multiethnischen Ge-
sellschaft ausgegangen, und diese Vorstellung wird auch offiziell politisch
und teilweise wirtschaftlich unterstützt. Die multiethnische oder multikultu-
relle Gesellschaft als friedliches Nebeneinander der ethnischen Gruppen ist
eine Vorstellung, die, so scheint es, sowohl den Interessen der Migranten ent-
gegenkommt wie auch, wie es heißt, zu einer kulturellen Bereicherung der
Aufnahmegesellschaft ohne nennenswerte negative Folgen führe – zumal es in
diesem Rahmen jedem freisteht, auch den oft mühsamen Weg der „Assimila-
tion“ dennoch zu gehen.
Ethnische Schichtung
Nicht ohne Grund also genießt das Konzept der multiethnischen Gesellschaft
eine gewisse Attraktivität. Aber ist es ganz ohne Probleme oder auch nur rea-
listisch?
Das Assimilationskonzept jedenfalls ist nach wie vor durchaus keine unrealistische oder den
Migranten irgendwie als Zumutung aufgezwungene Vorstellung. Empirisch sehen die Prozes-
se der (Sozial-)Integration der Migranten, für viele Vertreter eines Konzeptes der multiethni-
schen Gesellschaft wohl überraschenderweise und entgegen auch manchem aktuellen Augen-
schein, immer noch sogar eher so aus, wie das der alte amerikanische Traum vom melting pot
vorsah: Nach einigen Generationen „assimilieren“ sich die Gruppen, wenngleich unterschied-
lich rasch und unterschiedlich nachhaltig, fast allesamt.11 Der Augenschein der nachhaltigen
ethnischen Differenzierung der westlichen Einwanderungsländer hat offenbar weniger damit
zu tun, daß es keine Assimilation (mehr) gäbe oder daß eine nachhaltige ethnische Differen-
zierung der jeweiligen Nationalstaaten begonnen hätte, als damit, daß im Zuge der weltweiten
Mobilisierung immer neue Gruppen als Erstgeneration mit dem mitunter durchaus langen
Prozeß der assimilativen „Inklusion“ in die Aufnahmegesellschaft beginnen. Und der Prozeß
der assimilativen Eingliederung hat auch in den klassischen Einwanderungsländern drei bis
vier Generationen und damit durchaus recht lange Zeiträume beansprucht.
11
Vgl. dazu auch die neuesten Ergebnisse zur Situation in den USA bei Richard Alba, Im-
migration and the American Realities of Assimilation and Multiculturalism, in: Sociologi-
cal Forum, 14, 1999, S. 3-25.
294 Die Konstruktion der Gesellschaft
Das Hauptproblem mit dem Konzept der multiethnischen Gesellschaft ist die
bisher nicht weiter betrachtete dritte Dimension der gesellschaftlichen Struk-
turierung interethnischer Beziehungen: das Vorliegen systematischer vertika-
ler sozialer Ungleichheiten zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen
oder deren Gleichheit in sozialstruktureller Hinsicht, etwa nach der durch-
schnittlichen Bildung, den ausgeübten Berufen, dem Einkommen, der Beteili-
gung an öffentlichen Angelegenheiten, insbesondere auch in Hinsicht auf die
politische Partizipation und Repräsentation, oder aber die systematische
Gleichheit aller Gruppen untereinander. Damit ist nicht der Aspekt gemeint,
ob es in der betreffenden Gesellschaft überhaupt vertikale soziale Ungleich-
heit gebe oder nicht; vertikale soziale Ungleichheiten gibt es in jeder Gesell-
schaft. Mit „Gleichheit“ ist vielmehr gemeint, daß sich die jeweils vorliegen-
den vertikalen sozialen Ungleichheiten schließlich auf die Individuen bezie-
hen und daß daher die verschiedenen (ethnischen) Gruppen in Bezug auf die
o.a. Indikatoren der vertikalen sozialen Ungleichheit grosso modo ähnlich
sind.
Im Fall der Assimilation aber ist diese Gleichheit der ethnischen Gruppen
in der sozialstrukturellen Hierarchie sozusagen vom Begriff her schon vorge-
sehen. Es ist die strukturelle Assimilation der Akteure als ihre ähnliche Ver-
teilung auf den o.a. Variablen der vertikalen sozialen Ungleichheit. Hier kann
es zwar durchaus soziale Ungleichheiten geben, diese kovariieren aber nicht
systematisch mit irgendwelchen ethnischen oder kulturellen Eigenschaften
oder Gruppenzugehörigkeiten. Wir müssen bei der Konstellation der system-
integrierten Gesellschaften und der Unterscheidung nach ethnischer
Homogenität und ethnischer Heterogenität also noch danach unterscheiden,
ob es nach gesellschaftlichen Gruppen systematische vertikale soziale
Ungleichheiten gibt oder nicht. Daraus ergibt sich das folgende Diagramm
(Abbildung 6.5):
Für das ethnisch homogene Milieu einer Gesellschaft bezeichnet die Unterscheidung nach
Gleichheit oder Ungleichheit zwischen den Gruppen zwei geläufige Fälle: im einen Fall die
Existenz von sozialen Schichten, Klassen oder gar Ständen, wobei nicht verkannt werden
darf, daß mit Schichten, Klassen und Ständen stets auch kulturelle Unterschiede einhergehen,
jedoch keine, die irgendwie „ethnisch“ definiert wären. Der andere Fall beschreibt die Auflö-
sung der Gruppenunterschiede, der „Klassen“ und der „Stände“ im ethnisch homogenen Mi-
lieu, wie sie unter der Etikettierung der „Individualisierung“ der modernen Gesellschaften
populär gemacht wurde. Damit geht auch die Angleichung der Akteure und der immer noch
bestehenden Gruppen in Hinsicht auf die mit den Klassen und Ständen gegebenen kulturellen
Unterschiede einher. Die Individualisierung als Auflösung der Klassen und der Stände ist
stets auch eine Pluralisierung von Lebensweisen und Lebensstilen im anonsten ethnisch ho-
mogenen Milieu.
Integration 295
ja nein
Die untere Zeile des Diagramms zeigt dann zwei Fälle der ethnischen Diffe-
renzierung einer Gesellschaft und damit eine Differenzierung des Begriffs der
multiethnischen Gesellschaft. Rechts unten steht die wohl mit dem Begriff der
„multikulturellen Gesellschaft“ immer gemeinte Vorstellung: das gleichbe-
rechtigte Nebeneinander ethnisch, religiös und kulturell ganz unterschiedli-
cher und als eigene „Lebenswelten“ etablierter Gruppen – bei gleicher Teil-
habe an den gesellschaftlichen Ressourcen. Und links unten finden wir die
Konstellation der ethnischen Schichtung: die systematische Kovariation von
ethnischen Gruppen mit typischen Positionen im System der vertikalen sozia-
len Ungleichheit. Milton Gordon hat dafür vor langer Zeit einmal den treffen-
den Ausdruck der „ethclasses“ geprägt.12
Ethnische Schichtungen sind demnach gesellschaftliche Systeme der systematischen Über-
und Unterordnung ethnischer Gruppen in einer ethnisch differenzierten Gesellschaft.13 Es gibt
mildere und schärfere Formen der ethnischen Schichtung. Bei den milderen Formen bezieht
sich die Hierarchie immer nur auf ein bestimmtes Merkmal, die Einordnung der Personen ist
nicht exklusiv in dem Sinne, daß die Zugehörigkeit zu der Gruppe auch abgelegt werden
12
Milton M. Gordon, Assimilation in American Life. The Role of Race, Religion, and Nati-
onal Origins, New York 1964, S. 52.
13
Vgl. dazu: Hartmut Esser, Aspekte der Wanderungssoziologie. Assimilation und Integra-
tion von Wanderern, ethnischen Gruppen und Minderheiten. Eine handlungstheoretische
Analyse, Darmstadt und Neuwied 1980, S 121ff.; Hartmut Esser, Die multi-kulturelle Ge-
sellschaft. Ethnische Konflikte, in: Funkkolleg Humanökologie. Studienbrief 3, Weinheim
und Basel 1991, S. 29ff.
296 Die Konstruktion der Gesellschaft
kann, und die Ordnung ist nicht institutionalisiert. Bei den schärferen Formen bezieht sich die
Ordnung auf mehrere, im Extremfall auf alle Merkmale der Personen, die Zugehörigkeit kann
nicht abgelegt werden und es gelten auch formell sanktionierte institutionelle Regeln sowie
eine gesellschaftlich verbreitete Legitimation, zumindest bei den dominanten Gruppen. Oft
geht diese vertikale Anordnung mit einer gesellschaftlichen Funktionenteilung einher: Die
verschiedenen ethnischen Gruppen übernehmen typische berufliche Tätigkeiten und gesell-
schaftliche Funktionen, wobei eine ethnische Gruppe oft auch die politische, militärische,
geistliche, intellektuelle und wirtschaftliche Elite gleichzeitig bildet. Es ist das Strukturie-
rungsprinzip der sog. stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften, bei denen typisch um-
rissene Gruppen der Bevölkerung typische gesellschaftliche Funktionen innehaben und in ty-
pischer Weise vertikal angeordnet sind. Für ethnisch homogene Verhältnisse waren die mit-
teleuropäischen Feudalsysteme derart strukturiert. Die Kastensysteme sind ein Fall der „feu-
dalen“ ethnischen Stratifikation, wobei, wie bei den Feudalsystemen geläufig, eine
übergreifende, auch stark religiös verankerte Legitimation dieses Systems gilt – auch bei den
unteren „Kasten“. Insofern kann die Entstehung ethnischer Schichtungen in der Folge von
(Arbeits-)Migrationen in den modernen Gesellschaften als eine Art von Kastenbildung und
von Re-Feudalisierung durch systematische Unterschichtung der einheimischen Bevölkerung
verstanden werden. Weil jedoch dabei jede irgendwie geartete Legitimation fehlt, sollte
besser von Quasi-Kasten und von Quasi-Feudalismus gesprochen werden.
Bei der Beurteilung der beiden theoretisch ohne weiteres denkbaren Varianten
„ethnische Differenzierung vs. Assimilation“ als Konzept für die interethni-
schen Beziehungen in systemintegrierten Gesellschaften muß nun eine wich-
tige empirische Besonderheit beachtet werden: Alle dauerhaft ethnisch
differenzierten Gesellschaften sind, mehr oder weniger ausgeprägte, ethnische
Schichtungen. Es gibt praktisch keine ethnisch differenzierte Gesellschaft, die
nicht gleichzeitig eine ethnisch geschichtete Gesellschaft wäre.
Indien ist mit seinem nach ethnischen Gruppen aufgeteilten Kastensystem das wohl prägnan-
teste Beispiel dafür, die USA sind, mindestens in Hinsicht auf die Farbigen, ebenfalls nicht
ohne. Aber selbst in der Schweiz oder in Kanada ist das „Nebeneinander“ der ethnischen
Gruppen ein „Übereinander“, von den Verhältnissen der Migrantengruppen etwa in Frank-
reich, Großbritannien, Belgien, den Niederlanden und der Bundesrepublik ganz zu schwei-
gen. Und es sieht so aus, als ließe sich die Etablierung ethnischer Schichtungen nicht vermei-
den – wenn es nicht zur Assimilation der ethnischen Gruppen und damit zur Auflösung der
ethnischen Differenzierungen in der Aufnahmegesellschaft kommt (siehe dazu auch noch
gleich unten).
Strukturelle Hintergründe
Von der Spaltung eines Arbeitsmarktes ist dann die Rede, wenn es bei den Arbeitnehmern
Unterschiede in der Entlohnung der gleichen Tätigkeit, beispielsweise in Form von
Leichtlohngruppen, gibt. Eine ethnische Spaltung liegt dann vor, wenn die Aufteilung in
„Normal“-Arbeitsverhältnisse und Leichtlohngruppen systematisch nach ethnischer
Zugehörigkeit geschieht. Das aber tritt, in nicht zu stark reglementierten Arbeitsmärkten,
häufig als Folge von Immigrationen auf, bei denen die Einwanderer bereitwillig zunächst
auch erkennbar schlechter bezahlte Arbeitsverträge akzeptieren. Eine Segmentation des
Arbeitsmarktes gibt es, wenn sich die ethnischen Gruppen systematisch auf bestimmte
Branchen und Tätigkeiten verteilen. Bei Migranten und anderen ethnischen Minderheiten
geschieht dies oft unintendiert durch die Besetzung bestimmter, von den Einheimischen bzw.
der dominanten Bevölkerung nicht (mehr) besetzten ökonomischen Nischen, beispielsweise
in Form von Kleingewerbe, durch die Immigranten, dann teilweise auch für die speziellen
Nachfragen der Migrantenbevölkerung selbst.
die (negativen) Stereotype und machen sympathischen Gefühlen Platz. Meist sind diese Sym-
pathien dann jedoch an bestimmte Personen oder spezielle Situationen gebunden, etwa an
Arbeitskollegen und die Situation im Betrieb. Diskriminierungen sind demgegenüber nichtge-
rechtfertigte Ungleichbehandlungen von Personen unterschiedlicher Gruppenzugehörigkeit.
Nicht jede Ungleichbehandlung ist freilich eine Diskriminierung. Stets müssen die Hinter-
gründe mitbedacht werden, etwa der Grad der Schulbildung bei der Vergabe beruflicher Posi-
tionen. Distanzierende Einstellungen und diskriminierende Handlungen müssen keineswegs
miteinander kovariieren. Es ist ein Spezialfall des Problems der weitgehenden Unabhängig-
keit von „Einstellung“ und „Verhalten“. Der Hauptgrund dafür ist, daß Handlungen in der
Regel, zum Teil sehr teure, Konsequenzen mit sich bringen, während das Äußern von Vorur-
teilen in einer Bezugsgruppe meist ohne weitere Folgen bleibt und dort oft sogar erwartet und
belohnt wird. Auf diese Weise wird auch verständlich, daß es durchaus zu Diskriminierungen
kommen kann, selbst wenn die betreffenden Akteure für die jeweiligen Gruppen oder Perso-
nen Sympathien hegen. Dies ist z.B. für den Wohnungsmarkt bekannt, auf dem sich neutrale
Hausbesitzer oft deshalb weigern, Migranten als Mieter zu akzeptieren, weil sie dadurch ei-
nen Verlust des Wohnwertes ihres Hauses bei den Mitmietern befürchten müssen.
Die Segmentation ethnischer Gruppen ist ein Prozeß der „freiwilligen“ Ab-
schließung von der umgebenden Gesellschaft durch den Zusammenschluß
nach innen. Sie gibt es in drei, in den segmentierenden Wirkungen jeweils ge-
steigerten Formen: als räumliche Segregation, als kulturelle Segmentation und
als die Institutionalisierung einer ethnischen Gemeinde. Die räumliche Segre-
gation ist die Konzentration bestimmter ethnischer Gruppen auf bestimmte
Regionen oder Stadtteile, wobei für Migranten insbesondere die innerstädti-
sche Segregation, für ethnische und sub-nationale Minderheiten vor allem die
regionale Konzentration typisch ist.
Die räumliche Segregation in städtischen Quartieren kann natürlich die Folge von Diskrimi-
nierungen, etwa auf dem Wohnungsmarkt, sein. Mindestens ebenso wichtig sind indirekte
Prozesse. Einer davon ist die durch Hintergrundmerkmale erzeugte systematische räumliche
Verteilung, etwa dadurch, daß die Migranten nur bestimmte Mieten zu zahlen in der Lage
sind und sich allein schon über die Einkommensunterschiede zu den Einheimischen auf indi-
rekte Weise auf typische Quartiere mit niedrigen Mieten und schlechter Wohnqualität kon-
zentrieren. Ein zweiter Vorgang ist der sog. Invasions-Sukzessions-Zyklus: Mit dem Einzug
einer ausländischen Familie in ein bestimmtes Haus einer bis dahin rein einheimischen Ge-
gend kann ein auf negativen Distanzierungen beruhender kumulativer Prozeß ausgelöst wer-
den, bei dem im Anschluß daran einheimische Familien ausziehen, deren leerstehende Woh-
nung den Anlaß für den Einzug weiterer ausländischer Familien gibt usw. Allerdings kann es
zu solchen Prozessen der Segregation auch ohne negative Distanzen, sondern schon allein auf
der Grundlage von Vorlieben für eine gewisse Mindestanzahl von Angehörigen der eigenen
Gruppe in einer Nachbarschaft kommen. Thomas C. Schelling hat in einem Modell der Seg-
regationsdynamik gezeigt, daß unter nahezu beliebigen Umständen schon aus minimalen bin-
nenethnischen Präferenzen starke Segregationen entstehen und daß es dazu „negativer“ Ab-
grenzungen nicht bedarf.14
14
Thomas C. Schelling, Dynamic Models of Segregation, in: Journal of Mathematical Soci-
ology, 1, 1971, S. 143-186. Siehe dazu auch noch Band 4, „Opportunitäten und Restrikti-
onen“, dieser „Speziellen Grundlagen“.
300 Die Konstruktion der Gesellschaft
Mit kultureller Segmentation ist das Gegenteil der kulturellen, der sozialen
und emotionalen „Assimilation“ gemeint: Die Migranten verbleiben – bewußt
oder nicht – der Kultur ihrer Herkunftsgesellschaft verhaftet, insbesondere in
bezug auf das Sprachverhalten, die alltäglichen Gewohnheiten und Interaktio-
nen und die emotionale Identifikation. Dazu neigen typischerweise Migranten
der ersten Generation, solche aus unterentwickelten Herkunftsregionen, mit
einem hohen Einreisealter, mit geringer Bildung, geringen beruflichen Quali-
fikationen und mit einer hohen kulturellen Distanz zur Aufnahmegesellschaft.
Das sind allesamt Umstände, die insbesondere eine strukturelle Assimilation
und die Besetzung von Positionen in zentralen Institutionen der Aufnahmege-
sellschaft erschweren. Die Folgen der kulturellen Segmentation sind eine wei-
tere Behinderung der strukturellen Assimilation und das Entstehen einer
wechselseitigen Verstärkung von kultureller und struktureller Segmentation.
Räumliche Segregationen und kulturelle Segmentationen verstärken sich
gegenseitig: Segregationen fördern über die strukturell erzeugte Kontaktdichte
der Akteure kulturelle Segmentationen, und die kulturellen Segmentationen
verstärken wiederum die räumlichen Segregationen. Besonders bei zahlenmä-
ßig großen Gruppen von Migranten wird es auf dieser Grundlage dann auch
wahrscheinlich, daß sich eine mehr oder weniger ausgebaute und vollständige
ethnische Gemeinde (bzw. ethnische Kolonie) institutionalisiert. Der kanadi-
sche Soziologe Raymond Breton spricht in diesem Zusammenhang auch von
der „institutionellen Vollständigkeit“ der ethnischen Gemeinden.15 Oft werden
solche ethnischen Gemeinden oder Kolonien zu ethnischen Sub-
Gesellschaften mit eigenen funktionalen Bereichen und einem eigenen
Schichtungssystem ausgebaut. Zur Aufnahme sozialer Kontakte, zur Abwick-
lung der alltäglichen Angelegenheiten und sogar für einen gewissen sozialen
Aufstieg kann der individuelle Migrant damit gänzlich innerhalb der ethni-
schen Sphäre verbleiben. Im Extremfall entwickelt sich so eine komplette
Segmentation von zwei oder mehr eigenständig bestehenden Gesellschaften
innerhalb eines (National-)Staates, wobei die ethnische Gemeinde als Sub-
Gesellschaft der Immigranten die Gesellschaft der Einheimischen unter-
schichtet und sich auf diese Weise ein System der ethnischen Schichtung e-
tabliert.
15
Raymond Breton, Institutional Completeness of Ethnic Communities and the Personal Re-
lations of Immigrants, in: American Journal of Sociology, 70, 1964, S. 193-205.
Integration 301
Ethnische Gemeinden entstehen zunächst meist als eine Art von Notgemein-
schaft von Personen mit einem gemeinsamen Schicksal und zur Bewältigung
der gravierendsten Probleme in der Phase des ersten Aufenthalts. Ethnische
Gemeinden und Kolonien haben damit durchaus eine Art von Schutzfunktion
und könnten dadurch auch den weiteren Prozeß der Eingliederung in die Auf-
nahmegesellschaft fördern. Georg Elwert hat diese Funktion als Binneninteg-
ration bezeichnet.16 Nach dieser Konzeption verlassen die Migranten die eth-
nische Gemeinde jedoch, sobald der erste (Kultur-)Schock überwunden ist
und sich assimilative Alternativen der Lebensführung aufgetan haben. Empi-
risch findet dies jedoch kaum statt. Es ist eher so, daß mit der Etablierung ei-
ner ethnischen Gemeinde oder Kolonie die Tendenzen zur kulturellen und
strukturellen Assimilation auch bei solchen Akteuren deutlich absinken, die
alle Voraussetzungen dazu hätten, insbesondere weil der Verbleib in der eth-
nischen Gemeinde einen, wenngleich nicht sonderlich hohen, aber sicheren
„Gewinn“ verspricht, während das Verlassen der ethnischen Gemeinde und
der Versuch einer assimilativen Mobilität mit hohen (subjektiven) Risiken
und einem höchst ungewissen Ausgang verbunden werden.
In diesem Zusammenhang sei noch einmal an das Konzept der Mobilitätsfalle von Norbert F.
Wiley erinnert, mit dem er den „freiwilligen“ Verzicht auf sozialen Aufstieg auch bei
Migranten und ethnischen Minderheiten erklären kann (vgl. dazu auch schon Abschnitt 4.6 in
diesem Band).17 Die Überlegung von Wiley: Ein Mitglied einer ethnischen Gruppe muß sich
entscheiden, ob es einen Aufstieg innerhalb des Schichtungssystems seiner eigenen Gruppe
oder außerhalb der eigenen Gruppe in der dominanten Gesellschaft anstreben soll. Da man
annehmen kann, daß (subjektiv wie objektiv) die Chancen für eine Binnen-Karriere deutlich
höher sind als für den beschwerlichen Weg hinein in die fremde Kultur des Aufnahmelandes,
fällt diese Entscheidung – und mit dem institutionellen Ausbau einer ethnischen Gemeinde
erst recht – in der Regel für die Binnen-Karriere aus. Weil aber die ethnischen Gemeinden
bzw. Kolonien im Vergleich zur dominanten Gesellschaft die wesentlich schlechteren Positi-
onen auch an ihrer Spitze zu vergeben haben, findet sich der Migrant gerade nach einer „er-
folgreichen“ Karriere in seiner ethnischen Gemeinde in einer Position wieder, die deutlich
schlechter ist als die vergleichbare Position in der dominanten Gesellschaft – obwohl er
durchaus einen sozialen „Aufstieg“ vollzogen hat.
Weil die Entscheidung der Akteure nicht auf einem Irrtum beruht, sondern auf
einem u.U. durchaus „rationalen“ Abwägen von Risiken und möglichen Er-
16
Georg Elwert, Probleme der Ausländerintegration. Gesellschaftliche Integration durch
Binnenintegration?, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 34, 1982,
S. 717-731.
17
Norbert F. Wiley, The Ethnic Mobility Trap and Stratification Theory, in: Peter I. Rose
(Hrsg.), The Study of Society. An Integrated Anthology, 2. Aufl., New York und Toronto
1970, S. 397-408.
302 Die Konstruktion der Gesellschaft
Mit dem Verbleiben in ihren ethnischen Nischen kommen die Migranten und
ethnischen Minderheiten gerade also bei voranschreitender funktionaler Diffe-
renzierung der Aufnahmegesellschaften immer unausweichlicher zu spät und
zu kurz. Dieser Mechanismus wirkt um so nachhaltiger und reibungsloser bei
der Etablierung ethnischer Schichtungen, je größer die ethnische Gruppe und
je ausgebauter und daher je selbstgenügsamer jeweils die ethnische Gemeinde
ist. Daher wundert es nicht, daß etwa in der BRD die türkische Bevölkerung
inzwischen eine Art von „Sub“-Nation bildet, durchaus in der wörtlichen Be-
deutung des Präfixes „sub“.
18
Vgl. dazu die Übersicht über verschiedene ethnische Konflikte in der (vor allem: Dritten)
Welt bei Donald L. Horowitz, Ethnic Groups in Conflict, Berkeley, Los Angeles und Lon-
don 1985.
304 Die Konstruktion der Gesellschaft
Damit aber ergibt sich eine systematische Verbindung zwischen der Inklusion
als Plazierung in die Kernbereiche Aufnahmegesellschaft und den anderen
Arten der sozialen Integration: Nur über die Plazierung in die zentralen Funk-
tionsbereiche werden die Migranten und ethnischen Gruppen für die Einhei-
mischen so interessant, daß es auch für sie zu interessanten interethnischen
Integration 305
Kontakten kommen kann und sich schließlich sogar eine emotionale Identifi-
kation mit der neuen Heimat einstellt. Weil diese Plazierung aber an den vor-
herigen Erwerb gewisser Qualifikationen, Fertigkeiten und auch funktional
eigentlich „peripherer“, symbolisch jedoch höchst bedeutsamer „assimilati-
ver“ Eigenschaften gebunden ist, werden auch die anderen Dimensionen der
Assimilation bzw. der sozialen Integration in die Aufnahmegesellschaft wich-
tig: Die Akkulturation an das Wissen und der Erwerb von Kompetenzen des
Aufnahmelandes und die Aufnahme interethnischer Beziehungen, mindestens.
Eine gewisse Akkulturation und der Unterhalt gewisser interethnischer Be-
ziehungen gehören also, wie die strukturelle Assimilation, unverzichtbar zur
sozialen Integration der Migranten und zur Stabilisierung auch der Systemin-
tegration der Aufnahmegesellschaft. Etwas anders ist es dagegen mit der emo-
tionalen Assimilation bzw. mit der sozialen Integration als Identifikation mit
dem Aufnahmeland. Auch das hat mit den Besonderheiten der modernen Ge-
sellschaften zu tun: Die modernen, funktional differenzierten Gesellschaften
kommen immer mehr ohne irgendwelche wertgeladenen Loyalitäten und
Identifikationen mit der „Gesellschaft“ als ganzer aus. Sie „funktionieren“
mehr und mehr nur noch als Märkte bzw. als anonyme Organisationen und
korporative Akteure und insbesondere aus der ökonomischen und politischen
Interdependenz ihrer Teile. Kurz: Moderne Gesellschaften sind so stark sys-
temintegriert, daß sie der Identifikation ihrer Mitglieder als sozialer Integrati-
on nicht bedürfen.
Das wäre zunächst durchaus ein Argument für die sog. multikulturelle Ge-
sellschaft: Die Gruppen leben unter dem organisatorischen Dach einer staatli-
chen Verwaltung zusammen, mit dem sie sich nicht sonderlich identifizieren
müssen, und alles andere besorgen der Markt und das Prozessieren der Funk-
tionssysteme. Die Beobachtung von der zunehmenden Bedeutung systeminte-
grativer Prozesse in modernen Gesellschaften unterstützt jedoch dann wieder
das Argument von der Unumgänglichkeit der strukturellen Assimilation der
Migranten für deren Sozialintegration, diesmal nicht nur zur Verhinderung
von ethnischen Schichtungen, sondern zur Stärkung der Systemintegration ge-
rade von solchen Gesellschaften, die sich von besonderen – nationalen oder
politischen – Loyalitäten losgelöst haben und nur noch auf dem reibungslosen
„Prozessieren“ ihrer Funktionssysteme beruhen.
Der Grund dafür ist nach den oben dargestellten Zusammenhängen von systemischer und so-
zialer Integration nicht schwer zu verstehen: Die Systemintegration alleine über Interdepen-
denzen setzt die wechselseitige Kontrolle von interessanten Ressourcen voraus. In jeder Ge-
sellschaft gibt es nun aber zentrale Ressourcen, deren Kontrolle erst Akteure oder Gruppen
für andere Akteure oder Gruppen interessant macht. Erst mit der Kontrolle dieser zentralen
Ressourcen werden Machtgewinn und „Inter“-Dependenzen möglich. Diese Ressourcen wie-
derum werden nur über die Besetzung von Positionen in den zentralen Institutionen verteilt,
306 Die Konstruktion der Gesellschaft
und ihre Kontrolle setzt Bemühungen um einen sozialen Aufstieg in der Aufnahmegesell-
schaft voraus. Dazu aber ist der Erwerb von Humankapital, kulturellem und sozialem Kapital
aus der Aufnahmegesellschaft nötig, wie Sprachkenntnisse, Gewohnheiten, Bekanntschaften,
Geschmack, Ambitionen und alle weiteren Eigenschaften und Fertigkeiten, die abgrenzende
Distinktionen erlauben oder Diskriminierungen nachsichziehen.
Sozialer Wandel
1
Vgl. William F. Ogburn, Social Change: With Respect to Cultural and Original Nature,
New York 1922, S. 56ff. insbesondere. Vgl. auch die späteren Notizen von Ogburn dazu:
William F. Ogburn, Social Evolution Reconsidered, in: William F. Ogburn, On Culture
and Social Change. Selected Papers, Chicago und London 1964, S. 18ff.
308 Die Konstruktion der Gesellschaft
Suche nach gewissen Regelmäßigkeiten oder gar nach „Gesetzen“ des sozia-
len Wandels hat die Soziologie lange Zeit eine ihrer zentralen Aufgaben gese-
hen.
Es hat sogar einmal so ausgesehen, als ob die Suche nach den „Entwicklungsgesetzen“ der
Gesellschaft(en) das wichtigste Thema der Soziologie überhaupt gewesen sei oder immer
noch wäre. Als Beispiele seien genannt: Auguste Comte mit seinem berühmten Dreistadien-
gesetz, wonach auf die theologische und militärische Epoche die metaphysische und juridi-
sche Epoche folge, und darauf dann, als Krönung sozusagen, die „positive“ wissenschaftliche
und industrielle Epoche; Karl Marx mit seiner Hypothese von der Geschichte als Geschichte
der Klassenkämpfe und der Prognose von der unvermeidlichen Überwindung des Kapitalis-
mus und des historisch letzen Klassengegensatzes in der kommunistischen Gesellschaft; Os-
wald Spengler mit seiner These vom Untergang des Abendlandes; Pitirim A. Sorokin mit der
Behauptung von der ständigen Oszillation zwischen Vernunft und Mystik; Albert O.
Hirschman mit seinem Modell vom stetigen Hin und Her zwischen dem Engagement mit öf-
fentlichen Angelegenheiten und dem Rückzug in die Privatheit und in die Individualisierung;
Daniel Lerner mit seiner These vom Übergang der traditionalen Gesellschaften in die Moder-
ne über die Stadien der Alphabetisierung, der Urbanisierung, der Medienbeteiligung und der
Verbreitung einer Einstellung der Empathie; oder schließlich Talcott Parsons mit seiner
Hypothese von der immer weiter getriebenen evolutionären Ausdifferenzierung der Gesell-
schaften und ihrem stetigen „upgrading“ bis hin zur kompletten Durchmodernisierung der
ganzen Welt, die in der gegenwärtigen Soziologie in der soziologischen Systemtheorie unter
der These von der immer weiter sich zuspitzenden funktionalen Differenzierung und einer als
unvermeidlich angesehenen Globalisierung mit der Heraufkunft einer Weltgesellschaft fort-
lebt.2
Warum in der Soziologie solche Vorstellungen nur noch selten ernsthaft ver-
treten werden und warum man vor allem nach gesellschaftlichen Entwick-
2
Vgl. zu einer Übersicht über die wichtigsten soziologischen Ansätze zum sozialen Wandel
und einige einschlägige „klassische“ Beiträge u.a. die Textsammlung bei Wolfgang Zapf
(Hrsg.), Theorien des sozialen Wandels, Köln und Berlin 1971 und den Überblick über
die verschiedenen Richtungen, auch in ihrer soziologiegeschichtlichen Entwicklung bei
Stephen K. Sanderson, Social Evolutionism. A Critical History, Cambridge, Mass, 1990.
Siehe auch die knappen Übersichten bei Susan C. Randall und Hermann Strasser, Zur
Konzeptualisierung des sozialen Wandels: Probleme der Definition, des empirischen Be-
zugs und der Erklärung, in: Hermann Strasser und Susan C. Randall (Hrsg.), Einführung
in die Theorien des sozialen Wandels, Darmstadt und Neuwied 1979a, S. 23-50; Susan C.
Randall und Hermann Strasser, Theoretische Ansätze zur Erklärung des sozialen Wan-
dels, in: Strasser und Randall 1979b, S. 51-107. Vgl. auch die kurze Darstellung des „Ver-
falls“ des Themas und die aktuelle Diskussion darüber in der aktuellen Soziologie bei:
Hans-Peter Müller und Michael Schmid, Paradigm Lost? Von der Theorie sozialen Wan-
dels zur Theorie dynamischer Systeme, in: Hans-Peter Müller und Michael Schmid
(Hrsg.), Sozialer Wandel. Modellbildung und theoretische Ansätze, Frankfurt/M. 1995, S.
9-55; sowie auch: Michael Schmid, Theorie des sozialen Wandels, Opladen 1982. Siehe
zu den wichtigsten Ansätzen von genuin soziologischen Theorien des sozialen Wandels
noch Abschnitt 7.5 in diesem Band unten; und zu einer kritischen Bestandsaufnahme der
Soziologie des sozialen Wandels allgemein: Raymond Boudon, Theories of Social Chan-
ge. A Critical Appraisal, Cambridge 1986.
Sozialer Wandel 309
lungsgesetzen schon lange nicht mehr sucht, soll in dem nun folgenden Kapi-
tel auch deutlich werden. Im Grunde können wir die Antwort jetzt schon ge-
ben: Solche übergreifenden Entwicklungsgesetze des Wandels ganzer Gesell-
schaften „an sich“ könnten ja eigentlich nur makrosoziologischer Art sein.
Die aber leiden, wie wir in der Einleitung zu Band 1, „Situationslogik und
Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ja noch einmal festgehalten haben,
unvermeidlicherweise an dem Problem der Unvollständigkeit, ganz zu
schweigen von dem der „Sinnlosigkeit“, wonach ein sozialer Wandel, der auf
gewissen übergreifenden „Gesetzen“ beruhen soll, die mit dem Denken, Füh-
len und Handeln der Menschen nichts zu tun haben, immer „unverständlich“
bleiben muß – worauf nicht zuletzt Max Weber stets deutlich hingewiesen hat.
Und so muß man davon ausgehen, daß es zwar ohne Frage sozialen Wandel
und oft sogar eine gewisse „Richtung“ desselben gibt, der dann wie ein „Ge-
setz“ aussehen kann, daß dessen Richtung aber nicht aus eigenständigen „Ge-
setzen“ des Wandels entsteht und darüber dann auch nicht „erklärt“ werden
kann, sondern, wie auch die soziale Differenzierung, die soziale Ungleichheit
und die soziale Ordnung, als das meist unintendierte kollektive Ergebnis des
situationsbezogenen Handelns menschlicher Akteure zu interpretieren und
angemessen nur über das Modell der soziologischen Erklärung zu erfassen ist.
Und das wollen wir jetzt auch (wieder) tun.
Gelegentlich findet man in der Soziologie die Vorstellung, als ob der soziale
Wandel irgendwie zu den Strukturen der sozialen Differenzierung, der sozia-
len Ungleichheit und der sozialen Ordnung hinzutreten müsse, damit sich et-
was ändert, und daß es daher einen solchen Wandel nur aufgrund von äußeren
Anstößen geben könne, die die bis dahin eigentlich „stabilen“ Strukturen aus
der Bahn bringen. Diese Vorstellung war insbesondere durch den soziologi-
schen Strukturfunktionalismus nahegelegt worden: Alle sozialen Gebilde, ein-
schließlich kompletter Gesellschaften, neigen, so die Annahme, aus sich her-
aus zu einem funktionalen Gleichgewicht und zur inneren Abstimmung der
Strukturen, das, wenn es gestört wird, über gewisse Mechanismen der Selbst-
regulation bald wieder hergestellt ist (vgl. dazu auch noch Abschnitt 7.4 und
das Konzept der funktionalen Reproduktion gleich unten in diesem Band).
Die gesellschaftlichen Strukturen – soziale Differenzierung, soziale Ungleich-
heit, soziale Ordnung – stehen in dieser Sicht fest und kompakt und in einem
sich gegenseitig stützenden und selbsterhaltenden System da. Und dann käme
– unter Umständen – der soziale Wandel dazu, der alles ändert.
310 Die Konstruktion der Gesellschaft
Das ist schon eine sehr statische, eine „petrifizierende“ und „substanzielle“ Vorstellung von
der Gesellschaft der Menschen. Sie ist, wie wir aus der „Soziologie. Allgemeine Grundla-
gen“, Teil F, wissen, bald und nachhaltig kritisiert worden, etwa von George C. Homans oder
von seiten des sog. Symbolischen Interaktionismus (siehe auch die Einleitung zu diesen
„Speziellen Grundlagen“ in Band 1, „Situationslogik und Handeln“). Nicht zuletzt hat auch
die sog. soziologische Systemtheorie mit ihrer konsequenten „Temporalisierung“ aller sozia-
len Vorgänge daraus einen Teil ihrer Anziehungskraft gewonnen. Und noch vor relativ kurzer
Zeit konnte etwa Norbert Elias mit seiner von ihm so genannten Prozeß- und Figurationsso-
ziologie große Aufmerksamkeit auf sich ziehen, als er gegen diese statische Sicht der Gesell-
schaft – zu Recht – zu Felde zog.3 Das Argument ist naheliegend und folgt unmittelbar auch
aus den Vorgaben der erklärenden Soziologie: Die „Strukturen“ der Gesellschaft (oder der
sozialen Systeme und Gebilde ganz allgemein) bestehen nicht irgendwie „unabhängig“ von
den Handlungen der individuellen Akteure, sondern sind deren immer wieder neu konstituier-
tes und konstruiertes, oft genug natürlich auch unintendiertes, Ergebnis. Sie haben auch keine
irgendwie geartete kompakte „Substanz“, sondern werden in jedem Augenblick als punktuelle
Ereignisse immer wieder neu geschaffen. Und nur die auf der sichtbaren Oberfläche erschei-
nende regelmäßige Reproduktion erzeugt den Anschein der Stabilität und Unverrückbarkeit
ihrer „Strukturen“.
Kurz: Die gesellschaftlichen Strukturen beruhen stets nur auf Prozessen, und
diese Prozesse haben – unter Umständen, natürlich nicht unbedingt – eine ge-
wisse „strukturierte“ Regelhaftigkeit. Insofern gibt es keine sozialen Struktu-
ren ohne soziale Prozesse. Mehr noch: Alle Strukturen sind nichts als Prozes-
se, einschließlich natürlich solche einer „funktionalen“ Reproduktion von
Gleichgewichten und Stabilität und des gerichteten sozialen Wandels. Das ist
der – über alle sonstigen Unterschiede hinweg bestehende – gemeinsame Kern
aller neueren theoretischen Konzepte in der Soziologie, etwa von Norbert Eli-
as mit seiner Prozeß- und Figurationssoziologie, von Anthony Giddens mit
seiner Idee der „structuration“ der Strukturen durch das Handeln der Men-
schen oder von Niklas Luhmann mit seinem Konzept der wechselseitigen
Konstitution und prozessualen Autopoiese der sozialen und der psychischen
Systeme.
Ein Beispiel: Der Wandel des Bildungssystems und die Reproduktion der so-
zialen Ungleichheit
Was man sich konkret unter „sozialem Wandel“ vorzustellen hat, wollen wir
uns an einem übersichtlichen empirischen Beispiel einmal genauer ansehen.
Eine der nachhaltigsten Änderungen der institutionellen Strukturen der west-
3
Vgl. etwa Norbert Elias, Was ist Soziologie? München 1970, Einleitung, S. 9-31; Norbert
Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersu-
chungen, 1. Band: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des A-
bendlandes, Frankfurt/M. 1976, Einleitung, S. XXIIIff. insbesondere.
Sozialer Wandel 311
4
Vgl. Hans-Peter Blossfeld, Changes in Educational Opportunities in the Federal Republic
of Germany. A Longitudinal Study of Cohorts Born Between 1916 and 1965, in: Yossi
Shavit und Hans-Peter Blossfeld (Hrsg.), Persistent Inequality. Changing Educational At-
tainment in Thirteen Countries, Boulder, San Francisco und Oxford 1993, S. 51-74.
312 Die Konstruktion der Gesellschaft
sen- und Rassenbarrieren und die Unterschiede der Geschlechter im Zugang zum Bildungs-
system fallen müßten und daß sich deshalb auch die soziale Ungleichheit, wenigstens was die
Statusvererbung angeht, insgesamt verringern müßte.
Frauen
Kohorten
1921-1925 1931-1935 1941-1945 1951-1955 1961-1965
Männer
Kohorten
1921-1925 1931-1935 1941-1945 1951-1955 1961-1965
Tabelle 7.2: Die Auswirkung von Bildung und Beruf des Vaters auf den Übergang von der
Grundschule zur mittleren Bildung (Realschule, Fachoberschule) für
verschiedene Geburtsjahrgänge (Logit-Koeffizienten; Auszug aus Blossfeld
1994, S. 68f.)6
5
Peter M. Blau und Otis D. Duncan, The American Occupational Structure, New York,
London und Sydney 1967, S. 169ff.
6
Die in der Tabelle aufgeführten Koeffizienten sind sog. Logit-Koeffizienten. Sie geben
das Gewicht der jeweiligen unabhängigen Variable auf die Wahrscheinlichkeit des Über-
314 Die Konstruktion der Gesellschaft
Männer Frauen
Bildung Beruf Bildung Beruf
Jahrgang Konstante Konstante
Vater Vater Vater Vater
1921-1925 -9.92 0.596 0.045 -5.41 0.226 0.030
1931-1935 -6.92 0.456 0.025 -5.62 0.351 0.011°°
1941-1945 -3.92 0.149° 0.026 -4.07 0.194 0.020
1951-1955 -3.95 0.144° 0.027 -4.68 0.319 0.020
1961-1965 -7.46 0.452 0.043 -4.69 0.530 0.005
Sozialer Wandel und die Stabilität der Strukturen: das Modell von Raymond
Boudon
Zwei Dinge lassen sich also festhalten: Erstens hat es beim Bildungssystem
und bei der Bildungsbeteiligung ganz allgemein in der Tat einen erkennbaren
sozialen Wandel gegeben, was sich u.a. in der Angleichung der Geschlechter
in den Bildungsabschlüssen zeigt. Zweitens aber sind die Ungleichheitsstruk-
turen in der Vererbung der Bildung nach dem sozialen Status nahezu unver-
ändert geblieben und sie haben sich neuerdings eher wieder verstärkt. Es ist
also tatsächlich schon so etwas zu erkennen wie ein „Fahrstuhleffekt“: Das
ganze „System“ ist nach oben geschoben worden, aber die Unterschiede zwi-
schen den Klassen und Schichten sind, wenigstens was die Vererbung der
Bildung angeht, geblieben. Insofern beobachten wir mit dem Wandel des Bil-
dungssystems gleichzeitig eine Stabilität des Systems der sozialen Ungleich-
heit. Und sofort stellt sich wieder die Frage: Wie kann man sich das alles er-
klären. Es ist die Frage nach der Erklärung eines offensichtlichen sozialen
gangs von einer unteren zur mittleren Bildungsstufe an. Etwas vereinfachend gesagt: Hö-
here Ziffern der Logit-Koeffizienten zeigen, ganz ähnlich wie die üblichen Regressions-
koeffizienten, ein höheres Gewicht an als niedrigere. Alle Effekte sind signifikant mit
mindestens p<0.05, bis auf die mit o und oo gekennzeichneten Koeffizienten: Die beiden
Koeffizienten mit dem Zeichen o haben eine Signifikanz von p<0.10, der mit dem Zeichen
oo
ist nicht signifikant. Vgl. zu näheren Einzelheiten der sog. logistischen Regression und
zur Interpretation der Logit-Koeffizienten etwa Hans-Jürgen Andreß, Jacques A. Hagen-
aars und Steffen Kühnel, Analyse von Tabellen und kategorialen Daten. Log-lineare Mo-
delle, latente Klassenanalyse, logistische Regression und GSK-Ansatz, Berlin u.a. 1997,
Kapitel 5: Logistische Modelle für Individualdaten, S. 267ff. insbesondere.
Sozialer Wandel 315
Wandels und der Prozesse, die in einem solchen Wandel gleichzeitig wieder
stabile Strukturen reproduzieren.
Die Erklärung des Wandels des Bildungssystems der Gesellschaft und des Bildungsverhaltens
der Bevölkerung war in unserem Falle relativ naheliegend und einfach: Er war die Folge einer
„exogen“ angestoßenen politischen Entscheidung zur Erleichterung des Bildungszugangs, der
die Bevölkerung auch in allen ihren Untergruppen, aus leicht nachvollziehbaren Gründen, ge-
folgt ist, ja folgen mußte (vgl. dazu auch noch die Bemerkungen zur Bildung als sog. Positi-
onsgut am Schluß dieses Abschnitts). Wie aber ist die Stabilität der Bildungsungleichheit
nach sozialen Schichten zu erklären? Denn eigentlich sollte man doch erwarten, daß bei Öff-
nung des Bildungssystems die Klassengrenzen durchlässiger werden müßten!
Für den Fall der Vererbung von Statusunterschieden auch bei Ausweitung der
Bildungsbeteiligung hat nun Raymond Boudon schon vor einiger Zeit ein im
Grunde einfaches, einsichtiges und in seiner grundlegenden Logik überzeu-
gendes Modell entwickelt.7 Es besagt in einem Satz: Wenn sich die Positionen
auf dem Arbeitsmarkt nicht in ähnlicher Weise vermehren wie die Bildungs-
abschlüsse, dann bleibt die Struktur der sozialen Ungleichheit auch bei Aus-
bau des Bildungssystems unverändert.
Seine Überlegungen sind auch für viele ähnliche Prozesse gültig, bei denen sich die Anrechte
auf eine „Inklusion“ zwar mehren und diese Anrechte auch wahrgenommen werden, bei de-
nen jedoch die faktische Zahl der mit den Anrechten „eigentlich“ zu besetzenden Positionen
konstant bleibt. Und immer gibt es die gleiche Folge: Die Konkurrenz der Bewerber auf die
Positionen wird größer, und an den Ungleichheiten im Zugang zu den Positionen ändert sich
kaum etwas. Es ist also ein sog. Strukturmodell, ein Modell, das sich auf inhaltlich und histo-
risch ganz unterschiedliche Situationen der gleichen grundlegenden Struktur anwenden läßt
(siehe dazu auch noch Kapitel 8, sowie schon Kapitel 1 in diesem Band)
Zunächst wird von Boudon – der Einfachheit halber – angenommen, daß die
Gesellschaft nur aus drei sozialen Klassen bestehe: K1, K2 und K3, wobei K1
die obere und die K3 die untere Klasse bezeichne. Es gebe außerdem sechs
Bildungsstufen mit S1 als der höchsten und S6 als der niedrigsten. In einem
Ausgangszeitpunkt t1 gebe es eine bestimmte Verteilung der Bildungsbeteili-
7
Raymond Boudon, Education, Opportunity, and Social Inequality. Changing Prospects in
Western Society, New York u.a. 1974. Das Modell ist hier in seiner Kurzform übernom-
men aus Raymond Boudon, Die Logik des gesellschaftlichen Handelns. Eine Einführung
in die soziologische Denk- und Arbeitsweise, Darmstadt und Neuwied 1980, S. 93ff. Es
entspricht – unter teilweise merklichen – Rundungsfehlern den Perioden t1 und t3 in der
ursprünglichen Version bei Boudon 1974, S. 146ff. Vgl. für eine Erweiterung und
Verallgemeinerung des Modells von Boudon neuerdings Volker Müller-Benedict,
Strukturelle Grenzen sozialer Mobilität, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und
Sozialpsychologie, 51, 1999, S. 313-338. Eine analytische Fassung des Modells der
Statuszuweisung auf vakante Positionen und der dadurch erzeugten strukturellen Effekte
findet sich bei Aage B. Sørensen, The Structure of Inequality and the Process of
Attainment, in: American Sociological Review, 42, 1977, S. 965-978.
316 Die Konstruktion der Gesellschaft
gung auf die drei Klassen, etwa derart, daß 23% der Mitglieder der oberen
Klasse den höchsten Bildungsgrad, einen Hochschulabschluß nämlich, errei-
chen, 5% der mittleren und nur 1% der unteren Klasse. Nun öffnet sich das
System, und zu einem Zeitpunkt t2 habe sich entsprechend das Bildungsver-
halten der Bevölkerung aller Klassen geändert, etwa derart, daß nun 31% der
oberen Klasse, 9% der mittleren und 2% der unteren Klasse einen Hochschu-
labschluß machen. In Tabelle 7.3 sind diese Verhältnisse und die Veränderun-
gen zwischen den Perioden t1 und t2 für die drei Klassen und in Bezug auf die
angenommenen sechs möglichen Bildungsabschlüsse zusammengefaßt. Sie
sind als Wahrscheinlichkeiten dargestellt, als Kind einer bestimmten Klasse
einen bestimmten Schulabschluß zu erreichen, wobei wir auf die inhaltliche
Benennung der mittleren Schulabschlüsse verzichtet haben.
Tabelle 7.3: Die Veränderung der Bildungsbeteiligung zwischen den Perioden t1 und
t2 im Modell von Boudon (jeweils in Anteilen des erreichten Abschlusses
nach sozialer Klasse; nach Boudon 1980, S. 94, bzw. Boudon 1974, S. 146)
Zeitpunkt t1
Schulabschluß
Hochschule Hauptschule
Soziale
Herkunft S1 S2 S3 S4 S5 S6
K1 .23 .10 .06 .17 .26 .18 1.00
K2 .05 .05 .04 .15 .36 .35 1.00
K3 .01 .02 .02 .08 .33 .54 1.00
Zeitpunkt t2
Schulabschluß
Hochschule Hauptschule
Soziale
Herkunft S1 S2 S3 S4 S5 S6
K1 .31 .10 .06 .16 .22 .15 1.00
K2 .09 .07 .05 .17 .34 .28 1.00
K3 .02 .03 .03 .12 .36 .44 1.00
Sozialer Wandel 319
eine Art von Berechtigungsschein darstellen, mit dem die Jugendlichen mit
einer gewissen Chance bestimmte soziale Positionen bekleiden können. Die
Anzahl der Positionen ist dabei jeweils begrenzt, und die begehrtesten werden
mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vorrangig an jene mit den höchsten
Bildungsabschlüssen vergeben. Das geschieht so lange, bis der Bestand an
Positionen oder Jugendlichen ausgeschöpft ist. Diese Wahrscheinlichkeit wird
als Erfolgsquote bezeichnet. Sie wird in dem Modell von Boudon mit 70%
angenommen. Dann geht es mit einem evtl. Überschuß an qualifizierten Be-
werbern an die nächst niedrigeren Positionen bzw. Abschlüsse. Und so weiter.
Mit der Erfolgsquote soll einerseits ausgedrückt werden, daß nicht alle, die den formalen
Abschluß haben, auch ihre Chance wirklich wahrnehmen, und andererseits, daß nicht alle
Bewerber mit dem betreffenden, formal berechtigenden Abschluß auch tatsächlich genom-
men werden. Es gibt also einen gewissen Spielraum bei der Besetzung der Positionen nach
Bildung. Der Wert von 70% ist hier durchaus willkürlich angenommen. Die Ziffer ist eine Art
von „meritokratischem“ Knappheitskoeffizient, und sie drückt auch aus, daß ein gewisser
Bildungsabschluß für die Einnahme einer oberen Position zwar notwendig, aber leider nicht
hinreichend ist. Es könnten ohne weiteres auch andere Werte angenommen werden. Je nied-
riger der Koeffizient ist, um so höher wäre die Zurückhaltung der Bewerber oder, was viel
wahrscheinlicher ist, die Konkurrenz um die begehrten Positionen – und um so weniger „hin-
reichend“ wäre der jeweilige Abschluß für die Einnahme der oberen Positionen. Bei 100%
Erfolgsquote gäbe es nur Interessenten und keine Konkurrenz, und der Bildungsabschluß wä-
re, wie das früher einmal für das Abitur hierzulande grosso modo tatsächlich der Fall war, ein
gern genommener Freifahrtschein für die Reise ins gelobte Land der beruflichen Karriere.8
Insgesamt bestehe nun die Bevölkerung der fiktiven Gesellschaft des Modells
aus 10000 Personen, und die verteile sich zu 1000 auf die Klasse K1, zu 3000
auf die Klasse K2 und zu 6000 auf die Klasse K3. Es seien dann auch wieder
genau 10000 Positionen zu besetzen, und zwar wieder 1000 auf der Ebene der
oberen Klasse, 3000 auf der der mittleren und 6000 auf der der unteren. Das
heißt: Die soziale Struktur als die zahlenmäßige Verteilung der Bevölkerung
auf die drei Klassen wird über den Vorgang der Vermittlung des Status von
den Eltern auf die Kinder hinweg und für die beiden Perioden als konstant an-
genommen.
Der erste Schritt der Simulation des Prozesses der Statuszuweisung über
die Bildungsbeteiligung besteht nun in der Berechnung der „absoluten“ Ver-
teilung der 10000 Kinder auf die sechs Bildungsabschlüsse. Die ergibt sich
unmittelbar aus den Daten der Tabelle 7.3, die ja die Proportionen der Vertei-
lung der Klassen auf die sechs Bildungsstufen enthielt. Das Ergebnis dieser
Umrechnung steht in der rechten Spalte der Tabelle 7.4.
8
Vgl. dazu auch die Änderungen der Ergebnisse bei Variation der Erfolgsquote, wie sie
Müller-Benedict (1999, S. 324ff.) in einer verallgemeinernden Simulation findet.
320 Die Konstruktion der Gesellschaft
Die Ziffern für die absolute Besetzung der 6 Bildungsebenen berechnen sich dabei ganz ein-
fach. Beispielsweise verteilten sich in Tabelle 7.3 ja zum Zeitpunkt t1 23% der oberen Klasse,
5% der mittleren und 1% der unteren Klasse auf den Hochschulabschluß. 23% der 1000 Ju-
gendlichen aus der oberen Klasse sind nun aber in absoluten Zahlen 0.23&1000=230, 5% der
3000 Jugendlichen der mittleren Klasse ergeben 0.05&3000=150 und 1% der 6000 Jugendli-
chen der unteren Klasse 0.01&6000=60. Zusammen gibt es also 230+150+60=440 Jugendli-
che, die zum Zeitpunkt t1 einen Hochschulabschluß machen. Das ergibt die erste Ziffer in der
rechten Spalte der Tabelle 7.4. Und so weiter.
Nun erfolgt der zweite Schritt: die Verteilung der Absolventen der verschie-
denen Schulabschlüsse auf die sozialen Positionen, die die drei Klassen dann
wieder ausmachen. Auch das ist eine einfache Rechnung. Sie folgt (zunächst)
der Regel der Zuweisung gemäß der Erfolgsquote der Bildung.
Insgesamt stehen beispielsweise zum Zeitpunkt t1 440 Kandidaten mit Hochschulabschluß zur
Verteilung auf die sozialen Positionen der Klassen zur Verfügung (siehe Tabelle 7.4a, rechte
Spalte oben). Nach der oben beschriebenen Logik der Verteilung auf die Positionen gemäß
der Erfolgsquote von 70% übernehmen zum Zeitpunkt t1 von den 440 Kandidaten mit Hoch-
schulabschluß 308 die oberen Positionen K1. Übrig bleiben 132 Bewerber mit Hochschu-
labschluß. Von denen werden wiederum 70% in die mittleren Positionen K2 eingewiesen, das
sind 92. Übrig bleiben also noch 40, die sich mit den unteren Positionen K3 begnügen müs-
sen. Das ergibt die erste Zeile der Zellenbesetzungen in Tabelle 7.4, die sich zu den 440 Kan-
didaten aufaddiert, die die Hochschule besucht hatten. Und so weiter.
Wenn man diese Regel immer weiter anwendet, können indessen an einer be-
stimmten Stelle nicht alle Kandidaten, die „eigentlich“ dran wären, in die obe-
ren (und dann auch nicht in die mittleren) Positionen hinein, weil es von de-
nen ja nur 1000 (bzw. 3000) gibt. Beispielsweise „passen“ zwar noch alle
70% der Bildungsgruppen 2 und 3 in K1 (0.70&370=259 bzw. 0.70&300=210).
Aber 70% von 1100 wären ja alleine schon 770, und es stehen bis dahin nur
noch 1000-(308+259+210)=223 freie Plätze in K1 zur Verfügung. Nun greift
eine weitere Regel: Von den nun noch freien Plätzen werden auf die jeweilige
Bildungsgruppe, die gerade am Zuge ist, wiederum nur 70% verteilt, hier also:
0.70&223=156. Danach bleiben noch 67 Plätze übrig, weil 223-156=67 ausma-
chen. Davon gehen nun wiederum 70% an die nächst niedrige Bildungsgrup-
pe. Das sind hier 0.70&67=47. Und übrig bleiben zuletzt noch 20 Plätze, die al-
lesamt an die Hauptschüler, die unterste Bildungsgruppe also, gehen.
Mit den beiden Zuteilungsregeln wird, wie man sieht, eine gewisse Offenheit in das System ein-
gebaut: Auch Hauptschüler können in die obere Klasse hinein, und auch Hochschulabsolventen
müssen damit rechnen, unten zu landen. Gleichzeitig wird systematisch berücksichtigt, daß es
strukturelle Begrenzungen gibt: Zwar gibt es soviel Positionen wie Akteure, und zu einer „Exklu-
sion“ muß es nicht kommen. Aber die Anzahl insbesondere der begehrten Positionen ist limitiert,
und nicht alle, die ein Interesse hätten oder geeignet wären, können daher bedient werden.
Wenn man die beschriebenen beiden „meritokratischen“ Regeln für alle sozia-
len Klassen, Abschlüsse und Positionen zum Zeitpunkt t1 anwendet, ergeben
Sozialer Wandel 321
sich die Ziffern in Tabelle 7.4a, und für den Zeitpunkt t2 entsprechend die in
Tabelle 7.4b.
Tabelle 7.4: Bildungsabschlüsse und die Verteilung auf die sozialen Positionen in dem
Modell von Boudon (nach Boudon 1980, S. 95, bzw. Boudon 1974, S. 147)
a. Zeitpunkt t1
soziale Position
Bildungsabschluß zu t1 K1 K2 K3 insgesamt
b. Zeitpunkt t2
soziale Position
Bildungsabschluß zu t2 K1 K2 K3 insgesamt
Aus diesen Verteilungen lassen sich nun leicht wiederum die Wahrscheinlich-
keiten berechnen, daß jemand mit einem bestimmten Schulabschluß, eine be-
stimmte soziale Position einnimmt. Das ist der dritte Schritt der Modellierung.
So ist beispielsweise für jemanden in der Periode t1 die Chance, mit dem Ab-
schluß S2 in die obere Klasse K1 zu gelangen, genau gleich 259/370=0.70, und
322 Die Konstruktion der Gesellschaft
und für jemanden in Periode t2, mit dem Abschluß S6 in die mittlere Klasse K2
zu kommen, ist sie entsprechend 483/3630=0.13. Auf diese Weise erhält man
die
a. Zeitpunkt t1
soziale Position
Bildungsabschluß zu t1 K1 K2 K3 insgesamt
b. Zeitpunkt t2
soziale Position
Bildungsabschluß zu t2 K1 K2 K3
Nun kommt der vierte und abschließende Schritt, bei dem es um die Verbin-
dung zwischen der sozialen Herkunft der Kinder und ihre soziale „Bestim-
mung“ in die drei sozialen Klassen über die Mechanismen von Bildungsbetei-
Sozialer Wandel 323
(0.05&0.21)+(0.05&0.21)+(0.04&0.21)+(0.15&0.60)+(0.36&0.44)+(0.35&0.14)=
0.0105+0.0105+0.008+0.090+0.158+0.049=
0.326.
So entsteht eine Matrix mit den drei Herkunftsklassen in den Zeilen und den
drei Bestimmungsklassen in den Spalten, sowie den Übergangswahrschein-
lichkeiten von einer Klasse i in die Klasse k in den jeweiligen Zellen ik. Der
Übergang von einer Klasse Ki wieder in die Klasse Ki beschreibt dann also die
Wahrscheinlichkeit einer Statusvererbung. Diese Wahrscheinlichkeiten stehen
folglich in der Hauptdiagonale der neuen Matrix in Tabelle 7.6.
324 Die Konstruktion der Gesellschaft
Tabelle 7.6: Der Übergang zwischen den sozialen Klassen als Folge von klassenspezi-
fischer Bildungsbeteiligung und „meritokratischer“ Statuszuweisung zu
zwei Perioden nach dem Modell von Boudon (vgl. auch Boudon 1974, S.
152)
a. Zeitpunkt t1
soziale Bestimmung
K1 K2 K3 insgesamt
b. Zeitpunkt t2
soziale Bestimmung
K1 K2 K3
Über die absoluten Größen der sozialen Klassen – 1000 bei K1, 3000 bei K2
und 6000 bei K3 – lassen sich dann die Übergänge bzw. die Statusvererbun-
gen auch wieder in „absoluten“ Anzahlen von „Personen“ ausdrücken, die
aufsteigen, absteigen oder den Status ihrer Eltern wieder erben. Dazu müssen
nur die Übergangswahrscheinlichkeiten zeilenweise mit den Klassengrößen
der sozialen Herkunft multipliziert werden. Das Ergebnis steht in Tabelle 7.7.
Sozialer Wandel 325
Tabelle 7.7: Der Übergang zwischen den sozialen Klassen in absoluten Zahlen nach
dem Modell von Boudon (vgl. auch Boudon 1980, S. 97)
a. Zeitpunkt t1
soziale Bestimmung
K1 K2 K3 insgesamt
b. Zeitpunkt t2
soziale Bestimmung
K1 K2 K3
Und was sieht man? Genau: Obwohl sich das Bildungssystem nachhaltig ge-
wandelt und für alle Schichten nach oben geöffnet hat, hat sich an der Status-
vererbung zwischen den sozialen Klassen im Vergleich der beiden Perioden t1
und t2 kaum etwas geändert:
„In sum, the model indicates that a drastic change in school attendance as well as in overall edu-
cational attainment, even when combined with a nonnegligible decrease in IEO, has but a small
impact on the structure of intergenerational mobility.“ (Boudon 1974, S. 153; Hervorhebungen
nicht im Original)
Also: Die Bildungschancen haben sich vermehrt, aber die soziale Ungleich-
heit ist geblieben, genauso wie das Blossfeld empirisch gefunden hat (siehe
oben). Und warum das so ist, ist nun auch leicht zu verstehen: Weil sich die
Zahl der besseren Positionen eben nicht mit den Bildungschancen gleichzeitig
erhöht hat, gibt es jetzt eine – strukturell bedingte – schärfere Konkurrenz un-
ter den Bewerbern mit den höheren Bildungsabschlüssen. Und der Grund da-
für:
326 Die Konstruktion der Gesellschaft
„Die Stabilität der Struktur hinsichtlich der Mobilitätsströme ergibt sich aus der Interdependenz
zwischen den Agenten: Parallel zu dem Rückgang der Disparitäten bei den Bildungschancen voll-
zieht sich ein Anwachsen der Warteschlange, was wiederum einen komplexen Abwertungseffekt
der Berechtigungsscheine hervorruft.“ (Boudon 1980, S. 97)
Alle müssen sich also jetzt auf die Zehen stellen, und keiner sieht besser als
vorher. Das Bildungsniveau ist ohne Zweifel insgesamt gestiegen, und inso-
fern hat sich etwas geändert. Aber die Schichtungsstruktur ist geblieben: Bei
dem Wettlauf um die besseren Positionen haben weiterhin die oberen Schich-
ten die besseren Karten, weil sie, ausgestattet mit kulturellem und sozialem
Kapital und einem familial vermittelten Erbe der Bildungsvorteile, immer
wieder mit deutlich höheren Anteilen an Kandidaten mit den höheren Ab-
schlüssen an den Start gehen. Und wenn man, was Boudon dann realisti-
scherweise auch noch tut, auch unmittelbare Vorteile der oberen Klassen bei
der Positionsvergabe berücksichtigt, dann stabilisiert sich die Statusvererbung
mit der Öffnung des Bildungssystems noch weiter.9 Und die Folge:
„Das Verhalten der Individuen hat sich zwischen t1 und t2 (zwar; HE) geändert: Unter sonst glei-
chen Bedingungen strebt ein Individuum der Kohorte t2 gegenüber einem vergleichbaren Indivi-
duum der Kohorte t1 nach einem höheren Bildungsniveau. Das durchschnittliche Bildungsniveau
jeder Kategorie ist demnach angestiegen; außerdem machte sich der Wandel bei den niedrigen
Kategorien stärker bemerkbar. Dessen ungeachtet und trotz der Tatsache, daß dem Bildungsni-
veau ein großer Anteil bei der Festsetzung des sozialen Status zukommt, bleibt (jedoch; HE) die
Struktur der sozialen Mobilität stabil.“ (Boudon 1980, S. 97f.; Hervorhebungen nicht im Original)
Boudon nennt den Vorgang der strukturellen Abbremsung der Mobilität bei
verstärkten Bildungsanstrengungen aller Schichten einen „Neutralisierungsef-
fekt“: Der Wandel der individuellen Verhaltensweisen, ausgelöst durch einen
„externen“ politischen Anstoß, löst Folgen aus, die sich gegenseitig aufheben:
Der Erhöhung der Qualifikationen folgt in gleichem Maße eine Verstärkung
9
Vgl. die Einführung des sog. Dominanzeffekts in das Modell, wonach Kinder aus den o-
beren Klassen bei der Zuteilung der Absolventen der verschiedenen Schulabschlüsse der
Reihe nach bevorzugt werden, wenn es um die Auffüllung der evtl. noch offenen Positio-
nen geht; vgl. Boudon 1974, S. 155ff. Solche Dominanzeffekte lassen sich soziologisch
gut belegen: Die Kinder oberer Klassen haben eine Reihe von Vorteilen, in der Konkur-
renz mit den Kindern unterer Klassen auch bei gleicher Qualifikation die besseren Posten
zu erhalten, wie etwa das kulturelle Kapital des „guten“ Geschmacks aus dem bildungs-
bürgerlichen Elternhaus oder gewisse „Beziehungen“ unter den oberen 3 Millionen, was
man inzwischen als soziales Kapital bezeichnet. Vgl. dazu auch Müller-Benedict 1999, S.
319f. Vgl. zu den Konzepten des sozialen und des kulturellen Kapitals auch noch Band 4,
„Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“.
Sozialer Wandel 327
der Konkurrenz. Außerdem zeigt Boudon noch, daß die stabilisierenden Ef-
fekte auch unter Bedingungen einer noch stärkeren Öffnung des Bildungssys-
tems erhalten bleiben.10
Wichtig ist dabei vor allem, daß sich diese Verhältnisse der Statusvererbung zwar gleich ein-
stellen, daß aber gleichwohl das Bildungsniveau einen Einfluß auf die Statuseinnahme der
Individuen hat. Insofern handelt es sich eben nicht um die Perpetuierung der sozialen Un-
gleichheit aufgrund irgendwelcher Diskriminierungen oder um ein Kastensystem der askrip-
tiv fixierten Zuweisung von Positionen und ohne jede Bewegung zwischen den Schichten:
Eine gute Bildung verschafft durchaus einen Vorteil für die Individuen an der Warteschlange
vor der Einweisung in die höheren Positionen. Aber an der Struktur der sozialen Ungleichheit
ändert sich dadurch kaum etwas.
Hinzu tritt im übrigen ein weiterer, schier unaufhaltsamer Prozeß der sozusa-
gen „kumulativen“ Entwertung der höheren Bildungsabschlüsse. Raymond
Boudon hat diesen Vorgang zum Schluß seines wirklich richtungsweisenden
Buches so beschrieben:
„ ... every individual has a definite advantage in trying to obtain as much education as possible –
the higher the educational level, the more favorable the status expectations. But as soon as all in-
dividuals want more education, the expectations associated with most educational levels tend to
degenerate, and this has the effect of inciting people to demand still more education in the next pe-
riod.“ (Boudon 1974, S. 198)
Die Bildung ist mit der Öffnung des Bildungssystems also offenbar eine Art
von Positionsgut geworden. Das sind Güter, die nur dem nutzen, der sie als
erster besitzt (vgl. dazu auch noch Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Spe-
ziellen Grundlagen“). Das hat die leicht einsehbare Folge eines gnadenlosen
runs auf ein solches Gut, wenn es denn überhaupt erreichbar erscheint. Einmal
durch die Bildungsreform in Gang gesetzt beginnt also so etwas wie ein „ei-
gendynamischer“, sich selbst verstärkender und nicht aufzuhaltender Prozeß
eines Wettlaufs um die höhere Bildung (siehe dazu auch noch Abschnitt 7.4
unten in diesem Band). Es ist die Fortsetzung des Rüstungswettlaufs der gro-
ßen Systeme in der Weltraumfahrt in den 60er Jahren im Innern der Gesell-
schaften seitdem. Und an dem „müssen“ alle teilnehmen, weil sie sonst sofort
schon das Rennen um die guten Plätze verloren hätten. Und das tun sie dann
auch, selbst wenn sie dafür gar nicht geeignet sind und – statt ein mühseliges
Abitur und ein mittelmäßiges Magisterexamen in Politik und Germanistik zu
machen und einer ungesicherten akademischen Zukunft entgegenzusehen –
10
Vgl. dazu aber auch die davon abweichenden Ergebnisse bei Müller-Benedict (1999, S.
325ff.), der in einer verallgemeinernden Simulation des Modells von Boudon feststellt,
daß sich die Statusvererbung doch verringern kann, wenn die Bildungsungleichheit weiter
sinkt und sich die Erfolgsquoten der Bildung erhöhen. Vgl. dazu auch noch den Schluß
von Abschnitt 7.4 unten in diesem Band.
328 Die Konstruktion der Gesellschaft
Jeder soziale Wandel ist ein Prozeß – ein Prozeß der Genese bestimmter Se-
quenzen der Änderung der gesellschaftlichen Strukturen. Und auch vollkom-
men stabile Strukturen sind, wie wir gesehen haben, nichts als die Folge von
solchen „genetischen“ Prozessen der Abfolge von aneinander anschließenden
Sequenzen einer soziologischen Erklärung: Eltern aus bestimmten sozialen
Klassen schicken ihre Kinder systematisch auf bestimmte Schulen, und die
Arbeitgeber verteilen die Positionen wiederum systematisch nach den Schul-
abschlüssen. Und daraus ergibt sich dann die Reproduktion der sozialen Un-
gleichheit oder ggf. auch ihr Wandel. Die „Logik“ des sozialen Wandels be-
steht also nicht aus irgendwelchen übergreifenden „Gesetzen“ des sozialen
Wandels, sondern aus der „Situationslogik“ des immer wieder neu zu erklä-
renden „Anschlusses“ von einzelnen Sequenzen der soziologischen (Tiefen-)
Erklärung an die vorhergehende.
Das hatte die Soziologie eine lange Zeit anders gesehen (vgl. auch die Anmerkungen zu Be-
ginn dieses Kapitels). Sie wollte inhaltlich definierte übergreifende Abläufe und Zusammen-
hänge benennen und begründen, wie die der Ko-Evolution von Industriegesellschaft und
Kernfamilie bei Emile Durkheim oder die Sequenz von Alphabetisierung, Urbanisierung,
Medienverbreitung und Empathie bei Daniel Lerner. Und sie ging dabei von der festen Über-
zeugung aus, daß es unverrückbare und „allgemeine“ soziologische „Gesetze“ des Wandels
auf der Makroebene gesellschaftlicher Prozesse gäbe. Sie hat daher auch immer strikt daran
festgehalten, daß es ganz und gar unnötig, ja irreführend sei, die Vertiefungen auf die Mikro-
ebene, die möglichen Variationen in der Definition der Situation etwa, die komplexen Inter-
dependenzen der Akteure oder die Komplikationen bei der Aggregation der individuellen Ef-
fekte in kollektive Folgen, systematisch zu beachten: Die Individuen interessian mi überhaapt
net, brummt Peter Plora unentwegt als Begründung für das Programm „seiner“ institutionalis-
tischen Makrosoziologie der Entwicklungen der Wohlfahrtsstaaten in Westeuropa, und zeigt
damit, daß er, wie so mancher andere, wohl nie verstehen will oder kann, worum es beim Me-
thodologischen Individualismus und beim Modell der soziologischen Erklärung geht. Denn:
Die „Individuen“ sind ja auch im Modell der soziologischen Erklärung ganz und gar uninte-
ressant, und es interessieren auch hier nur die, wie das etwa Alexis Toqueville im Zusam-
menhang mit dem „Baumfalken“ so nachdrücklich betont hat, sozialen Klassen (vgl. dazu
auch schon die Kapitel 10 und 12 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziel-
len Grundlagen“).
Sozialer Wandel 329
Daß die Annahme fester soziologischer Gesetze eine äußerst waghalsige An-
gelegenheit ist, und daß es dafür stets mehr Ausnahmen als Regeln gab, ist
nicht zuletzt auch einer der Startpunkte für das Modell der soziologischen Er-
klärung gewesen: Es gibt, wie sich inzwischen nachhaltig gezeigt hat, solche
„Gesetze“ auf der Makroebene nicht, und mit den zahllosen Ausnahmen von
diesen Gesetzen des sozialen Wandels ist die bloß makrosoziologisch argu-
mentierende Soziologie nicht ohne Grund nie zu Rande gekommen.
Gleichwohl kann nicht bestritten werden, daß es gewisse Regelmäßigkeiten
des Wandels gibt und sogar bestimmte „Stadien“ von Abläufen der „Entwick-
lung“. Diese Regelmäßigkeiten aber, so festgefügt auch immer sie sein mö-
gen, „erklären“ den Wandel nicht, sie beschreiben ihn nur. Daher sind sie
auch kein Explanans für eine Theorie des sozialen Wandels, wie das die her-
kömmliche Soziologie immer meinte, sondern nun ihr Explanandum: Die be-
obachteten Regelmäßigkeiten müssen, einschließlich ihrer evtl. auch vorlie-
genden Anomalien, immer erst noch erklärt werden – und zwar über eine re-
gelgerechte soziologische Erklärung, natürlich, und damit über die Angabe
der Umstände, wie die Akteure dazu kommen, die Prozesse des Wandels so
voranzutreiben, wie es die soziologischen Gesetze des sozialen Wandels pos-
tulieren. An Hand eines eher harmlos erscheinenden Beispiels wollen wir nun
etwas ausführlicher zeigen, was mit der soziologischen Erklärung von „Geset-
zen“ des sozialen Wandels und ihrer Ausnahmen und mit der „Ko-Evolution“
von Akteuren, sozialen Systemen und Strukturen – gemeint ist.
Die „Erklärung“ eines „Gesetzes“ des sozialen Wandels: das Beispiel des
Race Relation Cycle
11
Robert E. Park, Our Racial Frontier on the Pacific, in: Robert E. Park, Race and Culture,
Glencoe, Ill., 1950, S. 149ff.
330 Die Konstruktion der Gesellschaft
12
Vgl. zur Kritik an den Modellen des RRC allgemein u.a. Tamotsu Shibutani und Kian
Kwan, Ethnic Stratification. A Comparative Approach, New York und London 1965, S.
131f.; Stanford M. Lyman, The Race Relations Cycle of Robert E. Park, in: The Pacific
Sociological Review, 11, 1968, S. 17ff.; Charles A. Price, The Study of Assimilation, in:
John A. Jackson (Hrsg.), Migration, Cambridge 1969, S. 213ff.
Sozialer Wandel 331
beispielsweise: Was soll dabei der alles treibende Mechanismus sein? Und
wie hat man sich genau vorzustellen, warum und unter welchen Bedingungen
die einzelnen Phasen sich einander ablösen? Wir wollen daher nun ein Modell
skizzieren, das die Entstehung eines solchen RRC tatsächlich erklärt – und
gleichzeitig zeigen kann, wann und warum es zu Abweichungen von dem
„kosmischen“ Gesetz kommt.
Das Modell beginnt mit der Unterscheidung von drei Typen von Akteuren:13
Die Einheimischen, die Migranten und die im Herkunftsland verbliebenen
Personen, die sog. Verbliebenen. Sie sind über drei typische Interdependenzen
miteinander verbunden und bilden insofern ein „Interdependenz“-System
(siehe dazu gleich unten mehr). Diese drei Gruppen von Akteuren haben je-
weils typische Alternativen des Handelns bzw. der Orientierung: Die Einhei-
mischen die der Akzeptanz (A) gegenüber der Distanz (D) zu den Migranten,
die Migranten die der Assimilation (S) oder die der Segmentation (G) in eine
ethnische Gemeinde, und die Verbliebenen die des weiteren Verbleibens (V)
im Herkunftsland gegenüber der Nachwanderung (M) dorthin, wo die
Migranten schon sind.
Für den mit den jeweiligen Alternativen zu erwartenden (Netto-)Nutzen,
von dem die jeweiligen Entscheidungen der Akteure abhängen, sei nun ein-
facherweise angenommen, daß es nur materiellen Nutzen Um bzw. materielle
Kosten Cm und sozialen Nutzen Us bzw. soziale Kosten Cs gebe.
Die materiellen Komponenten beziehen sich dabei etwa auf das zu erwartende Einkommen
und das Prestige der jeweiligen beruflichen Tätigkeit, die sozialen Komponenten auf den Er-
halt sozialer Anerkennung oder der Wahrung einer Identität über die Einbettung in soziale
Netzwerke. Es geht also wieder um die Nutzenproduktion über die Bedienung der beiden all-
gemeinen Bedürfnisse nach physischem Wohlbefinden und sozialer Wertschätzung.
Ganz allgemein und für alle Typen von Akteuren und Alternativen gilt somit
das folgende, durchaus triviale, weil inhaltlich noch nicht ausgefüllte Ent-
scheidungsmodell für eine Alternative i der sechs genannten Möglichkeiten:
EU(i) = (pimUm + pisUs) - (qimCm + qisCs)
13
Die folgende Modellierung orientiert sich an dem Beitrag von Hartmut Esser, Soziale Dif-
ferenzierung als ungeplante Folge absichtsvollen Handelns: Der Fall der ethnischen Seg-
mentation, in: Zeitschrift für Soziologie, 14, 1985, S. 438ff.
332 Die Konstruktion der Gesellschaft
Der Rest der Modellierung besteht aus der Strukturierung der Einzelgewichte
der verschiedenen Alternativen und aus der Änderung der Einzelgewichte als
Folge eines („eigendynamisch“) ablaufenden Prozesses, der sich aus drei typi-
schen Interdependenzen der Akteure ergibt.
Die erste Interdependenz: soziale Distanz und die Anzahl der Migranten
Wir wollen annehmen, daß das Geschehen mit der Einwanderung einiger we-
niger Pioniere beginnt und daß diese Migration von den Einheimischen sogar
gewünscht wird, etwa zur Entlastung eines überhitzten Arbeitsmarktes oder
für bestimmte Tätigkeiten, die die Einheimischen selbst nicht (mehr) ausüben
mögen. Ansonsten gebe es bei den Einheimischen nur neutrale Gefühle ge-
genüber den Immigranten. Es läßt sich also zunächst für die Einheimischen
die folgende EU-Gewichtung der Alternativen Akzeptanz versus Distanz an-
nehmen:
EU(A) = pamUm
EU(D) = 0.
Für das Verhalten der Migranten seien dann, wiederum vereinfachend, zu-
nächst nur die materiellen Chancen im Aufnahmeland wichtig, insbesondere
Sozialer Wandel 333
weil es wegen des Fehlens einer ethnischen Gemeinde in der Phase der Pio-
nierwanderung keinerlei Möglichkeiten für irgendeinen materiellen oder sozi-
alen Nutzengewinn durch die ethnische Segmentation gibt. Also läßt sich für
die Alternativen Assimilation versus Segmentation bei den Migranten zu-
nächst annehmen:
EU(S) = psmUm
EU(G) = 0.
Das heißt inhaltlich: Die Segmentation ist als Alternative nicht verfügbar, und
nur über die Assimilation ist das Leben zu fristen. Genau das ist auch der
Grund für die gut belegte Beobachtung, daß sich die Pionierwanderer meist
relativ rasch in die Aufnahmegesellschaft hinein integrieren: Sie haben eigent-
lich keine Alternative.
Auch das kann sich selbstverständlich ändern. Der wohl wichtigste Grund
ist – ebenfalls – die Zunahme der reinen Anzahl weiterer Migranten. Sie sen-
ken über die nun einsetzende Konkurrenz die materielle Nutzenerwartung für
die (strukturelle) Assimilation, und sie eröffnen jetzt Chancen für ein vor al-
lem in kultureller und sozialer Hinsicht erträgliches Leben in einer ethnischen
Gemeinde. Das ist die Verbindung zwischen dem weiteren Migrationsgesche-
hen und dem Verhalten der Migranten, das seinerseits über die mit der Grup-
pengröße variierenden sozialen Distanzierungen mit dem Verhalten der Ein-
heimischen verknüpft ist. Es ist die zweite Interdependenz der Akteure.
Vieles hängt also davon ab, ob es bei den wenigen Pionierwanderern bleibt
oder nicht. Nun kommen die Verbliebenen ins Spiel. Sie sind im Herkunfts-
land geblieben, weil für sie die Bilanz einer Migration gegenüber dem
Verbleiben negativ war. Das lag, so sei angenommen, daran, daß es eine be-
sondere materielle Nutzenerwartung der Migration bei ihnen (einstweilen)
nicht gab, wie wohl bei den Älteren oder bei den Frauen, und daß die Aufgabe
der sozialen Bindungen an den Herkunftskontext einen deutlichen Nutzenver-
lust nach sich ziehen würde. Die EU-Gewichte für die Entscheidung zum
Verbleiben oder zur Wanderung lassen sich für die Verbliebenen dann so mo-
dellieren:
EU(V) = pvsUs
EU(M) = -qmsCs.
334 Die Konstruktion der Gesellschaft
Insgesamt läuft mit diesen drei Interdependenzen, wenn die nötigen Annah-
men zutreffen, also ein eigendynamischer Prozeß ab, der deshalb in der Tat
nicht aufzuhalten ist, weil sich nach und nach die verschiedenen Terme der
EU-Gleichungen und damit auch die EU-Gewichte der Alternativen bei allen
drei Gruppen verschieben und sich gegenseitig immer wieder mit neuen Än-
derungen anstecken und so den Prozeß weitertreiben.
Sozialer Wandel 335
Wiederum für den einfachsten Fall sieht dieser mehrfach verbundene Prozeß so aus: Die Abwan-
derung der Pionierwanderer verändert die EU-Gewichte bei einem Teil der Verbliebenen so, daß
die sich nun zur Wanderung entschließen. Dadurch steigt im Aufnahmeland sukzessiv die Grup-
pengröße der Migranten. Das hat zwei Folgen: Erstens nimmt nun die Konkurrenz um die knap-
pen Ressourcen, auch mit den Einheimischen, zu. Und zweitens wird mit der Vergrößerung der
Gruppe die ethnische Segmentation der Migranten möglich und auch attraktiv. Es sinkt daher
nach und nach die Neigung der Migranten zur Assimilation ebenfalls. Beides zusammen sorgt
allmählich für die Veränderung der Orientierungen bei den Einheimischen, die, so sei angenom-
men, soziale Distanzen in dem Maße aufbauen, wie die Gruppengröße der Migranten zunimmt
und sich die ethnischen Gemeinden etablieren.
Die Phasen des RRC werden also über das Verhältnis der EU-Gewichte für
die Assimilation bzw. die Segmentation der Migranten (partiell) definiert. Es
ist, wie man leicht sieht, ein Fall der Festlegung gewisser Regeln der „Trans-
formation“ individueller Effekte in kollektive Sachverhalte (vgl. dazu bereits
Kapitel 1 dieses Bandes).
Zu den emergenten Effekten des Vorgangs können, auch unabhängig von weiteren empirischen
Zugaben, schon einige konkretere Dinge gesagt werden. Weil die beiden entscheidenden, von der
Gruppengröße abhängigen Funktionen, die EU-Gewichte für die Assimilation und für die Seg-
mentation, gegenläufig variieren, muß es, wenn die Gruppengröße aufgrund der Kettenmigration
hinreichend anwächst, zu einem Schnittpunkt der beiden Funktionen und damit zu einem Um-
schlag der Orientierungen bei den Migranten und darüber auch bei den Einheimischen kommen.
Außerdem können für den speziellen Verlauf der beiden Funktionen zwei Annahmen gemacht
werden: Das EU-Gewicht für die Assimilation verläuft, wenn man sie als reziproke Funktion der
Gruppengröße N, etwa mit 1/N, annimmt, als eine gegen null gehende asymptotische Funktion.
Und das EU-Gewicht für die Segmentation nimmt mit der Variation der Gruppengröße die Form
einer logistischen Funktion an, ganz wie die eines Prozesses des Bevölkerungswachstums, weil
über die Kettenmigration zunächst immer weitere Teile der verbliebenen Population erfaßt wer-
den, die dann aber wegen der Nachwanderung ja immer kleiner wird (vgl. dazu schon das Modell
in Kapitel 19 der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“).
Unmittelbar wird nachvollziehbar, worin die zwingende „Logik“ des RRC be-
steht. Es ist die Logik der sich ändernden Gelegenheiten und der dadurch ver-
änderten Gewichte für die verschiedenen Alternativen. Man kann sich nun
auch leicht Konstellationen vorstellen, in denen die Logik des RRC unterbro-
chen ist. Alles hängt ja an den Annahmen, etwa über die Verteilung der
Schwellenwerte für das Anlaufen und für die Fortsetzung der Kettenmigrati-
on, und an vielen anderen empirischen Gegebenheiten, die den Prozeß sonst
noch stoppen können.
Wenn beispielsweise die Schwellenwerte zur Nachwanderung in der Herkunftsregion nicht so
verteilt sind, daß eine Kettenwanderung zu erwarten ist, dann endet der Prozeß auch bald –
und es bleibt bei der Phase des Kontaktes mit der anschließenden Assimilation der (wenigen)
Migranten, auch schon in der ersten Generation und ohne alle die Zwischenschritte des RRC.
Auch können selbstverständlich jederzeit exogene Ereignisse den Prozeß ändern. Beispiels-
weise hat der drohende Anwerbestop für Gastarbeiter im Jahre 1973 die Nachwanderung der
Familien und eine auch darüber weit hinausgehende Kettenmigration ganz drastisch in Gang
gebracht – und dadurch erst manches Problem geschaffen, das er gerade verhindern sollte.
Und sicher „muß“ es die vierte Phase des RRC, die der Assimilation der Folgegenerationen,
auch in keiner Weise zwingend wirklich geben. Wenn sich beispielsweise ein ethnisches
Sozialer Wandel 339
Schichtungssystem einmal etabliert hat, wird es auch für eine dritte oder vierte Generation
sehr schwer, aus der ethnischen Mobilitätsfalle herauszufinden.
Alles in allem wird aber auch deutlich, daß die Behauptungen von Robert E.
Park über die Zwangsläufigkeit des Prozesses des RRC keineswegs unbe-
gründet waren: Unter einer Vielzahl von variierenden Bedingungen dürfte der
Vorgang tatsächlich so ablaufen, wie ihn Park – aufgrund einer Unzahl von
sorgfältigen Einzelbeobachtungen – beschrieben hat. Wir wissen mit dem
Modell der Erklärung des RRC jetzt aber, anders als Park, schon eher, warum
das so ist und, vor allem, wann und warum es den Prozeß so eben nicht gibt.
Prozesse des Wandels gibt es inhaltlich, wie es scheint, unendlich viele, und
auch die Formen scheinen schier unzählbar zu sein. Es gibt die stetige Repro-
duktion des Immergleichen, die Oszillation zwischen verschiedenen Zustän-
den, die sukzessive Verstärkung von einmal begonnenen Abweichungen wie
deren Abschwächung und die Wiederherstellung eines Gleichgewichts nach
einer Störung, sowie den Übergang von einem Systemzustand in den anderen,
die Transformation. Es gibt den rein endogen angelegten, „eigendynami-
schen“ Wandel wie den durch exogene Ereignisse ausgelösten. Und es gibt
die allmähliche und schrittweise (Ko-)Evolution wie die plötzliche und radi-
kale Revolution. Mit dem auf soziale Prozesse angewandten Modell der so-
ziologischen Erklärung lassen sich diese verschiedenen Formen des Wandels
auf eine einfache Weise systematisieren. Von dem norwegischen Soziologen
und Demographen Gudmund Hernes stammt dazu ein Vorschlag, der es er-
laubt, die verschiedenen Arten von Prozessen über gewisse formale Grund-
strukturen zu ordnen. Und Raymond Boudon hat, daran anknüpfend, ein so-
ziologisches Modell der Logik des sozialen Wandels vorgeschlagen, das als
Grundinstrument für die Analyse von Prozessen des sozialen Wandels unent-
behrlich geworden ist.14
14
Vgl. Gudmund Hernes, Structural Change in Social Processes, in: American Journal of
Sociology, 82, 1976, S. 513-547; Raymond Boudon, Soziologie und sozialer Wandel:
reproduktive Prozesse, in: Boudon (1980a), S. 120ff.
340 Die Konstruktion der Gesellschaft
Soziale Prozesse sind für Hernes zunächst nichts anderes als Sequenzen von
aufeinander folgenden Strukturen. Der Ausgangspunkt jeder Sequenz eines
Prozesses ist ein gewisser Input xt zu einem Zeitpunkt t, und das Resultat die
von Hernes so genannte Outputstruktur Yt+1 zu einem Zeitpunkt t+1 danach.
Die Outputstruktur besteht dabei aus den (kollektiven) Ergebnissen des Han-
delns der Akteure zu dem Zeitpunkt t+1, beispielsweise die Verteilung von
Schulabschlüssen oder eines Index der sozialen Ungleichheit, ein Migrations-
saldo, eine Bevölkerungspyramide, ein Wahlergebnis, eine politische Ent-
scheidung oder eine Revolte. Erklärt wird diese Outputstruktur über einen be-
stimmten generierenden Prozeß T in Abhängigkeit des Input xt. Mit T faßt
Hernes alle kausalen, logischen und mit der ablaufenden „Zeit“ verbundenen
Beziehungen zwischen den Variablen zusammen, die den Output erklären sol-
len, im Idealfall in Form eines mathematischen Modells. Die dazu nötigen
kausalen und logischen Funktionen zwischen den Variablen bilden die sog.
Prozeßstruktur f. Die Funktionen enthalten, wie alle Funktionen, bestimmte
Parameter, etwa Regressionsgewichte oder Konstante, die Hernes auch als
Operatoren bezeichnet. Daraus setzt sich die sog. Parameterstruktur a zu-
sammen.
Die Grundidee ist nun, daß sich die Outputstruktur im Zeitpunkt t+1 so-
wohl auf die Prozeßstruktur wie auf die Parameterstruktur für einen danach
folgenden Zeitpunkt t+2 auswirken kann. Damit werden in den Vorgang ge-
wisse Rückkopplungen systematisch eingebaut, die dem Prozeß seinen, auf
den jeweiligen endogenen Zusammenhängen beruhenden, „eigendynami-
schen“ Charakter verleihen. Zusätzlich gibt es, natürlich, noch gewisse exo-
gene Einflüsse, die sich sowohl auf die Prozeßstruktur wie auf die Parameter-
struktur auswirken können, und das wieder in bestimmter funktionaler Form.
Insgesamt sind damit – in noch sehr abstrakter Weise – vier mögliche Beziehungsmuster zu
beachten. Der Input zum Zeitpunkt t ist mit der Outputstruktur zum Zeitpunkt t+1 durch den
Prozeß T über die Funktion f verbunden. Es gilt also erstens:
Zweitens gilt, daß der Input xt+2 zu dem danach folgenden Zeitpunkt t+2 über eine Funktion q
von dem Output bei t+1 abhängt:
xt+2 = q(Yt+1).
Sozialer Wandel 341
Das ist eigentlich selbstverständlich, weil der Output jeder Vorperiode natürlich der Input an
Randbedingungen für die jeweils nächste Sequenz ist. Die Outputstruktur Yt+1 wirkt nun aber
zum Zeitpunkt t+1 – möglicherweise, nicht unbedingt immer – drittens auch auf die Parame-
terstruktur a der Funktion f, und zwar nach der Funktion g:
at+2 = g(Yt+1)
Schließlich kann viertens auch die Prozeßstruktur f selbst in der danach folgenden Periode
t+2 eine Funktion des Outputs zu t+1 sein, und zwar nach der Funktion h:
ft+2 = h(Yt+1).
Und so weiter.
Die Beziehungen zwischen den vier zentralen Größen des Modells lassen sich
dann wie in Abbildung 7.4 zusammenfassen, wobei die Ereignisse D+ wieder
gewisse exogene Einflüsse darstellen, die sich auf die Prozeßstruktur wie auf
die Parameterstruktur auswirken und darüber dann den Output verändern kön-
nen.
342 Die Konstruktion der Gesellschaft
Abb. 7.4: Die Beziehungen zwischen Input, Prozeß und Output im Modell von Hernes
(modifiziert nach Hernes 1976, S. 523)
Leicht ist zu erkennen, daß das Modell von Hernes nichts weiter ist als eine
etwas abstraktere Form des als Sequenz verstandenen Modells der soziologi-
schen Erklärung, die aber, und das ist das besondere Verdienst des Modells
von Hernes, systematische Hinweise darauf enthält, an welchen zentralen
Stellen solcher Prozesse sich der Wandel von „Strukturen“ ereignen kann. Es
sind genau drei Ebenen, auf denen das passieren kann: Die Outputstruktur Y,
die Parameterstruktur a oder aber die Prozeßstruktur f insgesamt.
Eine Änderung der Outputstruktur liegt beispielsweise bei dem in Abschnitt 7.2 beschriebenen
Prozeß der Kettenmigration vor, bei dem sich sukzessive die Anzahl der Migranten in einer Auf-
nahmegesellschaft erhöht. Andere Beispiele wären die Zunahme der Scheidungsraten oder die e-
benfalls oben angesprochene Bildungsreform und die Änderung des Bildungsverhaltens der Be-
völkerung. Bei der Rekonstruktion des Race Relation Cycle von Robert E. Park oben in Abschnitt
7.2 war, etwa für die Zunahme der Konkurrenz auf den Märkten, eine einfache Funktion ange-
nommen worden, nämlich die, daß sich die subjektive Wahrscheinlichkeit für die Nutzenproduk-
tion über eine Assimilation proportional mit der Gruppengröße ändere, am einfachsten also etwa
über die Funktion psm=1/N, wenn N die Gruppengröße ist. Darüber verringert sich dann das EU-
Gewicht für die Alternative S, die Assimilation, mit der Zunahme der Gruppengröße kontinuier-
lich, aber mit einer abnehmenden Rate. Wenn sich die Parameter dieser Funktion aufgrund des
Outputs ändern, liegt nun ein Wandel der Parameterstruktur vor – und der Prozeß nimmt, natür-
Sozialer Wandel 343
lich: ceteris paribus, einen anderen Verlauf. Beispielsweise könnte man davon ausgehen, daß sich
psm ab einer gewissen Gruppengröße nicht mehr weiter verringert und daher auch bei einem gro-
ßen N nicht gegen null geht. Ändert sich nun aber die ganze Funktion, etwa derart, daß psm nicht
nur von der Gruppengröße, sondern auch von anderen Variablen, etwa vom Grad der sozialen
Distanzen der Einheimischen, bestimmt wird, dann läge ein Wandel der ganzen Prozeßstruktur
vor.
Es lassen sich aus diesen Möglichkeiten an Änderungen auf den drei Ebenen
der Output-, Parameter- und Prozeßstruktur vier typische Prozeßarten unter-
scheiden: die einfache und die erweiterte Reproduktion, die Transition und die
Transformation des Systems.
Bei der Stabilität aller drei Ebenen liegt die einfache Reproduktion vor: Ein
Output erzeugt immer wieder den gleichen Output – über einen in seinen
Funktionen und Parametern unveränderten inneren Prozeß. Das war etwa bei
dem Modell der Reproduktion der sozialen Ungleichheit von Boudon der Fall,
das wir oben in Abschnitt 7.1 besprochen haben. Verändert sich die Output-
struktur, ohne daß sich die Parameter- und die Prozeßstrukturen wandeln, gibt
es den Fall der erweiterten Reproduktion: Das System bleibt in seinen „inne-
ren“ Beziehungen konstant, ändert sich aber auf der Oberfläche des sichtbaren
Outputs. Die Veränderung der Gruppengröße der Migranten im RRC-Modell
oben aufgrund einer Kettenmigration wäre dafür ein Beispiel. Die Transition
ist dann ein Wandel sowohl der Outputstruktur wie auch der Parameter der
Funktionen. Nur die Struktur der Funktionen des Prozesses selbst bleibt dabei
erhalten.
Der sog. demographische Übergang wäre ein besonders typisches Beispiel dafür: Die Größe einer
Bevölkerung ist stets das „additive“ Resultat von Geburten und Sterbefällen. Fertilität und Morta-
lität sind die beiden grundlegenden Prozesse dabei, und die Geburtenneigung wie die Mortalitäts-
rate die dabei entscheidenden Parameter. Noch bis zur frühen Neuzeit war die Bevölkerung relativ
stabil, weil zwar die Fertilität recht hoch war, aber auch die Mortalität, besonders die der kleinen
Kinder. Sowohl die Mortalität wie die Fertilität veränderten sich nun mit der allmählichen Zu-
nahme des wirtschaftlichen Wohlstandes, und damit die wichtigsten Parameter der demographi-
schen Reproduktion über Geburten und Sterbefälle. Als Folge veränderte sich auch der Output
deutlich – von einem „reproduktiven“ Gleichgewicht zahlreicher Geburten und Todesfälle über
ein massives Ansteigen der Bevölkerung zu einem neuen reproduktiven Gleichgewicht mit gerin-
344 Die Konstruktion der Gesellschaft
gen Geburtenzahlen und einer deutlich gesunkenen Mortalität (von Kindern) und einer wieder
konstanten (bzw. sogar leicht schrumpfenden) Bevölkerung (vgl. dazu bereits Abschnitt 18.3 in
„Soziologie. Allgemeine Grundlagen“).
Die Veränderung aller drei Ebenen bedeutet schließlich die komplette Trans-
formation des Systems in ein ganz anderes, einschließlich der funktionalen
Beziehungen und deren Parameter, die den Prozeß tragen. Der säkulare Wan-
del der menschlichen Gesellschaft von den einfachen, segmentär differenzier-
ten Stammesgesellschaften der Vorzeit über die geschichteten Feudal- und
Staatsgesellschaften der Antike und des Mittelalters zu den modernen, funkti-
onal differenzierten Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften der Gegen-
wart sind ein wichtiges Beispiel für derartige komplette „Transformationen“
von Gesellschaften – auch in den grundlegenden inneren Prozessen ihres
„Funktionierens“ (siehe dazu noch Abschnitt 9.2 unten in diesem Band). In
Abbildung 7.5 ist diese Systematik zusammengefaßt.
Output - + + +
Parameter - - + +
Prozeß - - - +
Abb. 7.5: Typen von Prozessen des sozialen Wandels (nach Hernes 1976, S. 524)
Auch hier wird wieder deutlich, daß, wie bei der einfachen Reproduktion,
auch die Stabilität der gesellschaftlichen Strukturen, als Stabilität des Outputs,
stets auf „Prozessen“ beruht, aber auch, daß es Änderungen geben kann, wenn
die inneren Strukturen des Systems unverändert bleiben, wie bei der erweiter-
ten Reproduktion.
Auch auf der Grundlage der Systematik von Hernes hat Raymond Boudon ein
„soziologisches“ Modell der Logik des sozialen Wandels entwickelt, über das
sich eine „soziologische“ Systematik von Typen sozialer Prozesse und des so-
zialen Wandels ableiten läßt. Boudon betrachtet dabei nicht so sehr die eher
formalen Aspekte der Prozeßfunktionen und -parameter als vielmehr die ge-
Sozialer Wandel 345
sellschaftlichen Ebenen, auf denen sich der soziale Wandel, auch in der ge-
genseitigen Beeinflussung der drei Ebenen, abspielt. Er unterscheidet drei sol-
cher Ebenen: die Ausgänge des Systems, das Interaktionssystem der Akteure
und die Umwelt.
Die Ausgänge des Systems entsprechen der Outputstruktur bei Hernes und umfassen damit al-
le möglichen gesellschaftlichen Ereignisse, Verteilungen und sonstigen kollektiven Phäno-
mene und Strukturen, die sich aus gewissen individuellen Effekten und deren Aggregation
ergeben. Das von Boudon so genannte Interaktionssystem besteht aus den, wie auch immer
gearteten, Beziehungen zwischen typischen Kategorien und „Gruppen“ von Akteuren
untereinander, die in diesem Rahmen handeln. Eigentlich müßte es „Interdependenzsystem“
heißen, weil „Interaktionen“ nur eine bestimmte Art von Beziehungen unter Akteuren
umfassen, wie die gedankliche Einfühlung oder symbolisch gesteuertes gemeinsames
Handeln bzw. Kommunikation, hier aber alle, auch indirekte Formen der Verbundenheit
gemeint sind, wie, insbesondere, die Abhängigkeit der eigenen Situation vom Tun der
anderen Akteure (vgl. dazu auch noch ausführlich Band 3, „Soziales Handeln“, dieser
„Speziellen Grundlagen“). Die Umwelt bezeichnet schließlich alle sonstigen, dem
Interaktionssystem „externen“, Gegebenheiten, die vorliegenden materiellen Opportunitäten,
die geltenden institutionellen Regeln, die kulturellen und symbolischen Orientierungen, die
„Gesellschaft“ insgesamt, in die das Interaktionssystem eingebettet ist, und alle übrigen, auch
historisch ganz spezifischen Konstellationen.
Die Umwelt bildet, sozusagen, den weitesten Rahmen des Geschehens. Sie hat
in dem Modell einen direkten Einfluß auf das Interaktionssystem der Akteure,
und zwar in der Form von „strukturellen Effekten“, wie sie aus der sog. Kon-
text- und Mehrebenenanalyse bekannt sind (vgl. dazu Kapitel 11 in Band 1,
„Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Die Aus-
gänge sind dann das unmittelbare – emergente und aggregierte – Ergebnis des
Handelns der im Interaktionssystem zusammengeschlossenen Kategorien von
Akteuren. Die Umwelt wirkt sich auf die Ausgänge also nur indirekt aus – ü-
ber ihren „strukturellen“ Einfluß auf das Interaktionssystem der Akteure.
Am Beispiel des Modells für die Erklärung des RRC lassen sich die drei Ebenen des Modells von
Boudon leicht illustrieren. Die Ausgänge sind die aggregierten Ergebnisse der Vorgänge, also et-
wa die jeweilige Gruppengröße der Migranten, die Verteilung von freundlichen und distanzierten
Einstellungen bei den Einheimischen oder das Ausmaß der Assimilation der Migranten bzw. die
Entstehung von ethnischen Gemeinden. Das Interaktionssystem wird von drei großen Kategorien
von Akteuren gebildet: Einheimische, Migranten und Verbliebene. Ihre „Interaktion“ besteht aus
den im Modell skizzierten Beziehungen zwischen den Parametern der EU-Gewichte für die ver-
schiedenen Alternativen und dem jeweiligen Output des Prozesses, wie beispielsweise die Ver-
stärkung der sozialen Nutzenerwartung für eine Migration bei den Verbliebenen, wenn es schon
Pionierwanderer gibt. Die Umwelt schließlich wird durch das gesamte setting gebildet, in dem der
Prozeß abläuft: das Lohngefälle zwischen den Regionen, die bestehenden institutionellen Rege-
lungen, insbesondere die für Einreise, den Aufenthalt oder ggf. für die Einbürgerung, oder auch
gewisse historische Traditionen der Migration, wie etwa bei den Italienern, die vorwiegend aus
dem armen Süden ihres Landes kommen, die Freizügigkeit des Wohnortes als EU-Mitglieder ge-
nießen und sich seit alters her vorzugsweise im Südwesten Deutschlands niederlassen, wo der
346 Die Konstruktion der Gesellschaft
Wein wächst, es etwas zu verdienen gibt und der Hauptbahnhof mit dem Zug nach Palermo nicht
so weit ist.
Neben den beiden „linearen“ Beziehungen von der Umwelt auf das Interde-
pendenzsystem einerseits und vom Interaktionssystem auf die Ausgänge ande-
rerseits sieht Boudon drei Mechanismen der Rückkopplung vor. Erstens die
Rückwirkung von den Ausgängen auf das Interaktionssystem, zweitens die
Rückwirkung von den Ausgängen auf die Umwelt und drittens die Rückwir-
kung vom Interaktionssystem auf die Umwelt.
Auch diese drei feedback-Beziehungen lassen sich mit dem Beispiel des RRC-Modells gut ver-
deutlichen. Die Rückwirkungen der Ausgänge auf das Interaktionssystem sind unmittelbar er-
sichtlich: Die Veränderung der Gruppengröße verändert die Gewichte für die Handlungsalternati-
ven aller Beteiligten im Interaktionssystem, die darauf wieder handeln ... und so weiter. Darin
liegt gerade der Kern dieses Modells und seiner inneren Dynamik. Das Modell des RRC kommt,
so wie es, bewußt vereinfachend, formuliert war, ohne Rückwirkungseffekte auf die Umwelt aus.
Leicht lassen sich aber Vorgänge einfügen, die solche Rückwirkungen betreffen. Beispielsweise
wäre der sog. Anwerbestopp von 1973 als eine Rückwirkung von den Ausgängen des Migrati-
onsgeschehens auf den politischen Kontext und damit als ein feedback zurück zur Umwelt des In-
teraktionssystems zu verstehen: Die Zunahme der Gruppengröße der Migranten veranlaßte die
politische Entscheidung, die weitere Steigerung der Migration zu verhindern. Insofern dabei Teile
der Mitglieder des Interaktionssystems auf die politische „Umwelt“ Einfluß genommen haben,
wäre das ein Vorgang der Rückwirkung vom Interaktionssystem auf die Umwelt, beispielsweise
als „schließende“ Reaktion der Einheimischen auf die zunehmende Konkurrenz oder die mit der
Familienzusammenführung neu entstandenen sozialen Probleme in den Wohnvierteln und Schu-
len, die es zuvor, bei der reinen „Gastarbeiter“-Migration der Pionierwanderer nicht gegeben hat.
In Abbildung 7.6 sind die drei Ebenen, die beiden direkten Beziehungen und
die drei feedback-Schleifen zusammenfassend skizziert.
Exogene Einflüsse sieht Boudon nicht weiter vor. Sie könnten, ähnlich wie
bei Hernes, auf das Interaktionssystem und auf die Umwelt einwirken und ü-
ber die Beziehungen a bis d die Ausgänge beeinflussen. Insofern ist in dem
Modell von Boudon die „Umwelt“ ein Teil des ganzen „Systems“ selbst und
gehört eben nicht zu dessen „Umwelt“. Das nur noch als Erläuterung, damit
die Luhmann-Enthusiasten nicht ganz durcheinanderkommen (vgl. dazu auch
schon Kapitel 2 dieses Bandes).
Sozialer Wandel 349
Der soziale Wandel besteht oft also, wie die Beispiele und die Modelle von
Hernes und Boudon zeigen, nicht einfach nur aus aneinander anschließenden
Sequenzen, sondern oft aus Abläufen, die, obwohl stets nur vom Agieren der
Menschen getragen, einer unentrinnbaren „Logik“ folgen. Das ist ohne Zwei-
fel nicht immer nur eine „lineare“ Logik, bei der einfach ein Zustand auf den
anderen folgt, sondern häufig auch eine, bei der die zuvor „abhängige“ Vari-
able wieder zur „unabhängigen“ für den nächsten Schritt wird. Aus solchen
„nicht-linearen“ Rückkopplungen ergeben sich oft ganz eigenartige und inte-
ressante Muster von Abläufen, wie etwa die sog. Selbstregulation von Syste-
men, zyklische Schwankungen, „deterministisches Chaos“ und sogar „Katast-
rophen“, der plötzliche Wechsel des Systemzustandes also.
Kaum etwas hat gerade jene Soziologen, die nicht viel von anderen analytisch und erklärend vor-
gehenden Wissenschaften wissen oder auch wissen wollen, wie die Demographie, die Ökonomie
oder auch die Physik, die sich gerade mit derartigen „nicht-linearen“ Beziehungen immer schon
befassen, mehr zu großartigen Wortschöpfungen und geheimnisvollen Begrifflichkeiten gebracht,
als diese Vorgänge der nichtlinearen Rückbezüglichkeiten. „Selbstreferentialität“ und „Autokata-
lyse“, „Chaostheorie“, „Katastrophentheorie“ und Systeme nicht-linearer Gleichungen müssen es
dann gerade bei den Soziologen sein, die von Mathematik nicht die geringste Ahnung haben und
nicht müde werden, an anderer Stelle, etwa wenn es um die Modelle der soziologischen Erklärung
oder um die Statistik und die empirische Sozialforschung geht, dagegen zu polemisieren und sie
angesichts der flexiblen Wortschöpfungen der „Systemtheorie“ für gänzlich unzureichend zu hal-
ten. Die soziologische Systemtheorie um Niklas Luhmann lebt geradezu davon, daß sie zwar rich-
tigerweise derartige Nichtlinearitäten bemerkt und berücksichtigt, aber ansonsten nicht die Spur
einer Ahnung davon hat, was sie damit anfangen soll. Und dann ist es wie immer, wenn man über
die nötigen theoretischen Mittel nicht verfügt: Man erfindet neue beeindruckende Worte – Eigen-
dynamik, Figuration, Konstitution, Selbstorganisation, Reflexivität, Autopoiesis, zum Beispiel.
Und weil in dieser (hegelianischen) Tradition ein Begriff schon die Sache ist, scheint dann auch
alles in Butter zu sein, und gelehrte Worte, sprachlich erzeugte Paradoxien und „Leitreferenzen“
sollen, wieder einmal, die nötigen Erklärungen ersetzen.15
Anhand der in Abschnitt 7.3 dargestellten Modelle und Typen der Logik des
sozialen Wandels lassen sich die wichtigsten Arten sozialer Prozesse und
innerer Mechanismen von Systemen (formal und abstrakt) leicht rekonstruie-
ren. Insbesondere zwei grundlegende Vorgänge sind bei Vorgängen des sozia-
len Wandels zu beachten: die (funktionale) Reproduktion sozialer Systeme
und ihre Evolution. Sie beruhen auf speziellen Konstellationen von Mecha-
nismen des inneren Prozesses der jeweiligen Systeme. Und es sind allesamt,
15
Vgl. dazu besonders lautstark und wolkig seit längerem: Helmut Willke, Systemtheorie.
Eine Einführung in die Grundprobleme der Theorie sozialer Systeme, 4. Aufl., Stuttgart
und Jena 1993. Vgl. als jüngstes Beispiel auch, noch einmal, Niklas Luhmann, Die Ge-
sellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1997, Kapitel 3: Evolution, S. 413ff.
350 Die Konstruktion der Gesellschaft
wie wir noch sehen werden, Spezialfälle der Logik der soziologischen Erklä-
rung.
Änderungen im Output bzw. in den Ausgängen eines Prozesses sind auf sehr
verschiedene Weise denkbar. Davon sind drei spezielle Muster besonders
wichtig: Kumulation, Dämpfung und Oszillation.
Bei Kumulationen verstärken sich einmal begonnene Änderungen des
Outputs, bei Dämpfungen werden sie kleiner. Oszillationen sind demgegen-
über eine Art von „zyklischem“ Gleichgewicht: Der „konstante“ Output be-
zieht sich auf ein ganzes Muster von Ergebnissen, die über mehrere Perioden
hinweg beobachtet werden. Sie können damit als eine spezielle Art der einfa-
chen Reproduktion als Folge einer bestimmten Kombination von Kumulation
und Dämpfung angesehen werden, wie beim sog. Schweinezyklus, bei dem es
in zyklischen Abständen zu Über- und Unterproduktionen von Schweinen
und einem entsprechenden Preisverfall bzw. Preisanstieg für die Koteletts
kommt.
Boudon hat mit seinem Typ der „Kumulation“, die Rückwirkung also von den Ausgängen auf das
Interaktionssystem, offenkundig etwas anderes gemeint. Diese Rückwirkung könnte sicher kumu-
lativ sein, aber natürlich auch dämpfend oder in der Form von Oszillationen vorkommen. Boudon
selbst bemerkt das auch und fügt den Vorgang der Oszillation als „Teilkategorie innerhalb der
kumulativen Prozesse“ (Boudon 1980, S. 149) ein.
Oft gibt es Mischungen dieser Vorgänge. Unter Umständen findet etwa ein
System bei einer Mischung von Kumulation und der Dämpfung auch wieder
zu einem neuen Gleichgewicht der einfachen Reproduktion zurück – so wie
das auch bei dem System der Kettenmigration der Fall ist, das sich erst
kumulativ verstärkt und dann wieder abebbt, weil es mit dem Voranschreiten
des Prozesses immer weniger „Verbliebene“ gibt, die noch erfaßt werden
könnten. Und es gibt auch Mixturen aller drei Formen, etwa Oszillationen,
die auf einer Kombination von Kumulation und Dämpfung beruhen. Das ist
beispielsweise bei den sog. Räuber-Beute-Modellen der Fall, in denen, etwa,
eine Population von Hasen rasch wächst, damit Nahrung für eine zunächst
kleine Population von Füchsen liefert, worauf die Population der Hasen „auf-
gezehrt“ wird, was dann den Füchsen wieder zu schaffen macht, die nichts
mehr zu fressen haben und an Hunger sterben, worauf sich die Hasen wieder
vermehren können – und so weiter in einer stetigen Oszillation von Schrump-
fung und Wachstum der beiden Populationen (vgl. dazu insgesamt und zu ein-
Sozialer Wandel 351
Die sozialen Prozesse, denen ein System unterliegt, können rein endogen an-
gelegt sein und einer allein durch die innere „Konstruktion“ des Systems fol-
genden Logik unterliegen. Es ist ein Spezialfall der „Situationslogik“. So war
das Modell von Boudon angelegt. Es kann aber auch – beständige oder punk-
tuelle – exogene Einflüsse auf die jeweiligen Prozeßstrukturen und Ebenen
geben. Das hatte Hernes mit seinen Einflüssen von außen auf die Parameter-
und die Prozeßstruktur in seinem Modell vorgesehen, aber dann nicht weiter
beachtet. Besonders wichtig sind dann endogene oder exogene Vorgänge, die
ein System der (einfachen) Reproduktion aus einem „Gleichgewicht“ seiner
(einfachen) Reproduktion bringen und dafür sorgen, daß aus der Wiederho-
lung des immer Gleichen ein Prozeß der Änderung wird – in welche Richtung
auch immer.
Bei endogenen Abweichungen gerät das System aufgrund seiner besonde-
ren inneren Entwicklungsdynamik und seiner speziellen „Pfadabhängigkeit“
(siehe dazu auch noch unten) durch den angelegten Prozeß von selbst aus dem
Gleichgewicht, wie etwa bei der als unvermeidlich gedachten Zuspitzung der
352 Die Konstruktion der Gesellschaft
Funktionale Reproduktion
Gesellschaften und die zahllosen sozialen Gebilde, sind, wie alle sozialen Sys-
teme, Prozesse, und zwar Prozesse der wechselseitigen Konstitution der Be-
dingungen des Handelns und des Handelns von Akteuren, einschließlich der
symbolisch gesteuerten Orientierungen und Kommunikationen. Das wissen
wir jetzt. Zur Genüge. Hoffentlich. Im Regelfall bilden die Gesellschaften und
Sozialer Wandel 353
sozialen Gebilde dabei aber den Spezialfall von Prozessen, der oben als Re-
produktion, genauer: als einfache Reproduktion, bezeichnet wurde: Mit jeder
Sequenz wiederholen sich die kollektiven Ereignisse, die die betreffende
Struktur bzw. das betreffende System „definieren“ und konstituieren. Weil
sich bei diesem fortwährenden Prozeß auf der sichtbaren makrosozialen Ober-
fläche in der Tat nichts tut, kann man auch davon sprechen, daß sich das Sys-
tem in einem Gleichgewicht befindet, unter Umständen freilich auch einem
Gleichgewicht, in dem es allen schlechter geht als es eigentlich möglich wäre.
Wenn sich, wie hier zunächst angenommen, mit jeder Sequenz in der Tat ge-
nau die gleichen Eigenschaften wieder reproduzieren, sei von repetitiver Re-
produktion gesprochen.
Die bloß repetitive einfache Reproduktion aber ist ein empirisch kaum vor-
findbarer Spezialfall der Reproduktion sozialer Systeme, erst recht nicht der
Reproduktion von „dynamischen“ Gesellschaften, zu denen die modernen Ge-
sellschaften ohne Zweifel gehören. Wichtiger und empirisch häufiger ist für
das „Prozessieren“ sozialer Systeme ein anderer Spezialfall: die hier jetzt so
genannte funktionale Reproduktion. Dabei wird nicht immer alles genau wie-
der reproduziert. Es kommen vielmehr durchaus Abweichungen vom Gleich-
gewicht vor. Aber bei irgendwelchen Abweichungen vom „normalen“ Gleich-
gewichtszustand findet das „System“ über gewisse Mechanismen und
Zwischenstadien immer wieder zu seinem alten Zustand der gleichgewichti-
gen Reproduktion und der Stabilität zurück. Viele soziale Systeme „funktio-
nieren“ nur so: Märkte, Freundschaften und Organisationen beispielsweise. Es
ist eine Art eingebauter „sozialer Kontrolle“, die dafür sorgt, daß es zwar Ab-
weichungen geben kann, daß aber bald auch wieder – aufgrund der internen
Struktur des Systems selbst – das alte Gleichgewicht erreicht wird. „Sozialer
Wandel“ im Sinne einer grundlegenden und nicht-reversiblen Änderung der
Strukturen findet also nicht statt, wohl aber Abweichungen und Übergänge
immer wieder zurück zum alten Gleichgewicht.
Die repetitive wie die funktionale Reproduktion sind Spezialfälle der endogenen Dynamik ei-
nes Systems, wobei insbesondere bei der funktionalen „Selbstregulation“ eines Systems nach
einer Störung Vorgänge des negativen feedback wichtig werden: In der nächsten Sequenz
werden aufgrund der inneren Mechanismen Abweichungen erzeugt, die wieder kleiner sind
als die vorhergehenden (vgl. dazu auch noch insgesamt die diversen Marktmodelle in Band 4,
„Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Bei einer „funktionie-
renden“ funktionalen Reproduktion ändert das System daher zwar zunächst seinen, wie auch
immer ausgelenkten, Zustand, findet dann aber, meist über einige Zwischenstadien, wieder
zum Gleichgewicht zurück.
Wichtig ist dabei insbesondere, daß die Gegenbewegung durch die Auslen-
kung selbst ausgelöst wird. Man spricht daher auch zu Recht von einer Selbst-
regulation bzw. von der Homöostase des Systems.
354 Die Konstruktion der Gesellschaft
Für biologische Systeme wäre etwa die Aktivierung des Immunsystems und die dadurch mögliche
Erholung nach einer Infektion ein Beispiel dafür, oder der Entschluß des Bewußtseins eines Ak-
teurs, mit dem Rauchen aufzuhören, nachdem sein Körper gemerkt hat, daß ihn die (Pfad-) Ab-
hängigkeit der Nikotinsucht endogen und kumulativ immer stärker runterzieht und eine gewisse
Transformation, die in den Lungenkrebs nämlich, droht, aus der es kein frohes funktionales Zu-
rück mehr gibt. Für Gesellschaften und andere soziale Gebilde, wie Regierungskoalitionen, Fir-
men, Ehen oder Freundschaften, wäre die erfolgreiche Bewältigung von „Krisen“ durch bestimm-
te, darauf eingeleitete oder eintretende Gegenmaßnahmen ein solcher Fall der funktionalen Re-
produktion, so wie etwa der Ständestaat des Bismarck-Reiches sich über die Einführung der Sozi-
algesetzgebung als Reaktion auf die „soziale Frage“ konsolidierte, oder wie der „Kulturschock“
der Anwesenheit fremdethnischer Gruppen meist allmählich über die Assimilation bzw. die Ab-
sorption der Gruppen verarbeitet wird. Im Fall der exogen eingeführten Bildungsexpansion sorgte
die Knappheit der Positionen und die Verschärfung der Konkurrenz auf dem Markt der Positio-
nen für die „Neutralisierung“ der an sich durchaus systemverändernden Effekte der Bildungsre-
form.
Bei der repetitiven Reproduktion gibt es also keine externen Einflüsse, aber
auch keine erkennbare endogene Selbstregulation: Alles wiederholt sich, wie
bei der Reproduktion einer stationären Bevölkerung, in der immer genauso
viele Menschen sterben wie geboren werden. Systeme mit der Fähigkeit zur
adaptiven funktionalen Reproduktion sehen oft auf der Oberfläche genauso
aus. Daß sie sich „funktional“ reproduzieren, merkt man erst bei einer Störung
– bei einer latent endogen angelegten, jetzt erst bemerkbar gewordenen oder
aber bei einer exogenen Störung. In Abbildung 7.8 sind die beiden Fälle der
repetitiven und der funktionalen Reproduktion in jeweils denkbaren Sequen-
zen ihres Prozessierens schematisiert.
Wir betrachten der Einfachheit halber das Geschehen nur auf seiner „emer-
genten“ Oberfläche und beachten die Makro-Mikro-Makro-„Konstitution“ der
Prozesse durch das situationsorientierte Agieren der Akteure und die nötigen
Transformationen hier einmal nicht weiter. Weil sich bei der repetitiven Repro-
duktion der einmal eingespielte Zustand S1 immer wieder neu einstellt, könnte
man die gleichgewichtige Reproduktion auch über eine „selbstreferentielle“ oder
„reflexive“ Rückkopplungsschleife symbolisieren, wie das in Abbildung 7.3a am
Ende der Sequenz auch geschehen ist. Störungen treten hier, so die Annahme,
nicht weiter auf, und alles bleibt wie es ist – in einem beständigen Prozeß, bei
dem eins am andern anschließt, und zwar immer und immer wieder. Es ist die
ewige und ungestörte Wiederkehr des Gleichen, etwa in einem Eifeldorf oder in
einer langweilig-kommoden Ehe.
Sozialer Wandel 355
Bei der funktionalen Reproduktion werden das zunächst auch bloß repetitive Ge-
schehen und die stetige Reproduktion von S1 entweder durch die innere Entwick-
lungsdynamik des Systems selbst oder durch einen exogenen Einfluß von ihrer
reproduktiven Bahn abgelenkt. In Abbildung 7.3b haben wir eine exogene Stö-
rung angenommen (siehe den Pfeil von D+ als irgendeinem externen störenden
Ereignis). Dadurch entstehe – wegen der Änderung der Randbedingungen bei S1
– die Systemablenkung S2. Über die mit S3 zusammengefaßten, im Einzelfall
u.U. komplizierten und mehr oder weniger langen, Zwischenschritte findet das
System dann aber wieder „selbstregulativ“ zum alten reproduktiven Gleichge-
wicht S1 zurück – und verbleibt dort, so wollen wir annehmen, wieder für längere
Zeit in einem Gleichgewicht der repetitiven Reproduktion – bis zur nächsten
Störung von außen.
aufweisen – denn sonst gäbe es sie ja nicht (vgl. dazu auch noch einmal Kapitel
22 und 23 der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“). Dieser Gedanke war nicht
grundsätzlich falsch, denn Gesellschaften (und andere „bestehende“ soziale Ge-
bilde) bilden in der Tat ja stets (auch) Gleichgewichte der funktionalen Repro-
duktion. Auf diese Weise „konstituieren“ sie sich ja. Nur: Es gibt keine den sozi-
alen Systemen irgendwie „innewohnende“ Tendenz zu einem solchen Gleichge-
wicht und für eine gelingende funktionale Reproduktion. Es gibt nur – mehr oder
weniger geschickte, wenngleich meist ungeplante und auch unbekannte – Arran-
gements und kausale Beziehungen innerhalb des Systems, die dafür sorgen, daß
es immer wieder zur Reproduktion und zur Bewältigung von Krisen kommt. Und
daher ist der soziologische Funktionalismus mit seinem Postulat einer vorgege-
benen Neigung der sozialen Systeme zum Gleichgewicht auch zu Recht vergan-
gen. Aber viele haben darüber das Kind mit dem Bade ausgeschüttet und verges-
sen, daß es, auch ohne eine den Systemen innewohnende apriorische Tendenz
zum Gleichgewicht, trotzdem so etwas geben kann wie eine rein kausal und
„blind“ ablaufende funktionale Reproduktion. Ohne sie gäbe es weder die Men-
schen als psycho-biologische Systeme, noch die Gesellschaften und ihre vielen
Untersysteme und sozialen Gebilde. Und mit dem Modell der soziologischen Er-
klärung läßt sich auch ohne jede apriorische Annahme zeigen, wann und warum
es zu einer solchen funktionalen Reproduktion und zur (prozessualen) Stabilität
der gesellschaftlichen Strukturen kommt.
Evolution
Ein ganz besonderer Vorgang des sozialen Wandels ist der der gesellschaftlichen
Evolution. Evolutionen sind, ganz allgemein gesagt, Prozesse, bei denen sich ein
gleichgewichtig reproduzierendes System zufällig in seinem Zustand ändert, ein
neues Gleichgewicht in einer bestimmten Umwelt findet und dabei Systeme, die
sich nicht geändert haben, allmählich verdrängt und sich in der jeweiligen Um-
gebung stabilisiert. Es ist eine spezielle Art der Transformation eines Systems in
einen neuen Typ, der die anderen verdrängt. Der Grund für die Verdrängung ist
die bessere „differentielle Reproduktion“ des „neuen“ Systems: Es ist in der je-
weiligen Umwelt erfolgreicher in der Herstellung von „Kopien“ seiner grundle-
genden Bestandteile und der Exemplare, aus denen seine „Population“ besteht.
Der Musterfall dafür ist natürlich die sog. biogenetische Evolution (vgl. dazu die Einzelheiten in
Teil C, „Biologische und anthropologische Grundlagen“, der „Soziologie. Allgemeine Grundla-
gen“). Der Bezugspunkt der biogenetischen Evolution ist dabei ein bestimmter Gen-Pool. Er ist
als Genotyp in den individuellen Exemplaren der Population einer bestimmten Art oder Spezies
verankert. Der Genotyp sorgt für das empirische Auftreten der konkreten Organismen, der Popu-
lation als Phänotypen in einer bestimmten Umgebung anderer Spezies und natürlicher Ressour-
Sozialer Wandel 357
cen. Genotypen sind Muster von Erbinformationen, die im Akt der Fortpflanzung der Art norma-
lerweise „reproduktiv“ weitergegeben werden und so zur Reproduktion der betreffenden Spezies
und zur Erzeugung des jeweiligen Gen-Pools führt. Die Weitergabe erfolgt durch die Erzeugung
von Kopien und die Rekombination der Gene der dabei beteiligten Organismen. Dabei treten
manchmal zufällige Abweichungen, die sog. Mutationen auf. Die meisten dieser Mutationen füh-
ren zu Phänotypen von Organismen, die in der betreffenden Umwelt nicht überlebens- oder rela-
tiv weniger reproduktionsfähig sind. Bei einigen wenigen aber haben die Änderungen gewisse re-
produktive Vorteile zur Folge – in der betreffenden Umgebung! Wegen dieser Vorteile gegenüber
der „alten“ Spezies verdrängt der neue Genotyp allmählich den alten. Das ist der Mechanismus
der sog. differentiellen Reproduktion. Er sorgt, nicht, wie es oft heißt, über einen Kampf zwischen
den Arten, bei dem eine obsiegt, sondern über die erfolgreichere Reproduktion der eigenen Art
für die allmähliche Selektion eines neuen Genotyps und damit auch einer neuen Spezies mit einem
neuen Phänotyp. Die Durchsetzung des neuen Geno- bzw. Phänotyps und die endgültige Stabili-
sierung eines neuen reproduktiven Gleichgewichts wird auch als Retention bezeichnet.
Mutation, Selektion über differentielle Reproduktion und die Retention, als die
„strukturelle“ Stabilisierung des neuen Typus, sind also die drei grundlegenden
Prozesse der Evolution. Solche evolutionären Vorgänge lassen sich auch für so-
ziale Systeme beobachten, und sicher auch für Gesellschaften:16 Es gibt gelegent-
lich „Mutationen“ in den gesellschaftlichen Strukturen, wie etwa mit der Erfin-
dung des Telefons oder der Entdeckung Amerikas, und daraufhin erfolgen diffe-
rentielle Reproduktionen und die Selektion und Stabilisierung „neuer“ Arten so-
zialer Systeme, die dann, unter Umständen, die alten verdrängen. Das wird auch
als soziokulturelle Evolution bezeichnet.17
In Analogie zur funktionalen Reproduktion kann man dabei auch danach unterscheiden, ob sich
die „Mutationen“ aufgrund der endogenen Dynamik des Systems oder aufgrund exogener Ereig-
nisse einstellen. Meist ist das nicht leicht auseinander zu halten. War die Entdeckung Amerikas
ein exogener Zufall, abhängig vom individuellen und einmaligen Wagemut eines Kolumbus, oder
war das eine letztlich zwangsläufige Konsequenz allgemeiner Entwicklungen, wie die Zunahme
des Handels und die Entwicklung von Wissenschaft und Technik am Ende des sog. Mittelalters?
Und was war mit Hitler? Mit Gorbatschow? Mit Kohl? Es ist die Frage nach dem Einfluß gewis-
ser „Persönlichkeiten“ auf den Lauf der Geschichte (vgl. dazu auch noch Abschnitt 7.5 unten):
Erzeugen die evolutionären Prozesse die Persönlichkeiten gleich mit, oder haben die Persönlich-
keiten einen eigenen Einfluß, etwa auch derart, daß sie endogen angelegte Entwicklungen stoppen
oder gar ändern können? Bei Hitler ist man sich inzwischen einig: Einige Dinge wären auch ohne
ihn geschehen, wie die Diskriminierung der Juden und wahrscheinlich sogar der Zweite Welt-
krieg, andere Dinge ohne ihn sicher nicht, wie die Massenvernichtung der Juden.
16
Vgl. dazu insbesondere Donald T. Campbell, Variation and Selective Retention in Socio-
Cultural Evolution, in: General Systems, 14, 1969, S. 69-85.
17
Vgl. zur Kritik an der herkömmlichen soziologischen Soziologie des sozialen Wandels
und zum aktuellen Stand der analytisch orientierten soziologischen Evolutionstheorie ins-
besondere Michael Schmid, Soziologische Evolutionstheorie, in: Michael Schmid, Sozia-
les Handeln und strukturelle Selektion, Opladen und Wiesbaden 1998, S. 264ff. Dort wird
eine Konzeption vorgestellt, die in ihren Grundzügen vollauf dem Modell der soziologi-
schen Erklärung entspricht.
358 Die Konstruktion der Gesellschaft
Evolution heißt dabei, genau wie bei der funktionalen Reproduktion, in keiner
Weise, daß sich die „Entwicklung“ auf ein bestimmtes vorgegebenes Ziel, auf
eine gewisse „Bestimmung“ also, hinbewege, daß die neu entstehenden Systeme
irgendwie „besser“ oder „überlegen“ wären oder daß es nicht doch ganz plötzlich
auch zu einem Untergang kommen könnte. Keine Evolution hat ein irgendwie
„apriori“ bestehendes Ziel, auf das sie hinsteuert. Die Evolution ist blind, und
niemand kann wissen, wann alles zu Ende ist oder wieder in einen Zustand
regrediert, der schon längst überwunden schien. Auch bedeutet sie nicht, daß die
„alten“ Systeme nicht bestehen bleiben könnten. Stammes- und Kastengesell-
schaften gibt es auch heute noch. Alles hängt davon ab, ob die Systeme zu ihrer
jeweiligen Umwelt „passen“ oder nicht. Und was heute eine überlegene Fitness
bedeutet, mag morgen das entscheidende Handicap für die erfolgreichere diffe-
rentielle Reproduktion sein – etwa die Verwertung ausschließlich fossiler Brenn-
stoffe und der Verzicht auf die Pflege einer Kultur der Zurückhaltung. Empirisch
ist – bisher! – allerdings sowohl für die biogenetische wie für die soziokulturelle
oder soziogenetische Evolution von Gesellschaften doch eine Art von „Rich-
tung“ festzustellen: Die „neuen“ Systeme sind intern immer differenzierter, im-
mer aktiver und gegenüber ihrer Umwelt immer unabhängiger geworden, und sie
verbreiten sich auch immer mehr und verdrängen schließlich doch die „alten“.
Sie verbrauchen aber auch immer mehr an Energie. Die derzeit zu beobachtende
„Globalisierung“ der Gesellschaften ist nur noch ein weiterer Schritt auf diesem
Wege (vgl. dazu auch noch Abschnitt 9.2 in diesem Band). Der letzte vielleicht?
Bei der Evolution „transformieren“ sich also die Systeme allmählich. Sie han-
geln sich, sozusagen, von einem Gleichgewicht der funktionalen Reproduktion in
einer bestimmten Umwelt zum nächsten und stabilisieren sich dort eine Zeit lang
– bis zur nächsten Mutation, womöglich bei einem anderen System in der jewei-
ligen Umgebung. In Abbildung 7.9 ist dieser Vorgang skizziert, wobei wir im
zweiten Schritt wieder einen exogenen Anstoß D+ angenommen haben. Der Rest
läuft auf einem endogen vorgeschriebenen Weg der evolutionären „Pfadabhän-
gigkeit“ des Systems. Ganz zum Schluß mündet, so wollen wir noch annehmen,
alles doch wieder in ein Gleichgewicht der repetitiven oder der funktionalen Re-
produktion. Vielleicht steht das System dort ja auch schon kurz vor seinem Un-
tergang. Wir wissen es aber noch nicht und müßten die ganze „Geschichte“ erst
einmal abwarten.
Sozialer Wandel 359
Ko-Evolution
rung, der Urbanisierung, der Verbreitung von Massenmedien und der psychi-
schen Disposition der Empathie bei den Menschen modernisierten, hat das als
allgemeine Richtschnur für seine Analyse so beschrieben:
„To wit: social change operates through persons and places. Either individuals and their environ-
ments modernize together or modernization leads elsewhere than intended. If new institutions of
political, economic, cultural behavior are to change in compatible ways, then inner coherence
must be provided by the personality matrix which governs individual behavior. We conceive mo-
dernity as a participant style of life; we identify its distinctive personality mechanism as empathy.
Modernizing individuals and institutions, like chicken and egg, reproduce these traits in each o-
ther.“18
18
Daniel Lerner, The Passing of Traditional Society. Modernizing the Middle East, Glen-
coe, Ill., 1958, S. 78; Hervorhebungen so nicht im Original.
Sozialer Wandel 361
Revolution
Ein Spezialfall der Evolution ist die Revolution. Das sind plötzliche, abrupte,
grundlegende und wenigstens teilweise geplante Änderungen von Systemzustän-
den der Gesellschaft, insbesondere verbunden mit Änderungen ihrer „Verfas-
sung“, der politischen, der wirtschaftlichen, der rechtlichen wie auch der
kulturellen Verfassung, unter Umständen. Diese Änderungen können auch
wieder exogen erzeugt sein, wie bei der Eroberung eines Landes durch eine
Kolonialmacht oder bei einem Militärputsch. Oder aber sie können als explosiver
Schlußpunkt auf eine endogene Entwicklungsdynamik folgen, wie bei der
kommunistischen Revolution als vorletzter Stufe in dem endogen angelegten hi-
storischen Prozeß der Überwindung der Klassengegensätze, wie sich das Karl
Marx gedacht hatte, oder wie bei den revolutionären Bewegungen in Deutsch-
land am Ende des Ersten Weltkriegs, die sicher auch mit der Not zu tun hatten,
die der Krieg erzeugt hatte, der seinerseits aus einer besonders verwickelten en-
dogenen Dynamik entstanden war, in die sich die Mächte Europas zu Beginn des
20. Jahrhunderts verstrickt hatten.
Sowohl die (funktionale) Reproduktion wie die Evolution folgen, wenn sie
nicht weiter „exogen“ beeinflußt werden, gewissen, durch den inneren Aufbau
der Systeme selbst angelegten und daher endogenen kausalen Sequenzen. Die-
se kausale, endogen angelegte Folgerichtigkeit der Prozesse wird auch als die
Eigendynamik eines Systems bezeichnet. Man spricht manchmal auch von der
Pfadabhängigkeit der Abläufe, die, wenn sie einmal in eine bestimmte Rich-
tung gelenkt sind, von alleine weiterlaufen und sich, wie man auch sagt, dann
selbst tragen (siehe dazu auch schon oben über den endogenen Wandel)19. Wir
werden in den folgenden Bänden zahlreiche Beispiele dafür kennenlernen,
wie etwa die unaufhaltsame Mobilisierung von sozialen Bewegungen, die oft
unvermeidliche Entstehung von räumlichen Segregationen oder eine unter be-
stimmten Umständen durch nichts zu vermeidende gegenseitige Schädigung
von Akteuren, obwohl sie wissen, daß es für sie alle besser wäre, es nicht zu
tun.
19
Vgl. auch die Übersicht bei Renate Mayntz und Birgitta Nedelmann, Eigendynamische
soziale Prozesse. Anmerkungen zu einem analytischen Paradigma, in: Kölner Zeitschrift
für Soziologie und Sozialpsychologie, 39, 1987, S. 648-668.
362 Die Konstruktion der Gesellschaft
20
Vgl. z.B. die Zusammenfassung der Grundideen bei Stein Rokkan, Eine Familie von Mo-
dellen für die vergleichende Geschichte Europas, in: Zeitschrift für Soziologie, 9, 1980, S.
118-128; sowie neuerdings: Peter Flora (Hrsg.), State Formation, Nation-Building, and
Mass Politics in Europe. The Theory of Stein Rokkan, Oxford 1999.
Sozialer Wandel 363
Wir wollen die „Eigendynamik“ und die besondere Logik der Pfadabhängigkeit
eines Prozesses am Beispiel eines historisch wohlbekannten Falles und mit Hilfe
der Logik des sozialen Wandels nach Boudon demonstrieren (vgl. dazu Boudon
1980, S. 140ff.; das Beispiel wurde dazu leicht modifiziert). Es geht darum, wie
es kam, daß Frankreich und Großbritannien sich gegen die zunehmende Aggres-
sivität Hitlers nach der Besetzung des Rheinlandes immer weniger zur Wehr
setzten und dann auch noch den Anschluß Österreichs, die Abtretung des Suden-
tenlandes und schließlich sogar die Besetzung der Tschechoslowakei hinnahmen,
ein Vorgang, der schließlich in den Zweiten Weltkrieg einmündete. Das Modell
beginnt mit einer vereinfachenden Skizze der strategischen Situation der beiden
Parteien, die das Interaktionssystem bilden: Großbritannien und Frankreich auf
der einen Seite und das Deutsche Reich auf der anderen. Weil die „Umwelt“ hier
einstweilen als konstant angenommen werden kann, geht es also (zunächst) nur
um die „eigendynamische“ Rückwirkung von den „Ausgängen“ wieder zum In-
teraktionssystem (siehe aber auch noch weiter unten).
Der Ausgangspunkt ist die Überlegung, wie die beiden Parteien gewisse Ergebnisse ihres
Tuns bewerten. Jede der Parteien hat zwei Alternativen: die Aggressivität A oder die Zurück-
haltung Z. Die Besetzung des Rheinlandes durch das Deutsche Reich wäre beispielsweise ei-
364 Die Konstruktion der Gesellschaft
ne aggressive Reaktion, ebenso wie die Intervention der Alliierten Großbritannien und Frank-
reich. Wenn sich beide zurückhalten (Kombination ZZ), gebe es den mit jeweils 0 bewerteten
Status quo. Bei einem Erfolg der Aggression ohne Eingreifen der Alliierten (AZ) gewinne
das Deutsche Reich eine Einheit, während Großbritannien und Frankreich einen Prestigever-
lust von -1 hinnehmen müßten. Greifen die Alliierten dagegen – sozusagen: präventiv – ein
und das Deutsche Reich verhält sich zurückhaltend (ZA), dann müssen die Alliierten wieder
Aufwendungen in Höhe von -1 tragen, und es gibt für das Deutsche Reich einen Schaden von
-2. Deutlicher zum Status quo sind die Unterschiede, wenn das Deutsche Reich angreift und
die Alliierten daraufhin intervenieren (AA): Der Schaden für das Deutsche Reich betrage
dann -20 und für Großbritannien und Frankreich -2. Das ist nicht unrealistisch: Das Deutsche
Reich hätte nach einer erneuten Besetzung des Rheinlandes alle inzwischen, etwa durch Stre-
semann ausgehandelten, Lockerungen des Versailler Vertrages wieder verloren, während
Großbritannien und Frankreich etwas mehr als bei einer „einseitigen“ Aktion hätten hinneh-
men oder aufbringen müssen, aber gleichwohl wesentlich besser davon gekommen wären als
das Deutsche Reich.
Großbritannien/Frankreich
Zurückhaltung Angriff
Zurückhaltung 0, 0 -2, -1
Deutsches
Reich
Angriff 1, -1 -20, -2
Für beide (kollektiven bzw. korporativen) Akteure wäre demnach die Kombina-
tion AA am schlimmsten, und man sollte denken, es käme nicht dazu. Das ist im
Grunde auch so: Jeder versucht schon, die beiderseitige Aggression zu vermei-
den. Gleichwohl gibt es immer die Versuchung, abzuwarten, was der jeweils an-
dere tut und ob der vielleicht doch die Nerven verliert und rechtzeitig einen
Rückzieher macht. Wenn zum Beispiel das Deutsche Reich davon ausgehen
müßte, daß die Alliierten auf jeden Fall eingreifen würden, etwa, weil sie sich
das gegenseitig vertraglich zugesichert haben, dann wäre es für das Deutsche
Reich klüger, nachzugeben. Ebenso, wie das für die Alliierten zuträfe, wenn es
Sozialer Wandel 365
unzweifelhafte Hinweise darauf gäbe, daß das Deutsche Reich unter allen Um-
ständen aggressiv sein würde, etwa weil sein „Führer“ ein verrückter tough guy
ist.
Es ist die Situation von James Dean in dem Film „Denn sie wissen nicht, was sie tun“ und
dem Autorennen auf den Abgrund zu: Wer zuerst aussteigt, hat verloren, aber wer weiter-
fährt, ist tot. Es ist ein spezieller Fall eines sog. strategischen Spieles. Es wird auch als Chi-
cken Game bezeichnet (vgl. dazu noch ausführlich Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Spe-
ziellen Grundlagen“). Die Struktur dieses Spiels legt nicht „a priori“ fest, was geschieht. Zwei
Ergebnisse sind wahrscheinlich: AZ oder ZA, kaum jedoch ZZ oder AA. Welche der beiden
wahrscheinlichen Kombinationen - AZ oder ZA - eintritt, kann ohne weiteres nicht gesagt
werden. Nur eines ist klar: Wenn der andere offenkundig nicht anders kann, als aggressiv zu
sein, dann ist es in der Tat klüger, nachzugeben.
Wir wollen die oben beschriebene Situation als S1 bezeichnen. Sie schließt – von
der strategischen Struktur des Spieles her – die Kombination AA so gut wie aus,
weil jeder letztlich doch vor dem Äußersten zurückschreckt. Damit geht es nur
noch darum, ob sich AZ oder ZA ereignet, also – ob die Alliierten oder das Deut-
sche Reich von der gemeinsamen Fahrt in den Abgrund zuerst „aussteigen“. His-
torisch hat sich, wie wir wissen, die Kombination AZ ereignet: Hitler hat das
Rheinland besetzt, und Großbritannien und Frankreich haben nicht reagiert.
Warum die Alliierten nicht eingegriffen haben, ist bis heute nicht ganz geklärt. Einer der
Gründe war wohl, daß sie aufgrund vieler erkennbarer Umstände davon ausgehen mußten,
daß Hitler bedingungslos angreifen würde, obwohl er, wie man heute weiß, durchaus die Ho-
sen voll hatte. Außerdem sind Demokratien gegenüber Diktaturen immer im Nachteil, wenn
es um eine rasche Mobilisierung zu einem Krieg geht. Und wenn sich einmal die Überzeu-
gung durchgesetzt hat, daß der andere auf jeden Fall (eher) angreifen wird, dann bleibt aus
„rationalen“ Erwägungen erst recht keine Wahl mehr: Dann ist es besser, sich zurückzuhal-
ten, um die noch größeren Kosten eines Konfliktes zu vermeiden.
Das sei die Situation S2, wie sie sich als Folge des Ergebnisses der Situation S1
eingestellt hat. Im Grunde gibt es jetzt zwar das gleiche Problem wie zuvor, daß
eigentlich jede der Parteien vor der Konstellation AA zurückschrecken müßte.
366 Die Konstruktion der Gesellschaft
Aber die Neigung der Alliierten zur Zurückhaltung und die des Deutschen Rei-
ches zum Angriff sind jetzt beide gestiegen, so daß das Ergebnis, das wir alle
kennen, nämlich der „Anschluß“ Österreichs, schon weit weniger verwundert als
das Vabanquespiel Hitlers bei der Rheinlandbesetzung. Das hatte dann auch
wieder Folgen, nämlich eine weitere Senkung der Aggressionskosten für das
Deutsche Reich und deren weitere Erhöhung für die Alliierten – die Situation S3.
Dadurch wird noch einmal unwahrscheinlicher, daß sich Hitler jetzt zufriedenge-
ben würde, wenn sich eine neue Gelegenheit böte. Und so wurde auch die Beset-
zung der Tschechoslowakei hingenommen.
Das Ganze bekam dann auch einen Namen: Appeasement-Politik, die Politik der Beschwich-
tigung und des Gewährenlassens. Sie entsprang ein wenig wohl auch aus dem schlechten
Gewissen über den Versailler Vertrag, beruhte insbesondere aber auf der Hoffnung, daß der
Hunger des Diktators bald gestillt wäre, zumal der ja auch nicht müde wurde, zu verkünden,
daß er jetzt bald keine territorialen Forderungen mehr haben würde.
Kurz: Einmal begonnen, gewinnt der Prozeß durch die sukzessive Änderung der
Auszahlungsstrukturen (als Folge des Prozesses selbst) eine Eigendynamik, die
sich aus der immer größer werdenden Schere der Anreize für die einseitige Ag-
gression des Deutschen Reiches gegenüber jedem anderen Ausgang ergibt. Das
meint das Wort von der „Pfadabhängigkeit“: Ist einmal der erste Schritt in die
falsche Richtung getan, führen alle weiteren schrittweise, aber unweigerlich ins
Verderben, weil sich nur noch diese eine Alternative bietet, solange nichts von
außen geschieht, was die Sache grundlegend ändern würde. Solche Pfadabhän-
gigkeiten gibt es natürlich auch in die andere Richtung, nämlich ins Glück, etwa
bei zunächst zögerlichen Liebespaaren, die sich dann doch „trauen“ und merken,
daß sie zueinander passen, und durch ihr daran orientiertes Tun ihr Glück immer
weiter vervollkommnen. Und so hätte die Sache auch für die Alliierten in eine
andere Richtung gehen können: Wenn sie gleich eingegriffen hätten, wäre der
Schaden für das Deutsche Reich unabsehbar gewesen, und die Kosten eines neu-
erlichen Angriffs wären für die Alliierten gesunken (etwa auf die Auszahlungen -
30,-1 für die Kombination AA). Das sei die Situation S0. Diese Konstellation hät-
te für die nächste Gelegenheit die Wahrscheinlichkeit eines aggressiven Aktes
des Deutschen Reiches deutlich gesenkt – und alles wäre noch einmal gut gegan-
gen. So wie beim Kosovo-Krieg, der wohl auch vor dem Hintergrund dieser Er-
fahrungen gegen einen ähnlich aggressiv gesonnenen Diktator geführt wurde, um
Schlimmeres zu verhindern.
Die Struktur dieses Prozesses läßt sich dann im Rahmen des Boudon-Schemas
wie in Abbildung 7.11 skizzieren (vgl. Boudon 1980, S. 144):
368 Die Konstruktion der Gesellschaft
mehr oder weniger – wieder der Status quo herausgekommen – die „Reprodukti-
on“ der Situation also. Das Eingreifen der Alliierten bei der Rheinlandbesetzung
hätte die neue, für das Deutsche Reich sehr unerfreuliche, Situation S0 erzeugt,
und dabei wäre es – vorläufig – geblieben. Erst die hingenommene Besetzung
des Rheinlandes bedeutete das Beschreiten eines Pfades, der die folgenden Er-
eignisse immer zwangsläufiger werden ließ.
Bei Boudon steht am Schluß ein Pfeil vom Ausgang AZ zu der Abkürzung
„usw.“. Dahinter hätte er auch schreiben können: Überfall auf Polen. Diesen Ü-
berfall wagte Hitler ja durchaus auf der Grundlage der geschilderten Vorge-
schichte (sowie des Paktes mit Stalin). Nicht ohne weiteres hätte er dagegen hin-
schreiben können: „Zweiter Weltkrieg“. Denn nach der Logik des Vorgangs wä-
re auch Polen von den Alliierten hingenommen worden. Aber dann geschah be-
kanntlich etwas, was auch Hitler nicht mehr erwartet hatte: Derselbe Chamber-
lain, der noch „München“ mitgemacht und Hitler seinen Friedenswillen abge-
nommen hatte, änderte jetzt seine Einstellung, seine subjektive „Definition“ der
Situation also: Er gab die Appeasement-Politik auf und schwenkte auf die (be-
dingungslose) Gegenaggression um, deren Ausführung dann freilich Churchill
vollzog. Es war, in der Sprache des Modells von Boudon, ein Wandel vom Typ
der „Transformation“: Der letzte Ausgang, die Besetzung der Tschechoslowakei,
war nicht nur ein „materieller“ Akt, sondern auch das letzte Zeichen, daß die bis
dahin unterstellte Annahme der grundsätzlichen Friedensliebe Hitlers nicht
stimme. Das änderte die Einstellung der Alliierten (in der Person Chamberlains
vertreten), die zuvor zur unveränderten „Umwelt“ des ganzen Geschehens ge-
zählt hatte. Nach welchen Gesetzmäßigkeiten das ging, kann man nur ahnen. Wir
vermuten, daß es den Gesetzen folgte, die ganz allgemein das (Re-)„Framing“
einer Situation erklären (vgl. dazu noch Band 6, „Sinn und Kultur“ dieser „Spe-
ziellen Grundlagen“): Irgendwann ändert sich, wenn sich die Anreize und die
Anzeichen mehren, daß eine andere Sicht der Dinge „angesagt“ wäre, die kom-
plette Sichtweise auf die Situation und das ganze „Programm“ des Handelns mit
ihr. Und so gab es nun ein ganz anderes „Spiel“. Hitler überfiel Polen am 1. Sep-
tember 1939, und Großbritannien und Frankreich erklärten ihm am 3. September
1939 nach einem Ultimatum den Krieg. Sie konnten gar nicht mehr anders. Und
Hitler fragte Göring ganz fassungslos: Was nun?
Die Analyse des „wirklichen“ sozialen Wandels ist nicht immer in so einfacher
Weise möglich wie in dem Beispiel vorhin (vgl. dazu auch noch Kapitel 8 unten
in diesem Band). „Wirkliche“ Gesellschaften bestehen und wandeln sich über al-
Sozialer Wandel 369
le möglichen Formen, Konzepte, Typen und Modelle von Prozessen. Es gibt ein-
fache und funktionale Reproduktion, Transition und Transformation, Kumulati-
on, Dämpfung und Oszillation, endogene Eigendynamik und Pfadabhängigkei-
ten, wie exogene Ereignisse, die alles in eine ganz andere Richtung lenken kön-
nen, Evolution und manchmal sogar auch eine Revolution. Auch schon an dem
noch recht übersichtlichen Beispiel der Bildungs-„Revolution“, der Expansion
des Bildungssystems und der Stabilität der sozialen Ungleichheit, das wir oben in
Abschnitt 7.1 besprochen haben, lassen sich etwa für die Verhältnisse in
Deutschland, alle möglichen Arten von Vorgängen sozialer Prozesse und des so-
zialen Wandels beobachten.
Das Geschehen beginne, weil man immer irgendwo anfangen muß, mit der deutlichen (repetiti-
ven) Reproduktion der Strukturen der sozialen Ungleichheit zu Beginn dieses Jahrhunderts. Das
Bildungsverhalten der sozialen Klassen ist im Kaiserreich und auch noch in der Weimarer Repu-
blik ebenso festgefügt wie die Statusvererbung, und beides reproduziert sich gegenseitig zu einem
System nahezu ständischer oder gar kastenähnlicher Verhältnisse, unterstützt nicht zuletzt über
die damals sehr lebendigen sog. sozialmoralischen Milieus, etwa das der sozialdemokratischen
Arbeiterschaft oder das der Katholiken. Viele Entwicklungen der besonderen Eigendynamik der
funktionalen Differenzierung sorgen jedoch auch schon endogen allmählich dafür, daß sich die
Verhältnisse langsam, aber stetig verändern (vgl. dazu auch schon die Abschnitte 4.3 und 4.4 in
diesem Band). Und, das muß man wohl auch sagen, die Verhältnisse und Ereignisse im Dritten
Reich und im Zweiten Weltkrieg haben ihren ganz besonderen – exogenen? endogenen? –
Einfluß auf die soziale Ungleichheit und deren Reproduktion und die weitere Eigendynamik der
funktionalen Differenzierung gehabt. Gerade aber die endogen immer weiter beschleunigte funk-
tionale Differenzierung erzeugt mit der Bildungsreform einen weiteren Schub der Öffnung des
Bildungssystems, wobei man wieder nicht sagen kann, ob der Sputnik, der mit seinem Schock al-
les ausgelöst oder mindestens beschleunigt hat, ein exogenes Ereignis war – oder die Folge einer
im kalten Krieg der Systeme damals endogen angelegten Entwicklung des Gesamtsystems der
Weltgesellschaft.
sen- und Standesgrenzen bewirkt, den die Bildungsreform dann nur noch institu-
tionell begleitet hat. Und insgesamt gesehen erkennt man schon einen durchge-
henden Trend: den Abbau der Klassengrenzen und die Modernisierung der deut-
schen Gesellschaft. Der ALLBUS enthält, darauf sollte man auch noch hinwei-
sen, nur Daten über die deutsche Bevölkerung. Wenn man die rund 8% Auslän-
der hinzufügt, ergibt sich ein anderes Bild: Es hat sich, inmitten der Mobilität der
Neuen Mitte und der (post-)modernen Individualisierung, eine Art von neo-
feudaler Unterschichtung entwickelt, bei der die vertikale soziale Ungleichheit
mit bestimmten kulturellen Lebensweisen eng kovariiert und die Lebenswelten
und Verkehrskreise sorgfältig getrennt sind. Es ist fast so wie in Indien – aber als
Folge der eher sich noch weiter verstärkenden internationalen Migration wahr-
scheinlich nur ein weiterer Schritt auf dem Wege der Universalisierung und der
Modernisierung der Weltgesellschaft insgesamt.
Abb. 7.12: Die Entwicklung der Mobilität für verschiedene Geburtskohorten (Männer,
Westdeutschland; nach Müller-Benedict 1999, S. 334)
Sozialer Wandel 371
Eine der berühmtesten Studien in der Soziologie insgesamt ist der Versuch von
Max Weber gewesen, einen inneren Zusammenhang zwischen der – wie Max
Weber sich ausdrückt – protestantischen Ethik und dem Geist des Kapitalismus
nachzuweisen.21 Beide Erscheinungen haben – unter anderem – zwei Gemein-
samkeiten: einerseits die unablässige innere Unruhe, die das Leben sowohl der
Protestanten wie der Kapitalisten durchzieht, und die nicht stillzustellende Suche
nach Hinweisen, ob denn alles seine Ordnung habe, andererseits die Verselb-
ständigung der jeweiligen „Sphären“ zu eigenständigen Funktionssystemen mit
ihrer jeweils ganz eigenen Logik, die der Religion hier, die der Wirtschaft dort,
und ihrer Verkettung in einem sich gegenseitig stützenden und begrenzenden
„System“. Der Ausgangspunkt war für Max Weber eine interessante und bis heu-
te noch rätselhafte, manchen damaligen Kirchentag sehr beschäftigende Korrela-
tion, betreffend nämlich den
„ ... ganz protestantischen Charakter des Kapitalbesitzes und Unternehmertums sowohl, wie der
oberen gelernten Schichten der Arbeiterschaft, namentlich aber des höheren technisch oder kauf-
männisch vorgebildeten Personals der modernen Unternehmungen.“ (Ebd., S. 18; Hervorhebung
im Original)
21
Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Max Weber,
Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band 1, 7. Aufl., Tübingen 1978a (zuerst:
1920), S. 17-206.
372 Die Konstruktion der Gesellschaft
„Der Mensch ist auf das Erwerben als Zweck seines Lebens, nicht mehr das Erwerben auf den
Menschen als Mittel zum Zweck der Befriedigung seiner materiellen Lebensbedürfnisse bezo-
gen.“ (Ebd., S. 35f.; Hervorhebungen nicht im Original)
Das zentrale Argument für die Begründung des Zusammenhangs zwischen der
protestantischen Ethik und dem Geist des Kapitalismus liegt in der beiden Orien-
tierungen gemeinsamen Kombination von Weltzugewandtheit und Askese: die
sog. innerweltliche Askese. Wie ist diese aber in die Welt gekommen? Zunächst
ist der Protestantismus – als religiöse Doktrin – immer schon eine stärker welt-
zugewandte Angelegenheit als etwa der Katholizismus gewesen, wenngleich
nicht in allen seinen Varianten gleichermaßen. Max Weber berichtet ausführlich
über das Konzept des „Berufes“ bei Luther. Eine besondere Zuspitzung und
Richtung erhielt diese Orientierung an einer innerweltlichen Askese jedoch erst
im Calvinismus – und zwar: durch ein zunächst ganz und gar religiös definiertes
Detail. Der Calvinismus nahm nämlich in einem wichtigen Kernteil seines Glau-
bens, der Prädestinationslehre bzw. der „Lehre von der Gnadenwahl“, an, daß die
Menschen bereits von Geburt an in ihrem jenseitigen Schicksal vorherbestimmt
seien: ewige Verdammnis oder ewiges Heil. Durch irdische Werke war daran –
ganz anders als für die Katholiken – auch nichts mehr zu ändern: Gott ist der
Allmächtige und läßt sich durch bestimmte Formen der Werksfrömmigkeit nicht
ins Handwerk und in seinen ganz und gar unergründlichen „heimlichen
Ratschluß“ (ebd., S. 90ff.) pfuschen.
Wer an diese Lehre glaubte, auf dem lastete natürlich eine tiefe und das ganze
Leben durchziehende, wohl auch zu Fatalismus verführende, irritierende Unge-
wißheit: Bin ich denn nun erwählt oder bin ich verdammt? (Ebd., S. 102ff.) Wie
wichtig wäre es dann aber, wenn es ein – noch so undeutliches – Zeichen für die
Erwählung, für die certitudo salutatis, gäbe! Nicht zuletzt aus der Sicht der Seel-
sorger: Um einem zunächst naheliegenden, aus ihrer Sicht aber sehr schädlichen
Fatalismus der Schicksalsergebenheit in die Vorherbestimmung des Heils vorzu-
beugen! Der würde ja drohen, wenn sich ein jeder sagte: Es ist ja ohnehin egal,
was ich tue – alles ist vorherbestimmt. Jetzt mußten sich also die Seelsorger et-
was einfallen lassen. Und siehe, sie fanden eine Lösung: Es gibt ein Zeichen, das
die Ungewißheit zwar nicht auflöst, aber in einer bestimmten Weise beeinflussen
und die Last der Furcht vor der Verdammnis etwas mildern kann. (Ebd., S.
104ff.) Es ist das Zeichen des irdischen Erfolgs im Berufsleben. Wichtig ist da-
bei, daß nicht das Bemühen bereits ausreicht, etwa eine bestimmte (gute) Absicht
oder ein bestimmtes „Handeln“, sondern nur das Ergebnis dieses Bemühens:
„Aber da schon nach Calvins Ansicht alle bloßen Gefühle und Stimmungen, mögen sie noch so
erhaben zu sein scheinen, trügerisch sind, muß der Glaube sich in seinen objektiven Wirkungen
bewähren, um der certitudo salutis als sichere Unterlage dienen zu können.“ (Ebd., S. 108; Her-
vorhebung im Original)
Sozialer Wandel 373
Dieses Zeichen des irdischen Erfolgs ist – wenn man es so sagen will – ein not-
wendiges, aber – leider – kein hinreichendes Zeichen für die Erwählung zum e-
wigen Heil. Diese verbleibende Unsicherheit hat eine weitreichende Folge: Nur
ein einziger Moment des Versagens ist der sichere Hinweis auf die Verdammnis:
„Jede einzelne Sünde vernichtet alles, was im Lauf eines ganzen Lebens an ‚Verdienst‘ durch
‚gute Werke‘ aufgehäuft sein könnte ... . Es findet eben nicht, wie im Katholizismus, eine Art
Kontokorrent mit Saldo-Abrechnung statt ... , sondern für das ganze Leben gilt das schroffe Ent-
weder-Oder: Gnadenstand oder Verwerfung.“ (Ebd., S. 115, Fn. 2; Hervorhebungen im Original)
Daher darf es keinen einzigen schwachen Augenblick geben. Und die Folge: Das
Leben wird systematisiert und durch und durch „berechnet“. Die Askese wendet
sich dadurch nicht wie im katholischen Mönchstum von dem weltlichen Alltags-
leben ab, sondern in die Welt hinein. Und die Folge dieser Ausrichtung der Le-
bensführung auf eine innerweltliche Askese:
„Der Calvinismus fügte aber im Verlauf seiner Entwicklung etwas Positives: den Gedanken der
Notwendigkeit der Bewährung des Glaubens im weltlichen Berufsleben hinzu. Er gab damit den
breiteren Schichten der religiös orientierten Naturen den positiven Antrieb zur Askese ... .“ (Ebd.,
S. 120; Hervorhebungen im Original)
Die Ansammlung von Reichtum, der nicht dem Genuß, sondern der produktiven
Wiederverwendung dient, ist somit kein Nadelöhr auf dem Weg ins Himmel-
reich, sondern ein – mögliches, aber nie: sicheres! – Zeichen der Erwählung. Und
genau dies, die durch den Zwang zur lückenlosen Dokumentation einer mögli-
chen Erwählung erzwungene Systematisierung der Lebensführung, ist es, die die
protestantische Ethik durchdringt und den Geist des Kapitalismus ausmacht. Max
Weber faßt diese „Zusammenhänge der religiösen Grundvorstellungen des aske-
tischen Protestantismus mit den Maximen des ökonomischen Alltagslebens“
(Ebd., S. 163) noch einmal so zusammen:
„Entscheidend aber für unsere Betrachtung war immer wieder, um es zu rekapitulieren, die bei al-
len Denominationen wiederkehrende Auffassung des religiösen ‚Gnadenstandes‘ eben als eines
Standes (status), welcher den Menschen von der Verworfenheit des Kreatürlichen, von der
‚Welt‘, abscheidet, dessen Besitz aber – wie immer er nach der Dogmatik der betreffenden De-
nomination erlangt wurde – nicht durch irgendwelche magisch-sakramentalen Mittel oder durch
Entlastung in der Beichte oder durch einzelne fromme Leistungen garantiert werden konnte, son-
dern nur durch die Bewährung in einem spezifisch gearteten von dem Lebensstil des ‚natürlichen‘
Menschen unzweideutig verschiedenen Wandel. Daraus folgte für den einzelnen der Antrieb zur
methodischen Kontrolle seines Gnadenstandes in der Lebensführung und damit zu deren asketi-
scher Durchdringung. Dieser asketische Lebensstil aber bedeutete eben, wie wir sahen, eine an
Gottes Willen orientierte rationale Gestaltung des ganzen Daseins.“ (Ebd., S. 162f.; Hervorhe-
bungen im Original)
nerweltlich gerichteten Askese dem Calvinisten das Leben mit der Ungewißheit
der Prädestination etwas erleichtert, so kommt die religiöse Doktrin des Calvi-
nismus bzw. des Puritanismus auch dem – vielleicht zunächst noch sehr katholi-
schen, an das Gleichnis von dem Kamel und dem Nadelöhr fest glaubenden und
deshalb mit einem sehr schlechten Gewissen versehenen – Kapitalisten entgegen,
dessen Schicksal es ja ist, hienieden irdischen Reichtum zu akkumulieren und zu
reinvestieren – oder in der gnadenlosen Konkurrenz am Markte unterzugehen.
Eine Lehre der Weltabgewandtheit oder gar der Gegnerschaft zu irdischem Er-
folg wäre eine allzu schwere psychische Hypothek für jemanden, dessen Ge-
schäft tagtäglich davon abhängt, daß er sich eben nicht dem Genusse oder einer
Ethik der Brüderlichkeit ohne Rücksicht auf eventuelle objektive Folgen unkon-
trolliert hingibt. Und was ist wohl schlimmer: Verdammnis im Jenseits oder der
Untergang auf dem Markte? Dann ist es sogar als Glaubensüberzeugung optimal:
Erfolg auf dem Markte als Zeichen, daß die Erwählung wenigstens nicht ausge-
schlossen ist.
Die protestantische Ethik stellte somit einen gedanklichen Ausweg aus dem
Dilemma zwischen jenseitsorientierter Religiosität und diesseitsbezogenem Er-
folg dar. Sie bildete nicht nur einen von diesem psychischen Druck entlastenden,
sondern sogar einen legitimierenden Ideenhorizont für das kapitalistisch-
berechnende Handeln und für die damit verbundenen Vorgaben und Interessen.
Auf diese Weise konnten Kapitalisten zu Puritanern werden – wenn sie nach ih-
rem Ableben in den Himmel kommen, aber in dem Leben vor dem Tode auch
nicht schon weltlich untergehen wollten. Und die Folge: Weltliches Interesse und
religiöse Idee ergänzen und stützen einander. Die Protestantische Ethik und der
Geist des Kapitalismus stehen also – so der Ausdruck von Max Weber, einem
Stück von Goethe folgend – in einem Verhältnis der Wahlverwandtschaft. Der
Hintergrund dieser Wahlverwandtschaft ist die mit der modernen Gesellschaft
endgültig in die Welt gekommene und nicht zu beseitigende, grundlegende Unsi-
cherheit und Unruhe der Menschen einerseits und die sagenhaften Beträge von
möglichen Gewinnen und Verlusten dort andererseits. Wo alles gesellschaftlich
seinen Platz hat, wie in den Feudalgesellschaften, oder wo es nicht viel zu vertei-
len gibt, wie in den Stammesgesellschaften, da gibt es, bei aller existentiellen
Unsicherheit, gleichwohl keinen – vernünftigen! – Grund zur Unruhe, zur Re-
duktion von Unsicherheit und zur ständigen Suche nach neuen Informationen. In
modernen Gesellschaften aber treffen alle Bedingungen für die Erzeugung von
Unruhe zu: Kein Platz ist mehr sicher, und die unbedachte Hingabe an Stimmun-
gen und Beschaulichkeit kann dort sehr teuer werden. Und das bleibt auch einst-
weilen so, wahrscheinlich bis – wie Max Weber bekanntlich etwas düster vermu-
tet hat – „ ... der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist.“ (Ebd., S. 203)
Es fällt nicht schwer, hinter den Beschreibungen und Erläuterungen von Weber
Sozialer Wandel 375
über die inneren Zusammenhänge und Wahlverwandtschaften und über die ein-
zelnen Prozesse der Ko-Evolution des Protestantismus und des Kapitalismus das
Muster der soziologischen Erklärung wiederzuerkennen. Aber das ist ja auch
weiter kein Wunder: Max Weber kann geradezu als der Erfinder des Grundsatzes
des Methodologischen Individualismus und der „verstehenden“ soziologischen
Erklärung gelten.
Die Analyse von Weber ist später oft als eine Antwort auf die These von Karl
Marx gelesen worden, wonach die materielle Basis alleine den institutionellen
und kulturellen Überbau bestimme, ebenso aber auch als eine Kritik am Idealis-
mus, der den Ideen oder den „Werten“ die alles bewegende Kraft zuschreibt.
Weber ist bald, vor allem natürlich von den immer alles besser wissenden Histo-
rikern und den nicht zu Unrecht schockierten Theologen, aber auch von Soziolo-
gen heftig kritisiert worden, und auch für diesen Zusammenhang hat man, wie
für fast alles, wovon man glaubte, daß es ein „soziologisches Gesetz“ wäre, zahl-
lose Ausnahmen gefunden.22 Das alles ist hier aber in seinen Details ganz und
gar uninteressant. Wichtig ist etwas anderes: Die Studie ist ein Muster für die so-
ziologisch-„verstehende“ Rekonstruktion des Prozesses einer gesellschaftlichen
Ko-Evolution geworden – und wie dabei die institutionell und materiell gepräg-
ten Interessen der Menschen ihre kulturellen Vorstellungen und Ideen beeinflus-
sen und diese wiederum die Institutionen und Ideen und wie das alles in ein
Gleichgewicht und schließlich in eine sich verselbständigende Eigendynamik ge-
raten kann. Insofern ist es auch eine – nur allzu verständliche – Korrektur „unili-
nearer“ Hypothesen, wonach entweder die materiellen Interessen, die institutio-
nellen Regeln oder die kulturellen Ideen jeweils das alleinige oder letzte „mo-
vens“ der Geschichte oder der Gesellschaft wären. Sie alle gehören zusammen
und ko-evoluieren nur gemeinsam – zu jeweils historisch ganz einmaligen Typen
von Gesellschaften, aber auf der Grundlage von allgemeinen und ganz und gar
„ahistorischen“ Mechanismen, wie die der Rückkopplung oder der funktionalen
Reproduktion (vgl. dazu auch noch Kapitel 9 insgesamt).
22
Das Hauptmerkmal der erfolgreichen Unternehmer im Frühkapitalismus scheint nicht so
sehr die spezielle Religion, sondern die Tatsache ihrer Emigration gewesen zu sein: Die
von Weber so besonders betrachteten Genfer Calvinisten waren fast alle Emigranten und
niemand war schweizer Abstammung. Sie kamen vielmehr aus dem katholischen Flan-
dern, ebenso wie die Mehrzahl der Geschäftsleute in Holland, in Hamburg und in
Deutschland ganz allgemein. Auch in Köln und in Holland waren die (erfolgreichen) Un-
ternehmer überwiegend katholisch und stammten vornehmlich aus Antwerpen und aus
Lüttich. Die Übernahme der calvinistischen Lehre war eher die Folge als die Ursache ih-
rer Lebenswelt und Betätigung. Vgl. dazu die Anmerkungen bei Boudon (1986, S.
147ff.).
376 Die Konstruktion der Gesellschaft
Zu Beginn dieses Kapitels hatten wir erwähnt, daß der soziale Wandel lange Zeit
das Thema der Soziologie gewesen ist, inzwischen aber nicht mehr. Nun dürfte
verständlich geworden sein, warum die Soziologie einen ihrer ehemaligen
Hauptgegenstände verloren hat: Makrosoziologische „Gesetze“ des Wandels gibt
es nicht, und wenn Regelmäßigkeiten der Veränderung angetroffen werden, dann
beruhen sie auf – mehr oder weniger komplexen – Makro-Mikro-Makro-
Sequenzen, die es über die Logik der soziologischen Erklärung zu dekomponie-
ren gilt. Gleichwohl lohnt sich ein Blick auf die wichtigsten, wenngleich inzwi-
schen meist etwas bleich gewordenen „Ansätze“ der sog. Soziologie des sozialen
Wandels.
Es hat eine ganze Reihe von Vorschlägen für Gesetze des sozialen Wandels gegeben. Einige
davon werden schon lange kaum noch beachtet, wie die Zyklustheorien etwa bei Oswald
Spengler oder Pitirim A. Sorokin, oder die Theorie des cultural lag von William F. Ogburn.
Auch an die Stadientheorien, etwa in der Art wie sie Auguste Comte vorgeschlagen hat,
glaubt so gut wie niemand mehr. Dabei kann sicher nicht bestritten werden, daß es so etwas
wie Zyklen und Kreisläufe, die zeitverzögerte Änderung der Kultur durch technische Innova-
tionen oder gewisse typische Sequenzen von Abläufen empirisch tatsächlich gibt. Es gibt ja
„Konjunkturen“ und Oszillationen, kulturellen Wandel der Werte nach Änderungen in der
materiellen „Basis“ oder gewisse Phasen der Entwicklung, etwa die der interethnischen Be-
ziehungen, wie sie Robert E. Park beschrieben hat. Aber es gibt diese Dinge eben nicht als
feste „Gesetze“, sondern als von vielen (Rand-)Bedingungen („pfad“-)abhängige Sequenzen
von Makro-Mikro-Makro-Übergängen.
Übrig geblieben ist von allen diesen Versuchen und Ansätzen eigentlich nur
noch eine Variante der Theorie des sozialen Wandels: die evolutionäre Erklärung
des Wandels von Gesellschaften und des gesamten Systems der Weltgesellschaft.
Und es sieht fast so aus, als gäbe es hierfür in der Tat sogar eine gewisse Rich-
tung – die der durchgreifenden funktionalen Differenzierung und „Modernisie-
rung“ der Welt insgesamt. Unter dem Schlagwort der Globalisierung wird diese
Idee derzeit diskutiert und geglaubt.
Die Evolutionstheorie des sozialen Wandels gibt es in drei Varianten, von denen die ersten
beiden inzwischen wohl als widerlegt oder mindestens als „unvollständig“ gelten können:
erstens die auf Karl Marx zurückgehende konflikttheoretische Vorstellung, daß sich die
Gesellschaften über Konflikte weiterbewegten und daß es schließlich zur Überwindung der
alles bewegenden Gegensätze der Klassen kommen werde, nein: müsse (vgl. Abschnitt 7.5.1
unten). Zweitens die funktionalistischen Hypothesen einer eher allmählichen Entwicklung der
Gesellschaften auf einem Pfad der immer stärkeren funktionalen Differenzierung – mit dem
„Ziel“ der vollständigen Durchuniversalisierung der Welt (siehe Abschnitt 7.5.2 unten), und
drittens schließlich die Idee der multilinearen Evolution, wonach der soziale Wandel zwar
gewisse Pfade einschlägt, daß es aber immer wieder zu Verzweigungen kommen kann, von
denen ab ein einmal eingeschlagener Entwicklungspfad eine gänzlich neue Richtung nimmt
(siehe Abschnitt 7.5.3 unten).
Sozialer Wandel 377
Der Grundgedanke ist bei allen diesen Varianten der gleiche (siehe auch Ab-
schnitt 7.4 schon zum Konzept der Evolution): Gesellschaften bilden zeitweise
einigermaßen stabile (Prozeß-)Gleichgewichte der funktionalen Reproduktion,
geraten dann aber, warum auch immer, in einen Prozeß der Wandlung ihrer inne-
ren Strukturen und sind in der damit sich verändernden Konstellation und in den
jeweiligen natürlichen wie sozialen Umgebungen unterschiedlich reproduktions-
fähig. Die drei Richtungen lassen sich vor diesem gemeinsamen Hintergrund ü-
ber drei verschiedene inhaltliche Dimensionen einigermaßen unterscheidbar sor-
tieren: die jeweils das Geschehen bewegende typische Kraft, die Zielgerichtetheit
des Prozesses und die Endogenität bzw. Exogenität des Wandels.
Zweitens dann:
„Alle bisherigen Bewegungen waren Bewegungen von Minoritäten oder im Interesse von Minori-
täten. Die proletarische Bewegung ist die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im
Interesse der ungeheuren Mehrzahl.“ (Ebd., S. 472)
23
Karl Marx und Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: Marx-Engels-
Werke, Band 4, Berlin 1964, S. 459-493.
378 Die Konstruktion der Gesellschaft
schaft des Bürgertums und des Geldes, jeweils nach mehr oder weniger langen
Epochen der „Transformation“ und des Übergangs. Stets standen Unterdrücker
und Unterdrückte gegeneinander. Ihr Kampf führte schließlich zum gemeinsa-
men Untergang beider Gruppen, und herauf kam jeweils eine völlig neue Art von
Gesellschaft, in der der „alte“ Gegensatz zwar „aufgehoben“ war, an dessen Stel-
le aber sofort ein neuer trat. Und so weiter.
Unschwer ist bei dieser Skizze der hegelianische Hintergrund eines „dialekti-
schen“ Prozesses zu erkennen: These steht gegen Antithese, und beide werden in
einer neuen Synthese aufgehoben, die dann den Beginn für den nächsten Schritt
bildet. Die ganze „Geschichte“ hat dabei für Marx eine zwingende „dialektische“
Logik, bei der sich eine Epoche zwangsläufig aus der endogen angelegten Über-
windung der Klassengegensätze in der folgenden Epoche ergibt. Und buchstäb-
lich am Ende der Geschichte stehen dann der Kapitalismus mit dem historisch
letzten Antagonismus, dem von Arbeit und Kapital, die proletarische Revolution
und die Heraufkunft der Kommunistischen Gesellschaft, in der es erstmals keine
Klassengegensätze mehr gibt, weil die historisch letzte Klasse, die überhaupt
noch beherrscht werden konnte, die des Proletariats, in den sich entwickelnden
Industriegesellschaften, nunmehr die Herrschaft übernommen hat, die „Volks“-
Herrschaft eben. Daher gibt es jetzt erst- und letztmals den einen zentralen Grund
für alle gesellschaftliche „Bewegung“ nicht mehr – den Konflikt zwischen ir-
gendwelchen Gruppen eben. Die wichtigste Voraussetzung dafür ist nach Marx
die Abschaffung der Arbeitsteilung und des Privateigentums, die für die Ent-
fremdung und die Ausbeutung der Menschen und für die Konflikte in den Inte-
ressen ja erst sorgen (vgl. dazu auch noch den Exkurs über Entfremdung ganz am
Ende dieses Bandes). Und alles wird schließlich gut: In der kommunistischen
Gesellschaft werden „ ... die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst
das erste Lebensbedürfnis“ sein, die „Springquellen des genossenschaftlichen
Reichtums voller fließen“, alle trennenden Schranken zwischen den Menschen
fallen, und eine Welt der Solidarität im Überfluß kann endlich errichtet werden.
Und dann kann endlich
„ ... die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen
Bedürfnissen!“24
Kurz also: Es kommt das Paradies auf Erden. Es blieben dann nur noch zwei
Fragen: Wie kommen die Proletarier dahin? Und stimmt es wirklich, daß mit der
Abschaffung des Privateigentums und der Arbeitsteilung die Konflikte zwischen
den Menschen verschwinden und – last not least – auch wirklich und nachhaltig
24
Alle Zitate aus Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, in: Marx-Engels-Werke, Band
19, Berlin 1962, S. 21.
Sozialer Wandel 379
Die von Marx entwickelte „Dialektik“ des sozialen Wandels aus der immerwäh-
renden Zuspitzung, Überwindung und Neubildung gesellschaftlicher Widersprü-
che und Konflikte ist ohne Zweifel eine Hypothese, die der Logik der Idee von –
endogen erzeugter! – Variation und struktureller Selektion folgt und daher ohne
weiteres als eine Variante der Evolutionstheorie interpretiert werden kann. Karl
Marx hat das auch selbst so gesehen: Jede neue Epoche ist gegenüber der vo-
rausgehenden ein „Fortschritt“, und am Ende steht ein Gebilde mit einer ganz
überlegenen Reproduktionskraft. Der zentrale Motor der „Entwicklung“ sind,
wie gesagt, die unvermeidlichen Konflikte, die sich aus der bislang stets nötigen
Herrschaft als Ordnungsmechanismus ergeben, und die Geschichte dieser Ent-
wicklung ist ein durch und durch endogen und damit auch „zwangsläufig“ ange-
legter Vorgang. Daher ist das Ende der Entwicklung für Marx auch nicht offen,
sondern wird schließlich mit nahezu naturgesetzlicher Notwendigkeit erreicht.
Gegen dieses Gesetz mögen sich die Menschen unter Umständen zwar sträuben,
aber letztlich gibt es kein Mittel und kein Entrinnen aus dem „objektiven“ Lauf
der Geschichte: „Den Sossialissmus in seijnem Lauouwff, halten nicht Ochs
noch Esel auouwff“ stammelte Erich Honecker nur wenige Stunden, bevor alles
zu Ende war – mit dem Sozialismus und mit ihm persönlich. Die sozialistische
Revolution ist dabei nicht das Entscheidende. Sie ist nur der beiläufige Abschluß
einer zwangsläufigen Entwicklung und
„ ... sie kommt nur, um den Schlußsatz unter eine vollständige Reihe von Prämissen zu
schreiben. ... . Sie ist ihrem Wesen nach Revolution in der Fülle der Zeit.“25
25
Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 7. Aufl., Tübingen
und Basel 1993 (zuerst: 1942), S. 100; Hervorhebungen nicht im Original.
380 Die Konstruktion der Gesellschaft
Kurz: Die Marxsche Theorie des sozialen Wandels ist teleologisch angelegt, und
nicht wenige haben, wohl nicht zu Unrecht, sie als eine Fortsetzung der christli-
chen Erlösungslehre mit den Mitteln der Soziologie angesehen – was der Sozio-
logie in ihrem öffentlichen Bild nicht gut getan hat.
In unseren drei Dimensionen wird die Marxsche Variante einer Soziologie des
sozialen Wandels also als konflikttheoretisch, endogen und teleologisch zu be-
zeichnen sein.
Konflikte sind dabei ohne Zweifel wichtige endogene Anlässe für die Entste-
hung sozialer Dynamiken, etwa solcher eines Rüstungswettlaufs. Und sie können
durchaus auch empirisch in der Form der dialektischen Triade auftreten und sich
„entwickeln“. Unhaltbar ist, neben den vielen inhaltlichen Problemen der Marx-
schen Theorie, jedoch vor allem ihr teleologischer Charakter und die Annahme
gewesen, daß die beschriebene Sequenz sozusagen naturnotwenig wäre. Entklei-
det man das Modell von Marx indessen von seinem teleologischen und ge-
schichtsdeterministischen Korsett, dann enthält seine Theorie einen außerordent-
lich wichtigen und richtigen Kern: Jede gesellschaftliche Ordnung beruht letzt-
lich, wenigstens: auch, auf repressiven Elementen der Herrschaft und zieht daher
in nahezu „logischer“ Weise gesellschaftliche Konflikte nach sich (vgl. dazu
schon Kapitel 12 über „Soziale Klassen“ in Band 1, „Situationslogik und Han-
deln“, sowie noch Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“
insgesamt). Diese, aus der Ordnung der Gesellschaft selbst entstehenden Kon-
flikte sind – unter anderem freilich – in der Tat auch wichtige Kräfte der Dyna-
mik der Gesellschaft und der fortwährenden Änderung der Verhältnisse, durch-
aus auch in gewissen Eigendynamiken einer auch längere Sequenzen umfassen-
den Situationslogik, wie das etwa bei den ethnischen Konflikten der Fall ist (vgl.
dazu noch das Beispiel in Kapitel 8 gleich unten in diesem Band). Aber das Ge-
schehen unterliegt eben keiner übergreifenden „makro“-soziologischen Gesetz-
mäßigkeit, sondern kann an vielen Verzweigungspunkten einen ganz anderen
Weg nehmen (siehe dazu gleich auch unten noch zur sog. multilinearen Evoluti-
on). Und ein „Ziel“ hat die Geschichte ohne Zweifel nicht, schon gar keines, auf
das sie auf einem jetzt schon fest stehenden Pfad der Entwicklung sozusagen a
priori einsehbar hinstrebte.
Korrekturen
Von Ralf Dahrendorf stammen die wichtigsten Korrekturen der Marxschen The-
orie und die Grundelemente einer dann durchaus akzeptablen Konflikttheorie des
Sozialer Wandel 381
sozialen Wandels.26 Sie mündet in eine Art von Theorie der Oszillation der Herr-
schaft, wie sie unter anderem zuvor von Gaetano Mosca und von Vilfredo Pareto
mit ihren Theorien von der Zirkulation der Eliten vertreten wurde, und insbeson-
dere in die These von der Unvermeidlichkeit und Universalität der Herrschaft
und deren kumulativer Eigendynamik, wie sie etwa Robert Michels mit seinem
Ehernen Gesetz der Oligarchie formuliert hatte. In jedem Fall aber enthält sie die
wohl richtige Annahme, daß es gesellschaftliche Ordnung ohne Herrschaft nicht
geben kann, und daß daher jede einmal etablierte Ordnung durchaus schon den
Keim ihrer Überwindung in sich trägt, mindestens aber, daß es mit der Tatsache
der Herrschaft gesellschaftliche Gruppen geben muß, die sich in ihren Interessen
widersprechen.
In einer gewissen Weise hat Karl Marx dann aber wieder sogar Recht gehabt:
In den modernen Gesellschaften gibt es keine scharfen und eindeutigen Klassen-
gegensätze mehr, wenngleich ohne weiteres weiterhin Konflikte. Die Akteure
befinden sich vielmehr in einer vielfachen Überkreuzung ihrer gesellschaftlichen
Lagen, und die damit verbundenen Interessen- oder Kontrollkonflikte heben sich,
sozusagen, in der Regel gegenseitig auf. Deshalb klingt heute auch das Konzept
von Dahrendorf schon etwas sehr veraltet und wie von gestern. Ohne Zweifel
gibt es weiter „Herrschaft“ und Konflikte und die sorgen auch für viel „Bewe-
gung“. Aber die (politische) Herrschaft wird nicht mehr zwischen bestimmten,
deutlich abgrenzbaren Teilgruppen der Bevölkerung ausgefochten, sondern ist
mehr und mehr zu einem eigenen Teil-System der Gesellschaft geworden, und es
ist ziemlich egal, wer sie gerade ausübt. Schröder machte 1999 die Politik, die
eigentlich die CDU hätte machen sollen, und Norbert Blüm tat ganz scheinheilig
so, als hätte er statt Lafontaine und Riester Finanz- bzw. Arbeitsminister sein
müssen. Und das ist kein Zufall: Es gibt in den modernen Gesellschaften keine
konsistenten Konfliktlinien und daher auch keine eindeutigen Bewegungen mehr
in eine bestimmte Richtung, sondern nur noch eine Art von
mehrfach gekreuzter Dauermobilisierung der Gesellschaft, die gerade dadurch
„besteht“ und sich reproduziert, daß alles in Bewegung ist, und für die der be-
ständige soziale Wandel fast das Einzige ist, was Bestand hat.
26
Vgl. insbesondere Ralf Dahrendorf, Pfade aus Utopia. Arbeiten zur Theorie und Methode
der Soziologie, Gesammelte Abhandlungen I, 3. Aufl., München 1974, insbesondere Ka-
pitel 10: Pfade aus Utopia. Zu einer Neuorientierung der soziologischen Analyse, S. 242-
263, Kapitel 12: Karl Marx und die Theorie des sozialen Wandels, S. 277-293, und Kapi-
tel 14: Amba, Amerikaner und Kommunisten. Zur These der Universalität der Herrschaft,
S. 315-336.
382 Die Konstruktion der Gesellschaft
Der funktionalistische Ansatz der Soziologie des sozialen Wandels ist, wie der
gesamte Funktionalismus in der Soziologie, mit Emile Durkheim und daran an-
schließend natürlich mit Talcott Parsons verbunden (vgl. dazu auch schon die
Kapitel 22 bis 24 in der „Soziologie. Allgemeinen Grundlagen“). Die grundle-
gende Idee besteht in der Annahme, daß sich der soziale Wandel als fortschrei-
tende funktionale Differenzierung der Gesellschaften vollzieht und daß sich da-
bei die Mechanismen der funktional-gleichgewichtigen Reproduktion und der
dadurch gewährleisteten Integration und Ordnung simultan und in einem Prozeß
der Ko-Evolution mitentwickeln würden. Der Ausgangspunkt jedes einzelnen
Schrittes ist dabei ein bestimmtes funktionales Gleichgewicht, das jedoch unter
Umständen – aufgrund endogener Vorgänge wie exogener Anstöße – an seine
Leistungsgrenzen stößt. Unter bestimmten Bedingungen, die Parsons als evoluti-
onäre Universalien bezeichnet hat (siehe dazu gleich unten mehr), löst die „Ge-
sellschaft“ das so entstandene Problem, und zwar durch einen weiteren Schub
der funktionalen Differenzierung und einen Ausbau der für die funktionale Re-
produktion nun nötigen Integration des komplexer und widersprüchlicher gewor-
denen sozialen Gebildes.
Durkheim
Die Erklärung der Arbeitsteilung bei Emile Durkheim und des Übergangs von
einfach strukturierten zu komplexeren Gesellschaften ist das „Paradigma“ für
den Gedanken des funktionalistischen Ansatzes der Soziologie des sozialen
Wandels.27
Ein Hintergrund war die Bewunderung der genialen Erklärung der Entwicklung der Arten durch
Charles Darwin und der Versuch, diese Art der Erklärung auf die „organische“ Entwicklung von
Gesellschaften zu übertragen. Beispielsweise hatte der britische Soziologe Herbert Spencer
(1820-1903) im Anschluß an die Überlegungen von Adam Smith über die wohlstandsfördernden
Wirkungen der egoistischen Interessen und der Arbeitsteilung in seinen „Principien der Soziolo-
gie“ eine damals einflußreiche Theorie der gesellschaftlichen Evolution entwickelt, in der er da-
von ausging, daß sich aus den vorwiegend „militärisch“ organisierten Gesellschaften durch die
gleichzeitige Steigerung von Differenzierung und Integration schließlich die „industriellen“ Ge-
sellschaften durchsetzen würden.28
27
Emile Durkheim, Über die Teilung der sozialen Arbeit, Frankfurt/M. 1977.
28
Herbert Spencer, Die Principien der Soziologie, III. Band, Stuttgart 1889.
Sozialer Wandel 383
Die Gesellschaft ändert also ihre „materielle“ und institutionelle Struktur und
gleichzeitig aber auch den kulturellen Rahmen, unter dem die Integration ge-
schieht: Die organische Solidarität ersetzt die mechanische Solidarität. Ein wich-
tiger Grundsatz der funktionalistischen Ansätze nicht nur des sozialen Wandels
wird hier auch sehr deutlich (vgl. dazu auch noch Band 3, „Soziales Handeln“,
dieser „Speziellen Grundlagen“): Alle Gesellschaften, wie differenziert und
„komplex“ auch immer sie sein mögen, können als integrierte soziale Gebilde
nur bestehen, wenn die Mitglieder sich an irgendeinem Rahmen der Solidarität,
der Zustimmung, der Loyalität, der normativen Orientierung, der Werte, der I-
dentifikation orientieren (vgl. dazu auch schon Kapitel 6 über das Problem der
„Integration“ in diesem Band). Dieser Rahmen ändert sich zwar im Inhalt, etwa
von der mechanischen zur organischen Solidarität, aber es bleibt, auch in den al-
lermodernsten Gesellschaften, immer bei einem solchen Rahmen wenigstens von
Resten eines „Kollektiv“-Bewußtseins und des Gefühls der Zusammengehörig-
keit. Glaubte Durkheim.
384 Die Konstruktion der Gesellschaft
Parsons
Der Beitrag von Talcott Parsons kann dann als eine Erweiterung und Systemati-
sierung dieser Grundideen von Durkheim verstanden werden. Parsons kommt auf
das Problem des sozialen Wandels erst relativ spät in seinen Arbeiten zu spre-
chen, dann aber sehr deutlich und mit dezidierten Hypothesen.29 Die Erweiterung
bezieht sich auf die konsequente Anwendung des AGIL-Schemas auf die Be-
trachtung der „Entwicklung“ der Gesellschaften (vgl. zum AGIL-Schema und
zum gesamten „System“ der Theorie von Parsons schon Kapitel 23 der „Sozio-
logie. Allgemeine Grundlagen“, sowie noch Band 6, „Sinn und Kultur“ dieser
„Speziellen Grundlagen“). Die arbeitsteilige Spezialisierung betrifft ja eigentlich
nur ein Teil-System der Gesellschaft, das A-System der Adaption bzw. der Or-
ganisation der Wirtschaft nämlich. Die Umstellung in der Solidarität von der me-
chanischen auf die organische verweist schon auf ein zweites Teil-System, das
L-System der Mustererhaltung und der alle Normen, sozialen Beziehungen und
Handlungen steuernden kulturellen Werte. Folgerichtig „müssen“ sich mit dem
Prozeß der „evolutionären“ sozialen Differenzierung auch die anderen Teil-
Systeme ändern: Das G-System der Zielerreichung bzw. das der Politik muß
immer stärker auch spezifische politische Ziele angehen können und im Gesamt-
zusammenhang des ganzen Systems durchzusetzen versuchen. Und beim I-
System der Integration bzw. der gesellschaftlichen Gemeinschaft kommt es auf
die immer weiter gezogene „Inklusion“ von zuvor „exkludierten“ Gruppen und
29
Vgl. dazu insbesondere Talcott Parsons, Gesellschaften. Evolutionäre und komparative
Perspektiven, Frankfurt/M. 1975 (zuerst: 1966); Talcott Parsons, Das System moderner
Gesellschaften, München 1972. Vgl. für eine Zusammenfassung der Theorie des sozialen
Wandels von Parsons: Uwe Schimank, Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, Opla-
den 1996, Abschnitt 3.4.
Sozialer Wandel 385
Personen an. Die „soziale Differenzierung“ der Gesellschaft ist demnach nicht
nur ein Prozeß der arbeitsteiligen Spezialisierung und der damit verbesserten
„Anpassung“, sondern einer der Ko-Evolution mit allen drei weiteren Teil-
Systemen: Steigerung der Fähigkeit zum „goal attainment“ in der Politik, Steige-
rung der Inklusionsfähigkeit in die „gesellschaftliche Gemeinschaft“ und fort-
schreitende Abstrahierung und Generalisierung der kulturellen Leitideen bei der
„latent pattern maintenance“.
Das klingt etwas abstrakt, und ist es durchaus auch. Vor allem Neil J. Smelser hat jedoch in in-
haltlich interessanten Studien zum Prozeß der Industrialisierung im 19. Jahrhundert gezeigt, wie
man sich in dem funktionalistischen Paradigma diese Ko-Evolution der Separierung gewisser
funktionaler Sphären gedacht hat. Eines seiner Beispiele ist die Analyse des Wandels der Famili-
enstrukturen im Zuge der industriellen Revolution mit ihren vielen Einzelheiten, wie etwa die
gleichzeitige Entwicklung der allgemeinen Schulpflicht und des Verbotes der Kinderarbeit.30 Im
Zuge der Industrialisierung und der dadurch erzwungenen Trennung von Haushalt und Arbeits-
platz wird die traditionelle landwirtschaftliche Haushaltsökonomie beseitigt, bei der die Kinder als
Arbeitskräfte eingesetzt wurden. Hierdurch entsteht ein Freiraum für eine arbeitsunabhängige fa-
miliale Sozialisation und für die Einrichtung einer von der Familie wiederum unabhängigen schu-
lischen Sozialisation, die es dann wiederum erlaubt, die von der industriellen Produktion her be-
nötigten speziellen Qualifikationen zu vermitteln, die sich in der Familie selbst kaum beibringen
lassen.
Der Kern des Prozesses der funktionalen Ausdifferenzierung ist also die Tren-
nung der Funktionen, stets, auch etwa von Smelser und den anderen Parsons-
Schülern, entlang den Vorgaben des AGIL-Schemas und als „Reaktionen“ eines
kompletten „sozialen Systems“ und seiner Unter-Systeme gedacht. Für Parsons
kam dann noch eine Besonderheit hinzu, die ganz dem ihm eigenen theoretischen
System entsprungen ist: Der „Fortschritt“ der Gesellschaften bestehe auch darin,
daß sie sich in ihren Strukturen immer mehr der Logik des AGIL-Schema annä-
hern und daß sie die vier funktionalen Erfordernisse immer deutlicher als eigene
Teil-Systeme ausdifferenzieren. Und je näher eine Gesellschaft dem Schema
kommt, um so größer wäre seine evolutionäre Überlegenheit. Die nach diesem
Schema konsequent durchdifferenzierte „moderne“ Gesellschaft wäre im Grunde
nicht mehr gefährdet. Sie wäre ultra-stabil, und das gerade wegen ihrer Komple-
xität.
30
Vgl. Neil J. Smelser, Social Change in the Industrial Revolution. An Application of Theo-
ry to the Lancashire Cotton Industry 1770-1840, London und Beccles 1959, S. 237ff.,
286ff. Siehe auch Neil J. Smelser, Essays in Sociological Explanation, Englewood Cliffs,
N.J., 1968, Kapitel 4: Sociological History: The Industrial Revolution and the British-
Working Class Family, S. 76-91.
386 Die Konstruktion der Gesellschaft
Konkrete Analysen
Ein Beispiel? Bitte: Das Erfordernis der A-Funktion ist in der Baumwollin-
dustrie die Bereitstellung von Kapital und innerhalb dieses Systems wird die
I-Funktion von den „structural arrangements of capital“ wahrgenommen
(ebd., S. 18 und 43). Und das in vier-mal-vier-gleich-sechszehn Feldern.
Smelser sagt selbst, worum es sich bei dieser Art der funktionalen Analyse
handelt: um ein begriffliches „framework“ der verschiedenen Bereiche und
Vorgänge, die jetzt empirisch und „historisch“ durchgegangen werden. Viele,
durchaus nicht gehaltlose, soziologische Studien nicht nur des sozialen Wan-
dels, sind nach dieser Art entstanden, und auch heute gibt es noch manche So-
ziologen, wie Richard Münch aus Bamberg, früher Düsseldorf, die die Welt
nur durch die Brille von Vierfeldertafeln sehen können – und sich wundern,
daß das im Jahre 1999 für eine zufriedenstellende soziologische Erklärung
nicht ausreicht.
Warum das so ist, hat seinerzeit George C. Homans in einer beißenden Kri-
tik am Funktionalismus klar gemacht, bei der er sich Smelser als einen von
vielen besonders vorgeknöpft hat.31 Der Hauptpunkt bei Homans ist, daß die
Funktionalisten immer dann, wenn sie wirklich etwas „erklären“ wollen, ihre
kollektivistisch-systemtheoretische Rhetorik sofort aufgeben und, wie das
auch jede richtige soziologische Erklärung tut, auf die situationsbezogenen
31
George C. Homans, Wider den Soziologismus, in: George C. Homans, Grundfragen so-
ziologischer Theorie, Opladen 1972, S. 53ff.
Sozialer Wandel 387
Motive und Handlungen von Akteuren und die davon erzeugten kollektiven
Folgen sieht. Beispielsweise „erklärt“ Smelser den sozialen Wandel der vo-
ranschreitenden strukturellen Differenzierung der Baumwollindustrie als eine
Sequenz von sieben Schritten, deren erste so lautet:
„(1) Dissatisfaction with the productive achievements of the industry or its relevant sub-
sectors and a sense of opportunity in terms of the potential availability of adequate facilities
to reach a higher level of productivity.“ (Smelser 1959, S. 29; siehe auch Smelser 1968, S.
79f.)
Was ist denn das? Sehr richtig: Es gibt Unzufriedenheiten und die Wahrneh-
mung von Opportunitäten für eine bessere Nutzenproduktion über einen höhe-
ren „level of productivity“ der jeweiligen Fabrik. Und wo gibt es diese Unzu-
friedenheiten und den „sense of opportunity“. Dreimal dürfen sie raten! Der
zweite Schritt sind die mit den Änderungen ausgelösten „symptoms of distur-
bance“ bei der betroffenen Belegschaft und Bevölkerung – als unintendierter
Effekt der Umstellungen in der Produktion. Und die wiederum lösen Bemü-
hungen aus, die entstandenen Spannungen zu lösen – bis es schließlich im
siebten Schritt zur Akzeptanz der Änderungen „as part of the standard of li-
ving and their incorporation into the routine functions of production“ kommt
(ebd.).
Also doch: Akteure sind unzufrieden, tun etwas dagegen, schaffen (unin-
tendierte und intendierte) Folgen, die die Situation für andere Akteure und für
sie selbst wieder verändern, die daraufhin etwas tun, was wieder Folgen hat ...
und so weiter. Der einzige „funktionalistische“ Zug dieser Sequenz ist der ste-
te Blick auf eine Erfolgsstory: Zum Schluß hat sich das System geändert und
zu einem neuen Gleichgewicht gefunden, und alle Schritte waren – irgendwie
– darauf ausgerichtet. In Köln sagt man „et hätt noch emmer jot jejange“. Es
ist der Leitspruch des Funktionalismus (gewesen), der davon ausging, daß die
sozialen Systeme, gibt es sie einmal, von selbst zu einem reproduktiven
Gleichgewicht neigen. Wir wissen, daß das ohne Zweifel vorkommt. Wir wis-
sen aber auch, daß es keine a-priori-Tendenz dazu gibt. Und so hat der Funk-
tionalismus oft einfach übersehen, daß es Sequenzen auch in das definitive
Ende eines sozialen Systems geben kann und keineswegs alles immer wieder
einen „Anschluß“ findet.
Manche waren über diese Blindheit für die vielen Kontingenzen gerade
auch der funktionalen Reproduktion von sozialen Systemen, vor allem aber
über die Chuzpe, mit der die Funktionalisten einerseits so taten als hätten sie
mit ihrer System-„Theorie“ die soziologische Methode gefunden und anderer-
seits aber unverhohlen „individualistisch“ argumentierten, wenn es ernst wur-
de, sehr empört. Und das, wie wir gesehen haben, nicht zu Unrecht. Zum
Schluß seines Aufsatzes „Wider den Soziologismus“ läßt Homans dann auch
388 Die Konstruktion der Gesellschaft
seinem Ärger darüber freien Lauf: Die Funktionalisten verstecken, wie auch
alle anderen Makrosoziologen und Systemtheoretiker, so sollte man noch hin-
zufügen, ihre handlungstheoretischen Erklärungen unter dem Tisch und zie-
hen den Methodologischen Individualismus „verstohlen wie eine Flasche
Whisky hervor, um sie zu benutzen, wenn sie Hilfe brauchen“. (Homans
1972, S. 57). Und die brauchen sie so gut wie immer. Nicht nur Smelser.
Talcott Parsons war mit Max Weber der Ansicht, daß der Prozeß der evolutionä-
ren Ausdifferenzierung von Gesellschaften ganz bestimmten und einzigartigen
historischen Quellen und Konstellationen entsprungen ist und von dort aus – in
einer Art unaufhaltsamer Eigendynamik – nach und nach die ganze Welt erfaßt
(hat). Diese historische Quelle ist der „okzidentale Rationalismus“, die Welt des
Westens also.33 Dafür gab es seiner Meinung nach einige davor liegende gesell-
schaftliche Ursprünge: das antike Israel und das antike Griechenland. Er nannte
sie die „Saatbeet“-Gesellschaften (Parsons 1975, Kapitel VI). In ihnen seien die
wichtigsten Voraussetzungen institutionalisiert gewesen, von denen letztlich jede
evolutionäre Differenzierung ausgehe. Diese Voraussetzungen nannte Parsons
evolutionäre Universalien.34
32
Max Weber, Vorbemerkung, in: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziolo-
gie, Band 1, 7. Auflage, Tübingen 1978b, S. 1; Hervorhebung so nicht im Original.
33
Vgl. dazu auch die Übereinstimmungen in so verschiedenen Beiträgen zu dieser These
wie bei Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Band 1: Handlungsra-
tionalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt/M. 1981a, Abschnitt II: Max
Webers Theorie der Rationalisierung; oder bei Erich Weede, Der Sonderweg des Wes-
tens, in: Zeitschrift für Soziologie, 17, 1988, S. 172-186.
34
Talcott Parsons, Evolutionary Universals in Society, in: American Sociological Review,
29, 1964, S. 339-357; eine deutsche Übersetzung findet sich in Zapf 1971, S. 55-74.
Sozialer Wandel 389
Für den Übergang von den einfachen Stammesgesellschaften zur ersten Zwischenstufe, den später
von Niklas Luhmann so genannten stratifikatorisch differenzierten Staats- und Feudalgesellschaf-
ten (vgl. auch dazu noch Abschnitt 9.2 unten in diesem Band ausführlich), sind zwei solcher evo-
lutionärer Universalien nötig: die soziale Schichtung und die explizite kulturelle Legitimation der
gesellschaftlichen Verhältnisse. Für die Entstehung der vormodernen großen Staats- und Feudal-
gesellschaften waren dann weiter die bürokratische Herrschaft und die Einführung von Märkten
mit dem Tauschmedium Geld erforderlich. Beim Übergang von den strikt hierarchisch geglieder-
ten stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften auf die funktional differenzierten „modernen“
Gesellschaften treten dann zwei weitere evolutionäre Universalien dazu: das universalistische
Recht, das, im Anschluß an das Römische Recht, die staatliche und die kulturelle Sphäre von der
eigentlich „rechtlichen“ der Mustererhaltung trennt; und die demokratische Assoziation, bei der
die politische Herrschaft an die Zustimmung der Bevölkerung gebunden wird.
Die moderne Gesellschaft ist danach von einer doppelten Bewegung erfaßt: die
Steigerung der weiteren Ausdifferenzierung und die damit einsetzende Erhöhung
der Reproduktionsfähigkeit gegenüber allen anderen Gesellschaftstypen einer-
seits; und die wechselseitige Begrenzung der verschiedenen Vorgänge der Diffe-
renzierung derart, daß sich das System in seiner Dynamik sozusagen selbst im-
mer wieder einfängt und sich selbst durch die gegenseitigen Beschränkungen
immer wieder integriert. Niklas Luhmann hat diese Besonderheit später mit dem
eigentlich etwas hilflosen, weil weiter nichts sagenden, Begriff der „Autopoiesis“
belegt. Die Voraussetzung für alles ist die Auflösung auch der letzten Reste an
„Askription“ und an „Fundamentalismus“ und an einer Vorstellung, daß die Ge-
sellschaft irgendwie von einem Zentrum, gemeinsam geteilten, inhaltlich spezifi-
schen Werten oder bestimmten Grundstrukturen abhängig wäre, etwa einer guten
Regierung, einer florierenden Wirtschaft, der Orientierung an einer politischen
Utopie oder auch daran, daß die Juden, die Kapitalisten oder Gerhard Schröder
an allem schuld wären.
Insofern müßte man alle Gegenbewegungen zu dem geschilderten universalen Prozeß der evolu-
tionären Ausdifferenzierung als mittelfristig nicht überlebensfähige Atavismen ansehen. In der
Tat hat Parsons schon relativ früh vermutet, daß es die (stalinistische) Sowjetunion nicht mehr
lange machen würde, und auch, daß der Nationalsozialismus eine Gesellschaftsform mit nur ge-
ringer evolutionärer Reproduktionskraft wäre (vgl. Parsons 1972, S. 158ff., 165ff.). In ähnlicher
Weise müßte man von der Position des funktionalistischen Ansatzes des sozialen Wandels die
derzeitigen fundamentalistischen Bewegungen und ethno-religiösen Konflikte in der Welt beurtei-
len: Es sind Gegenreaktionen gegen den weiter um sich greifenden universalen Prozeß der funkti-
onalen Differenzierung, halten aber auf die Dauer der überlegenen differentiellen funktionalen
Reproduktion der „Modernisierung“ nicht stand.
Luhmann
Niklas Luhmann hat später daraus ganz konsequent die Konsequenz gezogen
und gemeint, daß sich die moderne Gesellschaft sozusagen von ganz alleine wei-
terentwickelt, keinerlei besonderer Unterstützung durch die Menschen mehr be-
dürfe und daß es auch kein Teil-System mehr gebe, das irgendwie noch eine
Leitfunktion innehaben könnte, wie das Parsons noch für das sog. kulturelle Sys-
tem vorgesehen hatte. Das alles war bei dem (späten) Parsons allerdings schon
deutlich angelegt, und Luhmann hat Parsons sozusagen nur weitergeschrieben,
wo dieser nicht mehr weiter wollte. Und er hat dabei auch noch den letzten Rest
von „Durkheim“ aus „Parsons“ ausgeschieden: die Vorstellung nämlich, daß es
zur Integration auch in den komplexen Gesellschaften noch der „Solidarität“ be-
dürfe. Die funktionieren, so Luhmann, ohne jede kulturellen Werte und ohne je-
de kollektive Orientierung. Die modernen Gesellschaften haben endgültig keine
„gesellschaftliche Gemeinschaft“ mehr nötig, sondern sind, etwas anders ausge-
drückt, zu Märkten geworden und nur noch „Gesellschaft“ im Sinne von Ferdi-
nand Tönnies (vgl. dazu auch noch Abschnitt 9.3 in diesem Band).
Modernisierung
Der funktionalistische Ansatz der Soziologie des sozialen Wandels hat, wie wir
auch am Beispiel der Analyse von Smelser gesehen haben, stets einen – mehr
oder weniger offenen – teleologischen Zungenschlag gehabt, obwohl wohl nie-
mand seiner Vertreter an ein wirklich apriorisches Ziel oder an irgendeine „Vor-
sehung“ dachte. Aber man hielt (und hält weiterhin hier und da) offenbar die
selbsttragenden Eigendynamiken des Vorgangs für so stark, daß die Hypothese
von einer gewissen Unvermeidlichkeit und Unumkehrbarkeit nicht allzu waghal-
sig erschien. Als der wohl vorläufig letzte Vertreter der These von der Unver-
meidlichkeit und Unumkehrbarkeit der funktionalen Differenzierung der ganzen
Welt kann auch wiederum Niklas Luhmann gelten. Er hat sie in seinem theoreti-
schen Testament, „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ von 1997, noch einmal be-
kräftigt, wenngleich mit gewissen Vorbehalten der möglichen Heraufkunft einer
neuen „Leitdifferenz“, der von „Inklusion und Exklusion“ nämlich (vgl. dazu
auch schon Kapitel 5 in diesem Band).
Sozialer Wandel 391
Die These von der Unvermeidlichkeit der weiteren funktionalen Differenzierung, der Durchratio-
nalisierung und der unumkehrbaren Entzauberung der Welt ist vor allem in den 60er Jahren und
im Kontext der Hochblüte des soziologischen Funktionalismus einmal sehr populär gewesen. Sie
hat ihren deutlichsten Niederschlag in einer speziellen Variante der funktionalistischen Theorie
des sozialen Wandels gefunden – in den sog. Modernisierungstheorien (vgl. dazu u.a. die Beiträge
von Gabriel A. Almond, Joan Robinson, Walt W. Rostow, Shmuel N. Eisenstadt, Karl W.
Deutsch, Daniel Lerner oder Reinhard Bendix in dem Sammelband von Wolfgang Zapf 1971).
Die Modernisierung wird in diesen Ansätzen als die Ko-Evolution von mindestens zwei Prozes-
sen verstanden: der Industrialisierung der ökonomischen Produktion und der Differenzierung der
sozialen Struktur der Gesellschaften, einschließlich der kulturellen und der normativen, neben der
ohnehin zentralen funktionalen, Differenzierung also. Das Vorbild war der „take off“ der europäi-
schen Staaten im 19. Jahrhundert, der jetzt auf die „Entwicklung“ der dann auch so genannten
Entwicklungsländer übertragen wurde. Ganze Listen von als notwendig, teilweise sogar als hin-
reichend gedachten Bedingungen wurden dafür zusammengestellt: die Bereitstellung einer gewis-
sen materiellen Infrastruktur, wie Eisenbahn- und Straßennetze und das nötige Humankapital bei
der Bevölkerung, die Demokratisierung der Politik als wichtigste institutionale Voraussetzung
und die Diffusion gewisser kultureller Wertvorstellungen, wie etwa die protestantische Ethik oder
ein funktionales Äquivalent dazu. Typischerweise werden dabei dann drei (bzw. vier) Phasen un-
terschieden: die vorindustrielle, die frühindustrielle, die spätindustrielle und die postindustrielle
(oder postmoderne) Phase einer „reflexiven Modernisierung“, wie es auch manchmal heißt. Die
verschiedenen Phasen lassen sich durch das Übergewicht bestimmter Sektoren der Beschäftigung
kennzeichnen: die frühindustrielle Phase durch das Übergewicht des primären Sektors der land-
wirtschaftlichen Produktion, die frühindustrielle über das Aufkommen des sekundären Sektors
der industriellen Produktion, die spätindustrielle Phase über den Übergang zum tertiären Sektor
der Dienstleistungen und schließlich die postindustrielle Phase durch das Vordringen des quart-
ären Sektors der Verarbeitung und Verbreitung von Wissen und Informationen.
Inzwischen hat sich zwar gezeigt, daß die „Entwicklung“ hin zur Modernisierung
ein sehr viel verschlungenerer Weg ist, als damals in den 60er Jahren mancher
geglaubt hat. Und viele Schwellenländer sind wieder auf einen Stand abge-
rutscht, der ihre weitere Entwicklung kaum denkbar erscheinen läßt. Aber empi-
risch findet ein solcher Prozeß ohne Zweifel statt, und es gibt viele theoretische
Gründe, warum das auch kaum anders zu erwarten ist. Nahezu überall haben sich
beispielsweise die Gewichte in den Sektoren der Beschäftigung in der Tat in der
beschriebenen Sequenz verlagert – und sie tun das auch weiter. Und manches,
was wie ein „Rückschritt“ bei der Modernisierung aussieht, wie die nationalisti-
schen, ethnischen und religiösen Partikularbewegungen in der Folge der Trans-
formation nach 1989, ist vielleicht nur ein kleiner Schlenker auf dem breiten Pfad
der Globalisierung, auf dem die ganze Welt sich inzwischen offenbar befindet.35
35
Vgl. dazu Hartmut Esser, Ethnische Differenzierung und moderne Gesellschaft, in: Zeit-
schrift für Soziologie, 17, 1988, S. 246f.
392 Die Konstruktion der Gesellschaft
Der funktionalistische Ansatz der Soziologie des sozialen Wandels läßt sich über
die drei o.a. Dimensionen dann so beschreiben: Er geht nicht von den Konflikten
als bewegendem Mechanismus aus, sondern von der differentiellen funktionalen
Reproduktion von Gesellschaften in evolutionärer „Konkurrenz“ zu den jeweils
anderen. Im Grunde ist der Weg weitgehend auch schon – von den Anfängen in
den Saatbeet-Gesellschaften ausgehend – endogen angelegt. Die Überwindung
der verschiedenen Schwellen des Übergangs von der segmentären zur stratifika-
torischen und von dort zur funktionalen Differenzierung ist dann allerdings wie-
der von gewissen „exogenen“ Umständen, gelegentlich sogar zufälligen Konstel-
lationen abhängig, wie etwa die Entstehung erster Formen der sozialen Schich-
tung in den Gartenbaugesellschaften oder die „Demokratisierung“ der Adelsge-
sellschaften durch den ökonomisch erzwungenen Verkauf von Privilegien an
Nicht-Adlige, wovon dann der ganze Prozeß einen neuen Schub erhalten konnte
(vgl. dazu auch noch Abschnitt 9.2 unten in diesem Band). Sicher ist die funktio-
nalistische Theorie des sozialen Wandels nicht teleologisch in dem Sinne, wie
das Karl Marx für seine Theorie angenommen hatte. Aber es ist, wie wir vor al-
lem an den sog. Modernisierungstheorien gesehen haben, schon eine Art von
Quasi-Teleologie gewesen: Alle Gesellschaften werden schließlich von dem Pro-
zeß der funktionalen Differenzierung erfaßt, und die endgültige Modernisierung
der Welt ist nur eine Frage der Zeit.
Dem funktionalistischen Ansatz der Soziologie des sozialen Wandels ist schon
während seiner Blüte in den 60er Jahren viel vorgehalten worden: Er sei zu sehr
an den Gleichgewichten orientiert gewesen, er habe die Bedeutung von Konflik-
ten und endogener Prozesse der Spannungserzeugung unterschätzt und er sei im
Grunde gar nicht explanativ, weil man mit „Leitformeln“ wie dies das AGIL-
Schema eine ist, nicht wirklich erklären könne. Vor allem aber wurde ihm vor-
gehalten, nur eine „unilineare“ Entwicklung zu kennen, und daß dies weder all-
gemein auf den sozialen Wandel noch gar auf jenen speziellen Fall des Wandels,
den der Modernisierung, zutreffe.
Und in der Tat. Die Modernisierung war und ist alles andere als ein froher Weg in eine differen-
zierte Zukunft.36 Die Ausdifferenzierung funktionaler Sphären ist ein zunächst ganz und gar un-
36
Vgl. zu dieser Korrektur der unilinearen Konzepte der Modernisierung insbesondere Diet-
rich Rüschemeyer, Reflections on Structural Differentiation, in: Zeitschrift für Soziologie,
Sozialer Wandel 393
wahrscheinlicher Prozeß und an viele einzelne Bedingungen gebunden. Es „muß“ einen gewissen
nachhaltigen „Druck“ zur Einrichtung von arbeitsteiliger Spezialisierung geben, wie etwa die Zu-
nahme der Bevölkerung. Weil es sich bei der Spezialisierung um ein soziales Dilemma handelt,
bei dem normalerweise zu erwarten ist, daß sich niemand daran beteiligt, weil er sich zunächst
einseitig von allen anderen abhängig macht, muß es selektive Anreize geben und/oder gewisse
Versicherungen, daß die Spezialisierung nicht ausgenutzt wird (vgl. dazu auch noch Band 3, „So-
ziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Allein deshalb dürfen auch bei je-
dem einzelnen „Schub“ an funktionaler Differenzierung die unvermeidlichen Kosten, wie Ano-
mie, Entfremdung, ohne Zweifel auch für gewisse Teile der Bevölkerung materielle Not und
Ausbeutung, nicht zu hoch sein. Die „evolutionäre“ Ausdifferenzierung verläuft allein daher nicht
ohne Gegenbewegungen, nicht ohne Stagnationen oder auch Regredierungen auf „vormoderne“
Verhältnisse, wie etwa im Iran, in Rußland oder im ehemaligen Jugoslawien. Die soziale Diffe-
renzierung kann auch dauerhaft gestoppt werden, wenn die Folgeprobleme keine institutionelle
Lösung finden oder die Machteliten andere Verhältnisse auch gegen den mainstream durchzuset-
zen vermögen, wie etwa derzeit in China oder in Kuba. Es kann auch zu enormen Schüben einer
partiellen Modernisierung und gleichzeitig zu grausigen Formen des Rückfalls in die Barbarei
kommen, wie im sog. Dritten Reich, zur Persistenz kastenähnlicher Verhältnisse inmitten einer
weit getriebenen Modernität, wie in den USA mit der Quasi-Kaste der Farbigen, oder zu Re-
Feudalisierungen bereits moderner Gesellschaften, wie in den westeuropäischen Gesellschaften in
der Folge der Arbeitsmigration.
Die allgemeine theoretische Lehre aus allen diesen Beobachtungen liegt auf der
Hand, und sie ist mit dem neueren Konzept der Evolution eigentlich ganz selbst-
verständlich: Es gibt vielleicht zwar empirische „Richtungen“ des Wandels, aber
es gibt keine Unvermeidlichkeit, keine Unumkehrbarkeit und kein festes Ziel der
„Entwicklung“. Kurz: Es gibt kein „Gesetz“ des sozialen Wandels und auch kei-
nes einer unilinearen Evolution.
In Abschnitt 7.2 haben wir gesehen, wie man sich das vorzustellen hat: Die
Beobachtung einer unilinearen Sequenz muß theoretisch in verschiedene Schritte
zerlegt werden, und dann wird klar, daß an jedem Übergang ein neues Erklä-
rungsproblem beginnt und daß jeweils auch ganz neue externe Ereignisse eintre-
ten können, die den „endogenen“ Pfad der Entwicklung stoppen, umkehren oder
auf eine ganz andere Bahn mit einer evtl. neuen eigenen Entwicklungsdynamik
zu bringen vermögen. Das ist das Konzept der multilinearen Evolution (vgl. dazu
die Zusammenfassung bei Randall und Strasser 1979, S. 82ff.). Es besagt, daß
sich die Gesellschaften der Menschen entlang von unterschiedlichen Pfaden ent-
falten und ganz verschiedene Typen von Gesellschaften mit ihrer jeweils eigenen
Entwicklungsdynamik hervorbringen können, wobei sich die verschiedenen ko-
existierenden Pfade und Typen wiederum gegenseitig zu beeinflussen vermögen.
Es ist eigentlich nichts weiter als die konsequente Anwendung der Grundgedan-
ken der (neueren) Evolutionstheorie der differentiellen Reproduktion der Arten
auf die Gesellschaften der Menschen. Wichtige frühe Vertreter dieser Konzepti-
on waren die Anthropologen Marshall D. Sahlins und Elman R. Service. Neuere
Beiträge sind die von Marvin Harris, Stephen K. Sanderson und Gerhard bzw.
Jean Lenski.37
37
Siehe Marshall D. Sahlins und Elman R. Service (Hrsg.), Evolution and Culture, Ann Ar-
bor 1960; Stephen K. Sanderson, Macrosociology. An Introduction to Human Societies,
2. Aufl., New York 1991; Sanderson 1990, Kapitel 10; Gerhard Lenski, Macht und Privi-
leg. Eine Theorie der sozialen Schichtung, Frankfurt/M. 1973; Gerhard Lenski und Jean
Lenski, Human Societies. An Introduction to Macrosociology, 5. Aufl., New York u.a.
1987; Marvin Harris, Kulturanthropologie. Ein Lehrbuch, Frankfurt/M. und New York
1989. Vgl. dazu auch noch Abschnitt 9.2 in diesem Band.
38
Michael Schmid, Soziologische Evolutionstheorie, in: Michael Schmid, Soziales Handeln
und strukturelle Selektion. Beiträge zur Theorie sozialer Systeme, Opladen und Wiesba-
den 1998, S. 264ff.
Sozialer Wandel 395
petenzen jenen Veränderungsdruck hervorrufen, auf den die Akteure mit gleichbleibend unsiche-
ren Erfolgsaussichten reagieren oder aber die soziale Bühne verlassen müssen.“ (Schmid 1998, S.
278f.)
Das war in der Tat ein Satz, wennzwar ein langer, aber auch ein eindeutiger. Ste-
phen K. Sanderson faßt die gleiche Grundidee sehr viel ausführlicher in neun
Regeln einer seiner Ansicht nach angemessenen Erklärung des evolutionären so-
zialen Wandels zusammen. Sie lauten:
„1. recognize general directional trends in world history, while at the same time acknowledging
the importance of many forms of historical uniqueness and divergence;
2. eschew any sort of developmentalist explanatory principle, i.e., refuse to explain directional
trends in world history as the result of some sort of unfolding of a predetermined pattern from be-
ginning to end; a good evolutionary theory is antidevelopmentalist and antiteleological;
4. start with the assumption that evolutionary events are adaptations, while at the same time re-
cognizing that these adaptations may not lead to any absolute improvement in adaptedness (and in
fact may be associated with decreases in overall absolute adaptedness); it therefore eschews any
identification of evolutionary transformation with social progress;
5. make the individual, rather than some abstract social system, the unit of adaptation and thus as-
sume that evolutionary events are somehow rooted in the cost-benefit calculations of individuals
caught up in particular circumstances;
6. see evolutionary events as the product of human agency, while recognizing that much of what
happens in these events is different from, or even contradictory to, human intentions; in other
words, a good evolutionary theory takes seriously Giddens’s notion of the duality of structure in
social life;
7. eschew any strict endogenism with respect to the ‚location‘ of evolutionary events; sociocultu-
ral evolution occurs not only within societies, but also within whole networks or ‚world-systems‘
of societies, and it is often impossible to understand evolution within a single society without situ-
ating that society within its larger ‚world-systemic‘context; this is especially true in the modern
capitalist world, but it is also true to a considerable extent in many precapitalist social systems;
8. assume that both ‚gradualist‘ and ‚punctuationalist‘ forms of change characterize the social
evolutionary record; the pace of change varies from one historical situation to another, and it is a
matter for empirical study;
9. eschew any overly close identification of sociocultural evolution with biological evolution;
while the two forms of evolution have much in common, and thus while social evolutionists can
learn from biological evolutionists, theories of social evolution must be formulated and evaluated
largely on their own terms“. (Sanderson 1990, S. 223f.)
396 Die Konstruktion der Gesellschaft
Dem ist nicht mehr viel hinzuzufügen. Es ist der letzte Stand der Dinge. Nicht
ohne Grund gehen nahezu alle aktuellen soziologischen Beiträge zum sozialen
Wandel davon aus, daß es zwar unter Umständen Richtungen des sozialen Wan-
dels gibt, daß es sich dabei aber um ein Geschehen handelt, das nur noch als Re-
sultat komplexer „polykontextoraler“ Prozesse von in „Figurationen“ verflochte-
nen Akteuren verstanden werden kann, die den sozialen Wandel, etwa die Ko-
Evolution der abendländischen Zivilisation und der Affektkontrolle der Men-
schen, wie sie Norbert Elias so eindringlich beschrieben hat, unabhängig und
auch gegen ihre Absichten hervorbringen.39
Das Konzept der multilinearen Evolution entspricht, bis in die Einzelheiten, wie
man an den allgemeinen Äußerungen von Schmid und an den neun speziellen
Regeln von Sanderson leicht sieht, vollauf dem Konzept einer richtigen soziolo-
gischen Erklärung. Die sich in funktionalen Gleichgewichten der Reproduktion
vollziehende Nutzenproduktion und deren materiellen und institutionellen
Grundlagen und kulturellen Rahmungen sind der Kern des Geschehens, und –
exogene wie endogene – Änderungen an einzelnen Stellen ziehen Änderungen
an anderen Stellen und im ganzen „System“ der Nutzenproduktion nach sich. Bei
der Analyse des Geschehens werden daher sowohl die funktionalen Gleichge-
wichte wie die inneren und äußeren Spannungen, die endogenen Verkettungen
wie die exogenen „Störungen“, wie auch die „kausale“ Eigendynamik und die
evolutionäre Offenheit als jeweils gleichermaßen mögliche Varianten der Vor-
gänge beachtet. Und es führt, weil es die übergreifenden und vereinfachenden
„Gesetze“ des sozialen Wandels nicht gibt, auch kein Weg an der oft mühevollen
Rekonstruktion des sozialen Wandels als Sequenz von Makro-Mikro-Makro-
Übergängen vorbei. Das Modell der soziologischen Erklärung wäre daher die
Methode der Wahl für jede Analyse des sozialen Wandels, auch wenn viele, die
intuitiv den gleichen Grundgedanken haben, nicht viel davon wissen (wollen)
und meinen, daß es ausreiche, die nicht selten komplizierten Zusammenhänge,
etwa der Aggregation und der Transformation der individuellen Effekte in die
emergenten evolutionären Prozesse und Strukturen, bloß verbal zu beschreiben,
in Kästchen aus dem verstaubten Fond des AGIL- Funktionalismus einzusortie-
ren oder mit neumodischen systemtheoretischen oder postmodernistischen Vo-
kabeln nur noch einmal zu wiederholen, was man gerade sieht.
39
Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische
Untersuchungen, Band 1 und 2, Frankfurt/M. 1976a,b.
Sozialer Wandel 397
Vor allem aber ist jetzt jeder Rest an Teleologie und an der Vorstellung auf-
gegeben, als gäbe es so etwas wie übergreifende „Gesetze“ der Evolution und
des sozialen Wandels und als hätten die Menschen mit allen diesen Vorgängen
nichts zu tun. Natürlich haben sie damit zu tun. Wer denn sonst? Und das gilt
auch dann, wenn die einzelnen Akteure und Beobachter des Geschehens oft den
Eindruck haben, daß die „Geschichte“ über ihre Köpfe hinwegfegt und sich nie-
mand dagegen sträuben kann.
Kapitel 8
Mit dem Ende des Traumes von den soziologischen Bewegungsgesetzen der
Gesellschaft und mit dem Konzept der nach vorne offenen multilinearen
Evolution sind wir bei einem uralten und bis heute nicht gelösten Problem
angelangt – dem Verhältnis von Soziologie und Geschichte. Denn: Wenn es
keine besonderen soziologischen „Gesetze“ des sozialen Wandels gibt und wenn
alles ohnehin auf die situationslogische Rekonstruktion der sozialen Prozesse
und auf die Beschreibung der Randbedingungen einschließlich gewisser
„exogener“ Ereignisse hinausläuft – was tun denn die Historiker dann anderes als
das, was eine gute soziologische Erklärung verlangt? Und müssen dann nicht die
Soziologen, wenn sie an die Rekonstruktion der Situationslogiken gehen, denen
die Akteure unterworfen sind, eigentlich genauso vorgehen wie die Historiker?
Und was ist dann mit den altehrwürdigen Abgrenzungen, etwa zwischen
Einmaligkeit und Allgemeinheit, Verstehen und Erklären, Sinn und Kausalität,
Freiheit und Notwendigkeit und dergleichen, an die sich die Soziologen und die
Historiker so sehr gewöhnt haben und aus denen sich eine lange Zeit die
gegenseitigen Abgrenzungen, Vorhaltungen, Überlegenheitsansprüche – und
Einseitigkeiten – speisten?
Wir wollen das etwas sperrige Thema des Verhältnisses von Soziologie und
Geschichte mit einer „Geschichte“ beginnen – dem traurigen Kapitel des
blutigen Zerfalls von Jugoslawien zu Beginn der 90er Jahre mit seinen teilweise
unglaublichen Einzelereignissen und vor allem mit dem Ausbruch ethno-
religiöser Feindseligkeiten, die man am Ende des 20. Jahrhunderts eigentlich
nicht für möglich hätte halten sollen.1 Ohne Zweifel handelt es sich dabei um
1
Vgl. für Zusammenfassungen der Abläufe und Hintergründe u.a. Marie-Janine Calic,
Krieg und Frieden in Bosnien-Hercegovina, Frankfurt/M. 1996; George Schöpflin, The
400 Die Konstruktion der Gesellschaft
Zuerst also in aller Kürze die Vorgeschichte. Jugoslawien entstand als staatliches
Gebilde am 1. Dezember 1918 als Zusammenfassung der Völker der Serben,
Rise and Fall of Yugoslavia, in: John McGarry und Brendan O’Leary (Hrsg.), The Politics
of Ethnic Conflict Regulation. Case Studies of Protracted Ethnic Conflicts, London und
New York 1993, S. 172-203; Barry R. Weingast, Constructing Trust: The Political and
Economic Roots of Ethnic and Regional Conflict, in: Karol Soltan, Eric M. Uslaner und
Virginia Haufler (Hrsg.), Institutions and Social Order, Ann Arbor 1998, S. 176-180;
Russell Hardin, One For All. The Logic of Group Conflict, Princeton, N.J., 1995, S. 156-
163; sowie verschiedene Einzelbeiträge bei Josip Furkes und Karl-Heinz Schlarp (Hrsg.),
Jugoslawien: Ein Staat zerfällt. Der Balkan – Europas Pulverfaß, Reinbek 1991; oder neu-
erdings in Dunja Mel"i! (Hrsg.), Der Jugoslawien-Krieg. Handbuch zu Vorgeschichte,
Verlauf und Konsequenzen, Opladen und Wiesbaden 1999.
Soziologie und Geschichte 401
Kroaten und Slowenen unter einer Nation. Es erhielt seinen Namen jedoch erst
im Jahre 1929. Seine Gründung war die Folge der Neuordnung Europas nach
dem Ersten Weltkrieg und insbesondere des Zusammenbruchs des
Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn. Sie folgte den schon im 19. Jahrhundert,
wie auch anderswo in Europa, aufkommenden Ideen der übergreifenden
nationalen Einigung von bis dahin unterschiedlichen Gruppierungen, „Stämmen“
und „Völkern“ unter einem staatlichen Dach. Hier war das die Idee des
„Illyrismus“, die Annahme einer ethnischen, kulturellen und sprachlichen
Verwandtschaft der in dem Gebiet des Balkan lebenden Slawen. Einer der
Hintergründe dieser Vorstellung war dabei die gemeinsame Gegnerschaft gegen
die österreichische Herrschaft, die alle damals bestehenden Unterschiede
überlagerte, so wie es etwa die deutsche Nationalstaatsbewegung kaum ohne die
napoleonischen Eroberungen gegeben hätte. Von Beginn an litt der neue Staat
jedoch, bei allen Interessengemeinsamkeiten der Gruppen und Völker, unter
enormen Integrationsproblemen, die sich aus der Gleichzeitigkeit von
Unterschieden auf sehr verschiedenen Dimensionen ergaben: massive
Unterschiede in den Rechts-, Wirtschafts- und Verwaltungsstrukturen, separierte
Arbeits- und Warenmärkte und – vor allem – ein deutliches Gefälle in der
ökonomischen Leistungsfähigkeit zwischen den von den Slowenen und Kroaten
mehrheitlich bewohnten Regionen im Norden einerseits und den von den Serben
im Süden andererseits. Erst nach längerem Tauziehen wurde 1921 eine
zentralistische Verfassung für den ganzen Staat erlassen, die jedoch der
Gegenstand dauerhafter Auseinandersetzungen blieb.
Der Grund dafür war auch leicht einzusehen: eine deutliche „Statusinkonsistenz“ zwischen
den Serben einerseits und den Kroaten bzw. Slowenen andererseits sowie ein daran anknüp-
fender „konstitutioneller“ Konflikt: Die Serben hatten die politische Vorrrangstellung inne,
die Kroaten und die Slowenen die ökonomische. Das speiste die Auseinandersetzungen um
die grundlegende Frage einer stärkeren Zentralisierung des Staates oder einer stärkeren Föde-
ralisierung – wobei Sie dreimal raten dürfen, wer für die Zentralisierung und wer für die Fö-
deralisierung war. Das Problem wurde dann noch einmal durch den Sachverhalt verschärft,
daß es sowohl Serben gab, die auf kroatischem (und slowenischem) Gebiet lebten, wie Kroa-
ten (und Slowenen), die in Serbien wohnten.
Alles aber hielt zusammen, weil es dafür eine Reihe, wenngleich verschiedener
guter Gründe für jede der Gruppen gab und weil jede Gruppe von der Einheit
immer noch mehr hatte als von der Selbständigkeit. Aber das Gleichgewicht war
nur labil und von einer Reihe von blutigen Ereignissen durchzogen. Und daher
war es kein Wunder, daß der Staat mit dem Überfall durch die Nazis im Jahre
1941 sofort kollabierte. Die Ereignisse im Zweiten Weltkrieg verschärften dann
die zuvor, trotz aller auch blutigen Einzelvorfälle, eher nur latenten Gegensätze
auf eine dramatische Weise: Kroatien begann unter dem nazitreuen Ustasa-
Regime ab 1941 mit Unterstützung durch die deutsche Besatzung mit grausamen
402 Die Konstruktion der Gesellschaft
Unter Tito verschwinden also die ethno-regionalen Konflikte nicht, sie sind aber
deutlich entschärft, wenngleich die strukturellen Hintergründe geblieben sind. Es
folgt nun eine längere Zeit der friedlichen Koexistenz, nicht zuletzt auch der
Bevölkerung in den ethnisch gemischten Gebieten. Dafür gibt es eine Reihe von
Gründen, und nicht der geringste davon ist die charismatische Gestalt Titos
selbst. Wichtiger als seine „Persönlichkeit“ sind aber die von ihm getroffenen
institutionellen Maßnahmen zur Integration des Landes und zur Erhaltung des
Gleichgewichts zwischen den Gruppen und Regionen gewesen.
Drei Dinge sind es insbesondere, die dazu beitragen. Erstens wurden nun viele Entscheidun-
gen dezentralisiert, so daß die serbisch kontrollierte Zentrale an Macht verlor und – insbeson-
dere – ihr politisches und militätisches Potential nicht einfach gegen die anderen Gruppen
einsetzen konnte. Tito verbot zweitens jede Möglichkeit der politischen Beschwerde der
Gruppen gegeneinander. Und drittens wurde für die Entscheidungen, die den Gesamtstaat be-
trafen, das Veto-Recht eingeführt. Alles das hatte zur Folge, daß keine der Gruppen einen Al-
leingang der jeweils anderen befürchten mußte und daß sich – bei allen Interessengegensät-
zen – ein gewisses Klima des gegenseitigen Vertrauens herausbilden und stabilisieren konnte.
Atmosphäre der Unsicherheit über den weiteren Weg startet Miloševi! eine
ethnizistische Kampagne mit der Propagierung der Idee eines großserbischen
Reiches. Das Ziel von Miloševi! ist klar: Er will mit dieser Kampagne seine
Stellung in Serbien festigen, deren Basis die politische Macht und die Kontrolle
über die jugoslawische Armee ist. Das hat aber zunächst nur geringe
Auswirkungen: Die Menschen selbst in Serbien unmittelbar haben keinen Sinn
für die nationalistischen Tiraden und Provokationen von Miloševi!.
Dies leitet zur dritten Phase über: die „Ethnisierung“ der jugoslawischen
Situation. Viele einzelne, sich teilweise gegenseitig bedingende und verstärkende
Ereignisse gab es auf diesem Pfad in den, wie sich schließlich zeigte,
gnadenlosen Krieg aller ethnischen und religiösen Gruppen gegen alle.
Milsovic brach zunächst das unter Tito eingehaltene Verdikt feindseliger Äußerungen über
die anderen Gruppen und er begann gleichzeitig damit, die serbisch kontrollierte Armee auf-
zurüsten, was den Beschwörungen eines großserbischen Reiches und den verbalen Attacken
auf die anderen Gruppen einen auch objektiv bedrohlichen Hintergrund gab. Als Reaktion
darauf verstärkten die Kroaten (und die Slowenen) ihrerseits Maßnahmen zu ihrer Sicherung,
zumal Miloševi! beispielsweise im Konflikt mit den Albanern im Kosovo sichtbar jede Zu-
rückhaltung aufgegeben hatte und sich offenkundig an keinerlei Abmachungen hielt. Die kro-
atischen Reaktionen ihrerseits verstärkten die Attacken von Miloševi! nur weiter. Kroatien
startete daraufhin schließlich unter Franco Tudjman, ebenfalls einem Alt-Kommunisten, mit
Unabhängigkeitsbestrebungen und übernahm in diesem Zusammenhang auch die Symbole
und die Flagge des Ustasa-Regimes – seinerseits eine Provokation an Serbien ohnegleichen.
Der wohl wichtigste Schritt in die blutige Ethnisierung der Konflikte war aber die Aufnahme
eines Guerillakrieges zwischen Kroaten und Serben auf dem Gebiet Kroatiens. Es begann mit
der Ausgliederung der Serben aus der kroatischen Polizei, weil man sich – angeblich – der
Loyalität der in Kroatien lebenden Serben nicht mehr gewiß war. Die kroatischen Serben in-
terpretierten diesen Schritt natürlich nicht nur als Beschneidung von Gleichheitsrechten, son-
dern als unmittelbaren feindseligen Akt. Und wie kaum anders zu erwarten war, kam es dann
auch tatsächlich zu Grausamkeiten – und zwar: auf beiden Seiten. Und die mußte jede Seite
dann wiederum als Beweis für die grundsätzliche Feindseligkeit der jeweils anderen Seite in-
terpretieren. Alles fand überdies im Fernsehen, das die blutigen Bilder in jedes Wohnzimmer
übermittelte, und somit vor den Augen einer weltweiten Öffentlichkeit statt, und jede der Par-
teien versuchte sich in den Bezichtigungen der jeweils anderen Seite durch das Herzeigen
grausamster Bilder von Untaten der jeweiligen Gegenseite zu überbieten.
die „Verfassung“ des Staates gebracht hatten. Die Spaltung der Einheitspartei
zog die Auflösung des jugoslawischen Rechtssystems nach sich. Mit der auch
aufgrund der politischen Ereignisse sich weiter verschlechternden
wirtschaftlichen Situation verschärften sich die mit den Transferleistungen des
Nordens an den Süden bestehenden Spannungen noch weiter. Im März 1990
erklärte Slowenien schließlich seine wirtschaftliche Unabhängigkeit und stellte
alle Zahlungen an den Bund ein. Nach und nach gingen nun alle Teilrepubliken
zu einer Art von Wirtschaftskrieg gegeneinander über und zu einer jeweils
eigenständigen Poltik. Diese dritte Phase der Ethnisierung und der
„Balkanisierung“ des Balkans endet mit Souveränitätserklärungen der meisten
jugoslawischen Teilrepubliken um die Jahreswende 1990/1.
Diese Ereignisse leiten unmittelbar zur vierten Phase, zum endgültigen Zerfall
des jugoslawischen Staates und zum anschließenden Krieg zwischen Kroatien
und Serbien über, bei dem die deutsche Bundesregierung über die relativ rasche
völkerrechtliche Anerkennung von Kroatien und Slowenien eine
beschleunigende und den Konflikt wohl auch intensivierende Rolle spielte, weil
gerade dadurch auch die alten Ressentiments aus dem Zweiten Weltkrieg wieder
neue Nahrung finden konnten. Der Außenminister Genscher und schließlich auch
die EG insgesamt fungierten dabei aber, so kann man es durchaus sehen, eher nur
als Hebammen, die die Geburt der neuen Staaten erleichterten (und den Tod des
alten Staates besiegelten), letztlich aber daran ursächlich nicht weiter beteiligt
waren.
Mit der auch formell anerkannten Selbständigkeit von Slowenien und
Kroatien beginnt schließlich eine Entwicklung, die bis heute nicht abgeschlossen
ist, deren Grundstrukturen aber aufgrund der voraufgegangenen Ereignisse und
Basislinien unschwer zu erkennen sind: die Koninzidenz von materiellen und
institutionellen Grenzziehungen und dadurch strukturierten Interessenkonflikten,
die auf tief eingelagerte ethnische, kulturelle und religöse Unterschiede treffen,
die durch historische Erfahrungen verfestigt sind und durch aktuelle Ereignisse
immer wieder neu bestätigt und bestärkt werden: eine Tragödie vor unseren
Augen, die offenkundig auch nicht dadurch beendet werden kann, daß man
inzwischen ziemlich genau weiß, was geschah und warum sich alles so ereignete,
wie es denn passiert ist.
Historische Erklärungen
So wie oben sehen viele Beiträge zur Erklärung des Geschehens in Jugoslawien
aus: Die groben Züge der Abläufe werden erkennbar, man „versteht“ auch
irgendwie die Zusammenhänge, wenigstens besser als vorher, und man bekommt
406 Die Konstruktion der Gesellschaft
auch schon eine Vorstellung über die eigenartige „Logik“, die das Ganze erzeugt
und vorangetrieben hat. Letztlich zufrieden ist aber kaum jemand: Für die
Historiker dürfte die Darstellung, wenngleich vielleicht nicht grob falsch, so
doch an vielen Stellen viel zu ungenau und unvollständig sein, und für die
Soziologen ist wohl viel zu wenig an „richtiger“ Erklärung und viel zu viel an
bloßer historischer „Narration“ darin, der besonders die Seniorenstudenten so
gerne lauschen. Und beide haben jeweils auch nicht Unrecht. Hinter diesem
Unbehagen steckt ein alter Streit, der sich besonders im deutschsprachigen
Bereich kultiviert hat: Eigentlich könne es, so meinen die Historiker oft, bei
historischen Abläufen gar keine „Erklärung“ geben, jedenfalls keine, die den
Regeln der Hempel-Oppenheim-Erklärung (oder kurz: H-O-Erklärung) zu folgen
versuche – sofern sie überhaupt wissen, was das ist (vgl. dazu schon Kapitel 4,
„Die Logik der Erklärung“, in der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“).
Denn: Es gebe keine „allgemeinen“ Gesetze, deren sich eine solche „historische“ Erklärung
bedienen könne, sondern nur historische Einmaligkeiten. Und die Menschen handelten ja
auch nicht von irgendwelchen „kausalen“ Ursachen getrieben, sondern hätten – mehr oder
weniger – „gute Gründe“, denen sie in ihrem Tun folgten, und dafür gäbe es nur ein nach-
vollziehendes „Verstehen“ und eben keine „kausale“ Erklärung, wie das in den Naturwissen-
schaften vielleicht möglich wäre. Alles was ein Historiker angesichts dieser Sachlage tun
könne, wäre die möglichst korrekte Beschreibung des Geschehens – „wie es denn wirklich
gewesen ist“ – die Rekonstruktion der (subjektiven) guten Gründe der diversen Akteure und
der von deren Handeln, meist unbeabsichtigt, produzierten Folgen und die möglichst griffige
konzeptionelle Bezeichnung ganzer Komplexe des Geschehens, wie etwa als die „Französi-
sche Revolution“, als der „Zweite Weltkrieg“, als die „Wende“ oder eben auch als der „ju-
goslwische Bürgerkrieg“.
Der Streit ist bis heute nicht beigelegt, und ein Teil der Argumente von
Schmoller gegen eine analytisch-nomologisch betriebene Sozialwissenschaft lebt
heute weiter, etwa in der sog. qualitativen Sozialforschung, in weiten Teilen der
Politikwissenschaft und der sog. Zeitgeschichte oder in der soziologischen
Systemtheorie. Die (erklärenden) Soziologen ihrerseits verweisen darauf, daß
keine noch so genaue Beschreibung und keine noch so bezeichnende begriffliche
Abstraktion und Etikettierung irgendetwas zu „erklären“ vermöge und daß, wenn
die Historiker nichts weiter täten als das aufzuschreiben, was geschehen ist, alle
Fragen nach dem „warum“ unbeantwortet blieben. Insbesondere aber haben sie
schon bald eingewandt, daß die Historiker sehr wohl auch „allgemeine“ und
„kausale“ Erklärungen wenigstens beabsichtigen und sich daran auch versuchen,
und daß dies auch gar nicht anders ginge, weil jede Beschreibung
notwendigerweise in übergreifende theoretische Überlegungen eingebettet sei:
„Reine“ Beschreibungen sind unmöglich, und schon jede Selektion aus den
Myriaden von Einzelereignissen erfordere ein theoretisches Kriterium. Den
Historikern wird also vorgehalten, daß sie, ohne es freilich meist zu wissen, sehr
wohl auch „allgemeine“ Gesetze annehmen, wie etwa das, daß die Menschen
absichtsvoll, subjektiv nachvollziehbar und „verständlich“ handeln, was ja nur
ein anderer Ausdruck für ein „rationales“ Handeln ist (siehe dazu schon Kapitel
6 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Kurz: Die Besonderheiten der geschichtlichen Analyse gäben keinerlei Anlaß,
auf die Möglichkeiten einer regelrechten Erklärung nach dem Schema der H-O-
Erklärung zu verzichten.
Die methodologischen Argumente sind in einer längeren Debatte ausgetauscht
worden, und es ist inzwischen ganz gut geklärt, worin die besonderen Probleme
bei historischen Erklärungen liegen und worauf man zu achten hat.2
2
Vgl. zu diesem Streit und zur schließlichen Auflösung des Problems u.a. Wolfgang Steg-
müller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie,
Band 1: Wissenschaftliche Erklärung und Begründung, Berlin, Heidelberg und New York
1969, insbesondere Kapitel VI. Historische, psychologische und rationale Erklärung; Vik-
tor Kraft, Geschichtsforschung als strenge Wissenschaft, in: Ernst Topitsch (Hrsg.), Logik
der Sozialwissenschaften, 8. Aufl., Köln 1972, S. 72-82; Seymour M. Lipset, A Sociolo-
gist Looks at History, in: The Pacific Sociological Review, 1, 1958, S. 13-17; Hartmut Es-
ser, Klaus Klenovits und Helmut Zehnpfennig, Wissenschaftstheorie, Band 2: Funktional-
analyse und hermeneutisch-dialektische Ansätze, Stuttgart 1977, S. 104 - 121: Soziologie
und Geschichte. Siehe auch verschiedene Beiträge bei Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Ge-
schichte und Soziologie, Köln 1972; sowie Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft. Un-
tersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, Frankfurt/M.
1983, S. 9-59. Siehe für eine neuere Zusammenfassung des Standes der Diskussion Chris
Lorenz, Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie,
Köln,Weimar und Wien 1997.
408 Die Konstruktion der Gesellschaft
Das wichtigste Ergebnis war, daß es historische Erklärungen im Anschluß an das H-O-
Schema sehr wohl geben kann, daß es dabei aber ohne Zweifel zu besonderen Schwierigkei-
ten kommt, die nicht einfach übergangen werden können. Die Annäherungen sind von beiden
Seiten ausgegangen: Einerseits wird – bis auf wenige Ausnahmen – inzwischen auch von der
Soziologie anerkannt, daß es zwar vielleicht empirische Trends, aber sicher keine „allgemei-
nen“ Gesetze historischer Entwicklungen gibt und daß jede historische Erklärung die beson-
dere Situation der Akteure, ihre „guten Gründe“, ihr Handeln und die dadurch bewirkten Fol-
gen systematisch zu berücksichtigen hat. Andererseits weiß man inzwischen auch, daß die
Rekonstruktion der „guten Gründe“ der Akteure und ihr „Verstehen“ nichts anderes ist als die
„rationale“ Erklärung des Handelns der Akteure, etwa mit Hilfe der Wert-Erwartungstheorie.
Und das ist eine H-O-Erklärung. Vor diesem Hintergrund ist inzwischen auch klar, daß es
sich bei historischen Erklärungen um einen Spezialfall der sog. genetischen Erklärung han-
delt, allerdings in der Sonderversion von Sequenzen des elementaren Modells einer soziologi-
schen Erklärung mit ihren Übergängen von der Makro- zur Mikroebene und von dort wieder
auf die Makroebene hinauf (vgl. dazu schon ausführlich Teil B der „Soziologie. Allgemeinen
Grundlagen“, die Einleitung und Kapitel 6 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser
„Speziellen Grundlagen“, sowie das vorige Kapitel 7 über den sozialen Wandel in diesem
Band).
Gleichwohl würde man die Sachlage verkennen, wenn man nicht beachtete, daß
es sich bei der Erklärung der allermeisten historischen Vorgänge um Dinge
handelt, die sich nicht immer der Methodologie einer „reinen“ und vollständigen
Erklärung nach dem H-O-Schema fügen. Der Hauptgrund liegt darin, daß die
Einzelereignisse meist nur über die Zusammenführung einer Vielzahl einzelner
„Gesetze“ und „Randbedingungen“ erklärbar sind, daß manchmal ganz
unscheinbare Details dem Ganzen eine andere Wendung geben können und –
insbesondere – daß das Geschehen von einer Vielzahl externer Umstände und
Einflüsse umgeben ist, die nicht aus dem „endogenen“ Geschehen selbst folgen,
sondern „narrativ“ eingefügt werden müssen und nicht alle gleichzeitig erklärt
werden können. Das liegt einfacherweise daran, daß es eben in der Tat keine
übergreifenden Sukzessions- oder Entwicklungsgesetze gibt, sondern „nur“
Einzelereignisse, die zwar „kausal“, aber immer auch nur höchst „kontingent“,
also an gewisse exogene Bedingungen gebunden, miteinander verknüpft sind.
Für einen vergleichsweise noch sehr einfachen Fall eines bloß
naturwissenschaftlichen Geschehens hat Karl R. Popper das Problem einmal so
beschrieben:
„Wenn der Wind einen Baum schüttelt und Newtons Apfel zu Boden fällt, dann wird nie-
mand leugnen, daß diese Ereignisse mit Hilfe von Kausalgesetzen beschrieben werden kön-
nen. Es gibt jedoch nicht ein Gesetz wie das der Schwerkraft, nicht einmal ein bestimmtes
System von Gesetzen, das die tatsächliche, konkrete Sukzession kausal verknüpfter Ereignis-
se beschreiben würde. Außer der Schwerkraft müßten wir die Gesetze des Winddrucks be-
rücksichtigen, dazu noch die Schüttelbewegungen des Zweiges, die Spannung im Stengel des
Soziologie und Geschichte 409
Apfels, die Quetschung des Apfels beim Aufprall, die chemischen Prozesse, die aus der Quet-
schung des Apfels resultieren usw.“3
Darauf sind wir schon in Kapitel 7 bei der Besprechung des Verfalls der
Makrosoziologie des sozialen Wandels ausführlich eingegangen. Die Annahme
von übergreifenden Sukzessions- und Entwicklungsgesetzen war dann auch
gerade der grundlegende Fehler des von Popper so genannten Historizismus,
einer speziellen Variante der (Makro-)Soziologie des sozialen Wandels: die
Annahme, daß sich die verschiedenen Epochen der Menschheitsgeschichte zwar
„qualitativ“ unterschieden und miteinander letztlich nicht vergleichbar und jede
für sich „unmittelbar zu Gott“ wäre(n), daß sie dann aber nach einem einzigen
übergreifenden Entwicklungsgesetz aufeinander folgten. Mit dieser Vorstellung
war auch die Idee verbunden, die Geschichts- und die Gesellschafts-
wissenschaften wie die Naturwissenschaften zu betreiben und den Lauf der
historischen Prozesse wie den der Gestirne anzusehen. Karl Marx war der wohl
exponierteste Vertreter dieser Auffassung, und im Vorwort zum „Kapital“
schreibt er auch den ebenso beeindruckenden wie aus heutiger Sicht schon sehr
naiven Satz:
„Auch wenn eine Gesellschaft dem Naturgesetz ihrer Bewegung auf die Spur gekommen ist –
und es ist der letzte Endzweck dieses Werks, das ökonomische Bewegungsgesetz der moder-
nen Gesellschaft zu enthüllen –, kann sie naturgemäße Entwicklungsphasen weder übersprin-
gen noch wegdekretieren. Aber sie kann die Geburtswehen abkürzen und mildern.“4
3
Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, 4. Aufl., Tübingen 1974 (zuerst: 1960), S.
92.
4
Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Erster Band, Berlin 1969,
Vorwort zur ersten Auflage, S. 15f.
410 Die Konstruktion der Gesellschaft
In diesem Zusammenhang ist eine schon etwas ältere und heftige Auseinandersetzung zwi-
schen Gerhard Lenski und Robert A. Nisbet immer noch erwähnenswert.5 Nisbet hatte be-
hauptet, daß es eine sinnvolle Soziologie des evolutionären sozialen Wandels grundsätzlich
nicht geben könne, weil dabei eine Reihe unhaltbarer Annahmen gemacht werden müßten:
Der gesellschaftliche Wandel sei der Normalfall, er sei gerichtet, immanent, kontinuierlich
und kumulativ, notwendig und beruhe auf einigen wenigen treibenden „Ursachen“. Tatsäch-
lich sei es aber so, daß der gesellschaftliche Wandel alles andere als der Normalfall wäre, er
sei nicht gerichtet, von exogenen Faktoren bestimmt, nicht kumulativ und nicht auf wenige
„Konstanten“ zurückführbar. Nisbet hatte daraus gefolgert, daß es eigentlich nur „histori-
sche“ Beschreibungen des sozialen Wandels geben könne, aber keine soziologische „Theo-
rie“ desselben. Dem hatte Lenski, nicht zuletzt auf der Grundlage seiner eigenen intensiven
Untersuchungen zur Evolution der menschlichen Gesellschaft (vgl. dazu auch noch Abschnitt
9.2 dieses Bandes), entgegengehalten, daß man zwar sicher nicht von übergreifenden oder gar
auf ein Ziel gerichteten Prozessen der Entwicklung ausgehen könne, daß es aber dennoch
auch im sozio-kulturellen Bereich sehr wohl „gerichtete“ Entwicklungen gäbe, deren erkenn-
bare Dynamik sich ohne weiteres mit den Mitteln der modernen, kausal-erklärenden Evoluti-
onstheorie verständlich machen lasse.
Die Lehre aus diesen Streitigkeiten war dann, daß historische Erklärungen
keineswegs unmöglich, aber sicher schwierig sind und daß sie auch beim besten
Willen nicht immer „vollständig“ sein können. Warum es diese Schwierigkeiten
gibt, ist leicht gesagt: Anders als bei den „reinen“ kausal-genetischen
Erklärungen, die alleine auf endogenen Kausalsequenzen beruhen, müssen bei
den historischen Erklärungen meist Dinge eingefügt werden, die nicht sofort
auch schon selbst wieder erklärt werden können (vgl. dazu auch schon Abschnitt
7.4 dieses Bandes). Wolfgang Stegmüller nennt solche Erklärungen daher auch
historisch-genetische Erklärungen. Er erläutert, was gemeint ist, an einem
interessanten Beispiel der dabei nötigen, stets aber auch etwas unbefriedigenden
Bemühungen: die Entstehung des Ablasses. Dabei folgt er einer These des
Historikers Gottlob, der versucht hatte, den Ablaß über gewisse Motive der
Päpste und Bischöfe zu erklären und der dabei darauf stieß, daß es sich um ein
Nebenprodukt der Auseinandersetzungen zwischen dem Islam und dem
Christentum zur Zeit der Kreuzzüge gehandelt habe:
„Den Ursprung bilden danach die Glaubenskriege zwischen Christen und Mohammedanern.
Während die gläubigen Moslems, gestützt auf die Lehre Mohammeds, mit der festen Über-
zeugung in den Heiligen Krieg zogen, daß ihnen im Fall des Getötetwerdens in der Schlacht
der Himmel sicher sei, mußten sich die christlichen Glaubensstreiter die bange Frage stellen,
ob sich ihnen die Tore des Paradieses auch öffnen würden, wenn sie keine Zeit gefunden hät-
ten, rechtzeitig Buße für ihre Sünden zu tun. Solche Zweifel konnten sie dazu bewegen, lieber
5
Robert A. Nisbet, Social Change and History. Aspects of the Western Theory of Deve-
lopment, London 1969; Gerhard Lenski, History and Social Change, in: American Journal
of Sociology, 82, 1976, S. 548-564. Vgl. dazu auch Raymond Boudon, Individual Action
and Social Change: A No-Theory of Social Change, in: The British Journal of Sociology,
34, 1983, S. 1-18.
Soziologie und Geschichte 411
zu Hause zu bleiben. Die Päpste versuchten daher, diese Zweifel zu zerstreuen. So stellte be-
reits 853 Papst Leo IV. den in der Schlacht getöteten Glaubenskämpfern mit großer Zuver-
sicht den himmlischen Lohn in Aussicht. Sein Nachfolger, Papst Johannes VIII., gewährte
877 den Glaubenskriegern Absolution von ihren kirchlichen Vergehen. Diese Heilsverspre-
chen stellten zwar keine Ablässe dar, da sie sich auf tote Glaubenskämpfer und nicht auf le-
bende Büßer bezogen. Aber in einer Zeit, die so hoch vom Glaubenskrieg dachte, lag es nahe,
die Teilnahme an diesem Kampf als Äquivalent für die Bußleistungen zu betrachten. Vermut-
lich im 11. Jhd. wurde so der Erlaß der Bußstrafe erstmals als Truppenwerbemittel verwen-
det. Damit war der sogenannte Kreuzablaß geschaffen, der Erlaß der Bußstrafen als Beloh-
nung für die Teilnahme an einem Religionskrieg: ‚Erinnert man sich, welche Unbequemlich-
keiten, welche kirchlichen und bürgerlichen Nachteile die kirchlichen Bußstrafen mit sich
brachten, dann begreift man, daß die Büßer ganz eifrig zu diesem Ablasse drängten‘. Da die
kirchlichen Bußstrafen als Ersatzstrafen für die Reinigungsstrafen im Fegefeuer galten, er-
hielt der Ablaß zugleich eine transzendente Bedeutung: Wer ihn erwarb, wurde nicht nur von
den diesseitigen kirchlichen Bußstrafen, sondern auch von den entsprechenden jenseitigen
Strafen im Fegefeuer befreit. Dies bildete ein weiteres starkes Motiv, Ablaß zu begehren.
Beim Ablaß als Truppenwerbemittel blieb es aber nicht. Die Wohltaten des Ablasses wurden
zunächst auf alte und gebrechliche Personen ausgedehnt, sofern sie die Geldmittel bereitstell-
ten, um einen Ersatzmann in den Kreuzzug zu schicken. 1199 wurde von Papst Innozenz III.
allgemein die Spendung eines ausreichenden Geldalmosens als adäquates Äquivalent aner-
kannt, um an den Gnaden der Kreuzablässe teilzunehmen. Damit war der Almosenablaß ge-
schaffen: der Ablaß verwandelte sich von einem Truppenwerbemittel zu einem Mittel des
Gelderwerbs, zu einer immer häufiger geübten Form der Besteuerung der Gläubigen. In dem
Maße, als die Begeisterung für Glaubenskriege in der Bevölkerung abnahm, mußten, um sich
diese Einnahmequelle offenzuhalten, neue Wege zur Erzeugung zugkräftiger Motive für den
Erwerb von Ablässen gesucht werden. Papst Bonifaz VIII. schuf im Jahr 1300 den sogenann-
ten Jubiläumsablaß, der alle hundert Jahre wiederholt werden sollte. Vom Ablaßerwerber war
ursprünglich eine Wallfahrt nach Rom gefordert worden. Wie beim Kreuzablaß wurde aber
auch hier die persönliche Leistung durch eine dingliche Leistung: eine Geldabgabe, ersetzt.
Die große Geldsumme, die dieser Jubiläumsablaß einbrachte, führte dazu, daß das Zeitinter-
vall zwischen zwei Jubiläumsjahren sukzessive verringert wurde: zunächst auf 50, dann auf
33, schließlich auf 25 Jahre. Von 1393 an war der Ablaß nicht nur in Rom, sondern überall in
Europa über Priester erhältlich, die mit den ausgedehntesten Beichtvollmachten ausgestattet
waren. Der Gläubige konnte sich von einem Ablaßpriester zunächst durch Beichte Erlaß der
Höllenstrafen und darauf durch den Erwerb des Ablasses den Erlaß der Strafe des Fegefeuers
und weltlicher Kirchenstrafen verschaffen. Der Erwerb dieser ‚heiligen Ware‘ Ablaß wurde
durch ein eigenes Wertpapier, den Ablaßbrief, bescheinigt. Im Jahre 1477 erließ Papst Sixtus
IV. eine dogmatische Erklärung, durch die der sogenannte Totenablaß eingeführt wurde. Da-
nach war es möglich, Ablaß auch für bereits Verstorbene, für die armen Seelen im Fegefeuer,
zu erhalten.“ (Stegmüller 1969, S. 355f., Hervorhebungen im Original)
Ob die vorgeführte Theorie zur Erklärung der Entstehung des Ablasses (oder
auch die Eingangs geschilderte „Erklärung“ des Zusammenbruchs des
jugoslawischen Staates) richtig ist oder nicht und selbst ob die Einzelfakten
stimmen oder nicht, ist (diesmal) unerheblich. Wichtig ist hier nur das formale
Vorgehen: Der Historiker versucht in der „Erzählung“ der „Geschichte“ zu
zeigen, wie ein Zustand zum nächsten führt und wie man vom Anfang bis zum
Ende möglichst ohne „logische“ Lücke gelangt.
Soziologie und Geschichte 413
„Lücken“ in der kausalen Sequenz noch etwas deutlicher gemacht worden und
damit die in fast allen Fällen gegebene Notwendigkeit, sie durch „historische“
Erzählungen über zusätzliche exogene Randbedingungen zu füllen.
Die mindestens praktische Unmöglichkeit, alle diese exogenen Lücken in ein einziges Se-
quenzmodell hineinzunehmen und erklärend zu „endogenisieren“ ist es dann vor allem, was
den alten, durchaus auch bedrohlichen Traum von dem übergreifenden Gesetz der Geschichte
zur unhaltbaren Utopie werden läßt. Außerdem muß immer mit „Zufällen“ gerechnet werden,
die, an der historisch jeweils „richtigen“ Stelle, einen gerichteten Prozeß in eine ganz andere
Bahn lenken können. Was wäre beispielsweise geschehen, wenn Stauffenberg Hitler wirklich
getötet hätte? Oder was, wenn die Leipziger Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989
gleich nach den 40-Jahresfeiern zur Gründung der DDR aufgrund einer anderen Stimmung
im Politbüro der SED zusammengeschossen worden wäre? Und was, wenn Tito im
Partisanenkrieg gefallen wäre? Bei manchen dieser Beispiele ahnen wir, daß die Geschichte
sehr wohl hätte anders verlaufen können, wie etwa beim Attentat auf Hitler, bei anderen wohl
weniger, wie beim Zerfall der DDR, die ja schon strukturell auf nur sehr schwachen Füßen
stand. Die eigenständige „Wirkung“ von Tito auf die Entstehung des jugoslawischen Ein-
heitsstaates nach 1945 ist schwer einzuschätzen. Aber weil die Verhältnisse dort letztlich im-
mer schon recht indifferent waren, kann man schon von einem großen Einfluß einer einzelnen
charismatischen Person ausgehen. Die Historiker könnten uns sicher mehr dazu erzählen, a-
ber klären kann man solche Fragen letztlich wohl nie: In der Geschichte gibt es weder Wie-
derholungen noch Experimente.
Solche Einzelzufälle, die einer ganzen Geschichte eine andere Richtung geben
können, werden auch als Cournot-Effekte bezeichnet. Dazu gehört auch das
mehr oder weniger akzidentelle Zusammentreffen verschiedener nicht-zufälliger
Entwicklungen an einem bestimmten „historischen“ Punkt.6 Alles kommt
zusammen, wie der Eisberg und die Titanic, und wirklich nicht viel hätte gefehlt,
daß alles auch hätte anders kommen können. Solche Cournot-Effekte können,
weil sie eben auf dem „Zufall“ beruhen, grundsätzlich nur als exogene Einflüsse
narrativ eingefügt werden. Leider weiß man nicht immer, ob es wirklich ein
Zufall war oder irgendeine unerkannte „logische“ Konsequenz des
vorhergehenden Geschehens. Und weil ein Wissenschaftler eigentlich nie so
recht mit der Erklärung zufrieden ist, daß es eben der Zufall war, der alles
bewirkte, sucht er unverdrossen weiter nach Hinweisen, die entweder den Zufall
als unwichtig erscheinen lassen, wie etwa starke „strukturelle“ Kräfte, die den
Zufall letztlich überspielen, oder aber ihn als endogenen Faktor des Geschehens
erkennbar werden lassen, wie etwa Hitler oder Tito als Figuren der Geschichte,
die sich auch in anderen Personen manifestiert hätten, weil die Zeit einfach „reif“
für sie war.
6
Vgl. Raymond Boudon, Theories of Social Change. A Critical Appraisal, Cambridge
1986, S. 173ff. Vgl. zu diesem Problem allgemein auch Fritz W. Scharpf, Games Real
Actors Play. Actor-Centered Institutionalism in Policy Research, Boulder, Col., und Ox-
ford 1997, Kapitel 1: Policy Research in the Face of Complexity, S. 22ff. insbesondere.
414 Die Konstruktion der Gesellschaft
Insgesamt aber wird jetzt vollends klar, daß eine „historische“ Erklärung von der
grundlegenden Logik her nichts anderes ist als das, was auch in einer
soziologischen Erklärung geschieht, die ja auch nicht immer „vollständig“ sein
kann und stets auch immer mit „exogenen“ Annahmen „narrativ“ gefüllt werden
muß: Es müssen immer die jeweiligen Randbedingungen korrekt beschrieben
und es muß daran anschließend das Handeln der Akteure „verstehend“ erklärt
werden, dessen Folgen dann wieder wenigstens einen Teil der Randbedingungen
für die nächste Sequenz bilden. Aber es können nicht alle wichtigen
Randbedingungen wiederum in derselben Analyse ihrerseits erklärt werden.
Beschreiben und „verstehen“ müssen also auch die Soziologen, und „erklären“
wollen ja auch die meisten Historiker. Und beide müßten eigentlich der gleichen
Methodologie folgen – dem Modell der soziologischen Erklärung. Warum dann
also überhaupt noch zwei verschiedene Disziplinen?
Das ist eine gute Frage, die allein deshalb meist nur verlegene Antworten
nach sich zieht, weil es in der Tat kaum einen wirklich stichhaltigen Grund für
die Trennung von Soziologie und Geschichte gibt. Eigentlich sollte es, wie das
im übrigen auch schon Karl Marx gemeint hatte, nur eine Wissenschaft von der
Gesellschaft und ihrer geschichtlichen Entwicklung geben. Wir wollen hier aber
einen Gedanken von Raymond Boudon und François Bourricaud aufgreifen, die
eine interessante und wohl auch fruchtbare Form der Arbeitsteilung zwischen
Soziologie und Geschichte vorgeschlagen haben.7 Danach sollte die Soziologie
sich auf die Ausarbeitung von abstrakteren Zusammenhängen insbesondere in
der Form der sog. Strukturmodelle spezialisieren, und die Historiker sollten sich
mehr ihrer besonderen Stärke zuwenden, der detailgenauen Untersuchung und
Beschreibung historischer Einzelereignisse und dem Aufspüren, der Über-
prüfung und der Einordnung der geschichtlichen Quellen.
Strukturmodelle
7
Raymond Boudon und François Bourricaud: Geschichte und Soziologie, in: Raymond
Boudon und François Bourricaud, Soziologische Stichworte, Opladen 1992a, S. 165-173.
Soziologie und Geschichte 415
Mit diesem Modell lassen sich, sozusagen auf einen Schlag, so unterschiedliche
Phänomene wie das Fehlen sozialer Bewegungen in Nord-Ost-Brasilien, das
niedrige Niveau der öffentlichen Bildungsanstalten der amerikanischen Ostküste
oder die Lethargie vieler französischer Universitäten allesamt über das gleiche
abstrakte Strukturmuster erklären – ein enormer Gewinn im Preis-
Leistungsverhältnis der Analyse, die nun eben nicht immer wieder das (exit-
voice-)Rad von Hirschman neu erfinden muß.
Andere Strukturmodelle mit ähnlichen Vereinfachungsleistungen wären etwa das Modell von
Boudon zur Erklärung der Reproduktion von sozialen Ungleichheiten auch bei einer Expan-
sion der Berechtigungen zur Besetzung von Positionen, das wir oben in Abschnitt 7.1 darge-
stellt haben, oder auch das sog. habit-Modell, das wir in Band 1, „Situationslogik und Han-
deln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ in verschiedenen Zusammenhängen, etwa in Kapitel 8,
benutzt haben (und in den folgenden Bänden immer wieder und in ganz verschiedenen Zu-
sammenhängen nutzen werden), um die bemerkenswerte Trägheit zu erklären, mit der Men-
schen an eingelebten Verhältnissen hängen.
Die Besonderheit solcher Strukturmodelle ist, daß sie einerseits auf einer Reihe
allgemeiner Annahmen beruhen und andererseits auf eine große Vielzahl von
inhaltlich ganz unterschiedlichen und historisch durchaus einmaligen Vorgängen
angewandt werden können:
„Es geht hier (bei der Formulierung von Strukturmodellen; HE) nicht um die Ermittlung em-
pirischer Regelmäßigkeiten, sondern um die Konstruktion von Schemata, die sich bei ent-
sprechender Spezifikation auf Wirklichkeiten anwenden lassen, die ihrem Erscheinungsbild
nach sehr verschiedenartig sein können.“ (Boudon und Bourricaud 1992a, S. 173)
Mit Hilfe solcher „allgemeiner“ Strukturmodelle lassen sich dann also sowohl
ganze Klassen inhaltlich spezifischer Phänomene, wie auch ganz einzigartige
historische Vorgänge (er)klären – wie erneut durch das Modell von Hirschman
Ehescheidungen einerseits oder die Frage, warum es in den Vereinigten Staaten
keinen Sozialismus gibt.
416 Die Konstruktion der Gesellschaft
Strukturmodelle sind dabei „mehr“ als bloß formale Modelle, etwa solche von gewissen Situ-
ationskonstellationen, wie sie in der Spieltheorie entwickelt worden sind, oder solche
bestimmter dynamischer Prozesse, wie etwa in den Wachstums- oder Diffusionsmodellen
(vgl. dazu auch schon Kapitel 1 in diesem Band). Die Strukturmodelle können solche
formalen Modelle als „Module“ durchaus enthalten. Allein daraus ergeben sich ja schon
weitere beträchtliche Vereinfachungen der Analyse: Wenn man etwa erkannt hat, daß eine
gewisse historische Situation dem Typ eines Gefangenendilemmas oder dem eines Chicken
Game entspricht, dann wäre eine ganz bestimmte Folge davon mit dem Hinweis auf das
Modell des Gefangenendilemmas „erklärt“ (vgl. dazu auch schon das Beispiel der
Appeasement-Politik gegen Hitler in Abschnitt 7.4 oben in diesem Band). Und man müßte
nicht wieder mühevoll auch dieses Rad neu erfinden – was viele tun, die von den formalen
Modellen nichts wissen. Anders als die formalen Modelle verweisen die Strukturmodelle
jedoch immer auch schon auf gewisse inhaltliche Elemente, wie etwa die Alternativen exit
oder voice oder den verzögernden Sachverhalt der Loyalität im Modell von Hirschman.
Mit der Suche nach und der Ausarbeitung von Strukturmodellen tun die
Soziologen also ohne Zweifel etwas, das für die Soziologie typisch ist und von
manchem Historiker mit einer Mischung aus Argwohn und Überheblichkeit
betrachtet wird – sie verallgemeinern. Aber sie verallgemeinern nicht wie ein
Historiker, der einen ganzen Komplex von Ereignissen begrifflich zusammenfaßt
und etwa vom „Bürgertum“ oder von den „Kreuzzügen“ spricht und dabei
jeweils auch ganze Muster von auch „kausalen“ Zusammenhängen und Abläufen
meint, ohne die kausalen Muster genauer zu benennen (vgl. dazu auch noch den
Exkurs über die Frage, wie sinnvoll es ist, „Typen“ der Gesellschaft zu
unterscheiden im Anschluß an Abschnitt 9.2 dieses Bandes). Und sie
verallgemeinern auch nicht in der in der Weise, wie das etwa die alte Soziologie
des sozialen Wandels versucht hat: Es wird bei den Strukturmodellen eben nicht
nach übergreifenden Gesetzen des Wandels oder der Evolution gesucht. Aber es
geschieht auch deutlich mehr, als bloß das Geschehen noch einmal abstrakt zu
beschreiben. Man geht, sozusagen ausgerüstet mit einem Werkzeugkasten von
Mustermodellen und mit wenigen systematischen Hypothesen vorbereitet, gezielt
an die Sache, und die Kunst besteht dann darin, hinter den bunten
Beschreibungen und der Unzahl von Einzelinformationen das Muster eines (oder
mehrerer) Strukturmodelle wiederzuerkennen. Es empfiehlt sich dabei
selbstverständlich jeweils, noch einmal sorgfältig hinzusehen und immer noch
einmal genauer zu überprüfen, ob die jeweiligen Anwendungsbedingungen auch
tatsächlich gegeben sind. Dabei wären die kritischen Analysen der Historiker
besonders wichtig. Wenn aber die Anwendbarkeit gegeben ist, vereinfacht sich
die Analyse sofort ganz beträchtlich: Man „weiß“ jetzt für ganze Komplexe von
Abläufen, die den Bedingungen eines bestimmten Strukturmodells genügen,
warum alles so geschah, weil das zuvor einmal bei der Konstruktion des
Strukturmodells geklärt worden war. Und das reicht nun.
Soziologie und Geschichte 417
8
Robert K. Merton, Social Theory and Social Structure, 11. Aufl., New York und London
1967, S. 9.
418 Die Konstruktion der Gesellschaft
Konfliktes über die meist engen Grenzen der zunächst nur beteiligten Gruppen hinaus, und
das sechste schließlich die Frage nach den Umständen der Auflösung des Konfliktes, mög-
lichst wieder aus mit dem Prozeß selbst gegebenen endogenen Vorgängen.9
Die Strukturtheorie ethnischer Konflikte besteht also aus der Verknüpfung von
sechs Problembereichen und damit befaßten „Modulen“: die Konstitution eines
strukturellen Konfliktes, die Mobilisierung der Konfliktparteien, die kulturelle
Rahmung der Orientierungen und der Handlungen der Akteure, die Eskalation
des Konfliktes, die Verbreitung in der weiteren Population und schließlich der
„endogene“ Verfall des Konfliktes. Jedem dieser sechs Problemfelder wäre nun
mindestens ein formales Modell oder ein spezielles Strukturmodell zuzuordnen.
Und in der empirischen Analyse käme es darauf an, die Bedingungen für die
Anwendbarkeit der jeweiligen Modelle narrativ zu belegen bzw. zu zeigen,
worin die Abweichung bestand.
Das erste Problem ist die Frage nach dem strukturellen Hintergrund aller ethnischen Konflik-
te. Nach dem hier vorgeschlagenen Modell liegt dieser Hintergrund stets in einem „konstitu-
tionellen“ Interessen-Konflikt, so wie er in Abschnitt 4.3 von Band 1, „Situationslogik und
Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ konzipiert worden war: Zwei Gruppen von Akteu-
ren kontrollieren unterschiedliche Arten von Ressourcen, deren Wert davon abhängt, welche
„Verfassung“ jeweils gilt, wobei jeweils immer nur eine Gruppe von einer Verfassung profi-
tiert. Hinzu muß kommen, daß die beiden Gruppen nur wenig an generalisiertem Kapital kon-
trollieren, das seinen Wert auch auch unabhängig von irgendeiner spezifischen Verfassung
hat. Formal beschreibt diese Situation ein sog. Konstant- oder Nullsummenspiel, eventuell
sogar in der Art eines Negativsummenspiels, bei dem die eine Partei auf Kosten der anderen
Partei nur weniger zu verlieren hat. Das ist insbesondere bei Gruppen der Fall, deren Le-
bensweisen sich sehr unterscheiden und denen es jeweils kaum möglich ist, dafür eine Alter-
native zu finden. Der strukturelle Hintergrund ist also ein „konstitutionelles“ Interesse an der
Bewahrung oder Durchsetzung einer hohen Bewertung eines spezifischen Kapitals, das umso
höher ist, je mehr die jeweilige Gruppe zu verlieren hat, wenn die jeweils andere Gruppe ob-
siegt und je geringer die gemeinsamen Interessen der beiden Gruppen sind. Das wäre das ers-
te Modul der Strukturtheorie ethnischer Konflikte (vgl. dazu Abschnitt 4.3 von Band 1, „Si-
tuationslogik und Handeln“, sowie Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundla-
gen“). Ohne diese Konstellation würde es zu den nächsten Phasen erst gar nicht kommen.
Kein noch so starkes „konstitutionelles“ Interesse aber bringt ein Aggregat von Akteuren
dazu, dieses Interesse auch kollektiv wahrzunehmen. Das ist die nächste Phase und das zweite
Problem, das es jeweils zu klären gilt: die Mobilisierung der Gruppe. Den Grund für dieses
Problem hat Mancur Olson schon vor einiger Zeit in einer Kritik an der Revolutionstheorie
von Karl Marx aufgezeigt: Die erfolgreiche Mobilisierung einer Gruppe ist ein sog. Kollek-
tivgut, das auch denen zugute kommt, die nichts dafür getan haben. Weil aber der Erfolg un-
gewiß ist, die Risiken und Kosten einzelner Aktionen für die betreffenden Akteure aber si-
cher und hoch sind, unterbleiben kollektive Mobilisierungen meist – wenn nicht zusätzliche
Anreize hinzutreten, wie etwa ein Heilsversprechen oder die soziale Kontrolle in der Nahum-
9
Vgl. ausführlicher dazu Hartmut Esser, Die Situationslogik ethnischer Konflikte. Auch ei-
ne Anmerkung zum Beitrag „Ethnische Mobilisierung und die Logik von Identitätskämp-
fen“ von Klaus Eder und Oliver Schmidtke (ZfS 6/98), in: Zeitschrift für Soziologie, 28,
1999, S. 245-262.
420 Die Konstruktion der Gesellschaft
gebung. Das wäre das zweite Modul: die Theorie des kollektiven Handelns nach Olson mit
den Bedingungen, unter denen kollektive Mobilisierungen dennoch gelingen (vgl. dazu noch
ausführlich Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
An dieser Stelle wird der dritte Aspekt, das soziale Framing des Konfliktes, wichtig. Das
soziale Framing von Situationen ist ein Vorgang, bei dem die Akteure die Perspektive ihrer
Orientierung und ihres Handelns aufgrund gewisser Ereignisse von einer eher individualis-
tisch-rationalen Orientierung auf eine kollektiv-emotionale Orientierung umstellen, etwa in
Form einer ethnischen Identifikation, aber auch einer religiösen oder einer sonstigen „ge-
meinschaftlichen“ Rahmung mit solidarischen kollektiven Affekten. Hier werden Prozesse
der kollektiven Definition der Situation bedeutsam, ausgelöst meist von „signifikanten“ Sym-
bolen, die die Erinnerung an ganze „kulturelle Systeme“ und „mentale Modelle“ der Grenz-
ziehung und Abwertung nach außen und der bedingungslosen Solidarität nach innen aktivie-
ren und verstärken. Möglich und erleichtert werden solche kulturellen und emotionalen Rah-
mungen durch bis dahin eher latente, aber in den Gedächtnissen der Akteure vorhandene Er-
innerungen an ähnliche Grenzziehungen und frühere Auseinandersetzungen – und durch den
Gewinn, den eine kollektive Mobilisierung insgesamt erbringen würde. Ohne solche latenten
Erinnerungen und ohne irgendwelche „Gewinne“ aus dem kollektiven Framing bleiben alle
Rahmungsversuche, die etwa auch die jeweiligen Eliten beginnen würden, folgenlos. Bei den
beschriebenen konstitutionellen Interessenkonflikten sind solche Versuche jedoch sehr plau-
sibel und gelingen dann auch sozusagen aus dem Nichts heraus (vgl. zum sozialen Framing
insbesondere noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Hinzuzufü-
gen wäre noch, daß sich das soziale Framing und die kollektive Mobilisierung gegenseitig
verstärken können: Mit erkennbaren Akten der Mobilisierung der einen Seite muß die jeweils
andere Seite damit rechnen, daß sich die Definition der Situation geändert hat, und das wie-
derum gibt Anlaß zur eigenen Mobilisierung und kollektiven Rahmung der Situation.
Mit dem einmal begonnenen Framing des Konfliktes als „Gruppen“-Prozeß sind alle Ak-
teure der jeweiligen Gruppen gezwungen, die Situation nur noch als antagonistisch wahrzu-
nehmen, selbst wenn sie selbst nicht aggressiv oder gruppenbezogen gesonnen sind: Da mit
einer hohen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, daß der jeweils andere Akteur die ei-
gene Zurückhaltung ausnutzen würde, bleibt niemandem etwas anderes übrig als die eigene
präventive Aggression. So entsteht nahezu automatisch das vierte Stadium – die Eskalation
des Konfliktes. Das Ergebnis ist der gnadenlose Krieg aller gegen alle. Die formale Grund-
struktur der Situation ist die eines Gefangenendilemmas und des Prozesses eines Rüstungs-
wettlaufs, aus dem es bekanntlich endogen keinen einfachen Ausweg gibt (vgl. dazu insbe-
sondere noch Band 3, „Soziales Handeln“, und Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“,
dieser „Speziellen Grundlagen“). Das ist das vierte Modul der Strukturtheorie ethnischer
Konflikte.
Sind in den Konflikt, wie oft, die Eliten der jeweiligen Gruppen verwickelt oder tragen
ihn gar im wesentlichen allein, dann tritt das fünfte Problem, die Verbreitung über die gesam-
te Gesellschaft oder Region, nicht gesondert auf. Jetzt werden ja über herrschaftliche Akte
ohnehin alle Ressourcen der jeweiligen Gruppen „mobilisiert“. Ist das jedoch nicht der Fall,
könnte der Konflikt bald versanden. Nun kommt es darauf an, ob andere Gruppen mit dem
Anlaufen des Konfliktes gewisse Chancen zur Wahrnehmung ihrer eigenen Interessen sehen.
Auf diese Weise kann sich ein eskalierender, aber zunächst nur auf wenige Gruppen begrenz-
ter Konflikt auch eigendynamisch verbreiten und die ganze Region bzw. Gesellschaft nach
und nach erfassen – je nach Verteilung der Bereitschaften über die verschiedenen Gruppen,
sich der „Bewegung“ anzuschließen. Hier werden die in Band 1, „Situationslogik und Han-
deln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ bereits angesprochenen Schwellenwert- und Diffusi-
onsmodelle bedeutsam, um verschiedene Verläufe der Mobilisierung und der Verbreitung
von Protesten verständlich zu machen (vgl. zu anderen Modellen dieser Art noch Band 4,
Soziologie und Geschichte 421
Die grobe Skizze einer Strukturtheorie der ethnischen Konflikte könnte dann so
aussehen wie in Abbildung 8.2. Mit Hilfe dieses Modells wäre es nun
beispielsweise möglich, den Fall Jugoslawiens, der zu Beginn dieses Kapitels
eher historisch beschreibend dargestellt worden war, noch einmal systematisch
zu rekonstruieren und in seinem Ablauf über die „narrative“ Begündung für die
Einsetzbarkeit der jeweiligen Module zu erklären.
Der strukturelle Hintergrund des Konfliktes ist nach den Beschreibungen der Lage Jugosla-
wiens überdeutlich: Die katholischen Kroaten und Slowenen im Norden kontrollierten seit je
her das ökonomische, die orthodoxen Serben im Süden das politische Kapital – und sonst je-
weils nichts. Das alleine erklärt schon den durchgehenden Verfassungskonflikt mit den kroa-
tischen und slowenischen Föderalisten im Norden und den serbischen Zentralisten im Süden.
Für die Mobilisierung der Gruppen sorgten jeweils am Erhalt ihrer Positionen interessierte E-
liten, bei den Serben nicht zuletzt auch mit Unterstützung durch die von ihnen kontrollierte
Armee. Die Koinzidenz der kulturellen, ethnischen und religiösen Zugehörigkeiten und eini-
ge ältere, sowie gewiß auch die jüngeren Erinnerungen an die Vorgänge im Zweiten Welt-
krieg erleichterten dann das ethnische Framing dieses massiven Interessen-Konfliktes ganz
beträchtlich. Das jedoch erst nach der Verdünnung der gemeinsamen Interessen der verschie-
denen Gruppen, dem Verfall der charismatischen Kraft von Tito und dem zunächst schlei-
chenden, dann aber immer mehr beschleunigten Zusammenbruch der institutionellen Grund-
lagen des zuvor durchaus vorhandenen Vertrauens unter den Gruppen. Mit der einmal begon-
nenen Erosion des Vertrauens und dem Anlaufen der Ethnisierung begann dann ein sich ge-
genseitig verstärkender Wettlauf von Präventivmaßnahmen, Provokationen und Reaktionen
darauf, der schließlich das ganze Land und auch jene erfaßte, die sich dagegen gestemmt ha-
Soziologie und Geschichte 423
Noch einmal: die Aufgaben der Soziologen und die der Historiker
Die Gesellschaft ist jenes besondere soziale System, das keine soziale Umge-
bung mehr hat. Sie zieht die weiteste Grenze der sozial nutzbaren materiellen
und technischen Möglichkeiten, der Geltung der institutionellen Regeln, des
Sinns der kulturellen Bezugsrahmen und der Bedeutung der damit verbunde-
nen Symbole, und sie umfaßt dabei alle anderen sozialen Systeme und
konkreten sozialen Gebilde. Darüber herrscht eine in der Soziologie ansonsten
unübliche Einigkeit – bis hinein in die neuesten und auch die wunderlichsten
Varianten der sog. Gesellschaftstheorie.1
Die Gesellschaft ist dabei, wie das mit Peter L. Berger und Thomas Luckmann in der Einlei-
tung ganz zu Beginn von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, und in Kapitel 2 dieses
Bandes der „Speziellen Grundlagen“ noch einmal systematisch festgehalten wurde, das Er-
gebnis einer „gesellschaftlichen Konstruktion“: Sie konstituiert und wandelt sich als soziales
System in der wechselseitigen Begrenzung und Ermöglichung der psychischen Systeme in
Gestalt der menschlichen Akteure und der kulturellen Systeme der sozial geteilten und sym-
bolisierten mentalen Modelle der Orientierung und des Handelns. Diese Konstruktion der Ge-
sellschaft als Ko-Konstitution und Ko-Evolution von sozialen, psychischen und kulturellen
Systemen läßt sich im Rahmen des Modells der soziologischen Erklärung, wie wir in den vo-
rangegangenen Kapiteln auch schon gesehen haben, als fortlaufende situationslogische Se-
quenz des Dreierschrittes der Logik der Situation, der Logik der Selektion und der Logik der
Aggregation rekonstruieren. Die Grundlage des Geschehens ist die von den Akteuren zu ih-
rem Überleben angestrebte Reproduktion des Alltags und die Produktion und Verteilung der
dazu nötigen Ressourcen.
Diese, von den menschlichen Akteuren getragene, auf sie selbst wieder zu-
rückwirkende und sie als vergesellschaftete Subjekte jeweils wieder konstitu-
ierende Konstruktion geht stets von typischen Strukturen aus – und mündet
stets wieder darin. Die Strukturen der Gesellschaft entstehen und „bestehen“
1
Vgl. so auch zuletzt noch: Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frank-
furt/M. 1997, S. 78f. Vgl. auch die Übersicht bei Ansgar Weymann, Gesell-
schaft/Gesellschaftstheorie, in: Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie,
Band 1, Hamburg 1999, S. 470-480. Siehe auch Kapitel 20: „Der Begriff der Gesell-
schaft“, in der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“.
426 Die Konstruktion der Gesellschaft
dabei aber nur als Ergebnis von ununterbrochenen Prozessen der beständigen
„Hervorbringung“, von Prozessen, die sich manchmal verfestigen und in ein
übergreifendes, wenngleich im Prinzip stets nur temporäres, Gleichgewicht
eines bestimmten „Typs“ von Gesellschaft münden, etwa den antiken Stadt-
staat oder die großen Reiche in China oder in Indien. In diesem Prozeß der
gleichgewichtigen Reproduktion ändern sich die Strukturen aber immer auch
fortfährend, meist langsam, graduell und unmerklich, gelegentlich aber auch
abrupt, komplett und mit einem Donnerschlag.
Das (soziale) Handeln, das die „Konstruktion“ der Gesellschaft durch die
menschlichen Akteure trägt, folgt, so wissen wir inzwischen auch, den Vor-
gaben der subjektiven Definition der Situation und den Regeln der WE-
Theorie. Es war, nach Karl R. Popper mit seinem Konzept der Situationslogik,
vor allem Robert K. Merton, der diese im Prinzip richtige Annahme von der
stets subjektiven Definition der Situation vor einem allzu leichtfertigen Sub-
jektivismus und Psychologismus zu bewahren versucht hat: Auch die nach
psychologischen Gesetzen ablaufende subjektive Definition der Situation
unterliegt objektiven Vorgaben, ebenso wie das darauf folgende Handeln
(dann) objektiv strukturiert ist und die Aggregation der kollektiven Folgen
selbstverständlich auch.2
Diese Objektivierung bezieht sich insbesondere schon auf die Logik der Si-
tuation, der sich die Akteure immer wieder gegenübersehen: Die überhaupt
nur möglichen Alternativen des Handelns, die Erwartungen und die Bewer-
tungen und darüber dann die Orientierungen der Akteure sind deutlich vor-
strukturiert. Der allgemeine Hintergrund dieser Strukturierung der Logik der
Situation und der möglichen Alternativen sind die Strukturen der Gesellschaft
insgesamt: die Infrastruktur, die soziale Struktur und die Superstruktur (siehe
dazu gleich unten mehr), insbesondere aber die institutionelle „Verfassung“
der Gesellschaft – die Festlegung der primären und der indirekten Zwischen-
güter, der kulturellen Ziele und der institutionalisierten Mittel über die jeweils
geltenden sozialen Produktionsfunktionen.
2
Vgl. zur Rekonstruktion der Art der soziologischen Analyse und des Gesellschaftskon-
zepts von Robert K. Merton: Arthur L. Stinchcombe, Merton’s Theory of Social Structu-
re, in: Lewis A. Coser (Hrsg.), The Idea of Social Structure. Papers in Honor of Robert K.
Merton, New York u.a. 1975, S. 11-33. Siehe auch schon Kapitel 3 und 5 in Band 1, „Si-
tuationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“.
Die Gesellschaft der Menschen 427
3
Vgl. dazu besonders eindringlich: Dieter Claessens, Das Konkrete und das Abstrakte. So-
ziologische Skizzen zur Anthropologie, Frankfurt/M. 1980, insbesondere Kapitel 2 und 3.
428 Die Konstruktion der Gesellschaft
gänge des sozialen Vergleichs, des sozialen Einflusses und der Identifikation
mit der Gruppe und – allgemein – der Sozialisation der Menschen (vgl. dazu
insgesamt noch Band 3, „Soziales Handeln“, sowie Band 6, „Sinn und Kul-
tur“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). In ihrem Bestand und ihren
jeweils eigenen Strukturen sind die Nahumwelten und die Prozesse der inter-
aktiven Vermittlung selbst wiederum von dem Rahmen der gesellschaftlichen
Reproduktion und den Strukturen der Gesellschaft insgesamt abhängig, und
sie tragen diesen Rahmen und diese Strukturen indirekt über die Strukturie-
rung der Orientierungen der Akteure, wie das etwa in dem Konzept der le-
bensweltlich unterstützten Wertintegration der Gesellschaft angenommen
wird. Sie selbst werden aber nur über das unmittelbare Handeln von in per-
sönlicher Beziehung stehenden Akteuren konstituiert. Dieser Vorgang sei da-
her als soziale Konstitution bezeichnet.
Mit der Strukturierung der Logik der Situation ist auch das Handeln der
Menschen schon deutlich vorstrukturiert. Die Strukturierung des Handelns ist
aber keine Frage der „gesellschaftlichen“ Strukturierung oder der „subjekti-
ven“ Definition der Situation allein, sondern auch eine der Gültigkeit der nun
eingesetzten Handlungstheorie und der psychologischen Annahmen über die
Logik der Selektion des Handelns. Mit der WE-Theorie gibt es für diese „Lo-
gik“ eine einfache, theoretisch fruchtbare und empirisch erfolgreiche Lösung
(vgl. dazu schon die Kapitel 7 und 8 in Band 1, „Situationslogik und Han-
deln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Sie gilt, so wird ange-
nommen, ganz allgemein und ist von räumlichen, sachlichen, gesellschaftli-
chen und historischen Bedingungen unabhängig. Deshalb muß darüber jetzt
nicht mehr viel gesagt werden: Die Logik des Handelns nach der WE-Theorie
ist bio-psychisch strukturiert und in der Hardware des menschlichen Organis-
mus verankert. Sie unterliegt deshalb keinem gesellschaftlichen Wandel,
höchstens einem der biologischen Evolution. Und das dauert.
Die Logik der Aggregation folgt schließlich der Anwendung bestimmter
Transformationsregeln auf die durch das Handeln der Akteure erzeugten indi-
viduellen Effekte unter gewissen Annahmen der sog. Transformationsbedin-
gungen (vgl. dazu ausführlich Kapitel 1 in diesem Band). Es gibt auch dafür
strukturierte „Typen“ von Aggregationen, wie etwa die Modelle der Spielthe-
orie, die von Marktprozessen und von Verhandlungen oder die Modelle der
Diffusion und der Ansteckung, sowie die sog. Strukturmodelle (vgl. dazu auch
schon Kapitel 8 in diesem Band). Über solche Aggregationen sind die Prozes-
se der systemischen Konstitution der gesellschaftlichen Strukturen und die der
sozialen Konstitution der Nahumwelten und der Identitäten der Akteure er-
klärbar. Und ist das geschehen, kann alles von vorne beginnen.
Die Gesellschaft der Menschen 429
(und des Sonderfalls der Kasten) und der sozialen Schichten. In den diversen Gruppierungen
und Milieus der sog. neuen sozialen Ungleichheit kombinieren sich typische Aspekte der ho-
rizontalen mit Aspekten der vertikalen Ungleichheit. Die Akteure aggregieren sich vor die-
sem Hintergrund in ganz unterschiedliche Typen sozialer Systeme: in soziale Kategorien, auf
denen die soziale Ungleichheit beruht, in soziale Aggregate, kollektive und korporative Ak-
teure (vgl. dazu auch schon Kapitel 2 in diesem Band näher). Diese Formen sozialer Systeme
und Gebilde seien zusammenfassend als die korporative Struktur der Gesellschaft bezeichnet.
Aus alledem ergeben sich dann die Beziehungen der Menschen und der verschiedenen „kol-
lektiven“ Gebilde der korporativen Strukur untereinander, gleichgültig wie sie geregelt sind,
sei es als strategisches Handeln, sei es als über Wissen und Symbole gesteuerte Interaktionen,
sei es als auch normativ geregelte soziale Beziehungen oder in der Form von Transaktionen,
etwa des „Tausches“ der Arbeitskraft gegen Einkommen. Das sei insgesamt die Beziehungs-
struktur unter den Akteuren und sozialen Gebilden (aller Art) einer Gesellschaft.
Über die Infrastruktur und über die soziale Struktur wölbt sich, wie Karl Marx
das ausgedrückt hat, dann, wenngleich nicht unbedingt in allen Gesellschaften
gleichermaßen verbindlich und steuernd, der „Überbau“ einer Superstruktur:
die von den Akteuren geteilten, auf die Gesellschaft als „Ganzes“ gerichteten
und sie trotz aller inneren Spannungen integrierenden „Ideen“ und „kollekti-
ven Repräsentationen“, insbesondere in der Form von Werten, Solidaritäten
und Ideologien, wie etwa die hinduistische Religion in Indien, der Glaube an
die Grande Nation in Frankreich oder der American Dream in den USA. In
Abbildung 9.1 sind die verschiedenen Ebenen und Dimensionen der Struktu-
ren der Gesellschaft zusammengefaßt.
Jede einigermaßen strukturierte Gesellschaft bildet eine reproduktive Ein-
heit der wechselseitigen Konstitution aller dieser Strukturen. Die materiellen
und technischen Möglichkeiten und die damit verknüpften Interessen, Institu-
tionen und Ideen bilden im funktionalen Gleichgewicht ihrer Reproduktion
eine strukturierte Einheit – mit unterschiedlichen Graden der inneren Diffe-
renzierung und Ungleichheit. Und sie bilden in dieser Einheit unverwechsel-
bare „Typen“ der funktionalen Abstimmung und des Gleichgewichts aller ih-
rer Elemente (vgl. dazu auch noch den Exkurs über die Frage, wie sinnvoll es
ist, „Typen“ der Gesellschaft zu unterscheiden, gleich unten im Anschluß an
Abschnitt 9.2). Aber auch die gleichgewichtige funktionale Reproduktion der
Gesellschaft findet, wie wir oben bereits festgehalten haben, nur als fortlau-
fender Prozeß statt. Die gesellschaftlichen Strukturen wandeln sich, selbst in
der äußerlich unverrückbarsten Stabilität, fortwährend, wenngleich meist nur
unmerklich.
Die Gesellschaft der Menschen 431
Superstruktur
soziale Struktur
* institutionelle Struktur
* Interdependenz-Struktur
* Sinnstruktur
* Bewertungsstruktur
* Differenzierungsstruktur
– funktionale Sphären
– kulturelle Milieus
– Devianz-Bereiche
* Ungleichheitsstruktur
* korporative Struktur
* Beziehungsstruktur
Infrastruktur
Oft ist dieser Wandel endogen als eine innere Eigendynamik oder als eine Pfadabhängigkeit
eines einmal eingeschlagenen und kaum noch zu revidierenden Weges angelegt. Es kann aber
auch jederzeit exogene Ereignisse geben, die ein bestehendes Gleichgewicht oder einen vor-
gezeichneten Prozeßablauf unabhängig von der endogenen Eigendynamik stören können (vgl.
dazu schon Abschnitt 7.4 in diesem Band). Von einer endogenen Abweichung oder einer e-
xogenen Störung kann die Gesellschaft dann – unter Umständen – wieder zu dem alten
funktionalen Gleichgewicht zurückfinden. Sie kann aber auch einen ganz anderen Pfad der
durch die Störung eingeleiteten weiteren endogenen Entwicklung einschlagen und zu einem
neuen Gleichgewicht und zu einer neuen Struktur gelangen – oder im Nichts der Geschichte
verschwinden, wie das u.a. dem Römischen Imperium oder der guten alten DDR passiert ist.
432 Die Konstruktion der Gesellschaft
4
Vgl. dazu programmatisch: Michael Schmid, Soziales Handeln und strukturelle Selektion.
Beiträge zur Theorie sozialer Systeme, Opladen 1998, S. 264ff.
5
Vgl. dazu besonders nachdrücklich: Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, 4.
Aufl., Tübingen 1974 (zuerst: 1960), Kapitel 27: Gibt es ein Entwicklungsgesetz? Gesetze
und Trends, S. 83-94; vgl. dazu auch schon die Abschnitte 7.2 und 7.4, sowie Kapitel 8 in
diesem Band.
Die Gesellschaft der Menschen 433
für die Orientierungen und das Handeln der Akteure, wenngleich nur sie –
und nur sie – die Strukturierung der gesellschaftlichen Strukturen tragen. Die
Pfeile „hinein“ in das Diagramm und die wieder „hinaus“ sollen andeuten,
daß es sich um einen Ausschnitt aus einem fortlaufenden Geschehen handelt,
das sowohl eine erklärend-rekonstruierbare Vorgeschichte wie eine – in Gren-
zen und mit vielen Vorbehalten freilich – auch prognostizierbare Zukunft hat.
Das Diagramm enthält in geraffter Form (fast) alles, was in den „Allgemei-
nen“ und den „Speziellen Grundlagen“, teilweise in recht vertiefender Weise,
zur Sprache kommt und zum Verständnis und zur Erklärung der Konstruktion
der Gesellschaft nötig ist. Es kann auch zur Lokalisierung der vielen Einzel-
heiten im Gesamtzusammenhang des Konzeptes der soziologischen Erklärung
und der Konstruktion der Gesellschaft benutzt werden, die dabei behandelt
und verstanden werden müssen.
Die Gesellschaft der Menschen 435
Die Gesellschaft der Menschen hat sich geschichtlich in einer Abfolge der
Bildung, der Auflösung und der Neukonstitution von funktionalen Gleichge-
wichten entwickelt, ausgehend von den weitgehend unbekannten Anfängen
aus den Horden der Hominiden über die Urgesellschaften der Jäger und der
Sammler, die Gartenbau- und Agrargesellschaften, die antiken Stadtstaaten
und Imperien, die asiatischen Reiche und die europäischen Feudalgesellschaf-
ten des Mittelalters bis zu den heutigen Formen der „modernen“ industriellen
Großgesellschaften. Es war ein stetiger Wechsel der gleichgewichtigen funk-
tionalen Reproduktion und des evolutionären, manchmal auch des abrupt-
revolutionären Übergangs auf einen jeweils historisch ganz neuen „Typ“ des
Gleichgewichtes, meist eingeleitet durch gewisse „revolutionäre“ Erfindun-
gen, wie die Kultivierung von Pflanzen, die Einführung des Pfluges, der
Dampfmaschine, des Telephons und des Fernsehens, zum Beispiel. In einer
groben Einteilung läßt sich diese Entwicklung als die Abfolge von drei Typen
der gesellschaftlichen Reproduktion mit zwei Übergängen zusammenfassen:
als Übergang vom Typ der sog. segmentär differenzierten Gesellschaften zu
den sog. stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften und von dort zu den
sog. funktional differenzierten Gesellschaften.
Die drei Typen der segmentär, der stratifikatorisch und der funktional differenzierten Gesell-
schaften unterscheiden sich insbesondere in der jeweils ganz speziellen Kombination von so-
zialer Differenzierung und sozialer Ungleichheit. In den segmentär differenzierten Gesell-
schaften gibt es, natürlich nur typisierend-vereinfachend gesehen, weder eine besondere sozi-
ale Differenzierung noch eine nennenswerte soziale Ungleichheit. Die stratifikatorisch diffe-
renzierten Gesellschaften weisen sowohl eine ausgeprägte soziale Differenzierung, vor allem
die einer gesellschaftlichen Funktionsaufteilung, wie eine deutliche soziale Ungleichheit auf.
In den funktional differenzierten Gesellschaften schließlich gibt es eine starke soziale Diffe-
renzierung und extreme Formen der funktionalen Arbeitsteilung, und gleichzeitig die Auflö-
sung der systematischen Zuordnung der Akteure zu den funktionalen Positionen. Dadurch
entkoppeln sich dort die soziale Differenzierung der sozialen Systeme und die soziale
Ungleichheit der Akteure. Und als Folge sinkt das Ausmaß der sozialen Ungleichheit unter
den Menschen, wenngleich in keiner Weise wieder auf den Egalitarismus der segmentären
Gesellschaften.
In diesem Abschnitt werden wir den Vorgang der Entwicklung der menschli-
chen Gesellschaft über die drei Typen der gesellschaftlichen Differenzierung
kurz skizzieren.6 Es ist, sozusagen, eine auch historisch ausgreifende Über-
6
Wir stützen diese Skizze insbesondere auf die Übersichten bei Gerhard Lenski, Macht und
Privileg. Eine Theorie der sozialen Schichtung, Frankfurt/M. 1973, Kapitel 5-13; Gerhard
Lenski und Jean Lenski, Human Societies. An Introduction to Macrosociology, 5. Aufl.,
New York u.a. 1987, insbesondere die kurze Übersicht in Kapitel 4: Types of Human So-
cieties; Marvin Harris, Kulturanthropologie. Ein Lehrbuch, Frankfurt/M. und New York
436 Die Konstruktion der Gesellschaft
1989, insbesondere die Kapitel 4 bis 12 und 16; Stephen K. Sanderson, Macrosociology.
An Introduction to Human Societies, 2. Aufl., New York 1991; Harold R. Kerbo, Social
Stratification and Inequality. Class Conflict in Historical and Comparative Perspective, 3.
Aufl., New York u.a. 1996, Kapitel 3: Social Stratification in Human Societies: The
History of Inequality; Thomas Schwinn, Soziale Ungleichheit und funktionale Differen-
zierung. Wiederaufnahme einer Diskussion, in: Zeitschrift für Soziologie, 27, 1998, S. 3-
17; Luhmann 1997, Kapitel 4: Differenzierung. Vgl. insgesamt zur Unterscheidung von
segmentärer und funktionaler (arbeitsteiliger) Differenzierung natürlich: Emile Durkheim,
Über die Teilung der sozialen Arbeit, Frankfurt/M. 1977.
7
Claessens 1980, Kapitel 2. Siehe auch Kapitel 12 der „Soziologie. Allgemeine Grundla-
gen“.
Die Gesellschaft der Menschen 437
Strukturen
8
Vgl. dazu näher Durkheim 1977, S. 215ff.; Lenski 1973, Kapitel 5: Jäger- und Sammler-
gesellschaften; Harris 1989 passim; Kerbo 1996, S. 57ff.; Luhmann 1997, Kapitel 4, Ab-
schnitt IV: Segmentäre Gesellschaften, S. 634ff.
438 Die Konstruktion der Gesellschaft
Übergänge
der Pflanzen, von denen die Ernährung abhing, angebaut und kultiviert wer-
den konnten. Hinzu kommen erste Geräte, wie der Grabstock, die Hacke und
später der Holzpflug. Schließlich werden die künstliche Bewässerung ent-
deckt, die Düngung des Bodens, erst durch Brandrodung, dann durch Überflu-
ten, später auch durch den Fruchtwechsel. Und alles beschleunigt sich endgül-
tig mit dem Gebrauch von Metall und der Erfindung von Metallwerkzeugen
(vgl. Lenski 1973, S. 164ff.; Kerbo 1996, S. 61f.).
Die wohl wichtigste Folge ist die Erzeugung eines merklichen Surplus.
Nun werden Mittel frei, die das Bevölkerungswachstum beschleunigen und
eine bereits ausgebautere Arbeitsteilung erlauben. Jetzt gibt es auch etwas zu
verteilen, und nennenswerte Grade der sozialen Ungleichheit werden möglich.
Hierdurch kann es – erstmals – eine Oberschicht geben, die sich auf die Orga-
nisation größerer gesellschaftlicher Einheiten durch „Herrschaft“, sozusagen,
spezialisieren kann. Es ist der Beginn der stratifikatorischen Differenzierung,
wie sie vor allem in den sog. Agrargesellschaften des Mittelalters vorherr-
schend war. Den ersten Übergang dazu dürften gewisse Ansammlungen von
Ansiedlungen gebildet haben, an denen sich erste Zentralfunktionen, wie ein
Markt oder eine Schiedsstelle, ankristallisierten und den Vorgang der Zentra-
lisierung verstärkten:
„Der Differenzierungsvorgang kann also irgendwo und irgendwie beginnen und dann die ein-
getretene Abweichung verstärken. Unter vielen Siedlungen bildet sich ein bevorzugter Ort, an
dem Zentralisierungsvorteile sich wechselseitig stützen, so daß schließlich eine neue Dif-
ferenz von Stadt und Land entsteht. Erst dadurch werden die übrigen Siedlungen zu ‚Dörfern‘
im Unterschied zur Stadt und richten sich allmählich darauf ein, daß es auch eine Stadt gibt,
in der ein anderes Leben gelebt werden kann als im Dorf und die als Umwelt des Dorfes des-
sen Möglichkeiten verändert.“ (Luhmann 1997, S. 598f.)
Kurz: Es bildet sich eine Differenz zwischen einem Zentrum und einer Peri-
pherie heraus. Und an dieser Differenz wird eine ganz neue Art der gesell-
schaftlichen Reproduktion möglich: die über „Herrschaft“ und soziale Un-
gleichheit organisierte „Arbeitsteilung“ zwischen Gruppen von Akteuren in
relativ großen und untereinander zusammenhängenden gesellschaftlichen
Verbänden.
ist ein System einer stark nach Rechten und Prestige geschichteten Aufgaben-
und Machtverteilung zwischen typisch verschiedenen und scharf voneinander
abgegrenzten Gruppen, und eine Kreuzung der sozialen Kreise ist so gut wie
unbekannt. Anders als bei den segmentär differenzierten Gesellschaften wird
dadurch eine ausgeprägte gesellschaftliche Arbeitsteilung und die Organisati-
on auch großer Bevölkerungen zu integrierten Gesellschaften möglich. Zu den
stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften in diesem Sinne sind schon die
Stadtstaaten in Griechenland und die großen Staatsgesellschaften der Antike
zu zählen, dann aber insbesondere die großen Reiche in Asien und die Feu-
dalgesellschaften des europäischen Mittelalters (vgl. dazu Lenski 1973, Kapi-
tel 8 und 9; Kerbo 1996, S. 64-72; Luhmann 1997, Kapitel 4, Abschnitt VI).
Die antiken, die asiatischen und vor allem die europäisch-mittelalterlichen
Staatsgesellschaften dieses Typs der stratifikatorischen Differenzierung waren
alle nach einem ähnlichen Prinzip aufgebaut: ein System des Tausches von
Organisation und Schutz durch die Herrschaft einer Oberschicht bzw. einer
staatlichen Zentralgewalt gegen gewisse Gegenleistungen und die Abtretung
von Rechten von seiten des (gemeinen) Volkes, das freilich oft genug nicht
wußte, worin die „Gegenleistung“ der Oberschicht eigentlich bestand.
Eine solche Organisation von Funktionen über eindeutig zugeordnete Ag-
gregate von Akteuren geht natürlich nur, wenn die sozialen Systeme dieser
Organisation fest mit der Zuordnung der Akteure verkoppelt sind, am sichers-
ten und daher am besten über die Geburt. Daher sind stratifikatorisch diffe-
renzierte Gesellschaften in aller Regel auch Adelsgesellschaften, und das
selbst dann, wenn, wie in Rom oder China, der „Adel“ aus hohen Beamten,
Militärs oder anderen Experten bestand, und wenn es auch andere Wege der
Rekrutierung als über die Geburt, und hier und da auch Mobilität gab. Immer
bleibt es jedoch bei deutlichen Unterschieden im Zugang und Einfluß zwi-
schen einer (sehr) kleinen Oberschicht und dem breiten „Rest“ der Gesell-
schaft. Diese Oberschicht eines Adels besteht daher auch eben nicht (nur) als
Aggregat von „Individuen“, sondern als soziales System, und es ist, wie Nik-
las Luhmann treffend schreibt, „eine Ordnung von Familien, nicht von Indivi-
duen.“ (Luhmann 1997, S. 679; Hervorhebung nicht im Original)
Strukturen
Die Infrastruktur der Feudalgesellschaften, an denen wir uns bei der Be-
schreibung der stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften insbesondere
orientieren wollen, beruht vor allem auf den technischen Grundlagen der ent-
wickelten Agrargesellschaften: Metallpflüge, die Nutzung tierischer Energie,
442 Die Konstruktion der Gesellschaft
neue Formen der Architektur, des Bauens und des Verkehrs, sowie – nicht zu-
letzt – eine gänzlich veränderte Militärtechnik, in deren Mittelpunkt die Be-
wegung großer Heere stand. Damit verbunden waren ein (weiteres) deutliches
Wachstum der Bevölkerung und die Ausweitung beherrschbarer Territorien.
Feudalgesellschaften waren Kriegsgesellschaften. Die grundlegende Sub-
sistenzbasis ist weiterhin die Landwirtschaft, und die überwältigende Mehr-
heit der Bevölkerung bestand aus Bauern. Es gibt, ausgehend von „zentralen“
Agglomerationen von Siedlungen, eine Vielzahl von Städten, oft mit einer
Hauptstadt als dem Zentrum einer weiten Peripherie, wobei jedoch weite Tei-
le in der Peripherie der „Reiche“ lange Zeit nicht einmal wußten, daß sie ei-
nem Reiche angehörten – bis der Inspektor des Zentralherrschers damit be-
gann, den Tribut zu fordern, Steuern einzutreiben und zum Waffendienst zu
rekrutieren. Die Städte dominierten, obwohl die städtische Bevölkerung nur
eine sehr kleine Minderheit war, das Umland in nahezu jeder Hinsicht: poli-
tisch, ökonomisch, kulturell und religiös.
Die soziale Struktur der stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften ist
durch eine überaus interessante Form der Definition der sozialen Produktions-
funktionen bestimmt: Feudalgesellschaften beruhen schon auf einer Art von
ausgeprägter arbeitsteiliger „Organisation“ der Gesellschaft mit der Zuwei-
sung fester, funktional definierter, aber sehr unterschiedlich bewerteter Posi-
tionen zu bestimmten Gruppen der Bevölkerung: Adel, Priester, Ritter, Hand-
werker, Händler, Bauern bilden soziale Kategorien und funktionale Systeme
gleichzeitig. Über dieser, sozusagen: ständisch-funktionalen, Differenzierung
der Gruppen und Funktionen herrscht eine alle Gruppen übergreifende soziale
Produktionsfunktion: Die mit den herrschenden Oberschichten verbundene
Ehre und deren Insignien sind der allgemeine Imperativ der Gesellschaft, und
der Adel ist das politische und kulturelle Zentrum der Gesellschaft. Daran an-
knüpfend gibt es deutliche Unterschiede in Privilegien und im Prestige zwi-
schen den Gruppen, die mit der Nähe der Gruppen zur Oberschicht variiert.
Stratifikatorisch differenzierte Gesellschaften beruhen insofern auf einer ü-
bergreifend geteilten Bewertungsstruktur von Prestige und Privilegien, unter-
stützt durch die Kontrolle staatlich organisierter Macht, insbesondere von
Verwaltungen und militärischen Einheiten:
„Von Stratifikation wollen wir nur sprechen, wenn die Gesellschaft (überall!; HE) als Rang-
ordnung repräsentiert wird und Ordnung ohne Rangdifferenzen unvorstellbar geworden ist.“
(Ebd.; Hervorhebung nicht im Original)
Neben der großen Anzahl an Bauern auf dem Lande gab es, vor allem in
den Städten, dann jedoch schon eine enorme Vielfalt an Berufen und funktio-
nalen Spezialisierungen: Beamte, Priester, Gelehrte, Schreiber, Kaufleute,
Diener, Soldaten, Handwerker, Arbeiter und sogar auch den „Beruf“ der Bett-
ler. Alle hatten ihren wohldefinierten Platz im Gefüge der Gesellschaft – hori-
zontal nach ihren Funktionen und den kulturellen Stilisierungen, und vertikal
nach Prestige, Privilegien und Macht. Selbst die sog. unehrenhaften Tätigkei-
ten waren, wennzwar verachtet, so doch gesellschaftlich als unentbehrlich an-
erkannt, wie die der Prostituierten, der Henker oder der Rikscha-Kulis. Nur
wenige Personen waren ausgeschlossen und „entbehrlich“. Und um die küm-
merten sich die Einrichtungen der Mildtätigkeit, mit denen sich die Staatsreli-
gionen auch umgaben, nicht zuletzt wohl, um nicht vollends ihre Glaubwür-
digkeit zu verlieren. Nur mit den Abweichlern, vor allem denjenigen, die es
wagten, die feudale Gesellschaftsordnung insgesamt in Frage zu stellen und
so verwegene Gedanken wie den der Gleichheit der Menschen zu predigen,
ging man erbarmungslos um. Nennenswerte Devianz-Bereiche gab es daher,
wenn überhaupt, nur in Gestalt der Gruppe der „Entbehrlichen“, der entlaufe-
nen Strafgefangenen, der Deserteure, der Vogelfreien und der Vagabunden
etwa. Ohne Zweifel gab es auch Varianzen innerhalb der verschiedenen
Gruppen, wie reiche und arme Kaufleute oder einen unteren und einen oberen
Adel. Am „ständischen“ Aufbau der Gesellschaft und an der festen Inklusion
der Menschen unter dem Dach des Herrschers und der herrschenden Ober-
schicht ändert das nichts. In stilisierter Weise läßt sich der Aufbau einer strati-
fikatorisch differenzierten Gesellschaft wie in Abbildung 9.3 darstellen (nach
Lenski 1973, S. 377).
Da die ständisch voneinander differenzierten Gruppen selbst wiederum je-
weils spezifische funktionale Zuordnungen haben, gelten in ihnen jeweils
wieder spezifische soziale Produktionsfunktionen und damit jeweils spezifi-
sche kulturelle Ziele bzw. Codes der Orientierung und Programme des Han-
delns – immer freilich im „Rahmen“ des übergreifenden Ober-Frames der
ständischen Ehre und der Feudalordnung insgesamt. Am deutlichsten ist das
bei den Zünften und Gilden sichtbar. Durch die funktionale Untergliederung
hängen die Gruppen, wenigstens latent, stark voneinander ab, wenngleich mit
deutlichen Unterschieden in der Macht, die sie übereinander ausüben. Und
daher sind auch die Oberschichten alles andere als allmächtig, und in den
funktionierenden Adelsgesellschaften galt das noblesse oblige nicht ohne
Grund: Feudalgesellschaften sind Systeme des Tausches funktionaler Leis-
tungen zwischen kompletten Gruppen von Akteuren.
Die Gesellschaft der Menschen 445
„Zur regierenden Klasse zu gehören, war gleichbedeutend mit dem verbrieften und durch die
höchste Macht im Land garantierten Recht darauf, am wirtschaftlichen Surplus, den die Bau-
ernmassen und die Handwerker in den Städten produzierten, zu partizipieren. Dies war der
Lohn dafür, daß die Angehörigen dieser Klasse für die Aufrechterhaltung der Autorität des
bestehenden Regimes im allgemeinen und des Herrschers im besonderen sorgten und ihr die
nötige Geltung verschafften.“ (Lenski 1973, S. 296)
dere
Weise wirkt das Geld, das mehr und mehr den Naturaltausch ablöst und damit
auch eine flexiblere Handhabung der „Gegenleistungen“ der unteren Schich-
ten durch die herrschende Schicht erlaubt: Steuerzahlungen treten an die Stel-
le von Handdiensten, und das so eingenommene Geld kann ganz anders und
zu anderen Zeitpunkten verwendet werden, etwa zur Rekrutierung von Söld-
nern oder für den Konsum von Luxusgütern, die findige Händler von weit her
holen und sich dafür teuer bezahlen lassen. Diese „Generalisierung“ der Me-
dien, besonders der Übergang zur Geldwirtschaft, war aber auch schon einer
der Gründe für den späteren Verfall der Feudalgesellschaften (siehe dazu
gleich unten).
Stratifikatorisch differenzierte Gesellschaften verbinden offenkundig in
gewisser Weise die Verhältnisse der segmentär differenzierten Gesellschaften
mit denen einer funktionalen Differenzierung: Die arbeitsteilige Verbunden-
heit und die Medien der Schrift und des Geldes erzeugen bereits eine Art von
systemischer Konstitution und Integration, teilweise auch schon deutlich ge-
gen die Vorstellungen der Menschen, besonders natürlich denen aus den nied-
rigen Ständen. Die personale Interaktion innerhalb der Gruppen und die rituel-
le Interaktion zwischen den Gruppen, ausgetragen und verankert in den Pro-
duktionsgemeinschaften der Haushalte, sorgen für die als fraglos geltende so-
ziale Konstitution der gruppenspezifischen Identitäten der Menschen und für
die Vermittlung der (religiösen und anderen) Legitimationen, die das ganze
„System“ in Form einer übergreifenden Wertorientierung tragen und so auch
sozial integrieren. Ebenso wie in den segmentär differenzierten Gesellschaften
finden – im Prinzip – alle Menschen ihren Platz, diesmal in dem ihnen vorge-
gebenen Stand. Hier kommt es – in der Tat – zu einer Integration des Systems
der ganzen Gesellschaft über die Interaktionen in den „Lebenswelten“ der
Haushalte, in denen die allen gemeinsame Wertorientierung, daß die „herr-
schende“ Ordnung gut und gerecht sei, immer wieder neu bestärkt wird.
Dies alles, die Einbindung überschaubarer Lebenswelten in ein arbeitsteili-
ges, hierarchisch aufgebautes System, machte die Feudalgesellschaften so –
vergleichsweise – leistungsfähig, immer noch recht übersichtlich, aber auch
latent spannungsreich und davon abhängig, daß der Nutzen produzierende
feudale Austausch – übergreifende Organisation und Sicherheit gegen Dienste
und Abgaben – weiter funktioniert, und daß der das alles legitimierende und
sichernde Werterahmen nicht schwindet. Verfällt die Organisation der wech-
selseitigen Nutzenproduktion, dann verfällt auch die Überzeugungskraft der
diese Gesellschaftsform legitimierenden Weltbilder und religiösen Symbol-
welten. Und unter bestimmten, gerade unter stratifikatorischer Differenzie-
rung keineswegs immer auch vorhandenen, Bedingungen bricht das Gebäude
Die Gesellschaft der Menschen 449
dann mit einem großen Krach zusammen – wie das beispielsweise die Franzö-
sische Revolution gezeigt hat.
Übergänge
Wert (vgl. dazu Lenski 1973, S. 331ff. näher). Außerdem kommt es jetzt auch
schon mehr und mehr darauf an, die vielen Talente in der breiten Bevölkerung
besser zu nutzen und ihnen wenigstens hier und da den Aufstieg in die höhe-
ren Positionen zu gestatten.
Das hat zwei Folgen. Der Zuwachs an Interesse an Ressourcen, die ein an-
derer kontrolliert, bedeutet erstens gleichzeitig immer die latente Abnahme der
eigenen Macht. Das aber wiederum zieht nach sich, daß die Leistungen der
nicht-adligen Gruppen im Preis steigen. Die beginnende Auflösung der festen,
über Geburt geregelten Zuordnung von Personen zu Positionen bedeutet zwei-
tens schon eine gewisse Trennung der sozialen „Systeme“ von den Akteuren
und die Ausdifferenzierung von nun eigenständig operierenden Funktionssys-
temen. Beides führt dazu, daß die Grundlage des Feudalsystems ausgehöhlt
wird: die „Exklusivität“ des Adels und die Übereinstimmung der Funktions-
systeme mit eng umrissenen sozialen Kategorien von Akteuren. Die die unte-
ren Schichten brennend interessierende Gegenleistung für (fast) alles war im
Rahmen der Werteordnung der Feudalgesellschaften aber gerade das Gut, auf
dem die ganze Ordnung beruhte: die ständische Ehre und der Eintritt in den
Adelsstand. Das aber war auch das einzige für andere interessante Gut, das
der Adel wirklich, neben der Schutzfunktion und der herrschenden Koordina-
tion, zu vergeben hatte. Und dieses Gut wurde schließlich auch angeboten,
wenngleich der Adel hätte wissen müssen, daß er sich damit selbst abschaffte.
Der Übergang zu eigenständig operierenden Funktionssystemen – der Politik,
der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Kunst zum Beispiel – hieß schließlich,
sie aus der Kontrolle der Oberschicht und damit aus der Kontrolle konkreter,
leibhaftiger Menschen und fest umrissener Gruppen zu entlassen.
Wenn man also die Gründe für die – weitgehend endogen angelegte! – Un-
terminierung der Feudalgesellschaften zusammenfassen will, dann sind es die-
se beiden: die – schleichende – Abtretung von zuvor exklusiven Rechten an
nicht-adlige Gruppierungen und die Gestattung von Mobilität der Akteure auf
gewisse „Positionen“ in den nun nicht mehr allein über die Geburt mit Perso-
nen besetzten Funktionssystemen und die dadurch ermöglichte und beschleu-
nigte Entstehung von eigenständig operierenden Funktionssystemen, die nicht
mehr fest mit bestimmten Personen aus bestimmten Schichten besetzt werden.
Diese Prozesse der inneren De-Stabilisierung des Adels und der Autonomisie-
rung der Funktionssysteme sind eingelagert in „exogene“ Vorgänge eines ers-
ten Schubes an „Globalisierung“: die Entdeckung neuer Bereiche der Welt
und der Beginn eines Systems der Weltwirtschaft und einer De-
Zentralisierung der Feudalreiche.
Einen ganz eigenen, wenngleich mit den geschilderten Entwicklungen eng
verbundenen, Beitrag lieferte die „Generalisierung“ der Interaktionen mit der
Die Gesellschaft der Menschen 451
Schrift und mit dem Geld. Die Integration der Gesellschaft wird nicht mehr
(alleine) über die in lebensweltlichen Interaktionen bestärkte Orientierung an
einer geteilten Wertordnung gesichert, sondern mehr und mehr über „anony-
me“ Medien. Die Schrift ist aber zur Verwaltung der großen Reiche unerläß-
lich, und das Geld zur Erhöhung der Flexibilität der für das System immer
wichtiger werdenden Leistungen der „produktiven“ nicht-bäuerlichen Schich-
ten.
Überall kommt es nach und nach zu solchen „Trennungen“: der sozialen
Systeme von den Akteuren, der Positionen von den Personen und der sozialen
Systeme voneinander. Haushalt und Produktion trennen sich, politische und
militärische Herrschaft, Kapital und Arbeit, funktionale Sphären und kulturel-
le Milieus. Und überall
„ ... findet man die Umstellung auf Eigendynamik und die Ablösung von Prämissen, die
durch Stratifikation gesichert gewesen waren.“ (Luhmann 1997, S. 731)
Es ist die Auflösung der festen Kopplung der sozialen Differenzierung der
Gesellschaft in soziale Systeme von der sozialen Ungleichheit der Menschen
in ihren gesellschaftlichen Lagen und damit – sozusagen – die endgültige Ver-
treibung aus dem Paradies, als die Menschen und die Gesellschaft noch de-
ckungsgleich waren. Und es ist der Abschied von der Vorstellung, daß die
Gesellschaft, sozusagen, auch als „Ganzes“ in den Köpfen der Menschen
repräsentiert sein könnte und ihre Grundlage in den Erfahrungen und
Interaktionen der Lebenswelten haben müsse. Es ist, wie das Niklas Luhmann
so oft ausgedrückt hat, der Abschied von „Alteuropa“.
den Aktivitäten von Menschen, aber eben nicht mehr dem Tun von „konkre-
ten“ Individuen fester Herkunft und sozialer Verortung, sondern aus ersetzba-
ren Akteuren auf den „Positionen“ der Systeme. Dadurch werden einerseits
die funktionalen Beiträge der Systeme sehr ungleich: Jedes System hat seine
ganz spezifische und unverzichtbare funktionale Aufgabe. Aber gerade da-
durch zerfällt andererseits die „feudale“ Hierarchie der Systeme: Die Müllab-
fuhr wird nun genauso wichtig wie, sagen wir, der Fluglotsendienst, und ein
Bundeskanzler hat fast weniger Einfluß als der Vize-Präsident von Bayern
München. Es zerfällt damit auch die enge Kopplung der funktionalen Arbeits-
teilung mit der sozialen Ungleichheit: Auch die Nobelpreisträger müssen sich
ihre Schuhe selber putzen. Damit ist freilich nicht gesagt, daß es die soziale
Ungleichheit empirisch nicht mehr gäbe. Aber es gibt sie nicht mehr als die
institutionelle Grundlage der arbeitsteiligen Organisation der Gesellschaft,
wie das für die stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften so typisch war.
Und alles, was geschieht, entzieht sich, wie es scheint, zunehmend der Steue-
rung durch irgendein Zentrum und erst recht den Absichten bestimmter Per-
sonen oder Gruppen. Die funktional differenzierte moderne Gesellschaft ist
eine Gesellschaft, die ganz der ihr eigenen Funktionslogik und Eigendynamik
unterliegt – und in diesem Prozeß ihre Stabilität und Integration gewinnt (vgl.
dazu insgesamt auch schon Abschnitt 3.1, sowie Kapitel 6 in diesem Band).
Strukturen
und mehr oder weniger dauerhaft – ihre Plätze in den funktionalen Systemen
ein. Und weil das sehr verschiedene Systeme sein können, überkreuzen sich
die Mitgliedschaften und die Interessen der Akteure mehr und mehr. Über die
gleichwohl vorhandenen und mit – letztlich: unbegrenzten – Ansprüchen ver-
sehenen Interessenlagen entstehen in einem großen Umfang korporative Inte-
ressenvertretungen – Gewerkschaften und Arbeitgeberbände, Krankenkassen
und kassenärztliche Vereinigungen, Radfahrerverband und ADAC, etwa. Das
hat zwei Folgen: Einerseits treten diese Korporationen und Verbände als in-
termediäre Instanzen vermittelnd zwischen die Individuen und die verschie-
denen funktionalen Systeme, insbesondere dem des politischen Systems, dem
ja immer noch die Gesetzgebung mit seinen durchschlagenden Folgen unter-
liegt. Andererseits entstehen nun sehr asymmetrische Beziehungen: Die kor-
porativen Akteure der Verbände sind mächtig, unsterblich und anonym, die
einzelnen Menschen, die mit ihnen zu tun haben, jedoch ohnmächtig, sterblich
und einzigartig. Allein schon aufgrund der immensen Größe der Bevölkerung
sind enge und persönliche Kontakte mit allen Mitgliedern einer Gesellschaft
unmöglich, und finden weiterhin auch nun nur in kleinen Verkehrskreisen
statt. Es nehmen jedoch die sog. weak ties immer mehr zu: die sporadischen
und nur partiellen, oft lediglich funktional begründeten Gelegenheitskontakte.
Und die sorgen auf eine indirekte Weise für die Verknüpfung der Verkehrs-
kreise und Lebenswelten – und ungewollt zur (systemischen) Integration des
gesamten Systems. Es kommt ferner zu einer verbreiteten Kreuzung der sozia-
len Kreise und damit unvermeidlicherweise zu einer „Spaltung“ der Identitä-
ten der Menschen, darüber zu ihrer „Individualisierung“ und zum Gefühl ei-
nes „Selbst“-Bewußtseins. Und insgesamt nimmt, so scheint es, das Ausmaß
der Wählbarkeit von Lebenslagen, Beziehungen und Biographien und die
„Rationalität“ der dazu nötigen Entscheidungen zu. Nicht alle empfinden das
als einen Vorteil, und genau genommen stimmt dieser subjektive Eindruck ob-
jektiv auch nicht.
Über die Superstruktur der funktional differenzierten Gesellschaften läßt
sich nur schwer etwas sagen. Legitimierende Werte mit spezifischem Inhalt
kann es kaum noch geben, weil jeder spezifische Inhalt sich unweigerlich ge-
gen den funktionalen Imperativ irgendeines der vielen Funktionssysteme rich-
ten müßte, die aber ja alle gleichermaßen unentbehrlich sind. Und abstrakte
Werte, wie der Kategorische Imperativ, die Norm der Fairneß, irgendeine „or-
ganische Solidarität“ des Gefühls der arbeitsteiligen Verbundenheit, eine uni-
versale Moral des herrschaftsfreien Konsenses oder die Berufung auf so etwas
wie die freiheitlich demokratische Grundordnung oder soziale Gerechtigkeit
sind viel zu wenig handlungsrelevant und mindestens zu interpretationsbe-
dürftig, als daß sie etwas auszurichten vermögen. Jetzt ist eben das „Ganze“
Die Gesellschaft der Menschen 455
der Gesellschaft nicht mehr in den Köpfen der Menschen präsent, und das
kann es auch gar nicht sein. Nicht ohne Grund mutiert die Religion in den
modernen Gesellschaften entweder in den Kirchen zu einem Funktionssystem
unter vielen oder sie wird in den zahllosen Sekten und neuen esoterischen
Kulten zur Privatangelegenheit, sofern nicht ohnehin die Menschen nicht
mehr an einen Gott zu glauben vermögen, der für alles verantwortlich wäre
und die Welt, den Herrscher und die Gesellschaft lenkt. Es scheint vielmehr
so zu sein: Mit dem eigenständigen Operieren der Systeme und mit der Über-
kreuzung der sozialen Kreise und Interessen bei den Akteuren stabilisiert und
integriert sich das System der funktional differenzierten Gesellschaften sozu-
sagen von selbst – und das unter Umständen auch gegen die Absichten der
Akteure, die in dieses Funktionieren eingebunden sind, darunter ächzen, sich
aber auch nichts Besseres vorstellen können und alles tun, um darin zu blei-
ben, wenn beispielsweise die Arbeitslosigkeit oder die Frühverrentung drohen
(vgl. dazu auch schon das Konzept der Verkettungsintegration in Kapitel 6
oben in diesem Band).
Damit ist auch schon die Antwort auf die Art der Konstitution der funktional
differenzierten Gesellschaften gegeben: Es ist ganz vorwiegend eine systemi-
sche Konstitution. Hierbei spielen die Mechanismen der systemischen
Integration eine zentrale Rolle: die Märkte, die Interpenetration der Systeme,
die symbolisch generalisierten Medien und die Organisationen. Weil die
Transaktionen zwar vor dem Hintergrund institutioneller Regeln stattfinden,
aber sonst mehr und mehr dereguliert und von „ständischen“ und
„solidarischen“ Vorgaben befreit werden, regieren schließlich nur noch die
Möglichkeiten und die relativen Knappheiten (vgl. dazu auch noch Band 4,
„Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Und
weil die strikte Orientierung an den Codes und den Programmen der
Funktionssysteme für die Nutzenproduktion der Akteure immer wichtiger
wird, können die Systeme ihre Eigendynamik ganz entfalten. Auf diese Weise
überziehen die relativen Knappheiten der Märkte und die Imperative der
Funktionssysteme die Situa-tion der Menschen mit einer zwingenden Kraft
wie nie zuvor in der Geschichte und in keinem anderen Typ der
gesellschaftlichen Organisation der Nutzenproduktion. Die Akteure sind
gezwungen, sich den Gesetzen der Märkte und den Imperativen der
Funktionssysteme zu beugen – nicht zuletzt, um sich darüber die Mittel zu
beschaffen, mit denen sie die Erlebnisse ihres ideosynkratischen Lebensstils
weitab von den Verpflichtungen und Entfremdungen der funktionalen
456 Die Konstruktion der Gesellschaft
gen der funktionalen Sphären erzeugen und sich so die Illusion einer „Multi-
optionsgesellschaft“ schaffen können.
In den funktional differenzierten Gesellschaften wird aber gleichzeitig, ge-
rade wegen der Effizienz der Arbeitsteilung, wegen des freien Spiels der
Märkte, der koordinierenden Kraft der generalisierten Medien und der Durch-
setzungsmacht der Organisationen ein unglaubliches Ausmaß an Surplus und
Reichtum produziert – mit der Folge, daß sich jeder in der Tat nun ganz priva-
te „Erlebnisse“ leisten kann und von der unmittelbaren Kooperation mit ande-
ren „individuellen“ Menschen immer unabhängiger wird. Und gerade wegen
dieses ungeheuren Surplus lassen die Menschen von der modernen Gesell-
schaft auch nicht, obwohl sie in einem fort darüber jammern, wie unübersicht-
lich, einsam und entfremdet das Leben inzwischen geworden sei (vgl. dazu
auch noch Abschnitt 9.3 unten und den Exkurs über Entfremdung im An-
schluß daran).
In die funktional differenzierten Gesellschaften sind die Menschen zu-
nächst ebenfalls voll inkludiert – über die verschiedenen allgemeinen Rechte,
die zivilen, die politischen und die sozialen Rechte vor allem. Aber das ist,
ganz anders als in allen Gesellschaftsformen zuvor, nur noch eine formale und
eine partielle Inklusion. Faktisch gehören die Akteure in den funktional diffe-
renzierten Gesellschaften meist nur ausschnittsweise und temporär den ver-
schiedenen sozialen Systemen an und bilden daraus u.U. ganz individuelle
Kombinationen der Mitgliedschaft zu bestimmten funktionalen Sphären, kul-
turellen Milieus und ggf. einem Devianz-Bereich, und darüber dann auch ganz
individuelle Biographien des Wechsels von einem System zum anderen.
Erstmals gibt es jetzt auch die Möglichkeit der Totalexklusion in der Gesell-
schaft: Jeder kann durchaus auch aus allen Funktionssystemen herausfallen,
und dann wären nur noch das Diakonische Werk, die Caritas oder die Bahn-
hofsszene da, wenn überhaupt. In den segmentären und in den stratifikatorisch
differenzierten Gesellschaften hätte die Totalexklusion stets auch die Exklusi-
on aus der ganzen Gesellschaft bedeutet.
Übergänge?
Die Industriegesellschaften gibt es noch nicht sehr lange, etwa seit 150 Jah-
ren, und der Typus der funktional differenzierten Gesellschaft hat sich, wenn
überhaupt, erst in den letzten 60 bis 40 Jahren und dann auch nur in wenigen
Teilen der Welt entwickelt. Bisher waren die Industriegesellschaften voll von
Resten der ständischen Verhältnisse, und sie beruhten, etwa mit den Milieus
ihrer Berufsgruppen und konfessionellen Gemeinschaften, in ihrem Zusam-
Die Gesellschaft der Menschen 457
menhalt zu einem großen Teil darauf. Erst seit ganz kurzer Zeit scheinen sich
die Dinge in die Richtung einer „wirklich“ modernen Moderne hin zu bewe-
gen – einer funktionalen Differenzierung der Gesellschaft und einer Individu-
alisierung der Akteure ganz „jenseits von Klasse und Stand“. Aber selbst dar-
an gibt es Zweifel: Was sich aufgelöst hat, sind vielleicht nur einige alte
Strukturen, etwa die der Kovariation von funktionaler und kultureller sozialer
Ungleichheit. Aber gleichzeitig haben sich neue gesellschaftliche Lagen, neue
Gruppierungen und neue „Milieus“ gebildet, mit nicht minder das Leben be-
stimmenden Vorgaben und Selbstverständlichkeiten. Gleichwohl scheint es in
der Tendenz jedenfalls nicht drastisch falsch zu sein, von einer Zunahme der
funktionalen Differenzierung und der Individualisierung zu sprechen. Und
schon seit einiger Zeit ist ja auch von der postmodernen, gar von der post-
postmodernen Gesellschaft und einer „reflexiven Modernisierung“ die Rede –
whatever it is.
Wohin geht die Reise also? Entfaltet sich die Moderne erst noch weiter?
Deutet sich ein Übergang auf ein neues Prinzip der Vergesellschaftung der
Menschen an? Stehen wir vielleicht kurz vor einem Zusammenbruch eines in
die Überhitzung getriebenen Prozesses der Modernisierung und Mobilisie-
rung? Das kann, natürlich, niemand sagen. Eine mögliche Perspektive wäre in
der Tat die komplette Durchmodernisierung der Welt, wie sie ja im Zuge der
sog. Globalisierung bereits erste Züge anzunehmen beginnt. Die vielen Trans-
formationen der Gegenwart, in der Dritten Welt, in den Schwellenländern, im
Gefolge der Auflösung des Ost-West-Konfliktes u.a. könnten als ein Schritt
auf diesem Wege angesehen werden. Und die jetzt beobachtbaren Begleiter-
scheinungen, etwa die ethnischen und religiösen Konflikte und die Tota-
lexklusionen großer Gruppen Entbehrlicher, etwa in Gestalt der Langzeitar-
beitslosen hierzulande oder der Bewohner der Slums in den Metropolen nicht
nur der Dritten Welt, müssen auch keineswegs als Zeichen für eine Umkehr
des Prozesses der Modernisierung oder für eine neue „Leitdifferenz“, die von
„Inklusion und Exklusion“ etwa, angesehen werden. Das alles sind vielleicht
nichts weiter als auch früher in „Alteuropa“ übliche, den Prozeß vielleicht
verzögernde, aber letztlich nicht verhindernde, Reaktionen und Folgen, die
nur anzeigen, daß die funktionalen Systeme ihre Eigendynamik jetzt auch
weltweit entfalten. Und mit der globalen funktionalen Differenzierung und
Wohlfahrtssteigerung (!) müßten diese Reaktionen und Folgen auch ein Ende
haben.
Kann das aber wirklich geschehen? Kaum. Denn was ist die infrastruktu-
relle Grundlage von alledem? Genau: die Ausbeutung der Rohstoffe und E-
nergiereserven der Welt, und die sind begrenzt und ihre volle Nutzung führt
zu existentiellen Grenzen, vor allem die der Umweltbelastung durch Emissio-
458 Die Konstruktion der Gesellschaft
nen oder Folgelasten. Und so gewinnt die zunächst etwas fernliegende apoka-
lyptische Vision von Max Weber schließlich doch einiges an Realitätsnähe,
als er davon sprach, daß der einmal entfesselte Vorgang der Entzauberung der
Welt, was ja nur ein anderer Ausdruck für ihre Durchmodernisierung und für
die globale funktionale Differenzierung ist, solange weitergehe, bis der letzte
Zentner fossilen Brennstoffs verglüht sei. Das wäre dann schon ganz bald der
Fall.
***
Die Entwicklung von der segmentären über die stratifikatorische zur funktio-
nalen Differenzierung scheint für den Prozeß der Vergesellschaftung jenen
Vorgang zu wiederholen, wie er für die Evolution des Lebens – bisher – all-
gemein zugetroffen hat: die stetige und sogar exponentiell zunehmende Stei-
gerung des Aktivitätsniveaus und der Autonomie von der Umwelt, stets be-
gleitet von einer Erhöhung des Energieverbrauchs (siehe dazu auch Kapitel 11
über „Evolution“ in der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“). Das läßt ei-
gentlich nur jene düsteren Prognosen zu, wie wir sie eben mit Max Weber
wiederholt haben. Niemand weiß beispielsweise bisher, wie dem weltweiten
Bevölkerungszuwachs zu begegnen ist, zumal das einzige wirklich nachhaltig
wirksame Mittel dagegen die deutliche Steigerung des Wohlstandes ist, die
technisch und institutionell wohl nur mit den Mitteln der energieintensiven
funktionalen Differenzierung möglich ist. Immer aber haben die Menschen
geglaubt, mit ihrer Zeit sei alles zu Ende. Und immer ist es bisher, trotz einer
Reihe von Unterbrechungen oder gar Katastrophen und „Untergängen“, wei-
tergegangen: Et hätt noch immer jot jejange.9 So auch wohl diesmal. Einem
Schamanen aus dem Neolithicum oder einem absoluten Herrscher aus der
Feudalzeit müßte der Reichtum des Durchschnittsbürgers hierzulande mär-
chenhaft vorkommen, und manche Dinge hätte er für unmöglich halten müs-
sen, wie das Farbfernsehen, das schmerzlose Ziehen eines Zahnes, die politi-
sche Herrschaft des gemeinen Volkes oder die Institution der Rentenversiche-
rung. Wir können eben nicht wissen, welchen Weg die Entwicklung der
menschlichen Gesellschaft morgen einschlagen wird, allein schon deshalb
nicht, weil niemand absehen kann, mit welchen Erfindungen die Menschen
mit all ihrer Kreativität und Raffinesse noch aufwarten werden. Dazu gehören
9
Siehe auch Hartmut Esser, Kleines Lexikon der Kölner Schule, 3., wesentlich erweiterte
Aufl., Ratingen und Bergisch Gladbach 2000 (zuerst: 1990), Stichwort „Funktionalis-
mus“.
Die Gesellschaft der Menschen 459
sicher zuerst technische, aber auch soziale Erfindungen, wie solche zur Ver-
hinderung jener Totalexklusionen, die den Weg der funktionalen Differenzie-
rung zu säumen und zu gefährden beginnen. Die Wissenschaft ist jene funkti-
onale Sphäre, die zur Vorbereitung solcher Erfindungen besonders berufen,
und eine Produktivkraft, die dazu auch in der Lage ist. Und die Soziologie ist
dabei jene Wissenschaft, die hier auch ihre ganz spezielle und unverzichtbare
Aufgabe hat. Sie hätte die Frage zu beantworten, wie die gesellschaftlichen
Verhältnisse aussehen müßten, damit die Welt für alle, die darin leben, auch
in Zukunft ein wohnlicher Platz sein kann. Bisher wissen wir mehr darüber,
was nicht geht, welche Maßnahme unwirksam und welche Hoffnung trüge-
risch ist, wie beispielsweise die Herstellung des herrschaftsfreien kommunis-
tischen Paradieses über die Abschaffung des Privateigentums. Wir wissen a-
ber auch, was für diese Aufgabe mindestens nötig ist: eine gute und erklä-
rungskräftige theoretische Grundlage. Allgemeine und spezielle Grundlagen.
Exkurs über die Frage, wie sinnvoll es ist, „Typen“ der Gesell-
schaft zu unterscheiden
Die Grundidee
Bei der Beschreibung und, vor allem, bei der Begründung der „Wahlver-
wandtschaft“ von protestantischer Ethik und kapitalistischer Gesellschafts-
ordnung hat Max Weber die Sache, wie das für die Soziologie im Unterschied
zur Geschichtswissenschaft üblich und richtig ist, sehr stilisiert, nicht zuletzt
durch den Trick, eine besonders extreme Variante des Protestantismus, den
Calvinismus, für seine Argumente heranzuziehen. Andere Versionen des Pro-
testantismus wären viel weniger geeignet gewesen. So aber hatte alles eine
ganz besondere „situationslogische“ Reinheit, die dem Verständnis der
Grundprozesse sehr zustatten gekommen ist. Sowohl die dabei geschilderte
innere Einstellung der protestantischen Ethik wie die des Geistes des Kapita-
lismus waren aber – so hat das Max Weber selbst immer gesehen – empirisch
zu keiner Zeit in ihrer stilisierten Reinheit so vorhanden wie er dies formuliert
und zugespitzt hat. Und auch der Zusammenhang zwischen den drei Elemen-
ten – die wechselseitige Konstitution von protestantischem Glauben, der Wirt-
schaftsordnung des Kapitalismus und der innerweltlichen Askese der Men-
schen – ist keineswegs eine historisch vollkommen zutreffende Konstellation
gewesen. Auch dies war eine stilisierende Übertreibung.
Denn: Die Calvinisten waren in den Ländern und Epochen, in denen sie eine strikte sektiere-
rische Intoleranz zu begründen vermochten, keineswegs innovativer als die Katholiken in den
katholischen Ländern. Den Geist des Kapitalismus trugen vielmehr vor allem Emigranten und
Ausgestoßene aller Art: Juden, Katholiken und freilich auch Calvinisten, die wegen ihres
Glaubens auswandern mußten. Sie – die Ausgestoßenen und zu einem marginalen Dasein Ge-
zwungenen – waren es, denen der klösterliche Müßiggang und die kirchliche Verschwen-
dungssucht auf die Nerven gingen und damit ihrem Daseinsentwurf, der sich auch aus ihrer
aktuellen Lebenslage und den dadurch erzeugten Interessen ergab, zutiefst widersprachen.
Die wichtigsten Einzelheiten zum Konzept des Idealtypus hat Max Weber in einem seiner be-
rühmtesten Aufsätze zur Wissenschaftslehre, dem über „Die ‚Objektivität‘ sozialwissen-
schaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ von 1904, zusammengefaßt.10 Ihm geht es da-
bei um eine Art von Ausweg aus dem Trilemma der ganz auf den Einzelfall bezogenen Be-
trachtungsweise der Historiker, der nicht nur für ihn recht leeren ökonomischen Generalisie-
rungen etwa im Grenznutzengesetz und der wissenschaftlich nicht begründbaren Wertungen
der Sozialpolitiker seiner Zeit. Kurz: Weber sucht nach einer Methode, die es erlaubt, gleich-
zeitig historisch spezifisch und beschreibend, modellierend allgemein und erklärend (und
wertneutral) zu sein – so wie dies die moderne erklärende Soziologie ja auch zu tun beabsich-
tigt.
Was ist nun ein Idealtypus? Für Max Weber vereinigt ein Idealtypus
„ ... bestimmte Beziehungen und Vorgänge des historischen Lebens zu einem in sich wider-
spruchslosen Kosmos gedachter Zusammenhänge.“ (Weber 1982, S. 190; Hervorhebungen
so nicht im Original)
Gewonnen wird er
„ ... durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusam-
menschluß einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht,
vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten
fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankengebilde.“ (Ebd., S. 191; Hervorhebungen so
nicht im Original)
Auf den ersten Blick könnte man also meinen, Idealtypen wären so etwas wie
abstrahierende Modelle sozialer Prozesse oder Gleichgewichte, von denen wir
ja in diesem Buch schon reichlich Gebrauch gemacht haben und in den fol-
genden Bänden noch werden. Das wäre aber ein Trugschluß: Idealtypen sind
keine abstrakten formalen Modelle, es sind auch keine allgemeinen und auf
andere inhaltliche Konstellationen anwendbaren Strukturmodelle (vgl. dazu
schon die Kapitel 1 und 8 in diesem Band). Deren Besonderheit ist ja, daß sie
eben keine inhaltlichen „Wahlverwandtschaften“, sondern ausschließlich for-
male oder strukturelle Muster und Zusammenhänge enthalten, die dann auf
ganz verschiedene inhaltliche Vorgänge angewandt werden können. Idealty-
pen sind vielmehr vereinfachende, „bereinigende“ und auf ausgewählte Ge-
sichtspunkte zuspitzende Beschreibungen von inhaltlichen und historisch-
spezifischen Zusammenhängen. Dabei geht es auch nicht um die Darstellung
der „wirklichen“ Verhältnisse, sondern darum,
10
Max Weber, Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis,
in: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 5. Aufl., Tübingen 1982
(zuerst: 1904), S. 190. Vgl. zur methodologischen Rekonstruktion des Konzeptes des Ide-
altypus bei Weber auch: Michael Schmid, Idealisierung und Idealtyp. Zur Logik der Ty-
penbildung bei Max Weber, in: Gerhard Wagner und Heinz Zipprian (Hrsg.), Max We-
bers Wissenschaftslehre. Interpretation und Kritik, Frankfurt/M. 1994, S. 422ff.
462 Die Konstruktion der Gesellschaft
Idealtypen hatten für Max Weber zunächst genau auch diese Funktion: Sie
sind ein Hilfsmittel der stilisierenden und vereinfachenden Darstellung und
dienen der weiteren Hypothesengewinnung:
„Diese Möglichkeit (der Veranschaulichung durch den Idealtypus; HE) kann sowohl heuris-
tisch wie für die Darstellung von Wert, ja unentbehrlich sein. Für die Forschung will der ide-
altypische Begriff das Zurechnungsurteil schulen: er ist keine ‚Hypothese‘, aber er will der
Hypothesenbildung die Richtung weisen. Er ist nicht eine Darstellung des Wirklichen, aber er
will der Darstellung eindeutige Ausdrucksmittel verleihen.“ (Ebd., S. 190)
Und wegen dieser heuristischen Funktion gilt auch das, was wir oben schon
der historischen Genauigkeit wegen für den Zusammenhang von protestanti-
scher Ethik und dem Geist des Kapitalismus haben sagen müssen:
„In seiner begrifflichen Reinheit ist dieses Gedankenbild nirgends in der Wirklichkeit empi-
risch vorfindbar, es ist eine Utopie, und für die historische Arbeit erwächst die Aufgabe, in
jedem einzelnen Falle festzustellen, wie nahe oder wie fern die Wirklichkeit jenem Idealbilde
steht ... .“ (Ebd., S. 191)
Ein Idealtypus ist also eine „Idee“ – eine Idee, die der Wissenschaftler hat,
nicht unbedingt aber auch die Menschen, von denen er spricht. Die Kovariati-
onen der Variablen werden dabei gedacht. Sie sind keine empirischen Kovari-
ationen. Ein Idealtypus
„ ... ist ein Gedankenbild, welches nicht die historische Wirklichkeit oder gar die ‚eigentliche‘
Wirklichkeit ist, ... sondern welches die Bedeutung eines rein idealen Grenzbegriffes hat, an
Die Gesellschaft der Menschen 463
Die Merkmale des Idealtypus kommen also in der Wirklichkeit in ihrer gan-
zen aseptischen Reinlichkeit nicht vor – selbst innerhalb der engen Grenzen
nicht, in denen er dann doch wenigstens einmal dem Gedankenmodell auch
historisch nahekam: Auch die Calvinisten hatten alle ihre schwachen Momen-
te, und natürlich ließen es sich auch die Frükapitalisten schon einmal kräftig
gut gehen. Aber immerhin kommt auch die etwas schmutzige Wirklichkeit
nicht vollkommen regellos daher, sondern oft genug in Mustern und Clustern
– in realen Mustern und Clustern. Die empirischen Kovariationen bestimmter
Variablen in sozialen Gebilden werden auch als Realtypus bezeichnet. Mit
ihm wird der Idealtypus verglichen. Und dann kann – bei systematischen Ab-
weichungen im Einzelfall – unter anderem gefragt werden, woran denn wohl
die Abweichung vom Idealtypus gelegen haben mag.
Der Spezialfall der Zweckrationalität dient – Max Weber jedenfalls – also als
eine Art von Referenzmodell der Hypothesenbildung:
„Solche idealtypische Konstruktionen ... stellen dar, wie ein bestimmt geartetes, menschliches
Handeln ablaufen würde, wenn es streng zweckrational, durch Irrtum und Affekte ungestört,
... wäre.“ (Ebd., S. 4; Hervorhebungen im Original)
11
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5.
Aufl., Tübingen 1972 (zuerst: 1922), S. 2f.; Hervorhebungen im Original.
464 Die Konstruktion der Gesellschaft
Die Annahme der Zweckrationalität bietet sich nach Weber insbesondere des-
halb an, weil sie, wie wir aus Abschnitt 6.3 in Band 1, „Situationslogik und
Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ wissen, für ihn das „Höchstmaß an
‚Evidenz‘“, an „Verständlichkeit“ und „Sinn“ eines Handelns oder eines
Handlungszusammenhangs liefert. Aber:
„Das reale Handeln verläuft nur in seltenen Fällen (Börse) und auch dann nur annäherungs-
weise so, wie im Idealtypus konstruiert.“ (Ebd.; Hervorhebung nicht im Original)
Die Funktion der Konstruktion eines Idealtypus ist also nicht die „Abbildung“
der wirklichen Vorgänge. Sondern:
„Die Konstruktion eines streng zweckrationalen Handelns also dient in diesen Fällen der So-
ziologie, seiner evidenten Verständlichkeit und seiner – an der Rationalität haftenden – Ein-
deutigkeit wegen, als Typus (‚Idealtypus‘), um das reale, durch Irrationalitäten aller Art (Af-
fekte, Irrtümer) beeinflußte Handeln als ‚Abweichung‘ von dem bei rein rationalem Verhalten
zu gewärtigenden Verlaufe zu verstehen.“ (Ebd., S. 3; Hervorhebung im Original)
Mit der Verwendung von Idealtypen ist – darauf besteht Max Weber ganz
nachdrücklich – also in keiner Weise auch bereits behauptet, daß die Welt tat-
sächlich so aussehe. Idealtypen sind auch, anders als die formalen Modelle
und anders als die Strukturmodelle, keine Versuche einer modellierenden so-
ziologischen Erklärung, sondern ausschließlich ein heuristischer Ausgangs-
punkt dafür.
Historische Individuen
Weil Idealtypen eben keine formalen Modelle sind, sondern stilisierende Be-
schreibungen inhaltlich-spezifischer Zusammenhänge, stehen sie in einem je-
weils besonderen historischen Kontext und sind auch nur in diesem speziellen
Kontext „sinnhaft“ und „verständlich“. Es sind, wie Max Weber sagt, „histo-
rische Individuen“. Das sind Konstellationen von Zusammenhängen von Insti-
tutionen, Ideen, Interessen und Handlungsweisen, die eine ganz besondere,
unverwechselbare und nur an diesen Typus und an die betreffende Gesell-
schaft oder Epoche gebundene „Kulturbedeutung“ tragen: Die protestantische
Ethik, speziell den Calvinismus, gab es nur einmal, ebenso wie die besondere
Form der kapitalistischen Lebensführung in der Art einer innerweltlichen As-
kese – nicht vorher und in dieser Form auch nicht nachher. Und dies ist ja der
Kern der immer wieder neuen Geschichte der Menschen: Der „Sinn“ muß
immer ein neuer sein, da er ja stets auf den bereits versunkenen Entwicklun-
gen aufbaut.
Die Gesellschaft der Menschen 465
Neben Idealtypen von historischen Individuen unterscheidet Max Weber auch solche von
sog. „Gattungsbegriffen“. Damit meint er offenbar bestimmte „ahistorische“ Gesetze – etwa
das Gesetz des abnehmenden Grenznutzens, das des abnehmenden Grenzertrags bei den
meisten Produktionsfunktionen oder die „reinen“ Gesetze des Tausches und der Nachfrage,
von denen Carl Menger sprach, als er sich gegen den Historismus eines Gustav Schmoller ab-
setzen wollte und meinte, daß es irgendwann genug sei mit der historischen Beschreibung
von Zusammenhängen, etwa zwischen Preis und Nachfrage nach einem Gut: „Man denke nur
an die Fleischpreise von Elberfeld! von Pforzheim! von Mülheim! von Hildesheim! von
Germersheim! von Zwickau! u.s f.“12, spottete er gegen Schmoller und die detailverliebten
Historiker ganz allgemein. Idealtypen von Gattungsbegriffen sind also ganz abstrakte, von je-
dem „historischen“ Inhalt bereinigte und gegen störende Einflüsse gedanklich isolierte Zu-
sammenhänge – wie die erwähnte Gesetzmäßigkeit, daß allgemein und immer die Nachfrage
nach einem beliebigen Gut mit steigendem Preis sinkt – nicht nur in Elberfeld, Pforzheim,
Mühlheim, Hildesheim, Germersheim und Zwickau. Die theoretischen Gesetze der National-
ökonomie beruhen darauf. Es handelt sich dabei um nichts anderes als um formale Modelle
der Situationslogik. Und die „gelten“, wie man glaubt, ja als Modelle ganz ohne jeden „Sinn“,
kontextfrei und ohne jede besondere „Kulturbedeutung“.
12
Carl Menger, Die Irrthümer des Historismus in der Deutschen Nationalökonomie, Wien
1884, S. 38.
466 Die Konstruktion der Gesellschaft
Idealtypen sind somit für Max Weber eine Art von, wie er selbst sagt, „Beg-
riffsstenographie“ (Ebd.; S. 195) über einen, wie wir sagen könnten, von
Störgrößen befreiten situationslogischen Prozeß, der zu einer stabilen Kovari-
ation bestimmter inhaltlicher, historisch spezifischer Merkmale geführt hat,
sich für eine Zeit lang reproduziert, vom Wissenschaftler mit einem griffigen
Kürzel versehen werden kann – Kapitalismus, Stadt, Handwerk, Sekte, Land-
wirtschaft, Bürokratie und so weiter – und ihm als gedanklicher Referenz-
punkt für seine Hypothesenbildung im Vergleich zu den realen Verhältnissen
dienen kann.
Gänzlich neu sind diese Gedanken ohne Zweifel nicht. In der – uns inzwischen etwas ge-
wohnteren – Sprache der erklärenden Soziologie lassen sie sich so umschreiben: Idealtypen
sind Bündel von stilisierten Situationsbeschreibungen bzw. von Brückenhypothesen und typi-
schen stabilisierten aggregierten Effekten für einen besonderen, historisch eventuell einmali-
gen, Fall – wie beispielsweise der Idealtypus des Locals und der des Cosmopolitans in unse-
rem Beispiel der Studentenunruhen an den amerikanischen Universitäten in den 60er Jahren
(vgl. dazu u.a. Kapitel 1, 3 und 10 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziel-
len Grundlagen“) oder die Unterscheidung der drei Typen von segmentär, stratifikatorisch
und funktional differenzierten Gesellschaften in Abschnitt 9.2 gerade oben.
Idealtypen sind damit ohne Zweifel wichtige und höchst nützliche Vorstufen
für die „eigentliche“ Erklärung gesellschaftlicher Prozesse und funktionaler
Gleichgewichte. Sie informieren über die grundlegenden Alternativen, Motiv-
und Wissensstrukturen der Akteure, über deren typisches Tun und über typi-
sche Folgen ihres Tuns in einem historisch spezifischen Kontext. Es sind ge-
dankliche Abstraktionen für die wichtigen Randbedingungen und für typische
kollektive Folgen bei der gesuchten Erklärung. In sie geht – meist in undeutli-
Die Gesellschaft der Menschen 467
Oft fehlt für die eigentliche Erklärung des als Hypothese im Idealtypus be-
haupteten und im Realtypus hoffentlich auch gefundenen Zusammenhangs
aber noch viel. Bei gut – das heißt immer: mit viel Hintergrundwissen – kon-
struierten Idealtypen ist es bis zu einer korrekten soziologischen Erklärung al-
lerdings meist kein besonders weiter Weg mehr, weil die wichtigste Arbeit
schon begonnen wurde: die typisierende Beschreibung der Logik der Situation
und der wichtigsten materiellen, institutionellen und kulturellen Umstände zur
korrekten Ableitung der aggregierten Wirkungen des Handelns der Menschen.
Historische Entwicklungen
So weit, so harmlos und so nützlich – wenn man die Soziologie nicht als eine
Wissenschaft mißversteht, die zwar kausale Erklärungen anstrebt, jedoch
glaubt, daß diese kausalen Erklärungen – womöglich: nur – über „Gesetze“
13
Raymond Boudon und François Bourricaud, Religion, in: Raymond Boudon und François
Bourricaud, Soziologische Stichworte, Opladen 1992b, S. 421.
468 Die Konstruktion der Gesellschaft
der gesellschaftlichen Entwicklung möglich sei, und daß die Idealtypen von
Entwicklungen auch empirische Gesetze von makrosozialen Entwicklungen
wiedergeben würden.
Dazu ein etwas anderes Beispiel. So lassen sich etwa die typischen Bevölkerungsweisen des
Mittelalters und des Industriezeitalters als einfache Formen von Idealtypen verstehen. Die
mittelalterliche Bevölkerungsweise ist in idealtypischer Weise durch hohe Geburtenzahlen
und eine enorme Sterblichkeit besonders der Kinder und der Mütter gekennzeichnet. Die Be-
völkerungsweise des Industriezeitalters ist dem genau entgegengesetzt: eine niedrige Sterb-
lichkeit und eine ebenfalls niedrige Geburtenrate. Historisch sind in Europa beide Bevölke-
rungsweisen aufeinandergefolgt: von einer stagnierenden bzw. nur langsam wachsenden Be-
völkerung mit einem hohen „Umsatz“ an Geburten und Sterbefällen zu einer stagnierenden
bzw. leicht schrumpfenden Bevölkerung bei geringen Geburtenraten und niedriger Sterbezif-
fer. Die Entwicklung von der einen zur anderen Bevölkerungsweise – jeweils Idealtypen –
wurde ihrerseits in einem idealtypischen Modell zusammengefaßt: der sog. „Theorie vom
demographischen Übergang“. Es ist eine Stilisierung des historischen Verlaufs des Wechsels
der einen auf die andere Bevölkerungsweise. Und hier wird das von Weber angesprochene
Problem unmittelbar und handgreiflich deutlich: Der „demographische Übergang“ ist nicht
das „Gesetz“, das die Entwicklung vorantrieb, sondern nur eine begriffliche Stilisierung und
typisierende Beschreibung des Ablaufs. Die „realen“ Prozesse hatten vielmehr mit einem
durchaus komplexen Zusammenspiel von medizinischen Fortschritten, Bevölkerungswachs-
tum, Wohlstandsmehrung und einem dadurch erzeugten Nachlassen der „Nachfrage“ nach
Kindern zu tun.14
14
Vgl. dazu die anschauliche Darstellung bei Bernhard Felderer und Michael Sauga, Bevöl-
kerung und Wirtschaftsentwicklung, Frankfurt/M. und New York 1988, Teil I und III,
sowie Teil E der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“.
Die Gesellschaft der Menschen 469
Für die gedankliche „Erprobung einer Hypothese“ ist dies nach Weber alles
ganz unproblematisch:
„Der Vorgang bietet keinerlei methodologische Bedenken, so lange man sich stets gegenwär-
tig hält, daß idealtypische Entwicklungskonstruktion und Geschichte zwei streng zu schei-
dende Dinge sind und daß die Konstruktion hier lediglich das Mittel war, planvoll die gültige
Zurechnung eines historischen Vorgangs zu seinen wirklichen Ursachen aus dem Kreise der
nach Lage unserer Erkenntnis möglichen zu vollziehen.“ (Ebd., S. 203f.; Hervorhebungen im
Original)
Das Problem entsteht aber sofort dann, wenn die aus heuristischen Zwecken
vorgenommene Vereinfachung der Abfolge „von Idealtypen bestimmter Kul-
turgebilde“ zu einer „genetischen Klassifikation“ mit dem wirklichen ge-
schichtlichen Ablauf eins gesetzt und „ineinander gearbeitet“ wird:
„Die nach den gewählten Begriffsmerkmalen sich ergebende Reihenfolge der Typen erscheint
dann als eine gesetzlich notwendige historische Aufeinanderfolge derselben. Logische Ord-
nung der Begriffe einerseits und empirische Anordnung des Begriffenen in Raum, Zeit und
ursächlicher Verknüpfung andererseits erscheinen dann so miteinander verkittet, daß die Ver-
suchung, der Wirklichkeit Gewalt anzutun, um die reale Geltung der Konstruktion in der
Wirklichkeit zu erhärten, fast unwiderstehlich wird.“ (Ebd., S. 204; Hervorhebungen nicht im
Original)
Aus heutiger Sicht mag ein dritter Aspekt der idealtypischen Konstruktionen,
mit dem sich Max Weber in dem Objektivitätsaufsatz noch beschäftigt, zu-
nächst etwas überholt klingen. Wir fügen ihn gleichwohl an dieser Stelle nicht
nur der Vollständigkeit halber kurz ein, weil nicht oft genug an das Problem
erinnert werden kann: die möglichst deutliche Scheidung der beschreibenden
und der wertenden Aspekte von „Ideal“-Typen und die Trennung von sozio-
logischer Erklärung der Gesellschaft und der eventuellen Folgen solcher Er-
klärungen wieder für die Konstruktion der Gesellschaft. Idealtypen sollen –
nach Max Weber – in ihrer Konstruktion nur den logischen und methodischen
Kriterien folgen, die wir oben besprochen haben. Sie haben nichts damit zu
tun, daß sie selbst als „im praktischen Sinne: vorbildliche Typen“ (Ebd., S.
470 Die Konstruktion der Gesellschaft
Die idealtypische Vereinfachung ist ein nach wie vor beliebtes Stilmittel der
Soziologie – vor allem zur griffigen und überzeichnenden Etikettierung eines
zentralen Gesichtspunktes, unter den die Analyse gestellt werden soll, insbe-
sondere um einen bestimmten Gedanken einer weiteren Öffentlichkeit einfach
und griffig zu verkaufen. Dies geschieht besonders gerne bei den sog. Gesell-
schaftsanalysen. Sie stehen oft unter einem Etikett, das die gesamte Untersu-
chung leitet und die Aufmerksamkeit auf einen Gesichtspunkt lenken soll.
Meist sind diese Etikettierungen sehr übertrieben.
Ulrich Beck übertrieb – beispielsweise – in diesem Sinne zweifellos mit seinem Buch von der
„Risikogesellschaft“, ebenso wie Gerhard Schulze oder Peter Gross, die beide mit der „Erleb-
nisgesellschaft“ und der „Multioptionsgesellschaft“ nicht nachstehen wollten. Alle hatten
durchaus nachvollziehbare Gründe für ihre Übertreibungen, auch dann, wenn die sorgfältige-
re soziologische Forschung manche der Annahmen hinterher als fragwürdig erwiesen hat: In
der modernen Gesellschaft ist für die Menschen vieles tatsächlich riskanter geworden, als sie
mehr und mehr selbst entscheiden müssen, was vorher Schicksal war – ihre Biographie und
die Ausgesetztheit gegenüber selbst erzeugten Risiken vor allem. Und mit dem wachsenden
Wohlstand tritt wohl tatsächlich das Motiv zu dem unmittelbaren Konsum-Erlebnis gegen-
über einem eigenen Motiv zur asketischen Investition in den Hintergrund – auch weil wir alle
im Alltag ohnehin etwas sein müssen, was der Puritaner sein wollte, und wodurch der mate-
rielle Hintergrund der Erlebnisgesellschaft erst geschaffen wird: Berufsmensch. In der Rich-
tung, nicht in den „wirklichen“ Verhältnissen, haben Ulrich Beck und Gerhard Schulze bzw.
Peter Gross durchaus eine wichtige Aufklärungsarbeit über bestimmte gesellschaftliche Zu-
sammenhänge geleistet. Aber festgeschriebene Biographien, Zwänge und Restriktionen und
nicht-„konstruierte“ Naturkatastrophen gibt es nach wie vor. Und allzu viele Menschen kön-
nen sich einen Landrover für die Produktion des Erlebnisses einer Geländefahrt durch die
Fußgängerzone weder heute noch in Zukunft leisten.
Die Gesellschaft der Menschen 471
15
Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, Leipzig 1887.
472 Die Konstruktion der Gesellschaft
„Gemeinschaft“
Unter „Gemeinschaft“ faßte Tönnies jene Art der Organisation der sozialen
Beziehungen, die auf Gefühlen der unbefragten Solidarität und Zusammenge-
hörigkeit beruht: Blutsverwandtschaft, enge Nachbarschaften, Freundschaften
und als prototypisches Beispiel die Beziehung zwischen Mutter und Kind.
Davon unterschied er die „Gesellschaft“, deren wesentliches Merkmal die ra-
tionalen Abwägungen von Vorteil und Nachteil und die egoistischen Interes-
sen als Grundlage der Beziehungen der Menschen sei. Nicht notwendigerwei-
se, aber empirisch häufig und theoretisch leicht erklärbar, sind Gemeinschaf-
ten in aller Regel zahlenmäßig recht kleine und in ihrer personalen Zusam-
mensetzung auch stabile Gruppierungen: Affektuell geprägte Solidarität kann
man schon aus Gründen zeitlicher Restriktionen mit nur wenigen konkreten
„signifikanten“ Anderen und aus psycho-physischen Gründen nur mit „iden-
tisch“ bleibenden Personen entwickeln. Gemeinschaften sind als eigenständi-
ge soziale Gebilde nicht ohne Grund so gut wie nur in der Form von kleinen
und dauerhaft organisierten Lebenswelten, etwa von Familien und Verwandt-
schaftssystemen sowie – auf der Ebene kompletter Gesellschaften – in der Art
von Stammesgesellschaften vorfindbar.
Ethnische und nationale Zusammengehörigkeiten sind weiter gezogene und daher grundsätz-
lich schon weniger effiziente Quellen der Produktion von Wertschätzung über gemeinschaft-
liche Solidarität als die kleinen Lebenswelten des Alltags. Sie beruhen aber auch immer dar-
auf, daß es stabile Verhältnisse und Nahumwelten gibt, die die abstrakten Gruppensolidaritä-
ten in den Alltag hineintragen. Gibt es diese Stabilität und insbesondere die Nahumwelten
nicht, dann verfallen die übergreifenden Solidaritäten rasch – wie in Nazi-Deutschland zum
Ende des 2. Weltkrieges oder in Jugoslawien mit dem Zerfall des Sozialismus. Wie voraus-
setzungsreich die Entstehung affektueller Gemeinsamkeiten ist, sieht man leicht bei den
Schwierigkeiten für den Aufbau eines Gefühls der europäischen Identität (vgl. dazu insge-
samt auch noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Sharing Groups
Aber die soziale Wertschätzung ist ja nicht alles, und sie macht auch nur be-
grenzt satt. Typisch ist in den funktional diffus organisierten kleinen Stam-
mesgesellschaften dann auch die Knappheit und die Unterversorgung mit den
Mitteln für die Erzeugung von physischem Wohlbefinden, jenem zweiten all-
gemeinen Bedürfnis, von dem in Kapitel 3 in Band 1, „Situationslogik und
Die Gesellschaft der Menschen 473
16
Vgl. Siegwart Lindenberg, Sharing Groups: Theory and Suggested Applications, in: Jour-
nal of Mathematical Sociology, 9, 1982, S. 33ff.; Siegwart Lindenberg, Normen und die
Allokation sozialer Wertschätzung, in: Horst Todt (Hrsg.), Normengeleitetes Verhalten in
den Sozialwissenschaften, Berlin 1984, S. 178ff.
474 Die Konstruktion der Gesellschaft
dem jeweils unterversorgten Bereich gerichtet. Und deshalb gibt es meist auch
kein Halten mehr, wenn sich die Chance bietet, aus der Enge der zwar solida-
rischen, aber meist nur der Not gehorchenden Gemeinschaften auszubrechen.
Max Weber hat dieses Drängen so beschrieben:
„Die inneren und äußeren Motive, welche das Schrumpfen der straffen Hausgewalt bedingen,
steigern sich im Verlauf der Kulturentwicklung. Von innen her wirkt die Entfaltung und Dif-
ferenzierung der Fähigkeiten und Bedürfnisse in Verbindung mit der quantitativen Zunahme
der ökonomischen Mittel. Denn mit Vervielfältigung der Lebensmöglichkeiten erträgt schon
an sich der Einzelne die Bindung an feste undifferenzierte Lebensformen, welche die Ge-
meinschaft vorschreibt, immer schwerer und begehrt zunehmend, sein Leben individuell zu
gestalten und den Ertrag seiner individuellen Fähigkeiten nach Belieben zu genießen.“ (We-
ber 1972, S. 226)
Dies alles zeigt die Unwiderstehlichkeit des Weges hin zu einer effizienteren
Produktion der Mittel für das physische Wohlbefinden, hin zu mehr an Ar-
beitsteilung und damit hin zur funktionalen Differenzierung und zur Entwick-
lung von Formen der Organisation der Nutzenproduktion vom Typ der „Ge-
sellschaft“.
„Gesellschaft“
Das haben die Menschen sicher nicht bedacht, als sie der Enge des Haus-
kommunismus entfliehen wollten. Aber: Das Bedürfnis nach sozialer Wert-
schätzung ist ganz allgemein und verschwindet in der Entzauberung der Welt
in der Moderne in keiner Weise. Mit der über die funktionale Differenzierung
strukturell erzeugten Unterversorgung in Orientierung und sozialer Wert-
schätzung entsteht dort eher ein ganz besonders artikulierter Bedarf danach.
Nun
„ ... klagt man über den Egoismus des Menschen und seine materialistische Neigung, die phy-
sisches Wohlbefinden weit höher als geistige Werte und Sorge um seine Mitmenschen stellt.
Man wird auch das System kritisieren, das jeden dazu antreibt, in einem Wettrennen um hö-
heren Status gegen alle anderen anzutreten. Dagegen träumt man von einer Gesellschaft, in
der man sich um den anderen sorgt, in der gemeinsame Werte wieder zwischenmenschliche
Beziehungen bestimmen, in der die nur scheinbar altmodische Unterscheidung von ‚richtig
und falsch‘ dem Individuum wieder einen Halt gibt.“ (Lindenberg 1984, S. 190)
476 Die Konstruktion der Gesellschaft
Daraus allein erklärt sich leicht das stete Neuentstehen solcher lebensweltli-
chen Gemeinschaften – oder wenigstens: der Nachfrage danach – gerade beim
Voranschreiten der Modernisierung und der funktionalen Differenzierung. Die
Familie, nicht unbedingt die Verwandtschaft oder die Nachbarschaft, eher
schon ein Freundeskreis, noch weniger der Nationalstaat und schon gar nicht
die „Menschheit“, werden daher als „Gemeinschaft“ eher wichtiger mit der
funktionalen Differenzierung und mit der Entstehung von „Gesellschaft“. Und
wo sie als „Gemeinschaft“ ausfallen, da suchen sich die Menschen ihre Sub-
stitute, wo immer es sie dann noch zu geben scheint: Jugendsekten, rechts-
wie linksradikale Milieus und Wohn-„Gemeinschaften“ zum Beispiel. Auch
die Wiederentdeckung der ethnischen Gemeinschaften gerade in den sich
rasch modernisierenden Gesellschaften ist ein Zeichen dafür, daß es mit der
Bedienung des Bedürfnisses nach physischem Wohlbefinden alleine bei wei-
tem nicht getan ist.
Alles hängt aber dann davon ab, ob es in diesem Rahmen wieder die klei-
nen und stabilen Lebenswelten gibt, die die Voraussetzung für eine effiziente
Produktion von sozialer Wertschätzung bilden. Und gerade die sind ja durch
die anonymen „Systeme“ der modernen „Gesellschaft“ in hohem Grade ge-
fährdet. Es tut sich also ein gesellschaftlich ohne Zweifel folgenschweres Di-
lemma auf: Es gibt – vor die Wahl von „Gemeinschaft“ oder „Gesellschaft“
gestellt – offenbar eine unvermeidliche Unterversorgung bei jeweils einem der
beiden allgemeinen Bedürfnisse.
Die jeweilige Art der Unterversorgung hat – darauf kann nicht oft genug hingewiesen werden
– jeweils unhintergehbare technische Gründe der speziellen gesellschaftlichen Organisation
der sozialen Produktionsfunktionen. Sie sind allein deshalb strukturell angelegt und – zu-
nächst jedenfalls – ganz und gar unvermeidlich: Was den Wohlstand erzeugt, unterminiert
notwendigerweise die Versorgung mit Affekt und Wertschätzung. Und was Affekt und Wert-
schätzung bereitstellen kann, gefährdet unvermeidlich die effiziente Produktion der materiel-
len Lebensmittel.
Aber seien wir nicht allzu pharisäerhaft. Denn erst mit einer gewonnenen
Wahl kann unser Berufspolitiker ja an die Produktion der ihn wirklich interes-
sierenden personalen Zwischengüter denken: Ansehen draußen im Lande, ei-
ne Villa und eine Geliebte im Tessin oder ein Platz im Buche der Geschichte,
vielleicht ja sogar die Durchsetzung der politischen Idee, wegen der er ange-
treten ist und gewählt wurde. Auch Politiker zählen ja zur Spezies des homo
sapiens und teilen mit allen anderen Exemplaren dieser Gattung das Bedürfnis
nach sozialer Wertschätzung und nach physischem Wohlbefinden. Und des-
halb tut auch ein Politiker – wie jeder normale „Rollenträger“ – alles, was das
Amt und die Funktion von ihm verlangen, obwohl es ihn oft genug „eigent-
478 Die Konstruktion der Gesellschaft
lich“ nicht die Bohne interessiert. Und wenn er seine Sache gut, also nach den
Vorgaben der Imperative der funktionalen Sphäre der Politik, macht, dann
sollten uns seine Motive auch ganz egal sein.
Durch die funktionale Art der Nutzenproduktion wird also auf strukturelle
und damit: unvermeidliche, Weise eine gewisse „Entfremdung“ der Menschen
von dem erzeugt, was sie „eigentlich“ wollen. Sie wünschen sich immer nur
soziale Wertschätzung und physisches Wohlbefinden. Sie können diese Wün-
sche aber nur über Zwischengüter erfüllen. Bei arbeitsteiliger, funktionaler
Organisation der primären Zwischengüter sind diese Zwischenprodukte schon
strukturell relativ weit weg von dem, was die Menschen tatsächlich umtreibt –
weil sie Interessen entwickeln müssen für Dinge, die zwar funktional „pri-
mär“ sind, aber für sie selber oft alles andere als von primärer Bedeutung und
unmittelbarer Nähe zu ihren Bedürfnissen.
Deshalb sind moderne Gesellschaften stets – und von ihrer Konstruktion
her: unvermeidlicherweise – von einem starken Hauch der Entfremdung
durchzogen. Entfremdung ist die unmittelbare und unvermeidliche Folge der
Arbeitsteilung, der Entstehung spezifischer funktionaler Sphären und der ge-
neralisierten Medien ohne jeden weiteren „konsummatorischen“ Gehalt – und
der Preis dafür, daß die Mittel für das physische Wohlbefinden drastisch
reichhaltiger zur Verfügung stehen als – etwa – in den geschlossenen Anstal-
ten der einfachen Stammesgesellschaften.
Der Begriff der Entfremdung hat eine lange philosophische Tradition und spielte in der So-
ziologie bis vor kurzem eine durchaus beachtliche Rolle. Unter Entfremdung wird – ganz all-
gemein – eine bestimmte Beziehung der Akteure zu ihrer Umwelt verstanden: Die Umwelt
erscheint den Akteuren als eine fremde und unkontrollierbare Macht, und das Handeln wird
in dieser Umwelt als eine inhalts-, sinn- und beziehungslose Tätigkeit gesehen. Der Begriff
kann auf die Sozialphilosophen Jean Jacques Rousseau (1712-1778) und Georg Wilhelm
Friedrich Hegel (1770-1831) zurückgeführt werden. Rousseau meinte, daß mit dem Privatei-
gentum und mit der Arbeitsteilung der eigentlich ganz zufriedenstellende Naturzustand been-
det worden sei und daß die damit verbundene Unterwerfung des Menschen unter einen Ge-
sellschaftsvertrag zur „Entäußerung“ von der ursprünglichen Freiheit und zur Entfremdung
von seinem natürlichen Wesen geführt habe. Hegel sieht in einer besonderen Form der Orga-
nisation der gesellschaftlichen „Arbeit“ das Problem. Einerseits sei die Arbeit das entschei-
dende Mittel zur Aneignung der Welt, zur Überwindung der Fremdheit mit der objektiven
Welt und zur Vergrößerung der Kontrolle darüber: Arbeit sei Teil der „Selbsterzeugung“ des
Menschen. Entfremdung entstehe dann, wenn durch die Arbeit eine solche „Selbst“-
Erzeugung nicht mehr erfolge. Dies sei besonders dann der Fall, wenn die Produktion und die
Aneignung der Produkte auseinanderfallen – wie bei der Arbeitsteilung und unter den Regeln
des Privateigentums. Kurz: Wenn es ein Allokationsproblem bei der Arbeit als sog. Koopera-
tionsgut gebe (vgl. dazu noch Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Die soziologische Diskussion des Begriffs der Entfremdung ist eng mit Karl
Marx verbunden. Mit Hegel interpretiert er die Arbeit als Selbsterzeugung des
Menschen, und von Rousseau und von Hegel übernimmt er die Überzeugung,
Die Gesellschaft der Menschen 479
daß das Privateigentum und die Arbeitsteilung diesen Prozeß der Selbsterzeu-
gung unterbreche. Anders als Rousseau glaubt Marx aber, daß der Mensch
immer ein vergesellschaftetes Wesen sei und daß es jedenfalls die Vergesell-
schaftung des Menschen selbst nicht wäre, die zwingend zur Entfremdung
führt. Es ist – so Karl Marx – vielmehr der mit dem Privateigentum und mit
der Arbeitsteilung in den kapitalistischen Gesellschaften zum Höhepunkt ge-
kommene „Warencharakter“ der Arbeit, der zur Entfremdung des Menschen
von seiner Tätigkeit führt, nicht aber die Arbeit an sich oder das Ende des Na-
turzustandes (vgl. dazu auch schon die Abschnitte 3.1 und 4.6 in diesem
Band). Das ist – wie Karl Marx in seiner Jugend vor allem noch träumte – in
der kommunistischen Gesellschaft ganz anders. Dort gibt es das Privateigen-
tum nicht mehr, sind folglich die sozialen Klassen und die Klassenkonflikte
aufgehoben, und alle Menschen haben nur noch gemeinsame Interessen (siehe
dazu auch schon Abschnitt 12.3 in Band 1, „Siutationslogik und Handeln“,
dieser „Speziellen Grundlagen“). Entfremdung herrscht solange wie die
„ ... Spaltung zwischen dem besondern und gemeinsamen Interesse existiert, solange die Tä-
tigkeit also nicht freiwillig, sondern naturwüchsig geteilt ist, die eigne Tat des Menschen ihm
zu einer fremden, gegenüberstehenden Macht wird, die ihn unterjocht, statt daß er sie be-
herrscht. Sowie nämlich die Arbeit verteilt zu werden anfängt, hat Jeder einen bestimmten
ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann;
er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker und muß es bleiben, wenn er nicht die
Mittel zum Leben verlieren will ... .“17
Anders gesagt: Die primären Zwischengüter – und erst recht: die Mittel zu de-
ren Erzeugung – sind bei der „naturwüchsigen“, von den Menschen nicht kon-
trollierten, Arbeitsteilung sehr weit weg von den „eigentlichen“ Bedürfnissen,
von der Erzeugung von sozialer Wertschätzung und physischem Wohlbefin-
den also:
„Die soziale Macht, ... die durch das in der Teilung der Arbeit bedingte Zusammenwirken der
verschiedenen Individuen entsteht, erscheint diesen Individuen, weil das Zusammenwirken
selbst nicht freiwillig, sondern naturwüchsig ist, nicht als ihre eigne, vereinte Macht, sondern
als eine fremde, außer ihnen stehende Gewalt, von der sie nicht wissen woher und wohin, die
sie also nicht mehr beherrschen können, die im Gegenteil nun eine eigentümliche, vom Wol-
len und Laufen der Menschen unabhängige, ja dies Wollen und Laufen erst dirigierende Rei-
henfolge von Phasen und Entwicklungsstufen durchläuft.“ (Ebd., S. 34; Hervorhebung nicht
im Original)
17
Karl Marx und Friedrich Engels, Die Deutsche Ideologie: I. Feuerbach, in: Marx-Engels-
Werke Band 3, Berlin 1962, S. 33.
480 Die Konstruktion der Gesellschaft
„ ... wo Jeder nicht einen ausschließlichen Teil der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem belie-
bigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben
dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu
fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust ha-
be, ohne je Jäger oder Hirt oder Kritiker zu werden.“ (Ebd.; S. 33)
18
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