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Detlef Urhahne · Markus Dresel

Frank Fischer Hrsg.

Psychologie
für den Lehrberuf
Psychologie für den Lehrberuf
Detlef Urhahne
Markus Dresel
Frank Fischer
(Hrsg.)

Psychologie für den


Lehrberuf
Hrsg.
Detlef Urhahne Frank Fischer
Universität Passau Ludwig-Maximilians-Universität München
Deutschland Deutschland
Markus Dresel
Universität Augsburg
Deutschland

Ergänzendes Online-Material zu diesem Buch finden Sie auf https://lehrbuch-psychologie.springer.com

ISBN 978-3-662-55753-2 ISBN 978-3-662-55754-9 (eBook)


https://doi.org/10.1007/978-3-662-55754-9

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V

Vorwort
Wenn Lehramtsstudierende mit ihrer Ausbildung gen auf der Basis einer umfassenden pädagogisch-
an der Universität beginnen, wollen sie oft vor al- psychologischen Expertise begründet zu klären.
lem eines: eine gute Lehrkraft werden. Eine, die
bei ihren Schülerinnen und Schülern etwas be- Die Psychologie, die Wissenschaft vom Erleben
wirkt – in fachlicher wie erzieherischer Hinsicht. und Verhalten von Menschen, stellt zu diesen und
Zur Förderung dieser Aspekte ist umfangreiches vielen weiteren Fragen einen breiten Wissenska-
Wissen erforderlich: über Lernen, Gedächtnis und non zur Verfügung. Die psychologischen Erkennt-
Wissenserwerb, die geistigen, motivationalen und nisse wurden in allen Schulformen bei Schülerin-
emotionalen Voraussetzungen des Lernens sowie nen und Schülern jeden Alters und jedes sozialen,
die tief greifenden Entwicklungen im Kindes- und ethnischen und kulturellen Hintergrundes gewon-
Jugendalter. Doch auch über effektives Lehren und nen. Die theoretischen Ansätze und empirischen
Unterrichten, das wechselseitige Miteinander in Befunde sind so zahlreich, dass sie ohne eine ord-
Schule und Unterricht, professionales Erfassen und nende Orientierung, wie sie dieses Lehrbuch bietet,
Bewerten von Lernprozessen und Lernleistungen kaum zu überblicken sind. Die psychologischen
sowie über häufige Lern- und Verhaltensauffällig- Befunde und Methoden werden häufig in über-
keiten von Schülerinnen und Schülern sollte Wis- greifenden Analysen, sog. Metaanalysen, zusam-
sen vorhanden sein. Kurzum: ein umfassendes psy- mengefasst. Diese Erkenntnisse – und dies ist die
chologisches Wissen! Idee des evidenzorientierten, professionellen Han-
delns – sollen in die eigenen Entscheidungen in
Die Psychologie bietet differenzierte und empi- Unterricht und Schule einfließen, um so das Ler-
risch fundierte Erkenntnisse zu Fragen und Her- nen und die Entwicklung der Schülerinnen und
ausforderungen in Unterricht und Schule in der Schüler positiv zu beeinflussen. Werden die empi-
genannten Breite. Als Bezugsdisziplin von Pädago- risch fundierten Einsichten in Schule und Unter-
gik und Fachdidaktiken liefert sie darüber hinaus richt produktiv genutzt, werden Lehrpersonen mit
zentrale theoretische und methodische Grundla- größerer Wahrscheinlichkeit das sein, was sie ger-
gen für allgemein- und schulpädagogische sowie ne sein möchten: gute Lehrkräfte.
fachdidaktische Theorie-, Praxis- und Forschungs-
ansätze. Qualitätsvolles professionelles Handeln als Dieses Lehrbuch informiert in sieben Teilen mit
Lehrkraft ist ohne grundlegende Kenntnis des psy- dreißig Kapiteln umfassend über Erkenntnisse,
chologischen Wissens nicht denkbar. Eine gute Ansätze, Theorien und Befunde der Psychologie in
Lehrkraft sein, heißt, Expertin oder Experte für Schule und Unterricht.
Lernen, Lehren und Erziehen zu sein.
Der erste Teil über Lernen, Gedächtnis und Wis-
Manchmal wird der psychologische Teil der Aus- senserwerb betrachtet das Lernen von all seinen
bildung von Studienanfängerinnen und Studien- Seiten. Schülerinnen und Schüler – wie auch Lehr-
anfängern in der Bedeutung unterschätzt. Der kräfte – lernen immer und überall, und dement-
Nutzen des psychologischen Wissens zeigt sich je- sprechend breit sollte das professionelle Wissen
doch spätestens dann, wenn man im Praktikum, der Lehrkräfte über das Lernen sein. Angefangen
Referendariat oder als ausgebildete Lehrkraft selbst bei behavioristischen Theorien zu Lernen und Ver-
vor der Klasse steht und nicht nur mehr oder min- halten (7 Kap. 1) über kognitive Erklärungsansätze
der gelassen selbst darinsitzt. Plötzlich drängen zu Gedächtnis und Wissenserwerb (7 Kap. 2) so-
sich Gedanken darüber in den Vordergrund, ob wie Problemlösen und Expertiseerwerb (7 Kap. 3)
der Lehrstoff dem Entwicklungsstand der Schüle- bis hin zu Modellen des selbstregulierten Lernens
rinnen und Schüler angemessen ist, welche Lehr- (7 Kap. 4) werden in den ersten Kapiteln unter-
methode die günstigste ist und welcher Umgangs- schiedliche Betrachtungsweisen zum Lernen von
ton mit Kindern und Jugendlichen der richtige Schülerinnen und Schülern präsentiert. Darüber
ist. Es gilt, die Motivation und Persönlichkeit der hinaus ermöglicht es uns die moderne Hirnfor-
Schülerinnen und Schüler zu fördern, Lern- und schung, Einblicke in Gehirn und Lernen (7 Kap. 5)
Verhaltensprobleme zu erkennen und schulische zu nehmen und so den physiologischen Grundla-
Leistungen gerecht zu bewerten. Eine Lehrkraft gen von Lernprozessen auf die Spur zu kommen. In
sollte dabei nicht allein ihrer Intuition vertrau- den weiteren Kapiteln des Buchteils treten die Kon-
en, sondern versuchen, die verschiedenen Fra- texte des Lernens in den Vordergrund. Beim inter-
VI Vorwort

kulturellen Lernen (7 Kap. 6) ist es die Rolle ande-nen gelernt werden. Beständiges Üben erleichtert
rer Kulturen. Beim informellen Lernen (7 Kap. 7) ihren Erwerb. Welche Effekte digitale Medien auf
fungieren Familien, Gleichaltrige, Medien und au- das Lernen im Unterricht haben und welche Kom-
ßerschulische Orte als Lernkontexte. Schließlich petenzen Lehrkräfte für das Unterrichten in einer
wird beim fachlichen Lernen (7 Kap. 8) deutlich, in zunehmend digitalen Welt benötigen, wird ebenso
welcher Weise Bildungsstandards, fachliche Curri- ausführlich erläutert (7 Kap. 19). Schließlich zeigt
cula und fachdidaktische Modelle das schulische das Kapitel zu Kompetenzen und beruflicher Ent-
Unterrichten und Lernen prägen. wicklung von Lehrkräften (7 Kap. 20), dass bei der
Ausübung der Lehrtätigkeit neben spezifischem
Der zweite Teil behandelt wichtige Merkmale von professionellem Wissen auch förderliche motiva-
Lernenden und konzentriert sich hier auf die kog- tionale Orientierungen und berufliche Überzeu-
nitiven und affektiv-motivationalen Bedingungen gungen sowie selbstregulative Fähigkeiten erfor-
gelingender Lernprozesse. Diese mehr oder we- derlich sind.
niger stabilen Merkmale sind einerseits Ausdruck
der Persönlichkeit von Schülerinnen und Schülern, Der fünfte Teil beschäftigt sich mit sozialen Prozes-
andererseits aber auch abhängig von der schuli- sen in Schule und Unterricht. Damit ist gemeint,
schen und außerschulischen Umwelt. Das heißt, dass die tatsächliche oder auch nur vorgestellte
die Lehrkraft kann Einfluss auf sie nehmen. Intel- Anwesenheit von anderen Personen wie Lehrkräf-
ligenz, Kreativität und Begabung (7 Kap. 9) liefern ten, Freunden oder Eltern das Erleben und Ver-
unstrittig eine wichtige Grundlage für das Lernen halten der Schülerinnen und Schüler beeinflusst.
in der Schule. Im Unterricht nicht weniger zu be- Schülerinnen und Schüler beeinflussen sich un-
achten sind das emotionale Erleben (7 Kap. 10) und tereinander – ebenso wie sie mit Lehrpersonen
die Motivation (7 Kap. 11) der Schülerinnen und in ein wechselseitiges Bedingungsgefüge eingebun-
Schüler. den sind. Kompetente Lehrkräfte gestalten die Be-
ziehung zu Schülerinnen und Schülern bewusst so,
Der dritte Teil widmet sich der Entwicklung dass sie durch emotionale Wertschätzung und Em-
im Kindes- und Jugendalter. In diesen Phasen pathie gekennzeichnet ist. Dabei ist die Sprache das
durchlaufen Schülerinnen und Schüler grundle- wichtigste Instrument der Lehrkraft, und dement-
gende Veränderungen im Erleben und Verhalten, sprechend zentral sind kommunikative Prozesse
über die Lehrkräfte gut informiert sein sollten. im und außerhalb vom Unterricht (7 Kap. 21). Des
Ein einführendes Kapitel erläutert die theoreti- Weiteren gilt es, soziale Strukturen in Gruppen und
schen Modelle und Bedingungen der Entwick- sich darin vollziehende soziale Prozesse (7 Kap. 22)
lung (7 Kap. 12). Die weiteren Kapitel beschäftigen zu beachten. Auch nehmen soziale Einstellungen
sich mit spezifischen Entwicklungsaspekten. Dazu wie Stereotype und Vorurteile gegenüber bestimm-
zählen die psychosexuelle und soziale Entwick- ten Gruppen Einfluss auf Schule und Unterricht
lung (7 Kap. 13) von Kindern und Jugendlichen, (7 Kap. 23).
die kognitiv-sprachliche Entwicklung (7 Kap. 14),
die motivationale und emotionale Entwicklung Der sechste Teil umfasst den Bereich von Diag-
(7 Kap. 15) sowie die Entwicklung des Selbst und nostik, Evaluation und Forschungsmethoden. Die
der Persönlichkeit (7 Kap. 16). Psychologie verfügt über eine breite Palette an dia-
gnostischen Methoden und Verfahren, die helfen,
Der vierte Teil über Lehren, Unterrichtsquali- pädagogisches Handeln zu optimieren und Verän-
tät und Klassenführung liefert eine Darstellung derungen der gegenwärtigen Situation von Schüle-
des psychologischen Forschungsstands über Un- rinnen und Schülern zu erreichen. Auf ein Basiska-
terricht und die dazu notwendigen Kompeten- pitel zu Grundlagen und Kriterien der Diagnostik
zen von Lehrpersonen. Unterricht kann sehr un- (7 Kap. 24) folgt ein Kapitel speziell zum Messen
terschiedliche Auswirkungen auf Wissen, Können und Bewerten von Lernergebnissen (7 Kap. 25),
und Persönlichkeit der Schülerinnen und Schüler einer wichtigen Alltagsaufgabe von Lehrkräften.
haben. Damit wird erfolgreiches Unterrichten zur Fragen der Evaluation und Qualitätssicherung in
zentralen Herausforderung des Lehrberufs. Nach der Schule (7 Kap. 26) richten sich auf die wis-
einem Einführungskapitel zum Lehren und Un- senschaftsgestützte Untersuchung und Bewertung
terrichten (7 Kap. 17) werden die aktuellen Er- von Unterricht, Maßnahmen, Programmen oder
kenntnisse der Psychologie zur Unterrichtsqualität Institutionen. Ein Kapitel zu Forschungsmetho-
(7 Kap. 18) eingehend dargestellt. Gutes und ef- den (7 Kap. 27) soll helfen, Forschungsergebnisse
fektives Unterrichten erfordert unter anderem ein aus Psychologie und Bildungsforschung zu rezi-
breites Repertoire an Unterrichtsmethoden und pieren, zu bewerten und für die schulische Tätig-
Lehrtechniken. Die gute Nachricht ist: Sie kön- keit nutzen zu können. Es bietet gewissermaßen
VII
Vorwort

einen Blick hinter die Kulissen der Forschung – alle fen und die praktische Bedeutsamkeit der psycho-
Schritte des Forschungsprozesses von der Formu- logischen Theorien und Forschungsergebnisse in
lierung der Fragestellung bis zum fertigen Fachar- Hinblick auf Schule und Unterricht bewusst ma-
tikel werden dargelegt. chen. Lösungsvorschläge zu den Verständnisfragen
finden sich auf einer begleitenden Webseite zum
Der siebte und letzte Teil thematisiert den Be- Buch.
reich der Lern- und Verhaltensauffälligkeiten. Als
Lern- und Verhaltensstörungen (7 Kap. 28) wird Unser ganz besonderer Dank gilt den vielen enga-
zunächst auf Störungen der grundlegenden Kul- gierten und fachkundigen Autorinnen und Auto-
turtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen sowie ren, die neben ihrem universitären Lehr- und For-
der Aufmerksamkeit eingegangen. Als Auffällig- schungsalltag Zeit gefunden haben, Erkenntnisse
keiten im Erleben und Sozialverhalten (7 Kap. 29) ihres psychologischen Spezialgebiets allgemeinver-
werden weitere schulrelevante psychische Proble- ständlich aufzubereiten und darzulegen. Ohne ihr
me wie Angst, Depression oder Disziplinschwie- Mitwirken wäre ein solch umfangreiches Lehrbuch
rigkeiten beschrieben und erklärt. Ein abschlie- nicht zu verwirklichen gewesen. Darüber hinaus
ßender Beitrag erläutert Möglichkeiten der Prä- bedanken wir uns bei Tihomir Vrdoljak, der uns
vention und Intervention bei psychischen Auffäl- in vielen editorischen Aktivitäten unterstützt hat
ligkeiten im Schulalter (7 Kap. 30) und zeigt die – die Qualität dieses Werkes ist auch sein Ver-
Chancen zur Stärkung der psychischen Gesundheit dienst. Justine Stang, Raphaela Fenzl und Marlene
von Schülerinnen und Schülern auf. Wagner möchten wir für ihre Arbeiten bei der
Vor- und Aufbereitung des Lehrbuchs danken. Ein
Um den Zugang zur Psychologie und das Ver- großer Dank gebührt zudem den Mitarbeiterinnen
ständnis der Fachtexte zu erleichtern, haben wir und Mitarbeitern des Springer-Verlags, insbeson-
in dem Lehrbuch von einigen lernförderlichen Ge- dere Marion Krämer und Bettina Saglio, die uns
staltungselementen Gebrauch gemacht. Eine aus- über den gesamten Entstehungsprozess des Buches
führliche Gliederung zu Kapitelbeginn verdeut- hilfreich begleitet und mit Rat und Tat zur Seite ge-
licht auf einen Blick dessen Aufbau und hilft, standen haben.
speziell interessierende Bereiche schnell ausfin-
dig zu machen. Definitionen zentraler Begriffe Gute Lehrkräfte sind Expertinnen oder Experten
und Konzepte werden durch Kästen besonders für Lernen, Lehren und Erziehen. Dazu ist na-
hervorgehoben. Am Ende des Buches sorgt ein türlich mehr nötig, als ein Lehrbuch zu lesen –
Glossar für ein genaues Verständnis der Fachter- vor allem viel reflektierte Erfahrung. Das Lehrbuch
mini. Vom Text abgehoben werden ausgewählte kann aber eine wichtige Hilfe beim Aneignen der
Studien und Mythen der schulischen Bildung prä- psychologischen Grundlagen von Schule und Un-
sentiert. Die empirischen Studien liefern Belege terricht oder beim Erwerb vertiefender Kenntnisse
für die Reichweite und den Wert von Theorien. sein. Dieses psychologische Wissen kann damit
Die Mythen nehmen vorherrschende, aber un- Lehramtsstudierenden, Referendarinnen und Re-
zutreffende alltagspsychologische Meinungen zu ferendaren sowie Lehrkräften helfen, eigene Erfah-
Schule und Unterricht ins Visier, die durch ge- rungen in Schule und Unterricht vorzubereiten, zu
eignete Belege entkräftet werden. Unter der Be- reflektieren und damit ihre professionellen Kom-
zeichnung „Im Fokus“ finden sich darüber hi- petenzen kontinuierlich zu entwickeln.
naus psychologische Kontroversen, Modelle und
Exkurse, die zur weiterführenden Auseinanderset- Detlef Urhahne
zung mit dem Text anregen. In einer Zusammen- Markus Dresel
fassung werden die wichtigsten Inhalte des Ka- Frank Fischer
pitels noch einmal resümierend dargestellt. Ver- Passau, Augsburg und München
ständnisfragen am Ende der Kapitel sollen die Dezember 2018
zentralen Aspekte des Textes in Erinnerung ru-
IX

Inhaltsverzeichnis

I Lernen, Gedächtnis und Wissenserwerb

1 Lernen und Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3


Detlef Urhahne
1.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4
1.2 Begriffsbestimmung Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4
1.3 Klassische Konditionierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
1.4 Operante Konditionierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
1.5 Beobachtungslernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

2 Gedächtnis und Wissenserwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23


Christof Zoelch, Valérie-Danielle Berner und Joachim Thomas
2.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
2.2 Begriffsbestimmung Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
2.3 Komponenten des menschlichen Gedächtnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
2.4 Modellannahmen zu Erinnerungs- und Vergessensprozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
2.5 Theoretische Perspektiven zum Wissenserwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
2.6 Formen und Bedingungen von Wissenserwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44

3 Problemlösen und Expertiseerwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53


Hans Gruber, Michael Scheumann und Stefan Krauss
3.1 Expertiseerwerb in der Schule – Ist das denn überhaupt möglich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
3.2 Problemlösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
3.3 Expertise: Wissensbasiertes Problemlösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
3.4 Expertiseerwerb im Kontext Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60

4 Selbstreguliertes Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
Ulrike E. Nett und Thomas Götz
4.1 Definition selbstregulierten Lernens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
4.2 Modelle selbstregulierten Lernens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
4.3 Effekte selbstregulierten Lernens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
4.4 Diagnostik selbstregulierten Lernens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
4.5 Förderung selbstregulierten Lernens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

5 Gehirn und Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85


Jörg Meinhardt
5.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
5.2 Grundbausteine des Gehirns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
5.3 Gehirnstrukturen und ihre Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88
5.4 Lokalisation von Gehirnfunktionen am Beispiel der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92
5.5 Gehirnentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
5.6 Imaging-Studien zur Gehirnentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94
5.7 Neurokognitive Forschungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
5.8 Erfahrung, Lernen und neuronale Plastizität des Gehirns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
5.9 Neuromythen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

6 Interkulturelles Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107


Carlos Kölbl, Andrea Kreuzer und Astrid Utler
6.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
6.2 Begriffsbestimmungen: Kultur, interkulturelle Kompetenz und interkulturelles Lernen . . . . . . . . . . . . . 108
6.3 Interkulturelle Psychologie im Wechselspiel mit anderen (psychologischen) Disziplinen . . . . . . . . . . . . 109
6.4 Interkulturelles Lernen und interkulturelle Öffnung in der Schule: Herausforderungen und
Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
X Inhaltsverzeichnis

7 Informelles Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125


Doris Lewalter und Katrin Neubauer
7.1 Relevanz des informellen Lernens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
7.2 Begriffsentwicklung, definitorische Zugänge und Abgrenzung des informellen Lernens . . . . . . . . . . . . 126
7.3 Kontexte informellen Lernens im Kindes- und Jugendalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
7.4 Beziehung formales und informelles Lernen in der Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
7.5 Forschungsmethodische Zugänge zum informellen Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138

8 Fachliches Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143


Birgit Jana Neuhaus, Detlef Urhahne und Stefan Ufer
8.1 Schülervorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
8.2 Wissenserwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148
8.3 Kompetenzerwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150
8.4 Fachsprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
8.5 Aufgabeneinsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

II Kognitive, motivationale und emotionale Bedingungen des Lernens

9 Intelligenz, Kreativität und Begabung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165


Eva Stumpf und Christoph Perleth
9.1 Begriffsklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166
9.2 Intelligenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168
9.3 Kreativität und Problemlösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

10 Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
Christof Kuhbandner und Anne C. Frenzel
10.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186
10.2 Was sind „Emotionen“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186
10.3 Welche Emotionen gibt es und wie werden sie verursacht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
10.4 Interindividuelle Unterschiede im emotionalen Erleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
10.5 Emotionen in der Schule – sechs Themenfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
10.6 Emotionale Einflüsse auf Lernen und Wissenserwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199

11 Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207
Robert Grassinger, Oliver Dickhäuser und Markus Dresel
11.1 Grundvorstellungen zur Motivation von Lernenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208
11.2 Die Erwartungskomponente im Fokus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
11.3 Die Wertkomponente im Fokus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
11.4 Der Handlungsverlauf im Fokus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218
11.5 Förderung der Lern- und Leistungsmotivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221

III Entwicklung im Kindes- und Jugendalter

12 Modelle und Bedingungen der Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231


Katja Seitz-Stein und Valérie-Danielle Berner
12.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232
12.2 Grundlagen und zentrale Fragen der Entwicklungspsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232
12.3 Theorien der Entwicklungspsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238
12.4 Forschungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246

13 Psychosexuelle und soziale Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253


Markus Paulus
13.1 Psychosexuelle Entwicklung, Sexualverhalten und sexuelle Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254
13.2 Soziale Entwicklung: Die Beziehung zu Gleichaltrigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258
XI
Inhaltsverzeichnis

14 Kognitiv-sprachliche Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273


Dorothea Dornheim und Sabine Weinert
14.1 Entwicklung von sprachlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274
14.2 Entwicklung von Lernen und Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
14.3 Entwicklung von Denken und Problemlösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285
14.4 Beziehungen zwischen kognitiver und sprachlicher Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290

15 Motivationale und emotionale Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295


Klaudia Kramer und Gottfried Spangler
15.1 Motivations- und Interessenentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296
15.2 Emotionale Entwicklung und Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304

16 Entwicklung des Selbst und der Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315


Martin Pinquart
16.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316
16.2 Kernmerkmale der Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316
16.3 Selbstkonzept und Selbstwert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318
16.4 Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322
16.5 Wertsystem: Moralisches Urteil und Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324
16.6 Einflüsse der Persönlichkeit auf die Bewältigung schulischer Anforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326

IV Lehren und Unterrichten

17 Lehren und Unterrichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333


Ingo Kollar und Frank Fischer
17.1 Ein begriffliches Rahmenmodell zur Konzeptualisierung von unterrichtlichen Lehr-Lernprozessen . . 334
17.2 Die Schülerebene: Zur Bedeutung von Lernaktivitäten und -prozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335
17.3 Beispiele für lernförderliche Lernaktivitäten und -prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336
17.4 Die Lehrerebene: Zur Unterscheidung zwischen Unterrichtsmethoden und Lehrtechniken . . . . . . . . . 338
17.5 Unterrichtmethoden: Von der direkten Instruktion bis zum Knowledge Building . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339
17.6 Auswahl und Einsatz von Lehrtechniken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344
17.7 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347

18 Unterrichtsqualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353
Barbara Drechsel und Ann-Kathrin Schindler
18.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354
18.2 Modelle der Unterrichtsqualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354
18.3 Basisdimensionen der Unterrichtsqualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358
18.4 Zusammenspiel verschiedener Aspekte von Unterrichtsqualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367

19 Medien im Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373


Christof Wecker und Karsten Stegmann
19.1 Informationen vermitteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376
19.2 Individuelle Lernaktivitäten ermöglichen und unterstützen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381
19.3 Kommunikation und Kooperation ermöglichen und unterstützen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386

20 Kompetenzen und berufliche Entwicklung von Lehrkräften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395


Cordula Artelt und Mareike Kunter
20.1 Anforderungen des Lehrberufs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396
20.2 Eine gute Lehrkraft – wie wird man das? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396
20.3 Kompetenzmodelle zur Beschreibung der „guten Lehrkraft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398
20.4 Berufliche Entwicklung von Lehrkräften – Verlaufsperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407
XII Inhaltsverzeichnis

V Soziale Prozesse in Schule und Unterricht

21 Soziale Interaktion und Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421


Ann-Kathrin Schindler, Doris Holzberger, Kathleen Stürmer, Maximilian Knogler und Tina Seidel
21.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422
21.2 Soziale Interaktionen und Kommunikation im Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423
21.3 Kommunikation in Elterngesprächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430
21.4 Kommunikation im Kollegium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432

22 Soziale Strukturen und Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439


Gisela Steins, Kristin Behnke und Anna Haep
22.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440
22.2 In der Klasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440
22.3 Einfluss auf Strukturen und Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448
22.4 Außerhalb des Klassenzimmers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452
22.5 Grundlegende kritische Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454

23 Soziale Einstellungen im Schulkontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457


Lars-Eric Petersen
23.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458
23.2 Der Einfluss von sozialen Einstellungen auf Wahrnehmungs- und Beurteilungsprozesse . . . . . . . . . . . . 458
23.3 Die Änderung von sozialen Einstellungen im Schulkontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461
23.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465

VI Diagnostik, Evaluation und Forschungsmethoden

24 Grundlagen und Kriterien der Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471


Matthias Schwaighofer, Moritz Heene und Markus Bühner
24.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472
24.2 Definition der psychologischen Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472
24.3 Der diagnostische Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473
24.4 Diagnostische Strategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 474
24.5 Gütekriterien diagnostischer Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 476
24.6 Diagnostische Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482
24.7 Bewertung diagnostischer Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 488

25 Messen und Bewerten von Lernergebnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493


Marc Worbach, Barbara Drechsel und Claus H. Carstensen
25.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494
25.2 Lernergebnisse messen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494
25.3 Lernen und Gelerntem Bedeutungen verleihen: Bewerten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506

26 Evaluation und Qualitätssicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517


Marko Lüftenegger, Barbara Schober und Christiane Spiel
26.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 518
26.2 Grundlagen der wissenschaftlichen Evaluation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 518
26.3 Bildungsmonitoring als Spezialform von Evaluation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525
26.4 Evaluation aus praktischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527

27 Forschungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533
Tobias Engelschalk, Martin Daumiller, Marion Reindl und Markus Dresel
27.1 Macht Kaugummikauen schlau? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 534
27.2 Wie entsteht empirisch gesichertes Wissen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 534
27.3 Erhebungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537
27.4 Untersuchungsdesigns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 544
27.5 Analysemethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 550
27.6 Finden, Lesen und Bewerten von psychologischen Forschungsstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 554
XIII
Inhaltsverzeichnis

VII Lern- und Verhaltensauffälligkeiten

28 Lern- und Verhaltensstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565


Wolfgang Schneider, Wolfgang Lenhard und Peter Marx
28.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 566
28.2 Rechenstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 566
28.3 Lese-Rechtschreibstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 572
28.4 Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 576

29 Auffälligkeiten im Erleben und im Sozialverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587


Beate Schuster
29.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 588
29.2 Internalisierende Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 588
29.3 Externalisierende Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 596

30 Pädagogische Prävention und Intervention bei psychischen Auffälligkeiten im


Schulalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603
Armin Castello
30.1 Psychische Auffälligkeiten im Schulalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 604
30.2 Soziale Ängstlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 604
30.3 Depressivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 606
30.4 Selbstverletzendes Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 608
30.5 Posttraumatische Belastungsreaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 610
30.6 Schlafauffälligkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 611

Serviceteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617
Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 618
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 628
Autorenverzeichnis

Herausgeber

Detlef Urhahne Frank Fischer


Universität Passau Ludwig-Maximilians-Universität München
Deutschland Deutschland

Markus Dresel
Universität Augsburg
Deutschland

Autoren

Cordula Artelt Markus Dresel


Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (LIfBi) und Universität Augsburg
Universität Bamberg Deutschland
Deutschland
Tobias Engelschalk
Kristin Behnke Universität Augsburg
Universität Duisburg-Essen Deutschland
Deutschland
Frank Fischer
Valérie-Danielle Berner Ludwig-Maximilians-Universität München
Kath. Universität Eichstätt-Ingolstadt Deutschland
Deutschland
Anne C. Frenzel
Markus Bühner Ludwig-Maximilians-Universität München
Ludwig-Maximilians-Universität München Deutschland
Deutschland
Thomas Götz
Claus H. Carstensen Universität Konstanz und
Universität Bamberg Pädagogische Hochschule Thurgau
Deutschland Deutschland und Schweiz

Armin Castello Robert Grassinger


Europa-Universität Flensburg Pädagogische Hochschule Weingarten
Deutschland Deutschland

Martin Daumiller Hans Gruber


Universität Augsburg Universität Regensburg
Deutschland Deutschland

Oliver Dickhäuser Anna Haep


Universität Mannheim Universität Duisburg-Essen
Deutschland Deutschland

Dorothea Dornheim Moritz Heene


Universität Bamberg Ludwig-Maximilians-Universität München
Deutschland Deutschland

Barbara Drechsel Doris Holzberger


Universität Bamberg TU München
Deutschland Deutschland
XV
Autorenverzeichnis

Maximilian Knogler Katrin Neubauer


TU München TU München
Deutschland Deutschland

Carlos Kölbl Birgit Jana Neuhaus


Universität Bayreuth Ludwig-Maximilians-Universität München
Deutschland Deutschland

Ingo Kollar Markus Paulus


Universität Augsburg Ludwig-Maximilians-Universität München
Deutschland Deutschland

Klaudia Kramer Christoph Perleth


Universität Erlangen-Nürnberg Universität Rostock
Deutschland Deutschland

Stefan Krauss Lars-Eric Petersen


Universität Regensburg Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Deutschland Deutschland

Andrea Kreuzer Martin Pinquart


Universität Bayreuth Universität Marburg
Deutschland Deutschland

Christof Kuhbandner Marion Reindl


Universität Regensburg Universität Salzburg
Deutschland Österreich

Mareike Kunter Michael Scheumann


Goethe-Universität Frankfurt am Main Universität Regensburg
Deutschland Deutschland

Wolfgang Lenhard Ann-Kathrin Schindler


Universität Würzburg TU München
Deutschland Deutschland

Doris Lewalter Wolfgang Schneider


TU München Universität Würzburg
Deutschland Deutschland

Marko Lüftenegger Barbara Schober


Universität Wien Universität Wien
Österreich Österreich

Peter Marx Beate Schuster


Universität Würzburg Ludwig-Maximilians-Universität München
Deutschland Deutschland

Jörg Meinhardt Matthias Schwaighofer


Ludwig-Maximilians-Universität München Ludwig-Maximilians-Universität München
Deutschland Deutschland

Ulrike E. Nett Tina Seidel


Universität Augsburg TU München
Deutschland Deutschland
XVI Autorenverzeichnis

Katja Seitz-Stein Stefan Ufer


Kath. Universität Eichstätt-Ingolstadt Ludwig-Maximilians-Universität München
Deutschland Deutschland

Gottfried Spangler Detlef Urhahne


Universität Erlangen-Nürnberg Universität Passau
Deutschland Deutschland

Christiane Spiel Astrid Utler


Universität Wien Universität Bayreuth
Österreich Deutschland

Karsten Stegmann Christof Wecker


Ludwig-Maximilians-Universität München Universität Hildesheim
Deutschland Deutschland

Gisela Steins Sabine Weinert


Universität Duisburg-Essen Universität Bamberg
Deutschland Deutschland

Eva Stumpf Marc Worbach


Universität Rostock Universität Bamberg
Deutschland Deutschland

Kathleen Stürmer Christof Zoelch


Eberhard-Karls-Universität Tübingen Kath. Universität Eichstätt-Ingolstadt
Deutschland Deutschland

Joachim Thomas
Kath. Universität Eichstätt-Ingolstadt
Deutschland
1 I

Lernen, Gedächtnis und


Wissenserwerb
Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 Lernen und Verhalten – 3

Kapitel 2 Gedächtnis und Wissenserwerb – 23

Kapitel 3 Problemlösen und Expertiseerwerb – 53

Kapitel 4 Selbstreguliertes Lernen – 67

Kapitel 5 Gehirn und Lernen – 85

Kapitel 6 Interkulturelles Lernen – 107

Kapitel 7 Informelles Lernen – 125

Kapitel 8 Fachliches Lernen – 143


3 1

Lernen und Verhalten


Detlef Urhahne

1.1 Einleitung – 4

1.2 Begriffsbestimmung Lernen – 4

1.3 Klassische Konditionierung – 5


1.3.1 Phasen der klassischen Konditionierung – 5
1.3.2 Eigenschaften der klassischen Konditionierung – 7
1.3.3 Anwendung der klassischen Konditionierung – 8
1.3.4 Kritik der klassischen Konditionierung – 8

1.4 Operante Konditionierung – 9


1.4.1 Phasen der operanten Konditionierung – 10
1.4.2 Eigenschaften der operanten Konditionierung – 10
1.4.3 Anwendung des operanten Konditionierens – 14
1.4.4 Kritik des operanten Konditionierens – 15

1.5 Beobachtungslernen – 16
1.5.1 Phasen des Beobachtungslernens – 17
1.5.2 Eigenschaften des Beobachtungslernens – 18
1.5.3 Anwendung des Beobachtungslernens – 19
1.5.4 Kritik des Beobachtungslernens – 20

Verständnisfragen – 20

Literatur – 21

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019


D. Urhahne, M. Dresel, F. Fischer (Hrsg.), Psychologie für den Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55754-9_1
4 Kapitel 1  Lernen und Verhalten

1.1 Einleitung Lernvorgänge lassen sich besser mithilfe kognitionspsycho-


1 logischer Modellvorstellungen erklären (Schunk 2004).

In diesem Kapitel werden verhaltenstheoretische Erklärun-


gen für das Lernen vorgestellt. Dazu zählen das klassische 1.2 Begriffsbestimmung Lernen
Konditionieren, das operante Konditionieren und in Ansät-
zen auch das Beobachtungslernen. Es werden die Phasen und In der Schule lernen Schülerinnen und Schüler ein großes
Eigenschaften der Lernmodelle erläutert, die Anwendungs- Repertoire an Fähigkeiten und Fertigkeiten aufzubauen. Ne-
möglichkeiten in Schule und Unterricht aufgezeigt sowie die ben dem Erwerb grundlegender Kulturtechniken wie Lesen,
Unterschiede und Defizite der Ansätze verdeutlicht. Rechnen und Schreiben wird eine Ausbildung in Fremd-
Behavioristische Theorien erklären Lernen auf der sprachen, Gesellschaftswissenschaften, Naturwissenschaften,
Grundlage von Ereignissen in der Umwelt. Verhaltenstheore- Technik, Musik, Kunst, Religion, Ethik und Sport gefördert.
tiker bestreiten nicht, dass es Phänomene wie Wahrnehmen, Obwohl die einzelnen Fächer und die darin geforderten Kom-
Denken, Fühlen, Problemlösen und Entscheiden gibt. Um petenzen sehr unterschiedlich erscheinen, lassen sich doch
Lernen zu erklären, argumentierte jedoch der Behaviorist Gemeinsamkeiten in den Lernvorgängen feststellen. Eine Be-
John B. Watson (1978–1958), sei es nicht notwendig, sich griffsbestimmung von Lernen soll die Ähnlichkeiten verdeut-
mentalen Erscheinungen zuzuwenden. Es genüge, sich auf lichen.
die Beschreibung der Umstände und des beobachtbaren
Verhaltens zu konzentrieren. Das Gehirn des Menschen sei
eine Black Box, über die keine wissenschaftlich fundierten Lernen ist ein Prozess, der zu relativ dauerhaften Ver-
Aussagen möglich wären. So sollte alles Subjektive aus der änderungen von Verhalten oder Verhaltenspotentialen
Psychologie verbannt und der Weg zu einer vollkommen ob- aufgrund von Erfahrungen führt (nach Bodenmann, Perrez
jektiven, empirischen Wissenschaft geebnet werden (Watson & Schär 2011).
1913).
Viele Erkenntnisse der Behavioristen wurden an Tieren
gewonnen. Sie haben die Geschichte des Wissenschaftszwei- An dieser Definition von Lernen sind drei Punkte hervor-
ges entscheidend mitgeprägt. Iwan P. Pawlow (1849–1936) zuheben (Gerrig 2015):
entdeckte das Prinzip der klassischen Konditionierung an
Hunden. Er erkannte, dass die wiederholte Darbietung von1 1. Lernen beruht auf Erfahrungen
Futter zusammen mit einem Glockenton zu einer konditio- Lernen kommt durch einen Austausch zwischen Person und
nierten Reaktion führte. Nach einer Zeit floss dem Hund Umwelt zustande. Durch die Erfahrungen, die eine Person
bereits der Speichel im Maul zusammen, wenn nur die Glocke macht, erhalten Reize in der Umwelt Bedeutung. Die Reize
ertönte (Pawlow 1906). Edward L. Thorndike (1874–1949) führen zu erfahrungsbedingten Reaktionen. Wenn die Lehr-
überprüfte seine Ideen zum Lernen durch Versuch und Irr- kraft den Schweigefuchs zeigt und die Spitzen von Daumen,
tum mithilfe von Katzen. Er setzte eine Katze in einen soge- Mittel- und Ringfinger zusammenführt, werden die Kinder
nannten Problemkäfig, aus dem sie nur durch eine festgelegte ruhig. Hier hat ein Reiz in der Umwelt durch vorauslaufende
Abfolge von Handlungsschritten entkommen konnte. Nach Lernerfahrungen eine Wirkung erlangt.
einer Reihe zufälliger Versuche schaffte es die Katze zuneh- Lernen findet ausschließlich durch Erfahrung statt und
mend schneller, sich aus dem Käfig zu befreien (Thorndike ist von Prozessen der Reifung abzugrenzen. Ein Kleinkind
1911). Burrhus F. Skinner (1904–1990) sammelte Grundla- beginnt zu krabbeln, stehen, laufen und sprechen, wenn ei-
genwissen über das operante Konditionieren an Ratten und ne reifungsbedingte Bereitschaft vorhanden ist. Des Weite-
Tauben. In einer Experimentalkammer lernten Ratten zum ren sollten gelernte Veränderungen nicht auf physiologische
Erhalt von Futter oder Vermeidung von Stromschlägen einen Ursachen wie Erkrankung, Müdigkeit, Alkohol- oder Dro-
Hebel zu betätigen. Dadurch konnten positive Konsequen- genkonsum zurückzuführen sein. Wenn am Abend vor der
zen herbeigeführt und negative umgangen werden (Skinner Prüfung nichts mehr in den Kopf hinein will und nur noch
1938). An Tauben erforschte Skinner die schrittweise For- Unsinniges hängen bleibt, könnte es beispielsweise daran lie-
mung von Verhalten. Durch Belohnung und Bestrafung eig- gen, dass die Person zu diesem Zeitpunkt krank, übermüdet
neten sich die Tiere eine erstaunliche Bandbreite verschiede- oder berauscht ist.
ner, teils recht eigentümlicher Verhaltensweisen an (Skinner
1948). 1 2. Lernen führt zur Veränderung von Verhalten oder
Viele der an Tieren erlangten Einsichten über das Lernen Verhaltenspotentialen
wurden in späteren Phasen auf den Menschen übertragen. Lernen ist ein nicht beobachtbarer Prozess. Um zu beurteilen,
Behavioristische Lerntheorien können einige in der Schule ob Lernen stattgefunden hat, müssen Veränderungen einge-
bedeutsame Lernprozesse gut erklären. Es handelt sich vor treten sein. Durch Lernen wird eine Disposition erworben,
allem um einfache Lernvorgänge, die ohne theoretische Vor- sich in bestimmter Weise zu verhalten. Nach dem Lernen
stellungen über geistige Prozesse auskommen. Komplexere kann zum Beispiel ein Gedicht aufgesagt oder ein Musikstück
1.3  Klassische Konditionierung
5 1
gespielt werden. Beobachtbare sprachliche oder psychomo- 1.3.1 Phasen der klassischen
torische Veränderungen sind ein direkter Beleg für Lernen. Konditionierung
Selbst wenn ein Kind nur stumm und teilnahmslos im Unter-
richt sitzt, können sich Lernvorgänge ereignen. Entscheidend
Der Vorgang des Konditionierens lässt sich in mehrere Pha-
ist dann, ob sich das Verhaltenspotential verändert hat. Wenn
sen aufteilen. . Abb. 1.1 vermittelt einen Überblick über das
die Fragen der Lehrkraft beantwortet werden können, ist of-
Konditionieren von Emotionen. In der Kontrollphase wer-
fenbar gelernt worden.
den die Qualitäten des unkonditionierten, emotionsauslö-
1 3. Lernen sorgt für eine verhältnismäßig dauerhafte
senden Reizes und des neutralen Reizes überprüft. In der
Veränderung
Konditionierungsphase wird der neutrale Reiz emotional auf-
Damit ein Verhalten als gelernt gelten kann, muss es zu ver- geladen und wandelt sich zum konditionierten Reiz. In der
schiedenen Gelegenheiten reproduzierbar sein. Wenn gelernt Löschungsphase büßt der konditionierte Reiz seinen emo-
wurde mit Messer und Gabel zu essen, kann das zu un- tionalen Charakter wieder ein. Die Spontanerholung bringt
terschiedlichen Anlässen gezeigt werden. Beim schulischen die emotionale Bedeutung des konditionierten Reizes in ge-
Wissen scheinen die Veränderungen weit weniger zeitlich sta- ringerer Stärke kurzzeitig zurück (Spada, Rummel & Ernst
bil zu sein. Wissen Sie noch, wer Franz Ferdinand war oder 2006).
was die Newtonschen Gesetze besagen? Eine Wissenslücke
an dieser Stelle bedeutet nicht unmittelbar, dass das Wis-1 Kontrollphase
sen verlorengegangen ist. Durch geeignete Hinweisreize kann Die klassische Konditionierung ist an Reflexe gebunden.
es wieder verfügbar gemacht werden. Wenn auch diese Ver- Ein Reflex besteht aus einer ungelernten Reiz-Reaktions-
suche scheitern, hat der Lernprozess nicht die gewünschte, Verbindung. Ein Schlag auf die Patellasehne (Reiz) lässt das
relativ dauerhafte Veränderung bewirkt. Es muss neu gelernt Knie hochschnellen (Reaktion). Ein Luftstoß aufs Auge (Reiz)
werden. führt zu einem Blinzeln (Reaktion). Ein solcher Reiz wird in
der Konditionierungsterminologie als unkonditionierter Sti-
mulus bezeichnet. Er ist nicht an Konditionen wie vorheriges
1.3 Klassische Konditionierung Lernen gebunden. Die zugehörige Reaktion wird unkonditio-
nierte Reaktion genannt. Sie erfolgt automatisch und beruht
Die Faszination des klassischen Konditionierens liegt wohl in nicht auf Bedingungen wie willentliches Zutun. In der Kon-
der Möglichkeit begründet, ein Verhalten durch äußere Reize trollphase vor der eigentlichen Konditionierung wird über-
in eine bestimmte Richtung zu formen. Der Amerikaner John prüft, ob der unkonditionierte Stimulus die unkonditionierte
B. Watson glaubte so sehr an die Gültigkeit des Verfahrens, Reaktion zuverlässig auslöst.
dass er den ebenso bekannten wie folgenschweren Satz prägte: Auch Watson und Rayner (1920) nahmen in ihrem Ex-
periment zum Erlernen emotionaler Verhaltensweisen eine
» Gebt mir ein Dutzend gesunder, gutgeratener Kinder und Eingangsüberprüfung vor. Ein lautes Schlagen mit einem
meine eigene Welt, um sie aufzuziehen, und ich garantiere
Hammer auf eine Eisenstange sollte Furchtreaktionen zur
dafür, dass ich ein beliebiges aussuchen und es zu einem
Folge haben. Ihr Proband Albert B. war der Sohn einer Amme
Spezialisten meiner Wahl machen kann – einem Arzt,
des benachbarten Kinderheims. Zu Beginn des Experiments
einem Anwalt, einem Künstler, einem Kaufmann und
war er acht Monate alt. Albert war von Geburt an ein gesun-
ja sogar zu einem Bettler und Dieb, ungeachtet seiner
der Junge und eines der am besten entwickelten Kinder. Sein
Talente, Neigungen, Tendenzen, Fähigkeiten, Berufungen
Temperament war ausgeglichen und wenig emotional, so dass
und der Rasse seiner Vorfahren (Watson 1930, S. 104).
Watson und Rayner (1920) geringen Schaden befürchteten,
Watson ging von der Vorstellung aus, dass Kinder nur wenn er an den Versuchen teilnahm.
über wenige angeborene Reaktionsmuster verfügen. Um die Die Eingangskontrolle verlief wie folgt: Während ein Ver-
große Bandbreite von Reaktionen im Erwachsenenalter zu er- suchsleiter den Kopf des Kindes wegdrehte, hämmerte ein
klären, sollte es eine einfache Methode geben, diese zu erwei- anderer hinter dem Rücken von Albert mit Kraft wieder-
tern. Als Erklärungsprinzip vermutete er die Konditionierung holt gegen das Metall. Beim ersten Hammerschlag zuckte das
von Reflexen (Watson & Morgan 1917). Zum Beleg seiner Kind heftig zusammen und riss die Arme in die Luft. Beim
These führte Watson zusammen mit seiner späteren Frau zweiten Hammerschlag verzogen sich zusätzlich die Lippen
Rosalie Rayner eines der bekanntesten, zugleich aber auch und fingen an zu zittern. Beim dritten Hammerschlag brach
umstrittensten Experimente in der Geschichte der Psycholo- das Kleinkind in einen plötzlichen Weinkrampf aus.
gie durch. Die Mängel an ethischer Vertretbarkeit und me- Des Weiteren wird in der Kontrollphase überprüft, ob
thodischer Stringenz sind offenkundig und wurden vielfach der neutrale Reiz für die Konditionierung geeignet ist. Der
moniert (American Psychological Association 2002; Harris neutrale Stimulus sollte mit einer Orientierungsreaktion ver-
1979; Paul & Blumenthal 1989). Zur Veranschaulichung des bunden sein, die sich erkennbar von der unkonditionierten
klassischen Konditionierens von menschlichen Emotionen Reaktion abhebt. Ansonsten ließe sich im Nachhinein nicht
soll das Vorgehen an dieser Stelle jedoch ausführlich erläutert beurteilen, ob tatsächlich eine Konditionierung stattgefun-
werden (Watson & Rayner 1920). den hätte.
6 Kapitel 1  Lernen und Verhalten

1 Kontrollphase
Unkonditionierter Reiz (lautes Geräusch) Unkonditionierte Reaktion (Furcht)
Neutraler Reiz (weiße Ratte) Orientierungsreaktion (Zuwendung)

Konditionierungsphase
Neutraler Reiz (weiße Ratte)
und
Unkonditionierter Reiz (lautes Geräuch) Unkonditionierte Reaktion (Furcht)

Ergebnis der Konditionierungsphase


Konditionierter Reiz (weiße Ratte) Konditioniere Reaktion (Furcht)

Löschungsphase
Kein unkonditionierter Reiz
Konditionierter Reiz (weiße Ratte) Abnehmende konditionierte Reaktion (sinkende Furcht)

Spontanerholung
Kein unkonditionierter Reiz
Konditionierter Reiz (weiße Ratte) Schwache konditionierte Reaktion (leichte Furcht)

. Abb. 1.1 Phasen der klassischen Konditionierung

Watson und Rayner (1920) setzten dem kleinen Albert gehämmert (unkonditionierter Stimulus). Dieses Mal fing er
verschiedene neutrale Reize vor. Auf einen dieser Reize soll- an zu wimmern (unkonditionierte Reaktion). Um das Kind
te die emotionale Konditionierung erfolgen. Nacheinander nicht zu sehr zu verstören, wurden eine Woche keine weite-
wurde er mit einer weißen Ratte (neutraler Stimulus), einem ren Tests unternommen.
Kaninchen, einem Hund, einem Äffchen, Masken mit und Bei einer erfolgreichen Konditionierung wandelt sich der
ohne Haaren und einem großen Baumwollbüschel konfron- neutrale Stimulus zu einem konditionierten Stimulus. Allei-
tiert. Der Junge war interessiert und fasste die Objekte an ne dargeboten ist er in der Lage, eine konditionierte Reaktion
(Orientierungsreaktion), zeigte aber bei keinem Anzeichen auszulösen. Die konditionierte Reaktion ist der unkonditio-
von Furcht (unkonditionierte Reaktion). nierten ähnlich, kann aber weitere Verhaltensweisen mitein-
schließen (Bodenmann et al. 2011).
1 Konditionierungsphase In der darauffolgenden Sitzung wiederholten Watson und
Nachdem die Eingangsvoraussetzungen geprüft worden sind, Rayner (1920) die Prozedur. Drei Mal wurde die weiße Ratte
folgt die Phase der Konditionierung. Beim Konditionierungs- zusammen mit dem lauten Geräusch präsentiert. Daraufhin
prozess werden der neutrale und der unkonditionierte Stimu- wurde Albert lediglich die Ratte vorgesetzt, um zu prüfen, ob
lus wiederholt gemeinsam dargeboten und auf diese Weise die Konditionierung der Reaktion eingetreten war. Er verzog
miteinander verkoppelt. Das Auftreten des einen Stimulus das Gesicht, wimmerte und lehnte den Körper stark zur Seite
erfolgt in räumlicher und zeitlicher Nähe zum anderen. Op- herüber. Nach zwei weiteren Durchgängen hatte sich der neu-
timal ist die Kontiguität, wenn der neutrale Reiz zeitlich vor trale Reiz zum konditionierten Reiz gewandelt. Sobald Albert
und während oder vollständig zeitgleich mit dem unkon- die weiße Ratte gezeigt wurde, fing er an zu schreien. Er fiel
ditionierten Reiz dargeboten wird (Spada et al. 2006). Der zur Seite, rappelte sich auf und krabbelte so schnell es ging
neutrale Stimulus bewirkt zu diesem Zeitpunkt noch kei- davon.
ne eigenständige emotionale Reaktion. Der unkonditionierte Fünf Tage später wurde Albert erneut mit der Ratte in
Stimulus löst verlässlich die unkonditionierte Reaktion aus. Kontakt gebracht. Er fing sofort an zu weinen und versuchte
Als Albert elf Monate alt war, begannen Watson und Ray- zu fliehen. Weitere Tests zeigten, dass sich seine Furcht auch
ner (1920) mit den Konditionierungsversuchen. Aus einem auf ein Kaninchen, einen Hund, einen Pelzmantel, einen gro-
Korb wurde eine weiße Ratte (neutraler Stimulus) hervor- ßen Baumwollbüschel und eine Nikolausmaske ausgedehnt
geholt und Albert gezeigt. Als er begann, sich danach zu hatte.
strecken und seine Hand das Tier berührte, wurde sofort hin-
ter seinem Rücken gegen das Eisen geschlagen. Albert fiel mit1 Löschungsphase
einem Ruck nach vorn, weinte aber nicht. Als er noch ein- Durch die alleinige Darbietung des konditionierten Stimulus
mal die Ratte berühren wollte, wurde erneut gegen die Stange ohne den unkonditionierten Stimulus wird das konditionier-
1.3  Klassische Konditionierung
7 1
te Verhalten wieder gelöscht. Anfänglich wird der kondi- 1.3.2 Eigenschaften der klassischen
tionierte Reiz nach erfolgreicher Konditionierung noch eine Konditionierung
recht starke konditionierte Reaktion hervorrufen. Je öfter je-
doch nur der konditionierte Stimulus dargeboten wird, desto
schwächer wird die bedingte Reaktion, bis sie vollkommen1 Bekräftigung
verschwindet. Der Erwerb einer konditionierten Reaktion ist an die wieder-
Dem kleinen Albert wäre zu wünschen gewesen, dass sei- holte Koppelung von neutralem und unkonditioniertem Reiz
ne Furcht vor Tieren wieder gelöscht worden wäre. Jedoch gebunden. Im Falle des kleinen Alberts waren sieben Durch-
wurde die Verbindung zwischen dem Hämmern auf die Me- gänge erforderlich, bevor der neutrale zum konditionierten
tallstange und der weißen Ratte nie gelöst. Kurz nach Been- Stimulus wurde. Entscheidend ist die Intensität des unkondi-
digung der letzten Sitzungen wurde Albert von einer anderen tionierten Reizes: Ist er stark wie ein Hammerschlag, reichen
Familie außerhalb der Stadt adoptiert und eine Löschung des bereits wenige Lernsequenzen, um die Verbindung zum neu-
konditionierten Verhaltens fand nicht statt (Watson 1930). tralen Reiz herzustellen (Steiner 1996). Beim Erwerb einer
Watson und Rayner (1920) mutmaßten, dass Alberts Furcht Geschmacksaversion kann sogar der einmalige Verzehr einer
vor behaarten Tieren und haarigen Gegenständen ohne ge- Speise genügen (De Silva & Rachman 1987).
eignete Gegenmaßnahmen bestehen bleiben würde.
In kriminalistischer Kleinarbeit machten sich verschiede-1 Generalisierung
ne Autoren daran, den weiteren Werdegang des kleinen Al- Die konditionierte Reaktion sollte auch bei anderen Stimuli
bert nachzuverfolgen (Beck, Levinson & Irons 2009; Powell, auftreten, die dem konditionierten Reiz ähnlich sind. Dieses
Digdon, Harris & Smithson 2014). Die wenigen Angaben aus Phänomen wird als Reizgeneralisierung bezeichnet. Der klei-
Watsons Schriften und einem historischen Lehrfilm führten ne Albert fürchtete sich nach der Konditionierung auch vor
zunächst zu einer falschen Person (Beck et al. 2009; Powell anderen haarigen Objekten. Die konditionierte Reaktion auf
2010). Doch schließlich konnte mit Albert Barger ein Mann die weiße Ratte hatte sich auf andere Tiere und Gegenstände
ausfindig gemacht werden, der den Suchkriterien in den we- übertragen.
sentlichen Punkten entsprach (Powell et al. 2014). William
Albert Martin, so sein späterer Name, starb 2007. Von ihm1 Diskrimination
sagte seine Nichte, dass er zwar keine phobische Furcht, aber Der umgekehrte Vorgang zur Generalisierung nennt sich
eine Abneigung gegenüber Tieren besessen hätte. Tiere hat- Reizdiskrimination. Die konditionierte Reaktion kann nicht
ten für den immer fein gekleideten und gepflegt auftretenden bei Stimuli verzeichnet werden, die vom konditionierten Reiz
Albert etwas Unsauberes an sich gehabt. verschieden sind. Um den kleinen Albert zu beruhigen, hatte
Watson und Rayner (1920) wussten bereits, wie sie dem er zwischen den Reizdarbietungen immer wieder Gelegen-
kleinen Albert hätten helfen können und wären wohl auch heit, mit Bauklötzen zu spielen. Die Bauklötze riefen keine
dazu bereitet gewesen. Um die konditionierte Furcht zu be- Furchtreaktion, sondern Freude und Lachen hervor. Er fing
seitigen, zogen sie nicht nur die alleinige Darbietung des sofort an zu spielen. Albert hatte gelernt, zwischen Reizen zu
konditionierten Stimulus, sondern auch die Möglichkeit der diskriminieren, die mit dem unkonditionierten Reiz verbun-
Gegenkonditionierung in Erwägung. Immer wenn Albert mit den sind oder losgelöst davon erscheinen.
dem furchtbesetzten Tier in Kontakt käme, würde er etwas
Süßes erhalten. Die angenehmen Gefühle beim Verzehr wür-1 Konditionierung höherer Ordnung
den das Kind beruhigen und Gefühle der Angst im Laufe der Wird ein konditionierter Reiz beständig mit weiteren neu-
Zeit durch die Gegenkonditionierung verschwinden lassen tralen Reizen gekoppelt, sind diese bald selbst in der Lage,
(Jones 1924). konditionierte Reaktionen auszulösen. Dieser Prozess wird
als Konditionieren höherer Ordnung bezeichnet. Das Schrei-
1 Spontanerholung ben einer Klassenarbeit kann mit Misserfolg verbunden sein.
Nach der Löschung eines konditionierten Verhaltens kann es Die Wissensprüfung wird zum konditionierten Reiz, wel-
zu einer Spontanerholung kommen. Damit ist gemeint, dass cher die konditionierte Reaktion Furcht auslöst. Mit der Zeit
der konditionierte Stimulus die vermeintlich gelöschte, kon- können auch andere, vormals neutrale Reize dieselbe Quali-
ditionierte Reaktion wieder auslösen kann. Die Wirkung ist tät gewinnen (Schunk 2004). Dann werden die Schülerinnen
nicht mehr so stark wie zuvor. und Schüler bereits ängstlich, wenn die Lehrkraft einen Stapel
Weil Watson und Rayner (1920) das Furchtverhalten des Papier aus der Tasche zieht oder die Tischordnung geändert
kleinen Albert nicht gelöscht hatten, lässt sich über eine Spon- worden ist. Schon die Ankündigung „Morgen, Klassenar-
tanerholung keine Aussage treffen. Es wäre falsch zu glauben, beit!“ kann Furcht hervorrufen. Papierstapel, Tischordnun-
dass allein das Verstreichen von Zeit zu einer Löschung kon- gen und sprachliche Äußerungen sind konditionierte Reize
ditionierter Verhaltensweisen führt. Wenn konditionierter höherer Ordnung.
und unkonditionierter Stimulus nicht entkoppelt werden, be-
hält der konditionierte Reiz seinen Signalcharakter (Spada
et al. 2006).
8 Kapitel 1  Lernen und Verhalten

1.3.3 Anwendung der klassischen Crombez 2010). Anfänglich neutrale Stimuli, dargeboten in
1 Konditionierung Kombination mit beliebten oder unbeliebten Stimuli, konn-
ten ihre Wertigkeit in die jeweilige Richtung mit mittlerer
Effektstärke verändern.
Die Theorie des klassischen Konditionierens kann einige
Auffälligkeiten im schulischen Bereich gut erklären. Ver-
schiedene fiktionale Beispiele sollen den Praxisbezug deut-
lich machen. Außerhalb des Forschungslabors ist klassische 1.3.4 Kritik der klassischen Konditionierung
Konditionierung schwer nachzuweisen, weil sie sich beiläu-
fig ereignet. Eine starre Bindung an Reflexe ist nicht zwin-1 Mechanistische Lernauffassung
gend gegeben. Es können auch andere, unbewusst ablaufende Der Methode des klassischen Konditionierens liegt eine me-
Verarbeitungsvorgänge Konditionierungsreaktionen hervor- chanistische, von außen steuerbare Auffassung von Lernen
rufen. zugrunde. Es müssen nur die geeigneten Umweltbedingun-
Mancher Schüler denkt mit Unbehagen an seinen ma- gen geschaffen werden, dann stellen sich die gewünschten
thematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht. Insbesonde- Verhaltensweisen ein. Menschen reagieren jedoch sehr unter-
re der Umgang mit Formeln und Symbolen verursacht vie- schiedlich auf scheinbar gleiche Umweltbedingungen. Trotz
le Probleme. Eine „Formelphobie“ kann durch klassische des gleichen Stoffangebots ergeben sich am Ende des Unter-
Konditionierung erworben werden (Gage & Berliner 1996). richts im Lernstand der Schülerinnen und Schüler erhebliche
Schwierige Inhalte (unkonditionierter Stimulus) in Verbin- Unterschiede.
dung mit mathematischen Symbolen (neutraler Stimulus)
bereiten Lernenden Kopfzerbrechen und ein ungutes Gefühl1 Fehlende Erklärung für neues Verhalten
(unkonditionierte Reaktion). Durch die geistige Anstrengung Das klassische Konditionieren kann nicht erklären, wie neu-
erhalten Formeln und Symbole einen negativen Anstrich. es Verhalten entsteht und sich Handlungskompetenzen ver-
Schreibt die Lehrkraft in Formelsprache (konditionierter Sti- größern. Durch die Methode werden keine neuen Verhal-
mulus) etwas an die Tafel, wird dies schnell nicht verstanden tensweisen gelernt, sondern lediglich die Verbindungen mit
und ruft Gefühle des Versagens (konditionierte Reaktion) verhaltensauslösenden Reizen gestärkt (Steiner 1996). Die
hervor. Reaktionen selbst sind davon unbeeinflusst und verändern
Mit dem Wechsel von der Grundschule auf die weiter- sich nicht.
führende Schule erweitert sich der Fächerkanon. Unbekannte
Fächer (neutrale Stimuli) wie Erdkunde, Französisch oder1 Beschränkte Anwendbarkeit
Wirtschaft kommen hinzu. Wenn die Lehrkraft eines neu- Die klassische Konditionierung ist nur auf ein einge-
en Fachs eine sehr sympathische Person (unkonditionierter schränktes Spektrum von Verhaltensweisen anwendbar. Sie
Stimulus) ist, welche die Schülerinnen und Schüler gerne beruht auf Reflexen, also feststehenden Reiz-Reaktions-
mögen (unkonditionierte Reaktion), wird sich der Eindruck Verbindungen. Die Begrenztheit des Verfahrens wird schnell
vom Fach zum Guten hin verändern (Lefrançois 2006). Zu- offensichtlich, wenn man es auf das gezielte Vermitteln
sätzlichen Lernangeboten in diesem Bereich (konditionierter von Verhaltensweisen übertragen möchte. Ein Sportlehrer
Stimulus) wird mit einer positiven Einstellung (konditionier- kann versuchen, Kindern aufgrund des Kniesehnenreflexes
te Reaktion) begegnet. das Fußballspielen beizubringen. Geeignete Schusspositio-
Umgekehrt können negative Erlebnisse in der Schule da- nen vor dem Tor müssten mit dem Reflex fest verkoppelt
zu führen, dass der Ort des Lernens (neutraler Stimulus) werden. Dieses Spiel wäre jedoch wenig flexibel und hät-
eine andere Bedeutung erhält (Gage & Berliner 1996). Ei- te mehr Ähnlichkeit mit Tischfußball als einem wirklichen
gene Lerndefizite, Konflikte mit den Mitschülern oder eine Fußballspiel. Andere Lernprinzipien sind gefordert, um die
bedrohliche Wahrnehmung der Lehrkraft (unkonditionier- vielfältigen Verhaltensmöglichkeiten des Menschen begreif-
te Stimuli) können mit Gefühlen der Angst und Ablehnung lich zu machen.
(unkonditionierte Reaktion) verbunden sein. So kann bereits
beim Betreten des Gebäudes (konditionierter Stimulus) ein1 Fehlende Generalisierbarkeit
beklemmendes Gefühl (konditionierte Reaktion) entstehen. Weiteren Forschern gelang es nicht, die Befunde von Wat-
Um den unangenehmen Zustand zu vermeiden, werden be- son und Rayner (1920) zu replizieren (Bregman 1934; English
troffene Schülerinnen und Schüler etwa versuchen, die Schule 1929; Valentine 1930). Bregman (1934) verwendete in ihrer
zu schwänzen. Studie zur Induktion von Emotionen allerdings sehr neu-
Im Grunde genommen können vielerlei Reize in unse- trale Stimuli wie hölzerne Dreiecke, Rechtecke und Ringe
rer Umwelt an einen unkonditionierten Reiz gekoppelt wer- oder Stücke gefärbten Stoffs. Aufgrund einer biologischen
den und so ihre Bedeutung ändern. Selbst der langweiligste Bereitschaft lernen Menschen jedoch nur gegenüber gewis-
Unterricht kann mit einem lustigen Sitznachbarn zu einem sen Gegenständen mit Furcht zu reagieren (Seligman & Hager
echten Erlebnis werden. Metaanalytische Befunde deuten da- 1972). Objekte mit Fell oder Haaren scheinen dazu zu gehö-
rauf hin, dass umwertendes Konditionieren beim Menschen ren, Sachen aus Holz oder Stoff dagegen nicht. Die Erklärung
gut funktioniert (Hofmann, De Houwer, Perugini, Baeyens & dafür liegt in unserem biologischen Erbe. Um plötzliche Ge-
1.4  Operante Konditionierung
9 1
fahren wie ein wildes Tier oder einen Feind abzuwehren,
haben sich flexible Reaktionsmechanismen etabliert (Öhman Die Methode hat allerdings ihre Tücken, selbst wenn
& Mineka 2001). Sie sorgen für unterschiedliche Handlungs- die Karte des Erstklässlers zum „Fatatak“ die meisten Väter
bereitschaften auf die Vorgabe verschiedener Reize. erfreuen dürfte. Aus lerntheoretischer Sicht kann ein
Gesetz des Behavioristen Edward R. Guthrie die Probleme
1 Alternative Erklärungsansätze des Schreibens nach Gehör erklären. Die Erkenntnis
Kognitionswissenschaftler würden bestimmte Befunde der Guthries lautet: „Reize, die eine Antwort begleiten,
klassischen Konditionierung einfacher und prägnanter deu- neigen bei ihrer Wiederkehr dazu, diese Reaktion erneut
ten. Sie würden davon ausgehen, dass Personen in Konditio- hervorzurufen.“ (Guthrie 1930, S. 412). Sollte das Kind
nierungsstudien die Erwartung bilden, dass der konditionier- erneut zum Vatertag gratulieren, wird es mit höherer
te Reiz ein Ereignis ankündigt (Rescorla 1987). Verhaltens- Wahrscheinlichkeit die gleichen Fehler noch einmal
theoretiker würden ein kognitives Konstrukt wie eine Erwar- begehen. Weil auch keine Berichtigung erfolgt, können
tung ablehnen. Gleichwohl ließe sich damit erklären, warum sich fehlerhafte Schreibweisen einschleifen. Günstiger
Rückwärtskonditionierung – der unkonditionierte Stimulus wäre es nach Guthries Theorie, Schülerinnen und Schülern
erscheint vor dem neutralen Stimulus – eher schlecht funk- von Anfang an das Richtige zu lehren.
tioniert (Angermeier & Peters 1973). Der konditionierte Sti- In einer Metaanalyse hat Funke (2014) 16 Studien
mulus führt in diesem Fall nicht zur Erwartung, dass ein mit über 800 Schulklassen zusammengetragen, in denen
wichtiges Ereignis bevorsteht. das Schreiben nach Gehör mit der herkömmlichen
Lesefibel-Methode verglichen wurde. In den Klassenstufen
1 Begrenzte praktische Bedeutung zwei bis vier waren die „Schreiben nach Gehör“-Klassen
Watson und Rayner hatten zwei Söhne, William und James, den „Lesefibel“-Klassen im Rechtschreiben mit mittlerer
die sie streng nach behavioristischen Prinzipien aufzogen. Effektstärke signifikant unterlegen. Es ist mithin ein
Ihre Erkenntnisse veröffentlichte das Ehepaar in einem Er- Bildungsmythos, dass Kinder durch die Methode des
ziehungsratgeber (Watson & Watson 1928), der sich gut ver- Schreibens nach Gehör die deutsche Rechtschreibung
kaufte. Watson war davon überzeugt, dass zu viel Mutterliebe besser erlernen.
und elterliche Bindung den Kindern dabei schade, Unabhän-
gigkeit zu erlangen. Die Jungen sollten wie kleine Erwachsene
behandelt und der Ausdruck offener elterlicher Zuneigung
vermieden werden (Nelson-Jones 2006). Watsons Glaube an 1.4 Operante Konditionierung
die Formbarkeit von Persönlichkeiten durch die Gesetze des
Behaviorismus wurde jedoch arg erschüttert, als William
sich gegen den Willen seines Vaters entschied, Psychiater zu Es gibt viele Verhaltensweisen von Schülerinnen und Schü-
werden. Das war nicht der einzige Rückschlag für Watsons lern, welche die Nerven einer Lehrkraft belasten: mit dem
Erziehungsvorstellungen. Beide Söhne begingen Selbstmord- Stuhl kippeln, unvermittelt aufstehen, in der Klasse herum-
versuche. William kam dabei ums Leben (Smirle 2013). Die laufen, den Tisch verrücken, heimlich das Handy benutzen,
von Watson eingangs zitierte Auffassung über die scheinbar mit dem Nachbarn quatschen, mit den Fingern schnipsen, in
beliebige Veränderbarkeit von Heranwachsenden wird durch die Klasse hineinrufen, etwas vom Tisch fallen lassen oder
diese Erziehungsergebnisse deutlich in Frage gestellt. geistesabwesend aus dem Fenster schauen. Das unerwünschte
Schülerverhalten, mit dem sie die Lehrkraft gewollt oder un-
gewollt reizen, lässt sich als Lernen durch Versuch und Irrtum
beschreiben. Es werden so lange unterschiedliche Verhaltens-
Mythos: Schreiben nach Gehör weisen ausprobiert, bis eine davon die Lehrkraft ausreichend
Um den Einstieg in den Schriftspracherwerb zu erleichtern, provoziert, um dagegen vorzugehen. Dann erst wird den
empfahl der Schweizer Reformpädagoge Jürgen Reichen Schülerinnen und Schülern klar, dass sie solche Verhaltens-
(1939–2009), Kinder nach Gehör schreiben zu lassen (Rei- weisen in Zukunft besser unterlassen sollten.
chen 1988). Kinder sollten die Worte so zu Papier bringen, Ausschlaggebend beim Lernen durch Versuch und Irr-
wie sie sie wahrnehmen. Begriffe können dadurch auch tum sind nicht wie beim klassischen Konditionieren die dem
ohne Buchstabenkenntnis geschrieben werden. Die gehör- Verhalten vorauslaufenden Reize in der Umgebung, sprich
ten Laute werden einfach miteinander kombiniert. Dabei die situativen Gegebenheiten im Klassenzimmer. Entschei-
hilft eine Anlauttabelle mit passenden Bildern zu jedem dend sind vielmehr die auf das Verhalten folgenden Reize,
Laut: Ufo steht für U oder Auto für Au. Rechtschreibfehler also die Folgen oder Konsequenzen. Im Gesetz der Wir-
werden zunächst nicht korrigiert, um die Motivation der kung (law of effect) hat Edward L. Thorndike (1913) die-
Schreibanfänger nicht zu beeinträchtigen. Brügelmann sen Zusammenhang formuliert. Erfolgreiche Verhaltenswei-
(1992) schloss auf der Grundlage früher Untersuchungen, sen mit zufriedenstellenden Konsequenzen werden zukünftig
dass man diesen Unterricht guten Gewissens praktizieren wahrscheinlich häufiger gezeigt, während erfolglose Verhal-
könne. tensweisen mit unbefriedigenden Konsequenzen in Zukunft
wahrscheinlich seltener auftreten.
10 Kapitel 1  Lernen und Verhalten

Die Methode der operanten Konditionierung von Burr- mit gleicher Häufigkeit auf. Dies war Voraussetzung dafür, die
1 hus F. Skinner (1953) baut auf den Erkenntnissen Thorndikes Gruppen miteinander vergleichen und den Erfolg der weite-
auf. Auch Skinner war der Überzeugung, dass Verhalten vor ren Maßnahmen bestimmen zu können.
allem von seinen Konsequenzen bestimmt ist. Operante Ver-
haltensweisen – das sind solche, die auf die Umwelt operie-1 Verstärkung des Verhaltens
ren und damit Einfluss auf sie nehmen – können durch die In der zweiten Phase des Experiments wurde versucht, das
Verhaltensfolgen konditioniert werden. In Abhängigkeit von unerwünschte Verhalten zu konditionieren. Auf unangemes-
den Konsequenzen wird ihr zukünftiges Auftreten mehr oder senes Reden sollte die junge Lehrerin in der Versuchsklasse
minder wahrscheinlich (Schunk 2004). mit direkten, verbalen Zurechtweisungen reagieren und die
Grundlegend für das Verständnis der operanten Kon- Jugendlichen dabei nach Möglichkeit mit Namen ansprechen:
ditionierung ist das Prinzip der Verstärkung. Verstärkung „John, sei leise“, „Jane, hör auf zu reden“ oder „Ihr da drü-
beruht auf der Gabe oder dem Entzug von Verstärkern. Ein ben, seid ruhig“. Den Schülerinnen und Schülern wurde aber
Verstärker ist jeder Reiz in der Folge eines Verhaltens, durch nicht mit weiteren Konsequenzen wie Nachsitzen gedroht.
den sich die Stärke des Verhaltens ändert. Lächeln, Lob, Be- Wenn sich die Klasse eine Weile ruhig verhalten hatte, ver-
achtung, Anerkennung, Wertschätzung, Hausaufgabenfrei, stärkte die Lehrerin das Verhalten mit Lob: „Danke, dass ihr
Smileys, Sticker, Lehrerstempel, Süßigkeiten und gute No- ruhig seid“ oder „Danke, dass ihr jetzt nicht redet“. Wie aus
ten werden von Lehrkräften für gewöhnlich als Verstärker . Abb. 1.2 hervorgeht, waren die Konditionierungsbemühun-
eingesetzt. Ob ein Verstärker wirksam ist, lässt sich erst im gen der Lehrkraft erfolgreich. Zwischen dem 28. und dem 62.
Nachhinein feststellen. Dann zeigt sich, ob eine geplante Schultag ging das unerwünschte Redeverhalten in der Ver-
Belohnung tatsächlich verstärkend gewirkt und die Auftre- suchsklasse stark zurück, während es in der Kontrollklasse
tenswahrscheinlichkeit des Verhaltens sich verändert hat. Ein ohne Intervention unverändert stark blieb. Die weiteren Pha-
Verstärker soll verstärken. Tut er das nicht, handelt es sich um sen der operanten Konditionierung verdeutlichen die mögli-
keinen Verstärker. che Entwicklung des Schülerverhaltens nach Beendigung der
Trainingsmaßnahme.

1.4.1 Phasen der operanten Konditionierung 1 Löschung des Verhaltens


Um ein Verhalten zu löschen, wird es nicht weiter verstärkt.
Wenn die Klasse ungefragt reden und die Lehrkraft nicht mit
Bei der Veränderung von operantem Verhalten mithilfe von Lob und Tadel verstärken würde, würde das konditionierte
Verstärkern lassen sich in Analogie zur klassischen Konditio- Verhalten gelöscht. Durch die Löschung ließe die Kraft der
nierung vier verschiedene Phasen unterscheiden. Sie werden Maßnahme allmählich nach, bis überhaupt kein Effekt mehr
als Bestimmung der Basisrate, Verstärkung des Verhaltens, feststellbar wäre. Die Jugendlichen würden sich dann wieder
Löschung des Verhaltens und Spontanerholung bezeichnet. so häufig unterhalten wie zu Beginn der Konditionierungs-
Die unterschiedlichen Phasen sollen anhand eines konkreten phase.
Falls in der Schule erläutert werden (McAllister, Stachowiak,
Baer & Conderman 1969).
1 Spontanerholung
In der Studie von McAllister et al. (1969) wurden die Wir-
Bei der Spontanerholung tritt das gewünschte Verhalten er-
kungen von Lob und Tadel der Lehrkraft auf unangemessenes
neut zutage, sobald die Konditionierungssituation wiederher-
Schülerverhalten untersucht. Zur Teilnahme an der Untersu-
gestellt ist. Daran würde ersichtlich, dass das Verhalten nicht
chung erklärte sich eine 23-jährige Lehrerin mit einjähriger
verlernt worden ist. Lob und Tadel der Lehrerin könnten den
Berufserfahrung bereit. Sie berichtete über Schwierigkeiten,
Redefluss der Schülerinnen und Schüler nun schnell stoppen
zwei von ihr unterrichtete Oberstufenklassen unter Kontrolle
und dafür sorgen, sich angemessen zu benehmen. Allerdings
zu halten. Besonders störte sie das unaufgeforderte Reden der
wäre der Effekt weniger ausgeprägt als am Ende der Kondi-
Schülerinnen und Schüler im Unterricht. Von der Teilnahme
tionierungsphase.
an der Forschungsstudie erhoffte sie sich, das Problem besser
in den Griff zu bekommen.

1 Bestimmung der Basisrate


1.4.2 Eigenschaften der operanten
Zu Beginn des Schulexperiments wurde zwischen dem 1. und
27. Schultag eine Grundrate bestimmt und dabei gemessen, Konditionierung
wie häufig das zu konditionierende Verhalten spontan auftrat.
Für jede Minute des Unterrichts wurde durch einen Beob-1 Verstärkungsformen
achter festgehalten, ob die Schülerinnen und Schüler sich Die operante Konditionierung basiert auf der Verstärkung
unterhielten oder dem Unterricht folgten. . Abb. 1.2 zeigt den und Bestrafung von Verhalten. . Tab. 1.1 gibt einen Über-
prozentualen Anteil unerwünschten Gesprächsverhaltens am blick über die verschiedenen Verstärkungsformen. Die Ver-
Unterricht. In der Phase zur Bestimmung der Basisrate trat wendung der Begriffe positiv und negativ führt darin oft zu
unerlaubtes Reden in der Versuchs- und Kontrollklasse etwa Missverständnissen. Als Attribut von Verstärkung und Be-
1.4  Operante Konditionierung
11 1
50

45
Häufigkeit des unerwünschten Gesrpächsverhaltens (in Prozent)

Experimentalgruppe
Kontrollgruppe
40

35

30

25

20

15

10
Beginn der
Konditionierung
5

0
2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62
Zeit (in Tagen)

. Abb. 1.2 Täglicher Anteil von Zeitintervallen unangemessenen Redeverhaltens in der Versuchs- und Kontrollgruppe während der Ausgangs- und
Konditionierungsphase (nach McAllister et al. 1969, S. 281)

Zu beachten gilt, dass mit positiver und negativer Verstär-


. Tabelle 1.1 Formen der operanten Konditionierung
kung gleichgerichtete Wirkungen erzielt werden. In beiden
Darbietung Entzug Fällen von Verstärkung wird die Wahrscheinlichkeit für das
Positiver Positive Verstärkung Negative Bestrafung Auftreten des Verhaltens größer.
Reiz (Lob für gute Mitarbeit) (Wegnahme des Handys)

Negativer Positive Bestrafung Negative Verstärkung Im Fokus: Richtiges Loben


Reiz (Ermahnung bei Unter- (Befreiung von Hausauf-
richtsstörung) gaben) Im Rahmen des Verstärkungslernens bietet das Lob der
Kein Reiz Löschung
Lehrkraft Schülerinnen und Schülern eine effektive Orien-
tierungshilfe. Mit Lob bedachte Verhaltensweisen werden
wahrscheinlich häufiger gezeigt werden, während nicht
durch Lob oder andere Verstärker belohnte Verhaltenswei-
sen wahrscheinlich der Löschung unterliegen (Landrum &
strafung meinen sie, ob ein Reiz gegeben oder genommen Kauffman 2006).
wird. Allerdings wird mit dem Lehrkraftlob nicht ausschließlich
Bei positiver Verstärkung wird durch Hinzufügen eines der Zweck verfolgt, verstärkend zu wirken. Ein Lob kann
angenehmen Reizes als Antwort auf das Verhalten die Wahr- auch ausgesprochen werden, um eine soziale Beziehung
scheinlichkeit für das Auftreten des Verhaltens in der kon- aufzubauen („Du zeigst heute wieder dein sonnigstes
kreten Situation erhöht. Die Anerkennung der Lehrkraft für Lächeln“). Zudem wird ein zur Verstärkung eingesetztes Lob
gute Mitarbeit macht die zukünftige Unterrichtsbeteiligung – wie für angemessenes Verhalten – von Schülerinnen und
der Schülerinnen und Schüler wahrscheinlicher. Schülern nicht immer als solches empfunden („Ich finde
Bei negativer Verstärkung wird durch Wegnahme eines es toll, wie wunderbar gerade du sitzt“). Schülerinnen und
unangenehmen Reizes als Antwort auf das Verhalten die Schüler bevorzugen ein ruhiges, persönliches Lob gegen-
Wahrscheinlichkeit für das Auftreten des Verhaltens in der über lautstark öffentlich vorgetragenen Belobigungen und
konkreten Situation erhöht. Die Befreiung von Hausaufgaben wollen eher für ihre schulischen Leistungen als für ihr gutes
für konzentrierte Mitarbeit bestärkt viele Schülerinnen und Verhalten Anerkennung finden (Good & Brophy 2008).
Schüler in ihrem Lernengagement.
12 Kapitel 1  Lernen und Verhalten

1 Die Häufigkeit des Lehrkraftlobs hat praktisch keinen Isolation oder der Aufbau inkompatibler Verhaltensweisen
Einfluss auf den Leistungsfortschritt von Schülerinnen und eine so sofortige, andauernde und allgemeine Wirkung wie
Schülern (Brophy 1981). Entscheidend ist die Qualität des mit Vernunft angewandtes Strafen (Johnston 1972).
Lobes. Besonders wirksam ist Lob, das die Entwicklung In Fällen, in denen ein gefährliches oder äußerst uner-
und den Fähigkeitserwerb der Schülerinnen und Schüler wünschtes Verhalten wiederholt auftritt, wird eine Lehrkraft
in den Vordergrund rückt. Richtiges Lob würdigt die um die Anwendung von Strafen nicht herumkommen.
unternommenen Anstrengungen oder die erbrachten Strafen sollten als letzter Ausweg zur Reduktion falscher
Leistungen. Das gilt insbesondere auch für Lernschwächere, Verhaltensweisen gesehen werden, wenn aller Ausdruck
die nicht anders als ihre Klassenkameraden behandelt von Besorgtheit und jedes Angebot von Unterstützung
werden wollen. Lob sollte eine spontane, aufrichtige nicht zum Ziel geführt haben. Lehrkräfte sollten in diesen
Stellungnahme zu Schülerleistungen sein und nicht dem Fällen Folgendes beachten (Julius 2004):
Kalkül entspringen, Schülerinnen und Schüler beeinflussen 4 Schülerinnen und Schüler müssen genau wissen, wofür
zu wollen (Good & Brophy 2008). sie bestraft werden.
4 Die Bestrafung sollte erst erfolgen, wenn die betreffen-
den Schülerinnen und Schüler nicht mehr aufgeregt
Umgekehrt verhält es sich bei Bestrafung. Bestrafung sind.
dient nicht der Stärkung, sondern der Unterdrückung eines 4 Nach der Bestrafung sollte es die Lehrkraft vermeiden,
Verhaltens. Es wird zwischen positiver und negativer Bestra- im Unterricht noch einmal auf das Fehlverhalten
fung unterschieden. In beiden Fällen von Bestrafung wird die einzugehen, um niemanden bloß zu stellen.
Wahrscheinlichkeit für das Auftreten des Verhaltens kleiner. 4 Falsches Verhalten sollte bereits in den Anfängen und
Bei positiver Bestrafung wird durch Hinzufügen eines nicht erst am Ende unterbunden und mit Strafe belegt
unangenehmen Reizes als Antwort auf das Verhalten die werden.
Wahrscheinlichkeit für das Auftreten des Verhaltens in der 4 Regelgerechtes Verhalten sollte systematisch verstärkt
konkreten Situation gesenkt. Die Ordnungsrufe der Lehrkraft werden.
auf die Unterrichtsstörungen machen zukünftiges Störverhal-
ten der Schülerinnen und Schüler weniger wahrscheinlich.
Bei negativer Bestrafung wird durch Wegnahme eines1 Primäre und sekundäre Verstärkung
angenehmen Reizes als Antwort auf das Verhalten die Wahr- Eine grundlegende Unterscheidung wird zwischen primärer
scheinlichkeit für das Auftreten des Verhaltens in der kon- und sekundärer Verstärkung getroffen. Primäre Verstärkung
kreten Situation verringert. Der Entzug des Smartphones beruht auf der Befriedigung physiologischer Bedürfnisse wie
bei Benutzung im Unterricht macht dessen zukünftigen Ge- Essen, Trinken und Schlafen, bei Erwachsenen zählt auch Sex
brauch in der Schule nach Rückgabe weniger wahrscheinlich. dazu. Primäre Verstärker wie mitgebrachte Kuchen, freie Ge-
Die positive Bestrafung entspricht unserem Grundver- tränke oder die Möglichkeit sich auszuruhen, werden in der
ständnis von Strafe. Es wird einer Person etwas Unangeneh- Schule verhältnismäßig selten genutzt. Schulisch bedeutsa-
mes zugefügt. Die negative Bestrafung erscheint auf den ers- mer ist die sekundäre Verstärkung. Sie ist sozialen Ursprungs
ten Blick humaner, kann aber als ebenso schmerzhaft erlebt und wird erst im Laufe der Entwicklung eines Menschen
werden. Wenn wegen eines Verstoßes gegen die Schulord- mutmaßlich durch klassische Konditionierung gelernt. Da-
nung die Klassenfahrt nicht mitgemacht werden darf, ist der bei steht die Befriedigung von Bedürfnissen wie Sicherheit,
empfundene Schmerz oft groß. Geborgenheit, soziale Anerkennung oder Selbstverwirkli-
chung im Vordergrund. Als sekundäre Verstärker können ein
Im Fokus: Richtiges Strafen freundliches Lächeln der Lehrkraft, Lob, gute Noten, Geld der
Eltern oder Gestaltungsspielräume wirksam sein.
Das operante Konditionieren von Burrhus F. Skinner wurde Für die Lehrkraft kommt es darauf an, die für die Klas-
oft wegen der Betonung von Strafen zur Verhaltenssteue- se oder einzelnen Klassenmitglieder geeigneten Verstärker zu
rung kritisiert. Dabei hatte Skinner selbst sich für die finden (Gage & Berliner 1996). Das heißt nicht, Schülerinnen
Verwendung positiver Verstärkung anstelle von Bestrafung und Schüler mit Süßigkeiten zu überhäufen. Wenn ein Kind
oder aversiver Reize ausgesprochen (Hjelle & Ziegler 1981). gerne liest, kann ein spannendes Buch ein geeigneter Verstär-
Skinner sah den Gebrauch von Strafen als wenig nützlich ker sein. Wenn es gerne malt, darf es zur Belohnung für ein
an, weil sie (a) eine Person nicht lehren, wie sie sich besser Verhalten etwas zeichnen. Durch die Wahl passender Verstär-
verhalten könnte, (b) das unerwünschte Verhalten nicht not- ker besitzt die Lehrkraft die Möglichkeit, das Verhalten der
wendigerweise beseitigen und (c) Verhaltensweisen nach Schülerinnen und Schüler in die richtigen Bahnen zu lenken.
sich ziehen, die noch schlimmer sein können als die bestraf-
ten (DeBell & Harless 1992). Andererseits hat keine andere 1 Premack-Prinzip
Vorgehensweise wie eine Veränderung der auslösenden Das Premack-Prinzip macht sich den Umstand zunutze, dass
Reize, Verhaltenslöschung, Verhaltenssättigung, soziale ein bevorzugtes Verhalten als effektiver Verstärker für ein
weniger bevorzugtes Verhalten eingesetzt werden kann (Pre-
1.4  Operante Konditionierung
13 1
mack 1965). Viele kennen das Prinzip von zuhause, wo es die rechnet sich aus dem Verhältnis der verstärkten zu den nicht
Eltern intuitiv verwenden: Erst wird aufgegessen, dann darf verstärkten Verhaltensweisen. Kirby und Shields (1971) ga-
gespielt werden. Erst werden die Hausaufgaben erledigt, dann ben dem 13-jährigen Tom jeden Tag ein Arbeitsblatt mit
geht es an den Computer. Die bevorzugte Tätigkeit wird zum zwanzig verschiedenen Rechenproblemen. Für jede zweite
positiven Verstärker der weniger beliebten Aktivität. richtig gelöste Mathematikaufgabe sprachen sie ihm ein be-
Beim Premack-Prinzip gilt es die Reihenfolge der Tätig- sonderes Lob aus. Innerhalb weniger Tage erhöhte sich die
keiten zu beachten. Wenn Hausaufgaben gemacht werden Anzahl richtig gelöster Aufgaben pro Minute von 0,47 auf
sollen, aber das Kind noch ein wenig am Computer spie- 1,36. Selbst als das Lob entfiel, war die Rechengeschwindig-
len möchte, darf der Erziehende jetzt nicht nachgeben. Sonst keit mit 0,98 richtig gelösten Aufgaben pro Minute noch
könnte das Computerspiel nicht mehr als Verstärker für das doppelt hoch wie zu Beginn der Verstärkungsphase.
Erledigen der Hausaufgaben dienen. Stattdessen sollte für Bei variablen Quotenplänen wird nicht genau, sondern im
eine halbe Stunde konzentrierten Arbeitens eine kurze Spiel- Durchschnitt jede x-te Verhaltensweise verstärkt. Dadurch
phase in Aussicht gestellt werden (Homme & Tosti 1971). verändert sich fortwährend die Anzahl gewünschter Verhal-
Lehrkräfte können sich das Prinzip der Verhaltensver- tensweisen, nach der eine Verstärkung erfolgt. Beispielsweise
stärker zunutze machen, indem sie beobachten oder danach melden sich Schülerinnen und Schüler sehr viel häufiger, als
fragen, welchen Tätigkeiten die Schülerinnen und Schüler sie drangenommen werden. Bei einer variablen Quote von
am liebsten nachgehen. Beliebte Tätigkeiten können als Be- 1 : 3 wird ein Lernender bei jeder dritten Meldung seine Ant-
lohnung für die gewissenhafte Erledigung weniger beliebter wort sagen dürfen. Weil das Auftreten der Verstärkung, der
Tätigkeiten zugesagt werden. Die Gefahr, dass die Kinder Aufruf durch die Lehrkraft, um den Wert von 1:3 schwankt,
dann vielleicht nur noch vor dem Computer sitzen oder mit wird der Lernende mal beim dritten, mal beim fünften oder
dem Handy spielen, ist nicht zwangsläufig gegeben. Der Wert mal gleich wieder beim nächsten Aufzeigen drankommen.
einer beliebten Tätigkeit sinkt, wenn sie länger praktiziert Ein variabler Quotenplan sorgt für ein äußerst löschungsre-
wird und lässt andere Aktivitäten im Wert steigen. Auf einmal sistentes Verhalten. Das lässt sich besonders gut bei süchtigen
werden sogar solche Tätigkeiten interessant, die sonst nicht zu Glücks- oder Computerspielerinnen und -spielern beobach-
den beliebtesten zählen (Schunk 2004). ten. Die möglicherweise schon bald erfolgende nächste Ver-
stärkung wird zum Antrieb des schwer löschbaren Suchtver-
1 Verstärkerpläne haltens.
Beim operanten Konditionieren ist entscheidend, dass Ver- Bei fixen Intervallplänen wird das gewünschte Verhalten
halten und Verhaltensfolgen als kontingent zueinander, d. h. nach einem festgelegten Zeitschema verstärkt. Das hat zur
zusammengehörig wahrgenommen werden. Es muss vorher- Folge, dass das Wunschverhalten in dem Zeitintervall relativ
sehbar sein, welche Konsequenzen ein Verhalten haben wird. selten gezeigt wird, aber kurz vor der Verstärkergabe umso
Die Kontingenz zwischen Verhalten und Verhaltenskonse- häufiger. In einer amerikanischen Studie wurde das Lernver-
quenzen kann auf unterschiedliche Weise hergestellt werden halten von Psychologiestudierenden untersucht, die entwe-
(Bodenmann et al. 2011). der täglich, wöchentlich oder im Abstand von drei Wochen
Bei kontinuierlicher Verstärkung wird jede richtige Ver- getestet wurden (Mawhinney, Bostow, Laws, Blumenfeld &
haltensweise verstärkt. Das kann gerade in frühen Stadien des Hopkins 1971). Bei täglicher Wissensüberprüfung zeigten die
Fertigkeitserwerbs unterstützend wirken. Wenn Kinder ihre Studierenden konstantes Lernverhalten und waren regelmä-
ersten Buchstaben oder Zahlen zu Papier bringen, wird bei ßig im Raum für die Prüfungsvorbereitung anzutreffen. Bei
kontinuierlicher Verstärkung jedes halbwegs richtig geschrie- wöchentlicher oder dreiwöchentlicher Testung wurden die
bene Zeichen mit Lob bedacht. Studierenden jedoch zu Saisonarbeitern, die erst dann richtig
Bei intermittierender Verstärkung werden nur einige, zu lernen begannen, wenn die nächste Prüfung kurz bevor-
aber nicht alle korrekten Verhaltensweisen verstärkt. Über in- stand.
termittierende Verstärkung gelerntes Verhalten erweist sich Bei variablen Intervallplänen wird innerhalb eines be-
als stärker löschungsresistent (Skinner 1973). Es verschwin- stimmten Zeitabschnitts ein Verhalten zu einem unbestimm-
det nicht so schnell, wenn es nicht mehr belohnt wird. Weil ten Zeitpunkt verstärkt. Bei diesem Vorgehen wissen die
nur gelegentlich verstärkt wird, müssen operante Verhaltens- Schülerinnen und Schüler nicht, wann die Verstärkung er-
weisen auch unbelohnt wiederholt werden. Die unterbroche- folgt. Sie wissen nur, dass sie innerhalb eines gewissen Zeit-
ne Gabe von Verstärkern kann durch Quoten oder zeitliche intervalls erfolgt. An weiterführenden Schulen in Bayern gibt
Intervalle geregelt sein. Bei Quotenplänen erfolgt die Verstär- es sogenannte Stegreifaufgaben oder Extemporale. Das sind
kung nach einer festgelegten Anzahl richtiger Verhaltenswei- kurze schriftliche Prüfungen über die Lerninhalte von ein
sen. Bei Intervallplänen wird immer nur ein passendes Ver- oder zwei vorauslaufenden Unterrichtsstunden. Weil diese
halten innerhalb eines bestimmten Zeitabschnitts verstärkt. Prüfungen jederzeit erfolgen können, bewirken sie ein beson-
Weil sowohl Quoten als auch Intervalle fix oder variabel ders gleichmäßiges Lernverhalten. Damit scheinen variable
gehalten sein können, ergeben sich bei intermittierender Ver- Intervallpläne zur Unterstützung des schulischen Lernens
stärkung vier mögliche Verstärkerpläne. ideal geeignet zu sein. Das ist jedoch nur bedingt richtig, weil
Bei fixen Quotenplänen wird nach einem festgelegten die emotionale Seite des Lernprozesses davon beeinträchtigt
Schema jede x-te Verhaltensweise verstärkt. Die Quote er- werden kann (Gage & Berliner 1996).
14 Kapitel 1  Lernen und Verhalten

1 Hinweisreize in mehrere Teilprobleme auf, zu denen bereits Grundlagen-


1 Bislang wurde bei der Erklärung des operanten Konditio- wissen vorhanden ist. Dann arbeiten die Schülerinnen und
nierens immer nur die Kontingenz zwischen Verhalten und Schüler selbstständig an den Teilproblemen und suchen nach
Verhaltensfolge mit ihren verstärkenden Eigenschaften be- deren Lösungen. Jede Annäherung an die richtige Lösung
tont. Allerdings können auch die dem Verhalten vorausge- einer Teilfrage wird von der Lehrkraft mit Lob und Aner-
henden Bedingungen von Bedeutung sein. Es kann zu einer kennung verstärkt. Sind alle Teilprobleme gelöst, werden sie
dreigliedrigen Kontingenz, sprich einer festen Verbindung zu einer Lösung der Gesamtaufgabe zusammengefügt. Durch
zwischen vorauslaufenden Reizen, Verhalten und Verhaltens- die Verkettung der Teilaufgaben lernen die Schülerinnen und
konsequenzen kommen. Reize, die in eine solche Dreifach- Schüler, komplexe mathematische Probleme mit der Zeit ei-
Sequenz eingebunden sind, werden als Hinweisreize oder genständig zu bewältigen.
diskriminative Stimuli bezeichnet. Sie ermöglichen das Ver-
halten entsprechend der Situation auszurichten, um an den1 Generalisierung
Verstärker zu gelangen. Wie beim klassischen Konditionieren können auch beim
Angenommen ein Schüler kommt mit einer schlechten operanten Konditionieren Generalisierungseffekte auftreten.
Note nach Hause. Der Schüler fürchtet um die Konsequenzen Generalisierung bedeutet, dass eine zuvor erlernte Verhal-
und sucht nach einem günstigen Zeitpunkt, um das Ergeb- tensweise auf eine ähnliche Situation übertragen wird. Wenn
nis seinen Eltern mitzuteilen. Wenn er die Note seinen Eltern die Schulkinder bei ihrer Klassenlehrerin gelernt haben, wie
nach dem Abendbrot berichtet, werden sie gelassener reagie- sie sich zu verhalten haben, werden sie mit höherer Wahr-
ren, als wenn er sie vorher kundtut. Das Abendessen wird für scheinlichkeit das gleiche Verhalten auch gegenüber anderen
den Schüler in diesem Fall zum diskriminativen Stimulus, der Lehrkräften zeigen. In Bayern werden die Kinder aufstehen,
bei gleichem Verhalten unterschiedliche Konsequenzen zur wenn eine neue Lehrkraft den Raum betritt, um sie willkom-
Folge hat (Bodenmann et al. 2011). men zu heißen. Sobald eine neue Situation ähnliche Reize
bietet wie eine bereits bekannte, wird versucht, das Verhalten
1 Verhaltensformung zu generalisieren.
Die Verhaltensformung (Shaping) ist eine Methode auf der
Grundlage der operanten Konditionierung, mit der Verände-1 Diskrimination
rungen im Verhalten hervorgerufen werden können. Dabei Die Diskrimination ist der entgegengesetzte Vorgang zur Ge-
wird ein spontan gezeigtes Verhalten differentiell verstärkt, neralisierung. Bedeutsam sind bei der Reizdiskrimination
um es schrittweise dem gewünschten Verhalten anzunähern. nicht die Gemeinsamkeiten, sondern die Unterschiede zwi-
Zu Beginn des Englischunterrichts haben viele Schüle- schen Situationen. Aufgrund unterschiedlicher situationaler
rinnen und Schüler Schwierigkeiten mit der Aussprache des Gegebenheiten wird verschiedenartig reagiert. Diskrimina-
„th“. Oft sprechen sie einen „s“-Laut, der beim Gegenein- tionslernen hilft, sozial angepasstes Verhalten zu entwickeln
anderpressen der oberen und unteren Vorderzähne erzeugt (Lefrançois 2006). So darf in der Klasse kein unnötiger Lärm
wird. Wenn stattdessen die Zungenspitze an die oberen Vor- erzeugt werden, auf dem Schulhof dagegen schon. Beim
derzähne geführt wird, nähern sie sich allmählich dem „th“- Vokabelabfragen ist kreatives Verhalten wenig gefragt, im
Laut an. Verstärkt die Lehrkraft jede Annäherung mit Lob, Kunstunterricht und beim Ballspiel dafür umso mehr.
wird die Aussprache der Lernenden sukzessive überformt
und entwickelt sich in die gewünschte Richtung.

1 Verhaltensverkettung
1.4.3 Anwendung des operanten
Zumeist ist menschliches Verhalten nicht ein einzelnes Ereig- Konditionierens
nis, wie das Ausstellen des Weckers, wenn man noch länger
schlafen möchte, sondern eine Verkettung von Verhaltens- Wie aus den vorherigen Beispielen bereits deutlich geworden
weisen (Chaining). Beim morgendlichen Zähneputzen muss sein sollte, weist das operante Konditionieren vielfältige prak-
die Zahnpastatube geöffnet, die Zahnpasta auf die Zahnbürs- tische Bezüge auf. Menschen reagieren in ihrem Verhalten
te gedrückt, die Tube geschlossen, der Mund geöffnet und die sehr sensibel auf den Einsatz von Belohnung und Bestrafung.
Bürste zum Mund geführt werden. Eine solche Verhaltensket- Dementsprechend groß kann die Anwendungsbreite des Ver-
te wird über Verstärker in Verbindung mit diskriminativen fahrens gesehen werden. Zur Veranschaulichung der Nut-
Stimuli erlernt (Lefrançois 2006). Beispielsweise genügt ein zung operanter Prinzipien im Unterricht werden an dieser
schwacher Druck auf die Zahnpastatube, solange sie noch voll Stelle einige Beispiele aus dem technischen und erzieheri-
ist. Ist nur noch ein kleiner Rest vorhanden, muss entspre- schen Bereich vorgestellt.
chend kräftiger gedrückt werden. Die Restmenge in der Tube
wird zum diskriminativen Stimulus, auf den mit unterschied-1 Lernprogramme
lichem Daumendruck reagiert wird. Um Lernende aus ihrer passiven Rolle im Unterricht her-
Auch im Unterricht kann das Prinzip der Verhaltensver- auszuholen, schlug Skinner (1958) den Einsatz von Lehrma-
kettung produktiv genutzt werden. Wenn in Mathematik ein schinen (Teaching machines) vor. Lernende sollten die Fragen
komplexes Problem gelöst werden soll, bricht die Lehrkraft es eines Multiple-Choice-Tests über die Druckknöpfe einer Ma-
1.4  Operante Konditionierung
15 1
schine beantworten. Die meisten Fragen waren recht einfach baum & Price 1976). Generell ist es zu empfehlen, dass Token
gehalten, um vorwiegend richtiges Antwortverhalten bestän- nicht nur hinzugewonnen, sondern auch verloren gehen kön-
dig verstärken zu können. War die Antwort richtig, wurde nen. Schülerinnen und Schüler bevorzugen die sogenannte
vom Gerät die nächste Frage vorgegeben. War die Antwort Verlustkontingenz. In dieser herausfordernden Variante ge-
falsch, wurde sie aufgezeichnet und weitere Antworten muss- winnen sie mehr Token und behalten auch mehr von diesen
ten gewählt werden, bis eine davon korrekt war. Das selbst- (Donaldson, DeLeon, Fisher & Kahng 2014).
ständige Arbeiten an den Aufgaben sorgte für eine stärkere
Individualisierung des Unterrichts. Idealerweise lernte jeder Studie: Lernenden eine Auszeit geben
Lernende so lange, bis er den Stoff sicher beherrschte, was von Um negative Verhaltensweisen zu beseitigen, bieten sich im
Bloom (1971) als Mastery-Learning bezeichnet wurde Rahmen des operanten Konditionierens verschiedene Möglich-
Das Prinzip der Lehrmaschinen war so einfach und er- keiten an: ignorieren, die auslösenden Reize verändern, das
folgsträchtig, dass es sich bis in die heutige Zeit gehalten störende Verhalten mit unvereinbaren Verhaltensweisen ver-
hat. Moderne Learner-Response-Systeme – umgangssprach- koppeln oder es ausleben lassen und dadurch sättigen. Als
lich auch Clicker genannt – arbeiten nach genau dem glei- vermeintlich letzte Alternative kann ein vorübergehender so-
chen Muster. Die scheckkartengroßen Geräte zeichnen die zialer Ausschluss aus dem Klassenverband in Erwägung gezo-
Lösungsversuche der Schülerinnen und Schüler bei Multiple- gen werden.
Choice-Fragen auf und senden sie an den Laptop der Lehr- Lewis, Romi und Roche (2012) haben die Gründe für eine
kraft. Diese kann sich ein differenziertes Bild von den Stärken Auszeit (time out) untersucht und Wege erarbeitet, wie es Lehr-
und Schwächen der Klasse als auch einzelner Lernender ma- kräften besser gelingt, störende Schülerinnen und Schüler von
chen. Keough (2012) berichtete in einer Überblicksarbeit, der Verantwortlichkeit für ihr eigenes Handeln zu überzeugen.
dass sich in 22 der 34 Clicker-Studien die Lernleistungen der In sieben australischen Sekundarschulen wurden 302 Selbst-
Schülerinnen und Schüler im Untersuchungszeitraum signi- berichtsfragebögenvon Schülerinnen und Schülern ausgefüllt,
fikant verbesserten. die eine Auszeit erhalten hatten. Als wesentliche Gründe für
den zeitweisen Ausschluss aus der Klasse wurden Konflikte mit
1 Token-Programme der Lehrkraft genannt. Sie hätten die Lehrkraft wütend ge-
In Token-Programmen soll durch den Einsatz von positi- macht (71 %), sich mit ihr angelegt (45 %) oder Anweisungen in
ven Verstärkern eine schnelle Veränderung des Lern- oder den Wind geschlagen (44 %). Oft sagten die Betroffenen auch,
Sozialverhaltens erreicht werden. Das gilt insbesondere für dass die Lehrkraft sie nicht ausstehen könne (47 %) oder per-
Schülerinnen und Schüler, die mit anderen Mitteln nur manent an ihnen etwas auszusetzen hätte (47 %). Erst danach
schwer zu beeinflussen sind. Zur Durchführung eines To- wurden Verfehlungen wie das Abhalten anderer von der Arbeit
ken-Programms werden mit den Lernenden Vereinbarungen (38 %) oder Herumlärmen (35 %) angegeben. Zur Begründung
getroffen, für welches Verhalten eine Verstärkung erfolgt. Als des Ausschlusses wurde den Schülerinnen und Schülern mit-
typische Verhaltensweisen in der Schule bieten sich pünkt- geteilt, dass sie das Falsche gemacht (83 %), ein unakzeptables
liches Erscheinen im Unterricht, aufmerksames Zuhören, Verhalten gezeigt (68 %) oder andere vom Lernen abgehalten
fleißiges Mitarbeiten, gewissenhaftes Erledigen der Hausauf- hätten (53 %). Nicht alle Ausgeschlossenen waren bereit, Ver-
gaben oder das Schreiben einer guten Klassenarbeit an. Für antwortung für ihr Handeln zu übernehmen. Die Übernahme
kontingent gezeigtes Zielverhalten werden von der Lehrkraft von Verantwortung ließ sich am besten fördern, wenn Lehrkräf-
Token (engl. Münzen) verteilt. Dabei handelt es sich um Plas- te vorherige Warnungen und Strafen aussprachen, die Notwen-
tikchips, laminierte Punkte oder Smileys, die später nach fest- digkeit der Auszeit erklärten und hinterher mit den Betroffenen
gelegten Regeln in reale Verstärker wie Essbares, Spielzeug, das Gespräch suchten.
Kinogutscheine, Fantasy-Romane, Musik-Downloads, Privi-
legien, Freizeit etc. eingetauscht werden können (O’Leary &
O’Leary 1977).
Die Einführung eines Token-Programms kann nützlich 1.4.4 Kritik des operanten Konditionierens
sein, wenn persönlicher Zuspruch der Lehrkraft, genaue Pla-
nung der Unterrichtsstunden und häufige Rückmeldungen1 Einfluss auf die Lernkultur
nicht ausreichen, gutes Lernverhalten in der Klasse zu eta- Das Verstärkungslernen wird oft wegen seines Einflusses auf
blieren. Bei schulischen Verhaltensproblemen konnte in einer die Lernkultur kritisiert. Die Lehrkraft braucht anscheinend
Metaanalyse auf Einzelfall- und Klassenebene eine signifi- nur die richtigen Verstärker wählen, um die Schülerinnen
kante Verbesserung des Schülerverhaltens festgestellt wer- und Schüler zum Lernen anzuhalten. Klassenregeln, Haus-
den (Maggin, Chafouleas, Goddard & Johnson 2011). To- aufgaben, Noten und Zeugnisse wirken wie die Karotte, die
ken-Programme wirkten auch bei Kindern mit intellektuellen dem Esel vorgehalten wird, um ihn vorwärts zu treiben. Wenn
Beeinträchtigungen oder Autismus erfolgreich (Matson & das nicht genügt, sind auch Strafen ein zulässiges Mittel, um
Boisjoli 2009). Bei aufmerksamkeitsgestörten, hyperaktiven Verhalten in die richtige Richtung zu lenken. Welche per-
Kindern sollte ein Token-Programm als verhaltenstherapeu- sönlichen Bedürfnisse, Wünsche, Absichten und Ziele die
tische Alternative zur pharmakologischen Behandlung unbe- Lernenden in ihrem Schulalltag verfolgen, spielt beim ope-
dingt in Betracht gezogen werden (O’Leary, Pelham, Rosen- ranten Konditionieren keine Rolle (Good & Brophy 2008).
16 Kapitel 1  Lernen und Verhalten

1 Ethische Probleme de Belohnung statt. Kinder geben oft Äußerungen von sich,
1 Das operante Konditionieren folgt dem Grundgedanken, dass ohne dafür in irgendeiner Weise verstärkt worden zu sein.
die Ursachen für Verhalten in der Umwelt und nicht im Men- Der Linguist Noam Chomsky (1959) meinte, dass Sprach-
schen selbst liegen. Durch die gezielte Manipulation von Hin- erwerb und Sprachverständnis allenfalls grob und vorder-
weisreizen und Verhaltenskonsequenzen kann menschliches gründig mit Verstärkungslernen in Verbindung ständen. Das
Verhalten unter Kontrolle gebracht werden. Kritiker sahen operante Konditionieren beschäftige sich nur mit den ober-
darin die Gefahr, dass sich der Mensch zu einer Lernmario- flächlichen Eigenschaften von Sprache, könne aber die Frage
nette entwickeln könnte. Es könnten ihm Verhaltensweisen des Erwerbs einer Grammatik nicht beantworten. Ein Satz
antrainiert werden, die der Freiheit und Würde des selbst- wie „Das Mädchen warf den Ball.“ verfügt über eine andere
ständigen Wesens entgegenstehen (Bandura 1979; Lefrançois Oberflächenstruktur als der Satz „Der Ball wurde vom Mäd-
2006). Andererseits eröffnen sich gerade durch die operan- chen geworfen.“ Die unterschiedlichen Reizkonfigurationen
te Lerntheorie gezielte Eingriffsmöglichkeiten, die nur richtig müssten zu unterschiedlichen Reaktionen führen. Dennoch
genutzt werden müssen. Wenn undisziplinierte, aggressive werden beide Sätze als bedeutungsgleich wahrgenommen.
oder hyperaktive Schülerinnen und Schüler zu einem ange- Es muss andere Lernmechanismen geben, um den Erwerb
messenen Lernverhalten geführt werden können, lässt sich höherer geistiger Prozesse wie Sprache erklären zu können
der Einwand der Verhaltensmanipulation deutlich entkräf- (Schunk 2004).
ten. Der Einsatz von Belohnung und Bestrafung kann helfen,
akute Verhaltensprobleme zu überwinden. Er darf nur nicht
so weit gehen, dass die Klasse allgemein ruhiggestellt wird,
1.5 Beobachtungslernen
damit die Lehrkraft entspannter arbeiten kann (Gage & Ber-
liner 1996).
Das Beobachtungslernen nach Albert Bandura hat sich aus
1 Mangelnde Konditionierbarkeit von Verhalten der Kritik an der verhaltenstheoretischen Sichtweise entwi-
Verstärker können uneinheitliche Wirkungen nach sich zie- ckelt. Bandura hielt die experimentellen Studien mit einzel-
hen. Missbilligendes oder strafendes Verhalten der Lehrkraft nen Personen zum Beleg der behavioristischen Lernprinzi-
sorgt nicht automatisch für eine Reduzierung von Störverhal- pien nicht für ausreichend, um den Erwerb und die Ver-
ten. Manches Mal wirkt eine vermeintliche Strafe sogar wie änderung von Verhalten in sozialen Beziehungen erklären
ein positiver Verstärker. McAllister et al. (1969) mussten in zu können (Bandura & Walters 1963). Ein Beispiel soll die
ihrer Konditionierungsstudie feststellen, dass missbilligendes Unzulänglichkeiten der behavioristischen Auffassung veran-
Verhalten der Lehrkraft keine einheitlichen Wirkungen bei schaulichen. Der erste Teil verdeutlicht noch einmal die Er-
den Schülerinnen und Schülern hervorrief. Was als strafen- klärungsweise des operanten Konditionierens, der zweite Teil
de Äußerung gemeint war, führte gelegentlich sogar zu einem zeigt deren Schwachpunkte.
stärkeren Fehlverhalten. Ein Migrantenkind kommt neu in die Klasse. Es ver-
Um die Wirkungen von Verstärkern genau zu verstehen, steht noch kein Wort Deutsch, doch die Lehrkraft ist gleich
muss die Erfahrungs- und Lerngeschichte von Personen im darum bemüht, ihm einige Begriffe beizubringen. Die Lehr-
Detail betrachtet werden. Doch wer ist überhaupt in der Lage, kraft deutet auf einen freien Stuhl und sagt „Setzen“. Mit
sich ein differenziertes Bild von der Vorgeschichte und dem angewinkelten Händen und Hüften deutet sie zugleich ei-
Umfeld jedes einzelnen Lernenden einer Klasse zu machen? ne Sitzposition an. Dazu bewegt sie lautstumm ihre Lippen,
um das Kind zu einer sprachlichen Äußerung zu veranlassen.
1 Ablehnung alternativer Erklärungen Nach einigen etwas holprigen Bemühungen wiederholt das
Kognitive Konstrukte zur Erklärung von Verhalten wurden Kind klar und deutlich das Wort „Setzen“ und nimmt auf dem
von Skinner nicht als notwendig erachtet. Dementsprechend freien Stuhl Platz. Die Lehrperson lobt den Neuankömmling
lehnte er auch Ziele zur Erklärung von Verhalten ab. Für mit einem „Gut gemacht“.
Skinner konnte ein Verhalten nicht durch etwas Zukünfti- Die Theorie der operanten Konditionierung würde den
ges ausgelöst werden. Ein Ziel, das noch nicht stattgefunden Lernvorgang wie folgt deuten: freier Stuhl, Körper- und Lip-
hatte, kam seiner Meinung nach nicht als Taktgeber von Ver- penbewegungen wären diskriminative Stimuli, die Wieder-
halten infrage. Vielmehr beruht Verhalten beim operanten holung des Wortes „Setzen“ das operante Verhalten und das
Konditionieren auf vorherigem Verhalten. Eine Verhaltens- Lob der Lehrkraft die verstärkende Verhaltenskonsequenz.
weise tritt auf, weil sie zuvor verstärkt wurde, nicht weil sie Eine andere Szene:
verstärkt werden könnte (Iversen 1992). Erst mit der kogniti- In der Pause steht das Migrantenkind allein auf dem
ven Wende in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts Schulhof. Es ist kalt und der Wind pfeift über das Gelände.
änderte sich diese Betrachtungsweise. Plötzlich reißt ein Windstoß ihm die Mütze vom Kopf. Die
Lehrkraft, die den Vorgang beobachtet hat, läuft flugs hinter-
1 Lernen ohne Belohnung her und bringt dem Kind die Mütze zurück. Zum Dank sagt
Lernen erfolgt im operanten Konditionierungsparadigma das Kind „Gut gemacht“.
durch die Anwendung von Belohnung oder Bestrafung. Ein Das Kind hat offenbar sehr schnell Deutsch gelernt. Doch
großer Teil menschlichen Lernens findet allerdings ohne je- wie lässt sich der Lernvorgang von theoretischer Seite deu-
1.5  Beobachtungslernen
17 1
ten? Der Ansatz der operanten Konditionierung kann für das beschreiben, Techniken beim Malen und Zeichnen vorma-
sprachliche Verhalten des Kindes mit keiner passenden Er- chen oder Tanzbewegungen zur Musik erläutern. Die sozial-
klärung aufwarten. Das Kind hat den Ausdruck vorher nie kognitive Lerntheorie besagt, dass Lernende die Situation
benutzt (fehlendes Verhalten), es ist dafür nie verstärkt wor- aufmerksamer wahrnehmen, wenn die Modellierungsreize
den (fehlende Verstärkung) und auch die Situation, in der es besonders deutlich hervortreten (Deutlichkeit), emotional
die Äußerung das erste Mal vernommen hat, ist eine andere berührend wirken (emotionale Valenz), nicht zu komplex
(fehlende Hinweisreize). sind (Komplexität) und einen Wert für zukünftiges Han-
Banduras Erklärung für den spontanen Spracherwerb deln aufweisen (funktionaler Wert). Lernende selbst sollten
mutet dagegen vergleichsweise simpel an: Das Kind hat über über Beobachtermerkmale wie ausreichende Fähigkeiten zur
Beobachtung gelernt. Es hat ein sprachliches Verhalten an Wahrnehmung der Lehrkrafthandlungen verfügen (Wahr-
einem Modell – in diesem Fall die Lehrkraft – beobachtet nehmungskapazität), beim Lernen weder aufgeregt noch ge-
und es sich selbst in einer passenden Situation zunutze ge- langweilt sein (Erregungsniveau), mit der richtigen Einstel-
macht. Als das Migrantenkind den Ausdruck lernte, musste es lung das Geschehen verfolgen (Wahrnehmungseinstellung)
ihn selbst nicht verbalisieren. Es musste auch nicht verstärkt und bereits früher positive Erfahrungen mit dem Erkenntnis-
werden, um ihn zu benutzen. Weil allein die Beobachtung gegenstand gesammelt haben (frühere Verstärkung).
einer Person genügt, um ein Verhalten zu erwerben und zu
zeigen, nannte Bandura diesen Lernvorgang Beobachtungs-1 Behaltensphase
lernen oder Lernen am Modell (Bandura 1976; Bandura & Um das Modell später nachahmen zu können, müssen die
Jeffrey 1973). einzelnen Tätigkeitsschritte im Gedächtnis gespeichert wer-
den. Dieses kann in sprachlicher oder bildlicher Form ge-
schehen. Ein Modellverhalten kann in sprachliche Symbole
gefasst oder in bildhafte Vorstellungen von Handlungsschrit-
1.5.1 Phasen des Beobachtungslernens
ten überführt werden (symbolische Kodierung). Um diese
Auffassung wissenschaftlich zu unterfüttern, zeigten Bandu-
Banduras sozial-kognitive Lerntheorie nutzt kognitive Ele- ra und Jeffrey (1973) Psychologiestudierenden einen kurzen
mente, um den Erwerb und die Nachahmung sozial ange- Film, in dem ein Modell komplexe Bewegungsfolgen aus-
messenen Verhaltens zu erklären (Bandura 1976, 1979). Ent- führte. Diejenigen Studierenden, die angewiesen wurden, den
scheidend für das Lernen in sozialen Beziehungen ist, was einzelnen Handlungsschritten Nummern oder Buchstaben
ein Mensch für Modellerfahrungen sammelt und wie er das zuzuweisen, konnten später deutlich mehr Bewegungsfolgen
Verhalten eines Modells symbolisch repräsentiert. Behavio- des Modells erinnern als Studierende, die lediglich eine will-
ristische Elemente wie Verstärker sind in Banduras Theorie kürliche Unterteilung der gezeigten Handlungssequenz vor-
durchaus noch vorhanden, spielen aber nicht die Hauptrolle. nahmen. Bandura (1979) folgerte aus dem Befund, dass erst
Im Mittelpunkt von Banduras Überlegungen stehen kognitive die Fähigkeit zur symbolischen Kodierung effizientes Lernen
Konstrukte, damit beobachtetes Verhalten dauerhaft gespei- durch Beobachtung ermöglicht.
chert und bei passender Gelegenheit nachgeahmt werden Des Weiteren empfiehlt Bandura den Einsatz von Lern-
kann. strategien, um sich bedeutsame Modellinformationen besser
Der Prozess des Lernens durch Beobachtung von Mo- zu behalten. Dazu gehört, den Lernstoff in leicht merkbare
dellverhalten gliedert sich in vier Phasen: Aufmerksamkeits-, Teile zu zergliedern (kognitive Organisation) und das model-
Behaltens-, Nachbildungs- und Motivationsphase. Die ersten lierte Verhalten zu wiederholen. Geistiges Vorstellen des Be-
beiden Phasen dienen dem Erwerb von Modellverhalten, die wegungsablaufs (symbolische Wiederholung) oder konkretes
letzten beiden Phasen betreffen die Verhaltensausführung. Üben der Handlungsschritte (motorische Wiederholung) be-
Durch die Aufgliederung wird dem Umstand Rechnung ge- wirkt, dass sich das Verhalten besser im Gedächtnis einprägt.
tragen, dass der Erwerb und die Ausführung eines Verhaltens Diese Techniken machen sich insbesondere Akteure des Spit-
auseinanderfallen können, wie es bereits Tolman und Honzik zensports zunutze, wenn sie den Slalom-Parcours oder die
(1930) in ihren Experimenten zum latenten Lernen gezeigt Bobbahn vor dem inneren Auge Revue passieren lassen.
hatten. In . Abb. 1.3 sind die phasenhaft zu durchlaufenden
Prozesse des Beobachtungslernens dargestellt. 1 Nachbildungsphase
Wenn das Modellverhalten gut gespeichert wurde, sollte es
1 Aufmerksamkeitsphase prinzipiell reproduzierbar sein. Bandura (1979) weist jedoch
Zunächst müssen die Schülerinnen und Schüler ihre Auf- auf verschiedene Fehlerquellen hin, die eine korrekte Nach-
merksamkeit auf die relevanten Reize der Lernsituation rich- bildung des Modellverhaltens verhindern können. Wenn bei-
ten. Aus der großen Fülle von Modellreizen müssen sie die spielsweise Schülerinnen und Schüler selbstständig mikro-
wichtigsten Informationen herausfiltern. Eine Lehrkraft kann skopieren sollen, müssen sie über bestimmte feinmotorische
mit ihrem Verhalten die Aufmerksamkeit der Schülerinnen Fähigkeiten verfügen, um den Objektträger festzuklemmen
und Schüler auf die grundlegenden Details der Situation len- oder das Triebrad des Mikroskops zu drehen (körperliche Fä-
ken. Sie kann auf Gestaltungselemente der Dichtung und higkeiten). Sie müssen wissen, wie man mit dem Triebrad die
des Romans hinweisen, die Lösungswege von Sachaufgaben Schärfe und mit der Blende die Helligkeit des Objekts verän-
18 Kapitel 1  Lernen und Verhalten

1 Aufmerksamkeits-
phase
Behaltens-
phase
Nachbildungs-
phase
Motivations-
phase

Modellierungsreize Symbolische Körperliche Externe


Deutlichkeit Codierung Fähigkeiten Verstärkung
Affektive Valenz Kognitive Verfügbarkeit der Materielle
Komplexität Organisation Teilreaktionen Belohnung
Funktionaler Wert Symbolische Selbstbeobachtung Soziale
Wiederholung bei den Reaktionen
Motorische Reproduktionen Sensorische
Modellierte Merkmale des Nachbildungs-
Ereignisse Wiederholung Feedback der Stimulationen leistungen
Beobachters Genauigkeit Kontrollerleben
Wahrnehmungs-
kapazität Stellvertretende
Verstärkung
Erregungs-
niveau Selbstverstärkung
Wahrnehmungs-
einstellung
Frühere
Verstärkung

. Abb. 1.3 Phasen des Beobachtungslernens (adaptiert nach Bandura 1976, S. 31; 1979, S. 32)

dert (Verfügbarkeit der Teilreaktionen). Sie müssen prüfen, daraus Motivation für neue Aufgaben schöpfen. Diese Er-
ob sie einer systematischen Vorgehensweise folgen und den kenntnis, dass Verstärkung nicht nur von außen, sondern
Objektträger nicht wahllos über den Objekttisch hin- und auch selbst erzeugt werden kann, hebt das Modelllernen deut-
herschieben (Selbstbeobachtung bei den Reproduktionen). lich vom operanten Konditionieren ab.
Schließlich müssen sie das gefundene Objekt genau betrach-
ten und abzeichnen. Durch Beobachtungen kann die Lehr-
kraft ihnen Rückmeldung zur Genauigkeit ihres Vorgehens
geben (Feedback der Genauigkeit). 1.5.2 Eigenschaften des
Beobachtungslernens
1 Motivationsphase
Bandura (1979) integrierte die Erkenntnisse des Behavioris- Bandura hat stets versucht, empirische Belege für seine theo-
mus über die Wirkungen von Verstärkern in sein Lernmodell. retischen Auffassungen beizubringen. Dementsprechend gut
Er unterschied drei Arten von Verstärkung, die eine Person gesichert sind die Überlegungen, auf denen seine sozial-
zu einem Verhalten motivieren. Im Falle der externen Ver- kognitive Lerntheorie gründet. In verschiedenen Studien
stärkung ist eine äußere Quelle für das Verhalten der Person wurden Faktoren ermittelt, die Einfluss auf das Beobach-
verantwortlich. Geld (materielle Belohnung), Lob (soziale tungslernen nehmen wie Entwicklungsstand des Rezipienten,
Reaktionen), Schulterklopfen (sensorische Stimulation) oder Ansehen und Fähigkeiten der Modellperson oder vom Mo-
glänzende Erfolgsaussichten (Kontrollerleben) sind wichti- dell erfahrene Konsequenzen. Vom Modelllernen beeinflusst
ge externe Verstärker, die im schulischen Kontext z. B. als werden Ergebniserwartungen, Zielsetzung und Selbstwirk-
Reaktion auf das Schreiben einer guten Klassenarbeit auftre- samkeit (Schunk 2004).
ten. Im Falle der stellvertretenden Verstärkung wird nicht die
eigene, sondern eine beobachtete Person für ihr Verhalten1 Entwicklungsstand
verstärkt. Kounin (2006) prägte in diesem Zusammenhang Die Qualität des Beobachtungslernens ist von der körperli-
den Begriff Wellen-Effekt, der in der Klasse auftritt, wenn chen und geistigen Entwicklung der Kinder abhängig. Jünge-
ein Störenfried durch Zurechtweisung einer Lehrkraft be- re Kinder sind gegenüber älteren Kindern weniger reif, was
straft wird. Wie eine Welle schwappt die positive Bestrafung ihnen das Beobachtungslernen erschwert. Sie können sich
auf die Klassenkameraden über und sorgt dafür, dass diese noch nicht für lange Zeit konzentrieren und haben Schwie-
sich in der Folge ruhig verhalten, um nicht selbst gescholten rigkeiten, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Sie ver-
zu werden. Schließlich ist im Falle der Selbstverstärkung die wenden keine ausgefeilten Lernstrategien und repräsentieren
eigene Person für das Verstärkungserleben verantwortlich. Informationen aufgrund oberflächlicher Eigenschaften, aber
Wenn endlich ein schwieriges Fremdwort richtig geschrie- nicht symbolisch. Jüngeren Kindern fällt es schwerer, Ge-
ben wurde, eine mathematische Operation gelungen, eine dächtnisinformationen in Handlungen umzusetzen und das
geschichtliche Entwicklung verstanden oder eine Turnübung eigene Handeln zu planen, zu steuern und zu überwachen.
geglückt ist, kann der Lernende sich selbst verstärken und Jüngere werden durch die sofortigen Wirkungen ihres Han-
1.5  Beobachtungslernen
19 1
delns motiviert und nicht wie Ältere aufgrund bestehender sondern auch deren schulische Leistungen positiv beeinfluss-
Werte und Ziele (Bandura 1989). ten (Bandura, Barbaranelli, Caprara & Pastorelli 1996).

1 Ansehen und Fähigkeiten des Modells


Modellverhalten wird schneller übernommen, wenn es von
1.5.3 Anwendung des Beobachtungslernens
einer angesehenen und besonders fähigen Person vorge-
macht wird. Das ist im besten Fall die Lehrkraft. Ihr ist ein
hoher Status garantiert, weil sie die Entscheidungen über Bandura hat die Vielseitigkeit des Modelllernens durch eine
Lerninhalte, Unterrichtsgestaltung und Notengebung trifft. große Bandbreite an Forschungsstudien dokumentiert. Da-
Ein vorbildliches und kompetentes Auftreten der Lehrkraft zu zählen Untersuchungen zum Belohnungsaufschub – dem
hilft, Lernende für sich zu gewinnen und ihnen die Fähigkei- Verzicht auf eine sofortige kleine Belohnung zugunsten einer
ten und Verhaltensweisen zu vermitteln, die die Lehrperson später erfolgenden größeren – oder zur Selbstverstärkung von
selbst für erstrebenswert hält. Verhalten, dem Vorläufer des selbstregulierten Lernens (Ban-
dura & Kupers 1964; Bandura & Mischel 1965). Besonders
1 Stellvertretende Konsequenzen bekannt geworden sind jedoch Banduras Arbeiten zum Ein-
Der wesentliche Vorteil des Beobachtungslernens liegt darin, fluss der Medien auf das Erlernen von Aggression (Bandura
dass man kein eigenes Verhalten zeigen muss, um herauszu- 1973).
finden, ob es von Vorteil ist. Es genügt, wenn jemand anderes
– stellvertretend für einen selbst – die Konsequenzen des1 Mediengewalt
Handelns erfährt. Von Bedeutung ist, ob die Modellperson Bandura (1965) war davon überzeugt, dass Konsequenzen
Erfolg oder Misserfolg hat und wie ähnlich sie zu einem selbst zwar die Ausführung, aber nicht den Erwerb aggressiver
ist. Wenn ein Gleichaltriger beobachtet werden kann, der die Verhaltensweisen beeinflussen. In einem Experiment sahen
gleichen Schwierigkeiten wie der Lernende selbst aufweist Kindergartenkinder in einer Filmsequenz, wie ein Erwachse-
und diese überwindet, fördert dies das Selbstbewusstsein so- ner Gewalt gegen ein großes, aufblasbares Stehaufmännchen
gar mehr als beispielhaftes Lehrkraftverhalten (Schunk & ausübte. In einer Experimentalbedingung wurde der Erwach-
Hanson 1985). sene für sein aggressives Verhalten belohnt, in einer zweiten
Bedingung wurde er bestraft und in einer dritten Bedingung
1 Ergebniserwartungen blieb sein Verhalten ohne Konsequenzen. In einem Spielzim-
Ergebniserwartungen sind persönliche Vorstellungen über mer durften die kleinen Kinder anschließend das Verhalten
die späteren Ergebnisse eines Verhaltens. Wenn Lehrkraft des Modells nachahmen. Es zeigte sich, dass Kinder der Be-
oder Eltern erklären, dass fleißiges Lernen gewiss zu einer gu- dingung mit dem bestraften Erwachsenen signifikant weniger
ten Note führt, werden sich viele Schülerinnen und Schüler Gewaltakte ausführten als Kinder der beiden anderen Be-
diese Vorstellung zu Eigen machen. Solche positiven Ergeb- dingungen. Gab man den Kindern jedoch positive Anreize,
niserwartungen sorgen dafür, dass beharrlich weitergelernt um das Gewaltverhalten zu imitieren, und belohnte sie mit
wird, selbst wenn die tatsächlichen Ergebnisse einmal nicht Fruchtsaft und Stickern für jeden aggressiven Akt, an den
ganz so exzellent ausfallen. sie sich aus dem Film erinnern konnten, ergaben sich keine
Unterschiede zwischen den drei Gruppen. Bandura folgerte
1 Zielsetzung daraus, dass Verstärkung zwar das Zeigen, nicht aber das Er-
Personen setzen sich häufig Ziele über die Quantität oder lernen aggressiven Verhaltens beeinflusst.
Qualität eines Verhaltens. Das Zielsetzungsverhalten kann Heutzutage darf durch verschiedene Metaanalysen als ge-
durch signifikante Andere wie Lehrkräfte, Eltern oder Mit- sichert gelten, dass das Beobachten von Mediengewalt einen
schüler beeinflusst werden. Wenn befreundete Klassenkame- Risikofaktor für die Entstehung aggressiver Verhaltenswei-
raden sich vornehmen, von jetzt an mehr Vokabeln zu lernen, sen darstellt. Das gilt für den Konsum von Fernsehgewalt
kann sich das begünstigend auf das eigene Lernverhalten aus- (Paik & Comstock 1994) wie für die Benutzung gewaltver-
wirken. Voraussetzung ist, dass eine feste Bindung an das herrlichender Videospiele (Anderson & Bushman 2001). In
gesetzte Ziel erfolgt (Locke & Latham 1990). Andernfalls kön- einer großen Untersuchung mit deutschen Jugendlichen über
nen Ziele schnell wieder fallen gelassen werden und eben einen Zeitraum von zwei Jahren wurde deutlich, dass der ge-
nicht zu besseren Lernergebnissen führen. wohnheitsmäßige Gebrauch gewalthaltiger Medien zu einer
signifikanten Erhöhung der von Lehrkräften eingeschätzten
1 Selbstwirksamkeit Aggression der Jugendlichen führte. Nahmen die Jugendli-
Als Selbstwirksamkeit werden persönliche Vorstellungen chen jedoch Abstand von gewalthaltigen Medien und ver-
über das Wirksamwerden in der Umwelt bezeichnet. Nur ringerten deren Nutzung, ging auch ihr Aggressionspotenzial
wenn eine Person von den eigenen Handlungskompeten- zurück (Krahé, Busching & Möller 2012).
zen überzeugt ist, wird sie diese verwenden. Modelle sind
eine wichtige Informationsquelle für die eigene Selbstwirk-1 Die Lehrkraft als Modell
samkeit. Es ließ sich zeigen, dass die elterlichen Bildungsan- Die Lehrkraft ist das dominierende Modell, das Schülerin-
sprüche für ihre Kinder nicht nur deren Selbstwirksamkeit, nen und Schüler Tag für Tag beobachten können. Auf das in
20 Kapitel 1  Lernen und Verhalten

Deutschland typische, eng geführte Klassengespräch entfal- der Klasse entwickelt haben. Dafür können beispielsweise ge-
1 len etwa achtzig Prozent der effektiven Unterrichtszeit. Davon netische Unterschiede in der Intelligenz verantwortlich zeich-
redet zu drei Vierteln die Lehrkraft (Seidel 2003). Dieser Be- nen, die im sozial-kognitiven Ansatz nicht enthalten sind.
fund macht die herausragende Bedeutung des Wirkens der
Lehrkraft als Modell für die Lernenden deutlich. Das gilt ins-
besondere in der Grundschule, in der die Schülerinnen und
Zusammenfassung
Schüler der Lehrperson noch verhältnismäßig unkritisch ge-
In diesem Kapitel wurden drei grundlegende Ansätze zur
genüberstehen (Ammer, Buggle, Wetzel & Wilhelm 1976).
Erklärung von Lernen beim Menschen vorgestellt. Durch
Die Lehrkraft kann sich ein gutes Verhalten als Modell
Prozesse des Lernens wird eine verhältnismäßig dauerhaf-
aneignen. Zimmermann und Kleefeld (1977) trainierten eine
te Veränderung von Verhalten oder Verhaltenspotentia-
Gruppe von Lehrkräften Modellierungstechniken anzuwen-
len aufgrund von Erfahrungen bewirkt. Beim klassischen
den und jeden Schritt ihres Verhaltens zu erklären, bevor die
Konditionieren liegen diese Erfahrungen in der gelern-
Lernenden selbstständig handeln durften. Im Vergleich zu
ten Verbindung eines unkonditionierten Reizes mit einem
einer untrainierten Gruppe von Lehrkräften waren die Er-
neutralen Reiz. Dem kleinen Albert wurde so die Furcht
gebnisse der Lernenden bei der trainierten Gruppe deutlich
vor einer weißen Ratte antrainiert. Das klassische Kondi-
besser. Zu Recht forderten Gage und Berliner (1996), sich
tionieren beinhaltet die Kontroll-, Konditionierungs- und
nicht nur Gedanken darüber zu machen, was wir unterrich-
Löschungsphase sowie die Spontanerholung. Im schuli-
ten, sondern vor allem, wie wir unterrichten.
schen Bereich findet es Anwendung bei der Entstehung
emotionaler Reaktionen. Beim operanten Konditionieren
wird vor allem aufgrund der Konsequenzen eines Verhal-
1.5.4 Kritik des Beobachtungslernens tens gelernt. Durch die Gabe oder den Entzug von Verstär-
kern lassen sich Verhaltensänderungen hervorrufen. Eine
Lehrkraft kann durch verbale Belohnung und Bestrafung
1 Breite der Theorie
eine Klasse zu mehr Disziplin anleiten. Das operante Kon-
Banduras sozial-kognitive Theorie ist sehr breit angelegt. Je-
ditionieren gliedert sich in die Phasen Bestimmung der
des darin enthaltene Element wurde auf seine Wirkungsweise
Basisrate, Verstärkung und Löschung des Verhaltens so-
geprüft. Im Gegensatz zu den behavioristischen Lerntheori-
wie Spontanerholung. Im Schulkontext lässt es u. a. sich
en lässt sich die sozial-kognitive Theorie jedoch nicht auf ein
auf medienpädagogische und erzieherische Fragestellun-
einzelnes Prinzip reduzieren. Es ist schwierig, die Theorie in
gen anwenden. Beim Beobachtungslernen genügt die Be-
Gänze umzusetzen und zu überprüfen. Oftmals werden da-
obachtung eines Modells, um ein Verhalten zu erwerben
her lediglich einzelne Konzepte wie z. B. Selbstwirksamkeit
und zu demonstrieren. Ein sprachliches Verhalten kann
aus der Theorie herausgenommen und empirisch untersucht.
gezeigt werden, wenn es zuvor an einer Modellperson be-
obachtet wurde. Das Beobachtungslernen durchläuft die
1 Ethische Probleme
Aufmerksamkeits-, Behaltens-, Nachbildungs- und Moti-
Bandura war daran interessiert, den Lernmechanismus für
vationsphase. Das wichtigste Modell in der Schule ist die
die Entstehung aggressiven Verhaltens aufzudecken. Dazu
Lehrkraft. Alle drei Erklärungsansätze für menschliches
nahm er die Überschreitung ethischer Richtlinien in Kauf.
Lernen weisen unterschiedliche Defizite auf.
Eltern würden heutzutage lauthals protestieren, wenn ihren
Kleinkindern Gewaltszenen gezeigt würden, um zu testen, ob
sie dadurch aggressive Verhaltensweisen erwerben können.

1 Mangelnde Berücksichtigung von Emotionen Verständnisfragen


Bandura zufolge wird aggressives Verhalten durch Beobach-
tung und Verstärkung gelernt. Aggressive Handlungen ent- ?1. Warum haben sich Behavioristen dagegen ausgespro-
stehen jedoch oft aus dem Affekt heraus. Eine Erweiterung chen, Phänomene wie Lernen durch Konstrukte wie
des sozial-kognitiven Erklärungsansatzes um biologische Ur- Wissen, Intelligenz oder Gedächtnis zu erklären?
sachen wie Emotionen wäre vorstellbar. Ein Herauswachsen- 2. Welche Unterschiede bestehen zwischen klassischem
der benötigt nicht zwingend die Veranschaulichung durch und operantem Konditionieren?
ein Modell, um aus Wut oder Enttäuschung eine aggressive 3. Welche Lernform kann den Erwerb von Verhaltens-
Handlung vorzunehmen. weisen wie Schwimmen, Basteln oder Radfahren am
besten erklären?
1 Vernachlässigung genetischer Unterschiede 4. Wird durch das Verteilen einer Belohnung ein Verhalten
Nach der sozial-kognitiven Lerntheorie lässt sich das Wissen automatisch verstärkt?
der Schülerinnen und Schüler fördern, indem die Lehrkraft 5. Begründen Sie, warum Verstärkung als nützlicher
als Modell agiert und richtiges Antwortverhalten geeignet angesehen werden muss als Bestrafung?
verstärkt. Dennoch wird sie am Ende einer Unterrichtseinheit 6. . Abb. 1.2 zeigt die ersten beiden Phasen der
feststellen, dass sich erhebliche Unterschiede im Lernstand operanten Konditionierung. Welchen Verlauf würde
Literatur
21 1
das Diagramm in den Phasen der Löschung und Beck, H. P., Levinson, S., & Irons, G. (2009). Finding Little Albert: A journey
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nicht? DeBell, C. S., & Harless, D. K. (1992). B. F. Skinner: Myth and misconception.
11. Einigen Schülerinnen und Schülern bereitet Lesen sehr Teaching of Psychology, 19, 68–73.
viel Freude, aber Rechnen mögen Sie nicht besonders. De Silva, P., & Rachman, S. (1987). Human food aversions: Nature and ac-
Bei anderen Schülerinnen und Schülern ist es genau quisition. Behavior Research and Therapy, 25, 457–468.
Donaldson, J. M., DeLeon, I. G., Fisher, A. B., & Kahng, S. (2014). Effects of
anders herum. Wie lassen sich die unterschiedlichen and preference for conditions of token earn versus token loss. Journal
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Lernen nutzen? English, H. B. (1929). Three cases of the ‘conditioned fear response’. Journal
12. Warum genügt es nicht, unangemessene Verhaltens- of Abnormal and Social Psychology, 4, 221–225.
weisen von Schülerinnen und Schülern einfach nur zu Funke, R. (2014). Erstunterricht nach der Methode “Lesen durch Schrei-
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22 Kapitel 1  Lernen und Verhalten

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23 2

Gedächtnis und Wissenserwerb


Christof Zoelch, Valérie-Danielle Berner und Joachim Thomas

2.1 Einleitung – 24

2.2 Begriffsbestimmung Gedächtnis – 24

2.3 Komponenten des menschlichen Gedächtnisses – 25


2.3.1 Einspeichermodelle – 25
2.3.2 Mehrspeichermodelle – 26
2.3.3 Sensorisches Gedächtnis – 27
2.3.4 Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnis – 27
2.3.5 Langzeitgedächtnis – 30
2.3.6 Formen der Wissensrepräsentation im Langzeitgedächtnis – 31

2.4 Modellannahmen zu Erinnerungs- und Vergessensprozessen – 36


2.4.1 Abruf vs. „Wiedererinnern“ – 36
2.4.2 Vergessen – 38
2.4.3 Vergessen als Zerfall von Gedächtnisspuren vs. Konsolidierung im zentralen
Nervensystem – 39
2.4.4 Vergessen durch Interferenz – 40
2.4.5 Vergessen durch Abruf von Wissensinhalten – 40

2.5 Theoretische Perspektiven zum Wissenserwerb – 42

2.6 Formen und Bedingungen von Wissenserwerb – 44


2.6.1 Wissenserwerb durch Texte – 44
2.6.2 Wissenserwerb durch Zuhören – 45
2.6.3 Wissenserwerb durch Schreiben – 46
2.6.4 Wissenserwerb durch Beispiele und Modelle – 47
2.6.5 Wissenserwerb durch Aufgabenlösen – 47

Verständnisfragen – 49

Literatur – 50

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019


D. Urhahne, M. Dresel, F. Fischer (Hrsg.), Psychologie für den Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55754-9_2
24 Kapitel 2  Gedächtnis und Wissenserwerb

2.1 Einleitung ne Information nicht in bereits Bekanntes und Unbekanntes


differenziert werden kann. Das Lernen neuer Inhalte so-
wie das Verknüpfen mit bereits vorhandenem Wissen wäre
In nahezu allen Bildungskontexten geht es darum, möglichst
2 viel und effektiv zu lernen, sich Wissen anzueignen. In diesem
ebenso wenig möglich, wie das Ausführen komplexer moto-
rischer Fertigkeiten wie das Spielen eines Musikinstruments,
Kapitel wird das Lernen als Wissenserwerb und seine Rolle im
das Wiedererkennen ehemaliger Mitschülerinnen und Mit-
Schulkontext dargestellt. Ob es sich konkret um das Erinnern
schüler nach vielen Jahren oder die Auswahl und der Einsatz
eines historischen Ereignisses anhand einer Jahreszahl („Wel-
geeigneter Lehrmethoden im Unterricht. Auch wenn die ge-
ches bedeutsame Ereignis der deutschen Geschichte fand am
schilderten Phänomene keineswegs die komplette Bandbreite
3. Oktober 1990 statt?“), das Abrufen eines Rechenergebnis-
der alltäglichen Anforderungen an unser Gedächtnis wie-
ses des kleinen Einmaleins („Wie viel ergibt 7  8?“) oder
dergeben, wird deutlich, wie fundamental und vielschichtig
dem Wiedererinnern der Wortbedeutung von Vokabeln zum
die Funktionen des menschlichen Gedächtnisses sind. In der
Übersetzen eines lateinischen Textes handelt: Im Kontext des
kognitionspsychologischen Sichtweise wird das Gedächtnis
schulischen Lernens spielt das Gedächtnis eine fundamenta-
anhand seiner unterschiedlichen Funktionen (z. B. langfris-
le Rolle. Wie wird Lernstoff im Gedächtnis gespeichert, in
tiges vs. kurzfristiges Speichern) und der Art der gespeicher-
welchem Format wird er dort niedergelegt? Dazu werden
ten Inhalte (z. B. das Gedächtnis für persönliche biografische
zunächst Modellannahmen zum Aufbau und zur Funktion
Informationen oder das Gedächtnis für Faktenwissen) diffe-
des menschlichen Gedächtnisses erläutert. Je nach theoreti-
renziert.
schem Verständnis des menschlichen Gedächtnisses werden
Nach Zimbardo, Gerrig und Graf (2008) lässt sich das
unterschiedliche „Gedächtnisse“ nach ihrer Funktion (z. B.
Gedächtnis definieren als „mentale Fähigkeit, Information
Art der zu speichernden Information, Kapazität und/oder
aufzunehmen, zu speichern und wieder abzurufen“ (S. 232).
Dauer der Speicherung von Information) und dem Format
Das Abspeichern und Wiedererinnern von Information kann
des gespeicherten Wissens differenziert. Warum kann einmal
dabei bewusst und durch aktive Anstrengung passieren, was
gelernter Stoff gar nicht, lediglich teilweise oder nur fehlerhaft
auch als intentionales Lernen bezeichnet wird. Als inziden-
abgerufen werden? Zur Erklärung des Vergessens beim schu-
telles Lernen hingegen wird die quasi beiläufig – ohne eine
lischen Lernen werden unterschiedliche gedächtnispsycholo-
gezielte Absicht – vorgenommene Aufnahme und/oder der
gische Theorien dargestellt und hinsichtlich ihrer Tragwei-
Abruf von Informationen bezeichnet. Entgegen der in der
te für schulische Vergessensphänomene beurteilt. Wie kann
kognitiven Psychologie gelegentlich bemühten Computerme-
man als Lehrender Lernende dabei unterstützen, Wissen mit
tapher – z. B. die vereinfachende Sichtweise des Langzeitge-
Hilfe von Lernprozessen aufzubauen, langzeitig zu speichern
dächtnisses als Festplatte oder des Arbeitsgedächtnisses als
und flexibel abzurufen und anwenden zu können? Zu Beant-
Arbeitsspeicher – wird das Gedächtnis nicht als statischer,
wortung dieser Frage werden unterschiedliche Möglichkeiten
passiver Wissensspeicher aufgefasst, sondern als ein aktives,
des Wissenserwerbs dargestellt und anhand verschiedener
dynamisches Informationsverarbeitungssystem. Das bedeu-
Wissensarten und Lernformen unterschieden. Darauf auf-
tet, dass sich die Strukturen und die Verarbeitungsprozesse
bauend werden Möglichkeiten dargestellt, im schulischen
dieses Systems mit der fortwährenden Aufnahme, Speiche-
Lernkontext gezielt Bedingungen herzustellen, die den Wis-
rung und dem Abruf verändern (Lefrançois 2015).
senserwerb optimal fördern können und die flexible Nutzung
Das Einspeichern und Erinnern eines selbsterlebten Er-
von Wissensstrukturen begünstigen.
eignisses wie z. B. des ersten Schultages ist nach heutiger
Sichtweise keineswegs in Analogie zum Aufnehmen und
Wiedergeben einer (objektiven) Filmsequenz zu betrachten.
2.2 Begriffsbestimmung Gedächtnis Schon beim Einspeichern wird neu Erlebtes mit bereits Be-
kanntem abgeglichen, bewertet und möglicherweise mit un-
„Ein Leben ohne Gedächtnis wäre kein Leben . . . Unser Ge- terschiedlichem emotionalen Gehalt versehen. Beim Wieder-
dächtnis ist unser Zusammenhalt, unser Grund, unser Han- erinnern werden Gedächtnisinhalte nicht erschöpfend und
deln, unser Gefühl. Ohne Gedächtnis sind wir nichts“ – so analog zum eigentlichen Ereignis abgerufen, sondern meist
eindrucksvoll äußerte sich Luis Buñuel in seinen Memoi- aus einer Vielzahl einzelner Erinnerungsfragmente rekon-
ren „Mein letzter Seufzer“ (1983, S. 2) zur menschlichen struiert und entsprechend der individuellen Vorerfahrung
Fähigkeit der Erinnerung. Neben der offensichtlichen Be- „ergänzt“. Aktuelle Emotionen, Einstellungen oder Vorur-
deutsamkeit des Gedächtnisses für alle Arten schulischen teile können dabei das Wiedererinnern ebenso verzerren
Lernens, können wir uns tatsächlich nur über unser Gedächt- wie zwischenzeitlich gemachte Erfahrungen. Dies erklärt im
nis an vergangene Ereignisse und Wissen erinnern, Gegen- Ansatz auch, warum es im Rückblick auf manche biogra-
wärtiges sinnvoll wahrnehmen und verstehen, zielgerichtet fischen Erlebnisse zu einer Art Schönfärbung der Erinne-
handeln als auch Zukünftiges planen. Ohne Gedächtnis besä- rungen kommen kann. Erinnerungsverzerrungen stellen ein
ßen wir z. B. auch keine Vorstellung über die eigene Identität alltägliches Phänomen dar und werden gerade dann deut-
(7 Kap. 16) oder wären hilflos gefangen in der Gegenwart (vgl. lich, wenn mehrere unterschiedliche Beobachter den gleichen
dazu die Falldarstellung „Der verlorene Seemann“ in Sacks Sachverhalt wiedererinnern sollen – etwa bei Aussagen von
1988), da über die Sinneswahrnehmung neu aufgenomme- Augenzeugen.
2.3  Komponenten des menschlichen Gedächtnisses
25 2
Das gemeinsame Moment von Gedächtnis und Lernen Lernen bereits vergessener Information weniger Zeit benö-
bezieht sich auf die Wirkungen von in der Vergangenheit ge- tigt wurde. Beide Befunde wurden vielfach repliziert und
machten Erfahrungen auf das gegenwärtige Verhalten. Auch haben bis heute Gültigkeit. Mit der sogenannten „kogniti-
wenn in der Literatur mancherorts die beiden Begriffe we- ven Wende“ in den 1960er Jahren wurde vor allem auf die
nig trennscharf behandelt werden, soll Lernen thematisiert Art und den zeitlichen Ablauf der Informationsverarbeitung
werden als Erfahrungen, die zu Veränderungen im Verhal- fokussiert. Dies führte zunächst zum Postulat unterschied-
tenspotenzial – also dem tatsächlichen wie dem möglichen lich funktionierender Speichersysteme (7 Definitionen). Zu-
Verhalten – führen. Hingegen werden unter dem Thema Ge- nächst lag der Fokus auf sogenannten Mehrspeichermodel-
dächtnis die Bewahrung und Reproduktion der vollzogenen len, bei den von separaten Speichern je nach Behaltens-
Änderungen im Verhaltenspotenzial behandelt werden (vgl. dauer ausgegangen wird. In derartigen Modellen wird nach
Hoffmann & Engelkamp 2017). der Speicherdauer zwischen einem sensorischen Gedächtnis
(Speicherdauer: Bruchteile einer Sekunde), einem kurzzei-
Gedächtnis – Das Gedächtnis kann als ein aktives, dynamisches und
veränderbares Informationsverarbeitungssystem angesehen werden,
tigen Arbeitsgedächtnis (Speicherdauer: wenige Sekunden)
das Informationen aufnimmt, speichert und abruft (Zimbardo et al. und einem Langzeitgedächtnis (unbegrenzte Speicherdauer)
2008). Die folgenden drei Prozesse des menschlichen Gedächtnisses unterschieden. In sogenannte Einspeichermodellen wird ein
werden unterschieden: Enkodierung, Speicherung und Abruf. Speicher postuliert, der über verschiedene Speicher- und Ver-
Enkodierung – Mit Enkodierung wird ein Prozess bezeichnet, durch arbeitungsprozesse unterschiedlich genutzt wird.
den Informationen (z. B. Sinnesreize) so transformiert werden, dass sie
von einem System (z. B. dem menschlichen Gedächtnis) aufgenommen
und verarbeitet (z. B. verändert und gespeichert) werden können.
Speicherung – Die Speicherung bezeichnet das mehr oder weniger
2.3.1 Einspeichermodelle
dauerhafte Halten von Information (z. B. eine Telefonnummer) in einem
System (z. B. einem Kurzzeit- oder Langzeitspeicher) um sie entweder Einspeichermodelle sind historisch gesehen jünger und er-
aktuell oder zu einem späteren Zeitpunkt abzurufen oder weiter zu
verarbeiten (oder längerfristig zu halten).
langen in der gegenwärtigen kognitiven Psychologie zuneh-
Abruf – Unter Abruf versteht man das (erneute) Verfügbarmachen mend an Bedeutung. In ihnen wird die Grundannahme ver-
von gespeicherter Information (z. B. Wiedererinnern einer Telefonnum- treten, dass es außer einem Langzeitgedächtnis keine separa-
mer) um diese auszugeben (z. B. einer anderen Person mitteilen) oder ten Speicher gibt. Zwei grundlegend unterschiedliche Ansät-
innerhalb eines Systems weiterzuverarbeiten (z. B. Telefonnummer mit ze dieser Art sind die ACT-R-Theorie und das Prozessmodell
einer Person verknüpfen).
der Verarbeitungstiefe.
Die ACT-R-Theorie (Adaptive Control of Thought) von
Zur Differenzierung unterschiedlicher „Gedächtnisse“ wird
Anderson (Anderson & Funke 2013) sieht anstelle der sen-
in der kognitiven Psychologie einerseits nach der Art der
sorischen Speicher unterschiedliche Enkodierungs- und Ver-
zu speichernden und wiederabzurufenden Information (z. B.
arbeitungsprozesse auf initialer Ebene vor. Anstatt eines se-
semantisches, episodisches oder prozedurales Gedächtnis)
paraten Arbeitsgedächtnisses werden kurzzeitige Speicher-
unterschieden und andererseits nach Gesichtspunkten wie
und Verarbeitungsprozesse als aktivierter Teil des Lang-
der Speicherdauer und -kapazität sowie der Funktion im zeit-
zeitgedächtnisses angenommen. Dazu propagiert Anderson
lichen Verlauf der Informationsverarbeitung (Sensorisches
automatische und kontrollierte Prozesse bei der Kodierung,
Gedächtnis, Arbeits- und Langzeitgedächtnis).
Speicherung und Verarbeitung von Information. Kontrol-
lierte Prozesse erfordern weitreichende Aufmerksamkeitsres-
sourcen und verlaufen seriell, also nacheinander. Demgegen-
2.3 Komponenten des menschlichen über sind automatische Prozesse parallel, unbewusst und mit
Gedächtnisses geringen oder keinen nennenswerten Aufmerksamkeitsres-
sourcen verbunden. Ebenso wie bei anderen Einspeichermo-
Der Beginn der empirischen Gedächtnisforschung geht auf dellen wird der Unterschied zwischen aktivierter und nicht-
die Arbeiten von Hermann Ebbinghaus (1885/1992) zurück, aktivierter Information innerhalb eines einheitlichen Lang-
der die Funktionsweise des menschlichen Gedächtnisses ex- zeitgedächtnisses thematisiert. Die aktivierte Information ist
perimentell mittels dem Einprägen von Listen sog. „sinn- direkt verfügbar (wie in einem kurzzeitigen Gedächtnis), die
loser“ Silben untersucht hat. Damit wollte er den Einfluss nicht aktivierte Information muss im Gedächtnis erst akti-
individuell unterschiedlicher Vorerfahrungen auf die Erin- viert werden (vergleichbar mit dem Abruf aus einem Lang-
nerungsleistung minimieren, wie er bei sinnhaftem Materi- zeitgedächtnis). Sowohl beim Einprägen als auch beim Er-
al auftreten kann. Neben der Bedeutung mehrfacher Lern- innern können derartige Aktivierungsprozesse automatisch
durchgänge für den Erwerb relativ sinnarmer Silbenreihen oder kontrolliert ablaufen.
thematisiert er das Vergessen von Gelerntem über die Zeit. Craik und Lockhart (1972) vertreten ein Prozessmodell
Dabei fiel ihm auf, dass das Vergessen von gelernten Sil- der Verarbeitungstiefe. Gedächtnisleistungen spielen sich in
ben unmittelbar nach Abschluss der Lernphase zunächst sehr einem einheitlichen Gedächtnis ab und sind das Ergebnis
stark war und mit zunehmend verstreichender Zeitdauer im- von verschiedenen Graden der Informationsverarbeitung.
mer geringer wurde. Auch stellte er fest, dass für das erneute Wird beispielsweise ein gelesenes Wort memoriert, kann
26 Kapitel 2  Gedächtnis und Wissenserwerb

Selektion Organisation Integration


Recodierung,
Aufmerk- Reorganisation,
samkeit Rehearsal usw.
2 Kurzzeit- Langzeit-
Sensorisches
gedächtnis gedächtnis
Register
(KZG) (LZG)

Abruf

Ikonisches Gedächtnis Phonologische Deklarativ/explizit


(visuelles sensorisches Schleife
Episodisch/ Semantisch/
Register)
Ereignisse Ereignisse
Zentrale
Exekutive
Nondeklarativ/prozedural/implizit
Echoisches Gedächtnis
(auditorisches sensorisches Visuell-räumlicher Fertigkeiten Priming Konditio- usw.
Register) Notizblock (skills) nierung

. Abb. 2.1 Das Gedächtnismodell nach Atkinson und Shiffrin (1968)

dies unterschiedliche Stufen der Verarbeitung durchlaufen. 2.3.2 Mehrspeichermodelle


Je nachdem wie „tief“ diese Verarbeitung abläuft, wird die
Information besser behalten. Zunächst wird auf der ers- Eines der bekanntesten Mehrspeichermodelle stammt von
ten Verarbeitungsstufe das Wort strukturell verarbeitet, d. h. Atkinson und Shiffrin (1968; . Abb. 2.1). Es beruht auf der
Oberflächenmerkmale wie die Form werden analysiert und Annahme von drei miteinander interagierenden Speichersys-
gespeichert. Auf der zweiten Verarbeitungsstufe erfolgt ei- temen: dem sensorischen Speicher (sensorisches Gedächtnis,
ne phonologische Analyse und Kodierung. Auf der dritten Ultrakurzzeitgedächtnis; 7 Abschn. 2.3.3), dem kurzzeitigen
Verarbeitungsstufe schließlich erfolgt eine semantische Ko- Speicher (Kurzzeitgedächtnis; 7 Abschn. 2.3.4) und dem lang-
dierung und ermöglicht im weiteren Sinn die Bildung von zeitigen Speicher (Langzeitgedächtnis; 7 Abschn. 2.3.5). Beim
Sinnzusammenhängen. In späteren Studien wurde nachge- sensorischen Speicher wird eine neu eingehende Information
wiesen, dass auch das Ausmaß der weitergehenden Verarbei- sehr kurz – für den Bruchteil einer Sekunde – aufgenom-
tung – auch Elaboration genannt – auf den jeweiligen Verar- men und gefiltert. Informationen, die nicht weiterverarbei-
beitungsebenen zur Speichergüte beträgt. Ferner ist nicht die tet werden, „zerfallen“, wohingegen Informationen, die für
bloße Verarbeitungszeit („mehr Verarbeitungszeit – bessere die Weiterverarbeitung ausgewählt wurden, an ein Kurzzeit-
Speicherung?“) sondern tatsächlich die Tiefe der Verarbei- oder Arbeitsgedächtnis weitergeleitet werden. Die Bezeich-
tung für die Behaltensgüte wesentlich (vgl. Craik & Tulving nung „Kurzzeitspeicher“ meint, dass es hier um eine bloße
1975). Damit weisen Craik und Lockhart (1972; 2008) ge- Speicherung von Information geht, wohingegen der Begriff
genüber Mehrspeichermodellen den Aspekten des Bedeu- „Arbeitsgedächtnis“ mit der Speicherung und Verarbeitung
tungsgehalts einen größeren Stellenwert bei Lernprozessen von Information assoziiert ist. Wird Information im Arbeits-
zu. An der Theorie der Verarbeitungstiefe wurde jedoch auch gedächtnis nicht nur kurzzeitig gespeichert, sondern auch
Kritik geübt: Die Theorie erlaube keine Vorhersagen, inwie- verarbeitet, so kann dies sowohl über den Abgleich mit neu
fern unterschiedliche Lern- oder Gedächtnisanforderungen eingehender Information als auch mit bereits im Langzeitge-
zu unterschiedlicher Verarbeitungstiefe führen. Ferner erlau- dächtnis abgespeicherten Inhalten passieren. Damit kommt
be die Theorie keine eindeutigen Aussagen, welchen Unter- dem Arbeitsgedächtnis eine Funktion als Schnittstelle zu. Um
schied es hinsichtlich der Verarbeitungstiefe macht, ob z. B. Informationen länger in einem Kurzzeit- oder Arbeitsspei-
ein Wort akustisch oder visuell dargeboten wird (vgl. Hoff- cher zu halten, können kurzzeitige Gedächtnisstrategien zur
mann & Engelkamp 2017). Wenngleich das Modell von Craik Wiederauffrischung angewandt werden (7 Abschn. 2.3.4). In-
und Lockhart kritisch diskutiert wird, hat das Prinzip der Ver- formation kann aber durch Wiederholung vom kurzzeitigen
arbeitungstiefe bis heute in viele kognitionspsychologischen oder Arbeitsspeicher in den langzeitigen Speicher übertragen
Ansätze Eingang gefunden. werden. An dem Mehrspeichermodell wurde weitreichende
Bezugnehmend auf das schulische Lernen kann festgehal- Kritik geäußert, die sich zum einen um die Notwendigkeit ei-
ten werden: Wissenserwerb basiert in den Einspeichermo- nes eigenen sensorischen Speichers dreht und zum anderen
dellen auf Aktivierung von Information im Gedächtnis und um die unklare Beschreibung der Funktionen des kurzzeiti-
auf der Modifikation durch kognitive Prozesse, z. B. durch gen und langzeitigen Speichers. Ferner wurde kritisiert, dass
Verknüpfung zwischen neuen und bereits vorhandenen Ge- das Zusammenwirken der einzelnen Speicher in dem Mo-
dächtnisinhalten. dell nur oberflächlich benannt wurde. Trotzdem wird dem
2.3  Komponenten des menschlichen Gedächtnisses
27 2
ursprünglichen Modell von Atkinson und Shiffrin ein hohe dazu wird die zur Weiterverarbeitung ausgewählte Informa-
heuristischer Wert für die nachfolgende Forschung zugespro- tion in das Kurzzeit- bzw. Arbeitsgedächtnis übertragen.
chen (vgl. Hoffmann & Engelkamp 2017). Experimentelle Studien führten zu diesen Annahmen aus,
Um schulisches Lernen im Rahmen der Mehrspeicher- dass es im Bereich des ikonischen Gedächtnisses wahrschein-
modelle aufgreifen zu können, soll im Folgenden auf die lich zwei grundlegende Prozesse geben dürfte: eine eigent-
einzelnen Speicher und die damit verbundenen Prozesse – liche sensorische Phase die etwa 150 bis 250 Millisekunden
basierend auf der Struktur des Modells von Atkinson und dauert und eine zweite Phase, in der auch höhere z. B. ab-
Shiffrin – eingegangen werden. strakte Merkmale der aufgenommenen visuellen Information
repräsentiert werden und Mustererkennungsprozesse statt-
finden.
Das sensorische Register ist also eine Art „Echo“, welches
2.3.3 Sensorisches Gedächtnis in wenigen Sekunden zerfällt, wenn keine Aufmerksamkeit
darauf gerichtet wird (vgl. Lefrançois 2015). Zwischen dem
Wird neue Informationen über die Sinnesorgane aufgenom- sensorischen Register und dem Kurzzeitgedächtnis wird da-
men, so durchläuft diese zunächst das sensorische Gedächt- her mittlerweile von manchen Forschern eine weitere Funk-
nis. In einigen Darstellungen wird dies auch sensorisches tion angenommen, ein Filter, welcher auch als selektive Auf-
Register, Ultrakurzzeitgedächtnis oder Ultrakurzzeitspeicher merksamkeit bezeichnet wird.
genannt. Atkinson und Shiffrin (1968) postulierten, dass es
separate, parallel arbeitende sensorische Gedächtnisse für je-
de Sinnesmodalität gibt. So ist das ikonische Gedächtnis für 2.3.4 Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnis
die Verarbeitung visueller Information und das echoische
Gedächtnis für Verarbeitung eingehender auditiver Informa-
Das Kurzzeitgedächtnis hat eine begrenzte Speicherdauer
tion zuständig (Neisser 1976). Sensorische Gedächtnissyste-
und -kapazität, Information kann dort für wenige Sekun-
me für andere Sinnesmodalitäten werden bislang lediglich
den gehalten werden. Atkinson und Shiffrin (1968; 1971)
angenommen, in der Literatur existieren bisher aber weder
weisen in ihrem Mehrspeichermodell dem kurzzeitigen Spei-
systematische theoretische Ausarbeitungen noch empirische
cher eine Mittlerrolle zwischen eingehender Information (aus
Studien, die etwa ein haptisches (Fühlen), ein gustatorisches
dem sensorischen Speicher) und Abruf aus dem Langzeit-
(Schmecken) oder ein olfaktorisches (Riechen) sensorisches
gedächtnis zu, sehen die beiden Speicher aber als relativ
Gedächtnis konzeptualisieren und belegen könnten.
unabhängig voneinander an. Die zeitliche Limitierung des
Die Anforderungen an einen sensorischen Speicher sind
Speichers beträgt nur wenige Sekunden, d. h., dass Informati-
immens: Es müssen äußerst schnell ungeheure Informati-
on im Kurzzeitspeicher nach wenigen Sekunden nicht mehr
onsmengen bewältigt werden. So wird geschätzt, dass diese
abrufbar ist. Dieser Verfall kann durch das sogenannte Re-
Informationsmenge im visuellen System in etwa einer Grö-
9 11 hearsal – der stetigen (inneren) Wiederholung des Materials
ßenordnung von 10 bis 10 Bits pro Sekunde entspricht (ein
aufgehalten werden. Z. B. kann eine Telefonnummer stetig
Bit stellt die kleinstmögliche Informationseinheit „Binary
wiederholt werden „042738 – 042738 – 042738. . . “. Infor-
Digit“ dar; zum Vergleich: Eine vollgeschriebene Seite dieses
4 mationen bleiben dann länger in diesem Kurzzeitspeicher
Buches enthält in etwa 10 Bits). Die Information ist aber nur
und können so mit höherer Wahrscheinlichkeit zur dauerhaf-
für eine äußerst kurze Zeit verfügbar. Man geht davon aus,
ten Speicherung in das Langzeitgedächtnis überführt werden.
dass eine im ikonischen Gedächtnis angekommene Infor-
Im Kurzzeitgedächtnis wird u. a. verbale, visuelle oder taktile
mation nur etwa 0,5 bis 1 Sekunde aufrechterhalten werden
Information weiterverarbeitet. Die Kapazität des Kurzzeitge-
kann und dann „zerfällt“ (vgl. Sperling 1960). Die Haltedau-
dächtnisses wurde seit den Arbeiten von Miller (1956) mit
er für akustische Information im echoischen Speicher wird
7 ˙ 2 Informationseinheiten oder Chunks angegeben (7 Im
mit etwa 2 Sekunden angegeben, wenn auch die Angaben
Fokus). Mittlerweile wird dieser Umfang stark diskutiert und
uneinheitlich zwischen 0,5 und mehreren Sekunden Dauer
neuere Arbeiten gehen eher von einer geringeren Kapazi-
schwanken (vgl. Baddeley, Eysenck & Anderson 2015).
tät von etwa vier Informationseinheiten, aber bedeutsameren
Die sehr kurze Haltedauer und quasi unbegrenzte Kapazi-
Chunkingprozessen aus (vgl. Cowan 2001).
tät der sensorischen Speicher erklärt sich über ihre Funktion
im Informationsverarbeitungsprozess: Aus der großen In-
formationsfülle muss die relevante Information ausgewählt Im Fokus: Chunking
und in den Kurzzeitspeicher bzw. das Arbeitsgedächtnis wei-
tergeleitet werden. Die Aufgaben der sensorischen Speicher Aus einzelnen Informationseinheiten – z. B. Zahlen, Buch-
reichen vom groben Erkennen von Merkmalen wie Form staben oder Tönen – können größere, bedeutungstragende
und Farbe bis hin zu komplexen Mustererkennungsprozes- Informationseinheiten zusammengefasst werden. Chunks
sen. Letztere kann in einem Erfassen von semantischer In- werden im Kurzzeit- oder Arbeitsgedächtnis gebildet,
formation, also die den Inhalt betreffenden Aspekte wie z. B. indem auf der Basis von (semantischem) Vorwissen aus dem
Buchstaben- oder Wortbedeutung liegen. Es erfolgt aber kei- Langzeitgedächtnis Informationen verdichtet werden.
ne Bewertung oder bewusste inhaltliche Reizverarbeitung,
28 Kapitel 2  Gedächtnis und Wissenserwerb

sogenannte proaktive Hemmung (Interferenz) beim Lernen


So könnten beispielsweise aus der zu memorierenden neuer Inhalte im Kurzzeitgedächtnis gibt. Im Rahmen einer
zehnteiligen Buchstabenreihe „i-t-b-m-w-m-f-g-z-b“ proaktiven Hemmung gehen zu lernenden Informationen se-
die vier Chunks „IT – BMW – mfG – z. B.“ werden. Mit
2 zunehmender Übung und/oder Expertise in bestimmten
mantische Störereignisse voraus, z. B. indem zu lernenden
Vokabeln aus der gleichen Kategorie einer neu zu lernenden
Wissensgebieten steigt auch die Fähigkeit, durch den Vokabel vorausgehen (Tiger – Löwe – Gepard – neu: Luchs).
Prozess des Chunkings immer mehr Informationseinheiten Stammen die vorausgehenden Vokabeln aus einer anderen
zu immer größeren Chunks zusammenzufassen (Chase & Kategorie als die neue Vokabel (Apfel – Birne – Orange – neu:
Simon 1973). Durch Vorwissensunterschiede können auch Luchs) tritt diese Störung nicht vergleichbar auf. Ein Gros der
Unterschiede im Chunking bzw. der Gedächtniskapazität anfänglichen Forschung zum Kurzzeitgedächtnis fokussier-
(7 Abschn. 2.3.5) teilweise erklärt werden. Der Prozess te den Bereich verbaler Gedächtnisleistungen, daher werden
des Chunkings wird in der Literatur nicht eindeutig von Prozesse zu diesem Speicher meist anhand von Beispielen
dem der Gruppierung (Grouping) getrennt, manche und Befunden zu verbalen Gedächtnisleistungen ausgeführt.
Autoren sehen die Bedeutungshaltigkeit beim Chunking Dies hat auch dazu geführt, dass der kurzzeitige Speicher
als Unterschied gegenüber der Gruppierung. Bei der nach Atkinson und Shiffrin als eher phonetischer Speicher ge-
Gruppierung können Informationseinheiten z. B. durch sehen wurde und wegen dieser Einseitigkeit kritisiert wurde
zeitliche Aufteilung zusammengefasst werden, ohne dass (vgl. Hoffmann & Engelkamp 2017).
die erhaltenen Informationseinheiten einen zusätzlichen Mit zunehmendem Fokus auf Verarbeitungsprozesse
Bedeutungszuwachs erhalten haben. Z. B. werden aus einer im Kurzzeitspeicher und zahlreichen empirische Befunden
zwölfstelligen Zahlenreihe vier Dreiergruppen gebildet: wuchs die Kritik am rein passiven Kurzzeitgedächtnis für
überwiegend phonologische Informationen, wie Atkinson
715483561937 715  483  561  937 (Gruppierung) und Shiffrin es in ihrem Mehrspeichermodell konzipiert hat-
ten. Weder die Rolle semantischer Information (z. B. beim
Unbestritten ist, dass mittels Chunking die begrenzte Kapazi- Chunking) noch die Art des Zusammenwirkens mit dem
tät eines Kurzzeit- oder Arbeitsgedächtnissesbesser genutzt Langzeitgedächtnis konnten durch diese frühen Modelle des
werden kann. Für Lernprozesse spielt das Chunking damit Kurzzeitgedächtnisses erschöpfend erklärt werden. Daneben
eine entscheidende Rolle. Chunking ist nicht nur auf diskrete erschien es verkürzt anzunehmen, dass allein das Wiederho-
Informationen wie Zahlen- oder Buchstabensequenzen be- len von Information (Rehearsal) im Kurzzeitspeicher zu einer
grenzt. Ganze Verhaltenssequenzen, die sich aus einzelnen langfristigen Speicherung führen würde.
Teilsequenzen zusammensetzen, können durch Chunking
besser gelernt werden (Song & Cohen 2014). Dazu ließe 1 Modell des Arbeitsgedächtnisses
sich beispielhaft das Vermitteln der Kür im Geräteturnen In der Folge entwickelten Baddeley und Hitch (1974) das
aus einzelnen Bewegungssequenzen im Sportunterricht Modell eines Arbeitsgedächtnisses (. Abb. 2.2). Dieses soll-
anführen. Mit zunehmenden Fähigkeiten im Turnen können te neben einer kurzzeitigen Speicherung von phonologischer
diese Verhaltenssequenzen zu Chunks zusammengefasst und visuell-räumlicher Information vor allem auch diese
und besser und schneller erinnert werden. kurzfristig gehaltene Information manipulieren können. Da-
mit ist beispielsweise gemeint, dass das Arbeitsgedächtnis
bei mehrstelligen mentalen Additionsaufgaben nicht nur die
Über Chunking als Möglichkeit, einzelne Informations- Summanden speichert und das Ergebnis aus dem Langzeitge-
einheiten auf Basis von Information aus dem Langzeitge- dächtnis abruft, sondern auch Zwischenergebnisse bereithält
dächtnis zu größeren Informationseinheiten zusammenfas- und die Auswahl und Durchführung von komplexen Re-
sen, kann der Speicher „effizienter“ genutzt werden. Der chenalgorithmen initiiert und überwacht. Damit legen Bad-
Rückgriff auf die semantische Information aus dem Lang- deley und Hitch in ihrem Modell einen Fokus auf kom-
zeitgedächtnis durch Prozesse im kurzzeitigen Speicher zeigt, plexe kognitive Aktivitäten, zu denen auch bewusste Denk-
dass die Speichersysteme im Mehrspeichermodell, entgegen und Repräsentationsprozesse gehören. Um derartigen An-
der ursprünglichen Annahme von Atkinson und Shiffrin, forderungen gerecht zu werden unterteilten sie das Modell
nicht unabhängig voneinander arbeiten. Die Einbindung se- in zwei modalitätsspezifische Speicherinstanzen – die pho-
mantischer Information in kurzzeitige Gedächtnisprozesse nologische Schleife (phonological loop) für phonologische
zeigt aber noch etwas Anderes: Gerade der für Lernprozes- Information und den visuell-räumlichen Notizblock (visuo-
se bedeutsame Rückgriff auf das Langzeitgedächtnis kann spatial sketchpad) für visuell-räumliche Information – und
auch Interferenzeffekte im Kurzzeitgedächtnis erklären (Ab- eine übergeordnete Kontrollinstanz – die zentrale Exekuti-
ruf bestimmter Gedächtnisinhalte wird durch das Lernen ve (central executive). Die phonologische Schleife und der
anderer Inhalte erschwert). Dabei wird zwischen retroaktiver visuell-räumliche Notizblock beziehen ihre Informationen
(neue Inhalte erschweren den Abruf bestimmter Gedächtnis- entweder aus den sensorischen Registern oder durch einen
inhalte) und proaktiver Interferenz differenziert (bestimmte Abruf aus dem Langzeitgedächtnis.
Gedächtnisinhalte erschweren den Abruf neuer Inhalte). Wi- Die phonologische Schleife ist für die Speicherung und
ckens (1973) konnte in einem Experiment zeigen, dass es eine kurzzeitige Verarbeitung von phonologischer Information
2.3  Komponenten des menschlichen Gedächtnisses
29 2

Zentrale
Bezogen auf das Ausführen einer schriftlich dargebote-
Exekutive nen Rechenaufgabe im Mathematikunterricht würden die aus
den visuellen sensorischen Registern weitergeleiteten Infor-
mationen zunächst über den visuell-räumlichen Notizblock
Visuell-räumlicher Episodischer Phonologische aufgenommen und – phonologisch rekodiert – in der phono-
Notizblock Puffer Schleife
logischen Schleife zwischengespeichert und aufrechterhalten
werden. Der Abruf und die Anwendung der zur Bearbeitung
Visuelle Episodisches
Sprache der Aufgabe notwendigen Rechenalgorithmen vollzieht sich
Semantik LZG nach dem Modell über die zentrale Exekutive. Die Kontrolle
und Koordination der Rechenoperationen sowie die Speiche-
. Abb. 2.2 Arbeitsgedächtnis nach Baddeley und Hitch (Quelle:
rung und Synthese von Zwischen- und Endergebnissen in
Baddeley 2000)
der phonologischen Schleife wird ebenfalls von der zentralen
Exekutive vorgenommen.
In empirischen Untersuchungen konnten Nachweise für
zuständig, das heißt, Informationen die in erster Linie unter- die Bedeutung des Arbeitsgedächtnisses für den Erwerb des
schiedliche Aspekte wie akustische und bedeutungstragende Lesens (Gathercole & Baddeley 1993), das Leseverständnis
(semantische) Merkmale der Sprache betreffen. Darüber hi- (Hasselhorn & Marx 2000), das Textverstehen (McCallum
naus werden auch musikbezogene Aspekte wie melodische et al. 2006) sowie für die mentale Addition und Multiplikati-
oder rhythmische Informationen in diesem Subsystem verar- on (De Rammelaere, Stuyven & Vandierendonck 2001; Seitz
beitet. Auch können phonologische Informationen, die visu- & Schumann-Hengsteler 2000) erbracht werden. Mittlerweile
ell erfasst werden, z. B. beim Lesen eines Wortes oder Erfassen werden Arbeitsgedächtnisprozesse zu den wichtigsten (kog-
eines in Notschrift dargebotenen Rhythmus, in einen pho- nitiven) Bedingungsfaktoren sowohl für kurz- und langfris-
nologischen Code umgewandelt und in der phonologischen tige Lernvorgänge (Kyllonen 1996) als auch im Bereich von
Schleife verarbeitet werden (phonologische Rekodierung). Lernstörungen (Swanson 2005) gezählt.
Der visuell-räumliche Notizblock ist für die Speicherung und Veränderungen innerhalb der Gedächtnisentwicklung
Verarbeitung von visueller und räumlicher Information zu- von Kindern wurden in erster Linie auf die Veränderun-
ständig. In diesem Zusammenhang werden unter „visueller gen von kognitiven Prozesse zurückgeführt, die eng mit
Information“ Aspekte wie die Form, Farbe oder Maserung ei- der Grad der Funktionalität des Arbeitsgedächtnisses zu-
nes Reizes verstanden. Unter „räumlicher Information“ wird sammenhängen (Schneider & Pressley 1997). Generell wer-
die Position eines Reizes im Raum oder in Relation zu an- den die Ursachen dieser entwicklungsbezogenen Verände-
deren Reizen oder die Bewegung eines Reizes verstanden. rungen im Bereich des Gedächtnisses nochmals ausdiffe-
Baddeley spricht den beiden Subsystemen neben einer rei- renziert: Entweder kommen diese durch Verbesserungen
nen Speicherfunktion auch basale Verarbeitungsfunktionen in der „Hardware“ (Vergrößerung der Gedächtniskapazi-
zu, etwa das „Kreisen“ oder Wiederholen (Rehearsal) von tät und der Verarbeitungsgeschwindigkeit) oder im Bereich
Informationen, um diese länger im Speicher halten zu kön- der „Software“ (Zunahme und Effizienz des Gebrauchs von
nen oder in das Langzeitgedächtnis transferieren zu können. Gedächtnisstrategien, Zuwachs und Organisation von Vor-
Die übergeordnete Kontrollinstanz der zentralen Exekutive wissen, Veränderungen im Metagedächtnis) zustande. Da-
war lange Zeit wenig spezifiziert, damit kam ihr in gewisser zu zählen auch die über das Arbeitsgedächtnis ablaufenden
Weise die Funktion einer Art „Resterampe“ zu: Alle Phäno- kurzzeitigen Gedächtnisstrategien. Als Strategien lassen sich
mene, die nicht über die Subsysteme erklärbar waren, wurden potenziell bewusste, intentionale Aktivitäten begreifen, die
der zentralen Exekutive zugesprochen. Baddeley (1986; 1996; zwar im Arbeitsgedächtnis ablaufen, jedoch im Langzeitge-
2002) unternahm mehrere Vorstöße, die zentrale Exekutive dächtnis gespeichert werden. Diese sollen dabei helfen, eine
näher zu erklären: Neben der Kontrolle von Enkodier- und Gedächtnisanforderung besser zu bewältigen, indem sie die
Abrufstrategien, der Fokussierung der Aufmerksamkeit und vorhandenen Ressourcen effizienter nutzen. Generell wer-
der Koordination und dem Wechsel zwischen zwei zeitgleich den sogenannte Enkodierstrategien, die vor allem bei der
ablaufenden Aufgaben wurde auch die Kommunikation mit Einspeicherung von Informationen bedeutsam sind, von Ab-
dem Langzeitgedächtnis als Prozess der zentralen Exekutive rufstrategien abgegrenzt. Letztere kommen während des Er-
diskutiert. Da gerade die Verbindung zum Langzeitgedächt- innerns von Lernmaterial zum Einsatz und bestehen z. B.
nis über die zentrale Exekutive nicht plausibel zu erklären im Abruf von Informationen nach Oberbegriffen, dem so-
war, erweiterte Baddeley (2000) das ursprünglich dreiglied- genannten Clustern. Zu den Enkodierstrategien zählen bei-
rige Arbeitsgedächtnismodell um eine vierte Instanz, den so- spielsweise das Wiederholen (Rehearsal), das Kategorisieren
genannten episodischen Puffer. Baddeley hoffte damit kom- nach semantisch plausiblen Oberbegriffen (Einspeichern von
plexe Prozesse wie das Chunking besser erklären zu können, chemischen Elementen aus dem Periodensystem nach Ka-
indem er dem episodischen Puffer die Aufgabe der Integra- tegorien, z. B. „Edelgase“: Helium, Neon, Radon usw.) und
tion von Information aus den Subsystemen phonologische das Elaborieren („Eselsbrücken“ bilden, wie z. B. „Mein Vater
Schleife und visuell-räumlicher Notizblock zuwies. Zudem erklärt mir jeden Sonntag unseren Nachthimmel“ als Merk-
hoffte er, so die Einbindung von längerfristig gespeicherter satz, um sich die Planeten des Sonnensystems zu merken oder
Information näher erklären zu können. das Einspeichern der b- und #-Tonarten des Quintenzirkels
30 Kapitel 2  Gedächtnis und Wissenserwerb

im Musikunterricht anhand der Sätze „Frische Bananen es- cher. Dies führt dazu, dass weniger Verarbeitungsspeicher für
sen Asiaten deshalb gerne.“ bzw. „Geh, Du alter Esel, hol kognitive Prozesse benötigt wird und in der Folge mehr Platz
Fische!“). Die Bedeutung strategischer Prozesse bei der Er- im Kurzeitspeicher zur Verfügung steht.
2 klärung entwicklungsbedingter Veränderungen in den kurz-
zeitigen Gedächtnisleistungen wurde seit den 1980er-Jahren
allerdings auch kritisch hinterfragt ( vgl. auch Hühnerkopf,
Schneider & Hasselhorn 2006). 2.3.5 Langzeitgedächtnis

1 Alternative Arbeitsgedächtnisansätze Unterschiedliche Modelle zum Langzeitgedächtnis teilen die


Die Frage nach dem Zusammenwirken von kurzzeitigen Annahme, dass es sich theoretisch durch eine unbegrenz-
Speicher- und Verarbeitungsprozessen und langfristig ge- te Speicherkapazität und Behaltensdauer auszeichnet. Ur-
speicherter Information hat neben dem Arbeitsgedächtnis- sprünglich ging man davon aus, dass die Wahrscheinlich-
Modell von Baddeley und Hitch zu alternativen Arbeitsge- keit, dass neu eingehende Information im Langzeitspeicher
dächtnisansätzen geführt. Einer der bekanntesten ist das Mo- abgelegt wird, mit zunehmender Verweildauer im Kurz-
dell von Cowan (2001). Cowan stellt die Bedeutung von Auf- zeitgedächtnis ansteigt. Dem widersprechen aber Befunde,
merksamkeitsprozessen für die Speicherung und den Abruf bei denen Information ohne ein nennenswertes Rehearsal
von Information in den Vordergrund und sieht das Arbeitsge- oder sonstige Anwendungen von Gedächtnisstrategien in das
dächtnis als einen aktivierten Teil eines Langzeitgedächtnis- Langzeitgedächtnis gelangten (vgl. die Darstellung der Be-
ses. In diesem Zusammenhang bedeutet Aktivierung, dass die deutung von Emotionen bei der Speicherung von Gedächt-
Information im Gedächtnissystem ein erhöhtes Erregungs- nisinhalten bei McGaugh 2003). Damit erscheint auch der
niveau besitzt. Es findet ein Aufmerksamkeitsfokus auf die von Atkinson und Shiffrin zwingend vorgeschlagene seriel-
entsprechend aktivierte Information statt, die somit besser le Informationsverarbeitungsverlauf durch die sensorischen
verarbeitet und gespeichert werden kann. Neu eingehende Register über den Kurzzeitspeicher zur dauerhaften Speiche-
Information kann mit der Aktivierung von langzeitig abge- rung in das Langzeitgedächtnis fraglich. Heutzutage herrscht
legten Gedächtnisinhalten einhergehen und mit diesen zur die Ansicht vor, dass das Ausmaß der Verarbeitungstiefe
weiteren Verarbeitung im Aufmerksamkeitsfokus gehalten einen plausibleren Mechanismus für die dauerhafte Abspei-
werden. Der Aufmerksamkeitsfokus ist kapazitätsbegrenzt cherung im Langzeitgedächtnis darstellt.
und kann etwa drei bis fünf bedeutungshaltige Informati- Als allgemein anerkannt gilt die Sichtweise, dass das
onseinheiten enthalten. Das Konzept von Cowan macht auch Langzeitgedächtnis aus unterschiedlichen Teilsystemen be-
nochmals deutlich, worin der Unterschied zwischen einem steht (vgl. Squire 1992), nämlich dem deklarativen und nicht-
reinen Kurzzeit- und einem Arbeitsgedächtnis besteht: Ne- deklarativen Gedächtnis. Im deklarativen Gedächtnis (ex-
ben einer Aktivierung und Aufrechterhaltung von langfristig plizites Gedächtnis) werden episodisch-autobiografische Er-
abgelegten Gedächtnisspuren, verfügt das Arbeitsgedächtnis eignisse sowie Fakten – in manchen Lehrbüchern auch als
über eine kontrollierte Aufmerksamkeitsfunktion. Erst diese „Weltwissen“ bezeichnet – gespeichert. Diese sind verbalisier-
macht das aktive Verarbeiten/Manipulieren von Information bar und gehen tendenziell mit bewusster Erinnerung einher.
möglich und reicht damit über einen passiven Kurzzeitspei- Daher wird das deklarative Gedächtnis auch oft als explizi-
cher hinaus. Im Gegensatz zum Arbeitsgedächtnismodell tes Gedächtnis bezeichnet. Es wird auf Anregung von Tulving
nach Baddeley geht es bei Cowan nicht um Strukturen wie (1972) weiter unterteilt in ein episodisches und ein seman-
die phonologische Schleife oder den visuell-räumlichen No- tisches Gedächtnis. Dem episodischen Gedächtnis wird die
tizblock, sondern um Prozesse, die einer Gedächtnisleistung Speicherung von konkreten, autobiografischen Ereignissen
zugrunde liegen. Zudem sieht Cowan das Arbeitsgedächtnis zugesprochen, die sich zu einer bestimmten Zeit an einem
als einen eingebundenen Teil des Langzeitgedächtnisses. bestimmten Ort zugetragen haben. Dabei kann es sich um so
Ein anderer alternativer Arbeitsgedächtnisansatz wurde einschneidende persönliche Erlebnisse wie den ersten Schul-
von Case (1985) vorgelegt. In seinem Ansatz werden ent- tag handeln oder alltägliche Information wie das Parken des
wicklungsbedingte Veränderungen der Speicherkapazität des eignen Autos am Uniparkplatz („Wo habe ich heute Morgen
Arbeitsgedächtnisses (totale Kapazität) über zwei Grund- nur mein Auto abgestellt?“). Auch Kontextinformationen, al-
funktionen erklärt: Einen Verarbeitungsspeicher (operating so wann und wo sich etwas zugetragen hat, werden in diesem
space), in erster Linie für strategische Prozesse zuständig, und Zusammenhang gespeichert und dazu genutzt, die Informa-
einen Kurzzeitspeicher (storage space) mit reiner Speicher- tion entsprechend zu organisieren und einzuordnen. Es wird
funktion. Trotz gleichbleibender Größe der beiden Speicher- vermutet, dass Informationen in diesem Gedächtnissystem in
funktion können entwicklungsbedingte Kapazitätszuwächse eher dynamisch-bildhafter Form gespeichert werden. Dem-
– es kann mehr Information mit zunehmender Entwick- gegenüber enthält das semantische Gedächtnis Wissen über
lung eines Kindes gespeichert werden – erklärt werden. Dazu allgemeine, weniger kontextabhängige Fakten („Wie heißt die
nimmt Case Veränderungen im Bereich der beiden Grund- Hauptstadt von Italien?“; „Welche Farbe hat eine reife Avoca-
funktionen an: So steigt mit zunehmender Entwicklung die do?“; „Wie beginnt Beethovens fünfte Sinfonie?“), Wissen zu
Verarbeitungsgeschwindigkeit und die Effizienz innerhalb komplexen Zusammenhängen („Je mehr Zeit verstreicht, des-
der Nutzung strategischer Prozesse im Verarbeitungsspei- to mehr vergisst man gelernten Stoff“) und Wortbedeutungen
2.3  Komponenten des menschlichen Gedächtnisses
31 2
(„Was bedeutet Äquivalenz?“). Allen genannten Beispielen ist Abseits der klassischen Beispiele zum prozeduralen Wis-
gemein, dass sie das Wissen darüber ausdrücken, was einen sen, mit starker Ausrichtung an motorisch orientierten Fer-
Sachverhalt ausmacht. Modellannahmen zum deklarativen tigkeiten wie Sport oder dem Spielen eines Musikinstru-
Gedächtnis definieren Wissenseinheiten als Begriffe und se- ments, wird die Grenzziehung zwischen deklarativem und
mantische Relationen, die jedoch auch komplexere Konfigu- prozeduralem Wissen fließend. Dies gilt vor allem für den Er-
rationen bilden können (Schemata, Scripts, Propositionen, werb schulischer Fertigkeiten, wie z. B. mathematischer Kom-
mentale Modelle; 7 Abschn. 2.3.6). Bis heute wird kontrovers petenzen im Bereich der Grundrechenarten. Wissen wird
diskutiert, ob das episodische und semantische Gedächtnis hier explizit und verbalisierbar (deklarativ) als Rechenregeln
separate Gedächtnissysteme darstellen oder zusammen ein oder -algorithmen vermittelt. Die Fertigkeit, diese Rechen-
einheitliches System bilden, das lediglich anforderungs- und regeln im konkreten Fall anzuwenden, repräsentiert aber
kontextbezogen unterschiedlich arbeitet. Theoretisch wäre so prozedurales Wissen. Innerhalb der mathematischen Fertig-
das semantische Gedächtnis als Akkumulation vieler ein- keiten existiert für jede Problemstellung deklaratives Wissen,
zelner Episoden vorstellbar und würde jene Merkmale und auch wenn dieses anschließend, durch Übung in seiner An-
kategorialen Aspekte repräsentieren, die diesen Episoden ge- wendung zunehmend automatisiert, in prozedurales Wissen
meinsam sind (vgl. Baddeley 1995). überführt wird. Anderson schildert in seiner ACT-Theorie
Unter dem nicht-deklarativen oder impliziten Gedächt- den Übergang von deklarativem in prozedurales Wissen (vgl.
nis wird die Fähigkeit zum Erinnern verhaltensbezogener z. B. Anderson & Lebiere 1998) und konstatiert, dass ur-
Phänomene zusammengefasst, die sich nicht oder nur unzu- sprünglich deklaratives Wissen, das in prozedurales Wissen
reichend verbalisieren lassen. Die Gedächtnisinhalte sind in überführt wurde, später nicht mehr explizit abrufbar ist. Dem
diesem Sinn nicht-deklarativ. Darunter können neben Ver- widersprechen de Jong und Ferguson-Hessler (1996) indem
haltensweisen, die über das operante und klassische Kon- sie auch das verbalisierbare Wissen über einen Lösungsweg
ditionieren erworben werden, auch wahrnehmungsbezoge- als prozedurales Wissen bezeichnen.
ne, motorische, aber auch automatisiert ablaufende kognitive
Fertigkeiten oder darüber hinaus Phänomene wie das Pri-
ming verstanden werden (7 Kap. 1). Oftmals genannt wer-
2.3.6 Formen der Wissensrepräsentation im
den in diesem Zusammenhang Beispiele mit relativ starkem
prozeduralen Charakter, wie das Spielen eines Musikinstru- Langzeitgedächtnis
ments oder das Fahrradfahren. Daher wird in diesem Zu-
sammenhang auch vom prozeduralen Gedächtnis gespro- Im Folgenden soll auf unterschiedliche Formen der Wissens-
chen. Es werden also Informationen darüber gespeichert, repräsentation eingegangen werden. Dabei handelt es sich
wie etwas getan wird bzw. zu tun ist. Dazu zählen man- um Modellvorstellungen wie dieses Wissen langfristig ge-
che Forscher (Anderson & Funke 2013) aber auch seriell speichert und organisiert wird. Ferner zeigen diese Modelle,
ablaufende Handlungsweisen, wie z. B. die Anwendung kom- welche Anteile des Wissens überhaupt gespeichert und verar-
plexer Lösungsalgorithmen bei kognitiven Aufgaben, oder beitet werden und welche Information dann für einen Abruf
den Einsatz von Suchheurismen, etwa bei der Beschaffung tatsächlich zur Verfügung steht.
von Informationen zu einem bestimmten Sachverhalt in ei- Innerhalb der theoretischen Betrachtung der Wissensre-
ner Bibliothek. Neben dem deklarativen Wissen („In welcher präsentation werden zwei Einheiten unterschieden: Begriffe
Datenbank kann zu welchem Gegenstand Auskunft gefunden und Relationen zwischen Begriffen. Begriffe sind elementa-
werden?“) kommt nicht-deklaratives, prozedurales Wissen in re Wissenseinheiten und ermöglichen klassifizierendes Er-
Form von Suchheurismen zur Anwendung („Wie sucht man kennen. Dazu werden kognitive Strukturen gebildet in de-
mit Schlagworten?“ oder „Wie verknüpft man in einer Suche nen Bedeutungen über einzelne Aspekte der Wirklichkeit
mehrere Schlagworte?“ oder „Wie lässt sich eine Suche an- abgelegt und organisiert sind. Begriffe werden mit einem
hand bestimmter Aspekte und Operationen einschränken?“). Wort oder Symbol bezeichnet, das nicht mit ihrer Bedeu-
Das folgende Beispiel soll zeigen, das Inhalte des prozedura- tung zu verwechseln ist. Die Bedeutung eines Begriffs entsteht
len Gedächtnisses unmittelbar nur bedingt durch Inhalte aus durch Unterscheidung verschiedener Aspekte eines Sachver-
dem deklarativen Gedächtnis beeinflussbar sind: Die Kennt- halts und über das Erkennen der Relationen zwischen diesen
nisse von physikalischen Prozessen beim Fußballspielen – Elementen. Begriffe lassen sich daher z. B. in Netzwerken
etwa der Beeinflussbarkeit der Flugbahn eines Balles durch organisieren und entsprechend ihres Inhalts darstellen. Ge-
unterschiedliche Krafteinwirkungen – führt zumindest nicht nerell hat sich eine Unterscheidung von zwei Begriffsarten
unmittelbar zur Entwicklung eines besseren Schussverhal- in der Wissenspsychologie etabliert: Eigenschafts- und Er-
tens bei einem Fußballspieler. Nur mit erheblichem Übungs- klärungsbegriffe. Eigenschaftsbegriffe sind Kategorien, mit
und Zeitaufwand und durch Ausführung der entsprechenden denen sich Objekte und Phänomene der Wirklichkeit anhand
Verhaltensweisen kann dies allmählich erworben und opti- bestimmter Merkmale ordnen und kategorisieren lassen (z. B.
miert werden. Für das Fußballbeispiel würde dies bedeuten, bestimmte Vogelarten). Eigenschaftsbegriffe werden über das
dass physikalisches Wissen nur indirekt, über entsprechend Erkennen relevanter und herausragender Attribute gebildet,
motorisch-prozedurale Trainingsmaßnahmen, in die Schuss- die für die meisten Exemplare einer Kategorie charakteris-
technik eines Fußballspielers integriert werden könnte. tisch sind („Vögel können fliegen.“; „Vögel haben Federn.“).
32 Kapitel 2  Gedächtnis und Wissenserwerb

Dabei können sich die charakteristischen Eigenschaften auf O


ein Heft
S
die Funktion eines Gegenstandes („Auto – Fortbewegung“)
P1 P2
oder das Erscheinungsbild („Vogel – Federkleid“) beziehen.
S P P
2 Es geht also um den Erwerb einer Bezeichnung und das
Verstehen seiner Bedeutung. Demgegenüber haben Erklä- Kilian kauft neues
rungsbegriffe die Funktion, Phänomene oder Funktionen von
Wissensinhalten zu deuten und/oder zu verstehen. . Abb. 2.3 Propositionale Netzwerkdarstellung des Satzes „Kilian kauft
ein neues Heft“. Die Kreise repräsentieren die Propositionen (P1 und P2)
und werden auch als Knoten bezeichnet. Die Pfeile verweisen auf die
1 Propositionale Repräsentationen unterschiedlichen funktionalen Elemente der Propositionen (S D Subjekt,
Zur Frage, wie die Bedeutung von Information im (deklarati- O D Objekt, P D Prädikat)
ven) Langzeitgedächtnis gespeichert und repräsentiert wer-
den, hat sich seit den 1970er-Jahren die Darstellung von
Propositionen etabliert. Unter einer Proposition wird in der wurde, variiert die Wiedergabe der propositionalen Infor-
kognitiven Psychologie die kleinste Wissenseinheit verstan- mation über unterschiedliche Individuen hinweg („Das neue
den, die eine selbständige Aussage bilden kann. Dieser Begriff Heft wurde von Kilian gekauft“ oder „Kilian kaufte ein Heft,
ist aus der Linguistik und Logik übernommen worden. Eine das neu war“). Entsprechend wird ein Schüler oder eine Schü-
Proposition lässt sich logisch als wahr oder falsch beurtei- lerin gelernte Information (egal ob gelesen, gehört oder auf
len und am besten an sprachlicher Information erläutern. anderem Zugangsweg erworben) meist nicht wörtlich wie-
Auf der Grundlage vorausgegangener Lernerfahrungen ha- dergeben, außer es geht um wörtlich auswendig gelernte
ben sich im Gedächtnis zwischen den verschiedenen Elemen- Sätze. Eine sinngemäße Wiedergabe zeigt also eher eine er-
ten Verbindungen (Assoziationen) gebildet, die sich in Form folgreiche Verarbeitung der enthaltenen relationalen Bezüge
von Aussagen darstellen lassen. Auf Basis dieser Aussagen oder der zugrundeliegenden Konzepte an.
lassen sich entsprechende Netzwerke bilden (Propositionale
Netzwerke; . Abb. 2.3), in denen logisch zusammenhängen-1 Semantische Netzwerke
de Aussagen gespeichert sind. Folgender Satz lässt sich in zwei Werden Informationen nach ihrer kategorialen Zugehörig-
einzelne Aussagen aufteilen. keit gespeichert und repräsentiert, ist es notwendig, diese In-
Kilian kauft ein neues Heft. formationen zunächst vom unmittelbaren Wahrnehmungs-
4 Kilian kauft ein Heft. eindruck und von spezifischen Erfahrungen zu abstrahie-
4 Das Heft ist neu. ren. Dazu werden herausragende Merkmale von Objekten
einer Kategorie erfasst und im Sinne eines mentalen, proto-
Wäre einer dieser zwei einfachen Sätze falsch, wäre auch der typischen Vorstellungsbildes „gesammelt“. Z. B. haben Mit-
komplexere Ausgangssatz nicht richtig. Die einfachen Aus- glieder der Kategorie „Hase“ lange Ohren, können Haken
sagen entsprechen den Propositionen, die dem komplexen schlagen, fressen bevorzugt Gras, Kräuter und Mohrrüben,
Satz zu Grunde liegen und sind damit separate Bedeutungs- haben hervorstehende Schneidezähne und ein kuscheliges
einheiten. Empirische Studien (z. B. Sachs 1967) ergaben den Fell. Worin besteht der Nutzen einer derartigen Repräsenta-
Nachweis, dass nicht der exakte Wortlaut von Sätzen ge- tion der Kategorie „Hase“? Anderson und Funke (2013) sieht
speichert wird, sondern die enthaltenen Propositionen. In eine Effizienzsteigerung bei der Repräsentation und Mitteil-
der Forschung zu Propositionen hat es sich durchgesetzt, barkeit von persönlicher Erfahrung („Ich habe den Hasen
die Relationen in einer Proposition im Hinblick auf ihre be- gestern mit Löwenzahn gefüttert.“ anstatt „Ich habe gestern
deutungshaltigen Elemente darzustellen. Diese bestehen aus dieses Tier mit den langen Ohren und den hervorstehen-
Argumenten wie einem Subjekt (z. B. Kilian) und einem Ob- den Schneidezähnen, das ein kuscheliges Fell hat und Haken
jekt (z. B. Heft), die über ein Prädikat (z. B. kauft) in Bezie- schlagen kann, mit Blättern einer Pflanze gefüttert, die gelbe
hung gesetzt werden. Man entnimmt einer Proposition also Blüten hat und einen milchigen Saft. . . “). Im Kommunikati-
etwas über das Subjekt, das etwas tut oder mit dem etwas onsprozess kann eine Person, der vom Füttern eines Hasen
geschieht, ebenso etwas über Ziele einer Aktivität, über die berichtet wird, somit gewisse Vorhersagen über das Ausse-
Zeitpunkte oder Orte, an denen eine Aktivität stattfindet und hen, die Charakteristik und das Verhalten des Hasen machen,
die Personen oder Gegenstände mit denen etwas stattfindet. sofern Vorwissen über die mitgeteilte Erfahrung vorliegt. Ist
Propositionen lassen sich auf unterschiedliche Weise darstel- dies der Fall, wird für die zuhörende Person die mitgeteilte Er-
len, z. B. in grafisch-propositionalen Netzwerkdarstellungen fahrung ohne großen Aufwand nachvollziehbar. Semantische
(. Abb. 2.3) oder in linearen Darstellungen: Netzwerke stellen somit eine Möglichkeit dar, wie eine derar-
4 (Heft, Kilian, kaufen) tige Kategorisierung gebildet, dargestellt und zur Interpreta-
4 (neu, Heft) tion eigener und fremder Erfahrungen genutzt werden kann.
Eine Form eines semantischen Netzwerksmodells wurde von
Beim Abruf von Informationseinheiten aus dem Gedächt- Collins und Quillian (1969) vorgeschlagen: In dem von ihnen
nis müssen Lernende also die Bedeutung entsprechend ihrer propagierten Netzwerk werden Informationen über unter-
Repräsentation im propositionalen Netzwerk abrufen und in schiedliche Kategorien hierarchisch gespeichert (. Abb. 2.4).
Sätzen wiedergeben. Da aber nur der Sinngehalt gespeichert Darin sind Oberbegriff-Unterbegriff Relationen wie z. B. „Ei-
2.3  Komponenten des menschlichen Gedächtnisses
33 2
hat eine Haut
kann sich bewegen

Tier frisst

atmet

hat Flügel hat Kiemen

Vogel kann fliegen Fisch kann schwimmen

hat Federn hat Flossen

kann singen frisst Fische ist Räuber lebt im Meer

Amsel Pinguin kann schwimmen Hai Lachs ist essbar

ist schwarz-grau kann nicht fliegen ist gefährlich schwimmt stromauf-


wärts zum Laichen

. Abb. 2.4 Ein hypothetisches hierarchisches Netzwerk mit drei Stufen (nach Collins und Quillian 1969)

ne Amsel ist ein Vogel“ gespeichert. Wenn also ein Merkmal1 Schemata
(„kann fliegen“) eines Konzepts wie „Amsel“ nicht direkt bei In Schemata sind kategoriale Informationen über spezifi-
dem Konzept gespeichert ist, kann es von einem übergeord- sche, häufig auftretende Situationen in abstrahierter Weise
neten Konzept abgerufen werden. niedergelegt. Das bedeutet, dass die Information über ein
An den ursprünglich postulierten semantischen Netz- bestimmtes Objekt oder Konzept in abstrakter, allgemeiner
werkmodellen wurde kritisiert, dass es Abweichungen in Form gespeichert ist und auf vorausgegangenen Erfahrungen
einer Unterkategorie gibt, die mit einer Oberkategorie nur beruht. Ein Schema enthält Wissen, das in Form von Leerstel-
unzureichend in Einklang zu bringen sind. Dazu lässt sich len oder Slots organisiert ist. Das Schema eines Vogels ent-
das Bespiel des Pinguins aus der Kategorie „Vogel“ anfüh- hält also Vorstellungen über das Erscheinungsbild („Feder“,
ren. Er kann nicht fliegen, obwohl dies in der hierarchischen „Schnabel“), was ein Vogel typischerweise macht (“fliegen“),
Oberkategorie so festgelegt ist und gehört aber trotzdem der welchen Lebensraum („Baum“, „Nest“) er bewohnt und dass
Kategorie „Vogel“ an. Auf Basis dieser Kritik wurde diskutiert, er einer übergeordneten Kategorie zuzuordnen ist („Tiere“).
wie zwingend bzw. genau derartige Kriterien eingehalten sein Gibt es unterschiedliche Exemplare eines Schemas, können
müssen. Ferner wurde festgestellt, dass es damit Konzepte die jeweiligen Ausprägungen der Attribute in die Leerstellen
gibt, die sehr typische und eher untypische Vertreter haben oder Slots eingefügt werden. So könnten in den Slots „na-
(Rosch 1975). Z. B. zählen Amsel und Kanarienvogel im Be- türlicher Lebensraum“ zu den Schemata von „Amsel“ und
reich der Kategorie Vogel zu den typischen, Pinguin, Strauß „Pinguin“ jeweils unterschiedliche Begriffe stehen, bei Amsel
und Huhn eher zu den untypischen Vertretern. Die Zuge- z. B. „gemäßigte Zonen Mitteleuropas, Nordafrika und südli-
hörigkeit von Objekten zu einer Kategorie ist also nicht klar ches Australien“, hingegen bei Pinguin „Küstengewässer der
definiert und kann über unterschiedliche Personen hinweg Antarktis, Neuseelands, Südafrikas und südliches Australi-
schwanken. en“. Für die typischen Ausprägungen eines Schemas gibt es
In semantischen Netzwerken werden nur Eigenschaften Standard- oder Defaultwerte, diese sind aber nicht zwingend,
der jeweiligen Konzepte relativ statisch und ohne Berücksich- lassen also Ausnahmen zu, beziehungsweise können über-
tigung des Kontextes gespeichert. Damit werden derartige schrieben werden. Der Standardwert des Schemas „Vogel“
Repräsentationen der tatsächlichen Komplexität der Kon- im Slot „Fortbewegung“ könnte also beispielsweise „fliegen“
zepte nicht annähernd gerecht. Modernere Ansätze greifen bedeuten. Die Standardwerte in den Slots der Schemata bil-
dennoch die ursprüngliche Idee der kategorialen Organisa- den also ab, was Dingen, Objekten oder auch Ereignissen
tion von Wissen auf. Sie betrachten dabei aber die kategoriale in der Regel gemeinsam ist. Trotzdem ist es unproblema-
Zuordnung wesentlich dynamischer bzw. propagieren dyna- tisch, den Pinguin als Exemplar dem Schema „Vogel“ zuzu-
mische neuronale Netzwerke zur Darstellung und Simulation ordnen, da Standardwerte entweder überschrieben werden
der kategorialen Organisation von Bedeutungen (vgl. dazu können oder aber auch Ausnahmen zulassen. Am Beispiel des
einen guten Überblick bei Hoffmann & Engelkamp 2017). Ein „Vogel“-Schemas wird auch deutlich, dass manche Attribute
anderer Weg der Darstellung von Wissen in Netzwerken sind eher wahrnehmungsbezogen („Erscheinungsbild: Federn“),
Schemata. andere eher propositional („Fortpflanzung: legen Eier“) sind.
34 Kapitel 2  Gedächtnis und Wissenserwerb

Manche Forscher gehen auch davon aus, dass episodische ihre Versuchspersonen einzeln in einen typischen Büroraum
Information im Sinne einer persönlichen Erfahrung mit ei- eines Hochschuldozenten und baten diese dann unmittelbar
ner spezifischen Erscheinungsform des Schemas repräsen- in einen anderen Raum. Nun wurden die Versuchspersonen
2 tiert sind („Hansi, mein erster Kanarienvogel“). gebeten, alle Gegenstände aus dem Dozentenzimmer aufzu-
Schemata ermöglichen es zum einen, Vorhersagen über schreiben, an die sie sich noch erinnerten. Brewer und Treyens
die Ausprägung von Attributen eines Gegenstandes vorzu- nahmen an, dass alle Gegenstände, die zu dem Frame über
nehmen, auch dann, wenn diese Information aktuell nicht Büros von Dozenten passten, relativ gut wiedergegeben wer-
verfügbar ist. Zum anderen können Informationen zu einem den sollten. Hingegen sollten Gegenstände, die normalerweise
aktuell wahrgenommenen Geschehen aus den entsprechen- nicht mit einem Dozentenbüro in Verbindung gebracht wer-
den Schemata ergänzt werden, wie das folgende Beispiel frei den, schlechter behalten werden. Zusätzlich erwarteten sie,
nach Rumelhart und Ortony (1977) deutlich macht: dass Gegenstände, die man gemeinhin mit einem Büroraum as-
4 Sarah hörte das Eisauto kommen. soziiert, die aber nicht in der aktuellen Versuchsanordnung zu
4 Sie erinnerte sich an das Taschengeld. finden waren, fälschlicherweise von den Probanden genannt
4 Sie lief rasch in das Haus. werden würden. Alle drei Annahmen ließen sich empirisch be-
stätigen. Interessanterweisewurden tatsächlich Dinge von den
Wahrscheinlich lassen sich folgende Annahmen über Sarah Versuchspersonen „ergänzt“, die sich nicht im Dozentenzim-
anstellen: Sarah hat Lust auf Eiscreme und will sich welche mer befanden, die man aber normalerweise dort vermutet (z.B.
am Eisauto kaufen. Eiscreme kostet aber Geld. Sarah hat Ta- Bücher, Aktenregal).
schengeld, dieses ist aber im Haus. Sarah hat eine begrenzte
Zeit, bevor das Eisauto wieder abfährt, und muss sich daher Die Befunde von Brewer und Treyens (1981) legen dar,
beeilen, das Geld aus dem Haus zu holen. dass Schemata und Frames nicht nur bei aktuellen Problem-
Auch wenn sich die Geschichte anders zutragen kann, stellungen und Wahrnehmungen helfen, sondern auch beim
ist es doch wahrscheinlich, dass die Annahmen zutreffen, Abruf von episodischer Informationen aus dem Langzeitge-
auch wenn keine oder nur wenig explizite Information zu dächtnis. Gerade wenn Teile der Erinnerung nicht mehr ver-
den Annahmen in den drei Sätzen zu finden sind. Hierbei fügbar sind, wird die „Standardinformation“ aus den Schema-
wird deutlich, dass Schemata es ermöglichen, fehlende Infor- ta/Frames zur Wissensrekonstruktion genutzt. Ein weiteres
mation auf Basis der vorhandenen Information zu ergänzen Beispiel für Schemata, die im Bereich von Handlungsfolgen
und adäquat in den Kontext zu rücken. Das Potenzial von die Informationsverarbeitung erleichtern, sind sogenannte
Schemata liegt nicht nur in der Ergänzung von fehlender In- „Skripts“.
formation bei alltäglichen Schilderungen, sondern auch in
der Anwendung bei Problemlöseprozessen. So lässt sich die1 Skripts – Schemata für Handlungsfolgen
Abstraktion eines bereits erfolgreich bewältigten Problemlö- Neben den Schemata über Personen, Objekte und visuell-
seprozesses, z. B. der Lösung einer mathematischen Dreisatz- räumliche Repräsentationen, existieren auch Modellannah-
aufgabe, bei ähnlichen Problemstellungen erneut anwenden. men darüber, wie Informationen zum typischen Ablauf von
Dies geschieht indem die Spezifika einer aktuellen Problem- Handlungen und Ereignissen in Schemata oder sogenannte
stellung mit den Standardwerten des Schemas verglichen und Skripts (Schank & Abelson 1977) repräsentiert werden kön-
dann eingesetzt werden. Z. B. werden Slots der abstrakten Va- nen. Jeder Mensch hat derartige prototypische Ereignisfol-
riablen des Dreisatzes mit konkreten Zahlen der aktuellen gen als verallgemeinerbare Handlungsschemata individuell
Problemstellung ausgefüllt. repräsentiert. Bower, Black und Turner (1979) baten Ver-
Es existieren aber nicht nur Schemata zu verbalisierbarer, suchspersonen, typische Ereignisfolgen wie z. B. den Ablauf
abstrakter Information, sondern auch zu visuellen Bereichen. eines Restaurantbesuches zu schildern. Zwar fanden sie kei-
Diese werden als Frames bezeichnet und stellen Schemata ne absolute Übereinstimmung der einzelnen Schilderungen
über Gegebenheiten in der physischen Welt wie z. B. Be- – keine einzige Handlung wurde von allen Versuchspersonen
standteile eines Gebäudes (Dach, Fußboden, Fenster, Türe übereinstimmend genannt – trotzdem waren beträchtliche
usw.) und entsprechenden Slots über die Beschaffenheit und Gemeinsamkeiten in den Schilderungen zu finden. So gaben
das Zusammenspiel dieser Gegebenheiten („Ein Wohnhaus mehr als 70 % der Befragten an, dass zu einem normalen Re-
ist aus Holz, Stein, Mörtel, Metall usw. gebaut.“; „Durch die staurantbesuch Tätigkeiten wie „Platz nehmen, Speisekarte
Tür betritt man ein Wohnhaus.“) dar. Derartiges Wissen ge- lesen, Essen bestellen, Essen, Zahlen und Gehen“ zum Stan-
währleistet eine schnelle und ressourcenschonende visuelle dardablauf gehören.
Informationsverarbeitung und das Erschließen von Kontext- Skripts beeinflussen in gleicher Weise wie alle Arten von
information (7 Studie). Schemata die Enkodierung und das Speichern von ereig-
nisbezogenen Informationen. Fehlende Informationen wer-
Studie: Die Bedeutung von Frames bei der Rekonstruktion den ergänzt und Erwartungen über die nächste Teilhandlung
von visuell-räumlichen Gedächtnisleistungen werden abgeleitet. Dies ermöglicht eine ressourcenschonen-
Brewer und Treyens (1981) haben die Bedeutung von Frames de Bewältigung alltäglicher Handlungsabläufe und entspre-
für die Wahrnehmung von Szenen und die visuelle Gedächt- chend dem Kontext angemessene Verhaltensweisen, da über
nisleistung auf eindrucksvolle Weise nachgewiesen: Sie führten Skripts Informationen darüber verfügbar sind, was in einer
2.3  Komponenten des menschlichen Gedächtnisses
35 2
Situation zu erwarten, zu tun aber auch zu unterlassen ist. die Annahmen und Vorhersagen auf Basis des mentalen Mo-
Eine weitere Funktion von Skripts besteht darin, neuarti- dells nicht zu, kann das mentale Modell entweder verworfen
ge Handlungsabläufe auf Basis ähnlicher Handlungsabläufe und durch ein alternatives Gegenmodell ersetzt werden oder
leichter zu internalisieren. Dies geschieht, indem vergleich- entsprechend der in der Wirklichkeit vorgefundenen Gegen-
bare Teilhandlungen aus bereits vorhanden Skripts übernom- evidenz modifiziert werden. Gerade für das Ausgangsbei-
men werden. So konnten Studierende, denen eine unbekann- spiel fehlerhafter physikalischer Konzepte/mentaler Modelle
ten Erzählung präsentiert wird, nicht nur fehlende Angaben ist die Rolle des Lehrenden von enormer Bedeutung. Im Rah-
im Erzählungsverlauf ergänzen, sondern auch ungeordnete men des Conceptual-Change-Ansatzes (vgl. eine Übersicht bei
Erzählungen, deren Ablauf in der Reihfolge nicht gängigen Vosniadou & Mason 2012) wird thematisiert, mit welchen
Erzählschemata gehorcht, diese ohne Schwierigkeiten verste- Lehrmethoden eine Veränderung fehlerhafter Konzepte bzw.
hen und zusammenfassen (vgl. Kintsch, Mandel & Kozmins- mentaler Modelle initiiert und unterstützt werden kann.
ky 1977). Das bedeutet, dass Skripts für das Textverstehen
eine Rolle spielen, da über sie fehlende Informationen er-1 Metakognitives Wissen
gänzt werden können. Das birgt auf der anderen Seite auch Die Begriffe „Metakognition“ und „Metagedächtnis“ wurden
die Gefahr, dass durch die Ergänzung von Informationen in den 1970er Jahren von Flavell in die wissenschaftliche Li-
durch Skripts auch spezifische Gedächtnisfehler „rekonstru- teratur eingeführt. Die Vorsilbe „Meta“ soll andeuten, dass
iert“ werden, also Informationen abgeleitet werden, die so in es sich um höherrangige, übergeordnete Prozesse der Kogni-
einem Text oder einer Handlung nicht vorhanden waren (vgl. tion handelt. Metakognition wird oft als das „Denken über
Owens, Bower & Black 1979). das Denken“ oder als „Wissen über das Wissen“ dargestellt.
Insofern nimmt metakognitives Wissen eine Sonderstellung
1 Mentale Modelle – subjektive Abbilder des ein, da es unter anderem das Wissen über den Wissenserwerb
Funktionierens der Welt thematisiert. Flavell (1979) charakterisiert Metakognition ge-
Die Forscher Michael McCloskey und Deborah Kohl (1983) nerell als Wissen einer Person über kognitive Zustände und
baten studentische Versuchspersonen um eine Vorhersage in Prozesse, wenngleich diese Zustände und Prozesse der Person
einer klassischen Physikaufgabe zum Impulserhaltungssatz: nicht notwendigerweise bewusst sein müssen. Metakogni-
Ein in einer spiralförmigen Röhre beschleunigter Ball tritt aus tives Wissen wird auch weiter nach den unterschiedlichen
der Röhre aus. Die Frage lautete, ob sich dieser Ball nach dem Bereichen der Kognition, also z. B. Wissen über die Aufmerk-
Austritt aus der Röhre spiralförmig, bogenförmig oder gera- samkeit oder das Gedächtnis („Metagedächtnis“) differen-
deaus bewegt. Über die Hälfte der Befragten vermuteten, dass ziert.
sich der Ball nicht geradeaus – die richtige Antwort – son- Generell wird in Analogie zu verschiedenen Formen des
dern bogen- oder spiralförmig aus der Röhre heraus bewegen Langzeitgedächtnisses zwischen deklarativem und prozedu-
würde. Dabei griffen offensichtlich viele der Studierenden ralem metakognitiven Wissen als Wissensformen über das
auf erfahrungsbasierte, naive physikalische Konzepte zurück. Gedächtnis unterschieden (vgl. Lockl & Schneider 2007).
Johnson-Laird (1983) bezeichnet diese als mentale Modelle. Deklaratives metakognitives Wissen wird noch weiter ausdif-
Unter mentalen Modellen versteht man subjektive Repräsen- ferenziert in Wissen zu Strategien-, Aufgaben- und Personen-
tationen von relevanten Faktoren und ihrem Zusammenwir- variablen. Unter Personenvariablen können Charakteristika
ken in der konkreten Welt. Darunter fallen z. B. physikalische der eigenen Person oder anderer Personen verstanden wer-
und soziale Prozesse sowie deduktive oder induktive Schluss- den. Darunter fallen Vorstellungen über Stärken und Schwä-
folgerungen. Mentale Modelle werden wie Schemata, Skripts chen in Bezug auf die eigene Kognition, also beispielsweise,
oder Frames erfahrungsbasiert generiert. Gegenüber diesen dass man sich bildhafte Information nur schwer merken kann
stellen sie Modellvorstellungen über das dynamische Zusam- aber ein relativ gutes Gedächtnis für Zahlen hat, oder dass
menwirken von Zuständen, Bedingungen für diese Zustände ein Mitglied der eigenen Lerngruppe sehr gerne abends lernt,
und Funktionen in komplexen Systemen dar. Dazu können man selbst aber eher am frühen Morgen gut lernen kann.
neben den bereits erwähnten naiven physikalischen Kon- Aufgabenvariablen beziehen sich auf Informationen, die ei-
zepten z. B. auch Modellvorstellungen über die Dynamik in ne Lernanforderung erschweren oder vereinfachen, z. B. die
Gruppen, implizite psychologische Annahmen zur mensch- Länge einer zu lernenden Vokabelliste oder die scheinbare
lichen Intelligenz oder über das Funktionieren komplexer Vertrautheit italienischer Vokabeln durch ihre Ähnlichkeit
technischer Geräte gezählt werden. Mentale Modelle füh- mit bereits bekannten lateinischen Begriffen. Strategievaria-
ren zu analogen und realitätsnahen Repräsentationen, die im blen beinhalten Wissen über Enkodierungs- und Abrufstra-
Arbeitsgedächtnis verarbeitet und im deklarativem Langzeit- tegien, also die Kenntnis warum es sich beispielsweise um
gedächtnis abgelegt werden (Johnson-Laird 1983). Mentale eine Elaborationsstrategie handelt und in welchem Zusam-
Modelle sind weniger komplex als die Ihnen zugrundeliegen- menhang man diese lernförderlich einsetzen kann. Dieser
de Wirklichkeit. Johnson-Laird führt dies vor allem auf die Wissensbereich wird gelegentlich als eigenständige Form be-
begrenzten Arbeitsgedächtnisressourcen zurück, die bei der zeichnet, das sogenannte konditionale metakognitive Wissen.
Generierung mentaler Modelle eine Rolle zu spielen schei- Dazu zählt auch die Kenntnis, warum z. B. manche Strate-
nen. Sie werden, wie im obigen Beispiel, zur Ableitung von gien in einem bestimmten Kontext besser funktionieren als
Schlussfolgerungen und Vorhersagen hinzugezogen. Treffen andere. Prozedurales metakognitives Wissen wird als relativ
36 Kapitel 2  Gedächtnis und Wissenserwerb

unabhängig vom deklarativen metakognitiven Wissen ange- mationen. Beide Arten des Abrufs lassen sich exemplarisch
sehen. Es umfasst die Fähigkeit zur Überwachung, Regulati- anhand einer schulischen Prüfungssituation erklären. In ei-
on und Kontrolle von kognitiven Tätigkeiten, oder allgemein: ner typischen Multiple-Choice-Aufgabe werden einem Prüf-
2 das Wissen, wie die Steuerung von kognitiven Vorgängen vor- ling neben einer Frage – auch Itemstamm genannt – (z. B.:
zunehmen ist (vgl. Nelson & Narens 1994). Vor allem die „Welche der folgenden Städte liegt/liegen in Europa?“) meh-
Überwachung (Monitoring) und die Kontrolle von Lern- und rere Antwortmöglichkeiten angeboten (z. B.: „A New York;
Gedächtnisprozessen ist dabei in den Fokus der Forschung B Paris; C Rom; D Sydney“). Aus dieser Auswahl muss der
gerückt. Überwachungsvorgänge ermöglichen das Beobach- Prüfling nun die richtigen Antworten – auch Targets ge-
ten und Reflektieren eigener kognitiver Prozesse, helfen al- nannt – (in diesem Fall: Antworten B und C) identifizieren
so einem Lernenden sich den momentanen Zustand eines und von den falschen Antwortmöglichkeiten trennen, die als
Lernvorgangs in Relation zum gesetzten Ziel zu vergegen- Distraktoren bezeichnet werden (Antworten A und D). Die
wärtigen. Beispielsweise kann eine Person das Gefühl haben, Informationen müssen also nur aus einer Auswahl wiederer-
trotz mehrmaligen Lesen einen Text noch nicht verstanden kannt (Rekognition) werden. Dies ist in der Regel leichter, als
zu haben oder bei nur einmaligem Wiederholen eine Liste die Informationen zu erinnern bzw. zu reproduzieren. Beim
von Vokabeln bereits verinnerlicht zu haben. Demgegen- Wiedererinnern (Recall) gibt es keine Hinweise außer der
über sind metakognitive Kontrollvorgänge die Entscheidun- entsprechenden Frage (z. B.: „Nennen Sie vier Städte, die in
gen und Handlungen, die aufgrund der Überwachungsakti- Europa liegen!“). Daher ist die Leistung in Gedächtnisun-
vitäten bewusst oder unbewusst getroffen werden. Ist einer tersuchungen bei Recall-Aufgaben fast immer schlechter als
Person nach mehrmaligem Durchlesen durch die Überwa- in Rekognitions-Aufgaben (vgl. auch weitere Unterscheidun-
chungsaktivitäten bewusst geworden, dass sie den Text noch gen und typische experimentelle Anordnungen zur Untersu-
nicht verstanden hat, wird sie im Rahmen der Kontrollakti- chung des Abrufs aus dem Gedächtnis; 7 Im Fokus).
vitäten den Text entweder nochmals lesen oder zusätzliche
Strategien zum besseren Textverständnis anwenden. In den Im Fokus: Typische Lern- und Gedächtnisexperimente
letzten Jahren gab es auch Versuche, bestimmte Teilbereiche
des metakognitiven Wissens weiter zu spezifizieren oder zu Normalerweise lassen sich in Lern- und Gedächtnisexperi-
erweitern (vgl. Efklides 2008). So wurden metakognitive Teil- menten drei Phasen unterscheiden:
bereiche postuliert, in denen epistemologische Überzeugun- 1. Präsentations- oder Studierphase
gen thematisiert werden, also die Frage danach, was Wissen 2. Behaltens- oder Retentionsphase
überhaupt ist, auf welche Weise es erworben wird und was die 3. Abruf- oder Behaltenstestphase
Qualität und den Anspruch an Wissen definiert (vgl. Khine In der Präsentations- oder Studierphase (Enkodierphase)
2008). werden Stimuli präsentiert, die von der jeweiligen Ver-
Die Bedeutung metakognitiven Wissens wird sowohl im suchsperson gespeichert werden müssen. Als typische
Rahmen der kognitiven Entwicklung als auch für Beschrei- Reize (Items) kommen hier klassischerweise verbale Stimuli
bung interindividueller Unterschiede bei Lernvorgängen im- in Form von Wortlisten, Wortpaaren, Zahlenreihen oder
mer wieder betont. Bereits ab dem Kindergartenalter ist auch sinnarme Silben zum Einsatz. Möglich ist auch die
metakognitives Wissen rudimentär nachweisbar, mit zuneh- Präsentation von visuellen oder räumlichen Informationen
mender Erfahrung im Bereich der Kognition und steigender wie Bildern, Formen, Bewegungsmustern oder Wegen.
Beschulungsdauer nimmt nicht nur die Anzahl verfügbarer Dabei können die Items einmalig oder mehrmalig für eine
Strategien zu, sondern auch die Selbsteinschätzung eigener festgesetzte Dauer präsentiert werden, oder solange, bis
kognitiver Prozesse wird immer realistischer. Schneider und eine Versuchsperson alle Items gelernt hat.
Pressley (1997) haben in ihrem Konzept des „guten Infor- Daran schließt sich die zweite Phase, die Behaltens- oder
mationsverarbeiters“ exemplarisch herausgestellt, in welcher Retentionsphase an, in der die zu merkende Information im
Weise metakognitives Wissen bei der Planung und Kontrolle Gedächtnis behalten werden soll. Die Dauer dieser Phase ist
von Lernvorgängen eine herausragende Rolle spielt. experimentell variierbar und reicht von wenigen Sekunden
bis zu mehreren Stunden oder Tagen. Ungewöhnlich sind
längere Zeiträume wie Wochen oder gar Jahre. Fällt die
2.4 Modellannahmen zu Erinnerungs- und Behaltensphase komplett weg – was für Kurzzeit- oder
Vergessensprozessen Arbeitsgedächtnisuntersuchungen häufig der Fall ist –
schließt sich die Abruf- oder Behaltenstestphase direkt an
das Enkodieren in der Präsentations- und Studierphase
2.4.1 Abruf vs. „Wiedererinnern“ an. Dann spricht man von unmittelbarer Reproduktion
oder unmittelbarem Abruf. Im Behaltenstest gibt die
Um die Bedeutung des Vergessens für Lernprozesse zu ver- Versuchsperson all das wieder, was sie aus der Enkodierung
deutlichen, muss zunächst auf das Abrufen von Informatio- während der ersten Phase (Studierphase) noch behalten hat.
nen aus dem Langzeitgedächtnis eingegangen werden. Ge- Hier sind unterschiedliche Abrufanforderungen möglich:
nerell unterscheidet man dabei zwischen Wiedererinnern
(Recall) und dem Wiedererkennen (Rekognition) von Infor-
2.4  Modellannahmen zu Erinnerungs- und Vergessensprozessen
37 2
Zielreizes gelingen. Werden in der Abrufphase Hinweisreize
Entweder fordert man die Versuchsperson dazu auf, ohne aktiviert, „springt“ die Aktivierung auf den Zielreiz über und
Rücksicht auf die ursprüngliche Darbietungsreihenfolge erleichtert so den Abruf dieser Informationen. Hinweisreize
alles ungeordnet wiederzugeben (Free Recall). Soll beim stellen damit Abrufhilfen dar und sind dann besonders wirk-
Abruf auch die Darbietungsreihenfolge mitberücksichtigt sam, wenn sie plausibel zum Zielreiz „passen“. Das können
werden, spricht man von einem Serial Recall. Werden zunächst einmal Informationen sein, die – um das Konzept
Stimuluspaare (z. B. Wortpaare wie „Hund – Knochen“) der Verarbeitungstiefe aufzugreifen – zusätzliche phonologi-
gelernt (z. B. beim Paar-Assoziationslernen), kann einer sche oder semantische Hinweise zum Zielreiz liefern: etwa
der beiden Stimuli als Hinweisreiz (Cue) fungieren und der den Klang der Stimme der Lehrkraft beim Vorlesen der Wör-
andere muss entsprechend wiedergegeben werden (Cued ter oder persönliche Assoziationen, wie etwa die Vorstellung,
Recall). Müssen in der Abrufphase die zu erinnernden Items wie sich eine Katze anfühlt („weiches, flauschiges Fell“) oder
aus einer Menge anderer Reize (Items) korrekt identifiziert wie ein Apfel schmeckt („süß und saftig“) oder wie das ty-
werden, spricht man vom Wiedererkennen (Rekognition). pische Erscheinungsbild des zu merkenden Items aussieht.
Die Behaltensleistung ergibt sich aus der Anzahl der Dabei spielt nicht nur die Plausibilität der Relation zwischen
korrekt erinnerten Reize beim Wiedererkennen bzw. beim dem Zielreiz und den Hinweisreizen eine Rolle, sondern
Wiedererinnern. auch, mit welcher Güte diese miteinander verknüpft wurden.
Die Verknüpfung hängt von der Zeit und den dafür aufge-
wandten Aufmerksamkeitsressourcen bei der Enkodierung
Theoretisch wird dieser Unterschied des Abrufs von In- ab. Aber auch situative Aspekte wie der allgemeine Zustand
formationen aus dem Langzeitgedächtnis über die unter- des Lernenden während der Enkodierung spielen eine Rolle.
schiedliche Art und Komplexität der jeweils beteiligten Pro- Dabei wird unter Zustand in diesem Zusammenhang sowohl
zesse erklärt. Werden beim Wiedererinnern von Items aus die innere Befindlichkeit einer Person (Emotionen, Bedürf-
einer gelernten Wortliste (z. B. Vokabelliste) zuerst potenziel- nisse, Motive, Bewusstseinsinhalte) als auch die außerhalb
le Itemkandidaten generiert (Generierungsphase) und dann der Person liegenden Bedingungen (Temperatur, alleine vs.
geprüft, ob diese tatsächlich in der Liste vorkamen (Reko- in Gesellschaft, Umgebung etc.) verstanden. So wurde von
gnizierungsphase), reicht hingegen beim Wiedererkennen Godden und Baddeley (1975) eindrucksvoll nachgewiesen,
eine einfachere Rekognitionsphase. In der dargebotenen Lis- dass Taucher, die Wortlisten unter Wasser lernten, diese auch
te von Antwortalternativen muss/müssen lediglich der oder unter Wasser besser abrufen konnten als an Land. Gleiches
die „richtige(n)“ Inhalt(e) erkannt werden. Das bedeutet, galt für Wortlisten die an Land gelernt wurden: Diese wur-
dass beim Wiedererinnern in der Regel zwei Prozessphasen den besser an Land als unter Wasser wiedergegeben. Neben
durchlaufen werden müssen, beim Wiedererkennen hinge- derartigen Befunden zu den Umgebungsvariablen wurde ei-
gen nur eine. Zum Verständnis des Unterschieds zwischen ne Reihe von Studien zur Rolle des physiologischen Zustands
Recall und Rekognition ist es notwendig, das Prinzip der von Lernenden bei Enkodierung und Abruf durchgeführt.
Enkodierspezifität (Tulving & Thomson 1973) einzuführen, Ähnlich spektakulär wie der Befund von Godden und Bad-
das mit dem Abruf von Information eng verknüpft ist. Dies deley mutet die Erkenntnis aus der Studie von Goodwin und
besagt, dass das Gelingen eines Abrufs vom Ausmaß der Ähn- Kollegen an (Goodwin, Powell, Bremer, Hoine & Stern 1969).
lichkeit von Enkodier- und Abrufsituation abhängt. Prinzi- Sie fanden, dass Informationen, die im betrunkenen Zustand
piell ist damit gemeint, dass neben der Enkodierung des zu gelernt wurden, auch besser in einem betrunkenen als in
erinnernden Inhalts auch immer weitere Informationen ge- nüchternem Zustand wieder abgerufen werden konnten. Da-
speichert werden, welche als zusätzliche Hinweisreize beim rüber hinaus wurde auch die Art des Abrufs untersucht. Der
Abruf der Zielreize fungieren können. Dabei ist es entschei- Effekt zeigte sich dann stärker, wenn das zu lernende Mate-
dend, welche zusätzlichen Informationen neben der explizit rial wiedererinnert (Recall) werden musste, und schwächer,
zu behaltenden Information noch gespeichert werden, in wel- wenn der Abruf des Zielreizes über eine Rekognitionsanfor-
chem Umfang das passiert und wie sie mit der zu merkenden derung getestet wurde. Aber auch natürliche Änderungen
Information im Zusammenhang stehen. Das Prinzip der Ver- des physiologischen Zustandes wurden im Rahmen des „zu-
besserung des Abrufens durch ähnlichen Lern- und Erinne- standsabhängigen Lernens“ untersucht. Miles and Hardman
rungskontext wird Enkodierspezifität genannt (Tulving und (1998) präsentierten eine zu lernende Wortliste und teilten
Thomson 1973). Müssen z. B. italienische Wörter wie „tavolo“ ihre Versuchspersonen in zwei Gruppen auf: Eine Gruppe
(Tisch) oder „mela“ (Apfel) aus einer dargebotenen Wortlis- lernte die Wortliste in einer Ruhebedingung, die andere un-
te behalten werden, gelingt ein späterer Abruf in der Regel ter physiologischer Anstrengung – sie mussten auf einem
besser, wenn mit den beiden Wörtern auch noch zusätzliche, Fahrrad-Ergometer sitzend ihren Puls konstant zwischen 120
sie unmittelbar betreffende Informationen gespeichert wer- und 150 bpm (Schlägen pro Minute) halten. Es zeigte sich,
den. Im Falle des Apfels, könnten dies visuelle Informationen dass die Wortlisten besser abgerufen werden konnten, wenn
wie seine Farbe oder Form sein, im Falle des Tischs, seine Far- die physiologischen Zustände von Enkodierung und Abruf
be („braun“), das Material („Nußbaumholz“) und seine Form übereinstimmten. Wurden in Ruhe gelernte Information im
(„rund“). Je mehr zusätzliche relevante Hinweisreize mit en- Zustand der erhöhten Herzrate abgerufen, führte dies zu Leis-
kodiert werden, desto besser kann der spätere Abruf des tungseinbußen von ca. 20 %. Gleiches galt für Abruf von
38 Kapitel 2  Gedächtnis und Wissenserwerb

Information in Ruhe, die unter erhöhter Herzrate gelernt nen als wünschenswert zitierte multiple Assoziationsbildung
wurde. Nicht nur der physiologische Zustand, sondern auch bedeutet nichts anderes, als dass über Assoziationen zwischen
die Stimmungskongruenz des Lernenden zwischen Enkodie- vielen Hinweisreizen und einem Zielreiz die Wahrscheinlich-
2 rung und Abruf wirkt sich auf die Lernleistung aus. Eich, keit für einen erfolgreichen Abruf steigt.
Macaulay und Ryan (1994) konnten in einem Experiment zei-
gen, dass das, was man in gehobener Stimmung lernt, auch
entsprechend besser in gehobener Stimmung erinnert wird.
Bei dem Transfer des Prinzips der Enkodierspezifität auf 2.4.2 Vergessen
schulische Lernsituationen, soll zunächst nochmals betont
werden, dass dieses Prinzip in stärkerem Maß beim Wieder- Im Kontext von Lernprozessen ist nicht selten zu beobach-
erinnern und weniger beim Wiedererkennen eine Rolle zu ten, dass der Abruf nur teilweise oder gar nicht gelingt. Dieses
spielen scheint. Dieser Sachverhalt kann z. B. bei der Gestal- Phänomen wird als Vergessen bezeichnet und bedeutet, dass
tung von Prüfungen eine Rolle spielen, indem beiden Ab- Informationen aktuell nicht verfügbar sind. Für die Lernen-
rufarten oder je nach Fragestellung einer der beiden stärker den bleibt unklar, ob die Information nur nicht abrufbar ist
Rechnung getragen wird. Die Übertragbarkeit der Befunde oder für immer aus dem Gedächtnis verloren ist. Das Phä-
hat, wie so oft in der kognitiven Psychologie, auch eine ge- nomen des Vergessens spiegelt aber lediglich die Ökonomie
wisse Einschränkung: Oft wurden Befunde im Labor anhand des Gedächtnisses wieder: Gedächtnisinhalte, die scheinbar
von Wortlisten und inhaltlich nur eingeschränkt zusammen- wenig Bedeutung für die Informationsverarbeitung haben,
hängendem Stimulusmaterial gewonnen. Damit wird mögli- werden möglicherweise vergessen. Das Langzeitgedächtnis
cherweise die Rolle assoziativer Verknüpfungen von neuem (7 Abschn. 2.3.5) besitzt zwar eine schier unbegrenzte Spei-
mit bereits bestehendem Wissen in Untersuchungen zur En- cherkapazität, hingegen scheint die Fähigkeit zum Abruf ei-
kodierspezifität nicht adäquat eingeschätzt. Im Schulalltag ner Begrenzung zu unterliegen (Bjork 2011). Gäbe es diese
dürfte es schwierig sein, eine vollständige situative Passung begrenzte Abrufkapazität nicht, würden wir uns an alles erin-
zwischen der Lern- und Prüfungsumgebung herzustellen. Ei- nern und in der unbegrenzten Erinnerung „untergehen“. Um
ne weitere Möglichkeit, die im Zusammenhang gerade mit im Hier und Jetzt sinnvoll und effizient agieren zu können,
älteren Schülerinnen und Schülern diskutiert wird, besteht müssen wir bestimmte Sachverhalte problemlos erinnern, an-
darin, sich mental in den Zustand der Enkodiersituation hin- dere jedoch unterdrücken oder scheinbar vergessen. Deswe-
einzuversetzen (vgl. Smith 1984). Eine derartige Technik wird gen wird durch den oftmaligen Abruf bestimmter Informati-
beispielsweise auch bei der Befragung von Augenzeugen im on (z. B. das täglich mehrmals benutzte Computerpasswort)
Rahmen des „Kognitiven Interviews“ eingesetzt. Hier werden auch deren Verfügbarkeit erhöht. Seltener benutzte Informa-
Zeugen aufgefordert, sich kognitiv und emotional in die Be- tion wird hingegen unzugänglicher. Das heißt aber nicht, dass
obachtungssituation zurückzuversetzen und die Situation so sie für immer verschwunden ist, sie rutscht quasi in den Hin-
gut wie möglich akustisch und visuell vorzustellen. Um mög- tergrund und kann bei Bedarf wieder reaktiviert werden. Der
lichst viele Hinweisreize zu aktivieren, sollen alle verfügbaren Vorteil dabei ist, dass seltener benutzte Information nicht
Details berichtet werden. Auch nebensächliche oder unwich- den Abruf von häufiger benutzter Information stört. Verges-
tig erscheinende Details sollen dabei nicht ausgelassen wer- sen wird in der experimentellen Gedächtnispsychologie über
den. Das Ziel dieser Technik besteht darin, über Abrufhilfen das Verhältnis von gelernter und abgerufener Information
möglichst viele Gedächtnisspuren zu reaktivieren. Im Unter- operationalisiert. Seit Ebbinghaus wird dabei oftmals unter-
schied zu einer Zeugenbefragung kann in einer schulischen sucht, wie Vergessen über die Zeit verläuft. Zwei bekannte
Lernsituation eine Lehrkraft bereits auch auf die Enkodier- Phänomene, die das Vergessen von seriellen, also die Reihen-
phase Einfluss nehmen. So kann hier gezielt versucht werden, folge betreffende Informationen über die Zeit angehen, sind
möglichst viele Hilfsreize in der Enkodierphase zur Verfü- die sogenannten Primacy- und Recency-Effekte. Beide Effekte
gung zu stellen und den Abruf von Zielreizen entsprechend können im Rahmen des seriellen Wiedererinnerns (Serial Re-
zu erleichtern. Ferner ist es möglich, Imaginationstechniken call) auftreten: Versuchspersonen werden aufgefordert, seriell
wie die Loci-Technik einzuführen. Hier werden in der En- präsentierte Informationen (z. B. Items einer Wortliste) in der
kodiersituation zu behaltende Inhalte mit Plätzen an einem Reihenfolge, in der die einzelnen Listenitems gelernt worden
vertrauten Weg (Schulweg) oder Gegenständen in einem be- sind unmittelbar wiederzugeben. Dabei lässt sich durchwegs
kannten Raum (das eigene Arbeitszimmer) verknüpft. Die finden, dass die zuerst (Primacy-Effekt) und die zuletzt dar-
Imagination des Weges und der einzelnen Orte in der Abruf- gebotenen Items (Recency-Effekt) besser behalten werden als
situation stellt dann eine Passung zur Enkodiersituation her die Items der Listenmitte. Im Rahmen der Mehrspeicher-
und erleichtert den Abruf der damit assoziativ verknüpften modelle wurde für den Primacy-Effekt die Speicherung im
Zielreize. Langzeitgedächtnis und für den Recency-Effekt die Speiche-
Die Bildung von Assoziationen als Verknüpfen von neu rung im Kurzzeitgedächtnis verantwortlich gemacht. Bei den
gelernter Information mit bereits vorhandener Information Items des Listenanfangs kann in höherem Maße Rehearsal
ist für das Lernen substantiell. Assoziationen stellen dabei stattfinden, damit dürfte hier die Wahrscheinlichkeit höher
strukturelle Verbindungen zwischen Gedächtnisspuren dar, sein, dass diese in das Langzeitgedächtnis transferiert wer-
die in ihrer Stärke variieren können. Die oftmals für das Ler- den. Die Items am Ende der Liste werden zwar nicht in das
2.4  Modellannahmen zu Erinnerungs- und Vergessensprozessen
39 2
Langzeitgedächtnis transferiert, dürften aber noch im Kurz-
zeitgedächtnis präsent sein und daher erinnert werden. Alter- zum Ausdruck gebracht. Diese Gedächtnisspuren sind
native Erklärungsansätze erklären den Primacy-Effekt damit, anfangs noch störanfälliger und werden mit zunehmender
dass Items am Anfang der Liste mehr Möglichkeiten haben, Konsolidierung immer robuster. Wichtig ist, dass gerade
assoziative Verbindungen mit nachfolgenden Items einzuge- in Konsolidierungsphasen wenig Störung stattfindet.
hen und diese über ein Rehearsal entsprechend zu festigen. Daher wird gelegentlich empfohlen, die Konsolidierung
Der Recency-Effekt lässt sich damit erklären, dass die zuletzt von Lernstoff durch eine Schlafphase zu fördern. Dieser
dargebotenen Wörter einer Liste sich besser unterscheiden Ratschlag geht auf die klassische Studie von Jenkins
lassen, da ihnen nur wenige weitere Items folgen. In den und Dallenbach (1924) zurück. Ihre Versuchspersonen
folgenden drei Unterkapiteln soll Vergessen aus gedächtnis- vergaßen nach einer Lernphase weniger, wenn sie vor dem
psychologischer Sicht erklärt werden. Abruf schliefen, als wenn sie wachblieben. Die Bedeutung
des Schlafs als Konsolidierungsphase nach einer Lernphase
blieb jedoch nicht unumstritten. Hockey und Kollegen
2.4.3 Vergessen als Zerfall von gingen z. B. davon aus, das Lernen dann besonders ef-
fizient und nachhaltig ist, wenn es in hohen kognitiven
Gedächtnisspuren vs. Konsolidierung
Aktivierungszeiten stattfindet (Hockey, Davies & Gray
im zentralen Nervensystem 1972). Derartige Aktivierungsphasen, so ihre Überlegung,
finden möglicherweise vor einer Schlafphase statt. Um
In einer der verbreitetsten Sichtweisen wird Vergessens als dieses Überlegung zu testen, untersuchten die Autoren
Verblassen von Gedächtnisinhalten oder als Zerfall von Ge- Collegestudierende. Deren höchste Aktivierungszeit lag
dächtnisspuren aufgefasst. Damit verbunden ist die Grund- tatsächlich in den frühen Abendstunden. Wurden die Stu-
annahme, dass der Verlust von Gedächtnisinhalten unwie- dierenden gebeten, die gelernten Inhalte im Anschluss an
derbringlich ist und ein Phänomen darstellt, das mit zuneh- eine Aktivierungsphase ohne eine dazwischen eingelegt
mender Zeit zusammenhängt, die verstreicht: Je länger ein Schlafphase wiederzugegeben, schnitten die Studierenden
Ereignis oder zu behaltende Information zurückliegt, desto genauso gut ab wie nach einer Schlafphase. Die Autoren
höher ist die Wahrscheinlichkeit diese nicht wieder zu erin- schlossen daraus, dass das Aktivierungslevel und nicht die
nern. Wird bei Gedächtnisprozessen innerhalb des Kurzzeit- anschließende Schlafphase für die Konsolidierung und
oder Arbeitsgedächtnisses Information nicht durch Wieder- damit die Güte der Lernleistung entscheidend sind.
holung oder andere strategische Prozesse wiederaufgefrischt,
zerfällt sie. Für Informationen, die z. B. durch Wiederho-
lung längere Zeit im Kurzzeit- oder Arbeitsgedächtnis gehal-
ten werden, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass diese in das Die Dauer der Konsolidierung wird unterschiedlich ange-
Langzeitgedächtnis überführt werden. Aus den Neurowis- setzt und reicht von einigen Stunden bis zu mehreren Tagen.
senschaften stammt die Annahme, dass die Information im Die Störanfälligkeit neuer Erinnerungen erscheint nach dem
zentralen Nervensystem einen Erregungskreis aus mehreren Konsolidierungsprinzip erhöht: „Neue Erinnerung sind klar
erregten Neuronenverbänden formt, in denen ein Erregungs- aber fragil und alte Erinnerungen sind verblasst aber ro-
muster – die Information aus dem Kurzzeit- oder Arbeitsge- bust“ (Übersetzung durch die Autoren; Wixted 2004; S. 265).
dächtnis – einige Zeit aufrechterhalten werden kann. Wird Auch wenn länger zurückliegende Erinnerungen mit der Zeit
die Erregungszirkulation gestört, z. B. durch neu eingehende verblassen oder scheinbar verschwinden, ist damit nicht si-
Nervenimpulse, kann keine langzeitige Speicherung erfolgen. cher festzustellen, ob sie tatsächlich dauerhaft verschwunden
Folglich kann die Darbietung ähnlicher oder neuer Inhalte zu sind oder einfach nur nicht verfügbar. Oder um eine oft ge-
Problemen bei der langzeitigen Speicherung von Information brauchte Analogie zu bemühen: Wird ein gesuchtes Buch
führen. Daher wurde Schlaf als ideale Phase für die Erre- (Erinnerung) in einer Bibliothek nicht gefunden, kann dies
gungszirkulation von Information diskutiert (vgl. Jenkins & darauf zurückzuführen sein, dass es nie in die Bibliothek
Dallenbach 1924). aufgenommen wurde (die Erinnerung wurde nie in das Lang-
zeitgedächtnis transferiert). Das Konzept des Spurenzerfalls
(Fading-Theory) und der dauerhafte Verlust von Information
ist allerdings methodisch schwer nachzuweisen. Als Maß, ob
Mythos: Trägt Schlaf nach dem Lernen zum besseren und wann eine Gedächtnisspur zerfällt, wurde die Enkodie-
Behalten von Lernstoff bei? rungsstärke vorgeschlagen (vgl. Bahrick 1984). Information
Gut gemeinte Ratschläge empfehlen Lernpausen nach aus- wird dann stärker enkodiert, wenn sie öfter und/oder tiefer-
gedehnten Lernphasen damit sich Lernstoff „setzen“ kann. gehend enkodiert wird (vgl. dazu den Ansatz zur Verarbei-
Aus den Neurowissenschaften stammt dafür der Begriff der tungstiefe von Craik und Lockhart; 7 Abschn. 2.3.1).
Konsolidierung. Neben dem Übergang von Information Allgemein lassen sich zwei relevante Aspekte zur Gewähr-
in das Langzeitgedächtnis wird damit auch eine „Verfes- leistung einer möglichst dauerhaften Lernleistung ableiten:
tigung“ von ursprünglich flüchtigen Gedächtnisspuren Erstens sollte das Lernen von Information in den Phasen
der höchsten Aktivierung stattfinden und mit ausreichen-
40 Kapitel 2  Gedächtnis und Wissenserwerb

der Möglichkeit eine möglichst hohe Enkodierstärke für den und retroaktive Interferenzeffekte bei der Unterrichtsplanung
Reiz zu produzieren. Damit ist – selbst wenn dies wie ein berücksichtigen lassen. Der gelegentlich in Lehrbüchern vor-
Allgemeinplatz anmutet – ein Plädoyer für aktive, konstruk- zufindende Vorschlag bei der Stundenplanung den Mathe-
2 tivistische Lernformen (7 Kap. 1) als auch eine sinnvolle Por- matikunterricht ob der etwaigen „Ähnlichkeit“ der Inhalte
tionierung des Lernstoffes verbunden (7 Kap. 17). Die Frage, mit dem Physikunterricht nicht aufeinanderfolgen zu las-
zu welcher Tageszeit eine höhere Aktivierung für erfolg- sen, mutet dabei als verkürzt an, da hier nicht im Sinne der
reicheres Lernen anzunehmen ist, lässt sich nicht pauschal Überschneidung konkreter Inhalte, sondern auf Basis kate-
beantworten, sondern muss für jeden Lernenden individu- gorialer Nähe und Verwandtschaft der beiden Fachgebiete
ell beantwortet werden (vgl. dazu den Überblick zu Effek- argumentiert wird. Versucht man die Laborbefunde auf das
ten der Tageszeit bei Anderson 2000). Zweitens spricht dies Vokabellernen in zwei unterschiedlichen Fremdsprachen zu
für ausreichende Konsolidierungsphasen nach entsprechen- übertragen, könnte Interferenz nur dann entstehen, wenn auf
den Lerndurchgängen. Auch wenn der Schlaf wahrscheinlich einen Reiz (z. B. das deutsche Wort „Tisch“) in aufeinander-
nicht das ursächliche Kriterium für eine Konsolidierung dar- folgenden Lerndurchgängen zunächst die englische Vokabel
stellt, kann dort eine „ungestörte“ Konsolidierung noch am („table“) und dann die italienische Vokabel („tavolo“) ge-
ehesten stattfinden. An der Sichtweise von Vergessen als Zer- lernt werden müsste. Bradshaw und Anderson (1982) konn-
fall von Gedächtnisspuren wurde kritisiert, dass diese kei- ten nachweisen, dass ein Interferenzeffekt nur dann auftritt,
ne psychologischen Mechanismen identifiziert, warum es zu wenn die beiden miteinander konkurrierenden Informatio-
diesem Zerfall kommt. nen irrelevanter Natur sind. Sobald die neue mit der alten
Information sinnvoll und kausal in Beziehung stand, trat kein
Interferenzeffekt auf und es ergab sich tendenziell sogar eine
Verbesserung der Lernleistung. Das bedeutet, dass später er-
2.4.4 Vergessen durch Interferenz worbene zusätzliche Information zu einem Sachverhalt, die in
einem Sinnzusammenhang zur früher gelernten Information
Eine weitere theoretische Sichtweise betrachtet Vergessen als steht oder mit dieser vereinbar ist, nicht zu Interferenz führt.
Interferenz einander überlappender Gedächtnisspuren. Das Konkurrieren aber früher und später gelernte Information,
heißt, dass der Zerfall von Information durch das Lernen etwa wenn die eine durch die andere in Frage gestellt oder er-
zusätzlicher Informationen auftritt. Dieser Annahme soll im setzt wird, kann Interferenz auftreten. Beispielsweise kann ein
nächsten Abschnitt nachgegangen werden. Interferenz kann neu eingerichtetes Passwort ein früheres ersetzen und damit
beim Abruf von unterschiedlichen Inhalten im Langzeit- zu Interferenz führen: Das neue Passwort wird nicht erinnert,
gedächtnis auftreten, da sich Gedächtnisspuren überlappen dafür aber das alte (vgl. Baddeley und Hitch 1977).
(7 Abschn. 2.3.5). Das Überlappen von Gedächtnisspuren tritt
eher dann auf, wenn es sich um ähnliche Inhalte handelt. Sol-
len ebendiese Inhalte nun abgerufen werden, interferieren de-
ren Gedächtnisspuren. Hierbei wird unterschieden zwischen 2.4.5 Vergessen durch Abruf von
einer Störung der aktuell zu lernenden oder abzurufenden Wissensinhalten
Inhalte durch früher gelernte Inhalte (proaktive Interferenz)
oder durch später gelernte Inhalte (retroaktive Interferenz). Eine Erklärung für das Vergessen besteht auch darin, dass
Empirische Befunde zu Interferenz (vgl. den Überblick durch das Erinnern einer bestimmten Information der Abruf
bei Anderson & Neely 1996) machen deutlich, dass Interfe- einer anderen Information erschwert wird. Um dieser Frage
renz nicht automatisch dann auftritt, wenn nach einer Lern- nachzugehen, müssen zunächst zwei Aspekte erörtert wer-
phase eine andere Lernphase mit anderem Material einge- den. Der erste Aspekt beinhaltet eine Grundannahme zum
schoben wird. Dazu muss es eine hohe Ähnlichkeit zwischen Vergessen: Information, die es einmal in den Langzeitspei-
den beiden Inhalten in den aufeinanderfolgenden Lernpha- cher geschafft hat, bleibt dort für immer verfügbar. Vergessen
sen geben. Da fast alle Befunde zur Interferenz von Gedächt- würde also damit im Sinne des eingangs bemühten Biblio-
nisinhalten anhand von Laborbefunden mittels verbalen Ma- thekbeispiels bedeuten, dass Information (das Buch in der
terials gewonnen wurden und damit das explizite Gedächtnis Bibliothek) vorhanden ist, der Abruf aber erschwert oder ge-
ansprechen, stellt sich die Frage der Verallgemeinerbarkeit genwärtig nicht möglich ist, da der Zugriff nicht erfolgen
auf andere Gedächtnisinhalte und -systeme. So wird ange- kann (das Buch zwar vorhanden ist, aber nicht gefunden wer-
nommen, dass sowohl innerhalb des impliziten Gedächtnis- den kann, da es z. B. falsch einsortiert wurde). Für den richti-
ses (Lustig & Hasher 2001) als auch im Arbeitsgedächtnis gen Zugriff fehlt der entsprechende Abrufreiz („cue“ oder im
(Lustig, May & Hasher 2001) pro- bzw. retroaktive Interferenz Bibliotheksbeispiel die richtige Information über den aktu-
stattfinden kann. Baddeley, Eysenck und Anderson (2015) ge- ellen Standort des Buchs). Der zweite Aspekt dreht sich um
hen davon aus, dass sich beide Interferenzeffekte auch auf das Phänomen, dass nicht nur das mehrmalige Üben/Wie-
konkrete Lernsituationen außerhalb des Labors anwenden derholen von Lernstoff zu einer besseren Erinnerung führen
lassen, wenn die grundlegenden Faktoren für Interferenz ent- kann, sondern auch der Abruf einer Information zur Festi-
sprechend erfüllt sind. Damit stellt sich die Frage, ob sich gung der Gedächtnisspur dieser Information führt. Das im
für konkrete Lernsituationen beim schulischen Lernen pro- vorherigen Abschnitt zitierte Passwortbeispiel lässt sich auch
2.4  Modellannahmen zu Erinnerungs- und Vergessensprozessen
41 2
in diesem Zusammenhang aufgreifen: Je öfter wir ein Pass- zur Kategorie gestärkt und damit besser erinnert werden (im
wort abrufen und korrekt eingeben, desto besser behalten obigen Beispiel die Assoziation „Früchte – Apfel“; 7 Im Fo-
wir es – mit der bereits erwähnten Konsequenz, dass wir kus). Oder aber, die Assoziation zwischen den nicht geübten
uns manchmal schwertun, ein unmittelbar neu eingerichtetes Reizen und der Kategorie wird geschwächt (im Beispiel die
Passwort zu merken. Dieses Phänomen erklärt übrigens auch Assoziation „Früchte – Birne“; 7 Im Fokus). Der Hinweisreiz
die Persistenz von hartnäckigen Fehlern: Werden Informatio- „Frucht“ im Behaltenstest ruft damit wahrscheinlicher die
nen mehrfach falsch abgerufen, wird durch den fehlerhaften geübten Items hervor. Ein weiterer Ansatz erklärt das abruf-
Abruf die falsche Information gelernt. induzierte Vergessen über einen Hemmungsprozess. Damit
Wie kann es zum erschwerten Abruf von Information die wiederholt abgerufenen Kategorie-Items-Assoziationen
kommen, die eigentlich im Langzeitgedächtnis vorhanden (z. B. „Frucht – Apfel“) leichter erinnert werden können, wer-
ist? Eine Vielzahl von Experimenten zum abrufinduziertem den die nicht abgerufenen Items der Kategorie (z. B. „Birne“)
Vergessen (eines der ersten Experimente dazu wurde von gehemmt. Im abschließenden Behaltenstest wird ihre Verfüg-
Slamecka 1966 durchgeführt) nutzen dazu ein typisches Vor- barkeit damit erheblich reduziert. Egal, wie das abrufindu-
gehen, das sogenannte Paradigma der Abrufübung (7 Im Fo- zierte Vergessen erklärt wird, spiegelt es doch einen funk-
kus). tionalen Aspekt des Gedächtnisses wieder. Öfter benötigte,
wichtige Informationen werden öfter abgerufen als weniger
Im Fokus: Das Paradigma der Abrufübung (Anderson 2003) wichtige Informationen und erhalten damit durch zuneh-
mende Assoziationsstärke Vorrang. Dieses Prinzip spiegelt
Zunächst lernen Versuchspersonen einfache Kategorien- auch eine Effizienzsteigerung bzw. Ökonomie im Umgang
bezeichnungen (z. B. „Früchte“, „Getränke“ oder „Bäume“) mit begrenzten Ressourcen wieder. Dafür spricht auch, dass
und entsprechende Exemplare der Kategorien (z. B. „Apfel“ derartige Abrufhemmungen nicht dauerhaft, sondern nur
oder „Birne“ als Items der Kategorie „Früchte“, oder „Bier“ temporär auftreten: Aus der Studie von Chan (2009) geht her-
und „Wasser“ für die Kategorie „Getränke“). Dann werden vor, dass die Abrufhemmung mindestens 20 Minuten anhält.
die Untersuchungsteilnehmer aufgefordert nur einige Der Effekt kann aber länger anhalten, wenn zwischen Ab-
Exemplare einer Kategorie über Hinweisreize abzurufen rufübung und Behaltensprüfung eine nächtliche Schlafphase
(„Früchte – Ap. . . ?“). Wichtig ist dabei, dass nicht alle Ex- liegt (Abel & Bäuml 2012).
emplare einer Kategorie abgerufen werden und dass es
Kategorien (z. B. „Getränke“) gibt, deren Items überhaupt
nicht abgerufen werden. Nach dieser selektiven Abrufübung Studie: Wie wirkt die Abrufhemmung bei schulischen
(Teillistenabruf ) werden die Versuchspersonen gebeten, so Lerninhalten?
viele Exemplare einer Kategorie wie möglich zu erinnern. Macrae und MacLeod (1999) untersuchten die Abrufhemmung,
Wie erwartet, werden dabei die Items einer Kategorie, die indem sie 32 studentischen Versuchspersonen Wissen über
vorher durch den Abruf „geübt“ wurden, besser erinnert. zwei fiktive Inseln („Tok“ und „Bilu“) in der Art typischen geogra-
Das heißt, die Erinnerungsraten gegenüber Items aus fischen Faktenwissens präsentierten („Der einzige Exportartikel
anderen, nicht abgerufenen Kategorien wie zum Bespiel Bilus ist Kupfer.“). Im Anschluss an die Lernphase wurde für die
„Getränke-Bier“ sind deutlich erhöht. Interessanterweise Hälfte der gelernten Fakten zu einer Insel ein dreimaliger Teil-
liegt die Erinnerungsrate für die nicht durch Abruf geübten listenabruf vorgenommen. Für die restlichen Fakten sowie die
Items einer Kategorie (z. B. „Früchte – Birne“) noch deutlich Fakten zur anderen Insel wurde keine Abrufübung unternom-
unter der Erinnerungsrate für Exemplare einer Kategorie, die men. Anhand eines abschließenden Behaltenstest nach einem
überhaupt nicht durch Abruf geübt wurden (z. B. sämtliche etwa fünfminütigen Behaltensintervall konnten sie nachwei-
Items der Kategorie „Getränke“). Dies bedeutet, dass der sen, dass die Behaltensleistung für die durch Abruf geübten
wiederholte Abruf von Items einer Kategorie dazu führt, Fakten signifikant besser wurde. Dies geschah zu Lasten der
dass diese besser gelernt werden. Allerdings geschieht nicht geübten Fakten zur gleichen Insel. Deren Behaltensleis-
dies zu Lasten der Items der gleichen Kategorie, die nicht tung lag noch unter der Leistung zu den Fakten zur zweiten
abgerufen wurden. Diese werden zunehmend schlechter Insel, zu denen keinerlei Abrufübung unternommen wurde. Die
behalten. Items anderer Kategorien sind hiervon nicht Autoren diskutieren anhand ihres Befundes die Rolle der selek-
betroffen. tiven Abrufübung von Lernstoff während einer Prüfung und der
Prüfungsvorbereitung. Dabei lassen sie allerdings sowohl die
Frage der Bedeutungshaltigkeit von Lerninhalten als auch die
Abrufinduziertes Vergessen bedeutet also, dass der (mehr- zeitliche Komponente der Abrufhemmung außeracht: Eine teil-
malige) Abruf einer Information deren Verfügbarkeit erhöht; weise Wiederholung von Lerninhalten durch Teilabruf erzeugt
dies geschieht aber zu Lasten anderer Informationen, de- sicherlich eine kurzfristige Abrufhemmung der nicht abgeru-
ren Erinnerung damit behindert wird. Zur Erklärung dieses fenen Inhalte; es erscheint zweifelhaft, dass dieser Effekt über
Phänomens gibt es unterschiedliche Positionen: Durch den Stunden und Tage hinaus bestehen bleibt. Ob bedeutungshal-
selektiven Abrufprozess (Teillistenabruf) werden die Asso- tige Lerninhalte, die mit bereits bestehendem Wissen assoziativ
ziationen zwischen den Teillistenitems beeinflusst. Dies kann verknüpft werden können, einer ebenso starken Abrufhem-
entweder bedeuten, dass die Assoziationen der geübten Reize mung unterliegen, lässt sich anhand der Studie von Macrae und
42 Kapitel 2  Gedächtnis und Wissenserwerb

MacLeod (1999) nicht sagen, da hier fiktiver Lernstoff zum Ein- Qualität der Informationsverarbeitungsprozesse („Perspek-
satz kam. tive der fokussierten Informationsverarbeitung“) und auch
eine eher pluralistische Sichtweise auf das Lernen ab: Ler-
Auf Basis bisheriger Studien ist nicht klar, ob die Ab- nen als Wissenskonstruktion mit situativem Charakter durch
2 rufhemmung auch bei mehrmaligen Lerndurchgängen nach aktive Verarbeitung von Information.
dem Teillistenabruf bestehen bleibt. Daher kann für das schu-
lische Lernen lediglich geäußert werden, dass nach einer1 Wissenserwerb als aktive und fokussierte
selektiven Abrufübung eine erneute Lernphase eingelegt wer- Informationsverarbeitung – Prozessuale Komponenten
den sollte, in der der relevante Lernstoff möglichst umfassend des Wissenserwerbs
wiederholt werden sollte. Sollte sich die Relevanz des Teillis- Die bereits im Abschnitt zum Gedächtnis (7 Abschn. 2.2) ein-
tenabrufs für das schulische Lernen anhand weiterer Befunde geführte Informationsverarbeitungsperspektive erlangte seit
konkretisieren, bestünde die Möglichkeit, den Teillistenabruf den 1960er-Jahren zunehmende Bedeutung für die Erklä-
als Instrument zur selektiven Wiederholung und Übung be- rung, Beschreibung und Untersuchung von Lernvorgängen.
sonders relevanter Lerninhalte einzusetzen. Neben einer produktorientierten Betrachtung („Was wird ge-
lernt?“) wurde im Sinne einer Prozessorientierung vor allem
auf Vorgänge beim Lernen und Erinnern fokussiert („Wie
2.5 Theoretische Perspektiven zum wird gelernt?“ oder „Wie wird Gelerntes repräsentiert?“ oder
Wissenserwerb „Wie wird Gelerntes abgerufen?“). Unter den sogenannten
Informationsverarbeitungsansätzen werden allerdings Theo-
Der Erwerb von Wissen durch Lernende ist ein Hauptan- rien und Modelle zusammengefasst, die in unterschiedlichs-
liegen von Bildungsinstitutionen wie beispielsweise Schule, ter Art und Weise die menschliche Informationsverarbei-
Hochschule bzw. sämtlichen Fort- und Weiterbildungsein- tung und damit auch den Wissenserwerb thematisieren. Da-
richtungen. Die Begriffe „Lernen“ und „Wissenserwerb“ wer- her verwundert es auch nicht, dass für die Betrachtung des
den fast durchgängig synonym gebraucht. Wissenserwerb Lernens auch Sichtweisen der konstruktivistischen Ansätze
umfasst eine Vielzahl unterschiedlicher Wissensarten und aufgegriffen werden: Lernen wird als individuelle, selbstge-
Zugänge. Lernen im Sinne von Wissenserwerb ist der Auf- steuerte Wissenskonstruktion mit einer zunehmenden Modi-
bau und die ständige Modifikation von Wissensrepräsenta- fikation des Wissens und der Wissensstrukturen aufgefasst.
tionen. Diese finden über bereichsspezifische, dynamische Dazu muss zu lernende Information aktiv selektiert, inter-
und mehrstufige Prozesse statt und umfassen unter anderem pretiert und in mentalen Strukturen und Repräsentationen
die Auswahl, Verarbeitung, Organisation sowie das Speichern gespeichert werden. Die für die Situiertheits- und konstruk-
und Abrufen von unterschiedlichen Informationen. Wissen tivistische Perspektive wesentliche Fokussierung auf offene
kann in verschiedenen Formen vom Lernenden repräsentiert Lernaktivitäten in der Tradition behavioristischer Lerntheo-
werden. Unterschiedlichste Faktoren wie Vorwissen, Form rien (7 Kap. 1) wird durch die Vertreter der Informationsver-
der Wissensdarbietung, Art der Verarbeitung und Speiche- arbeitungsperspektive nicht abgelehnt. Für sie ist offene Lern-
rung, Motivation sowie strategische Prozesse wirken sich auf aktivität immer dann interessant, wenn damit mentale Lern-
die Güte und Nachhaltigkeit von Wissensrepräsentation aus. prozesse aktiviert werden. Aktive Informationsverarbeitung
Die theoretischen Sichtweisen des Wissenserwerbs bedeutet in dieser Sichtweise, dass Information nicht pas-
durchliefen entsprechend den vorherrschenden psycholo- siv unterschiedliche Speicher- und Verarbeitungsinstanzen
gischen Theorierichtungen einen Wandel: Wurde Lernen (7 Abschn. 2.3) durchläuft, sondern dass Information selek-
im Rahmen des Behaviorismus noch verhaltensorientiert tiert und interpretiert wird. Renkl (2011) erweitert die Sicht-
betrachtet („Nur was als Reiz und Reaktion beobachtbar weise der aktiven Informationsverarbeitung um die Perspek-
ist, zeigt, dass Lernen stattfindet“; 7 Kap. 1), so erfolgte in tive der fokussierten Informationsverarbeitung. Gegenüber
Abkehr vom Behaviorismus eine verstärkte Zuwendung der Perspektive der aktiven Informationsverarbeitung wird
zu inneren Prozessen im Lernenden. Wissenserwerb wur- hier betont, dass nicht das Vorhandensein mentaler Aktivität
de nun – z. B. in der konstruktivistischen Perspektive von per se bereits einen gelungenen Wissenserwerb gewährleis-
Piaget (7 Kap. 12) – als aktive Konstruktion und Abstrak- tet. Um dessen Wahrscheinlichkeit zu steigern, muss es sich
tion von Wissensinhalten verstanden. Mit der kognitiven nach Renkl um mentale Aktivitäten handeln, die auf die
Wende wurde der Wissenserwerb als Aufnahme, Verarbei- zentralen Konzepte und Prinzipien eines bestimmten Fach-
tung und Repräsentation von Information betrachtet. In gebiets fokussieren. Schmidt, De Volder, De Grave, Moust
Anlehnung an eine behavioristische Forschungsmethodik und Patel (1989) untersuchten die Bedeutung der Aktivie-
waren es zunächst vor allem sichtbare aktive Lernhandlun- rung von Vorwissen durch die Diskussion in Kleingruppen.
gen (Perspektive des aktiven Tuns) die als Indikatoren für College-Studenten sollten über folgendes Phänomen disku-
erfolgreiches Lernen angesehen wurden. Dem folgte eine tieren: Eine rote Blutzelle, die in reines Wasser eingetaucht
Zuwendung zu inneren aktiven Informationsverarbeitungs- wird, schwillt zunächst an, um dann zu zerplatzen. Hinge-
prozessen, die indirekt experimentell erschlossen werden. gen schrumpft eine Blutzelle in Salzwasser. Die Studierenden
Heutzutage zeichnet sich eine noch stärkere Betonung der sollten versuchen, dies zu erklären. Den Lernerfolg aus ei-
2.5  Theoretische Perspektiven zum Wissenserwerb
43 2
nem im Anschluss an die Diskussion gegebenen Text über das
Osmose-Prinzip konnte durch die Diskussion in Kleingrup- 2. Die lernbezogene Belastung (germane load) umfasst
pen bedeutsam gesteigert werden. In einem zweiten Experi- alle ressourcenfordernden Aspekte, die durch den
ment wurde zwischen Studierenden mit großem (Experten) eigentlichen Lernprozess im Lernenden entstehen.
und geringem Vorwissen (Novizen) unterschieden. Es konnte Dieser definiert sich über den mentalen Aufwand beim
nachgewiesen werden, dass selbst Lernende mit geringerem Aufbau von Wissensrepräsentationen, z. B. bei der
Vorwissen durch die Fokussierung in der vorausgehenden Anwendung von Lernstrategien. Diese Belastung kann
Diskussion profitierten. Diese Diskussion hatte eine aktivie- personenbezogen sehr stark variieren und definiert sich
rende Wirkung, indem sie einen spezifischen Fokus für die z. B. über den Umfang des Vorwissens bzw. den Grad
Hauptphase des Lernens über den Osmose-Text induzierte. der Expertise in einem Lerngebiet. Ferner spielen die
Das Arbeitsgedächtnis spielt eine zentrale Rolle bei Lern- Verfügbarkeit und Automatisierung von strategischen
vorgängen. An dieser Schnittstelle zwischen neu eingehender Prozessen für das Ausmaß der lernbezogenen Belastung
Information und Abruf von Wissen aus dem Langzeitge- eine Rolle. Auch letztere ist durch einen Lehrenden nicht
dächtnis finden bewusste Denkvorgänge statt. Unter ande- unmittelbar beeinflussbar, wenngleich langfristig durch
rem wird hier in der Tradition konstruktivistischer Ansätze die Vermittlung von strategischem und inhaltlichem
angenommen, dass neu eingehende Information mit beste- Wissen eine bedingte Einflussnahme möglich erscheint.
hendem Wissen verknüpft oder aber vor einer individuellen 3. Die extrinsische Belastung (extraneous load) entsteht
Wissensbasis interpretiert werden. Gerade die Interpretation durch die Verarbeitung von Gestaltungselementen
von Information trägt auch dazu bei, die begrenzten Res- einer Lernumgebung. Sind diese für den Aufbau
sourcen des Arbeitsgedächtnisses optimal nutzen zu können von Wissensrepräsentationen irrelevant oder nicht
(7 Abschn. 2.3.4). Die Bedeutung begrenzter Arbeitsgedächt- förderlich, etwa weil sie redundante oder unnötige
nisressourcen für den Wissenserwerb wurde von Sweller in Information liefern, absorbieren sie unnötigerweise
der sogenannten Cognitive-Load-Theorie thematisiert (7 Im Arbeitsgedächtnisressourcen, ohne letztendlich zum
Fokus). Wissenserwerb beizutragen. Beispielsweise kann es
nach der Cognitive-Load-Theorie bei der schriftlichen
Im Fokus: Cognitive-Load-Theorie Darstellung des Dreisatzes in der Algebra zu einer
erhöhten extrinsischen Belastung führen, wenn neben
Die Cognitive-Load-Theorie (Sweller, van Merrienboer & Paas der schrittweisen textlichen Darstellung des Lösungs-
1998) konkretisiert die Rolle von Arbeitsgedächtnispro- wegs jeweils bei jedem Schritt auf ein Beispiel in einer
zessen beim Wissenserwerb. Die Theorie geht von der Exkursbox verwiesen wird. Das „Hin- und Herschalten“
Annahme begrenzter Ressourcen des Arbeitsgedächtnisses zwischen der textlichen Darstellung und dem konkreten
aus und legt dar, wie diese durch unterschiedliche Aspekte Beispiel könnte vor allem Lernende mit geringen Vor-
im Lernstoff, in den Lernenden und durch den Lernprozess wissen im Sinne eines geteilten Aufmerskamkeitseffekts
per se belastet bzw. überlastet werden. Damit erlaubt die (split attention effect) überfordern. Die so absorbierten
Theorie Erklärungen und Vorhersagen, inwiefern Lernpro- Ressourcen stehen dann nicht für den Lernprozess
zesse zu einer erfolgreichen Wissensrepräsentation führen zur Verfügung. Sind durch erhöhte Inhaltskomplexität
können. Somit lassen sich Hinweise ableiten, wie Lernarran- und mangelndes Vorwissen die intrinsische und die
gements gestaltet werden können, damit eine Überlastung lernbezogene Belastung ebenfalls hoch, kann es zu
der Arbeitsgedächtnisressourcen vermieden wird. Im Einzel- einer generellen Überlastung (overload) kommen, die
nen lassen sich drei Belastungen des Arbeitsgedächtnisses den Aufbau von Wissensschemata unmöglich macht.
während des Wissenserwerbs unterscheiden:
1. Die intrinsische Belastung (intrinsic load) wird durch
die Lerninhalte selbst definiert und steigt mit der Lernen findet auf vielfältige Weise und über unterschied-
Komplexität der Inhalte bzw. der zu ihrer Repräsentation liche Formen von Lernprozessen statt. Eingehender Lernstoff
benötigten Schemata. Sie ist abhängig von der Anzahl wird anhand des Vorwissens interpretiert, selektiert, organi-
einzelner Informationseinheiten, die gleichzeitig siert und elaboriert. Weitere bedeutsame Lernprozesse sind
verarbeitet werden müssen (Sweller & Chandler 1994). die Stärkung des Wissens, die Generierung neuen Wissens
Die intrinsische Belastung ist durch den Lehrenden nicht und die metakognitive Steuerung des Lernens. Anhand un-
direkt beeinflussbar. terschiedlicher Lernformen soll nun die jeweilige Bedeutung
der Lernprozesse erläutert werden.
44 Kapitel 2  Gedächtnis und Wissenserwerb

2.6 Formen und Bedingungen von Gefahr einer Überbeanspruchung der Arbeitsgedächtnisres-
Wissenserwerb sourcen. Daher werden Bezüge zwischen unterschiedlichen
Sätzen/Aussagen im Text hergestellt und können von den Ler-
2 In diesem Abschnitt sollen Besonderheiten beim Wissenser-
nenden meist auch nachvollzogen werden. Bei den beiden fol-
genden Sätzen werden die Aussagen und ihr Überlappungs-
werb erörtert werden, die bei verschiedenartigen Lernakti-
bereich in einem Netzwerk in Beziehung gesetzt: „Donald
vitäten bekannt sind. Weder ist diese Darstellung erschöp-
Trumps Tweets sorgen für Furore – und für wenig Begeis-
fend, noch ist davon auszugehen, dass diese Aktivitäten in
terung bei seinen Beratern. Sie würden ihm am liebsten ein
der schulischen Praxis stets in Reinform Anwendung fin-
Schreibverbot erteilen.“ Der Überlappungsbereich „Berater“
den. Vielmehr sollen hier Möglichkeiten für die Anwendung
im ersten und „Sie“ im zweiten Satz bzw. „Trump“ im ersten
(und auch Kombination) durch Lehrende bei unterschiedli-
und „ihm“ im zweiten Satz ist relativ einfach nachvollziehbar
chen Ansprüchen und Lernbereichen erörtert werden.
und wird als lokale Kohärenzbildung bezeichnet. Dazu zäh-
len neben Überlappungen oder Redundanzen unmittelbare
Zusammenhänge. Bei der globalen Kohärenzbildung handelt
2.6.1 Wissenserwerb durch Texte es um die Möglichkeit der Organisation von Aussagen in ein
übergeordnetes Netzwerk – eine Art roten Faden, dem der
Wissenserwerb über das Lernen aus Texten spielt sowohl im Text folgt. Dazu werden aus einzelnen Propositionen soge-
schulischen Alltag als auch im Bereich der Weiterbildung nannten Makropositionen gebildet. Dies geschieht beispiels-
und dem tertiären Bildungsbereich eine gewichtige Rolle. Im weise durch Auslassen unwesentlicher Einzelpropositionen,
erweiterten Sinne können darunter auch akustisch darge- der Verallgemeinerung oder Abstraktion von Propositionen
botene Texte – etwa in computergestützten, multimedialen oder der Neubildung von übergeordneten Propositionen die
Lernsetting oder der klassischen Vorlesung an Hochschu- für eine Anzahl einzelner Propositionen stehen. Bezogen auf
len – verstanden werden. Die Rezeption von Textinformation die beiden Sätze über Donald Trump könnte eine derartige
soll in den seltensten Fällen zu einer anschließenden wörtli- übergeordnete Proposition im nicht immer unproblemati-
chen Wiedergabe des Lernstoffs führen, sondern bereits beim schen Umgang von Trump mit seinen Beratern oder die
Lesen des Textes zu einem Verständnis und einer Selekti- Art und Weise seiner Kommunikation mit der Außenwelt
on relevanter Inhalte zur Weiterverarbeitung führen. Van bestehen (z. B. „Donald Trumps Kommunikation über die so-
Dijk und Kintsch (1992) schlagen in ihrem Modell des Text- zialen Medien ist gewöhnungsbedürftig.“). Die dritte von van
verstehens drei Ebenen der mentalen Repräsentation beim Dijk und Kintsch postulierte Ebene wird als Situationsmodell
Lesen von Texten vor. Es handelt sich zum ersten um die bezeichnet. Tiefergehende Repräsentationen erfordern diese
Textoberfläche. Damit ist sowohl das visuelle Erscheinungs- Stufe und finden dann statt, wenn eine über den Text hinaus-
bild (z. B. die verwendete Schriftart, die Absatzstruktur) als reichende Anreicherung des Textinhalts mit Vorwissen statt-
auch die sprachliche Umsetzung des Textes (der sprachliche findet. Nur auf Basis eines Situationsmodells ist es möglich,
Stil, verwendete Begriffe) gemeint. Die Textoberfläche spielt eine „ganzheitliche“ Repräsentation der Textinformation auf-
meist eine untergeordnete Rolle, es sei denn, ein wörtliches zubauen, die über eine rein propositionale Repräsentation
Wiedergeben der Textinformation ist explizit gefordert, wie hinausreicht. Damit können weiterreichende, abstrahierende
etwa bei einem auswendig zu lernenden Gedicht oder ei- Schlussfolgerungen abgeleitet oder Probleme gelöst werden.
ner wörtlich wiederzugebenden Definition. Manchmal wird Beispielsweise kann folgende Problemstellung nur über die
ein Auswendiglernen der Textoberfläche von den Lernenden Repräsentation eines Situationsmodells adäquat gelöst wer-
selbst angestrebt, etwa wenn ein tiefergehendes Verständnis den.
der Textinhalte nicht möglich oder zu aufwändig erscheint.
Zum zweiten handelt es sich um die Textbasis. Hier geht es Eine Kuh produziert im Durchschnitt 12 Liter Milch am
– unabhängig von der sprachlichen oder visuellen Erschei- Tag. Wie viele Kühe bräuchte man, um in 4 Tagen 120 Liter
nungsform – um grundlegende Aussagen, die ein Text trans- zu produzieren?
portiert. Werden diese grundlegenden Aussagen von den Ler- Ohne tiefergehendes Textverständnis dürfte die Antwort mög-
nenden dem Text entnommen, besteht die Möglichkeit, dass licherweise „2,5“ lauten.
die Aussagen in Form von Propositionen repräsentiert wer- Bei einer Repräsentation im Sinne des Situationsmodells
den (7 Abschn. 2.3.6). Über die Aktivierung von Vorwissen dürfte die Antwort dergestalt ausfallen: „Mindestens drei! Denn
ist es den Lernenden möglich, Propositionen in Netzwerken erstens gibt es keine halben Kühe und zweitens produzieren
zu organisieren. Die Aktivierung des Vorwissens ist insofern Kühe nicht immer gleich viel Milch!“
eine wesentliche Voraussetzung für die Extraktion von Aus-
sagen aus dem Text und die Bildung und Organisation von Über ein Situationsmodell repräsentiertes Wissen unter-
Propositionen, als dass ein Text kaum alle für das Verständnis liegt dem Vergessen weniger als nur über die Textoberfläche
notwendigen Informationen enthalten kann. Texte, die dies repräsentiertes Wissen. Der erfolgreiche Wissenserwerb über
leisten wollten, wären hoffnungslos überfrachtet, endlos und Lernen mittels Texten ist ebenso von der Qualität des Textes
unökonomisch. Ferner bestünde beim Lesen eines derartigen als auch von personenbezogenen Faktoren wie dem vorhan-
Textes im Sinne der Cognitive-Load-Theorie (7 Im Fokus) die denen Vorwissen und Art der mentalen Aktivitäten abhängig.
2.6  Formen und Bedingungen von Wissenserwerb
45 2
Zur mentalen Aktivität beim Lesen gehört neben der adäqua- den schlussfolgenden Fragen konnte durch das Trainingspro-
ten Informationsselektion auch der Einsatz von Lernstrate- gramm jedoch nicht gesteigert werden. McNamara sieht gera-
gien. Um Situationsmodelle generieren zu können, sind z. B. de in der Kombination von Selbsterklärungen und verständnis-
folgende Strategien hilfreich: über den Text hinausreichende fördernden Lesestrategien eine Möglichkeit zur Verbesserung
Fragen generieren, Zusammenhänge grafisch in sogenannten der Textrepräsentation.
Concept Maps verdeutlichen oder Textabschnitte in zusam-
menfassenden Kernaussagen reduzieren. Für die Anwendung
derartiger Strategien spielt das Vorwissen der Lernenden eine
bedeutsame Rolle. Das Vorwissen ist aber auch eine wesentli- 2.6.2 Wissenserwerb durch Zuhören
che Basis für das Textverstehen per se. Aus einem Text können
Lernende mit großem Vorwissen mehr neue Information ab- Der Wissenserwerb durch Zuhören stellt eine der häufigsten
leiten als Lernende mit geringem Vorwissen, es sei denn, das Lernformen im schulischen Setting dar. Die zu lernende In-
geringere Vorwissen umfasst bereits alle Informationen, die formation wird auditiv präsentiert, ist also zeitgebunden und
im Text dargeboten sind. Dies gilt sowohl für die Selekti- unterliegt damit einer gewissen Flüchtigkeit. D. h. entgegen
on relevanter Inhalte (Jarodzka, Scheiter, Gerjets & van Gog dem Lernen über Texte können die Lernenden die Infor-
2010) als auch für die Integration und Organisation des neuen mation nicht mehrmals wiederholen oder das Lerntempo
Wissens (Chi, Feltovich & Glaser 1981). Das Vorwissen in- selbst bestimmen, sondern sind von der Lehrperson abhän-
teragiert aber auch mit der Qualität des Textes: Lernende mit gig, die den Lernstoff präsentiert. Auch beim Lernen durch
hohem Vorwissen profitieren beispielsweise von suboptima- Zuhören lassen sich die von van Dijk und Kintsch (1992)
len Texten, da diese Lernenden durch kritisches Hinterfragen postulierten drei mentalen Repräsentationstufen annehmen.
die Reflexion und damit die Verarbeitungstiefe erhöhen kön- Das Generieren eines Situationsmodells gewährleistet eben-
nen. so wie beim Wissenserwerb durch Texte die dauerhafteste
und tiefgehendste Repräsentationsstufe. Wird die vorgetra-
Studie: Training von verständnisfördernden Strategien gene Information durch die Lehrperson nicht vorstrukturiert
bei geringem Vorwissen oder durch visuelle Organisationshilfen unterstützt, müssen
Um die Anwendung von verständnisfördernden Strategien die Prozesse der Selektion relevanter Information, der Orga-
zu erleichtern hat McNamara (2004) das auf drei Phasen ba- nisation und Integration in bestehende Vorwissensstrukturen
sierende Trainingsprogramm SERT (Self-Explanation-Reading- unter dem Aspekt begrenzter zeitlicher und kognitiver Res-
Training) entwickelt. In der ersten Phase werden die Lernenden sourcen von den Lernenden eigenständig bewerkstelligt wer-
zur Reflexion durch „lautes Nachdenken“ über die Bedeutung den. Damit Wissenserwerb unter derartigen Bedingungen
von Wörtern, Sätzen und Aussagen im Text angeregt. In der stattfinden kann, sind metakognitive Steuer- und Überwa-
zweiten Phase bekommen die Lernenden Informationen zu chungsprozesse vor, während und nach dem Zuhören von
Lernstrategien und zu metakognitiven Strategien (7 Kap. 4). großer Wichtigkeit: Bereits vor dem Beginn des Zuhörens
Zu den Lernstrategien zählen neben einfachen Wiederholungs- können Erwartungen über die Lerninhalte generiert werden.
auch komplexere Elaborationstrategien. In der dritten Phase Diese Erwartungen können beispielsweise von Studierenden
werden die Lernenden angehalten, die in den beiden voran- vor einer Vorlesung anhand des Titels oder der durch die
gegangenen Phasen erworbenen Strategien beim Lesen eines Dozierenden angekündigten Inhalte selbständig gebildet wer-
konkreten Textes anzuwenden. McNamara untersuchte in ei- den. Im schulischen Kontext tragen häufig die Lehrkräfte
ner Trainingsstudie an 42 Studierenden die Wirkung des SERT- maßgeblich zur Bildung von Erwartungen bei. So können
Programms. 24 Teilnehmer (Trainingsgruppe) wurden mittels vorab präsentierte Fragen Erwartungen erzeugen und bei
des SERT-Programms in Strategien zur Überwachung des Ver- der Aktivierung vorhandenen Vorwissens helfen. Im Verlauf
stehens, zum Paraphrasieren des Textes und zum Herstellen einer Vorlesung können Studierende durch Monitoringpro-
von Bezügen zwischen Textinhalten und dem eigenen Vor- zesse sowohl ihr begriffliches Verständnis als auch das Ver-
wissen bei der Bearbeitung von vier wissenschaftlichen Tex- ständnis wesentlicher Aussagen, Zusammenhänge und Kon-
ten unterwiesen. Die 18 restlichen Teilnehmer (Kontrollgrup- zepte überprüfen. Im schulischen Kontext kann dies durch
pe) mussten ebenfalls die vier wissenschaftlichen Texte bear- die Lehrperson während kurzer Unterbrechungen des Vor-
beiten, sie wurden aber lediglich aufgefordert, diese laut zu trags durch Kontroll- bzw. Verständnisfragen unterstützt wer-
lesen. McNamara konnte gerade für Personen mit geringem den. Dies eröffnet auch die Möglichkeit, nochmals vertieft
fachspezifischen Vorwissen eine Steigerung des Textverständ- auf Problembereiche in einem Inhaltsbereich einzugehen. In
nisses und der Reflexion über den Text nachweisen. Sie gibt einer Vorlesung kommt dem Anfertigen von Notizen oder
jedoch zu bedenken, dass das Training fehlendes Vorwissen Ergänzen von Skripten eine gewichtige Bedeutung zu (vgl.
nicht ersetzen kann, denn nur textbasierte Fragen konnten von zu einer Übersicht über Formen und Funktion von Noti-
den Teilnehmern ihrer Studie besser beantwortet werden. Das zen, Staub 2006). Durch Notizen besteht die Möglichkeit des
SERT-Trainingsprogramm half den Lernenden, ihre allgemei- Verknüpfens mit vorangegangenen Lerninhalten und somit
nen kognitiven Fähigkeiten wie logisches Denken oder Allge- der Aktivierung von Vorwissen. Die Organisation und Se-
meinwissen zur Beantwortung der Fragen zum Text besser zu lektion von relevanter Information wird ebenfalls durch das
nutzen. Die Beantwortung von über den Text hinausgehen- Anfertigen von Notizen oder die Kennzeichnung relevan-
46 Kapitel 2  Gedächtnis und Wissenserwerb

ter Informationen in Skripten oder Handouts befördert. Im standen werden, wenn in einem Aufsatz beispielsweise eine
schulischen Setting trägt vor allem in jüngeren Jahrgangsstu- Argumentation im Sinne einer Kontrastierung von These
fen das Ergänzen von (unvollständigen) Handouts oder das vs. Gegenthese gefordert ist. Eine derartige Anforderung ist
2 angeleitete Anfertigen von Hefteinträgen zur Selektion und aber eher in höheren Jahrgängen der Sekundarstufe bzw. im
Organisation des Lernstoffs bei. Neben den bereits dargestell- hochschulischen Kontext anzutreffen und erfordert neben ei-
ten Aspekten werden dem selbstständigen Anfertigen von ner schriftlich-rhetorischen Komponente auch weitreichen-
Notizen, wie es bei Vorträgen stattfinden kann, zwei Funk- des Faktenwissen und interpretatorische Fähigkeiten. Damit
tionen zugesprochen: Zum einen kann es eine Enkodierhilfe birgt es – wenn die erforderlichen semantischen und rheto-
für den Lernstoff darstellen und das Behalten der notierten rischen Fähigkeiten bei den Lernenden noch nicht gegeben
Inhalte steigern (vgl. zu einem Überblick, Kobayashi 2005). sind – die Gefahr einer Überforderung. Soll das Schreiben
Dies geschieht sowohl über die Wiederholung des Lernstoffs von Aufsätzen oder Essays als Fähigkeit per se erworben
in schriftlicher Form – einer Art schriftlichem Rehearsal – werden, stellt der Erwerbsprozess Anforderungen an die me-
als auch über die Selektion des Stoffs, der Reduktion und takognitiven Fähigkeiten, den Schreibprozess zu planen, zu
damit einer Fokussierung auf Kernaussagen des Lernstoffs. strukturieren und zu überwachen. Damit werden neben den
Selektion und Organisation finden effizienter und ertragrei- zentralen kognitiven Anforderungen – Informationen zu se-
cher bei ausreichendem Vorwissen statt. Damit kann der lektieren und aufzubereiten, zu organisieren und zu trans-
Prozess des Wissenserwerbs erleichtert werden. Zum ande- formieren bzw. in eigenen Worten auszudrücken – vor al-
ren können Notizen als Produkt einer Vortragsmitschrift die lem selbstregulatorische Fähigkeiten trainiert. Gerade diese
Funktion einer externen Gedächtnishilfe haben (vgl. Hadwin, Anforderungen tragen auch dazu bei, dass der Lerninhalt
Kirby & Woodhouse 1999). Diese Bedeutung wird relevant, vertieft im Sinne eines Situationsmodells repräsentiert wird.
wenn es zu einer Nachbearbeitung der Notizen und damit der Soll die metakognitive Komponente von selbstreguliertem
Lerninhalte kommt. Dies lässt sich gedächtnispsychologisch Lernen längerfristig angeregt werden eignet sich das Führen
mit einer selektiven Wiederholung des Abrufs von Lernin- von Lerntagebüchern. Dazu sind – anders als beim Schrei-
halten erklären (7 Abschn. 2.4.1). Eine Nachbearbeitung der ben von Aufsätzen oder Erörterungen – keine vergleichba-
Notizen trägt auch zur Festigung der Strukturierung von ren stilistischen oder rhetorischen Voraussetzungen erforder-
Lerninhalten bei. Die Repräsentation des Lernstoffs über ein lich. Der Einsatz von Lerntagebüchern ist damit bereits im
Situationsmodell kann bei der Nachbearbeitung der Notizen Grundschulbereich möglich. Die Anregung metakognitiver
durch das Erstellen kritischer Fragen zum Inhalt begünstigt Prozesse geschieht über die grundsätzliche Anforderung von
werden. Dieser Effekt wird zusätzlich begünstigt, wenn in Lerntagebüchern: Die Lernenden sollen nach einer Lernpha-
Kleingruppen gearbeitet werden kann. Führen die Fragen zu se festhalten, was gelernt wurde, was verstanden oder nicht
einer Diskussion, steigt die Wahrscheinlichkeit dafür, dass ein verstanden wurde, gegebenenfalls auch was unternommen
Situationsmodell aufgebaut wird. Ist das selbstständige Er- werden soll, um noch nicht bewältigten Stoff zu lernen. Den
stellen von Fragen zu einem Lehrvortrag oder die kritische Lernenden ist es dabei freigestellt, wie sie diese Aspekte im
Diskussion nur erschwert möglich, wie etwa in den frühen Lerntagebuch festhalten; je nach Maßgaben steht es ihnen
Grundschuljahren, kann die Lehrperson durch den Hinweis frei, worüber sie zum Lernprozess etwas schreiben und wie
auf wichtige Sachverhalte, das Setzen von Pausen und Präsen- sie dies tun. Als hilfreich haben sich allerdings gerade in
tieren von Fragen oder die Zusammenfassung wesentlicher der Anfangsphase des Führens eines Lerntagebuchs unter-
Inhalte ähnliche Wirkungen erzielen, wie sie durch das An- stützende Leitfragen durch den Lehrenden erwiesen. Diese
fertigen von Notizen beschrieben wurden. Fragen oder Prompts werden von den Lernenden zu Beginn
nur unzureichend selbständig generiert. Gerade sie helfen
dabei, den Hauptgedanken eines Lernstoffs zu identifizieren
und den Stoff zu gliedern, ihn hierarchisch zu strukturie-
2.6.3 Wissenserwerb durch Schreiben ren. Neben diesen organisationalen Strategien werden auch
einige metakognitive Strategien durch das Führen eines Lern-
Im Unterschied zu den eher rezeptiv orientierten Lernfor- tagebuchs initiiert: Durch das Reflektieren von Verständnis-
men – beispielsweise dem Lernen durch Lesen oder durch schwierigkeiten beim Wissenserwerb werden diese nicht nur
Zuhören – erfordert das Lernen durch Schreiben eine sicht- benannt, sondern auch gleichzeitig Lösungsansätze zu deren
bare Produktion von Text. Lernen durch schreiben setzt einen Behebung überlegt. Beispielsweise können nicht verstandene
automatisierten Schreibprozess voraus und ist damit hin- Begriffe in einem Wörterbuch oder Lexikon nachgeschla-
sichtlich des schulischen Lernens eher für die Sekundarstu- gen werden oder zusätzliche Quellen zum Erreichen eines
fe angemessen. Das damit im klassischen Sinne umgesetzte vertieften Verständnisses hinzugezogen werden. Ferner kann
Lernen durch aktives Tun kann je nach Anforderungen an anhand selbstgenerierter Beispiele das Verständnis des Lern-
das schriftliche Endprodukt mehrere Funktionen erfüllen. stoffs gefestigt und durch das zusätzliche Finden von Pro- und
Schreiben kann als ein schriftlicher Problemlöseprozess ver- Kontra-Argumenten dessen Reflexion angeregt werden.
2.6  Formen und Bedingungen von Wissenserwerb
47 2
2.6.4 Wissenserwerb durch Beispiele und übernehmen, wenn sie aufgefordert wurden, Videobeispiele
Modelle prinzipienbasiert zu erklären. Chi und Kollegen (Chi, Bassok,
Lewis, Reimann & Glaser 1989) propagieren in diesem Zu-
Neben dem Generieren eigener Beispiele kann der Wissens- sammenhang den Begriff der Selbsterklärung: Lernende ma-
erwerbsprozess auch durch die Vorgabe von Beispielen und chen sich anhand der Lösungsbeispiele die darin enthaltene
Modellen durch Lehrende gefördert werden. Gerade zu Be- Logik selbständig bewusst. Der Profit aus Selbsterklärungen
ginn des Erwerbs von kognitiven Fertigkeiten, wie etwa dem ist dann besonders hoch, wenn in den Beispielen fehlende
Verständnis von Algorithmen im Bereich der Mathematik, Begründungen selbstständig erschlossen werden und damit
kann über das Lernen mittels Beispielen der Einstieg wesent- ein tiefergehendes Verständnis der logischen Prinzipien eines
lich erleichtert werden (Carroll 1994). Grundlegend gehö- Beispiels möglich wird. Chiu und Chi (2014) diskutieren po-
ren zur Präsentation eines Beispiels zunächst die Darstellung sitive Auswirkung der Selbsterklärung auf Problemlösepro-
einer Problemstellung, ein dezidierter Lösungsansatz über zesse und metakognitive Kontrollprozesse und stellen Mög-
einzelne Lösungsschritte sowie als Produkt eine Lösung, die lichkeiten dar, wie Selbsterklärungen im Unterricht initiiert
unter Bezugnahme auf die Ausgangsfragestellung erläutert und gefördert werden können. Damit beispielsbasiertes Ler-
wird. Das beispielbasierte Lernen meint aber nicht, dass nach nen weiterreichende Effekte nach sich ziehen kann, muss es
dem Einführen eines Lösungsalgorithmus durch den Leh- jedoch über das reine Verständnis von Lösungsprinzipien hi-
renden ein Beispiel bearbeitet wird und dann die Lernenden nausgehen. Eine Anwendung und Automatisierung von Fer-
ähnlich geartete Aufgaben bearbeiten. Vielmehr fußt das bei- tigkeiten findet nur dann statt, wenn der Übergang zwischen
spielbasierte Lernen darauf, dass Lernende mehrere Beispiele dem Studium von Lösungsbeispielen und dem selbstständi-
so bearbeiten, dass auf dieser Basis ein Verständnis grund- gen Bearbeiten von Problemaufgaben möglichst „organisch“
legender Prinzipien oder wesentlicher (logischer) Aspekte gestaltet wird. Dies kann bedeuten, dass mit Lösungsbeispie-
des Lernstoffs erreicht wird. Erst dann werden selbstständig len gearbeitet wird, die im Abgleich mit dem individuellen
und verstehensorientiert vergleichbare Aufgaben bearbeitet Lernstand der Lernenden zunehmende Auslassungen bezüg-
und gelöst. Wird beispielbasiertes Lernen in dieser Form lich des Lösungsweges aufweisen. Diese Auslassungen müs-
durchgeführt, erweist es sich in den meisten Fällen als effizi- sen von den Lernenden selbst ergänzt werden und führen zu
enter, effektiver und nachhaltiger als andere Lernformen (vgl. den von Chi und Kollegen (1989) beschriebenen optimalen
McLaren, van Gog, Ganoe, Karabinos & Yaron 2016) wie etwa Selbsterklärungen. Renkl und Atkinson (2003) präsentieren
das im schulischen Kontext praktizierte Vorgehen der Prä- ein genaues Vorgehen, wie dieses zunehmende Ausblenden
sentation der Prinzipien und eines Beispiels durch die Lehr- des Lösungsweges in eine eigenständige Aufgabenbearbei-
kraft mit nachfolgender wiederholter Aufgabenbearbeitung tung ohne Präsentation des Lösungsweges übergehen kann.
durch die Lernenden. Die wichtigste theoretische Erklärung
der Überlegenheit von Beispielen gegenüber eigenständigem
Problemlösen bei der Aufgabenbearbeitung insbesondere bei 2.6.5 Wissenserwerb durch Aufgabenlösen
geringem Vorwissen basiert übrigens auf der Cognitive-Load-
Theorie: Der selbst gesteuerte Problemlöseprozess benötigt so Werden im schulischen Unterricht Übungsaufgaben einge-
viele kognitive Ressourcen im Arbeitsgedächtnis, dass die ei- setzt, so kann dies, wie im vorangegangen Abschnitt beschrie-
gentlichen Lernprozesse nur noch eingeschränkt stattfinden ben, anhand von Aufgaben mit beispielhaften Lösungen er-
können. Werden in dieser Lernform sehr komplexe Beispie- folgen. Dabei können schrittweise Lösungshilfen ausgeblen-
le bearbeitet hat sich dafür auch die Bezeichnung „Lernen det werden, sodass eine eigenständige Aufgabenbearbeitung
durch Modelle“ eingebürgert. Gerade bei komplexeren Bei- ohne Lösungsweg bzw. Unterstützung durch den Lehrenden
spielen oder Modellen können sich aber auch Probleme erge- vorgenommen werden kann. Mittlerweile gibt es auch com-
ben. Sind Beispiele nicht eindeutig dargestellt oder enthalten puterbasierte Tutorensysteme, die den individuellen Aus-
nicht aufeinander bezogene visuelle Darstellungen und Text- gangsvoraussetzungen und Lernfortschritten der Lernenden
informationen, kann es im Sinne der Cognitive-Load-Theorie Rechnung tragen. Werden diese mit dem Vorgehen des Leh-
(7 Abschn. 2.5) zu einer Überlastung vorhandener Arbeits- renden im Unterricht optimal abgestimmt, können damit
gedächtnisressourcen führen. Renkl (2005) empfiehlt, dass das Verstehen und prozedurales Wissen effizienter gefördert
für die Präsentation von textbasierten und grafischen Bei- werden als durch traditionelle Unterrichtskonzepte (vgl. Koe-
spielen unterschiedliche Zugangs- und Verarbeitungskanäle dinger & Corbett 2006). Für den deutschen Sprachraum gibt
(visuell und akustisch/phonologisch) genutzt werden soll- es bislang nur wenige kognitive/intelligente Tutorensystem.
ten. Damit beim Lernen aus Lösungsbeispielen möglichst Ein Beispiel ist das System LARGO (Pinkwart, Aleven, Ashley
die Logik der zu erwerbenden Prinzipien („prinzipienba- & Lynch 2008) für den Bereich der Rechtswissenschaften.
siertes Verständnis“) verstanden und extrahiert wird, kön- Es soll Jurastudierenden helfen, Argumentationsstrategien zu
nen Lehrende bei der Präsentation mit sogenannten Prompts erlernen bzw. zu optimieren.
oder inhaltlichen Leitfragen arbeiten. Schworm und Renkl Das Bearbeiten von Aufgaben, nachdem grundlegende
(2007) konnten nachweisen, dass Studierende dann beson- Prinzipien bereits verstanden und erworben wurden, dient
ders effizient Argumentationsstrukturen aus Videobeispielen aber auch der Festigung des Lernstoffs durch Übung. Mit
48 Kapitel 2  Gedächtnis und Wissenserwerb

dem Üben im Rahmen der Aufgabenbearbeitung erfolgt ei- darüber hinausreichen sollte. Nur so kann sichergestellt wer-
ne Feinabstimmung und Automatisierung der beteiligten den, dass das Fertigkeitenniveau nach einiger Zeit nicht wie-
Prozesse. Gerade die Automatisierung entlastet die Arbeits- der deutlich unter das angestrebte Niveau abfällt. Dabei wird
2 gedächtnisressourcen, vermindert den kognitiven Aufwand kritisch diskutiert, ob das Überlernen wirklich einen langfris-
(Cognitive-Load-Theorie; 7 Abschn. 2.5) und führt zu ei- tigen Nutzen erzielt (Rohrer, Taylor, Pashler, Wixted & Cepe-
ner schnelleren und effizienteren Aufgabenbearbeitung. Die da 2005). Gerade für Bereiche mit einem hohen prozeduralen
ACT-R-Theorie von Anderson (Anderson & Funke 2013) Anteil – wie dem Übern eines Musikinstruments oder dem
thematisiert unter anderem den Übergang von deklarativem Ausführen komplexer Bewegungsmuster im Sport – scheint
Wissen zu prozeduralem Wissen durch Übung und zuneh- die mit dem Überlernen verbundene Feinabstimmung und
mende Automatisierung. Die durch die Automatisierung frei- Automatisierung motorischer Handlungen aber unerlässlich
gewordenen Ressourcen können für andere Prozesse genutzt zu sein (Krampe & Ericsson 1996). Das Prinzip der verteilten
werden. Gerade zu Beginn einer Übungsphase ist dabei oft- Übung beinhaltet, dass viele kleinere Übungseinheiten über
mals ein stärkerer Leistungsanstieg zu verzeichnen, der sich mehrere Zeitpunkte verteilt einen größeren und nachhaltige-
asymptotisch allmählich einem Leistungsplateau annähert. ren Effekt erzielen als eine massierte Übung über einen oder
Dieses Plateau wird beispielsweise dann überwunden, wenn wenige Zeitpunkte hinweg (Taylor & Rohrer 2010). Die prak-
es zu einem Strategiewechsel in dem Sinne kommt, dass ei- tische Erfahrung dieses Prinzips lässt sich aus der Erfahrung
ne nicht optimale Strategie zugunsten einer optimalen aber des eigenen Musikunterrichts ableiten: Eine kleine tägliche
komplexeren Strategie aufgegeben wird. Aus dem Bereich des Übungseinheit am Musikinstrument führt meist zu robus-
Erwerbs von Additionsstrategien kann hier folgendes Beispiel terem (weniger störanfälligem) und besserem Lernen eines
angeführt werden: Erwerben Kinder das generelle Additi- Musikstücks als das einmalige stundenlange Üben unmittel-
onsprinzip, beginnen sie oftmals damit, beide Summanden bar vor der Musikstunde. Die dabei kritisch zu erörternde
abzuzählen. So wird die Aufgabe „2 C 7“ so gelöst, dass zu- Frage ist, wie klein die verteilten Übungseinheiten sein dür-
nächst der erste Summand gezählt wird „1, 2“ und dann der fen, damit ein derartiger positiver Effekt gegenüber dem so-
zweite Summand dazugezählt wird „3, 4, 5, 6, 7, 8, 9“. Am En- genannten massierten Üben überhaupt entstehen kann. Im
de des Zählvorgangs steht als Ergebnis die Summe „9“. Diese Musikunterricht wird gelegentlich die Strategie angewandt,
Strategie (counting all) ist gerade bei größeren Summanden einzelne Bestandteile eines zu übenden Musikstücks so her-
relativ aufwändig und wird daher zugunsten einer effizien- unterzubrechen und aufzuteilen, dass immer nur kleine Ein-
teren Strategie aufgegeben: Nun wird der erste der beiden heiten – einzelne Takte oder Melodiesequenzen – geübt und
Summanden nicht mehr aufgezählt, sondern es wird ledig- dann wieder in den Kontext des ganzen Musikstücks inte-
lich der zweite Summand „darauf “ gezählt. In diesem Beispiel griert und zusammengefügt werden. Eine Übertragung eines
wird als ausgehend von der „2“ die „7“ aufgezählt (counting derartigen Vorgehens auf den Erwerb von komplexen Fertig-
min). Eine weitere Steigerung wird durch die „counting max“- keiten kann aber auch seine Grenzen haben, was durch das
Strategie hergestellt: Hier werden vor dem Zählvorgang die Prinzip der Übung im Kontext des Ganzen deutlich wird. Das
beiden Summanden betrachtet und der größere Summand Aufteilen einer zu übenden Fertigkeit oder eines Fähigkeiten-
als Ausgangsbasis für den Aufzählvorgang genommen („7“); bereichs in einzelnen Teilfertigkeiten ist dann nicht sinnvoll,
damit wird der Zählvorgang reduziert, das Ergebnis kann wenn die Teilfertigkeiten so losgelöst vom Gesamtkontext
schneller und effizienter erzielt werden. Schließlich mündet erscheinen, dass sie für die Lernenden keinen Sinn mehr er-
die Wiederholung von immer wieder gleichen Additionsauf- geben (vgl. van Merrienboer, Kirschner & Kester 2003). Kann
gaben nicht mehr in einem Rechenvorgang, sondern führt die Verbindung zum Kontext nicht mehr hergestellt werden,
zu einem Abruf des Rechenergebnisses aus dem Langzeitge- ergeben sich Verständnisprobleme und eine Festigung und
dächtnis. Dies stellt die effizienteste und schnellste Strategie Automatisierung von Teilprozessen ist stark erschwert. Ist ein
dar. Aufteilen in Teilabläufe aufgrund der Komplexität oder res-
Damit Üben durch Aufgabenbearbeitung zu einer Stär- sourcenintensiver Erfordernisse unerlässlich sollte ein Bezug
kung der beteiligten Verarbeitungsprozesse und einer höhe- zur Gesamtaufgabe oder zur gesamten Fertigkeit im Rah-
ren Effektivität führt, wurden in der Vergangenheit einige men des Übens immer wieder hergestellt werden. Neben dem
wichtige Prinzipien diskutiert. Gerade im Bereich des soge- wiederholten Bezug zum großen Ganzen einer Aufgabe oder
nannten „deliberate practice“-Ansatzes (Ericsson, Krampe & Fertigkeit hat es sich als sinnvoll herausgestellt, auch wäh-
Tesch-Römer 1993; van Gog, Ericsson, Rikers & Paas 2005) rend länger dauernder Übungsphasen immer wieder auf die
wurden einige dieser Prinzipien untersucht und auf Ihre An- basalen Prinzipien einzugehen, die einer Fertigkeit oder Vor-
wendbarkeit im Bereich des akademischen Lernens (Ericsson gehensweise immanent sind. Dazu stammt aus der Forschung
2015) sowie des Erwerbs von Expertise im Sport oder in über komplexe Lernvorgänge und den Expertiseerwerb das
der Musik diskutiert (Lehmann & Ericsson 1997). Vier der Prinzip der reflektierten Übung. Werden die Prinzipien von
wesentlichen Prinzipien für effizientes Üben sind „Überler- Zeit zu Zeit thematisiert, ermöglicht dies neben einer Stär-
nen“, „verteilte Übung“, „Übung im Kontext des Ganzen“ und kung der Inhalte auch ein Feintuning derselben und einen
„reflektierte Übung“. Unter dem Prinzip des Überlernens ver- flexiblen Umgang mit den Prinzipien bei der Bewältigung
steht man, dass ein Übevorgang nicht dann stoppen sollte, von Sonderfällen. Gerade das reflektierte Üben wird als ein
wenn das intendierte Fertigkeitenniveau erreicht ist, sondern potenzieller Mechanismus für den Übergang auf einen hö-
2.6  Formen und Bedingungen von Wissenserwerb
49 2
heren Kompetenzstand bzw. dem Erlangen von Expertise in
einem bestimmten Inhaltsgebiet verantwortlich gemacht. Da inhalte kann helfen, Unterrichtsinhalte so abzustimmen,
reflektiertes Üben hinsichtlich der Arbeitsgedächtnis- und dass die Gefahr der Interferenz möglichst minimiert wird.
Aufmerksamkeitsressourcen besonders fordernd ist, wird es Modellannahmen zum Vergessen als fehlende Abspei-
als sehr anstrengend und zum Teil als aversiv erlebt. Soll ei- cherung oder nicht ausreichendes „Setzen“ von Lernstoff
ne Verbesserung der Leistungsfähigkeit in einem Lernbereich implizieren, dass es zwischen Lernphasen ausreichende
bis hin zu einem Expertenniveau erreicht werden, muss ne- Pausen geben sollte, die ein dauerhaftes Abspeichern des
ben einer großen Regelmäßigkeit eine hohe Strukturierung Stoffs begünstigen. Ansätze, die Vergessen als gestörten
des Übevorgangs über einen sehr langen Zeitraum bewältigt Abruf aus dem Langzeitgedächtnis sehen, helfen beim
werden – hier werden Zeiträume von etwa 10 und mehr Jah- Geben von Hinweisreizen während der Präsentation von
ren diskutiert. Ein hoher Leistungsanspruch, das Fokussieren Lernstoffs, um einen späteren Abruf anhand dieser Hin-
auf Schwächen sowie der gezielte Einbezug von Feedback weisreize zu erleichtern.
durch Lehrende oder Mentoren sind weitere Faktoren für ei- Der Prozess des Wissenserwerbs wurde anhand ver-
ne derartig hohe Übungseffizienz (7 Kap. 3). schiedener Lernbereiche dargestellt. So wurde exempla-
risch auf Besonderheiten beim Lernen durch Texte, durch
Zuhören, durch Aufgabenlösen, beim Schreiben und an-
hand von Beispielen eingegangen. Diese Darstellungen
Zusammenfassung
bieten Möglichkeiten zur Reflexion des eigenen pädago-
In diesem Kapitel wurden grundlegende Aspekte der
gischen Handelns von Lehrenden sowie zur Optimierung
Struktur und Funktion des menschlichen Gedächtnisses
der Unterrichtsgestaltung.
(sensorisches Register, Kurzzeit- bzw. Arbeitsgedächtnis
sowie Langzeitgedächtnis) erörtert. Das Arbeitsgedächt-
nis fungiert dabei als Schnittstelle zwischen neu einge-
hender und langzeitig gespeicherter Information. Es ist
nicht nur für die kurzzeitige Speicherung von Information Verständnisfragen
bedeutsam, sondern spielt auch eine entscheidende Rol-
le bei der Verarbeitung von Information. Insofern ist das
Arbeitsgedächtnis unmittelbar für alle Arten schulischer ?1. Zeigen Sie auf, was man unter der „Computermeta-
Kognition wie z. B. beim Lesen, beim Rechnen und beim pher“ des Gedächtnisses versteht!
Textverständnis bedeutsam. Das Wissen um die Funkti- 2. Nennen Sie die drei zentralen Bestandteile des
onsweise des Arbeitsgedächtnisses hilft beim Verständ- Gedächtnismodells von Atkinson und Shiffrin!
nis von Lernprozessen („Wie laufen Kopfrechenprozesse 3. Vergleichen Sie die drei Speicher des Gedächtnis-
über das Arbeitsgedächtnis ab?“). Das Arbeitsgedächtnis modells von Atkinson und Shiffrin hinsichtlich ihrer
hat eine begrenzte Kapazität. Die Kenntnis derselben lie- Speicherkapazität und -dauer!
fert wertvolle Hinweise bei der adäquaten Gestaltung von 4. Zeigen Sie auf, welche Funktionen der zentralen
Lernmaterialien und Unterricht, um eine Überlastung der Exekutive im Arbeitsgedächtnismodell von Baddeley
Lernenden zu vermeiden. und Hitch zugeschrieben werden!
Im Langzeitgedächtnis wird Wissen auf unterschied- 5. Grenzen Sie die Begriffe „deklaratives Gedächtnis“ und
liche Arten repräsentiert und organisiert. Es wurde ei- „nicht-deklaratives Gedächtnis“ gegeneinander ab!
ne Unterscheidung in ein deklaratives und ein nicht- 6. Stellen Sie dar, was man in der Psychologie unter einem
deklaratives (prozedurales) Langzeitgedächtnis vorge- „Schema“ versteht!
nommen. Während im deklarativen Langzeitgedächt- 7. Skizzieren Sie das Prinzip der Enkodierspezifität von
nis alle Arten von verbalisierbaren Fakten gespeichert Tulving und Thomson!
werden, stellt das nicht-deklarative Langzeitgedächtnis 8. Ein Schüler sagt im Englischunterricht, dass er
den Speicher für (nicht-verbalisierbare) Abläufe und Ver- die vorzubereitenden Vokabeln zwar zu Hause
haltensweisen dar. Verschiedene Modellannahmen zum gelernt habe, aber mittlerweile alles vergessen habe.
Repräsentationsformat von Information im deklarativen Erläutern Sie dieses Fallbeispiel vor dem Hintergrund
und nicht-deklarativen Langzeitgedächtnis wurden vor- theoretischer Ansätze zum Vergessen!
gestellt. Das Wissen über diese Formate hilft zu verstehen, 9. Stellen Sie dar, welche Vor- und Nachteile sich unter
wie Lernende Information speichern, organisieren und Berücksichtigung der Cognitive-Load-Theorie von
abrufen. Nicht selten tritt nach Lernvorgängen das Phäno- Sweller und Kollegen aus dem Einsatz von Medien im
men des Vergessens auf. Es wurden verschiedene theore- Unterricht ergeben können!
tische Ansätze zur Erklärung des Vergessens vorgestellt. 10. Beschreiben Sie die drei Ebenen des Textverständnisses
Diese können helfen, das Phänomen bei der Konzepti- nach van Dijk und Kintsch!
on des Unterrichts zu berücksichtigen. Die Sichtweise von 11. Skizzieren Sie vier wesentliche Prinzipien für effizientes
Vergessen als Interferenz unterschiedlicher Gedächtnis- Üben!
50 Kapitel 2  Gedächtnis und Wissenserwerb

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52 Kapitel 2  Gedächtnis und Wissenserwerb

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53 3

Problemlösen und
Expertiseerwerb
Hans Gruber, Michael Scheumann und Stefan Krauss

3.1 Expertiseerwerb in der Schule – Ist das denn überhaupt


möglich? – 54

3.2 Problemlösen – 54
3.2.1 Problemlösen als Informationsverarbeitungsprozess – 54
3.2.2 Das Zusammenspiel von Intelligenz und Wissen – 55

3.3 Expertise: Wissensbasiertes Problemlösen – 56


3.3.1 Begabung und Expertise – 56
3.3.2 Das Zusammenspiel von Problemlösen und Wissen – 56
3.3.3 Expertiseerwerb: Erfahrung als Grundlage von Routinen und von
Innovation – 58

3.4 Expertiseerwerb im Kontext Schule – 60


3.4.1 Der Expertisebegriff für Lehrkräfte in der Bildungsforschung – 60
3.4.2 Der Kompetenzbegriff für Schülerinnen und Schüler in der
Bildungsforschung – 61

Verständnisfragen – 63

Literatur – 64

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019


D. Urhahne, M. Dresel, F. Fischer (Hrsg.), Psychologie für den Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55754-9_3
54 Kapitel 3  Problemlösen und Expertiseerwerb

3.1 Expertiseerwerb in der Schule – Ist das werden lassen. Die Bedeutung der Gestaltpsychologie nahm
denn überhaupt möglich? allerdings mit dem Aufkommen behavioristischer Lerntheo-
rien und der damit verbundenen Euphorie ab, da die beha-
vioristischen Theorien eine naturwissenschaftlich-objektive
Bei Definition, Förderung und Erwerb von Expertise spielt Beschreibung von Lernmechanismen versprachen: „Die Psy-
Problemlösen eine zentrale Rolle. Expertise kann als eine Art chologie, wie sie ein Behaviorist sieht, ist ein rein objektiver,
3 wissensbasierten Problemlösens angesehen werden. In Be- experimenteller Zweig der Naturwissenschaft. Ihr theoreti-
zug auf Schülerinnen und Schüler misst PISA (Programme sches Ziel ist die Vorhersage und Kontrolle von Verhalten.
for International Student Assessment) Problemlösefähigkeit Die Introspektion bildet keinen wesentlichen Teil ihrer Me-
als eigenständige Kompetenz und betrachtet diese als fächer- thoden, und der wissenschaftliche Wert ihrer Daten hängt
übergreifende Grundfähigkeit von Schülerinnen und Schü- nicht von der Bereitschaft ab, mit der sie sich zur bewussten
lern. Können Schülerinnen und Schüler aber tatsächlich „Ex- Interpretation eignen.“ (Watson 1913, S. 158). Diese Heran-
pertise“ in ihrer schulischen Laufbahn erwerben, können sie gehensweise schien nahezu unbegrenzte pädagogische Mög-
wirklich „Expertenstatus“ erreichen? Bei der Domänenspezi- lichkeiten zu eröffnen (7 Kap. 1). Zwar erwiesen sich die
fität von Expertise und den in der Literatur angesetzten zehn behavioristischen Lerntheorien und die aus ihnen abgelei-
Jahren, die es in der Regel benötigt, um Expertise zu errei- teten Lernprogramme in einigen Bereichen in der Tat als
chen, scheint dies zunächst fraglich zu sein. Dennoch zei- effektiv und effizient, aber in Bezug auf das Verständnis kom-
gen bekannte Jugendwettbewerbe (z. B. „Jugend forscht“ oder plexer Problemlöseprozesse blieben die erhofften Fortschritte
„Jugend trainiert für Olympia“), dass Schülerinnen und Schü- aus.
ler bereits in jungen Jahren zu herausragenden Leistungen
fähig sein können. Kann dies als eine Form von Expertise be- Im Fokus: Lernen durch Einsicht (Köhler 1921/1963)
trachtet werden? In diesem Kapitel wird erläutert, wie Exper-
tiseerwerb im Kontext Schule aussehen kann (7 Abschn. 3.4). Köhler formulierte in seiner kognitiven Lerntheorie sechs
Konkret werden wir dies am Schulfach Mathematik illus- Phasen:
trieren. Um die Basis dafür zu schaffen, gehen wir jedoch 1. Auftauchen eines Problems: Ein bestimmtes Ziel soll
zunächst auf grundlegende Überlegungen zum Problemlösen erreicht werden, wird aber durch ein auftauchendes
(7 Abschn. 3.2) und zur Expertiseforschung (7 Abschn. 3.3) Problem zunächst unerreichbar.
ein. 2. Probierverhalten: Bekannte und bewährte Handlungs-
strategien werden angewendet, führen aber nicht zum
1 Wichtige Definitionen gewünschten Ergebnis.
Expertise – Dauerhafte Leistungsexzellenz innerhalb einer bestimm-
ten Domäne
3. Umstrukturierung: Versuch und Irrtum. Mögliche
Problemlösen – Die durch bewusste Denkprozesse und intelligentes alternative Strategien werden durchdacht, nicht aber
Handeln geleitete – dabei Hindernisse überwindende – Überführung tatsächlich durchgeführt.
eines Ist-Zustands in einen Soll-Zustand 4. Einsicht und Lösung: „Aha-Erlebnis“. Ein im Geiste durch-
Domäne – Themenbereich, der Gegenstand einer inhaltlichen Spezia- dachter Lösungsansatz scheint erfolgversprechend zu
lisierung ist
Deliberate Practice – Gezielte Übungen, um konkrete Verbesserun-
sein.
gen in einem bestimmten Bereich zu erzielen 5. Anwendung: Handlungsprozess setzt umgehend ein
und wird bei Erfolg beibehalten.
6. Übertragung: Ein Lerntransfer findet statt. Der gefunde-
3.2 Problemlösen ne Lösungsansatz wird zur Lösung ähnlicher Probleme
herangezogen.
Veranschaulichung am Zwei-Seile-Problem (Maier 1931):
3.2.1 Problemlösen als Die Phasen lassen sich mit Hilfe des Zwei-Seile-Problems
Informationsverarbeitungsprozess verdeutlichen: Zwei von der Decke hängende Seile sollen
miteinander verknotet werden, der Proband kann aber nicht
Die Problemlösepsychologie erlebte in der ersten Hälfte des beide Enden gleichzeitig erreichen. Als weitere mögliche
20. Jahrhunderts eine Blütezeit, als Forscher wie Max Wert- Hilfsmittel sind im Raum folgende Gegenstände platziert:
heimer oder Wolfgang Köhler ihre Arbeiten zur Gestalt- Zange, Stuhl, Papier, Nägel, Wasserglas. Das Problem kann
psychologie publizierten, etwa die Studien zum produktiven gelöst werden, indem man die Zange an ein Seilende knotet
Denken (Wertheimer 1920 1945) oder die Experimente mit und das Seil danach in Schwingung versetzt. Anschließend
dem Schimpansen Sultan zum Problemlösen beziehungswei- greift der Proband das zweite Seil, zieht es in die Mitte des
se zum „Lernen durch Einsicht“ (Köhler 1921/1963). Diese Raumes und passt das pendelnde Seil im richtigen Moment
Studien zeigten, dass beim Bearbeiten komplexer Aufgaben ab.
erstaunliche Leistungen möglich sind, wenn eine günstige
Kombination aus allgemeinen Problemlösefähigkeiten und
förderlichen Umweltbedingungen vorliegt, die das Entste- Mit der Wende von der behavioristischen zur kognitiven
hen von Einsicht unterstützen und „gute Gestalt“ wirksam Sichtweise in der Psychologie seit dem Ende der 1950er Jahre
3.2  Problemlösen
55 3
wurden manche Aspekte der Gestaltpsychologie wieder auf- Faktoren ist nicht immer in letzter Konsequenz kontrollier-
gegriffen, jedoch unter neuer Perspektive: Die Interpretation bar. Experten sind also ständig mit dem Lösen komplexer
von psychischen Vorgängen als Informationsverarbeitungs- Probleme beschäftigt, bei dem es zu einem Zusammenspiel
prozesse basierte auf der engen Zusammenarbeit einiger Psy- von routinierten und innovativen Vorgehensweisen kommt,
chologen mit Forschern, die in der Kybernetik und der neu die in unterschiedlichem Ausmaß durch die Notwendigkeit
entstehenden Computerwissenschaft arbeiteten. Als Prototyp intelligenten Problemlösens oder des Rückgriffs auf Wissen
für diese Entwicklung kann das Buch „Plans and the struc- gekennzeichnet sind. Die beobachtbare hohe Flexibilität von
ture of behavior“ (Miller, Galanter & Pribram 1960) gelten, Experten beim Problemlösen schlägt sich in erster Linie in
dessen Titel die Richtung der Informationsverarbeitungspsy- drei Fähigkeiten nieder (Gruber & Stamouli 2015): Erstens
chologie bereits vorgab. Das grundlegende Konzept war, dass die Fähigkeit zur Veränderung mentaler Repräsentationen
Verhalten als Konsequenz von Ordnungs- und Regelungs- von Problemen, um dadurch zu verschiedenen Hypothesen
prinzipien verstanden wurde. Dabei war die Annahme, dass zu gelangen. Zweitens die Fähigkeit, die Ebene ihrer Analyse
Verhalten geplant verläuft, bestimmten Strategien folgt und situativ zu verändern. Drittens schließlich die Fähigkeit, Ver-
ständig auf seine Funktionalität überprüft werden kann und arbeitungsstrategien zu wechseln.
sollte. Die Analogie zur Computerprogrammierung ist dabei
unverkennbar. Probleme lösen zu können galt als allgemei-
ne Problemlösefähigkeit, die durch generelle, das heißt nicht 3.2.2 Das Zusammenspiel von Intelligenz und
auf jeweilige Probleme abgestimmte Strategien gekennzeich- Wissen
net ist. Besonders bedeutsam war die Problemlöseforschung,
die an der Carnegie Mellon University in Pittsburgh (USA)
Wissen alleine ist nutzlos, sofern eine Person nicht intel-
entstand und die auf dem Modell menschlichen Entscheidens
ligent genug ist, es auch sinnvoll einzusetzen. Umgekehrt
und Problemlösens basierte, das Simon (1955) als „Behavi-
nützt hohe Intelligenz wenig, wenn eine Person nicht weiß,
oral model of rational choice“ formulierte. Für diese und die
welchen Nutzen sie aus ihr ziehen kann. Das Drei-Phasen-
folgenden Arbeiten erhielt Simon später sogar den Nobel-
Modell des Fertigkeitserwerbs (theory of ability determinants
preis für Wirtschaftswissenschaften. Die populärste Darstel-
of skilled performance; 7 Im Fokus) zeigt, wie Vorwissen und
lung der Problemlösetheorie wurde mit dem voluminösen
Intelligenz einer Person mit typischen Anforderungen im
Werk „Human problem solving“ (Newell & Simon 1972) ver-
Verlauf der Fertigkeitsentwicklung verbunden sind. Gerade
öffentlicht. Schon bald zeigte sich aber, dass die Aussagekraft
zu Beginn des Expertiseerwerbs ist Intelligenz von großer
von Problemlösetheorien trotz der außerordentlich umfang-
Bedeutung. Diese Bedeutung nimmt jedoch im Laufe der
reichen und intensiven Aufgabenanalysen, für die „Human
Entwicklung ab und insbesondere prozedurales Wissen (Wis-
problem solving“ stand, begrenzt war. Durch den Einbezug
sen, wie eine Handlung ausgeführt werden muss) wird dann
von Wissen konnte das Verständnis der Prozesse bei der Bear-
sehr wichtig. Ein Gelingen des Zusammenspiels von Intel-
beitung komplexer Aufgaben erheblich ausgeweitet werden.
ligenz und Wissen zeigt sich laut Ackerman (1992) erst in
Betrachtet man Experten, erkennt man einen selbstver-
komplexen, praktischen und anwendungsorientierten Situa-
ständlichen und engen Zusammenhang von Wissen und Pro-
tionen.
blemlösen. Dabei stellt sich stets die Frage, ob Experten auf
ihr Wissen und ihre Erfahrung zurückgreifen können, wenn Im Fokus: Drei-Phasen-Modell des Fertigkeitserwerbs
sie ein Problem bearbeiten. In vielen Fällen ist es so, dass sie
z. B. aufgrund verfügbarer Routinen gar nicht „problemlö- Diese Theorie (Ackerman 1992) beschreibt, wie sich die
sen“ müssen. Andererseits müssen sie einfallsreich denken, Bedeutung von Intelligenz und Vorwissen im Laufe des
um auch bei ungewöhnlichen Problemsituationen angemes- Expertiseerwerbs wandelt. Sie umfasst ein dreiphasiges
sen und womöglich sogar innovativ handeln zu können. Modell (kognitive, assoziative und autonome Phase) des
Zur Veranschaulichung kann das Beispiel einer Ärztin Expertiseerwerbs, das Gruber und Stamouli (2015) wie folgt
in der chirurgischen Abteilung eines Universitätsklinikums zusammenfassen:
dienen, die bei der Diagnose und Behandlung einer Blind- 1. In der kognitiven Phase ist das Individuum hoher
darmentzündung, wie sie ihr schon hundertfach begegnet ist, kognitiver Belastung ausgesetzt, weshalb Intelligenz
oft routiniert, schnell und mühelos handeln kann. Allerdings eine bedeutende Rolle spielt. Aufgabeninstruktionen
sind Universitätsklinika auch Anlaufstellen für komplizierte- müssen verstanden und Lösungsstrategien formuliert
re oder nicht alltägliche Fälle. Hier kann die genannte Chir- werden.
urgin an die Grenzen ihres bisherigen Wissens stoßen und 2. In der assoziativen Phase werden diese Lösungsstra-
muss dann aktiv und innovativ an Problemlösungen arbeiten. tegien eingeübt, wodurch die Leistung fehlerfreier
Und selbstverständlich gibt es eine große Anzahl an Grenzfäl- und schneller als zuvor erbracht werden kann. Ebenso
len, bei denen es für gegebene Aufgabenstellungen gar nicht wird die Wahrnehmungsgeschwindigkeit trainiert
die eine, beste Lösung gibt, auch da es eine Vielzahl weiterer und verbessert. Hier geht es also in erster Linie um
Einflussfaktoren auf das Ergebnis einer Operation oder auf Wissenskompilation und die Schnelligkeit der Wissens-
den Gesundheitszustand eines Patienten gibt (z. B. Alter oder anwendung.
körperliche Verfassung). Das komplexe Wechselspiel dieser
56 Kapitel 3  Problemlösen und Expertiseerwerb

Abschnitt erläuterten Drei-Phasen-Modell des Fertigkeits-


3. In der autonomen Phase werden diese Fertigkeiten erwerbs. Im Verlauf des Expertiseerwerbs zeigt sich dieser
schließlich automatisiert. Somit werden Tätigkeiten Zusammenhang dynamisch mit zunehmend stärkerer Aus-
extrem schnell und präzise und benötigen nur noch richtung auf die domänenspezifischen Komponenten.
wenig oder sogar überhaupt keine Aufmerksamkeit. Als pädagogisch aussichtsreicher als die Dispositions-
oder Begabungsidee wird das Konzept der Expertise angese-
3 hen, weshalb Gruber und Mandl (1992) dafür plädierten, vor-
nehmlich den Begriff Expertise zur Beschreibung von Phä-
3.3 Expertise: Wissensbasiertes nomenen zu verwenden, bei denen zuvor von Begabung die
Problemlösen Rede war. Eine zunehmende Anzahl an einschlägigen Pub-
likationen in einer Vielzahl von Feldern des Problemlösens
Der vorhergehende Abschnitt macht deutlich, dass die Ex- wies seither in dieselbe Richtung (Bromme 1992; Ericsson
pertiseforschung (Ericsson, Hoffmann, Kozbelt & Williams 1996; Ericsson et al. 2018). Der Begriff Begabung beschreibt
2018) den Fokus auf kognitive Eigenschaften von Personen demnach nicht länger das Gesamtphänomen der Experti-
legt (Mulder, Messmann & Gruber 2009). Hierzu zählen bei- se, spielt aber dennoch in Bezug auf Expertise eine nicht
spielsweise Wissen oder Gedächtnisstruktur und Gedächt- zu vernachlässigende Rolle. Gerade für das Verständnis der
nisleistung (Berliner 2001; Sternberg & Horvath 1995) ebenso Bedingungen, die zur Entstehung von Expertise führen, ist
wie die Wahrnehmung domänenspezifischer Muster. Zudem es wichtig, das Zusammenspiel zwischen Begabung, Wis-
wissen Experten auch, wer in ihrer eigenen Domäne über sen und Lernen näher zu betrachten. Bereits Weinert (1984)
welches Wissen verfügt oder eine zentrale Rolle unter den machte deutlich, dass dies mit einer Veränderung der zentra-
Experten einnimmt. All diese Aspekte werden in der Regel len Konzepte einhergeht, beispielsweise in der Verwendung
als erlernbar angesehen, wenn genügend viel und genügend des Begabungsbegriffs, wenn es vor allem um die Beschrei-
„gut“ geübt wird. Dies ist in der Tat eine Grundannahme bung und Förderung von Lernprozessen geht.
der Expertiseforschung, die immer wieder Anlass für Dis-
kussionen bietet, da im alltäglichen – vorwissenschaftlichen –
Verständnis Experten als besonders begabte, wenn nicht gar 3.3.2 Das Zusammenspiel von Problemlösen
„begnadete“ Personen angesehen werden (7 Kap. 9).
und Wissen

1 Domänenspezifität
3.3.1 Begabung und Expertise Einer der Kernbefunde der Expertiseforschung ist, dass
Expertenleistung domänenspezifisch ist (Ericsson & Smith
Begabungsforschung und Expertiseforschung verbindet das 1991). Dies hängt mit der notwendigerweise langen und
gemeinsame Interesse an der Beschreibung, Erklärung und intensiven Lern- und Erfahrungsphase zusammen, die für
Förderung hervorragender menschlicher Leistungen in kom- den Erwerb eines hohen Expertisegrads in komplexen be-
plexen, anspruchsvollen Bereichen. Die Forschungsinteres- ruflichen Feldern vonnöten ist. Expertenhandeln beschränkt
sen beider Bereiche können dabei als durchaus komple- sich auf eine Domäne beziehungsweise einen eingegrenz-
mentär bezeichnet werden. Während sich die Begabungs- ten Bereich, und vorhandenes Wissen kann hierbei sogar
forschung vor allem mit angeborenen Merkmalen wie all- Unterschiede in der Intelligenz oder altersbedingte Entwick-
gemeinen kognitiven Grundfähigkeiten (insbesondere der lungsunterschiede kompensieren (Schneider, Gruber, Gold &
Intelligenz) beschäftigt, richtet die Expertiseforschung ihr Opwis 1993). Experten besitzen die Fähigkeit, in ihrer Domä-
Augenmerk eher auf herausragende Leistungen, die als prin- ne in komplexen Situationen erfolgreich zu handeln (Hacker
zipiell erlernbar gelten. Lern- und Übungsprozesse stehen 1992). Expertenhandeln zeichnet sich somit durch großen
dabei ebenso wie der Aufbau einer umfangreichen und gut Problemlöseerfolg, Effizienz der Tätigkeit sowie eine geringe
organisierten Wissensbasis im Fokus der Expertiseforschung Fehlerquote aus, also durch hohe Performanz. Experten ver-
(Gruber 2007). fügen über eine umfangreiche, gut verfügbare Wissensbasis
Besonders im professionellen Bereich spiegelt die Ent- (Grundlage für Performanz) sowie über reichhaltige Erfah-
wicklung des Könnens die Komplementarität beider For- rung mit domänenspezifischen Aufgabenstellungen (Grund-
schungsansätze wieder. Gerade am Anfang der professio- lage für Entstehung der Wissensbasis). Die Fähigkeit, in einer
nellen Entwicklung spielt Veranlagung eine große Rolle, bestimmten Domäne dauerhaft – also weder zufällig noch
denn je größer das domänenspezifisch erworbene Wissen einmalig – herausragende Leistung erbringen zu können, un-
ist, umso geringer ist der Einfluss solcher bereichsübergrei- terscheidet Experten von anderen Personen, die innerhalb
fender, veranlagungsbedingter Merkmale, wie etwa der Ge- derselben Domäne tätig sind. Diese anderen Personen wer-
schwindigkeit von Informationsverarbeitungsprozessen. Die- den in der Expertiseforschung als „Novizen“ bezeichnet, also
sen Zusammenhang zwischen dispositionalen, inhaltsunab- als Neulinge – denen keineswegs das Potenzial abgeschrieben
hängigen Variablen und erfahrungsbedingten, bereichsspezi- wird, künftig zu einem hohen Expertisegrad gelangen zu kön-
fischen Variablen beschreibt Ackerman (1992) im im vorigen nen (Gruber 2004). Oft wird zwischen Novizen und Experten
3.3  Expertise: Wissensbasiertes Problemlösen
57 3
eine dritte kontrastive Gruppe angeführt, die intermediates bauen. Als Material diente eine Mittelspielstellung aus einer
beziehungsweise Fortgeschrittenen. In vielen Berufen (z. B. in Turnierpartie guter Spieler, die 28 Figuren enthielt.
der Medizin) sind dies Personen, die ihre berufliche bezie-
hungsweise akademische Qualifikation (im obigen Beispiel Analyse
das Medizinstudium) abgeschlossen haben, aber erst wenig Es wurde pro Studienteilnehmer die Anzahl der am Ende des Er-
Erfahrung in der beruflichen Tätigkeit aufweisen. Novizen innerns richtig auf dem Brett aufgebauten Figuren gezählt. Die
wie intermediates wird prinzipiell die Möglichkeit zugestan- mittlere Gedächtnisleistung beider Gruppen wurde inferenz-
den, einen hohen Expertisegrad zu erwerben, wenn sie genü- statistisch verglichen (7 Kap. 27).
gend lang genügend gute Lern- und Übungsprozesse durch-
laufen. Ergebnis
Experten erinnerten im Mittel 20.75 (SD D 5.14), Novizen 8.17
1 Methoden der Problemlöse- und Expertiseforschung (SD D 4.15) Figuren richtig. Der Mittelwertsunterschied ist sta-
Die Expertiseforschung beruht zu wesentlichen Teilen auf tistisch signifikant: t.46/ D 9:34, p < :01. Deskriptiv war
dem kontrastiven Vergleich (7 Studie) von Experten und No- festzuhalten, dass manche Experten 27 Figuren richtig aufbau-
vizen (bzw. auch intermediates). Meist fußt dieser Vergleich ten.
auf der Analyse von Informationsverarbeitungsprozessen. In
der Forschung geschieht dieser Vergleich oft durch die Doku- Kommentar
mentation kognitiver Prozesse – etwa durch lautes Denken In der Studie zeigte sich, dass Experten und Novizen, deren do-
(Ericsson & Simon 1993), aber auch durch intensive Auf- mänenunspezifische Gedächtnisleistung (Zahlenspanne) ver-
gabenlösungsanalysen (Newell & Simon 1972) oder neuer- gleichbar war, unterschiedliche Ergebnisse beim freien Erin-
dings durch die Analyse von Augenbewegungen beim Pro- nern kurz präsentierter Schachpositionen erzielten: Die Exper-
blemlösen (Holmqvist et al. 2011). Durch die vergleichende ten rekonstruierten im Mittel deutlich mehr Figuren richtig als
empirische Untersuchung von im Expertisegrad sehr unter- die Novizen.
schiedlichen Personen sollen diese Unterschiede sichtbar und
analysierbar gemacht werden und letztlich Aussagen über
die Entwicklung von Expertise abgeleitet werden. Wir wer-1 Problemlöseförderliche Wissensorganisation
den später zeigen, dass sich diese Erkenntnisse auch auf die Die Fähigkeit von Experten, domänenspezifische Informati-
Entwicklung fachbezogener Kompetenzen von Schülerinnen on auf Anhieb wahrnehmen und nahezu fehlerfrei wiederge-
und Schülern übertragen lassen. ben zu können, war einer der Ausgangspunkte einer klassi-
schen Studie der Expertiseforschung, nämlich der Untersu-
Studie: Veranschaulichung der Methode des kontrastiven chung von Schachmeistern (De Groot 1965). Diese Fähigkeit
Vergleichs – Expertise und Gedächtnisleistung (Gruber zeigte sich besonders deutlich in einer Aufgabe, in der eine
1994) Schachstellung nur für wenige Sekunden präsentiert wur-
Zeigen Experten bessere Gedächtnisleistungen als Novizen de und dann frei erinnert und wiedergegeben werden sollte.
beim Erinnern domänenspezifischer, für kurze Zeit präsentier- Während diese Aufgabe Novizen vor große Schwierigkeiten
ter Information? stellt, zeigen Experten herausragend gute Leistungen. Die-
ser Gedächtniseffekt konnte auch in nicht-experimentellen
Studie mit Schachspielern Settings, wie etwa der Wahrnehmung von Schulklassen im
Klassenzimmer (Bromme 1992), nachgewiesen werden. Die
Stichprobe Ursache für die Probleme der Novizen ist in bekannten Be-
Es wurden zwei Versuchsgruppen gebildet, die sich (nur) im schränkungen der Gedächtnisleistung, vor allem dem be-
Expertisegrad unterschieden. Gruppe 1 umfasste 24 Schachex- grenzten Umfang des Kurzzeitspeichers, zu finden. Dass die
perten, die in einer der drei höchsten deutschen Spielklassen Experten den Novizen so überlegen sind, hat jedoch nichts
spielten. Gruppe 2 umfasste 24 Schachnovizen, die Schach nur mit allgemeinen Gedächtnisfähigkeiten zu tun – sie erin-
sporadisch, also als Hobby, aber nicht im Verein spielten. Die nern nicht-domänenspezifisches Material nämlich nicht bes-
Gruppen unterschieden sich nicht in Alter, Bildung, nonverba- ser (so konnten die Schachgroßmeister beispielsweise will-
ler und verbaler Intelligenz. kürlich aufgebaute Stellungen, die keinen typischen Schach-
stellungen entsprachen, nicht besser als Novizen erinnern).
Durchführung und Material Die überlegene Gedächtnisleistung von Experten kann auf
Zu bearbeiten war eine Gedächtnisaufgabe, nämlich das freie die unterschiedliche Art und Weise zurückgeführt werden,
Erinnern von Schachstellungen, die zuvor nur für wenige Se- wie sie ihr umfangreiches Wissen in der Domäne organisiert
kunden präsentiert wurden. Die Studienteilnehmer saßen in haben. Experten weisen demnach nicht nur größere Wissens-
individuellen Versuchen an einem Schachbrett. Die zu erin- bestände auf, sondern können ihr Wissen auch unmittelbar
nernde Position wurde auf einem zweiten Schachbrett zehn einsetzen, um erfolgreich zu handeln und Probleme zu lö-
Sekunden lang gezeigt und sollte dann sofort und ohne Zeitbe- sen. Die wichtigsten Modelle der Wissensorganisation und
schränkung rekonstruiert werden. Die Versuchspersonen wur- Wissenskumulation sind die Chunking-Theorie, die Pattern
den lediglich instruiert, möglichst viele Figuren richtig aufzu- Recognition-Theorie sowie die Skilled Memory-Theorie.
58 Kapitel 3  Problemlösen und Expertiseerwerb

Unter Chunking (Miller 1956) versteht man das Zusam- tät zu bewahren sowie Offenheit für Innovation zu erwerben.
menfassen von Information in größere Einheiten, die mit Drittens ist die Einordnung in angemessene und förderliche
Labels („Bezeichnungen“) versehen werden. So wird nicht die soziale (und schulische) Netzwerke erforderlich. Dement-
gesamte Informationsfülle, sondern lediglich das Label im sprechend existieren unterschiedliche Vorstellungen darüber,
Kurzzeitgedächtnis gespeichert. Beim Abruf der Informatio- wie Expertise erworben und gefördert werden kann. Die-
nen werden mit Hilfe des Labels die relevanten Informationen se lassen sich danach unterscheiden, ob sie auf spezifische
3 im Langzeitgedächtnis gesucht und anschließend dekodiert. individuelle Lernprozesse abzielen (individuelle Mikropro-
Miller stellte fest, dass 7˙2 Chunks vom menschlichen Kurz- zesse wie Wissensaneignung), ob sie von einer langfristi-
zeitgedächtnis gespeichert werden können, so dass sich die gen Stufenabfolge von Expertiseerwerb sprechen (individu-
Kapazitätsbeschränkung des Kurzzeitgedächtnisses auf die elle Makroprozesse wie die Entwicklung vom Novizen zum
Anzahl speicherbarer Chunks beziehen lässt. Bei sinnvoller Experten) oder ob sie unter Expertise sogar organisationale
Kodierung von Informationen zu Chunks ist die Kapazi- Veränderungsprozesse bezüglich der individuellen Position
tät des Kurzzeitgedächtnisses jedoch prinzipiell unbegrenzt in Netzwerken oder professionellen Organisationen verste-
erweiterbar. So lassen sich beispielsweise die Buchstaben hen. Bezogen auf Expertiseerwerb im Kontext Schule können
„I“, „W“, „D“ und „N“ auch als das Wort „Wind“ merken, Jahrgangsstufen durchaus als eine Form von Kompetenzstu-
wodurch anstelle von vier Chunks nur ein Chunk gespei- fen gesehen werden. Die Wahl der Sekundarschulform sowie
chert werden muss. Der Speicherungsprozess des Chunkings der Besuch spezifischer Kurse spiegeln die Veränderung der
wird durch die Pattern Recognition-Theorie (Chase & Simon Position von Schülerinnen und Schülern in der professionel-
1973) um die Komponente der Wiedererkennung ergänzt. len Organisation „Schule“ wider.
Bei Kurzzeitgedächtnisaufgaben kann ein bestimmtes Mus-
ter wiedererkannt und verwendet werden, sofern es zuvor1 Individuelle Mikroprozesse
mit einem Label gespeichert wurde. Laut Skilled Memory- Enkapsulierung von Wissen
Theorie (Chase & Ericsson 1981) werden die für den Umgang In einer Reihe von Studien konnte nachgewiesen wer-
mit großen Informationsmengen entscheidenden Prozesse den, dass im Verlauf der Expertiseentwicklung in der Medizin
vom Kurzzeitspeicher in einen Langzeitspeicher verlegt. In ei- – und ähnlich in anderen fallbezogenen Berufen wie der
ner Ergänzung der Skilled Memory-Theorie konnten Ericsson Psychotherapie oder der Beratung (Caspar 1997; Strasser &
und Kintsch (1995) Belege dafür finden, dass die überle- Gruber 2003 2015) – dramatische Veränderungen in der Or-
gene Gedächtnisorganisation Experten sogar dazu befähigt, ganisation und Nutzen von Wissen erfolgen, die die intraindi-
gerade wahrgenommene Information unmittelbar vom Kurz- viduelle Entwicklung kennzeichnen. Diese Prozesse der qua-
zeitspeicher in den Langzeitspeicher zu übernehmen und litativen Veränderung der Wissensbasis bei steigendem Ex-
sofort verfügbar zu haben. Im Gegensatz dazu ist der Kurz- pertisegrad gehen mit einer intensiven und gezielten Nutzung
zeitspeicher eines Novizen erst einmal damit beschäftigt, der beruflichen Erfahrung einher, die zu verschiedenen Zeit-
gerade wahrgenommene Information zu verarbeiten. Somit punkten (im Medizinstudium, im Praktischen Jahr oder in
sind weniger Gedächtniskapazitäten für nachfolgende Infor- späterer klinischer Tätigkeit) unterschiedliche Schwerpunkte
mationen frei (vgl. 7 Kap. 2). aufweist. In einer frühen Studie hatte Lesgold (1984) zei-
gen können, dass die Expertiseentwicklung von Radiologen
bei der Röntgendiagnostik nicht linear, sondern U-förmig
verläuft. Das bedeutet, dass die berufliche Kompetenz zwi-
3.3.3 Expertiseerwerb: Erfahrung als
schenzeitlich absinkt, bevor sie ein höheres Level erreicht.
Grundlage von Routinen und von Lesgold (1984) begründete dies damit, dass Röntgenaufnah-
Innovation men viele irrelevante visuelle Informationen enthalten und
Radiologen somit neben biomedizinisch deklarativem Wis-
Der Expertiseerwerb ist ein langer und mühevoller Lernpro- sen auch klinisches Erfahrungswissen benötigen. Anfangs
zess, der es erfordert, dass ein Novize über einen langen Zeit- beruht die diagnostische Entscheidung noch auf zuvor er-
raum hinweg bereit ist, für die Verbesserung der Leistungs- worbenem biomedizinischem Wissen (also auf dem in Vorle-
fähigkeit auch motivationale Durststrecken zu durchqueren. sungen theoretisch erworbenen medizinischen Wissen). Erst
Damit ähnelt der Prozess stark dem Evolutionsprozess von in der weiteren beruflichen Entwicklung wird verstärkt kli-
Schülerinnen und Schülern vom Schuleintritt bis zum Erwerb nisches Wissen (also das Wissen, das im klinischen Alltag
des Abschlusszeugnisses. Im Verlauf des Expertiseerwerbs durch Praxiserfahrung aufgebaut wird) genutzt, wobei es in
kommt es darauf an, domänenspezifische Erfahrung gezielt der Übergangsphase so lange zu Störungen und dem damit
aufzusuchen und für die Verbesserung der eigenen Leistun- verbundenen Leistungsabfall kommen kann, bis neue Routi-
gen zu nutzen. Dies erfordert erstens eine immer wieder nen aufgebaut werden.
durchzuführende Adaptation der eigenen, individuellen In- Boshuizen und Schmidt (1992) zeigten, dass Ärzte mit
formationsverarbeitungsprozesse, zweitens die Einordnung steigendem Expertisegrad weniger auf biomedizinisches Wis-
in verschiedene Entwicklungsstufen und die Bereitschaft, we- sen beim Erstellen von Diagnosen zurückgriffen als Novizen.
nig kompatible Lernerfahrungen zu kombinieren, etwa um Im Gegensatz zu Novizen konnten sie allerdings stärker von
zugleich wiederkehrende Routinen aufzubauen und Flexibili- Kontextinformationen über die Patienten profitieren. Bos-
3.3  Expertise: Wissensbasiertes Problemlösen
59 3
huizen und Schmidt (1992) zeigten also, dass Experten ihr einen durch dritte Personen, wie z. B. Lehrkräfte, zum ande-
Wissen umgewandelt und generalisiert hatten, das biome- ren durch Selbstreflexion des Lernenden.
dizinische Wissen wurde in das klinische Erfahrungswissen Zusammengefasst bleibt festzuhalten, dass einerseits in-
integriert und bei Bedarf lediglich in enkapsulierter Form ge- dividuelle Mikroprozesse Expertiseerwerb vorantreiben kön-
nutzt. Nach diesem Modell der Enkapsulierung führt zuneh- nen und hierfür auch notwendig sind, dass andererseits Ex-
mende Erfahrung zu einer Umwandlung von deklarativem pertiseerwerb immer auch mit dem Erreichen unterscheid-
Wissen in fallbezogenes Wissen. barer qualitativer Stufen einhergeht, wie sie etwa in der Drei-
teilung Novize-intermediate-Experte beschrieben werden. Es
Deliberate Practice gibt einige Ansätze, die solche individuellen Makroprozesse
Das Modell der deliberate practice („Gezieltes Üben“; in theoretischen Stufenabfolgen skizzieren. Diese werden im
Ericsson, Krampe & Tesch-Römer 1993) wurde anhand von Folgenden vorgestellt.
Studien mit Berufsmusikern entwickelt, konnte aber mitt-
lerweile in vielen anderen Domänen bestätigt werden (z. B.1 Individuelle Makroprozesse
Medizin: van de Wiel & van den Bossche 2013). Die bisher in In ihrem Fünfphasenmodell unterschieden Dreyfus und
diesem Kapitel beschriebenen Prozesse des Expertiseerwerbs Dreyfus (1987) fünf Expertisegrade (Neuling, fortgeschritte-
sind mit großem Zeitaufwand und Anstrengung verbunden – ner Anfänger, Kompetenz, Gewandtheit und Expertentum).
beides garantiert aber nicht den Expertiseerwerb, denn es gibt Dabei erwähnten sie Komponenten, die bei der Analyse der
zahllose Beispiele von Novizen, die trotz großen Zeit- und Ar- eben beschriebenen Mikroprozesse kaum thematisiert wur-
beitsaufwands nicht zu einem hohen Expertisegrad gelangen. den, etwa die Zielauswahl, die Nutzung von Erfahrung in un-
Dies gilt analog auch für eine Vielzahl von Schülerinnen und terschiedlichen Situationen sowie die Leichtigkeit des Exper-
Schülern, die trotz hohen Lernaufwands keine große Stei- tenhandelns. Ein anderes Modell (Groen & Patel 1988) wurde
gerung ihrer schulfachlichen Kompetenz erzielen können. in der Medizin entwickelt und zeigt Anklänge an das Enkap-
Die Expertiseforschung führt dieses Phänomen jedoch nicht sulierungsmodell. Es unterscheidet zwischen generischer Ex-
primär auf mangelnde Begabung zurück, sondern fokussiert pertise (Aufbau einer großen deklarativen Wissensbasis) und
stattdessen die Qualität von Übungs- und Lernprozessen. Das spezifischer Expertise (Aufbau herausragender Handlungs-
Modell der deliberate practice postuliert, dass nicht jede belie- kompetenz). Letztere unterteilten Patel und Groen (1991)
bige Übungsform bei ausreichender Quantität auch Experti- in vier Stufen, nämlich Anfänger, intermediate, generischer
seerwerb zur Folge hat. Demnach müssen im Zuge der Exper- Experte und Experte. Hatano und Inagaki (1986) trennten
tiseentwicklung gezielte (deliberate) Übungen (practice) um Routineexpertise (Automatisierung von Handlungsvorgän-
der Verbesserung Willen zum Einsatz kommen. Einfach aus- gen) und adaptive Expertise (Flexibilität von Handlungsvor-
gedrückt muss man sich also häufig genau mit den Aspekten gängen).
auseinandersetzen, die man am schlechtesten kann. Das hat Die Differenzierung von individuellen Makroprozessen
dann zur Folge, dass deliberate practice meist nicht motivie- hat Auswirkungen auf die Lehr- und Lernprozesse und somit
rend erscheint. Gerade in dieser Phase nehmen Lehrende eine auch auf die Rahmenbedingungen von Expertiseentwicklung
tragende Rolle ein. Sie können den Lernenden verdeutlichen, in Aus- und Weiterbildungskonstellationen. Um angemesse-
wohin deliberate practice führen kann. Zudem sind Lehrkräf- nen Lernerfolg zu begünstigen, sollten Instruktionsmodelle
te oft in ein Netzwerk von Experten eingebunden (so ken- auf die unterschiedlichen Expertisekomponenten eingehen.
nen Musiklehrerinnen und Musiklehrer oftmals eine Vielzahl Dies veranschaulichten Strasser und Gruber (2003) anhand
verschiedener Musikerinnen und Musiker) und können dem- der Domäne der Erziehungsberatung. Beratungsexpertise er-
nach dafür sorgen, dass auch die Lernenden Zugang zu diesen langt man nicht allein durch das Erreichen einer formalen
Netzwerken erhalten. Diese Einführung in Expertennetzwer- Qualifikation (z. B. Studienabschluss), sondern man benötigt
ke führt in der Regel zu Motivationssteigerung und stellt zudem die (selbst-)reflektierte Auseinandersetzung mit dem
zudem eine wichtige Komponente von Expertise dar. spezifischen Arbeitsfeld. Auch hier zeigt sich die Notwendig-
Gruber, Degner und Lehmann (2004) analysierten die keit von Erfahrungswissen, das – ähnlich wie bei der oben
Karrieren von Jazz-Gitarristen unterschiedlicher Expertise- angesprochenen Röntgendiagnostik – durchaus diskrepant
grade. Dabei wurden sowohl Beginn, Dauer und Intensität zu deklarativem Beratungswissen sein kann. Durch Erfah-
des Musikunterrichts als auch die Präsenz von Musiklehr- rungswissen kann zudem domänenspezifisches Fachwissen
kräften, das künstlerische Anspruchsniveau, verschiedene dazu genutzt werden, die Bedeutsamkeit von Erfahrungen zu
Unterrichtskonzepte, Feedback und Kritik nach Auftritten beurteilen. Anhand des Fachwissens können gemachte Erfah-
usw. thematisiert. Es zeigte sich, dass hoher quantitativer rungen also besser eingeordnet und kann ihre Relevanz für
Übungsaufwand mit hoher qualitativer Ausarbeitung des die eigene Domäne besser beurteilt werden. Fach- und Erfah-
Übens einhergeht. Dies wird als ein zentrales Charakteris- rungswissen ergänzen sich also und stehen nicht zueinander
tikum von deliberate practice angesehen. Um einen hohen in Gegensatz. Experten zeichnen sich durch eine Verknüp-
Expertisegrad zu erlangen, ist es demzufolge wichtig, eigene fung von Theorie und Praxis aus, die mit einer zunehmenden
Defizite sowie Lernfortschritte zu kontrollieren (in der Schu- Integration in professionelle (soziale) Netzwerke einhergeht
le: Monitoring bzw. Selbstregulierung). Dies geschieht zum (Gruber 2007).
60 Kapitel 3  Problemlösen und Expertiseerwerb

1 Organisationale Veränderungsprozesse Um die Bedeutung des üblicherweise in der empirischen


Rehrl und Gruber (2007) kennzeichneten das Hineinwachsen Bildungsforschung und in der Unterrichtsforschung verwen-
von Individuen in eine Expertengemeinschaft als eine zentra- deten Expertisebegriffes zu verstehen, ist ein Rückgriff auf die
le Komponente des Expertiseerwerbs. Sowohl der Verlauf als Lehrkräfte erforderlich, für die dieser Begriff im Forschungs-
auch die Zielrichtung individueller Mikro- und Makropro- kontext (wenn auch nicht im Alltag; Bromme 1993) weit
zesse hängen von der jeweiligen und über lange Zeiträume verbreitet ist.
3 zu gewährleistenden Einbindung der Individuen in profes-
sionelle Netzwerke ab. Dabei gehen Veränderungen in der
Qualität der individuellen Mikro- und Makroprozesse mit
Veränderungen der individuellen Position in Netzwerken
3.4.1 Der Expertisebegriff für Lehrkräfte in
einher, da der individuelle Expertiseerwerb häufig in Zusam-
menhang mit Denken und Handeln anderer Experten steht. der Bildungsforschung
Gruber et al. (2004) zeigten in Bezug auf deliberate practice,
dass in erster Linie Partner in Netzwerken (z. B. Lehrkräfte als Die bereits über 100 Jahre alte Geschichte der „Lehrerfor-
Partner von Schülerinnen und Schülern) bestimmen, welche schung“, in der sich der oben beschriebene Wechsel vom
Übungsprozesse für den weiteren Expertiseerwerb notwen- Behaviorismus zum Kognitivismus in einer Fokusverschie-
dig sind. Lave und Wenger (1991) betonten, dass Expertise- bung vom Lehrerverhalten zum Lehrerwissen widerspiegelt,
erwerb neben der individuellen Entwicklung auch häufig die mündete in den 1980er Jahren tatsächlich im sogenann-
zunehmende Übernahme zentraler Rollen in professionellen ten „Expertenparadigma“ auch in der Unterrichtsforschung
Netzwerken beinhaltet. Damit einhergehend entsteht im Zu- (Krauss & Bruckmaier 2014). Diese derzeit vorherrschende
ge des Expertiseerwerbs sowohl Verantwortung als auch die Forschungssicht auf Lehrkräfte macht deutlich, dass profes-
eigene Identifizierung mit kulturellen Werten und professio- sionelle Kompetenzen von Lehrkräften als prinzipiell erlern-
nellen Praktiken des jeweiligen Netzwerks. Moreland, Argote bar angesehen werden und dass viele der oben genannten
und Krisman (1996) entwickelten das Konzept des transak- Aspekte zu Struktur und Genese von Expertise direkt auf
tiven Gedächtnisses. Es bezeichnet das Wissen darüber, wie die Professionalisierung von Lehrkräften übertragbar sind
im jeweiligen Netzwerk Fach- und Handlungswissen verteilt (Kunter et al. 2011). Bereits beim Expertenparadigma zum
sind, welche Experten an wichtigen Schaltstellen im Netzwerk Lehrerberuf wird aber auch deutlich, dass unter „Expertise“
sitzen und wie ein Zugriff auf das Wissen anderer Exper- in der empirischen Bildungsforschung üblicherweise nicht
ten derselben Domäne möglich ist. Rehrl, Palonen, Lehtinen mehr Höchstleistungen und Perfektionsstreben im engeren
und Gruber (2014) stellten ähnliche Entwicklungsprozes- Sinne verstanden werden, sondern als Performanzmaßstab
se auch in verschiedenen Disziplinen in der Wissenschaft für Lehrkräfte stattdessen eine – z. B. nach Oser (2009) – sou-
fest. Durch die zunehmende Teilhabe an und Gestaltung von veräne, also dauerhafte, zuverlässige und qualitätsvolle Be-
Handlungen in professionellen Netzwerken erweitern Indivi- wältigung der beruflichen Anforderungen eingeführt werden
duen wiederum ihre Erfahrungsmöglichkeiten und damit das musste. Darüber hinaus macht der Titel des wegweisenden
Potenzial, Neuerungen in die eigene Wissensbasis aufzuneh- Buches von Bromme (1992: „Der Lehrer als Experte“) deut-
men. So kann neben der Verfügbarkeit von Routinen auch das lich, dass Lehrkräfte quasi „qua Amt“ als Experten für die
Potenzial zur Gestaltung von Innovationen im Beruf bewahrt komplexe Aufgabe des Unterrichtens gesehen werden und
werden (Palonen, Boshuizen & Lehtinen 2014). dass diese Aufgabe von Nicht-Professionellen nicht erfolg-
reich bewältigt werden kann. In diesem vor allem im deutsch-
sprachigen Diskurs verbreiteten „Professionsansatz“ werden
also nicht mehr Experten von Novizen (also Anfängern in
3.4 Expertiseerwerb im Kontext Schule
dieser Disziplin) unterschieden, sondern „Experten für Un-
terrichten“ werden nach außen hin von Laien – also von
Was könnte „Expertiseerwerb“ nun in Bezug auf Schülerin- „Nicht-Lehrern“ – abgegrenzt. Diese Betrachtung des „Leh-
nen und Schüler bedeuten? Welche der genannten kogniti- rers als Experten“ ist oft mit einer Fokussierung auf das durch
onspsychologischen Konzepte und Erkenntnisse lassen sich Ausbildung und Berufserfahrung erworbene professionelle
auf das Lernen und auf die Leistung von Schülerinnen und Wissen verbunden (z. B. Fachwissen, fachdidaktisches Wis-
Schülern übertragen, wo gibt es Grenzen? Zunächst einmal sen, pädagogisches Wissen; 7 Kap. 20), das ein wesentliches
muss festgehalten werden, dass weder der Expertenbegriff Merkmal ist, das Lehrkräfte deutlich von Laien unterscheidet.
noch das Konzept der Expertise gängige Begriffe bei der Un- Während die Fokussierung auf das Wissen durchaus kompa-
tersuchung von Schülerleistungen sind. Gerade im Zuge der tibel mit vielen der geschilderten Ideen der Expertisetheorie
empirischen Bildungsforschung, die in Deutschland nicht zu- ist, weichen die Definition eines Experten sowie der zugrun-
letzt aufgrund des sogenannten „PISA-Schocks“ im Jahr 2000 de gelegte Performanzmaßstab hier also ab. Diese Heran-
einen enormen Schub erhielt, wird derzeit verstärkt eher von gehensweise, die oft mit der psychometrischen Konstrukti-
„Kompetenzen“ von Schülerinnen und Schülern gesprochen on und empirischen Validierung von Professionswissenstests
(7 Abschn. 3.4.2). Bislang wurde der Expertisebegriff in die- verbunden ist, ist vor allem in Deutschland zu beobachten
sem Kapitel aus kognitionspsychologischer Sicht diskutiert. (Krauss et al. 2017), in der angloamerikanischen Forschungs-
3.4  Expertiseerwerb im Kontext Schule
61 3
tradition gibt es durchaus auch Experten-Novizen-Studien sie sollen neuartige mathematische Probleme auch dann lö-
mit Lehrkräften (Krauss & Bruckmaier 2014). sen können, wenn keine Standardprozeduren verfügbar sind,
sie sollen reale Situationen in der Sprache der Mathematik
beschreiben können, sie sollen mathematische Darstellun-
gen verwenden und interpretieren können, und sie sollen
3.4.2 Der Kompetenzbegriff für Schülerinnen
mathematische Texte verstehen und sich über Mathematik
und Schüler in der Bildungsforschung auch verbal austauschen können (für Details siehe Blum et
al. 2010). Insofern findet auch das Problemlösen – zumindest
In Bezug auf Schülerinnen und Schüler ist der Begriff der im Kontext der Mathematik – als mathematische Teilkompe-
Expertise in der empirischen Bildungsforschung und in der tenz seinen Platz im deutschen Schulcurriculum. Obschon
Unterrichtsforschung eher unüblich. Im Folgenden soll erläu- das Problemlösen kein eigenständiges Unterrichtsfach dar-
tert werden, dass aber der in vielen Bildungsstandards und stellt, wird es bei PISA zusätzlich als eigenes Konstrukt, das
aktuellen Lehrplänen in Hinblick auf Schülerinnen und Schü- über die Mathematik hinausgeht, regelmäßig erhoben (Pren-
ler oft bemühte Kompetenzbegriff in vielerlei – wenn auch zel, Sälzer, Klieme & Köller 2013).
nicht in jeder – Hinsicht kompatibel mit dem Begriff der Ex- Diese „Kompetenzorientierung“ von Schule und Unter-
pertise ist. richt fand (und findet immer noch) nicht nur im Fach Ma-
Die Idee der „flächendeckenden“ Einführung des Kom- thematik und den beiden anderen „PISA-Disziplinen“ Lesen
petenzbegriffs im Kontext von Schülerlernen und Schüler- und Naturwissenschaften statt, sondern wird deutschland-
leistungen in Deutschland folgte einem Rationale, das viele weit derzeit in allen Unterrichtsfächern umgesetzt. Selbst
Gemeinsamkeiten mit dem kognitionspsychologischen Ex- aktuelle Curricula in Fächern wie Religionslehre oder Mu-
pertisebegriff aufweist. Nach der Veröffentlichung der Ergeb- sik sind zunehmend kompetenzorientiert formuliert. Dies
nisse der ersten PISA-Studie (Baumert et al. 2001), nach der ist nicht selbstverständlich, da es durchaus strittig ist, ob es
die Fachleistungen von deutschen Schülerinnen und Schü- sich bei spirituellen oder ästhetischen Aspekten der Weltbe-
lern in den Disziplinen Mathematik, Naturwissenschaften gegnung (immer auch) um Kompetenzen handelt (für eine
und Lesen im internationalen Vergleich wider Erwarten nur entsprechende Diskussion in verschiedenen Fächern siehe
unterdurchschnittlich waren, setzte in Wissenschaft und Me- Krauss et al. 2017). Der entscheidende Aspekt der Kompe-
dien sofort eine heftige Diskussion über mögliche Ursachen tenzorientierung ist, dass verhindert werden soll, dass sich
ein („PISA-Schock“; heutzutage sind die Leistungen deut- bei Schülerinnen und Schülern in der Schulzeit eine Fülle
scher Schülerinnen und Schüler bei PISA leicht über dem von „trägem“ Wissen ansammelt, das zwar deklarativ wie-
Durchschnitt). Als einer der Gründe wurde dabei wiederholt dergegeben werden kann, das aber in Anwende- oder Pro-
die mangelnde Fähigkeit deutscher Schülerinnen und Schüler blemlösesituationen nicht flexibel eingesetzt werden kann.
genannt, ihr in der Schule gelerntes Wissen in Anwendungs- Auch wenn die Vorteile einer Kompetenzorientierung offen-
situationen umzusetzen. Viele Aufgaben der im dreijährigen sichtlich und plausibel sind, muss eingeräumt werden, dass
Zyklus durchgeführten PISA-Studie hatten und haben im- gelegentlich auch ein Wegfallen des Eigenwerts von Fach-
mer noch starken Anwendungscharakter. Diese Erkenntnis inhalten, also von „Bildung“, beklagt wird. So konstatiert
führte beispielsweise für das Fach Mathematik dazu, dass etwa Liessmann (2016), dass sich kaum jemand mit einer
bundesweite Bildungsstandards formuliert wurden, die als philosophischen Theorie beschäftigen würde, um daran sei-
Unterrichtsziel – noch stärker, als dies bis dahin üblich war – ne Argumentationskompetenz zu verbessern, sondern dass
u. a. die Fähigkeit zur kompetenten Anwendung mathemati- Neugier und Interesse in der Regel immer von Inhalten aus-
schen Wissens einforderten (7 Kap. 8). In den Bildungsstan- gehe und dass der Wert und die Bedeutung von Inhalten
dards für den mittleren Schulabschluss (Blum, Drüke-Noe, verloren ginge, wenn diese nur noch als „zweckdienlich“ zum
Hartung & Köller 2010), auf die sich die Kultusministerkon- Erwerb von Kompetenzen betrachtet und somit beliebig und
ferenz im Jahr 2003 einigte, ist das schematische Beherrschen austauschbar werden. Befürworter der Kompetenzorientie-
von (Rechen-)Routinen folgerichtig nur noch eine von sechs rung betonen jedoch, dass Kompetenzen selbstverständlich
gleichberechtigten Kompetenzen, die im Unterricht sowohl immer auf Wissen basieren (müssen).
gefordert als auch gefördert werden sollten. Darüber hinaus Im Fokuskasten werden einige Gründe für und gegen die
sollen Lehrkräfte, aber auch Lehrpläne und Schulbücher für Bezeichnung von Schülerkompetenzen als „Expertise“ auf-
das Fach Mathematik, Lerngelegenheiten zur Förderung des geführt. Doch selbst wenn der schulische Kompetenzbegriff
mathematischen Argumentierens, des mathematischen Pro- nicht völlig deckungsgleich zum Expertisebegriff ist, ist es
blemlösens, des mathematischen Modellierens, des Verwen- unbestritten, dass die Lehr-Lern-Forschung bzw. die Unter-
dens von mathematischen Darstellungen und des mathemati- richtsforschung von der Expertiseforschung profitieren kann,
schen Kommunizierens bereitstellen (KMK 2004). Schülerin- gerade auch, was Erkenntnisse zum frühen Stadium auf dem
nen und Schüler sollen also nicht nur Rechenaufgaben lösen Weg vom Novizen zum Experten bzw. Erkenntnisse über das
können, sondern auch Sachverhalte und Schlussfolgerungen Wechselspiel von Wissen, Begabung und Problemlösen oder
mathematisch begründen können (bis hin zum Beweisen), zur Informationsverarbeitung betrifft.
62 Kapitel 3  Problemlösen und Expertiseerwerb

Im Fokus: Schülerkompetenz D Expertise?


Auch wenn Schülerinnen und Schüler auf der höchsten
Pro Kompetenzstufe jeweils weit überdurchschnittliche Leis-
Gemeinsam haben der Expertisebegriff und der (schulische) tungen zeigen, kann nicht von „Höchstleistungen auf dem
Kompetenzbegriff die Vorstellung, dass Kompetenzen Gebiet der Mathematik“ gesprochen werden – solche
prinzipiell erlernbar sind. Auch der Erwerb in den einzelnen Höchstleistungen sind eher Fach- oder Universitätsmathe-
3 Unterrichtsfächern läuft in vielen Teilen äquivalent zum matikerinnen und -mathematikern vorbehalten, auch wenn
Erwerb von Expertise ab: Für schulische Leistungen ist auf schulischen Mathematik-Olympiaden immer wieder
ebenfalls stetiges Üben, Arbeiten an eigenen Schwächen, erstaunliche Leistungen gezeigt werden. Pioniere der Ex-
Selbstregulation und Expertenfeedback (in diesem Fall pertiseforschung wie Ericsson vertreten unter Umständen
durch die Lehrkraft) erforderlich (deliberate practice; sogar extreme Meinungen, nämlich etwa, dass die Schule
7 Abschn. 3.3.1), und der Unterricht im Klassenverband keinerlei Beitrag zur Expertiseentwicklung von Schülern
kann durchaus als Arbeiten in professionellen Netzwerken leiste, weil sie keine deliberate practice ermögliche (Ericsson
aufgefasst werden. So werden beispielsweise von Brown 2011).
et al. (1993) verschiedene Aspekte des Arbeitens in Ein weiterer Unterschied zwischen beiden Konzepten liegt
Schülernetzwerken mit „verteilter Expertise“ beleuchtet sicherlich auch darin, dass in der kognitionspsychologischen
und auch Bielaczyc und Collins (1999) heben die Rolle von Expertiseforschung typischerweise auf eine Domäne
Lerngemeinschaften in Klassenzimmern hervor. Nicht nur fokussiert wird. Schülerinnen und Schüler dagegen müssen
die individuellen Mikroprozesse, auch die Makroprozesse „Experten“ für verschiedene Domänen (nämlich für die
beim Erwerb von Expertise erinnern durchaus an schulische Unterrichtsfächer) werden, sie sollten also idealerweise
Kompetenzmodelle, die ebenfalls mit Hilfe von Stufen „multiple Expertise“ erreichen. Dieses Phänomen lässt sich
formuliert sind (siehe die sieben Stufen mathematischer besser mit dem Kompetenzkonzept beschreiben.
Kompetenz bei PISA 2012; Prenzel et al. 2013).
Die Kompetenzorientierung und das damit verbundene
literacy-Konzept unterstreichen weiterhin die Bedeutung
der Anschlussfähigkeit des in der Schule erworbenen
Wissens. Ganz im Sinne des lebenslangen Lernens ist Zusammenfassung
die zentrale Idee des Kompetenzkonzepts, dass von In diesem Kapitel ging es uns darum zu illustrieren, welche
Schülerinnen und Schülern auch metakognitives Wissen Möglichkeiten es gibt, Menschen dabei zu unterstützen,
über Lernstrategien erworben werden soll, das auch nützlich anspruchsvolle Lernaufgaben zu bewältigen und langfris-
für den späteren Expertiseerwerb außerhalb der Schule sein tig ein hohes Leistungsniveau zu erreichen. Dabei wurde
kann. deutlich, dass es viele Ansätze in der Lehr-Lern-Forschung,
Während der Expertisebegriff für Schülerleistungen im der Unterrichtsforschung und der Pädagogischen Psycho-
deutschen Sprachraum nur ein Schattendasein fristet – und logie gibt, die zu diesem Themenbereich wichtige Beiträ-
zwar sowohl in Hinblick auf die Alltagssprache als auch ge leisten – leider sind diese Ansätze noch nicht immer
in der empirischen Bildungsforschung –, muss an dieser gut aufeinander abgestimmt. Daher wurde besonderes
Stelle festgehalten werden, dass es im angloamerikanischen Augenmerk darauf gelegt zu verdeutlichen, wie fruchtbar
Sprachraum durchaus Ansätze gibt, das Expertisekonzept es sein kann, jeweils unterschiedliche Sichtweisen mitein-
auch auf das Lernen und die (Fach-)Leistungen von Schüle- ander zu verknüpfen. Dies erfolgte in vier Schritten, in
rinnen und Schülern anzuwenden. So macht beispielsweise denen die folgenden Aspekte diskutiert wurden:
ein renommiertes Lehrbuch zur Pädagogischen Psychologie 1. Wie hängen Problemlösen und Wissen miteinander
(Sternberg & Williams 2009) deutlich, dass es gerade Aufga- zusammen?
be des expert teachers sei, Schülerinnen und Schüler selbst 2. Wie hängen angeborene Begabung und Lernen und
zu Experten für bestimmte Disziplinen zu machen (Kinchin Übung miteinander zusammen?
2016). Und die Studie von Chi und Koeske (1983) zeigt 3. Wie hängt die individuelle Entwicklung im Kleinen
auf unterhaltsame Weise, dass es durchaus berechtigt ist, (Mikroprozesse) mit der in größeren Zusammenhän-
manchen Kindern beispielsweise in Bezug auf Dinosaurier gen (Makroprozesse) zusammen, und wie fügen sich
Expertenstatus zuzuschreiben. diese beiden Prozesse in größere Systeme oder Orga-
nisationen ein?
Contra 4. Wie hängen Expertiseerwerb und Kompetenzorien-
Ein Unterschied des Kompetenzkonzepts zum Expertise- tierung zusammen?
konzept ist sicherlich – wie auch schon bei den Lehrkräften Es zeigte sich, dass von Problemlösen vor allem dann ge-
– prinzipiell der fehlende Fokus auf Höchstleistungen: sprochen wird, wenn noch keine fertigen Routinen zur
3.4  Expertiseerwerb im Kontext Schule
63 3

Verfügung stehen oder wenn eine Person nicht vor vorn- bewältigt wurden, desto wichtiger wird die Rolle, die sie
herein das Wissen besitzt, wie eine Aufgabe zu bewältigen in der Gesellschaft, in Organisationen oder in beruflichen
ist. Es ist aber nicht einfach, zu bestimmen, welches Wis- Netzwerken einnehmen. Sie können und müssen mehr
sen das „richtige“ Wissen ist, denn die meisten Probleme Verantwortung übernehmen und dann zur Entwicklung
sind komplex und in bestimmte situationale Kontexte ein- der Organisation selbst beitragen. Dabei kommen das
gebunden. Es gibt also immer einen Übergangsbereich, Wissen und die Erfahrung der Personen zur Geltung, zu-
in dem bestimmte Teile von Aufgaben mit bestehendem gleich stehen sie aber in der Verantwortung, die Triebfe-
Wissen bewältigt werden können, andere hingegen mit dern für Innovation und Weiterentwicklung zu sein. Das
Problemlöseprozessen angegangen werden müssen. Je Zusammenspiel von Problemlösen und Wissen spiegelt
weniger eine Person über den Gegenstandsbereich weiß, sich sozusagen auf einem höheren Niveau wider.
aus dem die Aufgabe stammt, umso wichtiger ist das Die Frage, inwieweit es gerechtfertigt ist, von Exper-
Problemlösen. Das bedeutet, dass Experten bei Routine- tiseerwerb in der Schule zu sprechen, ist nicht einfach
problemen nicht etwa qualitativ andersartiges, sondern zu beantworten. Es gibt Unterschiede zwischen beiden
gar kein Problemlösen betreiben. Das Drei-Phasen-Modell Bereichen – beispielsweise zielt die Forschung zum Exper-
des Fertigkeitserwerbs verdeutlicht, wie der Übergang tiseerwerb meist auf berufliche Tätigkeiten ab und ist be-
vom Problemlösen zur wissensbasierten Aufgabenbewäl- sonders am Entstehen von Höchstleistungen interessiert,
tigung abläuft. Dieser Übergang muss pädagogisch be- die nur zustande kommen können, wenn eine zunehmen-
gleitet werden, wenn sich Lernende entsprechend entwi- de Konzentration auf einen bestimmten Gegenstandsbe-
ckeln sollen. reich erfolgt (Domänenspezifität). In der Schule geht es
Analog zu dem eben genannten Übergang verän- nur selten um Höchstleistungen, und Schülerinnen und
dert sich auch die Bedeutung, die angeborene Fähig- Schüler können und dürfen sich nicht nur auf ein Fach
keiten oder Begabungen für die Bewältigung von Lern- konzentrieren, sondern müssen sich in vielen Fächern be-
und Arbeitsaufgaben haben. Zu Beginn der individuellen währen. Dennoch überwiegen die Gemeinsamkeiten, die
Entwicklung sind sie – z. B. die Geschwindigkeit, mit der für das Lehren und Lernen in beiden Bereichen bestehen.
kognitive Prozesse ablaufen können – erheblich dafür ver- Die wichtigsten Theorien haben gemeinsam, dass sie die
antwortlich, dass sich Menschen in den Ergebnissen von angestrebten Fähigkeiten und Leistungen für erlernbar
Problemlöseaktivitäten unterscheiden. Später spielt die halten, dass sie Wissenserwerb und deswegen intensives,
Verfügbarkeit von viel Wissen, das zudem gut organisiert gut angeleitetes und reflektiertes Üben für wichtig halten
ist, eine viel größere Rolle. Deshalb wird die Gestaltung und dass eine besondere Herausforderung darin besteht,
von Lern- und Übungsprozessen immer wichtiger. Die we- die Balance zwischen Problemlösen und Wissen immer
sentliche pädagogische Aufgabe (z. B. für Lehrkräfte) ist wieder – und auf immer höherem Leistungsniveau – zu
es, Lernende dabei zu unterstützen, die richtigen in einer finden und pädagogisch sowie didaktisch zu bewältigen.
richtigen Art und Weise zu üben sowie die Lernbemühun- In diesem Sinne verweist die Entwicklung im deutschen
gen lang aufrecht zu erhalten. Schulsystem hin zu einer Ausrichtung an Bildungsstan-
Dabei spielen kognitive Veränderungen eine wichtige dards und einer Kompetenzorientierung auf viele Aspek-
Rolle – also z. B. die Art und Weise, wie Lernende ihr Wissen te, die in der Expertiseforschungthematisiert wurden und
organisieren, wie geschickt sie Wissen abrufen können, werden. Wie die wechselseitige Beziehung zwischen der
wie gut sie über die Anwendbarkeit von Wissen, aber auch Expertiseforschung und der Unterrichtsforschung so aus-
über deren Grenzen Bescheid wissen, oder wie gut sie gebaut werden kann, dass beide Bereiche voneinander
Lehren aus ihren eigenen Lernerfahrungen ziehen, egal, profitieren, ist eine große, aber aussichtsreiche Herausfor-
ob sie positiv oder negativ verliefen. Solche kognitiven derung für die nächsten Jahre. Dies kann sowohl in der
Veränderungen oder individuellen Mikroprozesse verän- grundsätzlichen Lehr-Lern-Forschung als auch in der pä-
dern sich im Verlauf der Entwicklung von Menschen, denn dagogischen und didaktischen Praxis – in der Schule wie
die Aufgaben, denen sie begegnen, werden immer an- auch am Arbeitsplatz und im Beruf – zu neuen Impulsen
spruchsvoller (sei es, dass Schülerinnen und Schüler von und Innovationen verhelfen.
der Mittelstufe in die Oberstufe wechseln, sei es, dass
Ärztinnen und Ärzte sich von Studierenden zu Mediziner-
innen und Medizinern im Praktischen Jahr und irgend-
wann zu Fachärztinnen und Fachärzten entwickeln). Ei-
ne instruktionale Unterstützung dieser Entwicklung muss Verständnisfragen
unterschiedliche Phasen oder Stufen berücksichtigen, die
als individuelle Makroprozesse den Rahmen abgeben, in-
nerhalb dessen die jeweils angemessenen Mikroprozesse ?1. Was beschreibt das Drei-Phasen-Modell des Fertig-
ablaufen. Je mehr solcher Stufen von der Person schon keitserwerbs?
2. Was ist Gegenstand der Expertiseforschung?
3. Was versteht man unter Domänenspezifität?
64 Kapitel 3  Problemlösen und Expertiseerwerb

4. Was versteht man unter der Methode des kontrastiven 14th Biennial Conference of the European Association for Research on
Vergleichs? Learning and Instruction (EARLI), Exeter.
5. Wie kann der Begriff Chunking beschrieben werden? Ericsson, K. A., Hoffman, R. R., Kozbelt, A., & Williams, A. M. (Hrsg.). (2018).
The Cambridge handbook of expertise and expert performance (2. Aufl.).
6. Wie lauten die sechs Phasen des Lernens durch Einsicht Cambridge: Cambridge University Press.
nach Köhler? Ericsson, K. A., & Kintsch, W. (1995). Long-term working memory. Psycho-
7. Welche drei Fähigkeiten befähigen Experten zu hoher logical Review, 102, 211–245.
3 Flexibilität beim Problemlösen? Ericsson, K. A., Krampe, R. T., & Tesch-Römer, C. (1993). The role of delibe-
8. Was versteht man unter Deliberate Practice („Gezieltes rate practice in the acquisition of expert performance. Psychological
Review, 100, 363–406.
Üben“)? Ericsson, K. A., & Simon, H. A. (1993). Protocol analysis. Verbal reports as data
9. Welche Lerngelegenheiten sollen Lehrkräfte, Lehrpläne (rev. Aufl.. Aufl.). Cambridge: MIT Press.
und Schulbücher laut KMK für das Fach Mathematik Ericsson, K. A., & Smith, J. (Hrsg.). (1991). Toward a general theory of exper-
bereitstellen? tise: Prospects and limits. Cambridge: Cambridge University Press.
10. Wie steht die idealerweise „multiple Expertise“ von Groen, G. J., & Patel, V. L. (1988). The relationship between comprehension
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Selbstreguliertes Lernen
Ulrike E. Nett und Thomas Götz

4.1 Definition selbstregulierten Lernens – 68

4.2 Modelle selbstregulierten Lernens – 70


4.2.1 Ein hierarchisches Modell des selbstregulierten Lernens – 71
4.2.2 Ein Prozessmodell des selbstregulierten Lernens – 72

4.3 Effekte selbstregulierten Lernens – 73

4.4 Diagnostik selbstregulierten Lernens – 75


4.4.1 Erfassung von Kompetenzen zum selbstregulierten Lernen – 77
4.4.2 Erfassung selbstregulierten Lernverhaltens – 78

4.5 Förderung selbstregulierten Lernens – 79


4.5.1 Fördermodell selbstregulierten Lernens – 80
4.5.2 Förderung selbstregulierten Lernens in der Schule – 81

Verständnisfragen – 82

Literatur – 83

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019


D. Urhahne, M. Dresel, F. Fischer (Hrsg.), Psychologie für den Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55754-9_4
68 Kapitel 4  Selbstreguliertes Lernen

Der Begriff „lebenslanges Lernen“ ist bereits seit geraumer liert zu lernen, feststellen können und wie sie diese Kompe-
Zeit ein fester Bestandteil bildungspolitischer Diskussionen tenzen fördern können.
(z. B. Ananiadoun & Claro 2009; OECD 2016). In der heu-
tigen Gesellschaft ist es mittlerweile unvorstellbar gewor-
den, mit dem Abschluss von Schule und Ausbildung auch 4.1 Definition selbstregulierten Lernens
das „Lernen“ abzuschließen. So fordert die schnelle Ent-
wicklung in vielen Bereichen des täglichen Lebens, wie z. B. In den einzelnen Kapiteln der Sektion „Lernen, Gedächtnis
der Umgang mit Computern und Smartphones, beständi- und Wissenserwerb“ dieses Buches werden unterschiedliche
4 ges Lernen von jedem einzelnen Mitglied unserer Gesell- Aspekte des Lernens genauer beleuchtet. In diesen Kapiteln
schaft. Um jedoch in der Lage zu sein, auch über den Besuch zeigt sich, dass Lernen und Verhaltensänderungen durchaus
von „Bildungsstätten“ wie Schulen und Universitäten hinaus, von außen beeinflusst bzw. mitgesteuert werden können. So
sein Wissen und seine Kompetenzen beständig weiterzuent- übernehmen Lehrerinnen und Lehrer täglich Verantwortung
wickeln, bedarf es der Fähigkeit, eigenverantwortlich und für den Lernerfolg ihrer Schülerinnen und Schüler. Auf der
selbständig zu lernen. Diese Fähigkeit zum „selbstregulierten anderen Seite wird aber auch deutlich, dass Lernen nur dann
Lernen“ ist daher seit geraumer Zeit zentral in den Bildungs- erfolgen kann, wenn Lernende den Lernprozess eigeninitia-
zielen von Schulen, Universitäten und Weiterbildungsein- tiv mitlenken. Nun ergibt sich daraus natürlich die Frage: Ist
richtungen verankert (Ertl 2006). Synonym zur Bezeichnung Lernen nicht stets selbstreguliert? Die Antwort auf diese Fra-
„selbstreguliertes Lernen“ wird auch von „selbstgesteuertem ge lautet: Eigentlich „Ja“, doch Lernen kann wenig oder stark
Lernen“ oder „selbstorganisiertem Lernen“ gesprochen. selbstreguliert sein (Schiefele & Pekrun 1996), je nachdem,
Lehrerinnen und Lehrer stehen vor der Herausforderung, wie weit ein Lernprozess von außen, z. B. durch eine Lehr-
die Schülerinnen und Schüler dazu zu befähigen, sich auch kraft, mitgesteuert wird. Man wird in der Realität kaum eine
über die Schulzeit hinaus eigenständig stetig weiterzubilden. Form des ausschließlich fremd- oder ausschließlich selbstre-
Dies bedeutet, dass sie ihre Schülerinnen und Schüler nicht gulierten Lernens finden. Götz und Nett (2017) orientieren
nur in fachlichen Inhalten, sondern auch in ihrem Lern- sich in ihrer Definition selbstregulierten Lernens stark am
verhalten fördern sollen. Schülerinnen und Schüler haben Prozess des selbstregulierten Lernens selbst.
jedoch bezüglich ihrer Fähigkeiten zum Lernen sehr unter-
schiedliche Voraussetzungen. Daher ist es wichtig, diese He-
terogenität nicht außer Acht zu lassen. Die Problematik, vor „Selbstreguliertes Lernen ist eine Form des Erwerbs von
der Lehrerinnen und Lehrer, die das eigenständige Lernver- Wissen und Kompetenzen, bei der Lerner sich selbständig
halten ihrer Schülerinnen und Schüler unterstützen möchten, und eigenmotiviert Ziele setzen sowie eigenständig
im Schulalltag täglich stehen, wird im folgenden Szenario ver- Strategien auswählen, die zur Erreichung dieser Ziele
deutlicht. führen und durch Bewertung von Erfolgen bezüglich der
Frieder Maier ist Lehrer einer Klasse der 5. Jahrgangsstufe Reduzierung der Ist-Soll-Differenz Ziele und Aktivitäten
und wird seine Schülerinnen und Schüler in der kommenden im Hinblick auf eine Erreichung des Soll-Zustands
Woche eine Klassenarbeit in Mathematik schreiben lassen. prozessbegleitend modifizieren und optimieren“ (Götz &
Sein Ziel ist es, es allen Schülerinnen und Schülern zu ermög- Nett 2017, S. 146).
lichen, sich optimal auf diese Klassenarbeit vorzubereiten.
Dabei möchte er sie einerseits optimal unterstützen, ande-
rerseits möchte er aber auch, dass seine Schülerinnen und Entsprechend dieser Definition findet selbstreguliertes
Schüler möglichst eigenständig lernen und ihre Prüfungsvor- Lernen dann statt, wenn von den beschriebenen Bedingun-
bereitung an ihre eigenen Bedürfnisse und Fähigkeiten an- gen und Prozessen ein Mindestmaß eigenständig initiiert
passen. Hierzu benötigen sie einen gewissen Freiraum. Doch wird. Nun ist es möglich, mit Hilfe dieser Definition ab-
wie viel Freiraum kann ein verantwortungsvoller Lehrer Kin- zugleichen, ob im oben beschriebenen Szenario tatsächlich
dern in dieser Jahrgangsstufe zugestehen? Wie kann der Leh- selbstreguliertes Lernen stattfinden kann. Hierfür werden im
rer seinen Schülerinnen und Schülern Strategien vermitteln, Folgenden die einzelnen Aspekte selbstregulierten Lernens
zielgerichtet mit diesen Freiheiten umzugehen? Wie weit sol- verdeutlicht, die in der Definition beschrieben werden:
len Ziele, Inhalte, Lernzeiten, Lernstrategien und Techniken Der Mathematiklehrer Frieder Maier gibt zwar die Inhal-
zur Überprüfung des Lernerfolgs vorgegeben werden? Wie te der Klassenarbeit vor, jedoch können sich die Schülerinnen
kann der Lehrer die unterschiedlichen Voraussetzungen der und Schüler trotzdem selbständig und eigeninitiativ Ziele set-
Schülerinnen und Schüler berücksichtigen? zen: Sie können selbst festlegen, ob sie sich überhaupt auf
Im vorliegenden Kapitel soll zunächst geklärt werden, die Klassenarbeit vorbereiten, welche Inhalte oder Kompe-
welche Aspekte selbstreguliertes Lernen ausmachen. Anhand tenzen sie erlernen möchten und ob sie sich mit einer „4“
ausgewählter Modelle wird der Prozess selbstregulierten zufriedengeben, oder eine möglichst gute Note anstreben. Die
Lernens genauer beleuchtet. Der aktuelle Wissensstand zur Lernenden haben also die Möglichkeit, „sich selbständig und
Wirkung selbstregulierten Lernens wird anhand empirischer eigenmotiviert Ziele zu setzen“ (Götz & Nett 2017, S. 146).
Befunde dargestellt. Zuletzt wird diskutiert, wie Lehrkräfte Ob die Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit haben,
die Fähigkeiten ihrer Schülerinnen und Schüler, selbstregu- „eigenständig Strategien auszuwählen“ (Götz & Nett 2017,
4.1  Definition selbstregulierten Lernens
69 4
S. 146), die zur Erreichung dieser Ziele führen, wie z. B. be- empirische Befunde zu einzelnen Lernstrategien unter Be-
stimmte Lernstrategien, hängt jedoch von einer Vielzahl von rücksichtigung dieser Aspekte und belegen, dass der Nutzen
Bedingungen ab. Verfügen die Schülerinnen und Schüler be- einiger sehr beliebter Strategien, wie u. a. auch wiederhol-
reits über ein bestimmtes Repertoire an Strategien, auf die sie tes Lesen, das Erstellen von Zusammenfassungen oder das
zurückgreifen können? Falls ja, haben sie die Möglichkeit die- Hervorheben von Informationen nicht generalisierbar ist. Im
se Strategien auch tatsächlich sinnvoll einzusetzen? An dieser Allgemeinen sehr hilfreich sind dagegen z. B. das Erstellen
Stelle könnte der Mathematiklehrer unterstützen, indem er von Lernplänen, die Lerneinheiten über einen längeren Zeit-
nicht nur Inhalte, sondern auch effiziente Lernstrategien un- raum verteilen und das Überprüfen des eigenen Wissens mit
terrichtet und diese unterstützt. Hilfe von Selbsttests. Diese Befunde zeigen, dass es für Ler-
Schließlich sollen „durch Bewertung von Erfolgen bezüg- nende eine große Herausforderung sein kann, eine passende,
lich der Reduzierung der Ist-Soll-Differenz, Ziele und Akti- angemessene und effiziente Strategie auszuwählen, ebenso
vitäten im Hinblick auf eine Erreichung des Soll-Zustands wie für Lehrerinnen und Lehrer, ihre Schülerinnen und Schü-
prozessbegleitend modifiziert und optimiert“ (Götz & Nett ler darin zu unterstützen (Überblick hierzu bei Dunlosky et
2017, S. 146) werden. Dies bedeutet, dass Lernende nur dann al. 2013).
in der Lage sind, tatsächlich selbstreguliert zu lernen, wenn
sie erfolgreich einschätzen können, ob ihr aktuelles Lernver-
halten auch tatsächlich zielführend ist oder reguliert werden
muss. Gerade dieses Erkennen kann für Lernende eine gro- Mythos: Lernstile
ße Herausforderung darstellen und erfordert die Fähigkeit, Das Konzept der Lernstile ist in der pädagogischen Praxis,
eigenes Handeln und eigene Fähigkeiten möglichst objek- ebenso wie in der Wissenschaft, seit langem weit verbreitet.
tiv einzuschätzen. Auch für Lehrerinnen und Lehrer ist es Der Begriff „Lernstile“ beruht auf der allgemeinen Annah-
eine große Herausforderung, dies bei ihren Schülerinnen und me, dass Lernende sich darin unterscheiden, welche Form
Schülern angemessen zu fördern. Für Frieder Maier bedeutet von Instruktion, z. B. auch in Form von Lernmaterialien,
das, dass er nicht nur selbst die Fähigkeiten und Lernfort- sie bevorzugen (Pashler, McDaniel, Rohrer & Bjork 2008).
schritte seiner Schülerinnen und Schüler angemessen dia- Weit verbreitete Kategorisierungen sind beispielsweise die
gnostizieren können muss, sondern ihnen auch beibringen Unterscheidung in Accomodator, Diverger, Converger und
sollte, ihre Leistungsfähigkeit selbst korrekt einzuschätzen. Assimilator (Kolb 1981) oder in visuell und auditiv Lernende
Aus diesen Überlegungen wird deutlich, dass der Einsatz (für einen Überblick über unterschiedliche Konzepte zu
der angemessenen Lernstrategie zur richtigen Zeit ein essen- Lernstilen siehe Pashler et al. 2008; Landrum & MacDuffie
tieller Bestandteil selbstregulierten Lernens ist. Der Begriff 2010). Vertreter von Lernstilkonzepten gehen dabei davon
der Lernstrategien umfasst dabei ein Bündel unterschiedli- aus, dass der Lernstil eines bzw. einer Lernenden iden-
cher Strategien, die mit dem Lernprozess verbunden sind: tifiziert werden muss, damit sein bzw. ihr Lernverhalten
und die gewählten Lernmaterialien optimal an die Bedürf-
nisse des bzw. der Lernenden angepasst werden können
Lernstrategien umfassen ein Bündel an Kognitionen und (siehe z. B. die Homepage des International Learning
Verhaltensweisen, die vom Lernenden gezielt eingesetzt Style Network unter 7 http://www.learningstyles.net/).
werden können, um den Lernprozess zu initiieren, aufrecht Messinstrumente zur Bestimmung der einzelnen Lernstile
zu erhalten und zu verbessern (vgl. Götz & Nett 2017). werden größtenteils kommerziell gehandelt.
Die Grundannahme, dass individuellen Bedingungen
Beispiele für Lernstrategien sind Wiederholungsstrategi- und Voraussetzungen der Lernenden beim Lernen
en (Texte mehrfach lesen, Vokabeln wiederholt laut sagen), Rechnung getragen werden sollte, um den Lernerfolg zu
Mnemotechniken (z. B. das Nutzen von Eselsbrücken), Her- optimieren, ist vermutlich unumstritten. Die Annahme
vorheben von Informationen (Highlighting), Zusammenfas- jedoch, dass bestimmte Materialien nur für ausschließlich
sungen erstellen, sich selbst Sachverhalte erklären bzw. mit einen bestimmten Typ von Lernenden optimal sind,
bereits bestehendem Wissen verknüpfen, aber auch das Er- müsste für jedes Kategorisierungssystem von Lerntypen
stellen von Lernplänen (z. B. Lerneinheiten über eine be- einzeln nachgewiesen werden. In einem nach Richtlinien
stimmte Zeit systematisch verteilen, unterschiedliche Lern- von Pashler und Kollegen (2008) konzipierten Experiment
inhalte und Methoden mischen etc.) oder das systematische konnten Rogowsky, Calhoun und Tallal (2014) keinen
Kontrollieren des eigenen Lernstands, zum Beispiel durch Effekt nachweisen, der belegen würde, dass „visuelle
Selbsttests (vgl. Dunlosky, Rawson, Marsh, Nathan & Willing- Lerner“ von visuellen Materialien und „auditive Lerner“
ham 2013). Wichtig beim Einsatz bestimmter Strategien ist, von auditiven Materialien besonders profitieren würden.
dass sie nicht nur entsprechend des Lerngegenstands und der In ihrem Überblicksartikel stellen Pashler und Kollegen
Lernsituation eingesetzt werden, sondern auch die Voraus- (2008) fest, dass sie bisher keinen empirischen Beleg für
setzungen des Lernenden (z. B. dem inhaltlichen Vorwissen, den Erfolg eines spezifischen Lernstilkonzepts finden
aber auch motivationalen und emotionalen Zuständen) und konnten. Dies bedeutet, dass es im Moment äußerst unklar
die Lernziele berücksichtigt werden (Dunlosky et al. 2013). ist, ob es eindeutige Lernstile überhaupt gibt, ob sie bisher
Dunlosky und Kollegen (2013) diskutieren in ihrem Artikel
70 Kapitel 4  Selbstreguliertes Lernen

noch nicht identifiziert werden konnten oder aber nur auf


300
unpassende Weise überprüft wurden. Leutner und Plass PsychINFO
ERIC
(1998) konnten beispielsweise belegen, dass die Erfassung 250
von visueller versus verbaler Präferenz beim Lernen durch

Anzahl an Veröffentlichungen
Beobachtungsverfahren deutlich valider erhoben werden 200
kann. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob Lernstile
über unterschiedliche Kontexte (z. B. Unterrichtsfächer) 150
4 stabil bleiben, oder aber, ob eine Person je nach Kontext zu
100
unterschiedlichen Lerntypen zählen kann. Zum aktuellen
Zeitpunkt ist daher die Kategorisierung von Lernenden
50
in bestimmte „Lerntypen“ nicht durch die empirische
Befundlage gestützt. Darüber hinaus besteht die Gefahr, 0
1980–1984 1985–1989 1990–1994 1995–1999 2000–2004 2005–2009 2010–2014
dass Lernende sich auf einen Lernstil konzentrieren und
nicht vom Nutzen weiterer Lernstrategien, bzw. einer
. Abb. 4.1 Entwicklung der Anzahl der Veröffentlichungen zum
günstigen Mischung unterschiedlicher Lernstrategien, Thema „selbstreguliertes Lernen“. Die Anzahl an Veröffentlichun-
profitieren. Daher ist es für Lehrerinnen und Lehrer gen zum Thema „selbstreguliertes Lernen“ in der entsprechenden
insbesondere wichtig, ein möglichst breites Spektrum Datenbank wurde an der Gesamtzahl aller Publikationen im
an Lernstrategien und deren effektiver Anwendung gleichen Zeitraum je 100.000 relativiert (adaptiert nach Götz &
Nett 2017, S. 150)
zu vermitteln, um den unterschiedlichen individuellen
Voraussetzungen gerecht zu werden.
Die Abbildung zeigt eindrücklich, dass das Thema „selbst-
reguliertes Lernen“ in den vergangenen Jahren beständig
an Relevanz gewonnen hat. Dies bedeutet nicht, dass vor
4.2 Modelle selbstregulierten Lernens 1980 der Fähigkeit, sein eigenes Lernen zu regulieren, keine
Bedeutung beigemessen wurde (7 Kap. 1), es zeigt jedoch,
dass es auch heute noch eine Vielzahl ungeklärter Fragen zu
Sowohl für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler als diesem Thema gibt. Darüber hinaus legt das Ergebnis nahe,
auch für Lehrende stellen sich in Bezug auf selbstreguliertes dass es sowohl für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft-
Lernen die Fragen „Was beinhaltet selbstreguliertes Lernen?“ ler als auch für Lehrkräfte von besonderer Bedeutung ist,
und „Unter welchen Umständen und auf welche Weise findet sich systematisch mit diesem Thema auseinanderzusetzten.
selbstreguliertes Lernen statt?“. Hierzu zählt insbesondere, den aktuellen Wissensstand zu
Im Fokus: Forschungsschwerpunkt selbstreguliertes Lernen kennen und über bisher ungeklärte Fragen informiert zu
sein.
Einen ersten Eindruck, wie sehr ein bestimmtes Thema im
Fokus aktueller Forschung steht, gewinnt man über die
Anzahl an wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die zu Um diese Fragen zu beantworten, wurde eine Vielzahl
einem bestimmten Thema in einem bestimmten Zeitraum von Modellen des selbstregulierten Lernens entwickelt. In
zu finden sind. Wissenschaftliche Publikationen wie bei- diesen Modellen soll abgebildet werden, welche Komponen-
spielsweise Zeitschriftenartikel werden in Datenbanken ten selbstreguliertes Lernen ausmachen und welche Prozes-
gesammelt und können über diese gefunden werden. Zwei se während des selbstregulierten Lernens ablaufen. Dabei
im pädagogisch-psychologischen Kontext sehr etablierte, werden bestimmte, komplexe Zusammenhänge zwar oft ver-
internationale Datenbanken sind PsychINFO (erstellt von einfacht, jedoch wird insgesamt versucht, die Realität in
der American Psychological Association) und ERIC (erstellt ihren wichtigsten Komponenten strukturiert und übersicht-
vom Education Resources Information Center, Washington lich darzustellen. In diesem Sinne helfen Modelle den Wis-
DC). In Anlehnung an Götz und Nett (2017) wird in der fol- senschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die angenommenen
genden Abbildung die Entwicklung der Veröffentlichungen Zusammenhänge und Wirkungen zu überprüfen. Lehrerin-
zum Thema „selbstreguliertes Lernen“ seit 1980 in Fünf- nen und Lehrern dagegen helfen sie, sowohl bei der Diag-
Jahres-Zeiträumen dargestellt. Da in beiden Datenbanken nostik als auch bei der Planung von Fördermaßnahmen alle
unterschiedlich viele Veröffentlichungen aufgenommen wichtigen Aspekte selbstregulierten Lernens zu beachten (vgl.
werden und die Anzahl wissenschaftlicher Publikationen z. B. Wirth & Leutner 2008). Lernenden selbst kann eine
generell steigt, wird in . Abb. 4.1 der Anteil der Veröffentli- Kenntnis der unterschiedlichen Modelle helfen, den eigenen
chungen zum Thema „selbstreguliertes Lernen“ relativiert Lernprozess bewusst zu reflektieren und zu regulieren.
an der Gesamtzahl der Veröffentlichungen je 100.000 Je nach Zielsetzung haben Modelle unterschiedliche
Veröffentlichungen in der entsprechenden Datenbank Schwerpunkte und betonen verschiedene Aspekte selbstre-
dargestellt. gulierten Lernens. Eine mögliche Einteilung von Modellen
zum selbstreguliertem Lernen erfolgt in hierarchische Model-
4.2  Modelle selbstregulierten Lernens
71 4

Regulation des Selbst


Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit zu geben, ein ei-
genes Repertoire an Lernstrategien aufzubauen.
Regulation des Lernprozesses Die korrekte Wahl einer angemessenen kognitiven Lern-
Regulation des
strategie wiederum ist essentieller Bestandteil der zweiten
Verarbeitungsmodus Ebene nach Boekaerts (1999), der Regulation des Lernprozes-
Selbstreguliertes Lernen
ses. Diejenigen Strategien, die der Regulation des Lernprozes-
Wahl kognitiver Strategien
ses und damit insbesondere der Organisation und der sinn-
Gebrauch metakognitiven Wissens vollen Anwendung kognitiver Lernstrategien dienen, werden
zur Steuerung des Lernprozesses als metakognitive Strategien bezeichnet. Auch für Emma ist
Wahl von Zielen und Ressourcen es zunächst notwendig, den Lernprozess vorzubereiten und
zu planen, wann und auf welche Weise sie lernen möchte.
. Abb. 4.2 Das Dreischichtenmodell von Monique Boekaerts (nach In einem zweiten Schritt, dem Monitoring, muss überprüft
Boekaerts 1999, S. 449) werden, ob der Lernfortschritt den Zielvorgaben und der Pla-
nung entspricht. Emma kann sich beispielsweise regelmäßig
am Abend überlegen, ob sie alles, was sie sich für diesen
le und Prozessmodelle. Während in hierarchischen Modellen Tag vorgenommen hatte, auch geschafft hat. Sollte dies nicht
(z. B. Boekaerts 1999; Pintrich 2005) die einzelnen Kompo- der Fall sein, muss der Lernprozess schließlich reguliert, al-
nenten (z. B. konkrete Lerntechniken, übergeordnete Strate- so so angepasst werden, dass die Ziele doch noch erreicht
gien zur Steuerung des Lernprozesses) und deren Struktur werden können. Insbesondere Planung, Monitoring und Re-
herausgearbeitet werden, fokussieren Prozessmodelle (z. B. gulation sind also drei essentielle metakognitive Strategien,
Schmitz 2001; Zimmerman 1989) den zeitlichen Ablauf des durch deren korrekten Einsatz sichergestellt wird, dass der
selbstregulierten Lernens (z. B. vor dem Lernen, während des Lernprozess auch sinnvoll stattfindet. Die Anwendung die-
Lernens). Im Folgenden wird je ein etabliertes hierarchisches ser Lernstrategien sind im schulischen Alltag häufig Schritte
und ein Prozessmodell exemplarisch vorgestellt. und Prozesse, welche die Lehrerinnen und Lehrer ihren Schü-
lerinnen und Schülern abnehmen. Möglicherweise hat auch
Frieder Maier seinen Schülerinnen und Schülern für die letz-
ten Tage vor der Klassenarbeit einen Lernplan erstellt, um
eine optimale Prüfungsvorbereitung zu unterstützen. Dies ist
4.2.1 Ein hierarchisches Modell des
sinnvoll, wenn die Schülerinnen und Schüler dazu selbst noch
selbstregulierten Lernens nicht in der Lage sind. Allerdings sollten Lehrkräfte beden-
ken, dass es eigentlich individueller Lernpläne bedürfte, um
Ein sehr bekanntes, hierarchisches Modell des selbstregu- allen die optimale Prüfungsvorbereitung zu ermöglichen. Da-
lierten Lernens, auf das sich auch aktuelle Forschung häufig her sollten bereits jüngere Schülerinnen und Schüler lernen,
stützt, ist das Dreischichtenmodell von Monique Boekaerts ihren Lernprozess möglichst eigenständig zu regulieren. Man
(1999; . Abb. 4.2). könnte sie beispielsweise darin unterstützen, einen eigenen
Betrachten wir das Beispiel des Eingangsszenarios: Lernplan zu erstellen, statt ihnen eine standardisierte Version
Emma ist Schülerin der Klasse von Frieder Maier und möchte vorzugeben.
sich optimal auf die Klassenarbeit vorbereiten. Für ein erfolg- Ein selbstregulierter Lernprozess kann jedoch nur statt-
reiches selbstreguliertes Lernen im Sinne des Modells nach finden, wenn Lernende sich ihrer Ziele bewusst sind, ihre
Monique Boekaerts ist es notwendig, dass Emma ihr Lernen Ressourcen kennen und diese entsprechend der Ziele ein-
auf allen drei Ebenen reflektieren und regulieren kann. teilen können und außerdem über ein Mindestmaß an Mo-
Die Ebene der Regulation des Verarbeitungsmodus um- tivation und positiven Emotionen dem Lerngegenstand ge-
fasst den eigentlichen Lernprozess, also den Einsatz von kon- genüber verfügen. Emma beispielsweise war in den letzten
kreten Lernstrategien, mit denen Emma sich auf die Klassen- Wochen oft krank und hat den Mathematikstoff der vergan-
arbeit vorbereitet. Diese Strategien werden auch als kognitive genen Stunden noch nicht vollständig verstanden. Sie selbst
Strategien bezeichnet, da sie die Lernenden unterstützen, die findet Mathematik auch eher langweilig. Allerdings weiß sie,
Lerninhalte im Gedächtnis abzuspeichern und zu vernetzen. wie wichtig Mathematik für viele Berufe ist. Emma nimmt
Der Begriff der kognitiven Lernstrategien umfasst eine Viel- sich also vor, die Inhalte der vergangenen Stunden sorgfäl-
zahl sehr unterschiedlicher Strategien, die je nach Lerninhalt tig nachzuarbeiten; sie ist sogar bereit, auf ein Treffen mit
und Lernzweck unterschiedlich sinnvoll sein können (z. B. ihrer besten Freundin zu verzichten. Diese Festlegung von
Lernkarten, Formulieren von Übungsaufgaben etc.). Um ef- Zielen und die Einteilung der eigenen Ressourcen finden laut
fizient und sinnvoll selbstreguliert lernen zu können, ist es Boekaerts (1999) auf der äußersten Ebene statt und dienen
notwendig, dass Lernende zunächst unterschiedliche Strate- damit der Regulation des Selbst. Hierzu zählt auch die Nut-
gien kennen, um diese gezielt und dem Lerninhalt sowie der zung unterschiedlicher Strategien zur Regulation der eigenen
Lernsituation angemessen einsetzen zu können. Lehrerinnen Motivation und der Emotionen. So kann Emma beispielswei-
und Lehrer sollten daher in ihrem Unterricht darauf ach- se durchaus bewusst die Entscheidung treffen, sich intensiv
ten, unterschiedliche Lernstrategien zu vermitteln, um ihren mit der von ihr als langweilig erlebten Mathematik zu be-
72 Kapitel 4  Selbstreguliertes Lernen

schäftigen, indem sie sich bewusst macht, wie groß deren verstanden werden, diese kann wiederum in einzelne, weitere
Bedeutung ist (vgl. z. B. Nett, Götz & Daniels 2010; Götz & Lerneinheiten untergliedert werden, z. B. tägliche Lernein-
Nett 2017). Für Lehrerinnen und Lehrer kann es unter Um- heiten, die jeweils ein bestimmtes Kapitel oder eine bestimme
ständen problematisch sein, die Zielsetzung und Einteilung Zeiteinheit umfassen.
der Ressourcen ihrer Schülerinnen und Schüler nachzuvoll- Kehren wir zurück zum Beispiel aus der Praxis: Frieder
ziehen. Für einen Mathematiklehrer ist es möglicherweise Maier hat für seine Schülerinnen und Schüler eine Probeklas-
schwer zu verstehen, dass er einen Schüler einen Tag vor ei- senarbeit zusammengestellt, die er am folgenden Tag bespre-
ner wichtigen Klausur auf dem Sportgelände trifft. Aus der chen möchte. Er teilt diese am Vortag aus – die Schülerinnen
4 Perspektive des Schülers kann es aber tatsächlich die richtige und Schüler haben so die Möglichkeit, sich schon vorab mit
Entscheidung und Einteilung der Ressourcen bedeuten, wenn den Aufgaben zu beschäftigen.
er am nächsten Tag auch einen wichtigen Wettkampf hat und Die präaktionale Phase stellt die Phase innerhalb einer
er das Ziel verfolgt, Profisportler zu werden. Lerneinheit dar, in der das eigentliche Lernen vorbereitet und
Zusammengefasst zeigt die Anordnung der konzentri- geplant wird. Dabei muss insbesondere die Aufgabenstellung,
schen Kreise des Modells von Monique Boekaerts (1999) auch aber auch die aktuelle Situation als Ausgangsbedingungen be-
das Zusammenspiel der Ebenen. Weiter innen liegende Ebe- rücksichtigt werden. Für Emma ist es beispielsweise wichtig
nen sind notwendige Voraussetzungen für die jeweils umfas- zu berücksichtigen, wie viele Aufgaben die Probeklassenar-
senden Ebenen. Das Modell von Monique Boekaerts (1999) beit umfasst, wie sie den Schwierigkeitsgrad dieser Aufgaben
liefert somit eine detaillierte Grundlage zur Identifikation einschätzt, aber auch, wie die Rahmenbedingungen für die
und Einordnung wichtiger Lernstrategien und Komponenten Bearbeitung sind: Hat sie ausreichend Zeit, oder kann sie die
selbstregulierten Lernens. Es gibt jedoch keinen Einblick in Probeklassenarbeit wegen des Nachmittagsunterrichts nur
den tatsächlichen (zeitlichen) Ablauf eines selbstregulierten kurz am Abend bearbeiten? Hat sie einen ruhigen Arbeits-
Lernprozesses. platz, an dem sie die Situation einer Klassenarbeit nachspielen
kann? Auf Basis der gegebenen Bedingungen werden die Zie-
le festgelegt und der eigentliche Lernprozess geplant, indem
beispielsweise die entsprechenden Lernstrategien ausgewählt
4.2.2 Ein Prozessmodell des selbstregulierten werden. Bei der Festlegung der Ziele spielen nun gewisse
Lernens „Filter“ eine zentrale Rolle. Handelt es sich z. B. um Routi-
neaufgaben (dies kann z. B. bei der Bearbeitung von Haus-
Die Grundidee von Prozessmodellen der Selbstregulation ist, aufgaben öfter vorkommen), so wird der weitere Lernverlauf
dass Selbstregulation als ein iterativer Prozess verstanden in der Regel nicht bewusst geplant und der Selbstregulati-
wird. Dies bedeutet, dass Ziele durch häufige Wiederholung onsprozess nicht vollständig durchlaufen (Filter Automatic).
der einzelnen Phasen des Regulationsprozesses adaptiv er- Wenn es sich jedoch wie im vorliegenden Beispiel nicht
reicht werden (vgl. Landmann, Perels, Otto, Schnick-Vollmer um Routineaufgaben handelt, beeinflussen unterschiedliche
& Schmitz 2009; Schmitz & Schmidt 2007). Es bedeutet auch, Ressourcen die weitere Zielsetzung und Planung der Lern-
dass die aktuelle Zielsetzung eines Lernvorgangs abhängig handlungen (Filter Ressourcen). Dabei spielt insbesondere
von der Bewertung des bisherigen Lernens ist. Auf der Basis die Motivation der Lernenden, ebenso wie ihre selbstbezo-
von Modellen zur Selbstregulation von Zimmerman (2005) genen Kognitionen, die Emotionen der Lernenden sowie die
und Bandura (1991) entwickelte Bernhard Schmitz (2001; Zielsetzung und Planung des Strategieeinsatzes eine beson-
Schmitz & Wiese 2006) ein Prozessmodell des selbstregulier- dere Rolle. Diese beeinflussen sich gegenseitig (7 Kap. 11). So
ten Lernens, in welches er Grundideen weiterer bedeutender zeigt sich beispielsweise, dass unter günstigen emotionalen
Modelle (Boekaerts & Corno 2005; Gollwitzer 1990; Heck- Bedingungen eher tiefenverarbeitende Strategien verwendet
hausen 1989; Pintrich 2005; Schmitz & Wiese 1999) integrier- werden (z. B. Isen 2000). Ist ein Schüler etwas nervös vor
te. Dieses Modell wurde von Schmitz und Schmidt (2007) der Klassenarbeit, wird er sich möglicherweise eher mit den
bzw. von Schmitz, Landmann und Perels (2007) modifiziert einfachen Aufgaben intensiv beschäftigen. Wichtig ist, dass
und weiterentwickelt (. Abb. 4.3). Selbstreguliert-Lernende nicht nur kognitive Strategien, son-
Entsprechend dieses Modells wird angenommen, dass der dern auch metakognitive Strategien einsetzen. So wird Emma
Lernprozess aus einzelnen Lerneinheiten besteht. Diese Lern- einerseits entscheiden, welche Aufgaben der Probeklassen-
einheiten können wiederum in drei Phasen unterteilt werden: arbeit sie detailliert bearbeiten, wie viel Zeit sie sich dafür
die präaktionale Phase (vor dem eigentlichen Lernen), die ak- nehmen und welche Bearbeitungsstrategien und Hilfsmit-
tionale Phase (während des Lernens) und die postaktionale tel sie nutzen wird. Gleichzeitig wird sie aber auch darüber
Phase (nach dem Lernen). Dabei wird davon ausgegangen, nachdenken, wann und auf welche Art sie ihre Ergebnisse
dass einzelne Lerneinheiten aneinander anschließen und die überprüfen und reflektieren kann, wie ihr aktueller Wissens-
postaktionale Phase einen direkten Einfluss auf die präaktio- stand ist.
nale Phase der folgenden Lerneinheit hat. Eine Lerneinheit In der aktionalen Phase werden die Lernhandlungen um-
kann durch inhaltliche und zeitliche Kriterien abgegrenzt und die geplanten Lernstrategien eingesetzt. Emma möch-
werden und ist nicht eindeutig definiert. So kann die Vor- te mit einigen Standardaufgaben beginnen, bei denen sie
bereitung auf eine Klassenarbeit z. B. als eine Lerneinheit bestimmte Rechenroutinen wiederholt. Im Anschluss daran
4.3  Effekte selbstregulierten Lernens
73 4
Präaktionale Phase Aktionale Phase

Filter: Automatisch Lernqualität


Situation
Filter: Ressourcen - Lernstrategien
- Motivation - Metakognitive Strategien
- Selbstwirksamkeit - Ressourcen-Management
- Energie, Emotion - Kognitive Strategien
Self-Monitoring
Volitionale Strategien

Ziele Lernqualität
Aufgabe
Planung - Zeit

Lernergebnis
- Qualität
- Quantität
Selbstreflexion - Zufriedenheit

Emotion
Reaktion

Postaktionale Phase

. Abb. 4.3 Das Prozessmodell des selbstregulierten Lernens von Bernhard Schmitz (mit freundlicher Genehmigung nach Schmitz & Schmidt 2007,
S. 12)

wird sie versuchen, bei komplexeren Aufgaben Parallelen zu quantitative und qualitative Maßstäbe herangezogen. Em-
bereits bearbeiteten Aufgaben zu finden. Während der aktio- ma ist nach dem Bearbeiten der Probeklassenarbeit mit sich
nalen Phase ist es besonders wichtig, dass der Lernvorgang selbst zufrieden. Sie empfindet Stolz, da sie über einen län-
möglichst dauerhaft und konzentriert aufrechterhalten wird. geren Zeitraum konzentriert und effektiv gearbeitet hat (sub-
Emma achtet beispielsweise darauf, dass sie sich eine zusätz- jektive Bewertung). Insgesamt hat sie die Probeklassenarbeit
liche Stunde für das Bearbeiten der Aufgaben nehmen kann vollständig bearbeitet (quantitative Bewertung). Dabei hat
und während dieser Zeit nicht von Telefonanrufen der Klas- sie nicht nur die Routineaufgaben gelöst, sondern auch die
senkameraden oder von ihrem kleinen Bruder gestört werden komplexen Aufgaben durchgearbeitet, richtig gelöst und ver-
kann. Dabei spielen insbesondere volitionale Kompetenzen, standen (qualitative Bewertung). Insofern hat sie ihre Ziele
also Kompetenzen des „Willens“, eine große Rolle. Beispiele in hohem Maß erreicht. Für den nächsten Tag nimmt sie sich
für solche volitionale Kompetenzen sind die Fähigkeit sich zu nun ein größeres Lernpensum vor und beschließt, deutlich
konzentrieren und die Aufmerksamkeit auf den Lerninhalt mehr komplexe Aufgaben zu üben, um in der Klassenarbeit
gerichtet lassen zu können. Während der aktionalen Phase vielleicht sogar die Note 1 zu erreichen.
kommt dem Monitoring des Lernprozesses (Zimmerman Insgesamt ist hervorzuheben, dass im Modell von Schmitz
2000) eine besondere Bedeutung zu. Selbstreguliert Lernende und Kollegen (2007) nicht nur der Lernerfolg selbst im Fo-
betreiben bereits während des Lernprozesses Monitoring und kus steht, sondern sich erfolgreiches selbstreguliertes Lernen
gleichen ihr aktuelles Lernverhalten mit dem ursprünglich auch auf weitere Aspekte, wie positive selbstbezogenen Ko-
geplanten Verhalten bzw. den Zielen ab. Dieses Monitoring gnitionen, wie z. B. Selbstkonzept und Selbstwirksamkeit, so-
dient als Grundlage für zukünftige Regulationsprozesse. Es wie auf ein positives motivationales und emotionales Erleben
hat darüber hinaus aber auch positive Effekte auf die aktu- auswirken kann (7 Kap. 10, 11).
elle Motivation und das emotionale Befinden. So stellt Emma Die beiden beschriebenen Modelle, wie auch viele weitere
beispielsweise fest, dass sie einen bestimmten Aufgabentyp wissenschaftliche Modelle zum selbstregulierten Lernen, he-
bereits sehr gut beherrscht. Das macht sie stolz, ihre Lern- ben die Bedeutung eines erfolgreichen Zusammenspiels von
freude erhöht sich und sie widmet sich mit weit größerem kognitiven, metakognitiven und motivationalen Komponen-
Selbstbewusstsein den komplexen Aufgaben. Nett, Götz, Hall ten bzw. Prozessen hervor.
und Frenzel (2012) konnten feststellen, dass die Häufigkeit
der Anwendung von Monitoring während einer Prüfungsvor-
bereitung bereits positive Effekte auf den Lernerfolg hat.
4.3 Effekte selbstregulierten Lernens
In der postaktionalen Phase wird der Lernprozess einer
Lerneinheit abgeschlossen und bewertet. Sie liefert damit
aber auch die Grundlage für die Einschätzung kognitiver, Im vorangegangenen Abschnitt wurde der theoretische Nut-
motivationaler und emotionaler Ressourcen in den folgen- zen selbstregulierten Lernens anhand der Modelle verdeut-
den Lernprozessen. Bei dieser Bewertung werden subjektive, licht. Wenn Lernende sich eigenständig Ziele setzen und
74 Kapitel 4  Selbstreguliertes Lernen

diese autonom verfolgen und erreichen können, so liegt & Langfeldt 2008; Dignath & Büttner 2008) repliziert werden.
die Schlussfolgerung nahe, dass diese Lernenden motivier- Dignath und Büttner (2008) verwendeten bei der Literatursu-
ter sind und möglicherweise auch größere Lernerfolge ha- che vergleichbare Auswahlkriterien wie Hattie und Kollegen
ben als Lernende, die „fremdreguliert“ werden. Um diese (1996). Insgesamt zeigte sich nun ein etwas stärkerer Effekt
theoretischen Annahmen zu überprüfen, wurde bereits eine über alle Studien hinweg als in der älteren Studie (Hattie et
Vielzahl von Studien durchgeführt. Insbesondere im schu- al. 1996). Allerdings belegen die Ergebnisse von Dignath und
lischen Bereich stellt sich die Frage, ob die Förderung von Büttner (2008) auch, dass Förderprogramme dann effekti-
Kompetenzen zum selbstregulierten Lernen das Lernverhal- ver zu sein scheinen, wenn sie von Wissenschaftlerinnen und
4 ten der Lernenden tatsächlich verbessern und die Motivation, Wissenschaftlern oder externen Trainerinnen und Trainern
positive Emotionen und den Lernerfolg in den einzelnen Un- durchgeführt werden, und nicht von Lehrerinnen und Leh-
terrichtsfächern erhöhen kann. rern im Rahmen des regulären Unterrichts. In Anbetracht
Metaanalysen fassen die Ergebnisse unterschiedlicher der Tatsache, dass es besonders sinnvoll und wünschenswert
Studien zusammen. Mit Hilfe spezieller statistischer Ver- ist, dass die Förderung selbstregulierten Lernens im regulären
fahren wird analysiert, ob Effekte, die in einzelnen Studien Unterricht stattfindet, erscheint dieses Ergebnis besorgnis-
gefunden werden, auch tatsächlich verallgemeinert werden erregend. Es gibt jedoch Hinweise (7 Abschn. 4.5), dass es
können. In Bereichen der Pädagogischen Psychologie, wie Lehrerinnen und Lehrern durchaus möglich ist, die Kompe-
z. B. auch in Studien zum selbstregulierten Lernen, sind die- tenzen ihrer Schülerinnen und Schüler sinnvoll zu fördern.
se statistischen Verfahren besonders hilfreich, da hier oft
quasi-experimentelle Studien durchgeführt werden. Quasi- Studie: Selbstreguliertes Lernen im Unterricht an der
experimentelle Studien sind solche, die ein experimentel- Grundschule
les Design (z. B. Experimentalgruppe versus Kontrollgruppe) Stöger, Sontag und Ziegler (2014) führten eine quasi-experi-
aufweisen, aber in alltäglichen Situationen, wie z. B. im re- mentelle Studie im regulären Unterricht an der Grundschule
gulären Unterricht durchgeführt werden (7 Kap. 27). Dies durch, in welcher sie die gezielte Förderung von spezifischen
ermöglicht es einerseits, die Ergebnisse in direkten Bezug kognitiven Strategien und die konkrete Vermittlung eines all-
zum Alltagsgeschehen zu setzen, erschwert aber andererseits gemeinen Verständnisses von Selbstregulation mit traditionel-
die Replizierbarkeit. Einzelne Studien unterscheiden sich in lem Unterricht verglichen. Im Folgenden wird die Studie knapp
den konkreten Aspekten selbstregulierten Lernens, die un- beschrieben:
tersucht werden, und oft auch sehr stark in den gefunde- Die Studie wurde als quasi-experimentelle Interventions-
nen Effekten (vgl. Hattie, Biggs & Purdie 1996; Zimmerman studie während des regulären Unterrichts in Heimat- und Sach-
2001). Über Metaanalysen lassen sich dennoch bestimmte kunde und des Leseunterrichts in 33 Klassen der 4. Jahrgangs-
allgemeine Effekte und Tendenzen gut aufdecken. Üblicher- stufe durchgeführt. Insgesamt nahmen 763 Schülerinnen und
weise werden Effekte, die in den einzelnen Studien gefunden Schüler (49 % Mädchen) an der Studie teil. Die einzelnen Klas-
wurden, in Metaanalysen in durchschnittlichen Effektstärken sen wurden in drei unterschiedliche Gruppen, zwei Experimen-
angegeben. talgruppen und eine Kontrollgruppe aufgeteilt. In den bei-
Eine erste Metaanalyse, die sich mit der Wirkung von den Experimentalgruppen wurde von den Lehrkräften über
selbstreguliertem Lernen befasst, war die Metaanalyse von die Dauer von sieben Wochen ein Strategietraining im regu-
Hattie und Kollegen (1996). Studien wurden in diese Me- lären Unterricht implementiert. Die erste Experimentalgruppe
taanalyse aufgenommen, wenn im Rahmen der Studie eine erhielt ein Training in spezifischen kognitiven Strategien zum
Intervention zur Förderung selbstregulierten Lernens durch- Erleichtern des Verstehens und Herausfiltern wichtiger Ideen
geführt wurde. Dabei wurde die Förderung von mindestens aus Texten (Unterstreichen, Erstellen einer Mind-Map, Zusam-
einer kognitive Lernstrategie oder einer Kombination aus menfassen). Darüber hinaus erhielten die Schülerinnen und
kognitiven und metakognitiven Lernstrategien oder Strate- Schüler eine Einführung in ein Prozessmodell des selbstregu-
gien der Regulation des Selbst angestrebt. Darüber hinaus lierten Lernens. Die Anwendung der spezifischen kognitiven
mussten Effektstärken berichtet werden. In jeder Studie wur- Strategien wurde in den Kontext dieses Prozessmodells gesetzt.
de die Wirkung auf mindestens eines der drei Konstrukte Das Training wurde über tägliche Übungen und Materialien so-
Lernerfolg, Lernverhalten oder Affekt beim Lernen analy- wohl in den regulären Unterricht als auch in die Hausaufgaben
siert. Bereits Hattie und Kollegen (1996) konnten feststellen, integriert. Die zweite Experimentalgruppe wurde in denselben
dass die publizierten Interventionen im Schnitt einen mittel- kognitiven Strategien zum Textverständnis trainiert, diese wur-
großen positiven Effekt aufwiesen. Bedeutsam war darüber den jedoch nicht in Bezug zu einem Modell selbstregulierten
hinaus das Ergebnis, dass Förderprogramme besonders dann Lernens gesetzt. Die Trainingsdauer verkürzte sich dadurch um
wirksam zu sein scheinen, wenn sie im Rahmen eines in- eine Woche. Die Kontrollgruppe wurde während dieser Zeit re-
haltlichen Lernkontexts stattfinden und die Lernenden dazu gulär unterrichtet.
angeregt werden, die Lerninhalte aktiv einzuüben und auch Beide Experimentalgruppen erhielten wöchentlich Texte,
ihre metakognitiven Fähigkeiten geschult werden (Hattie et aus denen sie die wichtigsten Inhalte herausfiltern sollten. In
al. 1996). einem Vor-, Nach- und Folgetest wurde mit Hilfe von standar-
Diese positiven Effekte, insbesondere auf den Lernerfolg, disierten Testverfahren die Präferenz selbstreguliert zu lernen,
konnten in aktuelleren Metaanalysen (vgl. Dignath, Büttner ebenso wie das Leseverständnis der Schülerinnen und Schüler
4.4  Diagnostik selbstregulierten Lernens
75 4
in der Experimental- und der Kontrollgruppen überprüft. Prä- die Bedeutung metakognitiven Wissens bzw. metakognitiver
und Posttest fanden in der Woche direkt vor bzw. nach der In- Strategien nachweisen. Sobald diese Bestandteil der Interven-
tervention statt. Der Folgetest wurde nach weiteren elf Wochentionen waren, konnten deutlich größere Effekte nachgewiesen
durchgeführt. werden. Die metakognitive Strategie Planung scheint dabei
eine besondere Rolle zu spielen aber auch die Motivation der
Es zeigte sich, dass Schülerinnen und Schüler der ersten Ex-
perimentalgruppe, für die das Training der kognitiven Textver-Lernenden ist besonders wichtig. Diese kann insbesondere
ständnisstrategien in ein Modell des selbstregulierten Lernensdadurch erhöht werden, dass die Bedeutung der einzelnen
eingebettet wurde, eine stärkere Präferenz zum selbstregulier-Aufgaben und Inhalte im Rahmen der Förderung betont wird
ten Lernen aufzeigten, als die Schülerinnen und Schüler der (. Tab. 4.1).
beiden anderen Gruppen. Ferner waren die Schülerinnen und In . Tab. 4.1 sind die zentralen Punkte der Metaanalysen
Schüler der ersten Experimentalgruppe auch in der Lage, in denzusammengefasst. Insgesamt verdeutlichen die Ergebnisse,
wöchentlichen Erhebungen signifikant mehr wichtige Inhalte dass die Förderung selbstregulierten Lernens bereits in der
aus den gelesenen Texten herauszufiltern als die Schülerinnen Grundschule positive Effekte auf die schulische Leistung und
und Schüler der zweiten Experimentalgruppe. auch auf das Lernverhalten und die Motivation der Schülerin-
nen und Schüler hat. Die Vermittlung von Kompetenzen zum
Die Ergebnisse dieser Studie verdeutlichen, dass die Förde-
rung von Kompetenzen zum selbstregulierten Lernen auch im selbstregulierten Lernen ist somit nicht nur Ziel der schu-
regulären Unterricht von Grundschülerinnen und Grundschü- lischen Ausbildung im Hinblick auf das weitere Leben der
lern durchaus möglich ist. Zudem kann unterstrichen werden, Schülerinnen und Schüler, sondern hat auch einen direkten
dass es sinnvoll ist, auch einzelne Strategien im Rahmen einesEinfluss auf ihr Verhalten und Wohlbefinden an der Schu-
Gesamtverständnisses zum selbstreguliertenLernen zu vermit- le. Lehrerinnen und Lehrer sollten bei der Vermittlung von
teln. Lernstrategien beachten, stets auch Strategien zu vermitteln,
die dazu dienen, den Lernprozess zu steuern und die Moti-
Darüber hinaus konnten Dignath und Büttner (2008) zei- vation aufrecht zu erhalten. Wie sie das tun können, wird in
gen, dass die Effekte nicht in allen Unterrichtsfächern gleich 7 Abschn. 4.5 genauer besprochen. Vorab ist es jedoch von Be-
sind und Förderprogramme effektiver zu sein scheinen, wenn deutung, dass Lehrerinnen und Lehrer auch in der Lage sind,
nicht ausschließlich kognitive Strategien, sondern auch meta- die Fähigkeiten zur Selbstregulation ihrer Schülerinnen und
kognitive und motivationale Strategien vermittelt werden. Schüler diagnostizieren zu können.
Auch in der Metaanalyse von Donker-Bergstra, De Bo-
er, Kostons, Dignath-van Ewijk und van der Werf (2014)
konnte bestätigt werden, dass die Förderprogramme im 4.4 Diagnostik selbstregulierten Lernens
Durchschnitt einen positiven Effekt auf die akademische
Leistung haben. Dieser positive Effekt schwankt jedoch je Aus der Perspektive der Wissenschaft ist es wichtig, erfassen
nach Unterrichtsfach, in dem die Förderprogramme stattfin- zu können, über welche Kompetenzen zur Selbstregulati-
den. Donker-Bergstra und Kollegen (2014) konnten ebenfalls on Lernende verfügen und in welchen Situationen sie diese

. Tabelle 4.1 Zentrale Ergebnisse der Metaanalysen zu Effekten selbstregulierten Lernens

Autoren Hattie, Biggs, und Purdie Dignath und Büttner Donker-Bergstra, De Boer, Kostons,
Dignath-van Ewijk und van der Werf
Erscheinungsjahr 1996 2008 2014

Studien publiziert Bis 1992 Von 1992 bis 2006 Von 2000 bis 2012
im Zeitraum

Anzahl der 51 74 58 Studien


analysierten (Primarschulen: 49; Primär- und Sekundärschulen
Studien Sekundarschulen: 25)

Anzahl berichteter 270 357 180


Effektstärken

Zentrale Interventionen haben im Schnitt einen Interventionen haben im Schnitt einen Interventionen haben im Schnitt einen
Ergebnisse mittelgroßen positiven Effekt mittelgroßen bis großen positiven positiven Effekt auf die akademische
Dabei wurde durchschnittlich ein mit- Effekt Leistung
telgroßer bis großer positiver Effekt Dabei wurde durchschnittlich ein mit- Dieser positive Effekt schwankt jedoch
auf die Leistung, ein kleiner Effekt auf telgroßer bis großer Effekt auf die stark nach Unterrichtsfach
das Lernverhalten und ein mittelgroßer Leistung, ein großer Effekt auf das
Effekt auf den Affekt berichtet Lernverhalten und ermutigende, je-
doch stark schwankende Effekte auf die
Motivation berichtet
76 Kapitel 4  Selbstreguliertes Lernen

Kompetenzen auch in Verhaltensweisen umsetzen können.


Nur dann ist es möglich zu verstehen, welche Auswirkun- zwischen Fremdurteilen im Allgemeinen (z. B. auch durch
gen selbstreguliertes Lernen auf die Leistung der Lernenden, Eltern) und Schülerurteilen in Bezug auf Konstrukte, die nicht
aber auch auf weitere kognitive, motivationale und emotio- leistungsbezogen sind, meist eher schwach ausgeprägt sind
nale Faktoren hat. Auf der Basis einer sicheren Diagnostik (vgl. die Metaanalyse von Achenbach, McConaughy &
können auch Modelle und Förderprogramme weiterentwi- Howell 1987).
ckelt werden. Nun stellt sich natürlich die Frage, wie diese geringen Zu-
Für Lehrkräfte ist von Bedeutung, die Fähigkeiten der sammenhänge zustande kommen und welche der beiden
4 Schülerinnen und Schüler einschätzen zu können, um ihnen Perspektiven (Schülerinnen und Schüler vs. Lehrkräfte)
das richtige Maß an Freiraum und Hilfestellung zu gewäh- mehr Gültigkeit hat, also valider ist. Möglich ist aber auch,
ren und die Kompetenzen zum selbstregulierten Lernen ent- dass beide Perspektiven unterschiedliche Aspekte der
sprechend zu fördern. Das „Self-Regulation Empowerment Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler widerspiegeln
Program (SREP)“ von Cleary und Zimmerman (2004) ist ein und durchaus ihre Berechtigung haben. In jedem Fall zeigt
Beispiel für ein Förderprogramm, das ganz systematisch die sich, dass Lehrkräfte ihre intuitiven Einschätzungen über
Erfassung der Überzeugungen und des Wissens von Schüle- das selbstregulierte Lernen ihrer Schülerinnen und Schüler
rinnen und Schülern zum selbstregulierten Lernen durch die kritisch hinterfragen sollten und es sich möglicherweise
Lehrkraft beinhaltet. Hier wird es als wichtiger erster Schritt auch für Lehrkräfte lohnt, unterschiedliche, auch struktu-
angesehen, die grundlegenden Kompetenzen zum selbstregu- rierte Erhebungsmethoden im Rahmen ihres Unterrichts
lierten Lernen zu fördern (Cleary & Zimmerman 2004). anzuwenden. Gewinnbringend kann hier für alle Seiten eine
Während Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Zusammenarbeit von Lehrkräften, Beratungslehrerinnen
Fähigkeiten zum selbstregulierten Lernen in der Regel sehr und Beratungslehrern, Schulpsychologinnen und Schulpsy-
strukturiert über verschiedene Methoden erfassen, diagnosti- chologen sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern
zieren Lehrerinnen und Lehrer die Kompetenzen ihrer Schü- sein.
lerinnen und Schüler zum Lernverhalten bisher meist eher
intuitiv. In Anbetracht der Methodenvielfalt, die im Folgen-
den vorgestellt wird, erscheint es jedoch durchaus möglich, Um selbstreguliertes Lernen gezielt erfassen zu können,
dass auch Lehrkräfte strukturiertere Methoden des Diagnos- ist es wichtig vorab zu klären: Was wird bei wem und in wel-
tizierens anwenden können. cher Situation, wann und auf welche Art und Weise erfasst
(vgl. Götz & Nett 2017)?
Im Fokus: Perspektiven des selbstregulierten Lernens Die Definition und die Beschreibung der Modelle selbst-
regulierten Lernens verdeutlichen, dass selbstreguliertes Ler-
Selbstreguliertes Lernen ist ein Prozess, der in großen Teilen nen erst durch ein gelungenes Zusammenspiel einer Vielzahl
nicht direkt beobachtbar ist. Daher leuchtet es ein, dass einzelner Kompetenzen und Prozesse entstehen kann. Selbst-
selbstreguliertes Lernen in der Wissenschaft primär über reguliertes Lernen per se zu erfassen, erscheint damit unmög-
Selbstberichtsverfahrenerhoben wird (vgl. z. B. Cleary 2009). lich. Plausibel ist jedoch, einzelne Teilaspekte und Teilpro-
Lehrkräfte hingegen schätzen oft intuitiv die Fähigkeiten zesse selbstregulierten Lernens zu erfassen. Um dies sinnvoll
ihrer Schülerinnen und Schüler in bestimmten Gebieten tun zu können, dienen Modelle zum selbstregulierten Lernen
aus einer beobachtenden Perspektive ein und fördern ihre (vgl. z. B. Boekaerts 1999; Schmitz et al. 2007) der Orientie-
Schülerinnen und Schüler auf der Basis dieser Einschätzun- rung und Einordung der einzelnen Aspekte. Mit Hilfe dieser
gen. Nun stellt sich die Frage, inwieweit die Einschätzungen Modelle kann explizit bestimmt werden, was gemessen wer-
der Schülerinnen und Schüler und die Einschätzungen den soll.
von Lehrkräften in Bezug auf das selbstregulierte Lernen Bei der Planung einer angemessenen Diagnostik ist es
der Schülerinnen und Schüler übereinstimmen. Friedrich, zusätzlich wichtig zu bedenken, bei wem und in welcher
Jonkmann, Nagengast, Schmitz und Trautwein (2013) Situation das Lernverhalten gemessen werden soll. Die Er-
führten hierzu eine Studie mit 73 Lehrerinnen und Lehrern fassung des Lernverhaltens von Oberstufenschülerinnen und
und ihren insgesamt 1289 Schülerinnen und Schülern -schülern oder Studierenden beinhaltet andere Anforderun-
der 5. Jahrgangsstufe im Mathematikunterricht durch. Sie gen an die Diagnoseinstrumente als die Erfassung des Lern-
konnten zeigen, dass die Zusammenhänge zwischen den verhaltens von Grundschülerinnen und Grundschülern. Da-
Einschätzungen der Lehrkräfte und denen der Schülerinnen rüber hinaus macht es wahrscheinlich einen Unterschied, ob
und Schüler in Bezug auf die mathematischen Fähigkeiten selbstreguliertes Lernverhalten von Schülerinnen und Schü-
mittelmäßig stark, in Bezug auf Aspekte des selbstregu- lern bei der Vorbereitung einer Klassenarbeit gemessen wer-
lierten Lernens lediglich schwach ausgeprägt waren. Diese den soll oder aber in einer alltäglichen Hausaufgabensitua-
Ergebnisse stimmen mit bisherigen Befunden überein, die tion. Wichtig ist es hier auch zu berücksichtigen, welche
darauf hinweisen, dass die Übereinstimmung zwischen Teilaspekte selbstregulierten Lernens von den Lernenden in
Lehrer- und Schülerurteilen, wie auch die Übereinstimmung diesen spezifischen Situationen überhaupt durchgeführt wer-
den können bzw. sollten (Boekaearts & Niemvirta 2005).
4.4  Diagnostik selbstregulierten Lernens
77 4
Eng mit der Frage verbunden, in welcher Situation selbst- durchaus beide Aspekte berücksichtigen. Die Unterteilung
reguliertes Lernen erfasst wird, ist auch die Frage, wann geschieht daher nach dem vorrangigen Ziel.
selbstreguliertes Lernen erfasst wird. Häufig wird es retro-
spektiv erfasst, das bedeutet nach dem eigentlichen Lern-
prozess (z. B. durch Befragung des Lernenden). Ein Vorteil 4.4.1 Erfassung von Kompetenzen zum
hierbei ist, dass das Lernen als Ganzes betrachtet werden selbstregulierten Lernen
kann. Auf der anderen Seite kann es insbesondere bei einer
retrospektiven Erfassung, z. B. über den Selbstbericht (das
bedeutet, der Lernende gibt selbst Auskunft über sein Lern- In Fragebogenverfahren und Interviews wird meist erfasst,
verhalten), zu einer Vielzahl an Verzerrungen kommen, wie wie sich die Lernenden „in der Regel“ oder „meist“ verhal-
z. B. der Beeinflussung des Berichts durch subjektive Über- ten. Dabei wird der Fokus je nach Fragebogen auf unter-
zeugungen (vgl. Robinson & Clore 2002). Das bedeutet, dass schiedliche Aspekte selbstregulierten Lernens gelegt. Selbst-
Schülerinnen und Schüler im Selbstbericht möglicherweise verständlich kann auch in Fragebögen und Interviews Bezug
eher angeben, was sie glauben, in der Regel zu tun oder was auf konkretere Situationen selbstregulierten Lernens genom-
sie tun sollten, und nicht, wie sie sich tatsächlich verhalten men werden. Da die Erfassung des selbstregulierten Lernens
haben. Prospektive Erhebungen können Planungsaktivitä- jedoch mit Hilfe dieser Verfahren nicht in der Lernsituati-
ten zwar gut abbilden, geben aber keine Auskunft darüber, on selbst durchgeführt werden kann, sind sie kaum frei von
wie der Lernprozess eigentlich stattgefunden hat. Insgesamt Verzerrungen, die z. B. durch den zeitlichen Abstand von der
kann man annehmen, dass prospektive ebenso wie retrospek- Lernsituation bedingt werden. Aus diesem Grund ist anzu-
tive Erhebungsmethoden das Wissen der Lernenden über nehmen, dass mit Hilfe von diesen Diagnostikverfahren zwar
den Einsatz spezifischer Strategien selbstregulierten Lernens sehr ausführlich und strukturiert erfasst werden kann, über
erfassen und damit durchaus einen Einblick in die Kompeten- welche Strategien Lernende verfügen bzw. welches Wissen
zen der Lernenden zum selbstregulierten Lernen geben. Das sie über den angemessen Einsatz bestimmter Strategien ha-
tatsächliche Lernverhalten wird mit Hilfe dieser Erhebungs- ben; ob sie diese Kompetenzen zum selbstregulierten Lernen
methoden jedoch nicht erfasst. jedoch auch in konkreten Lernsituationen anwenden, kann
Aus diesem Grund haben in den letzten Jahren Methoden, über diese Verfahren nur sehr eingeschränkt erfasst werden.
über die der aktuelle Lernprozess direkt begleitet und erfasst
werden kann (z. B. durch Beobachtung oder die Aufforde-1 Fragebogen
rung zum „Lauten Denken“, 7 Abschn. 4.4.2), zunehmend an Fragebogenverfahren gehören zu den meist genutzten Dia-
Bedeutung gewonnen (vgl. Cleary 2011). Der Vorteil dieser gnostikinstrumenten. Sie bieten den Vorteil, dass durch sie
Methoden ist sicherlich, dass sie den Lernprozess ohne die- auf sehr strukturierte und ökonomische Art und Weise un-
jenigen Verzerrungen abbilden, die durch einen zeitlichen terschiedliche Aspekte selbstregulierten Lernens abgefragt
Abstand zwischen Lernprozess und Erhebungszeitpunkt ent- werden können. Inzwischen gibt es eine Reihe national und
stehen können. Ein möglicher Nachteil ist jedoch, dass durch international sehr etablierter Fragebögen, die unterschiedli-
eine Erfassung während des Lernens der Lernprozess selbst che Bereiche selbstregulierten Lernens, meist vor allem kog-
mit beeinflusst und dadurch verzerrt werden kann. So kann nitive und metakognitive Strategien, sehr reliabel erfassen.
beispielsweise ein Beobachter den Lernprozess stören oder Darüber hinaus scheinen sie valide abzubilden, inwiefern die
aber das „Laute Denken“ selbst als Lernstrategie funktionie- Kompetenzen zum selbstregulierten Lernen vorhanden sind;
ren. sie haben jedoch relativ wenig Aussagekraft, ob sich dieses
Bereits anhand dieser Vorüberlegungen zeigt sich, dass Wissen auch im Lernverhalten niederschlägt. Hier scheinen
die Wahl der Erhebungsmethode von besonderer Bedeutung handlungsnähere Erhebungsmethoden günstiger zu sein (Ar-
ist. Auch der Anlass und Kontext der Diagnostik und die telt 1999). Beispiele sind der Fragebogen zu „Lernstrategien
Ökonomie und Durchführbarkeit der unterschiedlichen Me- im Studium“ (LIST; Wild & Schiefele 1994) und das „Kie-
thoden muss berücksichtigt werden. Im Folgenden wird eine ler Lernstrategien-Inventar“ (KSI; Baumert 1993) oder das
Auswahl unterschiedlicher Methoden vorgestellt, die in den „Motivated Strategies for Learning Questionnaire“ (MSLQ;
vergangenen Jahren verstärkt genutzt wurden (vgl. z. B. Boe- Pintrich, Smith, Garcia & McKeachie 1991), das „Learning
kaerts, Pintrich & Zeidner 2005; Cleary & Callan 2014; Spörer and Study Strategies Inventory“ (LASSI; Weinstein, Zimmer-
& Brunstein 2006; Veenman, Van Hout-Wolters & Afflerbach man & Palmer 1988) oder das „Leuven Executive Regulation
2006; Zimmerman 2008). Die unterschiedlichen Erhebungs- Questionnaire“ (LERO; Minnaert & Janssen 1997). Hinweise
methoden lassen sich nach einer Vielzahl von Gesichtspunk- zur Interpretation von Fragebogenwerten, insbesondere be-
ten kategorisieren. Im Folgenden wird eine Unterteilung in züglich des „LIST“, finden sich bei Götz und Bieg (2015).
zwei Kategorien vorgeschlagen: Methoden, die vorrangig der Die Methode des „Situational Judgement“, in der die Lernen-
Erfassung allgemeiner Kompetenzen zum selbstregulierten den gebeten werden, die Antworten des Fragebogens auf eine
Lernen dienen, und Methoden, über die konkretes Lernver- ganz konkrete Situation zu beziehen, liefert möglicherweise
halten erfasst werden kann. Selbstverständlich ist diese Un- einen vielversprechenden Ansatz, die Validität von Fragebö-
terteilung nicht eindeutig und die meisten Methoden können gen zu verbessern (vgl. Weekley & Ployhart 2006).
78 Kapitel 4  Selbstreguliertes Lernen

1 Interviews 1 Experience Sampling


Wie Fragebögen sind auch Interviews Selbstberichtsverfah- Mit Hilfe von Experience Sampling-Verfahren wird versucht,
ren. Ihre Durchführung ist im Vergleich zu Fragebögen deut- kurze Selbstberichte in konkreten Lernsituationen zu erhe-
lich aufwändiger, allerdings kann im Rahmen von struktu- ben. Meist wird dem Lernenden auf einem Smartphone oder
rierten Interviews, die meist eine Mischung aus geschlos- einem ähnlichen elektronischen Gerät über eine App ein kur-
senen und offenen Frageformaten aufweisen, teilweise ein zes Signal zu einem zufälligen Zeitpunkt gegeben, durch das
detaillierteres Bild des Lernverhaltens gezeichnet werden. der Lernende gebeten wird, während des Lernens einen kur-
Richtlinien für strukturierte Interviews findet man beispiels- zen Fragebogen zur aktuellen Situation auszufüllen. Auch
4 weise bei Spörer (2004) oder im „Self-regulated Learning über kurze Papierfragebögen und einen elektronischen Ti-
Interview Schedule“ (SRILIS, Zimmerman & Martinez-Pons mer ist diese Erhebungsmethode realisierbar. Wie auch die
1986). Fragebögen bietet diese Methode die Möglichkeit, Lernen auf
standardisierte Weise zu erfassen, jedoch nun in ganz kon-
kreten Lernsituationen. Allerdings ist bei dieser Methode die
4.4.2 Erfassung selbstregulierten
Problematik offensichtlich, dass das Lernen selbst unterbro-
chen und gestört wird. Darüber hinaus gibt es Hinweise, dass
Lernverhaltens auch hier, ähnlich wie bei Tagebüchern, die Erfassungsme-
thode bereits eine Intervention darstellt (zur Nutzung von
Inzwischen gibt es auch eine steigende Anzahl an Verfah- Experience Sampling bei der Erfassung selbstregulierten Ler-
ren, mit deren Hilfe das tatsächliche Lernverhalten und damit nens vgl. Nett et al. 2012). Diese Methode wird zwar meist
auch der Grad an Selbstregulation während des Lernprozes- ausschließlich in größeren wissenschaftlichen Studien durch-
ses selbst erfasst werden kann. Dies kann zunächst als Vorteil geführt, jedoch können auch Lehrkräfte die Methode in einer
betrachtet werden. Schließlich ist es sowohl für Wissenschaft- vereinfachten Form nutzen. So könnte Frieder Maier bei-
lerinnen und Wissenschaftler als auch für Lehrkräfte von spielsweise, eventuell mit Unterstützung von Wissenschaftle-
großer Bedeutung, zu sehen, wie Lernende sich in Lernsitua- rinnen und Wissenschaftlern einer Partneruniversität, kurze
tionen konkret verhalten. Auf der anderen Seite gehen diese Fragebögen zum aktuellen Lernverhalten ausarbeiten und
Verfahren meist mit der Problematik einher, dass durch des- damit während seines Unterrichts Kurzerhebungen durch-
sen Erfassung das Lernverhalten selbst beeinflusst werden führen. Auf diese Art und Weise erhält er einen Einblick in
kann. Darüber hinaus kann es schwierig sein, zu differenzie- das aktuelle Lernverhalten seiner Schülerinnen und Schüler.
ren, ob die Lernenden bestimmte Strategien nicht oder nur
nicht effizient einsetzen, weil sie die Strategien beispielsweise
nicht beherrschen, oder ob andere Gründe wie kontextuelle1 Lautes Denken
Bedingungen den Einsatz verhindern. Im Folgenden werden Bei der Erfassung von Lernen und Lernverhalten über „Lau-
Verfahren vorgestellt, die in der aktuellen Forschung beson- tes Denken“ werden die Lernenden aufgefordert, all ihre
dere Beachtung erfahren. Gedanken während eines Lernprozesses laut auszusprechen
(vgl. z. B. Winne & Perry 2000). Während über Lerntage-
1 Lerntagebücher bücher und die Experience Sampling-Methode langfristige
Mit Hilfe von Lerntagebüchern kann der gesamte Lernpro- Lernprozesse, wie z. B. die Vorbereitung auf eine Klausur,
zess, auch über einen längeren Zeitraum hinweg, begleitet begleitet werden, können über Lautes Denken insbesonde-
und erfasst werden. Die Lernenden werden gebeten, meist zu re kurze Lernphasen detailliert betrachtet werden. Veenman,
jeder einzelnen Lerneinheit in ihrem Lerntagebuch sowohl Prins und Verheij (2003) fanden in einer Studie, dass die
offene als auch geschlossene Fragen zum Lernprozess zu be- Erfassung von Lernverhalten mit Hilfe von lautem Denken
antworten. So kann Frieder Maier aus unserem Beispiel oben stärker mit Lernleistung zusammenhängt als die Abbildung
seine Schülerinnen und Schüler beispielsweise bitten, wäh- von Lernverhalten mit Hilfe von Fragebögen. Hier stellt sich
rend der Vorbereitung auf die Klassenarbeit täglich direkt vor jedoch die Frage, inwieweit die Methode den Lernprozess
und nach dem Lernen ein Lerntagebuch auszufüllen. Auf die- selbst beeinflusst, möglicherweise auch stört, und inwiefern
se Weise kann er erfassen, wie sie den Lernprozess planen, die Lernenden über die Fähigkeiten verfügen, all ihre Ge-
aber auch, wie sie ihren Lernfortschritt überprüfen und ge- danken während des Lernens angemessen zu formulieren.
gebenenfalls ihre Strategien anpassen. Wichtig ist dabei zu Diese Methode im Unterricht selbst anzuwenden, erscheint
berücksichtigen, dass Lerntagebücher kein reines Diagnose- nicht möglich, da sie den Unterricht zu sehr stört. Allerdings
instrument, sondern auch eine Intervention darstellen, da sie können einzelne Elemente dieser Methode durchaus im un-
eine Förderung des selbstregulierten Lernens selbst bewirken terrichtlichen Kontext genutzt werden. So könnten die Schü-
können. Über das Reflektieren des Lernprozesses im Lern- lerinnen und Schüler beispielsweise aufgefordert werden, in
tagebuch kann bereits eine Veränderung (Verbesserung) des Partnerarbeit kurze Lernphasen durchzuführen und sich da-
Lernverhaltens erreicht werden, da die Nutzung spezifischer bei gegenseitig beim lauten Denken zu protokollieren, um im
Lernstrategien thematisiert wird (vgl. hierzu z. B. Hübner, Anschluss ihr Lernverhalten auch mit der Lehrkraft zu be-
Nückles & Renkl 2009; Nückles, Hübner & Renkl 2009). sprechen. Diese Durchführung der Methode entspricht zwar
4.5  Förderung selbstregulierten Lernens
79 4
nicht unbedingt wissenschaftlichen Standards, kann jedoch in der Schule auch erfolgreicher, darüber hinaus meist auch
der Lehrkraft einen besonderen Einblick in das Lernverhal- motivierter und zufriedener (7 Abschn. 4.3). Es ist aber auch
ten der Schülerinnen und Schüler gewähren. ein eigenes Ziel von Schulen, Schülerinnen und Schüler als
kompetente, fähige Lernende zu entlassen.
1 Beobachtungsverfahren, Dokumentenanalyse und Die Fähigkeit zum selbstregulierten Lernen selbst kann
Analyse von Logfiles erlernt werden, sie ist jedoch eng mit unterschiedlichen Ent-
Während die bisher beschriebenen Verfahren ausschließlich wicklungsgebieten verknüpft, welche die Voraussetzung für
auf Selbstberichten der Lernenden basieren, gibt es noch eine ein erfolgreiches, selbstreguliertes Lernen darstellen. Un-
Reihe von Möglichkeiten, über beobachtende und dokumen- ter Entwicklungsgebieten versteht man einzelne Bereiche,
tierende Verfahren das Lernverhalten zu analysieren. Dies wie beispielsweise die Sprachentwicklung, in denen Kin-
sind ebenfalls Methoden, die Lehrkräfte längst meist intui- der und Jugendliche eine natürliche Entwicklung durchlau-
tiv anwenden. So haben viele Lehrkräfte bereits ein implizites fen (7 Kap. 14). Wigfield, Klauda und Cambria (2011) stell-
Verständnis, auf welche Weise einzelne Schülerinnen und ten die einzelnen Entwicklungsgebiete dar, die das erfolg-
Schüler lernen. Einen Eindruck über das Lernverhalten ihrer reiche Erlernen der Fähigkeit zum selbstregulierten Lernen
Schülerinnen und Schüler haben sie jedoch meist auf wenig beeinflussen und trugen die wichtigsten Ergebnisse der ak-
zielgerichtete Art und Weise erhalten. Über Checklisten kön- tuellen Forschung zusammen. Dabei ordneten sie die ein-
nen Beobachtungen standardisiert werden und gewinnen da- zelnen Entwicklungsgebiete den drei Phasen des selbstre-
durch auch an Objektivität. In der Forschung werden Beob- gulierten Lernprozesses (präaktional, aktional, postaktional)
achtungsverfahren oft über Videoanalysen durchgeführt. Auf nach Zimmerman (2000) zu. Hieran angelehnt sind auch
diese Weise können bestimmte Situationen öfter, bezüglich die Phasen des Prozessmodells von Bernhard Schmitz (2001;
unterschiedlicher Fragestellungen und durch unterschiedli- 7 Abschn. 4.2.2). In . Tab. 4.2 werden die wichtigsten Befunde
che Beobachter analysiert werden. Dies dient der Erhöhung von Wigfield und Kollegen (2011) zusammenfassend darge-
der Objektivität. Auch über die Analyse und Durchsicht von stellt.
Lernmaterialien (Dokumentenanalyse) können Hinweise auf Um die Fähigkeit zum selbstregulierten Lernen zu för-
das Lernverhalten erhalten werden. In digitalen Lernumge- dern, gibt es mittlerweile eine Reihe etablierter und wirkungs-
bungen können häufig auch die Logfiles aufgezeichnet und voller Förderprogramme. Allerdings stellt sich insbesondere
analysiert werden. Über diese Methode erhofft man sich für Lehrerinnen und Lehrer die Frage, wie sie diese Förder-
einen Einblick in Details des Lernprozesses (z. B. wie lange programme in ihren schulischen Unterricht integrieren.
bestimmte Seiten aufgerufen werden, in welcher Reihenfolge
Aufgaben bearbeitet werden, wie oft bestimmte Seiten wie- Studie: Lernstrategien vermitteln und Handlungsspiel-
derholt aufgerufen werden etc.). Allerdings besteht bei all räume schaffen – Überzeugungen von Lehrerinnen und
diesen Verfahren die Gefahr, dass Verhaltensweisen falsch Lehrern zum selbstregulierten Lernen
gedeutet werden, bzw. die eigentliche Motivation zu dieser Damit Schülerinnen und Schüler selbstreguliertes Lernverhal-
Verhaltensweise falsch interpretiert wird, da nur indirekt auf ten erlernen und auch tatsächlich anwenden, ist es wichtig,
bestimmte Aspekte der Selbstregulation geschlossen werden dass Lehrkräfte in ihrem Unterricht entsprechende Lernstrate-
kann. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass Lehrkräfte ihr gien vermitteln und Lernumgebungen gestalten, in denen die
eigenes Diagnoseverhalten immer wieder selbst überprüfen Schülerinnen und Schüler die Freiräume haben, diese auch an-
und hinterfragen. So können Unterrichtsvideos von Lehr- zuwenden (Dignath-van Ewijk & van der Werf 2012). In einer
kräften auch genutzt werden, um ihr eigenes Diagnoseverhal- Studie befragten die genannten Autorinnen 74 Grundschul-
lehrerinnen und Grundschullehrer zur Förderung von selbst-
ten mit Kolleginnen und Kollegen diskutieren.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass jedes reguliertem Lernen im Unterricht und zur Gestaltung offener,
Diagnoseinstrument sowohl eigene Vorteile als auch Ein- konstruktivistischer Lernumgebungen (7 Kap. 17). Es zeigte
schränkungen aufweist. Eine Kombination unterschiedlicher sich, dass Lehrerinnen und Lehrer sowohl die Förderung von
selbstreguliertem Lernen als auch die Gestaltung Autonomie
Verfahren erscheint daher sinnvoll.
gewährender Lernumgebungen wichtig finden. Dabei messen
sie der Gestaltung offener und konstruktivistischer Lernumge-
bungen im Unterricht mehr Bedeutung bei als der Vermittlung
4.5 Förderung selbstregulierten Lernens spezifischer Lernstrategien. Dies spiegelt sich auch in ihrer Un-
terrichtsgestaltung wider: Die Mehrzahl der Lehrerinnen und
Das Erlernen der Fähigkeit zum selbstregulierten Lernen ist Lehrer, die angeben, selbstreguliertes Lernen in ihrem Unter-
im schulischen Kontext aus zwei Gründen von besonderer richt gezielt zu fördern, beschreiben ihren Unterricht als offen
Bedeutung. Zum einen stellt sie eine grundlegende Voraus- und Autonomie gewährend. Allerdings gibt nur ein geringer
setzung für den schulischen Erfolg selbst dar. Schülerinnen Anteil an, auch konkret die Anwendung von bestimmten Lern-
und Schüler, die in der Lage sind eigenständig zu lernen, sind strategien zu fördern.
80 Kapitel 4  Selbstreguliertes Lernen

. Tabelle 4.2 Entwicklungsgebiete, die die Fähigkeit zum selbstregulierten Lernen beeinflussen

Phase Entwicklungsge- Bezug zum selbstregulierten Lernen und aktueller Wissensstand


biet

Präaktionale Sprachentwicklung Die Entwicklung von Selbstgesprächen, die das aktuelle Tun beschreiben, findet vor allem im Vorschulal-
Phase ter statt. Dies ist eine wichtige Voraussetzung für Planungshandlungen

Zielsetzung Die Formulierung von angemessenen kurzfristigen Zielen fällt Grundschülerinnen und Grundschülern
noch schwer. Je älter Schülerinnen und Schüler werden, desto eher können sie sich auch langfristige
4 Ziele setzen

Selbstwirksamkeit Jüngere Kinder überschätzen ihre eigenen Fähigkeiten meist. Die Einschätzung der eigenen Fähigkei-
ten in Bezug auf akademische Kompetenzen und auch in Bezug auf die Fähigkeit, das Lernverhalten zu
regulieren, sinkt im Laufe der Schulzeit. Dies bedeutet, dass ältere Schülerinnen und Schüler weniger
Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten haben und sich vermutlich daher auch niedrigere Ziele setzen und
ihr Potential nicht voll ausschöpfen

Werte Werte sind entscheidend für die Aufrechterhaltung von Lernhandlungen. Studien zeigen, dass die
Bedeutung, die unterschiedlichen akademischen Inhalten beigemessen wird, mit dem Alter der Schü-
lerinnen und Schüler sinkt

Aktionale Einsatz kognitiver Der Einsatz kognitiver Strategien hängt bei Schülerinnen und Schülern stark von ihren Erfahrungen mit
Phase Strategien dem Einsatz dieser Strategien ab. Der tatsächliche Entwicklungsstand spielt dagegen eine eher geringe
Rolle

Belohnungsaufschub Die Fähigkeit, einen Belohnungssaufschub zu akzeptieren ist eng verknüpft mit der Fähigkeit, auch
langfristige Ziele zu setzen. Diese Entwicklung geht darüber hinaus einher mit einer verstärkten Zu-
kunftsorientierung und einer Abschwächung der Impulsivität

Anstrengung Bisherige empirische Befunde zeigen wenig Unterschiede zwischen verschiedenen Altersgruppen in der
Fähigkeit, sich anzustrengen; interindividuelle Unterschiede scheinen von deutlich größerer Bedeutung
zu sein

Postaktionale Kausalattributionen Im Laufe der Zeit verändern sich die Kausalattributionen von Kindern und Jugendlichen. Jüngere Kinder
Phase können beispielsweise noch nicht klar zwischen Fähigkeit und Anstrengung unterscheiden, erst im Alter
von ungefähr 11 bis 12 Jahren erkennen sie diesen Unterschied

Emotions- und Über die Entwicklung der Fähigkeit zu einer effektiven Emotions- und Motivationsregulation ist bisher
Motivations- wenig bekannt
regulation

Handlungs- Der Zusammenhang zwischen Handlungsentscheidungen und dem Wert, der dem Lerninhalt beige-
entscheidungen messen wird, scheint mit dem Alter stärker zu werden. Es gibt Hinweise, dass sich die Zusammenhänge
zwischen Alter, Werten und Zielen im Laufe der Jahre verändern. Hier besteht jedoch weiterhin For-
schungsbedarf

Zusammenfassung des Buchkapitels von Wigfield, Klauda und Cambria (2011, S. 33–48).

4.5.1 Fördermodell selbstregulierten Lernens spielsweise das Dreischichtenmodell 7 Abschn. 4.2.1, oder das
Prozessmodell des selbstregulierten Lernens 7 Abschn. 4.2.2)
Das Modell zur Förderung selbstregulierten Lernens soll gewählt werden, auf dem das Förderprogramm aufbaut. Die-
als Hilfestellung dienen, bei der Entwicklung von Förder- ses gewählte Modell der Selbstregulation bietet idealerwei-
programmen alle relevanten Aspekte zu berücksichtigen se die Grundlage der einzelnen Aspekte selbstregulierten
(. Abb. 4.4). Lernens, die im Rahmen des Förderprogramms vermittelt
Im Zentrum des Fördermodells steht das selbstregulierte werden sollen. In evaluierten Trainingsprogrammen konnte
Lernen selbst. Dieses kann nur stattfinden, wenn Lernen- gezeigt werden, dass es durchaus sinnvoll ist, das entspre-
de über ein Mindestmaß an Wissen und Kompetenzen zu chende Modell selbst, altersgerecht aufbereitet, vorzustellen
Aspekten selbstregulierten Lernens verfügen. Auf der an- (z. B. Stöger et al. 2014).
deren Seite werden das Wissen und die Kompetenzen zu Basis für die Förderung selbstregulierten Lernens ist da-
Aspekten selbstregulierten Lernens durch das Lernen selbst bei, dass es ein Mindestmaß an Freiheitsgraden zum selbst-
aufgebaut und erweitert. Es besteht daher ein ständiges Zu- regulierten Lernen gibt (Sierens, Vansteenkiste, Goossens,
sammenspiel zwischen selbstreguliertem Lernen und dem Soenens & Dochy 2009). So wird die Förderung selbstregu-
entsprechenden Wissen bzw. den zugehörigen Kompeten- lierten Lernens kaum sinnvoll sein, wenn Schülerinnen und
zen (. Abb. 4.4). Zu Beginn der Entwicklung eines Förder- Schüler keine Möglichkeit sehen, ihr eigenes Lernen auch ei-
programms sollte ein Modell selbstregulierten Lernens (bei- genständig zu beeinflussen.
4.5  Förderung selbstregulierten Lernens
81 4
Metakognitionen bezüglich selbstregulierten Lernens, al-
Freiheit zum so beispielsweise das Wissen über die Bedeutung und die
selbstregulierten Lernen
Emotion Motivation
Einsetzbarkeit bestimmter Lernstrategien, sind zum einen
wichtige Voraussetzungen für die Förderung selbstregulier-
Wissen und
Kompetenzen ten Lernens, zum anderen aber auch Ziel des Förderpro-
gramms selbst. Detailliertes metakognitives Wissen über
Aspekte selbstregulierten Lernens können den Transfer von
Kompetenzen zum selbstregulierten Lernen, z. B. über un-
Selbst- terschiedliche Unterrichtsfächer hinweg sehr erleichtern (vgl.
reguliertes
Lernen Stöger et al. 2014).

zu Aspekten 4.5.2 Förderung selbstregulierten Lernens in


selbstregulierten der Schule
Meta- Lernens
Ressourcen
kognition
Um selbstreguliertes Lernen in der Schule ganz konkret zu
fördern, können Lehrerinnen und Lehrer auf etablierte und
wissenschaftlich evaluierte Förderprogramme zurückgreifen.
. Abb. 4.4 Fördermodell selbstregulierten Lernens. Adaptiert nach Allerdings ist es im schulischen Alltag von noch größerer
Götz und Nett (2017, S. 172) Relevanz, dass Lehrkräfte die notwendigen Voraussetzun-
gen und Rahmenbedingungen kennen und schaffen können,
um die Kompetenzen ihrer Schülerinnen und Schüler zum
Für eine erfolgreiche Förderung selbstregulierten Lernens selbstregulierten Lernen eigenständig und kontinuierlich zu
ist aber auch von großer Bedeutung, dass individuelle Voraus- fördern. So stellt sich auch für Frieder Maier aus unserem
setzungen berücksichtigt werden. Dazu zählen insbesondere Eingangsbeispiel ganz konkret die Frage, wie er die Fähig-
die Emotionen, die Motivation, die Ressourcen und die Meta- keiten seiner Schülerinnen und Schüler zum selbstregulierten
kognitionen bezüglich selbstregulierten Lernens (. Abb. 4.4). Lernen fördern kann. Hier kann es hilfreich sein, sich vorab
So kann erfolgreiches selbstreguliertes Lernen insbesonde- eine Reihe von Fragen zu stellen:
re dann stattfinden, wenn Lernende beim selbstregulierten
Lernen positive Emotionen erleben, motiviert sind, sich die1 Welche Voraussetzungen und Fähigkeiten zum
Lerninhalte eigenständig anzueignen, über die notwendigen selbstregulierten Lernen haben die Schülerinnen und
Ressourcen wie z. B. Zeit und Arbeitsmaterialien verfügen Schüler bereits?
und zudem wissen, wie effiziente Selbststeuerung funktio- Die Bedeutung, die einer ausführlichen Diagnostik von be-
niert. Zwischen diesen vier Bereichen (Emotionen, Moti- reits vorhandenen Fähigkeiten zum selbstregulierten Lernen
vation, Ressourcen und Metakognition) bestehen zusätzlich der Schülerinnen und Schüler noch vor der eigentlichen För-
Wechselbeziehungen. Dies bedeutet, dass sie sich sowohl ge- derung zukommt, wurde bereits in 7 Abschn. 4.4 thematisiert
genseitig verstärken aber auch behindern können. (siehe auch Cleary & Zimmerman 2004). Dabei ist es wich-
Lehrerinnen und Lehrer können Einfluss auf ein positi- tig, dass Lehrkräfte zum einen den Entwicklungsstand der
ves emotionales Erleben ihrer Schülerinnen und Schüler in entsprechenden Altersstufe im Blick haben, zum anderen
Bezug auf selbstreguliertes Lernen nehmen, indem sie die- aber auch in der Lage sind, individuelle Fähigkeiten ihrer
se Inhalte enthusiastisch vermitteln und die Bedeutung von Schülerinnen und Schüler angemessen einzuschätzen, wie
Kompetenzen zum selbstregulierten Lernen betonen (vgl. z. B. ihre sprachlichen Fähigkeiten (. Tab. 4.2). Frieder Maier
Frenzel, Götz, Lüdtke, Pekrun & Sutton 2009). wird bei der Planung seiner Förderung beispielsweise sowohl
Über Letzteres kann auch die Motivation von Schülerin- den durchschnittlichen Entwicklungsstand von Schülerinnen
nen und Schülern zum selbstregulierten Lernen erhöht wer- und Schülern der 5. Jahrgangsstufe berücksichtigen, als auch
den. Darüber hinaus unterstützt auch eine Vermittlung von die individuellen Voraussetzungen der einzelnen Schülerin-
angemessenen Selbstwirksamkeitsüberzeugungen die Moti- nen und Schüler.
vation von Schülerinnen und Schülern in Bezug auf selbstre-
guliertes Lernen (. Tab. 4.2; Zimmerman & Bandura 1994). 1 In welchem fachlichen Kontext soll selbstreguliertes
Um ein effizientes Förderprogramm für selbstreguliertes Lernen gefördert werden?
Lernen zu entwickeln, müssen zudem die Ressourcen (Zeit, Aktuelle Befunde weisen darauf hin, dass die Förderung von
Unterstützung durch weitere Personen, Zugang zu Lernma- Kompetenzen zum selbstregulierten Lernen in fachspezifi-
terialien etc.) berücksichtigt werden, die den Schülerinnen schen Kontexten wirksamer ist als in fachübergreifenden
und Schülern zur Verfügung stehen. Dabei ist besonders her- Kontexten (vgl. Seidel & Shavelson 2007). So kann Frieder
vorzuheben, dass die Förderung selbstregulierten Lernens Maier den Kontext der Vorbereitung auf die Klassenarbeit
zunächst zusätzliche Ressourcen in Anspruch nehmen kann. im Fach Mathematik ganz gezielt nutzen, um seinen Schüle-
82 Kapitel 4  Selbstreguliertes Lernen

rinnen und Schülern spezifische Lernstrategien zu vermitteln


und deren Einsatz mit ihnen einzuüben. Wichtig ist dabei zu ten Lernen. Im Dreischichtenmodell ist die Struktur und
beachten, dass ein Transfer auf weitere Kontexte in der Re- gegenseitige Beeinflussung dieser Strategien herausge-
gel nicht automatisch erfolgt, sondern ebenfalls trainiert bzw. arbeitet. Im Prozessmodell des selbstregulierten Lernens
gefördert werden muss (z. B. Fuchs et al. 2003). wird die zeitliche Abfolge des Einsatzes der unterschiedli-
chen Strategien verdeutlicht. Die empirische Befundlage,
1 Mit welcher Methode soll selbstreguliertes Lernen ob sich selbstreguliertes Lernen tatsächlich positiv auf
gefördert werden? den Lernerfolg auswirkt, ist relativ heterogen, mit Hilfe
4 In Bezug auf Methoden zur Förderung selbstregulierten Ler- von Metaanalysen wurde jedoch belegt, dass eine Förde-
nens wird oft zwischen direkten und indirekten Methoden rung selbstregulierten Lernens insgesamt positive Effek-
unterschieden. Im Rahmen einer direkten Förderung wird te auf die Lernleistung sowie auf das Lernverhalten von
selbstreguliertes Lernen als Ziel an sich thematisiert und die Schülerinnen und Schülern, ebenso wie auf motivationale
entsprechenden Aspekte und Inhalte werden konkret ver- und emotionale Aspekte des Lernens hat. Förderprogram-
mittelt (Paris & Winograd 2003). Im Rahmen einer indi- me scheinen dann besonders wirkungsvoll, wenn sie ne-
rekten Förderung werden Lernumgebungen geschaffen, die ben kognitiven Lernstrategien auch weitere Strategien zur
ein selbstreguliertes Lernen der Schülerinnen und Schüler Selbststeuerung vermitteln.
ermöglichen und gleichzeitig ermutigen sollen, ohne dass Zur optimalen Förderung selbstregulierten Lernens ist
selbstreguliertes Lernen notwendigerweise als Ziel benannt es wichtig, die Voraussetzungen der Schülerinnen und
wird. Solche Lernumgebungen können durch bestimmte Un- Schüler gut diagnostizieren zu können. Wissenschaftlerin-
terrichtsmethoden wie z. B. Stationenarbeit, Wochenplanar- nen und Wissenschaftlern ebenso wie Lehrerinnen und
beit oder Projektunterricht (vgl. Wiechmann 2008) geschaf- Lehrern stehen dazu unterschiedliche Instrumente zur
fen werden. Während Lehrkräfte aktuell vor allem eine in- Verfügung. Während mit einigen Instrumenten wie z. B.
direkte Form der Förderung zu bevorzugen scheinen (vgl. Fragebogen und Interview vor allem Kompetenzen zum
Dignath-van Ewijk & van der Werf 2012), gibt es mittlerweile Selbstregulierten Lernen erfasst werden können, kann
deutliche Hinweise, dass eine direkte Förderung oft effekti- mit Hilfe von Instrumenten wie Lerntagebüchern, Expe-
ver ist (vgl. Otto 2007). Insbesondere im schulischen Alltag rience Sampling, Lautes Denken oder Beobachtungsver-
erscheint eine Kombination optimal. So wäre es für Frieder fahren auch der Lernprozess selbst abgebildet werden.
Maier beispielsweise günstig, einerseits seinen Schülerinnen Allerdings beeinflussen diese Methoden den Lernprozess
und Schülern konkrete Strategien zur Klausurvorbereitung teilweise auch stark, so dass die Wahl der Diagnoseme-
zu vermitteln, ihnen auf der anderen Seite aber auch in be- thode stets sorgfältig abgewogen werden sollte. Auf der
stimmten Lernsettings die Möglichkeit zu geben, diese Stra- Basis ausgesuchter Modelle und einer sorgfältigen Dia-
tegien dann frei und variabel umzusetzen. gnostik können effiziente Förderprogramme entwickelt
Zusammenfassend ist für eine effektive Förderung selbst- werden. Bei der Entwicklung solcher Programme zur För-
regulierten Lernens eine ausgewogene Mischung an fach- derung selbstregulierten Lernens sollten jedoch neben
übergreifenden und fachspezifischen sowie an direkten und dem Wissen und den Kompetenzen zum selbstregulier-
indirekten Maßnahmen wichtig, die an die Voraussetzungen ten Lernen auch individuelle Voraussetzungen wie z. B.
der Schülerinnen und Schüler angepasst ist. Diese optimale die Emotionen, die Motivation, die Ressourcen und die
Mischung kann selbstverständlich nicht in jeder schulischen Metakognitionen bezüglich selbstregulierten Lernens be-
Situation sofort erreicht werden. Lehrkräfte können jedoch rücksichtigt werden.
mit Sicherheit oft eine sehr gute Fördermaßnahme entwi-
ckeln, wenn sie sich sowohl auf ihr theoretisches Wissen als
auch auf ihre praktische Expertise beziehen (vgl. z. B. Land-
mann & Schmitz 2007). Verständnisfragen

?1. Wann ist Lernen selbstreguliert, wann ist Lernen


Zusammenfassung fremdreguliert?
Im vorliegenden Kapitel wurden wichtige Aspekte selbst- 2. Welche Strategien nutzen Sie regelmäßig? Ordnen
regulierten Lernens und deren Förderung diskutiert. Es Sie diese Strategien den Schichten des Modells von
wurden beispielhaft das hierarchische Dreischichtenmo- Monique Boekaerts (1999) zu.
dell selbstregulierten Lernens von Monique Boekearts 3. Was unterscheidet hierarchische Modelle von Prozess-
(1999) und das Prozessmodell des selbstregulierten Ler- modellen des selbstregulierten Lernens? Welchem
nens von Bernhard Schmitz (2001) vorgestellt. Beide Mo- praktischen Ziel können diese unterschiedlichen Arten
delle betonen die Bedeutung von kognitiven und me- von Modellen vor allem dienen?
takognitiven Strategien ebenso wie von Strategien zur 4. Franziska ist Schülerin der 10. Jahrgangsstufe. Erstmals
Regulation der eigenen Ressourcen beim selbstregulier- muss sie im Deutschunterricht eine Hausarbeit zu
einem Thema ihrer Wahl schreiben. Sie hat hierfür
Literatur
83 4
zwei Wochen Zeit. Beschreiben Sie Franziskas selbst- Cleary, T. J., & Callan, G. L. (2014). Student self-regulated learning in an ur-
reguliertes Vorgehen mit Hilfe des Prozessmodells des ban high school: Predictive validity and relations between teacher
selbstregulierten Lernens von Bernhard Schmitz. ratings and student self-reports. Journal of Psychoeducational Assess-
ment, 32(4), 295–302.
5. Aus welchen Gründen ist bereits eine frühe Förderung Cleary, T. J., & Zimmerman, B. J. (2004). Self-regulation empowerment pro-
von Kompetenzen zum selbstregulierten Lernen gram: A school-based program to enhance self-regulated and self-
sinnvoll? motivated cycles of student learning. Psychology in the Schools, 41(5),
6. Erörtern Sie das folgende Ergebnis der Studie „Selbst- 537–550.
reguliertes Lernen im Unterricht an der Grundschule“ Dignath, C., & Büttner, G. (2008). Components of fostering self-regulated
learning among students. A meta-analysis on intervention studies at
(Stöger et al., 2014): Eine Förderung selbstregulierten primary and secondary school level. Metacognition and Learning, 3(3),
Lernens erscheint dann besonders effektiv zu sein, 231–264.
wenn einzelne Strategien im Rahmen eines Gesamt- Dignath-van Ewijk, C., & van der Werf, G. (2012). What teachers think about
verständnisses zum selbstregulierten Lernen vermittelt self-regulated learning: Investigating teacher beliefs and teacher be-
werden. havior of enhancing students’ self-regulation. Educational Research
International. https://doi.org/10.1155/2012/741713.
7. Welchen Nutzen kann es haben, die Fähigkeit zum Dignath, C., Büttner, G., & Langfeldt, H. P. (2008). How can primary school
selbstregulierten Lernen sowohl durch Selbstberichts- students learn self-regulated learning strategies most effectively?
als auch durch Beobachtungsmethoden zu erfassen? A meta-analysis on self-regulation training programmes. Educational
8. Was können Lehrkräfte beachten, wenn sie das Research Review, 3, 101–129.
Lernverhalten ihrer Schülerinnen und Schüler gut Donker-Bergstra, A., De Boer, H., Kostos, D., Dignath-van Ewijk, C., & van
der Werf, G. (2014). Effectiveness of learning strategy instruction on
diagnostizieren möchten? academic performance: a meta-analysis. Educational Research Review,
9. Inwiefern ist eine gute Diagnostik wichtig für die Kon- 11, 1–26.
zeption eines Förderprogramms zum selbstregulierten Dunlosky, J., Rawson, K. A., Marsh, E. J., Nathan, M. J., & Willingham, D. T.
Lernen in der Schule? (2013). Improving students’ learning with effective learning techni-
10. Entwerfen Sie ein Konzept, wie der Lehrer Frieder ques promising directions from cognitive and educational psycholo-
gy. Psychological Science in the Public Interest, 14(1), 4–58.
Maier im Rahmen von 4 Unterrichtsstunden des Ertl, H. (2006). Educational standards and the changing discourse on
Mathematikunterrichts seinen Schülerinnen und education: The reception and consequences of the PISA study in Ger-
Schüler effektive Methoden zur eigenständigen many. Oxford Review of Education, 32, 619–634.
Vorbereitung auf die Klassenarbeit vermitteln kann. Frenzel, A. C., Götz, T., Lüdtke, O., Pekrun, R., & Sutton, R. E. (2009). Emotio-
nal transmission in the classroom: exploring the relationship between
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84 Kapitel 4  Selbstreguliertes Lernen

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85 5

Gehirn und Lernen


Jörg Meinhardt

5.1 Einleitung – 87

5.2 Grundbausteine des Gehirns – 87


5.2.1 Neuron – 87
5.2.2 Gliazellen – 87
5.2.3 Graue und weiße Substanz – 88

5.3 Gehirnstrukturen und ihre Funktionen – 88


5.3.1 Hirnstamm – 88
5.3.2 Thalamus – 88
5.3.3 Kleinhirn – 88
5.3.4 Limbisches System – 89
5.3.5 Großhirn und zerebraler Kortex – 90
5.3.6 Funktionen des zerebralen Kortex – 90

5.4 Lokalisation von Gehirnfunktionen am Beispiel der Sprache – 92

5.5 Gehirnentwicklung – 93
5.5.1 Neurogenese – 93
5.5.2 Synaptogenese – 94
5.5.3 Eliminierung von Synapsen – 94
5.5.4 Myelinisierung – 94

5.6 Imaging-Studien zur Gehirnentwicklung – 94

5.7 Neurokognitive Forschungsmethoden – 95


5.7.1 Elektroenzephalogramm – 95
5.7.2 Ereigniskorrelierte Potentiale – 96
5.7.3 Magnetenzephalografie – 96
5.7.4 Strukturelle und funktionelle Magnetresonanztomographie – 96
5.7.5 Nahinfrarotspektroskopie – 97
5.7.6 Positronen-Emissions-Tomographie – 97

5.8 Erfahrung, Lernen und neuronale Plastizität des Gehirns – 98


5.8.1 Neurowissenschaftliche Befunde zur Expertise – 98
5.8.2 Neurowissenschaftliche Befunde zum Wissenserwerb – 99

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019


D. Urhahne, M. Dresel, F. Fischer (Hrsg.), Psychologie für den Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55754-9_5
5.9 Neuromythen – 100
5.9.1 Der 10 %-Mythos! – 100
5.9.2 Zwei Gehirnhälften, zwei Arten zu denken? – 101
5.9.3 Die ersten drei Jahre: angereicherte Umwelten, Synaptogenese und sensible Phasen – 102
5.9.4 Lerntypen – eine visuelle, auditive und eine haptische Art des Lernens? – 103

Verständnisfragen – 105

Literatur – 105
5.2  Grundbausteine des Gehirns
87 5
5.1 Einleitung Zellkern alle notwendigen Zellorganellen, die eine Zelle am
Leben erhalten. Eine weitere wichtige Funktion des Zellkör-
pers ist die Bereitstellung der Neurotransmitter, chemischer
In diesem Kapitel wird eine kleine Reise durch das Gehirn
Substanzen, welche die Kommunikation der Neurone un-
unternommen. Dazu werden zunächst Grundbausteine des
tereinander modulieren. Als Signalempfänger eines Neurons
Gehirns wie das Neuron vorgestellt. Es folgt ein Überblick
dienen die Dendriten. Diese sind weitverzweigte Ausläufer
zum Gehirnaufbau, angefangen vom Hirnstamm als evolu-
von Fasern, die vom Zellkörper des Neurons ausgehen. Über
tionär ältester Region, bis hin zum zerebralen Kortex als
die Dendriten werden die von anderen Zellen einlaufenden
evolutionär jüngster Region, die mit den höheren psychi-
elektrischen Signale an den Zellkörper des Neurons weiter-
schen Funktionen assoziiert ist (Kolb & Whishaw 2015).
geleitet.
Anschließend werden unterschiedliche neurowissenschaftli-
Jedes Neuron besitzt zudem ein Axon, welches die elek-
che Methoden vorgestellt, mit denen Daten über die Struktur
trischen Signale vom Zellkörper weg zu anderen Neuronen
und die Funktionsweise des Gehirns gewonnen werden (Jän-
weiterleitet. Dabei variieren die Axone in ihrer Länge und
cke 2013). Im nächsten Abschnitt werden wichtige Befunde
können zwischen wenigen Mikrometern bis hin zu mehr als
zur Gehirnentwicklung dargestellt, die unter anderem zeigen
einem Meter betragen.
können, dass diese bis weit in das Erwachsenenalter hin an-
Die Kommunikation zwischen den Neuronen erfolgt über
dauert (Kolb & Whishaw 2015; Siegler, De Loache, Eisenberg
die Synapsen. Eine Synapse ist ein mikroskopisch schma-
& Saffran 2016). Im Folgenden wird erörtert, wie sich Ler-
ler Spalt zwischen dem Axonende des sendenden Neurons
nen und Wissenserwerb im Gehirn abbildet. Dazu werden
(präsynaptische Endigung) und den Dendriten oder dem
beeindruckende Befunde zu funktionellen und strukturellen
Zellkörper des empfangenden Neurons (postsynaptische En-
Veränderungen der Gehirnplastizität dargestellt. Neurowis-
digung). Ein Axon muss nicht zwangsläufig nur eine Synapse
senschaftliche Forschung kann helfen, ein grundlegenderes
mit einem empfangenden Neuron bilden. An seinem Ende
Verständnis für Lernprozesse zu schaffen. Doch verführt
besitzt das Axon eine Verzweigung von sogenannten End-
die Bildhaftigkeit neurowissenschaftlicher Befunde auch zur
knöpfchen über das ein Neuron Synapsen mit abertausenden
Herausbildung von Neuromythen, von denen abschießend
von anderen Neuronen bilden kann. Die Kodierung der In-
einige erläutert werden.
formationsübertragung auf Niveau der Synapsen erfolgt da-
bei über elektrische Impulse (Aktionspotentiale) sowie über
die Freisetzung chemischer Botenstoffe, sogenannter Neuro-
5.2 Grundbausteine des Gehirns transmitter, in den synaptischen Spalt. Die Signalübertragung
kann dann, je nach Art der Synapse und nach Art der aus-
5.2.1 Neuron geschütteten Transmitter, exzitatorischer oder inhibitorischer
Natur sein. Das empfangende Neuron beginnt dann entwe-
Die Verarbeitung von Informationen stellt die Hauptaufgabe der vermehrt zu feuern und das Signal weiterzuleiten oder die
unseres Gehirns dar, wobei die Neurone, also Nervenzel- Rate des Feuerns zu reduzieren, um das Signal an seiner Wei-
len, hier die grundlegenden Bausteine darstellen (. Abb. 5.1). terleitung zu hindern.
Ein erwachsenes menschliches Gehirn enthält etwa, je nach
Schätzung, 75 bis 125 Milliarden solcher Zellen (Lent, Aze-
vedo, Andrade-Moraes & Pinto 2012). Als Mengenvergleich:
Die Milchstraße, die als sehr große Galaxie gilt, umfasst et- 5.2.2 Gliazellen
wa 100 bis 300 Milliarden Sterne. Neurone sind spezialisierte
Zellen, die für das Empfangen, Verarbeiten und Senden von Neben Neuronen existieren im Gehirn auch andere Zellty-
Informationen zuständig sind. Dabei übertragen sie elektri- pen. Von besonderem Interesse sind hier die Gliazellen. Zu
sche Signale innerhalb des Gehirns von Neuron zu Neuron ihren zahlreichen Aufgaben zählt die mechanische Stabili-
sowie darüber hinaus, auch zu allen anderen Teilen des Kör- sierung der Neurone durch die Bildung von Bindegewebe;
pers. Hauptsächlich lassen sich drei Arten von Neuronen un- zudem sie sind am Zellstoffwechsel beteiligt und sie beein-
terscheiden. Sensorische Neurone übermitteln Informatio- flussen die Bildung von Synapsen. Neuere Befunde deuten
nen, die über die Sinnesrezeptoren aus der Umwelt einlaufen darauf hin, dass sie auch eine wichtige Rolle bei der Informa-
sowie aus dem Inneren des Organismus herrühren. Motori- tionsweiterleitung spielen (Travis 1994; Fields 2004). Beson-
sche Neurone sind für die Übertragung von Informationen ders wesentlich ist, dass Gliazellen an der Bildung der Mye-
vom Gehirn zu den Muskeln und den Drüsen zuständig. linscheiden der Axone beteiligt sind. Myelinscheiden stellen
Die Mehrzahl der Neurone im Gehirn stellen jedoch die In- eine fetthaltige Ummantelung bestimmter Axone dar. Damit
terneurone dar, die als Informationsvermittler zwischen den werden die Axone elektrisch gegenüber dem sie umgebenden
sensorischen und den motorischen Neuronen dienen. Raum isoliert, was in Folge die Geschwindigkeit und Effizienz
Auch wenn verschiedene Typen von Neuronen existie- der Signalübertragung zwischen Nervenzellen entscheidend
ren, so besitzen sie doch immer dieselbe Grundstruktur. vergrößert. Anders ausgedrückt: Durch Myelinisierung wird
Neurone bestehen aus dem Zellkörper, den Dendriten sowie die Kapazität der Informationsverarbeitung drastisch erhöht.
dem Axon. Der Zellkörper eines Neurons enthält neben dem Obwohl Axone auch ohne die Myelinscheide funktionieren,
88 Kapitel 5  Gehirn und Lernen

Dendriten Myelinschicht Axonale Endigung


(erhalten Botschaften (bedeckt die Axone mancher (Verbindungsstelle zu
von anderen Zellen) Neurone und beschleunigt anderen Neuronen)
dadurch die lmpulsweiterleitung)

Soma oder Zellkörper


Ranvierscher Schnürring
(Versorgungszentrale
(beschleunigt Erregungs-
des Neurons)
weiterleitung)
Axonhügel

5 Neuronaler Impuls
(elektrischer Impuls, der
Kern Axon am Axon entlang wandert)
(leitet die Botschaften vom
Zellkörper weiter zu anderen
Neuronen, Muskeln oder Drüsen)

. Abb. 5.1 Hauptstrukturen eines Neurons (adaptiert nach Myers 2014)

erreicht das Gehirn seine reguläre erwachsene Funktion erst, 5.3.1 Hirnstamm
wenn die Myelinisierung in großen Bereichen des Gehirns
vorrangeschritten ist. Damit stellt das Ausmaß der Myelini- Der Hirnstamm ist evolutionär betrachtet der älteste Teil des
sierung einen Index der zerebralen Reifung dar. Ein Aspekt, Gehirns. Er besteht aus verschiedenen Strukturen, die die
auf den im Zusammenhang mit der Gehirnentwicklung noch internen Prozesse des Körpers steuern. Der Hirnstamm be-
zurückgekommen wird. Ebenso besitzt die Myelinisierung ginnt am oberen Ende des Rückenmarks mit der Medulla
große Bedeutung bei der Plastizität, also bei strukturellen oblongata. Von hier aus werden grundlegende Funktionen
Gehirnveränderungen, die durch Erfahrung und Lernen ver- wie Herzschlag, Blutdruck und Atmung kontrolliert. Ober-
mittelt werden. Auch auf diesen Aspekt wird später noch halb der Medulla liegt die Brücke (Pons), die einlaufende
Bezug genommen. Informationen zu anderen Strukturen des Hirnstamms und
zum Kleinhirn weiterleitet. Der Hirnstamm ist durchzogen
von der Formatio reticularis, die eine netzartige Struktur aus
5.2.3 Graue und weiße Substanz Nervenzellen und ihren Fortsätzen darstellt. Sie besitzt eine
zentrale Funktion bei der Steuerung der Aufmerksamkeit und
ist an der Aufrechterhaltung und Regulation des Wachheits-
Schaut man sich Gehirnpräparate Verstorbener oder MRT-
zustandes beteiligt. Eine massive Schädigung dieser Struktur
Bilder an, lassen sich helle und dunkle Bereiche unterschei-
führt zum Koma.
den. Die dunkler erscheinenden Gebiete werden als graue
Substanz bezeichnet, die helleren als weiße Substanz. Die
graue Substanz umfasst im Wesentlichen die Zellkörper der
Neurone und Dendriten. Demgegenüber besteht die weiße 5.3.2 Thalamus
Substanz aus myelinisierten Axonen und Gliazellen.
Über dem Hirnstamm liegt der Thalamus, die Umschaltsta-
tion für sensorische Signale im Gehirn. Er empfängt Infor-
5.3 Gehirnstrukturen und ihre Funktionen mationen von den Sinnessystemen (ausgenommen vom Ge-
ruchssinn) und übermittelt diese zu den sensorischen Area-
len im Kortex, die für Sehen, Hören, Geschmack, Berührung
Das Gehirn ist die wichtigste Kommandozentrale unseres
und Schmerz zuständig sind. Ebenso empfängt er auch In-
Nervensystems (Kolb & Whishaw 2015). Im untersten Teil,
formationen von höheren Zentren und leitet diese zurück an
dort wo das Rückenmark in den Schädel eintritt, liegt der
Medulla und Kleinhirn.
Hirnstamm. Er ist für die Aufrechterhaltung der Lebensfunk-
tionen zuständig. In einer ringförmigen Anordnung darüber
befindet sich das limbische System, welches zwischen Moti-
vation, Emotion und Gedächtnis vermittelt. Das Großhirn 5.3.3 Kleinhirn
umschließt den Hirnstamm und das limbische System. Sei-
ne Rinde, der zerebrale Kortex, integriert Informationen aus Das Kleinhirn oder Zerebellum befindet sich unterhalb des
den Sinnessystemen, koordiniert Bewegungen und ist mit hö- Okzipitallappens an der Hinterseite des Hirnstamms. Es ist
heren psychischen Funktionen assoziiert, die uns Denken, beim Menschen der nach dem Großhirn vom Volumen her
Bewusstsein und Sprache ermöglichen (. Abb. 5.2). zweitgrößte Teil des Gehirns. Ähnlich dem zerebralen Kortex,
5.3  Gehirnstrukturen und ihre Funktionen
89 5

. Abb. 5.2 Gehirnstrukturen und Funktionen (adaptiert nach Myers 2014)

der Großhirnrinde, weist es Windungen zur Oberflächenver- zu, jedoch speicherte das intakte Kleinhirn das Erlebnis auf
größerung auf. Es erfüllt wichtige Aufgaben bei der Steuerung impliziter Ebene ab und steuerte so ihr Verhalten.
der Motorik, wie der Koordination und Feinabstimmung von Neben motorischen Funktionen, deren Automatisierung
Körperbewegungen, der Kontrolle von Haltung und Gleich- und der Speicherung impliziter Gedächtnisinhalte auf Ba-
gewicht. Das Kleinhirn ist zentral für das Erlernen von Bewe- sis klassischer Konditionierung, ist das Kleinhirn auch bei
gungsabläufen und deren Automatisierung (Hazeltine & Ivry der Abschätzung von Zeit, der Unterscheidung von Tönen
2002; Seidler et al. 2002), z. B. beim Radfahren oder Klavier- und Mustern sowie der Regulation von Emotionen beteiligt
spielen. (Bower & Parsons 2003).
Zudem spielt das Kleinhirn eine zentrale Rolle bei der Bil-
dung und Speicherung impliziter Gedächtnisinhalte in Folge
von klassischer Konditionierung (Daum & Schugens 1996),
was folgender Fallbericht eindrucksvoll veranschaulicht: Le 5.3.4 Limbisches System
Doux (1996) berichtet von einer Patientin mit einer schwer-
wiegenden Gedächtnisstörung. Sie erkannte ihren Arzt nicht Das limbische System ist eine ringförmige Struktur, die ober-
wieder, obwohl dieser täglich mit ihr sprach und ihr die Hand halb des Hirnstamms und unterhalb der zerebralen Hemi-
schüttelte. Eines Tages verbarg der Arzt eine Reißzwecke in sphären verläuft. Es besteht aus verschiedenen Gehirngebie-
seiner Hand. In Folge wurde die Patientin beim Händeschüt- ten, denen gemeinsam ist, dass sie evolutionär betrachtet zu
teln gepiekt. Als er ihr beim nächsten Besuch die Hand zum den älteren Strukturen gehören und überwiegend zwischen
Gruß reichte, weigerte sich die Patientin seine Hand zu ergrei- motiviertem Verhalten, Emotionen und Gedächtnisprozes-
fen. Erklären, warum sie zurückschreckte, konnte sie nicht. sen vermitteln. Drei zentrale Strukturen seien hier erwähnt,
Die schmerzliche Erfahrung beim Händeschütteln stellte eine der Hypothalamus, der Hippocampus und die Amygdala.
klassische Konditionierung dar (7 Kap. 1), wodurch das Hän- Der Hypothalamus befindet sich direkt unterhalb des
deschütteln mit dem Arzt aversiv besetzt wurde. Ihr explizites Thalamus und steuert zahlreiche physiologische Prozesse
Gedächtnis war gestört und ließ keine bewusste Erinnerung motivierten Verhaltens wie Nahrungshaushalt, Temperatur-
90 Kapitel 5  Gehirn und Lernen

regulation und sexuelle Erregung. In Verbindung mit der Denken und Planen, bei der Sprache, dem Gefühlserleben,
Hypophyse reguliert er auch das endokrine System. Eng mit bei Bewusstsein und Persönlichkeit, kurz gesagt bei allem,
dem Hypothalamus verbunden beinhaltet das limbische Sys- was menschliches Erleben und Verhalten so einzigartig macht
tem Kerngebiete, die nach ihrer Entdeckung in den fünfziger (Kolb & Whishaw 2015).
Jahren des letzten Jahrhunderts als Belohnungszentrum be- Die Oberfläche des Kortex ist beim Menschen stark gefal-
zeichnet wurden (Olds & Milner 1954; Olds 1956). tet und von Furchen und Spalten durchzogen. Die Furchen
Neben der Motivierung von Verhalten durch Belohnung verbergen gut zwei Drittel der Oberfläche und vergrößern sei-
besitzt das limbische System noch weitere wichtige Funk- ne Gesamtfläche immens, die abgewickelt einer Fläche von
tionen. So spielt der Hippocampus (Seepferdchen), der im etwa 50  50 cm entspricht. Die Faltungen bewirken, dass
Temporallappen liegt, beim Erwerb deklarativer Gedächtnis- eine größere Menge an Kortex im Gehirn untergebracht wer-
5 inhalte eine wichtige Rolle. Er ist mit dafür verantwortlich, den kann, ohne das Gehirnvolumen insgesamt zu vergrößern.
wie Fakten über die Welt und autobiografische Ereignisse Mit der Entwicklung des zerebralen Kortex hat es die Evolu-
längerfristig im Gedächtnis gespeichert werden. Die Funk- tion erreicht, den starken Einfluss der Gene abzuschwächen
tion einer Struktur kann man gut veranschaulichen, wenn und so die Anpassungsfähigkeit des Organismus an sehr un-
sie ausfällt. Dazu ein Fallbericht zum Patienten H.M., ei- terschiedliche Umwelten und Lernbedingungen zu erhöhen.
nem der prominentesten Probanden der Psychologie (Gerrig Obwohl der zerebrale Kortex durchschnittlich nur 3 mm dick
2015): Aufgrund seiner Epilepsie unterzog sich H.M. einer ist, enthält er nach neueren Befunden rund 15–20 Milliarden
Operation, bei der versucht wurde, durch Entfernung von Neurone und etwa die vierfache Menge an Gliazellen (Aze-
großen Teilen seines Hippocampus die Schwere seines An- vedo et al. 2009). Der zerebrale Kortex besteht vorwiegend
fallsleidens zu mindern. Nach dem Eingriff konnte sich der aus den Zellkörpern und deren Faserverbindungen ohne My-
Patient nur noch an Dinge erinnern, die lange zurücklagen. elinscheide. Da Zellkörper in seinem Aufbau vorherrschen,
Er verlor seine Fähigkeit neue Informationen im Langzeitge- erscheint er im anatomischen Gehirnschnitt graubraun und
dächtnis zu speichern. Die Dramatik einer solchen Störung, wird daher auch als graue Substanz bezeichnet. Unterhalb des
die auch als anterograde Amnesie bezeichnet wird, liegt auf zerebralen Kortex verlaufen mehrere Millionen Axone, wel-
der Hand. Sollten Personen mit einer solchen Störung eine che die Neurone des zerebralen Kortex mit denjenigen in an-
neue Wohnung beziehen, so könnten sie sich weder darin deren Gehirnregionen verbinden. Die große Konzentration
zurechtfinden, noch den Weg dahin erinnern. Neue Informa- an Myelin gibt diesem Gewebe eine weiße Färbung, weshalb
tionen werden schon nach kurzer Zeit vergessen. sie auch als weiße Substanz bezeichnet wird (. Abb. 5.3).
Am vorderen Ende des Hippocampus befindet sich die
Amygdala (Mandelkern). Verschiedene Studien haben ge-
zeigt, dass die Amygdala wesentlich für die Wahrnehmung
von Emotionen ist, die insbesondere Bedrohungen wie Angst 5.3.6 Funktionen des zerebralen Kortex
oder Wut signalisieren. Zudem spielt sie eine zentrale Rolle
bei der Speicherung von emotionalen Inhalten im Gedächt- Bevor Funktionen des zerebralen Kortex genauer betrachtet
nis (Adolphs, Tranel, Damasio & Damasio 1995; Anderson & werden können, ist zunächst etwas Kartografie notwendig. Je-
Phelbs 2000; Poremba & Gabriel 2001). Die Amygdala ist also de Hemisphäre wird durch anatomische Landmarken in vier
damit beschäftigt, Informationen emotional zu bewerten und Lappen unterteilt. Die Zentralfurche (Sulcus centralis) teilt
hilft damit Entscheidungen zu treffen, welche Informationen jede Hemisphäre vertikal und die Lateralfurche (Fissura late-
überhaupt langfristig gespeichert werden sollen. ralis oder Sylvische Furche) teilt jede Hemisphäre horizontal.
Wenn man auf der Vorderseite des Gehirns beginnt, trifft
man zuerst auf die Frontallappen (Stirnlappen), die bis zur
Zentralfurche verlaufen. Dahinter, etwa im Bereich der Schä-
5.3.5 Großhirn und zerebraler Kortex delmitte, beginnen die Parietallappen (Scheitellappen). An
der Rückseite des Schädels liegen die Okzipitallappen (Hin-
Das Großhirn ist die größte Struktur des menschlichen Ge- terhauptslappen), wobei die Grenzen zu den Parietallappen
hirns und besteht aus der linken und rechten Gehirnhälfte, von außen nicht sichtbar sind. Die Temporallappen (Schlä-
den Hemisphären. Die beiden Gehirnhälften arbeiten nicht fenlappen) liegen an den Schädelseiten über den Ohren und
getrennt voneinander, sondern interagieren bei ihren vielfäl- werden durch die Lateralfurche nach oben begrenzt.
tigen Aufgaben. Der Informationsaustausch zwischen beiden Was die Lokalisation von Gehirnfunktionen betrifft, wäre
Hemisphären erfolgt über einen gewaltigen Strang aus Ner- es allerdings irreführend zu meinen, dass irgendein Gehirn-
venfasern, dem Corpus callosum, auch Balken genannt. Die lappen eine spezifische Funktion allein kontrolliert (Kolb &
äußerste Schicht, welche die linke und rechte Gehirnhälfte Whishaw 2015). Die Gehirnstrukturen vollziehen ihre Aufga-
umgibt, wird als zerebraler Kortex bezeichnet. Der Begriff ben gemeinsam, sie arbeiten als integrale Einheit zusammen.
Kortex ist vom lateinischen Wort für Rinde abgeleitet. Der Ob wir etwas lesen, eine Rechenaufgabe bearbeiten oder
zerebrale Kortex dient höheren psychischen Funktionen und ein Gespräch führen, unser Gehirn arbeitet als einheitliches
spielt eine wesentliche Rolle bei der Verarbeitung von Sinnes- Ganzes. Dennoch lassen sich Areale der vier Gehirnlappen
wahrnehmungen, bei Willkürbewegungen, bei komplexem ausmachen, die für spezielle Funktionen wie das Sehen und
5.3  Gehirnstrukturen und ihre Funktionen
91 5
Die Hirnlappen sind
die groben Unterteilungen Das Gehirn hat eine rechte
Oben Der zerebrale Kortex ist die äußere
des zerebralen Kortex und eine linke Hemisphäre „Rinden“-Schicht des Gehirns

Stirnlappen Scheitellappen
Vorne (Frontallappen) (Parietallappen) Hinten

Hinterhauptslappen
(Okzipitallappen)
Schläfenlappen
Unten (Temporallappen)

. Abb. 5.3 Gehirnlappen und zerebraler Kortex (adaptiert nach Myers 2014)

Motorischer Sensorischer
Homunculus Hüfte Homunculus
Rumpf
Bei

en
Schulter
Ellenbogen

Rumpf

Sch Kopf
Hüfte
Handgele

nk Knie

Elle be ulter
Nack

Ha Unt oge m
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Fuß
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5
4 Zehen

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ion

Nase
Lippen Gesicht
Vo k a l i s a t

Oberlippe
S a l ewegung
ivation

Kiefer Unterlippe
e Zähne
Zung , Gaum
b

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u

en iefer
Ka

luck
Sch Primärer Primärer Ba
motorischer somato- uc Zun
he ge
in Ra
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Kortex sensorischer ge ch
we en
chm

Kortex id
e
ack

. Abb. 5.4 Motorischer und somatosensorischer Kortex. Der Körper ist hier so dargestellt, dass die Größe einer Körperregion der ihr zugeordneten
Menge an kortikalen Volumen entspricht. Für Körperteile, die sehr sensitiv sind oder für die eine sehr genaue motorische Kontrolle benötigt wird,
steht mehr Gehirngewebe zur Verfügung. Beispielsweise sind die Finger auf einer viel größeren Fläche repräsentiert als der Arm (adaptiert nach Myers
2014)
92 Kapitel 5  Gehirn und Lernen

Hören, die Sprache, das Gedächtnis oder die Motorik not- der, die mit visuellen Funktionen wie Objekt- und Gesichtser-
wendig sind. Sind sie geschädigt, sind ihre Funktionen gestört kennung beschäftigt sind. Etwas allgemeiner kann man sagen,
oder gänzlich verloren. dass es hier um das „Was“ einer Wahrnehmung geht. As-
So lassen sich die primären sensorischen und motori- soziationsfelder im Parietallappen sind an der Verarbeitung
schen Funktionen enger umschriebenen Gehirnarealen zu- räumlicher Informationen beteiligt, wie der Lokalisierung
ordnen. Dies betrifft Areale, wo die sensorischen Faserver- von Objekten im Raum und deren Bewegungen. Hier geht es
bindungen enden, oder motorische Kommandos ausgesendet also um das „Wo“ einer Wahrnehmung. Zudem übernimmt
werden. Der primäre motorische Kortex steuert die Willkür- er beim Rechnen und Lesen wichtige Funktionen.
bewegungen des Körpers. Er liegt im hinteren Bereich des
Frontallappens vor der Zentralfurche. Gleich hinter der Zen-
5 tralfurche, im vorderen Teil des Parietallappens, befindet sich 5.4 Lokalisation von Gehirnfunktionen am
der primäre somatosensorische Kortex. Hier werden Empfin-
Beispiel der Sprache
dungen wie Berührungen, Temperatur, Lage im Raum und
Schmerz repräsentiert (. Abb. 5.4). Visuelle Informationen
werden im primären visuellen Kortex verarbeitet, der im Ok- Wie die oben dargestellte Übersicht zu Funktionen von un-
zipitallappen an der Rückseite des Gehirns liegt. Für auditive terschiedlichen Gehirnarealen zeigt, kann eine bestimmte
Informationen ist der primäre auditive Kortex zuständig, der Region für eine spezielle psychische Funktion entscheidend
an der Oberseite des Temporallappens lokalisiert ist. sein. Das darf aber nicht zu der Fehlannahme verleiten, dass
Kortikale Gebiete, die weder sensorische Signale emp- immer nur eine Region allein eine bestimmte Funktion kon-
fangen noch Kommandos an die Muskeln aussenden, bilden trolliert. Vielmehr gilt, je komplexer eine Funktion ist, umso
beim Menschen etwa drei Viertel der Oberfläche des Kortex. mehr Regionen sind involviert und jeweils mit der Kontrolle
Diese Gebiete sind weit über den Kortex verteilt und bil- von Unterfunktionen befasst, die in Folge in der Gesamtfunk-
den die Assoziationsfelder des zerebralen Kortex. Sie dienen tion resultieren. Die Lokalisation von komplexen Gehirn-
der Integration und Interpretation von Informationen. Hier funktionen beruht auf einer netzwerkorientierten Sicht, wo-
werden sensorische Signale mit gespeichertem Wissen in Zu- bei komplexe psychische Funktionen immer von mehreren
sammenhang gebracht und geeignete Reaktionen geplant. Regionen des Gehirns abhängen, die untereinander vernetzt
Assoziationsfelder sind entscheidend für Denkprozesse. sind und interagieren. Fallen einzelne Stationen in diesem
Im Frontallappen befinden sich die Assoziationsareale Netzwerk aus oder werden die Verbindungen zwischen die-
vor den motorischen Regionen. Diese Region wird auch als sen Stationen gestört, kann eine Funktion beeinträchtigt wer-
präfrontaler Kortex bezeichnet. Hier geht es um die exeku- den oder gänzlich verloren gehen. Diese netzwerkorientierte
tiven Funktionen wie Arbeitsgedächtnis, Handlungsplanung, Sicht soll im Folgenden anhand der Sprache veranschaulicht
Entscheidungsfindung und inhibitorische Kontrolle. Es geht werden. Dazu jedoch zunächst ein Schritt zurück in die Ge-
also auch um Funktionen, die für Persönlichkeit und Sozial- schichte der Neurowissenschaften.
verhalten entscheidend sind. In den 1860er Jahren beschrieb der französische Medi-
Welche Folgen eine Schädigung des Frontallappens haben ziner Paul Broca, dass nach Schädigung eines bestimmten
kann, lässt sich am Fall des Bahnarbeiters Phineas Gage ver- Areals des linken Frontallappens, dem später nach ihm be-
anschaulichen (Damásio 1994): Wir schreiben das Jahr 1848, nannten Broca-Areal, spezifische Störungen der Sprachpro-
als Gage, damals 25-jährig, mit Sprengungen beim amerika- duktion auftreten. Dabei müssen die von der sogenannten
nischen Eisenbahnbau beschäftigt war. Durch eine Unacht- Broca-Aphasie Betroffenen um jedes Wort „mühevoll rin-
samkeit kam es zu einer vorzeitigen Explosion. Sein Werk- gen“, sinnvolle Sätze gelingen kaum, wobei ihr Sprachverste-
zeug, eine gut einen Meter lange Eisenstange, schlug durch hen weitgehend erhalten bleibt.
die linke Wange in seinen Schädel ein, trat oben an der Schä- Ebenfalls vor dem Hintergrund von Gehirnläsionen be-
deldecke wieder aus und führte zu massiven Verletzungen schrieb der deutsche Mediziner Carl Wernicke 1874 ein Areal
seines Frontallappens. Zur allgemeinen Verwunderung blieb im linken Temporallappen, das insbesondere mit dem Ver-
Gage während des Unfalls bei Bewusstsein, konnte sprechen ständnis von gesprochener Sprache assoziiert ist. Aufgrund
und sich später an den Vorfall erinnern. Nachdem die Wunde ihrer Beeinträchtigung im Sprachverständnis können die von
verheilt war, nahm er seine Arbeit wieder auf. Obwohl seine Wernicke-Aphasie Betroffenen aber auch keine sinnvollen
intellektuellen Fähigkeiten wie Wahrnehmung, Gedächtnis, Sätze mehr generieren, obwohl sie durchaus sprechen kön-
Sprache und Intelligenz intakt waren, zeigten sich doch Ver- nen.
änderungen in seiner Persönlichkeit. Aus dem freundlichen, Im Jahr 1892 beschreib Joseph Jules Dejerine auf der Basis
reflektierten und verantwortungsbewussten Mann wurde ei- von Post-Mortem-Analysen ein Modul für Schriftsprache im
ne respektlose, impulsive und unaufrichtige Person. In Fol- linken Gyrus angularis (ein Areal im linken Temporal- und
ge dieser Persönlichkeitsveränderungen verlor er seinen Ar- Parietal-Kortex), dessen Schädigung mit der Unfähigkeit zu
beitsplatz und erlitt einen erheblichen sozialen Abstieg. lesen und zu schreiben einhergeht, obwohl die Fähigkeit zu
Auch andere Assoziationsfelder sind Grundlage psychi- sprechen und Sprache zu verstehen erhalten bleibt. Der Gyrus
scher Funktionen. Neben den primären auditorischen Funk- angularis erhält visuelle Informationen vom primären visuel-
tionen beinhaltet der Temporallappen auch Assoziationsfel- len Kortex und transformiert sie in einen auditorischen Code,
5.5  Gehirnentwicklung
93 5
den das Wernicke-Areal benötigt, um die sprachliche Bedeu- Sprache nicht nur eine Funktion der linken Hemisphäre ist.
tung analysieren zu können. So erfolgt beispielsweise die Verarbeitung der Prosodie und
Viele Jahre später, um 1960, integrierte Norman der Sprachmelodie in der rechten Hemisphäre. Wie dieser
Geschwind all diese Befunde zum Wernicke-Geschwind- kurze Exkurs zur Lokalisation von Sprachfunktionen zeigt,
Modell, das beschreibt, wie wir Sprache verwenden (Kolb & sind komplexe psychische Funktionen nicht an nur einen
Whishaw 2015). Gesprochene Wörter werden vom primären Ort gebunden, sie sind immer das Ergebnis von zahlreichen
auditorischen Kortex wahrgenommen und geschriebene Strukturen, die in Netzwerken interagieren und über beide
Wörter vom primären visuellen Kortex. Die gelesenen Wör- Hemisphären verteilt sind.
ter werden im Gyrus angularis in einen auditorischen Code
umgewandelt. Der auditorische Code wird zum Wernicke-
Areal weitergeleitet und dort entschlüsselt und dann zum 5.5 Gehirnentwicklung
Broca-Areal übertragen, das wiederum den prämotorischen
Kortex erregt, falls Sprache generiert werden soll. Der Output Die Gehirnentwicklung ist ein lang andauernder Prozess, der
dieses Systems steuert dann letztlich die Muskulatur für die pränatal beginnt und sich bis ins hohe Erwachsenenalter voll-
Artikulation. zieht. Im Folgenden werden die vier wichtigsten Prozesse
Aus dem Modell lassen sich verschiedene Voraussagen der Gehirnentwicklung beschreiben (Kolb & Whishaw 2015).
über Sprachstörungen ableiten. Je nachdem, welche Region Zuerst wird die Bildung von Neuronen beschrieben, die als
in dieser Kette ausfällt, entsteht eine jeweils andere Form die Grundbausteine des Gehirns dienen. Es folgt der Prozess
von Störung. Beispielsweise führt eine Läsion des Wernicke- ihrer Vernetzung, auch Synaptogenese genannt. Jedoch pro-
Areals zu einer Störung des Sprachverstehens, während eine duziert das Gehirn auch einen Überschuss von synaptische
Läsion des Gyrus angularis lediglich die Fähigkeit zu lesen, Verbindungen, die in Folge teilweise wieder abgebaut werden.
jedoch nicht die Fähigkeit zu sprechen und das Sprachverste- Dieser Prozess der Synapsenreduktion ermöglicht es dem
hen beeinträchtigt. Organismus, sich flexibel an seine Umwelt anzupassen und
Auch wenn dieses Modell nicht frei von Kritik bleibt, so Verbindungen zu erzeugen, die adaptiv sind. Als letzter Ent-
stellt es immer noch einen wichtigen Ansatz zur Erklärung wicklungsschritt wird die Myelinisierung beschrieben, durch
von Sprache und Aphasien dar und hat viele weitere For- die eine Effektivitätssteigerung bei der Signalübertragung er-
schungsarbeiten angeregt. Insgesamt ist das Modell noch zu reicht wird. Gehirnentwicklung ist nicht einfach als Abspulen
unvollständig, um zu erklären, wie wir Sprache verwenden. genetischer Programme, sondern als Interaktion zwischen
Die Funktionen der Broca- und Wernicke-Areale sind nicht Anlagen und Umweltbedingungen zu verstehen. Abschlie-
so eindeutig bestimmbar, wie zunächst angenommen wurde. ßend werden Befunde aus Neuroimaging-Studien vorgestellt,
Patienten mit Aphasien zeigen fast immer expressive und re- die Implikationen für das Verständnis von typischen Verhal-
zeptive Störungen ihrer Sprache, die Begriffe Broca-Aphasie tensweisen in der Adoleszenz haben.
und Wernicke-Aphasie beschreiben nur die überwiegende
Störung.
Zwar besitzt die Einteilung in Broca- und Wernicke-
Areale heutzutage noch Relevanz bei der Diagnostik neuro- 5.5.1 Neurogenese
psychologischer Sprachstörungen, jedoch hat die Entwick-
lung von aktuellen Neuroimaging-Verfahren für das Ver- Schon im ersten Monat nach der Befruchtung werden die ers-
ständnis von Sprachfunktionen und deren zerebraler Loka- ten Neurone gebildet. Die Bildung von Neuronen vollzieht
lisation eine entscheidende Wende eingeleitet (Jäncke 2013). sich durch Zellteilung und wird als Neurogenese bezeich-
Das Wernicke-Geschwind-Modell beruht auf der Beobach- net. Die Neurogenese vollzieht sich mit einer ungeheuren
tung von Patienten mit Läsionen. Aber wie funktioniert Geschwindigkeit, wobei bis zu 250.000 Zellen pro Minute ge-
Sprache bei gesunden Gehirnfunktionen? Ein entscheiden- bildet werden. Abgeschlossen ist die Neurogenese etwa im
der Vorteil von Neuroimaging-Verfahren ist, dass psychische fünften Schwangerschaftsmonat, danach werden nur noch
Funktionen unabhängig von Läsionen im normalen Gehirn wenige Neurone neu gebildet. Das bedeutet auch, dass unser
und sozusagen online beobachtet werden können. Daher ist Gehirn bei der Geburt fast genauso viele Neurone beinhal-
es nicht verwunderlich, dass neuere Modelle zur neurona- tet wie im Erwachsenenalter. Ganz zum Stillstand kommt
len Basis der Sprache wesentlich differenzierter ausfallen. Für die Neurogenese aber nicht, denn in bestimmten Gebieten
die Wahrnehmung sprachlicher Informationen, die Analyse des Gehirns werden auch über das gesamte Leben hinweg
der Bedeutung einzelner Wörter, die Verarbeitung des Satz- neue Neurone gebildet. Beispielsweise konnte das für den
baus, das Satzverständnis und die Artikulation, um nur einige Hippocampus beobachtet werden, eine Region, die für die
Bausteine zu nennen, können mittlerweile noch weitaus dif- Gedächtnisbildung von größter Relevanz ist (Eriksson et al.
ferenziertere Netzwerke identifiziert werden (Friederici 2011; 1998). Nachdem die Neurone neu gebildet wurden, wandern
Poeppel, Emmorey, Hickok, Pylkkänen 2012). Die wichtigs- sie zu ihren Bestimmungsorten. Dieser Prozess, die Migrati-
ten Sprachregionen befinden sich in unterschiedlichen tem- on, setzt direkt nach der Neurogenese ein. Haben die Neurone
poralen und frontalen Arealen des Kortex der linken Hemis- ihre Zielposition erreicht, beginnen sie sich zu differenzieren
phäre. Die neueren Befunde zeigen darüber hinaus auch, dass und übernehmen ihre speziellen Funktionen in den unter-
94 Kapitel 5  Gehirn und Lernen

schiedlichen Strukturen des Gehirns. Während dieser Phase mantelung bestimmter Axone dar. Diese Ummantelung führt
wächst das Axon, es bildet sich der Dendritenbaum und die zu einer elektrischen Isolierung des Axons gegenüber dem
Neurone beginnen sich mit anderen Neuronen zu vernetzen umgebenden Raum, was in Folge die Geschwindigkeit und
oder bilden Verbindungen zu Muskeln und Drüsen aus. Der Effizienz der Signalübertragung entscheidend erhöht. Bei-
Prozess der Vernetzung von Neuronen erfolgt über die Bil- spielsweise ist die nach der Geburt noch nicht ausreichende
dung von Synapsen. Dieser Prozess wird als Synaptogenese Myelinisierung dafür verantwortlich, dass Kinder in dieser
bezeichnet. Zeit noch Schwierigkeiten haben, koordinierte Bewegun-
gen durchzuführen. Der Prozess der Myelinisierung beginnt
schon vor der Geburt und erstreckt sich bis in das hohe Er-
5.5.2 Synaptogenese wachsenenalter. Die Myelinisierung beginnt zuerst im Hirn-
5 stamm und verläuft hinauf zum Kortex (Lenroot & Giedd
2006). Dort vollzieht sich die Myelinisierung dann mit deut-
Während der Synaptogenese bildet jedes Neuron Synapsen lich unterschiedlichem Tempo, wobei die präfrontalen Berei-
mit Tausenden von anderen Neuronen. Die Synaptogene- che des Kortex zuletzt ausreifen.
se beginnt schon vor der Geburt, etwa ab der zwanzigsten
Schwangerschaftswoche, und hält im Grunde lebenslang an.
Sie verläuft in verschiedenen Gehirnregionen unterschied-
lich schnell und beginnt zu unterschiedlichen Zeitpunkten. 5.6 Imaging-Studien zur Gehirnentwicklung
Im visuellen Kortex erreicht die Synaptogenese ihr Maximum
etwa im Alter von einem Jahr, im präfrontalen Kortex liegt Frühere Studien zur Gehirnentwicklung wie die oben ge-
das Maximum bei vier Jahren (Huttenlocher & Dabholkar nannten von Huttenlocher und Dabholkar (1997) liefern
1997). Damit spiegeln die unterschiedlichen Zeitverläufe in wichtige Beiträge zur Volumenveränderung der grauen Sub-
der Synapsenbildung in den unterschiedlichen kortikalen Re- stanz. Jedoch basieren diese Studien auf der klinischen Un-
gionen vermutlich die Zeitpunkte wider, an denen bestimmte tersuchung der Gehirnschnitte von verstorbenen Personen
Verhaltensmöglichkeiten und Fertigkeiten ausgebildet wer- verschiedenen Alters. Da die Studien querschnittlich angelegt
den (Siegler et al. 2016). waren, werden Veränderungen im intraindividuellen Verlauf
hier nicht gut sichtbar. Zudem muss bei klinischen Studien
berücksichtiget werden, dass es sich dabei häufig um Ge-
5.5.3 Eliminierung von Synapsen hirne von erkrankten Personen handelt, wobei unbekannt
bleibt, ob diese Gehirne dann auch die typischen Wachs-
Ein bedeutsamer Aspekt der Synaptogenese ist, dass weitaus tumsprozesse aufweisen, die bei gesunden Probanden vorlie-
mehr Synapsen produziert werden als später bestehen blei- gen. Mittels Imaging-Methoden wie der strukturellen MRT
ben. Auf die Phase der Überproduktion von Synapsen folgt lassen sich mittlerweile auch genaue Analysen für das Volu-
eine Phase der Elimination von Synapsen. Diese Eliminie- men der grauen und weißen Substanz getrennt durchführen.
rung von überschüssigen Synapsen geht mit dem Absterben Solche bildgebenden Studien können an gesunden und le-
von überflüssigen synaptischen Verbindungen einher und benden Probanden und auch längsschnittlich durchgeführt
setzt sich auch noch viele Jahre nach der Geburt fort. werden.
Ähnlich wie schon bei der Synaptogenese tritt auch die Die Befunde zu Volumenveränderungen der grauen und
Synapsenreduktion zu unterschiedlichen Zeitpunkten in un- weißen Substanz die mittels MRT und lebenden Probanden
terschiedlichen Regionen des Gehirns auf. Hier sei nochmal gewonnen wurden, weisen auf eine wesentlich größere Dy-
auf die Arbeit von Huttenlocher und Dabholkar (1997) ver- namik in der Gehirnentwicklung hin, als zuvor bekannt war.
wiesen, die nicht nur zeigt, wann ein Maximum in der Pro- Die Arbeitgruppe von Gogtay hat Gruppen von gesunden
duktion von Synapsen vorliegt, sondern auch den Verlauf der Probanden alle zwei Jahre über einen Zeitraum von acht Jah-
Reduktion von Verbindungen beschreibt. Im visuellen Kortex ren gescannt, wobei die Altersspanne 4 bis 21 Jahre betrug
beginnt die Synapsenreduktion gegen Ende des ersten Le- (Gogtay et al. 2004). Die Befunde zeigen, dass mit dem Alter
bensjahres und dauert bis zum Alter von etwa zehn Jahren das Volumen an grauer Substanz abnimmt. Damit einherge-
an. Demgegenüber verläuft die Eliminierung von Synapsen hend nimmt das relative Volumen der weißen Substanz zu.
im Präfrontalkortex wesentlich langsamer und erstreckt sich Die Abnahme der grauen Substanz ist wahrscheinlich auf den
bis weit in das Erwachsenenalter hinein. Abbau von Neuronen und synaptischen Verbindungen zu-
rückzuführen. Die ersten kortikalen Regionen, die ausreifen,
sind diejenigen, die an basalen sensorischen und motorischen
Funktionen beteiligt sind. Im Alter von 11 bis 13 Jahren er-
5.5.4 Myelinisierung reicht die Reifungswelle dann die parietalen Areale, die an
der Kontrolle räumlicher und sprachlicher Funktionen betei-
Ein weiterer Prozess der Gehirnentwicklung stellt die Myeli- ligt sind. Das zuletzt reifende Areal ist der Präfrontalkortex,
nisierung bestimmter Axone dar. Wie schon oben beschrie- der für die exekutiven Funktionen von größter Bedeutung ist.
ben stellt die Myelinisierung der Axone eine fetthaltige Um- Seine Entwicklung vollzieht sich bis in das Erwachsenenalter,
5.7  Neurokognitive Forschungsmethoden
95 5
wobei in der Pubertät hier nochmals markante Veränderun- 5.7.1 Elektroenzephalogramm
gen auftreten, wie die folgende Studie von Giedd et al. (1999)
gezeigt hat: Auch die Autoren dieser Arbeitsgruppe verwen- Wird die elektrische Spannungsdifferenz zwischen zwei
deten für ihre strukturellen MRT-Studien kombinierte Längs- Punkten an der Schädeloberfläche gemessen und entspre-
und Querschnittdesigns und untersuchten dabei eine Alters- chend sichtbar gemacht, lassen sich Potentialveränderungen
spanne von 4 bis 22 Jahren. Wie schon in der Studie von Gog- über die Zeit erkennen. Diese „Kurven“ werden vom intakten
tay et al. (2004) können auch Giedd et al. (1999) einen konti- Gehirn andauernd und lebenslang generiert und gelten sozu-
nuierlichen Anstieg der weißen Substanz zwischen Kindheit sagen als Zeichen seiner permanenten Arbeit. Die Methode
und Erwachsenenalter feststellen. Demgegenüber findet sich wurde in den zwanziger Jahren vom deutschen Psychiater
für die graue Substanz ein wechselnder Verlauf mit einer wei- Hans Berger (1873–1941) in Jena entwickelt und ist heute un-
teren kurzfristigen Phase von Überproduktion und Abbau ter der Bezeichnung Elektroenzephalografie (EEG) bekannt.
im Zeitraum der Pubertät. Besonders bemerkenswert ist die- Jedoch sollte es noch bis in die zweite Hälfte des vorherigen
ser Reifungsverlauf im Frontalkortex, wo das Volumen der Jahrhunderts dauern, bis die technischen Voraussetzungen
grauen Substanz bei Jungen bis zum Alter von 12 Jahren und geschaffen waren, die eine Erfassung der elektrischen Gehirn-
bei Mädchen bis zum Alter von 11 Jahren deutlich zunimmt, aktivität auch zur Erforschung von Prozessen der Informa-
um dann rapide wieder abzunehmen (Giedd et al. 1999). Die tionsverarbeitung wie z. B. Wahrnehmung, Aufmerksamkeit,
Veränderungen im adoleszenten Gehirn gehören sicherlich Gedächtnis, Sprache, Plastizität und Lernen sowie der Ge-
mit zu den dramatischsten und wichtigsten in der Gehirn- hirnentwicklung ermöglichten, um nur einige heutige An-
entwicklung im Verlauf der Lebensspanne des Menschen. wendungsfelder zu nennen. Heutzutage gehört das EEG zu
Insbesondere das Reifungsmuster des Präfrontalkortex kann den meist verwendeten Forschungsmethoden der kognitiven
für das Verständnis von adoleszenztypischen Verhaltenswei- Neurowissenschaften.
sen ein Modell bieten, da diese Region an einer Vielzahl Das an der Schädeloberfläche registrierte EEG basiert
von Funktionen beteiligt ist, die als adoleszenztypisch gelten. physiologisch auf der Messung der elektrischen Aktivität der
Hierzu zählen beispielsweise das unreflektierte Eingehen von Dendriten und Synapsen kortikaler Neurone, die senkrecht
großen Risiken, die Bevorzugung von Neuheit und sofortiger zur Kortexoberfläche angeordnet sind. Wenn große Gruppen
Belohnung bei geringer inhibitorischer Kontrolle. Die große dieser Neurone zur selben Zeit feuern, generieren sie die elek-
Plastizität des Gehirns im Zeitraum der Adoleszenz ermög- trische Aktivität, die mit dem EEG registriert wird.
licht es aber auch, dass sich Umwelteinflüsse in besonderer Um die EEG-Aktivität zu messen, werden kleine Me-
Weise formend auf die sich noch entwickelnden kortikalen tallsensoren (Elektroden) an verschiedenen Stellen über der
Netzwerke auswirken können. Einerseits ergeben sich hier- Schädeloberfläche verteilt angebracht. Zumeist werden da-
durch Chancen für Lernen, Wissenserwerb und Erziehung, bei EEG-Kappen verwendet, die je nach Ausführung eine
anderseits auch eine verstärkte Vulnerabilität für schädliche definierte Anzahl von Ableitpunkten beinhalten. In der neu-
Umwelteinflüsse (Blakemore 2008). rowissenschaftlichen Forschung werden dabei von 19 bis hin
Zusammenfassend lässt sich nun folgendes Bild für die zu 256 EEG-Kanäle gemessen. Bei den von der Kopfhaut
Entwicklung kognitiver Funktionen und Verhaltensaspek- abgeleiteten EEG-Signalen handelt es sich um sehr kleine
ten zeichnen. Kortikale Areale, die mit basalen sensorischen elektrische Spannungsschwankungen mit einer Amplitude
und motorischen Funktionen assoziiert sind, entwickeln sich zwischen 5 und 200 Mikrovolt (1 Mikrovolt D 1 Millionstel
schon recht früh, wohingegen sich die Entwicklung der Volt). Die Frequenz dieser Signale liegt etwa zwischen 1 bis
präfrontalen Areale, die mit exekutiven Funktionen assoziiert 100 Hz. Die Analyse des EEGs kann unterschiedlich erfolgen.
sind, bis weit ins Erwachsenenalter hin fortsetzt. Hauptsächlich kann zwischen frequenzbezogenen Analysen
und ereigniskorrelierten Potentialen unterschieden werden.
Im Frequenzbereich lassen sich verschiedene Rhythmen
im EEG unterscheiden, die mit unterschiedlichen Bewusst-
5.7 Neurokognitive Forschungsmethoden
seinszuständen assoziiert sind. Hauptsächlich wird zwischen
den folgenden fünf Frequenzbändern unterschieden. Der
Die kognitiven Neurowissenschaften bedienen sich heutzuta- Delta-Rhythmus mit einer Frequenz unter 4 Hz tritt vor al-
ge einer großen Vielfalt von Forschungsmethoden, um dem lem in tiefen Schlafstadien auf. Sind Delta-Wellen auch im
Gehirn beim Denken zuzuschauen, oder seine Strukturen zu wachen Zustand zu beobachten, kennzeichnen sie oft patho-
analysieren. In diesem Kapitel wird eine Auswahl von Metho- logische Prozesse. Der Theta-Rhythmus mit Frequenzen zwi-
den vorgestellt, die heutzutage in den kognitiven Neurowis- schen 4 bis 8 Hz tritt vermehrt in leichten Schlafphasen auf.
senschaften stark verbreitet sind (Jäncke 2013). Die Auswahl Im Wachzustand werden diese Wellen mit Aufmerksamkeits-
beschränkt sich auf Methoden, die auch außerhalb medi- und Gedächtnisprozessen in Verbindung gebracht. Demge-
zinischer Untersuchungen anwendbar sind. Die ausgewähl- genüber tritt der Alpha-Rhythmus, der den Frequenzbereich
ten Methoden unterscheiden sich dabei in ihrer zeitlichen zwischen 8 und 13 Hz beschreibt, insbesondere im entspann-
und räumlichen Auflösung, ihrer Fähigkeit, strukturelle oder ten Wachzustand sowie bei geschlossenen Augen auf. Nimmt
funktionelle Daten des Gehirns zu liefern, sowie in ihrem die kognitive Beanspruchung zu, beispielsweise durch Öff-
Aufwand und dem Altersbereich, in dem sie angewendet wer- nen der Augen oder beim Lösen von Rechenaufgaben, wird
den können. der Alpha-Rhythmus blockiert (Alpha-Blockade) und geht in
96 Kapitel 5  Gehirn und Lernen

den Beta-Rhythmus (13 bis 30 Hz) über. Wellen über 30 Hz zesse mit Amplitudenmaxima innerhalb der ersten 200 ms
werden als Gamma-Rhythmus bezeichnet. Sie wurden erst im nach Reizbeginn assoziiert sind. Höhere kognitive Prozes-
ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert entdeckt und sollen se sind demgegenüber mit längeren Latenzen verbunden.
mit bestimmten Wahrnehmungs- und Integrationsprozessen So lassen sich beispielsweise automatische von kontrollierten
im Zusammenhang stehen. Informationsverarbeitungsprozessen unterscheiden oder der
Prozess von Übung abbilden. Die Höhe der EKP-Amplitude
kann Informationen über die relative Menge an neuronaler
Aktivität liefern, die mit unterschiedlichen experimentellen
5.7.2 Ereigniskorrelierte Potentiale Bedingungen verbunden ist. Typische Beispiele für EKP-
Komponenten sind die N1 als Korrelat selektiver Aufmerk-
5 Eine weitere Methode zur Analyse des EEGs stellen ereignis- samkeit, die P3 als Index kognitiver Verarbeitungsressourcen
korrelierte Potenziale (EKP) dar. Darunter werden alle elek- oder die Komponenten N400 und P600, die auf semantische
trokortikalen Potenziale verstanden, die vor, während oder und syntaktische Verletzungen reagieren und so hilfreich für
nach einem definierbaren Ereignis im EEG messbar sind. Mit die Untersuchung von Sprachprozessen sind.
Ereignis sind dabei sensorische, motorische und auch psychi- Der größte Vorteil der EKP-Methodik liegt in ihrer ho-
sche Ereignisse gemeint. Psychische Ereignisse können sich hen zeitlichen Auflösung im Millisekunden-Bereich. Sie ist
beispielsweise auch auf Erwartungen oder Entscheidungen damit so schnell wie das Denken selbst. Angewandt werden
beziehen. Demnach spielt es für die Auslösung von EKPs kei- kann sie schon ab dem Säuglingsalter. Limitierend wirken
ne Rolle, ob ein Reiz wirklich dargeboten wurde oder ob nur sich die geringe räumliche Auflösung und ihre hohe Störan-
die Erwartung, dass ein Reiz auftritt, durch das Ausbleiben fälligkeit gegenüber Bewegungen aus. Jedoch werden zurzeit
der Reizdarbietung verletzt wurde. Wichtig für die Auslösung Systeme entwickelt, die auch bei mobiler Datenerfassung,
von EKP ist lediglich, dass Ereignisse sich eindeutig definie- d. h. bei erhöhter Bewegungsaktivität, eine hohe Datenqua-
ren lassen. lität ermöglichen sollen.
Mit der EKP-Methodik können eine Vielzahl von infor-
mationsverarbeitenden Prozessen untersucht werden. Jedoch
ist zunächst ein methodisches Problem zu lösen. Die EKPs
sind in ihrer Amplitude viel kleiner als das EEG. Sie sind so-
5.7.3 Magnetenzephalografie
zusagen darin verborgen. Um die EKPs dennoch erforschen
zu können, müssen die relevanten Ereignisse vielmals wieder- Das Gehirn generiert schwache magnetische Felder, die über
holt werden. Durch Mittelungstechnik kann dann das Signal- der Kopfoberfläche berührungsfrei mittels supraleitender
Rausch-Verhältnis der Daten entsprechend erhöht werden Sensoren gemessen werden können. Die magnetischen Fel-
und die EKPs werden beobachtbar. Nach der Mittelung tritt der werden durch die elektrische Aktivität der Neurone er-
das EKP durch eine Abfolge von Potentialschwankungen in zeugt. Diese Felder sind sehr klein, ihre Stärke beläuft sich
negativer und positiver Richtung in Erscheinung. Jede dieser auf weniger als den hundertmillionsten Teil der Stärke des
Komponenten hat eine bestimmte Latenz in Bezug auf das sie Magnetfelds der Erde. Die Magnetenzephalografie (MEG)
auslösende Ereignis. EKP-Komponenten werden anhand ih- stellt ähnlich dem EEG einen direkten Zugang zu den neu-
rer Polarität (N für negativ; P für positiv) und dem Zeitpunkt ronalen Prozessen dar, da beide Verfahren die elektrische
ihres Auftretens klassifiziert. Der Zeitpunkt des Auftretens Aktivität der Neurone abbilden. Neben einer hervorragenden
kann entweder als Latenzmaß in Millisekunden oder als ordi- zeitlichen Auflösung, lässt sich mit dem MEG auch sehr ge-
nale Ordnungszahl angegeben werden. Ein Beispiel für eine nau bestimmen, wo ein an der Schädeloberfläche gemessenes
positive Komponente, die z. B. durch Erwartungsverletzun- Signal seinen Ursprung hat. Der größte Vorteil dieser Me-
gen auftritt, ist die P300. Dieses Potential zeigt ein Ampli- thode besteht darin, dass umfangreiche Vorbereitungen, wie
tudenmaximum bei 300 ms nach dem auslösenden Ereignis die zeitintensive Anbringung von Elektroden, die bei EEG-
und besitzt eine positive Polarität, deshalb auch P300. Ande- Ableitungen notwendig sind, wegfallen. Das Verfahren lässt
rerseits kann diese Komponente als P3 bezeichnet werden, da sich auch bei Kindern ab einem Alter von ca. 5 Jahren an-
sie als dritte Positivierung in der Reihe auftritt. Ein weiteres wenden, sobald die Kinder für einige Zeit still sitzen können.
Klassifikationsmerkmal ist der Ableitort auf der Kopfoberflä- Leider stehen diesem Vorteil große Kosten gegenüber, sodass
che. Beispielsweise wird das Amplitudenmaximum der P3- dieses Verfahren nur relativ selten zur Anwendung kommt.
Komponente oft über parietalen Regionen beobachtet.
Wie lassen sich nun Erkenntnisse aus den EKPs für in-
formationsverarbeitende Prozesse ziehen? Die Latenz und die
5.7.4 Strukturelle und funktionelle
Amplitude einer EKP-Komponente können Informationen
über den zeitlichen Verlauf und die Höhe der Beanspru- Magnetresonanztomographie
chung geben. Basierend auf dieser Betrachtung beschreibt die
Latenz den Zeitverlauf eines kognitiven Prozesses. Längere Die Magnetresonanztomographie (MRT) ist eine Technik zur
Latenzen stehen demnach für länger andauernde Verarbei- Darstellung hirnanatomischer Strukturen. Eng verwandt mit
tungsprozesse. Als Faustregel gilt dabei, dass sensorische Pro- ihr ist das funktionelle MRT (fMRT), das zur Abbildung von
5.7  Neurokognitive Forschungsmethoden
97 5
Aktivierungsprozessen während der Bearbeitung von Aufga- die fMRT-Methodik zwar langsamer als das EEG, bietet aber
ben dient. Entwickelt wurde die Methodik ab den 80er Jahren große Vorteile bei der Lokalisation kognitiver Prozesse.
des letzten Jahrhunderts.
Das Grundprinzip lässt sich stark vereinfacht folgender-
maßen veranschaulichen: Das MRT arbeitet mit Hilfe von
starken Magnetfeldern und Radiofrequenzimpulsen. Deshalb 5.7.5 Nahinfrarotspektroskopie
ist der Proband bei einer MRT-Studie auch keiner Strahlen-
belastung ausgesetzt, wie das bei der Computertomografie
Imaging-Verfahren, die Einblicke in die Aktivität des Gehirns
(CT) oder der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) der
erlauben, wie fMRT, sind aufgrund ihrer Größe auf den Ein-
Fall ist. Die Basis des MRT-Verfahrens ist der Kernspin des
satz im Labor begrenzt. Für mache Fragestellungen könnte
Wasserstoffatoms. Normalerweise drehen sich die Atomker-
die Nahinfrarotspektroskopie (NIRS) eine Alternative bie-
ne im Körper um ihre eigene Achse. Durch diese Drehung
ten, da diese Methodik auch für Feldforschung anwendbar
– Kernspin genannt – generieren sie ein kleines, mittels
ist. Ähnlich wie das fMRT liefert das NIRS Aufschlüsse über
einer Empfangsspule messbares Magnetfeld. Unter natürli-
den Metabolismus des Gehirns. Da der Schädelknochen und
chen Umständen ist die magnetische Ausrichtung der Kerne
das darunter liegende Gewebe lichtdurchlässig sind, wird bei
rein zufällig. Wird jedoch von außen ein starkes Magnetfeld
der Methode mit Nahinfrarotlicht in das Gehirn „geleuchtet“.
(1.5 bis 7 Tesla) angelegt, richten sich die Wasserstoffkerne
Dazu werden über den Kopf verteilt Sensoren angebracht, die
in Längsrichtung des Körpers aus. Werden jetzt zusätzlich
jeweils eine Lichtquelle und kurz daneben einen Empfänger
Hochfrequenzimpulse ausgesendet, kann damit die Ausrich-
beinhalten. Die Empfänger messen, wie viel Licht das Ge-
tung der Kerne im Magnetfeld in definierter Weise verändert
webe passiert hat. Da die Lichtdurchlässigkeit des Gewebes
werden. Wird der Hochfrequenzimpuls ausgeschaltet, keh-
von der Menge und dem Sauerstoffgehalt des Blutes abhängt
ren die Wasserstoffkerne wieder in die Längsrichtung zurück
und die Durchblutung mit sauerstoffreichem Blut bei Akti-
(Relaxation), die durch den Magneten vorgegeben ist. Hier-
vierung des Gehirns zunimmt, lässt sich von der gemessenen
bei induzieren die Wasserstoffkerne, genauer die Protonen,
Lichtmenge auf die Hirnaktivität schließen. Ein Nachteil des
in der Empfangsspule des MRT eine kleine elektrische Span-
Verfahrens ist die zeitliche Auflösung, die im Vergleich zum
nung, die letztlich als MR-Signal dient. Wichtig dabei ist, dass
EEG recht begrenzt ist. Sein großer Vorteil ist jedoch seine
jeder Gewebetyp mit typischen Zeiten für die Relaxation ver-
vergleichsweise geringe Anfälligkeit für Artefakte, wie z. B.
bunden ist. Der jeweils angeregte Gewebetyp (z. B. weiße und
Bewegungen der Probanden, und die relativ geringe Größe
graue Substanz) lässt sich dann als Graustufe in digitalen Bil-
der Apparatur. Damit scheint NIRS auch ein idealer Kandi-
dern darstellen. Mit dem strukturellen MRT lassen sich somit
dat für Studien mit jungen Kindern und den mobilen Einsatz
Größe und Lage bestimmter Hirnstrukturen abbilden.
zu sein.
Eine andere Methode, ist das so genannte Diffusion Ten-
sor Imaging (DTI). Dabei wird der Verlauf der Faserbahnen
sichtbar gemacht, aus denen sich insbesondere die weiße Sub-
stanz zusammensetzt. Diese Faserbahnen durchziehen das
gesamte Gehirn und ermöglichen eine Kommunikation zwi-
5.7.6 Positronen-Emissions-Tomographie
schen den Nervenzellen in den unterschiedlichen Hirnstruk-
turen. Ähnlich wie mit der fMRT kann man auch mit der Positro-
Auf der MRT Methodik beruht noch eine andere Va- nen-Emissions-Tomographie herausfinden, welche Gehirn-
riante, die nicht die Gehirnanatomie abbildet, sondern die areale bei bestimmten Aufgaben besonders aktiv sind. Jedoch
Aktivität in verschiedenen Gehirnarealen registrieren kann. basiert die PET auf einer völlig anderen Methodik als das
Eine in der Forschung häufig angewandte Variante der MRT fMRT und stellt ein invasives Verfahren dar. Bei der PET
bildet die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT). werden dem Probanden schwach radioaktive Marker in die
Ihre Grundlage beruht auf bestimmten Eigenschaften des Blutbahn injiziert. Ist ein bestimmtes Gehirngebiet neuro-
Gehirnstoffwechsels. Nimmt die Aktivität einer Gehirnstruk- nal aktiviert, nimmt die Durchblutung in genau diesem Areal
tur zu, beispielsweise durch Gedächtnis- oder Lernprozesse, zu. Das hat zur Folge, dass auch die radioaktiven Marker in
verbrauchen die Nervenzellen in dieser Hirnstruktur kurz- diesen Gebieten in höherer Konzentration auftreten. Mittels
zeitig mehr Sauerstoff. Das führt dazu, dass die betreffen- entsprechender Sensoren, die um den Kopf verteilt liegen,
de Region kurzfristig vermehrt mit sauerstoffhaltigem Blut kann so auf Aktivierungsunterschiede in den einzelnen Ge-
versorgt wird. Durch spezifische Messverfahren kann die hirnregionen geschlossen werden.
Anreicherung von sauerstoffhaltigem Blut sichtbar gemacht Die PET wurde schon einige Zeit vor der fMRT-Methodik
werden, weil sauerstoffhaltiges und sauerstoffarmes Blut un- entwickelt und spielt heutzutage für klassische kognitive Fra-
terschiedlich starke Signale zurücksendet (blood oxygenation gestellungen nur noch eine untergeordnete Rolle. Die Gründe
level dependent contrast, BOLD). Mit dieser Technik lässt dafür liegen auf der Hand. Einerseits ist die PET ein invasives
sich die Aktivität in Arealen von 1 bis 2 mm Größe identifi- Verfahren, welches zu einer radioaktiven Belastung der Pro-
zieren und Ereignisse im Sekundenbereich messen. Damit ist banden führt. Auch ist die zeitliche Auflösung gegenüber dem
98 Kapitel 5  Gehirn und Lernen

fMRT viel geringer. Sein größter Vorteil ist, auch Neurotrans- und weißen Substanz. Schließlich gehört auch die Bildung
mitter und deren Rezeptoren lokalisieren zu können. neuer Nervenzellen, die Neurogenese, zur strukturellen Plas-
tizität. Wichtig für Lernen und Gedächtnisbildung ist der
Hippocampus, wofür bei Menschen Neurogenese nachgewie-
sen werden konnte (Eriksson et al. 1998).
5.8 Erfahrung, Lernen und neuronale
Plastizität des Gehirns
5.8.1 Neurowissenschaftliche Befunde zur
Neuronale Plastizität bezeichnet die Eigenschaft des Gehirns,
sich durch Erfahrungen zu verändern (Jäncke 2013). Andere Expertise
5 Begriffe hierfür sind Neuroplastizität oder Gehirnplastizität.
Die Plastizität des Gehirns ist die Voraussetzung für jede Die ersten Studien zur neuronalen Plastizität des Gehirns
Form von Lernen. Plastizität kann auf verschiedenen Sys- beim Menschen erschienen zu Beginn der 1990er Jahre. Die
temebenen stattfinden. Auf der Ebene der Synapsen durch im Bereich der Erforschung zur Neuroplastizität verwende-
Veränderung in der Effizienz der Übertragung von Aktions- ten Studiendesigns unterschieden sich dabei im wesentlichen
potentialen, auf der Ebene der Neuronen durch Wachstum Vorgehen nicht von den Ansätzen, die auch in der Psycho-
und Neurogenese im Hippocampus, auf Ebene des Kortex logie und Pädagogik für die Untersuchung von Lernfort-
durch Veränderung kortikaler Karten. Unterschieden wird schritten, Wissenserwerb oder dem Erwerb von Expertise
die funktionelle von der strukturellen Neuroplastizität. eingesetzt werden, jedoch ergänzt um Maße auf neuronalem
Unter funktioneller Neuroplastizität wird die Verände- Niveau. Zur Untersuchung können Querschnitts- und Längs-
rung in der Effizienz der synaptischen Übertragung von Ak- schnittuntersuchungen eingesetzt werden. Die Logik hinter
tionspotentialen aufgrund von Erfahrungen verstanden. beiden Ansätzen sei kurz geschildert. Bei Querschnittsun-
Wie werden nun die Erfahrung und somit das Lernen auf tersuchungen werden Personen untersucht, die in einem be-
neuronaler Ebene kodiert? stimmten Gebiet Experten sind. In der Expertiseforschung
Wird ein und dieselbe Kontaktstelle zwischen zwei Ner- zur neuronalen Plastizität wurden z. B. oft professionelle Mu-
venzellen wiederholt aktiviert, also ein Aktionspotential von siker rekrutiert, da hier die Expertise nur durch überaus
einer auf die andere Zelle übertragen, dann kommt es zu ei- großen Übungseinsatz über Tausende von Stunden erreicht
nem Prozess, der Langzeitpotenzierung genannt wird. Wenn wird. Als Kontrollgruppe werden dann Personen ohne eine
eine Synapse wiederholt einen Impuls auf die nachfolgen Zel- vergleichbare Expertise herangezogen, da hier ja eine ent-
le überträgt, reagiert diese nach einiger Zeit immer heftiger, sprechende Übung nicht besteht. Für beide Gruppen wer-
sie ist stärker und länger aktiviert. In manchen Hirnregionen den nun neuronale Korrelate gemessen, die für die Ausbil-
kann eine solche anhaltende Aktivierung Stunden, Tage oder dung der Expertise von Relevanz sind, z. B. die Fähigkeit zur
Wochen andauern. Dabei kann die Effizienz der Signalüber- Tonhöhenunterscheidung oder spezielle motorische Fertig-
tragung auf zwei Arten verändert werden. Einerseits kann es keiten, die mit der Instrumentenbeherrschung im Zusam-
an der präsynaptischen Endigung einer Nervenzelle zu einer menhang stehen. Die dabei beobachteten neuronalen Un-
vermehrten Transmitterausschüttung kommen, andererseits terschiede werden dann auf Unterschiede in der Expertise
können an der postsynaptischen Membran vermehrt Trans- bezogen. Jedoch ist dieser Ansatz nicht ganz frei von Inter-
mitterrezeptoren angelegt werden. pretationsproblemen. Denn Unterschiede in den neuronalen
Durch diese beiden Prozesse ist es möglich, die Verschal- Korrelaten können Ursache oder Folge von Verhaltensunter-
tung eines Netzwerks zu ändern, ohne dass dazu beispielswei- schieden sein. Demgegenüber lassen sich bei Längsschnittun-
se eine Modifikation der anatomischen Verbindungen, also tersuchungen solche Probleme umgehen, wobei der Aufwand
der Verdrahtung von Dendriten und Axone nötig wäre. Als in der Durchführung hier erheblich steigt. Bei Längsschnitt-
Entdecker der Plastizität auf Ebene der Synapsen gilt Do- untersuchungen werden Fertigkeiten trainiert (z. B. Erlernen
nald O. Hebb, der 1949 in seinem Buch „The Organization eines Musikinstruments oder Erwerb von Fachwissen) und
of Behavior“ die so genannte Hebb’sche Lernregel formulier- mit den Fertigkeiten von Personen verglichen, die kein oder
te, die besagt, dass je häufiger ein Neuron A gleichzeitig mit ein anderes Training absolvieren. Vor dem Training sollten
Neuron B aktiv ist, umso bevorzugter werden die beiden Neu- auf Verhaltensebene sowie auch in den neuronalen Korre-
ronen aufeinander reagieren, kurz „what fires together, wires laten keine Unterschiede zwischen den Gruppen bestehen.
together“ – was zusammen feuert, verbindet sich. Nach Abschluss des Trainings können dann die Unterschiede
Eng verbunden mit der funktionellen Plastizität ist die in den neuronalen Plastizitäts- und Verhaltensmaßen auf die
strukturelle Neuroplastizität. Damit sind strukturelle Verän- Effekte des Trainings bezogen werden.
derungen des Gehirns aufgrund von Erfahrungen gemeint. Im Jahr 1995 führten Elbert und Kollegen eine wegwei-
Solche anatomisch fassbaren Veränderungen des Gehirns sende Studie zur funktionellen Plastizität durch. Dabei be-
können den Auf- oder Abbau ganzer Synapsen betreffen oder dienten sich die Autoren der Methode der somatosensorisch
auch darüber hinausgehen, wenn einzelne Axone oder ganze evozierten Potentiale (SEP), die in dieser Querschnittsstudie
Bäume von Dendriten neu ausgestreckt oder zurückgezogen mittels Magnetenzephalographie (MEG) gemessen wurden.
werden. Ebenso zählen hierzu Veränderungen der grauen Somatosensorisch evozierte Potentiale sind neuronale Ant-
5.8  Erfahrung, Lernen und neuronale Plastizität des Gehirns
99 5
worten, die durch Berührung der Körperoberfläche ausgelöst gen des Gehirns dar. Mittels MRT untersuchten die Autoren
werden können und sich über Gehirnarealen messen lassen, die Dichte der grauen Substanz im Längsschnittdesign zu drei
die mit der Verarbeitung dieser Information befasst sind, al- verschiedenen Zeitpunkten: am Beginn der Lernphase, nach
so dem primären somatosensorischen Kortex. Wichtig dabei der Prüfung (d. h. drei Monate nach Lernbeginn) und noch-
ist, dass die Fläche, die einer bestimmten Körperregion auf mals drei Monate später in den Ferien. Über die Lernperiode
dem somatosensorischen Kortex zur Verfügung steht, mit hinweg nahm die graue Substanz in Bereichen des Parie-
dem Auflösungsvermögen der Rezeptoren in dieser Region tallappens (posteriorer und inferiorer Parietalkortex) sowie
proportional ist. In der Neurophysiologie wird dieses Phä- im posterioren Hippocampus zu. Interessanterweise ließ sich
nomen auch als somatosensorischer Homunculus bezeichnet auch drei Monate nach Ende der Lernzeit im Hippocampus
(. Abb. 5.4). Beispielsweise nehmen die Finger oder die Lip- noch ein weiterer Anstieg der grauen Substanz beobachten,
pen sehr große Flächen des somatosensorischen Kortex ein, jedoch nicht für die parietalen Gehirnareale. Demnach schei-
demgegenüber fallen die mit dem Rücken oder den Bei- nen zwei Subsysteme des Gedächtnisses an der Speicherung
nen assoziierten Felder recht klein aus. Das korrespondiert des Wissens beteiligt. Während die Enkodierungsprozesse
auch gut mit unseren Empfindungen für die verschiedenen im Parietalkortex nach der Lernphase abgeschlossen waren,
Körperregionen, wie ein kleiner Selbstversuch zeigen kann. dauerte die Konsolidierung im Hippocampus über die Lern-
Drücken wir beispielsweise mit zwei Bleistiften nebeneinan- phase hin an. Insbesondere der Hippocampus wird als Tor
der (Abstand ca. 1 cm) auf eine Fingerkuppe, so sind die zwei zum Langzeitgedächtnis betrachtet. Er ist enorm wichtig für
Punkte deutlich zu spüren. Auf dem Rücken können wir diese die Gedächtniskonsolidierung, also die Überführung von Ge-
zwei Punkte nicht mehr deutlich unterscheiden. dächtnisinhalten aus dem Kurzzeit- in das Langzeitgedächt-
Zurück zur Studie von Elbert und Kollegen: Probanden nis (7 Kap. 2). Auch ist er einer der wenigen Orte im Gehirn,
dieser Studie waren langjährig geübte Musiker, genauer Strei- an dem zeitlebens neue Nervenzellen geboren werden. Die-
cher; als Vergleichsgruppe wurden Nichtmusiker rekrutiert. se Neurogenese ist möglicherweise auch der Grund dafür,
Ziel der Studie war es, Veränderungen der funktionellen Plas- dass der Anstieg der grauen Substanz in diesem Gebiet auch
tizität durch Erfahrung, hier Expertise als Musiker, neuronal noch drei Monate nach Beendigung des Lernens anhielt. Neu-
abzubilden. Die Befunde der somatosensorisch evozierten rogenese braucht einige Wochen und Monate um sich zu
Potentiale zeigten, dass die kortikale Repräsentation der Fin- entwickeln.
ger der linken Hand (greift bei Streichern die Saiten) bei Die Studie von Draganski et al. (2006) zeigt in faszinie-
den Musikern signifikant größer war als bei Nichtmusikern. render Weise, dass Wissenserwerb mit strukturellen Verän-
Demgegenüber fanden sich keine Unterschiede in der korti- derungen in der grauen Substanz verbunden sein kann.
kalen Repräsentation der Finger der rechten Hand zwischen Bewirkt denn auch die Unterweisung in schulrelevanten
den Gruppen. Die Finger der rechten Hand, die den Bogen Fertigkeiten, wie beispielsweise Unterricht im Lesen, struktu-
halten, führen bei Streichern ja auch keine unabhängigen Be- relle Veränderungen der Gehirnanatomie? Lassen sich damit
wegungen aus und somit sollte sich auch keine unterschiedli- vielleicht sogar Korrelate für den Erfolg von Unterrichtsmaß-
che Repräsentation zwischen Streichern und Nichtmusikern nahmen ableiten?
auf somatosensorischer Ebene ergeben. Interessanterweise Direkte Studien zum Erwerb der Lesefertigkeit liegen zur-
fiel der neuronale Umbau des somatosensorischen Kortex zeit noch nicht vor. Jedoch kann die Studie von Keller und Just
ausgeprägter aus, je früher die Musiker mit dem Training be- (2009) hier beeindruckende Einblicke liefern. In dieser MRT-
gonnen hatten. Studie erhielten 8- bis 10-jährige Kinder mit Leseschwierig-
keiten ein intensives Lesetraining von 100 Stunden über ein
halbes Jahr. Als Kontrollgruppen dienten Kinder gleichen
Alters mit gestörter sowie normaler Lesefähigkeit, die kein
5.8.2 Neurowissenschaftliche Befunde zum Lesetraining absolvierten. Auf Ebene des Gehirns betrachtet
Wissenserwerb hängt die intakte Lesefähigkeit nicht nur von der Aktivie-
rung relevanter kortikaler Regionen ab, die mit dem Lesen
Studien zu den neuronalen Grundlagen des Wissenserwerbs assoziiert sind, sondern auch mit der Konnektivität, also der
sind noch ziemlich selten. Draganski et al. (2006) unter- Verbindung dieser Regionen untereinander. Diese Verbin-
suchten Studierende der Medizin, die sich auf das Physikum dungen werden durch die weiße Substanz, der Myelinschicht
vorbereiteten. Das Physikum, eine Zwischenprüfung im Me- der Axone, befördert. Die Myelinisierung trägt dabei zu einer
dizinstudium am Ende des zweiten Studienjahres besteht effektiveren Konnektivität durch Erhöhung der elektrischen
aus mündlichen und schriftlichen Prüfungen in Biologie, Reizleitungsgeschwindigkeit zwischen Neuronen und somit
Chemie, Biochemie, Physik, Anatomie und Physiologie. Die auch zu einer effektiveren Kommunikation zwischen ent-
Aneignung einer solch gewaltigen Menge an neuen Infor- fernteren Regionen im kortikalen Netzwerk des Lesens bei.
mationen verlangt eine tägliche und intensive Beschäftigung Leseschwierigkeiten werden dabei auch mit einer geringeren
mit den Inhalten über einen Zeitraum von drei Monaten. Konnektivität in diesem Netzwerk in Verbindung gebracht
Damit stellen Studierende, die sich auf das Physikum vorbe- und konnten in der Studie von Keller und Just (2009) so
reiten, eine ideale Gruppe für die Untersuchung von mög- auch beobachtet werden. Als zentraler Befund dieser Studie
lichen lerninduzierten, strukturellen Plastizitätsveränderun- gilt, dass die Kinder mit Leseschwierigkeiten nach erfolgrei-
100 Kapitel 5  Gehirn und Lernen

chem Lesetraining eine erhöhte anatomische Konnektivität die Gefahr, dass reduktionistische Erklärungen für komplexe
im linken Frontallappen aufwiesen. Die Förderung der Lese- Sachverhalte glaubwürdiger werden und so zur Mythenbil-
fähigkeit scheint also die Myelinisierung in einer mit dieser dung beitragen (Rhodes, Rodriguez & Shah 2014). Ebenso
Funktion assoziierten Region gefördert zu haben. wird die Verbreitung von Neuromythen durch einen gan-
Abschließend sei noch eine Studie zur strukturellen Plas- zen Industriezweig unterstützt, der in den letzten Jahren
tizität im schulrelevanten Kontext erwähnt, die Bellander und viel Geld mit kommerziellen Programmen zur Verbesserung
Kollegen (2016) zum Lernen von Vokabeln durchgeführt ha- von Lern- und Gedächtnisleistungen verdient hat, die angeb-
ben. Dabei nahmen schwedischen Probanden an einem Ita- lich auf neurowissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen. Im
lienischkurs für Anfänger teil, der über einen Zeitraum von Schulsektor führt die unreflektierte Übernahme von angeb-
10 Wochen mit jeweils zweieinhalb Stunden absolviert wurde. lich neurowissenschaftlich begründeten Lehrmethoden zu
5 Einer Kontrollgruppe, die kein Sprachunterricht erhielt, wur- Fehlinvestitionen und damit zu suboptimalen Unterricht. In
den während dieser Zeit italienische Filme mit schwedischen den folgenden Abschnitten werden die im Bildungsbereich
Untertiteln präsentiert. Auch in dieser Studie zeigte sich für momentan hartnäckigsten Neuromythen vorgestellt und ent-
die trainierte Gruppe eine Zunahme in der grauen Substanz zaubert.
im Hippocampus, also in genau derjenigen Region, die mit
der Gedächtniskonsolidierung funktionell verbunden ist.
Zusammenfassend belegen die oben dargestellten Studi-
en, dass intensives Training sich auf funktioneller bzw. struk- 5.9.1 Der 10 %-Mythos!
tureller Ebene manifestieren kann. Veränderungen zeigen
sich insbesondere in jenen Gehirngebieten, die mit der trai- Einer der bekanntesten und hartnäckigsten Neuromythen be-
nierten Aufgabe assoziiert werden können. Die folgenden Ur- sagt, dass wir nur 10 % unseres Gehirnpotentials verwenden.
sachen werden für die gemessenen Veränderungen diskutiert Alltagstypische Erklärungen dazu lauten etwa: „Ist doch klar,
(Zatorre, Fields & Johansen-Berg 2012): Vergrößerungen der dass wir nicht unser gesamtes Gehirn verwenden, denn dann
Oberfläche der Neurone, Zunahme der Dendritisierung und könnten wir ja keine neuen Dinge lernen. Den Rest brauchen
Gliafortsätze, Synaptogenese, Bildung von Blutgefäßen in den wir als Reserve“. Gerne wird der 10 %-Mythos auch in Werbe-
benötigten Gehirngebieten, Veränderungen im Transmitter- kampagnen zu bestimmten Gehirn-Jogging-Produkten ver-
haushalt und Myelinisierung. wendet oder manche Meditationstechniken werben mit der
Neurowissenschaftliche Studien können einen wichtigen Nutzbarmachung der verbleibenden Hirnprozente zur Er-
Beitrag zum besseren Verständnis von Lernen und Plastizität weiterung des Bewusstseins.
liefern. Gleichzeitig bergen die unter kontrollierten Laborbe- Die wissenschaftliche Sicht auf den 10 %-Mythos ist je-
dingungen gewonnenen Daten aber auch Raum für Fehlin- doch weniger fantastisch. Es gibt absolut keine wissenschaft-
terpretationen, wie die im Folgenden dargestellten Neuromy- lichen Beweise, die diesen Mythos bestätigen, nicht einmal
then zeigen können. zu einem gewissen Grad. Im Gegenteil, alle vorhandenen Da-
ten zeigen, dass wir unser gesamtes Gehirn verwenden. Doch
woher dieser Mythos rührt und wie er sich so erfolgreich ver-
breiten konnte, ist heute schwer zu bestimmen.
5.9 Neuromythen
Eine Möglichkeit für den Ursprung dieses Mythos ist
das Verhältnis von Gliazellen zu Neuronen im Gehirn, wo-
Befunde der neurowissenschaftlichen Forschung können zu bei früher angenommen wurde, dass es 10 W 1 beträgt. Auch
einem besseren Verständnis von Lernprozessen führen und galt, dass ausschließlich Neurone die Basis für unser Denken,
so auch Lehrprozesse positiv beeinflussen. Sie bergen jedoch Handeln und Fühlen darstellen und die Gliazellen die Neu-
auch die Gefahr, sogenannte Neuromythen hervorzubringen. rone in ihrer Funktion „nur“ unterstützen. Heutzutage wird
Diese sind unrichtige Annahmen darüber, wie Gehirnfunk- jedoch von einem recht ausgeglichenen Verhältnis zwischen
tionen und Lernen zusammenhängen. Oft beruhen sie in Neuronen und Gliazellen ausgegangen (Azevedo et al. 2009).
ihrem Kern auf zumindest teilweise gültigen wissenschaft- Zudem hat die neuere Forschung auch gezeigt, dass Glia-
lichen Erkenntnissen. Es sind die inkorrekte Übertragung zellen sehr wohl an informationsverarbeitenden Prozessen
von zunächst noch gültigen neurowissenschaftlichen Befun- beteiligt sind (Travis 1994; Fields 2004). Möglicherweise kann
den, ihre Übergeneralisierung oder ihre selektive Auswahl der Erfolg dieses Mythos auch unserer Hoffnung zugeschrie-
und unreflektierte Anwendung auf Problemstellungen im Be- ben werden, menschliche Begrenzungen zu überwinden. Im
reich von Schule und Erziehung, die Neuromythen beför- Folgenden seien hier weitere Gegenargumente der Neurowis-
dern (Howard-Jones 2014; Varma, Im, Schmied, Michel & senschaften zum 10 %-Mythos angeführt.
Varma 2018). Zudem neigen populäre Medien dazu, neuro- Die Evolution erlaubt keine Verschwendung. Verschwen-
wissenschaftlich abgeleitete Empfehlungen für das Lernen, dung verursacht einen Ausschluss aus dem Gen-Pool. Wie
die mit bunten Bildern des Gehirns untermauert werden alle anderen Organe wurde auch unser Gehirn durch natür-
(Keehner, Mayberry & Fischer 2011), in stark vereinfachter liche Selektion geprägt. Während das Gehirn nur 2 % des
Weise zu verbreiten. Gerade diese beeindruckenden Bilder, gesamten Körpergewichts ausmacht, verwendet es 20 % der
die einen Einblick in das arbeitende Gehirn liefern, bergen gesamten Energie. So ist Hirngewebe metabolisch „teuer“
5.9  Neuromythen
101 5
zu betreiben. In Bezug auf diese hohen Kosten ist es un- die Idee, dass sich Lern- und Denkprozesse verbessern ließen,
wahrscheinlich, dass die Evolution die Verschwendung von würden nur beide Seiten des Gehirns ausgewogen angespro-
Ressourcen erlaubt hätte, um ein solch ineffizientes und nur chen. Infolgedessen wurden Lehrkonzepte entwickelt, um
teilweise benutztes Organ zu bauen. die weniger dominante Gehirnhälfte zu stärken und die bei-
Beispiele aus der klinischen Neurologie zeigen, dass schon den Hemisphären zu synchronisieren. Da davon ausgegangen
die Schädigung von geringen Anteilen des Hirngewebes wird, dass in Schulen häufig das sogenannte linkshemisphä-
schwerwiegende Folgen haben kann. Würden nur 10 % vom rische Denken wie Analyse und Logik bevorzugt wird, versu-
Gehirn benötigt, könnten uns nicht einmal größere Läsionen chen solche Unterrichtstechniken, mehr Aktivität im rechten
beeinträchtigen. Aber kein Schlaganfall oder anderes Trauma Gehirn zu erzeugen. Anstatt einen Text nur zu lesen, wer-
ist ohne Konsequenzen. Kein Hirnbereich kann beschädigt den auch Bilder und Grafiken angeboten, um auch die rechte
werden, ohne dass eine Person mentale oder körperliche De- Hemisphäre zu aktivieren. Andere Methoden beinhalten die
fizite davonträgt. Verwendung von Musik, Metaphern, Rollenspielen, Medi-
Brain-Scans mittels neurowissenschaftlicher Forschungs- tation, Zeichnung usw., um die Synchronisation der beiden
methoden haben gezeigt, dass egal was man tut, alle Ge- Hemisphären zu verbessern.
hirnbereiche immer aktiv sind. Zwar sind einige Bereiche zu Hier geht es nicht darum, diesen Lehrkonzepten ihre
manchen Zeitpunkten oder bei bestimmten Aufgaben stärker Nützlichkeit abzusprechen, denn die Implementierung sol-
aktiviert als andere, aber es gibt keine funktionslosen Berei- cher Techniken mag die Methodenvielfalt im Unterricht
che im Gehirn. Auch in Ruhe oder während des Schlafes ist durchaus vermehrt haben. Die Begründung dieser Konzepte
kein Gehirnbereich völlig inaktiv! Im Gegenteil, die kom- basiert jedoch auf einer Fehlinterpretation wissenschaftlicher
plette Inaktivität in einer bestimmten Gehirnregion wäre ein Befunde.
Hinweis auf eine schwerwiegende Gehirnläsion. Gibt es wirklich ein rechtshemisphärisches und ein links-
hemisphärisches Denken? Zunächst sei vorausgeschickt, dass
die beiden Hemisphären keine getrennten funktionellen und
anatomischen Einheiten darstellen. Mächtige Nervenfaser-
5.9.2 Zwei Gehirnhälften, zwei Arten zu bahnen (Corpus Callosum) verbinden die linke und rechte
denken? Gehirnhälfte miteinander und ermöglichen so einen Infor-
mationsaustausch zwischen beiden. Informationen, die in der
Sind Sie eine emotionale Person, sind Sie kreativ, vielleicht rechten Gehirnhälfte ankommen, werden auch an die lin-
sogar ein Musiker oder künstlerisch begabt? Dann dominiert ke Gehirnhälfte weitergeleitet und vice versa. Auch können
wahrscheinlich Ihre rechte Gehirnhälfte. Nein? Vielleicht höhere kognitive Funktionen nicht einfach einem eng um-
denken Sie ja eher rational und analytisch und sind mathema- schriebenen Gehirnareal zugeordnet werden, sondern sind
tisch oder naturwissenschaftlich interessiert? Dann scheint mit weiträumig verzweigten Netzwerken assoziiert, die sich
eher Ihre linke Gehirnhälfte die Führung beim Denken zu oft über beide Gehirnhemisphären ausbreiten. Dies gilt umso
übernehmen. Solche Annahmen über die Dominanz der Ge- mehr, je komplexer eine Funktion ist. Daraus lässt sich schon
hirnhemisphären basieren auf der Überzeugung, dass Krea- erkennen, dass ein Training einer einzelnen Gehirnhälfte im
tivität und Emotionen in der rechten Gehirnhälfte verankert Schulkontext unmöglich ist. Aber welche Unterschiede beste-
sind, während Rationalität und Logik eher der linken Hemi- hen zwischen den Gehirnhälften?
sphäre zugeordnet werden. Um es gleich vorwegzuschicken: Von außen betrachtet erscheinen die beiden Gehirnhälf-
Solche Annahmen sind, obwohl weithin akzeptiert, ledig- ten nahezu identisch. Nichtsdestotrotz stimmen sie anato-
lich Fehlvorstellungen, die auf missverstandenen Konzepten misch nicht vollständig überein. Auf funktioneller Ebene ist
zur Hemisphärendominanz oder -spezialisierung beruhen. das bekannteste Beispiel für Asymmetrie die Sprache. Neuro-
Diese Konzepte gehen davon aus, dass die beiden Hemisphä- logische Befunde, die auf Gehirnläsionen basieren (z. B. nach
ren Informationen in unterschiedlicher Weise verarbeiten. Schlaganfall oder Unfall), zeigen, dass sich Sprachproduktion
Demnach gilt das Denken, das durch die linke Gehirnhälf- und Sprachverständnis der linken Gehirnhälfte zuordnen las-
te vermittelt wird, als rational, analytisch, logisch, sequentiell sen. Die Befunde zu funktionellen Asymmetrien der rechten
und verbal. Im Gegensatz dazu gilt rechtshemisphärisches Hemisphäre sind insgesamt weniger eindeutig, wobei dieser
Denken als intuitiv, emotional, holistisch, kreativ, nonver- am ehesten die Verarbeitung von raumbezogenen Informa-
bal und visuell-räumlich. Auch wird angenommen, dass die tionen zugeordnet werden kann (Jäncke 2013).
Aktivität einer Gehirnhälfte dominant ausgeprägt ist und so Weitere Befunde zu funktionellen Asymmetrien stammen
die Denkweise und Persönlichkeit eines Menschen bestimmt. von Studien mit sogenannten Split-Brain-Patienten. Bei die-
Personen, die überwiegend die linke Gehirnhälfte verwen- sen Patienten wurde das Corpus callosum neurochirurgisch
den, sollen demnach gut in Mathematik, Naturwissenschaf- vollständig durchtrennt, um die Ausbreitung epileptischer
ten und Technik sein. Im Gegensatz dazu sollen Personen, Anfälle von der einen auf die andere Hemisphäre zu unter-
die überwiegend ihr rechtes Gehirn benutzen, künstlerisch, binden. So konnte die Schwere der Erkrankung erfolgreich
intuitiv, emotional, phantasievoll und visuell orientiert ver- vermindert werden. In ihrem Verhalten erschienen solche
anlagt sein und oft kreativen und künstlerischen Berufen Split-Brain-Patienten auch überraschend normal, ihre Per-
angehören. Auf der Grundlage dieser Vorstellungen wuchs sönlichkeit und ihr Intellekt waren kaum verändert. Die Tren-
102 Kapitel 5  Gehirn und Lernen

nung des Balkens ließ es nun zu, die Leistungen der beiden Asymmetrien bestehen. Das Gehirn ist ein hochgradig inte-
Gehirnhälften unabhängig voneinander zu untersuchen. Die griertes System, bei dem selten ein Teil isoliert arbeitet. In
ersten Studien an Split-Brain-Patienten wurden in den 1960er Anbetracht der vorliegenden Befunde ist die Ableitung von
und 1970er Jahren von Robert Sperry und seinem Team vom pädagogischen Konzepten aus den isolierten Leistungen der
California Institute of Technology unternommen, wofür er einzelnen Hemisphären ein unlauteres und unwissenschaftli-
später den Nobelpreis für Physiologie erhielt. Zusammenge- ches Unterfangen und dient lediglich der Mythenbildung.
fasst zeigen die Befunde der Split-Brain Forschung (Jäncke
2013), dass die selektive Stimulation der linken Hemisphä-
re, sei es visuell, akustisch oder taktil, dazu führt, dass die
5.9.3 Die ersten drei Jahre: angereicherte
so präsentierten Stimuli verbal benannt werden können. So-
fern allerdings die Stimuli selektiv der rechten Hemisphäre Umwelten, Synaptogenese und sensible
5 Phasen
zugeführt werden, ist die verbale Verarbeitung defizitär oder
nicht mehr möglich. Für die rechte Hemisphäre zeigt sich
vielmehr eine selektive Bevorzugung für die Verarbeitung Der Mythos der ersten drei Jahre bedient eigentlich drei
räumlicher und emotionaler Prozesse. Die Befunde der Läsi- Mythen, die oft auch unabhängig voneinander ihr Unwesen
onsstudien und der Split-Brain-Forschung basieren auf dem treiben (Organisation for Economic Co-operation and Devel-
„nicht-intakten“ Gehirn, wobei die Generalisierung dieser opment 2002). Gibt man Begriffe wie „die ersten drei Jahre
Befunde auf das normale Erleben und Verhalten nicht unkri- im Leben“ in eine Internet-Suchmaschine ein, so bekommt
tisch ist. man eine beeindruckende Vielzahl von Websites und Litera-
Aber wie sehen Asymmetrien im intakten Gehirn aus? turempfehlungen, die erklären, dass die ersten drei Jahre im
Ist die linke Hemisphäre wirklich spezifisch für Sprache und Leben eines Kindes entscheidend für seine ganze zukünfti-
auch für die analytisch-mathematische Verarbeitung? Expe- ge Entwicklung sind. Auch wird auf zahlreiche kommerzielle
rimentelle Studien mittels neurowissenschaftlicher Metho- Produkte verwiesen, um damit die kindliche Umwelt anzurei-
den zeichnen hier ein etwas differenzierteres Bild. Einerseits chern und so die Intelligenz zu fördern, bevor ein wichtiges
ist Sprache eng mit der linken Hemisphäre verknüpft, je- Schwellenalter überschritten sei. Dieser Mythos bedient die
doch nicht ausschließlich. Die Verarbeitung der Prosodie Vorstellung, dass Kinder in ihrer frühen Entwicklung in einer
und Sprachmelodie beispielsweise ist eine Funktion der rech- besonders intensiv angereicherten Umwelt aufwachsen müs-
ten Hemisphäre. Befunde der Arbeitsgruppe um Stanislas sen. Dadurch sollen dann bestimmte Entwicklungsprozesse
Dehaene zu den neurokognitiven Grundlagen von Zahlen- im Gehirn angeregt werden, wie z. B. die Synaptogenese, also
verständnis und Rechnen zeigen zwar, dass die linke Hemi- die Neubildung von Synapsen, was sich positiv auf die spätere
sphäre für die Verarbeitung von geschriebenen und gespro- Lernfähigkeit der Kinder auswirken soll. Zwischen der Ge-
chenen Zahlwörtern (eins, zwei usw.) verantwortlich ist; aber burt und dem dritten Lebensjahr wird eine kritische Periode
die Befunde zeigen auch, dass beide Gehirnhälften aktiv sind, verortet, in welcher der größte Teil der Gehirnentwicklung
wenn es um die Verarbeitung von arabischen Ziffern (1, 2 verlaufen soll. Nach dieser Zeit sei der weitere Kurs der Ent-
usw.) geht und ebenso wenn es um die Menge einer Zahl wicklung dann überwiegend festgelegt. Lernerfahrungen, die
bzw. ihre Größenrepräsentation geht (Dehaene 2011; Dehae- bis hierhin nicht gemacht worden seien, könnten später nicht
ne, Spelke, Pinel, Stanescu & Tsivkin 1999). oder nur unter großer Mühe nachgeholt werden.
Wie sieht es nun mit der rechten Hemisphäre aus? Ist diese Befeuert wurde dieser Mythos aus Studien zu den Auswir-
tatsächlich auf die räumliche Verarbeitung, kreative Problem- kungen von angereicherten Umwelten auf die Entwicklung
lösungen und Emotionen fokussiert? Auch für die Annah- von Synapsen bei Nagetieren (Diamond et al. 1987; Gree-
me eines rechts-hemisphärischen kreativen und emotionalen nough, Black & Wallace 1987). Dabei wurden Ratten, die
Denkstils, gibt es keine stützenden Befunde. Eine Metaana- in Laborkäfigen aufwuchsen, mit solchen in angereicherten
lyse von 45 fMRT-Studien zur Kreativität zeigt, dass visuell- Umwelten verglichen. Angereichert bedeutet dabei, dass die
räumliche, verbale und musikalische Kreativität auf neurona- ansonsten recht tristen Laborkäfige durch zahlreiche Gegen-
len Netzwerken mit unterschiedlichen Komponenten beruht stände „möbliert“ wurden, um den Ratten vielfältige Gele-
und Aktivierungen in beiden Gehirnhälften umfasst (Boccia, genheiten zur Exploration zu bieten. Die Ergebnisse dieser
Piccardi, Palermo, Nori & Palmiero 2015). Zu ähnlichen Be- Studien zeigten, dass Versuchstiere, die in einer anregenden
funden gelangen Wagner, Phan, Liberzon und Taylor (2003) Umwelt aufgezogen wurden, besser komplexe Labyrinthpro-
mittels einer Metaanalyse von 65 Neuroimaging-Studien hin- bleme lösen konnten und in ihrem Kortex mehr Neurone und
sichtlich der Lateralisierung emotionaler Funktionen. Ent- synaptische Verbindungen besaßen als solche aus tristen La-
gegen der allgemeinen Annahme finden die Autoren keine borkäfigen.
Unterstützung für die Annahme einer ausschließlich rechts- Folgende Argumente können zur Entzauberung des My-
hemisphärischen Lateralisierung emotionaler Funktionen. thos angeführt werden (s. a. Bruer 1999). Zunächst sollte
Basierend auf diesen und weiteren wissenschaftlichen Er- erwähnt werden, dass die in den Studien realisierten „ange-
kenntnissen denken Wissenschaftler heute, dass die Hemi- reicherten“ Umwelten nicht mehr Stimulation boten, als der
sphären des Gehirns nicht getrennt, sondern für jede kog- natürliche Lebensraum von freilebenden Nagern in der Wild-
nitive Aufgabe zusammenarbeiten, auch wenn funktionale nis. Nur im Vergleich zu den eintönigen Lebensbedingungen
5.9  Neuromythen
103 5
der typischen Labortiere bot sich hier ein Vorteil (Greenough satz zur erfahrungserwartenden Plastizität ein lebenslanger
et al. 1987). Dieses Ergebnis ist demnach eher geeignet, die offener Prozess und eine wesentliche Grundlage für Lernen.
Auswirkungen von Deprivation aufzuzeigen als den Einfluss Es besteht kein Zweifel, Lernen beeinflusst das Gehirn, aber
angereicherter Umwelten. Zudem handelt es sich um tierex- diese Beziehung bietet bislang noch keine Anleitung, wie An-
perimentelle Studien. Die Übertragbarkeit auf den Menschen sätze zur pädagogischen Unterweisung auszusehen haben,
ist daher fraglich. die aus neurowissenschaftlichen Befunden abgeleitet wer-
Die Idee, dass es kritische Zeitfenster für das Erlernen be- den.
stimmter Fähigkeiten gebe, wurde aus Studien zum visuellen
System abgeleitet (Wiesel & Hubel 1965). Diese zeigen, dass in
Zeiten der Synaptogenese bestimmte Gehirnareale besonders
5.9.4 Lerntypen – eine visuelle, auditive und
sensitiv auf die An- oder Abwesenheit spezifischer visueller
Reize reagieren. Die einfache Übertragung von Befunden der eine haptische Art des Lernens?
Wahrnehmungsentwicklung auf komplexe kognitive Leistun-
gen, wie beispielsweise dem Erlernen einer Sprache, wird Der Begriff Lerntypen, gelegentlich auch als Lernstile be-
jedoch der menschlichen Fähigkeit zum Lernen sowie der zeichnet, bezieht sich auf ein Konzept, das annimmt, dass Per-
Entwicklung höherer kognitiver Funktionen nicht gerecht. sonen sich hinsichtlich ihres bevorzugten Sinneskanals, mit
Auch sollte nicht vergessen werden, dass das menschliche Ge- dem sie am wirksamsten lernen, unterscheiden. Die Theorie
hirn während des ganzen Lebens Plastizität zeigt, und sich geht im Wesentlichen auf Frederic Vester zurück und wurde
diese nicht auf die ersten drei Lebensjahre beschränkt. Wie 1975 erstmals in seinem Buch „Denken, Lernen, Verges-
schon in vorangegangen Abschnitten in diesem Kapitel ge- sen“ veröffentlicht (vgl. Looß 2001). Mittlerweile existieren
zeigt, können auch strukturelle Veränderungen des Gehirns, zahlreiche Neuauflagen und etwa 70 Varianten des ursprüng-
wozu die Synaptogenese ja gehört, durch Erfahrungen und lichen Modells (Coffield, Moseley, Hall & Ecclestone 2004).
Lernen angeregt werden. An dieser Stelle seien dazu noch- Auch in der 25. Auflage des Buchs von Vester werden vier
mals Studien zur Gehirnplastizität bei Erwachsenen erwähnt, Lerntypen unterschieden. Davon werden drei Lerntypen über
die zeigen konnten, dass das Erlernen eines Instruments oder Wahrnehmungskanäle charakterisiert: der auditive, der vi-
die Aneignung komplexer Wissensinhalte zu funktionalen suelle und der haptische Lerntyp (Vester 1998). Dabei soll
und strukturellen Veränderungen im Gehirn führt (Dragan- der auditive Typ am besten lernen, wenn er akustische In-
ski et al. 2006; Elbert, Pantev, Wienbruch, Rockstroh & Taub formationen dargeboten bekommt, der visuelle Typ profitiert
1995), die nicht an bestimmte kritische Zeitfenster gebunden vom Gesehenen und der haptische Typ von Informationen,
sind. die er über die Hautsinne aufnimmt. Der vierte Typ, der
Das Misskonzept hinsichtlich der Zeitfenster, was diesem keinen Wahrnehmungskanal nutzt, sondern auf abstrakte
Mythos innewohnt, mag folgendermaßen begründet sein. Weise durch das Verstehen selbst lernt, wird als intellektuel-
Was die kritischen Zeitfenster betrifft, müssen zwei Formen ler Lerntyp bezeichnet. Das Lerntypenkonzept wurde durch
der Plastizität unterschieden werden: zum einen die erfah- zahlreiche Publikationen und Veranstaltungen verschiedens-
rungserwartende Plastizität und zum anderen die erwar- ter Art sehr weit verbreitet und genießt schon seit vielen
tungsabhängige Plastizität. Zur erfahrungserwartenden Plas- Jahren eine beachtliche Popularität, auch unter ausgebildeten
tizität zählen Erfahrungen, die jeder Mensch macht, wenn Pädagogen und im Bildungsbereich. So zeigen Befragungen
er sich in einer halbwegs normalen Umwelt befindet, bei- in Großbritannien, den Niederlanden und in Griechenland,
spielsweise visuelle Stimulation, Geräusche, Stimmen und dass über 80 % der Lehrerkräfte dieses Konzept für gültig
Bewegung. Das sich entwickelnde Gehirn „erwartet“ diese halten (Dekker, Lee, Howard-Jones & Jolles 2012; Papadatou-
Erfahrungen für das Feintuning seiner Verschaltungen im Pastou, Haliou & Vlachos 2017). Im Folgenden seien einige
Wahrnehmungssystem. Bleiben diese Erfahrungen in um- Argumente angeführt, die das Lerntypenkonzept als Mythos
schriebenen Zeitfenstern aus, sei es durch Reizarmut oder entlarven (7 Kap. 4).
durch Funktionsstörungen der Sinnesrezeptoren, kann die Wie so oft bei der Bildung von Mythen über Lernen und
Gehirnentwicklung massiv beeinträchtigt werden. Die er- Gehirn basieren die Ursprünge dieser falschen Behauptungen
fahrungserwartende Plastizität ist demnach an festgelegte auch bei den Lerntypen auf wissenschaftlichen Erkenntnis-
Zeitfenster gebunden, in denen die erwartete Stimulation sen. Dabei beruht das Lerntypenkonzept auf der Tatsache,
stattfinden muss. Unter der erfahrungsabhängigen Plastizität dass visuelle, auditive und haptische Informationen in ver-
werden funktionelle und strukturelle Veränderungen des Ge- schiedenen Teilen des Gehirns verarbeitet werden. So werden
hirns verstanden, die durch individuelle Erfahrungen hervor- visuelle Informationen in der Sehrinde im Okzipitallappen
gerufen werden. Solche Erfahrungen sind nicht an bestimmte verarbeitet. Für auditive Informationen ist die Hörrinde im
Zeitfenster gebunden. Es sind solche Erfahrungen, die in den Temporallappen zuständig und die Verarbeitung von hapti-
oben erwähnten Studien zur angereicherten Umwelt zu tra- schen Informationen erfolgt im somatosensorischen Kortex,
gen kommen und die Gehirnentwicklung der Versuchstiere der im vorderen Teil des Parietallappens liegt.
befördert haben. Dabei beschränkt sich die Synaptogenese als Der Lerntypenmythos beginnt nun genau hier. Im Lern-
Reaktion auf eine anregende Umwelt nicht auf die frühe Ent- typenkonzept wird Wahrnehmung mit dem Lernen von Wis-
wicklung. Die erfahrungsabhängige Plastizität ist im Gegen- sensinhalten gleichgesetzt. Eine Information von den Sin-
104 Kapitel 5  Gehirn und Lernen

nesorganen soll demnach direkt in das Langzeitgedächtnis


überführt werden. Im Lichte experimentalpsychologischer Zusammenfassung
und neurowissenschaftlicher Evidenz ist dieser Zusammen- Wie unsere Reise durch das Gehirn gezeigt hat, kommt
hang für den Erwerb deklarativen Wissens jedoch unhaltbar. insbesondere dem zerebralen Kortex für Lernen und Wis-
Bevor höhere Denk- und Lernprozesse überhaupt stattfin- senserwerb eine besondere Bedeutung zu. Hier werden
den können, müssen die Wahrnehmungsinhalte analysiert die höheren kognitiven Funktionen repräsentiert. Aber
werden und eine Bedeutung erhalten. Erst dann kann eine auch subkortikale Strukturen erfüllen wichtige Funktio-
Verknüpfung mit anderen Gedächtnisinhalten oder Vorwis- nen. Der Hippocampus ist beispielsweise für die Gedächt-
sen stattfinden. Schritte, die eine wesentliche Voraussetzung nisbildung des deklarativen Wissens notwendig. Demge-
für Lernen und damit für den Erwerb von Wissen sind. Die- genüber spielt das Kleinhirn bei klassischer Konditionie-
5 se höheren kognitiven Leistungen jenseits der Wahrnehmung rung und implizitem Gedächtnis eine wesentliche Rolle.
sind mit den Assoziationsarealen des Gehirns verbunden. Um Daten über das Gehirn zu gewinnen, stehen un-
Hier werden Informationen aus den verschiedenen sensori- terschiedliche Methoden zur Verfügung, die sich hinsicht-
schen Kortizes zusammengeführt, interpretiert und mit vor- lich ihrer zeitlichen Auflösung und Fähigkeit zur räumli-
handenen Erinnerungen verknüpft. Der Erwerb deklarativen chen Lokalisation unterscheiden. Beispielsweise können
Wissens kann demnach nicht als rein sensorische Funktion mittels EEG und MEG Gedankenblitze im Millisekunden-
aufgefasst werden, wie Lerntypenkonzepte behaupten. Unab- Bereich verfolgt werden, wohingegen die Stärke des fMRT
hängig davon, ob jemand eine Information liest oder hört, in der räumlichen Lokalisation kognitiver Prozesse liegt.
laufen bei der Gedächtnisbildung immer die gleichen Prozes- Auch können mittels MRT Gehirnstrukturen sichtbar ge-
se ab. macht werden.
Ein weiterer Einwand gegen das Lerntypenkonzept ist Wichtige Erkenntnisse im Bereich der Gehirnentwick-
wissenschaftstheoretischer Natur (Looß 2001). Das Konzept lung zeigen, dass diese weit über die Kindheit hinausgeht
charakterisiert drei Arten von Lernenden durch Wahrneh- und in verschiedenen Regionen unterschiedlich verläuft.
mungskanäle (auditiv, visuell, haptisch), während der vierte Sensorische und motorische Funktionen reifen vor hö-
Lerntyp keinen Wahrnehmungskanal nutzt, sondern durch heren kognitiven Funktionen. Das hat insbesondere mit
das Verstehen selbst lernt. Logisch passt dieser vierte Lerntyp der späten Reifung des präfrontalen Kortex zu tun, der
nicht in diese Kategorisierung. Woher nimmt der intellektu- mit exekutiven Funktionen, wie Arbeitsgedächtnis,inhibi-
elle Lerntyp seine Informationen, wenn er nicht seine Sinne torischer Kontrolle und Handlungsplanung assoziiert ist.
gebraucht? Auch helfen die Befunde zum Präfrontalkortex adoles-
Unabhängig von Schwächen im Bereich der neurowissen- zenztypische Verhaltensweisen besser einzuordnen.
schaftlichen Begründung und entgegen seiner theoretischen Dass Lernen im Gehirn Spuren hinterlässt, haben neu-
Stringenz wurde das Lerntypenkonzept auch empirisch ge- rowissenschaftliche Studien in faszinierender Weise zei-
testet (Pashler, McDaniel, Rohrer & Bjork 2008). Ein valider gen können. In Folge der Ausbildung von Expertise und
Test des Lerntypenkonzepts setzt unter anderem voraus, dass Wissenserwerb kommt es in den für die Aufgaben be-
Schülerinnen und Schüler auf der Grundlage ihrer Lernstile sonders relevanten Gehirnaralen zu funktionellen und
in Gruppen eingeteilt werden. Dann müssen die Schülerin- strukturellen Veränderungen. Besonders beeindruckend
nen und Schüler aus jeder Gruppe nach dem Zufallsprinzip sind die Befunde zu strukturellen Änderungen im Hippo-
verschiedenen Unterrichtsmethoden zugewiesen werden und campus als Tor zum deklarativen Gedächtnis. Befunde an
am Ende muss für alle Schülerinnen und Schüler ein gleicher Kindern mit Leseschwierigkeiten zeigen zudem, dass ein
Wissenstest erfolgen. Untersucht wird dann die Interaktion erfolgreiches Lesetraining auch zu strukturellen Verände-
zwischen Lerntyp und Unterrichtsmethode: Die Lehrmetho- rungen in relevanten Gehirnregionen führt.
de (z. B. visuelle Lehrmethode), die für Schülerinnen und Neurowissenschaftliche Forschung kann helfen unser
Schüler mit einem bestimmten Lerntyp optimal ist (z. B. vi- Verständnis für Lernprozesse und den zugrundeliegen-
sueller Lerntyp), ist für Schülerinnen und Schüler mit einem den kognitiven Funktionen besser zu verstehen. Sie kann
unterschiedlichen Lerntyp (z. B. auditiver Lerntyp) nicht op- dazu beitragen, die vorhandenen kognitiven Theorien
timal. Werden Studien herangezogen, welche diese Kriteri- und Modelle zu verbessern, indem die neuronale Ebene
en berücksichtigen, findet sich keine Unterstützung für das einbezogen wird. Leider verleitet die Bildhaftigkeit neuro-
Lerntypenkonzept (Rohrer & Pashler 2012). Es hat keinen wissenschaftlicher Befunde – insbesondere in populären
Vorteil für den Lernerfolg, wenn Material über den bevorzug- Medien – gelegentlich zu einer stark vereinfachten Dar-
ten Wahrnehmungskanal vermittelt wird. stellung und fördert so die Herausbildung von Neuromy-
then. Die Herausforderung für die Zukunft neurowissen-
schaftlich orientierter Forschung im Bereich Lehren und
Lernen besteht im Transfer vom Labor- in den Schulkon-
text.
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105 5
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10. Was besagt die Hebb’sche Lernregel? Giedd, J. N., Blumenthal, J., Jeffries, N. O., Castellanos, F. X., Liu, H., Zijden-
11. Unterscheiden Sie die funktionelle Gehirnplastizität bos, A., Paus, T., Evans, A. C., & Rapoport, J. L. (1999). Brain develop-
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12. Was bewirken Neuromythen? Nature Neuroscience, 2, 861–863.
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107 6

Interkulturelles Lernen
Carlos Kölbl, Andrea Kreuzer und Astrid Utler

6.1 Einleitung – 108

6.2 Begriffsbestimmungen: Kultur, interkulturelle Kompetenz und


interkulturelles Lernen – 108

6.3 Interkulturelle Psychologie im Wechselspiel mit anderen


(psychologischen) Disziplinen – 109
6.3.1 Interkulturelles Lernen und psychologische Lern-/Lehr- und
Entwicklungstheorien – 109
6.3.2 Interkulturelle Kompetenz und Fragen zur Diagnostik – 111
6.3.3 Interkulturelle Psychologie und Sozialpsychologie – 112
6.3.4 Interkulturelle Psychologie und Erziehungswissenschaft – 113

6.4 Interkulturelles Lernen und interkulturelle Öffnung in der Schule:


Herausforderungen und Perspektiven – 114
6.4.1 Lernziele, Lerninhalte und didaktische Methoden – 114
6.4.2 Lernkontexte und Lernformate – 118
6.4.3 Interkulturelle Öffnung – 121

Verständnisfragen – 121

Literatur – 122

Dr. Wolfgang Schoppek möchten wir herzlich für seine wertvollen Kommentare im Hinblick auf die Ausführungen zur
Diagnostik interkultureller Kompetenz danken.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019


D. Urhahne, M. Dresel, F. Fischer (Hrsg.), Psychologie für den Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55754-9_6
108 Kapitel 6  Interkulturelles Lernen

6.1 Einleitung mit den Begriffen der Kultur und der interkulturellen Kom-
petenz auf sich hat.
Der Begriff der Kultur ist keiner, der Menschen erst in
Warum ist interkulturelles Lernen ein wichtiges Thema für einer Universität begegnet. Vielmehr ist der Begriff auch im
Lehrkräfte? Die Kurzform einer Antwort auf diese Frage lau- Alltag üblich. Allerdings unterscheidet sich die wissenschaft-
tet: Interkulturelles Lernen ist deshalb ein wichtiges Thema liche Umgangsweise mit dem Begriff in markanter Weise von
für Lehrkräfte, weil wir in einer globalisierten Welt leben alltagsweltlichen Verwendungsweisen, wie die folgende Defi-
und diese globalisierte Welt auch vor dem Klassenzimmer nition zeigt:
nicht Halt macht. Die etwas längere Form macht üblicher-
weise darauf aufmerksam, dass Erfahrungen echter oder ver-
meintlicher kultureller Differenz gängig geworden sind. Da- Als Kultur wird eine historisch gewordene Ganzheit
bei handelt es sich um Erfahrungen, die durch vielfältige aus aufeinander verweisenden, kollektiv bedeutsamen
Migrations- und Fluchtbewegungen, durch Tourismus, durch Regeln, Normen, Werten, Zielen und Deutungsmustern,
6 inter-, trans- und supranationale wirtschaftliche und politi- Symbolen und Geschichten bezeichnet. Dabei richtet
sche Zusammenschlüsse sowie durch neue Telekommunika- Kultur explizit und implizit das Handeln, Wollen, Fühlen
tionstechnologien verstärkt worden sind. All diese Phänome- und Denken derjenigen Menschen aus, die dieser Kultur
ne haben dazu beigetragen, die pädagogische Vorstellung von angehören. Kultur stellt somit einen Rahmen oder ein
Homogenität als schulischem Normalfall endgültig zu Fall zu Orientierungssystem für das Handeln und Erleben von
bringen. Vor diesem Hintergrund werden seit einigen Jahren Menschen dar, zugleich wird Kultur durch das Handeln
pädagogische und bildungspolitische Forderungen erhoben, und Erleben von Menschen verändert, ist also nicht allein
die darauf dringen, dass interkulturelles Lernen eine wich- Struktur, sondern ebenso Prozess (nach Boesch 1991;
tige schulische Querschnittsaufgabe sein sollte (KMK 2013) Straub 2007; Thomas 2003a; s. a. Georg, Kölbl & Thomas
und zwar im Sinne einer interkulturellen Bildung für alle und 2015, S. 13f.).
nicht als eine quasi sonderpädagogische Veranstaltung al-
lein für Kinder und Jugendliche mit „Migrationshintergrund“
(Billmann-Mahecha & Tiedemann 2018) oder für Schülerin- Im Alltag wird zumeist in einem deutlich eingeschränk-
nen und Schüler an internationalen oder bilingualen Schulen teren Sinne von Kultur gesprochen, etwa wenn es um „Hoch-
(Möller & Zaunbauer 2008). Dabei ist etwa an Phänomene ge- kulturelles“ wie Theater, Musik oder Literatur geht oder wenn
dacht wie eine interkulturelle Öffnung von Schulfächern oder die nationale oder religiöse Zugehörigkeit einer Person ver-
eine interkulturell sensible bzw. kompetente Gesprächsfüh- einfachend als ihre „Kultur“ betrachtet wird.
rung von Lehrkräften. Die interkulturelle Öffnung der Schule Insbesondere ein dezidiert moderner Kulturbegriff unter-
ist nicht nur auf Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler streicht auch noch die folgenden Aspekte (Straub 2007):
beschränkt, sondern betrifft auch die Elternebene, insofern 4 Kulturen sind keine homogenen, sondern in sich differen-
beim interkulturellen Lernen als schulischer Querschnitts- zierte Gebilde. Redeweisen wie die von einer „türkischen“
aufgabe auch an ein wertschätzendes soziales Miteinander oder „deutschen Kultur“ sind daher drastische und häufig
aller am schulischen Geschehen beteiligten Akteure gedacht irreführende Vereinfachungen.
ist. 4 Der Begriff der Kultur verweist auf Kollektive einer va-
Im Folgenden werden Theorien, Konzepte und Befunde riablen Größe und variablen Dauer, weshalb beispielswei-
zum interkulturellen Lernen vorgestellt. Zu ihnen zählen un- se Schulkulturen ebenso als Kulturen bezeichnet werden
terschiedliche Bezugnahmen auf psychologische Lern-/Lehr- können wie die Punkszene im Westberlin der 1980er Jah-
und Entwicklungstheorien sowie Fragen der Diagnostik in- re.
terkultureller Kompetenz. Diese Bezugnahmen und Fragen 4 Kulturen oder kulturelle Elemente müssen nicht territori-
werden ebenso erläutert wie Aspekte des interkulturellen Ler- al verankert sein. Neben National- oder Regionalkulturen
nens speziell in der Schule. Darunter fallen etwa Ausführun- gibt es zahlreiche andere Kulturen wie etwa Geschlechter-
gen dazu, welche Ziele interkulturelles Lernen in der Schule kulturen, Jugendkulturen oder milieubezogene Kulturen.
verfolgt und wo und wie im schulischen Kontext interkultu- 4 Der Begriff der Kultur bezieht sich auf „hochkulturelle“
rell gelernt werden kann. genauso wie auf Phänomene der Alltagskultur.
4 Es gibt multiple kulturelle Zugehörigkeiten, d. h. Personen
gehören mehreren Kulturen an bzw. können sich mehre-
ren Kulturen zugehörig fühlen.
6.2 Begriffsbestimmungen: Kultur,
interkulturelle Kompetenz und
Nach dieser ersten begrifflichen Klärung können wir nun
interkulturelles Lernen auch etwas besser darlegen, was es mit dem Konstrukt der
interkulturellen Kompetenz auf sich hat (für Näheres hier-
Was aber heißt eigentlich interkulturelles Lernen aus psycho- zu s. Kölbl & Kreuzer 2014). Auf diese Kompetenz sollen
logischer Perspektive? Bevor wir hierauf eingehen können, die Bemühungen interkulturellen Lernens hinauslaufen, sie
müssen wir zunächst zumindest ansatzweise klären, was es ist deren angestrebtes Resultat. Insofern stellen interkulturelle
6.3  Interkulturelle Psychologie im Wechselspiel mit anderen (psychologischen) Disziplinen
109 6
Lernprozesse die Voraussetzung für die Erreichung interkul- 2. Interkulturelles Lernen bezeichnet psychische
tureller Kompetenz bzw. bestimmter Aspekte dieser Kompe- Veränderungen, die sich auf eine veränderte Wahrneh-
tenz dar. mung von und einen veränderten Umgang mit kultureller
Auch wenn es bislang keine allgemein anerkannte Defini- Differenz beziehen“ (Weidemann 2007, S. 495).
tion von interkultureller Kompetenz gibt, dürfte die Begriffs-
bestimmung von Alexander Thomas doch vergleichsweise
breite Anerkennung erfahren haben:
6.3 Interkulturelle Psychologie im
„Interkulturelle Kompetenz zeigt sich in der Fähigkeit,
Wechselspiel mit anderen
kulturelle Bedingungen und Einflussfaktoren im Wahr- (psychologischen) Disziplinen
nehmen, Urteilen, Empfinden und Handeln bei sich
selbst und bei anderen Personen zu erfassen, zu re- Die Interkulturelle Psychologie ist das für das interkultu-
spektieren, zu würdigen und produktiv zu nutzen im relle Lernen zuständige psychologische Fachgebiet. Dabei
Sinne einer wechselseitigen Anpassung, von Toleranz greift sie auf Theorien, Konzepte und Befunde aus unter-
gegenüber Inkompatibilitäten und einer Entwicklung schiedlichen Teildisziplinen der Psychologie zurück und steht
hin zu synergieträchtigen Formen der Zusammenarbeit, auch mit einschlägigen erziehungswissenschaftlichen Dis-
des Zusammenlebens und handlungswirksamer Ori- kursen im Austausch. Als Spezifikum kommt hinzu, dass
entierungsmuster in Bezug auf Weltinterpretation und die Interkulturelle Psychologie besonders enge Beziehungen
Weltgestaltung“ (Thomas 2003a, S. 143). zu unterschiedlichen Spielarten einer Kultur inkludierenden
Psychologie (Straub & Layes 2002) unterhält, also zu allen
(durchaus heterogenen) Bemühungen innerhalb der Psycho-
Das fragliche Konstrukt wird oft in Form von Auflistun-
logie, das Verhältnis zwischen Kultur und Psyche zu erhellen.
gen gewünschter Teilkompetenzen weiter ausdifferenziert.
Anhand ausgewählter Bereiche soll gezeigt werden, wie
In solchen Modellen werden Merkmale oder Dimensionen
sich das Wechselspiel der Interkulturellen Psychologie mit
aufgeführt, die näher charakterisieren sollen, was interkul-
unterschiedlichen psychologischen Disziplinen, aber auch
turelle Kompetenz sein soll. Bolten (2006) etwa unterschei-
mit der Erziehungswissenschaft gestaltet.
det zwischen einer affektiven, einer kognitiven und einer
verhaltensbezogenen Dimension. Zur affektiven Dimension
gehören beispielsweise Ambiguitäts- und Frustrationstole-
ranz, Selbstvertrauen, Flexibilität, Empathie oder Offenheit 6.3.1 Interkulturelles Lernen und
und Toleranz, zur kognitiven Dimension etwa das Verständ- psychologische Lern-/Lehr- und
nis der Kulturunterschiede der Interaktionspartner und das Entwicklungstheorien
Verständnis interkultureller Handlungszusammenhänge, zur
verhaltensbezogenen Dimension unter anderem Kommuni-
kationsbereitschaft und -fähigkeit sowie soziale Kompetenz. Im Prinzip vermag jede psychologische Theorie des Lernens
Es liegt auf der Hand, dass interkulturelles Lernen kaum zu einem besseren Verständnis auch interkultureller Lernpro-
alle möglichen Aspekte interkultureller Kompetenz mehr zesse beizutragen. Analoges gilt für pädagogisch-psychologi-
oder weniger zeitgleich anvisieren kann, sondern stets nur sche Lehrtheorien (Kammhuber 2000). Eine umfassendere,
bestimmte Ausschnitte davon (Straub 2010). Interkulturelles nicht-eklektizistische, also kohärente und nicht aus unter-
Lernen kann Aspekte beinhalten, die unter anderem in dem schiedlichen Versatzteilen „zusammengestückelte“ Theorie
oben angedeuteten Modell von Bolten zur Sprache kommen, interkulturellen Lernens steht allerdings nach wie vor aus
kann sich aber auch noch auf weitere Bereiche erstrecken. Ge- (Straub 2010).
nannt werden etwa der Erwerb konzeptuellen Wissens über Im Folgenden sollen zwei Ansätze vorgestellt werden, die
interkulturelle Inhalte, das Erlernen einer Fremdsprache, der in der Interkulturellen Psychologie eine besondere Promi-
Erwerb bestimmter social skills, die Reduzierung von Angst nenz erlangt haben. Es handelt sich dabei um das Lernen an
sowie das Entwickeln von Bewusstheit für die kulturelle Di- Kritischen Interaktionen und um Milton Bennetts Stufenmo-
mension sozialer Interaktionen (Weidemann 2007). Da sol- dell interkulturellen Lernens.
che Auflistungen in der Gefahr stehen, beliebig zu werden, ist
eine verdichtete allgemeinere begriffliche Bestimmung des-1 Interkulturelles Lernen an Kritischen Interaktionen
sen hilfreich, was interkulturelles Lernen sein soll. Eine solche Das Konzept der Kritischen Interaktionen (Criticial Incident
Begriffsbestimmung schlägt Weidemann unter Rückgriff auf Technique) wurde ursprünglich in der Arbeits- und Organisa-
einen allgemeinen psychologischen Lernbegriff vor und hält tionspsychologie von Flanagan (1954) entwickelt. Im Kontext
dabei zweierlei fest: interkulturellen Lernens wird dieses Verfahren so eingesetzt,
dass den Lernenden eine kritische Interaktion vorgelegt wird,
über die sie reflektieren sollen. Diese kritische Interaktion
„1. Interkulturelles Lernen bezeichnet psychische Verän- sieht so aus, dass es zu Irritationen bei den an der Situation
derung aufgrund von Erfahrungen kultureller Differenz. beteiligten Akteuren kommt, die kulturell bedingt sind.
110 Kapitel 6  Interkulturelles Lernen

Im Fokus: Eine exemplarische kritische Interaktionssituation


Die Interviews werden verschriftet und qualitativen
Marika, eine georgische Schülerin aus Tiflis, nimmt an einem Inhaltsanalysen unterzogen, wobei die Befragung von ca. 30
Schüleraustausch mit Weiden teil. In Weiden angekommen, Interviewpartnern erfahrungsgemäß zu einer Schilderung
fühlt sie sich sehr herzlich von ihrer deutschen Austausch- von 150 bis 200 kritischer Interaktionssituationen führt, die
partnerin (Sabine) und deren Eltern empfangen. Sabines – wegen wiederholter Schilderungen gleicher kritischer
Mutter zeigt Marika ihr Zimmer, das Bad, die Küche und sagt, Interaktionen – auf 50 bis 70 gekürzt werden können.
sie solle sich wie zu Hause fühlen. Beim Abendessen sitzt die Diese Situationsschilderungen werden von Expertinnen
ganze Familie beisammen. Marika hat großen Hunger und und Experten der Zielkultur geprüft und werden dann
die Spaghetti, die Sabines Vater gekocht hat, schmecken von den Entwicklern des Intercultural Sensitizers zentralen
ihr sehr gut. Als Marika ihren Teller leer gegessen hat, fragt kulturellen Themen der Zielkultur (aus Sicht der deutschen
Sabines Mutter: „Möchtest du noch etwas?“ Kultur) zugeordnet. In einem nächsten Schritt werden
Marika antwortet: „Nein danke. Es hat sehr gut geschmeckt.“ aus den kritischen Interaktionssituationen prototypische
6 Daraufhin räumt Sabines Mutter die Sachen vom Tisch, stellt Situationen konstruiert, die den Trainees als Lernmaterial
die Reste in den Kühlschrank und sagt zu Marika, sie könne dienen. Dabei werden den Situationen vier Erklärungen
sich auch später noch etwas nehmen, wenn sie möchte. nachgestellt, von denen allerdings nur eine zutreffend
Marika ist etwas überrascht, dass ihr nichts mehr angeboten ist. Die Erklärungen, die unzutreffend sind, werden aus
wurde und geht hungrig zu Bett. Befragungen von Deutschen gewonnen, die bislang keine
(Die angeführte Situation basiert auf wiederkehrenden Erfahrungen mit der entsprechenden Zielkultur gemacht
Berichten von Teilnehmenden an Seminaren zum interkul- haben. Im deutschsprachigen Raum werden die zentralen
turellen Lernen, die Astrid Utler durchgeführt hat.) kulturellen Themen darüber hinaus zu sogenannten
Kulturstandards verdichtet, unter denen Thomas (2011) die
zentralen Merkmale einer Kultur versteht, die das Verhalten
Die Lernenden sollen nun überlegen, weshalb es zu den ihrer Mitglieder steuern, regulieren und einen Rahmen für
Irritationen gekommen ist und sollen nach und nach ein Ver- dessen Beurteilung vorgeben.
ständnis für die kulturellen Hintergründe entwickeln, die zu
der kritischen Interaktion beigetragen haben könnten. Sie
sollen zunehmend in die Lage versetzt werden, „isomorphe1 Bennetts Stufenmodell interkulturellen Lernens
Attributionen“ liefern zu können, womit Erklärungen für Milton Bennett schlägt in offenkundiger Nähe zu einschlägi-
die Situation gemeint sind, die auch von den fremdkulturel- gen strukturgenetischen Entwicklungstheorien (Piaget, Kohl-
len Interaktionspartnern gegeben würden (Utler & Thomas berg u. a.) eine Stufenfolge interkulturellen Lernens vor, die
2010). Im obigen Beispiel könnte die isomorphe Attributi- sich durch ein Kontinuum zunehmender Komplexität im
on so aussehen, dass Marikas verneinende Antwort auf die Umgang mit kultureller Differenz auszeichnen soll. Er un-
Frage danach, ob sie noch etwas essen möchte und ihre Über- terscheidet dabei drei ethnozentrische sowie drei ethnore-
raschung darüber, dass ihr nichts mehr angeboten wurde, lative Stadien, wobei die Stadien aufeinander aufbauen, das
als ein bestimmter kulturell geprägter Kommunikations- und Erreichen des einen Stadiums also Voraussetzung für das
Interaktionsstil gedeutet wird. Dieser hat es in dem vorlie- Erreichen des nächsten Stadiums ist (Bennett 1993; s. a. Wei-
genden Fall mit Vorstellungen von Höflichkeit zu tun, die es demann 2007, S. 494f.):
vorsehen, zu zeigen, dass man den Gastgebern nicht zur Last
fallen möchte, zurückhaltend und nicht fordernd ist. Ethnozentrische Stadien
Das Lernen an kritischen Interaktionen wird gerade auch 1. Kulturelle Differenz wird geleugnet und kulturell Frem-
in interkulturellen Trainings häufig eingesetzt, speziell in de werden aus den aktiven Lebensbezügen ausgeschlossen
vormals Culture Assimilator heute Intercultural Sensitizer ge- („Denial of Difference“).
nannten Verfahren. 2. Kulturelle Differenz wird abgewehrt, etwa durch die Ab-
wertung der anderen und einer damit einhergehenden
Im Fokus: Das methodische Vorgehen Aufwertung der eigenen Gruppe („Defense against Diffe-
rence“).
Intercultural Sensitizer werden folgendermaßen konstruiert 3. Kulturelle Differenz wird auf der Grundlage eigenkultu-
(s. Thomas 2011, S. 104–110): Es werden mit etwa 30 reller Kategorien minimiert und prinzipielle Gleichheit
Deutschen (oder Angehörigen einer anderen Kultur), die in postuliert („Minimization of Difference“).
einer anderen als der eigenen Kultur, einer „Zielkultur“, tätig
sind, teilstrukturierte Interviews durchgeführt. In diesen Ethnorelative Stadien
Interviews werden die Interviewpartner darum gebeten, 1. Das Stadium der Akzeptanz kultureller Verschiedenheit
möglichst detailliert kritische Interaktionssituationen zu („Acceptance of Difference“).
schildern, die sie in der Zielkultur erlebt haben. 2. Anpassung an fremde Verhaltensweisen: Hier wird das ei-
gene Verhaltensrepertoire um neue kulturelle alternative
Verhaltensweisen erweitert („Adaptation to Difference“).
6.3  Interkulturelle Psychologie im Wechselspiel mit anderen (psychologischen) Disziplinen
111 6
3. Integration – Identitätskonstruktion und Handeln erfol- ler Kompetenz entwickelt: Hierzu zählen unter anderem das
gen jenseits vorgegebener kultureller Bezüge im Bewusst- Cross-Cultural Adaptability Inventory (Kelley & Meyers 1995),
sein vorhandener Wahlmöglichkeiten („Integration of Dif- das Intercultural Development Inventory (Hammer, Bennett
ference“). & Wiseman 2003) oder das Intercultural Sensitivity Inven-
tory (Bhawuk & Brislin 1992). Der Intercultural Develop-
Von herausragender Bedeutung ist der schwierige Übergang ment Inventory (IDI) ist dabei an das Modell von Bennett
von den ethnozentrischen zu den ethnorelativen Stadien. (7 Abschn. 6.3.1) angelehnt: Anhand von 50 Items werden
Wird dieser vollzogen, stellt er in Bennetts Modell so etwas Messwerte zu den Skalen Denial/Defence, Reversal, Minimi-
wie einen grundlegenden Perspektivenwechsel dar. zation, Acceptance/Adaptation und Encapsulated Marginality
» Ethnorelativismus ist durch die Annahme gekennzeichnet, erhoben. Ein Item beispielsweise, das Denial/Defence misst,
dass Kulturen nur in Relation zueinander verstanden lautet „Menschen aus anderen Kulturen sind im Allgemei-
werden können und dass sich bestimmtes Verhalten nen fauler als Menschen meiner Kultur“ (Übersetzung d.
nur unter Berücksichtigung des kulturellen Kontextes Autoren). Die Beantwortung der Fragen erfolgt auf fünfstu-
erschließt. Die Maßstäbe der eigenen Kultur gelten nicht figen Antwortskalen, die von „agree“ bis „disagree“ reichen
länger als zentrale Instanz, sondern als eine Möglichkeit (Paige 2004, S. 99). Der IDI sowie die anderen genannten
unter anderen (Weidemann 2007, S. 495). englischsprachigen Verfahren sind international bekannt und
Das Modell erfreut sich großer Beliebtheit, wird jedoch werden auch im deutschsprachigen Raum angewandt, aller-
aufgrund der defizitären empirischen Fundierung auch kriti- dings meist auf Englisch – eine wissenschaftlich fundierte
siert. Ebenso wird kritisch diskutiert, dass weitgehend unklar Anpassung an den deutschsprachigen Raum gibt es weder für
bleibe, welche Lern- und Entwicklungsprozesse genau erfol- diese noch für die meisten anderen Verfahren aus dem anglo-
gen müssen, um die jeweils nächste Stufe zu erreichen (ebd.). amerikanischen Raum.
Die oben genannten Messverfahren sind indirekte Mess-
verfahren, d. h. interkulturelle Kompetenz wird nicht direkt
an Indikatoren des Verhaltens, Denkens oder Fühlens ei-
6.3.2 Interkulturelle Kompetenz und Fragen ner Person gemessen, sondern über deren Selbsteinschätzung
zur Diagnostik (Sinicrope, Norris & Watanabe 2007). Neben dem Problem
sozialer Erwünschtheit wird an derartigen Verfahren kriti-
1 Relevanz interkultureller Diagnostik für den siert, dass sie lediglich punktuellen Charakter haben, also
schulischen Bereich dem prozesshaften Zusammenspiel verschiedener interkultu-
Die zunehmende Bedeutung interkulturellen Lernens und in- reller Teilkompetenzen nicht gerecht werden (vgl. z. B. Bolten
terkultureller Kompetenz im Schulalltag geht auch mit der 2007). Hinzu kommen Zweifel an deren Validität (Schnabel
Frage einher, wie festgestellt werden kann, ob jemand in- et al. 2014). Aus diesen Gründen favorisieren einige Autoren
terkulturell kompetent ist oder nicht. Im wirtschaftlichen direkte Verfahren, wie das multimodale Interview (z. B. Stahl
Bereich interessiert die Diagnose interkultureller Kompe- 1995) oder Assessment-Center (z. B. Bolten 2007). Kernstück
tenz vor allem mit Blick auf die Eignungsdiagnostik bzw. dieser Verfahren sind geschilderte oder nachgespielte inter-
die Personalauswahl für Auslandsentsendungen (z. B. Del- kulturelle Situationen (vornehmlich kritische Interaktions-
ler & Albrecht 2007; Schnabel et al. 2014). Im schulischen situationen), die verschiedene Teilbereiche interkultureller
Bereich hingegen scheint die Diagnose interkultureller Kom- Kompetenz betreffen und die von den Befragten entweder
petenz vor allem unter dem Förderaspekt (vgl. hierzu Over unmittelbare Verhaltensreaktionen oder Aussagen über in-
2015) von Interesse: Für eine Lehrkraft beispielsweise, die in tendiertes Verhalten bzw. Analysen zu den Hintergründen
kulturell sehr heterogenen Klassen unterrichtet, kann es hilf- der Situation erfordern. Derart systemisch-prozessuale Test-
reich sein zu wissen, ob und wenn ja inwiefern sie in Bezug verfahren (Bolten 2007) weisen meist einen höheren Anwen-
auf die eigene interkulturelle Kompetenz noch Weiterent- dungsbezug und (damit) auch höhere ökologische Validität
wicklungsbedarf hat. Ähnliches gilt für die Schülerinnen und auf. Allerdings erfüllen diese direkten Erhebungsinstrumente
Schüler, für die das Wissen um die eigenen interkulturellen meist die formalen Gütekriterien schlechter als die eingangs
Fähigkeiten wichtig sein kann, und zwar sowohl für das Zu- genannten Tests (ebd.). Zudem erfordern diese Verfahren
sammenleben und -lernen in heterogenen Klassen als auch zum Teil einen hohen ökonomischen wie praktischen Auf-
für Schüleraustauschprogramme. wand.
Um die jeweiligen Nachteile indirekter und direkter Ver-
1 Methoden interkultureller Diagnostik fahren zu kompensieren, werden – mittlerweile auch für
Die interkulturelle Eignungsdiagnostik bedient sich der in den Hochschulbereich – vermehrt kombinierte Testverfahren
der Diagnostik allgemein gängigen Verfahren wie Tests, Fra- entwickelt und erprobt (z. B. Prechtl & Davidson Lund 2007;
gebögen, Interviews oder auch Beobachtungen. Aufgrund Schnabel et al. 2014).
ihrer einfachen Handhabbarkeit sowie der meist guten Er- Diese kombinierten Erhebungsverfahren beinhalten häu-
füllung der formalen Gütekriterien Objektivität und Relia- fig qualitative Elemente, zum Teil sogar mit Rollenspielen.
bilität wurden in den letzten Jahren und Jahrzehnten zahl- Für den schulischen Kontext scheinen sich derartige Verfah-
reiche, meist fragebogenbasierte Testverfahren interkulturel- ren nicht zuletzt deshalb zu eignen, weil bereits die Erfassung
112 Kapitel 6  Interkulturelles Lernen

interkultureller Kompetenz auch interkulturelle Lernprozesse . Abb. 6.1 Attributionsdreieck


anstoßen kann: Denn die Methoden (z. B. Rollenspiele, kriti- (nach Schroll-Machl 2007)
sche Interaktionssituationen), die zur Messung interkulturel- Person Situation
ler Kompetenz eingesetzt werden, finden auch in der Vermitt-
lung und Lehre interkultureller Kompetenzen Verwendung.
Eine Anpassung derartiger Verfahren für den schulischen Be- Kultur
reich steht allerdings noch aus. In diesem Zusammenhang ist
es zudem wichtig, die für die Schule relevanten Dimensio-
nen interkultureller Kompetenz genauer zu fassen; denn erst Gruppenzuteilung per Münzwurf (vgl. Theorie der Sozialen
dann lassen sich angemessene Diagnose-Instrumente entwi- Identität, Minimalgruppenexperimente, z. B. Tajfel & Tur-
ckeln. Was die Ermittlung derartiger Dimensionen angeht, ner 1986). Wenn die Gruppen Konkurrenten im Kampf um
gibt es bereits erste Ansätze. So hat Over (2015) anhand von knappe Ressourcen sind, verschärft das die Situation (Sherif
Interviews mit 44 Lehrkräften erhoben, wie Lehrkräfte selbst 1966). Frustration sorgt erst Recht dafür, dass eine unbeliebte
6 eine interkulturell kompetente Lehrkraft konstruieren und Gruppe zum Sündenbock wird: „Wir“ gegen „die Anderen“.
dabei folgende zentrale Dimensionen herausgearbeitet: Schü- Eine Fremdgruppe wirkt grundsätzlich homogener als die
lerorientierung, individualzentrierte pädagogische Kompe- eigene Gruppe (Quattrone 1986; 7 Kap. 23), ihre Mitglieder
tenz, kulturelle Sensibilität, Führungskompetenz, Teamarbeit scheinen irgendwie alle gleich. Menschen haben verallgemei-
und Konfliktfähigkeit. Diese Dimensionen könnten nun im nernde Annahmen im Kopf, sog. Stereotype, und schreiben
Rahmen intensivierter Forschung quantitativ (um die Di- den Mitgliedern einer Gruppe eine bestimmte Eigenschaft
mensionen zu bestätigen oder ggf. zu erweitern und/oder zu zu. Handelt es sich um feindselige, emotionale Einstellungen
modifizieren) wie qualitativ (zur weiteren inhaltlichen Aus- gegenüber den Gruppenmitgliedern, spricht man von Vor-
differenzierung) untersucht werden. Die Entwicklung eines urteilen. Diese werden zu Diskriminierung, wenn sie sich
entsprechenden Diagnose-Instrumentes kann ebenfalls auf im Verhalten widerspiegeln, wenn also eine Person schlecht
diesen Vorarbeiten aufbauen: Auf der Grundlage der genann- behandelt wird, nur weil sie einer bestimmten Gruppe ange-
ten Dimensionen ist bereits ein Förder-Assessment-Center hört. Die Bilder im Hinblick auf Persönlichkeitseigenschaften
für interkulturelle Kompetenz bei Lehrerinnen und Lehrern von Gruppenmitgliedern sind hartnäckig, was nicht zuletzt
(kurz FACIL) entstanden, das zur Förderung interkultureller an den Mechanismen der Attribution liegt: Wenn wir ver-
Kompetenz bei Lehrkräften eingesetzt wird (Over 2015; Over suchen, uns das Verhalten eines Menschen zu erklären, also
2017). eine sogenannte Attribution vornehmen, können wir uns das
Verhalten durch die Persönlichkeit erklären (dispositionale
Attribution) oder durch die Situation, in der sich die Person
befindet (Heider 1958). In interkulturellen Kontexten kann
6.3.3 Interkulturelle Psychologie und
Verhalten mitunter auch mit kulturellen Aspekten erklärt
Sozialpsychologie werden. Zur Veranschaulichung dieser Erweiterung entwirft
Schroll-Machl (2007) ein „Attributionsdreieck“ (. Abb. 6.1),
Auch der Rückgriff auf sozialpsychologische Einsichten kann bestehend aus den Attributionsmöglichkeiten Person, Situa-
zu einem besseren Verständnis interkulturellen Lernens, tion und Kultur.
seiner Voraussetzungen, Mechanismen, Herausforderungen Zur Situation kann man im weiteren Sinne auch soziale,
und Folgen beitragen. Im Folgenden seien ausgewählte altersbedingte, sozio-ökonomische und weitere Einflussfak-
Aspekte dargestellt (hierzu Aronson, Wilson & Akert 2008, toren zählen. Bei der Ursachenzuschreibung neigen Men-
S. 420–461). schen zu Fehlern, so werden situative Faktoren meist zu wenig
Wir alle strukturieren und kategorisieren Informationen berücksichtigt: Vielleicht ist ein Schüler, der sich nicht am
und bilden Schemata, auch Menschen teilen wir aufgrund Unterricht beteiligt, nicht desinteressiert (das wäre eine dis-
unterschiedlicher Kriterien in Gruppen ein. Dazu kann im positionale Attribution), sondern müde, weil er in der Nacht
Prinzip jede beliebige wahrgenommene oder unterstellte Dif- vom kleinen Bruder geweckt wurde.
ferenz herangezogen werden, von Augenfarbe, Lieblingsver- Stereotype werden zunächst unbewusst und automatisch
ein über Geschlecht bis hin zu Nationalität, Religion oder aktiviert, eine kontrollierte Verarbeitung muss erst in Gang
Kultur. Die Lehrerin Jane Elliott (1977) teilte beispielsweise gesetzt werden und braucht kognitive Ressourcen (Devine
eine Klasse in braun- und blauäugige Kinder ein und be- 1989). Damit können Stereotype zwar dabei helfen, Situatio-
vorzugte eine Gruppe, um Stereotype und Diskriminierung nen schnell einzuschätzen, man kann im Einzelfall aber auch
erfahrbar zu machen, was sich negativ auf die Leistungen und sehr falsch liegen und der Person, die einem gegenübersteht,
den Umgang der Schülerinnen und Schüler miteinander aus- nicht gerecht werden. Effekte wie die Sich-selbst-erfüllende
wirkte. Nach diesem Prinzip werden auch in Deutschland Prophezeiung tun ihr Übriges, dass wir uns in unserer Ein-
Antirassismus-Trainings angeboten (kritisch hierzu z. B. Lei- schätzung auch noch bestätigt fühlen (vgl. auch Pygmalion-
precht & Lang 2001). Die Gruppen, denen Personen selbst an- Effekt, Rosenthal & Jacobson 1968; 7 Kap. 23). Hinzu kommt,
gehören, bewerten sie tendenziell besser und bevorzugen sie dass ein Stereotyp auch die davon betroffenen Personen be-
gegenüber den „anderen“. Dafür reicht schon eine zufällige einflussen kann (Clark & Clark 1947): Gerade wenn Angehö-
6.3  Interkulturelle Psychologie im Wechselspiel mit anderen (psychologischen) Disziplinen
113 6
rige einer Gruppe ein Stereotyp nicht bedienen möchten, z. B.
dass Frauen in Mathematik schlechtere Leistungen zeigen als 2005; Wandert & Ochsmann 2009). Um ein essentialistisches
Männer, verschlechtern sich die Leistungen von Frauen in Verständnis und die rassifizierende Interpretation von
Tests und das Stereotyp scheint bestätigt. Bei Kenntnis der Gruppenunterschieden auszuschließen, sollte das eigene
bisher geschilderten Mechanismen wird auch nachvollzieh- Begriffsverständnis expliziert werden: „Rasse“ ist nicht
bar, wie es zu „Kulturalisierungen“ kommen kann. Kultu- biologisch bestimmt, sondern sozial konstruiert (American
ralisierungen sind vorschnelle und unbegründete Erklärun- Psychological Association 2002; Heinz, Müller & Kluge
gen bestimmter Phänomene mithilfe insbesondere kultureller 2011). Das sieht man u. a. daran, dass die Kriterien zur
Faktoren – statt situationaler, personaler oder einer Kombi- Einteilung von „Rassen“ einem überaus starken zeitlichen
nation aus ihnen. So hat beispielsweise eine „Türkenecke“ auf Wandel unterliegen (Brehm, Kassin & Fein 2005) und daran,
dem Schulhof (vgl. Utler 2014), aus der in der Pause die jünge- dass die heute lebenden Menschen zu 99,9 % in ihren
ren („deutschen“) Schüler „verscheucht“ werden, oft weniger DNA-Sequenzen übereinstimmen, also alle denkbaren
mit kulturellen Eigenheiten zu tun als mit der Aufrechterhal- genetischen Unterschiede nur 1 Promille der genetischen
tung einer (positiven) sozialen Identität einer Clique – auch Substanz betreffen (Kattmann 1999). Einige Autoren weisen
wenn manche Lehrkräfte das Phänomen möglicherweise als auf die Besonderheit der Begriffsverwendung in den USA
„typisch türkisch“ wahrnehmen und damit das Stereotyp der hin: Dort ist „race“ als Bezeichnung ethnischer Gruppen
aggressiven türkischen Jugendlichen bestätigt sehen. beispielsweise in der Politik durchaus üblich, z. B. um
Doch wie geht man mit derartigen Gruppenphänomenen Zugangsbarrieren zu Bildungseinrichtungen zu erfassen.
um und baut Vorurteile z. B. zwischen Gruppen wieder ab? In Deutschland ist „Rasse“ allerdings historisch anders
Begegnung alleine reicht mitunter nicht aus, der Kontakthy- konnotiert. Begrifflich auf ethnicity bzw. „Ethnie“ auszuwei-
pothese (Allport 1954) zufolge sind beim Kontakt vielmehr chen ohne diesen Begriff zu definieren, ist nicht weniger
spezifische Bedingungen nötig, wie beispielsweise die Abhän- problematisch, denn „Ethnie“ kann ebenfalls essentialistisch
gigkeit der Gruppen voneinander oder die Verfolgung eines verstanden werden (American Psychological Association
gemeinsamen Ziels. In der Schule lassen sich diese Bedingun- 2002). Um den Begriff „Schwarze“ zu umgehen, wird z. T. auf
gen mit besonderen Formen des kooperativen Lernens, z. B. „dunkelhäutige Menschen“ zurückgegriffen (z. B. Fischer,
dem Gruppenpuzzle (Aronson, Wilson & Akert 2008) schaf- Asal & Krueger 2013). Da es sich dabei nicht um eine
fen. Schülerinnen und Schüler, die sonst wenig Kontakt und Selbstbezeichnung handelt, wird auch dieser Begriff kritisch
eine stereotype Vorstellung voneinander haben, können hier gesehen (Sow 2011). Organisationen wie der Verein „der
zusammen an einem gemeinsamen Ziel arbeiten und lernen braune mob“, eine Schwarze Media-Watch-Organisation, be-
sich im Idealfall „neu“ kennen. vorzugen die Bezeichnung „Schwarze Menschen“ (Schwarz
wird dabei großgeschrieben, um die konstruierte Zuord-
Im Fokus: Rassismus und der Begriff „Rasse“ nung zu verdeutlichen), People of Color oder „Afrodeutsche“
gelten ebenfalls als angemessene Bezeichnungen (Der
Die Empfehlungen der Kultusministerkonferenz zu interkul- braune Mob n. d.). Trotz aller Problematik bleibt der Begriff
tureller Bildung und Erziehung in der Schule fordern auch „Rasse“ für die Forschung als soziale Konstruktion relevant,
dazu auf, „bewusst gegen Diskriminierung und Rassismus“ die Konsequenzen hat und das Erleben und Verhalten von
(KMK 2013, S. 4) einzutreten. Rassismus kann als ein Prozess Menschen beeinflusst, wie jede andere zugeschriebene
definiert werden, „in dem Menschen aufgrund tatsächlicher Gruppenzugehörigkeit. Oder wie der Titel eines Artikels
oder vermeintlicher körperlicher oder kultureller Merkmale im American Psychologist es ausdrückt: „Race as biology
(z. B. Hautfarbe, Herkunft, Sprache, Religion) als homogene is fiction, racism as a social problem is real“ (Smedley &
Gruppen konstruiert, negativ bewertet und ausgegrenzt Smedley 2005, S. 16).
werden. . . . Rassismus ist die Summe aller Verhaltensweisen,
Gesetze, Bestimmungen und Anschauungen, die den Pro-
zess der Hierarchisierung und Ausgrenzung unterstützen
und beruht auf ungleichen Machtverhältnissen“ (IDA o. J.).
Während sich klassischer Rassismus auf angebliche biolo-
6.3.4 Interkulturelle Psychologie und
gische Unterschiede bezieht, wird kultureller Rassismus als Erziehungswissenschaft
eine weitere Form von Rassismus definiert, die Ungleich-
wertigkeiten mit kulturellen Aspekten begründet. Auch Innerhalb der Erziehungswissenschaft gibt es innerdiszipli-
Sozialpsychologielehrbücher wenden sich dem Thema näre Zugänge, die mit der Interkulturellen Psychologie z. T.
Rassismus zu und verwenden den Begriff „Rasse“ (s. z. B. ähnliche Erkenntnisinteressen sowie partiell verwandte prak-
Aronson, Wilson & Akert 2008), auf eine kritische Auseinan- tische Ziele verfolgen. Es handelt sich dabei insbesondere um
dersetzung mit diesem Begriff wird aber häufig verzichtet. die Interkulturelle und die Migrationspädagogik (Gogolin &
Dabei handelt es sich um einen umstrittenen Begriff, der z. B. Krüger-Potratz 2016; Mecheril et al. 2010). Die Interkultu-
im Hinblick auf Forschungen zu Intelligenz, Gesundheit oder relle Psychologie nahm ihren praktischen Ausgang insbe-
Genetik kontrovers diskutiert wird (Anderson & Nickerson sondere bei Qualifizierungsmaßnahmen für Manager, Fach-
und Führungskräfte, die berufsbedingt ins Ausland entsendet
114 Kapitel 6  Interkulturelles Lernen

wurden. Die Interkulturelle und Migrationspädagogik dage- Kognition, Emotion und Verhalten verorten lassen. Ange-
gen waren von Beginn an stark auf Schulen bezogen und lehnt an die interkulturelle Kompetenzdefinition von Thomas
bearbeiten intensiv den Umgang mit sprachlicher, ethnisch- (7 Abschn. 6.2) können die Wahrnehmung kultureller Ein-
kultureller und religiöser Heterogenität in diesem Kontext. flussfaktoren bei sich und anderen, Respekt und Würdigung
Anders als in der Psychologie liegen in der Erziehungswissen- der kulturellen Einflussfaktoren sowie produktives Nutzen
schaft auch detaillierte historische Analysen vor. Seit einiger bzw. produktiver Umgang mit Unterschieden als grundlegen-
Zeit richtet die Interkulturelle Psychologie ihren Fokus aber de Lernziele in interkulturellen Kontexten bezeichnet werden
ebenfalls (zusätzlich) auf Bildungs- und Erziehungskontexte, (s. a. Cushner & Brislin 1997; Kinast 2005). Diese Lernziele
sodass sich die unterschiedlichen Disziplinen zumindest et- werden im Folgenden mit Bezug zum schulischen Kontext er-
was aneinander angenähert haben, wobei sie z. T. in einem örtert.
Verhältnis wechselseitiger Kritik zueinander stehen. Die Kri-
tik an der Interkulturellen Psychologie lässt sich etwa mit der1 Grundlegendes Lernziel 1: Wahrnehmung kultureller
Auseinandersetzung um den Ansatz von Alexander Thomas Einflussfaktoren bei sich und anderen
6 veranschaulichen, in dem mit der Reflexion kritischer Inter- Verständnis, was unter Kultur verstanden werden kann
aktionssituationen gearbeitet wird und dem (nicht nur, aber Um kulturelle Einflussfaktoren wahrnehmen zu können, be-
gerade auch) von erziehungswissenschaftlicher Seite unter darf es zunächst eines Wissens darüber, was unter Kultur
anderem folgende Punkte vorgeworfen werden (vgl. den Ar- verstanden werden kann. Daher empfiehlt sich eine Be- und
tikel von Thomas 2003a, in der Zeitschrift „Erwägen Wissen Erarbeitung verschiedener Kulturdefinitionen mit den Schü-
Ethik“ und die sich hiermit kritisch auseinandersetzenden lerinnen und Schülern (z. B. Almurtada & Kehinde 2015).
Beiträge am selben Ort):
4 die Verwendung eines homogenisierenden Kulturbegriffs, Selbstreflexion
der Differenzen innerhalb von Kulturen vernachlässigen Darüber hinaus wird empfohlen, sich selbst zu reflektieren,
würde, d. h. sich bewusst zu machen, was einem selbst wichtig ist
4 eine Vernachlässigung von Macht- und Herrschaftsstruk- und welche individuellen sowie kulturellen Wertvorstellun-
turen, gen damit verbunden sind (z. B. Fischer 2009). In diesem
4 eine technizistische Sichtweise auf interkulturelle Pro- Kontext und vor dem Hintergrund eines offenen und dyna-
zesse, mischen Kulturbegriffs erscheint es sinnvoll, sich nicht nur
4 Eurozentrismus, über national- oder ethnisch-kulturelle Einflussfaktoren auf
4 Kognitivismus und das Denken, Wahrnehmen, Fühlen und Handeln bewusst zu
4 eine Reduktion interkultureller Begegnungen auf ge- werden, sondern auch andere kulturelle (etwa berufsbezo-
schäftliche Interaktionen. gene, familiäre oder geschlechterbezogene) Einflussfaktoren
und deren Zusammenspiel – auch mit persönlichen und si-
An der Interkulturellen oder Migrationspädagogik wird dem- tuativen Faktoren – zu reflektieren. Grundgedanke ist hier,
gegenüber mitunter eine übermäßige normative Aufladung dass erst durch die Kenntnis „des Eigenen“ ein Verständnis
ihrer Aussagen bei einem gleichzeitigen Empirie-Defizit kri- „des Fremden“ möglich wird.
tisiert (s. z. B. Deuble, Konrad & Kölbl 2014). Jenseits solcher
Kritik ergänzen sich beide Herangehensweisen mitunter ein- Sensibilisierung für Diversität
fach, gerade durch die wechselseitige Kritik können sie aber Was für einen selbst und die eigene Umgebung „normal“
auch voneinander profitieren, indem sie ihre Herangehens- ist, ist nicht zwangsläufig auch für jeden anderen und in je-
weisen profilieren und bisweilen korrigieren. dem anderen Kontext „normal“. Das fällt erst auf, wenn sich
jemand für eine andere Person ungewohnt oder irritierend
verhält: Eine Lehrerin, die in Deutschland mit dem Fahrrad
6.4 Interkulturelles Lernen und zur Schule fährt, mag – vor dem Hintergrund eines anderen
interkulturelle Öffnung in der Schule: Hierarchieverständnisses – bei einem syrischen Geflüchteten
Herausforderungen und Perspektiven etwa zunächst für Verwunderung oder Amüsement sorgen.
Eine Anfahrt mit dem Auto würde in anderen kulturellen
Kontexten möglicherweise eher dem Status einer Lehrperson
Die Interkulturelle Psychologie verfügt auch in Bezug auf den
entsprechen. Derartige Ereignisse werden – wenngleich in ei-
schulischen Bereich mittlerweile über ein breites Repertoire
nem eher weiten Sinne – als kritische Interaktionssituationen
an anwendungsbezogenen Erkenntnissen. Diese stehen nun
bezeichnet (Thomas 2003b, S. 474f.; 7 Abschn. 6.3.1). Die-
im Vordergrund.
se sorgen für Irritation und können leicht missinterpretiert
werden, sind aber mit entsprechendem (kulturellen) Hin-
tergrundwissen leicht zu erklären und zu verstehen. Es gilt
6.4.1 Lernziele, Lerninhalte und didaktische hier, nicht vorschnell personale Attributionen vorzunehmen,
Methoden also das Verhalten auf die Persönlichkeit der Beteiligten zu-
rückzuführen, sondern den Blick für situative oder kulturelle
In praktischen interkulturellen Kontexten werden Lernzie- Faktoren offenzuhalten (z. B. Schroll-Machl 2007, S. 31) und
le angestrebt, die sich auf den psychologischen Ebenen die Interaktionssituationen als Lernmöglichkeit zu nutzen.
6.4  Interkulturelles Lernen und interkulturelle Öffnung in der Schule: Herausforderungen und Perspektiven
115 6
Theoretische Konzepte zu kulturellen Unterschieden ligen Gewinner die Tische wechseln und kommen so mit
Um die oben genannten unterschiedlichen Deutungsalterna- unterschiedlichen Regelwerken („Kulturen“) in Kontakt.
tiven abwägen zu können, ist entsprechendes Hintergrund- Zur Wissensaneignung werden häufig Intercultural Sen-
wissen sinnvoll. Im interkulturellen bzw. kulturvergleichen- sitizer eingesetzt (7 Abschn. 6.3.1): Dadurch sollen zum einen
den Kontext haben sich zur Beschreibung und Erklärung isomorphe Attributionen (7 Im Fokus: Eine exemplarische kriti-
kultureller Unterschiede insbesondere die Konzepte der Kul- sche Interaktionssituation) eingeübt und zum anderen Wissen
turstandards (Thomas 2011) sowie der Kulturdimensionen über die jeweiligen Kulturstandards erworben werden.
(z. B. Hofstede 2001) etabliert, wobei ersteren vor allem im Werden Kulturstandards allerdings als allgemein gültige
deutschsprachigen Raum Aufmerksamkeit zukommt. Wäh- Konzepte verstanden und angewandt, so fördert dies – so die
rend Kulturdimensionen (z. B. Individualismus vs. Kollekti- gängige Kritik – nicht unbedingt das gegenseitige Verständ-
vismus) kulturelle Unterschiede quantitativ zu messen versu- nis, sondern steht in der Gefahr, lediglich Stereotype zu schaf-
chen und einen universalistischen Anspruch erheben, neh- fen bzw. zu festigen (7 Abschn. 6.3.4). Daher mag es sinnvoller
men Kulturstandards eine kulturrelationale Perspektive ein sein, das Pferd „von hinten aufzuzäumen“: Statt Wissen „über
(Straub & Layes 2002): Zentrale Aspekte einer bestimmten ein anderes Land“ zu vermitteln, kann es fruchtbarer sein, an
Kultur werden vor dem Hintergrund eines anderen kultu- selbst erlebten Situationen anzusetzen und bei „Bedarf “ zu
rellen Deutungshorizontes beschrieben. So hat Alexander deren Erklärung entsprechend Kulturstandards heranzuzie-
Thomas mit anderen in den vergangenen Jahren für über vier- hen – jedoch stets unter Einbezug auch anderer Einflussfak-
zig Länder Kulturstandards (oder zentrale kulturelle Themen) toren, wie z. B. Person und Situation (7 Abschn. 6.3.3).
ermittelt, die jeweils aus kritischen Interaktionssituationen Um auch andere Faktoren, beispielsweise weitere gesell-
zwischen „Deutschen“ (meist Fach- und Führungskräften) schaftlich relevante Differenzlinien (z. B. Staatsangehörigkeit,
und Menschen aus dem jeweiligen Zielland abgeleitet wurden sexuelle Orientierung, sozialer Status) auf einer allgemeine-
(veröffentlicht in der Reihe „Beruflich in. . . “, siehe z. B. Beruf- ren Ebene zu reflektieren, können Trainings mit „Anti-Bias“-
lich in China: Thomas, Schenk & Heisel 2008; 7 Abschn. 6.3.1; Schwerpunkt Ansatzpunkte bieten. Der Begriff „Anti-Bias“
zur Kritik 7 Abschn. 6.3.4). Die Übertragbarkeit dieses Kon- drückt aus, dass es nicht nur darum geht, nicht voreingenom-
zepts auf schulische Kontexte in einer Migrationsgesellschaft men zu sein, sondern sich aktiv und auf allen Ebenen gegen
scheint nicht ohne Weiteres möglich: Inwiefern Kulturstan- Diskriminierungen einzusetzen (Herdel 2007).
dards, die auf den Erfahrungen zeitweilig im Ausland tätiger
deutscher Fach- und Führungskräfte basieren, auch auf Men-
schen mit türkischem, amerikanischem oder sonst einem
Migrationshintergrund zutreffen, die bereits in der zweiten Mythos: Kultur und Konflikt
oder dritten Generation in Deutschland leben, ist fraglich. „Ich hab’ zwar viel mit Leuten aus anderen Kulturen zu tun,
Hier bedarf es also noch weiterer, schulbezogener Forschun- aber so richtige Konflikte hab ich persönlich eigentlich
gen. noch nie erlebt!“ Antworten wie diese sind nicht selten,
wenn Menschen – beispielsweise in interkulturellen
Didaktische Methoden Trainings – nach eigenen Erlebnissen gefragt werden, in
Um die in diesem Abschnitt dargestellten Lernziele zu för- denen (möglicherweise) kulturelle Unterschiede eine Rolle
dern, gibt es zahlreiche Methoden, die im Folgenden ledig- spielten. Da sich derartige Reaktionen und Äußerungen
lich beispielhaft dargestellt werden können. Zudem ist darauf auch im Rahmen von Untersuchungen zur interkulturellen
hinzuweisen, dass nicht alle Methoden gleichermaßen gut oder Migrationsthematik nachzeichnen lassen (z. B. Riegel
evaluiert sind: Während kognitiv orientierte Methoden wie 2012), steht zu vermuten, dass interkulturelle Begegnun-
Vorträge oder Intercultural Sensitizer relativ gut untersucht gen gemeinhin mit Konflikten oder massiven Problemen
sind, werden stärker erfahrungsorientierte Methoden wie Si- assoziiert werden. Dazu trägt neben der medialen Bericht-
mulationen oder Gruppenübungen weitaus seltener evaluiert erstattung sicherlich der öffentliche Diskurs mit bei, der
(Ehnert 2004). den Fokus auf (vermeintlich) interkulturelle Begegnungen
Die Erarbeitung des Kulturbegriffs sowie die Reflexion mit Konfliktcharakter legt. Und auch psychologische
der eigenen kulturellen (Wert-)Haltungen können in Einzel- Studien, die sich beispielsweise im schulischen Kontext mit
sowie Gruppenarbeiten erfolgen. Als Grundlage für die Erar- Interkulturalität beschäftigen, nehmen oft kulturbedingte
beitung des Kulturbegriffs könnten ausgewählte Kulturdefini- Konflikte in den Blick (z. B. Buchwald & Ringeisen 2007;
tionen (z. B. von Hofstede oder Thomas und Straub) dienen Hesse 2001; Wagner et al. 2001). So untersucht Hesse
(vgl. z. B. Almurtada & Kehinde 2015). (2001), wie in Schulklassen kulturbezogene Konflikte
Eine Sensibilisierung für das Erleben kultureller Dif- entstehen.
ferenzen und der damit einhergehenden Emotionen kann Nun erscheint es zunächst wenig verwunderlich, ja
durch erfahrungsorientierte Simulationen erreicht werden, vielleicht sogar sinnvoll, dass der Blick auf die problema-
z. B. beim Kartenspiel „Farbe bekennen“ (Losche & Püttker tischen Aspekte (interkultureller) Begegnungen und die
2009, S. 142f.). Bei diesem Kartenspiel spielen mehrere Teams daraus resultierenden Herausforderungen gerichtet wird.
an verschiedenen Tischen und zwar mit unterschiedlichen Schließlich sollen ja für derartige Situationen adäquate
Regeln. Nach einer kurzen Einspielphase dürfen die jewei-
116 Kapitel 6  Interkulturelles Lernen

und nachhaltige Lösungen gefunden werden. Vor dem Thomas 2015). Als konflikthaft werden diese Situationen
Hintergrund sozialpsychologischer Erkenntnisse wie nicht unbedingt erlebt. Dies gilt in der oben geschilderten
Stereotypisierungen, selektiver Wahrnehmungen oder Situation auch für die deutsche Praktikantin und wohl
Sich-selbst-erfüllender Prophezeiungen (7 Abschn. 6.3.3) auch für die ugandische Schülerin. Und auch wenn sich
sollten die thematischen Engführungen jedoch auch kri- diese Situation im weiteren Verlauf des Aufenthalts noch
tisch hinterfragt werden, bestehen doch Gefahren wie die wiederholen sollte, sind daraus weder eine Auseinander-
fälschliche Interpretation zwischenmenschlicher Konflikte setzung noch eine belastende Situation entstanden. Eine
als interkulturelle Konflikte oder das Herbeiführen (inter- ausführlichere Analyse dieser und ähnlicher Situationen
kultureller) Konflikte durch entsprechendes bewusstes mit Hilfe elaborierter psychologischer Konflikttheorien
oder unbewusstes Verhalten – um nur zwei Varianten zu belegen ebenfalls, dass es sich bei der Gleichsetzung von
nennen. Wenn Lehrkräfte beispielsweise davon ausgehen, Kultur und Konflikt um einen unbegründeten Mythos
dass „türkische“ Jugendliche aggressiver sind als „deut- handelt (vgl. hierzu die entsprechenden Materialien im
6 sche“, dann reagieren sie möglicherweise bereits auf die Online-Bereich dieses Lehrbuchs). Daher gilt es in der Praxis
geringsten Anzeichen aggressiven Verhaltens strenger, als wie auch in der Forschung den konfliktbehafteten Blick zu
sie das im Vergleich bei „deutschen“ Schülern täten und erweitern, einerseits um der Vielschichtigkeit interkultu-
provozieren oder fördern damit wiederum aggressives reller Begegnungen gerecht zu werden und andererseits
Verhalten auf Seiten der „türkischen“ Jugendlichen, weil um die gängige Meinung aufzubrechen, Kultur bedeute
sich diese ungerecht behandelt fühlen. Konflikt. Dies kann möglicherweise auch dazu beitragen,
Hinzu kommt, dass die Ergebnisse interkultureller dass gesellschaftliche Ängste und Vorbehalte vor „dem
Untersuchungen ein anderes Bild zeichnen: Interkulturelle Fremden“ relativiert werden.
Beziehungen sind weitaus vielschichtiger als das allgemein
vorherrschende Konfliktmodell vermuten lässt. Selbst
wenn kulturelle Unterschiede erlebt werden (was beileibe
nicht immer so ist), erfolgt dies in den seltensten Fällen in 1 Grundlegendes Lernziel 2: Respekt und Wertschätzung
Form von konflikthaften Auseinandersetzungen. Vielmehr der kulturellen Einflussfaktoren
sind die Beteiligten (positiv) überrascht, verwundert, Neben den vielfach formulierten, kognitiven oder handlungs-
amüsiert, vielleicht auch irritiert oder verunsichert, was basierten Zielen interkulturellen Lernens werden Lerneffekte,
aber nicht zwangsläufig zu Konflikten führt. Anschaulich die auf die emotionale Ebene abzielen, vergleichsweise „stief-
und schulbezogen lässt sich diese Thematik an folgender mütterlich“ behandelt (vgl. Ehnert 2004, S. 70). Das zeigt
Situation zeigen: Eine junge deutsche Frau unterrichtet sich beispielsweise daran, dass Wirkungen auf emotionaler
im Rahmen ihres Freiwilligendienstes in einer Schule in Ebene oft gar nicht erst als Ziel interkultureller Trainings for-
Uganda. Als sie in einer ihrer ersten Unterrichtsstunden muliert werden (z. B. Fowler & Blohm 2004). Dennoch sind
einer Schülerin eine Frage stellt, antwortete diese zwar, emotionale Aspekte im interkulturellen Kontext nicht min-
senkt aber den Blick auf den Boden. Der erste intuitive der bedeutsam, nicht zuletzt deshalb, weil der „fundamentale
Gedanke der deutschen Praktikantin ist: „Schau mich an, Attributionsfehler“ (z. B. Thomas 2005b, S. 112f.) dadurch
wenn du mit mir redest.“, da für sie direkter Blickkontakt verstärkt wird, dass jemand emotional aufgewühlt, verär-
in dieser Situation als Zeichen der Höflichkeit und gert, verängstigt o. Ä. ist (z. B. Utler 2014). Zudem weisen
Wertschätzung gilt. Für die ugandische Schülerin wiederum (kulturelle) Stereotype und Vorurteile eine stärkere Persis-
ist es ein Zeichen der Wertschätzung, der deutschen tenz auf, wenn sie von entsprechenden Emotionen begleitet
Praktikantin eben nicht direkt in die Augen zu schauen, werden (z. B. Nazarkiewicz 2010). Daher zielen viele interkul-
weil es möglicherweise konfrontativ und herausfordernd turelle Trainings darauf ab, „die emotionale Selbstkontrolle
wirken könnte. In dieser Situation wollen sich also . . . zu fördern“ (Kinast 2005, S. 183), wobei die auftreten-
beide Beteiligten höflich und wertschätzend verhalten, den Emotionen – je nach Kontext – von Verwunderung und
auch wenn ihre (kulturellen) Vorstellungen darüber Überraschung, über Belustigung bis hin zu Abwertung, Frus-
unterschiedlich sind, was wertschätzendes und höfliches tration und Ärger reichen können. Interventionsmaßnahmen
Verhalten ausmacht. Die Situation endet – nach Bekunden im schulischen Kontext haben daher oft das Ziel, Lehrkräften
der deutschen Praktikantin – damit, dass sie es dabei Techniken zu vermitteln, mit denen sie ihre Emotionen re-
bewenden lässt und ihre Verwunderung und leichte gulieren können, wobei hier häufig Emotionen wie Stress im
Irritation nicht anspricht. Vordergrund stehen, die aus interkulturellen Konflikten re-
Situationen wie diese, in denen beide Seiten bemüht sultieren (z. B. Buchwald et al. 2008).
sind, höflich und wertschätzend miteinander umzugehen, Doch nicht nur die Kontrolle oder der effektive Um-
sind fast prototypisch für einen großen Teil der wissen- gang mit den Emotionen, die in konkreten Interaktionen
schaftlich erhobenen kritischen Interaktionssituationen auftreten können, scheinen bedeutsam, sondern vielmehr die
(vgl. die Bände der Reihe „Beruflich in“, z. B. Georg, Kölbl & Herausbildung einer grundlegenden wertschätzenden Hal-
tung gegenüber kultureller Diversität (z. B. Thomas 2006).
Das bedeutet zwar nicht, dass alle Unterschiede für gut be-
6.4  Interkulturelles Lernen und interkulturelle Öffnung in der Schule: Herausforderungen und Perspektiven
117 6
funden werden müssen (vgl. hierzu Straub et al. 2007), aber1 Grundlegendes Lernziel 3: Produktiver Umgang mit
eine positive Grundhaltung, in der Diversität oder Differenz Unterschieden und Diversität im Allgemeinen
nicht per se als bedrohlich, sondern als potentiell bereichernd Das erklärte Ziel „produktiv mit Unterschieden umzuge-
wahrgenommen wird, scheint eine wichtige Basis für ein „ge- hen“ klingt zunächst einleuchtend und vielversprechend, all-
lingendes Miteinander“ zu sein. Es gilt also, andere Wissens- gemein gültige Handlungsleitlinien lassen sich jedoch auch
und Orientierungssysteme in ihrer Logik wertzuschätzen. hier nicht festlegen, selbst wenn in den vergangenen Jahren
zahlreiche Konzepte (z. B. Demorgon & Molz 1996; Thomas
1 Didaktische Methoden 2005a) entwickelt wurden, die den Umgang mit erlebten Un-
Methoden, die ausschließlich auf den Umgang oder die Regu- terschieden im Denken oder auch im Handeln beschreiben.
lation von Emotionen in interkulturellen Kontexten abzielen, Die Grundannahme dieser Konzepte ist, dass der Umgang
sind eher selten. Im Zuge der Auswertung interkultureller mit Differenzen stets zwischen Anpassung an den oder die
Übungen (z. B. der Übung „Farbe bekennen“) wird meist andere einerseits und Durchsetzung der eigenen Handlungs-
die Reflexion von Emotionen mit empfohlen (z. B. Losche und Deutungsmuster andererseits changiert, woraus sich
& Püttker 2009); die Übungen selbst behandeln Emotionen Strategien ableiten lassen, z. B. Dominanz, Assimilation, Di-
aber nicht vordergründig oder ausschließlich. Es scheint die vergenz und Synthese. Ein kulturell dominantes Verhalten
implizite Vermutung vorzuherrschen, dass sich das Errei- würde bedeuten, dass eine Person auf ihrer eigenen Her-
chen kognitiver Lernziele (beispielsweise einer isomorphen angehensweise beharrt und von ihrem Gegenüber erwartet,
Attribution beim Intercultural Sensitizer) auch positiv auf die dass sich dieses anpasst bzw. assimiliert. Bei einer Synthese
Emotionsregulation auswirkt. Lediglich vereinzelt befassen wiederum werden die kulturellen Systeme für alle Beteilig-
sich wissenschaftliche Beiträge explizit mit der Frage nach ten gewinnbringend verknüpft. Vergleichbare Typisierungen
der Emotionsregulation, wobei die Empfehlungen inhaltlich existieren auch speziell für Migrationskontexte (vgl. Berry
wie in ihrer theoretischen Fundierung stark variieren. Buch- 2001). Gemeinsam ist diesen Konzepten die teils empirisch
wald und Ringeisen (2007) entwickeln etwa ein theoretisch bestätigte Annahme (Ward, Bochner & Furnham 2001), dass
ausgefeiltes Modell multiaxialen Copings, das aus drei Ach- eine Synthese bzw. Integration der beteiligten kulturellen Ori-
sen besteht: aktiv-passives Coping, soziale Bewältigung (mit entierungssysteme am besten ist, da diese Orientierung zu
den Polen prosozial und antisozial) und der Achse direk- Wohlbefinden und Gesundheit beiträgt.
tes und indirektes Coping, die kulturelle Unterschiede in der Wie jedoch diese Strategien oder Orientierungen konkret
Konfliktlösung beschreiben soll. Daraus werden insgesamt aussehen können, also wie beispielsweise eine „Integrations-
neun Bewältigungsstrategien abgeleitet, wie selbstbehaupten- orientierung“ etwa im Fall der oben erwähnten hungrigen
des Verhalten, vorsichtiges Handeln oder Suche nach Unter- Austauschschülerin Marika aussehen könnte, darüber lassen
stützung. Diese theoretisch postulierten Strategien ließen sich sich aus den Konzepten keine Aussagen ableiten. Fragt die
in einer Interviewstudie auch empirisch bestätigen (ebd.). In Mutter zweimal statt nur einmal nach und nimmt Marika
der Untersuchung wurden die Lehrkräfte zudem gebeten, die das Angebot bereits nach zweimal Nachfragen an, obwohl sie
Wirksamkeit dieser Strategien einzuschätzen, mit dem Ziel, normalerweise noch länger abwarten würde?
das Modell auch zur Schulung von Lehrkräften einsetzen zu Aus Perspektive der Migrationspädagogik steht die Fra-
können. Nach Kenntnis der Autoren steht eine derartige Ver- ge im Mittelpunkt, wann Differenzen im Bildungssystem
wendung allerdings noch aus. überhaupt thematisiert werden sollten. Werden Differenzen
Ähnlich gestaltet es sich mit der grundlegenderen Frage, betont, können Unterschiede möglicherweise festgeschrie-
wie jemand eine generelle wertschätzende Haltung ausbilden ben werden. Andererseits muss man im Hinblick auf Be-
bzw. wie diese gefördert werden kann. Auch hierzu gibt es nachteiligungen Unterschiede thematisieren, um gegen sie
bislang kaum Forschungsergebnisse. Allerdings ist anzuneh- anzugehen (Mecheril & Klinger 2010). Anders formuliert:
men, dass bestimmte Handlungen zumindest Wertschätzung „Sowohl Formen der schulinternen Ungleichbehandlung als
transportieren können, wobei es auch hier kein „Patentre- auch Formen der Gleichbehandlung können sich im Effekt als
zept“ dafür gibt, wer wann welche Handlung als wertschät- Benachteiligung von Migrationsanderen auswirken“ (Dirim
zend erlebt. So fühlte sich in einer Studie, die Differenzerfah- & Mecheril 2010, S. 132f.). Geht Schule ausschließlich von
rungen bei Jugendlichen untersuchte, ein (türkischstämmi- der „Normalbiographie eines Mittelschichtsschülers aus einer
ger) Jugendlicher dadurch wertgeschätzt, dass der bayerische einsprachig deutschen Familie“ (Karakaşoğlu 2012, S. 97) aus,
Staat Einheiten zum Islam mit in den Lehrplan aufgenom- haben beispielsweise Schülerinnen und Schüler mit geringe-
men hat und er im Zuge dessen Moscheeführungen für seine ren Deutschkenntnissen schlechtere Chancen. Abschließend
Mitschülerinnen und Mitschüler machen durfte, für die er kann festgehalten werden, dass für den Umgang mit Differenz
eigens eine Zusatzqualifikation erwarb (Utler 2014). Im ge- eine besondere Sensibilität bzw. Reflexivität gefordert wird.
nannten Beispiel transportierte sich also die Wertschätzung
über die Wertschätzung des Glaubens – aber eben nur für1 Didaktische Methoden
einen gläubigen Jugendlichen. Allgemeiner gesagt entspringt Die Grundlage für einen produktiven Umgang mit kultureller
das Gefühl der Wertschätzung offenbar aus einer Wertschät- Diversität (oder Differenz) bildet eine eingehende Reflexion
zung dessen, was den Jugendlichen wichtig ist. konkreter (potentiell) kulturell bedingter Interaktionssitua-
118 Kapitel 6  Interkulturelles Lernen

Kritische
Interaktionssituation (KI)

Metakontex- Eigene Interpretation


tualisierung des Handlungsgeschehens

Reflexion der Generierung multipler


Handlungsfolgen Interpretationsperspektiven

Generierung multipler Reflexion der


Handlungsperspektiven Interpretationsperspektiven
6
. Abb. 6.2 Intercultural Anchored Inquiry (Kammhuber 2000, S. 111)

tionen. Eine derartige Auseinandersetzung kann angeleitet 6.4.2 Lernkontexte und Lernformate
durch interkulturelle Lernzirkel oder auch die Intercultural
Anchored Inquiry erfolgen (. Abb. 6.2): In den vorangehenden Abschnitten ist von konkreten didak-
Den Ausgangspunkt der Intercultural Anchored Inquiry tischen Möglichkeiten der Förderung die Rede gewesen. Im
bildet eine kritische Interaktionssituation, die nach Möglich- Folgenden werden mit der Darstellung übergreifender Lern-
keit aus dem jeweiligen Kontext, also hier aus dem schuli- kontexte und Lernformate solche Möglichkeiten noch auf
schen, stammen sollte. Darauf folgen Überlegungen dazu, wie einer allgemeineren Ebene erörtert.
der oder die Einzelne die Situation interpretiert. Im nächsten
Schritt werden diese Interpretationen erweitert, beispielswei-1 Lernkontexte
se indem Mitschülerinnen und Mitschüler oder Kolleginnen Im Lernfeld Schule gibt es viele Kontexte, in denen inter-
und Kollegen nach ihren Interpretationen gefragt werden. kulturelles Lernen erfolgen und gefördert werden kann. Drei
Wichtig ist in diesen ersten beiden Schritten, dass möglichst bedeutsame und mit Blick auf interkulturelles Lernen zum
viele verschiedene Perspektiven gesammelt werden, die je- Teil gut erforschte Kontexte sind Schüleraustausch, Projekt-
doch noch nicht bewertet werden. Erst im Rahmen der Refle- tage, aber auch der „alltägliche Schulbetrieb“.
xion der Interpretationsperspektiven erfolgt eine Abwägung: Schüleraustauschprogramme werden im deutschsprachi-
Was spricht für die jeweiligen Interpretationen, was dagegen? gen Raum schon seit den 1950/60er-Jahren erforscht (vgl.
In dieser Phase empfiehlt es sich auch, passende theoretische Dadder 1988; Thomas 1989). Dabei beziehen die durchge-
Konzepte hinzuzuziehen. Nachdem ein tieferes Verständnis führten Studien zum Schüleraustausch schon seit ihren An-
der Situation erreicht wurde, können Überlegungen dazu an- fängen häufig Jugendaustauschprogramme mit ein, die in
gestellt werden, wie mit der Situation umgegangen werden non-formalen Kontexten stattfinden. Aus den zahlreichen
sollte: Auch hier werden zunächst zahlreiche Perspektiven Studien lässt sich folgern, dass interkulturelles Lernen im
generiert, die dann abgewogen werden. Um kein rein kon- Schüleraustausch vor allem dann erfolgreich ist, wenn eine
textgebundenes Wissen aufzubauen, empfiehlt es sich zudem angemessene Vor- und Nachbereitung erfolgt und wenn es
weitere (ähnlich strukturierte) kritische Interaktionssituatio- während des Austauschs Raum für das Erleben und Reflek-
nen zu erarbeiten. Im Berufsalltag können dazu Supervision tieren von Diskrepanzen gibt (Thomas, Chang & Abt 2007).
und kollegialer Fallaustausch mit Kolleginnen und Kollegen
(Debo & Stengel 2006) hilfreich sein. Im Fokus: Erlebnisse, die verändern
Abgesehen von dieser konkreten Methode, die sich auf
die Erarbeitung von Handlungsstrategien für Interaktionssi- Internationale Jugendaustauschprogramme (z. B. Schü-
tuationen bezieht, wird auch die allgemeinere Frage aufge- leraustausch mit Unterkunft in Gastfamilien) werden von
worfen, wie Lehrkräfte in ihrer Schulklasse mit Heterogenität den Teilnehmenden und den Organisationen, die sie
so umgehen können, dass es für alle Beteiligten ein positives veranstalten, zumeist als horizonterweiternd und persön-
Erlebnis wird. Diversität oder wahrgenommene Andersheit lichkeitsbereichernd beschrieben. Die Studie „Erlebnisse,
werden häufig sanktioniert. Dafür gibt es viele Gründe, z. B. die verändern“ (Thomas et al., 2007; s. a. Thomas, 2007,
Befürchtungen, dass die Gruppe sonst gefährdet wird. Da- S. 662–666) verfolgte vor diesem Hintergrund das Anliegen,
her gilt es, gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern ein empirisch fundiertes differenzierteres Bild von der
Wege zu entwickeln, um produktiv damit umzugehen und Langzeitwirkung solcher Austauschprogramme zu gewin-
Diskriminierungen zu verhindern. Im Unterricht selbst sind nen. Als theoretischer Rahmen diente insbesondere die
verschiedene Herangehensweisen denkbar, hier gibt ein Blick Cognitive-Experiential Self-Theory von Epstein (2002).
in entsprechende Handreichungen Anregungen (KMK 2013;
7 Abschn. 6.4.2).
6.4  Interkulturelles Lernen und interkulturelle Öffnung in der Schule: Herausforderungen und Perspektiven
119 6
ein Einwanderungsland ist, durchgesetzt, was zum Teil auch
Methodisch umfasste die Studie Expertenbefragungen zu entsprechenden psychologischen Untersuchungen geführt
(N D 17), Leitfadeninterviews mit ausländischen (N D 40) hat (z. B. Bender-Szymanski & Hesse 1993). Allerdings wur-
und deutschen (N D 93) Teilnehmern von Jugendaus- den die beiden Lernkontexte Schüleraustausch und inter-
tauschprogrammen sowie Fragebogenerhebungen bei kulturelles Lernen im Klassenzimmer anfänglich nur wenig
ehemaligen deutschen Teilnehmern (N D 532), die auf den verknüpft. Erst in den vergangenen Jahren nahm die Erkennt-
Ergebnissen der Interviews basierten. Die Befragten waren nis zu, dass beide Kontexte voneinander profitieren können;
zum Zeitpunkt des Jugendaustauschs im Durchschnitt 17 beispielsweise indem interkulturelle Fähigkeiten, die im Rah-
Jahre alt und zum Zeitpunkt der Befragung 27 Jahre alt, es men heterogener Klassen entwickelt wurden, für den Schü-
handelte sich also um eine retrospektive Untersuchung. leraustausch reflektiert und eingesetzt werden. Nicht zuletzt
Zu den Ergebnissen gehört die Herausarbeitung von vier deshalb gibt es in der psychologischen Forschung sowie in
Verläufen im Hinblick auf die biografische Integration der den Nachbardisziplinen Bemühungen, die beiden Bereiche
während der Auslandsaufenthalte gemachten Erlebnisse: und die darin entstandenen Erkenntnisse stärker miteinan-
4 Mosaik-Effekt (51 % der Befragten): Die Austausch- der zu verschränken und aufeinander zu beziehen (z. B. IJAB
erfahrungen fügen sich wie Mosaiksteine in die 2012).
Gesamtbiografie ein. Dabei steht der Austausch Neben Schüleraustauschprogrammen, die außerhalb des
in einem biografischen Kontinuum, verstärkt und regulären Schulbetriebs stattfinden, und interkulturellem
bereichert schon vor diesem Ereignis vorliegende Lernen im „Schulalltag“ kann noch ein weiterer Bereich,
Interessen, wie etwa das Interesse an bestimmten nämlich Projekttage, ausgemacht werden. Durch ihren Event-
Ländern oder an gemeinnütziger Arbeit. charakter eignen sich Projekttage gut als Impulsgeber oder
4 Domino-Effekt (31 % der Befragten): Der Austausch Auftakt für interkulturelles Lernen und damit als Ergänzung
stellt einen wichtigen Anstoß für neue Erkenntnisse und zu den anderen bisher genannten Lernkontexten. Darüber
Einsichten dar und verschiebt die Bezugsysteme der hinaus können sie zur interkulturellen Öffnung der Schule
Befragten zur Bewertung von Personen, Sachverhalten beitragen.
und Verhaltensweisen insbesondere im sozialen Bereich.
4 Nice-to-have-Effekt (12 % der Befragten): Die Befragten 1 Lernformate
möchten die Austauscherfahrungen zwar nicht missen Angesichts dieser verschiedenen Lernkontexte ist auch der
und bewerten sie auch als positiv, schreiben ihnen aber Einsatz verschiedener Lehr-/Lernformate empfehlenswert,
keine große Prägekraft für den weiteren Lebensweg zu. wobei in der interkulturellen psychologischen Forschung und
4 Wendepunkteffekt (7 % der Befragten): Dieser Effekt Praxis ein Format am häufigsten eingesetzt und am besten
ist derjenige Effekt, der den weiteren biografischen untersucht wird und wurde: das interkulturelle Training (z. B.
Verlauf der Befragten am stärksten verändert. Der Landis, Bennett & Bennett 2004). Interkulturelle Trainings
Austausch bedeutet hier nämlich für die Befragten den und deren Bausteine können danach aufgeteilt werden, ob sie
Beginn einer biografischen Richtungsänderung, die eher informationsorientiert sind, also hauptsächlich Wissen
markante Veränderung von Selbst- und Weltbild und vermitteln, oder ob sie eher erfahrungsorientiert sind und am
das Ausbrechen aus eingefahrenen Strukturen. persönlichen Erleben ansetzen (vgl. z. B. Gudykunst & Ham-
Ferner wurden mit Hilfe von Faktorenanalysen Zusam- mer 1983). Manche Bausteine sind kulturspezifisch gestaltet,
menhänge zwischen den Langzeitwirkungsbereichen (als beschäftigen sich also auch mit einem ganz bestimmten „Kul-
solche wurden z. B. interkulturelles Lernen, Flexibilität, turraum“, manche sind kulturallgemein und thematisieren
Fremdsprachenkenntnisse und berufliche Entwicklung grundlegende Aspekte. Anhand von kritischen Interaktions-
unterschieden) einerseits und Teilnehmervariablen (z. B. situationen kann man sich z. B. Wissen über die Kulturstan-
Alter und Geschlecht) sowie Programmformaten (z. B. Schü- dards einer bestimmten Kultur erarbeiten, in Übungen mit
leraustausch und multinationales Workcamp) andererseits Fantasiekulturen mit ungewöhnlichen Kommunikationsre-
untersucht. Dabei ergab sich u. a., dass das Geschlecht eine geln können Irritationen erlebbar gemacht werden. Je nach-
weniger große Rolle spielte als angenommen und dass dem wie das Training gestaltet ist, besteht auch hier die Ge-
alle Austauschformen die Persönlichkeitsentwicklung im fahr, dass der Fokus sehr einseitig auf kulturelle Erklärungen
Hinblick auf die Förderung selbstbezogener Eigenschaften für schwierige Situationen gelegt wird und Stereotype ver-
und Kompetenzen unterstützt hatten. festigt statt abgebaut werden (vgl. z. B. Mecheril et al. 2010).
Es wäre von Interesse zu prüfen, inwiefern auch prospektiv Wenn daher kritische Interaktionssituationen behandelt wer-
angelegte Längsschnittanalysen die referierten Befunde den, empfiehlt es sich darauf zu achten, dass die Auswertung
bestätigen könnten. stets das Zusammenspiel der vielfältigen kulturellen, persön-
lichen wie situativen Wirkfaktoren berücksichtigt (z. B. Utler
2015). Dabei ist es ratsam, die Übungen und die Auswertung
Neben Schüleraustauschprogrammen kann interkulturel- von erfahrenen Trainern durchführen zu lassen, die über fun-
les Lernen auch innerhalb des „regulären Schulbetriebs“ er- diertes fachliches Wissen verfügen. Zudem erscheint auch ei-
folgen bzw. gefördert werden – diese Erkenntnis hat sich ne Einbindung von Trainingsbausteinen aus Diversity-, Anti-
im Zuge des zunehmenden Bewusstseins, dass Deutschland Bias Trainings oder Anti-Rassismus-Trainings sinnvoll, da
120 Kapitel 6  Interkulturelles Lernen

diese Ansätze Benachteiligungen und Diskriminierungen in und Integration 2015). Konkrete Anregungen und alternati-
den Blick nehmen (Leenen 2007). ve Materialien finden sich u. a. im Internet (7 www.bpb.de;
Das – angesichts seiner Verbreitung etwas ausführlicher 7 www.zwischentoene.info). Ob entsprechende Lernarrange-
dargestellte – Lernformat „interkulturelles Training“ stellt ei- ments von den Schülerinnen und Schülern als positiv erlebt
ne punktuelle, zeitlich auf ein bis mehrere Tage begrenzte werden und zielführend sind, bleibt jedoch empirisch noch
Maßnahme dar. Zwar wurde die Wirksamkeit interkulturel- zu klären.
ler Trainings vielfach erforscht und in zentralen Aspekten
bestätigt (vgl. dazu Mendenhall et al. 2004; Ehnert 2004), al- Im Fokus: Das Prinzip Interkulturelles Frühstück
lerdings werden nur selten Aussagen über die längerfristige
Wirksamkeit dieses Formats getroffen. Daher sei hier auch Einen naheliegenden Versuch, interkulturelles Lernen bei
auf Lernformate hingewiesen, die (zumindest) in ihrem zeit- Schülerinnen und Schülern zu fördern, stellt die zumeist in
lichen Umfang weiter angelegt sind, weil sie aufgrund ihrer bester pädagogischer Absicht verfolgte Idee dar, diejenigen
Stundenzahl (fast) schon Ausbildungscharakter haben (Black Schülerinnen und Schüler, die einen „Migrationshinter-
6 & Mendenhall 1991). Derartige, interkulturell ausgerichtete grund“ haben, darum zu bitten, etwas „aus ihrer Heimat“
Formate werden auch zunehmend für Lehramtsstudieren- in die Schule mitzubringen. Das sind im Zusammenhang
de angeboten, meist im Rahmen einer (interdisziplinären) mit schulischen Festen oder Projekttagen häufig „landes-
Zusatzausbildung oder auch als Aufbaustudium. Während typische“ Speisen, etwa im Rahmen eines „interkulturellen
Trainingsformate primär darauf ausgelegt sind, den Teilneh- Frühstücks“. Bei dem, was man das Prinzip Interkulturelles
menden Werkzeuge zum Umgang mit selbst erlebten inter- Frühstück nennen könnte (Deuble, Konrad & Kölbl 2014),
kulturellen Situationen an die Hand zu geben, gehen Ausbil- kann es sich aber auch um spezifische Wissensbestände
dungen einen Schritt weiter: Hier werden Multiplikatorinnen handeln, etwa in Gestalt von Referaten zu Themen aus
und Multiplikatoren ausgebildet, die das erworbene Wissen den jeweiligen „Herkunftskulturen“. Wesentlich ist, dass
in die Schule tragen und dort auch institutionell verankern Schülerinnen und Schüler „mit Migrationshintergrund“ als
können. Die theoretischen Fundierungen und inhaltlichen „Vertreter ihrer (Herkunfts-)Kultur“, als Experten für diese
Ausrichtungen variieren jedoch zum Teil erheblich. Kultur angesprochen werden und zwar unabhängig davon,
Mit Blick auf eine nachhaltige Etablierung interkulturel- ob sie tatsächlich etwas über diese Kultur wissen und auch
len Lernens bei Schülerinnen und Schülern stellt der Un- unabhängig davon, ob das tatsächlich „ihre“ Kultur ist. Die
terricht eines der wichtigsten Lernformate dar. Für den Un- Attribution, es handle sich bei einem bestimmten Schüler
terrichtsalltag sollen hier einige Anregungen referiert wer- um einen Vertreter einer bestimmten Herkunftskultur
den, in welchen Bereichen Lehrkräfte aktiv werden kön- kann sich vergleichsweise unreflektiert vollziehen, ein
nen: Auf das Gruppenpuzzle als Arbeitsmethode im Unter- „ungewöhnlicher“ Name mag dafür schon ausreichend sein.
richt, um Vorurteile abzubauen, wurde bereits hingewiesen Dieses Prinzip, das keine didaktische Methode im engeren
(7 Abschn. 6.3.3). Weitere Konkretisierungen finden sich in Sinne, sondern eine Praxis darstellt, die sich in pädagogi-
Handreichungen (z. B. KMK 2013), auf die sich die nach- schen Kontexten einer gewissen Beliebtheit erfreut, ist in
folgenden exemplarischen Ausführungen beziehen: „Schu- der Erziehungswissenschaft massiv kritisiert worden, da es
le nimmt Vielfalt zugleich als Normalität und als Potenzial mehr Schaden anrichten als Nutzen erbringen würde (Kal-
für alle wahr“ (KMK 2013, S. 3) ist der Grundtenor dieser paka & Mecheril 2010). Dabei sind vor dem Hintergrund von
Publikationen. Im Fachunterricht kann beispielsweise da- Unterrichtsbeobachtungen und normativen Überlegungen
rauf geachtet werden, Fachwörter zu erklären und schrift- unterschiedliche Gefahren postuliert worden:
liche Aufgaben einfach und verständlich zu formulieren, 4 Die Gefahr kulturalistischer Reduktionen
um Nicht-Muttersprachlern oder Kindern aus „bildungsfer- 4 Die Gefahr der Reproduktion von Stereotypen
nen Milieus“ möglichst gleiche Chancen bei der Bearbeitung 4 Die Gefahr der Homogenisierung kultureller Vielfalt
zu geben. Die individuellen Hintergründe können als Res- 4 Die Gefahr der Exklusion und Exotisierung der Schüler
source genutzt, die Herkunftssprachen der Schülerinnen und 4 Die Gefahr der Unterwerfung unter kulturalistische
Schüler wertschätzend eingebunden werden, beispielsweise Fremdzuschreibungen
durch mehrsprachig gestaltete Plakate. Ganz allgemein wird Unter bestimmten Bedingungen kann das Prinzip aber
eine multiperspektivische, differenzierte Herangehensweise wohl auch sinnvoll eingesetzt werden, etwa dann, wenn ein
an Unterrichtsthemen nahegelegt, unabhängig von der Zu- „Expertenstatus“ aufgrund eines „Migrationshintergrunds“
sammensetzung der Klasse. Damit sollen eurozentrische Per- ermöglicht, aber nicht erzwungen wird. So berichtet eine
spektiven aufgebrochen und reflektiert werden; Menschen Geschichtslehrkraft davon, eine Unterrichtseinheit „Motive
sollen in ihrer Unterschiedlichkeit und mit ihrer eigenen zur Migration“ unter anderem so gestaltet zu haben, dass
Stimme zu Wort kommen. Nahegelegt wird eine differen- die Schülerinnen und Schüler Interviews führen sollten, um
ziertere Betrachtungsweise, in der z. B. Länder auf dem afri- eben solche Motive zur Migration herauszuarbeiten. Dabei
kanischen Kontinent nicht ausschließlich in den Kontexten verzichtete die Lehrkraft bewusst darauf, die Schülerinnen
Hunger oder Krieg verortet werden oder Migration nicht und Schüler „mit Migrationshintergrund“ gezielt darauf zu
nur als Problem und Herausforderung dargestellt wird (Be- verpflichten, ihre „Familiengeschichte“ zum Gegenstand
auftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge
6.4  Interkulturelles Lernen und interkulturelle Öffnung in der Schule: Herausforderungen und Perspektiven
121 6

des Unterrichts zu machen. Dies geschah zwar dann häufig


Zusammenfassung
und mit ansprechenden Resultaten, aber eben nicht er-
Dieses Kapitel befasste sich mit den theoretischen Grund-
zwungenermaßen. Darüber hinaus vermied die Lehrkraft
lagen interkulturellen Lernens sowie mit den Bezügen,
eine „Besonderung“ der Jugendlichen mit Migrationshin-
die die Interkulturelle Psychologie zu unterschiedlichen
tergrund auch noch insofern, als alle Schülerinnen und
psychologischen Teildisziplinen und einschlägigen erzie-
Schüler der Klasse aufgefordert waren, etwas zum Thema
hungswissenschaftlichen Diskursen aufweist. Davon aus-
beizutragen (Deuble, Konrad & Kölbl 2014, S. 29f.). Freilich
gehend wurde aufgezeigt, wie interkulturelles Lernen im
ist die empirische Basis im Hinblick auf unterschiedliche
schulischen Kontext umgesetzt werden kann. Basierend
pädagogisch-psychologische Ausgestaltungen und Konse-
auf der Annahme, dass Kulturen Orientierungssysteme
quenzen des Prinzips Interkulturelles Frühstück insgesamt
darstellen, die nicht auf Nationen beschränkt und zudem
noch sehr schmal (für empirische Analysen im Kontext des
dynamisch (also veränderbar) und offen sind, ist das er-
Geschichtsunterrichts vgl. ebd.).
klärte Ziel interkulturellen Lernens die Herausbildung in-
terkultureller Kompetenz. Um jedoch Kulturalisierungen
zu vermeiden, sind auch Bezüge zur sozialpsychologi-
schen Forschung notwendig. In heterogenen Gruppen
lassen sich nämlich nicht alle Ereignisse auf kulturelle Ein-
6.4.3 Interkulturelle Öffnung flussfaktoren zurückführen, vielmehr können auch Vorur-
teile oder Stereotype eine Rolle spielen. Die Umsetzung
Interkulturelle Öffnung kann definiert werden „als ein be- interkulturellen Lernens in der Schule kann auf vielerlei
wusst gestalteter Prozess, der (selbst-)reflexive Lern- und Arten erfolgen und auf den Ebenen Kognition, Emotion
Veränderungsprozesse von und zwischen unterschiedlichen und Handlung ansetzen. Dafür können verschiedene For-
Menschen, Lebensweisen und Organisationsformen ermög- mate wie punktuelle (z. B. interkulturelle Trainings), aber
licht, wodurch Zugangsbarrieren und Abgrenzungsmecha- auch zeitlich längerfristig angelegte Formen (z. B. Unter-
nismen in den zu öffnenden Organisationen abgebaut werden richt) integriert und die in der Schule verfügbaren Kon-
und Anerkennung möglich wird“ (Schröer 2007, S. 83). In- texte wie Lernen innerhalb sowie außerhalb (z. B. Schüler-
terkulturelle Öffnung wird also als Organisationsentwicklung austausch) des schulischen Alltagsrahmens genutzt wer-
verstanden. Konzepte hierzu wurden seit Mitte der 1990er- den. Ansätze interkulturellen Lernens in der Schule zie-
Jahre entwickelt und beispielsweise in Verwaltungen und len darauf ab, dass „Vielfalt zugleich als Normalität und
sozialen Diensten seit mehreren Jahren etabliert. Im schu- als Potenzial für alle“ wahrgenommen wird. Um dies zu
lischen Bereich steht die Umsetzung in die Praxis noch am gewährleisten, wird an der Etablierung interkulturellen
Anfang (Griese & Marburger 2012). Konkrete Maßnahmen Lernens im Rahmen einer übergeordneten „interkulturel-
zur Interkulturellen Öffnung siedelt Karakaşoğlu (2012) auf len Öffnung“ der Schule gearbeitet, die nicht allein auf
vier zentralen Handlungsebenen an, auf einer personalen, individueller Ebene ansetzt, sondern eine globalere Her-
inhaltlichen, strukturellen sowie sozialen Ebene. Neben der angehensweise wählt und damit auch dazu beizutragen
Ausbildung der Lehrkräfte und der inhaltlichen Gestaltung versucht, verschiedene Anstrengungen auf dem Weg zu
von Unterricht werden hier ergänzend auch die Zusammen- einer Diversitätssensibilität zu bündeln und zu koordinie-
setzung des Fachpersonals und eine Öffnung auch auf dieser ren.
Ebene angesprochen. Ein weiteres Element auf der sozialen
Ebene bilden z. B. interkulturelle Elternarbeit, mehrsprachi-
ges Informationsmaterial, die Berücksichtigung unterschied-
licher Vorerfahrungen mit dem Schulsystem und die Schaf- Verständnisfragen
fung von Mitbestimmungsmöglichkeiten. Im Hinblick auf
strukturelle, schulorganisatorische Faktoren wird die Rolle ?1. Warum ist interkulturelles Lernen ein wichtiges Thema
der Schulleitung hervorgehoben, interkulturelle Öffnung als für Lehrkräfte?
Leitungsaufgabe mit zentraler Bedeutung für die Schul- und 2. Worauf macht ein moderner Kulturbegriff aufmerksam?
Personalentwicklung betont. Hier schließt sich der Kreis zu 3. Was ist das Spezifikum interkulturellen Lernens?
bereits in der Einleitung genannten Aspekten interkultureller 4. Stellen Sie Milton Bennetts Modell interkulturellen
Bildung, die von der Kultusministerkonferenz hervorgeho- Lernens dar und problematisieren Sie es!
ben wurden: Es handelt sich um eine „Querschnittsaufgabe 5. Welche Instrumente zur Diagnose interkultureller
von Schule“ (KMK 2013, S. 2) mit dem Grundsatz, „Viel- Kompetenz eignen sich für den schulischen Kontext?
falt zugleich als Normalität und als Potenzial für alle“ (KMK 6. Greifen Sie eine Möglichkeit der Förderung inter-
2013, S. 3) wahrzunehmen. kulturellen Lernens bei Schülerinnen und Schülern
122 Kapitel 6  Interkulturelles Lernen

heraus und diskutieren Sie ihre potentiellen Vor- und P. Buchwald & C. Schwarzer (Hrsg.), Interkulturelle Kompetenz in Schule
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7. Inwiefern können Trainings die interkulturelle Kompe- Clark, K., & Clark, M. (1947). Racial identification and preference in Negro
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8. Was ist unter einem „interkulturellen Frühstück“ zu Cushner, K., & Brislin, R. W. (1997). Key concepts in the field of cross-
verstehen? Mit welchen Gefahren können derartige cultural training: An introduction. In K. Cushner & R. W. Brislin (Hrsg.),
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124 Kapitel 6  Interkulturelles Lernen

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125 7

Informelles Lernen
Doris Lewalter und Katrin Neubauer

7.1 Relevanz des informellen Lernens – 126

7.2 Begriffsentwicklung, definitorische Zugänge und Abgrenzung des


informellen Lernens – 126
7.2.1 Begriffsentwicklung des informellen Lernens – 126
7.2.2 Definition und Abgrenzung des informellen Lernens – 126

7.3 Kontexte informellen Lernens im Kindes- und Jugendalter – 129


7.3.1 Informelles Lernen in der Familie – 129
7.3.2 Informelles Lernen in der Gleichaltrigengruppe (Peers) – 131
7.3.3 Informelles Lernen mit digitalen Medien und Fernsehen – 133
7.3.4 Institutionelle informelle Lernumgebungen am Beispiel Museum – 134

7.4 Beziehung formales und informelles Lernen in der Schule – 136

7.5 Forschungsmethodische Zugänge zum informellen Lernen – 138

Verständnisfragen – 139

Literatur – 139

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019


D. Urhahne, M. Dresel, F. Fischer (Hrsg.), Psychologie für den Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55754-9_7
126 Kapitel 7  Informelles Lernen

7.1 Relevanz des informellen Lernens diesen und damit verbunden eine intensive Beachtung des in-
formellen Lernens feststellen.
Bevor auf zentrale Bereiche des informellen Lernens im
Der Prozess des Lernens spielt eine zentrale Rolle in un- Kindes- und Jugendalter genauer eingegangen wird, soll ein
serem Leben. Er findet in vielfältigen Kontexten und sehr kurzer Abriss der Begriffsentwicklung und der definitori-
unterschiedlichen Situationen statt – sowohl gezielt als auch schen Vielfalt wesentliche Diskussionsstränge aufzeigen.
beiläufig und zufällig, bewusst aber auch unbewusst. Doh-
men (2001, S. 7) zeigt mit der pointierten Formulierung „Alle
Menschen lernen – bewusst oder unbewusst – ihr Leben
7.2 Begriffsentwicklung, definitorische
lang“ auf, dass es u. a. angesichts der in unserer Wissensge-
sellschaft immer wieder formulierten Notwendigkeit des „le- Zugänge und Abgrenzung des
benslangen Lernens aller“ ausschlaggebend ist, alle Formen informellen Lernens
des Lernens in Betracht zu ziehen und deren wechselseitige
Verzahnung anzustreben. Denn die sich rasant entwickelnde 7.2.1 Begriffsentwicklung des informellen
Wissens- und Informationsgesellschaft fordert eine ständi-
Lernens
7 ge Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung des eigenen
Wissens, welches heute als eine der wichtigsten gesellschaft-
lichen Ressourcen angesehen wird (Düx & Sass 2005). Die Obwohl die Verwendung des Begriffs des informellen Ler-
Aufgabe der Vermittlung des hierfür notwendigen, sich stän- nens in der deutschen Bildungsdiskussion relativ neu ist – erst
dig weiterentwickelnden Wissens kann nicht (mehr) alleine Ende der 1990er Jahre wurden Forschungsergebnisse aus dem
von den dafür vorgesehenen formalen Bildungsinstitutio- englischsprachigen Kontext für Belange der deutschen Er-
nen (Schule, Universität, Institutionen der beruflichen Aus- wachsenenbildung herangezogen (Dohmen 1996; Overwien
und Weiterbildung) getragen werden, zumal diese überwie- 2016) – hat die internationale Diskussion zum informellen
gend auf bestimmte Lebensphasen (Kindheit, Jugend, frühes Lernen bzw. zur informellen Bildung bereits eine relativ lange
Erwachsenenalter) fokussiert sind und so eine kontinuier- Entwicklungsgeschichte durchlaufen. Diese Entwicklungsge-
liche, lebenslange Wissens- bzw. Kompetenzaneignung nur schichte wird in . Tab. 7.1 kurz vorgestellt.
begrenzt unterstützen können. Es ist zunehmend notwen- In Deutschland kam die internationale Diskussion zum
dig, sich auch mit Lernprozessen außerhalb geplant didak- informellen Lernen zwar bereits in den 1980er Jahren an, hat-
tisch aufbereiteter Situationen auseinanderzusetzen (Hun- te aber zunächst keine tiefergehenden Auswirkungen (Over-
gerland & Overwien 2004). Damit ist das informelle Lernen wien 2016). Eine systematische Aufnahme und Weiterent-
angesprochen, welches selbstgesteuerte, bewusst oder auch wicklung der international gebräuchlich gewordenen Begriff-
unbewusst ablaufende, beiläufige oder gezielte Lernprozes- lichkeit, die Rezeption entsprechender Theoriedebatten und
se außerhalb formaler Bildungskontexte beschreibt. Hierbei die Diskussion von Forschungsergebnissen beginnt hier erst
stellen das informelle und formale Lernen jedoch keine Ge- Ende der 90er Jahre (vgl. Overwien 2006a 2006b). Seitdem
gensätze dar, sondern sollten als gegenseitige Ergänzungen, haben der Begriff und die Thematik eine steile Karriere ge-
Erweiterungen und Anregungen genutzt werden (vgl. Euro- macht (Rohs 2016). Aufgrund der in der „Wissensgesell-
päische Kommission 2001). schaft“ notwendig gewordenen neuen und flexiblen Lernwei-
Aber nicht nur im Erwachsenenalter, sondern auch im sen stellen die Definition und Erfassung bzw. Anerkennung
Kindes- und Jugendalter findet ein hoher Anteil der Lernpro- des informellen Lernens auch in der deutschen Bildungspo-
zesse außerhalb formaler Bildungseinrichtungen statt. Den- litik zentrale Diskussionspunkte dar (vgl. Overwien 2005).
noch wurde dem informellen und non-formalen Lernen auch Ebenso hat der Begriff Einzug in die Bildungsdebatte im Kon-
im Kontext der schulischen Bildung lange Zeit wenig Be- text von Kindheit und Jugend gehalten, wie 7 Abschn. 7.3
achtung geschenkt (Rauschenbach, Düx & Sass 2006). Rau- zeigen wird.
schenbach (2007) nennt als möglichen Grund dafür die Kon-
textgebundenheit von Bildungsdebatten in Deutschland. So
kennen wir zum Beispiel die Bildungsdiskussionen über die
Gestaltung der frühen Förderung im Kontext von Krippen 7.2.2 Definition und Abgrenzung
und Kindergärten. Die Auseinandersetzung mit Bildung im des informellen Lernens
Jugendalter erfolgte als Folge der PISA-Studie eng gebunden
an den schulischen Kontext und das schulische Lernen (ebd.). Obwohl informelles Lernen kein neuer Begriff ist, liegt bis
Dabei wird die Debatte nach Rauschenbach jedoch jeweils heute keine einheitliche, allgemein akzeptierte Definition vor.
isoliert aus der Binnenperspektive der jeweiligen Institution Betrachtet man die Vielfalt an Definitionen für informelles
geführt und damit das Gesamtgefüge von Bildung und ihren Lernen (z. B. Dohmen 2001; Düx & Rauschenbach 2010; Eu-
referenziellen Bezügen außer Acht gelassen. Erst in jüngerer ropäische Kommission 2001; Livingstone 1999; Watkins &
Zeit lässt sich in Deutschland im Kontext der Beschäftigung Marsick 1990), dann fällt auf, dass diese überwiegend auf der
mit Bildungsprozessen des informellen Lernens ein wachsen- Basis von Abgrenzungsversuchen und Gegenüberstellungen
des bildungspolitisches und wissenschaftliches Interesse an beruhen, die helfen sollen, das je Spezifische der herangezo-
7.2  Begriffsentwicklung, definitorische Zugänge und Abgrenzung des informellen Lernens
127 7

. Tabelle 7.1 Internationale Entwicklungsgeschichte des Begriffs „Informelles Lernen“

Zeitraum Internationale Begriffsentwicklung


Beginn 20. John Dewey (1859–1952), ein amerikanischer Philosoph und Pädagoge, führt die Begriffe informelles Lernen (informal learn-
Jahrhundert ing) und informelle Bildung (informal education) im Kontext schulischer Bildung ein. Er grenzt das häufig beiläufig ablaufende,
informelle Lernen vom intentionalen, formalen schulischen Lernen ab und zeigt ihre Gemeinsamkeiten als auch wechselseiti-
gen Beziehungen auf (Dewey 1916). Dabei betont er die Erfahrungsbasiertheit des informellen Lernens und zeigt die zentrale
Bedeutung außerschulischer Erfahrungen in Gesellschaft und Alltag für die Erziehung und formelle Bildung auf (vgl. Over-
wien 2010)

1940er-Jahre In den USA und Großbritannien wird informelles Lernen im Kontext der Erwachsenenbildung und Weiterbildung mit Blick auf
die Bewältigung gesellschaftlicher Veränderungen und die persönliche Entwicklung des Einzelnen diskutiert (Knowles 1951).
Die Beachtung, Unterstützung, Bewertung sowie Anerkennung, Anrechnung und Zertifizierung von informell oder non-formal
erworbenen Kompetenzen steht dabei im Zentrum (vgl. Dohmen 2001; Rohs 2016). Hierbei wird ein stark erweitertes, holisti-
sches Lernverständnis eingeführt, das sowohl eine bewusste, intentionale als auch eine unbewusste, beiläufige kognitive und
gefühlsmäßige Verarbeitung von Informationen umfasst (Dohmen 2001)

1970er-Jahre Die Faure-Kommission der UNESCO betont die besondere Bedeutung des informellen Lernens, welches sie als Erfahrungsler-
nen in allen biografischen Phasen und in jeweils sehr verschiedenen Lebensbereichen definiert. Aufgrund dieser sehr breiten
Definition sind laut der Kommission ca. 70 % allen menschlichen Lernens dem informellen Lernen zuzurechnen. Daher fordert
sie, dieses Lernen in entsprechende Bildungsanstrengungen einzubeziehen und geeignete Rahmenbedingungen für seine
Unterstützung zu schaffen (vgl. Faure et al. 1972)

1980er-Jahre Der Begriff „informelles Lernen“ verbreitet sich im Rahmen der englischsprachigen Diskussion im Arbeitskontext zunehmend
und gilt in der Folge als eingeführter Begriff (Overwien 2006b)

1990er-Jahre Die Delors-Kommission (1996) nimmt die bildungspolitische Perspektive der Faure-Kommission wieder auf und fordert, for-
male und informelle Lernangebote, soweit möglich, durch ein integratives Gesamtsystem zu verbinden und eine Abkehr vom
wissensdominierten Lernen hin zum kompetenzentwickelnden Lernen anzustreben

genen Lernformen aufzuzeigen und damit zum Verständnis Organisationen bzw. Institutionen (z. B. Schule, Universität,
der Spielarten des informellen Lernens beizutragen. Instanzen der Aus- und Weiterbildung). Livingstone zufolge
Auf einer allgemeinen Ebene wird zwischen forma- geschieht informelles Lernen selbstinitiiert, individuell oder
lem, non-formalem und informellem Lernen unterschieden kollektiv, ohne Steuerung durch von außen festgelegte (in-
(vgl. Europäische Kommission 2001; Dohmen 2001 2002; stitutionelle) Lernziele oder durch Lehrpersonen. Stattdessen
12. Kinder- und Jugendbericht BMFSFJ 2005). Dabei wer- setzt sich das Individuum selbst Lernziele (subjektive Zielset-
den zur Abgrenzung neben Aspekten des Lernkontextes bzw. zung) und verfolgt diese, um neue Inhalte, Wissen oder Fä-
-ortes häufig auch Merkmale des Lernprozesses, v. a. die Be- higkeiten zu erwerben (vgl. Hansen 2008; Livingstone 1999).
wusstheit und Zielgerichtetheit des Lernens aus der Perspek- Dabei ist sich das lernende Subjekt seiner Lernaktivität be-
tive des Individuums, miteinbezogen (. Tab. 7.2). wusst und setzt diese planvoll um. Damit schließt Livingstone
Neben diesem Versuch einiger Autoren die drei Lernfor- explizit unbewusste Lernformen aus.
men (formales, non-formales und informelles Lernen) ge- Im Gegensatz dazu beziehen Watkins und Marsick
geneinander abzugrenzen (z. B. BMFSFJ 2005; Dohmen 2002; (1990), die informelles Lernen nicht als routinemäßiges,
Europäische Kommission 2001), sehen sie andere als Be- sondern eher problemgeleitetes und selbstgesteuertes Ler-
standteile eines Kontinuums, dessen idealtypische Endpunk- nen (7 Kap. 4) ansehen, auch einen unbewussten, beiläufigen
te das informelle und formale Lernen darstellen (Overwien bzw. zufälligen Anteil mit ein. Informelles Lernen kommt
2006b; Sommerlad & Stern 1999; Wahler, Tully & Preiß 2004). demnach u. a. auch unintendiert und unbewusst durch die
Gerade das nicht-formale und das informelle Lernen wer- Beschäftigung oder Bewältigung mit bzw. von alltäglichen
den in vielen Definitionen auch synonym oder in ersetzender Arbeits- oder Lebensanforderungen zustande. Es handelt sich
Weise verwendet, was weniger zur Klärung als zur weiteren also um ein Lernen durch Handeln in Ernstsituationen (Düx
Verwirrung des definitorischen Feldes beitragen kann (vgl. & Sass 2006), das als Erfahrungslernen (Dohmen 2001) be-
Overwien 2005). zeichnet wird. Unbewusste, nicht-zielgerichtete Formen des
Betrachtet man nun die Definitionen zum informellen Erfahrungslernens, welche im Verlauf einer Handlung bei-
Lernen eingehender, dann fällt auf, dass sich zentrale Punkte läufig, ohne gezielte Beeinflussung und ohne ein explizit
der Uneinigkeit innerhalb des akademischen Verständnisses verfolgtes Lernziel zu Stande kommen, nennen Marsick und
auf den Einbezug bzw. die Ausgrenzung nicht-zielgerichteter, Watkins (2001) ebenso wie z. B. Dohmen (2001) inzidentel-
beiläufiger, unbeabsichtigter, ungeplanter oder unbewusster les Lernen. Es ist das Nebenprodukt anderer (nicht unbe-
Lernprozesse beziehen (Hansen 2008). dingt auf das Lernen bezogener) Handlungen. Die Ergebnisse
Der kanadische Wissenschaftler Livingstone (1999) cha- des inzidentellen Lernens können dem Lernenden u. U. erst
rakterisiert informelles Lernen als freiwillig und losgelöst nachträglich (oftmals erst nach Jahren) durch Reflexion der
von formalen, auf Bildung und Wissenserwerb ausgerichteten Erfahrungen bewusstwerden (vgl. Hansen 2008). Das häufig
128 Kapitel 7  Informelles Lernen

. Tabelle 7.2 Zusammenfassung zentraler Charakteristika des formalen, non-formalen und informellen Lernens (basierend auf Definitionen
u. a. von BMFSFJ 2005; Dohmen, 2001 2002; Europäische Kommission 2001; Livingstone 1999; Watkins & Marsick, 1990)

Aspekte des Lernkontextes/-umgebung Aspekte des Lernprozesses

Formal – Lernen in Bildungs- oder Ausbildungsinstitutionen (Schule, Aus Sicht der Lernenden
Hochschule, Berufsbildungseinrichtungen) – Obligatorisch
– Pädagogisch angeleitet – Zielgerichtet
– Strukturiert hinsichtlich Lerninhalt, -ziel, -zeit & Methode des – Bewusst
Lernens
– Orientiert an Curriculum
– Anerkannte Zertifizierung
– Auf bestimmte Lebensphasen und Lernorte begrenzt

Non-formal – Nicht in formalen Bildungs- und Berufsbildungseinrichtun- Aus Sicht der Lernenden
bzw. nicht- gen, aber an klar definierten Orten (z. B. VHS, Führungen in – Freiwillig
formal Museen) – Zielgerichtet
– Nur in Teilen formulierter Bildungsauftrag – Bewusst
7 – Strukturiert hinsichtlich Lerninhalt, -ziel, -zeit & Methode des
Lernens i. d. R. keine Zertifizierung
– Teilweise individuell

Informell – Lernen im Alltag in nicht-inszenierten Settings, z. B. am Ar- Aus Sicht der Lernenden
beitsplatz, Freundeskreis oder Freizeit – Kann, muss aber nicht zielgerichtet sein
– Ohne Anleitung – Teilweise beiläufig
– Kein von außen festgesetztes Lernziel/Bildungsauftrag – Prinzipiell der Reflexion zugänglich
– Nicht strukturiert hinsichtlich Lerninhalt, -ziel, -zeit & Metho- ! 2 Unterformen des informellen Lernens:
de des Lernens 1. Selbstgesteuert
– Keine Zertifizierung – Selbstinitiiert
– Lebenslang und überall – Planvoll/geplant
– Zielgerichtet
– Bewusst
2. Inzidentell
– Selbstinitiiert
– Nicht zielgerichtet
– Beiläufig, zufällig
– Unbewusst bzgl. Lernprozess aber bewusst bzgl. Lernergeb-
nis

zeitlich stark verzögerte Bewusstwerden der Lernergebnisse Bewusstsein bzw. der Reflexion nicht zugänglich sind. Die
stellt laut Overwien (2001) ein zentrales Kennzeichen insbe- grundsätzliche Bewusstseinsfähigkeit und Reflexivität stellt
sondere dieser Spielart des informellen Lernens dar, das deren allerdings ein zentrales Merkmal informellen Lernens dar
empirische Beschreibbarkeit und Messbarkeit erschwert (s. (Overwien 2001), womit das implizite Lernen als Unterform
7 Abschn. 7.5). des informellen Lernens auszuschließen ist. Informelles Ler-
Ebenso wie Watkins und Marsick sieht Dohmen (2001, nen reicht also in den meisten Definitionen von bewusst
S. 25–26) informelles Lernen als alles (bewusst oder un- gestalteten Lernprozessen bis hin zum inzidentellen Lernen
bewusst) praktizierte Selbstlernen, das sich in unmittelba- im Rahmen von Handlungen in realen Kontexten (Düx &
ren Lebens- und Erfahrungszusammenhängen außerhalb des Rauschenbach 2010).
formalen Bildungswesens entwickelt und nicht in spezifi- Weitere Abgrenzungsmerkmale, die in verschiedenen De-
schen Lehrveranstaltungen und Bildungsinstitutionen ange- finitionen herangezogen werden, beziehen sich auf die Lern-
leitet, organisiert, betreut und kontrolliert wird. Es wird viel- zeit und den Kontext des Lernens (Hansen 2008). Während
mehr von den Lernenden in direktem Bezug auf unmittelbare das formale Lernen auf bestimmte Lebensphasen (Kindheit,
Problem- und Anforderungssituationen bzw. auf eigene Inte- Jugend und frühes Erwachsenenalter) konzentriert und auf
ressen und Präferenzen für bestimmte Themen und Inhalte bestimmte Lernorte (Schule, Universität, Berufsausbildungs-
praktiziert, aus denen heraus auch die notwendige Motivation einrichtungen) begrenzt ist, kann das informelle Lernen ein
für das informelle Lernen entsteht. Dohmen (2001) schließt Leben lang und überall stattfinden (ebd.). Diesbezüglich be-
hierbei auch ausdrücklich inzidentelles (unbewusstes, nicht- tont Schugurensky (2000), dass informelles Lernen zwar au-
zielgerichtetes, beiläufiges) Lernen mit ein. ßerhalb der Curricula von Bildungsinstitutionen stattfindet,
Vom inzidentellen Lernen als Teil des informellen Ler- aber nicht außerhalb dieser Institutionen selbst stattfinden
nens abzugrenzen ist das implizite Lernen, das ebenfalls ein muss und damit nicht der Bildungsort alleine als Abgren-
unbewusstes, unintendiertes Lernen darstellt, sich allerdings zungsmerkmal informellen Lernens herangezogen werden
dahingehend vom inzidentellen Lernen unterscheidet, dass kann. Mit dieser Unterscheidung verweist er ebenso wie an-
sowohl der Lernprozess als auch das Lernergebnis bzw. das dere darauf, dass auch in der Schule informell gelernt werden
erlernte Wissen (sog. „tacit knowledge“; Polanyi 1967) dem kann (vgl. auch Düx & Rauschenbach 2010).
7.3  Kontexte informellen Lernens im Kindes- und Jugendalter
129 7
Deshalb schlagen Düx und Rauschenbach (2010) für eine (BMFSFJ 2005). Dies geschieht im Folgenden exemplarisch
differenzierte Betrachtung des informellen Lernens in un- anhand zentraler Kontexte informellen Lernens im Kindes-
terschiedlichen Kontexten vor, sowohl den Bildungsort bzw. und Jugendalter.
Merkmalen der Lernumgebung (wo) als auch die Bildungs-
inhalte (was) und die Bildungsmodalität bzw. Aspekte des
Lernprozesses (wie) zu berücksichtigen. Nachfolgend werden 7.3 Kontexte informellen Lernens im Kindes-
diese drei Dimensionen genauer erörtert. und Jugendalter
4 Bildungsort
Bildungsort bzw. Merkmale der Lernumgebung (wo wird
Prozesse informeller Bildung finden an vielen Orten und im
gelernt?) umfasst all jene vielfältigen Lern- und Bildungs-
Rahmen verschiedener Lernwelten statt. Neben der Schule,
orte, in denen zwar unzweifelhaft gelernt wird, die jedoch
in der auch informelles Lernen stattfinden kann, wie z. B.
in der Beschreibung der Gesamtheit des Bildungssys-
in den Pausen, auf Klassenfahrten oder innerhalb von An-
tems häufig nicht explizit berücksichtigt werden (wie z. B.
geboten im Ganztagsbereich, werden im Folgenden wesent-
die Kinder- und Jugendarbeit). Zur Unterscheidung non-
liche informelle Lernumgebungen und Lernorte von Kin-
formaler und informeller Bildungsorte können hierbei
dern und Jugendlichen in den Blick genommen. Kontexte
der Grad der Standardisierung und das Vorhandensein ei-
wie die (1) Familie, die (2) Gleichaltrigengruppe (Peers), (3)
nes expliziten Bildungsauftrags herangezogen werden.
Medien- und (4) institutionelle Freizeitangebote verdienen
4 Bildungsinhalte
dabei besondere Beachtung, da sie für alle Heranwachsenden
Bildungsinhalte informellen Lernens (was wird gelernt?)
Gelegenheitsstrukturen darstellen, die die Ausbildung un-
sind sehr weit gefächert und beziehen sich häufig auf
terschiedlicher Erfahrungen, Kenntnisse und Kompetenzen
Themen, die nicht oder nur am Rande in Lehrplänen ent-
in je spezifischer Weise fördern können (Düx & Rauschen-
halten, aber für das Kompetenzprofil Erwachsener von
bach 2016).
grundlegender Bedeutung sind. Neben dem kognitiven
Im Folgenden konzentrieren wir uns daher auf die vier
Kompetenzerwerb handelt es sich dabei häufig auch um
genannten Kontexte, die es ermöglichen die vielfältigen Er-
personale oder soziale Kompetenzen, wie z. B. Verantwor-
scheinungsformen von informellem Lernen aufzuzeigen. Für
tungsbewusstsein, Selbständigkeit oder auch Kooperati-
den institutionellen, informellen Freizeitbereich werden wir
onsfähigkeit.
exemplarisch auf Museen eingehen. Die Kontexte werden aus
4 Bildungsmodalität
einer analytischen Perspektive getrennt betrachtet, obwohl
Bildungsmodalität bzw. Aspekte des Lernprozesses (wie
sie im realen Leben eng miteinander verwoben sind. An-
wird gelernt?) sind sehr weit gefächert, denn es liegen
hand dieser Kontexte können bisher vorliegende Befunde in
vielfältige Wege der Kompetenzaneignung vor, die nicht
diesem noch jungen Forschungsfeld zur Bedeutung des infor-
im Rahmen herkömmlicher extern strukturierter Lehr-
mellen Lernens und seiner unterschiedlichen Ausprägungen
Lernprozesse stattfinden. Informelles Lernen erfolgt ex-
als Voraussetzung, Ergänzung und Fortsetzung formalen und
plizit oder implizit, intendiert oder nicht intendiert, ge-
non-formalen Lernens aufgezeigt werden. Generell ist je-
plant oder zufällig, direkt oder indirekt, von außen an-
doch anzumerken, dass sich die Forschung zum informellen
geregt oder intrinsisch motiviert, bewusst gestaltet oder
Lernen noch in einem frühen Stadium befindet und dif-
in den Handlungsvollzug unter Realbedingungen alltägli-
ferenziertere Analysen noch ausstehen. Bei der Darstellung
cher Anforderungs- oder Problemsituationen (learning by
greifen wir die Anregung von Düx und Rauschenbach (2010)
doing) integriert (vgl. Düx & Rauschenbach 2010).
auf und charakterisieren für jeden Bereich den Bildungsort,
die -inhalte und die -modalität (7 Abschn. 7.2.2 mit Defini-
Wie dieser definitorische Überblick aufgezeigt hat, kann
tionen).
informelles Lernen als lebenslanger Prozess betrachtet wer-
den, der durch tägliche Erfahrungen und Lernanregungen
des je persönlichen Umfeldes dazu beiträgt, Wissen, Fähig-
keiten und Haltungen und damit Kompetenzen zu erwerben 7.3.1 Informelles Lernen in der Familie
bzw. zu akkumulieren (Coombs & Ahmed 1974, S. 8). Auch
wenn Lern- und Bildungsprozesse über die gesamte Lebens- Die Familie ist bis weit in die Schulzeit einer der wichtigs-
zeit, verwoben in allen Lebenszusammenhängen, stattfinden, ten (informellen) Bildungsorte junger Menschen und nimmt
wird doch bis heute das Kindes- und Jugendalter als biogra- damit im Kontext von Bildung und Lernen eine zentrale, je-
fisch besonders wichtige Lern- und Bildungszeit verstanden. doch häufig unterschätzte Stellung ein (Düx & Rauschenbach
Denn Bildung stellt einen zentralen Entwicklungsaspekt im 2016). Aufgrund ihres Potentials hinsichtlich teilweise be-
Prozess des Aufwachsens dar und ist somit wichtiger Be- reits empirisch belegter Einflüsse auf Entwicklungs-, Lern-
standteil des Kindes- und Jugendalters (Düx & Rauschenbach und Bildungsprozesse wird der Familie ein bedeutender Ein-
2016; Smolka & Rupp 2007). Um die Bildung von Kindern fluss auf die Bildungsbiografie und den Bildungserfolg von
und Jugendlichen in ihrer Gesamtheit angemessen begreifen Kindern und Jugendlichen zugeschrieben (ebd.). Dieser be-
zu können, muss das Zusammenspiel unterschiedlicher Bil- sondere Stellenwert ergibt sich aus ihrer alltäglichen Präsenz,
dungsorte und Lernwelten in den Blick genommen werden ihrer lebenslangen Bedeutung sowie ihrer kanalisierenden
130 Kapitel 7  Informelles Lernen

Funktion im Hinblick auf die Eröffnung bzw. Verschließung (spätere) Lern- und Bildungsprozesse im Rahmen schuli-
von Zugängen zu anderen Erfahrungswelten und Bildungs- scher, akademischer und beruflicher Bildung geschaffen
räumen („Gatekeeper-Funktion“, vgl. Betz 2006; Grunert werden, was wiederum einen entscheidenden Einfluss auf
2005 2006). den Bildungserfolg haben kann (vgl. Minsel 2007). Nach
Büchner und Krah (2006) wäre ohne den grundlegenden
Die Familie ist durch verwandtschaftliche, soziale und/oder
Beitrag und ohne die vorbereitende und begleitende Unter-
juristisch definierte Beziehungen innerhalb und zwischen
stützung durch die Familie der formale Bildungserfolg kaum
Generationen gekennzeichnet, welche sich sowohl durch
möglich.
Zusammengehörigkeit, Zusammenleben und Kooperation
Charakteristisch für informelle Bildungsprozesse in der
auszeichnen als auch auf intimer, emotionaler sowie auf
Familie sind deren geringe Strukturierung, Planung als auch
Nähe und Liebe gründender Basis aufbauen (Helsper &
Vorbereitung, d. h. Lernen in der Familie ist erfahrungs-
Hummerich 2008; Minsel 2007). Dabei besteht eine Familie
basiert, lebensweltnah und situativ (Düx & Rauschenbach
aus mindestens zwei Personen, die aufeinander bezogen
2016). Es findet überwiegend in der Auseinandersetzung mit
sind und unterschiedlichen Generationen angehören, z. B.
dem familiären Alltag und dessen Bewältigung statt, durch
einer Mutter und einem Kind (Alleinerziehenden-Familie)
Gespräche und Interaktion der Familienmitglieder, aber auch
7 (vgl. Minsel 2007).
anhand des Modelllernens durch Beobachtung. Die Mitglie-
der einer Familie können gegenseitig voneinander lernen.
D. h. Kinder lernen nicht nur von Geschwistern und Eltern
Ungeachtet der je spezifischen Familienstrukturen (z. B. bzw. den älteren Generationen, sondern auch umgekehrt: So
Kernfamilien, Patchwork-Familien, Drei-Generationen- sind Eltern z. B. durch ihre Kinder immer wieder heraus-
Familien, Stieffamilien) können und müssen in der Familie gefordert lernend auf deren Entwicklung einzugehen (vgl.
informell eine Vielzahl an Kompetenzen erworben werden. Overwien 2010). Darüber hinaus hat das familiäre System
Neben Alltags- und Daseinskompetenzen, wie lebens- einen zentralen Einfluss auf die Bildungs- und Entwicklungs-
praktischen Kenntnissen und Fähigkeiten (z. B. alltägliche chancen sowie den Bildungszugang im Kindes- und Erwach-
Lebensführung, Haushaltsführung, Wissen über Gesundheit senenalter (Minsel 2007). Die Qualität und das Ausmaß der
sowie Umgang mit Geld, Strategien zur Informationsbeschaf- informell erworbenen sozialen, kulturellen und kognitiven
fung und die Fähigkeit, diese Informationen differenziert Kompetenzen und Fähigkeiten stellen dabei entscheidende
zu bewerten (information literacy) sowie Mediennutzung, Voraussetzungen für die erfolgreiche soziale und kulturel-
vgl. Smolka & Rupp 2007), werden auch grundlegende Fä- le Teilhabe der Kinder am Gesellschaftsleben als auch für
higkeiten und Bereitschaften für (schulische) Lern- und deren (schulischen) Bildungserfolg dar (vgl. Büchner & Bra-
lebenslange Bildungsprozesse der Kinder und Jugendlichen ke 2007; Deutsches PISA-Konsortium 2001). Dabei hängen
vermittelt und unterstützt (BMFSFJ 2002). In der Familie die Chancen der Heranwachsenden für entwicklungsförderli-
entwickeln Kinder im Zuge informeller Lern- und Aneig- che und bildungsrelevante Aneignungsprozesse stark von der
nungsprozesse ihre Sprache und eignen sich Wissen bzw. sozio-emotionalen Qualität ihrer familiären Beziehungen so-
grundlegende personale, soziale, emotionale und kognitive wie den ökonomischen, sozialen und kulturellen Ressourcen
Fähigkeiten und Kompetenzen für den Umgang mit dem sowie den Interessen der Familie ab (Düx & Rauschenbach
Selbst sowie der kulturellen, sozialen und materiellen Welt 2016). So ist es nicht überraschend, dass sich die wenigen
an (z. B. Selbstwahrnehmung, Identitätsentwicklung, intra- Studien zu informellen Lernprozessen innerhalb der Familie
und interkulturelle Kompetenz, Empathie). Weiterhin bilden vorzugsweise mit der Frage nach der Reproduktion sozia-
sie ihren persönlichen Habitus (grundlegende Einstellungen, ler Ungleichheit befassen (z. B. Betz 2006; Büchner & Wahl
Haltungen, Handlungsweisen, Fähigkeiten, Interessen und 2005; Stecher 2005). Die bisher vorliegenden Befunde legen
Denkmuster) aus, der ihr Verhalten, ihre späteren Denk- nahe, dass die erfolgreiche Gestaltung der Bildungsbiogra-
muster, Kommunikations- und Verhaltensformen, Werte, fie von Heranwachsenden sowohl von der Lernausgangsla-
Handlungs- und Deutungsmuster maßgeblich prägt (vgl. ge zu Beginn des Lebenslaufs und der schulischen Karriere
Bourdieu 1982; Düx & Rauschenbach 2016). Auch wenn sich als auch von der Übereinstimmung zwischen dem famili-
Kinder und Jugendliche im biografischen Verlauf weitere är vermittelten Habitus und den expliziten und impliziten
Lern- und Bildungsorte erschließen (z. B. die Gleichaltri- schulischen Normen und Gegebenheiten abhängt (vgl. Büch-
gengruppe oder die Medien), deuten erste Befunde darauf ner & Krah 2006). Ausschlaggebend ist hierbei v. a. inwieweit
hin, dass der in der Familie erworbene Habitus den Rahmen der erworbene Habitus die Heranwachsenden dazu befä-
für die Auseinandersetzung mit den andernorts angebote- higt, den in der Schule stattfindenden Bildungs- und Unter-
nen Orientierungsmustern bildet, indem dieser Habitus ihre richtsprozessen entsprechen zu können (Helsper & Humm-
Sichtweise und Wahrnehmung von Optionen und Hand- rich 2008). In dieser Gedankenkette wird auch häufig auf die
lungsperspektiven im Zusammenhang mit der Bewältigung zunehmend empirisch erforschte allgemeine und differenti-
von Lebensaufgaben beeinflusst (vgl. Düx & Rauschenbach elle Gatekeeper-Funktion der Familie hingewiesen (vgl. Betz
2016). Damit können in der Familie die Grundvorausset- 2006). Mit der allgemeinen Gatekeeper-Funktion (Grunert
zungen für den Zugang zur sozialen und kulturellen Umwelt 2005) ist gemeint, dass die Familie als Bildungsort für alle Fa-
sowie die grundlegenden Strukturen und Motivationen für milienmitglieder, aber insbesondere für die Kinder, Zugänge
7.3  Kontexte informellen Lernens im Kindes- und Jugendalter
131 7
zu anderen schulischen oder außerschulischen Bildungs- und stattung den Heranwachsenden eher schulferne Lernwelten
Erfahrungswelten eröffnen oder begrenzen kann. Die diffe- (wie z. B. Spielen auf dem Spielplatz, Fernsehen oder einfach
rentielle Gatekeeper-Funktion bedeutet, dass in Abhängigkeit nur „abhängen“) zugänglich gemacht, welche weniger An-
der Herkunftsfamilie und deren ökonomischer, sozialer und knüpfungspunkte in Bezug auf schulische Anforderungen bie-
kultureller Ressourcen sowie deren schulbezogener Einstel- ten, wodurch es häufig zur Ausbildung von schuldistanzierten
lungen und Praktiken Kindern ungleiche Zugänge zur Schule und schulfernen Haltungen bei den Kindern und Jugendlichen
wie auch zu außerschulischen Erfahrungswelten ermöglicht kommt, die sich ihrerseits negativ auf den schulischen Erfolg
werden (vgl. Betz 2006). auswirken (vgl. Betz 2006; Helsper & Hummrich 2008).

Studie: Allgemeine und differentielle Gatekeeper-Funk- Aus diesem Grund sehen auch Helsper und Hummrich
tion der Familie (2008) die Schule vor der Herausforderung die Bildungsleis-
Betz (2006) beschäftigt sich mit der „Gatekeeper-Funktion“ der tungen unterschiedlichster Bildungsorte zu bündeln, mitein-
Familie und deren Bedeutung für Bildungsprozesse in unter- ander zu verknüpfen und aufeinander zu beziehen, sodass
schiedlichen Kontexten. Die Analyse basiert auf empirischen eine umfassende Kompetenzentwicklung der Heranwachsen-
Daten der ersten und zweiten Welle des Kinderpanels des den ermöglicht wird und etwaige Benachteiligungen wegen
Deutschen Jugendinstituts (DJI), einer repräsentativen Längs- ihrer sozialen Herkunft ausgeglichen werden können.
schnittstudie zu den Lebensverhältnissen und Sozialisations- Ein erster wichtiger Schritt, um der im vorliegenden Ab-
bedingungen von Kindern in Deutschland. Es wird der Fra- schnitt dargelegten zentralen, allgemeinen und differentiel-
ge nachgegangen, inwieweit Familien eine allgemeine (Wel- len Bildungsbedeutsamkeit der Familie Rechnung zu tragen,
che außerschulischen Aktivitäten und schulbezogenen Einstel- zeigt sich in der zunehmenden bildungspolitischen und wis-
lungen charakterisieren die Bedingungen des Aufwachsens senschaftlichen Anerkennung der Familie als grundlegende
der Kinder?) als auch eine differentielle (Gibt es milieuspezi- und begleitende Bildungsinstitution von Kindern und Ju-
fische, herkunftstypische Differenzen in den Aktivitäten der gendlichen; sie trägt zur Bildung zentraler sozialer, kultureller
Kinder oder in den Einschätzungen von Schule und Lernen?) und kognitiver (Basis-)Kompetenzen und Fähigkeiten bei
Gatekeeper-Funktion erfüllen. Insgesamt wurden hierzu 714 und kann einen Einfluss auf die schulische und außerschu-
Kinder im Grundschulalter und ihre Eltern zu zwei Messzeit- lische Bildungsbiografie, schulische Lern- und lebenslange
punkten im Abstand von ca. 1,5 Jahren (Herbst 2002; Frühjahr Bildungsprozesse und den Bildungserfolg haben.
2004) mithilfe eines Fragebogens zu familiären, freizeitbezo-
genen und schulischen Aspekten des Aufwachsens schriftlich
befragt.
Die Auswertung der quantitativen Daten zeigen eine dif-
7.3.2 Informelles Lernen in der
ferentielle Verschränkung von familiären und schulischen Bil- Gleichaltrigengruppe (Peers)
dungsorten. Das heißt, es lassen sich herkunfts- bzw. milieu-
spezifische Unterschiede im außerschulischen Alltag und in Die Gleichaltrigengruppe bzw. Peergroup ist heute neben der
den Haltungen zu Schule und Lernen feststellen. Diese Unter- Familie die wichtigste Bezugsgruppe für Kinder und Jugend-
schiede können sich wiederum auf die Ausgestaltung der Teil- liche. Ersten Befunden zufolge nimmt mit zunehmendem
habe an außerschulischen Bildungs- und Lerngelegenheiten Alter der Heranwachsenden, v. a. aber mit dem Übergang
sowie die schulischen Bildungschancen und den Bildungser- in das Jugendalter, ihre Bedeutung für Bildungsverläufe und
folg auswirken. Damit ergeben sich eingeschränkte oder erwei- -prozesse und dem damit verbundenen Kompetenzerwerb
terte und im Zeitverlauf zu- oder abnehmende Teilhabe- und gegenüber der Schule und Familie zu (Düx & Rauschenbach
Erfolgschancen unterschiedlicher Kindergruppen (Betz 2006). 2016; Harring, Böhm-Kasper, Rohlfs & Palentien 2010). Ju-
So versuchen Eltern mit größeren ökonomischen, sozialen und gend gilt dabei als Zeit der Persönlichkeitsentwicklung, der
kulturellen Ressourcen ihren Kindern gezielt außerschulisch als Identitätsfindung, des Austestens der eigenen Möglichkeiten
auch schulisch verwertbare Bildungsangebote, d. h. Angebote, und Fähigkeiten, der Orientierung sowie der Ablösung von
die den schulischen Anforderungen besser entsprechen und der Herkunftsfamilie, der Hinwendung zu Peers und der zu-
v. a. auf den erfolgreichen schulischen Werdegang der Heran- nehmenden Verselbstständigung (BMFSFJ 2013).
wachsenden ausgerichtet sind, zugänglich zu machen, wie z. B.
Chor- oder Musikschulbesuch, Besuch außerschulischer Un-
terrichtsstunden, Ausflüge und Theaterbesuche. Die dadurch Der Begriff Peers oder Peergroup wird oftmals mit Gleich-
ermöglichten schulbildungsnäheren Erfahrungen der Kinder altrigengruppe übersetzt und ist durch eine über einen
und Jugendlichen sowie die häufig damit verbundenen schul- längeren Zeitraum stattfindende (alltägliche) direkte
nahen Einstellungen und Praktiken der Eltern (z. B. Interesse Interaktion und das Bilden eines sozialen Beziehungsge-
am Schulalltag und den Noten, Ermöglichung von Nachhilfe- füges gekennzeichnet. Unter dem Begriff Peers werden
unterricht) ermöglichen ein besseres Passungsverhältnis zwi- unterschiedliche soziale Konstellationen, wie Beziehun-
schen den Bildungsorten Schule und Familie und führen somit gen, Freundschaften und Cliquen gefasst, die sich in ihrer
häufiger zu erhöhten schulischen Erfolgschancen. Im Gegen- Nähe und Verbindlichkeit deutlich unterscheiden können
satz dazu werden in Familien mit geringerer Ressourcenaus- (enge Freundschaften, Mitschüler, Bekannte aus dem
132 Kapitel 7  Informelles Lernen

Sportverein). Peerbeziehungen sind durch Gleichaltrig- von Verhaltensweisen und Lebensstilen bietet der Freundes-
keit und ausgewogene Machtverhältnisse, d. h. durch kreis ein ideales Experimentierfeld, da er sowohl Erfahrungen
Gleichrangigkeit, gekennzeichnet (vgl. Brake & Büchner der Gemeinsamkeit als auch der Differenz ermöglicht (vgl.
2013). Baier, Rabold & Pfeiffer 2010) und meist von den Regeln
und Vorschriften der Erwachsenengesellschaft weitgehend
abgetrennt agiert (Harring 2007). Es ist anzunehmen, dass
Die Austauschprozesse unter Peers sind in der Regel In- Freunde in diesem Zusammenhang sowohl gleichgesinnte
teraktionen auf Augenhöhe, da sich Peers nicht prinzipiell und vertrauensvolle Gesprächspartner als auch Förderer, Un-
und dauerhaft hinsichtlich ihres Wissens oder Könnens so- terstützer und Ratgeber sind, die Heranwachsenden unter-
wie ihres sozialen Status und ihrer gelebten Normen und schiedliche Optionen und Problemlösungen aufzeigen, sie in
Werte unterscheiden. Das bedeutet allerdings nicht, dass in der teils verwirrenden Phase der Selbstfindung immer wieder
konkreten Gleichaltrigengruppen keine Unterschiede hin- in ihrer Einzigartigkeit bestärken und Verständnis entgegen-
sichtlich der Beliebtheit oder Akzeptanz von Kindern und bringen. Insbesondere in „Notlagen“ (z. B. Hilfe bei Hausauf-
Jugendlichen bestehen können (vgl. Brake & Büchner 2013). gaben oder Leihen von Geld) treten die Peers für einander ein
Die peerbezogenen Beziehungsstrukturen und Interaktions- und unterstützen sich gegenseitig. Hierdurch können die zen-
7 möglichkeiten während der gemeinsamen Freizeitaktivitäten tralen Bedürfnisse Heranwachsender nach Akzeptanz und
bieten den Heranwachsenden einerseits ein wichtiges Er- Integration befriedigt werden (Harring 2007), was wiederum
fahrungsfeld im Übergang von der Herkunftsfamilie in ein aus entwicklungspsychologischer Sicht positive Auswirkun-
eigenständiges Netz sozialer Beziehungen (Schröder 2006); gen auf die intellektuelle, personale und soziale Entwicklung
andererseits ermöglichen sie wichtige Bildungsgelegenheiten der Kinder und Jugendlichen haben dürfte. In extremen Fäl-
und -prozesse, die sowohl für formales und non-formales als len dürfte die Gleichaltrigengruppe sogar eine kompensato-
auch informelles Lernen von zentraler Bedeutung sind (vgl. rische Funktion übernehmen, indem Heranwachsende mit
Harring 2007). defizitären familiären Beziehungs- und Unterstützungsstruk-
Die Peergroup bietet vielfältige informelle Lernmöglich- turen durch die Peers emotional und intellektuell aufgefangen
keiten, wodurch sie eine wichtige Rolle im Rahmen intel- werden und ihnen der nötige Rückhalt und Bestätigung gege-
lektueller und sozialer Bildungs- und Orientierungsprozesse ben wird.
einnimmt (Düx & Rauschenbach 2016). In der Gruppe er-
geben sich Möglichkeiten, freiwillig, nebenher, implizit und
ungeplant Informationen, Erfahrungen und Wissen zu er-
werben, auszutauschen und zu vertiefen. Dabei wird sowohl Mythos: Abdankung der Eltern – Ende des elterlichen
mit als auch von den Gleichaltrigen gelernt („soziales Lernen“ Einflusses in der Jugendphase
bzw. „Modell-Lernen“, z. B. Bandura 1976). Diese Lernpro- Ist man bisher vielfach davon ausgegangen, dass mit
zesse können zur Entwicklung persönlicher Interessen und zunehmenden Alter der Heranwachsenden der Einfluss
Sichtweisen, personaler, sozialer und kognitiver Kompeten- der Familie sinkt bzw. ganz endet und der der Peergroup
zen, Orientierungen, Normen, Werte und Verhaltensweisen steigt, was oftmals vor allem im Zusammenhang mit pro-
sowie Zielsetzungen beitragen (Düx & Rauschenbach 2016; blematischen bzw. delinquenten Verhalten von Kindern
Harring 2007). Insbesondere bezüglich des Erwerbs von und Jugendlichen (vgl. Baier, Rabold & Pfeiffer 2010) betont
Kompetenzen und Wissen zu den sich schnell entwickelnden wurde, ist man sich heute bewusst, dass diese vereinfachte
Informations- und Kommunikationstechnologien (Medien- Sicht zu kurz greift. So konnte in verschiedenen Studien
kompetenz, s. 7 Abschn. 7.3.3) können die Peers einen zentra- (z. B. Gardner 1998; Reinders 2006) gezeigt werden, dass
len Lern- und Erfahrungskontext darstellen. Ferner können der Einfluss der Eltern bzw. der Peers je nach untersuchtem
in der Auseinandersetzung und Konfrontation mit anderen Bereich bzw. Thema variiert. Den Eltern kommt v. a. im
Kindern und Jugendlichen Kompetenzen der Konfliktbewäl- Zusammenhang mit den Themen Bildung und Ausbil-
tigung, Aushandlung und Kooperation sowie Fähigkeiten dung, Disziplin und Verantwortung sowie Umgang mit
der sozialen Teilhabe und Selbstbehauptungsstrategien ent- Autoritätspersonen eine zentrale Orientierungsfunktion
wickelt werden, welche als zentrale Voraussetzung für das zu. Während Peers gerade im Zusammenhang mit Iden-
spätere Leben als auch Arbeiten in der Gesellschaft gese- titätsfindungsfragen, peerbezogenen Problemen und
hen werden (Düx & Rauschenbach 2016). Weiterhin bietet Interaktionen als auch Gewinnen sozialer Anerkennung
die Peergroup den Jugendlichen einen geschützten Raum, eine wichtigere Rolle als die Eltern spielen. Noack (2002)
in dem sie sich mit altersgemäßen Entwicklungsaufgaben, fasst die Funktion von Peers als gegenwartsbezogen und
wie z. B. dem Umgang mit dem eigenen Körper, der Ent- die von Eltern als zukunftsbezogen zusammen. Weiterhin
wicklung einer eigenständigen Identität, der Identifikation gestalten Kinder und Jugendliche auch ihre Peerbezie-
mit einer bestimmten Geschlechtsrolle, Aufbau gleich- und hungen nicht völlig unabhängig von den Einflüssen ihrer
gegengeschlechtlicher Beziehungen, Ablösung vom Eltern- Herkunftsfamilie (Brake & Büchner 2013). So orientieren
haus, Verselbständigungsbestrebungen und beruflichen Ori- sich Heranwachsende bei der Wahl ihrer Peers sehr stark
entierungen auseinandersetzen können (Rauschenbach et al. an den Erwartungen und Lebensstilen der Eltern (Reinders
2004). Gerade für die Identitätsfindung und das Austesten
7.3  Kontexte informellen Lernens im Kindes- und Jugendalter
133 7
tersuchung des Medienpädagogischen Forschungsverbunds
2006) und auch die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung Südwest zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger in Deutsch-
hat einen Einfluss darauf, z. B. hat sich gezeigt, dass eine land (MPFS 2014), hat u. a. ergeben, dass die untersuchten
gute Eltern-Kind-Bindung den Anschluss an delinquente Jugendlichen nach eigenen Angaben an einem durchschnitt-
und sich abweichend verhaltende Peers verhindern kann lichen Wochentag ca. 100 Minuten fernsehen (12–13-Jährige:
(Knoester, Haynie & Stephens 2006). Aus entwicklungs- 95 Minuten; 18–19-Jährige: 109 Minuten). Zum weit über-
psychologischer Perspektive lässt sich das Verhältnis von wiegenden Anteil werden in dieser Zeit Unterhaltungssen-
Elternhaus und Peers als komplementär beschreiben. dungen (u. a. Sitcoms, Scripted Reality, Zeichentrick) und nur
Beide Personengruppen haben wichtige sozialisatorische zu einem gering Maß Wissensmagazine, Nachrichten oder
Funktionen für die personale und soziale Entwicklung Sportsendungen konsumiert. Die tägliche Internet-Nutzung
der Heranwachsenden und können sich wechselseitig steigt von 64 % bei 12- bis 13-Jährigen auf 90 % der 18- bis
ergänzen und stützen. Die Familie bietet wichtige Ori- 19-Jährigen. Nach eigener Einschätzung sind die 12- bis 13-
entierungen in Form familiär tradierter Normen und Jährigen täglich durchschnittlich 128 Minuten online, die
Werte sowie emotionaler Beziehungsqualitäten, die für 18- bis 19-Jährigen 208 Minuten. Dabei beziehen sich die
die Handlungs- und Beziehungsmuster in der Peergroup Onlineaktivitäten aus Nutzersicht zu 44 % auf Kommunika-
von zentraler Bedeutung sind. Dahingegen bietet die tion, 25 % auf Unterhaltung, 18 % auf Spiele und 13 % auf
Peergroup einen Lern- und Erfahrungsraum, der eine Informationssuche. Inwieweit mit dieser Mediennutzung in-
Vertiefung, Erweiterung oder auch Kompensation der im formelle Lernprozesse einhergehen und welche dies ggf. sind,
Kontext familiärer Interaktions- und Austauschprozesse ist noch weitgehend unbeforscht. Deutlich wird jedoch, dass
erworbenen oder nicht erworbenen Kompetenzen und die Mediennutzung in der Freizeit und damit eng verbun-
Erfahrungen ermöglicht (vgl. Deppe 2013). Peers als Ein- den mit anderen informellen Kontexten wie der Familie und
flussgröße (positiv als auch negativ) gewinnen v. a. dann den Peers stattfindet. Betrachtet man also die angesproche-
an Bedeutung, wenn die Heranwachsenden die Beziehung nen Medien aus der Perspektive des Bildungsortes, wird wie
zu ihren Eltern als wenig unterstützend wahrnehmen bei keinem anderen der hier behandelten Bereiche des in-
(Wehner 2009). formellen Lernens deutlich, dass die Charakterisierung des
informellen Lernens über den Lernort nicht aussagekräftig
ist. Informelles Lernen mit neuen (meist digitalen) Medien
findet in zahlreichen Kontexten und Lernwelten wie Familie
Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Peergroup als
und Peers, aber auch in der Schule statt (7 Kap. 19).
informelle Bildungsinstanz eine zentrale Rolle bei der so-
Die Forschung zur Nutzung digitaler Medien drehte sich
zialen und kognitiven Entwicklung sowie insbesondere bei
in den vergangenen Jahrzehnten unter anderem unter den
der Identitätsfindung von Kindern und Jugendlichen spie-
Schlagworten „Wissenskluft“ und „digital divide“ („digita-
len kann, die für die aktuelle und zukünftige Lebensführung
le Spaltung“) um unterschiedliche Zugangsmöglichkeiten zu
von Bedeutung ist. Diese potenziell positive Wirkung muss
Informations- und Kommunikationstechnologien, insbeson-
allerdings auch immer im Kontext anderer Bildungsorte Her-
dere zum Internet. Diese international geführte Diskussion ist
anwachsender gesehen werden; v. a. die Familie, aber auch die
bedeutsam, weil die Zugangsmöglichkeiten mit sozialen und
Schule sind hierbei zentral. So gehen die in der Phase des
ökonomischen Faktoren und der Förderung von Bildungs-
Aufwachsens erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten letzt-
ungleichheiten in Verbindung gebracht werden (vgl. Zillien
endlich aus der Schnittmenge der im Kontext der Lebens-
& Haufs-Brusberg 2014). Zunehmend geht es jedoch nicht
und Bildungsorte Peers, Familie und Schule erfolgten Bil-
mehr nur um die Ungleichheit beim Zugang – denn dieser ist,
dungsprozesse hervor (vgl. Harring 2007). Sie können in der
wie die Nutzungsstudien (u. a. JIM, BITKOM etc.) nahelegen,
Bildungsbiografie der Heranwachsenden zum Erwerb unter-
zumindest für Kinder und Jugendliche in Deutschland weit-
schiedlicher Kompetenzen sowie zur Vertiefung und Aus-
gehend nicht mehr gegeben – sondern vielmehr um „digital
differenzierung der in anderen Bildungsorten erworbenen
inequality“, also digitale Ungleichheit innerhalb der Nutzer-
Kompetenzen beitragen.
gruppe. Damit geht es um spezifische Ungleichheiten, die
sich u. a. auf die Ausstattung, die Nutzungsautonomie und
-kompetenzen, die soziale Unterstützung, die Wahrnehmung
7.3.3 Informelles Lernen mit digitalen von Medien (u. a. als Lernmedium) und die Zielsetzung der
Medien und Fernsehen Mediennutzung, die ihrerseits von Bildungszwecken bis Un-
terhaltung reicht, beziehen (vgl. ebd.). So konnte z. B. Stecher
Kinder und Jugendliche leben heute in einer zunehmend me- (2005) in einer Fragebogenstudie u. a. die Relevanz der be-
diatisierten Welt (vgl. Tillmann & Hugger 2014). Die von suchten Schulart (Gymnasium: ja/nein) sowie des Alters der
ihnen genutzten Medien umfassen neben dem Fernseher Heranwachsenden und eingeschränkt auch des sozioökono-
vor allem digitale Medien wie Handy und Computer bzw. mischen Berufsstatus der Eltern für die Schülereinschätzung
Laptop, die ihnen völlig neue Informations- und Kommuni- von Qualitäts- und Boulevardmedien als Lernquelle aufzei-
kationsmöglichkeiten eröffnen, wie Internet, Wikis, soziale gen. Diese Diskussion ist auch für das informelle Lernen mit
Netzwerke oder Blogs. Die JIM-Studie 2014, eine Basisun- digitalen Medien von Bedeutung, da sie explizit die ausge-
134 Kapitel 7  Informelles Lernen

wählten Inhalte und die Modalität des informellen Lernens nehmung eines Mediums als (potentielles) Lernangebot. Ein
mit Medien anspricht. Medienangebot wird hinsichtlich seines Lerngehalts also im-
Betrachtet man die Dimension des Inhalts informellen mer individuell unterschiedlich bewertet (kontextualisiert),
Lernens durch Fernsehen oder im Netz, so geht es bei der abhängig davon, ob der Nutzer der Überzeugung ist, dass das
informellen Beschäftigung mit Medien aus Nutzersicht na- Angebot für ihn interessant und relevant ist und er damit et-
türlich in erster Linie um die bewusst gesuchten und re- was lernen kann (vgl. Stecher 2005). Damit können Kinder
zipierten Inhalte, mit denen sich Kinder und Jugendliche und Jugendliche lernen situative, mitunter auch soziale Gege-
selbstgesteuert und gezielt auseinandersetzen. Dieser inhalt- benheiten zu interpretieren, entsprechende Handlungsstrate-
liche Wissenserwerb ist so breit gefächert wie das mediale gien zu entwickeln sowie ihr Handeln zu organisieren. In der
Informationsangebot selbst. Klar ist allerdings, dass die er- Folge können sie Problemlösekompetenzen, aber auch soziale
worbenen Kenntnisse von grundlegenden Inhalten der for- und kulturelle Kompetenzen und Fähigkeiten erwerben, die
malen Bildung über Alltagswissen bis hin zu spezifischem sie flexibel einsetzen können. Diese Kompetenzen und Fähig-
Detailwissen in einem Themenbereich reichen können. Hier keiten bilden wichtige Voraussetzungen für eine erfolgreiche
steht die Forschung noch am Anfang. Kinder und Jugendliche gesellschaftliche, aber auch schulische Teilhabe (Tully 2007).
sind, zumindest was das Internet angeht, jedoch nicht nur als Von welchen Bedingungen die Wahrnehmung und Nutzung
7 Rezipienten, sondern auch als aktiv Beitragende aktiv. Sie ge- des Medienangebots als informelle Lerngelegenheit abhängt
stalten das dort vorhandene Informationsangebot mit, indem und wie der Lernprozess in unterschiedlichen informellen
sie Informationen präsentieren und sich selbst mitteilen, u. a. Kontexten konkret abläuft, sind noch weitgehend ungeklär-
auf Blogs oder beim Chatten in sozialen Netzwerken. Damit te Fragestellungen.
ist der Prozess der Mediensozialisation angesprochen (Au-
fenanger 2008, S. 88) und eng verbunden damit auch Prozesse
des Identitätsaufbaus oder der Lebensbewältigung (s. zsfd.
7.3.4 Institutionelle informelle
Pietraß 2016). Mit den beiden Tätigkeitsbereichen Rezep-
tion und Präsentation untrennbar verbunden laufen beiläufig Lernumgebungen am Beispiel Museum
neben kognitiven, auch persönlichkeitsbildende oder sozia-
le Lernprozesse ab (ebd.). Erstgenannte beziehen sich u. a. Betrachtet man institutionelle informelle Lernumgebungen,
auf die kompetente Handhabung der technischen Geräte und die im Kindes- und Jugendalter eine besondere Rolle spie-
insbesondere auf die gezielte Auswahl und Nutzung der viel- len, so können mindestens zwei große Bereiche ausgemacht
fältigen Handlungsoptionen, die das Fernsehangebot, aber werden: zum einen Institutionen, die ein spezifisches Kurs-
vor allem der Computer, das Handy und damit verbunden oder Gruppenangebot für Kinder und Jugendliche bereit-
das Internet bieten. Damit sind wesentliche Bestandteile von stellen und an der Grenze zum non-formalen Lernen anzu-
Medienkompetenz bzw. Medienbildung, wie sie von Groeben siedeln sind, wie (Sport-)Vereine und Jugendorganisationen
(2004) charakterisiert wurden, angesprochen. Groeben un- (z. B. Hansen 2010 2016; Neuber 2016; Riekmann & Bracker
terscheidet hier folgende sieben Teilkompetenzen: Medien- 2008; Seckinger, Pluto & van Santen 2016) und zum anderen
wissen und -bewusstsein, medienspezifische Rezeptionsmus- Orte oder Lernumgebungen, die Informationen bereitstellen,
ter, medienbezogene Genussfähigkeit und Kritikfähigkeit, die sich ihre Besucher im Rahmen informeller Lernprozesse
Selektion/ Kombination sowie Partizipationsmuster der Me- freiwillig und selbstbestimmt aneignen können, wie Museen,
diennutzung und schließlich Anschlusskommunikation. Zoos, Aquarien oder botanische Gärten.
Hinsichtlich der Modalität (7 Abschn. 7.2.2 mit Defini- Im Folgenden wird nun auf den zweiten Bereich unter
tionen) des informellen Lernens mit den (digitalen) Medien Berücksichtigung der Adressatengruppe der Kinder und Ju-
zeigt sich somit deutlich, dass die informellen Lernprozesse gendlichen anhand von Museen näher eingegangen.
häufig ungeplant, beiläufig und sozial eingebettet erfolgen. Sie Entsprechend ihres eigenen Selbstverständnisses (ICOM
stehen vielfach nicht im Vordergrund der Beschäftigung mit 2004) stellen Museen einen weiteren wichtigen Lernort zur
diesen Medien. Im Rahmen der selbstgesteuerten Auseinan- Vermittlung unterschiedlichster Erkenntnisse für Kinder, Ju-
dersetzung mit einem Thema werden u. a. auch Kenntnisse gendliche und ebenso für Erwachsene außerhalb formaler
zur Mediennutzug erworben. Dies geschieht meist aus ei- Bildungseinrichtungen wie Schule und Hochschule dar (Bell,
nem konkreten Anlass heraus, z. B. ein Bedienungsproblem Lewenstein, Shouse & Feder 2009; Falk, Storksdieck & Dier-
zu lösen, und erfolgt häufig im Austausch mit anderen. Beim king 2007). Im deutschsprachigen Raum gibt es ein vielfälti-
informellen Lernen mit digitalen Medien geht es somit vor ges museales Angebot, das von Kunstmuseen über (kultur-)
allem um eine individualisierte Wissensaneignung, die als historische und archäologische bis hin zu naturkundlichen
kontextualisiert bezeichnet werden kann. Mit dem Begriff der und naturwissenschaftlich-technischen Museen und Science
„Kontextualisierung“ (nach Tully 2007, S. 413) wird der auf- Centern reicht. Letztere bieten den Besuchern die Möglich-
grund der Vielzahl an Medienangeboten und Nutzungsmög- keit durch eigenständiges und spielerisches Experimentie-
lichkeiten notwendige Prozess der individuellen Auswahl ren technische und naturwissenschaftliche Zusammenhänge
von Medien und Handlungsoptionen für spezifische Aufga- und Phänomene kennen und verstehen zu lernen. Die Prä-
benstellungen in konkreten Situationen umschrieben. Dieser sentation der Inhalte in den jeweiligen Museen weist im
Prozess beruht auf individuellen Interessen und der Wahr- Vergleich zu formalen Lehr-Lern-Settings einige Besonder-
7.3  Kontexte informellen Lernens im Kindes- und Jugendalter
135 7
heiten auf, die für informelle Lernprozesse von Bedeutung ka informellen Lernens (z. B. Rounds 2004). Je nach individu-
sind (Schwan, Grajal & Lewalter 2014). Ein wesentliches eller Besuchsgestaltung finden unterschiedliche Lernprozesse
Kennzeichen ist die gleichzeitige Präsentation zahlreicher Ex- statt und wird der Erwerb unterschiedlicher Kompetenzen
ponate und Informationen auf einer räumlich ausgedehnten und Wissens unterstützt. Dabei spielen die individuellen Be-
Ausstellungsfläche. Damit sind vielfältige Wahlmöglichkei- suchsmotive eine wichtige Rolle. Diese reichen bei Erwachse-
ten und somit stark individualisierte Lernverläufe verbunden, nen von individuellem Lernen und Verfolgen von Interessen
wie sie für selbstregulierte informelle Lernprozesse typisch über das gemeinsame Lernen (in der Familie oder mit Freun-
sind. Die Informationsvermittlung erfolgt anhand materieller den), die Durchführung gemeinsamer (Freizeit-)Aktivität,
Originalobjekte und Modelle, die aufgrund ihrer Authenti- das Knüpfen sozialer Kontakte, Entspannung bzw. Erholung
zität die Relevanz der präsentierten Inhalte direkt erfahrbar bis hin zur Popularität des Ortes und seiner Exponate (Phe-
machen. Diese Originale oder Modelle werden meist um ei- lan, Bauer & Lewalter 2018). Insbesondere für Kinder und
ne breite Palette weiterer Informationsmedien wie Texttafeln, Jugendliche, die fast ausschließlich in Begleitung ins Muse-
Abbildungen, Videobildschirme, Hörinseln oder interaktiven um oder Science Center kommen, gestaltet sich der Besuch
Hands-on-Elementen ergänzt. Damit werden Informationen als ein soziales Ereignis. Ein Museumsbesuch ist häufig Teil
aus ganz unterschiedlichen Perspektiven über verschiedene der familiären Freizeitgestaltung oder wird gemeinsam mit
Sinneskanäle und mit unterschiedlicher Komplexität angebo- Freunden unternommen. Dementsprechend ist informelles
ten, die je nach individuellem Interesse ausgewählt werden Lernen nicht nur durch die individuelle Rezeption der dar-
können. Hinzu kommen weitere Informationsangebote in gebotenen Inhalte, also z. B. durch Betrachten von Objekten,
Form von a-personaler (z. B. mobile guides) als auch per- Lesen von Texten, Ausprobieren von Hands-on-Exponaten
sonaler Informationsvermittlung wie Führungen oder open oder gemeinsame Beschäftigung mit Inhalten im Rahmen
science labs. Bei Letzteren handelt es sich um offene For- eines Spiels geprägt, sondern insbesondere auch durch den
schungslabore, in welchen die Besuchenden Forschende bei kommunikativen Austausch über die Exponate (Falk & Dier-
ihrer Arbeit beobachten und direkt mit ihnen kommuni- king 2012). Diese Gespräche können Lernprozesse fördern,
zieren können. Damit stellen Museen eine informelle Lern- die als solche teilweise gar nicht intendiert oder bewusst
umgebung dar, die für Kinder und Jugendliche ein breites wahrgenommen werden (Clayton, Fraser & Saunders 2009).
Spektrum an Lernformen anregen und unterstützen kann. Sie sind aber auch Bestandteil von bewusst gestalteten Lern-
Dieses reicht von informellen Lernprozessen im Rahmen von aktivitäten, die dem Besuchsmotiv der Eltern entspringen,
Freizeitbesuchen, auf die im Folgenden genauer eingegangen mit der Familie (den Kindern) oder Freunden gemeinsam
wird, über non-formales Lernen im Kontext von Führungen etwas zu lernen. Allen (2002) hat u. a. die Gespräche zwi-
und Workshops bis hin zu formalen Lernprozessen während schen Kindern und Eltern untersucht, die sie als „learning
den Besuchen mit der Kindergartengruppe oder Schulklasse. talk“ bezeichnet. Sie konnte die folgenden Gesprächskatego-
Die Inhalte, die in Museen präsentiert werden, decken rien ermitteln: wahrnehmungsbezogen, affektiv, konzeptuell,
ein breites Spektrum ab, wobei sich der jeweils gewählte verbindend und strategisch. Dem Besuchsmotiv des gemein-
Ausschnitt in den letzten Jahrzehnten stark verändert hat: samen Lernens tragen Museen Rechnung, indem sie etwa
von einem gesicherten kanonischen Wissen hin zu aktuellen Spielangebote (für Familien) bereitstellen. So haben Allen
gesellschaftlich relevanten und kontrovers diskutierten The- und Gutwill (2009) die positive Wirkung von sogenannten
men. In naturwissenschaftlich-technischen Museen werden „juicy questions“ ermittelt, die nur durch das gemeinsame
u. a. Vor- und Nachteile des Einsatzes bestimmter Techniken Erforschen eines Sachverhalts beantwortet werden können.
wie Gentechnik oder Bionik diskutiert (Meyer 2010). Auf- Außerdem können die sozialen Interaktionen zu einem ge-
grund des Bildungsauftrags dieser Institutionen wird häu- meinsamen Verständnis eines Sachverhalts (David & Bar-Tal
fig darauf geachtet, dass sich die dargebotenen Inhalte mit 2009) und zu gemeinsamen emotionalen Erfahrungen (Tho-
jenen von Bildungsplänen zur frühen Bildung in Kinderta- mas, McGarty & Mavor 2009) führen, die wiederum zur Ent-
geseinrichtungen bis hin zu schulischen Curricula in Teilen wicklung einer kollektiven Identität sowie geteilten sozialen
überschneiden oder zumindest explizite Anknüpfungspunk- Normen und Werten beitragen (Steg & DeGroot 2012). Die-
te angeboten werden. Bezogen auf die Inhalte bieten Museen se sozialen Erfahrungen sind Teil des Erfahrungsspektrums
insbesondere für Kinder und Jugendliche damit explizit eine während eines Museumsbesuchs, das von Pekarik, Doering
Brücke zwischen formalem und informellem Lernen an. und Karns (1999, S. 152ff.) auf der Basis von Interviewstu-
Mit diesem vielfältigen und komplexen Angebot an In- dien anhand der vier Bereiche objektbezogene, kognitive,
formationen geht ein weites Spektrum an möglichen Nut- introspektive und soziale Erfahrungen beschrieben wird. Ob-
zungsformen einher, die von Falk und Dierking (2000) als jektbezogene Erfahrungen beziehen sich auf Erfahrungen,
„free-choice-learning“ beschrieben wurden, das als hochgra- die man beim Betrachten von z. B. schönen, seltenen, unge-
dig individualisierte und selektive Auseinandersetzung mit wöhnlichen oder wertvollen Objekten macht. Kognitive Er-
den Ausstellungsinhalten charakterisiert werden kann. Die fahrungen beschreiben Prozesse der Erweiterung des eigenen
Besuchswege entsprechen dabei nur selten den Planungen der Verständnisses, den Erwerb neuen Wissens oder die Ausdiffe-
Kuratoren, sondern sind das Ergebnis einer individuell opti- renzierung bestehenden Wissens. Dieser Bereich thematisiert
mierten Neugier geleiteten (curiosity-driven) Besuchsgestal- somit die Lernwirkung im engeren Sinne. Unter dem Be-
tung und entsprechen damit den wesentlichen Charakteristi- griff der introspektiven Erfahrungen werden die Reflexion
136 Kapitel 7  Informelles Lernen

über die Bedeutung des Gesehenen, individuell entwickelte der Schule erworben wurden, sollten somit stärker als bisher
Vorstellungen über andere Zeiten und Orte sowie die Er- im Rahmen des formalen schulischen Lernens berücksich-
innerung an eigene Vorerfahrungen zusammengefasst; sie tigt werden. Die zunehmende Beachtung des informellen
beschreiben also den wahrgenommenen persönlichen Bezug Lernens liegt u. a. auch in der Wahrnehmung von Defiziten
zu einem dargestellten Sachverhalt. Die sozialen Erfahrungen und Entwicklungsbedarf beim schulischen Lernen begrün-
schließlich betonen den Besuch als soziales Ereignis, dessen det. Denn die Lernanforderungen, die sich aus der Charak-
Lernwirkung von emotionalen und sozialen Interaktionser- terisierung unserer Gesellschaft als Wissensgesellschaft und
fahrungen bis hin zum Wissenserwerb reicht. der Forderung nach lebenslangem Lernen ergeben, erschwe-
So individuell die Besuchsgestaltung und die Erfahrungen ren es die Inhalte und Formen des Lernens ausschließlich mit
während des Museumsbesuchs sind, so individuell sind auch formal-institutionellem Lernen abzudecken. Lernende müs-
dessen Ergebnisse. Hooper-Greenhill (2007) hat versucht, sen auch auf Anforderungen des Alltags reagieren und damit
dieser Komplexität der informellen (Lern-)Erfahrungen der ihr Lernen selbst organisieren (vgl. Tully 2004). Entsprechend
Museumsbesucher in ihrer Konzeption des „Generic Learn- fordern verschiedene Experten-Kommissionen alle Möglich-
ing Outcome“ (GLO) Rechnung zu tragen, das die vielfältigen, keiten auszuschöpfen um formale (institutionalisierte) und
subjektiv von den Besuchern wahrgenommenen Wirkungen informelle Lernmöglichkeiten durch ein integratives Gesamt-
7 des Besuchs zusammenfasst. Diese reichen von der Aktivie- system bestmöglich zu verbinden. Damit geht eine Neube-
rung und Erweiterung des eigenen Wissens und Verständ- wertung des schulischen als auch des informellen Kompe-
nisses über den Zuwachs an intellektuellen oder technischen tenzerwerbs, eine Neuformulierung der Rolle der Lehrenden
Fertigkeiten und deren Übertragung auf andere Themen und und Lernenden als auch eine Abkehr vom wissensdominier-
Situationen bis hin zum Erwerb sozialer und kommunika- ten hin zum kompetenzentwickelnden Lernen einher (vgl.
tiver Fähigkeiten, der Reflexion eigener Einstellungen und Delors 1996; OECD 1996; Overwien 2009). Nach Hungerland
Werte und dem Erleben von Freude, Inspiration, Überra- und Overwien (2004) geht es dabei um die Etablierung einer
schung und Kreativität. Museen bilden somit einen weiteren schulischen Lernkultur, die informell erworbene Kompeten-
vielfältigen Bestandteil der informellen Lernwelten von Kin- zen miteinbezieht und an diese anknüpft. Damit verbunden
dern und Jugendlichen. ist eine Veränderung der Rolle von Lehrkräften und Lernen-
den. Schülerinnen und Schüler werden nicht mehr in erster
Linie als Empfänger von Informationen und Wissen angese-
hen, sondern als wissend und kompetent erachtet. Sie werden
7.4 Beziehung formales und informelles aufgefordert, ihre außerschulisch erworbenen Kompetenzen
Lernen in der Schule in den Unterricht aktiv einzubringen. Lehrende werden zu-
nehmend zu professionellen Lernbegleitern, die eigenständi-
Wie die Darstellung des informellen Lernens in unterschied- ge Lernprozesse der Lernenden anregen und begleiten. Damit
lichen Kontexten des Kindes- und Jugendalters gezeigt hat, werden partizipative Lernformen etabliert, die ein Lernklima
besteht ein unterschiedlich stark ausgeprägtes Zusammen- erfordern und anregen, welches insbesondere durch Gleich-
spiel von informellem und formalem Lernen, das im Folgen- berechtigung und Respekt gekennzeichnet ist.
den für den Kontext Schule eingehender betrachtet werden Welche Rolle nun das informelle Lernen und die in den
soll. oben vorgestellten Kontexten erworbenen Kompetenzen, in
Generell wird angenommen, dass sich schulisches und der Schule spielen, soll im Folgenden näher betrachtet wer-
informelles Lernen wechselseitig beeinflussen; denn infor- den.
melles Lernen findet vorgelagert und zeitgleich zu schuli- In der Familie werden die Grundvoraussetzungen für
schem Lernen statt (Rauschenbach 2016). Die Vorbereitung den Zugang zur sozialen und kulturellen Umwelt sowie die
auf schulisches Lernen im Rahmen informeller Bildungspro- grundlegenden Strukturen und Motivationen für (spätere)
zesse, die u. a. in der Familie stattfinden, kann die Effektivität Lern- und Bildungsprozesse im Rahmen formaler Kontex-
von schulischem Unterricht beeinflussen, der nach Helmke te (Schule, Universität oder Aus- und Weiterbildungsstätten)
(2014) als Angebot verstanden werden kann, welches von den geschaffen, was wiederum einen entscheidenden Einfluss auf
Lernenden je individuell wahrgenommen und genutzt wird. den Bildungserfolg und die gesamte Bildungslaufbahn der
Damit reduziert sich die Verantwortung der Schule für den Kinder und Jugendlichen haben kann (vgl. Minsel 2007).
Bildungserfolg bzw. Misserfolg (BMFSFJ 2005) und es geht Aber auch grundlegende Fertigkeiten und Kenntnisse wie
darum, informelles, non-formales und formales Lernen sinn- die Sprache oder der überlegte und differenzierende Um-
voll und in ergänzender Weise miteinander zu verknüpfen gang mit Informationen, welche das erfolgreiche Lernen in
(Eshach 2007). Des Weiteren ist zu beachten, dass in forma- formalen Kontexten erheblich unterstützen können, werden
len Kontexten wie der Schule neben formalem Lernen auch in der Familie erworben. Nach Büchner und Krah (2006)
immer non-formales (z. B. im Rahmen von Hausaufgaben, wäre ohne den grundlegenden Beitrag und ohne die vorbe-
Exkursionen und Projektarbeiten) und informelles Lernen reitende und begleitende Unterstützung durch die Familie
(z. B. in den Pausen, auf Klassenfahrten oder innerhalb von der formale Bildungserfolg kaum möglich. Dies zeigt sich
Angeboten im Ganztagsbereich) stattfinden kann. Kenntnis- v. a. auch darin, dass Schulen oft ganz selbstverständlich ein
se, die non-formal oder informell innerhalb oder außerhalb „schulkompatibles Kind“ (Helsper & Hummrich 2008) vor-
7.4  Beziehung formales und informelles Lernen in der Schule
137 7
aussetzen, das den schulischen Normen und Gegebenheiten tensität der Computernutzung in der Freizeit keinen Einfluss
ohne große Schwierigkeiten entsprechen kann. Dass dies aber auf die Mathematikleistung der Schülerinnen und Schüler
nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann, son- hat. Lediglich bei jenen Lernenden, die sich selbstbestimmt
dern in Abhängigkeit der ökonomischen, sozialen und kul- und problemlösungsorientiert mit dem Computer beschäf-
turellen Ressourcen sowie der schulnahen Einstellungen und tigten, zeigte sich ein entsprechender positiver Zusammen-
Praktiken der Familien variiert, führt in der Folge häufig zu hang. Diese Befunde legen nahe, dass es nicht die informelle
Problemen. Es erscheint vor diesem Hintergrund wichtig, Computernutzung in der Freizeit per se ist, die für den Kom-
dass die Schule nicht nur die für das Gelingen der forma- petenzerwerb förderlich ist, sondern die Art und Weise der
len Ausbildung von Kindern und Jugendlichen unabding- Beschäftigung. Aßmann (2016) regt an, die von Kindern und
baren informellen Kompetenzen und Fertigkeiten, wie z. B. Jugendlichen außerhalb der Schule erworbenen Erfahrungen
Sprache, Disziplin, Eingehen sozialer und emotionaler Bezie- in Netzwerken im schulischen Kontext nicht zu ignorieren.
hungen und Bindungen, Vertrauen und Wertschätzung, in Informelle Lernumgebungen wie Museen richten ihre Inhal-
sinnvoller Weise zu nutzen versteht, sondern es auch im um- te und deren Präsentation u. a. auch an schulischen Curricula
gekehrten Fall – dem Fehlen dieser Kompetenzen – vermag, aus und streben dementsprechend eine explizite Verschrän-
kompensierend einzugreifen und entsprechende Bildungs- kung mit formalen Bildungseinrichtungen wie der Schule
und Lernprozesse zu fördern und zu unterstützen. an. Dies drückt sich auch in ihren umfangreichen Bildungs-
Die positiven Wirkungen von Peers als Bildungsinstanzen angeboten aus, die sich speziell an Schulen richten. Damit
auf die soziale, personale, kognitive und emotionale Ent- bieten sie die Möglichkeit, formales Lernen in der Schule um
wicklung von Kindern und Jugendlichen können im Rahmen informelle Lernangebote, die alternative Informationszugän-
formaler Bildungskontexte gezielt zur Förderung des Wis- ge und Lernprozesse ermöglichen, zu ergänzen und damit
sens und der Kompetenzen von Heranwachsenden genutzt potentielle Defizite und Grenzen schulischen Lernens wie
werden. Grunert (2006) verweist darauf, „dass Kinder bei z. B. Visualisierung und Vermittlung komplexer und schwie-
manchen kognitiven Aufgaben zu besseren Lösungen kom- rig fassbarer naturwissenschaftlicher Themen und Phänome-
men und ihre Leistungsfähigkeit nachhaltig steigern können, ne sowie naturwissenschaftlicher Forschung und derer For-
wenn ihnen ein anderes Kind und nicht ein Erwachsener wi- schungsprozesse zu kompensieren. Die motivationalen und
derspricht. Das gemeinsame Aushandeln von Lösungswegen kognitiven Wirkungen dieser schulergänzenden, musealen
und Verfahrensweisen wirkt sich dann positiv auf das Verste- Angebote werden zunehmend erforscht (u. a. Neubauer, Gey-
hen von Zusammenhängen und die Wissensaneignung aus, er & Lewalter 2014).
da diese auf begründeten Einsichten beruhen“ (ebd. 2006, Bisher wurde in erster Linie der Nutzen des informel-
S. 28). Es gibt im Rahmen formaler Kontexte bereits einige len Lernens für das formale Lernen betrachtet. Auch wenn
Programme bzw. Methoden, in deren Fokus ein peerbasierter informelles Lernen nicht direkt gesteuert werden kann, so
Kompetenzerwerb liegt. Diese so genannte „peer education“ gibt es dennoch Möglichkeiten, es bis zu einem gewissen
(z. B. Damon 1984; Heyer 2010) geht dabei davon aus, dass Grad zu unterstützen, wodurch es jedoch zwangsläufig for-
Peers einen besonders großen Einfluss auf Gleichaltrige aus- maler wird (Overwien 2009). Sowohl durch den Aufbau und
üben, da sie für diese als Bezugs- und Orientierungspunkte die Förderung der Selbststeuerungskompetenz der Lernen-
fungieren (Heyer 2010) und in der Konsequenz Lern- und den (7 Kap. 4) als auch durch die Schaffung von Rahmen-
Bildungsprozesse erleichtert und optimal unterstützt werden bedingungen bzw. Lernumgebungen, die die Anregung und
können. Bekannte Beispiele hierfür sind z. B. Streitschlich- Förderung bestimmter Lerntätigkeiten und -erfahrungen er-
tungsprogramme wie Peer-Scouts oder im Hinblick auf Ler- möglichen (informelle Bildung), kann das informelle Lernen
nen und Wissenserwerb das Konzept des „Lernens durch bis zu einem gewissen Grad gezielt beeinflusst und unterstützt
Lehren“ (vgl. Renkl 2006). werden (vgl. Overwien 2009). Beispielsweise zielen Angebote
Hinsichtlich digitaler Medien und dem damit verbunde- in den Medien (z. B. Wikipedia, Blogs oder Foren zu spezifi-
nen Informationsangebot betonen Rauschenbach und Kol- schen Thematiken) oder im Museum (z. B. Ausstellungen und
legen (Rauschenbach et al. 2004, S. 33): „Insbesondere das deren pädagogisches Begleitmaterial) darauf ab informelles
Internet nimmt der Schule ihre monopolartige Stellung, jun- Lernen anzuregen. Aber auch die tägliche Interaktion und
gen Menschen Zugänge zum Weltwissen zu verschaffen, in Kommunikation zwischen Eltern und Kindern kann zum
radikaler Weise. Es bietet schnellere Zugänge als Bibliotheken Teil im Hinblick auf bestimmte Inhalte und Thematiken ziel-
und ermöglicht auch Laien, sich in kurzer Zeit mit fremden gerichtet und bewusst strukturiert erfolgen, um informelle
Themen und Fragen kompetent auseinanderzusetzen“. Zu- Lernprozesse anzuregen.
dem zeigt Tully (2004) ebenso wie Düx und Rauschenbach Insgesamt stellt in der aktuellen und künftigen Bildungs-
(2010) auf, dass Kinder und Jugendliche bei der Beschäf- forschung das Zusammenspiel formaler (schulischer) und in-
tigung mit Computer und Handy wesentliche Fertigkeiten formeller Bildung ein wesentliches Thema dar. Erst auf dieser
im Umgang mit neuen Technologien erwerben (z. B. Infor- Basis kann ein umfassendes Verständnis von Bildungsprozes-
mationsrecherche, -beschaffung und -austausch), die für den sen und ihren Bedingungen entwickelt werden. Dabei muss
Wissenserwerb in stärker formalen Kontexten hilfreich sind. beachtet werden, dass auch in formalen Lernkontexten wie
Die Befunde einer Re-Analyse von PISA-Daten von Wittwer der Schule informelles Lernen stattfindet. Dieses Zusammen-
und Senkbeil (2008) weisen jedoch darauf hin, dass die In- spiel wird umso bedeutsamer, je enger die Verbindung zwi-
138 Kapitel 7  Informelles Lernen

schen beiden Lernkontexten wird. Das wird etwa im Rahmen kompetentem Handeln oder der Persönlichkeitsentwicklung,
von Angeboten informeller Lernumgebungen für Ganztags- veränderten Einstellungen und Verhaltensweisen einer Per-
schulen deutlich. Hierbei bestehen zahlreiche offene Fragen son ausdrücken können (Düx & Rauschenbach 2016; Düx &
u. a. hinsichtlich förderlicher Bedingungen für deren effek- Sass 2005). Die informellen Lernprozesse sind dagegen einer
tives Zusammenspiel, wie zum Beispiel eine geeignete Vor- empirischen Erforschung nur eingeschränkt zugänglich. Dies
und Nachbereitung des Besuchs informeller Lernumgebun- liegt u. a. auch an der geringen Zugänglichkeit lebensweltli-
gen wie Museen im Schulunterricht (vgl. Lewalter & Geyer cher, informeller Lernkontexte, wie beispielsweise der Familie
2005). Vor welchen Herausforderungen die empirische For- oder der Gleichaltrigengruppe, die sich einer empirischen Er-
schung zum informellen Lernen in ihrer Gesamtheit steht, forschung und Erfassung zu einem gewissen Teil entziehen
wird im nächsten Abschnitt thematisiert. (Düx & Rauschenbach 2016). Bell, Lewenstein, Shouse und
Feder (2009) betonen, dass für die Erforschung des informel-
len Lernens wesentlich ist, nicht nur die kognitiven Effekte zu
erforschen, sondern auch die Unterstützung intellektueller,
7.5 Forschungsmethodische Zugänge zum verhaltensbezogener, sozialer und partizipatorischer Fähig-
informellen Lernen keiten durch informelle Lerngelegenheit. Dabei ist es wichtig
7 die situativen informellen (Lern-)Bedingungen aus Sicht der
Bei der Erforschung informeller Lernprozesse geht es zum Lernenden zu erfassen. Dazu verfolgen Bell und Kollegen
einen um die Entstehung von Lernanlässen und zum ande- (Bell et al. 2009) unter einem lerner-zentrierten Fokus einen
ren um informelle Lernprozesse und deren Ergebnisse selbst, tiefenorientierten kognitiven ethnografischen Forschungsan-
deren Untersuchung sowohl aus der Perspektive des Lernen- satz, indem sie das Verhalten, die sozialen Interaktionen und
den als auch aus der Perspektive der Lernumgebung erfolgen kommunikativen Prozesse von Kindern und Jugendlichen in
kann. Es geht darum herauszufinden, wann und unter wel- unterschiedlichen informellen Settings (u. a. zuhause und in
chen Umständen eine Person aus eigener Initiative damit interaktiven Science Center) beobachten, Notizen im Feld
beginnt sich informell Wissen anzueignen. Wie ist die Um- machen, ethnografische und klinische Interviews aufzeich-
gebung gestaltet, die dazu beiträgt, dass Fragen entstehen, nen, Videoaufnahmen von Lernhandlungen machen und
auf die eine Person eine Antwort haben möchte, und wie von den Lernenden erstellte Produkte im Rahmen des Lern-
ergeben sich aufgrund von Umweltmerkmalen Lerngelegen- prozesses als Datenbasis für ihre Analysen berücksichtigen.
heiten durch die neues Wissen erworben werden kann? Dieser multimethodische Ansatz verdeutlicht die zentrale
Informelles Lernen zu erforschen stellt dabei aus meh- Rolle der ökologischen Validität (s. 7 Kap. 26) bei der Erfor-
reren Gründen eine große Herausforderung dar (Rauschen- schung des informellen Lernens.
bach 2016). Zum einen entzieht es sich der unmittelbaren Eine weitere wesentliche Herausforderung liegt im unter-
Beobachtung aufgrund der häufig unbewusst und beiläu- schiedlichen Grad der Bewusstheit des informellen Lernens
fig ablaufenden Lernprozesse; zum anderen ist es je nach und der damit erworbenen Kompetenzen. Dies zeigt sich et-
Lerninhalt (z. B. personale, soziale oder Handlungskompe- wa darin, dass Lernende selbst ihre Aktivitäten häufig nicht
tenz) in unterschiedlichem Ausmaß möglich, einen kausa- oder erst sehr viel später als signifikanten Wissenserwerb
len Zusammenhang zwischen erworbenen Kompetenzen und wahrnehmen (vgl. Livingstone 1999). Problematisch ist, dass
vorangegangen Lernprozessen herzustellen. So kann die er- über verbalisierende Erhebungsmethoden grundsätzlich nur
folgreiche Bedienung einer App sehr wohl auf die vorherige diejenigen Lernprozesse, die zumindest im Nachhinein be-
Beschäftigung mit dem Smartphone zurückgeführt werden, wusstgemacht werden können, erfasst werden können und
wohingegen die erfolgreiche Bewältigung einer Konfliktsitua- dass die Fähigkeit zur Reflexion und Versprachlichung indivi-
tion im Freundeskreis weit weniger eindeutig durch frühere duell unterschiedlich ausgeprägt ist (Molzberger & Overwien
Erfahrungen während konstruktiver Streitgespräche in der 2004).
Familie begründet werden kann. Schließlich liegt eine weitere Hinsichtlich des Lernzuwachses, der aufgrund des unter-
Herausforderung darin begründet, die informell erworbenen schiedlichen Vorwissens und des individuellen Lernprozesses
Kompetenzen zu erfassen. sehr unterschiedlich ausfällt (Rauschenbach 2016), waren
Mit den genannten Aspekten informellen Lernens sind bisher Selbstauskunft und Selbsteinschätzung die Methoden
insbesondere forschungsmethodische Herausforderungen der Wahl. Der Einsatz von retrospektiven Interviews oder
verbunden. Ganz generell bedarf es, nicht zuletzt auch auf Lerntagebüchern erfährt zunehmend Beachtung. Diese me-
Grund des noch frühen Stands der Forschung, möglichst of- thodischen Zugänge können zum Verständnis von wechsel-
fener Erhebungsverfahren, wie z. B. Beobachtung, Interviews seitigen Bezügen verschiedener Bildungsprozesse und -kon-
oder Fragebögen mit weitgehendem, offenem Antwortformat texte beitragen. Düx und Sass (2005) weisen darauf hin, dass
(vgl. 7 Kap. 26), die die Lernenden selbst zu Wort kommen Längsschnittstudien zu Lernzuwächsen und Kompetenz-
lassen, um damit möglichst viele Erscheinungsformen und entwicklungen mithilfe von Fragebögen und Interviews ein
Varianten dieser Lernform sichtbar und beschreibbar zu wertvoller Zugang sein können, um empirisch gesichertes
machen (Molzberger & Overwien 2004). So können zwar Wissen über die Möglichkeiten und Grenzen des Lernens
die Bedingungen, Ergebnisse und Effekte der informell er- in außerschulischen Bildungsorten und -modalitäten (vgl.
worbenen Kompetenzen ermittelt werden, die sich z. B. in 7 Abschn. 7.2.2) zu generieren. Durch kontrollierte Längs-
Literatur
139 7
schnittstudien könnten der Kompetenzzuwachs und verbes-
serte Handlungsfähigkeiten valide abgebildet werden. Die prozesse sowie der geringen Zugänglichkeit lebensweltli-
Selbsteinschätzung informeller Lernprozesse und -ergebnisse cher informeller Lernkontexte wie Familie oder Gleichalt-
im Rahmen von Interviews oder Fragebogenstudien kann rigengruppe sind die forschungsmethodischen Zugänge
erste Einblicke geben, inwieweit in bestimmten Bereichen ein begrenzt. Bisher wurde das informelle Lernen überwie-
Kompetenzgewinn aufgetreten ist und welche Rolle verschie- gend mithilfe von Fragebögen und Interviews untersucht.
dene Lernorte hierbei aus subjektiver Sicht gespielt haben.
Damit können in zunehmendem Maße Einblicke in die Re-
levanz non-formaler und informeller Bildungsorte im Ver-
gleich zur Schule gewonnen werden (vgl. Düx & Rauschen-
bach 2016). Verständnisfragen
Zusammenfassend muss festgestellt werden, dass für die
Erforschung von Lernprozessen und Lernzuwächsen von ?
1. Auf welche Überlegungen geht die Entstehung des
Kindern und Jugendlichen in informellen Lernumgebungen
Begriffs des informellen Lernens zurück?
bisher im Unterschied zur schulischen Lernforschung kaum
2. Welche wesentlichen Merkmale zeichnen informelles
auf bewährte, eigens für diesen Forschungskontext entwi-
Lernen aus?
ckelte und empirisch überprüfte, Instrumente oder Verfahren
3. Grenzen Sie die Lernformen formales, nicht-formales
zurückgegriffen werden kann. Die weitere Entwicklung und
und informelles Lernen gegeneinander ab.
Erprobung von Forschungsinstrumenten, -methoden und
4. Wieso wird der Familie eine Gatekeeper-Funktion
-verfahren zur Beschreibung und Messung von Kompetenz-
zugesprochen und was bedeutet diese für die
zuwächsen und Bildungswirkungen in informellen Lernkon-
Bildungsbiographie von Kindern und Jugendlichen?
texten stellt damit ein wichtiges Forschungsdesiderat dar
Was ist dabei mit der allgemeinen und differentiellen
(ebd.).
Gatekeeperfunktion der Familie gemeint?
5. Hinsichtlich welcher Kompetenzen stellt die Peergroup
eine wesentliche informelle Lernumgebung dar?
Zusammenfassung 6. Welche Kompetenzen werden im Rahmen des
Der Begriff „informelles Lernen“ geht auf den Philosophen informellen Lernens mit digitalen Medien erworben?
und Pädagogen John Dewey zurück und beschreibt jene 7. Welche Bedeutung hat die Kontextualisierung der
Lernprozesse, die in alltäglichen Lebens- und Problemsi- Wissensaneignung mit Medien?
tuationen sowohl zielgerichtet, strukturiert, selbstgesteu- 8. Was ist mit der Aussage „Museumsbesuche von
ert und bewusst, als auch nicht intentional, beiläufig und Kindern und Jugendlichen sind ein soziales Ereignis“
unbewusst ablaufen können. Informelles Lernen erfolgt gemeint und welche Bedeutung hat diese Aussage für
häufig bezogen auf konkrete Lern- bzw. Problemanlässe das informelle Lernen?
des Alltags und ist dementsprechend stark erfahrungs- 9. Welche Bedeutung hat das informelle Lernen für
basiert. Für Kinder und Jugendliche bilden insbesonde- schulische Bildungsprozesse?
re die Familie, die Gleichaltrigengruppe, (digitale) Medi- 10. Nennen Sie wesentliche Herausforderungen bei der
en und institutionelle informelle Lernumgebungen wie Erforschung des informellen Lernens!
Museen, Zoos, Aquarien, botanische Gärten oder auch
Vereine und Jugendorganisationen wichtige informelle
Lernorte. Im Rahmen des informellen Lernens werden er- Literatur
fahrungsbasiert kognitive, motivationale, emotionale und
soziale Grundkompetenzen, wie z. B. die Medienkompe- Allen, S. (2002). Looking for Learning in Visitor Talk: A methodological Ex-
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142 Kapitel 7  Informelles Lernen

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7
143 8

Fachliches Lernen
Birgit Jana Neuhaus, Detlef Urhahne und Stefan Ufer

8.1 Schülervorstellungen – 145


8.1.1 Schülervorstellungen in der Biologie – 145
8.1.2 Schülervorstellungen in der Mathematik – 146

8.2 Wissenserwerb – 148


8.2.1 Wissenserwerb in den Naturwissenschaften – 148
8.2.2 Wissenserwerb in der Mathematik – 149

8.3 Kompetenzerwerb – 150


8.3.1 Kompetenzerwerb in den Naturwissenschaften – 150
8.3.2 Kompetenzerwerb in der Mathematik – 152

8.4 Fachsprache – 153


8.4.1 Fachsprache in den Naturwissenschaften – 153
8.4.2 Fachsprache in der Mathematik – 154

8.5 Aufgabeneinsatz – 155


8.5.1 Aufgabeneinsatz in den Naturwissenschaften – 155
8.5.2 Aufgabeneinsatz in der Mathematik – 156

Verständnisfragen – 158

Literatur – 158

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019


D. Urhahne, M. Dresel, F. Fischer (Hrsg.), Psychologie für den Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55754-9_8
144 Kapitel 8  Fachliches Lernen

Fachliches Lernen hat sich über allen historischen Wandel


als ein festes Prinzip in der Schule etabliert (Huber 2001). Winter-Hölzl, Watermann, Wittwer und Nückles (2016). Im
Ein bestimmter Fächerkanon aus sprachlich-literarischen, Rahmen einer quasi-experimentellen Forschungsarbeit
historisch-sozialen, mathematisch-naturwissenschaftlichen ließen sie 25 Promovierende und 29 Studierende der
und ästhetisch-künstlerischen Fächern gilt als zeitlich beson- Bildungswissenschaften je zwei Zusammenfassungen
ders stabil (Tenorth 1994). Die Sinnhaftigkeit des fachlichen von Forschungsartikeln schreiben. In der Qualität des
Lernens wird jedoch häufig in Frage gestellt. Schließlich un- wissenschaftlichen Schreibstils, dem Grad der Fokus-
terliegen auch die aktuellen und späteren Alltagsfragen und sierung und der Verdichtung relevanter Informationen
-probleme der Schülerinnen und Schüler keiner fachlichen erwiesen sich die Promovierenden den Studierenden
Ordnung, sondern gehen über Fächergrenzen hinaus (Rein- als deutlich überlegen. Die Unterschiede waren jedoch
hold & Bünder 2001). Von psychologischer Seite sprechen nicht auf formale Aspekte bildungswissenschaftlicher
allerdings gute Argumente für eine Aufrechterhaltung des Forschungskompetenz oder die berichtete Deutschno-
Fachprinzips in der Schule. te zurückzuführen. Vielmehr konnte die Fähigkeit zum
Zum Ersten zeigt es sich, dass fachspezifisches Wissen oft Verfassen von Zusammenfassungen wissenschaftlicher
wichtiger ist als allgemeines Wissen oder Begabung. Wenn Forschungsarbeiten am besten durch spezifisches Wissen
Kinder ein starkes fachliches Interesse für einen Lebensbe- über das Genre Forschungsartikel erklärt werden, das bei
reich aufweisen, können sie darin geistige Leistungen er- den Promovierenden klar höher ausgeprägt war. Fach-
bringen, die sonst erst im Jugend- oder Erwachsenenalter
8 zu erwarten wären. Fehlendes Allgemeinwissen oder verzö-
spezifisches Wissen ist daher nicht ersetzbar, wenn es um
die Lösung fachspezifischer Probleme geht. Die formale
gerte kognitive Entwicklung kann durch besseres fachliches Bildung kann die materiale Bildung nicht ablösen.
Wissen kompensiert werden. Selbst jüngere, weniger begabte
Kinder können die gleichen Gedächtnisleistungen wie älte-
re, begabte Kinder erzielen, wenn epistemische Neugier für
Zum Zweiten lassen sich auf allgemeiner Ebene erworbe-
ein Thema vorhanden ist (Schneider, Körkel & Weinert 1989).
ne Kenntnisse und Fähigkeiten nicht so einfach auf andere
Diese Erkenntnis ist so erstaunlich, dass in Spielshows regel-
Fächer übertragen. Beispielsweise wird vom Fach Latein im-
mäßig fachlich gut vorbereitete Kinder gegen erwachsene Ex-
mer wieder behauptet, dass es eine ausgezeichnete Denkschu-
perten antreten dürfen, um zu zeigen, dass sie einen scheinbar
le sei und den Zugang zu anderen Sprachen erleichtere (vgl.
übermächtigen Konkurrenten in einem ausgewählten Be-
Haag & Stern 2000). Bereits Thorndike (1923) hatte jedoch
reich fachlichen Wissens schlagen können. Gut ausdifferen-
festgestellt, dass der Besuch des Lateinunterrichts für Lern-
ziertes fachliches Wissen ist daher eine wichtige Vorausset-
leistungen in Mathematik und Naturwissenschaften keinen
zung, um auf einem Gebiet besondere Leistungen zu erzielen
Vorteil erbrachte. Die Denkschulung durch das Erlernen der
(Tricot & Sweller 2014; 7 Kap. 3). Passend dazu kamen Seidel
Sprache schlug sich nicht auf Fächer nieder, die in hohem Ma-
und Shavelson (2007) in einer Metaanalyse zu dem Ergebnis,
ße durch analytisches Denken geprägt sind. In jüngerer Zeit
dass fachspezifische Aspekte des Unterrichtens großen Ein-
konnte zudem gezeigt werden, dass Latein das Erlernen einer
fluss auf den Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler haben.
modernen Fremdsprache nicht mehr unterstützte als anderer
Sprachunterricht (Haag & Stern 2003). Wenn eine bestimmte
Disziplin beherrscht werden soll, muss vor allem fachspe-
Mythos: „Am Ende ist es doch nicht entscheidend, zifisches Wissen erworben werden. Die Übertragung allge-
was gelernt wird.“ meinen Wissens auf andere Fächer funktioniert nur unzurei-
Auf den Berliner Gymnasialdirektor Friedrich Gedike chend (Klauer 2011). Deshalb ist aus psychologischer Sicht
(1789) geht die Unterscheidung zwischen formaler und das fachliche Lernen in der Schule durchaus zu befürworten.
materialer Bildung zurück. Die formale Bildung sollte die
geistigen Anlagen des Individuums schulen und eine
Fachliches Lernen umfasst den Erwerb spezifischer
Denkerziehung sein. Die materiale Bildung dagegen sollte
Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse, um Aufgaben
diejenigen Inhalte vermitteln, die in der Berufsausbildung
und Probleme in einem Wissensgebiet schnell, sicher,
und im späteren Leben von Bedeutung sein konnten.
flexibel und adaptiv lösen zu können.
Im Laufe der Zeit kam es zu einer Höherschätzung
der formalen Bildung mit dem hehren Ziel, allgemeine
Methoden des Lernens und Arbeitens zu vermitteln (Lind In diesem Kapitel soll in fünf Abschnitten die Bedeu-
1996). tung des fachlichen Lernens in der Schule dargelegt werden.
Die heutige Lehr-Lern- und fachdidaktische For- Der Fokus der Darstellung liegt auf dem mathematisch-
schung ist sich jedoch darüber einig, dass der Wert naturwissenschaftlichen Bereich, doch ließen sich ebenso gut
der materialen Bildung nicht von der Hand zu weisen für andere Bereiche vergleichbare Besonderheiten des fachli-
und am Ende sehr wohl von Bedeutung ist, was gelernt chen Lernens aufzeigen. Der erste Abschnitt beschäftigt sich
worden ist. Das belegt auch eine aktuelle Studie von mit Schülervorstellungen über fachliche Inhalte der Biolo-
gie und Mathematik. Der zweite Abschnitt thematisiert den
8.1  Schülervorstellungen
145 8
Erwerb fachlichen Wissens und der dritte Abschnitt den Er- zu Generation Gene vererbt, die Eigenschaften wie einen lan-
werb von Kompetenzen. Der vierte Abschnitt setzt sich mit gen Hals kodieren. Langfristig setzen sich nach dem Prinzip
Fachsprache und der fünfte Abschnitt mit dem fachlichen der Selektion die am besten an ihre Umwelt angepassten Le-
Einsatz von Aufgaben auseinander. Die hier dargestellten bewesen mit ihren Eigenschaften durch. Dadurch werden
Inhalte wurden so gewählt, dass in jedem Abschnitt fachdi- merkmalskodierende Gene, nicht aber erworbene körperli-
daktische und lernpsychologische Aspekte anhand konkreter che Merkmale an Nachkommen vererbt. Eine weitere weit
Beispiele veranschaulicht und die zugehörigen Vermittlungs- verbreitete Vorstellung aus dem Bereich der Biologie ist die
ansätze vorgestellt werden können. direkte Abstammung des Menschen vom Affen. Nach aktu-
eller wissenschaftlicher Sichtweise geht man aber davon aus,
dass Mensch und Affe lediglich gemeinsame Vorfahren ha-
8.1 Schülervorstellungen ben und sich die evolutionären Wege anschließend trennten.
Ebenfalls häufig anzutreffen ist die Vorstellung, dass Zellen,
Die Auseinandersetzung mit fachlichen Schülervorstellungen wenn sie sich vermehren, beim Teilen kleiner werden, oder
ist ein besonders bedeutsamer Aspekt fachdidaktischer For- das menschliche Herz die Form eines roten Herzens wie in
schung. Es geht dabei um die Frage, welche fachlichen Inhalte der Werbung besitzt.
und Konzepte Schülerinnen und Schülern Lernschwierigkei- Woher kommen diese Vorstellungen? Häufig sind Alltags-
ten bereiten, um welche Schwierigkeiten es sich handelt und erfahrungen der Lernenden Ursachen für ihre Vorstellungen.
wie mit diesen Schwierigkeiten im Unterricht umgegangen Beispielsweise gehen viele Schülerinnen und Schüler davon
werden sollte. Bei der Untersuchung von Schülervorstellun- aus, dass das Wachstum der Pflanzen auf die festen Stoffe in
gen wird davon ausgegangen, dass Schülerinnen und Schüler der Erde zurückzuführen ist. Manche Lernenden haben die
durch ihre Alltagserfahrungen bestimmte Vorstellungen ent- Erfahrung gemacht, dass Pflanzen durch Düngen wachsen
wickeln, die oft teilweise, aber nicht vollkommen mit dem und schließen daraus, dass es die Inhaltsstoffe des Düngers
fachlich richtigen Konzept übereinstimmen. Weil häufig All- sind, die direkt zur Biomasseproduktion beitragen. Auf die
tagseinflüsse prägend sind, wird auch von Alltagsvorstellun- eigentlichen biomasseproduzierenden Bestandteile, Kohlen-
gen gesprochen (vgl. Kattmann 2015). dioxid und Wasser, kommen sie nicht. Fehlerhafte oder zu
Ziel des fachlichen Unterrichts ist es, ebenjene Alltags- stark vereinfachende Abbildungen in den Medien, die biswei-
vorstellungen konkret anzusprechen und in fachlich tragfä- len auch in Schulbüchern anzutreffen sind, können ebenfalls
hige Vorstellungen zu überführen. Das ist nicht so leicht, zu fachlich falschen Vorstellungen beitragen, wie das Beispiel
wie es sich anhört, denn Schülervorstellungen können sich zur anatomischen Form des Herzens verdeutlicht. Vermi-
als sehr resistent gegenüber gezielten Instruktionsbemühun- schungen von Alltags- und Fachsprache dürfen als weitere
gen erweisen (Witzig, Freyermuth, Siegel, Izci & Pires 2013). Ursache von fachlich unangemessenen Vorstellungen gelten.
Werden die Alltagsvorstellungen jedoch nicht überwunden, Beispielsweise wird der Teil des Auges, der ihm die kugeli-
erschweren sie das Weiterlernen und verhindern den Aufbau ge Form verleiht, als Glaskörper bezeichnet. Es handelt sich
eines fachlich angemessenen Verständnisses. um eine gallertige Masse, die von einer Membran umgeben
ist. Die Lernenden assoziieren mit dem Begriff Glaskörper
jedoch eine feste Struktur gleich einer Murmel. Schmetter-
lingsblütengewächse werden auch nicht von Schmetterlingen
8.1.1 Schülervorstellungen in der Biologie bestäubt, sondern erinnern lediglich in ihrer Anatomie an das
Aussehen eines Falters. Schließlich kann auch der Unterricht
Im Bereich der Biologie gibt es, ebenso wie in den anderen selbst zu fachlich falschen Vorstellungen der Lernenden füh-
naturwissenschaftlichen Bereichen, zusammenfassende Dar- ren. Wird im Unterricht beispielsweise ein Strukturmodell
stellungen, die Schülervorstellungen beschreiben, kategori- einer Lunge eingesetzt, sollte unbedingt eine Modellkritik
sieren und Ursachen für fachlich abweichende Vorstellungen erfolgen, damit Lernende nicht schließen, die Beschaffenheit
identifizieren, um daraus Implikationen für den Unterricht der Lunge sei plastikartig und die Farbgebung entspräche der
abzuleiten (Hammann & Asshoff 2014; Kattmann 2015). Im des Modells.
Folgenden sollen einige dieser Schülervorstellungen exem- Wie sollte mit Schülervorstellungen im Unterricht um-
plarisch dargestellt werden. gegangen werden? Bestehende und der Lehrkraft bekannte
Die wohl bekannteste Schülervorstellung aus dem Be- Schülervorstellungen sollten nicht als Defizit, sondern als
reich der Biologie stammt aus der Evolutionsbiologie: Viele Lerngelegenheiten betrachtet werden. Allerdings können be-
Schulpflichtige, aber auch Erwachsene, denken, dass Organis- stehende Vorstellungen nicht einfach ersetzt, sondern müssen
men erworbene körperliche Merkmale an ihre Nachkommen durch unterrichtliches Handeln in fachlich angemessene Vor-
weitergeben können. Eine Giraffe beispielsweise, die ihren stellungen überführt werden. Hierzu kann sich die Lehrkraft
Hals immer wieder reckt, um an das Blattwerk hoher Bäu- verschiedener Lehrstrategien bedienen, die Kattmann (2015)
me zu gelangen, wird einen längeren Hals bekommen und als (1) Anknüpfen, (2) Perspektive wechseln, (3) Kontrastie-
kann diesen an ihre Nachkommen vererben. Diese Vorstel- ren und (4) Brückenbauen bezeichnet.
lung stimmt mit der derzeit dominierenden wissenschaftli- Bei allen vier Vorgehensweisen sollte in einem ersten
chen Sicht nicht überein. Vielmehr werden von Generation Schritt die Vorstellung der Schülerin oder des Schülers fest-
146 Kapitel 8  Fachliches Lernen

. Abb. 8.1 Schülervorstellungen


zum Thema Blutkreislauf (nach
Hammann 2003, S. 31)

8 gestellt werden. Dann können verschiedene Lehrstrategien Rückmeldung ermöglicht, kann das bestehende Defizit be-
zum Einsatz gelangen. Beim Anknüpfen wird die Schüler- wusst gemacht und die Lernenden motiviert werden, dieses
vorstellung als Ansatzpunkt für die Einführung der fach- zu überwinden. In der zweiten Phase, der Konzeptfindungs-
lich richtigen Vorstellung genutzt. Beim Perspektivwechsel phase, werden Materialien zur Verfügung gestellt, mit denen
wird die Sichtweise des Lernenden durch die fachlich kor- die Lernenden sich selbst erklären können, warum bestimmte
rekte Vorstellung ergänzt, indem beide Perspektiven einan- Vorstellungen nicht richtig sein können. Hat ein Lernen-
der gegenübergestellt werden. Beim Kontrastieren wird die der beispielsweise zahllose Venen und Arterien an das Herz
wissenschaftliche Vorstellung der Schülervorstellung derart gezeichnet, kann er an einem anatomischen Modell die An-
entgegengesetzt, dass sie beim Lernenden einen kognitiven zahl der Anschlüsse nachzählen. Werden die Adern nicht als
Konflikt hervorruft. Beim Brückenbauen wird ähnlich wie Kreislauf gezeichnet, kann die Frage weiterhelfen, wie das
beim Anknüpfen der Lernende stufenweise von seiner Vor- Blut aus den Gliedmaßen denn wieder zum Herzen zurück-
stellung zur fachlich richtigen Vorstellung geführt. kommen soll, um Blutstauungen und ein Anschwellen der
Die Strategie des Kontrastierens ist von allen vieren si- Extremitäten zu verhindern (Hammann 2003; . Abb. 8.1).
cherlich die bekannteste. Sie kommt der aus der Psychologie Am Ende der zweiten Unterrichtsphase sollten die Schülerin-
stammenden Strategie zur Förderung des Konzeptwechsels nen und Schüler ihre Zeichnungen korrigieren. In der dritten
(Conceptual Change) am nächsten (Krüger 2007). Bei dieser Phase, der Konzeptanwendung, wird neben dem Konzept des
Strategie geht es darum, Unzufriedenheit mit der aktuellen Sauerstoffs noch ein weiteres Konzept, beispielsweise das der
Vorstellung hervorzurufen und die neue Vorstellung ver- Nährstoffe, eingeführt. Mit Hilfe der neu gelernten Vorstel-
ständlich (intelligible), plausibel (plausible) und gedanklich lung sollen die Lernenden erklären, wie die Nährstoffe im
fruchtbar (fruitful) in den Unterricht einzuführen. menschlichen Körper verteilt werden.
Der Lernzyklus (Learning Cycle) stellt eine konkrete Mög- Um auf die Überwindung von Schülervorstellungen zuge-
lichkeit dar, wie man eine wissenschaftlich korrekte Vorstel- schnittenen Unterricht zu planen, wurde das Modell der di-
lung durch einen Konzeptwechsel in den Unterricht einbrin- daktischen Rekonstruktion vorgeschlagen (Kattmann, Duit,
gen kann (Weitzel 2004). Dazu soll in einem ersten Schritt das Gropengießer & Komorek 1997). Es beruht auf einer kon-
zu erklärende Phänomen exploriert werden. In einem zwei- struktivistischen Lerntheorie (7 Kap. 1) und empfiehlt der
ten Schritt soll die neue Vorstellung gefunden und mithilfe Lehrkraft, sich bei der Unterrichtsplanung und didaktischen
der Lehrkraft das Verständnis davon verfeinert werden. In ei- Strukturierung des Unterrichts nicht nur mit den fachlichen
nem dritten Schritt soll die fachlich richtige Vorstellung in Inhalten der Unterrichtsstunden, sondern auch mit den zu-
einer anderen Situation angewendet beziehungsweise auf die- gehörigen Schülervorstellungen zu beschäftigen.
se übertragen werden.
Stellen Sie sich vor, Sie wollten mit Schülerinnen und
Schülern der sechsten Jahrgangsstufe erarbeiten, wie die Sau-
erstoffversorgung im menschlichen Körper funktioniert und 8.1.2 Schülervorstellungen
welche Rolle dabei der Blutkreislauf spielt. Viele Schülerinnen in der Mathematik
und Schüler haben den Begriff Blutkreislauf schon einmal
gehört. Werden die Lernenden in der ersten Phase, der Explo- Mathematik wird oft als Domäne betrachtet, die räumlich-
rationsphase, jedoch gebeten, den Blutkreislauf in den Umriss visuelle Vorstellungskraft und logisches Denkvermögen er-
eines menschlichen Körpers einzuzeichnen, geschieht dies fordert. Es sind also weniger Erfahrungen des Lebensalltags,
nur selten richtig. Weil die Aufgabenstellung eine konkrete die Lernende zu Fehlschlüssen verleiten, als eingeschränk-
8.1  Schülervorstellungen
147 8
te Vorstellungen zu einem mathematischen Konzept, die oft ihnen Stapel mit acht und vier Klötzchen und hielt Stapel mit
durch Übergeneralisierungen oder falsche Analogien kom- zwölf und fünf Klötzchen dagegen, wussten sie, dass diese nicht
pensiert werden. Für mehrere mathematische Fähigkeits- gleich waren. Dennoch schrieben sie bei der Rechenaufgabe
bereiche wurden in der Vergangenheit typische Fehler der wieder 12 in das leere Feld.
Lernenden beschrieben (Eichelmann, Narciss, Schnaubert & Um Grundschulkindern die Bedeutung des Gleichheitszei-
Melis 2012; Leinhardt, Putnam & Hattrup 1992). chens zu vermitteln, ist es günstig, mit ihnen verschiedene
Ein Beispiel ist das Funktionskonzept, das Zusammen- wahre und falsche Gleichungen zu diskutieren (Davis 1964).
hänge zwischen Größen beschreibt. Soll ein Bild in dreifacher Das Gleichheitszeichen sollte darin an unterschiedlichen Posi-
Größe auf Papier gedruckt und in seinen Proportionen erhal- tionen auftauchen. Dadurch gewinnen Kinder die Einsicht, dass
ten bleiben, muss es nicht nur drei Mal so hoch, sondern auch Gleichheit eine Beziehung ausdrückt und nicht das Signal dafür
drei Mal so breit gedruckt werden. Dazu benötigt man aber ist, etwas zu berechnen.
nicht drei, sondern neun Mal so viel Farbe. Viele Schülerin-
nen und Schüler gehen jedoch intuitiv davon aus, dass funk- Wenn Schülervorstellungen aus einer eingeschränkten
tionale Zusammenhänge im Allgemeinen lineare Eigenschaf- Behandlung im Unterricht resultieren, liegt eine frühe Prä-
ten aufweisen (de Bock, van Dooren, Janssens & Verschaffel ventionsstrategie nahe. Der bis vor wenigen Jahren weit ver-
2007). Weiterhin wird bei Funktionen und Funktionsgraphen breitete Aufbau des Funktionskonzepts ging von proportio-
häufig angenommen, dass es sich bei der Variable auf der x- nalen Funktionen als „einfachstem“ Fall aus, und erst nach
Achse um die ablaufende Zeit handelt. Oft wird der Graph deren ausführlicher Behandlung im Unterricht wurde er auf
auch mit einer bildlichen Darstellung der Situation verwech- weitere Funktionstypen erweitert. Es liegt auf der Hand, darin
selt (Leinhardt et al. 1992), z. B. indem der Aufstieg auf einen einen Grund für eingeschränkte konzeptuelle Vorstellungen
Berg mit einem ansteigenden Graphen identifiziert wird, zu sehen. Entsprechend wird nun bereits bei der Einfüh-
auch wenn z. B. abnehmender Luftdruck dargestellt werden rung des Funktionskonzepts ein stärkerer Fokus auf nicht-
soll. Derartige konzeptuelle Einschränkungen werden häufig proportionale, insbesondere nicht-lineare Zusammenhänge
darauf zurückgeführt, dass abstrakte mathematische Konzep- in der Realität gelegt. Da jedoch Strategien zum Umgang mit
te anhand konkreter Beispiele und Darstellungen erworben proportionalen Größen bereits vor der Einführung des Funk-
werden. Decken verwendete Beispiele nicht die ganze Brei- tionskonzepts erlernt werden (z. B. im Rahmen der Prozent-
te des Konzepts ab, werden also beispielsweise im Unter- rechnung), ist nicht zwingend zu erwarten, dass das Problem
richt überwiegend proportionale Funktionen behandelt oder dadurch vollständig gelöst werden kann.
werden Beziehungen zwischen verschiedenen Darstellungen Neben der bereits für die Biologie beschriebenen Kon-
nicht thematisiert, so können entsprechende Einschränkun- zeptwechselstrategie, die einen bewussten Übergang zu neu-
gen entstehen, die schwer zu beseitigen sind (de Bock et al. en Vorstellungen vorbereitet, wurde im Fach Mathematik das
2007). Arbeiten mit typischen Fehlern als eine aussichtsreiche Kon-
frontationsstrategie untersucht, um ggf. fehlerhaft aufgebaute
Studie: Was bedeutet das Gleichheitszeichen für Kinder? Vorstellungen zu korrigieren (Oser 1999; Santagata 2005).
In der Mathematik wird das Gleichheitszeichen so häufig ver- Dabei lassen sich – je nach Schülervorstellung und Unter-
wendet, dass es eigentlich keine abweichende Vorstellung über richtssituation – von der Lehrkraft vorbereitete fehlerhafte
dessen Bedeutung geben sollte. Falkner, Levi und Carpen- Lösungen einbringen oder die Fehler der Lernenden analy-
ter (1999) fanden jedoch erstaunliche Ergebnisse, als sie 750 sieren. Eine Herausforderung besteht darin, die Lernenden
Grundschulkinder mit folgendem Problem konfrontierten: über eine Korrektur ihrer Lösung hinaus anzuregen, die nicht
tragfähigen Vorstellungen hinter ihren Fehlern zu ergründen
8C4 DC5 und anzupassen. Hier hat sich eine Strategie als effektiv erwie-
sen, die eine Fehlerbeschreibung (wie wurde bei der falschen
Typischerweise antworteten die Kinder mit 12 oder 17 als ihrer Lösung vorgegangen), Fehlererklärung (warum führt dieses
Meinung nach richtiger Lösung. Weniger als zehn Prozent der Vorgehen zur falschen Lösung), Fehlerkorrektur (wie wäre
Grundschulkinder gaben mit 7 die richtige Antwort, und dieses es richtig gewesen) und vertiefende Auseinandersetzung mit
Problem verschwand auch nicht mit zunehmendem Alter. dem Fehler vorsieht. Für den letzten Schritt kann beispiels-
Offenbar haben Grundschulkinder ein begrenztes Ver- weise überlegt werden, bei welchen Aufgaben ein ähnlicher
ständnis von Gleichheit. Anfänglich denken sie beim Gleich- Fehler auftreten würde (Heemsoth & Heinze 2016). Neben
heitszeichen, dass sie eine Berechnung des davorstehenden solchen Strategien zum Umgang mit Fehlern, die sowohl an
Ausdrucks vornehmen und das Ergebnis dahinter schreiben Lernende vermittelt als auch in den Unterricht eingebunden
müssen. So kommen die meisten Kinder auf 12. Einige be- werden können, wird allgemein ein „evolutionärer Umgang
rücksichtigen noch die weitere Addition und erhalten 17 als mit Schülervorstellungen“ als aussichtsreich erachtet, der die
Resultat. Vorstellungen von Lernenden mit ihren Stärken und Schwä-
Diese Denkweise ist so robust, dass selbst eine Interven- chen explizit aufgreift und sie zu fachlich tragfähigen Vorstel-
tion die Kinder nicht zum Umdenken veranlasste. Zeigte man lungen weiterentwickelt.
148 Kapitel 8  Fachliches Lernen

8.2 Wissenserwerb 2014). In verschiedenen Studien konnte gezeigt werden, dass


ein auf grundlegenden Konzepten basierender Unterricht bei
Wenn Schülerinnen und Schüler im Unterricht Wissen er- Schülerinnen und Schülern tatsächlich ein stärker vernetztes
werben, wird eine kognitive Repräsentation von Lerngegen- Wissen zur Folge hat (Förtsch, Heidenfelder, Spangler & Neu-
ständen im Langzeitgedächtnis aufgebaut (7 Kap. 2). In An- haus 2017; Wadouh et al. 2014).
lehnung an Anderson und Krathwohl (2001) gilt es verschie- Um in Zukunft bei den Schülerinnen und Schülern ei-
dene Arten des Wissens voneinander zu unterscheiden: ne stärker vernetzte Wissensbasis aufzubauen, definieren die
4 Deklaratives Wissen ist das Wissen über Sachverhalte aktuellen Bildungsstandards Biologie (KMK 2005a) drei Ba-
(Wissen, was). Es umfasst das gesamte Faktenwissen, z. B. siskonzepte: Struktur-Funktion, System und Entwicklung. Sie
über Buchstaben, Wörter, Zahlen, Mengen, geometrische sollen helfen, eine Vielzahl fachlicher Phänomene zu erklä-
Formen, Tiere oder Pflanzen, als Grundlage effizienten ren und einzelne Wissenselemente sinnvoll miteinander zu
Problemlösens in einem Unterrichtsfach. verknüpfen. Die Auswahl dieser drei grundlegenden Kon-
4 Konzeptuelles Wissen ist eine komplexere Form des de- zepte ist jedoch rein normativ. Andere Arbeitsgruppen kom-
klarativen Wissens. Es beinhaltet durch Relationen ver- men zu anderen grundlegenden Konzepten. Die Einheitli-
bundenes Faktenwissen und zeigt sich in Form von Klas- chen Prüfungsanforderungen für die Abiturprüfung Biolo-
sifikationen, Prinzipien, Kategorien, Modellen oder Sche- gie in Deutschland geben beispielsweise acht Prinzipien vor
mata. Der Satz des Pythagoras oder die Evolutionstheorie (KMK 2004).
Seit den 1970er Jahren gibt es immer wieder Ansätze,
8 sind Beispiele für das vernetzte, konzeptuelle Wissen.
die versuchen, den Biologieunterricht nach grundlegenden
4 Prozedurales Wissen bezeichnet das Wissen über Fertig-
keiten und deren Ausübung (Wissen, wie). Es manifestiert Prinzipien zu gestalten (Kattmann & Issensee 1977). Be-
sich in der Anwendung von Methoden, Algorithmen, kannt geworden sind vor allem die universellen Lebensprin-
Prozeduren, Routinen, Techniken oder Skripten. Schüle- zipien von Schaefer (1990) und die von Baalmann et al.
rinnen und Schüler benötigen ihr prozedurales Wissen (2002) vorgeschlagenen Erschließungsfelder. Alle diese An-
beim Experimentieren oder Berechnen einer Gleichung. sätze verfolgen dasselbe Ziel, nämlich eine Vernetzung der
4 Metakognitives Wissen ist das Bewusstsein und Wissen Unterrichtsinhalte im Sinne des kumulativen Lernens zu för-
über die eigenen Kognitionen. Es enthält strategisches dern (Schmiemann, Linsner, Wenning & Sandmann 2012).
Wissen zur Informationsverarbeitung und Problemlö- Diese grundlegenden Konzepte lassen sich als „Rückgrat“
sung sowie zur Überwachung und Steuerung des Lern- des Faches verstehen. Es verleiht dem Unterrichtsgeschehen
prozesses. Metakognitives Wissen hilft Informationen zu Struktur und soll dabei helfen, das Wissen besser zu veran-
organisieren oder anzureichern, Wissenslücken oder Be- kern. Ähnliche Ansätze gibt es auch in Australien mit einem
arbeitungsfehler festzustellen und zu beheben. nationalen Curriculum aus sechs grundlegenden Konzepten
(ACARA 2014) oder in den USA mit vier übergeordneten
Konzepten für die Biologie und sieben übergeordneten Kon-
zepten für alle Naturwissenschaften (NRC 2012).
8.2.1 Wissenserwerb in den Es stellt sich die Frage, wie Unterricht aufgebaut und
Naturwissenschaften strukturiert werden kann, der sich an grundlegenden Kon-
zepten orientiert. Im Rahmen der Konzeptwechselforschung
Kennzeichnend für den Wissenserwerb in der Biologie ist, existieren dazu zwei prominente Denkansätze (Özdemir &
dass, stärker als in anderen naturwissenschaftlichen Fächern, Clark 2007), die vermutlich je nach Vorwissen der Schülerin-
umfangreiches deklaratives Wissen „angehäuft“, konzeptuel- nen und Schüler im Unterricht Anwendung finden: der Rah-
les Wissen aber nur unzureichend aufgebaut wird (vgl. Sand- mentheorieansatz und der Fragmentierungsansatz (Schnei-
mann, Schmiemann, Neuhaus & Tiemann 2013). Allgemein der & Hardy 2013).
wurden die unbefriedigenden Leistungen deutscher Schüle- Nach dem Rahmentheorieansatz sind einzelne Konzepte
rinnen und Schüler in TIMSS u. a. darauf zurückgeführt, dass von Schülerinnen und Schülern in größere mentale Netzwer-
im naturwissenschaftlichen Unterricht zu wenig kumulativ ke eingebettet. Man spricht hier auch von Theorien. Kinder
gelernt, d. h. zu wenig übergeordnetes Konzeptwissen erwor- bilden bereits in frühen Lebensjahren erste Theorien über
ben wurde (Baumert et al. 2001). Phänomene ihrer Umwelt, die im Laufe des Lebens basierend
Einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vertre- auf Erfahrungen und Lernprozessen fortlaufend zu neuen
ten die Meinung, dass die alleinige Speicherung von Kon- Theorien umgebaut werden (Vosniadou 1994). Ein Umbau
zepten nicht ausreicht, sondern zusätzlich gelernt werden kann nur dann erfolgen, so die Annahme, wenn es zu kogniti-
muss, wie die Konzepte zueinander in Beziehung stehen und ven Konflikten zwischen neuen Erfahrungen und bisherigen
in welchen Situationen sie Anwendung finden. Dem Bio- Theorien kommt.
logieunterricht wirft man vor, dass er eben keine vernetz- Nach dem Fragmentierungsansatz wiederum besteht
ten Wissensstrukturen hervorbringt, sondern auf der Ebene Wissen aus einzelnen Elementen, die erst nach und nach
einzelner deklarativer Fakten stehenbleibt. Zusammenhänge zu Theorien verknüpft werden. Die einzelnen Elemente wer-
und übergeordnete Konzepte werden – so die Kritik – häu- den in spezifischen Situationen gemeinsam aktiviert. Je nach
fig zu wenig vermittelt (Wadouh, Liu, Sandmann & Neuhaus Erfahrungen werden unterschiedliche Muster von Elemen-
8.2  Wissenserwerb
149 8
ten aktiviert und bilden so spezifische Konzepte aus. Neue
Wissenselemente werden beständig in bestehende Element- selbst in Partnerarbeit den Kniesehnenreflex ausprobieren.
muster eingebaut (diSessa, Gillespie & Esterly 2004). Sie sammeln die Namen verschiedener Reflexe an der
Je nachdem welcher Ansatz sich in der Forschung in Tafel und berichten, dass es eine Krankheit gibt, bei der
Zukunft als richtungsgebend erweist, müssen in unterricht- Menschen keine Reflexe haben. Daraufhin lassen Sie
lichen Situationen entweder kognitive Konflikte ermöglicht Hypothesen bilden, welche anatomischen Strukturen bei
oder aber Konzepte schrittweise aufgebaut und Wissensele- diesen Menschen evtl. gestört sind, so dass die Funktion
mente sinnvoll miteinander vernetzt werden. Unabhängig da- nicht mehr erfüllt wird. In der Unterrichtsstunde zum
von bleibt festzuhalten, dass Unterricht nach beiden Ansätzen Basiskonzept Entwicklung legen Sie hingegen eine Folie
nicht auf der Ebene der Fakten stehen bleibt, sondern immer auf, die die Nervensysteme verschiedener Tierstämme
auch Zusammenhänge und übergeordnete Konzepte vermit- zeigt. Dazu stellen sie die Frage, welche dieser Tierstämme
telt (vgl. Nachreiner, Spangler & Neuhaus 2015). Förtsch, Reflexe zeigen und welche nicht. Die Lernenden sollen ihre
Dorfner, Baumgartner, Werner, von Kotzebue und Neuhaus Antworten begründen.
(2017) konnten folgende Charakteristika eines erfolgreichen
basiskonzeptorientierten Unterrichts herausarbeiten:
1. Arbeit mit kognitiven Konflikten/Fokusfragen,
2. Bewusstmachen des Lernstandes,
3. Arbeit mit den Schülerbeiträgen, 8.2.2 Wissenserwerb in der Mathematik
4. Achten auf fachliche Korrektheit,
5. Einfordern von Begründungen, Auch in der Mathematik wird Wissen entlang zentraler Kon-
6. Schaffen einer klaren Sachstruktur des Unterrichts, zepte organisiert, die im Unterricht kumulativ aufgebaut
7. Nutzung anspruchsvoller Aufgaben und werden. Die Bildungsstandards der KMK unterscheiden bei-
8. Schaffung eines positiven Klassenklimas inkl. einer posi- spielsweise die konzeptuellen Leitideen „Zahl“, „Messen“,
tiven Fehlerkultur. „Muster und Strukturen bzw. Funktionaler Zusammenhang“,
„Raum und Form“ und „Wahrscheinlichkeit, Daten und Zu-
Diese Aspekte finden sich in allgemeiner Form auch in Mo- fall“. Die oft strenge hierarchische Struktur mathematischer
dellen guten Unterrichts oder Planungsmodellen von Unter- Konzepte stellt viele Lernende dabei vor Herausforderungen.
richt wieder. Neuhaus und Kollegen (2014) beschreiben ba- Typisch ist die Überzeugung, dass ein Quadrat kein Rechteck
sierend auf diesen Charakteristika, wie Unterricht so geplant sei, weil Rechtecke nur je zwei, aber nicht vier gleichlange Sei-
werden kann, dass konzeptuelles Wissen auf der Grundla- ten haben dürften (Heinze 2002). Korrekt ist aber, dass jedes
ge eines spezifischen Basiskonzepts erworben werden kann Quadrat auch ein Rechteck ist, weil das Rechteck den hierar-
(7 Im Fokus). chisch übergeordneten Begriff bildet.
Auch Vernetzungen zwischen verschiedenen Teilgebie-
Im Fokus: Nutzung von Basiskonsepten (Neuhaus et al. 2014) ten der Mathematik werden als wichtig erachtet. Spezifisch
für die Mathematik ist zum Beispiel, dass mathematische
Stellen Sie sich vor, Sie möchten eine Unterrichtsstunde zum Konzepte häufig in unterschiedlichen Darstellungen auftre-
Thema Reflexbogen planen. Einmal sollen Sie sich dabei auf ten können, die jeweils nicht alle Aspekte des Konzepts gleich
das Basiskonzept Struktur-Funktion, das andere Mal auf das gut sichtbar machen (Duval 2006; Nistal, van Dooren &
Basiskonzept Entwicklung beziehen. Wie unterscheiden sich Verschaffel 2014). So sind beispielsweise Polstellen von Funk-
die beiden Stunden? tionen anhand eines Funktionsterms recht gut identifizierbar,
Minima und Maxima – bis zu einer gewissen Genauigkeit
Lernziel – dagegen besser im Graphen abzulesen. Die Steigung ei-
Bereits die Lernziele beider Stunden unterscheiden sich. In ner linearen Funktion ist in unterschiedlichen Darstellungen
der Unterrichtsstunde zum Basiskonzept Struktur-Funktion auf verschiedene Weise zu erkennen: im Funktionsgraphen
verfolgen Sie das Ziel, dass die Lernenden verstehen, als Neigung der Geraden, im Funktionsterm als Faktor vor
welche biologischen bzw. anatomischen Strukturen nötig der veränderlichen Variablen und in der Wertetabelle als der
sind, damit eine möglichst schnelle Reaktion auf einen konstante Abstand von bestimmten Funktionswerten. Eine
Reiz hin möglich wird. Beim Basiskonzept Entwicklung Steigung kann darüber hinaus sehr unterschiedliche Phäno-
versuchen Sie beispielsweise zu erklären, dass eine Differen- mene beschreiben: eine Geschwindigkeit, einen Stückpreis,
zierung zwischen Reflex und willentlichem Verhalten nur bei die Dichte eines Materials etc. Ein wesentlicher Teil von
Tierstämmen einen Sinn macht, bei denen man zwischen pe- Begriffsverständnis ist es, zwischen den Darstellungsformen
ripherem und zentralem Nervensystem unterscheiden kann. flexibel wechseln zu können, um das Phänomen je nach Pro-
blemstellung zugänglich zu machen (Kaput 1989; Gagatsis
Frage an die Lernenden in der Hinführungsphase & Shiakalli 2004). Es zeigt sich jedoch, dass viele Lernende
In der Unterrichtsstunde zum Basiskonzept Struktur- Aufgaben nicht mit der am besten geeigneten Darstellung lö-
Funktion lassen Sie die Schülerinnen und Schüler sen, sondern individuell und unabhängig von der Aufgabe
eine bestimmte Darstellungsweise bevorzugen. Nistal et al.
150 Kapitel 8  Fachliches Lernen

Beispiel Rechteckdarstellungen
Wie gross ist 1/4 + 1/5 genau?
Hier siehst du ein weiteres Modell. Wir nennen es Rechteckmodell . Damit kannst
du zwei verschiedene Brüche gleichzeitig darstellen und dann ihre Summe ablesen.

3. Schritt 4. Schritt
Färbe im Rechteck einen Viertel Zeichne ein neues Rechteck mit
1. Schritt 2. Schritt rot und einen Fünftel blau. gleicher Unterteilung. Ordne die
Zeichne ein Rechteck und teile Teile dasselbe Rechteck 1/20 des Rechtecks ist doppelt Bruchteile so an, dass du an kei-
es senkrecht in vier Viertel. waagrecht in fünf Fünftel. gefärbt . ner Stelle doppelt färben musst.

8
. Abb. 8.2 Rechteckdarstellungen zur Veranschaulichung der Addition von Brüchen (nach Affolter, Amstad, Doebeli & Wieland 2010, S. 37)

(2014) fanden, dass es Lernenden deutlich leichter fällt mit zen zu können“ (Weinert 2001, S. 27f). Der Kompetenzbegriff
Funktionen umzugehen, wenn sie gelernt haben, passende geht insoweit über den Wissensbegriff (7 Abschn. 8.2) hinaus,
Darstellungsformen für jeden Aufgabentyp zu wählen. als er stärker den Handlungsbezug in realen Kontexten be-
Besonders das Ziel der Vernetzung unterschiedlicher rücksichtigt.
Darstellungen von Konzepten hat für den Unterricht Konse- Im Folgenden werden zwei Kompetenzbereiche vorge-
quenzen. Gerade zur Erarbeitung von mathematischen Kon- stellt und exemplarisch ausgewählte Kompetenzmodelle er-
zepten und Ideen werden gezielt Darstellungen genutzt, die läutert. In Kompetenzstrukturmodellen wird versucht, ver-
Schülerinnen und Schüler selbst verwenden können, um Auf- schiedene Dimensionen einer Kompetenz zu beschreiben
gaben zu lösen, bevor sie entsprechende Regeln oder Zahl- und diese voneinander abzugrenzen. In Kompetenzentwick-
symbole gelernt haben (. Abb. 8.2). Anhand dieser sogenann- lungsmodellen wird dagegen die Ausbildung von Kompeten-
ten Arbeitsmittel werden Regelmäßigkeiten erarbeitet und zen beschrieben.
daraus Strategien oder Regeln für die Arbeit mit Zahlsymbo-
len abgeleitet (z. B. Radatz et al. 1996).
Während diese Arbeitsmittel vornehmlich für den Auf-
bau von Strategien und konzeptuellem Wissen genutzt wer- 8.3.1 Kompetenzerwerb in den
den, ist in anderen Bereichen, beispielsweise bei funktionalen Naturwissenschaften
Zusammenhängen, die gezielte Wahl von Darstellungen für
die Lösung von Aufgaben zentral. Neben der Fähigkeit zum In den Naturwissenschaften wird zwischen vier Kompetenz-
flexiblen Wechsel zwischen Darstellungen ist Wissen dazu er- bereichen unterschieden (KMK 2005a 2005b 2005c): Der
forderlich, welche Darstellungsform zur Lösung welcher Pro- Kompetenzbereich „Fachwissen anwenden“ bezieht sich auf
bleme hilfreich sein kann. Eine Möglichkeit, dieses Wissen die Verfügbarkeit und effektive Nutzung von Wissen über die
im Unterricht zu erlangen, ist, die Wahl von Darstellungen jeweiligen Inhalte. Die prozessbezogenen Kompetenzen „Er-
gezielt zu thematisieren oder Aufgabenmerkmale zu disku- kenntnisgewinnung“, „Kommunikation“ und „Bewertung“
tieren, die für die eine oder die andere Darstellungsweise werden dagegen als inhaltsübergreifend aufgefasst. Der Kom-
sprechen (Nistal et al. 2014). petenzbereich „Erkenntnisgewinnung“ umfasst die fachge-
mäßen Arbeitsweisen und Arbeitstechniken des naturwis-
senschaftlichen Fachs sowie ein grundlegendes Verständ-
8.3 Kompetenzerwerb nis der Struktur des Erkenntnisprozesses. Schülerinnen und
Schüler sollen verschiedene epistemische Aktivitäten lernen,
Kompetenzen sind „die bei Individuen verfügbaren oder z. B. Fragen zu stellen, die mit naturwissenschaftlichen Er-
durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertig- kenntnismethoden zu beantworten sind und sie sollen ler-
keiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit nen, diese Methoden selbständig anzuwenden (Hammann
verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Be- 2007; Mayer 2007). Der Kompetenzbereich „Kommunikati-
reitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in va- on“ (Lachmayer et al. 2007) beinhaltet die Fähigkeit, adres-
riablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nut- satenspezifisch zu kommunizieren, Fachsprache sachgerecht
8.3  Kompetenzerwerb
151 8
. Abb. 8.3 Dreidimensionales Kognitive Prozesse
Kompetenzstrukturmodell der na-
turwissenschaftlichen Kompetenz Integrieren
im Projekt ESNaS – Evaluation der Organisieren
Standards für die Naturwissen- Selegieren
schaften (nach Kauertz et al. 2010, Reproduzieren
S. 145)

Komplexität

Konzept
Mehrere Zusammenhänge
Ein Zusammenhang
Kompetenzbereiche
Mehrere Fakten
Ein Fakt Umgehen mit Fachwissen
Erkenntnis gewinnen
Kommunizieren
Bewerten

zu nutzen und Fachinhalte in verschiedene Repräsentations- wie gut Aspekte einzelner Tätigkeiten bereits beherrscht wer-
formen zu überführen. Der Kompetenzbereich „Bewertung“ den. Die Dimensionen gelten für verschiedene fachgemäße
beschreibt die Fähigkeit, naturwissenschaftliche Sachverhal- Arbeitsweisen wie das Betrachten ruhender Objekte, das Be-
te zu evaluieren. Dazu zählt die ethische wie die fachlich- obachten sich bewegender Objekte, das Untersuchen durch
inhaltliche Bewertung (Bögeholz 2007; Hößle 2007). den Eingriff ins System und das Experimentieren mit der
In den letzten Jahren wurde zu den Kompetenzberei- gezielten Manipulation von Variablen (vgl. Grönke & Win-
chen eine Vielzahl von Modellen entwickelt. Sie zielen auf delband 1962).
die Erfassung und Beschreibung verschiedener Kompetenz- Allgemein werden prozessbezogene Kompetenzen durch
dimensionen und sollen Kompetenzentwicklungen deutlich einen spezifischen Aufgabeneinsatz gefördert (7 Abschn. 8.5).
machen. Am Beispiel der Erkenntnisgewinnung soll veranschaulicht
Als grundlegendes Kompetenzmodell für die Naturwis- werden, wie Kompetenzmodelle genutzt werden können, um
senschaften soll das Modell zur Evaluation der Standards in Lernaufgaben zu einem speziellen Kompetenzbereich zu ent-
den Fächern Biologie, Chemie und Physik für die Sekundar- wickeln. Angenommen, Schülerinnen und Schüler der fünf-
stufe I (kurz: ESNaS-Modell) beschrieben werden (Kauertz, ten und sechsten Jahrgangsstufe sollen schrittweise an wis-
Fischer, Mayer, Sumfleth & Walpulski 2010) (. Abb. 8.3). senschaftliche Erkenntnismethoden herangeführt werden.
Das ESNaS-Modell wurde entwickelt, um Aufgaben zu Das Kompetenzmodell von Mayer (2007) besagt, dass die
den Kompetenzbereichen der Bildungsstandards zu konzi- Lernenden jede der einzelnen Dimensionen vermittelt be-
pieren. Die Aufgaben können sich je nach Kompetenzbereich kommen sollen. Die Lehrkraft kann beispielsweise eine Situa-
in vier kognitiven Prozessen und fünf Komplexitätsstufen tion schildern, zu der Schülerinnen und Schüler selbständig
voneinander unterscheiden. Als niedrigste Stufe eines kog- eine wissenschaftliche Fragestellung oder Hypothese entwi-
nitiven Prozesses wird das Reproduzieren definiert. Es ist ckeln sollen. Oder sie kann ein Experiment beschreiben und
gefordert, wenn Inhalte eines Textes identifiziert und wieder- fragen, welche Frage oder Hypothese die Wissenschaftlerin
gegeben werden sollen. Auf der höchsten kognitiven Stufe, oder der Wissenschaftler bei diesem Experiment wohl hatte.
dem Integrieren, müssen neue Informationen in vorhandenes Die Lehrkraft kann ferner eine Hypothese formulieren und
Wissen eingepasst werden. Die Komplexitätsstufen beinhal- die Schülerinnen und Schüler die zugehörige Fragestellung
ten aufsteigende Komplexitäten, die mit der Schwierigkeit benennen oder ein passendes Experiment dazu entwickeln
einer Aufgabe korrelieren. Aufgaben, die nach nur einem lassen. Schließlich kann sie einen vorgefertigten Datensatz
Fakt fragen, sind leichter zu beantworten als Aufgaben, die zur Auswertung geben. Auf der Basis bisheriger Erfahrungen
ein vollständiges Konzept ansprechen. Während das ESNaS- scheint wichtig, dass die Lehrperson die einzelnen Schritte
Modell zur Konstruktion von Aufgaben zu allen Kompetenz- wie Fragen formulieren, Hypothesen generieren, Untersu-
bereichen genutzt wird, gibt es auch Modelle, die sich nur auf chungen planen, Daten analysieren und Schlussfolgerungen
einzelne Kompetenzbereiche konzentrieren. ziehen schrittweise üben lassen sollte und dieses nicht al-
Das Strukturmodell von Mayer (2007) ist ein Beispiel aus lein im Kontext vollständiger Experimente geschehen sollte.
dem Bereich der Erkenntnisgewinnung. Es beschreibt für den Die Lehrkraft sollte keinesfalls darauf verzichten, den Schü-
Biologieunterricht vier epistemische Aktivitäten, die notwen- lerinnen und Schülern Hilfestellung zu geben. Metaanalysen
dig sind, um zu naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zu belegen eindrücklich, dass gezielte Anleitung durch die Lehr-
gelangen: Fragestellungen formulieren, Hypothesen generie- kraft forschendes Lernen sehr viel besser unterstützt als die
ren, Untersuchungen planen und durchführen sowie Daten Verantwortung für den Lernprozess von Anfang an vollstän-
auswerten und Schlussfolgerungen ziehen. Für jede Dimen- dig den Schülerinnen und Schülern zu übertragen (Furtak,
sion können Niveaustufen definiert werden, die beschreiben, Seidel, Iverson & Briggs 2012; Lazonder & Harmsen 2016).
152 Kapitel 8  Fachliches Lernen

8.3.2 Kompetenzerwerb in der Mathematik verarbeiten


Modell Ergebnisse

In verschiedenen Dokumenten staatlicher Einrichtungen und


Initiativen (z. B. KMK 2003; CCSSI 2011) werden in der

ematisieren

interpretieren
Mathematik neben konzeptuellen Leitideen unterschiedliche
Mathematik
prozessbezogene Kompetenzen unterschieden. Die Bildungs- Grundvor- Grundvor-
standards der KMK differenzieren beispielsweise sechs all- stellungen stellungen
Welt

math
gemeine Kompetenzen: mathematisch argumentieren, Pro-
bleme mathematisch lösen, mathematisch modellieren, ma-
thematische Darstellungen verwenden, mit formalen, techni-
schen und symbolischen Aspekten der Mathematik umgehen Situation Konsequenzen
va l i d i e r e n
und mathematisch kommunizieren.
Eine empirische Trennung der sechs prozessbezogenen
Kompetenzen in verschiedene Dimensionen eines Struktur- . Abb. 8.4 Der Modellierungskreislauf in der Mathematik
modells ist für die Mathematik bisher nicht gelungen. Ob Ler-
nende fachliche Anforderungen bewältigen können, hängt
anscheinend stärker davon ab, welche mathematischen Kon- spielsweise haben Zöttl, Ufer und Reiss (2010) sogenannte
8 zepte (sog. Leitideen) erforderlich sind und weniger, wie mit heuristische Lösungsbeispiele konzipiert und erprobt, um
diesen Inhalten gearbeitet werden muss. Die beschriebenen Lernenden anhand von beispielhaft dargestellten Lösungs-
allgemeinen Kompetenzen dienen jedoch als Orientierung prozessen eine dreischrittige Variante des Modellierungs-
für den Aufbau breit nutzbaren mathematischen Wissens. Für kreislaufs zu vermitteln. Schukajlow, Kolter und Blum (2015)
jeden Kompetenzbereich werden die Anforderungsbereiche nutzten einen sogenannten Lösungsplan, der den Lernen-
„Reproduktion“, „Verknüpfen“ sowie „Reflektieren und Ver- den Orientierung anhand von Leitfragen bietet. Eine analoge
allgemeinern“ unterschieden, die auf entsprechenden Kom- Strategie hat sich auch zur Förderung von Kompetenzen zum
petenzstufenmodellen aufbauen (z. B. Reiss, Hellmich & Tho- Beweisen als wirksam erwiesen (Chinnappan & Lawson 1996;
mas 2002 für das Beweisen; Curcio 1987 für den Umgang Kollar et al. 2014).
mit Darstellungen). Insbesondere bei höheren Anforderun- Dennoch ist umstritten, ob solche vollständigen, authen-
gen sind neben konzeptuellem Wissen auch Problemlösestra- tischen Anforderungen nicht gerade zu Beginn des Kompe-
tegien erforderlich. tenzerwerbs besonders Lernende mit niedrigen Vorkennt-
Für einige Kompetenzbereiche wurden in der Vergangen- nissen überfordern könnten. Entsprechend wird auch dafür
heit auf der Basis von Expertenbeobachtungen Prozessmo- argumentiert, Teile der recht komplexen Prozesse gezielt zu
delle entwickelt, die ein typisches Vorgehen bei den jeweiligen vermitteln und einzuüben. Dabei können zwei verschiede-
Anforderungen beschreiben. Ein Beispiel ist der Modellie- ne Vorgehensweisen verfolgt werden. Erstens ist es möglich,
rungskreislauf, in dem reale Problemstellungen mit Hilfe der konzeptuelles mathematisches Wissen, das für die Schrit-
Mathematik gelöst werden (. Abb. 8.4). Ausgehend von ei- te des Lösungsprozesses von Bedeutung ist, gezielt aufzu-
ner realen oder als Text beschriebenen Situation wird von bauen. Im Modellierungskreislauf ist beispielsweise spezifi-
der Schülerin oder dem Schüler zunächst ein – oft mehr oder sches Wissen darüber notwendig, welche realen Phänomene
weniger passendes – mentales Situationsmodell konstruiert. und Strukturen mit welchen mathematischen Konzepten be-
Dieses Situationsmodell wird in die Sprache der Mathematik schrieben werden können (sog. Grundvorstellungen; vom
in ein mathematisches Modell überführt. Das im Modell ent- Hofe 1995). Derartiges Wissen lässt sich gezielt im Unter-
haltene Problem kann nun mittels mathematischer Methoden richt aufbauen, indem ein breites Spektrum unterschiedlich
gelöst werden. Das resultierende Ergebnis wird im Kontext strukturierter Situationen zu einem Konzept diskutiert und
der Situation interpretiert und es werden Konsequenzen für verglichen wird. Zweitens können weiterhin gezielt Strategi-
das Ausgangsproblem gezogen. Schließlich muss in realen Si- en für einzelne Phasen des Problemlöseprozesses vermittelt
tuationen überprüft werden, ob die Konsequenzen vor dem werden. Beispielsweise kann eine Skizze für das Lösen von
Hintergrund der Situation sinnvoll und tragfähig erscheinen. Modellierungsaufgaben genutzt (Reuter, Schnotz & Rasch
Auch wenn reale Lösungsprozesse häufig von den ideal- 2015) oder es können bekannte und unbekannte Größen in
typischen Modellen abweichen, geben diese doch einen Ein- der Figur zu einer geometrischen Berechnungs- oder Be-
blick, was getan werden muss, um Anforderungen erfolgreich weisaufgabe systematisch eingefärbt werden (Heinze, Cheng,
zu bewältigen. Weiterhin lassen sich die Modelle verwenden, Ufer, Lin & Reiss 2008).
um typische Fehler, beispielsweise beim mathematischen Mo- Bruder (2003b) hat ein Modell entwickelt, das sich für die
dellieren, zu beschreiben. Vermittlung fachlicher Problemlösestrategien als wirksam er-
Weil Lernenden die Auseinandersetzung mit authenti- wiesen hat. Sie unterscheidet dabei vier Phasen, in denen
schen Anforderungen häufig schwerfällt, wurden verschiede- die Schülerinnen und Schüler (1) an die Nutzung von heu-
ne Ansätze entwickelt, um ihnen vereinfachte Prozessmodelle ristischen Strategien gewöhnt werden. Dadurch lernen sie
als Orientierung für den Lösungsprozess zu vermitteln. Bei- Vorgehensweisen, die nicht sicher zur Lösung führen, aber
8.4  Fachsprache
153 8
häufig hilfreich für den Lösungsweg sind. (2) Einzelne Strate- hier von der epistemischen Funktion von Sprache, also ihrer
gien werden bewusst vermittelt. (3) Diese Praktiken werden Rolle für die Konstruktion von Wissen.
anhand unterschiedlicher Aufgaben eingeübt und es werden
Merkmale von Situationen besprochen, in denen die Strate-
gie besonders hilfreich ist. Schlussendlich wird (4) die neu
erlernte Strategie im Kontext von Aufgaben eingesetzt, die 8.4.1 Fachsprache in den
teilweise auch andere Vorgehensweisen bzw. eine Kombina- Naturwissenschaften
tion mit anderen Strategien erfordern.
Zusammenfassend kann (mathematischer) Kompetenz- Sprache lässt sich nach Hallidays Registertheorie (Halliday
erwerb verstanden werden als Erwerb von konzeptuellem 1978) auf Basis ihrer Funktion unterteilen. Demnach sind Re-
Wissen (7 Abschn. 8.2), der durch Strategien und Metawissen gister „für einen bestimmten Kommunikationsbereich cha-
zu mathematischen Arbeitsweisen im Sinne prozessbezoge- rakteristische und angemessene Sprech- und Schreibweisen
ner Kompetenzen (7 Abschn. 8.4) ergänzt wird. Es wird – . . . , die durch bestimmten Wortschatz und Strukturen ge-
wie in der Biologie auch – angenommen, dass beide Aspekte kennzeichnet sind“ (ISB 2017). Dementsprechend kann zwi-
durch die Beschäftigung mit kognitiv herausfordernden Auf- schen Alltagssprache, Bildungssprache und Fachsprache un-
gaben erworben werden können. terschieden werden. Alltagssprache ist eine für alle Mitglieder
einer Gesellschaft verfügbare Sprache, die die Basis für alle
anderen Sprachregister darstellt (Riebling 2013). Bildungs-
sprache kann als fächerübergreifende Sprache des Wissens-
8.4 Fachsprache erwerbs und der Wissensproduktion betrachtet werden, un-
abhängig von Einzelsprachen und mit klarem Rückbezug
Fachliches Lernen ist u. a. dadurch charakterisiert, dass die zur Alltagssprache (Riebling 2013). Sie ist prinzipiell allen
Schülerinnen und Schüler mit fachspezifischen Sprach- und Mitgliedern einer Gesellschaft zugänglich (Habermas 1981).
Kommunikationsmustern vertraut gemacht werden und so Unter Fachsprache versteht man die gemeinsame Sprache
einen tieferen Einblick in das Fach erhalten. Wie bedeutsam der Mitglieder einer Disziplin, die dem effizienten Austausch
die korrekte und angemessene Nutzung von Fachsprache er- zwischen Fachvertreterinnen und Fachvertretern dient und
achtet wird, zeigt sich mit einem Blick auf die politischen Vor- so die Kommunikation in der so genannten Scientific Com-
gaben für den mathematisch-naturwissenschaftlichen Un- munity vereinfacht und präzisiert (vgl. Schmiemann 2011).
terricht. Der Kompetenzbereich Kommunikation ist in den Damit kann Fachsprache nicht unabhängig vom Fach existie-
deutschen Bildungsstandards für Mathematik, Biologie, Che- ren und ist auch nicht für jeden Menschen gleich zugänglich.
mie und Physik fest verankert und mit ihm auch die korrekte Sprache im Unterricht kann als eine Form von Bildungs-
Nutzung von Fachsprache (KMK 2005a, 2005b, 2005c). Auch sprache verstanden werden, die auch als Bindeglied zwischen
in den USA findet die Bedeutung der Fachsprache in den na- Alltags- und Fachsprache dient. Der Grad der Komplexi-
tionalen Bildungsstandards Anerkennung (NRC 2012; CCS- tät nimmt dabei über die Schulzeit hinweg zu. Sowohl die
SI 2011). Bildungs- als auch die Fachsprache unterscheiden sich von
In welcher Form Sprache für das fachliche Lernen Bedeu- der Alltagssprache insbesondere in lexikalischen und gram-
tung hat, kann sehr unterschiedlich sein. Aus fachzentrierter matikalischen Merkmalen. Charakteristisch für die Bildungs-
Sicht steht oftmals im Vordergrund, dass Fachbegriffe erlernt und die Fachsprache sind beispielsweise die Nutzung vie-
und korrekt angewendet werden sollen (Graf 1989; Maier & ler Fach- und Fremdwörter, die Nutzung von Nominalisie-
Schweiger 1999). Fachliches Kommunizieren als prozessbe- rungen, Komposita, Operatoren und Passivkonstruktionen
zogene Kompetenz – wie in aktuellen Zielformulierungen für (Riebling 2013).
den Fachunterricht beschrieben – kann sowohl das Verstehen Bisher fand eine Vermittlung sprachlicher Kompetenz im
bzw. Erschließen fachbezogener Informationen beinhalten naturwissenschaftlichen Unterricht eher beiläufig statt. So-
(Bochnik 2017) als auch die fachlich korrekte und nach fach- wohl in den Bildungsstandards für die Naturwissenschaften
lichen Standards formulierte Weitergabe von Informationen (KMK 2005a, 2005b, 2005c) als auch im gemeinsamen eu-
(Kulgemeyer & Schecker 2013). In der Vergangenheit wurde ropäischen Referenzrahmen für Naturwissenschaften (Eis-
besonders für Lernende mit Migrationshintergrund wieder- ner et al. 2017) wird deutlich, dass Sprachförderung im
holt gezeigt, dass Sprachkompetenzen den Erwerb fachlicher Fach ebenfalls eine Aufgabe des naturwissenschaftlichen Un-
Kompetenzen beeinflussen (Bochnik 2017). Offenkundig terrichts darstellt. Sprachhandlungen der Schülerinnen und
sind (fach-)sprachliche Kenntnisse notwendig, um der Kom- Schüler im naturwissenschaftlichen Unterricht sind zum Bei-
munikation zwischen der Lehrkraft und anderen Lernenden spiel das Beschreiben, Erklären, Erläutern oder aber auch
im Unterricht folgen bzw. aktiv daran teilhaben zu können. die Informationsentnahme aus Texten und Abbildungen (Taj-
Darüber hinaus gibt es Theorien, die „Denken“ und „Ler- mel 2011). Probleme können dabei auf verschiedenen Ebe-
nen“ zumindest teilweise als „verinnerlichtes Kommunizie- nen auftreten. So können bereits einzelne Worte oder aber
ren“ auffassen und damit innere Lernprozesse an sprachliche ganze Satzkonstruktionen oder Redewendungen falsch ver-
Fähigkeiten gebunden sehen (Wygotski 1974). Man spricht standen werden. Hier wird von der Lehrkraft eine gewisse
154 Kapitel 8  Fachliches Lernen

Sensibilität im Umgang mit Sprache gefordert, weshalb auch stehen (z. B. Sumfleth, Kobow, Tunali & Walpuski 2013). Fer-
häufig von einem sprachsensiblen Fachunterricht gesprochen ner werden Kompetenzmodelle zur Kommunikationskompe-
wird (Leisen 2013). Beim Umgang mit Sprache kommt dem tenz aufgestellt und evaluiert (z. B. Kulgemeyer & Schecker
domänenspezifischen Vorgehen eine besondere Bedeutung 2013) sowie Instrumente zur Diagnose von fachsprachlichen
zu. Das Erstellen eines naturwissenschaftlichen Protokolls Fähigkeiten entwickelt (z. B. Busch & Ralle 2013). Darüber hi-
unterscheidet sich zum Teil erheblich von der Erstellung naus werden Methoden und didaktische Modelle entwickelt
eines Protokolls im Deutschunterricht. Auch hierfür sollte und evaluiert, welche den Fachspracherwerb der Schülerin-
ein Bewusstsein aufgebaut werden. Für erste Anläufe eignen nen und Schüler im naturwissenschaftlichen Unterricht bes-
sich neben allgemeinen Schemata zum Beispiel allgemeine ser fördern sollen (z. B. Parchmann & Bernholt 2013).
Formulierungshilfen wie „Man konnte sehen, dass. . . “, „Die Trotz der bisher wenigen empirisch begründeten Ansät-
Temperatur betrug. . . “. ze zur Vermittlung von Fachsprache im naturwissenschaft-
Im Bereich der empirisch-naturwissenschaftlichen For- lichen Unterricht werden bereits erste, für die Schulpraxis
schung zur Fachsprache lag der Schwerpunkt lange auf der brauchbare Hinweise und Methodenkoffer zur Sprachförde-
Schulbuchanalyse zu Fachbegriffen und der Analyse der Be- rung im Fach entwickelt (Leisen 2013). Ein Schwerpunkt liegt
deutung des Erlernens von Begriffen für die Konstruktion dabei auf der Frage, welche Übersetzungsleistung Lernen-
von Konzepten. Zum Einsatz von Fachbegriffen zeigt eine de im Fachunterricht zeigen müssen, um fachliche Inhalte
Vielzahl älterer Studien, dass Lernende im Unterricht und von der Alltagssprache in verschiedene Formen der Fachspra-
in den Schulbüchern mit einer unüberschaubaren Anzahl che zu übertragen (z. B. KMK 2005a). Problematisch ist hier
8 von Fachbegriffen konfrontiert werden, die aber häufig nicht eine zurzeit deutlich sichtbare Defizitorientierung. Häufig
zum Verständnis des fachlichen Inhalts beitragen (z. B. Mer- wird formuliert, dass die Schülerinnen und Schüler dieje-
zyn 1996; Wellington & Osborne 2001). Im Schnitt können nigen sind, die „sprachliche Probleme“ haben (Mecheril &
Schülerinnen und Schüler beispielsweise im Fremdsprachen- Quel 2015). Laut Bildungsstandards ist es jedoch Aufgabe der
unterricht durchschnittlich nur ein bis zwei neue Begriffe Schule und damit der Lehrkräfte, fachsprachliche Kompeten-
pro Schulstunde lernen und behalten (Graf 1989). Es ist da- zen erst aufzubauen (KMK 2005a, 2005b, 2005c).
her für eine naturwissenschaftliche Lehrkraft sinnvoll, sich
im Vorfeld Gedanken darüber zu machen, welche Fachbe-
griffe im Rahmen einer Unterrichtseinheit eingesetzt werden
sollen und diese dann explizit einzuführen, zu nutzen und 8.4.2 Fachsprache in der Mathematik
auf Synonyme zu verzichten. Auch die Arbeit mit einem
Begriffsglossar ist, insbesondere mit Blick auf die folgen- Obwohl die Mathematik häufig als „eigene Sprache“ beschrie-
den Schuljahre, sinnvoll. So scheint es beispielsweise wenig ben wird, bedient sie sich doch stark alltagssprachlicher Be-
sinnvoll, in Jahrgangstufe 5 von „Blattgrünkörnern“ zu spre- griffe und Konstruktionen. Aus Spezifika der Fachsprache
chen, wenn die „Chloroplasten“ diese ohnehin bald ablösen werden potentielle Herausforderungen für Lernende abge-
und bis zum Abitur geläufig sein werden. Fachbegriffe, die leitet. Beispielsweise haben Begriffe wie „Funktion“, „Teilen“
grundlegende Konzepte eines Faches beschreiben, sollten im und „Lot“ in der Sprache der Mathematik eine andere Be-
Vordergrund stehen, während auf eine Anhäufung singulärer deutung als in der Alltagssprache. Auch werden einzelne
Fakten verzichtet werden sollte. Basierend auf den Theorien Sprachstrukturen in der Mathematik enger interpretiert als
zum Wissenserwerb (7 Abschn. 8.2) scheint es zudem von Be- im Alltag (Maier & Schweiger 1999). So wird aus der Aussa-
deutung, den Fachspracherwerb mit dem Fachwissenserwerb ge „Einige Menschen sind böse“ im Alltag oft abgeleitet, dass
zu verbinden und beides in bestehendes Vorwissen der Schü- auch einige Menschen nicht böse sind. Ein logisch gültiger
lerinnen und Schüler zu integrieren, um kumulatives Lernen Schluss ist das jedoch nicht.
zu ermöglichen (Baalmann et al. 2002). Neben der Fähigkeit, mit den Besonderheiten fachlicher
Neben der Forschung zum Einsatz von Fachbegriffen Sprachstrukturen umzugehen, können auch andere sprach-
im Unterricht formiert sich zurzeit – aufgrund der in den bezogene Fähigkeiten Einfluss auf das Mathematiklernen
Bildungsstandards formulierten politischen Forderung, den nehmen. Eine Herausforderung ist das richtige Erkennen
Aufbau der Fachsprache expliziter als bisher im naturwissen- mathematischer Strukturen, wenn sie in sprachlichen Situati-
schaftlichen Unterricht zu betonen – ein neues Forschungs- onsbeschreibungen vorliegen (Bochnik 2017). Beispielsweise
feld in der naturwissenschaftlichen Fachdidaktik. Wissen- geben viele Lernende bei der einfachen Textaufgabe „Er-
schaftlerinnen und Wissenschaftler beschäftigen sich, basie- nie hat vier Kekse, er hat zwei Kekse mehr als Bert“ als
rend auf Befunden aus Sprachdidaktik, Linguistik und Kogni- Lösung an, dass Bert sechs Kekse hätte. Aufgrund des Si-
tionspsychologie, mit dem Erwerb von Fachsprache im natur- gnalworts „mehr“ schließen sie darauf, dass die Aufgabe mit
wissenschaftlichen Unterricht (Becker-Mrotzek, Schramm, einer Addition gelöst werden muss (Stern & Lehrndorfer
Thürmann & Vollmer 2013). Ein einheitlicher theoretischer 1992). Anscheinend fällt es diesen Lernenden schwer, aus
Rahmen liegt aber noch nicht vor (vgl. Härtig, Bertholt, der sprachlichen Darstellung eine Vorstellung von der Situa-
Prechtl & Retelsdorf 2015). Es wird unter anderem versucht, tion – von Ernie mit seinen vier Keksen und Bert mit einer
die Frage zu beantworten, in welchem Verhältnis Fachwissen, unbekannten, aber um zwei kleineren Anzahl von Keksen –
Fachsprache und allgemeines Sprachverständnis zueinander- zu konstruieren und sie dann mathematisch zu beschreiben.
8.5  Aufgabeneinsatz
155 8
Eine Orientierung an einzelnen Signalwörtern ist hier eine zig Prozent weisen hier auf Entwicklungsmöglichkeiten hin
Ausweichstrategie, die allerdings nicht im Allgemeinen trag- (Ackermann 2011).
fähig ist.
Ergebnisse zu Spanisch sprechenden Lernenden in den
USA weisen darauf hin, dass sich der Einfluss von Sprach- 8.5 Aufgabeneinsatz
kompetenzen auf die Mathematikleistung nicht primär auf-
grund von Problemen beim Verständnis von Testaufgaben Beim Erwerb von fachbezogenen Konzepten und Kompe-
zeigt (Abedi, Hofstetter & Lord 2004), sondern dass sprach- tenzen spielt der Einsatz von Aufgaben in vielen Fächern
liche Probleme besonders die Nutzung von Lerngelegenhei- eine entscheidende Rolle (BLK 1997; Hiebert et al. 2003).
ten im Unterricht beeinflussen (Abedi et al. 2006; Bochnik Aufgaben im Unterricht umfassen, von gehaltvollen Fragen
2017). Dass fachsprachliche Kompetenzen dabei über allge- über Arbeitsaufträge für Einzel- und Gruppenarbeiten bis hin
meine sprachliche Kompetenzen hinaus relevant sind, wurde zu komplexen Problemstellungen, die beispielsweise in Pro-
erst kürzlich empirisch nachgewiesen (Bochnik 2017). Fach- jekten bearbeitet werden können, ein weites Spektrum von
sprachliche Kompetenzen sind also nicht nur ein Ziel, son- Aufforderungen zur Auseinandersetzung mit einem fachli-
dern auch eine Voraussetzung fachbezogener Lernprozesse. chen Inhalt (Neubrand 2002).
Die Erarbeitung mathematischer Konzepte erfolgt im Un- Aufgaben können verschiedene Funktionen im Unter-
terricht meist anhand von realen Phänomenen oder Ar- richt einnehmen (vgl. Reiss 2004). Je nachdem in welcher
beitsmitteln, deren Bedeutung sprachlich kommuniziert wird Unterrichtsphase, zu welchem Zweck, für welches Lernziel
(Heinze, Herwartz-Emden & Reiss 2007). Entsprechend sollte sie genutzt werden, erweisen sich unterschiedliche Aufga-
die Verwendung fachlicher Sprachstrukturen nicht am Ende, benstellungen als effektiv. Grundsätzlich wird zwischen Lern-
sozusagen als „Krönung“ des Lernprozesses verortet werden, und Prüfungsaufgaben unterschieden (Stein & Lane 1996).
sondern bereits bei der ersten Begegnung mit mathemati- Während Lernaufgaben primär dem Erwerb von inhalts-
schen Konzepten und den ihnen zu Grunde liegenden realen und prozessbezogenen Kompetenzen dienen, werden Prü-
Phänomenen. Besonders bei der Nutzung von Arbeitsmitteln fungsaufgaben dazu genutzt, den aktuellen Lernstand der
oder beim Lesen von ausgearbeiteten Lösungsbeispielen wird Schülerinnen und Schüler zu diagnostizieren und Kompe-
als förderlich herausgestellt, dass Lernende ihre Handlun- tenzunterschiede zu markieren.
gen und Lösungsschritte für sich selbst oder einen Mitschü- In Deutschland wurde nach dem schlechten Abschnei-
ler verbalisieren. Dies soll sie zur aktiven Verarbeitung der den deutscher Schülerinnen und Schüler in TIMSS (Baumert,
Handlungen am Arbeitsmittel anregen und dabei unterstüt- Bos & Lehmann 2000) und PISA (z. B. Baumert et al. 2001)
zen, konzeptuelles Wissen zu erwerben. Diese Nutzung von die Aufgabenkultur mitverantwortlich gemacht. Bemängelt
Sprache zur Wissenskonstruktion setzt ebenfalls spezifische wurde, dass die Aufgaben in Deutschland zu wenig vielfältig
Sprachkenntnisse voraus. Gerade hierfür ist es bedeutsam, seien, häufig primär das isolierte Reproduzieren erworbenen
fachsprachliche Fähigkeiten zu mathematischen Konzepten deklarativen Wissens erforderten und keinen kumulativen
bereits während des Lernprozesses aufzubauen. Fachsprach- Wissenserwerb ermöglichten. In der Tat zeigt sich, dass be-
liche Anforderungen bereits früh im Lernprozess zu adressie- sonders Aufgaben, die kognitive Prozesse wie das Verknüpfen
ren kann alle unterstützen, insbesondere jedoch Lernende mit von Inhalten, die Reflexion von Lösungen und das Begründen
geringeren Sprachkenntnissen (Prediger & Wessel 2013). von Zusammenhängen einfordern, zu wirksameren Lernpro-
Zur Vermittlung von Fachbegriffen liegen für die Mathe- zessen führen als Aufgaben, die vornehmlich die Reproduk-
matik ähnlich wie für die Biologie bisher viele theoretische tion von Bekanntem verlangen (Baumert et al. 2010).
Ideen, jedoch wenige empirische Befunde vor. Wenn es dar- Nach Bruder (2003a) sind Aufgaben Aufforderungen zum
um geht, Lernende in eine fachlich korrekte Nutzung von Lernhandeln. Wie zentral Aufgaben eine Unterrichtsstunde
Sprache einzuführen, wird authentischen Anlässen zur fach- prägen, lässt sich feststellen, wenn alle in einer Unterrichts-
lichen Diskussion im Unterricht eine zentrale Rolle zuge- stunde schriftlich oder mündlich gestellten Aufgaben aufge-
wiesen. Hier kann die Lehrkraft mit ihrer fachsprachlichen schrieben werden. Man kann anhand dieser Aufgaben sehr
Expertise korrigierend eingreifen, Unterschiede thematisie- gut den Verlauf einer Unterrichtsstunde und Schwachpunk-
ren und sprachlich korrekte Wendungen in den Unterricht te dieser Stunde erkennen. Interviewstudien von Bromme
einbringen. Darüber hinaus wird in der praxisorientierten (1981) zeigten, dass Aufgaben das Rückgrat der Unterrichts-
Literatur eine Bandbreite an Maßnahmen diskutiert, um Ler- planung bilden.
nende direkt in der Verwendung von Fachsprache zu fördern.
So werden Lernplakate erstellt und aufgehängt und typische
Satzanfänge oder Sprachstrukturen für fachliche Begründun-
gen, Fragen und Erklärungen eingeübt (Leisen 2013). Als 8.5.1 Aufgabeneinsatz in den
besonders wichtig wird in diesem Zusammenhang ein aktives Naturwissenschaften
Einbinden der Schülerinnen und Schüler in das gemeinsame
Unterrichtsgespräch gesehen. Redezeitanteile von Lehrkräf- Jatzwauk (2007) konnte für den Biologieunterricht der neun-
ten im deutschen Mathematikunterricht von mehr als sieb- ten Jahrgangsstufe zum Thema Blut und Blutkreislauf zei-
156 Kapitel 8  Fachliches Lernen

gen, dass sich rund zwei Drittel der Unterrichtsstunde auf Wissen und als Prüfungsaufgaben, da sie eindeutig bewer-
aufgabenbezogene Aktivitäten beziehen, wobei die meisten tet werden können. Zu beachten ist, dass Aufgaben durch
Aufgaben einfachere kognitive Aktivitäten wie Rezipieren den Einsatz von Fachbegriffen automatisch schwieriger wer-
oder Reproduzieren erfordern. Er konnte ferner zeigen, dass den (Schmiemann 2011) und Fachbegriffe daher in Aufgaben
sich über 75 % der Aufgaben an alle Lernenden gleichzeitig sehr reflektiert eingesetzt werden sollten.
richten und über zwei Drittel der Aufgaben in Form eines Un-
terrichtsgesprächs ausgewertet werden. Förtsch et al. (2017)
fanden zudem, dass ein hoher Komplexitätsgrad der von der
Lehrkraft genutzten Aufgaben die Schülerinnen und Schüler 8.5.2 Aufgabeneinsatz in der Mathematik
zu einem höheren Konzeptverständnis bringt. Nawani, Rixi-
us und Neuhaus (2016) konnten zeigen, dass sich vor allem
Aufgaben, die eine hohe Verarbeitungstiefe vom Lernenden Auch für den Mathematikunterricht wurden in der Vergan-
verlangen, positiv auf das konzeptuelle Wissen der Lernen- genheit wesentliche Merkmale identifiziert, die hochwertige
den auswirken. Lernaufgaben kennzeichnen. Beispielsweise sollen Aufgaben
Wenn Aufgaben derart wichtig für den Verlauf einer Un- gezielt die zu erwerbenden mathematischen Kompetenzen
terrichtsstunde sind, stellt sich die Frage, wie man gute Auf- ansprechen, d. h. anhand zentraler mathematischer Konzep-
gaben formuliert. Verschiedene Autoren haben Kategorien- te mathematische Arbeitsweisen einführen. Wie bereits an-
systeme zur Auswahl und Analyse von Aufgaben entwickelt gesprochen ist dafür eine reine Reproduktion nicht ausrei-
8 (z. B. Kauertz et al. 2010; Kleinknecht et al. 2013). chend, sondern es müssen höherwertige kognitive Prozesse
Allgemein scheint wichtig, dass Lehrkräfte Aufgaben im wie Erklären, Begründen, Vernetzen oder Reflektieren an-
Vorfeld reflektieren, auf Aufgabenvielfalt achten und den geregt werden. Dazu kann beispielsweise gehören, dass eine
Schwierigkeitsgrad der Aufgaben an die Lernenden anpassen. Aufgabe unterschiedliche Lösungswege ermöglicht, und auch
Sowohl Lern- als auch Prüfungsaufgaben haben sich in den verschiedene Lösungen eingefordert und verglichen werden.
Naturwissenschaften in den letzten Jahren stark verändert. Baumert et al. (2010) konnten zeigen, dass die Anforderun-
Sie beinhalten häufiger als früher die Arbeit mit Materialien gen der eingesetzten Aufgaben in Bezug auf mathematische
wie Diagrammen, Ergebnissen aus Versuchen oder Tabellen, Kompetenzen den Kompetenzzuwachs von Lernenden in ei-
die ausgewertet und interpretiert werden müssen. Sie bezie- nem Jahr positiv vorhersagten. Leider zeigen sich im realen
hen sich häufiger als früher auf prozessbezogene Kompeten- Mathematikunterricht meist Aufgaben mit relativ geringen
zen, erfragen also nicht nur inhaltsbezogenes Wissen. Und sie Anforderungen (Jordan et al. 2008).
beziehen sich häufiger als früher auf grundlegende Konzepte Weiterhin sollen die Aufgabenstellungen authentisches
des Faches (wie z. B. Steuerungs- und Regelmechanismen am mathematisches Arbeiten einfordern und ermöglichen. Da-
Auge), anstatt nur einzelne Fakten oder Begriffe zu erarbeiten mit ist nicht gemeint, dass der Aufgabenrahmen möglichst
(z. B. die einfache Beschriftung von anatomischen Struktu- realistisch sein soll, sondern dass mathematische Konzepte
ren des Auges). Wenn Aufgaben schriftlich gestellt werden, und Methoden auf eine Art und Weise angewendet werden,
beinhalten sie heutzutage vielfach ausführliche Arbeitsaufträ- wie es auch außerhalb der Schule geschieht. Dies soll auch
ge, die sehr konkrete Vorgaben machen. vermeiden, dass Lernende falsche Vorstellungen über die Do-
Kleinknecht et al. (2013) unterschieden bezüglich des mäne Mathematik aufbauen wie z. B., dass mathematische
kognitiven Potenzials von Aufgaben sieben Dimensionen: Aufgaben immer genau eine richtige Lösung haben, dass Ma-
Wissensart, kognitiver Prozess, Wissenseinheit, Offenheit, thematik völlig losgelöst von realen Problemen existiert oder
Lebensweltbezug, sprachliche Komplexität und Repräsenta- dass Mathematikaufgaben immer mit den Inhalten zu lösen
tionsformen. Andere Autoren setzen bei der Aufgabenklassi- sind, die im Unterricht gerade behandelt werden (z. B. Baruk
fikation andere Schwerpunkte. Das in 7 Abschn. 8.3.1 vorge- 1989; Verschaffel, de Corte & Lasure 1994).
stellte ESNaS-Modell (Kauertz et al. 2010) unterscheidet bei- Aufgaben sollen in dem Sinne differenzierend sein, dass
spielsweise zwischen Komplexität, kognitivem Prozess und sie Lernenden unabhängig von ihren unterschiedlichen Lern-
Kompetenzbereich. Unterschiedliche Autorinnen und Auto- voraussetzungen Lerngelegenheiten auf ihrem jeweiligen Ni-
ren betonen damit unterschiedliche Dimensionen mit un- veau ermöglichen. Neben innerer Differenzierung, beispiels-
terschiedlichen Bezeichnungen. Die Forschung kann bislang weise durch Aufgabensätze unterschiedlicher Anforderungs-
wenig dazu sagen, welche der Kategorisierungen zuverlässig niveaus, wird das Konzept der natürlichen Differenzierung
die Effektivität von Lernprozessen vorhersagen (z. B. Baumert propagiert (Freudenthal 1974). Natürlich differenzierende
et al. 2010) und welche der Kategorisierungen Lehrkräfte am Aufgaben sollen es ermöglichen, dass Lernende mit un-
effizientesten dabei unterstützen, solche Lernprozesse anzu- terschiedlichen Lernvoraussetzungen an einer gemeinsamen
regen. Wichtig erscheint für angehende Lehrkräfte, Aufgaben Aufgabe arbeiten, die einen relativ leichten Einstieg, aber
systematisch zu entwickeln, zu variieren und reflektiert ein- auch Möglichkeiten für Lernprozesse auf unterschiedlichen
zusetzen. So aktivieren offene Aufgaben das Vorwissen der Niveaus bietet. Es macht in diesem Sinne einen Unterschied,
Schülerinnen und Schüler und eignen sich daher besonders ob eine Reihe von Aufgabenstellungen des Typs „Berechne
gut zur Initiierung von Lernprozessen. Geschlossene Auf- den Termwert: 27  3  5 C 7!“ unterschiedlicher Schwierig-
gaben eignen sich hingegen besonders zur Sicherung von keit bearbeitet werden oder solche, die auch problemlösendes
8.5  Aufgabeneinsatz
157 8
Arbeiten ermöglichen wie z. B. „Setze Rechenzeichen C, ,
, : so in die Lücken ein, dass das Ergebnis möglichst groß tik und Naturwissenschaften, im Speziellen die Biologie,
wird: 27 3 5 7!“. Aufgabenmerkmale, die nachhaltige werden fünf wesentliche Ansätze der fachspezifischen
Lernprozesse ermöglichen, fasst man unter dem Begriff „Auf- Lehr-Lernforschung dargestellt und mittels Beispielen er-
gabenpotenzial“ zusammen. läutert.
Genügt es für guten Unterricht, Aufgaben mit einem ho- 5 Es wird gezeigt, mit welchen fachrelevanten Vorstel-
hen Potenzial aus einem Schulbuch auszuwählen? Das ist lungen Schülerinnen und Schüler in den Unterricht
zweifelhaft, denn es ist sowohl möglich, mit „guten“ Auf- kommen, welche fachlichen Konzepte ihnen Lern-
gaben „schlechten“ Unterricht zu gestalten als auch (aller- schwierigkeiten bereiten und wie diese Lernschwie-
dings ist das etwas schwieriger) mit „schlechten“ Aufgaben rigkeiten produktiv für den Unterricht genutzt werden
relativ „guten“ Unterricht. Wesentlich ist letztlich, ob das können.
Potenzial der Aufgaben im Unterricht auch genutzt wird – 5 Es werden Modelle untersucht, die die Struktur des
und das ist bei Weitem nicht selbstverständlich. Beispiels- Wissens in einer spezifischen Domäne beschreiben,
weise besteht die Gefahr, dass Lehrkräfte offene Aufgaben sowie domänenspezifische Mechanismen, die beson-
und Fragen, die Schülerinnen und Schüler zu eigenständi- ders effektiv sind, um sich Wissen in diesem speziellen
gem Nachdenken anregen sollen, bereits nach kurzer War- Gebiet anzueignen.
tezeit durch Nachfragen einengen. Im Extremfall führt das 5 Es wird verdeutlicht, wie fachspezifische Kompeten-
dazu, dass die Lernenden im Unterricht auch bei eigentlich zen strukturell aufgebaut sind und wie sie im Unter-
komplexen Aufgaben lediglich als Stichwortgeber auf Sug- richt systematisch entwickelt werden können.
gestivfragen der Lehrkraft fungieren und die eigentlich als 5 Struktur und Rolle einer Fachsprache als Lernprozess
lernförderlich erachtete Arbeit an der Aufgabe weitgehend und Lernergebnis werden analysiert und die Folge-
von der Lehrkraft geleistet wird (Stein & Lane 1996). Um rungen für die Rolle der Fachsprache beim Erlernen
dies zu vermeiden, schlagen Stein, Engle, Smith und Hughes der Fachinhalte aufgezeigt.
(2008) Strategien für die Unterrichtsvorbereitung und den 5 Es wird erörtert, welchen Beitrag Aufgaben im Unter-
Unterricht vor. Für die Unterrichtsplanung legen sie nahe, das richt leisten können.
Ziel des Aufgabeneinsatzes zu klären und sich gute Fragen Zusammenfassend zeigt die Aufstellung zunächst, dass
und Impulse zurechtzulegen, die die Aufgabe eben nicht auf eine fachspezifische Perspektive die domänenübergrei-
kleine Routineschritte reduzieren. Sie regen an, sich mögliche fende Darstellung von Lehr-Lernprozessen deutlich aus-
Lösungswege und Probleme der Schülerinnen und Schüler zu differenziert und ergänzt. Allgemeine Modelle, die die zu-
überlegen und Bearbeitungshilfen vorzubereiten, die ggf. dif- grundeliegenden Mechanismen von Wissensaneignung
ferenzierend bei Problemen angeboten werden können. Für beschreiben, sind nicht notwendigerweise relevant für
den Unterricht halten sie es für entscheidend, sich Zeit zu spezifische Konzepte bzw. den Erwerb einer spezifischen
verschaffen, um die unterschiedlichen Lösungen der Schü- Kompetenz. Auch wenn Kirschner et al. (2017) argumen-
lerinnen und Schüler zu beobachten. Interessante (korrekte tieren, Lehr-Lernprozesse würden innerhalb von Domä-
und fehlerhafte, einfache und komplizierte) Lösungen kön- nen mindestens genauso stark variieren wie zwischen
nen für die Diskussion in der Klasse ausgewählt und in eine Domänen, bietet doch – im Gegensatz zu allgemeinen, fä-
sinnvolle Reihenfolge gebracht werden. In der Diskussion der cherübergreifendenAnsätzen – fachbezogene Forschung
verschiedenen Lösungen können diese verglichen und ihre eine gezielte Auswahl an Instruktionsmethoden für spezi-
Tragfähigkeit kontrastiert werden. Ein wesentlicher Teil die- fische Inhalte in der Praxis (7 Kap. 17). Für die Konzeption
ser Arbeit findet sicher im Unterricht statt. Dennoch ist es von und Untersuchung solcher Modelle wird eine Kooperati-
Bedeutung, dass Lehrkräfte bereits in der Unterrichtsplanung on von allgemeiner Lehr-Lern-Forschung und den Fachdi-
das Potenzial der von ihnen gewählten Aufgaben erkennen daktiken als besonders vielversprechend angesehen (Klie-
und analysieren, um für den Unterricht adäquat vorbereitet me & Rakoczy 2008).
zu sein (Hammer 2016). Darüber hinaus wird erkennbar, dass es Themenfel-
der gibt, die in verschiedenen Fächern systematisch bear-
beitet werden, allerdings in der domänenübergreifenden
Zusammenfassung Lehr-Lern-Forschung wenig Interesse geweckt haben. So
Unter fachlichem Lernen wird der Erwerb spezifischer Fä- werden beispielsweise Kriterien der Aufgabenauswahl
higkeiten und Kenntnisse verstanden, um Anforderungen und des Aufgabeneinsatzes primär aus fachspezifischer
mit Wissen aus einem bestimmten Gebiet effizient und Sicht untersucht. Inwiefern sich für diese fachübergreifen-
sicher bewältigen zu können. Die fachspezifische Lehr- de Modelle und Ansätze konstruieren lassen, ist eine der
Lernforschung beschäftigt sich entsprechend mit der Fra- Fragen, die sowohl in Kooperationen zwischen verschie-
ge, was das Lernen in einem spezifischen Wissensgebiet denen Fachdidaktiken als auch gemeinsam mit Vertretern
auszeichnet und wie Lernprozesse in einem Fachgebiet der allgemeinen Lehr-Lern-Forschung zu klären sein wer-
verbessert werden können. Mit dem Fokus auf Mathema- den.
158 Kapitel 8  Fachliches Lernen

Verständnisfragen Australian Curriculum, Assessment and Reporting Authority [ACA-


RA] (2014). F-10 Curriculum: The overarching ideas. http://www.
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1. Welche Argumente sprechen aus Ihrer Sicht für
? Baalmann, R., Dieckmann, R., Freimann, T., Langlet, J., Ohly, K.-P., Saat-
eine Aufrechterhaltung oder aber Auflösung des hoff, T., Sandmann, A., Vogt, H., Wolff, V., Zabel, J., & Lichtner, H.-D.
Fachprinzips in der Schule? (2002). Weniger (Additives) ist mehr (Systematisches). Kumulatives Ler-
2. Beschreiben Sie vier Lehrstrategien, wie Schülervorstel- nen. Handreichung für den Biologieunterricht in den Jahrgängen 5–10.
lungen in der Unterrichtsgestaltung genutzt werden München: VdBiol.
Baruk, S. (1989). Wie alt ist der Kapitän? Über den Irrtum in der Mathematik.
können. Heidelberg: Springer.
3. Überlegen Sie sich eine Thematik in dem von Ih- Baumert, J., Bos, W., & Lehmann, R. (Hrsg.). (2000). TIMSS/III. Opladen: Leske
nen studierten Unterrichtsfach, zu der Schülerinnen + Budrich.
und Schüler unterschiedliche Vorstellungen besit- Baumert, J., Klieme, E., Neubrand, M., Prenzel, M., Schiefele, U., Schneider,
zen. Beschreiben Sie, wie Sie mit der Methode des W., et al. (Hrsg.). (2001). PISA 2000. Opladen: Leske + Budrich.
Baumert, J., Kunter, M., Blum, W., Brunner, M., Voss, T., Jordan, A., Tsai,
Learning Cycles diese Vorstellungen im Rahmen einer Y. M., et al. (2010). Teachers’ mathematical knowledge, cognitive ac-
Unterrichtsstunde aufgreifen und mit ihnen arbeiten tivation in the classroom, and student progress. American Educational
können. Research Journal, 47(1), 133–180.
4. Beschreiben Sie den Rahmentheorieansatz von Becker-Mrotzek, M., Schramm, K., Thürmann, E., & Vollmer, H.-J. (Hrsg.).
Vosniadou und den Fragmentierungsansatz von (2013). Sprache im Fach. Sprachlichkeit und fachliches Lernen. Münster:
Waxmann.
8 DiSessa. Bochnik, K. (2017). Sprachbezogene Merkmale als Erklärung für Disparitäten
5. Überlegen Sie sich für ein zentrales Konzept in einem mathematischer Leistung. Münster: Waxmann.
von Ihnen studierten Unterrichtsfach, wie dieses in Bögeholz, S. (2007). Bewertungskompetenz als für systematisches Ent-
verschiedenen Repräsentationen dargestellt werden scheiden in komplexen Gestaltungssituationen nachhaltiger Ent-
kann. Inwiefern ist das für den Konzepterwerb von wicklung. In D. Krüger & H. Vogt (Hrsg.), Theorien in der biologiedidak-
tischen Forschung. Ein Handbuch für Lehramtsstudenten und Doktoran-
Bedeutung? den (S. 209–220). Berlin: Springer.
6. Beschreiben Sie den Begriff „Kompetenz“ nach Weinert Bromme, R. (1981). Das Denken von Lehrern bei der Unterrichtsvorbereitung:
(2001) in eigenen Worten. Eine empirische Untersuchung zu kognitiven Prozessen von Mathematik-
7. Was zeichnet fachlichen, auf den Erwerb von Kom- lehrern. Weinheim: Beltz.
petenzen ausgerichteten Unterricht gegenüber Bruder, R. (2003a). Konstruieren – auswählen – begleiten: Über den Um-
gang mit Aufgaben. In H. Ball, G. Becker, R. Bruder, R. Girmes, L. Stäudel
Unterricht aus, der lediglich den Erwerb fachlicher & F. Winter (Hrsg.), Aufgaben: Lernen fördern – Selbstständigkeit entwi-
Konzepte im Blick hat? ckeln (S. 12–15). Seelze: Friedrich.
8. Definieren Sie die Begriffe Alltagssprache, Bildungs- Bruder, R. (2003b). Methoden und Techniken des Problemlösenlernens. Mate-
sprache und Fachsprache. rial im Rahmen des BLK-Programms „Sinus“ zur „Steigerung der Effizienz
9. Warum ist es im fachlichen Unterricht wesentlich, des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts“. Kiel: IPN.
Bund-Länder-Kommission-Projektgruppe „Innovationen im Bildungs-
fachsprachliche Kompetenzen der Lernenden im Blick wesen“ [BLK] (1997). Gutachten zur Vorbereitung des Programms
zu haben? “Steigerung der Effizienz des mathematisch-naturwissenschaftlichen
10. Warum werden Aufgaben als wesentliches Element Unterrichts”. Materialien zur Bildungsplanung und Forschungsförde-
fachbezogenen Lernens gesehen? rung. Bonn: Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und
11. Nutzen Sie das ESNaS-Modell zur Entwicklung von Forschungsförderung.
Busch, H., & Ralle, B. (2013). Diagnostik und Förderung fachsprachli-
Aufgaben und entwickeln Sie eine Aufgabe aus dem cher Kompetenzen im Chemieunterricht. In M. Becker-Mrotzek, K.
von Ihnen studierten Fach, die (a) einen Fakt, (b) Schramm, E. Thürmann & H.-J. Vollmer (Hrsg.), Sprache im Fach.
mehrere Fakten, (c) einen Zusammenhang, (d) mehrere Sprachlichkeit und fachliches Lernen (S. 277–294). Münster: Waxmann.
Zusammenhänge und (e) ein Konzept abfragt. Chinnappan, M., & Lawson, M. J. (1996). The effects of training in the use
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163 II

Kognitive,
motivationale
und emotionale
Bedingungen des
Lernens
Inhaltsverzeichnis

Kapitel 9 Intelligenz, Kreativität und Begabung – 165

Kapitel 10 Emotionen – 185

Kapitel 11 Motivation – 207


165 9

Intelligenz, Kreativität und


Begabung
Eva Stumpf und Christoph Perleth

9.1 Begriffsklärungen – 166

9.2 Intelligenz – 168


9.2.1 Theorien der Intelligenz – 168
9.2.2 Messung von Intelligenz – 170
9.2.3 Intelligenzunterschiede: Entstehung und Auswirkungen – 173
9.2.4 Hochbegabung – 174
9.2.5 Intelligenz, Begabung, schulisches Lernen und Leistungsentwicklung – 178

9.3 Kreativität und Problemlösen – 179

Verständnisfragen – 182

Literatur – 183

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019


D. Urhahne, M. Dresel, F. Fischer (Hrsg.), Psychologie für den Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55754-9_9
166 Kapitel 9  Intelligenz, Kreativität und Begabung

Intelligenz, Begabung und Kreativität dürften wohl die Be- Andere Definitionen von Intelligenz betonen zusätzlich,
griffe aus der Pädagogischen Psychologie sein, die vielleicht dass intelligentes Verhalten aufgaben- oder bereichsspezifisch
weniger in der Wissenschaft, dafür umso mehr in der Öf- betrachtet werden muss. So unterschied bereits Thurstone in
fentlichkeit mit am häufigsten, intensivsten und oft äußerst den 1930er Jahren sieben (später neun) Primärfaktoren der
kontrovers diskutiert werden. Gerade angesichts dieser Ver- Intelligenz (Heller 2000). In dieser Tradition formulierte et-
breitung erstaunt erstens, wie uneinheitlich diese Begriffe in wa Groffmann (1983, S. 53): „Intelligenz ist die Fähigkeit des
der Wissenschaft verwendet werden, und zweitens, in welch Individuums, anschaulich oder abstrakt in sprachlichen, nu-
geringem Ausmaß Erkenntnisse der Intelligenz- und Bega- merischen und raum-zeitlichen Beziehungen zu denken; sie
bungsforschung Eingang in das Bewusstsein der Öffentlich- ermöglicht erfolgreiche Bewältigung vieler komplexer und
keit finden. In diesem Kapitel möchten wir auf Definitionen mit Hilfe jeweils besonderer Fähigkeitsgruppen auch ganz
und Begriffe eingehen sowie Befunde und Erkenntnisse der spezifischer Situationen und Aufgaben.“
Intelligenz- und Begabungsforschung zusammentragen, wie In der Psychologie wird Intelligenz unter verschiedenen
es uns für die praktische Arbeit von Lehrkräften relevant er- Perspektiven betrachtet und erforscht. Psychometrische In-
scheint. telligenzmodelle resultieren aus der Forschung mit Intelli-
Dazu gehören gerade für den schulischen Bereich Theori- genztests, in denen die Versuchspersonen Aufgaben bearbei-
en und Befunde, die die Beziehung zwischen der Intelligenz ten, die als repräsentativ für einen bestimmten Bereich geis-
als stabilem Persönlichkeitsmerkmal und der Leistungsent- tiger Leistungsfähigkeit angesehen werden. Untersucht wird
wicklung thematisieren und die Bedeutung der Intelligenz dann, in welcher Beziehung die Testleistungen zueinander-
für die Leistungsentwicklung im Vergleich zu anderen Merk- stehen oder ob sich Aufgaben und Aufgabenklassen bündeln
malen der Person und Lernumwelt verdeutlichen. Zur Ver- lassen, sodass Fähigkeiten bzw. Fähigkeitsbündel sichtbar
9 anschaulichung des Zusammenspiels ganz unterschiedlicher werden. Demgegenüber geht es der kognitionspsychologi-
Faktoren im Rahmen der Leistungsentwicklung wird das schen Intelligenzforschung weniger um die Denkprodukte
Münchner dynamische Begabungs-Leistungsmodell von Per- (Intelligenzleistungen), sondern eher um die Denkprozesse.
leth (2001a) herangezogen. Sie untersucht, wie Versuchspersonen bei der Aufgabenbear-
Im Hinblick auf Kreativität gehen wir in diesem Kapitel an beitung vorgehen, welche Strategien sie einsetzen oder wel-
verschiedenen Stellen auf einige Aspekte kreativen Problem- che Rolle bestimmte Gedächtnisfunktionen dabei spielen. So
lösens ein. Dabei kann allerdings im vorliegenden Rahmen interessiert sich dieser Zweig der Forschung beispielsweise
auf Aspekte künstlerischer Kreativität etwa in der Musik, der für die genaue Funktionsweise des Arbeitsgedächtnisses oder
Schriftstellerei oder der bildenden Kunst nur am Rande ein- die Rolle der Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit, al-
gegangen werden. Dagegen werden weitere wichtige Konzep- so der Geschwindigkeit, mit der, etwas vereinfacht gesagt,
te und Befunde der Kreativitätsforschung wie das divergente das Gehirn arbeitet. Damit gelingt eine feinere Analyse von
Denken, der kreative Prozess, exemplarische Möglichkeiten intelligenten Leistungen. Daneben haben in jüngerer Zeit ins-
der Kreativitätsdiagnostik sowie Kreativitätsförderung in der besondere die Neurowissenschaften viele Befunde vorgelegt,
Schule behandelt. die zu einem besseren Verständnis von Intelligenz beitragen.
Dass diese teilweise komplexen und schwer zu erfassen-
den Merkmale wie Informationsverarbeitungsgeschwindig-
9.1 Begriffsklärungen keit oder Maße des Arbeitsgedächtnisses deutlich mit Ma-
ßen der (allgemeinen) Intelligenz korrelieren, zeigt aber, dass
Vor etwas mehr als 100 Jahren hat der deutsche Psycho- die psychometrische Intelligenzauffassung nichts von ihrem
loge William Stern formuliert: „Intelligenz ist die allgemei- Wert für die Praxis der schulpsychologischen Beratung, ins-
ne Fähigkeit eines Individuums, sein Denken bewusst auf besondere der Schullaufbahnberatung und Schulerfolgspro-
neue Forderungen einzustellen; sie ist allgemeine geistige gnose eingebüßt hat. „Klassische“ Intelligenztests, die auf der
Anpassungsfähigkeit an neue Aufgaben und Bedingungen psychometrischen Auffassung beruhen, sind für die Mitar-
des Lebens“ (1912, S. 3). Auch wenn im Laufe der letzten beiter der Schulberatung für die Analyse und Prognose von
100 Jahre unübersehbar viele Definitionen zum Begriff In- Schulleistungen nach wie vor unentbehrlich. In diesem Kapi-
telligenz vorgeschlagen wurden (Rost 2009a), so hat diese tel werden wir daher vor allem auf psychometrisch orientierte
Arbeitsdefinition ihre Aktualität dennoch nicht verloren. Die Intelligenz- und Begabungsforschung eingehen. Befunde zu
bekannte Definition Wechslers (vgl. Heller 2000), des „Va- Intelligenz und Denken aus kognitionspsychologischer Per-
ters“ der Wechsler Intelligence Scale for Children (WISC)1 spektive sowie aus dem Bereich der Neurowissenschaften
beinhaltet darüber hinaus, dass intelligentes (Problemlöse-) finden sich in den 7 Kap. 2, 3 und 5.
Verhalten auch zweckvoll und vernünftig, also ökonomisch Als Arbeitsdefinition können wir also insgesamt festhal-
sein soll. ten bzw. formulieren:

1
Der WISC, einer der weltweit am häufigsten eingesetzten Intelligenz-
Intelligenz bezeichnet in der Regel eine allgemeine
tests für Kinder und Jugendliche, wurde im deutschen Sprachraum
unter dem Kürzel HAWIK D Hamburg-Wechsler Intelligenztests für Fähigkeit oder auch bereichsspezifische Fähigkeiten, die
Kinder bekannt. es einer Person ermöglichen, unterschiedliche, vor allem
9.1  Begriffsklärungen
167 9
auch komplexe Aufgabenstellungen zu durchdenken und Das „international Panel of Experts in Gifted Education“
Probleme zu lösen in Situationen, die für das Individuum (iPEGE; 7 www.ipege.eu) ist ein Zusammenschluss von Fach-
neuartig, d. h. nicht durch Lernerfahrungen vertraut sind, leuten aus Psychologie, Schulpädagogik, Allgemeiner Päd-
sodass keine automatisierten Handlungsroutinen zur agogik und Neurowissenschaften, die sich besonders für die
Problemlösung eingesetzt werden können. Weiterbildung von pädagogischem Personal für die Belange
der Begabtenförderung einsetzen. Auch iPEGE ist im Sin-
ne des letztgenannten Verständnisses der Auffassung, dass
Im Fokus: Ist Intelligenz, was der Intelligenztest misst? (Hoch-)Begabung zwar hohe intellektuelle Fähigkeiten als
notwendige Faktoren beinhaltet, aber nicht mit diesen gleich-
Bisweilen wird gegen den psychologischen Intelligenzbe- gesetzt werden kann. Gleichzeitig sieht die iPEGE-Gruppe
griff und/oder die Intelligenztests unter Bezug auf Boring Begabung als Disposition und nicht als herausragende Leis-
(1923) polemisiert, Intelligenz sei, was der Intelligenztest tung. Nach intensiver Diskussion einigten sich die Fachleute
messe („Intelligence is what the test tests“, S. 35). Bo- auf folgende Formulierung, die von allen Mitgliedern der in-
ring wollte allerdings mit diesem Zitat deutlich machen, terdisziplinären Gruppe mitgetragen werden konnte:
dass eine enge Beziehung zwischen Intelligenztheorien
(7 Abschn. 9.2.1) und Intelligenztests (7 Abschn. 9.2.2) „Als Begabung wird somit allgemein das Leistungsvermö-
besteht. Vor Konstruktion eines Intelligenztests muss gen insgesamt bezeichnet, spezieller ist mit Begabung
der Testautor genau definieren, welches Verständnis er der jeweils individuelle Entwicklungsstand der leis-
von Intelligenz hat. Je nachdem, ob er das Konzept einer tungsbezogenen Möglichkeiten gemeint, also jener
allgemeinen Intelligenz verfolgt oder Intelligenz in un- Voraussetzungen, die bei entsprechender Disposition und
terschiedlichen Bereichen unterscheidet, wird er andere langfristiger systematischer Anregung und Förderung
Aufgaben für den Test auswählen. Das Zitat weist also das Individuum in die Lage versetzen, sinnorientiert zu
keinesfalls auf eine wissenschaftliche Fragwürdigkeit des handeln und auf Gebieten, die in der jeweiligen Kultur als
Intelligenzbegriffs oder von Intelligenztests hin. wertvoll betrachtet werden, anspruchsvolle Tätigkeiten
durchzuführen“ (iPEGE-Gruppe 2010, S. 17).

In der Darstellung wurde bisher keine explizite Unter- Auch iPEGE bezeichnet solche Personen als (Hoch-)
scheidung zwischen Intelligenz und Begabung vorgenom- Begabte, „die sich von der Vergleichsgruppe durch höheres
men. Tatsächlich werden die Begriffe Intelligenz und Bega- Leistungsvermögen und größeres Förderpotenzial (z. B. grö-
bung sowohl in der deutschsprachigen Literatur, als auch im ßere Lernfähigkeit, stärkeren Wissensdurst, höheres Lern-
angelsächsischen Raum (intelligence und giftedness) vielfach tempo) unterscheiden, sodass in psychologischer, pädago-
mehr oder weniger synonym verwendet, wobei allerdings gischer und didaktischer Hinsicht ein besonderer Umgang
in der englischsprachigen Literatur „giftedness“ stets im Sin- mit ihnen gefordert ist“ (iPEGE-Gruppe 2010, S. 18). iPEGE
ne von gut oder hochbegabt verwendet wird, für schwach formuliert dann weiter: „Das individuelle Muster an Bega-
begabte Individuen wird auf den Begriff „retarded“ zurückge- bungsfaktoren bezeichnet man als persönliches Begabungs-
griffen (vgl. hierzu ausführlicher etwa Bundschuh 2010). Die profil. Dieses Profil kann sich laufend verändern“ (ebd.). Nach
angesprochene Gleichsetzung von Intelligenz und Begabung iPEGE steuern Individuen ihre Entwicklung selbst und setzen
findet sich etwa auch bei Rost (1993 2009b), der für die Mar- sich nicht passiv Umwelteinflüssen aus, sondern verarbeiten,
burger Hochbegabtenstudie pragmatisch Hochbegabung mit beeinflussen und gestalten diese. Damit ist eine lebenslan-
weit überdurchschnittlicher Intelligenz gleichsetzte. ge Entwicklungsdynamik gegeben, die in relativ kurzer Zeit
Heller (2000) versteht dagegen Begabung als übergeord- zu beachtlichen Veränderungen von Begabungsausprägun-
neten Begriff, unter dem er nicht nur Intelligenz (im psycho- gen oder auch zu längerfristig stabilen Begabungsausprägun-
metrischen Sinne, also das Denkprodukt), sondern auch „den gen führen kann.
Prozeßaspekt kognitiver Kompetenzen“ (S. 20) subsumiert. Um begriffliche Klarheit zwischen der uneinheitlichen
Heller führt weiter aus, dass andere Psychologen wiederum Verwendung des Intelligenz- und des Begabungsbegriffs zu
unter der allgemeinen Intelligenz die Kompetenz zur Bearbei- schaffen, wurde von verschiedenen Autoren auf den Talent-
tung neuartiger Problemstellungen auf beliebigen Gebieten begriff zurückgegriffen, besonders um in Abgrenzung vom
verstehen und Begabungen häufig bestimmten Bereichen zu- schulischen und akademischen Bereich Leistungsvorausset-
ordnen. Eine wieder andere Tradition, so Heller (2000) wei- zungen etwa auf musikalischem, künstlerischem, psychomo-
ter, verstünde unter Intelligenz Kern- oder Grundfunktionen torischem oder sozialem Gebiet zu bezeichnen. Dafür spricht,
des Denkapparats, etwa im Sinne der unten beschriebenen dass Talent umgangssprachlich eine bereichsspezifische Befä-
Grundintelligenz, während mit Begabung(en) Aspekte der higung ausdrückt (z. B. musikalisch oder sportlich „talentier-
gesamten geistigen Leistungsfähigkeit einer Person angespro- te“ Kinder und Jugendliche). Außerdem sprach bereits Stern
chen werden, inkl. der Intelligenz und ihrer Stützfunktionen (1916) in diesem Sinn von Talenten.
wie Aufmerksamkeit, Konzentration, aber auch motivationa- Auch Gagné (z. B. 1995) versteht unter Begabung wie üb-
le Aspekte usw. lich ein (natürliches bzw. angeborenes) Potential, reserviert
168 Kapitel 9  Intelligenz, Kreativität und Begabung

den Talentbegriff aber für herausragende Leistungen, die ein gestellten Modelle sind empirisch überprüft, die jüngeren
Individuum in einer bestimmten Domäne erbracht hat. Da- Modelle bauen in der Regel auf den vorhergehenden Model-
mit meint er Kompetenzen für verschiedene Anwendungsfel- len auf.
der, die das Produkt von Begabungen und Erfahrungen dar-
stellen. Recht explizit spricht er einer Person somit erst dann
Talent zu, wenn sie auf ihrem Fachgebiet Expertise erworben
hat. Damit vergleichbar schlug Hany (1987) vor, den Begriff 9.2.1 Theorien der Intelligenz
„hochbegabt“ für Personen mit hohem Potential zu verwen-
den, die hervorragende Leistungen in ganz unterschiedlichen Wie die Untersuchungen des Engländers Charles Spearman
Bereichen erbringen könnten. Talentierte Personen hingegen (1863–1945) zur Struktur der Intelligenz zeigten, korrelie-
wiesen eine hohe Affinität zu konkreten Leistungsbereichen ren die Leistungen auch in deutlich unterschiedlichen In-
auf. Allerdings haben sich beide Vorschläge nicht durchge- telligenztestaufgaben positiv miteinander (zur Korrelation
setzt. 7 Kap. 27). Er schloss daraus auf die Existenz eines sogenann-
Kreatives Problemlösen schließlich könnte man dadurch ten Generalfaktors g der Intelligenz. In Spearmans Sinne ist
charakterisieren, dass es sich um Problemlösen handelt, bei g die Ursache für die positiven Zusammenhänge zwischen
dem das Ziel des Problemlöseprozesses nicht genau vorgege- verschiedenen intellektuellen Fähigkeiten und wird meist als
ben ist bzw. mehrere Lösungen möglich sind. Der im folgen- allgemeine Intelligenz bezeichnet (vgl. Rost 2013). Da aller-
den Abschnitt erwähnte Guilford ordnete Intelligenzleistun- dings die Interkorrelationen, also die Korrelationen zwischen
gen auch danach, ob sie eher konvergentem oder divergentem den einzelnen Intelligenzmaßen, nur mittelhoch ausfallen,
Denken zugeordnet werden können. Bei Aufgaben des kon- schloss Spearman darüber hinaus auf die Existenz weiterer,
9 vergenten Denkens, also klassischen Intelligenztestaufgaben, sogenannter spezifischer Intelligenzfaktoren, von denen prin-
muss die eine richtige Aufgabenlösung gefunden werden, zipiell so viele existieren, wie es verschiedene Leistungsanfor-
während Aufgaben zum divergenten Denken erfordern, vie- derungen gibt. Jede einzelne Leistung setzt sich demnach aus
le verschiedene und originelle Problemlösungen zu finden. g und einem spezifischen Faktor si zusammen, der zu kei-
Kreative Problemlöser benötigen daher unter Umständen ner anderen Leistung gehört. Der Bearbeitung von drei ver-
ein sehr umfangreiches und gut strukturiertes Vorwissen als schiedenen Typen von Intelligenzaufgaben liegen nach dieser
Grundlage für neuartige Ideen und überraschende Problem- Auffassung vier Faktoren zugrunde: der Generalfaktor g und
lösungen (Simonton 1988). Aufgrund der ergebnisoffenen drei spezifische Faktoren s1, s2 und s3 (vgl. Rost 2013, S. 44).
Kombination von Wissenselementen geht kreatives Problem- Spearmans Ansatz wurde und wird teilweise „Zwei-Faktoren-
lösen über intelligentes Verhalten hinaus. Kreativität in einem Theorie“ der Intelligenz genannt, was insofern irreführend
umfassenderen, allgemeinen Sinne hebt auf die Entwicklung ist, als tatsächlich von der Existenz einer Vielzahl spezifischer
neuer und neuartiger, für die Mitmenschen überraschender Faktoren ausgegangen wird; auch verdeutlicht diese Bezeich-
Gedanken, Produkte und Problemlösungen ab (Cropley & nung nicht hinreichend gut die maßgebliche Bedeutung des
Reuter 2010; Tan & Perleth 2015). Generalfaktors g. Wir empfehlen daher, Spearmans Theorie
wie meist üblich als Generalfaktorentheorie der Intelligenz
(vgl. auch Rost 2013 sowie Stumpf 2019) zu bezeichnen.
Eine gänzlich andere Vorstellung der Intelligenzstruktur
9.2 Intelligenz
schlug der US-Amerikaner Louis L. Thurstone (1887–1957)
vor, indem er die Existenz von sieben weitgehend voneinan-
Da Intelligenz ein hypothetisches Konstrukt ist, existieren der unabhängigen Primärfaktoren der Intelligenz postulierte
nicht nur unterschiedliche Definitionen, sondern auch un- (vgl. Thurstone 1924). Dazu zählen beispielsweise die Merk-
terschiedliche Modellvorstellungen zu dessen Struktur. Wie fähigkeit, die Rechengewandtheit und die Wortflüssigkeit
ist das Konstrukt am besten zu beschreiben? Welche Fähig- (Funke & Vaterrodt-Plünnecke 2004; Rost 2013). Die Annah-
keiten sind darunter subsumiert? Handelt es sich um eine me der Unabhängigkeit dieser Faktoren hat zur Folge, dass ge-
weitgehend einheitliche Größe, sodass intelligentere Perso- nau genommen auch kein Gesamtwert der Intelligenz gebil-
nen alle kognitiven Anforderungen verschiedener Art besser det werden darf (7 Abschn. 9.2.2); die einzelnen intellektuellen
bewältigen können als weniger intelligente Personen? Oder Fähigkeiten bzw. die sieben Primärfaktoren müssten daher in
sollten wir eher von einer sehr differenzierten Struktur ver- einem Intelligenzprofil dargestellt werden. Diese Vorstellung
schiedener Faktoren ausgehen und folglich die intellektuellen entspricht relativ gut dem subjektiven Eindruck der meisten
Fähigkeiten einer Person mittels eines differenzierten Profils Menschen, wonach die eigenen intellektuellen Fähigkeiten
relativer Stärken und Schwächen in verschiedenen Intelli- nicht in allen inhaltlichen Domänen gleich hoch ausgeprägt
genzdomänen beschreiben? sind. Vielmehr nehmen wir bei uns selbst eher deutliche Stär-
In den letzten Jahrzehnten wurde diese „Intelligenz- ken und Schwächen in verschiedenen Fähigkeitsdomänen
Struktur-Debatte“ sehr hitzig geführt. Im Folgenden werden wahr, wie etwa eine hohe sprachliche Begabung. Tatsächlich
fünf Intelligenztheorien skizziert, die sowohl die historische sind die Zusammenhänge zwischen den unterschiedlichen
Entwicklung als auch die inhaltlich bedeutenden Wegmarken Intelligenzfaktoren jedoch höher ausgeprägt, als diese subjek-
dieses Forschungszweiges veranschaulichen. Alle hier vor- tiven Wahrnehmungen es vermuten ließen.
9.2  Intelligenz
169 9
Raymond B. Cattell (1905–1998), ein Schüler Spearmans, „g“
schlug mit seiner Zweifaktorentheorie der Intelligenz ein Mo- Allgemeine Intelligenz
dell vor, das als Integration der in den Kernannahmen sehr
unterschiedlichen Ansätze von Spearman und Thurstone in- B F

In
ne

ha
terpretiert werden kann. Cattell (1987) nahm die Existenz

io
G V

lte
at
zweier Generalfaktoren der Intelligenz an, die er fluide und

er
Op
kristalline Intelligenz nannte. Die fluide Intelligenz wird als E N
weitgehend angeborene, generelle Fähigkeit zum logischen
K
Denken verstanden. Die kristalline Intelligenz hingegen be-
inhaltet erworbene Fähigkeiten (z. B. schulisches Wissen) Bearbeitungs-
und entwickelt sich aus der fluiden Intelligenz und Soziali- B geschwindigkeit
Figural-
sationseinflüssen, zu denen auch Lerngelegenheiten zählen. bildhaft F G Gedächtnis
Beide Generalfaktoren dieses Modells werden von mehreren
Verbal V E Einfallsreichtum
Primärfaktoren gespeist, die eine gewisse Analogie zu Thur-
stones Modell darstellen. Nummerisch N K Verarbeitungskapazität

Im Fokus: Zweikomponentenmodell von Baltes . Abb. 9.1 Das Berliner Intelligenz-Struktur-Modell (Quelle: Perleth
2000)
Eng an die Intelligenzkonzeption von Cattell schließt
sich das Zweikomponentenmodell der Intelligenz, das im
Rahmen der Alternsforschung von der Arbeitsgruppe um fangsbuchstaben aufschreiben, der Zelle EV zuzuordnen. Die
Paul Baltes am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung hierarchische Struktur des Modells wird insofern deutlich,
Berlin vorgelegt wurde: Nach dieser Konzeption wird die als diese Fähigkeitsbündel zu einem Gesamtwert aggregiert
Mechanik der Intelligenz (Aspekte des Denkvermögens, werden können, der dem Generalfaktor g nach Spearman na-
der Wahrnehmung oder des Gedächtnisses; flüssige In- hekommt.
telligenz im Sinne Cattells) der Pragmatik der Intelligenz Den jüngsten und auch empirisch am besten fundier-
(Wissen, Wortschatz, Erfahrungen, gut geübte Fertigkeiten; ten Ansatz zur Beschreibung der Intelligenzstruktur nahm
kristallisierte Intelligenz im Sinne Cattells) gegenüberge- John B. Carroll (1916–2003) vor. Er analysierte die Daten
stellt (Baltes, Lindenberger & Staudinger 1995; Schmiedek aus mehr als 400 Studien und schlug das sogenannte Drei-
& Lindenberger 2012). Während die Leistungen in der Schichten-Modell der Intelligenz vor. Etwa 70 eng gefasste,
Mechanik der Intelligenz (beispielsweise aufgrund der Ver- relativ spezialisierte Faktoren (z. B. Leseverstehen) der ersten
schlechterung von Wahrnehmungsprozessen) bei manchen Schicht bilden auf der nächsthöheren Ebene acht Faktoren
Personen etwa ab dem 50. Lebensjahr leicht und ab dem 80. der zweiten Schicht von höherer Generalität, wie etwa die
Lebensjahr stärker zurückgehen, können Kompetenzen, die fluide Intelligenz (Carroll 1993). Diese acht Faktoren kön-
der Pragmatik der Intelligenz zugerechnet werden, auch im nen wiederum auf übergeordneter Ebene zu einem Faktor
Alter noch ausgebaut werden. der dritten Schicht gebündelt werden, der als Generalfak-
tor g angesehen werden kann und schlussfolgernd-abstraktes
Denken repräsentiert. Im Drei-Schichten-Modell der Intel-
Als viertes Modell soll ein in Deutschland entwickelter ligenz wird der hierarchische Charakter besonders deutlich
Ansatz zur Beschreibung der Intelligenzstruktur vorgestellt herausgearbeitet, doch auch die Theorien von Cattell und Jä-
werden. Adolf Otto Jäger (1920–2002) definierte im Berliner ger zählen zu den hierarchischen Intelligenzmodellen (Rost
Intelligenzstrukturmodell (7 Abschn. 9.2.1) drei inhaltliche 2013).
Intelligenzfaktoren (figural-bildhafte F, verbale V und nume-
rische Fähigkeiten N), die mit vier Intelligenzoperatoren (Be- Im Fokus: Gardners „Abschied vom IQ“
arbeitungsgeschwindigkeit B, Merkfähigkeit bzw. Gedächtnis
G, Einfallsreichtum E und Verarbeitungskapazität K) kombi- Howard Gardner (1994) postuliert in seinem Buch „Abschied
niert werden (Jäger 1973). Diese Fähigkeitsbündel bilden eine vom IQ“ sieben unterschiedliche Bereiche von Intelligenz,
3  4-Matrix mit 12 Zellen, und jede Intelligenztestaufgabe die völlig unabhängig voneinander seien:
kann einer dieser Zellen und damit zwei Intelligenzmoda- 4 Sprachliche Intelligenz: Neben Umfang und Vernet-
litäten zugeordnet werden (. Abb. 9.1). Die Aufgabe, sich zung des Wortschatzes meint Gardner damit auch
möglichst viele Ziffern einer Zahlenreihe einzuprägen und sprachliche Fähigkeiten, wie sie beispielsweise guten
später korrekt wiederzugeben, erfordert beispielsweise nume- Aufsatzschreibern oder Dichtern zugeschrieben werden.
rische (Inhalt) Merkfähigkeiten (Operation), gehört also in 4 Logisch-mathematische Intelligenz: Hierzu zählen
die Zelle GN. Figurale Analogien (beispielsweise ı W  D Fertigkeiten im Umgang mit Zahlen, aber auch Auf-
 W ‹) sind dementsprechend der Zelle KF, verbaler Einfalls- gabenstellungen des schlussfolgernden Denkens
reichtum, etwa möglichst viele Wörter mit bestimmtem An- (entspricht zum Teil dem „g“-Faktor der Intelligenz).
170 Kapitel 9  Intelligenz, Kreativität und Begabung

chen und spezieller Fragestellung denjenigen Fähigkeitstest


4 Räumliche Intelligenz: Darüber verfügt, wer sich auswählen, der für den jeweiligen Zweck am geeignetsten er-
räumliche Objekte gut vorstellen kann. Architekten, scheint.
aber auch Ingenieure benötigen solche Fähigkeiten im So werden beispielsweise für Gerichtsgutachten Test-
besonderen Maße. verfahren verwendet, die vor allem Maße der allgemei-
4 Körperlich-kinästhetische Intelligenz: Hier spricht nen Intelligenz liefern. Wenn es hingegen darum geht, ob
Gardner psychomotorische Fähigkeiten an, wie sie ein Schüler oder eine Schülerin in der Sekundarstufe eher
Tänzer oder Sportlerinnen aufweisen, die Bewe- einen mathematisch- naturwissenschaftlichen oder einen
gungsabläufe sofort erfassen, nachvollziehen, geeignet literarisch-sprachlichen Schwerpunkt wählt, wird man einen
modifizieren und fein sowie zielgerichtet ausführen Test wählen, der die Unterscheidung intellektueller Fähig-
können. keiten im quantitativen und sprachlichen Bereich bzw. die
4 Musikalische Intelligenz: Dazu gehört das Gefühl für Erstellung eines Intelligenzprofils ermöglicht. Bei der Dia-
Rhythmus und Tonhöhen, aber auch Fähigkeiten, gnostik von Kindern und Jugendlichen mit nichtdeutscher
Emotionen mit musikalischen Mitteln auszudrücken Muttersprache empfiehlt sich in der Regel die Verwendung ei-
(z. B. Musikerinnen) bzw. den emotionalen Ausdruck von nes Tests, der möglichst wenige sprachliche und quantitative
Musik zu erfassen (z. B. Musikkritiker). Anteile (kristallisierte Intelligenz im Sinne Cattells) enthält.
4 Intrapersonale Intelligenz stellt die Sensibilität Stattdessen wird man einen Test wählen, der die Erfassung
gegenüber der eigenen inneren Welt dar. Auch Selbst- der flüssigen Intelligenz ermöglicht, also der Intelligenzantei-
erkenntnis und meditative Besinnung auf die eigene le, die weniger stark vom kulturellen, familiären und schuli-
Gefühlswelt, wie es etwa Zen-Meistern in besonderem schen Umfeld abhängen.
9 Maße gelingt, gehören dazu.
4 Interpersonale Intelligenz schließlich meint die
Fähigkeit, die Befindlichkeit anderer differenziert
wahrnehmen, einschätzen und das eigene Verhalten 9.2.2 Messung von Intelligenz
darauf abzustimmen zu können. Solche Kompetenzen
werden etwa benötigt, um Verhandlungen erfolgreich Die Messung von Intelligenz ist eng mit der Entwicklung
bestreiten zu können. der psychologischen Diagnostik verbunden. Ein kleiner his-
Die Sichtweise Gardners ist besonders in den USA, aber auch torischer Rückblick führt daher zu den zentralen Begriffen.
im deutschsprachigen Raum äußerst populär, obwohl sie Der Engländer Francis Galton (vermutlich ein Neffe von
wissenschaftlich nur sehr schwach abgesichert ist und in den Charles Darwin) gilt als Begründer der Testdiagnostik (Hel-
letzten Jahren durch eine beliebig anmutende Ausweitung ler 2000). Galton beschäftigte sich Mitte des 19. Jahrhunderts
bis hin zur naturkundlichen oder spirituellen Intelligenz mit psychologischen Fähigkeiten und Eigenschaften und den
wissenschaftlich nicht mehr ganz ernst genommen werden damit verbundenen Unterschieden zwischen Personen, al-
kann (siehe auch die fundamentale Kritik von Rost 2009b). so mit interindividuellen Differenzen. Dazu wandelte Galton
damals typische psychologische Experimente zur Erfassung
der Hörschwelle oder von Reaktionszeiten ab, um individu-
Alle in diesem Abschnitt vorgestellten Modelle wurden elle Fähigkeiten, Fertigkeiten oder Leistungsgrenzen zu erfas-
auf Basis empirischer Daten mittels Faktorenanalysen entwi- sen. Galton ging es wesentlich darum, sinnvolle quantitative
ckelt. Darüber hinaus existieren rein theoretische Ansätze zur Kennwerte zu erhalten, d. h. alle Fähigkeiten, Fertigkeiten
Beschreibung der Intelligenzstruktur, wie das Strukturmodell und Kenntnisse mit Maßzahlen auszudrücken (Heller 2000;
von Guilford. Hier werden 5 Operationen mit 5 Inhalten und Perleth & Sierwald 2000).
6 Produkten kombiniert; es resultieren insgesamt 150 Zellen, Wesentlich und grundlegend für die weitere Entwicklung
die alle potenziellen menschlichen intellektuellen Fähigkei- der psychologischen Diagnostik war, dass Galton die Merk-
ten abdecken und voneinander unabhängig sein sollen (Rost male oder Fähigkeiten einzelner Personen mit den durch-
2013). Die Annahme der Unabhängigkeit der Intelligenzfak- schnittlichen Fähigkeiten verglich. Auch heute drückt ein
toren scheint allerdings nicht plausibel. Vielmehr sprechen Testwert eines Intelligenz- oder Leistungstests die Abwei-
vorliegende Befunde eindeutig für die Interkorrelation ver- chung der getesteten Person vom Mittelwert der Bezugsgrup-
schiedener Intelligenzfaktoren. Daher wird heutzutage die pe aus: Anders als bei einem Diktat, das perfekt, also ohne
Intelligenzstruktur von den meisten Experten als ein hierar- Fehler sein kann, gibt es keine optimale Intelligenzleistung.
chisches Konstrukt angesehen. Eine Leistung in einem Intelligenztest kann immer nur mit
Zu allen der bis heute bewährten Intelligenztheorien, die einer anderen Leistung verglichen werden. Man kann also
in diesem Abschnitt beschrieben wurden, existieren psycho- etwa sagen, dass Person A im Intelligenztest eine höhere Leis-
logische Tests, mit denen die modellierten Fähigkeiten oder tung als Person B gezeigt hat oder dass Person C im Vergleich
Fähigkeitsbündel erfasst werden können. Dabei ist es kaum mit seiner Altersgruppe eine über-, unter- oder eben eine
möglich, der einen oder anderen Theorie generell den Vorzug durchschnittliche Intelligenzleistung erzielt hat. Man kann
zu erteilen. Auch werden praktisch tätige Schulpsychologen aber nicht sagen, dass jemand nicht intelligent und streng ge-
oder Schulberater je nach Alter des Kindes oder Jugendli- nommen auch nicht, dass jemand sehr intelligent sei. Wenn
9.2  Intelligenz
171 9
wir davon sprechen, dass jemand hochbegabt ist, meinen wir, Person von ihrem wahren, also tatsächlich die Person kenn-
dass seine Intelligenz sehr weit, genauer gesagt mindestens zeichnenden Wert wird als Messfehler bezeichnet. Dabei wird
zwei Standardabweichungen über dem Durchschnitt seiner angenommen, dass über viele Messungen hinweg die Fehler-
Altersgruppe liegt. Eine solche Bewertung ist also nie abso- werte normalverteilt sind und im Mittel einen Wert von null
lut, sondern immer nur in Bezug auf Personen gleichen Alters aufweisen. Mit anderen Worten: Der Messwert kann einmal
möglich. ein bisschen höher oder auch sehr viel niedriger als der wahre
Damit solche Abweichungswerte überhaupt sinnvoll in- Wert ausfallen, über viele Messungen hinweg heben sich die
terpretiert werden können, müssen alle Test- oder Versuchs- Messfehler aber gegenseitig auf. Für den Testanwender spielt
personen die gleichen Bedingungen vorfinden. Deshalb stan- die Reliabilität eine wichtige Rolle vor allem für die Berech-
dardisierte Galton die Leistungssituationen und Aufgaben, nung der Grenzen, innerhalb dessen der wahre Wert einer
um eine möglichst hohe Objektivität der Messung zu er- Person mit einer hohen Wahrscheinlichkeit liegt. Bei man-
reichen. Bei psychologischen Tests, insbesondere auch bei chen Tests, beispielsweise bei vielen Schulleistungstests wie
Intelligenztests wird deshalb vom Testautor genau festge- Rechtschreib- oder Rechentests, wird das Testergebnis von
legt, wie der Test durchzuführen ist. In der Handanweisung vornherein als Intervall mit Unter- und Obergrenzen ange-
des KFT 4  12 C R (Heller & Perleth 2000), einem Test geben. Damit soll verdeutlicht werden, dass die tatsächliche
zur Messung von kognitiven bzw. intellektuellen Fähigkeiten Kompetenz immer etwas vom Testwert abweichen kann.
im verbalen, quantitativen und figural-nonverbalen Bereich, Das dritte Qualitätsmerkmal von Tests stellt die Gültigkeit
wird den Testanwendern daher sehr genau vorgeschrieben, (Validität) dar. Ein Test ist gültig, wenn er das Persönlich-
unter welchen Bedingungen der Test durchzuführen ist. Vor keitsmerkmal, das er messen soll, auch tatsächlich misst. Nur
allem aber wird die Testinstruktion oder Testanweisung fest- ein Test mit hoher Gültigkeit kann daher auch sinnvoll in-
gelegt, an die sich die Fachleute bei der Diagnostik halten terpretiert werden. Ein Test kann genau (reliabel) sein, aber
müssen. Durch diese Standardisierung, also die genaue Fest- trotzdem nicht das messen, was er messen soll. Bei einem In-
legung der Testbedingungen, soll größtmögliche Objektivität telligenztest wäre zunächst zu prüfen, ob die Aufgaben auch
erreicht werden, d. h. man möchte so weit wie möglich aus- das widerspiegeln, was das jeweilige Intelligenzkonstrukt be-
schließen, dass die Unterschiede in den Testergebnissen auf- inhaltet. Bei Tests, die in der Schulberatung Verwendung fin-
grund von unterschiedlichen Bedingungen oder Hinweisen den, wird weiterhin insbesondere geprüft, inwieweit mit dem
bei der Testdurchführung zustande gekommen sein könnten. Test (Schul-)Leistungen vorhergesagt werden können, wobei
Die Unterschiede in den Testergebnissen sollen also mög- auch mit guten Tests Leistungen nur mit mehr oder weniger
lichst vollständig als Unterschiede in den Fähigkeiten der großer Genauigkeit vorhergesagt werden können. Nehmen
verglichenen Personen interpretiert werden können. wir beispielsweise an, dass mit einem Test die Mathematikno-
Ein weitere Annahme Galtons bezieht sich darauf, dass te über zwei Jahre recht gut vorhergesagt werden kann, weil
menschliche Fähigkeiten der Gauß- oder Normalverteilung in einer empirischen Studie eine mittlere bis hohe Korrelation
folgen. Bis heute geht man in der Testdiagnostik davon aus, (etwa r D :60) zwischen den Testergebnissen und den Mathe-
dass die meisten psychologischen Merkmale wie Fähigkei- noten einer Schülerstichprobe gefunden wurde. Hat nun ein
ten oder Persönlichkeitsmerkmale und damit eben auch die Schüler in diesem Test einen IQ an der Grenze zum unter-
Intelligenzwerte normalverteilt sind, was sich in großen em- durchschnittlichen Bereich (IQ von 85) erzielt, dann könnte
pirischen Untersuchungen auch praktisch zeigt. Ein großer er mit hoher Wahrscheinlichkeit (90 %) zwei Jahre später eine
Teil des statistischen Apparats, der zur Testentwicklung bzw. Mathematiknote zwischen befriedigend (2,9) und mangelhaft
Testkonstruktion benötigt wird, setzt Normalverteilung der (4,9) erhalten.
untersuchten Variablen bzw. Merkmale voraus. Beim Merk- Damit ein Test, wie schon von Galton gefordert, Mess-
mal Intelligenz bzw. geistige Leistungsfähigkeit stellen die werte liefert, die auf den Durchschnittswert einer Bezugs-
Extrembereiche dieser Verteilung Hochbegabte auf der einen gruppe bezogen werden können, muss man sehr genau den
und intellektuell Minderbegabte auf der anderen Seite dar. Mittelwert sowie weitere statistische Kennwerte dieser Be-
Damit weichen Hochbegabte genauso weit vom Durchschnitt zugsgruppe kennen. Die Normierung eines Tests soll genau
bzw. der „Normalität“ ab wie mental Retardierte. solche Vergleichswerte ermitteln. Dazu wird der Test an einer
Die von Galton geforderte Objektivität einer psychologi- möglichst umfassenden Normstichprobe durchgeführt, von
schen Messung stellt das erste der zentralen Qualitäts- bzw. deren Qualität (z. B. Repräsentativität) die Qualität der Nor-
Gütemerkmale psychologischer Diagnostik dar. Darüber hi- men entscheidend abhängen. Normen können immer auch
naus muss ein psychologischer Test oder auch jede andere im in Prozenträngen ausgedrückt oder umgerechnet werden. So
Rahmen psychologischer Diagnostik erhobene Information sagt bei einem Intelligenztest ein Prozentrang von 50 (ent-
dem Gütekriterium der Messgenauigkeit oder Zuverlässigkeit spricht dem durchschnittlichen IQ D 100) aus, dass 50 %
(Reliabilität) genügen. Speziell bei Tests drückt die Reliabilität der Vergleichspopulation niedrigere Werte erzielen. Ein Pro-
aus, wie genau und zuverlässig der Test das misst, was er misst. zentrang von 16 (entspricht IQ D 85) bedeutet, dass 16 %
Informationen über die Zuverlässigkeit eines Tests sind des- der Normstichprobe in der Regel einen schlechteren Wert
wegen so wichtig, weil die ermittelten Testwerte mehr oder in diesem Test aufweisen. IQ D 130 entspricht hingegen
weniger stark von dem sogenannten „wahren Wert“ abwei- Prozentrang 98. Weil sich aufgrund von gesellschaftlich und
chen können, den ein Individuum in dem erfassten Personen- historisch bedingten Änderungen im familiären und schu-
merkmal aufweist. Diese Abweichung des Messwerts einer lischen Lernumfeld die Leistungen von Kindern, Jugendli-
172 Kapitel 9  Intelligenz, Kreativität und Begabung

chen und Erwachsenen ändern können (Flynn 1987; Skender dere Hälfte schlechtere Leistungen als Ines zeigt. Die meisten
2014), sollten die Testnormen wie auch alle anderen zu dem 12-Jährigen, ziemlich genau 68 % (Faustregel: zwei Drittel),
jeweiligen Test ermittelten statistischen Kennwerte regelmä- liegen im Bereich von IQ D 85 bis 115. Da die Standard-
ßig überprüft werden. abweichung der IQ-Werte meist 15 Punkte beträgt, ist das
genau der Bereich, in dem die Personen liegen, deren Testwert
Im Fokus: Der Flynn-Effekt maximal um den „durchschnittlichen“ Betrag vom Mittel-
wert abweicht. Der Bereich einer Standardabweichung um
In den 1980er-Jahren erregte Flynn (1987) mit einer Studie den Mittelwert wird daher als Durchschnittsbereich bezeich-
großes Aufsehen, nach der in vielen Ländern weltweit net (zur Standardabweichung vgl. 7 Kap. 26). Das gilt für alle
pro Jahrzehnt eine Steigerung des durchschnittlichen Altersgruppen: Wer einen IQ höher als 115 erzielt, gehört
Intelligenzquotienten von etwa 3 Punkten zu verzeichnen zu den besten 16 % seiner Altersgruppe (überdurchschnittli-
sei. Dieser Anstieg wird als Flynn-Effekt bezeichnet. Dabei che Leistung). Umgekehrt bedeutet ein IQ niedriger als 85,
zeigte sich, dass der Effekt vor allem beim induktiven dass der Schüler zu den schwächsten 16 % zu rechnen ist
Denken bzw. figural-räumlichen Intelligenzaufgaben und (unterdurchschnittliche Leistung). Personen mit IQ-Werten
weniger bei verbalen oder quantitativen Aufgaben zu finden über 130 bezeichnet man gewöhnlich als hochbegabt (ca. 2–
ist. Der Effekt wird vielfach dahingehend interpretiert, dass 3 % der Altersstufe bzw. Vergleichsgruppe). Der Vorschlag,
er einerseits durch eine gewachsene Vertrautheit mit den Hochbegabung über einen IQ von 130 zu definieren, hat al-
Aufgaben von Intelligenztests und andererseits durch eine so durchaus eine solide wissenschaftliche Grundlage und ist
Verbreitung von (Lern-)Spielzeug und Übungsmaterial in nicht ganz so willkürlich gewählt, wie er auf den ersten Blick
Familie, Kindertagesstätte und Schule gefördert wird, durch erscheinen mag.
9 die sich Kompetenzen im Bereich der Intelligenz verbessern. Gerade im Hinblick auf die Erkennung von hochbegab-
In jüngerer Zeit war der Flynn-Effekt in entwickelten Ländern ten Schülerinnen und Schülern gibt es zahlreiche Vorschläge
wie Deutschland allerdings kaum mehr nachweisbar. in der populären und wissenschaftlichen Literatur, wie die-
se von Eltern oder Lehrkräften identifiziert werden können.
Die Forschung zeigt aber, dass solche Checklisten nur einen
Daneben müssen Testautoren bei der Testentwicklung begrenzten diagnostischen Nutzen haben. Manchmal stehen
auch weitere Qualitätsmerkmale berücksichtigen. Im Rah- die Punkte dieser Checklisten geradezu im Gegensatz zur em-
men der Testfairness ist beispielsweise zu prüfen, ob einzelne pirischen Forschung. Sie können zwar wichtige Hinweise auf
Gruppen (Migrantenkinder, Kinder mit nichtdeutscher Mut- das Vorliegen einer Hochbegabung liefern, eine psychologi-
tersprache, leistungsschwache Kinder) durch die Testaufga- sche Diagnose aber nicht ersetzen (siehe dazu ausführlicher
ben systematisch benachteiligt werden. Weiter sollte ein Test Perleth 2010).
dem Kriterium der Nützlichkeit genügen, d. h. er soll sinn-
volle Informationen im Hinblick auf pädagogische Entschei-
dungen liefern. Daneben muss der Testautor durch Angaben
zur Vergleichbarkeit sicherstellen, dass die Testwerte mit de- Mythos: Die Intelligenz eines Menschen ist angebo-
nen anderer Tests vergleichbar sind. Und schließlich wird ren und unveränderbar
den Testanwender auch die Ökonomie des Testverfahrens in- In so manchem älteren Lehrbuch kann man lesen, dass man
teressieren, also welcher Aufwand an Zeit, finanziellen und sich bei der Intelligenzmessungauf eine einzelne Messung,
anderen Ressourcen für eine Testdurchführung und -aus- etwa im Alter von sechs Jahren, beschränken könne,
wertung investiert werden muss. weil die Intelligenz angeboren und nicht veränderlich sei
In der diagnostischen Praxis der Schulberatung wird (7 Abschn. 9.2.3). Diese Auffassung teilen auch noch viele
nach wie vor insbesondere auf „klassische“ Intelligenztests Lehrkräfte und Eltern. Allerdings gibt es inzwischen viele
in der Tradition der psychometrischen Forschung zurückge- Belege für die Trainierbarkeit von Intelligenzleistungen
griffen, weil bisher kaum praxistaugliche diagnostische Me- gerade bei leistungsschwachen Kindern (vgl. Klauer 2003).
thoden zur Intelligenzmessung im Sinne kognitionspsycho- Dessen ungeachtet scheinen sich Intelligenzunterschiede
logischer oder neurowissenschaftlicher Forschung verfügbar bereits im Verlauf der Grundschuljahre zu stabilisieren. Ab
sind. Nach wie vor gilt auch, dass diese Intelligenztests den der Sekundarstufe und ohne spezielle Trainings ändert
besten Prädiktor für späteren schulischen und auch berufli- sich die Rangfolge der Schülerinnen und Schüler bzgl.
chen Erfolg darstellen (7 Abschn. 9.2.5). ihrer Intelligenzunterschiede nur noch wenig. Im Hinblick
Der IQ (Intelligenzquotient) als Messergebnis eines In- auf Eignungsdiagnostik erscheinen Intelligenztrainings
telligenztests gibt an, wie stark die intellektuelle Leistungsfä- dennoch nützlich, da man sich mit ihrer Hilfe seinen
higkeit einer Person vom Durchschnitt der Vergleichsgruppe individuellen Leistungsgrenzen annähern kann, wie
bzw. Altersstufe abweicht. Dabei wird im Rahmen der Test- die Arbeitsgruppe um Günter Trost in den 80er- und
normierung die durchschnittliche Leistung einer bestimmten 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts anhand der Daten von
Altersstufe als IQ D 100 festgelegt. Erzielt beispielsweise die Eignungstests für das Studienfach Medizin zeigen konnte
12-jährige Schülerin Ines einen IQ von 100, so bedeutet dies, (Perleth 2008).
dass die Hälfte aller 12-Jährigen bessere Leistungen, die an-
9.2  Intelligenz
173 9
Im Fokus: Der Intelligenzquotient IQ wachsene, zweieiige Zwillinge mit :35 deutlich geringer aus
(Plomin & DeFries 1980). Dies spricht für einen vergleichs-
Vor ziemlich genau 100 Jahren wurde der IQ von William weise hohen Einfluss genetischer Faktoren. Gleichwohl fin-
Stern (1912) tatsächlich als Quotient aus dem Vergleich den wir in beiden Populationen etwas höhere Korrelationen,
von Intelligenzalter zu Lebensalter berechnet: IQ D wenn die Zwillinge gemeinsam aufgewachsen sind, was auch
Intelligenzalter  Lebensalter  100. Zur Ermittlung des für einen Einfluss der Umweltbedingungen auf die Intelligenz
IQ einer Person musste man daher ihr Intelligenzalter spricht. Zahlreiche weitere Befunde (z. B. aus Adoptionsstu-
kennen. Wenn die 13-Jährigen in einem IQ-Test in der dien) zeigen in dieselbe Richtung, weshalb die sogenann-
Regel 67 Aufgaben richtig lösten, hätte ein Testautor te Anlage-Umwelt-Kontroverse bezüglich der Entwicklung
damals dieser Leistung ein Intelligenzalter von 13 Jahren von Intelligenzunterschieden gegenwärtig dahingehend resü-
zugeordnet. Angenommen, die 10-jährige Anna und miert werden kann, dass sowohl Unterschiede in der geneti-
der 17-jährige Tobias hätten beide 67 Aufgaben richtig schen Veranlagung als auch Unterschiede in den Umwelten
gelöst, so bekämen sie dasselbe Intelligenzalter von Intelligenzunterschiede bedingen, wobei die genetisch be-
13 Jahren zugewiesen. Für Anna ergäbe sich aber ein dingten Unterschiede stärker zu gewichten sind.
Intelligenzquotient von 13  10  100 D 130, für Tobias Dieses Forschungsfeld ist aber von ausgesprochen hoher
hingegen ein Intelligenzquotient von 13  17  100 Š Komplexität und die Interpretationen werden insofern noch
76. Diese Art der IQ-Bestimmung besitzt eine Reihe erschwert, als die Umwelt- und Anlagefaktoren auch mitein-
gravierender Nachteile wie eine langsamere Zunahme des ander interagieren. Zur vertieften Auseinandersetzung seien
Intelligenzalters bei steigendem Lebensalter, sodass sie interessierte Leserinnen und Leser auf weiterführende Litera-
heute völlig ungebräuchlich geworden ist. tur verwiesen (Rost 2013; Spinath 2010; 7 Kap. 12). Mit Blick
auf die pädagogische Praxis soll hier zumindest Erwähnung
finden, dass der Einfluss von Umweltfaktoren im Kleinkind-,
Abschließend sei nochmals darauf hingewiesen, dass der Vorschul- und frühen Grundschulalter stärker ausgeprägt ist
IQ kein absolutes Maß für die Höhe der Intelligenz einer Per- als bei älteren Kindern. Ebenso sprechen die Befunde für
son ist, sondern ein Maß für den Leistungsvergleich mit einer einen größeren Einfluss der Umweltfaktoren in ökonomisch
genau festgelegten Bezugsgruppe. Bei den meisten Intelli- schlechter gestellten Familien.
genztests sind die erzielten Leistungen nicht nur vom Alter,
sondern auch vom Geschlecht oder anderen Merkmalen ab- Im Fokus: Befunde der Anlage-Umwelt-Kontroverse
hängig, sodass neben Normwerten für die Gesamtgruppe oft
auch spezielle Normwerte für verschiedene Untergruppen Die Befunde populationsgenetischer Studien zur Anlage-
angegeben werden. Umwelt-Kontroverse sprechen zwar im Großen und Ganzen
für einen höheren Einfluss genetischer Faktoren für die
Entwicklung von Intelligenzunterschieden. Gleichwohl
beeinflussen auch Umweltbedingungen diese Entwicklung
9.2.3 Intelligenzunterschiede: Entstehung
entscheidend. Die Investition in die Gestaltung förderlicher
und Auswirkungen Lernumwelten lohnt sich also, wobei besonders große
Wirkungen im frühen Kindesalter und bei Kindern der
Sind Intelligenzunterschiede ein Resultat unterschiedlicher niedrigen sozioökonomischen Schicht zu erwarten sind. Da-
genetischer Anlagen oder eher ungleicher Umweltbedingun- rüber hinaus ist zu beachten, dass umso höhere genetische
gen, die unsere Entwicklung beeinflussen? Die Entwicklung und umso geringere Umwelteinflüsse gefunden werden,
von Intelligenzunterschieden wird mittels populationsgeneti- je homogener die Lebensverhältnisse für Kinder in einer
scher Studien erforscht, indem beispielsweise die Intelligenz- Gesellschaft sind.
werte von Zwillingspärchen korreliert und die Korrelationen
von eineiigen und zweieiigen Zwillingen verglichen werden.
Entscheidend für die Ergebnisinterpretation ist die Tatsache, Nachdem wir nun skizziert haben, wodurch Intelligenz-
dass eineiige Zwillinge 100 %, zweieiige Zwillinge nur 50 % unterschiede entstehen, stellt sich noch die Frage, wozu
ihrer genetischen Ausstattung teilen. Falls die Gene eine Rol- diese führen: Unterscheiden sich unterschiedlich intelligen-
le spielen, sollten eineiige Zwillinge höhere Korrelationen te Personen auch hinsichtlich weiterer Persönlichkeitsfakto-
in den Intelligenzwerten aufweisen als zweieiige Zwillinge, ren? Sind hochintelligente Menschen automatisch sehr er-
weil sie einander genetisch ähnlicher sind. Weitere Schlüs- folgreich? Und welche Schlussfolgerungen können wir für
se zu Einflüssen der Lernumwelten lässt der Vergleich der das schulische Lernen ableiten? Bevor wir auf einige die-
Korrelationen von getrennt und gemeinsam aufgewachsenen ser Fragen eingehen, überlegen Sie selbst: Welche weiteren
Zwillingen zu. Unterschiede vermuten Sie zwischen mehr und weniger in-
Aus der sehr umfangreichen Befundlage soll hier nur ein telligenten Personen? Sind intelligentere Menschen auch ge-
Ergebnis exemplarisch herausgegriffen werden: Während die wissenhafter und erfolgreicher? Oder haben hoch intelligente
Intelligenzwerte getrennt aufgewachsener, eineiiger Zwillinge Menschen ihrer Überzeugung nach ein erhöhtes Risiko, im
zu :75 korrelieren, fällt die Korrelation für getrennt aufge- Leben zu scheitern?
174 Kapitel 9  Intelligenz, Kreativität und Begabung

Tatsächlich gibt es Zusammenhänge zwischen Intelligenz- 9.2.4 Hochbegabung


werten und weiteren Persönlichkeitsmerkmalen, allerdings
fallen diese Trends möglicherweise anders aus als man es er- Hochbegabte Personen sind in unserer Gesellschaft mythen-
warten würde. In der Metaanalyse von Ackerman und Hegge- umwoben und lösen ähnlich wie Prominente nicht selten eine
stad (1997) gingen hohe Intelligenzwerte mit hoher Offenheit besondere Neugier aus. Aus impliziten Theorien schließen
für neue Erfahrungen und mit geringer emotionaler Labilität wir von der Hochbegabung einer Person auf weitere, nicht-
und Testängstlichkeit einher. Ein nur sehr geringer, posi- kognitive Persönlichkeitsmerkmale. Was ist dran an diesen
tiver Zusammenhang zeigte sich darüber hinaus zwischen Vorannahmen und Vorurteilen? Bevor wir uns mit dieser Fra-
Intelligenz und Extraversion (s. a. Wolf & Ackerman 2005). ge befassen, gilt es, das Konstrukt Hochbegabung genauer zu
Die Persönlichkeitsfaktoren Verträglichkeit und Gewissen- beschreiben.
haftigkeit korrelierten hingegen nicht statistisch bedeutsam
mit Intelligenz. Entgegen weitverbreiteter Vorurteile treten Im Fokus: Ihren eigenen Vorannahmen auf der Spur
psychiatrische Störungen und Suizidalität bei Personen mit
hoher Intelligenz eher etwas seltener auf. Die ebenfalls gefun- Stellen Sie sich vor, Sie erfahren am ersten Schultag, ein Kind
dene etwas bessere allgemeine Gesundheit Hochintelligenter Ihrer neuen Klasse sei hochbegabt. Welche Eigenschaften
wird durch Verhaltensmerkmale von Menschen mit niedriger schreiben Sie diesem noch zu? Welche Erwartungen löst
Intelligenz wie eine geringe Tendenz, vorbeugende Maßnah- diese Information bei Ihnen hinsichtlich der Leistungen,
men in Anspruch zu nehmen, erklärt (im Überblick siehe aber auch des Verhaltens und familiären Umfeldes aus?
Rost 2013). Ungeachtet dieser empirischen Belege für ei- Gehen Sie möglicherweise unbewusst davon aus, es handele
ne physisch und psychisch eher positive Entwicklung von sich um einen Jungen aus einer bildungsnahen Familie mit
9 Personen mit höherer Intelligenz fallen implizite Persönlich- guten Schulleistungen, der jedoch eher introvertiert ist und
keitstheorien zu hoch intelligenten Menschen ganz anders nur über geringe soziale Kompetenzen verfügt?
aus. Dieses Phänomen wird in 7 Abschn. 9.2.4 mit Blick auf Die Befundlage zu impliziten Persönlichkeitstheorien von
Hochbegabte nochmals beleuchtet. Lehrkräften zu hochbegabten Schülerinnen und Schülern
Die in diesem Kapitel vorgestellten Ansätze zur Beschrei- ist noch etwas uneinheitlich. Einer neueren experimentellen
bung des Intelligenzkonstrukts sind Gegenstand der Diffe- Studie (Baudson & Preckel 2013) mit fiktiven Fallvignetten
rentiellen Psychologie, die sich mit Unterschieden zwischen zufolge werden hochbegabte Kinder von Lehrkräften für
Personen (z. B. Hoch- und durchschnittlich Begabten) be- aufgeschlossener für neue Erfahrungen, aber auch für
fasst und zu erklären versucht, wie es zu diesen Unterschie- introvertierter, emotional labiler und weniger verträglich
den kommt und wie sie sich weiter auswirken können. Die gehalten. In dieser Studie wurde das hochbegabte Kind nur
Allgemeine Psychologie hingegen befasst sich mit Gesetz- etwas häufiger für einen Jungen gehalten. Anderen Autoren
mäßigkeiten und Prozessen, die alle Menschen teilen, wie zufolge gehen bis zu 70 % der Lehrkräfte davon aus, dass
etwa dem Konstrukt des Arbeitsgedächtnisses (7 Kap. 2). es sich um einen Jungen handle (Boedecker & Fritz 2002;
Aus dem Blickwinkel der Allgemeinen Psychologie wird er- Heller, Reimann & Senfter 2005). Überraschenderweise
forscht, wie Gedächtnisinhalte etabliert und abgerufen wer- fallen die Befunde verschiedener Studien hinsichtlich
den, aber nicht, welche Unterschiede sich zwischen den ler- der sozioökonomischen Herkunft eher uneinheitlich aus.
nenden Personen zeigen. Noch zu selten wurde die Kluft In Bezug auf die soziokulturelle Herkunft variieren die
zwischen diesen Teildisziplinen überbrückt, um das Gemein- Erwartungen von Lehrkräften einer US-amerikanischen
same, aber auch das Spezifische der Konzepte Intelligenz und Metaanalyse zufolge hingegen deutlich, wobei die höchsten
Arbeitsgedächtnis besser erklären zu können. In der Meta- Erwartungen an Kinder asiatischer Herkunft und die
analyse von Ackerman, Beier und Boyle (2005) korrelierte geringsten Erwartungen an Kinder latein- und afro-
die allgemeine Intelligenz im Mittel zu r D :48 mit dem amerikanischer Herkunft gestellt wurden (Tenenbaum &
Arbeitsgedächtnis, in Einzelstudien sogar noch deutlich hö- Ruck 2007).
her (im Überblick siehe Rost 2013 sowie Stumpf 2019). Diese Was können wir aus diesen Befunden schließen? Implizite
Befunde führten zu einer kontroversen Diskussion darüber, Persönlichkeitstheorien decken sich eher mit der Dishar-
ob Arbeitsgedächtnis und Intelligenz letztlich als identisch moniehypothese, die durch Befunde zu tatsächlichen
oder als zwei Seiten einer Medaille angesehen werden könn- Entwicklungsbesonderheiten Hochbegabter als widerlegt
ten. Um weiteren Aufschluss in dieser Frage zu erhalten, sind gelten kann (7 Abschn. 9.2.4). Implizite Persönlichkeitstheo-
deutlich mehr Studien notwendig. Plausibel wird der ho- rien und Vorurteile lenken dennoch unsere Wahrnehmung
he Zusammenhang beider Konstrukte, wenn man bedenkt, und beeinflussen damit die Lehrkraft-Schüler-Interaktion
dass Merkmale der Intelligenz wie die Verarbeitungskapazität von der ersten Begegnung an. Sozialpsychologisch orien-
oder die Bearbeitungsgeschwindigkeit gleichzeitig Merkmale tierte Studien verdeutlichen sehr eindrücklich die
des Arbeitsgedächtnisses darstellen.
9.2  Intelligenz
175 9
Stress- Leistungs- Arbeits-/Lern- (Prüfungs-) Kontroll-
bewältigung motivation strategien Angst überzeugungen

Sport
(Nicht-
kognitive)
Sprachen
Persönlich-
Intellektuelle
keitsmerk-
Fähigkeiten
male Natur-
wissenschaften
Kreativität
Kunst
(Musik, Malen)
Soziale Begabungs-
Leistung
Kompetenz faktoren
Technik
Musikalität
Abstraktes
Denken
Psycho-
motorik Umwelt
merkmale Mathematik

Soziale
Beziehungen

Familien- Klassen- Krit. Lebens-


klima klima ereignisse

. Abb. 9.2 Das Münchner Hochbegabungsmodell (ursprüngliche Version; Quelle: Perleth 2000)

tivation, Kontrollüberzeugungen) wie auch der Lernumwelt


Auswirkungen von Lehrkrafterwartungen auf das Verhalten (z. B. Instruktionsqualität) moderiert. Anhand dieses Mo-
der Kinder im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung dells kann anschaulich erläutert werden, dass bei intellek-
(7 Kap. 21). Es ist wichtig, sich über diese Einflüsse bewusst tueller Hochbegabung außerordentlich hohe Leistungen nur
zu werden und sie kritisch zu hinterfragen, um ihre dann zu erwarten sind, wenn auch die anderen lern- und
Wirkungen eindämmen zu können. leistungsrelevanten Faktoren entsprechend ausgeprägt sind.
Des Weiteren werden im Münchner Hochbegabungsmodell
verschiedene Leistungs- und Begabungsbereiche, wie etwa
Bis heute gibt es keine Einigkeit darüber, was unter Hoch- Intelligenz, Kreativität und Musikalität, differenziert betrach-
begabung zu verstehen ist (7 Abschn. 9.1), vielmehr existieren tet (. Abb. 9.2). Wegen dieser Breite kommt das Münchner
verschiedene Modelle zur Beschreibung des Konstrukts ne- Hochbegabungsmodell einem allgemeinen Modell zur Erklä-
beneinander. rung von Leistungen sehr nahe. Hinsichtlich einer genau-
Das sogenannte Drei-Ringe-Modell von Joseph Renzul- en Spezifizierung der Hochbegabung ist allerdings noch ein
li ist in den USA und auch im deutschsprachigen Raum Schwellenwert als quantitatives Kriterium zu definieren. Ge-
sehr bekannt. Darin wird Hochbegabung in der Schnittmen- nau diese Festlegung trifft die Hochbegabungsdefinition von
ge aus hoher Fähigkeit, hoher Aufgabenverpflichtung und Detlef Rost besonders präzise, in der Hochbegabung im We-
hoher Kreativität verortet (Heller 2000). Hier kann einge- sentlichen als weit überdurchschnittliche Intelligenzausprä-
wendet werden, dass die so umschriebene Personengruppe gung angesehen wird. Demnach werden Menschen, deren IQ
auch schlichtweg als Hochleistende bezeichnet werden kann; mindestens zwei Standardabweichungen (2  15 IQ-Punkte)
insofern wird Renzullis Modell kein eigenständiger Erklä- über dem Mittelwert von 100 liegt, als hochbegabt betrachtet
rungswert in Bezug auf eine Hochbegabung attestiert. Dies (Rost 2013).
gilt gleichermaßen auch für die Erweiterung des Modells Welche Entwicklungsbesonderheiten weist die so defi-
durch den Niederländer Franz Mönks, der die Bedeutung der nierte Gruppe der Hochbegabten nun auf? Kognitive Unter-
sozialen Lernumwelten (Familie, Schule, Peers) für die Hoch- schiede sind in der Definition begründet und gehen mit einer
begabung bzw. außergewöhnlichen Leistungen von Kindern hohen Verarbeitungsgeschwindigkeit und besseren Gedächt-
und Jugendlichen heraushob (Heller 2000). nisleistungen einher. Als wichtig ist festzuhalten, dass diese
Die Differenzierung von Begabungs- und Leistungsdo- Unterschiede quantitativer und nicht qualitativer Natur sind
mänen wird im Münchner Hochbegabungsmodell der Ar- (Rost 2013). Hinsichtlich der nicht-kognitiven Entwicklung
beitsgruppe von Kurt Heller (2001) besonders deutlich. zeigen sich im Großen und Ganzen relativ wenige Unter-
Demnach wird die Entfaltung von Begabung in Leistung schiede zwischen hoch- und durchschnittlich begabten Men-
durch verschiedene Faktoren des Lerners (z. B. Leistungsmo- schen. Diese Unterschiede sind überwiegend in leistungsas-
176 Kapitel 9  Intelligenz, Kreativität und Begabung

soziierten Entwicklungsbereichen zu finden und fallen in der gen, höheres schulisches Selbstkonzept); insgesamt erwiesen
Regel zugunsten der Hochbegabten aus. So geht intellektuelle sich die Hochbegabten als psychisch stabil und sozial integriert.
Hochbegabung beispielsweise mit einer geringeren Ängst- Ein weiteres hohes Potenzial der Studie liegt darin begründet,
lichkeit und höherem schulischen Ehrgeiz einher (Stumpf dass diese gegenwärtig noch fortgeführt wird und damit die
2012). Darüber hinaus erzielen Hochbegabte eher bessere Entwicklung der Gruppen über einen außerordentlich langen
Leistungen, was im nachfolgenden Abschnitt hinsichtlich Zeitraum (seit 1987) begleitet. In den 1990er Jahren wurde die
schulischer Leistungen noch genauer dargestellt wird. Die Marburger Hochbegabtenstudie zudem um eine weitere Stich-
empirische Befundlage widerlegt also in weiten Teilen die probe hochleistender Schülerinnen und Schüler erweitert. Die
noch immer weit verbreiteten Vorurteile, welche in der Dis- Ergebnisse der Studie haben dazu beigetragen, dass verkruste-
harmoniehypothese zum Ausdruck kommen (7 Im Fokus). te Vorurteile über Hochbegabte durchlässiger geworden sind.
Die ausgesprochen große Fülle an Ergebnissen wurde in zahl-
Im Fokus: Kontroverse: Harmonie- vs. Disharmoniehypothese reichen Publikationen dokumentiert (für einen Überblick s. Rost
1993, 2009b).
Gemäß der Harmoniehypothese entwickeln sich Hochbe-
gabte in allen Bereichen eher positiv, erreichen nahezu Vermutlich kennen Sie Berichte aus den Medien oder der
mühelos außerordentlich hohe Leistungen und „strotzen“ Praxis, in denen ein hoch intelligenter Schüler den Übertritt
geradezu vor physischer und seelischer Gesundheit. Ver- aufs Gymnasium nicht schafft oder auf dem Weg zum Abi-
treter der Disharmonie- bzw. Divergenzhypothese gehen tur bzw. in den Abiturprüfungen scheitert. Hier handelt es
hingegen eher von einem hohen Risiko Hochbegabter für sich vermutlich um einen hochbegabten Underachiever. Die-
die Entwicklung von Lern- und Leistungsstörungen, psy- se Fälle existieren, sind aber relativ selten (7 Im Fokus). Das
9 chiatrischer Auffälligkeiten oder Verhaltensauffälligkeiten Scheitern an den Anforderungen des Bildungssystems ist ein-
aus. deutig nicht typisch für Hochbegabte.

Im Fokus: Underachievement
Studie: Die Marburger Hochbegabtenstudie
Die Marburger Hochbegabtenstudie ist bislang die einzige Un- Von Underachievement (Minderleistung) spricht man, wenn
tersuchung im deutschsprachigen Raum, in der die Entwick- die Leistungen einer Person dauerhaft und deutlich unter
lung hoch- und durchschnittlich begabter Schülerinnen und dem Niveau liegen, das aufgrund ihrer intellektuellen
Schüler anhand einer unausgelesenen Stichprobe langjährig Fähigkeiten zu erwarten wäre. Meist wird Underachievement
untersucht worden ist (Rost, Sparfeldt & Buch 2017). Zuvor ver- im Kontext von Hochbegabung thematisiert.
mittelten etliche andere Studien zum Thema Hochbegabung Wenngleich das Konstrukt Underachievement bis heute
ein verzerrtes Bild, da die Stichproben häufig aus Beratungskli- in der Praxis und der Wissenschaft recht uneinheitlich
entel rekrutiert worden waren. Es liegt auf der Hand, dass sich verwendet wird (vgl. Stumpf 2012), ist das Phänomen in der
vornehmlich solche Familien an Beratungsstellen wenden, de- Begabtenförderung von hoher praktischer Plausibilität und
ren Kinder Auffälligkeiten entwickeln – unabhängig von einer Bedeutung. Hochbegabte Underachiever weisen in etlichen
Hochbegabung. Im Marburger Hochbegabtenprojekt hinge- leistungsrelevanten Persönlichkeitsbereichen ungünstigere
gen wurde eine repräsentative Stichprobe untersucht, indem Entwicklungen auf als altersgleiche, ebenfalls hochbegabte
etwa 7000 Grundschulkinder der 3. Jahrgangsstufe direkt in Schülerinnen und Schüler mit erwartungskonformen Schul-
ihren Schulklassen rekrutiert wurden. Die Einteilung in die Be- leistungen. Neben deutlichen Einbußen im Selbstwert und
gabungsgruppen erfolgte anhand zweier standardisierter In- im Selbstkonzept werden für Underachiever auch Defizite
telligenztestverfahren. Auf diese Weise wurden 151 Kinder als in Motivation, Leistungsängstlichkeit, Durchhaltevermögen
hochbegabt klassifiziert (MIQ D 136), deren Entwicklung und in sozialen Kompetenzen beschrieben (im Überblick:
mit 136 durchschnittlich intelligenten Kindern (MIQ D 102) Sparfeldt & Buch 2010). Ob und wie genau diese einzelnen
verglichen wurde. Diese Gruppen waren hinsichtlich Klasse, Variablen bei Entstehung und Aufrechterhaltung von
Geschlecht und sozioökonomischer Schicht parallelisiert, also Underachievement zusammen wirken, ist allerdings bislang
sehr gut vergleichbar. Weiterhin zeichnet sich die Marburger noch unklar. Unstreitig wirken bei Underachievement aber
Hochbegabtenstudie durch eine Fülle an untersuchten Ent- mehrere Faktoren zusammen.
wicklungsbereichen und Fragestellungen aus: Die Stabilität der Hochbegabte Underachiever stellen also eine Subpopulation
Hochbegabung wurde hier genauso in den Blick genommen der Hochbegabten dar, für die ein gewisser Leidensdruck
wie Unterschiede zwischen den Gruppen in leistungsrelevan- erkennbar ist. Auch wenn diese Gruppe nach den Befunden
ten Variablen (z. B. Ehrgeiz, Interessen, Leistungsmotivation, der Marburger Hochbegabtenstudie eher klein ist (12 % der
Selbstkonzept), die Schulleistungen und die soziale Integra- Hochbegabten, wobei Jungen deutlich überrepräsentiert
tion unter Gleichaltrigen. Wie die Ergebnisse zeigen, sind die sind; Sparfeldt & Buch 2010), sollte dem Phänomen in
Unterschiede zwischen hoch- und durchschnittlich begabten Forschung und Praxis doch mehr Aufmerksamkeit gewidmet
Schülerinnen und Schülern im Großen und Ganzen auf leis- werden, damit Underachiever in ihrer Entwicklung besser
tungsassoziierte Entwicklungsbereiche beschränkt und fallen unterstützt werden. In der Praxis stellt sich das erste Problem
zugunsten der Hochbegabten aus (z. B. bessere Schulleistun-
9.2  Intelligenz
177 9
gabtengymnasien mit dem wohl höchsten Separierungsgrad
bereits dadurch, dass Underachiever in der Schule meist an (Stumpf, Preckel & Schneider 2017). Für beide Modelle
nicht als hochbegabt erkannt werden, da Lehrkräfte die werden überdurchschnittlich intelligente Schülerinnen und
Begabung ihrer Schülerinnen und Schüler an den erzielten Schüler mittels eines mehrdimensionalen Aufnahmeverfah-
Leistungen festmachen. Bei der Beratung und Intervention rens ausgewählt. Dadurch soll eine Homogenisierung der
müssen die Maßnahmen, meist lern- und verhaltenstheo- Lernvoraussetzungen in der Klasse erreicht und eine bega-
retisch orientierte Interventionen, nach den jeweiligen bungsgerechte Förderung besser möglich werden. Die Curri-
Ursachenfaktoren sorgfältig individuell angepasst werden. cula werden akzeleriert behandelt und die frei werdende Zeit
Die Wirksamkeit bestimmter Interventionen bei Under- wird für anreichernde Fördermaßnahmen, wie etwa eine wei-
achievement wurde bislang unseres Wissens nach nur wenig tere Fremdsprache oder Projektarbeiten, genutzt.
erforscht. Unserem Eindruck nach sind (angehende) Lehrkräfte
und auch Eltern anreichernden Begabtenfördermaßnahmen
im regulären Klassenverband gegenüber eher positiv einge-
Für die Frage, wie Hochbegabte gefördert werden sollten, stellt, wohingegen Akzeleration und Separation für weniger
ist die dargestellte Befundlage zu deren Entwicklungsbeson- wertvoll angesehen werden. Unausgesprochen schwingt der
derheiten richtungsweisend. Hochbegabte Schülerinnen und Eindruck mit, hier fehle der Aspekt der „Ganzheitlichkeit“.
Schüler können Informationen schneller verarbeiten, zeigen Dieser Eindruck deckt sich recht gut mit den Ergebnissen
bessere Gedächtnisleistungen und verfügen im Laufe der Ent- zweier Studien, in der Spezialklassen (Sparfeldt, Schilling &
wicklung auch über mehr Wissen; außerdem trauen sie sich Rost 2004), Spezialschulen und das Überspringen (Schnei-
die Bewältigung hoher Anforderungen eher zu. Begabten- der, Stumpf & Preckel 2016; Sparfeldt et al. 2004) tatsäch-
förderung ist daher vornehmlich stärkenorientiert auszurich- lich eher ungünstig beurteilt wurden. Solchen subjektiven
ten. Einschätzungen müssen allerdings empirische Befunde zur
In der Begabtenförderung spielen die Konzepte Akzelera- Wirksamkeit der verschiedenen Begabtenfördermaßnahmen
tion (Beschleunigung), Enrichment (Anreicherung) und Dif- gegenübergestellt werden.
ferenzierung (Unterscheidung) die wohl wichtigste Rolle, die Ohne zu sehr ins Detail zu gehen, lässt sich sagen, dass
an inner- oder außerschulischen Lernorten realisiert werden Akzelerationsmaßnahmen recht gut evaluiert sind und dem
können. Die vorzeitige Einschulung oder das Überspringen internationalen Forschungsstand zufolge die größten Effekte
von Klassenstufen sind typische Maßnahmen der Akzele- auf schulische Leistungen erzielen. In Metaanalysen konn-
ration, die durch das schnellere Durchlaufen der Bildungs- ten hohe Effekte von d D :88 für Akzelerationsmaßnahmen
phase gekennzeichnet ist. Im Enrichment hingegen werden ermittelt werden, wohingegen die Effekte von Enrichment-
die Lerninhalte entweder vertieft behandelt oder um weite- maßnahmen (d D :39) und Spezialklassen (d D :49) moderat
re Inhalte ergänzt. Paradebeispiel für außerschulisches En- ausfielen (z. B. Lipsey & Wilson 1993; vgl. auch Hattie 2009).
richment sind Akademien (z. B. Deutsche Schülerakademie) Eltern und Pädagogen teilen häufig die Sorge, Kinder würden
und Wettbewerbe bzw. Olympiaden, die auf unterschiedli- durch das Überspringen überfordert. Im deutschsprachigen
chen regionalen Ebenen vorwiegend in naturwissenschaftli- Raum hat Heinbokel (2009) hier einige Arbeiten vorgelegt,
chen Fachdisziplinen angeboten werden. Selbstverständlich die diese Sorge eher entkräften. Beachtung sollte allerdings
können und sollten schulische und außerschulische, akzele- auch eine neuere Studie von Vock, Penk und Köller (2014) mit
rierende und anreichernde Elemente miteinander kombiniert Daten von Schülerinnen und Schülern aller Schularten der
werden, um eine möglichst gute Passung der Förderung auf Jahrgangsstufen 8 bis 10 finden: Ein nicht unerheblicher An-
individuelle Voraussetzungen zu erreichen. teil von 34 % der ehemaligen Springer (überwiegend Jungen)
Weiterführend können die Fördermaßnahmen hinsicht- hat später eine Jahrgangsstufe wiederholt. Momentan ist noch
lich des Homogenitätsgrads der Klasse (von inklusiv bis se- nicht geklärt, inwiefern das durch die meist nur leicht über-
parierend) differenziert werden. Vermutlich als eine Folge durchschnittliche Intelligenz der Schülerinnen und Schüler
der schrittweisen Realisierung der UN-Behindertenrechts- erklärt werden kann und ob daher eine standardisierte Intelli-
konvention, die unser Bildungssystem und dahinterstehende genztestung für die Entscheidung genutzt werden sollte. Auch
Wertmaßstäbe zu beeinflussen scheint, wurde die Inklusions- bleibt zu bedenken, dass die Angaben zur Schullaufbahn hier
Separations-Debatte auch hinsichtlich der Begabtenförde- mittels Selbstbericht durch Fragebögen erfasst worden sind.
rung neu entfacht. Inklusive Förderung im heterogenen Klas- Das Ergebnis ist allerdings ein Beispiel dafür, dass noch zu
senverband ist in der Grundschule die Norm und kann durch wenige Befunde zu differenziellen und langfristigen Effekten
vorübergehende Separierung (z. B. Einteilung der Klasse in und damit für die Eignung verschiedener Begabtenförder-
homogene Lerngruppen während des Unterrichts) ergänzt maßnahmen für unterschiedliche Kinder vorliegen. Gegen-
werden. Ab der Sekundarstufe bieten viele Bundesländer se- wärtig kann resümiert werden, dass Akzelerationsmaßnah-
parierende Beschulung in gymnasialen Begabtenklassen an men besser sind als ihr Ruf, allerdings mittels fachgerechter
regulären Gymnasien und einige Bundesländer spezielle Be- Diagnostik sorgfältig vorbereitet werden sollten.
178 Kapitel 9  Intelligenz, Kreativität und Begabung

Im Fokus: Brauchen Hochbegabte eine spezielle Förderung? Im außerschulischen bzw. außerakademischen Bereich
kommt der Intelligenz ein deutlich geringerer Wert für die
Die Frage, ob Hochbegabte eine spezielle Förderung Leistungsprognose zu. Manche Vertreter der Expertisefor-
benötigen und ob das ggf. nur für Schülerinnen und schung (7 Kap. 3) leugnen zumindest teilweise die Bedeutung
Schüler gilt, die das gängige Klassifikationskriterium (IQ  der Intelligenz für berufliche und Lebensleistungen und beto-
130) erreichen, ist heftig umstritten. Wie bereits erläutert, nen stattdessen die Bedeutung der Erfahrung bzw. der langen,
entwickelten sich die hochbegabten Kinder der Marburger zielgerichteten und intensiven Übung. Bestenfalls spiele Intel-
Studie auch im regulären Schulsystem im Großen und ligenz in der Einarbeitungsphase in ein neues Tätigkeitsfeld
Ganzen etwas positiver als durchschnittlich Intelligente. eine Rolle (z. B. Perleth 1997). Wenngleich manch extreme
Begabtenförderung kann daher genau genommen nicht im Positionen wie etwa die von Anders Ericsson nur von weni-
großen Stil als Prävention von Entwicklungsauffälligkeiten gen Forscherinnen und Forschern geteilt werden, erinnert sie
gefordert werden. Das im Grundgesetz verankerte Recht auf doch daran, dass Intelligenz Übung nicht ersetzen kann und
individuelle Entfaltung zieht allerdings den Anspruch auf Intelligenz alleine noch lange keinen Erfolg in Schule und Be-
individuelle Förderung im Bildungswesen nach sich, worin ruf garantiert (Perleth 2000; 7 Kap. 3).
die Notwendigkeit der Begabtenförderung begründet ist. Das Münchner dynamische Begabungs-Leistungsmodell
Gesellschaftlich ist die Begabungsförderung mit Blick auf die von Perleth (2001a) bildet die Begabungs- und Leistungsent-
Ausbildung kreativer und innovativer Zukunftsperspektiven wicklung in Abhängigkeit von Persönlichkeits- und Umwelt-
von Bedeutung. merkmalen in einem einheitlichen Rahmen ab (. Abb. 9.3).
Inwiefern zusätzliche Förderung für Kinder und Jugend- Ausgangspunkt der Begabungs- und Leistungsentwicklung
liche notwendig oder wünschenswert ist, hängt neben sind angeborene Charakteristika wie die Gedächtniseffizi-
9 den intellektuellen Fähigkeiten von zahlreichen anderen enz, das Aktivationsniveau, Merkmale der Aufmerksamkeit
Faktoren wie dem Grad der Differenzierung im Unterricht, oder der visuellen Wahrnehmung. Gleichzeitig geben diese
den Bildungsaspirationen der Familie oder der Anpassungs- angeborenen Grundlagen gewissermaßen den Rahmen oder
fähigkeit des Kindes ab. Auch Kinder, deren Intelligenz zwar die Grenzen vor, in dem die Begabungsentwicklung erfolgen
überdurchschnittlich, aber doch unterhalb der Schwelle kann.
für eine Hochbegabung liegt, können Bedarf an einer Bereits in der Kleinkind- und Vorschulzeit werden ent-
besonderen Förderung aufweisen. Begabtenförderung wird scheidende Weichen für die Begabungsentwicklung gestellt.
dem gerecht, da für die meisten Fördermaßnahmen die Dies ist der Lebensabschnitt, in dem der Einfluss der Eltern
Intelligenzschwellen niedriger (z. B. IQ > 120) angesetzt auf die Begabungsentwicklung in verschiedenen Bereichen
werden (vgl. Stumpf 2011). besonders bedeutsam ist. Auf der Grundlage der angebore-
nen Merkmale und der Aktivitäten der Kinder bilden sich
in diesem Lebensabschnitt die Begabungen bzw. Begabungs-
schwerpunkte inklusive der intellektuellen Fähigkeiten her-
aus, wobei die Anregungen in Familie und/oder Kindergarten
richtungsweisend sind. Diese Begabungen sind zwar auf be-
9.2.5 Intelligenz, Begabung, schulisches
stimmte Bereiche wie Intellekt, Musik, Kunst etc. bezogen,
Lernen und Leistungsentwicklung können jedoch später in den unterschiedlichsten Gebieten
fruchtbar werden: Kreativität kann auch im Mathematik-
Nach wie vor gilt Intelligenz im schulischen und akademi- oder Sachkundeunterricht nützlich sein, gute Analysefähig-
schen Bereich als erklärungsstärkster, keinesfalls jedoch als keiten in der Musik.
einzig wichtiger Erklärungsfaktor (Prädiktor) von (Schul-) Gleichzeitig werden im vorschulischen Lebensabschnitt
Leistungen, wobei der Zusammenhang zwischen Intelligenz wichtige Grundlagen der Persönlichkeitsentwicklung gelegt,
und Leistung in der Primarstufe noch höher ausfällt als in etwa Interessen, motivationale Merkmale, Arbeitsverhalten,
den sekundären und tertiären Bildungsabschnitten. Auch bei Durchhaltevermögen, die auch für die Begabungsentwick-
besonders leistungsstarken und leistungsschwachen Schüle- lung von zentraler Bedeutung sind. Schließlich bewirken viel-
rinnen und Schülern sind Prognosen der Schulleistungen fältige Auseinandersetzungen mit der Welt bei Kindern den
unsicherer. Bei der langfristigen Leistungsprognose müssen Aufbau von Fertigkeiten und Wissen. Für diesen Lebensab-
grundsätzlich weitere Faktoren wie Motivation, Interessen, schnitt ist auch charakteristisch, dass Anlagen und Umwelt
Arbeitsverhalten, Ängstlichkeit sowie Faktoren der häusli- oft recht gut zusammenpassen: Wenn Kinder Anlagen mit
chen und schulischen Lernumwelt etc. berücksichtigt wer- ihren Eltern teilen, dann wachsen sie in einer familiären Um-
den (Perleth 2000). Die Höhe des Zusammenhangs zwischen welt auf, die von ähnlichen Anlagen geprägt und damit für die
Intelligenz und Leistung zählt zu den am besten untersuch- Entwicklung der Begabung des Kindes besonders förderlich
ten Fragestellungen der Pädagogischen Psychologie. Durch- ist. Beispielsweise werden musikalische Familien Instrumen-
schnittlich variieren diese Korrelationen zwischen r D :40 te zur Verfügung stellen und den Kindern besondere musika-
und r D :70 (Helmke, Rindermann & Schrader 2008; Rost lische Anregungen geben.
2013). Der Zusammenhang fällt für die Hauptfächer, insbe- Im Vorschul- und zu Beginn des Grundschulalters sta-
sondere Mathematik, höher aus als für die Nebenfächer. bilisieren sich Intelligenz und Begabungen der Kinder. Zwar
9.3  Kreativität und Problemlösen
179 9

Persönlichkeitsmerkmale
Interessen
Persönlichkeits- Motivationale Merkmale
merkmale Arbeitsverhalten
Ängstlichkeit

Aufmerk- Lesen/
Sprachen
samkeit Scheiben
Rechnen Mathematik/
Habituation Naturwissen.
Aufbau Natur-
von kenntnis Intellektuelle Kunst
Gedächtnis- Wissen Kompetenz (Malen, Musik)
effizienz Aktiver Aktiver
Kreative zielgerichteter Gesellschafts- zielgerichteter
Aktivations- Kompetenz Lernprozess wissenschaft Lernprozess Spezial-
niveau
Beruf
Soziale gebiet
Aufbau Aufbau Musik Zunehmender
bereichsbezogener, Kompetenz
Visuelle Wahr- von Wissen Expertise-
nehmung allgemeiner grad
Kompetenzen Musikalität Sport

Motorik Psycho- Soziale


motorik Kompetenz

usw. usw. usw.

Lernumwelt Lernumwelt Lernumwelt


Eltern, Familienklima Eltern, Familienklima Partner, Peers
Förderung Fördermöglichkeiten Förderung an Uni, im Beruf
Peers Lehrer, Schulklima, Peers Dozenten/Ausbilder
Kindergarten ... Kritische Lebensereignisse ... Kritische Lebensereignisse ...

Vorschulzeit Schulzeit Hochschule/Berufsausbildung

. Abb. 9.3 Das Münchner dynamische Begabungs-Leistungsmodell (Quelle: Perleth 2000)

schreitet die Begabungsentwicklung bis ins höhere Alter vor- Einfluss auf die Begabungs- und Leistungsentwicklung: Die
an (kristallisierte Intelligenz), die Position in der Altersgrup- Jugendlichen suchen von sich aus nach Freunden, die zu ih-
pe ändert sich bei den meisten Kindern ab der dritten oder ren Begabungen passen und mit denen sie gemeinsam ihre
vierten Klasse jedoch nur noch wenig (Perleth & Sierwald Begabungsschwerpunkte weiterentwickeln sowie ihre Leis-
2001). tungsgrenzen erweitern können. Musikalische Jugendliche
Ab dem Grundschulalter werden Lehrkräfte zunehmend könnten sich beispielsweise einer Band oder Kammermusik-
wichtiger für die Begabungs- und Leistungsentwicklung der gruppe anschließen.
Kinder. Günstig ist es, wenn Lehrkräfte Begabungen der Kin- Zentrale Aufgabe im Erwachsenenalter ist die berufli-
der entdecken, individuell auf die Kinder eingehen und so- che Spezialisierung. Diese gelingt umso besser und schneller,
mit helfen, Begabungsschwerpunkte zu fördern. Allerdings je größer die Passung zwischen der Begabungskonstellati-
geht es in diesem Lebensabschnitt zunehmend weniger um on und dem jeweiligen Fachgebiet ist und je solider die in
Begabungsentwicklung als vielmehr um den zielgerichteten der Schulzeit erworbenen Fertigkeiten, Kenntnisse und Wis-
Aufbau von Wissen und Fertigkeiten in den unterschiedlichs- sensbestände gegründet sind. Bei manchen Personen setzt
ten Bereichen wie Sport, Sprachen, Mathematik, Literatur diese Spezialisierung allerdings schon in der Schul- oder gar
oder Musik. Dieses Wissen stellt die entscheidende Grund- Vorschulzeit ein. Hierunter fallen etwa Schachgroßmeister,
lage für die weitere (Leistungs-)Entwicklung in verschiede- professionelle Musiker oder Sportler, die schon früh mit Trai-
nen Domänen dar. Der Aufbau entsprechenden Wissens ist ning und Üben beginnen müssen, um bereits im Alter von 15
das zentrale Thema der Begabungs- und Leistungsentwick- bis 25 Jahren Spitzenleistungen erzielen zu können.
lung im Schulalter. Begabung ist zum einen notwendig, um
dieses Wissen aufzubauen: Begabtere lernen auf ihrem Ge-
biet schneller und nachhaltiger. Andererseits stellen erst ein 9.3 Kreativität und Problemlösen
breites, gut organisiertes Wissen sowie gut entwickelte Fer-
tigkeiten die Basis dar, auf der Begabungen fruchtbar werden Kreativität ist ein Konstrukt, das im Bereich von Bildung und
können. Gute Leistungen als Erwachsene setzen eben zum Schule mit unzähligen Bedeutungen und Schattierungen ver-
einen Begabungen, zum anderen Wissen voraus. wendet wird. Kinder oder Jugendliche werden im Alltagsver-
Im Jugendalter schließlich gewinnt das soziale Umfeld der ständnis als kreativ bezeichnet, wenn sie beispielsweise beim
Heranwachsenden wie Freunde und Gleichaltrige steigenden künstlerischen Gestalten von Bildern oder anderen Kunst-
180 Kapitel 9  Intelligenz, Kreativität und Begabung

objekten ungewöhnliche Farben oder Formen verwenden. zahl der postulierten Faktoren ist dieses Modell für praktische
Oder sie gelten als kreativ, wenn sie beim Spielen Alltags- Zwecke zwar schlecht nutzbar, allerdings war es durch die In-
objekten eine neue Bedeutung oder Funktion zuschreiben, tegration von Faktoren kreativen Denkens richtungsweisend.
indem sie etwa einen Umzugskarton zum Auto oder ein Stück Bei den Denkoperationen unterschied Guilford u. a. die di-
Baumwurzel zu einer menschlichen Figur umfunktionieren. vergenten und konvergenten Produktionen, womit er einen
Kreativität ist aber auch, wenn für ein mathematisches Prob- nachhaltigen Einfluss auf die Intelligenz- und Kreativitätsfor-
lem oder eine physikalische Aufgabe Lösungen entwickelt schung nahm. Während mit Faktoren konvergenter Produk-
werden, die der Lehrkraft bisher nicht in den Sinn gekommen tion, dem konvergenten Denken, Fähigkeiten angesprochen
sind. sind, wie sie bei der Bearbeitung klassischer Intelligenzaufga-
Ai-Girl Tan und Christoph Perleth (2015) gehen noch ben zum Finden der (meist einzig) richtigen Problemlösung
darüber hinaus. Sie beschreiben Kreativität zunächst als Per- erforderlich sind, geht es beim divergenten Denken darum,
sonenmerkmal, das Menschen in die Lage versetzt, viele neue möglichst viele und originelle Ideen zu einem gegebenen
und neuartige oder vielleicht sogar revolutionäre Ideen und Problem zu entwickeln, zu elaborieren und gegebenenfalls
Problemlösungen zu produzieren, die für ihre Mitmenschen gegeneinander abzuwägen. Kreativen Menschen werden da-
(Eltern, Lehrkräfte usw.) mit einem Überraschungseffekt ver- neben Merkmale wie Ideenreichtum, Improvisationstalent,
bunden sind. Damit ist, ähnlich wie in den Alltagsbeispielen Gedankenflüssigkeit und -flexibilität, kreativen Problemlö-
oben, das zentrale Merkmal kreativen Denkens angesprochen sern daneben auch eine besondere Sensitivität für Probleme
(vgl. auch Cropley & Reuter 2010). Darüber hinaus beto- zugeschrieben.
nen Tan und Perleth (2015), dass kreative Personen von ihrer Die von Guilford in seiner Konzeption divergenten Den-
Lernumwelt und Gesellschaft geprägt werden, diese aber auch kens postulierten Kreativitätsfaktoren Produktion bzw. Pro-
9 in ihrer Entwicklung zu beeinflussen vermögen (vgl. den duktivität, Flexibilität, Qualität bzw. Elaboration sowie Origi-
„kreativen Genius“ im Sinne von Kaufman & Beghetto 2009). nalität seien an drei Beispielen für Testaufgaben zur Kreativi-
Im Rahmen der vorgehenden Abschnitte zur Intelligenz tät näher erläutert, die im Rahmen der Münchner Hochbega-
wurde Kreativität mehrfach im Sinne von kreativem Pro- bungsstudie (Heller 2001) eingesetzt wurden. Zur Erfassung
blemlösen (nicht im Sinne von künstlerischer Kreativität) konvergenten Denkens im technisch-praktischen Bereich
angesprochen und kreatives Problemlösen als ein Teilbereich wurde der Verwendungstest eingesetzt, der ursprünglich von
der Intelligenz angesehen. Bereits die Intelligenzdefinitio- Guilford entwickelt worden war (s. Perleth 2001b). Dabei
nen enthielten als wesentliche Komponente die Neuartigkeit sollen sich Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe für
von Problemen, für deren Lösung vielfach neue Denkmuster Alltagsgegenstände wie eine Zeitung oder eine Büroklammer
erforderlich sind. Darüber hinaus gibt es in der Denkpsycho- möglichst viele unterschiedliche (technische) Verwendungen
logie eine Tradition, die sich speziell mit kreativem Problem- ausdenken. Die Anzahl der unterschiedlichen Ideen wird da-
lösen beschäftigt (s. Perleth 2008). bei als Indikator für die Produktivität bzw. Ideenflüssigkeit
Es wäre allerdings verfehlt, Kreativität lediglich als Teil- verwendet. Einen hohen Wert im Faktor Flexibilität bekom-
komponente der Intelligenz anzusehen, auch wenn Kreati- men Schülerinnen und Schüler, wenn die ausgedachten Ver-
vität in der Vergangenheit von einer Reihe von Forscherin- wendungen möglichst vielen Kategorien zugeordnet werden
nen und Forschern so konzipiert wurde. Cropley und Reuter können. Beispielsweise werden Verwendungen wie „einen
(2010) fassen die theoretischen Überlegungen zur Abgren- Fisch einwickeln“ oder „als Geschenkpapier verwenden“ der
zung von Intelligenz und Kreativität dahingehend zusam- Kategorie „Verpacken“ zugeordnet, während die Idee, eine
men, dass nach dem Summationsmodell Kreativität und In- angefeuchtete Zeitung als Stromleiter zu verwenden einer
telligenz bei Problemlösungen oder anderen Leistungen ad- völlig anderen Kategorie zugeordnet wird. Wenn sich nun
ditiv zusammenwirken, während nach dem Schwellenmodell herausstellt, dass diese Kategorie (die angefeuchtete Zeitung
eine bestimmte Intelligenzhöhe Voraussetzung für kreative als Stromleiter zu verwenden) in einer größeren Stichprobe
Leistungen sei und nach dem Kapazitätsmodell das Intelli- nur sehr selten vorkommt, würde die betreffende Testperson
genzniveau eine obere Grenze für Kreativität darstelle. Im hierfür auch viele Originalitätspunkte bekommen.
Rahmen des Kanalmodells wiederum ist Intelligenz für die Bei Grundschulkindern wurde im Rahmen der Münch-
Sammlung und Speicherung von Informationen zuständig, ner Hochbegabungsstudie ein zeichnerisches Verfahren ein-
während die Kreativität dazu dient, das gespeicherte Wissen gesetzt, dass auf den Kreativitätsforscher Torrance zurück-
auf neuartige Weise zu verarbeiten und damit Neues zu pro- geht und bei dem die Kinder einfache geometrische Elemente
duzieren. wie beispielsweise einen Winkel oder einen Halbkreis vorge-
Dass Kreativität und Intelligenz als verschiedene Fähig- legt bekamen und diese zu Zeichnungen ergänzen sollten (s.
keiten angesehen werden sollten, auch wenn sie wechselweise Perleth 2001b). Da bei diesem Test alle Kinder dieselbe An-
miteinander interagieren, hat schon Guilford (1967) betont. zahl von Vorlagen bekommen, macht die Bestimmung der
Guilford hat in den 1960er- und 1970er- Jahren des 20. Jahr- Produktivität oder Flüssigkeit (Anzahl der produzierten krea-
hunderts ein Intelligenzmodell (7 Abschn. 9.2.1) vorgelegt, tiven Ideen) nur wenig Sinn, weil in der Regel alle Kinder
das bereits zentrale Merkmale des Berliner Intelligenzstruk- über alle Vorlagen arbeiten. Dagegen kann die Flexibilität
turmodells vorwegnahm und 120 Intelligenzfaktoren in drei bestimmt werden (zeichnet das Kind nur Köpfe oder auch
Dimensionen ordnete (s. Heller 2000). Aufgrund der Viel- viele verschiedene andere Dinge) und auch die Einschätzung
9.3  Kreativität und Problemlösen
181 9
der Elaboration ist möglich (Sorgfalt und Detailreichtum, mit lysiert und auf diese Art und Weise werden möglichst viele
der die Zeichnung gestaltet ist). Die Originalität wird wie Informationen über das Problem und seine Randbedingun-
beim Verwendungstest darüber bestimmt, ob die zeichneri- gen gesammelt.
sche Idee häufig oder selten vorkommt. In der folgenden Phase der Inkubation sollte die Problem-
Im sprachlichen Bereich wird divergentes Denken häufig stellung nicht weiter aktiv beachtet und bearbeitet werden,
über die Wortflüssigkeit erfasst, wobei die Kinder, Jugend- sondern man sollte geradezu Abstand zum Problem gewin-
lichen oder Erwachsenen sich beispielsweise viele verschie- nen und unbewussten „Reifeprozessen“ vertrauen. Der Be-
dene Wörter zu vorgegebenen Anfangsbuchstaben einfallen griff wurde in Anlehnung an den medizinischen Begriff der
lassen sollen. Beim Test „Vierwortsätze“, ein Untertest des „Inkubationszeit“ gewählt, der die Zeit zwischen Infektion
Verbalen Kreativitätstests (s. Perleth 2001b), werden gleich und Ausbruch einer Krankheit beschreibt. Ein plötzlicher
vier Buchstaben (z. B. „a“, „b“, „c“, „d“) vorgegeben und „Geistesblitz“ bzw. ein „Heureka-Erlebnis“ ist kennzeichnend
die Aufgabe besteht darin, sich korrekte Sätze aus jeweils für die Phase der Illumination, in dem schlagartig ein krea-
vier Wörtern auszudenken, wobei jeder der vorgegebenen tiver Einfall aufscheint. Dies wäre etwa der Fall, wenn eine
Buchstaben genau einmal, aber in beliebiger Reihenfolge als Studentin oder ein Student der Mathematik nachts plötzlich
Anfangsbuchstabe eines Wortes vorkommen soll (z. B. „Der aus dem Schlaf hochfährt und ihr oder ihm plötzlich ei-
cholerische Angestellte betet“). Bei solchen oder ähnlichen ne kreative Lösungsidee für eine Problemstellung vor Augen
Verfahren kann die Produktivität bzw. hier die Wortflüssig- steht.
keit gut erfasst werden, wohingegen es aber schwierig ist, In- Schließlich muss der kreative Prozess aber damit ab-
dikatoren für Flexibilität, Elaboration und auch Originalität geschlossen werden, dass die gefundene Lösungsidee auch
abzuleiten. Im Rahmen der Münchner Hochbegabungsstu- umgesetzt, d. h. elaboriert oder ausgearbeitet wird. Dazu ist
die zeigte sich allerdings auch beim Verwendungstest sowie es möglicherweise auch notwendig, die kreativen Einfälle
dem zeichnerischen Kreativitätstest, dass die Indikatoren für daraufhin zu reflektieren, ob sie überhaupt machbar sind,
die einzelnen Kreativitätsfaktoren untereinander hoch zu- d. h. die Ideen müssen auch überprüft und die praktische
sammenhängen, d. h. die Kinder und Jugendlichen schnitten Umsetzung muss evaluiert werden. Off (2008) hat das Pro-
tendenziell in allen Faktoren eher gut oder eher schlecht ab. zessmodell von Wallas aufgegriffen und unter dem griffigen
Aus diesem Grunde wird häufig in der Praxis auf die in der Akronym „B-I-L-D“ zusammengefasst. Dabei steht „B“ für
Regel einfacher zu bestimmenden Maße der Produktivität die „Beschreibung des Problems“ (Präparation bei Wallas),
oder der Flüssigkeit zurückgegriffen. „I“ für „Informationsanordnung (Inkubation bei Wallas), „L“
Eine späte Bestätigung für seine Ideen hätte Guilford, wie für „Lösung“ (Illumination bei Wallas) und „D“ für „Darstel-
oben angedeutet, in den Befunden der Forschungsarbeiten lung bzw. Durchsetzung“ (Verifikation bzw. Elaboration bei
von Jäger und seiner Arbeitsgruppe zum Berliner Intelli- Wallas). Es sei angemerkt, dass Wallas’ Modell trotz seiner
genzstrukturmodell sehen können. Diese konnten im Rah- Verbreitung und Popularität nicht unumstritten ist. Beispiels-
men ihrer Untersuchungen mit Oberstufenschülerinnen und weise wird für den „Inkubationsprozess“ diskutiert, ob nicht
-schülern zeigen, dass sich Leistungen, die typischerweise als einfach Erholung und die damit verbundene Stressreduktion
kreative Leistungen angesehen werden (z. B. Wortflüssigkeit), den Denkapparat wieder leistungsfähiger machen (ausführli-
nahtlos und sinnvoll in das Intelligenzmodell integrieren lie- cher Preiser 2006).
ßen (Jäger 1984). Im Hinblick auf eine Förderung kreativen Denkens in der
Kreatives Denken wird auch dadurch charakterisiert, dass Schule sollten Lehrkräfte zunächst darauf achten, dass in ihrer
es sich um Problemlösen oder Denkprozesse handelt, bei dem Schulklasse ein Arbeitsklima herrscht, das kreative Prozesse
das Ziel des Problemlöseprozesses nicht genau vorgegeben ist unterstützt und anregt. Neben der Schaffung einer offenen
bzw. mehrere Lösungen möglich sind. Kreative Problemlöser vertrauensvollen Atmosphäre gehört dazu vor allem auch,
benötigen daher auch eine umfangreiche Wissensbasis, die dass Lehrkräfte Neugier und eigenständige Denkansätze von
den Stoff für die Problemlösungen liefert. Im Problemlöse- Schülerinnen und Schüler fördern und nicht etwa blockieren.
prozess selbst geht es darum, das Problem aus unterschiedli- Eine solche Blockade könnte beispielsweise dann stattfin-
cher Perspektive zu betrachten, aus dem vorhandenen Wissen den, wenn die Lehrkraft stark am eigenen Unterrichtsentwurf
zu schöpfen und Elemente davon so zu kombinieren, dass ei- „klebt“ und alternative Ideen von Schülerinnen und Schülern,
ne neuartige oder überraschende Lösung entsteht. Aufgrund die vom eigenen Konzept weg führen und von der Lehrkraft
dieser ergebnisoffenen Kombination von Wissenselementen Flexibilität im Unterricht erfordern würden, ignorieren und
geht kreatives Problemlösen über intelligentes Verhalten hi- nur solche Schülerideen aufgreift, die die Umsetzung des ei-
naus. genen Plans voranbringen. Weiter können kreative Prozesse
Graham Wallas (vgl. Preiser 2006) hat unter Rückgriff bei Schülern wirkungsvoll gefördert werden, indem die Lehr-
auf Berichte kreativer Wissenschaftler wie dem Physiker Her- kraft die Interessen und Motivationslagen ihrer Schülerinnen
man von Helmholtz oder dem Mathematiker Henri Poincaré und Schüler kennt und bei der Planung und im Unterricht
bereits vor fast einem Jahrhundert vier Phasen des Prozes- berücksichtigt. Wenn die Schülerinnen und Schüler sich für
ses innovativen und kreativen Denkens beschrieben. In der die Inhalte des Unterrichts interessieren oder vielleicht sogar
Phase der Vorbereitung („Präparationsphase“) wird das Prob- begeistern können, werden sie mehr kreative Ideen entwi-
lem genau unter die Lupe genommen, exploriert und ana- ckeln. Weiter wäre darauf zu achten, dass die Schülerinnen
182 Kapitel 9  Intelligenz, Kreativität und Begabung

und Schüler realisierte Klassenprojekte auch als ihre eige-


nen Produkte wahrnehmen können, sodass Selbstvertrauen Intelligenztests konstruiert sind und welche Aussagen
und Selbstwirksamkeitserwartungen erhöht werden. Kreati- die jeweils ermittelten Kennwerte ermöglichen. Weiter
vität wird nicht selten gebremst, wenn Lehrkräfte oder Eltern wurde auf die Frage eingegangen, wo Unterschiede in
zu viel gut gemeinte Hilfestellung gewähren und ein zu enges der Intelligenz oder dem Intelligenzprofil von Kindern, Ju-
Korsett vorgegeben oder gar selbst stark eingreifen. gendlichen und Erwachsenen herrühren und mit welchen
Schülerinnen und Schüler sollten auch Freiräume erhal- anderen Personenmerkmalen sie zusammenhängen.
ten, ihre eigenen Projekte zu verfolgen bzw. unabhängig zu Im Abschnitt über Hochbegabung wurde insbeson-
denken und zu handeln (vgl. Preiser 2006). Solche Freiräume dere diskutiert, ob und in welcher Hinsicht sich hoch-
können etwa darin bestehen, dass Schülerinnen und Schüler, begabte Schülerinnen und Schüler von durchschnitt-
die bestimmte Übungen oder Wiederholungsstunden nicht lich begabten unterscheiden und welche Fördermaß-
benötigen, in dieser Zeit an eigenen Projekten arbeiten, oder nahmen sich bei Ihnen günstig auswirken (Akzelera-
auch darin, dass interessierte und initiative Schülerinnen und tion, Enrichment). Anhand eines umfassenden Modells
Schülern außerhalb des regulären Unterrichts Schulräume der Begabungs- und Leistungsentwicklung wurde aufge-
(Musikraum, Labors usw.) für ihre Eigenaktivitäten zur Ver- zeigt, wie man sich die Entwicklung von Intelligenz und
fügung gestellt bekommen. Begabung vorstellen könnte und welche weiteren Bedin-
Eine solche pädagogische Haltung und die Schaffung ei- gungen auf Seiten der Persönlichkeit und des Lernum-
nes solchen Klassenklimas sowie die Öffnung von Freiräu- felds erforderlich sind, damit Intelligenz und Begabung
men an der Schule erscheinen für die Förderung von Kreati- in Leistungen in verschiedenen Domänen umgesetzt wer-
vität bzw. kreativem Denken bei Schülerinnen und Schülern den können. Schließlich wurde dargestellt, welche Beson-
9 wichtiger als die Kenntnis und Anwendung verschiedener derheiten kreatives Problemlösen aufweist und wie man
Techniken, die bisweilen zur Steigerung der Kreativität emp- versuchen kann, Aspekte von Kreativität und Problemlö-
fohlen werden („Mind mapping“, „Brainstorming“, „Sechs sen zu erfassen und Kreativität im Unterricht zu fördern.
Hüte“-Methode usw.). Und schließlich wäre es im Sinne
des eingangs dieses Unterkapitels angeführten Verständnis-
ses von Kreativität (Tan & Perleth 2015) auch wünschenswert,
wenn die kreativen Ideen der Schülerinnen und Schüler den
Verständnisfragen
Unterricht genauso mitprägen, wie sie später die Gesellschaft
mitgestalten sollen.
?1. In einer Show im Fernsehen wird die „Intelligenz“ von
Kandidaten mit Fragen wie den folgenden ermittelt:
„Wann war der Erste Weltkrieg zu Ende?“ – „Wie
Zusammenfassung heißt die weibliche Hauptfigur in Goethes ‚Faust‘?“ –
In diesem Kapitel haben wir gezeigt, dass die Begriffe In- „Wie nennt man die Zahl, die man zur Berechnung
telligenz, Begabung, Talent und kreatives Problemlösen in des Umfangs eines Kreises benötigt?“ Können damit
der Literatur bis heute nicht einheitlich definiert werden. Aspekte der Intelligenz im Sinne der Definition im
Dies liegt vor allem daran, dass es sich auch bei diesen ersten Abschnitt erfasst werden?
Begriffen, auch wenn oder gerade weil sie in der öffent- 2. Ist Intelligenz ein Teil von Begabung oder umgekehrt
lichen Diskussion eine so große Rolle spielen, um psycho- oder sind beide Begriffe gleichzusetzen?
logische Konstrukte handelt, mit denen unter Umständen 3. Eine Lehrkraft meint am Sprechtag zu den Eltern des
ganz unterschiedliche Aspekte des Lern- oder Problem- 14-jährigen Alex: „Ihr Sohn ist sprachlich sehr begabt,
löseverhaltens von Kindern, Jugendlichen und Erwachse- naturwissenschaftlich weniger. Lassen Sie ihn doch
nen umrissen werden sollen. Es konnte aber auch festge- eine dritte Fremdsprache lernen!“ Mit welchen der
stellt werden, dass Intelligenz und kreatives Problemlösen vorgestellten Intelligenzmodelle wäre diese Aussage in
sich zum einen auf die Lösung neuartiger, also noch nicht Einklang zu bringen?
gut eingeübter Probleme beziehen und dass andererseits 4. Warum könnte bei Verkehrs- oder Strafgerichtsprozes-
Begabung und Talent meist auf bestimmte Domänen be- sen der Intelligenzquotient eine Rolle spielen?
zogen sind. 5. Warum ist es so wichtig, bei der Durchführung,
Die im zweiten Abschnitt dargestellten Intelligenz- Auswertung und Interpretation von Intelligenz- oder
theorien haben im Hinblick auf verschiedene Ausschnitte anderen Leistungstests die Objektivität des Tests so
der Realität einen unterschiedlich guten Erklärungswert. genau zu beachten?
Manche thematisieren eine allgemeine intellektuelle 6. Das Prüfsystem für Schul- und Bildungsberatung (PSB),
Leistungsfähigkeit, andere unterscheiden einzelne Intelli- ein verbreiteter Intelligenztest, verwendet als Norm-
genzfaktoren, die unterschiedlichen Leistungsbereichen skala sogenannte SW-Werte, die ein Mittelwert von
zugeordnet werden können. Im Abschnitt über Intelli- 100 und eine Standardabweichung von 10 aufweisen.
genzmessung wurde aufgezeigt, nach welchen Kriterien Welche der folgenden Werte wäre als unterdurch-
schnittlich, durchschnittlich, überdurchschnittlich
Literatur
183 9
sowie im Bereich der Hochbegabung liegend einzu- Hany, E. A. (1987). Modelle und Strategien zur Identifikation hochbe-
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185 10

Emotionen
Christof Kuhbandner und Anne C. Frenzel

10.1 Einleitung – 186

10.2 Was sind „Emotionen“? – 186


10.2.1 Emotion und Verhaltenssteuerung – 186
10.2.2 Definition von Emotionen – 188

10.3 Welche Emotionen gibt es und wie werden sie verursacht? – 189
10.3.1 Grundgefühl – 189
10.3.2 Basisemotionen – 189
10.3.3 Bewertungsemotionen – 191
10.3.4 Selbstwertbezogene Emotionen – 192
10.3.5 Die Grundthemen verschiedener Emotionen – ein Überblick – 193

10.4 Interindividuelle Unterschiede im emotionalen Erleben – 193


10.4.1 Persönlichkeitseinflüsse – 193
10.4.2 Individuelle Lerngeschichte – 195

10.5 Emotionen in der Schule – sechs Themenfelder – 196


10.5.1 Themenfeld 1: Leistungsemotionen – 196
10.5.2 Themenfeld 2: Themenbezogene Emotionen – 197
10.5.3 Themenfeld 3: Epistemische Emotionen – 197
10.5.4 Themenfeld 4: Soziale Emotionen – 197
10.5.5 Themenfeld 5: Schulunabhängige Emotionen – 198
10.5.6 Themenfeld 6: Emotionen von Lehrkräften – 198

10.6 Emotionale Einflüsse auf Lernen und Wissenserwerb – 199


10.6.1 Emotionseinflüsse auf den verschiedenen Stufen des Wissenserwerbs – 200
10.6.2 Das Zusammenspiel der Emotionseinflüsse – 201
10.6.3 Die Anwesenheit emotionsauslösender Reize – 203

Verständnisfragen – 204

Literatur – 204

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019


D. Urhahne, M. Dresel, F. Fischer (Hrsg.), Psychologie für den Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55754-9_10
186 Kapitel 10  Emotionen

10.1 Einleitung raussetzung für ein wirkliches Verständnis von Emotionen


ist damit ein Verständnis dieser drei Mechanismen. Deswe-
gen sollen diese im Folgenden zunächst kurz herausgearbeitet
Zum Einstieg in das Thema „Emotionen“ sollen zwei Beispiele
aus dem Schulalltag geschildert werden. Beim ersten Beispiel werden.
handelt es sich um den (fiktiven) Bericht eines Schülers zu
seinem Erleben bei einer Prüfung:
10.2.1 Emotion und Verhaltenssteuerung
» Ich hatte mich gut vorbereitet und wartete darauf, dass
die Prüfungsfragen ausgeteilt werden. Auf einmal schlug
mein Herz viel schneller und meine Hände fingen an zu Um sich den drei Steuerungsmechanismen anzunähern, ver-
schwitzen. Innerlich fühlte ich mich total angespannt setzen Sie sich bitte in folgende Situation: Sie nehmen an einer
und unangenehm, und am liebsten wäre ich weggerannt. Kollegiumssitzung teil, und in der Tischmitte steht ein Tel-
Auf einmal musste ich nur noch daran denken, was alles ler mit Keksen. Wie steuert jetzt eigentlich Ihr Organismus
Furchtbares passieren wird, wenn ich die Prüfung verhaue. sein Verhalten? Möglicherweise erleben Sie eine gewisse Wi-
Als das Blatt mit den Prüfungsfragen vor mir lag, merkte dersprüchlichkeit. Einerseits verspüren Sie den innerlichen
ich plötzlich, dass ich selbst auf einfachere Fragen keine Drang, sich den Keksen anzunähern und sie zu essen, ande-
guten Antworten mehr zu wissen schien – obwohl ich den rerseits versuchen Sie die Kekse bewusst zu vermeiden, weil
Stoff vorher eigentlich wirklich gut parat hatte. Sie sich eigentlich vorgenommen haben, weniger Süßes zu es-
sen. Dieses Beispiel zeigt, dass es offenbar in uns verschiedene
Beim zweiten Beispiel handelt es sich um einen Auszug Mechanismen der Verhaltenssteuerung gibt, die manchmal
aus einem Beitrag eines Lehrers zur Spiegel Online-Rubrik auch gegeneinander laufen. Um diese verschiedenen Mecha-
„Lehrergeständnisse – Wie Schule wirklich ist“ (Quel- nismen besser zu verstehen, ist ein Blick in die evolutionäre
le: 7 www.spiegel.de/unispiegel/jobundberuf/lehrer-rastet-in- Vergangenheit des menschlichen Gehirns hilfreich (7 Kap. 5).
10 klasse-aus-deshalb-bruelle-ich-meine-schueler-an-a-1017211. Wenn man die . Abb. 10.1 (linke Seite) betrachtet, fällt
html): zunächst auf, dass die Größe des Gehirns im Lauf der Evo-
» Ich habe mal gelesen, dass sich Unterricht in einer lauten lution stark zugenommen hat. Laut einer älteren Theorie von
Klasse anfühle, als säße man an einer Autobahn. Genau Paul MacLean (1973) handelt es sich hier nicht nur um eine
dieses Gefühl hatte ich. Irgendwann platzte ich. Erst brüllte rein quantitative Zunahme. Vielmehr haben sich drei auf-
ich die ganze Klasse an. Dann pickte ich mir eine besonders einander aufbauende Gehirnstrukturen herausgebildet – das
nervtötende Schülerin aus dem lärmenden Klassenkollektiv Stammhirn, das limbische System und der Neocortex. Jede
heraus und – im Rückblick muss ich gestehen – machte sie Weiterentwicklung ging mit der Entwicklung einer neuar-
fertig. Obwohl die Klasse anschließend ruhig wurde, war tigen Verhaltenssteuerung einher, die nach eigenständigen
ich für den Rest des Tages derart schlecht gelaunt, dass Prinzipien funktioniert. Der große Anpassungsvorteil war
ich auch meinen damals fünfjährigen Sohn nachmittags dabei, dass dadurch eine zunehmend flexiblere Verhaltens-
anpöbelte, als er keine Lust hatte, sich in sein Zimmer zu steuerung möglich wurde. Interessanterweise gingen die äl-
verkriechen. Ich habe noch immer kein Patentrezept, wie teren Gehirnstrukturen aber nicht verloren. Demnach tragen
ich mit Störenfrieden umgehen soll. Was tun? Ich nehme wir Menschen drei „Gehirne“ in uns, von denen jedes das Ver-
mir immer wieder aufs Neue vor, Ruhe zu bewahren und halten relativ unabhängig von den anderen beeinflusst, und
Konflikte ohne Geschrei zu lösen. Im vergangenen Jahr bin die insgesamt – je nach individueller Entwicklung – mehr
ich allerdings gleich am ersten Schultag mit diesem Vorsatz oder weniger gut zusammenarbeiten. Obwohl das Modell von
gescheitert, weil eine Schülerin mit Essen geworfen hat. MacLean eine Vereinfachung der Gehirnanatomie darstellt,
wollen wir es hier als eine hilfreiche Metapher zum Verständ-
Beide Beispiele machen deutlich, welchen großen Einfluss nis menschlichen Verhaltens nutzen.
Emotionen – im ersten Beispiel die Emotion Angst und im
zweiten Beispiel die Emotion Ärger – auf das Erleben und1 Das Stammhirn – Steuerung durch Grundbedürfnisse
Verhalten haben können. In diesem Kapitel wird es darum Bei der ältesten Verhaltenssteuerung handelt es sich um einen
gehen zu verstehen, warum und in welchen Situationen wir relativ unflexiblen und mechanischen Steuerungsmechanis-
Emotionen erleben und welche Wirkungen Emotionen ent- mus, der auf Reize in der Umgebung automatisch das Ver-
falten. halten aktiviert, das sich als erfolgreich für das Erfüllen von
für das Überleben wichtigen Grundbedürfnissen erwiesen
hat. Flexibel ist diese Steuerung nur insofern, dass es vom
10.2 Was sind „Emotionen“? aktuellen inneren Zustand des Organismus abhängt, ob das
mit einem Reiz verknüpfte Verhaltensmuster aktiviert wird.
Um Emotionen verstehen zu können, muss man sich zu- Ähnlich wie bei einem Thermostat erfolgt die Verhaltensak-
nächst darüber klar werden, welche Rolle Emotionen in unse- tivierung nur, wenn beim zugrundeliegenden Grundbedürf-
rem psychischen System spielen. Das Erleben von Emotionen nis eine Abweichung des Ist-Zustandes (z. B. aktueller Blut-
ist einer von drei großen Mechanismen, mittels derer unser zuckerspiegel) vom evolutionär vorgegebenen Soll-Zustand
Organismus sein Verhalten steuert. Eine grundlegende Vo- (optimaler Blutzuckerspiegel) vorliegt, was durch Messfüh-
10.2  Was sind „Emotionen“?
187 10
Homo Neokortex
sapiens Verhalten
Rationales
Zukünftige
Ziel?
Geschichte?
Gehirnvolumen

Limbisches System

Flexibilisierung
Verhalten
Homo Ausgelöstes Eigene
Reiz
erectus Gefühl? Vorgeschichte?

Australo-
pithecus früher Stammhirn
Homo Verhalten
Evolutionärer
Evolutionäre
–7 –6 –5 –4 –3 –2 –1 0 Sollwert?
Vorgeschichte?
Millionen Jahre

. Abb. 10.1 Die dreistufige Evolution unseres Gehirns und die drei Arten der Verhaltenssteuerung

ler signalisiert wird. Die Verhaltensaktivierung erfolgt dabei rung abzuspeichern. Trifft man erneut auf denselben Reiz,
unabhängig von höheren Gehirnstrukturen und ist somit wird nun nicht nur das bisher damit verknüpfte Verhalten
sub-emotional und subkognitiv. Ein Alltagsbeispiel ist, wenn aktiviert. Zusätzlich wird das damit verknüpfte Gefühl ausge-
man sich dabei ertappt, dass man sich nebenbei bei den am löst, wodurch eine völlig neue Fähigkeit entsteht: Das Gefühl
Tisch stehenden Keksen bedient, obwohl man keine wirk- teilt einem mit, ob mit guten oder schlechten Verhaltenser-
lichen positiven Emotionen dabei verspürt (sub-emotional) gebnissen zu rechnen ist.
und sich vorgenommen hatte, weniger Süßes zu essen (sub- Der große Vorteil ist, dass eine solche Verhaltenssteue-
kognitiv). Ausgelöst wird das Verhalten schlicht durch die rung deutlich flexibler ist. Dem kommt man auf die Spur,
Präsenz der Kekse. Der Grund ist die evolutionäre Prägung, wenn man sich klar macht, dass eine potentiell unendliche
jede Gelegenheit zum Verzehr kalorienreicher Nahrung zu Anzahl von Reizen und Verhaltensergebnissen mit einer klei-
nutzen, um möglichen Mangelzeiten vorzubeugen (Sclafa- nen Anzahl von Gefühlen verknüpft wird. Für die Steuerung
ni 2013). Menschliches Verhalten scheint nach wie vor oft des Verhaltens durch ein ausgelöstes Gefühl heißt das, dass
durch grundlegende biologische (z. B. Hunger, Durst, Sexua- ein bestimmtes Gefühl kein spezifisches Verhalten aktivie-
lität) und psychologische (z. B. Anschluss, Leistung, Macht) ren kann. Stattdessen ist ein Gefühl mit dem inneren Sys-
Bedürfnisse gesteuert zu werden (für einen Überblick siehe temzustand verknüpft, der sich ergibt, wenn man praktisch
Scheffer & Heckhausen 2010). alle mit einem bestimmten Gefühl verknüpften Verhaltens-
weisen übereinanderlegt, und das allen gemeinsame Muster
herausdestilliert. Ein Gefühl aktiviert also kein spezifisches
1 Das Limbische System – Steuerung durch Emotionen
Verhalten, sondern ruft ein ganz bestimmtes Zustandsmus-
Der Nachteil der Steuerung durch Grundbedürfnisse ist die
ter über alle Subsysteme eines Organismus hinweg hervor –
geringe Flexibilität. Auf einen Reiz wird mechanisch das Ver-
das Zustandsmuster, das im Durchschnitt optimal ist für das
halten aktiviert, das sich in der Vergangenheit als erfolgreich
Ausführen aller spezifischen Verhaltensweisen bezüglich ei-
erwiesen hat. Eine Steuerung des Verhaltens anhand einer
ner bestimmten Klasse von gefühlsauslösenden Reizen (z. B.
aktuellen Abschätzung zukünftiger Konsequenzen ist nicht
alle furchtauslösenden Reize). Anders als im Stammhirn sind
möglich, was eine Anpassung an sich schnell verändernde
damit Reize und Verhalten nicht mehr fest aneinandergekop-
Umwelten erschwert.
pelt, was ein Handeln in Abhängigkeit von weiteren Faktoren
Um eine flexiblere Anpassung zu ermöglichen, hat sich ei-
erlaubt.
ne völlig neue Art der Verhaltenssteuerung ausgebildet – eine
Steuerung durch Emotionen. Das Grundprinzip beruht da- Im Fokus: Verhaltenstendenz versus Verhalten
bei auf einem bahnbrechenden Fortschritt, den das limbische
Systems ermöglicht hat: Dem Entstehen von „Gefühlen“. Ver- Eine wichtige Unterscheidung bei der Erklärung mensch-
haltensergebnisse steuern unser Verhalten nun nicht mehr lichen Verhaltens ist die Unterscheidung zwischen einer
nur mechanisch über das entsprechende Ausbilden von Reiz- Verhaltenstendenz und einem wirklich gezeigten Verhalten.
Verhaltensverknüpfungen, sondern diese fühlen sich von nun Eine Verhaltenstendenz entspricht dem innerlichen Drang,
an zusätzlich auf eine bestimmte Weise an – es wird also ein bestimmtes Verhalten zeigen zu wollen, wobei das
innerlich bewusst erlebbar, ob es sich um gute oder schlech- Verhalten anschließend nicht notwendigerweise ausge-
te Ergebnisse handelt. Auf den ersten Blick erscheint die führt werden muss. Ein wichtiges Ziel bei der emotionalen
Neuerung nicht besonders groß. Das wirklich Bahnbrechen- Entwicklung von Kindern ist es nun zu lernen, zwischen
de liegt nun darin, dass das limbische System es zusätzlich Emotion und Verhalten zu unterscheiden. Während das
ermöglicht, das ausgelöste Gefühl gemeinsam mit dem für
das Verhaltensergebnis ausschlaggebenden Reiz als Erinne-
188 Kapitel 10  Emotionen

zug auf welche ein Verhaltensergebnis emotional bewertet


Erleben einer Emotion eine wichtige Informationsquelle wird.
über die Wertigkeit der aktuellen Situation darstellt, muss
nicht jede von der Emotion aktivierte Verhaltenstendenz
sinnvoll sein. Diesen Unterschied zu erkennen und im 10.2.2 Definition von Emotionen
Erleben und Verhalten machen zu können, ist eines der
Hauptziele, das in Programmen zur Förderung emotionaler
Am Ende des kleinen Exkurses in die Entwicklung der Ver-
Kompetenzen verfolgt wird. So lautet beispielsweise
haltenssteuerung des Menschen angelangt, können nun die
einer der vier Leitsätze des Trainingsprogramms „PFADE
einzelnen Bausteine zusammenfügt und „Emotionen“ folgen-
– Programm zur Förderung Alternativer Denkstrategien“
dermaßen definiert werden (eine Visualisierung findet sich in
(Greenberg & Kusche 2006): „Alle Gefühle sind okay,
. Abb. 10.2):
aber nicht jedes Verhalten ist okay!“ Mit Hilfe einer
Ampel-Metapher wird dabei versucht, Kindern eine
funktionale Verhaltenssequenz beim Erleben einer Emotion Emotionen sind Reaktionen auf die Bewertung eines äu-
beizubringen. Wenn eine Emotion erlebt wird, besteht ßerlichen oder innerlichen Reizereignisses als bedeutsam
der erste Schritt („Rot“) darin, sich zunächst durch tiefes für die zentralen Bedürfnisse und Ziele des Organismus,
Einatmen zu beruhigen und das Problem und Gefühl zu die sich in einer Episode zeitlicher Synchronisation aller
benennen. Anschließend („Gelb“) sollen Handlungsideen bedeutender Subsysteme des Organismus (Gefühl, Moti-
gesammelt und anhand einer Reihe von mit den Kindern vation, physiologische Regulation, motorischer Ausdruck,
erarbeiteten Kriterien bewerten werden wie beispielsweise Kognition) manifestieren (nach Scherer 1993).
„Machbarkeit?“ oder „Gefühle von anderen?“. Schließlich
(„Grün“) soll die beste Idee ausprobiert und abschließend
1 Begriffsentwirrung: Emotion – Gefühl – Affekt –
10 bewertet werden. Zahlreiche Evaluationsstudien haben
Stimmung?
gezeigt, dass Kinder in der Tat nach dem Durchlaufen des
PFADE-Programms ein besseres Verständnis von Emotionen Um Emotionen zu verstehen, ist es noch wichtig, begriffliche
und erhöhte Fähigkeiten zur Selbstkontrolle aufweisen (z. B. Klarheit zu schaffen im Hinblick auf die möglicherweise et-
Curtis & Norgate 2007). was verwirrende Alltagssprache. Dort finden sich nicht nur
der Begriff „Emotion“, sondern auch zunächst recht ähnlich
klingende Begriffe wie „Gefühl“, „Affekt“ und „Stimmung“.
Ausgehend von der obigen Definition, können die Unter-
schiede zwischen diesen verwandten Begriffen gut herausge-
1 Der Neocortex – Steuerung durch kognitiv
arbeitet werden. Der Begriff „Gefühl“ ist eine Bezeichnung
repräsentierte Ziele
für die subjektive und innerlich bewusst erlebte Seite einer
Obwohl die Entwicklung der emotionalen Verhaltensteue-
Emotion – „Gefühl“ bezeichnet also eines der Subsysteme, die
rung eine gefühlsbezogene Abschätzung zukünftiger Verhal-
beim Erleben einer Emotion verändert werden. Die Begriffe
tensergebnisse erlaubt, handelt es sich eigentlich nach wie
„Affekt“ und „Stimmung“ sind beide Varianten des allgemei-
vor um eine vergangenheitsbezogene Steuerung, da vergan-
neren Begriffs „Emotion“, die diesen insbesondere hinsicht-
gene Erfahrungen der Grund für die Ausbildung von Reiz-
lich der Intensität und zeitlichen Dauer ausdifferenzieren.
Emotions-Verknüpfungen sind. Um eine Flexibilität des Ver-
„Affekt“ bezeichnet demnach einen Emotionszustand von
haltens über vergangene Dynamiken hinaus zu entwickeln,
kurzer und sehr intensiver Zeitdauer, der durch eine starke
hat sich eine dritte und wiederum völlig neue Art der Ver-
Verhaltenstendenz charakterisiert ist („Handeln im Affekt“).
haltenssteuerung entwickelt – eine Steuerung durch kognitiv
repräsentierte Zielzustände. Das Grundprinzip beruht da-
rauf, dass ein angestrebter Zielzustand aktiv ins Bewusstsein Neutral
gerufen wird, unabhängig davon, welche Reize anwesend sind Positiv Negativ
und welche Emotionen erlebt werden. Ermöglicht wird dies
durch die Entwicklung des Neocortex. Dieser erlaubt es, mit-
tels Sprache bewusste Vorstellungen über persönliche Ziele zu
entwickeln und gleichzeitig potentielle zukünftige Ereignis-
se mental zu simulieren und zu bewerten. In Bezug auf das
Gering Hoch Gering Hoch
Thema Emotionen ist hier insbesondere ein Aspekt wichtig. Unangenehmes Gefühl
Spezifisches Muster

Spezifisches Muster

Durch die Entwicklung der Steuerung durch Ziele hat sich Annäherungstendenz
auch die Welt der Emotionen erweitert. Zum einen können Herzfrequenz
nun Emotionen nicht mehr nur durch äußere Reizereignisse,
Muskelanspannung
sondern auch durch mentale Vorstellungen ausgelöst werden.
Denkgeschwindigkeit
Zum anderen haben sich völlig neue Emotionen wie Stolz
oder Scham entwickelt, die eine kognitive Repräsentation von . Abb. 10.2 Emotionen als Episoden zeitlicher Synchronisation der
persönlichen oder normativen Standards voraussetzen, in Be- Subsysteme eines Organismus
10.3  Welche Emotionen gibt es und wie werden sie verursacht?
189 10
„Stimmung“ bezeichnet stattdessen einen länger anhaltenden Emotionswörtern zugrunde liegt. So kann man beispielswei-
Emotionszustand von geringerer Intensität, der sich oft vom se Personen bitten einzuschätzen, wie treffend verschiedene
ursprünglich emotionsauslösenden Ereignis entkoppelt hat Emotionswörter ihren aktuellen Zustand beschreiben. Wenn
(siehe auch Sokolowski 2008). eine Reihe von Emotionswörtern als ähnlich treffend einge-
schätzt wird, ist das ein Hinweis darauf, dass hinter diesen
Emotionswörtern ein gemeinsamer Kern existiert. Interes-
10.3 Welche Emotionen gibt es und wie santerweise ist es so, dass in praktisch allen Sprachen Emo-
werden sie verursacht? tionswörtern zwei basale emotionale Kerne zugrunde liegen,
die jeweils in ihrem Ausprägungsgrad zwischen zwei Po-
Eine Emotion ist also dadurch charakterisiert, dass sich ein len variieren: Valenz mit den beiden Polen „unangenehm“
ganz bestimmtes Zustandsmuster auf verschiedenen Subsys- und „angenehm“, und Aktivierungsgrad mit den beiden Po-
temen einstellt. Die Frage ist nun, wie viele solcher Zustands- len „deaktiviert“ und „aktiviert“ (Feldman Barrett & Russell
muster sich im Laufe der Zeit herausgebildet haben – oder an- 1999).
ders ausgedrückt: wie viele verschiedene Emotionen es gibt. In unserer Alltagssprache zeichnet sich damit ein inter-
Allerdings ist diese Frage nicht leicht zu beantworten, da die essantes Phänomen ab: Allen Emotionen scheint in der Tiefe
Anzahl verschiedener Zustandsmuster – und damit die An- etwas Gemeinsames zugrunde zu liegen. Dieser Gemeinsam-
zahl von Emotionen – prinzipiell nach oben offen ist, je nach- keit kommt man auf die Spur, wenn man sich klar macht,
dem wie feinkörnig die angelegten Unterscheidungskriterien dass es in Bezug auf Verhalten zwei basale Systeme gibt,
sind. Die potentielle Reichhaltigkeit zeigt sich beispielswei- die zu jedem Zeitpunkt des Lebens einen bestimmten Ak-
se in unserer Alltagssprache. So wurden von Studierenden tivierungsgrad aufweisen: Ein Annäherungssystem und ein
in einer offenen Befragung von Fehr und Russell (1984) zu Vermeidungssystem. Treffen wir auf einen Reiz, werden beide
ihnen bekannten Emotionswörtern insgesamt 383 verschie- Systeme adjustiert, bezogen auf die beiden Ausgangsfragen:
dene Wörter genannt. Insofern ist es nicht überraschend, dass „Ist das Ereignis relevant?“ (wenn ja, erhöhe den Aktivie-
im Verlauf der Forschung verschiedene Vorschläge gemacht rungsgrad) und „Welches System muss ich aktivieren?“ (bei
wurden, wie viele Emotionen denn „wirklich“ unterschieden Zielbedrohung das Vermeidungssystem und bei Zielerrei-
werden können. Im Folgenden werden einige dieser Vor- chung das Annäherungssystem). Die Aktivität beider Syste-
schläge vorgestellt und mittels einer Zuordnung zum Auftre- me übersetzt sich dabei in ein inneres „Grundgefühl“: Eine
ten im Verlauf einer emotionalen Reaktion sinnvoll in einen Aktivierung des Vermeidungssystems fühlt sich unangenehm
Zusammenhang gebracht (für einen Überblick . Abb. 10.3). an (Anwesenheit von unangenehmen Dingen), eine Aktivie-
rung des Annäherungssystems angenehm (Anwesenheit von
angenehmen Dingen). Umgekehrt ist es bei einer Deaktivie-
rung. Diese fühlt sich beim Vermeidungssystem angenehm
10.3.1 Grundgefühl
an (keine Anwesenheit von unangenehmen Dingen) und
beim Annäherungssystem unangenehm (keine Anwesenheit
Obwohl unsere Alltagssprache aufgrund ihrer Reichhaltig- von angenehmen Dingen). In beiden Fällen ist es wiederum
keit und begrifflichen Unschärfe den Kriterien einer wis- so, dass die emotionale Erregung umso intensiver ausfällt, je
senschaftlichen Theorie nicht standhält, kann sie doch dazu stärker das jeweilige System aktiviert ist.
dienen, ein erstes Licht ins Dunkel unserer Emotionen zu Wir befinden uns also in jedem Moment immer an einem
werfen. Die Grundidee ist, dass es gerade die Unschärfe der Punkt auf einer „Valenz-Erregungsgrad-Landkarte“. Wenn
Emotionswörter erlaubt, nach dem gemeinsamen emotiona- beispielsweise beide Systeme weder besonders aktiviert noch
len Kern zu suchen, der einer Gruppe von sich überlappenden deaktiviert sind, befinden wir uns in der Mitte dieser Land-
karte und empfinden keine ausgeprägten Emotionen. Wenn
wir auf einen bedrohlichen Reiz stoßen wird das Vermei-
„Grundgefühl“
dungssystem aktiv, und wir bewegen uns in Richtung der Pole
Annäherungs- oder Vermeidungssystem aktiv? „unangenehm“ und „erregt“. Wenn sich herausstellt, dass
wir dem bedrohlichen Reiz erfolgreich entkommen konnten,
Aktiviertes Verhaltenssystem wird das Vermeidungssystem deaktiviert, und wir bewegen
Subkognitiv Kognitive Bewertung uns in Richtung der Pole „nicht erregt“ und „angenehm“.
Alarmdatenbank Ergebnis Selbstwert

Evolutionärer Subjektiver Wert Selbstwertbezogene 10.3.2 Basisemotionen


Prototyp? und Kontrolle? Standards?
„Basis- „Bewertungs- „Selbstwertbezogene
emotionen“ emotionen“ Emotionen“
Das Grundgefühl ist allgegenwärtig, selbst wenn aktuell kein
emotionsrelevanter Reiz anwesend ist. Ist dies allerdings der
. Abb. 10.3 Die vier Arten von Emotionen mit den jeweils zugrundelie- Fall, geht dessen Verarbeitung mit dem Erleben spezifische-
genden psychischen Mechanismen rer Emotionen einher. Ausgangsbasis ist, dass die Umwelt
190 Kapitel 10  Emotionen

ständig auf Reize hin durchforstet wird, die hinsichtlich evo- gen achtet, wird man zuerst ein Zusammenzucken wahrneh-
lutionär alter Themen relevant sind. Wird ein relevanter Reiz men und danach erst den Knall hören.
entdeckt, werden rasch relativ starre subkognitive Emotions- Während die generelle Existenz subkognitiver Emotions-
programme – sogenannte „Basisemotionen“ – aktiviert, die programme empirisch überzeugend nachgewiesen werden
sich im Laufe der Evolution entwickelt haben, um schnell und konnte, ist es allerdings nach wie vor eine offene Frage, wie
optimal auf lebenswichtige Reizereignisse zu reagieren. Wir viele solcher Emotionsprogramme existieren. Aufbauend auf
verfügen also über eine emotionale „Alarmdatenbank“, die der Beobachtung, dass sechs verschiedene emotionale Ge-
im Falle der Registrierung eines dort gespeicherten Reizes so- sichtsausdrücke kulturunabhängig auftreten (Angst, Ärger,
fort eine emotionale Reaktion auslöst. Ekel, Freude, Überraschung, Trauer), wurde vorgeschlagen,
Am eindrücklichsten ist dieser evolutionäre Mechanis- dass sechs Basisemotionen existieren (Ekman et al. 1972).
mus bei emotionalen Gesichtsausdrücken ersichtlich. Wäh- Allerdings sind sowohl die Anzahl als auch die inhaltliche Be-
rend Gesten zwischen verschiedenen Kulturen variieren, schreibung verschiedener Basisemotionen umstritten.
zeigt sich bei emotionalen Gesichtsausdrücken etwas Er-
staunliches: Selbst in indigenen Völkern, die niemals mit
westlichen Kulturen Kontakt hatten, wird beim Erleben einer
Emotion derselbe Gesichtsausdruck gezeigt wie in westlichen Mythos: Negative Emotionen dominieren das Ge-
Kulturen (Ekman, Friesen & Ellsworth 1972). Beispielsweise fühlsleben
werden weltweit Augen und Mund bei Angst aufgerissen und Vielleicht ist Ihnen bei der Beschreibung der sechs
bei Ekel geschlossen. Aber warum ist das eigentlich so? Um weltweit anzutreffenden emotionalen Gesichtsausdrücke
diesem Rätsel auf die Spur zu kommen, muss man sich zu- aufgefallen, dass nur einer davon positiv ist (Freude). Auf
nächst klar machen, dass sich emotionale Gesichtsausdrücke den ersten Blick könnte man meinen, dass es also mehr
ursprünglich nicht entwickelt haben, um anderen den inne- negative als positive Emotionen gibt. Ein genauerer Blick
liefert allerdings ein differenzierteres Bild. Zunächst ist
10 ren Emotionszustand mitzuteilen – diese Funktion ist ihnen
es wichtig zu klären, was mit dem Wort „mehr“ genau
erst später zugewachsen. Stattdessen stellen die Reaktionen
der Gesichtsmuskulatur nichts anderes als Verhaltensweisen gemeint ist. Wenn es nur darum geht, welche Arten
dar, die sich als optimale Reaktionen auf bestimmte proto- von Basisemotionen in Emotionsmodellen differenziert
typische Reizereignisse entwickelt haben. So ist Angst eine werden, kommen in der Tat auf jede positive Emotion
Reaktion auf eine Bedrohungssituation, und um dieser zu ungefähr drei bis vier negative Emotionen. Wenn es aber
entkommen ist es wichtig, die Situation möglichst gut wahr- darum geht, wie häufig diese Emotionen im Alltag erlebt
zunehmen und viel Sauerstoff in die Muskeln zu transportie- werden, zeigt sich ein anderes Bild: Dann werden deutlich
ren, was durch ein Aufreißen von Augen und Mund optimiert mehr positive als negative Emotionen erlebt. So wurden
wird. Ekel dagegen ist eine Reaktion auf die Anwesenheit beispielsweise in einer Studie 60.865 Personen aus 123
eines gesundheitsbedrohenden Reizes, sodass alle Körperöff- verschiedenen Ländern gefragt, ob sie am Tag zuvor eine
nungen möglichst gut geschlossen werden sollten, um einer von sechs Emotionen intensiv erlebt haben. Während die
Kontaminierung vorzubeugen, was durch ein Schließen von Wahrscheinlichkeit eine der positiven Emotionen erlebt
Augen und Mund optimiert wird (Susskind et al. 2008). zu haben 75 % betrug, lag die Wahrscheinlichkeit für das
Verschiedene Befunde legen nahe, dass es sich bei der Erleben einer der negativen Emotionen nur bei 21 % (Tay
Auslösung von Basisemotionen um einen angeborenen und & Diener 2011). Tatsächlich dominieren also eher positive
subkognitiven Mechanismus handelt. Ersteres zeigt die Be- Emotionen das Gefühlsleben!
obachtung, dass selbst von Geburt an blinde Personen die- Angesichts der Häufigkeit des Erlebens positiver
selben emotionalen Gesichtsausdrücke zeigen (Matsumoto Emotionen ist die Frage naheliegend, ob der Bereich
& Willingham 2009), letzteres die Beobachtung, dass echte der positiven Emotionen nicht deutlich differenzierter
emotionale Gesichtsausdrücke nur schwer willentlich hervor- betrachtet werden muss, als es häufig getan wird. Ein
gerufen werden können. So erkennen wir relativ leicht ein Problem dabei ist, dass sich positive Emotionen weniger
unechtes Lächeln, weil die bei einem echten Lächeln zu be- deutlich voneinander abheben als negative Emotionen,
obachtenden Lachfalten um die Augen nur schwer willentlich was einer der Gründe für die Vernachlässigung positiver
erzeugt werden können (Ekman 1985). Bestätigt wird dies Emotionen in der Forschung ist. So können ein ärgerliches,
durch neurophysiologische Studien. So konnte nachgewiesen trauriges oder ängstliches Gesicht klar voneinander
werden, dass angstauslösende Reize über einen subkognitiven unterscheiden werden, während bei fast allen Arten von
Verarbeitungspfad bereits nach 80 Millisekunden das emo- positiven Emotionen ein ähnlicher Gesichtsausdruck
tionsauslösende Zentrum im Gehirn erreichen, noch bevor gezeigt wird. Allerdings gibt es seit einigen Jahren
die Reize überhaupt bewusst wahrgenommen werden (Bay- einen regelrechten Boom bei der Erforschung positiver
le, Henaff & Krolak-Salmon 2009; LeDoux 1996). Dies kann Emotionen, sodass sich langsam ein differenzierteres Bild
man sogar subjektiv nachempfinden, beispielsweise in Situa- zeichnen lässt. Die folgende Liste führt zehn relativ gut
tionen, in denen man auf einen schreckauslösenden Reiz wie empirisch abgesicherte positive Emotionen auf, absteigend
einen Knall reagiert. Wenn man genau auf seine Empfindun- angeordnet nach ihrer Auftretenshäufigkeit (Fredrickson
10.3  Welche Emotionen gibt es und wie werden sie verursacht?
191 10
negativ?“) und einer dimensionalen („wie stark positiv oder
2013): Liebe, Freude, Dankbarkeit, Zufriedenheit, Interesse, negativ?“) Komponente zusammen – erstere ist ausschlagge-
Hoffnung, Stolz, Belustigung, Inspiration und Ehrfurcht. bend für die Art der erlebten Emotion, zweitere für deren
Einige davon werden wir noch genauer kennenlernen. Intensität.

1 Kontrollierbarkeit
Allerdings übersetzen sich „positive“ und „negative“ Wer-
te nicht einfach direkt in „angenehme“ und „unangenehme“
10.3.3 Bewertungsemotionen Emotionen. Die Valenz der erlebten Emotionen hängt von
einer zweiten Bewertung ab: dem Urteil darüber, wie wahr-
Wie beschrieben löst das Registrieren von in einer subkogni- scheinlich eine Konsequenz eintreten wird, und wie stark
tiven emotionalen „Alarmdatenbank“ gespeicherten Reizen man meint, diese Wahrscheinlichkeit beeinflussen zu kön-
sofort Emotionen aus, noch bevor diese auf kognitiver Ebene nen – ein Aspekt der als „Kontrollierbarkeit“ bezeichnet
überhaupt analysiert werden. Allerdings kann die Weiterver- wird. Bei gering empfundener Kontrollierbarkeit wird da-
arbeitung von Reizen auf kognitiver Ebene ebenfalls Emo- von ausgegangen, dass potentielle Konsequenzen nicht durch
tionen hervorrufen, selbst wenn zuvor noch keine ausgelöst das eigene Handeln beeinflusst werden können. Hinsicht-
wurden. Der Grund ist die über den Neocortex vermittel- lich der resultierenden Emotionen sind dabei zwei Fälle zu
te Fähigkeit, sich Ereignisse unabhängig von der aktuellen unterscheiden. Man kann zum einen davon ausgehen, dass
Situation mental ausmalen zu können. Ein erster Weg der eine Konsequenz unabhängig vom eigenen Handeln sowie-
Emotionsauslösung beruht darauf, dass man sich bestimm- so eintreten wird. In diesem Fall übersetzen sich „Werte“
te Reizereignisse innerlich vorstellt. Das kann man selbst relativ direkt in „Emotionen“: Bei Konsequenzen mit posi-
ausprobieren. Wenn man die Augen schließt und an den letz- tivem Wert wird dann die angenehme Emotion Vorfreude
ten schönen Urlaub denkt, wird man wahrscheinlich Freu- erlebt, bei Konsequenzen mit negativem Wert die unange-
de empfinden; wenn man sich dagegen eine Situation ins nehme Emotion Hoffnungslosigkeit. Man kann zum anderen
Gedächtnis ruft, in der die eigenen Pläne durchkreuzt wur- aber auch davon ausgehen, dass eine Konsequenz generell
den, wird man wahrscheinlich Ärger empfinden. Ein zweiter nicht eintreten wird, egal wie man handelt. In diesem Fall
Weg der Emotionsauslösung beruht darauf, dass man sich kehrt sich die Valenz der erlebten Emotionen um: Bei Kon-
die möglichen Konsequenzen eines Reizes mental ausmalt sequenzen mit positivem Wert erlebt man die unangenehme
und bewertet – in Anlehnung an den englischsprachigen Be- Emotion Hoffnungslosigkeit, bei Konsequenzen mit negati-
griff werden solche Bewertungen häufig als „Appraisals“ be- vem Wert die angenehme Emotion Erleichterung. Allerdings
zeichnet (für Rahmentheorien siehe z. B. Pekrun 2006, oder werden diese Emotionen nur dann erlebt, wenn es Grund zur
Scherer 2001). Die dabei entstehenden Emotionen werden Annahme gibt, dass die entsprechenden Konsequenzen über-
dementsprechend „Bewertungsemotionen“ genannt. Für das haupt – wenn auch nicht bei einem selber – eintreten können.
Auftreten von Bewertungsemotionen ausschlaggebend sind Ein Beispiel ist, dass ein Schüler Hoffnungslosigkeit erlebt,
zwei Arten von Bewertungen. weil er davon ausgeht, dass er nie sehr gute Noten erreichen
wird, egal wie viel er lernt, obwohl andere Lernende durchaus
1 Wert durch Lernen Erfolg erzielen (Dweck & Leggett 1988).
Die erste Bewertung betrifft die Abschätzung dessen, wie Bei mittelmäßig empfundener Kontrollierbarkeit geht
wünschbar eine mögliche Konsequenz überhaupt wäre – ein man davon aus, dass man das Eintreten oder Ausbleiben
Aspekt, der als „Wert“ bezeichnet wird. Ein Beispiel ist die von Ereignissen in gewissem Ausmaß beeinflussen kann.
Ankündigung einer Prüfung. Man könnte sich nun ausma- Hier läuft es ähnlich wie im obigen Fall eines sicher ein-
len, dass man ein gutes oder schlechtes Ergebnis erzielen wird tretenden Ereignisses, nur dass abgeschwächte Emotionen
– ersteres wäre wünschbar und würde einen positiven Wert auftreten. Bei Konsequenzen mit positivem Wert erlebt man
darstellen, letzteres wäre nicht wünschbar und würde einen statt Vorfreude nur Hoffnung, weil zwar erwünschte Kon-
negativen Wert darstellen. Allgemein können Werturteile al- sequenzen in Aussicht stehen, die aber nicht sicher erreicht
so zwischen den beiden Extrempolen „sehr positiv“ und „sehr werden. Bei Konsequenzen mit negativem Wert erlebt man
negativ“ variieren. Allerdings muss man sich hier einen wich- statt Hoffnungslosigkeit Angst, weil zwar unerwünschte Kon-
tigen Punkt klar machen. Der Wert einer Konsequenz variiert sequenzen drohen, die aber möglicherweise noch vermieden
zwar je nach Stärke der Wünschbarkeit kontinuierlich zwi- werden können. Allerdings kann ein verringertes Kontroll-
schen „sehr negativ“ und „sehr positiv“; der Übergang von empfinden noch eine weitere Emotion auslösen: Ärger. Ärger
„positiv“ zu „negativ“ bringt aber einen qualitativen Unter- wird typischerweise dann erlebt, wenn für das Eintreten uner-
schied mit sich: Bei Ereignissen mit positivem Wert dreht wünschter oder Ausbleiben erwünschter Konsequenzen eine
sich alles um die potentielle Herbeiführung eines Ereignisses andere Person oder ein Objekt verantwortlich gemacht wird.
und die damit verbundenen Emotionen, bei Ereignissen mit Unser Organismus wird dann so eingestellt, dass das empfun-
negativem Wert alles um die potentielle Vermeidung eines Er- dene Hindernis möglichst überwunden wird.
eignisses und die damit verbundenen Emotionen. Werturteile Bei hoch empfundener Kontrollierbarkeit wiederum geht
setzen sich damit also aus einer kategorialen („positiv oder man davon aus, das Eintreten oder Ausbleiben von Kon-
192 Kapitel 10  Emotionen

sequenzen mit Sicherheit herbeiführen zu können. Dem- verankerten Selbstoptimierungsmechanismus“ (Rheinberg &
entsprechend werden unabhängig von der Art des Wertes Fries 2001). Wenn gerade alle anderen Bedürfnisse erfüllt
stets angenehme Emotionen empfunden. Der Grund ist, dass sind, gibt es nun eine Kraft in uns, die uns dazu bringt, dann
sowohl das erfolgreiche Herbeiführen erwünschter Konse- nicht einfach nichts zu tun, sondern die freigewordenen Res-
quenzen als auch das erfolgreiche Vermeiden unerwünschter sourcen zu nutzen, um unsere Kompetenzen für zukünftige
Konsequenzen angenehm ist. Die empfundenen angenehmen Situationen zu erweitern (zu einer differenzierten Betrach-
Emotionen unterscheiden sich allerdings qualitativ. War die tung von Langeweile siehe Goetz et al. 2014).
Ausgangsbasis ein drohendes unerwünschtes Ereignis, wird
Erleichterung erlebt; war die Ausgangsbasis ein potentiell er- Im Fokus: Leistungsmotivation – Wege und Irrwege
reichbares erwünschtes Ereignis, wird Vorfreude erlebt.
Wie bereits erwähnt, sind die Triebkräfte der Leistungs-
motivation und der damit verbundenen Emotionen im
Selbstbild verankerte Standards, in Bezug auf welche man
10.3.4 Selbstwertbezogene Emotionen sich als kompetent und tüchtig erleben will. Solche Stan-
dards können auf zwei verschiedenen Wegen im Selbstbild
Mit Entwicklung der Fähigkeit der mentalen Repräsentation verankert worden sein, und je nachdem kann eine hohe
ist zusätzlich zu den bisherigen Grundbedürfnissen ein neu- Leistungsmotivation mit fruchtbaren oder hemmenden
es Grundbedürfnis entstanden, das zur Herausbildung völlig Konsequenzen verbunden sein. Der eine Weg besteht darin,
neuer Emotionen geführt hat: das Bedürfnis danach, sich als dass man extern vorgegebene Standards unreflektiert
kompetent und tüchtig zu erleben (auch als Leistungsmotiv übernimmt, der andere darin, dass man Standards auf
bezeichnet). Ausschlaggebend dafür war, dass man nun nicht der Basis innerer Vorlieben und Kräfte reflexiv ableitet
nur die Umwelt, sondern auch sich selbst repräsentieren und (Marcia 1980). Während eine hohe Leistungsmotivation
10 damit selbstwertbezogene Standards entwickeln konnte, hin- bei selbstreflexiven Standards dazu führt, dass man sich
sichtlich derer man sich als kompetent und tüchtig erleben stimmig selbstoptimiert, birgt eine hohe Leistungsmoti-
will. vation bei übernommenen Standards die Gefahr in sich,
Auf der Basis dieses neuen Bedürfnisses werden nun auch einen eigentlich persönlich unwichtigen Aspekt zu opti-
neue Emotionen ausgelöst, je nachdem, ob ein selbstwert- mieren und dadurch die Entwicklung eigentlich innerlich
bezogener Standard erreicht wird oder nicht – sogenannte vorhandener Vorlieben und Kräfte zu hemmen. Obwohl
„selbstwertbezogene Emotionen“ (für einen Überblick siehe man in diesem Fall durchaus reich und berühmt werden
Lewis 2000). Wird ein Standard erreicht oder gar übertroffen, kann, zeigen Studien, dass dies mit Einbußen für unser
wird Stolz erlebt. Bleibt man dagegen hinter einem Stan- Wohlbefinden verbunden ist, was sich beispielsweise in
dard zurück, macht es zusätzlich einen Unterschied, ob man erhöhten Angst- und Depressionswerten zeigt (Kasser &
meint, dass man den Standard eigentlich hätte erreichen kön- Ryan 1993). Ein wichtiges Ziel pädagogischer Interaktion
nen oder nicht. Im ersten Fall bewertet man sein Verhalten sollte demensprechend darin liegen, dass Lehrende und
negativ, da man eigentlich zu einem besseren Verhalten fä- Lernende gemeinsam über Leistungsstandards reflektieren.
hig gewesen wäre, sodass Schuld erlebt wird. Im zweiten Damit Lernende ihre Vorlieben und Kräfte wirklich reflek-
Fall bewertet man sich als Person negativ, da man offen- tieren und dies in fruchtbare Leistungsmotivation mündet,
bar nicht über die gewünschten Fähigkeiten verfügt, sodass müssen Lehrende es auch akzeptieren, dass die von ihnen
Scham erlebt wird. Obwohl beide Emotionen durch ein re- vorgegebenen Standards gelegentlich hinterfragt werden.
lativ ähnliches Zustandsmuster charakterisiert sind, gibt es Ein eindrückliches Beispiel zur Reflexion möglicher Wege
einen zentralen Unterschied hinsichtlich der Verhaltenskon- und Irrwege der Leistungsmotivation ist die „Anekdote zur
sequenzen. Scham ist mit einer Deaktivierung und sozialem Senkung der Arbeitsmoral“ von Heinrich Böll, die wir hier
Rückzug verbunden, um das Zurückbleiben hinter einem verkürzt wiedergeben wollen:
Standard möglichst nicht offenbar werden zu lassen und sei- In einem Hafen liegt ein Fischer in seinem Boot und döst, als
ne Standards neu zu adjustieren. Schuld dagegen ist mit einer ein Tourist vorbeikommt. Der Tourist verwickelt den Fischer
Aktivierung verbunden, einerseits um den Standard in Zu- in ein Gespräch: „Sie werden heute nicht mehr ausfahren?“
kunft zu erreichen, andererseits um gegebenenfalls sozialen Kopfschütteln des Fischers. „Oh, Sie fühlen sich nicht wohl?“
Anschluss durch Wiedergutmachung wiederherzustellen. „Ich fühle mich großartig“, sagt der Fischer, „Ich habe mich
Aus evolutionärer Perspektive wirklich bahnbrechend nie besser gefühlt, mein Fang heute früh war so gut, dass
war, dass sich über Stolz, Scham und Schuld hinaus noch ei- ich sogar für morgen und übermorgen genug habe.“ Da
ne vierte Emotion entwickelt hat. Diese wird ausgelöst, wenn setzt sich der Tourist kopfschüttelnd auf den Bootsrand.
man sich in einer Situation befindet, in der weder interne „Ich will mich ja nicht in Ihre persönlichen Angelegenheiten
noch externe Standards vorliegen, die als persönlich bedeut- mischen“, sagt er, „aber stellen Sie sich mal vor, Sie führen
sam erachtet werden. In solchen Situationen wird die Emo- heute ein zweites, ein drittes, vielleicht sogar ein viertes
tion Langeweile erlebt. Im Zusammenspiel mit den drei an- Mal aus, und Sie würden drei, vier, fünf, vielleicht gar zehn
deren selbstwertbezogenen Emotionen ergibt sich daraus ein Dutzend Makrelen fangen. Und stellen Sie sich vor, Sie
fundamentaler Selektionsvorteil in Form eines „hedonistisch
10.4  Interindividuelle Unterschiede im emotionalen Erleben
193 10
angeborene allgemeine Tendenz einer Person, auf Reize mit
würden nicht nur heute, sondern morgen, übermorgen, ja, einer bestimmten emotionalen Intensität zu reagieren, und
an jedem günstigen Tag zwei-, dreimal, vielleicht viermal die emotionalen Lernerfahrungen, die im Laufe des Lebens
ausfahren – wissen Sie, was geschehen würde? Sie würden gemacht wurden und emotionale Reaktionen geformt haben.
sich spätestens in einem Jahr einen Motor kaufen können, Beide Faktoren wirken interaktiv zusammen, sodass sie sich
in zwei Jahren ein zweites Boot, in drei oder vier Jahren im aktuellen Erleben und Verhalten einer Person nicht mehr
könnten Sie vielleicht einen kleinen Kutter haben, mit trennen lassen.
zwei Booten oder dem Kutter würden Sie natürlich viel Um das Verhalten von Personen aber besser verstehen
mehr fangen – eines Tages würden Sie zwei Kutter haben, zu können, kann man zwei verschiedene Aspekte emotiona-
Sie würden ein kleines Kühlhaus bauen, vielleicht eine ler Reaktionsgewohnheiten voneinander unterscheiden. Der
Räucherei, später eine Marinadenfabrik, mit einem eigenen eine Aspekt betrifft die allgemeine Art und Weise, wie emo-
Hubschrauber rundfliegen, die Fischschwärme ausmachen tional reagiert wird, unabhängig davon welche konkreten
und Ihren Kuttern per Funk Anweisungen geben, Sie Reize die Reaktion ausgelöst haben. Da hierzu bekannte Per-
könnten die Lachsrechte erwerben, ein Fischrestaurant sönlichkeitsmodelle existieren, wird dieser Aspekt unter dem
eröffnen, den Hummer ohne Zwischenhändler direkt nach Punkt „Persönlichkeitseinflüsse“ genauer betrachtet. Der an-
Paris exportieren – und dann . . . “, dem Touristen verschlägt dere Aspekt betrifft die Frage, welche konkreten Reize bei
es vor Begeisterung die Sprache. „Und dann könnten Sie einer bestimmten Person Emotionen auslösen und warum sie
beruhigt hier im Hafen sitzen, in der Sonne dösen und auf das tun. Da hierzu bekannte lerntheoretische Modelle exis-
das herrliche Meer blicken.“ Der Fischer schaut den Fremden tieren, wird dieser Aspekt unter dem Punkt „Individuelle
erstaunt an und sagt: „Aber das tue ich ja schon jetzt?“ Lerngeschichte“ genauer ausgeführt.

10.4.1 Persönlichkeitseinflüsse
10.3.5 Die Grundthemen verschiedener
Emotionen – ein Überblick 1 Temperament
Menschen unterscheiden sich in einer Reihe von Komponen-
Im Verlauf des Buchkapitels wurde bereits eine Reihe von ten einer emotionalen Reaktion auf ein Reizereignis. Hierzu
Emotionen beschrieben. Wie immer anklang, liegt jeder zählen (1) die für eine Emotionsauslösung nötige Reizinten-
Emotion ein bestimmtes Grundthema in Bezug auf die Er- sität, (2) die Schnelligkeit der Emotionsauslösung, (3) die
füllung oder Gefährdung unserer Bedürfnisse und Ziele zu- maximal erreichte Intensität und (4) die Dauer, bis die aus-
grunde. Wird ein Reiz entdeckt, der eines dieser Grundthe- gelöste Emotion wieder nachlässt. Zusammenfassend werden
men anspricht, wird unser Organismus von der jeweiligen die für eine Person typischen Ausprägungen der Reaktions-
Emotion möglichst optimal in Bezug auf das angesprochene komponenten als die „Reaktivität“ einer Person bezeichnet,
Grundthema eingestellt. . Tab. 10.1 zeigt zusammenfassend die zwischen gering und hoch variieren kann und gemein-
für die wichtigsten Emotionen das jeweilige Grundthema, sam mit der Regulationsfähigkeit das „Temperament“ einer
Beispiele für Variationen des Grundthemas in Bezug auf Person ausmacht (Rothbart & Bates 1998). Man kann diese
Leistungssituationen (für weitere schultypische Themenfel- Komponenten leicht selbst nachvollziehen, wenn man die ei-
der 7 Abschn. 10.5) und die zentralen Auswirkungen auf un- gene Reaktion auf einen Schreckreiz beobachtet und mit den
seren Organismus (7 Abschn. 10.6). Reaktionen anderer vergleicht. Die Analyse von Schreckreak-
tionen wird in der Tat in der Forschung häufig zur Messung
interindividueller Unterschiede in emotionalen Reaktionen
10.4 Interindividuelle Unterschiede im verwendet. Dabei hat sich gezeigt, dass Personen mit stär-
emotionalen Erleben kerer Schreckreaktivität allgemein stärker auf unangenehme
Reize reagieren (Lang, Davis & Öhman 2000). Da Tempera-
Wenn man beispielsweise verschiedene Schüler miteinander mentsunterschiede bereits im Säuglingsalter zu finden sind,
vergleicht, fällt etwas Interessantes auf: Obwohl alle grund- wird davon ausgegangen, dass das Temperament einer Person
sätzlich die gleichen Emotionsprogramme besitzen, werden stark genetisch geprägt ist.
durch denselben Reiz nicht dieselben Emotionen ausgelöst.
So löst die Ankündigung einer Prüfung bei manchen gro-1 Neigung zum Erleben positiver und negativer
ße Angst aus, andere empfinden dagegen wenig oder keine Emotionen
Angst. Im folgenden Abschnitt wird es darum gehen, wo- Die Persönlichkeitsforschung zeigt allerdings, dass sich aus
her diese interindividuellen Unterschiede im emotionalen der Reaktivität einer Person auf unangenehme Reize wenig
Erleben eigentlich kommen. Zunächst ist es wichtig, sich schließen lässt über ihre Reaktivität auf angenehme Reize.
einen fundamentalen Aspekt klar zu machen. Bei der Er- Obwohl Personen jeweils ähnlich stark auf verschiedene un-
klärung interindividueller Unterschiede im emotionalen Er- angenehme bzw. angenehme Reize reagieren, besteht zwi-
leben spielen immer zwei Einflussfaktoren eine Rolle: Die schen der Reaktionsstärke einer Person auf angenehme und
194 Kapitel 10  Emotionen

. Tabelle 10.1 Die Grundthemen wichtiger Emotionen (nach Berking 2015 und Lazarus 1991)

Emotion Grundthema Leistungsbezogene Beispiele Wirkung


Angst Bedrohung wichtiger Ziele, deren Abwehr Prüfungsangst Situation besonders aufmerksam verar-
unsicher ist beiten und den Organismus auf Flucht
vorbereiten

Ärger Selbst- oder fremdverschuldetes Nichter- Ärger über ungerecht empfundene oder Aufmerksamkeit auf das Hindernis fo-
reichen wichtiger Ziele selbstverschuldete schlechte Note? kussieren und den Organismus auf
Überwindung vorbereiten

Erleichte- Erfolgreiche Vermeidung negativ bewer- Erleichterung über eine bestandene Prü- Die durch das Ereignis gebundenen
rung teter Ereignisse fung Ressourcen wieder freigeben und neu
ausrichten

Freude Fortschritt in Richtung positiv bewerteter Freude am Lernen, Freude über eine gute Den Erfolg und die verfolgte Strategie
Ziele Note gemeinsam mit dem positiven Gefühl als
zukünftige Motivationsquelle abspeichern

Hoffnung Erwünschte Ziele stehen zwar in Aussicht, Hoffnung auf das Erreichen einer guten Situation aufmerksam verarbeiten und
werden aber nicht sicher erreicht Note Ressourcen zur Zielerreichung mobilisie-
ren

Hoff- Ein erwünschtes Ziel kann nicht erreicht Hoffnungslosigkeit hinsichtlich des Beste- Motivationaler Rückzug und Aktivierung
nungslo- bzw. ein unerwünschtes Ziel nicht vermie- hens einer Prüfung, selbst wenn man sehr mentaler Prozesse die helfen, eine Neuori-
sigkeit den werden, egal wie man handelt viel lernen würde entierung anzustreben

Lange- Fehlen von subjektiv als wichtig empfun- Langeweile im Unterricht Abzug der Aufmerksamkeit von der ak-
10 weile denen Zielen tuellen Situation und motivationale
Neuausrichtung des Organismus

Scham Eine subjektiv wichtige Norm wird nicht Scham über eine nicht bestandene Prü- Sozialer Rückzug und Aktivierung selbst-
erreicht fung wertschützender Maßnahmen

Schuld Eine sozial geteilte Norm wird nicht er- Schuldgefühle angesichts einer schlech- Suche nach sozialem Anschluss mittels
reicht ten Note Wiedergutmachung

Stolz Ein normativ hoch bewertetes Ziel wird Stolz über eine gute Prüfungsleistung Ähnlich wie bei Freude
aufgrund eigener Anstrengung erreicht

Trauer Ein wichtiges Ziel kann nicht mehr er- Trauer über das Nicht-Erreichen einer für Ähnlich wie bei Hoffnungslosigkeit
reicht werden aufgrund eines Verlusts das Weiterkommen wichtigen Notenstufe

Über- Unerwartetes Auftreten eines Objektes Überraschende Erkenntnis oder Einsicht Aufmerksamkeit auf das unerwartete Reiz-
raschung oder Ereignisses bei einer Aufgabe oder Problemstellung ereignis richten und aktuelles Verhalten
stoppen

unangenehme Reize wenig bis kein Zusammenhang. Der lösten Veränderungen auch auf der Ebene des Bewusstseins
Grund dafür ist, dass die Intensität unangenehmer bzw. ange- als „Gefühl“ erlebt werden. Der Ausgangspunkt für die Ent-
nehmer Emotionen den Aktivierungsgrad zweier unabhängi- deckung derartiger Unterschiede war die Vermutung, dass
ger Verhaltenssysteme widerspiegelt, den des Vermeidungs- es zwei Strategien im Umgang mit unangenehmen Gefühlen
systems und den des Annäherungssystems (7 Abschn. 10.3.1; gibt: Man kann entweder versuchen das Gefühl zu verleug-
für einen Überblick siehe Watson, Wiese & Vaidya 1999). Um nen, um es nicht bewusst erleben zu müssen, oder man kann
also individuelle Besonderheiten im emotionalen Reagieren versuchen, dem Gefühl besonders viel Aufmerksamkeit zu
einer Person erklären und vorhersagen zu können, braucht schenken, um das zugrundeliegenden Problem besser lösen
man differenzierteres Wissen über ihr typisches Reagieren auf zu können. Wie eine Reihe von empirischen Studien zeigt,
unangenehme und angenehme Reize. unterscheiden sich Menschen in der Tat darin, welche der
beiden Strategien sie bevorzugt verwenden (für einen Über-
1 „Represser“ versus „Sensitizer“ blick siehe Krohne 1996). In der einen Extremform erleben
Die bisher beschriebenen Persönlichkeitsunterschiede betref- Personen ihre emotionalen Reaktionen überhaupt nicht be-
fen das allgemeine Reagieren auf emotionsauslösende Reize. wusst als Gefühl (sogenannte „Represser“), in der anderen
Allerdings finden sich bei emotionalen Reaktionen auch in- Extremform dagegen besonders intensiv als Gefühl (soge-
terindividuelle Unterschiede darin, wie stark einzelne Sub- nannte „Sensitizer“; siehe Krohne 1974). Aus pädagogischer
systeme durch einen emotionalen Reiz verändert werden. Perspektive ist es wichtig sich klar zu machen, dass das von
Eine Charakteristik von weitreichender Relevanz betrifft die einer Person bewusst erlebte Gefühl nicht notwendigerweise
Frage, inwiefern die durch eine emotionale Reaktion ausge- mit dem tatsächlichen emotionalen Zustand auf den weiteren
10.4  Interindividuelle Unterschiede im emotionalen Erleben
195 10
Subsystemen übereinstimmen muss. So kann beispielsweise der Reiz evolutionär alte Themen anspricht, desto schneller
ein zu Repression neigender Schüler der Überzeugung sein, erfolgt die Verknüpfung mit der entsprechenden Emotion.
keine Prüfungsangst zu haben, obwohl sich auf physiologi- Man kann sich das anhand folgender Geschichte klarma-
scher, motivationaler und kognitiver Ebene deutliche An- chen (nach Marks 1987): Ein Kind spielt an einem Waldrand,
zeichen von Prüfungsangst erkennen lassen. Grundsätzlich entdeckt dort eine Schlange und erschrickt fürchterlich. Es
ist es hier wichtig, langfristig beiden Extremformen entge- rennt so schnell es kann zum in der Nähe parkenden Auto
genzuwirken. In beiden Fällen spiegelt das Gefühl nicht die der Eltern, schlägt die Tür zu und klemmt sich schmerzhaft
eigentlich ausgelöste Emotion adäquat wider, was einen funk- die Finger ein. In der Folge entwickelt das Kind eine Angst-
tionalen Umgang mit Emotionen erschwert. störung, aber nur in Bezug auf Schlangen, nicht in Bezug
auf Autotüren. Bestätigt wird dies durch Studien, in denen
versucht wurde, sowohl Bilder von Spinnen und Schlangen
als auch Bilder von Blumen und Pilzen mit der Emotion
10.4.2 Individuelle Lerngeschichte Angst zu verknüpfen, indem die Bilder mit schwachen elek-
trischen Stromschlägen gepaart wurden. Es zeigte sich, dass
Wenn man die individuellen Persönlichkeitsausprägungen eine Verknüpfung mit Angst für Spinnen- und Schlangen-
eines Schülers hinsichtlich der oben beschriebenen Persön- bilder deutlich schneller erfolgt und auch deutlich schlechter
lichkeitsmodelle kennt, erlaubt das eine erste grobe Vorhersa- anschließend wieder gelöscht werden kann (für einen Über-
ge über dessen allgemeines emotionales Erleben und Verhal- blick siehe Öhman & Mineka 2001). Wie solche Studien
ten. Allerdings bleibt die Frage offen, auf welche spezifischen zeigen, kann dabei sogar eine einzige emotionale Erfahrung
Reize der Schüler überhaupt emotional reagiert. Will man ausreichend sein für das Ausbilden einer Reiz-Emotions-
diese Frage beantworten, muss man die vergangene individu- Verknüpfung (sog. „one-trial-learning“; Öhman, Eriksson &
elle Lerngeschichte des Schülers kennen, denn die aktuellen Olofsson 1975).
emotionalen Reaktionen einer Person spiegeln letztendlich Eine zweite Besonderheit betrifft die Art und Weise, wie
nichts anderes wider. Allerdings ist es wichtig, zwischen zwei bei einer emotionalen Erfahrung mit einem bestimmten Reiz
Arten von Lerngeschichten zu unterscheiden: der emotio- auf ähnliche Reize generalisiert wird. Das allgemeine Prin-
nalen Lerngeschichte, die widerspiegelt, welche emotionalen zip der Reizgeneralisierung lässt sich anhand der Geschichte
Erfahrungen eine Person mit Reizen bisher gemacht hat, und vom kleinen Albert verdeutlichen (7 Kap. 1). Nachdem beim
der kognitiven Lerngeschichte, die widerspiegelt, welche Be- kleinen Albert ein neutraler Reiz (eine Ratte) mit einer Angst-
wertungsgewohnheiten eine Person entwickelt hat. reaktion verknüpft worden war, fürchtete er sich danach nicht
nur vor Ratten, sondern auch vor so unterschiedlichen Din-
1 Emotionale Lerngeschichte gen wie einem Kaninchen, den Haaren des Versuchsleiters
Wie bei den Basisemotionen ausgeführt, erfolgt ein Weg und einer bärtigen Nikolausmaske – die Furcht wurde auf
der Emotionsauslösung über eine emotionale „Alarmdaten- ähnliche Reize generalisiert. Wenn man dieses Beispiel ge-
bank“, die beim Registrieren dort gespeicherter Reize Emo- nauer anschaut, fällt etwas Spannendes auf: Die Reize sind
tionen hervorruft. Eine noch offen gebliebene Frage ist, wel- sich zwar hinsichtlich eines spezifischen Merkmals ähnlich
che Reize dort eigentlich gespeichert sind. Zunächst ist diese (alle sind „haarig“), aber eigentlich gehören sie zu sehr un-
Frage recht einfach zu beantworten. Reize werden mittels terschiedlichen Objektklassen (Tier/Mensch/Objekt). Da wir
klassischer Konditionierung in die Alarmdatenbank aufge- die äußere Welt typischerweise objektbezogen und nicht
nommen: Wird auf einen zunächst neutralen Reiz hin häu- merkmalsbezogen wahrnehmen und im autobiografischen
figer eine Emotion erlebt, werden Reiz und emotionale Re- Gedächtnis abspeichern, ist es recht überraschend, dass emo-
aktion miteinander verknüpft, sodass der Reiz in Zukunft die tionale Reaktionen auf der Ebene von einzelnen Merkmalen
entsprechende Emotion auslöst (7 Kap. 1). Allerdings gibt es generalisiert werden können. Diese Eigenschaft emotionalen
dabei einige Besonderheiten. Konditionierens bringt eine unangenehme Schwierigkeit mit
Eine erste Besonderheit betrifft die Frage, wie schnell ei- sich: Wir können unter Umständen manchmal nicht wissen,
gentlich ein Reiz mit einer Emotion verknüpft wird. Wie warum wir eigentlich in einer bestimmten Situation emo-
bereits beim klassischen Konditionieren in 7 Kap. 1 beschrie- tional reagieren. Nimmt man beispielsweise an, der kleine
ben, hängt dies zunächst von der Häufigkeit ab, mit der auf Albert würde nach seinem Erlebnis mit der Ratte irgendwann
einen Reiz hin eine Emotion erlebt wird, und von der Stärke später auf einen Nikolaus treffen und Furcht empfinden. Es
der erlebten Emotion: je häufiger und stärker, umso schneller wäre für ihn vermutlich ein unlösbares Rätsel, woher die
wird der Reiz mit der Emotion verknüpft. Allerdings gibt es Furcht eigentlich käme. Weder in seiner aktuellen Wahr-
beim emotionalen Konditionieren weitere Einflussfaktoren. nehmung des Nikolauses noch in seiner autobiographischen
So spielen die oben beschrieben Persönlichkeitsunterschie- Erinnerung an das Rattenerlebnis spielt das Merkmal „haa-
de eine Rolle. Da die Stärke der erlebten Emotion von der rig“ vermutlich eine größere Rolle, sodass er nicht verstehen
emotionalen Reaktivität einer Person abhängt, erfolgt die kann, dass die Furcht auf der Ebene dieses spezifischen Merk-
Reiz-Emotions-Verknüpfung bei manchen Personen schnel- mals übertragen wurde. Dass Emotionen in der Tat durch in
ler bzw. langsamer als bei anderen. Ein weiterer Einflussfak- der damaligen Situation anwesende Details ausgelöst werden
tor betrifft die Nähe zu evolutionär alten Themen. Je mehr können, die nicht Teil der autobiographischen Erinnerung
196 Kapitel 10  Emotionen

daran sind, bestätigt beispielsweise die Forschung zu emotio- 10.5 Emotionen in der Schule – sechs
nalen Traumata (Brewin 2001; 7 Kap. 29). Themenfelder
1 Kognitive Lerngeschichte Im folgenden Abschnitt soll nun der Kontext Schule genau-
Wie bei der Beschreibung der Bewertungsemotionen bereits er betrachtet werden. Allgemein lassen sich hinsichtlich der
ausgeführt, können Emotionen auch dadurch ausgelöst wer- Ursachen von Emotionen in der Schule sechs Themenfel-
den, dass man sich die möglichen Konsequenzen eines Reizes der voneinander abgrenzen, anhand derer das emotionale
mental ausmalt und bewertet. Für die Emotionsauslösung Geschehen hilfreich klassifiziert werden kann, wobei jedes
zentral sind dabei zum einen die vermuteten Konsequen- Themenfeld jeweils relativ eigenständige emotionale Dyna-
zen eines Reizes und der sich daraus ergebende Wert, zum miken mit sich bringt (s. a. Pekrun & Linnenbrink-Garcia
anderen die vermutete Wahrscheinlichkeit und Kontrollier- 2014).
barkeit der Konsequenz. Wie bereits angeklungen, handelt es
sich bei den verschiedenen Bewertungen nicht um objektive
Tatsachen, sondern um subjektive Überzeugungen. Wie ei-
ne Person subjektiv eine bestimmte Situation bewertet und 10.5.1 Themenfeld 1: Leistungsemotionen
dann entsprechend emotional reagiert, hängt davon ab, wel-
che subjektiven Überzeugungen diese Person im Laufe des In der Schule ist insbesondere das Thema Leistung mit Emo-
jeweiligen individuellen Lebens erworben hat, gespeist durch tionen besetzt (für einen Überblick siehe Pekrun 2006).
regelmäßig gemachte Erfahrungen und durch die Übernah- Charakteristisch für Leistungssituationen ist, dass das eige-
me von Überzeugungen, die von wichtigen anderen Personen ne Handeln mittels bestimmter Gütemaßstäbe bewertet wird.
(wie Eltern oder Freunden) geteilt werden. Die Emotionen, die in solchen Situationen auftreten, werden
Gut nachvollziehbar ist das am Beispiel der Prüfungs- entsprechend als „Leistungsemotionen“ bezeichnet. Nahelie-
10 angst. Allgemein wird Prüfungsangst ausgelöst, wenn das genderweise wurde dabei in der Forschung der Fokus zu-
potentielle Scheitern bei einer anstehenden Prüfung als nächst auf die sogenannten „ergebnisbezogenen Leistungse-
schlimm bewertet wird (hoher negativer Wert) und die Mög- motionen“ gelegt. Diese treten auf, wenn zukünftige oder
lichkeiten, ein Scheitern zu verhindern, als nicht sehr hoch erzielte Ergebnisse im Hinblick auf einen Gütemaßstab be-
einschätzt werden (geringe Kontrollierbarkeit). Zu Beginn wertet und als Erfolg oder Misserfolg empfunden werden, mit
seiner Schulkarriere mag ein Schüler eine Prüfungssituati- dem Effekt, dass Bewertungsemotionen wie Prüfungsangst
on noch als harmlos bewerten und entsprechend noch keine oder Hoffnung bzw. selbstwertbezogene Emotionen wie Stolz
Angst empfinden, weil er noch gar nicht weiß, dass Prüfun- oder Scham erlebt werden. Die Bewertung kann dabei von
gen überhaupt Konsequenzen mit sich bringen. Aufgrund der Person selbst oder von anderen Personen erfolgen, wie
beispielsweise entsprechender Reaktionen von Eltern oder beispielsweise der Lehrkraft gegenüber den Lernenden (oder
Lehrkräften wird dann aber nach und nach gelernt, dass auch umgekehrt), sie kann informell beispielsweise über ver-
Prüfungen etwas anderes sind als einfach nur ein weiteres bale Äußerungen oder formell durch Noten oder Schüler-
Arbeitsblatt auszufüllen, und dass diese Situation möglicher- feedback erfolgen, sie kann explizit oder auch nur implizit
weise unerwünschte Konsequenzen mit sich bringen kann über entsprechende Verhaltensweisen wie beispielsweise Mi-
(Tadel, längeres Üben anstatt spielen gehen zu dürfen). Mit mik oder Gestik erfolgen. Die Bewertung hängt zudem davon
steigender Klassenstufe wird zudem gelernt, dass die Kon- ab, welche Art von Gütemaßstab angelegt wird. Wenn Leis-
sequenzen zunehmend gravierender werden, beispielsweise tungen in Bezug auf den Vergleich mit der sozialen Gruppe
weil der Übertritt ans Gymnasium daran festgemacht wird. wie beispielsweise der Schulklasse bewertet werden (sozialer
Da typischerweise gleichzeitig das Anspruchsniveau steigt Gütemaßstab), ist es naturgemäß so, dass es nur wenige „Bes-
und die Notenpraxis strenger wird, erlebt der Schüler mög- te“, aber viele „Schlechtere“ geben muss. Zu den Schlechteren
licherweise keinen klaren Zusammenhang zwischen eigener zu gehören, geht unumgänglich mit dem Erleben negativer
Anstrengung und erzielten Ergebnissen. Mit steigender Klas- Emotionen einher. Bei einer Orientierung an objektiv gesetz-
senstufe werden somit Prüfungssituationen zunehmend als ten Normen (kriterialer Gütemaßstab, z. B. 80 % der Aufga-
unkontrollierbar und potentiell negativ bewertet – und in der ben richtig) bzw. an individuell bisher erbrachten Leistungen
Folge also Angst erlebt. Fallen solche Wert- und Kontrollur- (individueller Gütemaßstab, z. B. weniger Rechtschreibfehler
teile auch noch global (es betrifft alle Fächer) und stabil (es als beim letzten Aufsatz) kann es hingegen viele geben, die
wird immer so sein) aus, können sich Prüfungsängste bis hin die Norm erreichen und somit Erfolg erleben. Im Hinblick
zu einer klinisch relevanten Störung entwickeln. Dann stellt auf das emotionale Erleben der Lernenden sind kriteriale und
die Prüfungsangst eine erhebliche Beeinträchtigung dar, ist individuelle Gütemaßstäbe also zu bevorzugen.
Auslöser für Probleme im sozialen Umfeld und verhindert ei- Neben den ergebnisbezogenen Emotionen werden häufig
ne gesunde Entwicklung (Hoyer 2006). auch solche Emotionen unter den Begriff „Leistungsemo-
10.5  Emotionen in der Schule – sechs Themenfelder
197 10
tionen“ gefasst, die während des Vollziehens der leistungs- nen werden dagegen umso intensiver erlebt, je mehr diese
bezogenen Aktivität selbst erlebt werden, wie beispielsweise drei Bedingungen nicht erfüllt sind (Sheldon & Filak 2008).
beim Lernen empfundene Langeweile oder Freude – die- Themen und Lerninhalte können aber auch relativ unab-
se werden dann als „aktivitätsbezogene Leistungsemotionen“ hängig vom Ausmaß des Interesses am Lerngegenstand Emo-
bezeichnet (z. B. Pekrun 2006). Hier ist allerdings zu beden- tionen auslösen. So kann beispielsweise die Beschäftigung mit
ken, dass Aussagen von Lernenden wie „Das Lernen macht historischen Ereignissen damit verbundene Emotionen aus-
mir gerade Spaß“ nicht notwendigerweise das Erleben von lösen; oder beim Lesen eines literarischen Werks werden die
aktivitätsbezogenen Emotionen widerspiegeln. Oft mag eine emotionalen Erlebnisse des Protagonisten empathisch miter-
derartig berichtete „Freude beim Lernen“ durch die Emp- lebt. Allerdings gibt es hier eine Wechselbeziehung zwischen
findung genährt sein, dass man sich beim Lernen einem dem Interesse am Thema und dem Erleben von Emotio-
Gütemaßstab annähert und beispielsweise nun zuversichtli- nen während der Beschäftigung mit einem Lerninhalt. Die
cher ist, eine Prüfung zu bestehen. Genaugenommen handelt situational ausgelösten Emotionen werden typischerweise in-
es sich in diesem Fall aber eigentlich nach wie vor um eine tensiver erlebt, wenn man auch ein persönliches Interesse am
ergebnisbezogene Emotion, was man daran sieht, dass man Themengebiet hat, denn nur dann setzt man sich intensiv
solche Freude selbst dann erleben kann, wenn die konkre- mit dem Lerngegenstand auseinander. Andererseits können
te Lernaktivität selbst eigentlich als unangenehm empfunden situational ausgelöste Emotionen auch das persönliche In-
wird. Voraussetzung für tatsächliche Freude an einer Lern- teresse beeinflussen. Zum Beispiel könnten positive situativ
aktivität ist, dass diese durch ein persönliches Interesse am ausgelöste Emotionen das Interesse am Thema steigern (Hidi
Lerngegenstand gespeist ist (7 Abschn. 10.5.2) und nicht nur & Renninger 2006).
durch das bloße Erreichen eines bestimmten Gütemaßstabes
wie das Bestehen einer Prüfung. Neben dem akademischen
Leistungskontext spielt diese Unterscheidung zum Beispiel 10.5.3 Themenfeld 3: Epistemische
auch im Sport eine große Rolle: Freude kann hier an der Emotionen
Ausübung der Sportart empfunden werden (rein aktivitäts-
bezogen), aber auch über Gütemaßstäbe vermittelt sein wie
Freude am eigenen Fortschritt (individueller Gütemaßstab) Wiederum unabhängig von spezifischen Lerninhalten kann
oder am Erfolg in Wettkämpfen (sozialer Gütemaßstab). beim Lernen eine weitere Art von Lernemotionen auftreten.
Verursacht werden diese Emotionen durch wahrgenommene
Veränderungen im Wissen, weswegen sie als „epistemische“
(das Wissen bzw. die Erkenntnis betreffende) Emotionen be-
10.5.2 Themenfeld 2: Themenbezogene zeichnet werden. Die vermutlich bekannteste epistemische
Emotionen Emotion ist die Freude an der Einsicht. Dies spiegelt sich
in der Anekdote um den Ausruf „Heureka“ („Ich habe [es]
gefunden“) wider, der zufolge Archimedes von Syrakus laut
Wie bereits angeklungen, kann die Beschäftigung mit einem
„Heureka!“ rufend unbekleidet durch die Stadt gelaufen sein
Lerngegenstand Emotionen auslösen, die unabhängig von
soll, nachdem er in der Badewanne das archimedische Prin-
der Bewertung von Lernergebnissen sind. Ausschlaggebend
zip entdeckt hatte. Der Ausruf „Heureka!“ hat sich seitdem in
dafür ist das Interesse am Thema, weswegen diese Emotionen
der Alltagssprache als Synonym für die bei einem plötzlichen
„themenbezogene Emotionen“ genannt werden. Ein hohes
Erkenntnisgewinn erlebte Freude eingebürgert. Bevor eine
Interesse ist gekennzeichnet dadurch, dass dem Lerngegen-
solche Einsicht eintritt, kann dem eine Reihe weiterer epis-
stand eine herausgehobene subjektive Bedeutung zugeordnet
temischer Emotionen vorausgehen. So kann beispielsweise
wird (wertbezogene Komponente) und dieser mit positiven
eine bisher nicht erfolgreiche Problemlösung mit Emotio-
Gefühlen wie beispielsweise Freude verbunden ist (emotions-
nen wie Verwirrung, Hoffnung oder Angst einhergehen. Ein
bezogene Komponente; für ein entsprechendes Modell siehe
Krapp 2005). Dementsprechend beeinflusst das Ausmaß an anderes Beispiel ist das Erleben von Überraschung, wenn
persönlichem Interesse, inwiefern die allgemeine Beschäf- man die Entdeckung macht, dass etwas in Wirklichkeit an-
tigung mit einem Themengebiet Emotionen auslöst, wobei ders ist als bisher vermutet. Insbesondere letztere Emotion ist
hier das Spektrum von positiven Emotionen wie Freude (ho- aus pädagogischer Perspektive interessant, da diese als Motor
hes Interesse) bis zu negativen Emotionen wie Langeweile für eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Lerngegen-
(kein Interesse) reicht. Über das Interesse hinaus ausschlag- stand dienen kann, was zu einem besseren Verankern neuer
gebend sind zudem das Ausmaß empfundener Autonomie, Wissensinhalte führt (Kang et al. 2009).
Kompetenz und sozialer Eingebundenheit während der Be-
schäftigung mit einem Thema (für ein entsprechendes Modell
siehe Deci & Ryan 2000). Positive Emotionen werden umso 10.5.4 Themenfeld 4: Soziale Emotionen
intensiver erlebt, je mehr man sich bei der Beschäftigung mit
dem Themengebiet als selbstbestimmt und kompetent erlebt Neben den Themen Lernen und Leistung gibt es noch einen
und je mehr man sich vermittelt durch die Beschäftigung mit weiteren Themenbereich in der Schule, der zwar nicht direkt
dem Thema anderen als zugehörig erlebt. Negative Emotio- mit dem Erwerb von Wissen in Bezug steht, aber trotzdem
198 Kapitel 10  Emotionen

eine Quelle intensiver Emotionen sein kann. Schulisches Ler-


nen und Lehren ist in einen sozialen Kontext eingebettet, und mit einer hohen Beziehungsfähigkeit – also jemand, der
die sich daraus ergebenden Dynamiken können eine Viel- ein balanciertes Verhältnis zwischen eigenen und fremden
zahl von Emotionen auslösen – sogenannte „soziale Emotio- Interessen herstellen kann (Asendorpf 2012). Die sich
nen“ wie beispielsweise Verachtung, Ärger, Zuneigung oder daran anschließende zweite Frage ist, welche konkreten
generell Empathie mit den Gefühlen des Gegenübers. Gele- Fähigkeiten dazu nötig sind. Eine Antwort hierzu liefern
gentlich können soziale Emotionen auch mit Aspekten von wiederum Studien zur Förderung sozial-emotionalen
Lernen und Leistung in Beziehung stehen, beispielsweise Lernens. Dort zeigt sich, dass es vier Säulen gibt, innerhalb
wenn eine Beurteilung eigener Leistungen in Bezug auf die derer Emotionen jeweils eine tragende Rolle zukommt (für
Leistungen anderer vorgenommen wird, was zu sozialen Leis- einen Überblick siehe Elias 2006):
tungsemotionen wie Stolz oder Neid führen kann. Typischer- 4 Wissen über sich selbst besitzen: seine Emotionen
weise entstehen soziale Emotionen jedoch eher unabhängig erkennen und benennen können
von Leistung, können dann aber in schulischen Kontexten 4 Verantwortungsbewusste Entscheidungen treffen
natürlich trotzdem großen Einfluss auf Lernen und Lehren können: seine Emotionen regulieren können
nehmen. Da der Kontext Schule auf Seiten der Schülerinnen 4 Fürsorge für Mitmenschen an den Tag legen: die
und Schüler einen zentralen Rahmen darstellt, innerhalb des- Emotionen anderer wahrnehmen und interpretieren
sen nicht nur Wissen erworben wird, sondern generell soziale können
Identitäten herausgebildet werden, ist es wichtig, relativ un- 4 Handeln können: Emotionen adäquat ausdrücken
abhängig vom Unterrichtsziel der Wissensvermittlung auch können
soziale Ziele in den Fokus zu nehmen (für eine Rahmentheo-
rie siehe Mackie, Smith & Ray 2008).

10 Im Fokus: Sozial-emotionales Lernen 10.5.5 Themenfeld 5: Schulunabhängige


Emotionen
Der Kontext Schule stellt eines der zentralen gesellschaft-
lichen Felder dar, innerhalb dessen nicht nur Wissen
Bei der letzten Art von in der Schule vorzufindenden Emo-
erworben wird, sondern auch soziale Identitäten heraus-
tionen handelt es sich um Emotionen, die an sich nichts
gebildet werden, verbunden mit dem Erleben sich daraus
mit der Schule selbst zu tun haben, weil sie ihren Ursprung
ergebender sozialer Emotionen. Eine interessante Frage ist
in außerschulischen Quellen haben. Beispielsweise können
nun, inwiefern neben der reinen Wissensvermittlung auch
die von familiären Problemen oder außerschulischen Kon-
die Herausbildung sozial kompetenter Persönlichkeiten
takten ausgelösten Emotionen in die Schule hineingetragen
(„Bildung“) zum Bildungsauftrag der Schule gehören oder
werden (zum Beispiel Trauer über den Verlust einer nahe-
nicht. Im ersten Fall wären Emotionen Nebenprodukte,
stehenden Person in der Familie durch Scheidung oder Tod,
denen nur insofern Beachtung geschenkt werden müsste,
Ängste wegen häuslicher Gewaltanwendung). Dies ist ins-
als sie für das eigentliche Ziel der Wissensvermittlung
besondere dann der Fall, wenn diese so stark sind, dass sie
förderlich sind oder nicht. Im zweiten Fall wäre es dagegen
trotz des Kontextwechsels aufrechterhalten bleiben. Obwohl
über die Wissensvermittlung hinaus eine zentrale Aufgabe
die Ursache außerhalb der Schule liegt, können solche Emo-
der Schule, Kinder und Jugendliche in der Herausbildung
tionen deutliche Wirkung auf Lernen und Leistung entfalten.
günstiger Emotionen zu unterstützen.Relativ eindeutig wird
Typischerweise handelt es sich dabei um beeinträchtigende
hier beispielsweise in der Verfassung des Freistaats Bayerns
Wirkungen, die darauf beruhen, dass solche Emotionen die
Position bezogen. Dort heißt es im Artikel 131, in dem die
Aufmerksamkeit von den eigentlichen schulrelevanten The-
obersten Bildungsziele definiert sind (Artikel 131 Abs. 1 BV):
men ablenken (Ellis & Ashbrook 1988).
„Die Schulen sollen nicht nur Wissen und Können vermitteln,
sondern auch Herz und Charakter bilden.“ Eine ähnliche
Sichtweise findet sich nicht nur in Bayern, sondern weltweit
(Elias 2006), was nicht weiter verwunderlich ist, wenn man 10.5.6 Themenfeld 6: Emotionen von
davon ausgeht, dass die Schule Kinder auf das Ausfüllen Lehrkräften
verschiedener sozialer Rollen im Erwachsenenalter vorbe-
reiten soll. Wenn man diese Sichtweise teilt, ergeben sich Der Fokus bei allen Themenfeldern zu „Emotionen in der
zwei Fragen. Die eine Frage ist, was das allgemeine Ziel einer Schule“ liegt traditionell auf den Lernenden. Aber natürlich
sozial-emotionalen Bildung sein soll. Eine Antwort darauf treten in allen Themenfeldern Emotionen auch auf Seiten der
liefern Studien zur sozialen Kompetenz. Interessanterweise Lehrkräfte auf. So ist die Schule auch ein Leistungskontext für
gilt danach jemand als sozial kompetent, der zwei eigentlich Lehrkräfte: Auch ihr Verhalten wird bewertet, sei es formal
konträre soziale Fähigkeiten in sich vereinen kann: eine durch Vorgesetzte, oder auch von Schülerinnen und Schülern
hohe Durchsetzungsfähigkeit gepaart und Eltern, und mittelbar anhand der Erfolge der Lernen-
den. Insofern erleben auch Lehrkräfte Bewertungsemotionen
10.6  Emotionale Einflüsse auf Lernen und Wissenserwerb
199 10
wie Hoffnung, Angst, Stolz oder Scham angesichts der Erfol- gen umgehen, indem man einen funktionalen Blickwinkel
ge und Misserfolge in ihrem Lehrerhandeln. Genauso erleben einnimmt („Welche Emotionen sind für das Ziel des Wissens-
auch Lehrkräfte in der Auseinandersetzung mit den Themen erwerbs gut oder schlecht?“). Der untenstehende Kasten geht
ihres Faches sowohl themenbezogene als auch epistemische kurz auf die erste Frage ein. Die zweite Frage stellt das zentrale
Emotionen: So kann sich zum Beispiel eine überraschende Thema im nächsten Abschnitt dar.
Einsicht zur Sinnhaftigkeit einer bestimmten Aufgabe erge-
ben, wenn ein Schüler dabei unerwartete Fehler macht. Und
auch soziale Emotionen spielen für Lehrkräfte eine wichtige
Mythos: Positive Emotionen D gut und negative
Rolle. Hier ist interessant, dass das Erleben sozialer Emotio-
Emotionen D schlecht
nen, wie beispielsweise die bei der Arbeit mit Kindern erlebte
Eine recht naheliegende Alltagsintuition besteht in der
Freude, als das zentrale Motiv für die Entscheidung zum Leh-
Annahme, dass positiver Emotionen gut und negative
rerberuf genannt wird (Rothland 2014). Dies ist nicht weiter
Emotionen schlecht sind. Angesichts der Tatsache,
verwunderlich, da die Aufgabe, andere Menschen in ihrer
dass sich positive Emotionen angenehm und negative
Entwicklung voranzubringen, eine intensive Quelle positiver
Emotionen unangenehm anfühlen, erscheint das auch
Emotionen sein kann (Spilt, Koomen & Thijs 2011). Aller-
relativ naheliegend, und in der Tat findet sich diese
dings ist damit auch ein gewisses Risiko verbunden. Denn
Alltagsintuition auch in der „Glücksforschung“ wieder. So
intensive positive soziale Emotionen – und damit eine wirk-
wird „Glück“ von vielen Vertretern dort als „subjektives
liche Erfüllung des mit der Berufswahl verbundenen Motivs
Wohlbefinden“ konzeptualisiert, das aus einer kognitiven
– können nur dann erlebt werden, wenn man eine gewisse
und einer emotionalen Komponente besteht (Diener
Nähe zu den Schülerinnen und Schülern empfindet. Das Ri-
1984). Während erstere das Urteil über die Zufriedenheit
siko besteht nun darin, dass im Falle einer nicht gelungenen
mit dem eigenen Leben umschreibt, gilt man bei zweiterer
Entwicklungsförderung auch intensivere negative Emotionen
als umso „glücklicher“, je mehr positive und je weniger
erlebt werden, was insbesondere dann gravierende Folgen
negative Emotionen man aktuell erlebt.
haben kann, wenn persönliche Leitmotive zu einseitig die po-
Angesichts solcher Glücksdefinitionen könnte man
tentiellen positiven sozialen Emotionen betonen (Rothland
nun auf die Idee kommen, dass negative Emotionen dem
2014). Schließlich erleben natürlich auch Lehrkräfte schul-
„Glück“ abträglich sind. Hier gilt es allerdings, sich einen
unabhängige Emotionen. Diese können ihre Aufmerksamkeit
zentralen Aspekt klar zu machen: Die aktuell erlebten
beeinträchtigen, sodass es ihnen beispielswiese während des
Emotionen einer Person beziehen sich immer auf den
Unterrichts weniger gut gelingt, auf einzelne Personen einzu-
gegenwärtigen Stand ihrer Persönlichkeitsentwicklung.
gehen, oder sich zu Hause auf den Unterricht am nächsten
Macht man „Glück“ nun nicht am aktuell empfundenen
Tag vorzubereiten (zu einem Rahmenmodell zu Ursachen
„subjektiven Wohlbefinden“ fest, sondern daran, ob eine
und Wirkungen von Lehreremotionen siehe Frenzel & Ste-
Person einen bestimmten Stand des Persönlichkeitswachs-
phens 2017).
tums erreicht hat (für ein solches Modell siehe z. B. Ryff
& Singer 2008), ergibt sich ein ganz anderer Blickwinkel:
Negative Emotionen mögen sich zwar unangenehm
10.6 Emotionale Einflüsse auf Lernen und anfühlen, aber sie können eine treibende Kraft für die
Wissenserwerb Weiterentwicklung der Persönlichkeit sein, weil sie sig-
nalisieren, dass offenbar wichtige Lebensaspekte noch
nicht zufriedenstellend von der aktuell ausgebildeten
Wie im vorherigen Abschnitt klar wurde, treten im Kon-
Persönlichkeit abgedeckt werden. Aus der Perspektive
text der Schule vielfältige Emotionen auf. Die Frage ist nun,
eines so verstandenen „Glücks“ sind negative Emotionen
wie sich diese Emotionen eigentlich auf Lernen und Lehren
nicht notwendigerweise dem „Glück“ abträglich. Vielmehr
auswirken. Um diese Frage beantworten zu können, muss
können sie auch ein genuiner Begleiter auf dem Weg zum
man zunächst klären, welches Ziel eigentlich beim Lernen
„wahren Glück“ sein, sodass man negative Emotionen auch
und Lehren verfolgt wird. Wie bereits dargestellt, zählt neben
manchmal aushalten können muss, um das in ihnen mög-
der Wissensvermittlung auch die Herausbildung sozial kom-
licherweise steckende Entwicklungspotential erkennen zu
petenter Persönlichkeiten zum Bildungsauftrag der Schule.
können.
Während im zweiten Fall Emotionen bzw. deren Regulati-
on selbst das Ziel sind, stellen im ersten Fall Emotionen
nur Einflussfaktoren dar, die das eigentliche Ziel des Wis-
senserwerb fördern oder beeinträchtigen können – Emotio- Im Folgenden soll nun genauer auf die Frage nach dem
nen sind dann praktisch nur der Weg und nicht das Ziel. Einfluss von Emotionen auf den Wissenserwerb eingegangen
Der zentrale Unterschied zwischen den beiden Bereichen werden. Unter Wissenserwerb soll in diesem Abschnitt der
ist normativer Natur. Während im Bereich der Förderung durch äußere Reizereignisse (z. B. dieses Lehrbuch) angereg-
der Persönlichkeitsentwicklung normative Fragen beantwor- te Prozess des Aufbaus und der fortlaufenden Modifikation
tet werden müssen („Welche Emotionen sind an sich gut von mentalen Repräsentationen verstanden werden, welche
oder schlecht?“), kann man beim Wissenserwerb solche Fra- im Zusammenspiel mit Denkprozessen zur Bewältigung von
200 Kapitel 10  Emotionen

Aufgaben befähigen (z. B. Gruber & Stamouli 2015; für ei- unabhängig von der aktuellen Reizsituation mental ausma-
ne illustrative Darstellung siehe Kuhbandner & Müller 2016). len zu können. Der kritische Punkt ist, dass umso weniger
Zudem wird davon ausgegangen, dass für erfolgreichen Wis- Ressourcen für die Verarbeitung des Reizereignisses zur Ver-
senserwerb zunächst zwei wichtige Vorbedingungen erfüllt fügung stehen, je mehr deren Konsequenzen innerlich ausge-
sein müssen, nämlich Motivation und verfügbare Ressour- malt werden. Dies wird wiederum umso intensiver gemacht,
cen, und dass, sobald diese erfüllt sind, vier weitere Ver- je emotional relevanter die Konsequenzen eingeschätzt wer-
arbeitungsstufen erfolgreich durchschritten werden müssen: den (Ellis & Ashbrook 1988). Sind nun die beim Ausmalen
Wahrnehmung, Auslösung automatischer Verhaltenstenden- aktivierten Gedankeninhalte irrelevant für die aktuelle Si-
zen, Aktivierung und Modifikation von Wissen, und schließ- tuation, wird diese zunehmend schlechter verarbeitet. Ein
lich Umsetzung von Verhaltensintentionen. Will man also Beispiel ist das Auftreten von Lern- und Leistungsschwierig-
den Einfluss von Emotionen auf den Erwerb von Wissen ver- keiten bei Prüfungsangst. Prüfungsangst wird erlebt, wenn
stehen, muss man zunächst jeweils jede dieser Vorbedingun- das potentielle Scheitern bei einer Prüfung als schlimm und
gen und Stufen darauf abklopfen, wie sie durch Emotionen kaum beeinflussbar eingeschätzt wird. Die Gefahr ist, dass da-
beeinflusst werden. In einem zweiten Schritt müssen die ein- durch irrelevante Gedanken aktiviert werden, die sich um die
zelnen emotionsbedingten Einflüsse auf die verschiedenen potentiellen schlimmen Konsequenzen drehen („Was mache
Facetten des Wissenserwerbs in ihrem jeweiligen Zusam- ich nur, wenn ich durchfalle?“). Beim Lernen kann dadurch
menspiel betrachtet werden, um deren Gesamteffekt je nach die Verarbeitung des Lernstoffs und damit der Wissenserwerb
Situation und Aufgabe abzuschätzen. gestört werden, bei der Prüfung der Abruf des eigentlich vor-
handenen Wissens (für einen Überblick siehe Zeidner 2014).

1 Verarbeitungsstufe 1: Sensorisches Gedächtnis und


10.6.1 Emotionseinflüsse auf den
Kurzzeitgedächtnis
verschiedenen Stufen des
10 Bei dieser Stufe handelt es sich um den ersten wirklichen
Wissenserwerbs Verarbeitungsschritt. Dabei werden die von einem Ereig-
nis aufgezeichneten sensorischen Rohdaten zunächst kurz in
1 Vorbedingung 1: Motivation zum Lernen sensorischen Gedächtnisspeichern festgehalten. Da aufgrund
Eine erste allgemeine Voraussetzung dafür, dass Lernen und der Ressourcenbeschränkung des kognitiven Systems nur ein
Wissenserwerb überhaupt stattfinden, ist die Motivation, sich Bruchteil davon genauer analysiert werden kann, müssen
mit den Lerninhalten auseinanderzusetzen. Da das Erleben anschließend aus der Vielzahl an Rohdaten einige wenige
einer Emotion mit motivationalen Veränderungen einher- zur Weiterverarbeitung ausgewählt und im Kurzzeitgedächt-
geht, findet sich hier ein erster emotionaler Einfluss. So ist in nis gespeichert werden. Die zentrale Frage auf dieser frühen
positiver Stimmung das motivationale Annäherungssystem Verarbeitungsstufe ist, wie die zur Verfügung stehenden Res-
aktiv und in negativer Stimmung das Vermeidungssystem. sourcen verwendet werden. Es gibt hier zwei gegenläufige
Auswirkungen auf das Lernen können sich hier beispielswei- Tendenzen. Zum einen kann die Anzahl der weiterverarbei-
se darin zeigen, dass positiv gestimmte Personen länger an teten Reize erhöht werden, zum anderen kann die Genauig-
Aufgaben arbeiten (Hirt, Melton, McDonald & Harackiewicz keit erhöht werden, mit der diese verarbeitet werden. Beide
1996). Allerdings muss eine Aktivierung des Vermeidungs- Stellschrauben sind aufgrund der Ressourcenbeschränkung
systems – wie es beispielsweise bei Prüfungsangst der Fall ist des kognitiven Systems wechselseitig voneinander abhängig,
– nicht heißen, dass weniger gelernt wird. Die Begriffe „An- denn die Anzahl kann nur erhöht werden, wenn gleichzeitig
näherung“ und „Vermeidung“ beziehen sich hier nicht da- bei der Genauigkeit Abstriche gemacht werden (bzw. umge-
rauf, inwiefern spezifische Verhaltensweisen ausgeführt wer- kehrt). Wie Studien zeigen, beeinflussen Emotionen die Ein-
den oder nicht, sondern darauf, ob mit einem Verhalten ein stellung dieser Stellschrauben. In positiver Stimmung erhöht
gewünschtes Ergebnis erreicht bzw. ein unerwünschtes Er- sich die Anzahl der weiterverarbeiteten Reize zu Ungunsten
gebnis verhindert wird. Da man das drohende Ergebnis des der Genauigkeit, in negativer Stimmung die Genauigkeit zu
Nichtbestehens einer Prüfung auch durch verstärktes Ler- Ungunsten der Anzahl (Spachtholz, Kuhbandner & Pekrun
nen verhindern kann, kann Prüfungsangst also sogar mit 2014).
verstärktem Lernen einhergehen (Struthers, Perry & Menec
2000). Allerdings betrifft dieser Effekt nur die Quantität und1 Verarbeitungsstufe 2: Auslösung automatischer
nicht die Qualität des Lernens, denn letztere ist bei Prüfungs- Verhaltenstendenzen
angst typischerweise verringert (siehe folgende Stufen). Auf der nächsten Verarbeitungsstufe verzweigt sich die Ver-
arbeitung in zwei Wege. Über den einen Weg werden die mit
1 Vorbedingung 2: Verfügbare Ressourcen für das Lernen den ausgewählten Reizen bisher verknüpften Verhaltensten-
Die nächste Voraussetzung betrifft die Frage, wie viele Res- denzen automatisch aktiviert (automatischer Verarbeitungs-
sourcen im kognitiven System aktuell überhaupt zur Verar- weg), über den anderen Weg werden die Reize unter Einbe-
beitung von äußeren Reizereignissen (wie z. B. diesem Lehr- zug des bestehenden Wissens und rationaler Ziele genauer
buch) zur Verfügung stehen. Wie beschrieben besitzen Men- analysiert und bewertet (reflexiver Verarbeitungsweg; siehe
schen die Fähigkeit, sich die Konsequenzen von Ereignissen Verarbeitungsstufen 3 und 4). Hier beeinflussen Emotionen,
10.6  Emotionale Einflüsse auf Lernen und Wissenserwerb
201 10
welcher der beiden Wege bevorzugt genutzt wird. Positive schirmt werden (Abschirmung im Moment), zum anderen
Stimmung signalisiert, dass kein Problem existiert, und die darf diese Abschirmung über die Zeit hinweg nicht zu stark
Situation mit bereits vorhandenen Verhaltensweisen gut ge- aufrechterhalten werden, um flexibel zu bleiben und rigides
löst werden kann, sodass verstärkt automatisch statt reflexiv Verhalten zu vermeiden (Abschirmung über die Zeit). Auch
verarbeitet wird. Negative Stimmung signalisiert dagegen, hier spielen Emotionen eine wichtige Rolle. Bezüglich der Ab-
dass ein Problem existiert, das man mit bereits existierenden schirmung im Moment ist es so, dass sowohl in positiver wie
Verhaltensweisen offenbar nicht lösen kann, sodass verstärkt in negativer Stimmung mit steigendem Erregungsgrad ablen-
reflexiv statt automatisch verarbeitet wird (Schwarz 1990). kende Reize weniger gut ausgeblendet werden können. Über
die Zeit hinweg kann die Abschirmung umso länger aufrecht-
1 Verarbeitungsstufe 3: Aktivierung und Modifikation erhalten werden, je negativer die Stimmung ist, unabhängig
von Wissen vom Erregungsgrad (Kuhbandner & Zehetleitner 2011).
Um ein Ereignis genauer zu analysieren, werden auf der
nächsten Stufe die bisher wahrnehmungsnah repräsentierten
Reize sprachlich rekodiert und in Bezug auf bereits bestehen-
des Wissen interpretiert. Je nach Passung zur wahrgenom- 10.6.2 Das Zusammenspiel der
menen Reizsituation wird dieses dabei im Zusammenspiel Emotionseinflüsse
mit Denkprozessen modifiziert. Wieder gibt es zwei gegen-
läufige Tendenzen: Man kann entweder bevorzugt das bereits Will man nun die Auswirkungen von Emotionen in einer
bestehende Wissen aktivieren und die aktuellen Reizinforma- bestimmten Lern- oder Leistungssituation bestimmen, be-
tionen diesbezüglich interpretieren (wissensgetriebene Ver- steht der nächste Schritt darin, die für jeweilige Situation
arbeitung), oder man kann vom bereits bestehenden Wissen spezifischen Emotionseffekte auf den einzelnen Stufen des
absehen und die aktuellen Reizinformationen neu abspei- Wissenserwerbs im Zusammenspiel zu betrachten. Zunächst
chern (reizgetriebene Verarbeitung). Auch hier beeinflussen wird schnell klar, dass es hier keine allgemeinen einfachen
Emotionen die Grundeinstellung des kognitiven Systems. In Regeln wie „positiv = gut“ und „negativ D schlecht“ gibt,
positiver Stimmung wird eher wissensgetrieben verarbeitet, da je nach Charakteristik der Aufgabe und Eigenschaften
in negativer Stimmung eher reizgetrieben (Fiedler 2001). Derder Person positive oder negative Emotionen förderlich sein
Grund ist wieder der, dass positive Stimmung eine Passung können. Man kann sich das sehr gut am Beispiel der Aus-
und negative Stimmung eine Fehlpassung des bereits beste- wirkungen von Prüfungsangst klar machen. Zunächst würde
henden Wissens signalisiert. Allerdings ist es nicht so, dass
man vermutlich annehmen, dass Prüfungsangst den Wis-
in positiver Stimmung auf dieser Stufe wenig neues Wissen senserwerb beeinträchtigt. Ein genauerer Blick offenbart aber
erzeugt wird. Vielmehr werden dann die frei werdenden Res- ein komplexes Wirkungsgefüge. Fängt man beispielsweise bei
sourcen genutzt, um das bisherige Wissen unabhängig von der Vorbedingung 1 (Motivation zum Lernen) an, könnte
den aktuellen Anforderungen kreativ zu erweitern (Fredrick- man zunächst sogar annehmen, dass der Wissenserwerb eher
son 2013). Sowohl in negativer wie in positiver Stimmung steigt, da die erhöhte Motivation, den drohenden Misser-
wird also die Herausbildung neuen Wissens gefördert. Der folg zu vermeiden, zu einer erhöhten Auseinandersetzung
Unterschied besteht allerdings darin, dass die Wissenserwei-mit dem Lernmaterial führt. Blickt man allerdings auf die
terung durch unterschiedliche Denkstile getrieben ist und Vorbedingung 2 (Verfügbare Ressourcen), steigt mit erhöh-
damit unterschiedlich ausfällt. Das Denken in negativer Stim-
ter Prüfungsangst die Gefahr irrelevanter Gedanken, was
mung ist auf die Lösung eines aktuell nicht gelösten Problems
den Wissenserwerb beeinträchtigt. Ein ähnlich widersprüch-
ausgerichtet und damit eher zielfokussiert, logisch und linear
liches Bild findet sich auf den späteren Stufen. So werden auf
(konvergentes Denken), das Denken in positiver Stimmung der Verarbeitungsstufe 1 (Wahrnehmung) bei Prüfungsangst
ist dagegen nicht auf ein spezifisches Problem ausgerichtet Lerninhalte zwar genauer verarbeitet, was Fehlern vorbeugt.
und damit eher offen, unsystematisch und spielerisch (diver- Allerdings wird dann auf einige wenige Details fokussiert,
gentes Denken). was später das Ableiten von Zusammenhängen erschwert.
Auf der Verarbeitungsstufe 3 (Aktivierung und Modifikation
1 Verarbeitungsstufe 4: Umsetzung von von Wissen) werden bei Prüfungsangst neue Informationen
Verhaltensintentionen schneller zu Ungunsten bereits existierenden Wissens abge-
Aufbauend auf der mittels Wissen und Denkprozessen ge- speichert. Während das bei geringem Vorwissen von Vorteil
nauer analysierten Reizsituation und der verfolgten rationa- sein kann, ist das bei großem Vorwissen ein Nachteil, weil
len Ziele werden auf einer abschließenden Verarbeitungsstufe dadurch weniger tiefenorientiert verarbeitet wird. Wie dieses
bewusste Verhaltensintentionen entwickelt und mittels pla- Beispiel zeigt, existieren allgemeine Gesetzmäßigkeiten nur
nerischer und kontrollierender Prozesse umgesetzt. Ein schu- auf der Ebene der lokalen Effekte auf den einzelnen Verarbei-
lisches Beispiel ist das selbstregulatorische Anwenden von tungsstufen. Wie Emotionseinflüsse in ihrem Gesamteffekt
Lernstrategien. Auch dabei gibt es wieder zwei gegenläufi- ausfallen, hängt fundamental von der jeweiligen Aufgabe und
ge Anforderungen, denen unser kognitives System möglichst den motivationalen und kognitiven Voraussetzungen der in-
optimal gerecht werden muss. Zum einen muss die Verhal- dividuellen Person ab. Und genau diese Aspekte gilt es für
tensintention gegenüber aktuell ablenkenden Reizen abge- jeden Einzelfall zu analysieren, wenn man wirklich Vorher-
202 Kapitel 10  Emotionen

sagen über die Wirkung von Emotionen in Lern- und Leis- tungen erzielt hat, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er in
tungssituationen machen möchte. einer bevorstehenden Prüfungen wieder eine gute Leistung
erzielen wird. Gleichzeitig steigt aufgrund seiner bisherigen
Studie: Prüfungsangst und Leistung – oder: Die Fallstricke Prüfungserfahrungen seine Fähigkeitsüberzeugung, was wie-
der empirischen Forschung derum seine Angst vor Prüfungen reduziert – und damit ergibt
Die Wirkung von Prüfungsangst auf Leistung ist unzählige Male sich ein negativer Zusammenhang zwischen der im Vorfeld ge-
empirisch untersucht worden. Allerdings birgt die Komplexität messenen generellen Angst und der in der Prüfung erzielten
der Zusammenhänge zwischen Angst und Leistung dabei vie- Leistung. Allerdings gilt es noch ein Rätsel zu lösen: Damit kann
le Fallstricke. Ein Beispiel hierfür ist eine Studie von Sung, Chao zwar der negative Zusammenhang bei leistungsfähigeren Per-
& Tseng (2016), in der anhand einer Stichprobe von fast 2000 sonen erklärt werden, aber offenbar nicht der bei weniger leis-
taiwanesischen Neuntklässlern der Zusammenhang zwischen tungsfähigen Personen beobachtete positive Zusammenhang
dem Ergebnis in einem landesweiten Leistungstest und der – denn dann müsste man ja annehmen, dass mit niedrigerer
zuvor in einem Fragebogen berichteten Prüfungsangst unter- Fähigkeitsüberzeugung die Angst vor Prüfungen abnimmt. In-
sucht wurde. Es zeigte sich ein überraschender Befund: Eine er- teressanterweise ist aber genau das zu erwarten, wenn man be-
höhte Prüfungsangst ging offenbar nicht generell mit schlech- denkt, dass wie beschrieben (7 Abschn. 10.3.3) die Angst nicht
teren Testleistungen einher, sondern der Zusammenhang zwi- nur vom Wert einer Konsequenz abhängt, sondern auch von
schen Angst und Leistung schien von der Leistungsfähigkeit deren Kontrollierbarkeit: Angst tritt dann auf, wenn hinsicht-
abzuhängen: Bei leistungsfähigeren Personen (obere 50 % im lich möglicher negativer Konsequenzen ein mittleres Ausmaß
Leistungstest) ging eine höhere Prüfungsangst mit schlechte- an Kontrollierbarkeit erlebt wird, bei hoher Kontrollierbarkeit
rer Leistung einher (negative Korrelation von r D :16), bei wird stattdessen Erleichterung erlebt, bei geringer Kontrollier-
weniger leistungsfähigen Personen (untere 50 % im Leistungs- barkeit Hoffnungslosigkeit.
test) dagegen mit besserer Leistung (positive Korrelation von Als Folge ergibt sich exakt das von Sung et al. beobachte-
10 r D :22). te Muster: Bei mittlerer Leistungsfähigkeit sollte die Angst am
Wie kann das eigentlich sein? Und bedeutet das, dass bei größten sein (mittlere Fähigkeitsüberzeugung und damit mitt-
schwächeren Lernern Angst die Leistung steigern könnte? Kei- leres Kontrollempfinden), und von dieser Mitte aus betrachtet
neswegs! Es handelt sich hier um korrelative Zusammenhänge, sollte sowohl mit zunehmender als auch mit abnehmender
aus denen keine Schlüsse über Kausalitäten gezogen werden Leistungsfähigkeit die Angst sinken, sodass bei den oberen
können – denn offen bleibt hier, ob der beobachtete negative 50 % ein negativer und bei den unteren 50 % ein positiver Zu-
Zusammenhang wirklich eine Wirkung von Angst auf Leistung sammenhang zwischen Angst und Leistung auftreten sollte.
widerspiegelt oder stattdessen vielmehr eine Wirkung von Leis- Damit wäre aus dem Befund eines positiven Zusammenhangs
tung auf Angst. zwischen Angst und Leistung bei leistungsschwächeren Perso-
Natürlich erscheint es zunächst naheliegend, die Angst als nen etwas ganz anderes zu schließen als eingangs vermutet:
Ursache zu betrachten, da sie ja auch vor der Prüfung erhoben Anstatt Ängste zu schüren sollte man bei Leistungsschwäche-
wurde. Ein genauerer Blick darauf, was eigentlich genau gemes- ren versuchen, deren Fähigkeitsüberzeugungen zu verbessern.
sen wurde, legt allerdings etwas anderes nahe. In der Studie Dies würde vermutlich zwar die Angst erhöhen, aber dafür wür-
wurde nicht die tatsächliche Angst direkt vor der Prüfung er- de sich das noch schlimmere Gefühl der Hoffnungslosigkeit
fasst, sondern die generelle Prüfungsangst mehrere Monate verringern, und die Leistungsentwicklung würde positiv beein-
vor der Prüfung. Interessanterweise zeigen nun andere Studien, flusst (z. B. Arens et al. 2017).
dass die im Vorfeld berichtete generelle Prüfungsangst nicht Schließlich spiegelt die Studie von Sung et al. noch einen
mit der tatsächlich in einer Prüfung empfundenen Angst über- weiteren Punkt wider: Wie in vergleichbaren Studien auch, sind
einstimmen muss. So waren in einer Studie von Goetz, Bieg, die beobachteten Zusammenhänge zwischen Angst und Leis-
Lüdtke, Pekrun und Hall (2013) zu Geschlechtsunterschieden tung sehr klein. So bewegen sich laut Metaanalysen die Zu-
bei Prüfungsängsten zwar deutliche Unterschiede zu Unguns- sammenhänge typischerweise im Bereich von negativen Kor-
ten von Mädchen in der generellen Mathematik-Prüfungsangst relationen von etwa r D :20 (Hembree 1988; Seipp 1991),
zu beobachten, nicht aber in der tatsächlich in einer Mathema- was so zu interpretieren ist, dass gerade einmal 4 % der beob-
tikprüfung empfunden Angst. Die Frage ist nun, was hinter der achteten Leistungsunterschiede durch Prüfungsangst erklärt
in einem Fragebogen berichteten generellen Prüfungsangst ei- werden können. Allerdings sollte man daraus nicht schließen,
gentlich steckt. Auch hierauf gibt die Studie von Goetz et al. dass der Effekt von Prüfungsangst vernachlässigbar ist. Sol-
eine Antwort: Mädchen waren gegenüber Jungen weniger che Studien spiegeln die durchschnittlichen Angsteffekte über
überzeugt von ihren mathematischen Fähigkeiten, und dieser viele Personen und Situationen hinweg wider. Da sich dabei
Unterschied war wiederum für die Unterschiede in der ge- die vielschichtigen Wirkungen der Angst zum Teil gegenseitig
nerellen Mathematik-Prüfungsangst mitverantwortlich. Bei der aufheben, können prinzipiell nur schwache Zusammenhänge
generellen Prüfungsangst scheinen demnach subjektive Über- gefunden werden. Hier ist es wichtig sich bewusst zu machen,
zeugungen hinsichtlich der eigenen Fähigkeiten eine wichtige dass sich aus dem mittleren Effekt über viele Personen und
Rolle zu spielen. Situationen hinweg keine Vorhersagen für den Einzelfall ab-
Hieraus ergibt sich eine Möglichkeit, wie Leistung die Angst leiten lassen. Denn wenn bei einem spezifischen Individuum
beeinflussen kann: Wenn ein Schüler bisher meist bessere Leis- in einer spezifischen Situation alle negativen Wirkungen der
10.6  Emotionale Einflüsse auf Lernen und Wissenserwerb
203 10
Angst zusammenkommen, können die Effekte auf die Leistung Lernmaterialien selten Inhalte enthalten, die den dafür not-
trotzdem dramatisch sein (siehe z. B. das Eingangsbeispiel des wendigen hohen emotionalen Intensitätsgrad erreichen.
Schülers 7 Abschn. 10.1). Gravierender sind die Auswirkungen für die Lehrkraft.
Da negative Verhaltensweisen stärker die Aufmerksamkeit
Abschließend gilt es, sich noch einen wichtigen Aspekt auf sich ziehen und stärker Ressourcen binden als positi-
klar zu machen. Wenn man es genau betrachtet, ist die Fra- ve Verhaltensweisen, besteht die Gefahr, dass auf der Ebene
ge danach, ob positive oder negative Emotionen besser für individueller Schülerinnen oder Schüler Schwächen stärker
das Lernen und den Wissenserwerb sind, eigentlich generell wahrgenommen werden als Stärken. Auf der Ebene der Klas-
falsch gestellt. Die beschriebenen Dynamiken auf den einzel- se wiederum besteht die Gefahr, dass sich negativ verhaltende
nen Verarbeitungsstufen spiegeln letztendlich nichts anderes Schülerinnen oder Schüler stärker auffallen als sich positiv
wider als das Spiel zweier gegenläufiger Tendenzen: Der Ten- verhaltende. Dies kann vor allem dann problematisch wer-
denz, bisher existierendes Wissen über die Welt aufrecht zu den, wenn bei bestimmten Schülerinnen oder Schülern ein
erhalten, und der Tendenz, dieses Wissen an neue Erfah- hohes Bedürfnis danach besteht, die Aufmerksamkeit an-
rungen anzupassen. Da beide Aspekte für einen sinnvollen derer auf sich zu ziehen, denn für diese ist dann negatives
Wissenserwerb wichtig sind, stellt sich die Frage eigentlich Verhalten besonders belohnend.
gar nicht, ob dafür positive oder negative Emotionen zielfüh- Fundamental verstärkt werden solche negativen Dynami-
render sind. Vielmehr sollten beide Emotionen – und damit ken auf Klassenebene noch durch einen weiteren Unterschied
die jeweils damit assoziierten Verarbeitungstendenzen – bei zwischen negativen und positiven Ereignissen: Typischerwei-
einer Person in einem sinnvollen dynamischen Zusammen- se kostet es weitaus weniger Aufwand ein negatives Ereignis
spiel stehen. herbeizuführen als ein positives. Während für das Herbei-
führen eines positiven Ereignisses meist gleichzeitig viele
Bedingungen erfüllt werden müssen, reicht es für das Her-
beiführen eines negativen Ereignisses oft aus, eine einzige
10.6.3 Die Anwesenheit Bedingung nicht zu erfüllen (z. B. Alves, Koch & Unkelbach
emotionsauslösender Reize 2016). So sind für ein positives Ereignis wie beispielsweise ei-
ne gute Mitarbeit am Unterricht zahlreiche Vorbedingungen
Vielleicht ist aufgefallen, dass in den letzten Abschnitten viel zu erfüllen: Der Schüler muss unter anderem ein Interesse
von positiver versus negativer Stimmung gesprochen wur- am Lernstoff mitbringen, er muss sich diesen bisher gut an-
de. Wie eingangs definiert, steht der Begriff „Stimmung“ für geeignet haben, er muss in der Stunde konzentriert sein und
einen länger anhaltenden Emotionszustand, der sich vom er muss ein hohes Selbstkonzept ausgebildet haben. Für ein
ursprünglich emotionsauslösenden Ereignis entkoppelt hat. negatives Ereignis wie beispielsweise eine Störung des Un-
Die oben beschriebenen Mechanismen treffen demnach nur terrichts sind dagegen praktisch keine Vorbedingungen zu
auf Situationen zu, in denen kein emotionsauslösender Reiz erfüllen, denn hier kann aus einer Vielzahl von negativen
anwesend ist. Ist dies dagegen der Fall, können die Auswir- Verhaltensweisen gewählt werden, die alle ohne großen Vor-
kungen auf die Informationsverarbeitung komplett anders aufwand einfach ausgeführt werden können.
ausfallen. So werden wie beschrieben beispielsweise in nega- Zusammenfassend ergibt sich damit eine unangenehme
tiver Stimmung automatische Verhaltenstendenzen zu Guns- Dynamik: Geht es um das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit,
ten einer genaueren Reizanalyse unterdrückt. Eine solche so kann diese nicht nur stärker durch das Auslösen negativer
Systemeinstellung wäre allerdings fatal, wenn die Anwesen- Emotionen erreicht werden, sondern das Auslösen negativer
heit eines negativen Reizes wie beispielsweise einer Schlange Emotionen ist oft auch noch mit weitaus weniger Aufwand
ein schnelles Handeln erfordert. verbunden. Generell ist es hier wichtig, solche Dynamiken
Die Effekte der Anwesenheit emotionaler Reize auf die frühzeitig zu erkennen, und der Gefahr einer ins Negative
Informationsverarbeitung lassen sich treffend in einem viel- verzerrten Wahrnehmung entgegenzuwirken.
fach zitierten Satz zusammenfassen: „Bad is stronger than
good“ (Baumeister, Bratslavsky, Finkenauer & Vohs 2001).
Bei dem Satz handelt es sich um den Titel eines Überblicks- Zusammenfassung
artikels, der zahlreiche Studien zum Effekt emotionaler Reize In diesem Kapitel ging es darum zu verstehen, was Emo-
zusammenfasst und zeigt, dass emotional negative Reize auf tionen sind, warum und in welchen Situationen Emotio-
allen Verarbeitungsstufen mehr Ressourcen binden als posi- nen erlebt werden und welche Wirkungen diese entfalten.
tive Reize, wobei positive Reize wiederum mehr Ressourcen Emotionen stellen einen zentralen Mechanismus dar, mit-
binden als neutrale Reize. Hinsichtlich des schulischen Ler- tels dessen der menschliche Organismus sein Verhalten
nens sind solche Effekte insofern relevant, dass durch die An- steuert. Emotionen werden ausgelöst, wenn ein äußerli-
wesenheit eines irrelevanten emotionalen Reizes das Lernen ches oder innerliches Reizereignis hinsichtlich der Bedürf-
gestört werden kann (siehe Voraussetzung 2 7 Abschn. 10.6.1). nisse und Ziele des Organismus als bedeutsam bewertet
Hinsichtlich des Emotionsgehalts des Lernmaterials selbst wird, und sie manifestieren sich dann in einer synchroni-
spielen solche Effekte dagegen meist weniger eine Rolle, da
204 Kapitel 10  Emotionen

9. Laut Verfassung des Freistaats Bayerns gehört die


sierten Veränderung aller bedeutender Subsysteme des Herausbildung sozial kompetenter Persönlichkeiten
Organismus (Gefühl, Motivation, physiologische Regulati- zum Bildungsauftrag der Schule. Emotionen spielen
on, motorischer Ausdruck, Kognition). Im Laufe der Evolu- dabei eine tragende Rolle. Welche?
tion haben sich verschiedene Basisemotionen entwickelt, 10. Hinsichtlich der Einflüsse von Emotionen auf Lernen
deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie angeboren und Wissenserwerb lassen sich keine einfachen
sind und subkognitiv ausgelöst werden können. Im Lau- allgemeinen Gesetzmäßigkeiten nach dem Motto
fe der evolutionären Entwicklung hat sich das emotionale „positiv D gut und negativ D schlecht“ ableiten.
Geschehen weiter ausdifferenziert. Dabei sind neue Arten Warum ist das so, und kennen Sie ein Beispiel hierfür?
von Emotionen entstanden, die zum einen auf der Be- 11. Emotional positive und negative Ereignisse unter-
wertung von Konsequenzen hinsichtlich der Wünschbar- scheiden sich sowohl in ihren Wirkungen auf die
keit und Kontrollierbarkeit beruhen (Bewertungsemotio- Informationsverarbeitung als auch im Aufwand, der für
nen), zum anderen auf der Bewertung von Konsequenzen ihre Herbeiführung nötig ist. Welche unangenehmen
hinsichtlich selbstwertbezogener Standards (Selbstwert- Konsequenzen ergeben sich daraus für den Bereich der
bezogene Emotionen) beruhen. Ob jemand auf ein be- Schule?
stimmtes Ereignis mit einer bestimmten Emotion reagiert,
hängt aber von den individuellen emotionalen und kogni-
tiven Lernerfahrungen ab. Im Hinblick auf das emotionale
Geschehen in der Schule lassen sich sechs Themenfel- Literatur
der unterscheiden: Leistungsemotionen, Themenbezoge-
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ähnlich klingenden Begriffen „Emotion“, „Gefühl“ und Curtis, C., & Norgate, R. (2007). An evaluation of the Promoting Alternative
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Auslösung von Basisemotionen um einen angeborenen
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206 Kapitel 10  Emotionen

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10
207 11

Motivation
Robert Grassinger, Oliver Dickhäuser und Markus Dresel

11.1 Grundvorstellungen zur Motivation von Lernenden – 208


11.1.1 Was ist Motivation? – 208
11.1.2 Wie wirkt Motivation? – 209
11.1.3 Rahmenmodell der Lern- und Leistungsmotivation – 209

11.2 Die Erwartungskomponente im Fokus – 211


11.2.1 Erwartungskomponente der aktuellen Lern- und Leistungsmotivation – 211
11.2.2 Personale und kontextuelle Determinanten der
Erwartungskomponente – 212

11.3 Die Wertkomponente im Fokus – 213


11.3.1 Wertbezogene Aspekte der aktuellen Lern- und Leistungsmotivation – 214
11.3.2 Personale und kontextuelle Determinanten der Wertkomponenten – 216

11.4 Der Handlungsverlauf im Fokus – 218


11.4.1 Volition – 218
11.4.2 Personale und kontextuelle Determinanten von Volition – 219
11.4.3 Attributionale Prozesse – 219
11.4.4 Personale und kontextuelle Determinanten attributionaler Prozesse – 220

11.5 Förderung der Lern- und Leistungsmotivation – 221


11.5.1 Motivationsförderliche Unterrichtsgestaltung – 221
11.5.2 Trainings zur Förderung der Lern- und Leistungsmotivation – 222

Verständnisfragen – 225

Literatur – 225

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019


D. Urhahne, M. Dresel, F. Fischer (Hrsg.), Psychologie für den Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55754-9_11
208 Kapitel 11  Motivation

In diesem Kapitel lernen Sie Motivation als Bedingung des 1987; . Abb. 11.1). Darin wird menschliches Handeln als eine
Lern- und Leistungsverhaltens in Schule und Unterricht ken- zeitliche Abfolge von vier Phasen dargestellt, in denen Mo-
nen. Sie werden verstehen lernen, warum Schülerinnen und tivation unterschiedliche Funktionen (Handlung initiieren,
Schüler ihre Hausaufgaben machen, Extraaufgaben überneh- ausrichten, steuern, qualitätsvoll regulieren, aufrechterhalten,
men, im Unterricht intensiv mitarbeiten oder die Beschäfti- bewerten) aufweist.
gung mit einer Aufgabe vorzeitig beenden. Die Psychologie In der (1) prädezisionalen Phase bewerten Personen,
liefert auf solche Fragen vielfältige, spannende Antworten. a) wie bedeutsam für sie das Erreichen eines erwünsch-
ten bzw. das Vermeiden eines unerwünschten Zustandes ist
(Wertkomponente der Motivation), und b) inwieweit sie das
11.1 Grundvorstellungen zur Motivation von Gewünschte herbeiführen bzw. das Befürchtete vermeiden
Lernenden können (Erwartungskomponente der Motivation). Die Wert-
komponente der Motivation bezieht sich auf die Wünschbar-
In diesem Abschnitt werden verschiedene Funktionen der keit von zukünftigen Zuständen und die Erwartungskompo-
Motivation im Handlungsverlauf erklärt. Es werden verschie- nente der Motivation auf deren Realisierbarkeit. Handlungs-
dene Begriffe und Konzepte zur Beschreibung von Moti- ziele werden dann zur Umsetzung in die Tat ausgewählt,
vation eingeführt. Die Zusammenhänge der motivationalen wenn sie mit größerer Wahrscheinlichkeit stärker wünsch-
Komponenten werden in einem Rahmenmodell verdeutlicht. bare und realisierbare Folgen haben als andere Ziele. Diese
Entscheidung zur Umsetzung eines Wunsches in die Tat ver-
gleichen die Autoren des Rubikon-Modells der Handlungs-
phasen mit dem Überschreiten des gleichnamigen Flusses
11.1.1 Was ist Motivation?
durch Julius Cäsar, eine einschneidende Handlung, die nach
längerer Abwägung erfolgte und unumkehrbar in den Krieg
Menschen tun Dinge, weil sie etwas antreibt. Diesen Hand- mit Pompeius führte.
lungsantrieb bezeichnen wir als Motivation. Der Begriff leitet Ist eine Intention für ein Ziel gebildet, sind die psychi-
sich vom lateinischen Verb movere (zu bewegen) her und wird schen Prozesse nicht mehr auf das „Ob“, sondern auf das
11 wie folgt definiert (vgl. Dresel & Lämmle 2011; Schunk, Pin- „Wann“ und „Wie“ einer Handlung gerichtet. Die (2) präak-
trich & Meece 2008; Ziegler 1999): tionale Phase umfasst die Planung der Handlung, das Her-
beiführen oder Abwarten einer günstigen Gelegenheit zur
Motivation ist ein psychischer Prozess, der die Initiierung, Handlungsinitiierung und die Abschirmung von konkurrie-
Ausrichtung und Aufrechterhaltung, aber auch die renden Zielen. Das Zusammenspiel der individuellen Bedeut-
Steuerung, Qualität und Bewertung zielgerichteten samkeit des Ziels (manche Ziele sind für Personen wichtiger
Handelns beeinflusst. als andere) mit der situationalen Gelegenheit zur Realisie-
rung des Ziels (in manchen Situationen ist die Gelegenheit,
ein Ziel zu realisieren, günstiger als in anderen) entscheidet
Motivation ist ein theoretisches Konstrukt und kann nicht darüber, welches Ziel in der jeweiligen Situation verfolgt wird.
direkt beobachtet, sondern nur mithilfe von Indikatoren er- Dabei können mit einer Handlung auch unterschiedliche Zie-
schlossen werden. Wenn die Schülerin Michaela regelmäßig le verfolgt werden. Wenn sich der Schüler Stefan regelmäßig
rege im Unterricht mitarbeitet, um sich zu verbessern, so ist im Unterricht meldet, dann vielleicht deshalb, weil er seiner
dies ein Indikator für ihre hohe Motivation. Lehrkraft zeigen möchte, was er kann und weil er den Lern-
Motivation ist im gesamten Handlungsverlauf von Rele- stoff verstehen möchte.
vanz. Nicht nur Initiierung und Ausrichtung der Handlung, Während in der prädezisionalen und in der präaktio-
sondern auch Ausführung und Bewertung werden durch nalen Phase die Funktion der Motivation vor allem in der
motivationale Prozesse beschrieben, erklärt und vorherge- Initiierung und Ausrichtung einer Handlung zu sehen ist,
sagt. Der Handlungsverlauf lässt sich mit Hilfe des Rubikon- besteht diese in der (3) aktionalen Phase darin, die initiier-
Modells der Handlungsphasen beschreiben (Achtziger & te Handlung zu steuern, deren Qualität zu gestalten sowie
Gollwitzer 2010; Heckhausen 1987; Heckhausen & Gollwitzer aufrechtzuerhalten. Lernende tun dies beispielweise durch

. Abb. 11.1 Rubikon-Modell der Intentions- Intentions- Intentions- Intentions-


Handlungsphasen (nach Achtziger bildung initiierung realisierung deaktivierung
& Gollwitzer 2010, S. 311)
„Rubikon“

MOTIVATION VOLITION VOLITION MOTIVATION


prädezisional präaktional aktional postaktional

Abwägen Planen Handeln Bewerten


11.1  Grundvorstellungen zur Motivation von Lernenden
209 11
die Regulation ihrer Anstrengung und Ausdauer oder durch levante Gedanken (z. B. Sorgen) und schlechtere Schulleis-
die Abschirmung vor störenden Einflüssen. Zugleich kann tungen. Entsprechend werden Stärke und Art der Motivation
es in der aktionalen Phase dazu kommen, dass Handlun- in Lern- und Leistungssituationen neben kognitiven Lern-
gen zugunsten alternativer Handlungen unterbrochen oder voraussetzungen (z. B. Vorwissen, Intelligenz) als wesentliche
abgebrochen werden. Erhalten Schülerinnen und Schüler Determinanten der Qualität von Lernhandlungen und schu-
beispielsweise während den Hausaufgaben einen Anruf, so lischen Leistungen angesehen (Helmke & Schrader 2006).
unterbrechen manche ihre Hausaufgaben und nehmen den
Anruf an.
In der (4) postaktionalen Phase schließlich bewerten Ler-
11.1.3 Rahmenmodell der Lern- und
nende den Handlungsverlauf und das Handlungsergebnis.
Als Ergebnis dieser Bewertungen können zum einen Emo- Leistungsmotivation
tionen wie Zufriedenheit, Stolz, Enttäuschung, Scham oder
Ärger entstehen (Pekrun 2006). Zugleich hat diese Bewertung In den bisherigen Ausführungen wurde argumentiert, dass
Auswirkungen auf zukünftige Motivation und in Konsequenz Motivation sich auf den kompletten Handlungsverlauf be-
auf zukünftiges Handeln. Die Funktion der Motivation be- zieht, verschiedene Komponenten beinhaltet und die aktuelle
steht in dieser Phase primär in der Deaktivierung der Hand- Motivation aus einem Zusammenspiel personaler und situati-
lung, der Bildung von Vornahmen für nachfolgende Hand- ver Merkmale entsteht. Dresel und Lämmle (2011) haben ein
lungen sowie in der Bewertung des Handlungsverlaufs und Rahmenmodell der Motivation vorgeschlagen, das all diese
Handlungsergebnisses. Aspekte ordnet (. Abb. 11.2).
Die Motivation im Handlungsverlauf ist stets beeinflusst Block A im Zentrum veranschaulicht die Annahme, dass
von Merkmalen der Person und der Situation. Als Merkmale die aktuelle Motivation in einer bestimmten Lehr-Lern-
der Person werden vergleichsweise zeitlich stabile motivatio- Situation aus den Erwartungen zur Realisierbarkeit (Erwar-
nale Tendenzen und Überzeugungen angenommen, in denen tungskomponente; 7 Abschn. 11.2.1) und den Bewertungen
sich Lernende unterscheiden. So mag die Schülerin Monika zur Wünschbarkeit (Wertkomponente; 7 Abschn. 11.3.1) zu-
ein starkes Interesse an Mathematik haben und die Schülerin künftiger Zustände resultiert. Dies entspricht der Idee so-
Claudia durch Selbstdarstellungstendenzen motiviert sein, genannter Erwartungs-Wert-Modelle (Eccles 1983; Wigfield
anderen zu zeigen, was sie kann und weiß. Ein Merkmal der & Eccles 2000). Beide Komponenten bedürfen einer Min-
Situation ist beispielsweise ein konstruktives Fehlerklima, das destausprägung, damit Personen zu Handlungen motiviert
Lernende motiviert, Fehler primär als Lernchance und weni- sind. Ist für die Schülerin Johanna beispielsweise ein von der
ger als Zeichen der Inkompetenz wahrzunehmen. Lehrkraft vorgegebenes Ziel in keiner Weise wertvoll (z. B.
nützlich) oder erwartet der Schüler Karem auch unter größ-
ter Anstrengung ein vorgegebenes Ziel nicht erreichen zu
können, sind weder Johanna noch Karem für zielführende
11.1.2 Wie wirkt Motivation? Handlungen motiviert.
Block B enthält Personenmerkmale wie individuelle mo-
Durch ihre Funktionen im (Lern-)Handlungsverlauf ist Mo- tivationale Tendenzen und Überzeugungen, die die aktuelle
tivation von großer Bedeutung für Lernverhalten und Lern- Motivation beeinflussen. Diese lassen sich danach gruppie-
leistungen. Sowohl Stärke als auch Art der Motivation gilt es ren, ob sie eher mit der Erwartungskomponente (z. B. Fähig-
zu beachten. Die Stärke der Motivation ist bedeutsam für die keitsselbstkonzept; 7 Abschn. 11.2.2) oder der Wertkompo-
Initiierung von Handlungen, die zum Ziel passen. Sie beein- nente (z. B. individuelle Zielorientierungen, Interessen, Mo-
flusst, inwieweit Lernende ihre Lernhandlungen planen oder tive oder Bedürfnisse; 7 Abschn. 11.3.2) assoziiert sind.
günstige Bedingungen und Ressourcen für die Ausführung Block C beinhaltet auf die aktuelle Motivation einfluss-
von Lernhandlungen bereitstellen. Schülerinnen und Schüler, nehmende Merkmale des Lehr-Lern-Kontexts. Sie lassen
die stärker motiviert sind, nutzen effektivere Lernstrategien, sich nach eher überdauernden oder zeitlich eng umgrenz-
neigen weniger zum Aufschieben und sind ausdauernder bei ten Merkmalen der spezifischen Lehr-Lern-Situation ordnen.
aufkommenden Schwierigkeiten. Die Art der Motivation be- Erstgenannte sind durch eine gewisse zeitliche Konstanz cha-
schreibt die Beweggründe des Handelns. So macht es einen rakterisiert und äußern sich beispielsweise in den Erwartun-
Unterschied, ob Schülerinnen und Schüler lernen, weil sie der gen und Werthaltungen von Eltern, Lehrkräften und Gleich-
Lerngegenstand fasziniert, sie eine gute Note anstreben, ih- altrigen, dem Unterrichtsklima oder in der Zielstruktur des
re eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen erweitern wollen Unterrichts (7 Abschn. 11.2.2; 7 Abschn. 11.3.2). Letztgenann-
oder das Ziel verfolgen, von anderen nicht als unfähig oder te sind die konkreten situativen Anforderungen an Lern- und
inkompetent wahrgenommen zu werden (Ames 1992; Deci Leistungshandlungen, die Interessantheit und Schwierigkeit
& Ryan 1985 1993; Meece, Anderman & Anderman 2006). der Themen und Tätigkeiten oder das Ausmaß an konstruk-
Beispielsweise erleben Lernende, die primär vom Lerngegen- tiver Unterstützung oder Autonomie.
stand fasziniert sind, mehr Lernfreude. Schülerinnen und Block D zeigt ausgewählte Konsequenzen der Stärke und
Schüler, die vor allem nicht als unfähig oder inkompetent Art der Motivation auf den Lernprozess und die Leistung,
wahrgenommen werden wollen, haben mehr handlungsirre- sortiert nach den Handlungsphasen (7 Abschn. 11.4.1). Dies
210 Kapitel 11  Motivation

Person Person in Lehr-Lern-Situation Lehr-Lern-Umwelt

B C
Motivationale Tendenzen
Merkmale des
und Überzeugungen
Lehr-Lern-Kontexts
(mehr oder weniger bereichsspezifisch)

Eher wertbezogen: Überdauernde Merkmale:


Ziele und Zielorientierungen A Erwartungen und Werthaltungen
Interessen Entstehung der aktuellen Motivation von Bezugspersonen
Motive und Bedürfnisse in spezifischer Lehr-Lern-Situationen Beziehungsqualität
Zielstruktur
Erwartung Wert Bezugsnormorientierungen
(Erfolgserwartung, (intrinsisch, selbst-
Selbstwirksamkeits- und fremdbestimmt
erwartung) extrinsisch) Merkmale der spezifischen Lehr-Lern-Situation:
Handlungsvorgaben und -möglichkeiten
lnteressantheit, Schwierigkeit, Unterstützung
Eher erwartungsbezogen: Gelegenheiten zu Selbstbestimmung,
(Fähigkeits-)Selbstkonzept Aktuelle Motivation Kompetenzerleben und sozialer Interaktion
Implizite Fähigkeitstheorie für spezifische Lern- und Leistungshandlung (Fähigkeits-)Rückmeldungen

D
Planung, Initiierung und Ausführung
der Lern- und Leistungshandlung

Vor der Handlung:


Wahl/Herstellung von Handlungsoptionen
Schwierigkeitswahl
Handlungsplanung
Aufschiebeverhalten

11 Während der Handlung:


Anstrengungsquantität
Ausdauer bei Schwierigkeiten (Persistenz)
Anstrengungsqualität
(Lernstrategien, Selbstregulation)
Handlungsirrelevante Kognitionen
Handlungsbegleitende Emotionen

Handlungsergebnisse:
Lernzuwachs/Leistung

Bewertung von Handlungsergebnissen

Anhand von Gütemaßstäben/Bezugsnormen


Ursachenerklärungen für Erfolg/Misserfolg
Emotionale Reaktionen/Hilflosigkeitsreaktionen

. Abb. 11.2 Rahmenmodell der Lern- und Leistungsmotivation (Dresel & Lämmle 2011, S. 86–87)

illustriert, dass Motivation sich auf den kompletten Hand- Im Rahmenmodell sind auch Wirkungen und Rückwir-
lungsverlauf bezieht und diesen initiiert, ausrichtet, steuert, kungen zwischen den genannten Merkmalsgruppen verdeut-
qualitätsvoll reguliert, aufrechterhält und bewertet. licht. Beispielsweise erfolgt die Suche nach den Ursachen für
Block E umfasst die Bewertung des Handlungsergebnis- Erfolg und Misserfolg häufig nicht objektiv, sondern verzerrt
ses unter Nutzung einer kriterialen (Vergleich der Leistung in Abhängigkeit personaler motivationaler Tendenzen und
mit sachlichem Kriterium, etwa das Beherrschen der Auf- Überzeugungen (B ! E). So tendieren Schülerinnen und
gabe), sozialen (Vergleich der Leistung mit der Leistung Schüler, die von ihren eigenen Fähigkeiten wenig überzeugt
anderer) oder individuellen (Vergleich der Leistung mit in- sind dazu, die Ursachen für Misserfolg im Fähigkeitsmangel
dividuell früheren Leistungen) Bezugsnorm. Aus dieser Be- zu suchen, während Schülerinnen und Schüler mit einem po-
wertung resultiert das Erleben von Erfolg oder Misserfolg. sitiven Fähigkeitsselbstkonzept Misserfolge eher der Schwere
Zugleich wollen Lernende verstehen, warum sie Erfolg oder der Aufgabe oder dem Zufall (Pech) zuschreiben. Darüber
Misserfolg haben und versuchen, Ursachen zu ergründen hinaus beeinflussen Merkmale des Lehr-Lern-Kontexts die
(7 Abschn. 11.4.2). Bewertung des Handlungsverlaufs und des Handlungsergeb-
11.2  Die Erwartungskomponente im Fokus
211 11
nisses (C ! E). So neigen Schülerinnen und Schüler dazu,
Die Erfolgserwartung bezeichnet die subjektive
einen Erfolg auf eigene Begabungen zurückzuführen, wenn
Einschätzung von Personen darüber, mit welcher Wahr-
die Lehrkraft diesen durch fähigkeitsbezogene Rückmeldun-
scheinlichkeit Erfolg bei der Bearbeitung einer Aufgabe
gen kommentiert (z. B. „Diese Aufgabe war etwas für Mathe-
eintritt.
Cracks“).
Konsequenzen dieser Attributionen sind wiederum Emo-
tionen wie Stolz, Enttäuschung oder Ärger. Zudem wirken Psychologen haben die fundamentale Bedeutung von Er-
Attributionen auf die Einschätzung der Realisierbarkeit und wartungen für die Motivation bereits sehr früh erkannt. So
Wünschbarkeit und damit auf die Motivation in vergleichba- differenzieren Heckhausen und Rheinberg (1980) in ihrem
ren Situationen zurück. Die Schülerin Anja, die beispielsweise erweiterten kognitiven Motivationsmodell zwischen drei Er-
beim Basketball den Korb verfehlt und dies auf ihre momen- wartungen, die Personen während des Abwägens (prädezisio-
tane Unkonzentriertheit zurückführt, wird die Chance auf nale Phase) ausbilden:
einen nächsten Treffer nicht geringer einschätzen (E ! A). 4 Die Handlungs-Ergebnis-Erwartung meint die angenom-
Wenn sie stattdessen den Fehlwurf wiederholt auf mangelnde mene Wahrscheinlichkeit, mit der ein Ergebnis durch
Fähigkeit zurückführt, kann sich ihre als eher stabil ange- eigenes Handeln herbeigeführt werden kann. Wenn der
nommene Fähigkeitsüberzeugung ändern (E ! B). Schließ- Schüler Maximilian davon überzeugt ist, dass er durch ei-
lich kann die Bewertung von Handlungsergebnissen auch auf ne intensive Vorbereitung eine anstehende Klassenarbeit
Merkmale des Lehr-Lern-Kontexts zurückwirken (E ! C), gut meistern kann, hat er eine hohe Handlungs-Ergebnis-
wie bei sich ändernden Erwartungen von Bezugspersonen. Erwartung. Diese Form der Erwartung ist für die Moti-
Erbringt etwa der Schüler Marc wiederholt gute oder sehr gu- vation besonders bedeutsam. Ein verwandtes (aber nicht
te Leistungen, so lässt sich erwarten, dass die Lehrkraft ihre identisches) Konstrukt ist jenes der Selbstwirksamkeitser-
Überzeugung über die Leistungsfähigkeit von Marc potenzi- wartung (Bandura 1977, 1997). Es bezieht sich auf die An-
ell nach oben korrigiert. nahme einer Person darüber, ob sie selbst eine bestimmte
Handlung erfolgreich ausführen kann – Maximilian im
1 Aktuelle Motivation. . . Beispiel also überhaupt denkt, sich intensiv vorbereiten zu
können.
4 umfasst eine Erwartungs- und eine Wertkomponente, 4 Die Situations-Ergebniserwartung bezieht sich auf die an-
4 bezieht sich auf den kompletten Handlungsverlauf, genommene Wahrscheinlichkeit, mit der ein Ergebnis oh-
4 hat die Funktion, Handlungen zu initiieren, auszurichten, ne eigenes Zutun durch die Situation festgelegt ist. Hat die
zu steuern, qualitätsvoll zu regulieren, aufrechtzuerhalten Schülerin Ayse die Überzeugung, eine schlechte Note bei
und zu bewerten und einer bevorstehenden Klassenarbeit zu erhalten – unab-
4 ist beeinflusst von Merkmalen der Person und der Situa- hängig davon wie sich sich vorbereitet – hat sie eine hohe
tion und wirkt auf diese zurück. Situations-Ergebnis-Erwartung. Diese bewirkt, dass die
Motivation beeinträchtigt ist und Lernhandlungen kaum
initiiert werden.
11.2 Die Erwartungskomponente im Fokus 4 Die Ergebnis-Folgen-Erwartung schließlich charakteri-
siert die angenommene Wahrscheinlichkeit, mit der ein
In diesem Abschnitt lernen Sie unterschiedliche erwartungs- Ergebnis zu den gewünschten Folgen führt. Wenn eine
nahe Konzepte der Motivation kennen. Sie erfahren, welche Schülerin davon überzeugt ist, dass eine in Aussicht ge-
Relevanz das Fähigkeitsselbstkonzept von Schülerinnen und stellte Belohnung (z. B. Kinobesuch) für das regelmäßige
Schülern für die aktuelle Motivation hat und wie Lehrkräfte Erledigen von Hausaufgaben tatsächlich erfolgt, hat sie
die Erwartungskomponente ihrer Schülerinnen und Schüler eine hohe Ergebnis-Folgen-Erwartung. Dies kann zielfüh-
positiv beeinflussen können, um diese zu motivieren. rende Lernhandlungen für positiv bewertete Folgen (wie
in unserem Beispiel) begünstigen.

Empirische Studien bestätigen den Zusammenhang von


11.2.1 Erwartungskomponente der aktuellen
Erfolgserwartung mit Lernhandlungen und Leistungen
Lern- und Leistungsmotivation (Schunk et al. 2008). Beispielsweise fanden Dickhäuser und
Stiensmeier-Pelster (2003b), dass Schülerinnen und Schüler
Schülerinnen und Schüler verfügen in Lern- und Leistungssi- einen bestimmten Kurs umso eher wählen, je ausgepräg-
tuationen über unterschiedliche Erwartungen. Entscheidend ter ihre Erfolgserwartung ist. In einer Studie von Marshall
für die Lern- und Leistungsmotivation ist die Erfolgserwar- und Brown (2004) zeigte sich, dass Lernende umso ausdau-
tung. Sind Schülerinnen und Schüler beispielsweise davon ernder und sorgfältiger schwierige Aufgaben bearbeiten, je
überzeugt, bei einer anstehenden Klassenarbeit eine gute ausgeprägter ihre Erfolgserwartung ist. In einer Längsschnitt-
Leistung erzielen zu können, so haben sie eine hohe Erfolgs- studie konnten Meece, Wigfield und Eccles (1990) zudem
erwartung. Dresel und Lämmle (2011, S. 91) definieren diese nachweisen, dass die Erfolgserwartung sich förderlich auf
wie folgt: nachfolgende Leistungen auswirkte.
212 Kapitel 11  Motivation

11.2.2 Personale und kontextuelle wie Personen zu ihrem Wissen über eigene Fähigkeiten gelan-
Determinanten der gen. Entscheidend ist, dass nicht das Leistungsniveau an sich
Erwartungskomponente das Fähigkeitsselbstkonzept beeinflusst, sondern Vergleiche
der eigenen Leistung mit der Leistung anderer (external-
sozialer Vergleich) sowie mit den eigenen Leistungen in ande-
Angesichts der hohen Relevanz von Erwartungen ist es nicht ren Fächern (internal-dimensionaler Vergleich). Dabei füh-
zuletzt aus Sicht der Motivationsförderung interessant zu ren Abwärtsvergleiche (z. B. Vergleiche mit schlechteren Mit-
verstehen, was diese beeinflusst. Konsistent zum Rahmen- schülerinnen und Mitschülern oder schlechteren Fächern) zu
modell der Motivation in Lern- und Leistungssituationen höheren Fähigkeitsselbstkonzepten als Aufwärtsvergleiche.
(. Abb. 11.2) lassen sich personale und kontextuelle Deter- Der Einfluss schulischer Leistungen auf das Fähigkeitsselbst-
minanten von Erwartungen unterscheiden. konzept wird in der Literatur als skill development bezeichnet.
Schülerinnen und Schüler erlangen durch bessere schulische
1 Personale Determinanten der Erfolgserwartung Leistungen ein höheres Fähigkeitsselbstkonzept.
Personen haben ein differenziertes Wissen über ihre eigenen Die Wirkung des Fähigkeitsselbstkonzepts auf die aktuel-
Fähigkeiten und Begabungen. „Ich bin gut in Englisch, aber le Motivation und dadurch vermittelt auch auf Lernprozesse
Übersetzungen fallen mir schwer“, „Mathematik kann ich“ und Leistungen wurde vielfach gezeigt (vgl. Stiensmeier-
oder „Ich bin sportlich“ sind Aussagen, die das Selbstkonzept Pelster & Schöne 2008). Es wird angenommen, dass Lernende
reflektieren. Dieses – nicht notwendigerweise realistische – die wahrgenommene Schwierigkeit einer Aufgabe in Relation
Wissen beeinflusst die Erfolgserwartung in der konkreten zu ihrem aufgabenspezifischen Fähigkeitsselbstkonzept set-
Lern- und Leistungssituation. Das Fähigkeitsselbstkonzept zen und so die situative Erfolgserwartung bilden (Eccles 1983;
kann wie folgt definiert werden (Dresel & Lämmle 2011; Reinhard & Dickhäuser 2009). Weiterhin zeigen Studien, dass
Stiensmeier-Pelster & Schöne 2008): Schülerinnen und Schüler mit einem positiveren Fähigkeits-
selbstkonzept – vermittelt über eine höhere Erfolgserwartung
Das Fähigkeitsselbstkonzept beschreibt kognitive Reprä- – weniger handlungsirrelevante Gedanken (z. B. Sorgen) ha-
ben, günstigere Lernstrategien einsetzen, ihr Lernen stärker
11 sentationen eigener Fähigkeiten und Begabungen.
metakognitiv kontrollieren und bei Schwierigkeiten ausdau-
ernder sind.
Abzugrenzen ist das Fähigkeitsselbstkonzept zum einen
von einem allgemeinen Selbstkonzept und zwar dahinge- Studie: Einfluss des Fähigkeitsselbstkonzepts auf die Er-
hend, dass im allgemeinen Selbstkonzept sämtliches selbst- folgserwartung
bezogenes Wissen repräsentiert ist, und das Fähigkeitsselbst- In einer Studie untersuchten Dickhäuser und Stiensmeier-
konzept als Teil dessen sich rein auf das Wissen über Fähig- Pelster (2003a), wie Unterschiede im Fähigkeitsselbstkonzept
keiten und Begabungen bezieht. Zum anderen umfasst das mit Unterschiedenin der Erfolgserwartung und im nachfolgen-
Fähigkeitsselbstkonzept rein deklaratives Wissen („Ich bin den Verhalten korrespondieren. Die Autoren argumentieren,
intelligent“, „Ich bin gut in Mathematik“), affektive Tönun- dass sich Unterschiede im Fähigkeitsselbstkonzept in Unter-
gen dessen („Ich schäme mich, so schlecht im Fußball zu schieden in der spezifischen, auf bestimmte Aufgaben hin be-
sein“, „Ich bin stolz darauf, gut in Mathematik zu sein“) wer- zogenen Erfolgserwartung niederschlagen und dass das nach-
den zum Selbstwertgefühl gezählt. In der Literatur finden sich folgende Verhalten neben anderen Variablen eben von der
zum Teil andere Begriffe wie schulisches Fähigkeitsselbstkon- Erwartung abhängt, erfolgreich zu sein. In der Studie wurden
zept oder Vertrauen in die eigenen (schulischen) Fähigkeiten, 200 Studierende (100 Männer, 100 Frauen) unter anderem zu
die jedoch überwiegend synonym sind (Überblick bei Mosch- ihrem Fähigkeitsselbstkonzept in Bezug auf die Arbeit mit Com-
ner & Dickhäuser 2010). putern befragt. Für eine bestimmte Situation des Arbeitens mit
Empirische Studien zeigen, dass Lernende das Wissen dem Computer wurden dann die Erfolgserwartung und das be-
über ihre eigenen Fähigkeiten fach- bzw. aufgabenspezifisch absichtigte Wahlverhalten (Absicht, in dieser die Aufgabe mit
kognitiv repräsentieren. So haben Schülerinnen und Schüler Hilfe des Computers zu lösen) erfasst. Unter anderem zeigte
eine Vorstellung über ihre Fähigkeiten in Mathematik, Eng- sich, dass das computerspezifische Fähigkeitsselbstkonzept die
lisch, Deutsch oder Geschichte. Zugleich können sie erahnen, Erfolgserwartung vorhersagte, diese wiederum die beabsich-
wie gut sie Bruchrechen-, Textaufgaben oder Gleichungen tigte Wahl. Für die generelle Gültigkeit dieser Zusammenhänge
mit zwei Unbekannten lösen können. Spannend ist in diesem spricht, dass sich die Zusammenhänge zwischen diesen Varia-
Zusammenhang, dass Fähigkeitsselbstkonzepte unterschied- blen für die Geschlechter nicht unterschieden. Es zeigten sich
licher Fächer kaum miteinander in Beziehung stehen, auch lediglich Unterschiede in der mittleren Ausprägung der Va-
wenn sich die Leistungen in den Fächern ähneln (Möller, riablen (etwa ein niedrigeres computerspezifisches Selbstkon-
Pohlmann, Köller & Marsh 2009). Schülerinnen und Schüler, zept der Studentinnen), nicht aber Unterschiede in der Enge
die von ihren Fähigkeiten in Mathematik überzeugt sind, sind der Zusammenhänge. Dies spricht dafür, dass es sich bei den
dies nicht per se auch in Fächern wie Englisch oder Deutsch. Zusammenhängen zwischen Selbstkonzept, Erfolgserwartung
Zur Erklärung hat Marsh (1986) das Internal/External und nachfolgendem Verhalten um einen universellen motiva-
Frame of Reference Model (I/E-Modell) entwickelt. Es zeigt, tionalen Prozess handelt.
11.3  Die Wertkomponente im Fokus
213 11
Das Fähigkeitsselbstkonzept beeinflusst somit schulische se Studie in vielfacher Weise kritisiert wurde (Rost 2009), ist
Leistungen, was als self enhancement bezeichnet wird. Zu ein Einfluss von Lehrkrafterwartungen – wenn auch nicht auf
beachten ist, dass ein unrealistisches, stark überhöhtes Fähig- die Intelligenzentwicklung – auf die Motivation von Schüle-
keitsselbstkonzept auch negative Effekte auf Lernhandlungen rinnen und Schülern und in Konsequenz auf deren Lernver-
und Leistungen haben kann (Helmke 1992; Schütz 2005). halten und Leistungen anzunehmen (Jussim & Harber 2005;
Daher wird in der Literatur ein moderat optimistisches Fä- Urhahne 2015 7 Kap. 21).
higkeitsselbstkonzept als motivational besonders günstig an- Auch die interpersonellen Erwartungen von Eltern ge-
gesehen. Marsh und O’Mara (2008) berichteten, dass der Ein- genüber ihren Kindern haben Auswirkungen auf die Erfolgs-
fluss eigener Leistungen auf das Fähigkeitsselbstkonzept (skill erwartung. Beispielsweise argumentieren Dresel, Schober
development) etwas stärker ist als der Einfluss des Fähigkeits- und Ziegler (2007), dass fähigkeitsbezogene Elternerwartun-
selbstkonzepts auf schulische Leistungen (self enhancement). gen mitverantwortlich sind für die ungünstige Entwicklung
des Fähigkeitsselbstkonzepts von Mädchen in mathematisch-
1 Kontextuelle Determinanten der naturwissenschaftlichen Fächern. Wenn Eltern aufgrund ge-
Erwartungskomponente schlechtsrollentypischer Überzeugungen ihren Töchtern we-
Die Erfolgserwartung von Schülerinnen und Schülern hängt niger in Fächern wie Mathematik, Physik, Chemie oder Tech-
nicht nur von den zum Fähigkeitsselbstkonzept geronnenen nik zutrauen, hat dies ungünstige Auswirkungen auf das Fä-
eigenen Leistungserfahrungen ab, sondern auch von anderen higkeitsselbstkonzept der Mädchen.
Personen. Beispielsweise haben die Annahmen von Lehr- Schließlich beeinflusst das Leistungsniveau der Schulklas-
kräften über Fähigkeiten, zukünftiges Verhalten, zukünftige se das Fähigkeitsselbstkonzept der Schülerinnen und Schüler.
Leistungen sowie Stärken und Schwächen einzelner Schüle- Wie erwähnt vergleichen Schülerinnen und Schüler ihre Leis-
rinnen und Schüler (interpersonelle Erwartungen) Einfluss tungen miteinander (sozialer Vergleich). Wenn die Schülerin
auf Fähigkeitsselbstkonzepte und in Konsequenz auf die Er- Laura in einer Klassengemeinschaft ist, in der die Mitschü-
folgserwartung dieser Schülerin bzw. dieses Schülers. Ganz lerinnen und Mitschüler insgesamt sehr gute Leistungen er-
allgemein beeinflussen die Annahmen, die eine Person A bringen, wird ihr Fähigkeitsselbstkonzept eher gering sein, da
über Verhalten, Kompetenzen und andere Merkmale einer sie viele Aufwärtsvergleiche (Vergleiche mit Besseren) vor-
Person B hegt, wie sich Person A gegenüber Person B verhält. nimmt. In einer Klasse mit geringerem Leistungsniveau hin-
Das wiederum ruft bestimmte Reaktionen auf Seiten der Per- gegen hat Laura ein höheres Fähigkeitsselbstkonzept, da sie
son B hervor, sowohl kognitiv (z. B. Annahmen über eigene dann mehr Abwärtsvergleiche (Vergleiche mit Schlechteren)
Fähigkeiten) als auch behavioral (konkrete Handlungen). vornimmt. Marsh (1987) hat diesen Effekt als Big-Fish-Little-
Im Unterricht hängt beispielsweise das Instruktions- und Pond-Effekt bezeichnet, weil sich Laura wie der große Fisch
Kommunikationsverhalten von Lehrkräften von deren inter- im kleinen Teich vorkommt, wenn sie viele Abwärtsverglei-
personellen Erwartungen gegenüber ihren Schülerinnen und che in einer leistungsschwachen Klasse vornehmen kann. Bei
Schülern ab. So erhalten Schülerinnen und Schüler, die von Veränderungen der Leistungsstärke der Klasse, beispielswei-
ihrer Lehrkraft als leistungsstärker eingeschätzt werden, mit se nach dem Übertritt auf eine weiterführende Schule, sind
einer höheren Wahrscheinlichkeit anspruchsvollere Aufga- daher Änderungen im Fähigkeitsselbstkonzept der Schüle-
ben. Dadurch steigt das Fähigkeitsselbstkonzept oder bleibt rinnen und Schüler zu erwarten.
hoch. Wenn hingegen eine Lehrkraft die Überzeugung hegt,
bestimmte Schülerinnen und Schüler seien nur wenig befä-1 Die Erwartungskomponente der Motivation. . .
higt, gibt sie ihnen tendenziell leichtere Aufgaben und ruft
sie bei schweren Fragen im Unterricht seltener auf. Dies hat 4 spiegelt die Einschätzung der Realisierbarkeit eines er-
zur Konsequenz, dass das Fähigkeitsselbstkonzept sinkt oder wünschten Zustandes (Ziels) wider,
niedrig bleibt. 4 lässt sich unterteilen in Handlungs-Ergebnis-Erwartung,
In diesem Zusammenhang sehr bekannt geworden ist die Situations-Ergebnis-Erwartung und Ergebnis-Folge-
Arbeit von Rosenthal und Jacobson (1968), die eine Wirkung Erwartung und
der interpersonellen Erwartung über die Leistungsfähigkeit 4 ist beeinflusst durch das Fähigkeitsselbstkonzept und in-
einzelner Schülerinnen und Schüler auf deren schulische terpersonelle Erwartungen von Bezugspersonen sowie
Leistungen und Intelligenzentwicklung fanden (Pygmalion- dem Leistungsniveau in der Schulklasse.
Effekt). Konkret wurde in der Studie Grundschullehrkräften
mitgeteilt, dass für einzelne Schülerinnen und Schüler (20 %
der Klasse) aufgrund ihres Ergebnisses in einem Intelligenz- 11.3 Die Wertkomponente im Fokus
test eine überdurchschnittliche Leistungsentwicklung zu er-
warten sei. In der Tat waren diese Schülerinnen und Schüler In diesem Abschnitt lernen Sie intrinsische und extrinsische
jedoch zufällig ausgewählt und nicht intelligenter als ande- Anreize sowie situatives Interesse als wertbezogene Aspek-
re. Ein Jahr später schnitten diese Schülerinnen und Schüler te der aktuellen Motivation kennen. Sie erfahren, dass diese
in der Lesenote und einem Intelligenztest signifikant besser von Merkmalen der Person wie Motive, Bedürfnisse, Ziel-
ab als ihre Mitschülerinnen und Mitschüler. Auch wenn die- orientierungen und Interesse beeinflusst werden. Zugleich
214 Kapitel 11  Motivation

werden Sie verstehen, wie Lehrkräfte durch die Gestaltung der Schüler Dominik seine Hausaufgaben erledigt, weil ihm
des Lernkontexts die Wertkomponente der Lern- und Leis- gute Noten wichtig sind oder er prüfen will, ob er schwierige
tungsmotivation beeinflussen können. Aufgaben meistern kann, tut er dies selbstbestimmt-extrin-
sisch. Fremdbestimmt-extrinsisch motiviert ist die Handlung
hingegen, wenn der Beweggrund in externalen Belohnungen,
11.3.1 Wertbezogene Aspekte der aktuellen Sanktionen, Regeln oder Normen liegt. Dann erledigt Do-
Lern- und Leistungsmotivation minik seine Hausaufgaben nur, um eine Strafe zu vermeiden
oder kein schlechtes Gewissen zu bekommen.
Zu betonen ist, dass Schülerinnen und Schüler zugleich
Schülerinnen und Schüler beschäftigen sich mit schulischen intrinsisch und extrinsisch motiviert sein können. Es schließt
Themen, wenn sie z. B. von den Fibonacci-Zahlen fasziniert sich nicht aus, dass sich Lernende mit Lerninhalten beschäf-
sind, Interesse an Geschichte haben, mit Freude im Schulor- tigen, weil es ihnen Spaß bereitet und sie zugleich eine gute
chester musizieren, gute Noten erreichen, Anerkennung von Note anstreben. Wie Buff (2001) berichtete, können Schüle-
Dritten erhalten oder Ärger mit den Eltern vermeiden wollen. rinnen und Schüler sowohl den Gegenstand von Lernhand-
All diese Beweggründe lassen sich unterschiedlich klassifizie- lungen interessant finden als auch die damit verbundene
ren und kennzeichnen qualitativ unterschiedliche Arten der Kompetenzerweiterung als nützlich für die spätere Berufstä-
Motivation (7 Abschn. 11.1.2). tigkeit erachten.
Empirische Studien zeigen unter anderem, dass Schü-
1 Intrinsische Motivation, Extrinsische Motivation und lerinnen und Schüler, die intrinsisch oder extrinsisch-
Amotivation selbstbestimmt motiviert sind, vorteilhaftere Lernstrategi-
Eine bedeutsame Unterscheidung möglicher Beweggründe en verwenden als extrinsisch-fremdbestimmt Lernende (vgl.
für Handlungen haben Deci und Ryan (1985 1993) in ih- Ryan & Deci 2000). Zugleich investieren intrinsisch motivier-
rer Selbstbestimmungstheorie der Motivation vorgeschlagen. te Schülerinnen und Schüler neben den Hausaufgaben auch
Demnach sind Lernende dann motiviert, wenn sie etwas er- mehr zusätzliche Lernzeit (Mischo 2006).
reichen wollen, also eine Intention bzw. ein Ziel haben. Inten- Eine weitere bewährte – und in Teilen ähnliche – Klas-
11 tionale Handlungen können unmittelbar befriedigende Er- sifikation möglicher Beweggründe für Handlungen wurde
fahrungen darstellen (z. B. weil die Handlung als interessant, von Eccles (1983; Wigfield & Eccles 2000) vorgeschlagen.
spannend oder aufregend erlebt wird) oder auf ein länger- Sie unterscheidet zwischen intrinsischem Wert, Nützlichkeit,
fristiges Handlungsergebnis (z. B. Erzielen einer guten Note) persönlicher Wichtigkeit und Kosten einer Handlung. Erst-
ausgerichtet sind. Zugleich gibt es Handlungen, die nicht genannte Komponente ist der intrinsischen Motivation sehr
intentional sind (z. B. herumlungern, dösen) oder einem un- ähnlich und beschreibt den in einer Handlung liegenden
kontrollierten Handlungsimpuls folgen (z. B. Wutausbruch). Anreiz. Die Nützlichkeit einer Handlung charakterisiert das
Solche Handlungen werden als amotiviert bezeichnet, da sie Ausmaß, in dem die Handlungskonsequenz dienlich für das
nicht durch intentionale Prozesse gesteuert werden (Deci & Erreichen anderer Ziele ist (vgl. fremdbestimmt-extrinsische
Ryan 1993). Motivation). Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn die Schü-
lerin Verena lernt, um eine gute Note zu erhalten. Die per-
Intrinsische Motivation beruht auf der Antizipation einer sönliche Wichtigkeit beschreibt die Übereinstimmung einer
als befriedigend oder positiv erlebten Ausführung einer Handlung mit dem Selbstkonzept einer Person. Der Schüler
Handlung. Extrinsische Motivation speist sich aus den Tom arbeitet z. B. im Unterricht gut mit, weil er sich als gu-
antizipierten Konsequenzen einer Handlung. Amotivation ter Schüler definiert; die Schülerin Monika strengt sich im
stellt einen nicht zielgerichteten Antrieb für Handlungen Sportunterricht besonders an, weil sie von sich das Bild hat,
dar. sportlich zu sein (vgl. selbstbestimmt-extrinsische Motivati-
on). Kosten umfassen (1) die Begrenzung der Möglichkeit,
eine alternative Handlung auszuführen (z. B. kann man wäh-
Charakteristisch für die intrinsische Motivation ist, dass rend den Hausaufgaben nicht mit Freunden spielen), (2)
die Handlung selbstbestimmt erfolgt. Intrinsisch motivierte notwendige Anstrengung und (3) emotionale Kosten (z. B.
Lernende handeln autonom und unabhängig von möglichen Ärger während der Hausaufgaben). Kosten reflektieren damit
Konsequenzen dieser Handlung (Verstärkung, Sanktionie- unter anderem, dass in der präaktionalen Phase unterschied-
rung). Extrinsische Motivation hingegen ist durch eben diese liche Ziele bestehen, deren Verfolgung ähnlich wünschbar
Folgen gekennzeichnet, die sehr vielfältig sein können. Da- wäre, aber nicht zeitgleich möglich ist (7 Abschn. 11.1.1).
her klassifizieren Deci und Ryan (1985) verschiedene Formen Studien konnten zeigen, dass der subjektive Wert schu-
extrinsischer Motivation, abhängig davon, inwieweit diese lischer Inhalte mit entsprechenden Schulleistungen in Zu-
mit persönlichen Werten und Zielsetzungen korrespondieren sammenhang steht (vgl. Eccles, Wigfield & Schiefele 1998).
(. Abb. 11.3). Dettmers, Trautwein, Lüdtke, Kunter und Baumert (2010) be-
Selbstbestimmt-extrinsisch lernen Personen, wenn die richtet überdies, dass Schülerinnen und Schüler mehr Zeit
Konsequenzen einer Handlung für sie persönlich bedeutsam und Anstrengung für Hausaufgaben aufbringen, je höher sie
sind, etwa hinsichtlich des Erreichens anderer Ziele. Wenn den subjektiven Wert der Hausaufgaben ansiedeln.
11.3  Die Wertkomponente im Fokus
215 11
Nicht
Verhalten Selbstbestimmt
selbstbestimmt

Typ der Extrinsische Intrinsische


Amotivation
Motivation Motivation Motivation

Regulations- Nicht- Externale Introjizierte Identifizierte Integrierte Intrinsische


form regulation Regulation Regulation Regulation Regulation Regulation

Wahrgenom-
Eher Eher
mener Ort der External External Internal Internal
external internal
Verursachung

Unbewusstes, Folgsamkeit, Interne Verstärker Persönliche Übereinstimmung Interesse,


zufälliges oder externe Verstärker und Bestrafungen für Bedeutsamkeit und der Handlungsziele Spaß,
Relevante
unkontrolliertes und Strafen für Handlungsfolgen bewusste mit Selbstdefinition, handlungsinhärente
Regulations-
Verhalten, Handlungsfolgen (z. B. Emotionen, Wertschätzung persönliche Befriedigung,
prozesse/Werte
Verhalten ohne Gewissen) der Handlungsziele, Wichtigkeit intrinsischer Wert
Anreize Nützlichkeit

. Abb. 11.3 Selbst- und fremdbestimmte Formen der Motivation (nach Ryan & Deci 2000)

Tätigkeit (z. B. Lösen der Aufgabe) bezogen ist. In der Zu-


Mythos: Belohnungen vermindern die Lust am Ler- sammenfassung empirischer Studien berichten Schraw und
nen Lehman (2001), dass situatives Interesse schulische Leistun-
Nicht selten erhalten Schülerinnen und Schüler von ihren gen begünstigt. Auch Niemivirta und Tapola (2007) fanden
Eltern oder Großeltern als Belohnung für gute schulische Zusammenhänge des situativen Interesses mit Leistungen
Leistungen Geld, einen Besuch im Kino oder Ähnliches und berichteten zudem, dass sich sowohl situatives Interes-
zugesprochen. Manche Lehrkraft argumentiert, dass solche se als auch Selbstwirksamkeit während einer Lernhandlung
Belohnungen die Lust am Lernen mindern und raten davon verändern und sich diese Veränderungen gegenseitig beein-
ab, Leistungen zu belohnen. Verringern Belohnungen flussen.
tatsächlich die Lust am Lernen? Deci, Koestner und
Ryan (1999) werteten zu dieser Frage 128 Einzelstudien 1 Ziele
aus und fanden, dass sich Belohnungen nur unter Meece, Anderman und Anderman (2006) argumentierten,
bestimmten Bedingungen negativ auf die intrinsische dass Schülerinnen und Schüler überwiegend in sozialen Kon-
Motivation von Schülerinnen und Schülern auswirken: texten lernen und darin unterschiedliche Ziele verfolgen.
Erleben Schülerinnen und Schüler die Belohnung als Ziele erweisen sich für das Lernverhalten und die Leistungen
kontrollierend (und damit die eigene Selbständigkeit als hoch bedeutsam und lassen sich nach Kleinbeck (2006,
einschränkend) oder rechtfertigt die Belohnung die eigene S. 256) wie folgt definieren:
Anstrengung, so reduziert sich die intrinsische Motivation.
Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn Belohnungen Ziele sind Vorwegnahmen von Handlungsfolgen, die mehr
angekündigt werden („Für eine Eins gibt es fünf Euro“). oder weniger bewusst zustande kommen. Sie beziehen
Wird die Belohnung hingegen als Hinweis auf eigene sich auf zukünftige, angestrebte Handlungsergebnisse und
Fähigkeiten wahrgenommen, wirkt sie positiv auf die Lust beinhalten zugleich auch eine kognitive Repräsentation
am Lernen. So erwies sich positives Feedback, dass Stärken dieser Handlungsfolgen.
im Lernverhalten oder Zuwächse im Wissen betonte,
günstig auf die Freude am Lernen aus.
Im Handlungsverlauf haben Ziele unterschiedliche Funk-
tionen (Kleinbeck 2006):
1 Situatives Interesse 4 Ziele initiieren Handlungen, mit denen sich die ange-
Situatives Interesse meint die vorübergehend emotionale Er- strebten Ergebnisse erreichen lassen. Sie geben dem Han-
regung und Lenkung der Aufmerksamkeit auf eine Situation deln eine Richtung.
oder Tätigkeit in Folge der Interessantheit einer Lehr-Lern- 4 Ziele strukturieren den Einsatz von Wissen, Fähigkeiten
Situation (Hidi & Anderson 1992; Schraw & Lehman 2001). und Fertigkeiten.
Konzeptionell ist das situative Interesse dem intrinsischen 4 Ziele stellen einen Maßstab zur Überwachung des Hand-
Wert einer Lernhandlung ähnlich, mit dem Unterschied, dass lungsfortschritts und zur Bewertung des Ergebnisses be-
es auf den Gegenstand (z. B. die Aufgabe) und nicht auf die reit.
216 Kapitel 11  Motivation

Für den Lern- und Leistungskontext werden auf der abstrak- formanzzielen weisen empirische Befunde darauf hin, dass
ten Ebene Lern-, Performanz- und Arbeitsvermeidungsziele Annäherungsperformanzziele mit positiven Selbsteinschät-
unterschieden (Ames 1992; Dweck 1986; Maehr & Midgley zungen und kurzfristig mit guten Leistungen in Zusammen-
1991; Nicholls 1984), die in . Tab. 11.1 charakterisiert sind. hang stehen, nicht jedoch mit der langfristigen Auseinan-
Bei Lernzielen steht für den Lernenden der Lernprozess im dersetzung mit einem Thema. Die positiven Effekte kommen
Vordergrund. Schülerinnen und Schüler mit ausgeprägten insbesondere dann zum Tragen, wenn der Zielfokus darauf
Lernzielen beschäftigen sich mit schulischen Inhalten, um liegt, besser als andere Personen sein zu wollen, aber we-
diese zu verstehen und eigene Kompetenzen zu erweitern. Bei niger, wenn bei anderen ein möglichst positiver Eindruck
Performanzzielen (oft auch Leistungsziele genannt) wirken hinterlassen werden soll (Hulleman, Schrager, Bodmann &
die antizipierte Wirkung auf andere und der Vergleich eigener Harackiewicz 2010). Motivational betrachtet sind Annähe-
Leistungen mit der Leistung anderer motivierend. Oft haben rungsperformanzziele gegenüber Annäherungslernzielen als
Schülerinnen und Schüler konkrete Adressaten vor Augen, weniger günstig zu bewerten. Als besonders ungünstig er-
denen gegenüber sie ihre Kompetenz darstellen wollen (z. B. weisen sich Vermeidungsperformanzziele. Diese gehen mit
Eltern, Lehrkraft, Klassenkameradinnen und Klassenkame- geringerer Anstrengung, der Nutzung von oberflächlichen
raden; Ziegler, Dresel & Stöger 2008). Bei Arbeitsvermei- Lernstrategien (Memorieren), dem Erleben von Prüfungs-
dungszielen streben Lernende danach, mit möglichst wenig angst, Hilflosigkeit nach Misserfolg sowie, in Konsequenz aus
Anstrengung vorgegebenen Anforderungen zu genügen (Ni- allem, schlechten Schulleistungen einher. Schließlich zeigen
cholls 1984). Schülerinnen und Schüler, die Arbeitsvermeidungsziele ver-
Die Unterscheidung der Subkomponenten Annäherung folgen, weniger Interesse an Lerninhalten, nutzen weniger
und Vermeidung hat sich vor allem bei Performanzzielen effektive Lernstrategien und zeigen in Folge dessen niedrigere
bewährt, um uneinheitliche Effekte auf Lern- und Leistungs- Leistungen.
handeln zu verstehen (Middleton & Midgley 1997). Auch bei Wichtig ist zu betonen, dass mehrere Ziele verfolgt wer-
Lernzielen gibt es diese Unterscheidung (Elliot & McGregor den können (multiple Zielsetzungen) und diese nicht unab-
2001). Sie ist jedoch umstritten, da noch wenig empirische hängig voneinander sind. Beispielsweise setzen sich Schü-
Evidenz über differenzielle Effekte besteht (vgl. Moller & lerinnen und Schüler, die (Annäherungs-)Lernziele verfol-
11 Elliot 2006). Empirische Studien zeigen, dass Schülerinnen gen, mit höherer Wahrscheinlichkeit zugleich auch Annä-
und Schüler, die im schulischen Unterricht (Annäherungs-) herungsperformanzziele und mit geringerer Wahrscheinlich-
Lernziele verfolgen, sich mehr anstrengen, verstärkt tiefen- keit Vermeidungsperformanzziele und Arbeitsvermeidungs-
orientierte Lernstrategien einsetzen (Elaborationsstrategien), ziele (Pintrich 2000). Zudem gibt es Hinweise darauf, dass
angemessener auf Fehler und Misserfolge reagieren und her- Schülerinnen und Schüler in verschiedenen Fächern unter-
ausfordernde Aufgaben wählen (vgl. Meece, Anderman & schiedliche Ziele verfolgen (Sparfeldt, Buch, Wirthwein &
Anderman 2006; Meece, Glienke & Burg 2006). Bei Per- Rost 2007). Eine Schülerin kann also in Englisch Lernziele
und in Physik Vermeidungsperformanzziele verfolgen.

. Tabelle 11.1 Ziele in Lern- und Leistungskontexten und ihre


Subkomponenten
11.3.2 Personale und kontextuelle
Determinanten der Wertkomponenten
Ziel Subkomponente Beschreibung: Das Ziel be-
des Ziels steht darin. . .
Personen unterscheiden sich in ihrer Motivation und zwar
Lernziel Annäherungslern- eigene Kompetenzen zu er- zeitlich überdauernd und über verschiedene Situationen hin-
ziel weitern und Verständnis zu
erlangen
weg – sie haben motivationale Tendenzen und halten Über-
zeugungen, die für ihre Motivation relevant sind. Ein Beispiel
Vermeidungslern- geringen Lernzuwachs sowie für ein solches Persönlichkeitsmerkmal ist das Leistungsmo-
ziel unvollständiges oder falsches
tiv. So fühlen sich Lernende, die ein hohes Leistungsmo-
Verständnis zu vermeiden
tiv aufweisen, von Leistungssituationen besonders angespro-
Performanz- Annäherungs- gute Leistungen zu zeigen chen. Neben diesen personalen Determinanten der aktuellen
ziel performanzziel und eigene Kompetenzen zu Motivation erweisen sich auch Merkmale der Situation und
demonstrieren
des Kontexts als einflussreich auf die aktuelle Motivation.
Vermeidungs- schlechte Leistungen zu
performanzziel vermeiden und Kompetenz- 1 Personale Determinanten der Wertkomponente
defizite zu verbergen
Motive wurden besonders in der älteren Motivationspsycho-
Arbeits- mit möglichst wenig Aufwand logie intensiv erforscht. Sie sind bereichsübergreifend und be-
vermeidungs- vorgegebene Anforderungen schreiben die Neigung, bestimmte Anreizklassen positiv oder
ziel erfüllen
negativ zu bewerten. In Anlehnung an McClelland (1987) las-
sen sich Motive folgendermaßen definieren:
11.3  Die Wertkomponente im Fokus
217 11

Motive sind zeitlich überdauernde Präferenzen für Zielorientierungen sind individuelle motivationale
bestimmte Anreizklassen. Es werden implizite und explizite Tendenzen, die immer dann die Ausbildung eines
Motive unterschieden. Unter impliziten Motiven werden konkreten Ziels wahrscheinlich machen, wenn die
primär unbewusste, affektbasierte Präferenzen gefasst, Situation das Verfolgen des Ziels erlaubt.
während explizite Motive eher kognitive Präferenzen
darstellen.
Im Unterschied zu Zielen, aber auch zu Motiven und
Bedürfnissen, weist personales Interesse einen Gegenstands-
bezug auf (Krapp 2002 2009). So sind dauerhaft gepflegte
Große Bedeutung wird insbesondere drei Motiven zu-
Hobbies oft Ausdruck personaler Interessen. Beispielsweise
gesprochen, die alle Personen in unterschiedlicher Ausprä-
schauen Schülerinnen und Schüler, die sich für Geschich-
gung aufweisen: Leistungs-, Anschluss- und Machtmotiv. Für
te interessieren, bevorzugt historische Dokumentationen im
Lern- und Leistungssituationen gilt vor allem das Leistungs-
Fernsehen oder arbeiten im Geschichtsunterricht qualitäts-
motiv als bedeutend. Dieses speist sich aus den Subkom-
voller mit.
ponenten Hoffnung auf Erfolg und Furcht vor Misserfolg.
Schülerinnen und Schüler, die eine ausgeprägte Hoffnung auf
Erfolg haben, wählen häufiger herausfordernde Aufgaben, Interesse ist eine relativ stabile Präferenz, Einstellung
engagieren sich stärker und reagieren auf erbrachte Leistun- oder Orientierung in Bezug auf bestimmte Themenfelder,
gen eher mit Stolz. Haben Schülerinnen und Schüler hinge- Lerngegenstände oder Tätigkeitsformen. Die Besonder-
gen eine ausgeprägte Furcht vor Misserfolg, sind sie darauf heit der Interessenbeziehung besteht in dem Erleben
bedacht, sich nicht beschämt oder blamiert zu fühlen. Sie von positiven emotionalen Zuständen während der Be-
wählen häufiger einfach lösbare oder unlösbare Aufgaben, schäftigung mit dem Interessengegenstand, einer hohen
um beschämende Misserfolge zu vermeiden. Steinmayr und subjektiven Wertschätzung dieses Gegenstands sowie
Spinath (2009) berichteten, dass Schülerinnen und Schüler dem ausgeprägten Ziel, das Wissen über den Gegenstand
mit ausgesprochener Hoffnung auf Erfolg bessere Leistun- zu erweitern.
gen erbringen als Schülerinnen und Schüler mit verstärkter
Furcht vor Misserfolg. Unter Anschlussmotiv wird die über-
dauernde Präferenz für das Schließen und Pflegen sozialer Nach aktueller Auffassung entwickelt sich personales In-
Kontakte gefasst. Personen mit ausgeprägtem Anschlussmo- teresse aus situativem Interesse durch Internalisierung und
tiv präferieren Nähe, schließen gerne Bekanntschaften und Identifikation (Hidi & Renninger 2006; Krapp 2002). Wenn
gehen gerne Beziehungen ein. Sie kooperieren bevorzugt und Lernende wiederholt gewecktes, situatives Interesse erleben
verhalten sich eher loyal. Schließlich beschreibt das Macht- und sich damit identifizieren, entwickeln sie personales In-
motiv eine überdauernde Präferenz für die Kontrolle der teresse. Empirische Studien zeigen, dass personales Interesse
sozialen und gegenständlichen Umwelt. Personen mit profi- beispielsweise beeinflusst, welche Kurse, Studiengänge oder
liertem Machtmotiv gestalten gerne und bevorzugen es, an- Berufe Personen wählen. Zudem begünstigt personales In-
dere Personen zu führen. teresse die Nutzung tiefenorientierter Lernstrategien und die
Bedürfnisse sind ähnlich wie Motive eher bereichs- bzw. Leistungserbringung im Interessengebiet (Köller, Trautwein,
fächerübergreifend konzeptualisiert. Deci und Ryan (1985) Lüdtke & Baumert 2006; Schiefele, Krapp & Schreyer 1993).
postulieren in ihrer Selbstbestimmungstheorie der Motiva-
tion (7 Abschn. 11.3.1) drei grundlegende Bedürfnisse, die1 Kontextuelle Determinanten der Wertkomponente
erfüllt sein müssen, damit intrinsische Motivation entstehen Zahlreiche Studien unterstreichen die Relevanz von Bezugs-
kann: die Bedürfnisse nach Kompetenzerleben, sozialer Ein- personen für die Wertkomponente der Motivation – dies
gebundenheit und Autonomie. Vergleicht man diese Bedürf- ist als Sozialisationseffekt zu verstehen. Beispielsweise sind
nisse mit den vorgestellten Motiven, wird deren Ähnlichkeit miteinander befreundete Schülerinnen und Schüler hinsicht-
offensichtlich: Das Bedürfnis nach Kompetenzerleben ähnelt lich ihrer Motivation einander ähnlich und diese Ähnlichkeit
dem Leistungsmotiv, das Bedürfnis nach sozialer Eingebun- nimmt mit Dauer der Freundschaft zu (Schunk et al. 2008)
denheit erinnert an das Anschlussmotiv und das Bedürfnis oder Schülerinnen und Schüler aus bildungsferneren Eltern-
nach Autonomie passt zum Machtmotiv. häusern weisen schulischen Lehrinhalten geringere Bedeu-
Zielorientierungen sind das Pendant zu situationsspezi- tung zu (Möller 2008). In der Arbeit von Friedel, Cortina,
fischen Zielen auf der Ebene motivationaler Tendenzen. So Turner und Midgley (2007) zeigte sich, dass die Zielorientie-
wurde in der Zielforschung bereits früh angenommen, dass rungen von Eltern mit denen ihrer Kinder korrespondierten.
Personen sich relativ überdauernd dahingehend unterschei- Als weiterer Beleg für solche kontextuellen Einflüsse wer-
den, ob sie in Lern- und Leistungssituationen bevorzugt den Geschlechtsunterschiede in der Wertkomponente der
Lern-, Performanz- oder Arbeitsvermeidungsziele verfolgen Motivation diskutiert, die mit kulturellen Geschlechtsstereo-
(z. B. Dweck 1986; Nicholls 1984). typen übereinstimmen (Meece, Glienke & Burg 2006; Ziegler,
218 Kapitel 11  Motivation

Heller, Schober & Dresel 2006). So berichten beispielsweise


. Tabelle 11.2 Volitionale Strategien, die eine Umsetzung und
Mädchen im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich Steuerung einer Handlung begünstigen (Kuhl 1983)
ein geringeres und im sprachlichen Bereich ein leicht höhe-
res Fachinteresse als Jungen. In manchen Schulklassen sind Volitionale Beschreibung Beispiel: Schülerin
diese Unterschiede stärker als in anderen, was dafür spricht, Strategie oder Schüler...
dass neben Peers und Elternhaus auch Lehrkräfte bedeutsame Umwelt- Bedingungen in der verabredet sich erst
Sozialisationsinstanzen darstellen (Dresel, Stöger & Ziegler kontrolle Umwelt werden so ab einer bestimmten
2006). arrangiert, dass die Rea- Uhrzeit, zu der Haus-
lisierung einer Absicht aufgaben in der Regel
Die Klassenzielstruktur beschreibt, in welchem Ausmaß gefördert wird gemacht sind, mit Freun-
der Klassenkontext die Verfolgung bestimmter Ziele begüns- den
tigt. So nehmen Schülerinnen und Schüler deutlich wahr,
Aufmerk- Die Aufmerksamkeit bemüht sich, sich nicht
ob im Unterricht Lern- oder Performanzziele im Vorder- samkeits- wird auf Informationen vom Tuscheln der
grund stehen. Macht eine Lehrkraft durch ihr instruktionales kontrolle gerichtet, die die Rea- Mitschülerinnen und
Verhalten klar, dass es ihr darum geht, dass ihre Schüle- lisierung einer Absicht Mitschüler ablenken zu
rinnen und Schüler dazulernen, die Lerninhalte verstehen fördern lassen, und folgt dem
oder Fehler als Lernchance sehen, so nehmen diese eher ei- Lehrervortrag
ne Lernzielstruktur im Unterricht wahr und verfolgen in der Enkodier- Reizmerkmale, die re- nimmt sich vor, sich erst
Konsequenz selbst eher Lernziele. Durch die (z. T. auch nicht- kontrolle levant für eine Absicht einmal voll und ganz auf
beabsichtigte) Bevorzugung von Schülerinnen und Schülern sind, werden bevorzugt die Hausaufgaben zu
oder tiefer enkodiert konzentrieren
mit guten Leistungen, Nutzung wettbewerbsorientierter Un-
terrichtsmethoden, häufiges Prüfen von Leistungen oder An- Emotions- Es werden Emotio- macht sich bewusst,
wendung einer sozialen Bezugsnorm bei Leistungsfeedback kontrolle nen generiert, die die wie toll es ist, zu sehen,
Absichtsrealisierung was man Neues gelernt
nehmen Schülerinnen und Schüler hingegen eher eine Per-
fördern hat und steigert so die
formanzzielstruktur in der Klasse wahr und verfolgen in der Vorfreude
Konsequenz selbst eher Performanzziele (Ames 1992; Meece,
11 Anderman & Anderman 2006; Meece, Glienke & Burg 2006). Motivations- Positive Anreize des Ziels macht sich bewusst,
kontrolle werden fokussiert oder dass ein gutes Beherr-
In empirischen Studien wurden diese Zusammenhänge viel- aufgewertet schen der Vokabeln
fach bestätigt (Finsterwald, Ziegler & Dresel 2009; Meece, auch im nächsten Urlaub
Anderman & Anderman 2006; Meece, Glienke & Burg 2006). hilfreich sein kann
Hierbei ergab sich auch der Hinweis darauf, dass nicht einzel- Sparsame Beschränkung auf rele- sagt sich „bevor ich jetzt
ne Merkmale der Instruktion, sondern das Zusammenspiel Informations- vanteste Information lange darüber nachden-
mehrerer Instruktionsdimensionen eine Lernziel- oder eine verarbeitung ke, wann ich anfangen
Performanzzielstruktur entstehen lässt. soll, mache ich lieber so-
fort die Hausaufgaben“
1 Die Wertkomponente der Motivation . . .

4 lässt sich nach intrinsischen und extrinsischen Anreizen reitung zu beginnen, regelmäßig Vokabeln zu lernen oder
sowie nach unterschiedlichen Zielen klassifizieren, Wissenslücken zu schließen. Solche „Absichten zum Errei-
4 ist beeinflusst durch Motive, Bedürfnisse, Zielorientie- chen bestimmter Ziele“ (kurz: Intentionen) bilden sich in der
rungen und personales Interesse und prädezisionalen Phase des Handelns und sind beeinflusst von
4 steht in Zusammenhang mit kontextuellen Merkmalen Erwartungs- und Wertabwägungen (7 Abschn. 11.1.1). Der
wie der Klassenzielstruktur. Intentionsbildung folgt die Handlungsvorbereitung (präak-
tionale Phase) und Handlungsrealisierung (aktionale Phase).
Die Umsetzung von Absichten in Handlungen und die wil-
11.4 Der Handlungsverlauf im Fokus lentliche Steuerung dieser Handlungen stehen im Fokus der
Volitionspsychologie. Sie versucht z. B. zu erklären, warum
Lernende ihre Prüfungsvorbereitung erfolgreich gestalten
In diesem Abschnitt lernen Sie volitionale und attributionale
oder daran scheitern.
Prozesse kennen. Sie lesen über die Wirkungen verschiedener
Volition bezieht sich auf Prozesse der Selbstregulation, de-
willensbezogener Strategien und Möglichkeiten der Ursa-
ren Funktion es ist, die Ausführung einer Handlung – auch
chenzuschreibung von Ereignissen und erfahren umgekehrt,
gegen Widerstände – zu initiieren und bis zum Erreichen ei-
welche Faktoren diese Prozesse beeinflussen.
nes Ziels aufrechtzuerhalten (vgl. Kuhl 1983). In . Tab. 11.2
sind verschiedene Strategien aufgezeigt, die nach Kuhl (1983)
die Umsetzung von Intentionen in Handlungen und deren
11.4.1 Volition Steuerung begünstigen.
Szymansky, Beckmann, Elbe und Müller (2004) unter-
Manche Schülerinnen und Schüler nehmen sich immer wie- scheiden grundsätzlich zwischen Prozessen der Selbstkon-
der vor, bei der nächsten Prüfung früher mit der Vorbe- trolle und der Planung. Selbstkontrolle umfasst Prozesse, bei
11.4  Der Handlungsverlauf im Fokus
219 11
der eine Absicht gegen konkurrierende Ziele, Impulse, Be- macht und anschließend den Hunger stillt, zeugt dies von
dürfnisse und Wünsche abgeschirmt wird (hierunter würde einer hohen Handlungsorientierung. Die Aufmerksamkeit
etwa die in . Tab. 11.2 genannte Strategien der Umwelt- oder ist im Wesentlichen auf die Handlungsausführung gerich-
der Aufmerksamkeitskontrolle fallen). Planung beschreibt tet. Lageorientierte Lernende fokussieren in ihrer Aufmerk-
die Steuerung des Handlungsprozesses durch Handlungsplä- samkeit hingegen verstärkt auf vergangene oder zukünftige
ne (sog. Implementierungsabsichten). Implementierungsab- Zustände (Beckmann & Strang 1991). Sie versuchen mög-
sichten haben die Form eines „Wenn-dann-Plans“. Sie be- lichst viele Informationen aufzunehmen und bewerten stets
nennen im Wenn-Teil eine bestimmte Situation, die für ziel- Handlungsalternativen und andere Ziele. Nach Misserfolg
führendes Verhalten besonders günstig sind und benennen tendieren sie zum Grübeln und tun sich schwerer, sich neu-
im Dann-Teil eben dieses Verhalten, dass sich die Person an en Aufgaben zu widmen (Kuhl & Beckmann 1994; Kellmann
den Tag zu legen vornimmt. Beispielsweise könnte sich der & Langenkamp 2006). Empirische Studien zeigen, dass die
Schüler Michael das regelmäßige, kurzzeitige Lernen fremd- Unterscheidung von Lage- versus Handlungsorientierung be-
sprachlicher Vokabeln dadurch erleichtern, indem er sich deutsam mit Lernhandlungen und Leistungen assoziiert ist.
vornimmt, immer als erstes die Vokabeln kurz zu wieder- So fand beispielsweise Strang (1991), dass Handlungsorien-
holen, wenn er mit den Hausaufgaben beginnt. Implemen- tierung unter belastenden Umständen mit wirksamer An-
tierungsabsichten unterstützen den Selbstregulationsprozess, strengungsregulation assoziiert ist. In der Studie von Helm-
indem relevante Situationen schneller erkannt werden und in ke und Mückusch (1994) ging Lageorientierung mit Lern-
diesen Situationen auch wahrscheinlicher das „richtige“ (d. h. und Aufmerksamkeitsstörungen sowie Vermeidungstenden-
zielführende) Verhalten gezeigt wird (Gollwitzer 1999). zen einher.
Selbstkontrolle als zentraler volitionaler Prozess
(7 Abschn. 11.4.1) ist eingeschränkt, wenn Wert oder Er-
wartung gering sind oder sich währenddessen reduzieren. So
11.4.2 Personale und kontextuelle schieben Schülerinnen und Schüler die Vorbereitung auf eine
Determinanten von Volition Klassenarbeit hinaus, wenn sie wenig Lust verspüren, oder
unterbrechen ihre Hausaufgaben eher, wenn sie diese als
Lernende unterscheiden sich dahingehend, wie gut es ihnen sehr schwer erleben. Folglich beeinflussen Unterrichtsgestal-
gelingt, (Lern-)Handlungen zu initiieren und zu steuern und tung und Aufgabenstellungen volitionale Prozesse. Labuhn,
wie sie diese und deren Ergebnisse bewerten. So gibt es Schü- Bögeholz und Hasselhorn (2008) fanden, dass durch eine un-
lerinnen und Schüler, die Hausaufgaben stets sofort anfan- terrichtsintegrierte Förderung der Selbstregulation von acht
gen, konsequent bis zum Ende dabeibleiben und Misserfolge Wochen sich die Volition von Schülerinnen und Schülern
motivational günstig auf geringe Anstrengung zurückfüh- bedeutsam steigern lässt.
ren. Genauso kennt man im Schulalltag Schülerinnen und
Schüler, die sich beim Initiieren und Aufrechterhalten von
Lernhandlungen (z. B. Erledigen der Hausaufgaben) schwer- 11.4.3 Attributionale Prozesse
tun oder Misserfolge motivational betrachtet ungünstigen
Ursachen zuschreiben. Gründe hierfür liegen sowohl in per- Am Ende eines Handlungsverlaufs bewerten Lernende ihr
sonalen als auch kontextuellen Faktoren (. Abb. 11.2). Handlungsergebnis (z. B. Erfolg bzw. Misserfolg) und schrei-
Personen unterscheiden sich in dem Ausmaß, in dem sie ben dieses bestimmten Ursachen dafür zu (z. B. eigene An-
zu willentlichen Handlungen in der Lage sind. Dies wird strengungen oder die Hilfe von Anderen als Ursachen für
in der Literatur als Selbstkontrollkapazität bezeichnet (Bert- Erfolg). Das geschieht nicht immer bewusst. Die Ursachen-
rams & Dickhäuser 2009). In Abhängigkeit von solchen zuschreibungen (Attributionen) beeinflussen zum einen, wel-
dispositionalen Unterschieden zeigen sich Unterschiede im che Emotionen (z. B. Stolz, Dankbarkeit, Ärger, Enttäu-
Regulationserfolg, etwa bei der Regulation von ungünsti- schung) erlebt werden und zum anderen die Motivation für
gen Emotionen wie Prüfungsangst. Entsprechend unterlie- anschließende Handlungen. Damit beeinflussen die Ursa-
gen Personen mit niedriger Selbstkontrollkapazität stärker chenzuschreibungen auch nachfolgendes (Lern-)Verhalten.
den negativen Einflüssen von ungünstigen Emotionen und Attributionen definiert Försterling (1986, S. 23) folgenderma-
erbringen schlechtere Leistungen (Bertrams, Englert, Dick- ßen:
häuser & Baumeister 2013).
Kuhl (2000 2001) nimmt in seiner Handlungskontroll-
theorie an, dass die Umsetzung von Absichten in Handlungen Attributionen sind Ursachen, die Individuen zur Erklärung
und deren willentliche Steuerung von der individuellen Dis- von Ereignissen, Handlungen und Erlebnissen (genereller:
position zur Handlungsorientierung versus Lageorientierung Effekten) in verschiedenen Lebensbereichen heranziehen.
abhängt. Charakteristisch für die Handlungsorientierung ist
das Abschirmen einer Absicht gegenüber konkurrierenden
Impulsen, Bedürfnissen und Wünschen des Selbst. Wenn die Studien zeigen, dass Lernende bei gleichem Lernergeb-
Schülerin Zeynep beispielsweise während den Hausaufga- nis verschiedene Ursachen dafür verantwortlich machen und
ben Hunger bekommt, zuerst aber ihre Hausaufgaben fertig dass diese Attributionen keineswegs realistisch sein müssen.
220 Kapitel 11  Motivation

wie für das Fähigkeitsselbstkonzept sind. In verschiedenen


. Tabelle 11.3 Klassifikation von Erfolgs- und Misserfolgsursachen
nach den drei Attributionsdimensionen „Lokation“, „Stabilität“ und Experimenten beobachtete beispielsweise Meyer (1973), dass
„Kontrollierbarkeit“ (Weiner 1986) die Erfolgserwartung weitgehend unverändert blieb, wenn
diese Leistungen auf variable Ursachen (z. B. Zufall, aktu-
Internal External elle Anstrengung in dieser Situation) zurückgeführt wur-
Kontrol- Unkontrol- Kontrol- Unkontrol- den. Hingegen veränderte sich die Erfolgserwartung stark,
lierbar lierbar lierbar lierbar wenn stabile Ursachen verantwortlich gemacht wurden: Wur-
Stabil Überdauern- Fähigkeit, Beliebtheit Schwierigkeit de ein Misserfolg insbesondere auf mangelnde Fähigkeiten
de Arbeits- Begabung bei der (des Fachs) zurückgeführt, sank die Erfolgserwartung für eine nachfol-
haltung Lehrkraft gende ähnliche Aufgabe. Analog stieg die Erfolgserwartung
Variabel Aktuelle An- Stimmung, Hilfe Ande- Zufall
an, wenn ein Erfolg auf hohe eigene Fähigkeiten attribuiert
strengung Müdigkeit rer wurde. Skaalvik (1994) berichtete zudem, dass Schülerinnen
und Schüler, die einen Misserfolg erlebten und diesen auf
variable und kontrollierbare Ursachen zurückführten, weni-
Beispielsweise tendieren viele Schülerinnen und Schüler da- ger Einbußen in ihrem Fähigkeitsselbstkonzept hinnehmen
zu, selbstwertdienlich zu attribuieren, um ihr Gesicht zu wah- mussten als Schülerinnen und Schüler, die stabile und unkon-
ren (McAllister 1996). Möller und Jerusalem (1997) konnten trollierbare Attributionen vornahmen.
zeigen, dass Personen verstärkt dann bewusst über Ursachen Während die Stabilitäts- und Kontrollierbarkeitsdimen-
reflektieren, wenn entweder ein subjektiv bedeutsames, ein sionen mit der Erwartungskomponente im engen Zusam-
negativ bewertetes, ein unerwartetes oder ein überraschen- menhang stehen, erwies sich die Lokationsdimension als be-
des Ereignis eintritt. deutsam für emotionales Erleben (Weiner 1986). Attribuieren
Fragt man Schülerinnen und Schüler etwa nach den Ur- Lernende Leistungen internal, folgen vor allem selbstbewer-
sachen für schulische Misserfolge (z. B. Note „mangelhaft“), tende Emotionen (z. B. Stolz, Hoffnungslosigkeit), während
so können sie diese beispielsweise in geringen eigenen An- externale Attributionen vor allem soziale Emotionen nach
strengungen oder ineffektivem Lernen, in der eigenen Ner- sich ziehen (z. B. Dankbarkeit, Ärger).
11
vosität, in der Schwierigkeit der Aufgabenstellungen, in der
mangelnden Hilfe anderer aber oftmals auch in geringen ei-
genen Fähigkeiten sehen (Dresel, Schober & Ziegler 2005). 11.4.4 Personale und kontextuelle
Die verschiedenen Ursachenerklärungen haben unterschied-
Determinanten attributionaler
liche Folgen für die Emotionen, die Schülerinnen und Schüler
erleben, und für die nachfolgende Motivation. Jedoch sind Prozesse
dafür nicht die Ursachen an sich bedeutsam, sondern deren
wahrgenommene Verortung auf den folgenden Attributions- Welche Ursachen Schülerinnen und Schüler für Lernergeb-
dimensionen (Weiner 1986): nisse sehen, ist unter anderem vom Fähigkeitsselbstkonzept
4 Lokation (oftmals auch „Internalität“): Der Ursachenfak- abhängig. So tendieren Schülerinnen und Schüler dazu, kon-
tor liegt innerhalb (z. B. Anstrengung) oder außerhalb sistent zu ihrem Fähigkeitsselbstkonzept zu attribuieren. Die-
(z. B. Merkmale der Umwelt wie Aufgabenschwierigkeit) jenigen mit hohem Fähigkeitsselbstkonzept führen Erfolge
der Person. eher auf gute Fähigkeiten zurück, während Schülerinnen
4 Stabilität: Der Ursachenfaktor ist zeitlich stabil und damit und Schüler mit geringem Fähigkeitsselbstkonzept Erfolge
auch bei zukünftigen vergleichbaren Ereignissen wichtig eher dem Zufall („Glück gehabt“) zuschreiben. Da wie oben
(z. B. Eigenheiten der Lehrkraft, die man noch länger hat) berichtet die Attribution auch das Fähigkeitsselbstkonzept
oder zeitlich variabel (z. B. spätes Zubettgehen am Vor- beeinflusst, ist von einer gegenseitigen Abhängigkeit dieser
abend). beiden Konzepte auszugehen. Zugleich tendieren Lernende
4 Kontrollierbarkeit: Der Ursachenfaktor ist durch eigenes dazu, Leistungen wiederholt auf ähnliche Ursachen zurück-
Handeln kontrollierbar (z. B. Ausmaß der Anstrengung) zuführen – dieser Attributionsstil ändert sich nur langsam
oder unkontrollierbar (z. B. Zufall). durch Erfahrungen, die damit nicht mehr kompatibel sind
(z. B. andere Ursachenerklärungen, die von Lehrkräften an-
Entlang dieser Attributionsdimensionen hat Weiner (1986) geboten werden).
häufige Attributionen für Erfolge und Misserfolge von Schü- Weiterhin beeinflussen die Reaktionen der Lehrkraft (und
lerinnen und Schülern klassifiziert (. Tab. 11.3). Zentrale auch der Eltern und Gleichaltrigen) auf Erfolge oder Misser-
Annahme ist, dass konkrete Ursachenzuschreibungen (z. B. folge, welche Ursachen Schülerinnen und Schüler für Erfolge
Stimmung, Müdigkeit), die ähnlich auf den Attributionsdi- oder Misserfolge verantwortlich machen. Wenn eine Eng-
mensionen verortet sind (z. B. internal, variabel, unkontrol- lischlehrerin die mangelhafte Leistung des Schülers Louis
lierbar), zu vergleichbaren Konsequenzen führen. mit dem sarkastischen Kommentar „Dieses Mal hast du dein
Empirische Studien zeigten, dass die Attributionsdimen- wahres Können gezeigt“ quittiert, so bewirkt sie eine fähig-
sionen Stabilität und Kontrollierbarkeit bedeutsam für die keitsbezogene Misserfolgsattribution. Wenn sie den Misser-
nachfolgende Erfolgserwartung bei ähnlichen Aufgaben so- folg hingegen mit „Ein Ausrutscher, ich weiß, dass du mehr
11.5  Förderung der Lern- und Leistungsmotivation
221 11
kannst“ kommentiert, regt sie eher motivational günstige, Im Fokus: Förderung von Wert und Erfolgserwartung
zufallsbezogene oder anstrengungsbezogene Misserfolgsat-
tribution an (7 Abschn. 11.5.2). Förderung von Wert
4 Betonung der Bedeutsamkeit des Lerngegenstands
1 Volitionale Prozesse. . . 4 Ausführliche Begründung der Lernaktivitäten
4 Artikulierung des eigenen Interesses an den Lerninhal-
4 umfassen Planung und Selbstkontrolle, ten
4 sind beeinflusst durch volitionale Strategien und indi- 4 Herstellung von praktischen Anwendungsmöglichkei-
viduelle Dispositionen wie Selbstkontrollkapazität oder ten und anderen Alltagsbezügen
Handlungsorientierung und 4 Erhöhung des emotionalen Gehalts des Lernstoffs
4 stehen in Zusammenhang mit kontextueller Ablenkung. 4 Verbindung des Lernstoffs mit den Interessen der
Schülerinnen und Schüler
4 Abwechslungsreiche Gestaltung der Stoffvermittlung
1 Attributionen. . .
4 Induzieren kognitiver Konflikte (Widersprüche zum
vorhandenen Wissen)
4 lassen sich nach den Attributionsdimensionen Lokation, Förderung der Erfolgserwartung
Stabilität und Kontrollierbarkeit ordnen, 4 Lehrziele und hierzu passende Lehrmethodik einer
4 wirken gemäß dieser Dimensionen: Lokation beeinflusst Unterrichtseinheit verdeutlichen
Emotionen, Stabilität und Kontrollierbarkeit beeinflussen 4 Aufgabenstellungen klar verständlich kommunizieren
Erfolgserwartung und Fähigkeitsselbstkonzept und 4 Herangehensweisen und Lösungsschritte bewusst
4 sind beeinflusst durch Fähigkeitsselbstkonzept, attribu- machen
tionale Tendenzen und Reaktionen auf Erfolge oder Miss- 4 An ähnliche, bereits bewältigte Aufgaben erinnern
erfolge von Bezugspersonen. 4 Möglichkeiten zum Umgang mit Schwierigkeiten
aufzeigen

11.5 Förderung der Lern- und


Leistungsmotivation Es ist grundsätzlich ratsam, Unterricht so zu gestalten,
dass diese Maßnahmen umgesetzt werden. Wichtig ist aber
die Erkenntnis, dass die Maßnahmen zwar ein erster Schritt
In diesem Abschnitt lernen Sie, wie Lehrkräfte im Unterricht sind, meist aber kaum eine dauerhafte motivationsförderliche
Schülerinnen und Schüler motivieren können. Neben den Wirkung entfalten – insbesondere nicht bei Schülerinnen und
dazu nötigen Grundprinzipien werden auch dezidiert Moti- Schülern mit umfangreicheren Motivationsproblemen.
vationstrainings vorgestellt.
1 Förderung intrinsischer Motivation und Interesse
Aus der Selbstbestimmungstheorie der Motivation folgt, dass
11.5.1 Motivationsförderliche die Erfüllung der Bedürfnisse nach Autonomie, Kompetenz-
erleben und sozialer Eingebundenheit intrinsische Motivati-
Unterrichtsgestaltung
on und Interesse begünstigt (7 Abschn. 11.3). Der folgende
Kasten zeigt in Anlehnung an Schiefele (2004), wie Lehr-
Grundvoraussetzung für effektives Lernen ist, dass Lernen- kräfte durch ihr instruktionales Handeln die Befriedigung
de hinreichend motiviert sind. Jedoch erleben Lernende nicht dieser Bedürfnisse ermöglichen und so ihre Schülerinnen
jeden Lerninhalt als interessant oder wollen ihre Kompeten- und Schüler motivieren können. In mehreren empirischen
zen und ihr Wissen erweitern. Für erfolgreiches Lehren ist es Studien konnte gezeigt werden, dass diese Maßnahmen das
daher entscheidend, dass Lehrkräfte Schülerinnen und Schü- Interesse von Schülerinnen und Schülern steigern und die
ler motivieren und dafür sorgen, dass die Motivation wäh- selbstbestimmte Motivation unterstützen.
rend des Unterrichts aufrechterhalten wird (Klauer 1985).
Konkrete Möglichkeiten dazu lassen sich aus verschiedenen Im Fokus: Förderung motivationaler Grundbedürfnisse
theoretischen Modellvorstellungen ableiten.
Befriedigung des Bedürfnisses nach Autonomie
1 Herstellung des situationalen Interesses und Förderung 4 Mitbestimmungsmöglichkeiten bei Lernzielen, Lernge-
der Erfolgserwartung genständen und Lernwegen
Eine Möglichkeit, Schülerinnen und Schüler zu motivieren, 4 Nutzung von Lernaktivitäten, die umfangreiche Hand-
ist den Wert einer Lernhandlung oder eines Lernergebnisses lungsspielräume und Möglichkeiten zur Selbststeuerung
zu erhöhen und zugleich die situationsbezogene Erfolgser- erlauben
wartung zu stärken (7 Abschn. 11.2.1; 11.3.1). Verschiedene 4 Schaffung von Möglichkeiten zur Selbstbewertung
hierfür geeignete Strategien sind im folgenden Kasten aufge- 4 Gemeinsames Aushandeln von Verhaltensregeln
führt (Schiefele 2004):
222 Kapitel 11  Motivation

Unterricht verhalten, gestalten sie entweder eine stärkere


Befriedigung des Bedürfnisses nach Kompetenzerleben Lernzielstruktur oder eine stärkere Performanzzielstruktur.
4 Klare, verhaltensorientierte Rückmeldung von Erfolgen Epstein (1989) und Ames (1992) identifizierten verschiede-
4 Klare, strukturierte und verständnisorientierte Instrukti- ne Dimensionen instruktionalen Handelns von Lehrkräften,
on die die Klassenzielstruktur charakterisieren, und fassten die-
4 Anpassung der Schwierigkeitsgrade an individuellen se unter dem Akronym TARGET (task, authority, recognition,
Kenntnisstand grouping, evaluation, time) zusammen. . Tab. 11.5 zeigt die
4 Unterstützung bei Schwierigkeiten sechs Dimensionen und listet Maßnahmen zur Förderung ei-
4 Realisierung von Lernaktivitäten, bei der vielfältige ner Lernzielstruktur im Unterricht auf, die zur Förderung der
Kompetenzen eingebracht werden können (nicht nur Lern- und Leistungsmotivation empfehlenswert sind (Ames
das jeweilige fachspezifische Wissen) 1992; Dresel & Lämmle 2011). Die empirische Forschung zu
Befriedigung des Bedürfnisses nach sozialer Eingebunden- diesen Dimensionen weist zwar noch Lücken auf, es besteht
heit aber Einigkeit darin, dass sie dabei helfen, motivationsförder-
4 Einsatz von Gruppenarbeitsmethoden lichen Unterricht zu gestalten.
4 Partnerschaftliches Verhältnis zwischen Lehrkraft und
Schülerinnen und Schülern, das auch beinhaltet, dass
die Lehrkraft die Lernfortschritte aller Schülerinnen und
Schüler würdigt 11.5.2 Trainings zur Förderung der Lern- und
Leistungsmotivation
1 Setzen von Zielen und Herstellen einer motivations-
Nicht selten sind bei Schülerinnen und Schülern gravieren-
und lernförderlichen Zielstruktur im Unterricht
dere motivationale Probleme zu beobachten. Gezielte, indi-
Ziele entwickeln ihre motivationale Wirkung besonders
viduelle Motivationstrainings können geeignete Fördermaß-
dann, wenn sie SMART formuliert werden (Locke & Latham
nahmen darstellen. Verschiedene Motivationstrainings ha-
11 2002). SMART steht für „spezifisch, messbar, anspruchsvoll,
ben unterschiedliche Förderschwerpunkte und adressieren
realistisch, terminiert“. Eine kurze Beschreibung dieser Di-
unterschiedliche Problemkonstellationen. Zeigt der Schüler
mensionen mit Beispielen ist in . Tab. 11.4 aufgeführt.
Tim beispielsweise ungünstige Attributionsmuster, kann das
In 7 Abschn. 11.3.2 wurde die Klassenzielstruktur als
durch ein Reattributionstraining (Dresel 2004) positiv beein-
wichtiger Einflussfaktor für das Setzen von individuellen
flusst werden. Sind die motivationalen Probleme hingegen
Zielen vorgestellt. Abhängig davon, wie Lehrkräfte sich im
durch mehrere ungünstig ausgeprägte Motivationskompo-
nenten (z. B. ungünstige Erfolgserwartung, ungünstiges At-
tributionsmuster) charakterisiert, bieten sich Motivations-
. Tabelle 11.4 Merkmale zum Setzen motivational günstiger Ziele trainings an, die mehrere Motivationskomponenten adres-
Spezifisch Ziele sollten „Heute Nachmittag wiederhole
sieren, wie beim Münchner Motivationstraining (Schober &
konkret formu- ich die Vokabeln aus Kapitel 3 Ziegler 2001) oder beim Training von Rheinberg und Krug
liert sein des Englischbuches“ ist günstiger (2005). Damit eine Steigerung der Motivation auch zu bes-
als “Heute Nachmittag lerne ich seren Leistungen führt und damit nachhaltig wirkt, ist es
Englisch“ wichtig, etwaige Wissenslücken zu schließen und, falls nö-
Messbar Ziele sollten „Heute Nachmittag wiederhole tig, Kompetenzen zur effektiven Durchführung von Lern-
einen messba- ich die Vokabeln aus Kapitel 3 handlungen zu fördern. Daher werden Motivationstrainings
ren Standard des Englischbuches bis ich eine häufig mit der Vermittlung von Fachwissen (Fries 2002) und
enthalten bestimmte Anzahl an Vokabeln
kann“
Lernstrategien kombiniert.

Anspruchs- Ziele sollten „Heute Nachmittag wiederhole


1 Reattributionstrainings
voll individuell an- ich die Vokabeln aus Kapitel 3
spruchsvoll sein des Englischbuches bis ich alle Bei Reattributionstrainings lernen Schülerinnen und Schüler
Vokabeln kann“ ihre Erfolge und Misserfolge motivational günstig zu erklä-
ren (7 Abschn. 11.4.3). Motivationsabträgliche sollen durch
Realistisch Ziele sollten „Heute Nachmittag wiederhole
individuell realis- ich die Vokabeln aus Kapitel 3 des motivationsförderliche Attributionen ersetzt werden (da-
tisch sein Englischbuches bis ich maximal her „Re-Attributionstraining“). Dies wird häufig durch at-
drei Vokabeln nicht kann“ tributionales Feedback erreicht. Hausaufgaben, Prüfungs-
Terminiert Ziele sollten „Heute Nachmittag wiederhole ergebnisse oder andere Schülerbeiträge werden schriftlich
sich auf einen ich die Vokabeln aus Kapitel 3 des oder mündlich mit günstigen Ursachenerklärungen kom-
begrenzten zeit- Englischbuches bis ich maximal mentiert. Verbale Kommentare sollten dabei möglichst unter
lichen Horizont drei Vokabeln nicht kann und zwar vier Augen gegeben werden, da öffentliche Leistungsrück-
beziehen direkt nach den Hausaufgaben“
meldungen im Unterricht negative Effekte haben können.
11.5  Förderung der Lern- und Leistungsmotivation
223 11

. Tabelle 11.5 Motivational relevante Dimensionen der Unterrichtsgestaltung und Maßnahmen zur Förderung einer günstigen Klassenlern-
zielstruktur im Unterricht (nach Dresel & Lämmle, 2011, S. 134)

Dimension Maßnahmen zur Förderung einer günstigen Zielstruktur im Unterricht

Task – Nutzung von abwechslungsreichen, vielfältigen, persönlich bedeutsamen, sinnhaften, emotional reichen und damit inter-
(Aufgaben- essanten Aufgabenstellungen
stellungen) – Verwendung von individuell herausfordernden Aufgaben, die mit Anstrengung zu bewältigen sind
– Strukturierung von Lernaktivitäten in Teilschritte und Teilziele, anhand derer Schülerinnen und Schüler ihren Fortschritt
erkennen können

Authority – Entwicklungsangemessene Übertragung der Verantwortung für das Lernen und die Zusammenarbeit in der Klasse
(Autorität und – Möglichkeiten zur Wahl von (Teil-)Lernzielen, Lernaktivitäten, Lernwegen und Lernmaterialien entsprechend der Selbstre-
Autonomie) gulationsfähigkeiten der einzelnen Schülerinnen und Schüler
– Möglichkeiten für Schülerinnen und Schüler, Entscheidungen zu treffen und Führung wahrzunehmen

Recognition – Anerkennung von Anstrengung durch Lob, positive emotionale Reaktionen, Belohnung und andere Formen der Verstär-
(Anerkennung) kung
– Vermittlung der Überzeugung, dass Anstrengung zur Verbesserung von Kompetenzen führt und dass Kompetenzen das
Ergebnis von Anstrengungen sind
– Anerkennung von individuellen Verbesserungen
– Keine Bevorzugung von leistungsstarken Schülerinnen und Schülern
– Anerkennung des Verständnisses (anstelle der reinen Memorierung) des Lernstoffs
– Anerkennung von individuellen Lösungszugängen
– Realisierung eines konstruktiven Fehlerklimas, in dem Fehler als Lernchancen und nicht als Anzeichen mangelnder Kom-
petenzen betrachtet werden

Grouping – Verwendung von kooperativen Lernmethoden


(Gruppierung) – Realisierung von leistungsheterogenen Gruppen, die das gemeinsame Erreichen von Zielen fördern (Einbringen von
individuellen Kompetenzen)
– Herstellung eines kooperativen anstelle eines wettbewerbsorientierten Klassenklimas
– Vermittlung von Kompetenzen zur effektiven Arbeit in Gruppen

Evaluation – Verwendung von individuellen und kriterialen Bezugsnormen bei der Aufgabenbewertung
(Bewertung) – Vermeidung der sozialen Bezugsnorm
– Vermeidung von sozialen Vergleichen
– Möglichst starker Verzicht auf wettbewerbsorientierte Methoden
– Möglichst starker Verzicht auf öffentliche Leistungsrückmeldungen (z. B. bei der Herausgabe von Klassenarbeiten) und
intensive Nutzung privater Rückmeldungen (in mündlicher und schriftlicher Form)

Timing – Gewährung von ausreichender Bearbeitungszeit (Aufgaben und Tests)


(Zeit) – Ausrichtung der Lernzeit an leistungsschwächeren Schülerinnen und Schülern (ggf. Zusatzaktivitäten für leistungsstärke-
re Schülerinnen und Schülern)
– Gelegenheit zur eigenverantwortlichen Zeitplanung der Lernaktivitäten und zur eigenständigen Terminierung von Selbst-
tests

Beispiele für motivational günstiges, attributionales Feedback butionales Feedback bei erfolgreicher Aufgabenbearbeitung,
sind in . Tab. 11.6 aufgeführt. abhängig davon, welcher Untersuchungsgruppe sie per Zufall
Empirische Studien belegten mehrfach die Wirksamkeit zugelost wurden (im Misserfolgsfall wurde stets attributionales
von Reattributionstrainings (Dresel 2004; Ziegler & Finster- Feedback auf mangelnde Anstrengung gegeben). Schülerin-
wald 2008). Dabei waren unterrichtsbegleitende Kleingrup- nen und Schüler der Gruppe „Fähigkeit-Anstrengung“ erhielten
pentrainings (zusätzlich zum Unterricht) effektiver als unter- in den Sitzungen 1 bis 3 Erfolgsattributionen auf hohe Fähig-
richtsintegrierte. Zudem konnte die Forschung zeigen, dass keiten (z. B. „Man merkt, dass dir der Stoff liegt“) und in den
im Erfolgsfall sowohl Anstrengungs- als auch Fähigkeitsrück- Sitzungen 4 bis 6 auf hohe Anstrengung (z. B. „Man merkt, wie
meldungen nötig sind (Dresel 2004). konzentriert du gearbeitet hast“). Der Gruppe „Anstrengung-
Fähigkeit“ wurde das attributionale Feedback in vertauschter
Studie: Wirkung von Reattributionstrainings Sequenz und der Gruppe „Anstrengung/Fähigkeit“ per Zufall
In einer Untersuchung prüften Dresel und Ziegler (2006) die ausgewählt und damit ohne feste Sequenzierung dargebo-
Wirkung attributionalen Feedbacks und inwieweit deren Rei- ten. Eine vierte Gruppe schließlich stellte die Placebogrup-
henfolge unterschiedliche Wirkung zeigt. Hierzu wurden 140 pe dar; die Schülerinnen und Schüler dieser Gruppe erhiel-
Schülerinnen und Schüler der siebten Jahrgangsstufe zwei Wo- ten bei der Bearbeitung der Lernsoftware zwar Rückmeldun-
chen vor sowie zwei Wochen und sechs Monate nach dem Bear- gen zu ihrer Leistung, jedoch kein attributionales Feedback.
beiten einer Lernsoftware im Fach Mathematik befragt (Prätest, Die Ergebnisse erbrachten insbesondere, dass die Sequenzie-
Posttest, Follow-Up). Während des Lernens mit der Software rung „Anstrengung-Fähigkeit“ sowohl im Posttest als auch im
erhielten die Schülerinnen und Schüler unterschiedliches attri- Follow-Up zu einem besseren Fähigkeitsselbstkonzept, größe-
224 Kapitel 11  Motivation

ge und Misserfolge zu fördern. Kernelemente aller Trainings


. Tabelle 11.6 Beispiele für attributionales Feedback
sind: (1) Die Schülerinnen und Schüler erhalten bei der Leis-
Attributionskategorie Beispiele tungsbewertung Feedback nach individueller Bezugsnorm –
Erfolg Hohe Fähigkei- „Auch für schwierige Textaufgaben unabhängig davon, wie gut oder schlecht ihre Leistungen im
ten hast du die notwendigen Fähig- sozialen oder kriterialen Vergleich sind, erhalten sie Rück-
keiten“, „Textaufgaben kannst du meldung zu individuellen Fortschritten. Sie erleben damit
offensichtlich“ individuell betrachtet Erfolge, auch wenn die Leistung im so-
Hohe Anstren- „Du hast sehr sorgfältig gearbeitet“, zialen oder kriterialen Vergleich eher als Misserfolg zu bewer-
gungen „Die einzelnen Teilschritte zur Lösung ten ist. (2) Die Schülerinnen und Schüler haben Gelegenheit,
der Textaufgaben hast du sehr konzen- Aufgaben mit für sie passenden Schwierigkeitsanforderun-
triert bearbeitet“ gen zu wählen. So sollen Erfolgserlebnisse ermöglicht wer-
Miss- Mangelnde „Wenn du dich stärker bemühst, die den, die sich positiv auf die Lern- und Leistungsmotivation
erfolg Anstrengungen Textaufgaben sorgfältig zu lesen und auswirken. (3) Schließlich werden realistische Attributionen
Schritt für Schritt zu bearbeiten, klappt vermittelt.
es das nächste Mal besser“, „Wenn du
die wesentlichen Informationen der
Textaufgabe unterstreichst, erhältst du 1 Motivation lässt sich fördern durch. . .
einen besseren Überblick und kannst
Textaufgaben besser lösen“ 4 situationsbezogene Herstellung von Wert und Erfolgser-
Schwierige Auf- „Auch anderen sind diese Textauf- wartung,
gabenstellung gaben sehr schwer gefallen“, „Diese 4 Unterrichtshandeln, das die Befriedigung der Bedürfnisse
Textaufgaben waren in der Tat nicht nach Autonomie, Kompetenzerleben und sozialer Einge-
leicht“ bundenheit ermöglicht,
Pech „Kopf hoch, das war einfach nicht dein 4 die Unterstützung beim Setzen SMARTer Ziele,
Tag“, „Das ist irgendwie blöd gelaufen“ 4 die Realisierung einer günstigen Zielstruktur, orientiert
11 an den TARGET-Dimensionen und
4 spezifische Motivationstrainings.
ren Kontrollüberzeugungen und geringerer Hilflosigkeit ge-
genüber der Placebogruppe führte. Nur in dieser Versuchsbe-
dingung können die Schülerinnen und Schüler ihre Fähigkeiten
Zusammenfassung
(die später zurückgemeldet wurden) als Ergebnis ihrer Anstren-
Die aktuelle Motivation von Lernenden umfasst eine
gungen (die zu Beginn zurückgemeldet wurden) interpretieren
Erwartungs- und eine Wertkomponente und wirkt auf
– was als besonders günstige und vor Hilflosigkeit schützende
den kompletten Handlungsverlauf. Die Erwartungskom-
Sicht auf die eigenen Leistungen und Fähigkeiten betrachtet
ponente bezieht sich auf die Realisierbarkeit eines Ziel-
werden kann. Demnach sollten Lehrkräfte, wenn Schülerinnen
zustandes, die Wertkomponente auf dessen Wünschbar-
und Schüler etwas Neues lernen, Erfolge zunächst mit Anstren-
keit. Die Funktion von Motivation im Handlungsverlauf
gungsattributionen kommentieren (z. B. „Du hast Dich gut an-
ist es vornehmlich, zielführende Handlungen zu initiie-
gestrengt“) und wenn hinreichend Wissen und Kompetenzen
ren, auszurichten und aufrechtzuerhalten, aber auch zu
erworben wurden, dieses durch Fähigkeitsrückmeldungen wie
regulieren und zu bewerten. Die aktuelle Motivation wird
„Das kannst du wirklich gut“ ersetzen.
von personalen und kontextuellen Determinanten beein-
flusst, wirkt aber auch auf diese zurück. So beeinflus-
1 Münchner Motivationstraining
sen insbesondere das Fähigkeitsselbstkonzept der han-
Das Münchner Motivationstraining adressiert nicht eine
delnden Person oder interpersonelle Erwartungen und
motivationale Komponente, sondern verschiedene (Schober
attributionales Feedback von Bezugspersonen die Erwar-
& Ziegler 2001). Es wird der komplette Handlungsverlauf
tungskomponente. Die Wertkomponente lässt sich klas-
(7 Abschn. 11.1.1) in den Fokus genommen. Schülerinnen
sifizieren nach intrinsischen und extrinsischen Anreizen
und Schüler (1) erhalten motivational günstiges Feedback
sowie nach unterschiedlichen Zielen und ist insbesonde-
zu Lern- und Leistungshandlungen, (2) lernen Erfolge und
re beeinflusst von Motiven, Bedürfnissen, Zielorientierun-
Misserfolge funktional zu attribuieren, entwickeln (3) Lern-
gen und personalen Interessen der handelnden Person
strategien sowie (4) die Überzeugung, eigene Fähigkeiten
sowie der Zielstruktur im Lernkontext. Bei der Handlungs-
verändern zu können, und (5) das Gelernte über verschiede-
durchführung sind Prozesse der Selbstkontrolle und des
ne Fächer hinweg zu generalisieren.
Planens entscheidend. Diese hängen vom Einsatz volitio-
1 Training nach Rheinberg und Krug naler Strategien, der individuellen Selbstkontrollkapazität
Rheinberg und Krug (2005) entwickelten und evaluierten sowie der Handlungs- vs. Lageorientierung der handeln-
mehrere Einzeltrainings mit dem Ziel, das Fähigkeitsselbst- den Person ab. Die Ursachenzuschreibungen (Attributio-
konzept und die Erfolgserwartung von Schülerinnen und nen) für Erfolg und Misserfolg lassen sich entlang der
Schülern zu stärken und günstige Attributionen für Erfol-
Literatur
225 11
14. Nennen Sie zehn verschiedene Unterrichtsmaßnah-
Attributionsdimensionen Lokation, Stabilität und Kontrol- men, mit denen Sie als Lehrkraft dazu beitragen
lierbarkeit ordnen; die Wirkungen von Attributionen auf können, eine Lernzielstruktur im Unterricht zu realisie-
das emotionale Erleben und die nachfolgende Motivati- ren.
on hängen von ihrer Verortung auf diesen Dimensionen
ab. Zur Förderung der Motivation von Schülerinnen und
Schülern ist zunächst die situationsbezogene Herstellung Literatur
von Wert und Erfolgserwartung sinnvoll – auch wenn da-
rüber hinausreichende Maßnahmen meist unabdingbar Achtziger, A., & Gollwitzer, P. M. (2010). Motivation und Volition im Hand-
sind. Es empfiehlt sich, Unterrichtshandeln konsequent so lungsverlauf. In J. Heckhausen & H. Heckhausen (Hrsg.), Motivation
zu gestalten, dass die Bedürfnisse der Schülerinnen und und Handeln (4. Aufl. S. 309–335). Heidelberg: Springer.
Schüler nach Autonomie, Kompetenzerleben und sozia- Ames, C. (1992). Classrooms: Goals, structures, and student motivation.
Journal of Educational Psychology, 84, 261–271.
ler Eingebundenheit befriedigt werden. Zudem sollte die
Bandura, A. (1977). Self-efficacy: Toward a unifying theory of behavioural
Lehrkraft das Setzen geeigneter Ziele unterstützen und change. Psychological Review, 84, 191–215.
im Unterricht eine starke Lernzielstruktur realisiert wer- Bandura, A. (1997). Self-efficacy: The exercise of control. New York: Freeman.
den. Schließlich stehen dezidierte Motivationstrainings Beckmann, J., & Strang, H. (1991). Handlungskontrolle im Sport. Sportpsy-
zur Verfügung, die zur Förderung der Motivation von chologie, 5, 5–10.
Bertrams, A., & Dickhäuser, O. (2009). Messung dispositioneller
Schülerinnen und Schülern genutzt werden können.
Selbstkontroll-Kapazität. Eine deutsche Adaptation der Kurzform
der Self-Control Scale (SCS-K-D). Diagnostica, 55, 2–10.
Bertrams, A., Englert, C., Dickhäuser, O., & Baumeister, R. F. (2013). Role of
Self-Control Strength in the Relation Between Anxiety and Cognitive
Performance. Emotion, 13, 668–680.
Verständnisfragen Buff, A. (2001). Warum lernen Schülerinnen und Schüler? Eine explorative
Studie zur Lernmotivation auf der Basis qualitativer Daten. Zeitschrift
für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 33, 157–
?1. Welche Funktionen hat Motivation in den verschiede- 164.
nen Phasen des Handlungsverlaufs? Deci, E. L., & Ryan, R. M. (1985). Intrinsic motivation and self-determination
2. Wieso ist es relevant, zwischen der Stärke und der Art in human behavior. New York, NY: Plenum Press.
von Motivation zu unterscheiden? Deci, E. L., & Ryan, R. M. (1993). Die Selbstbestimmungstheorie der Motiva-
tion und ihre Bedeutung für die Pädagogik. Zeitschrift für Pädagogik,
3. Zeigen Sie auf, wie die Handlungs-Ergebnis-Erwartung
39, 223–238.
Lernhandlungen und Leistungen beeinflusst. Deci, E. L., Koestner, R., & Ryan, R. M. (1999). A meta-analytic review of
4. Wie wirkt das Fähigkeitsselbstkonzept auf die Erfolgs- experiments examining the effects of extrinsic rewards on intrinsic
erwartung? motivation. Psychological Bulletin, 125, 627–668.
5. Erläutern Sie, warum manche Schülerinnen und Dettmers, S., Trautwein, U., Lüdtke, O., Kunter, M., & Baumert, J. (2010).
Homework works if homework quality is high: Using multilevel mo-
Schüler sich durch schlechte Leistungen demotivieren
deling to predict the development of achievement in mathematics.
lassen, andere hingegen nicht. Journal of Educational Psychology, 102, 467–482.
6. Nennen Sie Beispiele für intrinsische, für Dickhäuser, O., & Stiensmeier-Pelster, J. (2003a). Gender differences in
selbstbestimmt-extrinsische und für fremdbestimmt- computer work: Evidence for the model of achievement-related choi-
extrinsische Anreize. ces. Contemporary Educational Psychology, 27, 486–496.
Dickhäuser, O., & Stiensmeier-Pelster, J. (2003b). Gender differences in
7. Erläutern Sie, wie personales Interesse an Geschichte
choice of computer courses: Applying an expectancy-value model.
schulische Leistungen in diesem Fach beeinflussen Social Psychology of Education, 6, 173–189.
kann. Dresel, M. (2004). Motivationsförderung im schulischen Kontext. Göttingen:
8. Welche verschiedenen Arten von Zielen sind für Lern- Hogrefe.
und Leistungshandeln besonders bedeutsam? Dresel, M., & Lämmle, L. (2011). Motivation. In T. Götz (Hrsg.), Emotion,
Motivation, und selbstreguliertes Lernen (S. 79–142). Paderborn: Schö-
9. Welche volitionalen Strategien unterstützen die
ningh UTP.
Initiierung und Durchführung von Handlungen? Dresel, M., & Ziegler, A. (2006). Langfristige Förderung von Fähigkeits-
10. Wie kann eine Lehrkraft dazu beitragen, dass Schüle- selbstkonzept und impliziter Fähigkeitstheorie durch computerba-
rinnen und Schüler bei Lernhandlungen ausdauernd siertes attributionales Feedback. Zeitschrift für Pädagogische Psycho-
(persistent) sind? logie, 20, 49–63.
Dresel, M., Schober, B., & Ziegler, A. (2005). Nothing more than dimen-
11. Welche sind motivational günstige Attributionen für
sions? Evidence for a surplus meaning of specific attributions. Journal
Erfolg und Misserfolg? of Educational Research, 99, 31–44.
12. Wie wirken sich die Stabilität, Lokation und Kontrol- Dresel, M., Schober, B., & Ziegler, A. (2007). Golem und Pygmalion:
lierbarkeit von Ursachenfaktoren, die zur Erklärung Scheitert die Chancengleichheit von Mädchen im mathematisch-
von Leistungsergebnissen herangezogen werden, aus? naturwissenschaftlichen Bereich am geschlechtsstereotypen Denken
Unterscheiden Sie zwischen Erfolg oder Misserfolg. der Eltern? In P. H. Ludwig & H. Ludwig (Hrsg.), Erwartungen in him-
melblau und rosarot. Effekte, Determinanten und Konsequenzen von
13. Wie lassen sich im Unterricht die Bedürfnisse nach Geschlechterdifferenzen in der Schule (S. 61–81). Weinheim: Juventa.
Autonomie, Kompetenzerleben und sozialer Eingebun- Dresel, M., Stöger, H., & Ziegler, A. (2006). Klassen- und Schulunterschiede
denheit befriedigen? im Ausmaß von Geschlechterdiskrepanzen bei Leistungsbewertun-
226 Kapitel 11  Motivation

gen und Leistungsaspirationen: Ergebnisse einer Mehrebenenanaly- Köller, O., Trautwein, U., Lüdtke, O., & Baumert, J. (2006). Zum Zusammen-
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229 III

Entwicklung im Kindes-
und Jugendalter
Inhaltsverzeichnis

Kapitel 12 Modelle und Bedingungen der Entwicklung – 231

Kapitel 13 Psychosexuelle und soziale Entwicklung – 253

Kapitel 14 Kognitiv-sprachliche Entwicklung – 273

Kapitel 15 Motivationale und emotionale Entwicklung – 295

Kapitel 16 Entwicklung des Selbst und der Persönlichkeit – 315


231 12

Modelle und Bedingungen der


Entwicklung
Katja Seitz-Stein und Valérie-Danielle Berner

12.1 Einleitung – 232

12.2 Grundlagen und zentrale Fragen der


Entwicklungspsychologie – 232
12.2.1 Gegenstand und Aufgaben der Entwicklungspsychologie – 232
12.2.2 Grundbegriffe zur Erklärung von Entwicklung – 233
12.2.3 Zeitbezogene Konzepte der Entwicklungspsychologie – 234
12.2.4 Kontinuierliche vs. diskontinuierliche Entwicklung – 235
12.2.5 Anlage-Umwelt-Debatte – 235

12.3 Theorien der Entwicklungspsychologie – 238


12.3.1 Strukturgenetischer Ansatz – 240
12.3.2 Psychoanalytische Ansätze – 242
12.3.3 Ethologische Ansätze – 243
12.3.4 Lerntheoretische Ansätze – 243
12.3.5 Informationsverarbeitungsansätze – 244
12.3.6 Soziokulturelle und systemorientierte Ansätze – 245

12.4 Forschungsmethoden – 246


12.4.1 Datengewinnung – 246
12.4.2 Stichprobenselektion – 248

Verständnisfragen – 249

Literatur – 249

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019


D. Urhahne, M. Dresel, F. Fischer (Hrsg.), Psychologie für den Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55754-9_12
232 Kapitel 12  Modelle und Bedingungen der Entwicklung

12.1 Einleitung als unveränderlich (irreversibel) und viertens als für alle Men-
schen gleich (universell).
Der weite Entwicklungsbegriff umfasst nicht nur Ent-
Im vorliegenden Kapitel wird erklärt, was die Entwicklungs-
wicklungsgewinne, sondern auch Entwicklungsverluste, be-
psychologie ausmacht, womit sie sich beschäftigt, wozu sie
zieht sich auf die gesamte Lebensspanne und berücksichtigt
dienen kann und welche Bedeutung sie für das Handeln einer
Kontexte (z. B. Schulen, Kulturen etc.). Diese Annahmen des
Lehrkraft haben kann. Dabei werden unterschiedliche Be-
zuletzt genannten Entwicklungsbegriffs lassen sich auch im
trachtungsweisen des Selbstverständnisses der Entwicklungs-
Gegenstand und den Aufgaben der aktuellen Entwicklungs-
psychologie angesprochen (Baltes, Lindenberger & Staudin-
psychologie wiederfinden.
ger 2006), Grundbegriffe definiert und versucht, diese gegen-
einander abzugrenzen. Da Veränderungen und Stabilitäten
im zeitlichen Verlauf von Interesse sind, gilt es, sich mit dem 12.2.1 Gegenstand und Aufgaben der
Lebensalter und anderen zeitbezogenen Konzepten auseinan- Entwicklungspsychologie
derzusetzen. Zwei große Debatten der Entwicklungspsycho-
logie, zum einen die Frage, wie sich Entwicklung vollzieht
Wie für die Psychologie insgesamt gilt auch für die Entwick-
und zum anderen die Frage, welcher Anteil von Entwicklung
lungspsychologie, dass sie sich mit der Beschreibung (De-
durch die Erbanlage und welcher durch die Umwelt deter-
skription) und Erklärung (Explanation) sowie der Vorhersage
miniert ist, werden fokussiert. Um ein Verständnis für Be-
(Prognose) und Beeinflussung (Intervention) des menschli-
dingungen und Modelle der Entwicklung zu gewährleisten,
chen Verhaltens und Erlebens beschäftigt (Trautner 1992).
werden biologische Grundlagen in den Abschnitten Gene-
Die Besonderheit der Entwicklungspsychologie liegt in der
tik, Epigenetik und Verhaltensgenetik erörtert. Theorien und
Berücksichtigung der zeitlichen Perspektive. Damit kann als
Modelle leiten auch in der Entwicklungspsychologie den Er-
„Unterscheidungsmerkmal . . . die ausdrückliche Thematisie-
kenntnisgewinn. Die wichtigsten Theorien werden dargestellt
rung der Zeitvariablen“ angesehen werden (Trautner 1992,
und Möglichkeiten ihrer Einteilung erörtert. Forschungsme-
S. 16).
thoden sind in der Entwicklungspsychologie aufgrund der
Die Entwicklungspsychologie betrachtet Veränderungen
großen interessierenden Altersspanne (von der Konzeption
und Stabilitäten im menschlichen Erleben und Verhalten
bis zum Tod) ein kritisches Merkmal. So kann beispielsweise
über die Zeit. Dabei werden Veränderungen und Stabilitäten
untersucht werden, ob wenige Monate alte Säuglinge Farbun-
12 terschiede wahrnehmen können, auch wenn sie nicht in der
innerhalb des Individuums, d. h. intraindividuelle Entwick-
lung, ebenso betrachtet wie Veränderungen und Stabilitäten
Lage sind, dies sprachlich mitzuteilen. Möglichkeiten der Da-
zwischen verschiedenen Individuen, d. h. interindividuelle
tengewinnung und Besonderheiten der Stichprobenauswahl
Entwicklung. Da sich Entwicklung in Kontexten vollzieht
werden erörtert. In einer Zusammenfassung werden dieje-
(z. B. sozialer, familiärer, materieller, institutioneller Art) sind
nigen Bedingungen und Modelle der Entwicklung nochmals
diese und ihr Zusammenspiel mit intraindividueller Ent-
aufgegriffen, die für eine Lehrkraft handlungskritische Impli-
wicklung, aber auch interindividuellen Unterschieden eben-
kationen haben können.
falls zum Gegenstandsbereich der Entwicklungspsychologie
zu zählen. Als Beispiel könnte hier die entwicklungspsy-
chologische Frage „Wie entwickelt sich der Zahlbegriff im
12.2 Grundlagen und zentrale Fragen der
Vorschulalter (intra- und interindividuell) und welche Aus-
Entwicklungspsychologie wirkungen können Würfelspiele (materieller Kontext) hierauf
haben?“ fokussiert werden.
Um sich der Entwicklungspsychologie als einem Teilgebiet Der Aufgabenbereich der Entwicklungspsychologie glie-
der Psychologie zu nähern und die Bedeutung entwicklungs- dert sich in grundlagen- und anwendungsorientierte Auf-
psychologischen Wissens einordnen zu können, sollen Be- gaben (Montada 2008). Zu den grundlegenden Aufgaben
griffe, definierende Merkmale und Besonderheiten vorgestellt gehört die Beschreibung und Erklärung von Verhalten und
werden. Erleben über die Zeit. Angewendet auf die obige Fragstel-
Ganz grob lässt sich Entwicklung eher eng oder weit defi- lung würde dies der Beschreibung und Erklärung von Ent-
nieren (Trautner 1992). Der enge Entwicklungsbegriff ist der wicklungsschritten bis zum vollständigen Verstehen der Be-
traditionelle, einem biologischen Denken nahestehende, der deutung eines Zahlwortes entsprechen. Zu den eher anwen-
nur beim Vorliegen einer Reihe von inhaltlichen Kriterien dungsorientierten Aufgaben gehört nach Montada (2008;
von Entwicklung spricht: Erstens wird Entwicklung als eine Montada, Lindenberger & Schneider 2012) die Feststellung
Veränderungsreihe in mehreren Schritten verstanden, zwei- des Entwicklungsstandes, die Vorhersage künftiger Entwick-
tens verläuft diese in eine Richtung (Unidirektionalität) hin lungen und die Beeinflussung zur Absicherung oder Förde-
zu einem Endzustand. Drittens gilt die Abfolge der Schritte rung von Entwicklungsbedingungen.
12.2  Grundlagen und zentrale Fragen der Entwicklungspsychologie
233 12
Im Fokus: Beschreibung, Erklärung, Vorhersage, Beeinflussung 12.2.2 Grundbegriffe zur Erklärung von
Entwicklung
4 Beschreibungen (Deskriptionen) enthalten Angaben
(z. B. Erscheinungsformen und Merkmale) zu min-
Mit diesem Gegenstands- und Aufgabenbereich der Entwick-
destens einer Variablen (d. h. einem Sachverhalt). Die
lungspsychologie geht ein Verständnis von Entwicklung ein-
Darstellung der Angaben erfolgt beispielsweise durch
her, welches sich nach Trautner (1992; Lohaus & Vierhaus
eine Definition, eine Klassifizierung oder die Angabe
2015) als relativ überdauernde intraindividuelle Verände-
eines Ausprägungsgrades (vgl. Hussy 2010). Nicht selten
rung des Erlebens und Verhaltens über die Zeit definieren
wird mehr als eine Variable beschrieben, sodass neben
lässt. Nach Schneider und Lindenberger (2012a) lässt sich
den Variablenbeschreibungen auch der Zusammen-
Entwicklung als nachhaltige und nachhaltig wirkende psy-
hang zwischen den Variablen betrachtet werden kann,
chologische Veränderung einer Person bzw. ihrer Merkmale
jedoch ohne Berücksichtigung der Kausalbeziehung
definieren.
(Abhängigkeitsbeziehung).
Um erklären zu können, warum es zu Veränderungen
Beispiel: Ein Kind ist in der Lage ein Zahlwort einer
und zu Stabilitäten kommt, wurden verschiedene entwick-
bestimmten Menge von Objekten zuzuordnen.
lungspsychologische Konzepte und Modelle entwickelt. Ein
4 Erklärungen (Explanationen) in der Entwicklungs-
Konzept kann verstanden werden als „eine Idee, die eine
psychologie meinen, z. B. eine Variable auf jene
Anzahl individueller Beispiele, die alle etwas gemeinsam ha-
Determinanten zurückzuführen, die sie bedingt oder
ben, repräsentieren – also ein Begriff, der eine Abstraktion
ausgelöst haben. Das bedeutet, dass für die Erklärung
durch Generalisierung von Besonderheiten ausdrückt“ (Rost
der Kausalrelation mindestens zwei Variablen betrachtet
2007, S. 16). In einem Modell hingegen werden die grund-
werden müssen, deren Beschreibung zuvor erfolgt sein
legende Aspekte einer theoretischen Annahme abstrakt und
sollte (vgl. Hussy 2010).
meist graphisch dargestellt (vgl. Schick 2012). Im Folgenden
Beispiel: Es gibt Entwicklungsmodelle mathematischer
werden verschiedene Erklärungskonzepte der Entwicklung
Vorläuferkompetenzen, die erklären, welche Prozesse
aufgegriffen und kurz skizziert.
notwendig sind, um korrekt abzählen zu können und
somit die Mächtigkeit einer Menge zu bestimmen.
1 Reifung
4 Für Vorhersagen (Prognosen) künftiger Entwicklungen
Reifung als genetisch gesteuerte Ausbildung physiologischer,
sollten hingegen nur jene Erklärungen einbezogen wer-
motorischer oder psychischer Strukturen (Kavšek 2011) ist
den, für die wissenschaftliche (theoretische und/oder
ein zentrales entwicklungspsychologisches Konzept zur Er-
empirische) Erkenntnisse vorliegen.
klärung von Veränderungen. Entwicklungspsychologen ge-
Beispiel: Bei entsprechender Förderung wird das bisher
hen oft dann von Reifung aus, wenn weder Erfahrung noch
normalentwickelte Kind den vollständigen Zahlbegriff
Übung als Ursache von Veränderungen anzunehmen sind
bis zum Schuleintritt erworben haben.
(Montada et al. 2012). Da die Genaktivität aber auch von
4 Beeinflussungen (Interventionen) sind Einflussnahmen,
Erfahrung und anderen Umwelteinflüssen bestimmt wird,
die darauf zielen, entwicklungsbegünstigende Faktoren
ist das Konzept der Reifung als genetisch gesteuerte Entfal-
zu fördern oder entwicklungsbeeinträchtigende
tung durchaus kritisch zu betrachten (vgl. Montada 2008;
Faktoren abzuschwächen.
7 Abschn. 12.2.5: Epigenetik).
Beispiel: Dem Kind aus einer wenig anregenden
häuslichen Umgebung werden besonders vielfältige
Erfahrungsmöglichkeiten mit Zahlbezug angeboten. Im Fokus: Schulreife

Der Begriff Reifung steckt auch in dem veralteten Konzept


der Schulreife. Hierbei wird von dem Gedanken ausgegan-
Der Gegenstandsbereich, die Aufgaben und das Selbst- gen, dass sich ein bestimmter Entwicklungsstand entfalten
verständnis der Entwicklungspsychologie unterliegen wie bei muss, damit ein Kind erfolgreich und wohlbehalten beschult
anderen Wissenschaften auch einem mehr oder weniger gro- werden kann. Heute werden die Konzepte Schulfähigkeit
ßen Wandel. Die aktuelle Entwicklungspsychologie folgt dem oder Schulbereitschaft genutzt, welche i. d. R. in die Bereiche
Life-Span-Development-Ansatz und inkludiert damit die ge- körperliche Schulfähigkeit, soziale, emotionale und moti-
samte Lebensspanne von der Konzeption (Befruchtung der vationale Schulfähigkeit sowie die kognitive Schulfähigkeit
Eizelle) bis zum Tod (Baltes 1990; Baltes et al. 2006). Nicht unterteilt werden. Außerdem werden zunehmend auch die
selten wird die Lebensspanne durch die Anwendung von Kri- Anforderung der jeweiligen Schule und die Passung zu dem,
terien in verschiedene bzw. aufeinander aufbauende Lebens- was Lernende mitbringen, beachtet.
phasen eingeteilt, wie beispielsweise in Säuglings-, Kindes-,
Jugend- und Erwachsenenalter sowie das Alter (Wilkening,
Freund & Martin 2013). Anzumerken ist, dass aufgrund un-1 Entwicklung als Lernen
terschiedlicher theoretischer Konzeptionen die Kriterien we- Entwicklung als Lernen wird üblicherweise als relativ über-
der eindeutig noch exakt sind (7 Abschn. 12.2.5). dauernde Verhaltensänderung (oder Veränderung des Ver-
234 Kapitel 12  Modelle und Bedingungen der Entwicklung

haltenspotentials) definiert, die aufgrund von Erfahrung und chen (ggf. auch in Tagen und Stunden) angegeben und als
Übung stattfindet. Da auch Lernen eine genetische Basis hat, chronologisches Alter oder Lebensalter bezeichnet (beson-
kann eine klare Abgrenzung von Lernen und Reifung schwer- dere Schreibweise 5;3 Jahre bedeutet 5 Jahre und 3 Monate
fallen. Schafft ein 14-Jähriger es acht Stunden ruhig zu sitzen – die Ziffer nach dem Semikolon gibt also die Anzahl der
und konzentriert zu arbeiten, weil er es gelernt hat oder weil Monate an). Das chronologische Alter ist keine psychologi-
die puberalen Veränderungen im Gehirn gereift sind? Für sche Erklärungsvariable wie am folgenden Beispiel deutlich
Lernen spricht, dass er acht Jahre Schulerfahrung hat. Für wird: Der 5-jährige Christian liebt Gummibärchen und be-
Reifung spricht, dass sich Veränderungen im Gehirn bis ins kommt von Eltern und Großeltern häufig kleine Tütchen
Erwachsenenalter vollziehen, die für Handlungskontrollpro- geschenkt. Wenn er zunächst drei und dann noch ein Gum-
zesse verantwortlich sind. Eine Trennung von Lernen und mibärchen bekommt, dann weiß er, dass er vier hat. Das
Reifung wird deshalb kritisch diskutiert (Montada et al. 2012; Zusammenzählen bewältigt Christian aber nicht deswegen,
7 Abschn. 12.2.5). Entwicklung kann auch über Sozialisie- weil er fünf Jahre und drei Monate alt ist. Er kann dies vermut-
rungsprozesse erklärt werden. lich, weil er bei entsprechender Veranlagung und Förderung
durch sein Umfeld (z. B. Eltern) schon reichlich Lerngelegen-
1 Sozialisation heit mit einfachen Additionsaufgaben hatte. Vielleicht spielt
Unter Entwicklung als Sozialisation können die Lernvorgän- seine Vorliebe für Gummibärchen auch noch eine motivatio-
ge subsummiert werden, die es dem Individuum ermögli- nale Rolle. Das Lebensalter von Christian kann in Beziehung
chen, Mitglied einer Gesellschaft zu werden. Entscheidend gesetzt werden zu dem Alter, in dem Kinder üblicherweise
ist dabei, dass sowohl dem Individuum als auch dem sozia- solche leichten Rechenaufgaben lösen können. Eine Erklä-
len bzw. ökologischen Kontext eine Funktion zugeschrieben rung für das gezeigte Verhalten liefert das Lebensalter aber
wird. Das bedeutet, dass sich das Individuum und der sozia- nicht. Vielmehr dient es als Gliederungs- oder Einteilungs-
le und ökologische Kontext gegenseitig beeinflussen, also in hilfe der Lebensspanne.
einer wechselseitigen Beziehung (7 Abschn. 12.3) zueinander-
stehen (z. B. Montada et al. 2012). 1 Entwicklungsstand
Natürlich liefert die Entwicklungspsychologie normatives
1 Aktueller Entwicklungsbegriff Wissen für verschiedene Lebensalter, d. h. welches Merkmal
Bei dem Versuch, Begriffe zu erörtern, die Entwicklung er- üblicherweise wann wie ausgeprägt ist. Diese Entwicklungs-
12 klären, stoßen wir schnell auf die Begrenztheit einzelner normen können als Standard herangezogen werden, um die
Konzepte, sodass der Schluss nahe liegt, „Entwicklung ist Merkmalsausprägung eines Individuums einschätzen zu kön-
stets das Zusammenwirken von Anlage, Umwelt und aktivem nen und damit auch interindividuelle Unterschiede zu be-
Individuum“ (Krettenauer 2014, S. 9). Krettenauer (2014) be- schreiben. Dabei ist es wichtig, sich die große Variation in
zeichnet diese auf William Stern (1914/1967) zurückgehende der Ausprägung eines Merkmals bei verschiedenen Indivi-
Verbindung verschiedener Faktoren als allgemeines Entwick- duen eines chronologischen Alters vor Augen zu führen.
lungstheorem. Demnach ist Entwicklung das Produkt eines Dies hat zur Folge, dass Grundschulklassen sich aus Lernen-
solchen Zusammenwirkens. den zusammensetzen können, die ein ähnliches chronologi-
sches Alter aufweisen, hinsichtlich ihres Entwicklungsstandes
z. B. in kognitiven Fähigkeiten aber stark variieren können.
Im heutigen Selbstverständnis wird der Entwicklungs-
Zur möglichst objektiven, zuverlässigen und gültigen Er-
begriff möglichst frei von inhaltlichen Kriterien und
fassung des Entwicklungsstandes können Entwicklungstests
Bedingungsfaktoren gefasst. Der Begriff umschließt län-
oder Leistungsinventare genutzt werden (7 Kap. 25). Der Ent-
gerfristige Veränderungen oder Stabilitäten im Erleben
wicklungsstand eines Individuums hinsichtlich einer Merk-
und Verhalten, die während der individuellen Entwicklung
malsausprägung wird bei der Mehrzahl der Verfahren zum
(Ontogenese) – also über die Lebenszeit – in gesetzmä-
Lebensalter in Beziehung gesetzt.
ßiger Weise aufeinanderfolgen und/oder miteinander
zusammenhängen (vgl. Montada et al. 2012; Trautner
1 Sensible oder Kritische Phase
1992).
Als letztes zeitbezogenes Konzept der Entwicklungspsycho-
logie soll die sensible oder kritische Phase angesprochen wer-
den. In der Entwicklungspsychologie wird damit ein definier-
tes Zeitfenster bezeichnet, in dem spezifische Erfahrungen
12.2.3 Zeitbezogene Konzepte der
gemacht werden müssen, da es ansonsten zu Abweichungen
Entwicklungspsychologie von der normalen Entwicklung kommen kann. Beispielswei-
se lernen Kinder, die keinerlei Spracherfahrungen in den ers-
1 Ontogenese und chronologisches Alter/Lebensalter ten Lebensjahren machen konnten, die Syntax einer Sprache
Die Individualentwicklung (Ontogenese) vollzieht sich von in der Folge nur noch unzureichend. Der Begriff der sensiblen
der Konzeption bis zum Lebensende. Die Dauer zwischen Phase wird im Kontext von erfahrungserwartender Plastizi-
dem Zeitpunkt der Geburt und einem zu bestimmenden tät (Veränderbarkeit) gebraucht (Greenough & Black 1992;
Zeitpunkt in der Ontogenese wird in Jahren, Monaten, Wo- Greenough, Black & Wallace 1987). Das Konzept wird auch
12.2  Grundlagen und zentrale Fragen der Entwicklungspsychologie
235 12
bei der Entwicklung von Bindungssystemen aufgegriffen, um
den Aufbau grundlegenden Vertrauens oder Misstrauens ge-

Entwicklungsfortschritt
genüber anderen Menschen zu erklären (7 Kap. 15). Nicht Kontinuierliche
unumstritten ist jedoch die vollkommene Irreversibilität von Entwicklung,
Entwicklungsbeeinträchtigungen aufgrund mangelnder oder Längenwachstum
fehlender Stimulation in einer bestimmten zeitlichen Periode Diskontinuierliche
(Lichtman 2001; Seitz-Stein & Schumann-Hengsteler 2011). Entwicklung,
motorisches
Verhalten

12.2.4 Kontinuierliche vs. diskontinuierliche


Entwicklung Zeit

. Abb. 12.1 Modell der (dis-)kontinuierlichen Entwicklung


Entwicklung kann sich auf unterschiedliche Arten vollzie-
hen. Wachstums- und Reifungsprozesse tragen ebenso zur
Entwicklung bei wie Lern- und Sozialisationsprozesse. In
der frühen wissenschaftlichen Entwicklungspsychologie zu rien den quantitativen Zuwachs (kontinuierlich) und andere
Beginn des 20. Jahrhunderts waren allerdings Phasen- und qualitative Veränderungen (diskontinuierlich). Wenn unter-
Stufenmodelle der Entwicklung aktuell, die eine starke Rei- schiedliche Bereiche der Entwicklung betrachtet werden (z. B.
fungsorientierung aufwiesen und dem engen Entwicklungs- kognitive, emotionale oder soziale) und innerhalb eines Be-
begriff zugeordnet werden können. Zu dieser Zeit wurde von reichs weiter differenziert wird (z. B. im kognitiven Bereich
Entwicklung gesprochen, wenn sie Intelligenzentwicklung, Sprachentwicklung, Selbstkonzept-
a. als eine Veränderungsreihe in mehreren Schritten vorlag; entwicklung) dann können sich verschiedene Entwicklungs-
b. sich in Richtung auf einen End- oder Reifezustand hinbe- verläufe mit unterschiedlichen Entwicklungsbesonderheiten
wegte; (z. B. auch kontinuierliche vs. diskontinuierliche Verände-
c. der End- oder Reifezustand höherwertig als der Aus- rungen) ergeben. Daraus folgt, dass die Frage, ob Entwicklung
gangszustand war; eher kontinuierlich oder diskontinuierlich verläuft, entweder
d. die Abfolge unumkehrbar, d. h. irreversibel war; nur für einzelne Aspekte der Entwicklung oder für eine sehr
e. es einen strukturellen oder qualitativen Wandel gab; globale Theorie beantwortet werden kann.
f. nachfolgende aus früheren Stufen hervorgingen; Darüber hinaus gibt es weitere Möglichkeiten wissen-
g. die Abfolge universell galt. schaftliche Entwicklungstheorien einzuteilen. Die gebräuch-
lichsten sind die Phasen- und Wellenmodelle (für eine diffe-
renziertere Darstellung siehe Schick 2012).
Würde ein solches Verständnis von Entwicklung tatsächlich
Gültigkeit besitzen, wäre die Entwicklungspsychologie in ih-
rer Breite begrenzt.
Da für jedes Kriterium (a-g) aber schlüssig dargelegt wer-
den kann, warum eine Begrenzung nicht sinnvoll ist (vgl. 12.2.5 Anlage-Umwelt-Debatte
Krettenauer 2014; Montada et al. 2012), wird heute von einem
sehr viel weiteren Entwicklungsbegriff ausgegangen, der nicht Die Frage nach der relativen Bedeutsamkeit von (Erb-)
nur strukturelle und qualitative Veränderungen und damit Anlagen und Umweltfaktoren für die Entwicklung ei-
diskontinuierliche Entwicklung (e), sondern auch quantitati- nes Menschen ist Gegenstand der Anlage-Umwelt-Debatte
ve, d. h. kontinuierliche Entwicklung einschließt (zum aktuel- (nature-nurture debate). Verschiedene Entwicklungstheori-
len Entwicklungsbegriff 7 Abschn. 12.2). Die Kontroverse, ob en sprechen den Anlagen, der Umwelt oder den Wechsel-
sich Entwicklung eher kontinuierlich oder diskontinuierlich wirkungen beider Faktoren eine ausschlaggebende Rolle für
vollzieht, erklärt sich auch vor dem bereits skizzierten Wandel Entwicklung zu (7 Abschn. 12.4). In Analogie zum Sachver-
des Entwicklungsbegriffes. Unter kontinuierlicher Entwick- halt bei der Frage kontinuierlicher und diskontinuierlicher
lung wird die quantitative Zu- oder Abnahme einer Merk- Entwicklung scheint eine, innerhalb verschiedener Entwick-
malsausprägung verstanden. Die Zunahme an Längenwachs- lungsbereiche weiter ausdifferenzierte Betrachtung auch hier
tum kann als Beispiel für eine kontinuierliche Entwicklung angezeigt. Die Frage danach, ob Intelligenz vererbt wird (Wolf
angesehen werden (. Abb. 12.1). 2012), ist beispielsweise ebenso klassisch wie aktuell und auch
Diskontinuierliche Entwicklung wird verstanden als qua- für Lehrkräfte wie für bildungspolitische Entscheidungen von
litative, sprunghafte Veränderung. Die motorische Entwick- potentiell großer Bedeutung (vgl. Stern & Neubauer 2016).
lung vom Krabbeln zum Laufen ist ein Beispiel dafür Um das Vorgehen bei der Erforschung dieser Frage besser
(. Abb. 12.1). verstehen zu können, werden zunächst biologische Grundla-
Ob Entwicklung nun eher kontinuierlich oder diskonti- gen der Genetik und Epigenetik kurz vorgestellt (ergänzend
nuierlich angesehen wird, hängt von der jeweils zugrunde- wird die Lektüre eines grundständigen entwicklungspsycho-
liegenden Entwicklungstheorie ab. So betonen manche Theo- logischen Lehrbuchs oder eines Biologiebuchs empfohlen:
236 Kapitel 12  Modelle und Bedingungen der Entwicklung

z. B. Asendorpf 2012; Greve & Bjorklund 2012; Lohaus &


Vierhaus 2015). Mythos: Genetischer Einfluss bei Geburt festgelegt
Bis ins 20. Jahrhundert wurde in der Vererbungslehre
1 Genetik (Genetik) davon ausgegangen, dass der Genotyp sämtliche
Bei der Konzeption (Befruchtung der weiblichen Eizelle Erbinformationen trägt und steuert. Erst zu Beginn des
durch ein Spermium) kommen jeweils 23 Chromosomen 21. Jahrhundert wurde das Teilgebiet der Epigenetik (im
(22 Autosomen und ein geschlechtsbestimmendes Gono- deutschen Sprachraum) zu einem Forschungsschwerpunkt
som) der Mutter und des Vaters im Zellkern zusammen. Da- innerhalb der Vererbungslehre. Seither ist vielfach belegt,
nach repliziert sich die Zygote im Prozess der Mitose selbst. dass das Genom zwar die gesamte Erbinformation trägt,
Jede Zelle des Organismus enthält den gesamten Chromoso- ob, wann und wie dies jedoch entwicklungswirksam wird,
mensatz und damit die gesamte Erbinformation eines Indi- ist von epigenetischen Codes gesteuert. Deren Aktivität
viduums, welches Genom genannt wird (auch Genotyp). Die kann wiederum umweltabhängig sein. Der genetische
Chromosomen bestehen aus einer DNA-Doppelhelix (DNA: Einfluss ist demnach nicht von Geburt an festgelegt.
Desoxyribonukleinsäure), auf denen sich in bestimmten Ab-
schnitten die Gene befinden (zwei Formen eines Genes am
gleichen Ort, eines von der Mutter und eines vom Vater).
1 Verhaltensgenetik
Die Form eines Gens wird Allel genannt. Je nach Vorliegen
Verhaltensgenetik ist der Bereich der Genetik, der sich mit
gleicher oder verschiedener Allele und der jeweiligen Verer-
der Heritabilität (Erblichkeit) von Merkmalsausprägungen
bungsregel (dominant – rezessive Vererbung) ist die Ausprä-
und Verhaltensweisen in einer Population (Bevölkerung) be-
gung eines Merkmals, das Erscheinungsbild (der Phänotyp,
fasst. Heritabilität gibt den Anteil an Varianz in einer Merk-
z. B. die Haarfarbe), festgelegt. Es wird davon ausgegangen,
malsausprägung innerhalb einer Population an, der durch
dass sich das Genom im Laufe der Entwicklung nicht verän-
die Erbanlagen bestimmt wird. Um Aufschluss über den
dert. Dies bedeutet aber nicht, dass der genetische Einfluss auf
relativen Anteil der Erblichkeit von Merkmalen oder Ver-
die Entwicklung über die Lebensspanne stabil ist. Vielmehr
haltensweisen zu erlangen, können verschiedene Methoden
variiert der genetische Einfluss auf die Entwicklung zum Bei-
genutzt werden. Methoden, die den erblichen Einfluss zu iso-
spiel in Abhängigkeit davon, ob Gene gerade aktiv sind. Der
lieren versuchen wie Reinzüchtungen (Paarung von erbähnli-
Bereich der Genetik, der sich mit der Steuerung der Genak-
chen Individuen zur Steigerung einer Merkmalsausprägung)
12 tivität beschäftigt, wird Epigenetik genannt (vgl. Asendorpf
und Deprivationsstudien (Vorenthaltung bestimmter Erfah-
2012).
rungsmöglichkeiten z. B. keine sprachliche Stimulation wie
bei Casper Hauser), verbieten sich beim Menschen aus ethi-
1 Epigenetik
schen Gründen. Drei Methoden, die im Humanbereich von
Das An- und Ausschalten von Genaktivität wird über epi-
größter Bedeutung für die Untersuchung der Erblichkeit sind,
genetische Codes gesteuert. Gene sind von verschiede-
sollen genauer betrachtet werden: Zwillings-, Adoptions- und
nen epigenetischen Codes überzogen (bisher entschlüssel-
Kombinationsstudien.
te Codes: Methyl-, Histon- und Ribonukleinsäure (RNA)-
Interferenzcode), die zusammengefasst Epigenom genannt1 Zwillingsstudien
werden und die Genaktivität beeinflussen. Anders als das Ge- Menschen unterscheiden sich in ihrer genetischen Ähnlich-
nom, welches in allen Zellen und über die Lebensspanne weit- keit in Abhängigkeit von ihrem Verwandtschaftsgrad. Vater
gehend unverändert vorliegt, verändert sich das Epigenom und Mutter teilen jeweils 50 % der Allele mit einem leiblichen
über die Zeit und kann von Zelle zu Zelle unterschiedlich Kind (. Abb. 12.2), Geschwister sind bei gleichen biologi-
sein (z. B. Greve & Bjorklund 2012; Lohaus & Vierhaus 2015). schen Eltern durchschnittlich zu 50 % genetisch ähnlich. Dies
Die epigenetischen Codes können von Umweltbedingungen gilt auch für zweieiige Zwillinge (ZZ). Eineiige Zwillinge (EZ)
beeinflusst werden. So ist beispielsweise das Geschlecht von sind dagegen zu 100 % genetisch identisch. Ausgehend von
Krokodilen nicht im Genom, sondern epigenetisch determi- der These, dass ZZ und EZ in ihren Familien gleichen Umwel-
niert. Je nach Wassertemperatur während des Brütens entste- ten ausgesetzt sind, sollten Unterschiede in der Ähnlichkeit
hen weibliche oder männliche Krokodile, die ihr Geschlecht der verschiedenen Zwillingspaare zueinander ausschließlich
dann lebenslang nicht mehr ändern (vgl. Asendorpf 2012). auf genetischen Unterschieden beruhen.
Die Genaktivität und -inaktivität gesteuert über den epi- Die Erblichkeit eines Merkmals wird geschätzt über den
genetischen Code kann demnach Entwicklung dramatisch Heritabilitätskoeffizienten. Er entspricht der doppelten Dif-
beeinflussen (Asendorpf 2007, 2012). Anzumerken ist, dass ferenz des Zusammenhangs (Korrelation) eines Merkmals
Merkmale und Verhalten häufig nicht durch einzelne Gene zwischen EZ-Paaren und ZZ-Paaren:
(z. B. der Stoffwechselerkrankung Phenylketonurie), sondern
durch mehrere Gene und ihre epigenetischen Codes determi- Heritabilitätskoeffizient .h2 / D 2 .rEZ  rZZ /
niert werden. Vor dem Hintergrund dieses Wissens kann nun
wieder die Frage des relativen Einflusses der Anlage, also des Für Intelligenz (IQ) haben Bouchard, Lykken, McGue, Segal
Genoms, und der Umwelt auf Entwicklungsaspekte und wie und Tellegen (1990; Asendorpf 2012) in einer Zwillingsstu-
dieser zu erforschen ist, nachgegangen werden. die folgende Ergebnisse gefunden: Die Intelligenz steht bei EZ
12.2  Grundlagen und zentrale Fragen der Entwicklungspsychologie
237 12

50 % 50 % 50 % 50 % 50 % 50 % 50 %

50 % 100 %

50 % 50 % 50 % 50 % 50 % 50 % 50 %

Kinder haben 50 % der Allele Geschwisterkinder/zweieiige Zwillinge Eineiige Zwillinge haben


mit jedem Elternteil gemein. haben 50 % der Allele gemein. 100 % der Allele gemein.

. Abb. 12.2 Modellhafte Darstellung der genetischen Ähnlichkeit in Abhängigkeit vom Verwandtschaftsgrad

in einem sehr engen Verhältnis (rEZ D :85), bei ZZ hinge- (familiären) Umwelteinflüsse angesprochen werden. Sowohl
gen tritt eine mittlere bis starke Korrelation auf (rZZ D :60).
bei Zwillings- als auch bei Adoptionsstudien wird von ver-
Die Erblichkeit des Merkmals Intelligenz ergibt sich somit ausgleichbaren Umwelten ausgegangen, wenn beide Paarlinge
der verdoppelten Differenz von :85 und :60: 2  :25 D :50. in der gleichen Familie leben. Dass Geschwister vergleich-
Somit kann ein Heritabilitätskoeffizient von 50 % für den IQ bare Umweltbedingungen haben können (geteilte Umwelt
ermittelt werden. Der geschätzte genetische Einfluss erlaubt durch ein gemeinsames Zuhause) scheint aber genauso un-
die Interpretation, dass die Variation in der Intelligenz der umstritten wie die Tatsache, dass es Bedingungen gibt, de-
zugrundeliegenden Population zu 50 % durch genetische Un- nen ausschließlich ein Paarling ausgesetzt ist (nicht geteilte
terschiede erklärt werden kann. Die restlichen 50 % Varianz Umwelt: eines der Kinder genießt monatlich einen Konzert-
beruhen nicht allein auf Umwelteinflüssen, sondern auch auf besuch mit der Mutter, während das andere mit dem Vater
einem gewissen Fehleranteil beim Messen der Intelligenz. Je ins Fußballstadion geht). Die Differenzierung des Umweltan-
teils in geteilte und nicht-geteilte Umweltbedingungen kann
reliabler der Intelligenztest ist, desto kleiner fällt dieser Mess-
fehler aus (7 Kap. 24). in Kombinationsstudien heute bereits methodisch realisiert
werden. Interessant ist, dass die nicht-geteilten Umweltbedin-
1 Adoptionsstudien gungen für viele Merkmalsausprägungen stärker ausschlag-
In Adoptionsstudien werden leibliche Geschwisterpaare mit gebend sind als die geteilten. Für den IQ allerdings ergibt
Adoptivgeschwisterpaaren verglichen. Wiederum wird ver- die Schätzung eher ein ausgeglichenes Verhältnis (Asendorpf
einfachend angenommen, dass die Umwelten in Familien 2012).
für alle Kinder gleich sind. Die Paare unterscheiden sich Nun ist geklärt, worum es in der Anlage-Umwelt-Debatte
aber hinsichtlich ihrer genetischen Ähnlichkeit: leibliche Ge- eigentlich geht und wie der relative Anteil von Anlage und
schwister teilen durchschnittlich 50 % der Allele, während Umwelt bei Merkmalsausprägungen oder Verhaltensweisen
für Adoptivgeschwister 0 % genetische Ähnlichkeit besteht geschätzt werden kann. Spätestens bei den kurzen Erläute-
(. Abb. 12.3). rungen zur Epigenetik ist jedoch deutlich geworden, dass
Die doppelte Differenz zwischen den Korrelationen der die Wechselwirkung zwischen den Faktoren die individuel-
leiblichen und adoptierten Paarlinge ergibt wiederum die le Entwicklung mitbestimmt. Aus dem hierarchischen Modell
Schätzung des Erblichkeitsanteils. Die Heritabilitätsschätzun- der individuellen Genom-Umwelt-Wechselwirkung (Gottlieb
gen aus Adoptionsstudien, die für den IQ ermittelt werden, 1991) geht hervor, dass die genetische Aktivität die neuronale
liegen vergleichbar zu denen, die aus Zwillingsstudien gewon- Aktivität, diese wiederum das Verhalten und damit auch die
nen werden. Umwelt beeinflusst. Umgekehrt beeinflusst die Umwelt das
Verhalten, das Verhalten wiederum die neuronale Aktivität
1 Kombinationsstudien und diese letztlich den epigenetischen Code und damit die
Werden Zusammenhänge von Merkmalsausprägungen von Genaktivität. Zwischen allen vier Ebenen finden Beeinflus-
EZ und ZZ nicht nur für diejenigen Paare verglichen, die in sungen in wechselseitiger Richtung statt. Letzten Endes muss
einer Familie aufwachsen, sondern auch Paarlinge von EZ von einer Transaktion zwischen genetischer und neuronaler
und ZZ gebildet, die getrennt in Adoptivfamilien aufwach- Aktivität, dem Verhalten und der Umwelt ausgegangen wer-
sen, dann haben wir es mit einer Kombinationsstudie zu tun. den (Asendorpf 2007).
Eltern-Kind-Vergleiche mit beiden Zwillingskindern (leiblich Weiterentwicklungen dieses transaktionalen Verständnis-
oder adoptiert) können ebenfalls realisiert werden. ses sind beispielsweise bei Johnston und Edwards (2002) zu
Zum Abschluss der Frage, wie Anlage- und Umweltan- finden. In diesem Modell werden entwicklungsbezogene In-
teil für die Erklärung der vorgefundenen Merkmalsvaria- teraktionen vermittelnd zwischen Verhalten und Genaktivität
tion in einer Population ermittelt werden kann, sollen die gestellt, die weiter analysiert und modelliert werden.
238 Kapitel 12  Modelle und Bedingungen der Entwicklung

50 % 50 % 50 % 50 % 50 % 50 % 50 % 50 %

50 % 0%

50 % 50 % 50 % 50 % 50 % 50 % 50 % 50 %

Leibliche Geschwister haben Adoptivgeschwister haben


50 % der Allele gemein. 0 % der Allele gemein.

. Abb. 12.3 Genetische Ähnlichkeit bei leiblichen vs. Adoptivgeschwistern

Resümierend lässt sich sagen, dass Anlage und Umwelt in Studie: Warum sich Schülerinnen und Schüler in der Mo-
einer wechselseitigen Beziehung zueinander stehen, wobei im tivation beim Lernen unterschieden
Entwicklungsverlauf Veränderungen in den Wechselwirkun- Motivation spielt im schulischen Kontext eine wichtige Rolle.
gen anzunehmen sind. Dennoch sind immer wieder Unterschiede in der Lern- und Leis-
Um die Transaktion bzw. das Zusammenspiel der ent- tungsmotivation von Schülerinnen und Schüler festzustellen.
wicklungsbezogenen Interaktionen besser verstehen zu kön- Um Aufschluss über genetische bzw. Umwelteinflüsse auf die
nen, empfiehlt es sich die drei Arten der Genom-Umwelt- Motivation zu erhalten, führten Kovas und Kollegen (2015) eine
Korrelation (Plomin, DeFries & Loehlin 1977) zu betrach- groß angelegte Studie durch. In einer querschnittlichen Zwil-
ten: passive, evozierte/reaktive und aktive Genom-Umwelt- lingsstudie wurde untersucht, ob Gene bzw. Umwelteinflüsse
Korrelation. ursächlich für die Unterschiede in der Lern- und Leistungsmo-
Eine passive Genom-Umwelt-Korrelation (grün darge- tivation sind. In sechs verschiedenen Ländern füllten ca. 13.000
12 stellt) liegt vor, wenn das leibliche Kind eines Paares – aus- eineiige und zweieiige Zwillinge im Alter zwischen 9 und 16
gestattet mit dem Genom, welches sich je zur Hälfte aus der Jahren Selbstberichtsfragebögen aus.
Erbinformation von Mutter und Vater zusammensetzt – in ei- Die Ergebnisse zeigten, dass die untersuchten Zwillings-
ner Umgebung lebt, die durch die genetisch ihm ähnlichen paare eine ähnliche Lern- und Leistungsmotivation aufwie-
Eltern generiert wird. Es ist davon auszugehen, dass die leib- sen. Weil aber eineiige Zwillinge einander ähnlicher waren als
lichen Eltern ein Umfeld schaffen, in welches das genetisch zweieiige Zwillinge (gemittelt beträgt die Korrelationsdifferenz
ähnliche Kind gut hineinpasst. In einer solchen Umgebung knapp :2) konnten 40 % der Unterschiede in der Lern- und Leis-
wird beispielsweise die Bewegungsfreude eines Kindes zweier tungsmotivation über die Anlagen erklärt werden (doppelte
Leistungssporttreibender schnell wahrgenommen und ent- Differenz der Korrelationen von ein- und zweieiigen Zwillin-
sprechend gefördert. Dieses Reagieren der Umwelt auf ver- gen: 2  :2 D :4 entspricht dem Heritabilitätskoeffizient). Für
anlagtes Verhalten des Kindes wird evozierte oder reaktive die Umweltfaktoren wie Klassenkontext oder häusliches Um-
Genom-Umwelt-Korrelation (blau dargestellt) genannt. Als feld zeigte sich, dass diese zwar die individuelle Lerngeschichte
dritter Mechanismus des Zusammenwirkens gilt die akti- beeinflussten, jedoch nicht ursächlich für die Entsprechungen
ve Genom-Umwelt-Korrelation (rot dargestellt). Hierunter in der Lern- und Leistungsmotivation von Zwillingen waren.
wird das aktive Aufsuchen bzw. Herstellen von Umweltbe-
dingungen entsprechend der genetischen Prädisponiertheit
verstanden. Ein sportlich veranlagtes Kind könnte sich bei-
spielsweise dazu entscheiden, nicht nur Fußball zu spielen,
sondern auch zum Turnen und zum Judo zu gehen. Während
12.3 Theorien der Entwicklungspsychologie
die passive Genom-Umwelt-Korrelation in ihrer Bedeutung
mit zunehmendem Lebensalter abnimmt, bleibt die reak- Nach den Grundlagen und den zentralen Fragen der Ent-
tive eher konstant. Die aktive Genom-Umwelt-Korrelation wicklungspsychologie werden im Folgenden die bedeutends-
nimmt mit steigendem Alter zu und kann somit einen zu- ten Entwicklungstheorien vorgestellt. Die Entwicklungstheo-
nehmend stärkeren Einfluss des Genoms auf das Verhalten rien sind in ihrer Breite und ihrem Geltungsanspruch sehr
erklären (Plomin 1986; Scarr 1992). Die Genom-Umwelt- unterschiedlich, einen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt
Korrelation lässt sich auch unter anderen Begriffen finden. diese Darstellung nicht. Es wird vielmehr versucht, die ein-
Neben Genom sind auch die Bezeichnungen Anlage bzw. Ge- flussreichsten Theorien und ihre Weiterentwicklungen abzu-
notyp zu finden. Anstelle von Korrelation werden auch die bilden und gleichzeitig das Spektrum von Entwicklungstheo-
Begriffe Kovariation bzw. Passung verwendet. rien und ihre Auswirkungen auf Annahmen über menschli-
12.3  Theorien der Entwicklungspsychologie
239 12

. Tabelle 12.1 Theorien der Entwicklungspsychologie

Theoretischer Theoretische Annahme und Prototypisches Beispielhafte Anwendung


Ansatz Vertreter Modella

Strukturgeneti- Piagets Theorie kognitiver Aktional Im Physikunterricht sollen relevante Aspekte für die Geschwindigkeit
scher Ansatz Stadien mit der ein Pendel schwingt, herausgefunden werden

Psycho- Drei-Instanzen-Modell nach Endogenistisch Unterbewusstes tritt an die Oberfläche: „Freud’scher Fehler“
analytische Freud
Ansätze
Psychosoziale Entwicklung Endogenistisch Eine Lehrkraft arbeitet mit Menschen in unterschiedlichen Phasen der
über die Lebensspanne nach psychosozialen Entwicklung zusammen
Erikson

Entwicklungsaufgaben nach (Endogenistisch) Jugendliche haben aufgrund verschiedenster Veränderungen zeitgleich


Havighurst verschiedene Aufgaben zu lösen

Ethologische An- Bindungstheorie nach Endogenistisch Ausgeprägtes Neugierverhalten kann positive Auswirkung eines siche-
sätze Bowlby ren Bindungssystems sein

Lerntheoretische Konditionierung nach Exogenistisch Das Erlernen einer Furchtreaktion auf eine bestimmte Verhaltensweise
Ansätze Watson der Lehrkraft (z. B. wortloses Betreten des Klassenzimmers)

Operante Konditionierung Exogenistisch Eine gute Note als positiver Effekt einer angemessenen Vorbereitung
nach Skinner einer Schulstunde führt zu weiteren Bemühungen die Schulstunden zu
antizipieren

Soziale Lerntheorie nach Exogenistisch Die Lehrkraft nimmt in der mündlichen Abfrage diejenige dran, die
Bandura signalisiert hat, dass sie vorbereitet ist. Beobachtende Schülerinnen
machen das Verhalten nach

Informationsverar- Drei-Speichermodell nach Aktional Vokabeln in einer Fremdsprache müssen aufgenommen und verarbeitet
beitungsansätze Atkinson & Shiffrin werden, um im Langzeitgedächtnis anzukommen

Modell der Überlappenden Aktional Zu einem Zeitpunkt verwenden Lernende für die Lösung von Aufgaben
Wellen nach Siegler desselben Typs meist verschiedene Strategien

Gedächtniskapazität nach Aktional Durch die Automatisierung des Schreibvorgangs werden Kapazitäten
Case frei, die zum Beispiel für das Behalten des zu Schreibenden genutzt
werden können

Arbeitsgedächtnismodell Aktional Die Steuerung von zeitgleich zu bearbeitenden Aufgaben gelingt bei
nach Baddeley und Hitch Lernenden unterschiedlich effizient

Soziokulturelle Soziokultureller Ansatz nach Transaktional Ein kompetenterer Lernender erklärt einem anderen, wie eine Aufga-
Ansätze Wygotski benstellung zu verstehen ist und fragt bei der Nächsten, ob er weiß, was
verlangt ist

Systemorientierte Systemtheorie nach Bronfen- Transaktional Um das Verhalten eines Kindes zu verstehen, wird versucht, die
Ansätze brenner verschiedenen Aspekte des Mikro- und Mesosystems ebenso zu be-
rücksichtigen wie die Erfahrungen, die das Kind gemacht hat

a
Modell entspricht der Systematisierung von Entwicklungstheorien, je nachdem, ob dem Individuum und oder der Umwelt eine aktive
Beteiligung an Entwicklung zugesprochen wird (idealtypisch).

ches Erleben und Verhalten und dessen Beschreibung, Erklä- Eine Systematik zeigt, wie Entwicklungstheorien grund-
rung und Veränderbarkeit aufzuzeigen. sätzlich unterschieden werden können (. Tab. 12.1).
Es geht darin um das Ausmaß, in dem Individuum und
Umwelt eine aktiv gestaltende Rolle für die Entwicklung zu-
Entwicklungstheorien sind eine geschlossene Sammlung geschrieben wird. Theorien, die weder ein aktives Individuum
an formulierten Aussagen über allgemeine Entwicklungs- annehmen noch eine aktive Umwelt postulieren, werden en-
annahmen, die Phänomene beschreiben, erklären und dogenistisch genannt. Nach ihnen bestimmen ausschließlich
vorhersagen (Schick 2012). Dabei handelt es sich meist um die Entfaltung der in den Erbanlagen prädisponierten Prozes-
unvollständige Modellvorstellungen oder Konzepte, da sie se und Mechanismen die Entwicklung. Angemerkt sei jedoch,
häufig nur Teilprozesse der Entwicklung fokussieren (vgl. dass solche Vorstellungen nicht mit der aktuellen Befundla-
Trautner 1992). ge zusammenpassen. Theorien, die kein aktives Individuum,
aber eine aktive Umwelt als gestaltend für die Entwicklung
240 Kapitel 12  Modelle und Bedingungen der Entwicklung

annehmen, werden exogenistisch genannt. Behavioristisches Stadiums lassen sich sechs Etappen differenzieren (Piaget &
Gedankengut, welches in Watsons Ausspruch zur individuel- Inhelder 1986).
len Formbarkeit von Heranwachsenden nach den Prinzipien Der mit einer Reihe von Reflexen ausgestattete Säugling
der Konditionierung seinen Niederschlag findet (7 Kap. 1), (z. B. Saugreflex) interagiert mit seiner Umwelt, indem die
ist zu den exogenistischen Theorien zu zählen. Andersher- Reflexe ausgelöst und (an unterschiedlichen Objekten) an-
um, wenn dem Individuum eine aktive, der Umwelt aber gewendet werden. Handlungen können zunehmend spontan
keine zentrale Bedeutung für die Entwicklung zugeschrieben gezeigt werden. Die wiederholte Ausführung solcher Hand-
wird, dann sprechen wir in dieser Systematik von aktionalen lungen (zirkuläre Reaktionen) ist zunächst mehr auf den
Theorien. Klassischer Vertreter dieser Ansätze ist die Sta- eigenen Körper, denn auf die Außenwelt gerichtet. Nach Pia-
dientheorie von Jean Piaget, der für die Entwicklung des get (1983; Piaget & Inhelder 1986) entstehen Schemata, das
Denkens die aktive Konstruktion von Wissen und Wirklich- sind strukturierte Verhaltensmuster, für diese Handlungen.
keit für entscheidend annahm. Wenn sowohl dem Individu- Diese Schemata werden als erste psychologische Strukturen
um als auch der Umwelt aktives Gestalten von Entwicklung aufgefasst. Innerhalb des sensumotorischen Stadiums werden
zugestanden wird, dann haben wir es mit transaktionalen die Schemata also über die Wahrnehmung (Sensorik) und das
Theorien zu tun. Neben dem zur Anlage-Umwelt-Debatte Verhalten (Motorik) gebildet und zunehmend koordiniert,
(7 Abschn. 12.2.5) bereits skizzierten Modell individueller sodass der Säugling lernt, wie Dinge funktionieren.
Genom-Umwelt-Wechselwirkung kann hier beispielhaft die Eine bedeutende Errungenschaft des sensumotorischen
systemorientierte Theorie Bronfenbrenners (1979) angeführt Stadiums ist die Objektpermanenz. Unter Objektpermanenz
werden. Bei ihr wird Entwicklung als wechselseitige Beein- wird die Einsicht in die fortwährende Existenz eines Objektes
flussung in Bezug zu unterschiedlichen Systemen betrach- verstanden. Wird vor den Augen des Kindes ein attrakti-
tet. Die hier nach Montada und Kollegen (2012) vorgestell- ves Spielzeug unter einer Decke versteckt, zeigt sich in Ab-
te Systematik ist bei Weitem nicht die einzige Möglichkeit, hängigkeit vom Alter des Kindes unterschiedliches (Such-)
Entwicklungstheorien einzuteilen. In der Entwicklungspsy- Verhalten. Sucht das Kind nach dem versteckten Spielzeug,
chologie kann die Dreiteilung in mechanistisches, organismi- muss es eine innere Repräsentation desselben haben und wis-
sches und transaktionales bzw. dialektisches Paradigma vor- sen, dass das Spielzeug noch existiert, auch wenn es nicht
genommen werden (vgl. Krettenauer 2014; Trautner 1992). zu sehen ist. Vollständige Objektpermanenz ist nach Piaget
Alle Kategorisierungsbemühungen von Entwicklungsansät- (1983; Piaget & Inhelder 1986) ab 12 Monaten zu beobachten.
12 zen haben jedoch ihre Grenzen. Je nach gewählter Betrach- Im zweiten Lebensjahr erproben Kinder ausgiebig neue Er-
tungsebene lassen sich Theorien oder Teile davon häufig meh- eignisse (z. B. Schlüssel runterwerfen) und lernen mehr und
reren Kategorien innerhalb einer Systematik zuordnen, oder mehr Handlungen nicht nur auszuführen, sondern können
aber in keine Kategorie passend eingliedern. Das Potential sie auch gedanklich ausführen, also denken. Der Übergang
von Systematiken liegt in der vertieften inhaltlichen Ausein- vom sensumotorischen zum zweiten Stadium wird durch die-
andersetzung, die ein Anwendungsversuch auf verschiedene se Fähigkeit (Symbolfunktion) markiert.
Theorien mit sich bringt.

1 Präoperationales Stadium
Das präoperationale Stadium (2 bis 7 Jahre) ist gekennzeich-
12.3.1 Strukturgenetischer Ansatz net durch mentale Repräsentationen. Die Kinder sind nicht
mehr auf die handelnde Auseinandersetzung mit der Umwelt
Jean Piaget (1896–1980), Biologe, Philosoph und Psychologe, angewiesen, sie können Handlungen, mit denen sie Erfahrun-
interessierte sich für die Entwicklung des Denkens. In seine gen gemacht haben, auch mental repräsentieren. Dabei ist das
Arbeit über die Denkentwicklung brachte er viele biologische Denken nach Piaget noch statisch, sodass die internen Reprä-
Konzepte ein (z. B. die Adaptation = Anpassung) und arbei- sentationen noch erfahrungsabhängig sind und nicht mental
tete an klassischen philosophischen Fragestellungen zu Raum rückgängig gemacht werden können (mentale Reversibilität).
und Zeit in einer experimentell erkenntnistheoretischen Wei- Eine weitere Begrenzung präoperationalen Denkens liegt im
se. Piaget verfolgte einen strukturgenetischen Ansatz (sich Egozentrismus, der als mangelnde Differenzierungsfähigkeit
verändernde geistige Strukturen während der Entwicklung), zwischen dem Selbst und der Außenwelt und als Tendenz, die
was sich in seiner Theorie kognitiver Stadien niederschlug Außenwelt nur aus der eigenen Perspektive wahrzunehmen,
(vgl. Piaget 1983; Piaget & Inhelder 1986). Für die kognitive verstanden wird. Außerdem zeigen sich prälogische Schluss-
Entwicklung von der Geburt bis ins frühe Erwachsenenalter folgerungen und eine begrenzte soziale Kognition (Miller
nahm Piaget vier Stadien an: 1993). Sprache, die sich in diesem Stadium maßgeblich wei-
terentwickelt, wird als Ausdruck des Denkens verstanden,
1 Sensumotorisches Stadium Worte stehen für eine Bedeutung und sind seine Repräsen-
Das sensumotorische Stadium (0 bis 2 Jahre) zeichnet sich tanten. Präoperational wird das Stadium aufgrund der noch
durch eine Entwicklung aus, die auf Wahrnehmung (Sen- nicht entwickelten geistigen Operationen genannt, die das
sorik) und Bewegung (Motorik) aufbaut. Innerhalb dieses folgende Stadium charakterisieren.
12.3  Theorien der Entwicklungspsychologie
241 12
1 Konkret-operationales Stadium gezogen. Außerdem kann im formal-operationalen Stadium
Das konkret-operationale Stadium (7 bis 11 Jahre) zeich- völlig unabhängig von der Erfahrungswelt und damit abstrakt
net sich durch die psychologische Struktur der Operation gedacht werden (Warum hält eine auf der Ebene rollende Ku-
aus. Nach Piaget ist unter einer Operation eine verinnerlich- gel an? Luft- und Reibungswiderstand sind verantwortlich,
te Handlung zu verstehen, die gleichzeitig Bestandteil einer dies „wegzudenken“ ist abstrakt).
höher organisierten Struktur ist und damit weniger an Hand-
lungserfahrung gebunden und flexibler einsetzbar ist (vgl.1 Grundannahmen der Entwicklungstheorie nach Jean
Piaget 1983). Piaget hat mit Erhaltungsaufgaben das Denken Piaget
der Kinder untersucht. Das Vorgehen bei den verschiedenen Piaget (1983; Piaget & Inhelder 1986) versteht das Denken
Aufgaben (z. B. der Erhaltung der Anzahl oder der Masse) ist innerhalb dieser Stadien als etwas auf gleichen kognitiven
dabei immer identisch: Dem Kind werden zwei gleich große Strukturen beruhendes und zwischen den Stadien als quali-
Mengen gezeigt (z. B. zwei Reihen von fünf identisch ange- tativ unterschiedlich. Die Stadien gehen auseinander hervor,
ordneten Knöpfen). Das Kind wird gefragt, ob beide Mengen sind invariant in ihrer Abfolge und sollen universell gül-
gleich groß sind. Hat das Kind die Gleichheit festgestellt, tig sein. Zu den Mechanismen, die Piaget für Entwicklung
wird vor den Augen des Kindes eine Menge in ihrem Er- verantwortlich macht, gehören die kognitive Organisation,
scheinungsbild verändert (im Beispiel wird eine Reihe von Adaptation und Äquilibration (vgl. Piaget 1983; Piaget & In-
Knöpfen auseinandergezogen, sodass sie länger, aber weni- helder 1986).
ger dicht ist). Anschließend wird das Kind gefragt, ob nun Die Tendenz, sich zu organisieren, ist ein Merkmal leben-
immer noch gleichviele Knöpfe in beiden Mengen sind. Ein der Organismen. Piaget nimmt sie als angeborene und über
Kind im konkret-operationalen Stadium wird „ja“ sagen und die Stadien hinweg invariante Funktion an. Das Denken or-
auf die für Piaget (1972) wichtigste Frage „Warum ist das ganisiert sich in immer komplexeren und höheren Strukturen
so?“ vermutlich antworten, dass „die eine Reihe ja nur aus- und wird damit flexibler und effizienter für die Interaktion
einander gezogen wurde und jetzt zwar länger aber dafür die mit der Umwelt.
Lücken größer seien“ oder es wird sagen, „dass nichts weg- Eine zweite invariante Funktion wird in der Adaptation
genommen oder dazugekommen ist“, oder „man könne das gesehen, der angeborenen und über die Stadien invarianten
Auseinanderziehen ja auch rückgängig machen, dann sieht Funktion des Organismus, sich seiner Umwelt anzupassen.
man, dass es gleichviel ist“. Alle Antwortalternativen spiegeln Die Adaptation setzt sich aus zwei Prozessen zusammen, der
konkret-operationales Denken wider. Das Kind beachtet zwei Assimilation, in der die Umwelt an die eigenen Strukturen
Dimensionen (Länge und Dichte), kann den Transformati- angepasst wird, und die Akkommodation, in der die eigenen
onsprozess in seiner Dynamik nachvollziehen und ihn ge- Strukturen so verändert werden, dass sie zur Umwelt passen
danklich rückgängig machen. Diese Flexibilität des Denkens, (Piaget 1983).
die Piaget mit den Begriffen Dezentrierung, dynamisches Als dritte invariante Funktion und als Motor der Ent-
Denken und Reversibilität bezeichnet, liegt beim präopera- wicklung ist die Äquilibration zu nennen. Nach Piaget (1983;
tionalen Kind noch nicht vor. Sie ermöglicht es dem Kind im Piaget & Inhelder 1986) streben Organismen ein Gleichge-
konkret-operationalen Stadium aber logisch zu denken und wicht mit der Umwelt und auch innerhalb ihrer Anpassungs-
Sequenzen von Handlungen zu planen und zu koordinieren. leistung (also zwischen Assimilation und Akkommodation)
an. Dieses Gleichgewicht nennt er Äquilibrium. Der Pro-
1 Formal-operationales Stadium zess, der es ins Gleichgewicht bringt, heißt Äquilibration.
Das formal-operationale Stadium (ab 11 Jahren) wird von In diesem Prozess werden die körperliche Reifung und die
Piaget als höchstes Entwicklungsstadium des Denkens ange- Auseinandersetzung mit der materiellen und sozialen Um-
sehen. Es zeichnet sich durch eine neue Abstraktionsfähigkeit welt integriert. Die Idee, dass Entwicklung nur stattfinden
und Systematik aus. Nun kann über Operationen nachge- kann, wenn der Organismus aktiv wird, ist demnach für Pia-
dacht werden. Das Denken wird als hypothetisch-deduktiv get grundlegend.
bezeichnet und mit der wissenschaftlichen Methode vergli-
chen. Untersucht hat Piaget (1983; Piaget & Inhelder 1986)1 Kritische Würdigung
konkret- und formal-operationales Denken mit Aufgaben, Zum Abschluss der kurzen und stark vereinfachten Darstel-
bei denen mehrere Aspekte bzw. Variablen ein Ergebnis be- lung von Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung sollen
einflussen können und es für die Kinder darum geht, die Lö- die am häufigsten kritisierten Aspekte seiner Theorie aufge-
sung herauszuarbeiten (Beispiel: Was beeinflusst die Schwin- griffen werden. Piaget neigte dazu, die Kinder in ihrer Leis-
gungsfrequenz beim Pendel? Veränderbare Variablen: Ge- tungsfähigkeit zu unterschätzen, seine Altersangaben lassen
wicht, Länge und Fallhöhe bzw. Anstoßkraft des Pendels). sich durch Ergebnisse neuerer Untersuchungen mit weiter-
Kinder und Jugendliche im formal-operationalen Stadium entwickelten Methoden kaum belegen (z. B. Sodian 2012).
gehen weitgehend systematisch vor. Sie durchdenken, wel- Das Stadienkonzept Piagets kann so nicht aufrechterhalten
che Variablen verantwortlich sein können und testen diese werden, denn es zeigen sich z. B. Abweichungen von der
dann systematisch. Aufgrund des durch Variablenisolierung Annahme, dass ein Stadium als strukturelle Ganzheit zu ver-
(nur eine Variable wird bei Konstanthaltung der anderen ver- stehen ist. Auch sind die Mechanismen der Entwicklung
ändert) beobachteten Ergebnisses, wird der richtige Schluss in seinen Arbeiten wenig präzise erklärt und methodologi-
242 Kapitel 12  Modelle und Bedingungen der Entwicklung

sche Defizite werden immer wieder bemängelt (z. B. Flammer tiven Überzeugungen des sozialen Umfeldes („Süßigkeiten
2009; Lefrançois 2006; Sodian 2012). Neben der negativen sind nicht gut für dich“). Das „Ich“ agiert zwischen diesen
Kritik an der Theorie kognitiver Stadien steht eine unver- Instanzen und sucht nach akzeptablen Wegen der Triebbe-
gleichlich große Anzahl positiver Aspekte, die Piagets Werk friedigung („Eine Orange schmeckt auch süß“).
zuzusprechen ist. Zunächst gibt es kaum Entwicklungstheori- Freud nimmt fünf Phasen der Entwicklung bis ins frühe
en, die die aktuelle Entwicklungspsychologie so fundamental Erwachsenenalter an, die sich an der jeweiligen Quelle der
beeinflusst haben, wie die Arbeiten Piagets. Er rückte die erlebten Bedürfnisbefriedigung ausrichten. Die orale Phase
Kognition in den Mittelpunkt und fand eine Reihe von be- (bis 1 Jahr) ist gekennzeichnet durch die Triebbefriedigung
merkenswerten Phänomenen in der Entwicklung des Den- bei der Nahrungsaufnahme und der Stimulation des Mundes.
kens (z. B. die Objektpermanenz). Der heuristische Wert und In der analen Phase (bis 3 Jahre) erfolgt eine Bedürfnisbe-
eine große ökologische Validität (7 Kap. 24) der Theorie ko- friedigung über die Ausscheidung, d. h. die Stimulation des
gnitiver Stadien sind unbestritten. Neo-Piagetianer haben Afters. Während der phallischen Phase (bis 6 Jahre) gewinnen
die Idee struktureller und auseinander hervorgehender ko- die Genitalien als Ort der Triebbefriedigung an Bedeutung,
gnitiver Entwicklung weiter verfolgt. Diese Arbeiten sind bevor sie in der Latenzphase (bis 11 Jahre) ebenso wie die
im Gegensatz zu Piagets breitem Anwendungsfeld aber eher vorherigen Orte der Befriedigung wieder eine untergeordne-
als bereichsspezifisch zu klassifizieren (vgl. Case 1985). Vie- te Rolle spielen. In der genitalen Phase (ab 11 Jahren) wird die
le der entwicklungspsychologischen Forschungen, die den Triebbefriedigung erneut und verstärkt über die Stimulation
Informationsverarbeitungsansätzen (7 Abschn. 12.3.5) zuge- der Genitalien erlebt.
rechnet werden, greifen Fragestellungen und Ideen Piagets
auf. 1 Psychosoziale Entwicklung über die Lebensspanne von
Erikson
1 Anwendung Aufbauend auf den psychoanalytischen Annahmen von
Welche Implikationen können aus Piagets Theorie kogniti- Freud hat Erik Erikson (1902–1994) die Ich-Entwicklung
ver Stadien für die Schule abgeleitet werden? Zunächst kann in einem achtstufigen Modell der psychosozialen Entwick-
das Verständnis für die Notwendigkeit der aktiven Ausein- lung über die Lebensspanne konzipiert (Erikson 1988). Jedes
andersetzung mit der Umwelt abgeleitet werden. Bisweilen Lebensalter ist demnach durch die Auseinandersetzung mit
führt dies allerdings auch zu Missverständnissen wie des Ver- einem psychosozialen Thema charakterisiert (Säuglingsalter
12 pönens von Frontalunterricht, der genauso gut wie andere bis 1 Jahr: Vertrauen vs. Misstrauen; frühe Kindheit bis 3 Jah-
Unterrichtsformen kognitive Aktivitäten anregen kann. Das re: Autonomie vs. Scham und Zweifel; mittlere Kindheit bis 5
Realisieren von Besonderheiten des kindlichen Denkens in Jahre: Initiative vs. Schuldgefühl; späte Kindheit bis Pubertät:
unterschiedlichen Lebensaltern und das Erkennen der Wich- Kompetenz vs. Minderwertigkeit; Adoleszenz bis 20 Jahre:
tigkeit der kindgerechten Material- und Aufgabenwahl: nur Identität vs. Identitätsdiffusion; frühes Erwachsenenalter bis
zu bewältigende Ungleichgewichte können entwicklungs- 40 Jahre: Intimität vs. Isolation; mittleres Erwachsenenalter
wirksam werden. Das bedeutet, dass die von der Lehrkraft er- bis 60 Jahre: Generativität vs. Stagnation; spätes Erwachse-
stellten Materialen und Aufgaben einen optimalen Schwierig- nenalter ab 60 Jahre: Ich-Integrität vs. Verzweiflung). Die-
keitsgrad aufweisen sollten, sodass Akkommodationsprozes- se Auseinandersetzung wird als krisenhaft beschrieben und
se bei Schülerinnen und Schüler ausgelöst und neue Wissens- kann mehr oder weniger gut gelingen. Im Falle des Nicht-
schemata gebildet werden (Äquilibrium; Lefrançois 2006; Gelingens hat dies negative Auswirkungen auf die weiteren
Schick 2012). Darüber hinaus sollten Lehrkräfte ihr Wissen Entwicklungsphasen (Erikson 1966).
über die kognitive Entwicklung von Kindern und Jugendli-
chen in der Unterrichtsplanung und -durchführung berück-1 Entwicklungsaufgaben nach Havighurst
sichtigen (Entwicklungsstand) sowie ihren Schülerinnen und Havighurst (1956) hat ebenfalls ein Konzept vorgelegt, wel-
Schülern im Sinne Piagets Freiräume zur Eigenaktivität ge- ches die Auseinandersetzung mit alterstypischen Anforde-
ben, sodass es dem Kind möglich ist, Dinge zu entdecken und rungen beschreibt. Entwicklung wird als Lernprozess, Ent-
neue Schemata und Operationen zu bilden. wicklungsaufgaben als Lernaufgaben verstanden. Diese Ent-
wicklungsaufgaben entstehen aus drei Quellen: der physio-
logischen Reifung, den gesellschaftlichen Erwartungen und
den individuellen Werten und Zielen. Angenommen wird,
12.3.2 Psychoanalytische Ansätze dass in der Kindheit (und dem Jugendalter) zunächst die
Einflüsse der biologischen Reifung überwiegen, später die ge-
Der Begründer der psychoanalytischen Ansätze ist Sigmund sellschaftlichen Anforderungen und selbstgesetzte Ziele (Fal-
Freud (1856–1939). Er sah Triebbefriedigung als den Motor termaier, Mayering, Saup & Strehmel 2014). Am Beispiel der
der Entwicklung. Mit dem Drei-Instanzen-Modells versuch- Adoleszenz können die Entwicklungsaufgaben nach Havig-
te er den innerpsychischen Umgang mit den Trieben zu hurst als Akzeptanz der Veränderung des eigenen Körpers,
beschreiben. Während das „Es“ die unmittelbare Bedürfnis- Beziehungsaufbau zu beiderlei Geschlechtern, Entwicklung
befriedigung sucht („Ich möchte jetzt etwas Süßes essen“), eines Werteleitfadens, Übernahme der Geschlechtsrolle, so-
übernimmt das „Über-Ich“ die Wächterinstanz der norma- zial verantwortliches Verhalten, Vorbereitung auf Ehe und
12.3  Theorien der Entwicklungspsychologie
243 12
Familie und Vorbereitung auf den Beruf beschrieben wer-
den. Die erfolgreiche Bewältigung einer Entwicklungsaufga- menschlichen Entwicklungen zu unterschiedlichen
be wird als zentral für die weitere Entwicklung erachtet. Es Reproduktionsstrategien. Zwei unterschiedliche Entwick-
handelt sich also um ein Stufenmodell. Anzumerken ist, dass lungspfade werden beschrieben. Typ I ist gekennzeichnet
Havighurst (1956) die Ansicht vertrat, dass die Bewältigung durch einen ungünstigen familiären Kontext (Elternkon-
der Aufgaben auch zu einem späteren Zeitpunkt vonstatten- flikte, Stress, ungenügende Ressourcen), harsches, wenig
gehen kann und dass manche Entwicklungsaufgaben kul- sensitives Erziehungsverhalten und eine unsichere Bindung.
turell relativiert werden müssten (Faltermaier et al. 2014). Jungs reagieren eher aggressiv, Mädchen eher ängstlich-
Insgesamt wird die aktive Bewältigung durch das Individu- depressiv. Bei beiden Geschlechtern beginnt die Pubertät
um betont. früh und sexuelle Aktivitäten werden in eher kurzzeitigen
Beziehungen früh aufgenommen. Das Engagement für
1 Kritische Würdigung der Ansätze eigene Kinder soll ebenfalls begrenzt sein. Typ II ist ge-
Psychoanalytische Theorien haben in jedem Fall einen heu- kennzeichnet durch elterliche Harmonie, unterstützendes
ristischen Wert. Erikson wird aber mit seiner fünften Phase Erziehungsverhalten und eine sichere Bindung. Es ent-
(Adoleszenz) auch heute gern zur Identitätsentwicklung zi- wickelt sich ein positives Model zwischenmenschlichen
tiert. Außerdem legte er ein Modell über die gesamte Le- Umgangs und die Pubertät setzt später ein. Dadurch kommt
bensspanne vor und hat damit auch hier eine Vorreiter- es zu späteren sexuellen Aktivitäten, die in längerfristigen
position eingenommen. Ähnliches trifft auch auf das Kon- Beziehungen erfolgen. Das Engagement für eigene Kinder
zept der Entwicklungsaufgaben zu. Trotz seiner normativen soll groß sein. In neueren Beiträgen wird von Belsky die
und unidirektionalen Annahmen lassen sich Elemente die- unterschiedliche Empfindlichkeit gegenüber Umweltbe-
ses Konzepts in neueren Studien wiederfinden (z. B. Seiffge- dingungen in den Vordergrund gerückt (Belsky & Pluess
Krenke & Gelhaar 2006). Schließlich ist festzustellen, dass 2009)
ganze Bereiche entwicklungspsychologischer Forschungsak-
tivität auf psychoanalytischen Annahmen (z. B. Bindungsfor-
schung) beruhen. Auch wenn gerade die klassischen Ansätze
empirisch kaum operationalisierbar und deshalb nicht über- 12.3.4 Lerntheoretische Ansätze
prüfbar sind, sind es heuristisch fruchtbare Theorien.
Die lerntheoretischen Ansätze gehen auf den Behaviorismus
und John Watson (1878–1958) zurück (7 Kap. 1). Für ihn war
12.3.3 Ethologische Ansätze objektiv, was direkt beobachtbar ist. Lernen und Entwicklung
sind aufgrund von Reizen und Reaktionen zu erklären. Wie
Die Ethologie, verstanden als Verhaltensbiologie, beschäftigt im Sinne der klassischen Konditionierung gelernt wird, ist für
sich mit der Erforschung angeborener Verhaltensweisen und den Humanbereich am kleinen Albert eindrücklich demons-
ihrem Überlebensvorteil. Während Konrad Lorenz und sei- triert worden (Watson & Rayner 1920).
ne Graugänse (Lorenz 1952) nahezu jedem Studierenden in Aber auch die Verhaltensänderung durch operantes Kon-
seiner schulischen Ausbildung begegnet sind, ist die Human- ditionieren mit den gut untersuchten Mechanismen der Ver-
ethologie weit weniger bekannt. Bindungsverhalten wurde änderung von Auftretenswahrscheinlichkeiten (positive und
aber auch hier zentraler Forschungsgegenstand (7 Kap. 13). negative Verstärkung, Bestrafung und Löschung) ist bedeut-
John Bowlby (1907–1990) untersuchte das Bindungsver- sam in der Entwicklungspsychologie.
halten von Säuglingen und ihren Müttern. Die Begriffe Prä- Weiterhin kann dem Lernen am Modell durch Beobach-
gung und sensible Phasen kommen hier ebenso zur Anwen- tung anderer Personen, eine zentrale Rolle zugeschrieben
dung wie die Beschäftigung mit angeborenen Verhaltenswei- werden.
sen (z. B. Reflexe) und ihre kurz- und langfristigen Auswir- Albert Bandura (geboren 1925) betont in seiner sozial-
kungen. Eine relative junge Forschungsrichtung innerhalb kognitiven Lerntheorie die Möglichkeit, durch die Beobach-
der ethologischen Ansätze ist die evolutionäre Entwicklungs- tung einer Modellperson das eigene Verhalten zu verändern
psychologie, die Erleben und Verhalten aus evolutionärer (Bandura 1977). Bedeutsam sind die stellvertretend erfahre-
Perspektive erklären will und altersabhängige Veränderungen nen Konsequenzen des Modells für ein Verhalten, also ob es
in verschiedenen Funktionsbereichen (kognitiv, sozial, emo- für sein Tun belohnt oder bestraft wird. Das Beobachtungsler-
tional) untersucht (Geary 2006). nen setzt vier Bedingungen beim Lernenden voraus: Es muss
Aufmerksamkeit für das Modell gegeben sein. Die relevante
Im Fokus: Exkurs Evolutionäre Sozialisationstheorie Verhaltensinformation muss gespeichert werden. Es müssen
motorische Kompetenzen vorliegen, um das beobachtete Ver-
Belsky, Steinberg und Draper (1991) haben eine Evolutionäre halten zeigen zu können. Der Lerner muss motiviert sein, das
Sozialisationstheorie aufgestellt. Danach kommt es in Verhalten zeigen zu wollen.
Abhängigkeit von Kindheitserfahrungen und zwischen- Insgesamt können lerntheoretische Ansätze für ein breites
Spektrum an Verhaltensweisen gute Erklärungsansätze lie-
244 Kapitel 12  Modelle und Bedingungen der Entwicklung

fern. Für den schulischen Kontext ist bedeutsam, dass sie dort vorhandene Information altersabhängig zunimmt. Wird
ein Repertoire an Interventionsmöglichkeiten zur Initiierung von Kapazität bei der Informationsverarbeitung gesprochen,
und Aufrechterhaltung erwünschter und Beendigung uner- ist die Verarbeitungskapazität, also die Leistungsfähigkeit des
wünschter Verhaltensweisen bereitstellen. Kritiker bemän- Arbeitsgedächtnisses, gemeint. Für das Arbeitsgedächtnis als
geln jedoch die Vernachlässigung sozio-emotionaler Aspekte Ort aktiver Informationsmanipulation gibt es wiederum un-
ebenso wie die einseitige Betonung der Umwelt und das in terschiedliche Modellvorstellungen. Es gibt modalitätsspe-
Abrede Stellen der aktiven Rolle des Lernenden. Banduras zifische Konzepte (Baddeley 2006, 2007; Baddeley & Hitch
Modellernen nimmt in zweierlei Hinsicht eine Ausnahmepo- 1974) und modalitätsunabhängige Ansätze (Cowan 1995).
sition ein. Erstens betont es die Notwendigkeit verschiedener Die Funktionstüchtigkeit des Arbeitsgedächtnisses wird üb-
Bedingungsfaktoren für diese Art des Lernens. Damit geht die licherweise mit Spannenaufgaben bestimmt. Dabei wird eine
Betonung der aktiven Rolle des Lernenden einher. Zweitens Sequenz von Reizen vorgegeben, die unmittelbar nach der
ist die Lerntheorie sozial-kognitiv, wodurch auch Gedächt- Präsentation in der vorgegebenen Reihenfolge reproduziert
nisprozesse ihre Bedeutung erhalten. werden muss. Die Länge der Sequenz wird solange um ein
Element gesteigert, bis die Abfolge nicht mehr korrekt wie-
dergegeben werden kann. Die letzte richtig erinnerte Sequenz
gibt die Gedächtnisspanne und damit die Funktionstüch-
12.3.5 Informationsverarbeitungsansätze tigkeit des Arbeitsgedächtnisses an. Spannenaufgaben kön-
nen hinsichtlich der benötigten Operationen und Komple-
Informationsverarbeitungsansätze untersuchen den Ablauf xität enorm variieren. In einfachen Spannenaufgaben (z. B.
von Kognitionen und ihre alterskorrelierten Veränderungen Zahlenfolgen wiedergeben) bildet sich eine altersabhängi-
(Schneider & Stern 2007). Als Rahmenmodell der Informati- ge Zunahme der Verarbeitungskapazität vom Vorschul- bis
onsverarbeitung ist das dreigliedrige Gedächtnismodell von ins frühe Erwachsenenalter ab. Im Alter von vier Jahren be-
Atkinson und Shiffrin (1968) anerkannt (7 Kap. 2). trägt die verbale Gedächtnisspanne etwa zwei bis drei Items,
Informationen werden vom Lernenden über die Sinnes- mit zwölf Jahren sind es etwa sechs Items (Gathercole 1998;
modalitäten aufgenommen und treffen in sogenannten sen- Schumann-Hengsteler 1995). Zur Erklärung dieser Entwick-
sorischen Registern ein, wo sie je nach Modalität (visuell, lung werden Reifung und Automatisierungsprozesse (Case
akustisch, haptisch, olfaktorisch) bis zu eine Sekunde ge- 1985), zunehmende Informationsverarbeitungsgeschwindig-
12 halten werden. Bei der Weiterverarbeitung gelangen sie ins keit (Kail 1988) und eine veränderte Strategienutzung disku-
Kurzzeit- oder Arbeitsgedächtnis mit einer Behaltensdauer tiert (Siegler 2006; Siegler & Jenkins 1989).
von bis zu einer halben Minute, sofern keine weitere Be-
arbeitung der Information vorgenommen wird. Durch ver-1 Wissen
schiedene Wiederholungs- und Kontrollprozesse kann die Wissen ist durch Erfahrung erworbene und langfristig
Information auch länger aufrechterhalten werden oder in den gespeicherte Information. Dieser Langzeitgedächtnisinhalt
Langzeitspeicher, das Langzeitgedächtnis, überführt werden. nimmt mit zunehmender Erfahrung und Lerngelegenheiten
Die Menge an Informationseinheiten, die im Arbeitsgedächt- zu. Es gibt verschiedene Arten von Informationen, wie bei-
nis zeitgleich gehalten und manipuliert werden kann, ist be- spielsweise deklaratives und prozedurales Wissen (7 Kap. 2),
grenzt. Beim Erwachsenen sind es sieben plus minus zwei welche normalerweise altersabhängigen Veränderungen un-
Informationseinheiten (Miller 1956). Anders als beim senso- terliegen. Wissen nimmt bereichsübergreifend zu. Mit stei-
rischen Register und dem Arbeitsgedächtnis ist die Kapazität gendem Wissen wird dieses auch organisierter und flexibler
des Langzeitgedächtnisses theoretisch unbegrenzt. Eine un- nutzbar. Eine größere Wissensbasis ermöglicht es, neue In-
endliche Menge an Information kann aufgenommen und für formation besser ins System einzulesen, d. h. zu enkodieren.
unbegrenzte Zeit dort gehalten werden. Ein Beispiel: Soll sich ein Vierjähriger ein Muster wie die-
Vor dem Hintergrund dieses theoretischen, dreigeteil- ses „M“ merken und später unter anderen Mustern wie „W
ten Gedächtnissystems untersucht die Entwicklungspsycho- N M“ wiedererkennen, wird er mehr Fehler machen als ein
logie, wie sich die Informationsverarbeitung über die Le- älteres Kind oder ein Erwachsener. Diese können vor dem
bensspanne verändert. Vier Aspekte werden im Wesentlichen Hintergrund ihrer Wissensbasis in dem Muster einen Buch-
für Gedächtnisentwicklung verantwortlich gemacht: Kapazi- staben erkennen und müssen keine abstrakte Form enkodie-
tät, Wissen, Strategien und Metagedächtnis (Hasselhorn & ren, sondern können Bedeutung zuweisen (ein M wie das
Schneider 2007; Schneider 2000). Münchner KFZ-Kennzeichen). Die Bedeutungszuweisung ist
förderlich für Wissensspeicherung und Wissensabruf. Neben
1 Kapazität der bereichsübergreifenden Zunahme an Langzeitgedächt-
Die Kapazitäten der drei Gedächtnissysteme gelten in Be- nisinhalten kann es aber auch innerhalb einer Domäne zu
zug auf das Erwachsenenalter. Es konnte aber gezeigt werden, großen Wissenszuwächsen und damit zur Ausbildung von
dass auch schon Kinder sehr viel Information in den sensori- Expertise kommen. Expertise kann bereits im Kindes- oder
schen Registern für ähnlich kurze Zeit halten können (Morri- Jugendalter erworben werden (Schneider, Gruber, Gold &
son, Holmes & Haith 1974). Auch das Langzeitgedächtnis ist Opwis 1993; Schneider, Körkel & Weinert 1989; 7 Kap. 3) und
bei Kindern potentiell kapazitätsunbegrenzt, selbst wenn die führt ebenfalls zur einer Verbesserung der Informationsver-
12.3  Theorien der Entwicklungspsychologie
245 12
arbeitung, allerdings nur in dem Bereich, für den Expertise letztendlich die Steuerung der Gedächtnisprozesse zu ver-
besteht. stehen. So stellt ein erfolgreicher Lernender beispielsweise
beim selbstständigen Üben fest, dass ein Aspekt des Lern-
1 (Gedächtnis-)Strategien stoffs für ihn noch keinen Sinn ergibt und fragt deshalb bei
Strategien können als potentiell bewusste, intentionale kog- der Lehrkraft nach, wie dies zu verstehen ist. Kognitive Regu-
nitive Aktivitäten verstanden werden, die dabei helfen, ei- lation und Kontrolle während der Bearbeitung einer Aufgabe
ne Gedächtnisaufgabe besser zu bewältigen (Schneider & ist demnach eine metakognitive Kompetenz. Während das
Lindenberger 2012b). Als eine Determinante von Gedächt- deklarative Metagedächtnis mit Ende der Grundschulzeit ei-
nisentwicklung wurde die Nutzung von unterschiedlichen ne gewisse Festigung aufweist, sich aber auch danach noch
Strategien vielfach untersucht (7 Kap. 2). Dabei zeigte sich, weiterentwickelt, sind die Entwicklungen im prozeduralen
dass mit zunehmendem Alter der Kinder mehr und viel- Metagedächtnis als zunehmend besseres Zusammenspiel von
fältigere Strategien eingesetzt werden und dass dieses auch Kontrolle und Regulation bis ins Erwachsenenalter zu beob-
mit zunehmender Leistungsfähigkeit einhergeht (vgl. Flavell, achten (Lockl & Schneider 2007; Schneider & Lockl 2006).
Beach & Chinsky 1996). Sehr einfache Strategien können
auch schon im Vorschulalter beobachtet werden (z. B. das im1 Kritische Würdigung
Auge behalten einer Karte beim Memory-Spiel). Eher schul- Insgesamt zeigen die theoretischen und empirischen Er-
relevante Gedächtnisstrategien wie Wiederholen (einfaches kenntnisse der verschiedenen Informationsverarbeitungsan-
und kumulatives, vgl. 7 Kap. 2, 4) oder Organisation von zu sätze, dass Entwicklung im kognitiven, sozial-kognitiven und
lernendem Material werden jedoch von der Mehrzahl der metakognitiven Bereich immer multikausal determiniert ist
Lernenden erst ab dem Schulalter genutzt. Für den Einsatz und dass die unterschiedlichen Determinanten zu unter-
und die Effizienz von Strategien werden drei Defizite be- schiedlicher Entwicklungszeit einen variierenden Beitrag zur
schrieben: Mediations-, Produktions- und Nutzungsdefizit. Entwicklung leisten. Die Wechselwirkung der Determinan-
Ein Mediationsdefizit liegt vor, wenn beispielsweise eine Stra- ten darf dabei auch nicht vernachlässigt werden. Kritisch
tegie aufgrund fehlender kognitiver Voraussetzungen nicht wird den Informationsverarbeitungsansätzen ein maschinen-
eingesetzt werden kann. Ein Produktionsdefizit zeigt sich, oder computerartiges Verständnis menschlicher Informati-
wenn die Strategie gezeigt werden kann, aber tatsächlich nicht onsverarbeitung unter Vernachlässigung sozio-emotionaler
spontan, d. h. ohne Hilfestellung, angewendet wird. Von ei- Aspekte angelastet. Frühe Kritik richtete sich auch gegen
nem Nutzungsdefizit kann gesprochen werden, wenn eine die Annahme serieller, also nacheinander ablaufender In-
Strategie angewendet wird, diese aber noch wenig automati- formationsverarbeitungsprozesse. Diese kann aber aufgrund
siert ist, sodass viele kognitive Ressourcen für ihre Anwen- neuerer Ansätze wie konnektionistischer Modelle (Lefrançois
dung verbraucht werden und die beabsichtigte Leistungs- 2006) und der damit einhergehenden parallelen Informa-
verbesserung ausbleibt. Diese Defizite können prinzipiell in tionsverarbeitung, die computergestützt simuliert werden
jedem Lebensalter auftreten, wenn es um das Erlernen ei- kann (7 Kap. 2, 14), nicht mehr aufrechterhalten werden.
ner neuen Strategie geht. Entwicklungspsychologisch können
Defizite aufgrund der alters- oder beschulungsabhängigen1 Anwendung
Bedeutsamkeit der Strategien aber auch dem Vorschulalter Lernende, die gute Informationsverarbeiter sind, haben kei-
(häufiges Mediationsdefizit) und dem Schulalter (häufiges ne neuronalen Defizite. Das bedeutet, dass ihr sensorisches
Produktions- und Nutzungsdefizit) zugeordnet werden. Ei- System gut funktioniert, sie einen relativ guten Zugang zu
ne solche Generalisierung birgt allerdings die Gefahr, die Wissensstrukturen des Langzeitgedächtnisses haben sowie
Tatsache zu übersehen, dass zu einem Zeitpunkt in der Strate- über eine relativ große Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses
gieentwicklung nicht nur eine Strategie gelernt oder vorhan- verfügen. Darüber hinaus zeichnen sie sich durch hinreichen-
den ist. Nach dem Modell der überlagernden Wellen können des prozedurales und metakognitives Wissen aus. Weitere
mehrere Strategien mit unterschiedlichen Nutzungseffizien- relevante und eher für die Lehrkraft sichtbare Aspekte sind
zen und -defiziten vorliegen (Siegler 2006). eine gute Lernplanung, Praktizieren der Überwachung von
Lernvorgängen, selektive Aufmerksamkeit für aufgabenre-
1 Metagedächtnis levante Informationen sowie eine günstige Lernmotivation
Unter Metagedächtnis wird die im Langzeitgedächtnis ge- (vgl. Pressley, Borkowski & Schneider 1990; Schneider &
speicherte Information über das Wissen verstanden. Es wird Pressley 1997).
zwischen einem deklarativen und einem prozeduralen Meta-
gedächtnis unterschieden. Unter deklarativem Metagedächt-
nis wird das Wissen über Personenmerkmale (z. B. ich kann
mir Namen schlecht merken oder Erstklässler wenden keine 12.3.6 Soziokulturelle und systemorientierte
Organisationsstrategien an), Aufgabenmerkmale (z. B. lan- Ansätze
ge Einkaufslisten sind schwerer zu behalten als kurze) und
Strategiemerkmale (z. B. externe Gedächtnisstrategien wie Die bisher vorgestellten Theorien bzw. Theoriefamilien fokus-
Aufschreiben helfen lange Einkaufslisten erfolgreich abzuar- sieren entweder auf die Vorgänge innerhalb des Lernenden
beiten) verstanden. Unter prozeduralem Metagedächtnis ist oder die Bedeutung der Umwelt. Das Spezifikum der sozio-
246 Kapitel 12  Modelle und Bedingungen der Entwicklung

kulturellen Ansätze liegt in der Wechselwirkung zwischen Gesellschaft. Mit einem fünften System, dem Chronosys-
dem aktiven Kind und seiner sozialen und kulturellen Um- tem, wird die zeitliche Dimension der Theorie hinzugefügt.
welt. Es soll betont werden, dass die vier Systemebenen in ihrer
Wechselwirkung und in ihrer Wirkung auf die individuelle
1 Soziokultureller Ansatz von Wygotski Entwicklung Veränderungen unterlegen sind, die es zu be-
Lew Wygotski (1896–1934) hält in seiner soziokulturellen achten gilt (. Abb. 12.4).
Theorie der Entwicklung die soziale Interaktion von weiter
entwickelten Mitgliedern einer Gesellschaft mit Kindern, die Studie: Effekte der Peergruppe
noch ein erwachsenes Mitglied dieser Gesellschaft werden In einer Längsschnittstudie konnten Chen, Chang, He und Liu
sollen, für zentral (Wygotski 1974). In der Interaktion wird (2005) zeigen, dass die Peer-Gruppe als Kontext Auswirkungen
gemeinsam eine die jeweilige Kultur ausmachende Tätigkeit auf die Beziehung von elterlicher Unterstützung und sozialer
vollzogen. Während der Erwachsene oder ein kenntnisrei- sowie schulischer Anpassung hat. Prosoziale kooperative Peer-
cheres Geschwister die Handlung vollzieht und dabei verba- beziehungen stärkten das Ausmaß in dem die elterliche Unter-
lisiert, was wann wie zu tun ist (z. B. beim Kuchenbacken stützung die sozialen und schulischen Kompetenzen veränder-
oder schriftlichen Addieren), partizipiert der Lernende so ten. Antisoziale destruktive Peerbeziehungen unterminierten
viel wie möglich und in wiederholten Situationen zunehmend die elterliche Unterstützung in ihrem Einfluss auf soziale und
mehr, bis er die Tätigkeit, zunächst noch mit verbaler Unter- schulische Leistung. Die empirischen Befunde verdeutlichen,
stützung, allein ausführen kann. Über diese kollektivistische dass multiple Beziehungen zwischen dem Mikro- und Mesosys-
Tätigkeit gelangt das zunächst interpsychische Kulturgut (wie tem bestehen und zugleich wechselseitig sein können.
etwas gemacht wird und wie gedacht wird) ins innerpsychi-
sche des Kindes. Das Kind verinnerlicht die Kultur und wird Die aktuelle Entwicklungspsychologie berücksichtigt,
somit Teil der Gesellschaft. Wygotski hat den Bereich zwi- dass Entwicklung ein iterativer Vorgang ist, bei dem sich ver-
schen dem, was ein Kind selbständig kann, und dem, was schiedene Systeme gegenseitig beeinflussen und verändern.
das Kind durch die Unterstützung eines Erwachsenen oder Niemand würde heute bestreiten, dass nicht nur Eltern ihre
kompetenteren Mitglieds der Gesellschaft bewältigen kann, Kinder, sondern Kinder ebenso ihre Eltern beeinflussen. Das
als Zone der proximalen Entwicklung definiert. Entwicklung Beachten dynamischer Systeme ist hoch aktuell (vgl. Dyna-
wird als Prozess verstanden, sodass das Entwicklungspoten- mischer Interaktionismus).
12 tial und nicht der Entwicklungsstand von Bedeutung ist.
Stärken dieser Theorie liegen sicher in den durch sie mo-
tivierten umfangreichen Forschungsarbeiten, gerade auch in 12.4 Forschungsmethoden
kulturvergleichender und pädagogisch-psychologischer Hin-
sicht (vgl. Cognitive Apprenticeship). Zahlreiche weitere An- Im Folgenden sollen kurz die gebräuchlichsten Methoden der
sätze verstehen Entwicklung als einen im System stattfin- Entwicklungspsychologie und ihre Besonderheiten erörtert
denden interaktiven Prozess. Für Lehrkräfte ist der Ansatz werden. Weitere Forschungsmethoden der Psychologie wer-
relevant, weil viele Anwendungen im Schulalltag darauf be- den in 7 Kap. 24 erläutert. Im Weiteren werden verschiedene
ruhen, wie ein Lückentext mit vorgegebenen Wortanfängen Arten der Stichprobenselektion vorgestellt. Sie sind typisch
oder Bildern als Hilfestellung. für die Entwicklungspsychologie, um Veränderungen und
Stabilitäten über die Zeit festzustellen.
1 Systemtheorie von Bronfenbrenner
Uri Bronfenbrenner (1917–2005) hat eine Systemtheorie ent-
worfen, in der das sich entwickelnde Kind im Zentrum von
vier Systemebenen steht, die miteinander interagieren und 12.4.1 Datengewinnung
gemeinsam mehr oder weniger direkt auf die Entwicklung
einwirken (Bronfenbrenner 1994). Das Mikrosystem um- Zur Untersuchung der Entwicklung über die Lebensspan-
schließt das Kind, es ist der innerste und direkt mit dem ne werden viele verschiedene Forschungsmethoden genutzt
Kind in Kontakt stehende Lebensbereich, in der Regel die (7 Kap. 24, 27). Diese unterscheiden sich manchmal gar nicht,
Kernfamilie und der Kindergarten oder die Schule. Das Me- manchmal etwas und manchmal beträchtlich von dem in
sosystem beschreibt die Beziehungen zwischen den Instanzen anderen psychologischen Teildisziplinen eingesetzten Me-
des Mikrosystems, beispielsweise wie Erziehungsberechtig- thodeninventar. Dies liegt daran, dass Forschungsmethoden
te mit der Schule zusammenarbeiten. Im Exosystem sieht gefragt sind, die Veränderungen und Stabilitäten über die Zeit
Bronfenbrenner Aspekte, die den sozialen Rahmen definieren abbilden können. Während offene und systematische Ver-
(Arbeitsplatz und Freunde der Eltern, Verwandte, die Ge- haltensbeobachtung mit Zeit- und Ereignisstichprobe wenig
sundheitsversorgung) und das Kind beeinflussen, ohne dass entwicklungspsychologische Besonderheiten aufweisen, sind
dieses direkt in diesen Bereichen involviert ist. Unter dem Selbstauskünfte, sei es in verbaler (Interview) oder schriftli-
Makrosystem versteht er die äußerste Ebene, in der Wer- cher Form (Fragebogen) durch die jeweiligen Sprachkompe-
te und die Gesetzgebung einer Gesellschaft zu finden sind. tenzen begrenzt. Dabei gilt es, das Sprachverstehen ebenso
Dieses System wirkt vergleichbar auf alle Mitglieder einer wie die verbal-produktiven Fertigkeiten oder die Lese- und
12.4  Forschungsmethoden
247 12
. Abb. 12.4 Systemtheorie nach
Uri Bronfenbrenner

Gebräuche

Verwandte

Sozial-
dienste Familie
Schüler(in)

§ Schule Gesund-
Ge- heits-
setze dienste
Nach-
barschaft
Freunde

Wertvorstellungen
Ch
ro
no
sy
ste
m

Schreibkompetenz der Untersuchten zu beachten. Dies kann Quasi-Experiment gesprochen werden. Im Zuge einer rapi-
z. B. dazu führen, dass ein Interview nicht durchgeführt wer- den technischen Entwicklung sind in den vergangenen zwan-
den kann und statt der Selbstauskünfte Fremdauskünfte als zig Jahren auch in der Entwicklungspsychologie verstärkt
Datenbasis genutzt werden müssen. bildgebende Verfahren wie EEG (Elektroenzephalogramm),
ERP (Ereigniskorrelierte Potentiale), fMRT (Funktionale Ma-
Im Fokus: Klinische Methode (klinisches Interview) gnetresonanztomographie) und PET (Positronen-Emissions-
Tomographie) zur Datengewinnung entwickelt und einge-
Um die Struktur des Denkens von Kindern zu erfassen, setzt worden. Die Verbesserung der Technik hat nicht nur
verwendete Piaget keine Tests, sondern die von ihm entwi- die Anwendung solcher neurophysiologischer Verfahren bei
ckelte klinische Methode. Entlang eines Fragenleitfadens immer jüngeren Kindern ermöglicht, auch die kreative Wei-
versuchte er dem Denken des Kindes zu folgen und so die terentwicklung von experimentellen Versuchsanordnungen
zugrundeliegende Struktur zu verstehen. Die Inhalte der hat zu neuen Untersuchungsparadigmen wie beispielsweise
Interviews (z. B. Wo liegt der Ursprung der Namen?) sind dem Habituations-Dishabituations-Paradigma in der Säug-
gleichsam als Fenster zu verstehen, die den Einblick zur lingsforschung geführt (Lohaus 2007, 2014). Zu beachten ist,
dahinterliegenden Denkstruktur ermöglichen. dass das Lebensalter häufig als unabhängige Variable (UV)
eingesetzt und damit als ursächlich für die festzustellenden
Veränderungen gemacht wird. Die Verhaltensveränderung
In der Entwicklungspsychologie werden auch Fallstudien, wird dabei als abhängige Variable (AV) angesehen, die von
Korrelationsstudien, Feldstudien und Experimente (sowohl der unabhängigen Variablen beeinflusst wird. Tatsächlich ist
im Labor als auch im natürlichen Umfeld) durchgeführt. das Lebensalter mit anderen Faktoren untrennbar verbunden
Im Gegensatz zum klassischen (Labor-)Experiment, welches (Hager & Hasselhorn 2007) und hat keinen psychologischen
neben der kontrollierten Manipulation einer unabhängigen Erklärungswert (7 Abschn. 12.2.3). Um jedoch erste Hinweise
Variable auch eine randomisierte Gruppenzuweisung auf- auf altersbezogene Unterschiede in der Entwicklung zu be-
weist, ist letzteres im natürlichen Umfeld nicht immer rea- kommen, werden Quasi-Kausalhypothesen aufgestellt (Ha-
lisierbar. Dies ist beispielsweise auch im Schulkontext der ger & Hasselhorn 2007) sowie unterschiedliche Varianten der
Fall: Weder Schulklassen noch Schulen können für Unter- Stichprobenselektion, nämlich querschnittliche und längs-
suchungszwecke auseinandergerissen und zufällig neu zu- schnittliche, verwirklicht. Diese beiden Verfahren, die als
sammengesetzt werden. In solchen Fällen muss von einem Grundverfahren der Veränderungsmessung in der Entwick-
248 Kapitel 12  Modelle und Bedingungen der Entwicklung

lungspsychologie bezeichnet werden (Schraml 1999), werden ne Datenverzerrung durch wiederholte Testungen, sog. Tes-
im folgenden Abschnitt näher erläutert. tungseffekte, nicht ausgeschlossen werden. Ein nicht unbe-
trächtlicher Anteil der Stichprobe kann durch Schwund bei
einem nachfolgenden MZP verloren gehen. Darüber hinaus
sind mehrfache Erhebungen zeit- und kostenintensiv und ei-
12.4.2 Stichprobenselektion
ne Generalisierbarkeit der Ergebnisse auf andere Kohorten
nicht immer möglich.
Entwicklungspsychologische Forschungsfragen können sehr
facettenreich sein. Immer wenn die Untersuchung einer Ver-1 Sequenzplan
änderung oder Stabilität über die Zeit beabsichtigt ist, wird Um die Nachteile von quer- und längsschnittlichen Designs
ein zeitbezogener Untersuchungsplan (Design) konzipiert. zu überwinden, hat Schaie (1965) eine Kombination aus bei-
Die gebräuchlichsten werden jetzt vorgestellt und mit ihren den vorgeschlagen und diese als Sequenzpläne oder sequenti-
Vor- und Nachteilen erörtert. elle Untersuchungen bezeichnet (Schmiedek & Lindenberger
2012). Das Prinzip entspricht der Durchführung von meh-
1 Querschnittliche Designs reren Längsschnitten mit zwei oder mehr Alterskohorten
Bei einer Querschnittuntersuchung werden zu einem Mess- (. Abb. 12.5; Seitz-Stein, Gade & Berner 2016).
zeitpunkt (MZP) verschiedene Gruppen von Personen unter- Wichtig ist die Überlappung der verschiedenen Gruppen
schiedlichen Lebensalters untersucht. Eine Personengruppe in den Altersbereichen, die im Fokus der jeweiligen Stu-
ungefähr gleichen chronologischen Alters (z. B. ein Geburts- die stehen. So können inter- und intraindividuelle Entwick-
jahrgang oder Kinder einer Klassenstufe), die vergleichbaren lung verglichen werden und die Konfundierung von Alters-,
sozial-historischen Bedingungen ausgesetzt war, wird als Ko- Kohorten- und Testzeiteffekten kontrolliert bzw. ausgeschlos-
horte bezeichnet. Vergleicht man die Daten zweier oder meh- sen werden. Neben diesen Vorteilen sind die Ressourcenin-
rerer Altersgruppen oder Kohorten hinsichtlich eines oder tensität und der Teilnehmerschwund als Nachteile zu nennen.
mehrerer Merkmale, wird der beobachtete Merkmalsunter- Um Ressourcen zu sparen, können auch zwei kurze Längs-
schied als entwicklungsbedingte Veränderung angenommen. schnitte mit einer Überlappungsgruppe zu einem großen
Dabei ist das Merkmal, welches sich verändert oder stabil Längsschnitt zusammengefügt werden (Lohaus & Vierhaus
bleibt, zwischen mindestens zwei Personengruppen festge- 2015; Schaie 1965).
12 stellt worden. Dies bedeutet, dass mit einem Querschnitt- Neben den präsentierten Arten der Stichprobenselekti-
design die Veränderung oder Stabilität zwischen Personen on gibt es viele weitere Möglichkeiten, Stichproben zu ziehen
unterschiedlichen Lebensalters erfasst werden kann. Wir und zu kombinieren. In jüngster Zeit wird beispielsweise in
sprechen von interindividueller Entwicklung. Nicht erfasst multiplen Zeitplänen eine Kombination aus längsschnittli-
wird jedoch intraindividuelle Entwicklung – die tatsächliche chen Erhebungen mit langer Zeitdauer zwischen den MZPen
Veränderung bei einer Person. Des Weiteren liegt in Quer- und eingefügten multiplen Messungen mit sehr niedriger
schnittsuntersuchungen das Problem in der Konfundierung Zeitspanne zwischen den MZPen vorgenommen (Lohaus &
(Vermischung) von Lebensalter und Kohorte (Altersgruppe) Vierhaus 2015; Ram, Gerstorf, Lindenberger & Smith 2011).
vor. Das heißt, dass gefundene Unterschiede schwierig zu in- Jede Form der Stichprobenselektion richtet sich nach dem
terpretieren sind, da mit dem Lebensalter die Zugehörigkeit Forschungsinteresse und den Möglichkeiten, diese operatio-
zu einer bestimmten Generation verbunden ist. Um diese nal zu definieren, und in der Realität umzusetzen. In der
Konfundierung zu vermeiden, werden Längsschnittuntersu- Regel müssen zwischen den einzelnen Aspekten gute Kom-
chungen durchgeführt. Querschnittuntersuchungen haben promisse gefunden werden.
aber neben dem Nachteil der Konfundierung von Lebensal-
ter und Kohorte und der ausschließlich interindividuellen
Vergleichsmöglichkeit auch Vorteile: Sie sind meist zeit- und
kostenökonomisch und können schnellen Erkenntnisgewinn Zusammenfassung
erbringen. Im vorangehenden Kapitel wurden grundlegende Aspek-
te und zentrale Fragen der Entwicklungspsychologie erör-
1 Längsschnittliche Designs tert. Sie sind für die Lehrkraft und ihr professionelles päd-
Bei einer Längsschnittuntersuchung wird eine Gruppe von agogisches Handeln bedeutsam. Nach dem Gegenstand
Gleichaltrigen oder eine Kohorte zu mehreren aufeinander- und den Aufgaben der Entwicklungspsychologie wurden
folgenden Messzeitpunkten (MZP) untersucht. Damit wird Begriffe zur Erklärung von Entwicklung wie Reifung, Ler-
die Entwicklung des bzw. der Merkmale innerhalb der Person nen oder Sozialisation erörtert. Lebensalter und weitere
bzw. der Personengruppe erfasst (intraindividuelle Entwick- zeitbezogene Konzepte wurden in ihrer psychologischen
lung). Neben diesem gewichtigen Vorteil eines Längsschnitt- Bedeutung vorgestellt. Die Frage kontinuierliche oder dis-
designs sind einige Nachteile zu nennen: Die Interpretati- kontinuierliche Entwicklung wurde ebenso erläutert wie
on von Längsschnittdaten kann schwierig sein, da für die die nach dem relativen Anteil von Anlage- und Umwelt-
gefundenen Veränderungen sowohl Testzeiteffekte als auch einflüssen auf die intellektuelle Begabung. Grundlegende
Alterseffekte ursächlich sein können. Außerdem kann ei-
Literatur
249 12
Alter in Jahren

1973 25 32 39

1966 25 32 39 46

1959 25 32 39 46 53
Kohorte

1952 25 32 39 46 53 60

1945 25 32 39 46 53 60 67

1938 25 32 39 46 53 60 67 74

1931 25 32 39 46 53 60 67 74 81 Längsschnitt

1956 1963 1970 1977 1984 1991 1998 2005 2012


Messzeitpunkt Querschnitt

. Abb. 12.5 Sequenzplan (im Parallelogramm) nach Schaie (Seitz-Stein, Gade & Berner 2016, S. 68)

Rudolf Steiner (Waldorfpädagogik), Bindungstheorie


Entwicklungstheorien wurden typisiert und durch ihre nach Bowlby.
Anwendung im schulischen Kontext verdeutlicht. Zum 9. Wie würde ein Kind im präoperationalen Stadium nach
Abschluss wurden die Besonderheiten entwicklungspsy- Piaget auf die Erhaltungsaufgabe mit den Knöpfen
chologischer Methoden der Datengewinnung und Stich- antworten?
probenselektion vorgestellt. Insgesamt kann der Kenntnis 10. Erörtern Sie, wie Sie als Lehrkraft in Ihrem Unterricht
von Modellen und Bedingungen der Entwicklung eine ein Disäquilibrium herbeiführen können und warum
handlungskritische Funktion zugesprochen werden. Im dies bisweilen sinnvoll sein kann!
Optimalfall dient sie als Grundlage zur Reflexion des pro- 11. Woran erkennt man Lernende, die „gute“ Informations-
fessionellen pädagogischen Handelns von Lehrkräften. verarbeiter sind?
12. Sie interessieren sich für Motivationsentwicklung.
Welche Vor- und Nachteile ergeben sich, wenn Sie
Selbstauskünfte aus einer fünften Klasse mit denen
aus einer siebten Klasse (jeweils zu Schuljahresbeginn)
Verständnisfragen vergleichen?

?1. Warum wird der traditionelle/enge Entwicklungsbegriff


kritisiert? Konkretisieren sie die Kritik am Beispiel der
Gedächtnisentwicklung!
Literatur
2. Mit welchen Lebensphasen ist eine Lehrkraft in ihrem
Aktinson, R. C., & Shiffrin, R. M. (1968). Human memory: A proposed sys-
späteren pädagogischen Handeln konfrontiert? Inwie-
tem and its controll process. In K. W. Spence & J. T. Spence (Hrsg.), The
fern kann der Gegenstands- und der Aufgabenbereich psychology of learning and motivation: Advances in Research and Theo-
unter Berücksichtigung des Life-Span-Development- ry (Bd. 2, S. 89–195). New York: Academic Press.
Ansatzes für eine Lehrkraft in der Praxis eine Rolle Asendorpf, J. B. (2007). Interaktion und Kovariation von Genom und Um-
spielen? welt. In M. Hasselhorn & W. Schneider (Hrsg.), Handbuch der Entwick-
lungspsychologie (S. 119–128). Göttingen: Hogrefe.
3. Nennen Sie zentrale Kennzeichen eines weiten
Asendorpf, J. B. (2012). Verhaltens- und molekulargenetische Grundlagen.
Entwicklungsbegriffs und verdeutlichen Sie diese mit In W. Schneider & U. Lindenberger (Hrsg.), Entwicklungspsychologie
jeweils einem Beispiel! (7. Aufl. S. 81–96). Weinheim: Beltz.
4. Warum ist der Begriff Schulreife irreführend? Baddeley, A. D. (2006). Working memory: An overview. In S. J. Pickering
5. Erläutern Sie am Beispiel Sprachentwicklung das (Hrsg.), Working memory and education (S. 1–31). San Diego, CA: Aca-
demic Press.
Konzept der kontinuierlichen und diskontinuierlichen
Baddeley, A. D. (2007). Working memory: Thought and Action. Oxford: Ox-
Entwicklung. ford University Press.
6. Inwiefern ist das Wissen um kontinuierliche oder Baddeley, A. D., & Hitch, G. J. (1974). Working memory. In G. Bower (Hrsg.),
diskontinuierliche Entwicklung wichtig? The psychology of learning and motivation. New York: Academic Press.
7. Welche Bedeutung hat die Anlage-Umwelt-Passung Baltes, P. B. (1990). Entwicklungspsychologie der Lebensspanne: Theoreti-
für das pädagogische Handeln einer Lehrkraft? sche Leitsätze. Psychologische Rundschau, 41(1), 1–24.
Baltes, P. B., Lindenberger, U., & Staudinger, U. M. (2006). Life span theo-
8. Ordnen Sie folgende theoretischen Begriffe/Konzepte ry in developmental psychology. In W. Damon & R. M. Lerner (Hrsg.),
bzw. Vertreter der prototypischen Systematik von Handbook of child psychology. Theoretical models of human develop-
Entwicklungstheorien zu: Reifung, Behavorismus, ment 6. Aufl. (Bd. 1, S. 569–664). New York: John Wiley & Sons.
250 Kapitel 12  Modelle und Bedingungen der Entwicklung

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253 13

Psychosexuelle und soziale


Entwicklung
Markus Paulus

13.1 Psychosexuelle Entwicklung, Sexualverhalten und sexuelle


Orientierung – 254
13.1.1 Zentrale Aspekte der körperlichen Entwicklung – 254
13.1.2 Konsequenzen der psychosexuellen Entwicklung im Jugendalter – 255
13.1.3 Schülerinnen und Schüler mit abweichender sexueller Orientierung oder
geschlechtlicher Identität – 256
13.1.4 Erklärungsansätze der Entwicklung sexueller Orientierungen – 257

13.2 Soziale Entwicklung: Die Beziehung zu Gleichaltrigen – 258


13.2.1 Die Entwicklung der Sozialen Kognition – 258
13.2.2 Die Entwicklung von Freundschaften – 261
13.2.3 Schülerinnen und Schüler in der Gruppe: Peergruppen und Cliquen – 263
13.2.4 Einfluss der Eltern-Kind-Beziehung auf Sozialverhalten – 265
13.2.5 Pro- und antisoziales Verhalten – 266

Verständnisfragen – 269

Literatur – 269

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019


D. Urhahne, M. Dresel, F. Fischer (Hrsg.), Psychologie für den Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55754-9_13
254 Kapitel 13  Psychosexuelle und soziale Entwicklung

Für wertvolle Rückmeldungen und Unterstützung danke ich1 Jugendalter


Anne Scheel, Nike Tsalas und Monika Wörle. Die körperlichen Veränderungen im Jugendalter sind von
umfassender Bedeutung, da sich nicht nur motorische Fä-
higkeiten entwickeln, sondern auch die Geschlechtsreife, die
13.1 Psychosexuelle Entwicklung, gravierende Folgen für das Sozialverhalten und das Selbst-
Sexualverhalten und sexuelle konzept hat (7 Abschn. 13.2). Als äußerlich sichtbarstes Zei-
chen gilt zweifellos der pubertäre Wachstumsschub. Dieser
Orientierung erfolgt bei den meisten Mädchen zwischen 10 und 14 Jahren
und bei den meisten Jungen zwischen 12 und 16 Jahren. Dies
Das folgende Unterkapitel behandelt wichtige Themen führt dazu, dass zu Beginn der Adoleszenz die Mädchen im
der psychosexuellen Entwicklung im Jugendalter. Zuerst Durchschnitt gleichaltrige Jungen in der Körpergröße über-
werden ausgewählte Aspekte der körperlichen Entwick- treffen. Mit 15 bis 17 Jahren erreichen Mädchen, mit 17
lung zwischen Grundschule und Sekundarstufe dargestellt bis 19 Jahren Jungen ihre endgültige Größe (Remschmidt
(7 Abschn. 13.1.1). Darauf aufbauend werden einige Kon- 1992; Silbereisen & Weichold 2008; Stolzenberg et al. 2007).
sequenzen der psychosexuellen Entwicklung im Jugendalter Aus psychologischer Sicht lässt sich spekulieren, dass die-
beschrieben (7 Abschn. 13.1.2). 7 Abschn. 13.1.3 beschreibt die se Veränderungen wahrscheinlich sowohl das Verhältnis der
Herausforderungen, vor denen Schülerinnen und Schüler mit Geschlechter zueinander als auch die Wahrnehmung der Jun-
vom Durchschnitt abweichender sexueller Orientierung oder gen und Mädchen durch Lehrkräfte beeinflussen (Steinberg
geschlechtlicher Identität stehen. Das Unterkapitel schließt 1987).
mit einem Überblick über Theorien der Entwicklung sexuel- Es ist wichtig zu beachten, dass diese Durchschnittswer-
ler Orientierungen (7 Abschn. 13.1.4). te keine Aussagen über Individuen erlauben, da es gerade
im Bereich der körperlichen und motorischen Entwicklung
große Unterschiede zwischen den Kindern gibt. Aus psycho-
logischer Sicht besonders bedeutsam sind dabei eine sehr
13.1.1 Zentrale Aspekte der körperlichen
frühzeitige (Akzeleration) oder verzögerte körperliche Ent-
Entwicklung wicklung (Retardierung), da sie mit Konsequenzen für das
Sozialverhalten und den Selbstwert der Jugendlichen ein-
1 Grundschulalter hergehen (Silbereisen & Weichold 2008). Diese sollen im
Die körperliche Entwicklung im Grundschulalter, vor allem Folgenden genauer betrachtet werden. Hierbei wird zwischen
13 das Größenwachstum und die Gewichtszunahme, vollzieht drei Gruppen unterschieden: Kinder mit einer recht frühen
sich relativ kontinuierlich, d. h. ohne größere Sprünge (Miet- Reife, Kinder im Durchschnittsbereich, und Kinder mit einer
zel 2002). Damit unterscheidet sich diese Phase von der vor- verzögerten Reife. Eine Reihe von Hypothesen wurde hierzu
schulischen Phase und dem Jugendalter, welche sich durch vorgelegt. Die Abweichungshypothese (deviance hypothesis;
körperliche Entwicklungsschübe auszeichnen (Kuczmarski z. B. Brooks-Gunn, Petersen, & Eichorn 1985) geht davon
et al. 2000; Stolzenberg, Kahl & Bergmann 2007). Mietzel aus, dass Jugendliche mit einem zu frühen oder zu späten
(2002) weist auf zwei Folgen dieser körperlichen Entwick- Eintritt in die Pubertät von ihren Altersgenossen abweichen
lung hin. Zum einen ermöglicht die steigende Körperbeherr- und dadurch Probleme erfahren. Dies könnte damit zusam-
schung die Teilnahme an koordinierten sportlichen Aktivi- menhängen, dass die notwendige soziale Unterstützung (sei
täten, zum anderen geht sie mit zunehmender körperlicher es durch Eltern und Erzieher oder durch den Austausch mit
Auseinandersetzung (Balgen, Raufen) zwischen den Kindern Gleichaltrigen) für diese Jugendlichen bei früher Reife noch
einher. Diese Verhaltensmuster scheinen kulturübergreifend nicht vorhanden ist bzw. bei später Reife nicht mehr angebo-
aufzutreten und könnten eine wichtige Rolle für die soziale ten wird (Susman & Dorn 2009). Bei verzögerter physischer
Integration spielen. Reife besteht auch die Gefahr, dass weniger Verantwortlich-
Die zunehmende Rolle körperlicher Geschicklichkeit für keit und Unabhängigkeit gewährt wird, wodurch die Jugend-
gemeinsame Spielaktivitäten kann darüber hinaus dazu füh- lichen sich gegenüber Gleichaltrigen zurückgesetzt und/oder
ren, dass sich körperliche Fähigkeiten nun auch verstärkt von deren Aktivitäten ausgeschlossen fühlen.
auf die Beliebtheit und das Selbstbild auswirken (Mietzel Die Frühreifungshypothese (early timing hypothesis) be-
2002). Dies wird durch empirische Untersuchungen bestä- sagt, dass vor allem ein sehr früher Eintritt in die Pubertät
tigt. So erleben sich Kinder mit Entwicklungskoordinations- problematisch ist, da die Kinder aufgrund ihrer frühen Rei-
störungen (Entwicklungsdyspraxie; Prävalenz: 5 bis 6 % der fe nicht die notwendigen psychosozialen Fähigkeiten entwi-
Schulkinder) als weniger kompetent, weisen ein geringeres ckeln konnten, um diesen körperlichen Entwicklungsschritt
Selbstwertgefühl auf und gehen davon aus, weniger sozia- adäquat zu bewältigen. Aufgrund ihrer physischen Entwick-
le Unterstützung zu haben (Skinner & Piek 2001). Zugleich lung sehen sie sich Herausforderungen gegenüber, denen sie
zeigt sich, dass Kinder im Laufe der Grundschulzeit indivi- psychisch weniger gut gewachsen sind (Silbereisen & Wei-
duelle Interessen an sportlichen und körperlichen Aktivitäten chold 2008). Aus einer neurobiologischen Perspektive wird
ausbilden, die sich zudem zwischen den Geschlechtern unter- diskutiert, dass gerade die Fähigkeiten zur Impulskontrol-
scheiden (Schultheis 2012). le und kontextadäquatem Entscheidungsverhalten bei diesen
13.1  Psychosexuelle Entwicklung, Sexualverhalten und sexuelle Orientierung
255 13
Jugendlichen noch nicht ausreichend entwickelt sind (Casey, lichen Ländern eine zunehmende Liberalisierung des Se-
Jones, & Hare 2008; Steinberg 1987). Andere Erklärungen xualverhaltens verzeichnen (Remschmidt 1992). Dies spricht
beziehen den sozialen Kontext mit ein. Da die gleichalt- für eine Abnahme gesellschaftlicher Normvorstellungen so-
rigen Klassenkameraden aufgrund ihrer mangelnden Reife wie eine Akzeptanz unterschiedlicher Lebensstile und Aus-
weniger interessant sind, orientieren sich die frühreiferen drucksformen. Auf der anderen Seite stellen andere Autoren
Jugendlichen eher an älteren bzw. an sich ebenfalls abwei- über die letzten Jahrhunderte einen zunehmenden Fokus auf
chend verhaltenden Peers. Dadurch werden sie mit für ihr Sexualität als zentrales Persönlichkeitsmerkmal fest. So ar-
Alter untypischen Verhaltensweisen konfrontiert bzw. von gumentiert der französische Sozialhistoriker und Philosoph
den abweichenden Peers mit Substanzmissbrauch und Risi- Michel Foucault (1983 1989), dass es im Laufe der Geschich-
koverhaltensweisen bekannt gemacht, wodurch sie sich noch te zu einem veränderten Verständnis von Sexualität kam.
mehr von Gleichaltrigen unterscheiden. Diese Verhaltens- Während in früheren Jahrhunderten der Fokus auf klare Ver-
weisen können sich verfestigen und so problematische Ent- haltensregeln gelegt wurde (was ist erlaubt bzw. was ist ver-
wicklungsverläufe erklären. boten?), wurden sexuelle Neigungen zunehmend zu einem
Die Auswirkungen der Unterschiede im pubertären Ent- zentralen Charakteristikum einer Person (wer oder was ist
wicklungstempo unterscheiden sich dabei auch zwischen den jemand seiner „inneren Natur“ nach?), wodurch sie auch de-
Geschlechtern. In der Tat zeigen empirische Befunde, dass finiert wurde. Diese kurzen Ausführungen geben einen ersten
vor allem für Mädchen ein sehr früher Reifeeintritt mit Eindruck davon, dass das Gebiet der Sexualität auch in den
sowohl internalisierenden als auch externalisierenden Pro- Sozialwissenschaften ein äußerst kontrovers diskutiertes The-
blemverhaltensweisen einhergeht (vgl. Mendle, Turkheimer, ma ist.
& Emery 2007). Darüber hinaus erfahren sie weniger sozia- Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Geschlecht ist
le Unterstützung (Büttig, Weichold, & Silbereisen 2007). Dies bereits ein Thema in der frühen Kindheit. So zeigen Arbeiten
legt nahe, dass bei frühreifen Mädchen pädagogisch beson- von Kohlberg (1966), dass Kinder im Laufe des Kindergar-
dere Aufmerksamkeit und Unterstützung geboten ist. Aus tenalters und der ersten Schuljahre ein Verständnis davon
pädagogischer Sicht diskutieren Susman und Dorn (2009), entwickeln, dass das Geschlecht einer Person ein stabiles
dass bei Jugendlichen mit verfrühter physischer Reife die Ge- Merkmal darstellt (Geschlechtsstabilität) und auch bei ober-
fahr von erhöhtem sozialem Druck aus ihrem Umfeld besteht, flächlichen Änderungen (z. B. wenn Jungen Mädchenkleider
da ihr reifes Erscheinungsbild bei anderen die Erwartung von tragen) gleich bleibt (Geschlechtskonstanz). Die darauf basie-
entsprechender kognitiver und emotionaler Reife entstehen rende Identifikation mit dem eigenen Geschlecht spielt eine
lässt, die sie jedoch noch nicht erreicht haben. wichtige Rolle in der weiteren Auseinandersetzung mit den
gesellschaftlichen Rollenerwartungen. Obwohl bereits jün-
gere Kinder an ihren Genitalien spielen und im Rahmen
sozialer Interaktionen ihren Körper entdecken (häufig als
13.1.2 Konsequenzen der psychosexuellen
„Doktorspiele“ bezeichnet; Remschmidt 1992), erreicht die
Entwicklung im Jugendalter psychosexuelle Entwicklung im Jugendalter eine neue Stu-
fe. Die Pubertät führt zur Entstehung bisher nicht in diesem
Die mit der Pubertät einhergehende psychosexuelle Entwick- Ausmaß vorhandener sexueller Bedürfnisse.
lung ist zweifellos eine der gravierendsten Entwicklungsver- Selbstbefriedigung ist dabei eine sehr häufig praktizierte
änderungen des Jugendalters. Die hormonellen Veränderun- Form der Befriedigung der sexuellen Bedürfnisse, die von der
gen und die Ausbildung der körperlichen Geschlechtsreife großen Mehrheit der älteren Jungen und etwas weniger als
gehen mit dem Erwachen sexueller Bedürfnisse einher. Dies der Hälfte der Mädchen praktiziert wird (Klusmann & Kurrat
hat Einfluss auf die sozialen Beziehungen zwischen den Schü- 1993). Etwa die Hälfte der Jungen und Mädchen im Alter von
lerinnen und Schülern sowie auf das Selbstkonzept. Ange- 16–17 Jahren berichten davon, Geschlechtsverkehr gehabt zu
sichts der Tatsache, dass Sexualität ein Erlebens- und Verhal- haben. Dieser wird von der Mehrheit beider Geschlechter
tensbereich ist, welcher äußerst stark von gesellschaftlichen als positiv erlebt (von den Jungen allerdings mehr als von
Normen und Rollenvorstellungen beeinflusst ist, interagieren den Mädchen; 85 % vs. 60 %). Während Jungen ihren ers-
hier wie in kaum einem anderen Bereich natürliche Ver- ten Orgasmus in der Regel durch die Masturbation erleben,
anlagungen und soziale Erwartungen auf komplexe Weise haben Mädchen ihren ersten Orgasmus beim Petting oder
(Foucault 1983 1989). Die Auseinandersetzung mit der ei- Geschlechtsverkehr (Klusmann & Kurrat 1993). Nationale
genen Sexualität und den entsprechenden gesellschaftlichen Studien in den USA legen dabei nahe, dass die Prozentzahl
Erwartungen spielt daher eine große Rolle im Leben Jugend- der Jugendlichen, die Erfahrungen mit Geschlechtsverkehr
licher. Klassische Entwicklungstheorien sehen den Umgang haben, seit 1988 gerade bei den Jungen stark zurückgegan-
mit der eigenen Sexualität, die Auseinandersetzung mit den gen ist (Martinez, Copen, & Abma 2011). Dasselbe trifft für
Geschlechterrollen und die Fähigkeit zur Aufnahme intimer die Rate an Schwangerschaften im Jugendalter zu.
Beziehungen zu einem Partner als eine zentrale Entwick- Die neu hinzukommenden Bedürfnisse stellen die Schü-
lungsaufgabe des Jugendalters (Havighurst 1981). lerinnen und Schüler vor neue Herausforderungen. So müs-
Umstritten ist hierbei das Ausmaß des gesellschaftlichen sen sie lernen, wie sie sich unter den neuen Voraussetzungen
Einflusses: Auf der einen Seite können wir in vielen west- dem anderen Geschlecht annähern und wie sie gegenseitige
256 Kapitel 13  Psychosexuelle und soziale Entwicklung

Bedürfnisse mit dem/der anderen aushandeln. Dazu gehört Emnid durchgeführte repräsentative Befragung, dass knapp
es auch, sich über die eigenen Gefühle klar zu werden. Ange- 10 % der Männer und knapp 20 % der Frauen angeben, sich
sichts vielfältiger gesellschaftlicher Erwartungen und norma- vom gleichen Geschlecht erotisch angezogen zu fühlen. Eine
tiver Vorgaben hinsichtlich sexuellen Erlebens und Verhal- groß angelegte Studie aus den USA, in der knapp 14.000 Ju-
tens, potenziellen Unterschieden zwischen den Geschlech- gendliche (12 bis 23 Jahre) befragt wurden, ergab, dass sich
tern und unter steter Beobachtung und Bewertung durch die 88 % der Jugendlichen als rein heterosexuell, etwa 2,5 % als
Gruppe der Gleichaltrigen stellt dies eine besondere Heraus- rein lesbisch, schwul oder bisexuell und 8,5 % als meistens
forderung für die Schülerinnen und Schüler dar (Pinquart heterosexuell bezeichneten (Calzo, Masyn, Austin, Jun, &
2008). Unsicherheit im Umgang mit dem anderen Geschlecht Corliss 2016). Dieser Befund spricht dafür, dass die Selbstzu-
und hinsichtlich der eigenen Wünsche und Bedürfnisse sind schreibung sexueller Präferenzen eher auf einem Kontinuum
dabei weit verbreitet und werden mitunter durch überschie- anzusiedeln ist und nicht aus zwei bzw. drei klar abgrenzba-
ßendes Verhalten kompensiert (Pinquart & Silbereisen 2008). ren Kategorien besteht.
Brown (1999; zitiert nach Pinquart 2008) skizziert vier Bei transsexuellen Personen entspricht die geschlechtli-
Phasen der Entwicklung von Beziehungen: Initiationsphase, che Identität nicht dem biologischen Geschlecht, z. B. wenn
Statusphase, Zuneigungsphase und Bindungsphase. sich eine biologisch als Mädchen geborene Person als Jun-
Im frühen Jugendalter findet sich eine verstärkte Ausein- ge fühlt. Aktuellen Schätzungen zufolge trifft dies auf 0,2 %
andersetzung mit dem eigenen Selbst und der Entwicklung aller Personen zu (Olyslager & Conway 2007). Da diese Schät-
der Fähigkeit zur Aufnahme von Beziehungen (Initations- zungen auf Selbstangaben beruhen und da Transsexualität als
phase). In der Statusphase spielt die (antizipierte) Erwartung potenzielles Stigma gilt, sind solche Zahlen jedoch notorisch
der Peergruppe an den romantischen Partner eines Grup- unzuverlässig.
penmitgliedes eine entscheidende Rolle, da ein Partner mit Die Schwierigkeit der LGBT-Jugendlichen resultiert da-
einem hohen sozialen Status zum Beispiel den eigenen Sta- raus, dass im Alltag häufig von der Norm gegengeschlecht-
tus in einer Peergruppe positiv beeinflussen kann. Weil der lichen Begehrens (d. h., dass Männer Frauen und Frauen
soziale Status in der Gruppe von der Art der berichteten Männer attraktiv finden) sowie der Zweigeschlechtlichkeit
Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht abhängt, werden (d. h., eine klare Zuordnung einer Person zum männlichen
Beziehungen unter diesem Gesichtspunkt ausgewählt. In der oder weiblichen Geschlecht und damit einer klaren Form se-
Zuneigungsphase steht die Beziehung zum Partner im Mit- xueller Präferenz) ausgegangen wird. Hierfür wurde in der
telpunkt. Schlussendlich besteht in der Bindungsphase ei- sozialwissenschaftlichen Literatur der Begriff Heteronorma-
ne tiefer gehende Verpflichtung gegenüber dem Partner. Zu tivität geprägt (Wagenknecht 2007). Dieser bezeichnet eine
13 diesem Modell passen empirische Befunde, dass die durch- Einstellung, nach der heterosexuelle Verhaltensweisen als im-
schnittliche Dauer der Beziehungen zwischen dem frühen Ju- plizite oder gar explizite soziale Norm angesehen werden,
gendalter und der Spätadoleszenz zunimmt (Seiffge-Krenke das biologische Geschlecht in eineindeutige Beziehung zur
2003). Pinquart (2008) weist darauf hin, dass Phasenmodel- Geschlechtsidentität gesetzt und eine klare Einteilung in rich-
le wie das eben skizzierte zwar eine gute Orientierung geben, tiges und falsches sexuelles Empfinden und Verhalten vorge-
jedoch der Vielfältigkeit der vorhandenen Entwicklungsver- nommen wird. Abweichungen davon werden als problema-
läufe nie vollständig gerecht werden. tisch, verurteilenswert oder krankhaft und behandlungsbe-
dürftig bewertet. Trotz einer zunehmenden Liberalisierung in
westlichen Gesellschaften finden sich immer wieder Berichte
13.1.3 Schülerinnen und Schüler mit von Gewalt gegen LGBT-Personen (7 Im Fokus).
abweichender sexueller Orientierung
Im Fokus: Prominente Fälle von Gewalt gegen LGBT-Personen
oder geschlechtlicher Identität
1998: Der 22-jährige Student Matthew Shepard wird von
Vor besonderen Herausforderungen stehen Schülerinnen zwei gleichaltrigen Jungen verschleppt, gefoltert und
und Schüler, deren sexuelle Orientierung und/oder ge- erliegt schließlich seinen Misshandlungen (Loffreda 2001)
schlechtliche Identität nicht mit denjenigen der Mehrheit und 2008: Der 15-jährige Larry King wird von einem Mitschüler
damit mit dem gesellschaftlichen Normverständnis überein- erschossen (Saillant 2011)
stimmen. Homo- und bisexuelle Orientierungen beinhalten 2016: Anschlag auf eine LGBT-Bar in Orlando mit 49 Toten
dabei eine ausschließliche oder teilweise Attraktion zum ei-
genen Geschlecht. Je nach Beschreibungsebene werden mit
Homo- bzw. Bisexualität die konkreten Verhaltensweisen, Ein wichtiger Schritt für betroffene Schülerinnen und
Empfindungen oder das Selbstverständnis als Person be- Schüler stellt das Eingeständnis dar, dass man bspw. homo-
zeichnet. In Abhängigkeit davon schwanken die berichteten sexuell ist, sowohl sich selbst gegenüber als auch gegenüber
Zahlen. Internationalen Studien zufolge bezeichnen sich etwa der Umwelt („Coming-out“). Diese Prozesse können eine gro-
2–8 % der Menschen als homo- oder bisexuell oder transgen- ße Belastung für die Schülerinnen und Schüler darstellen, vor
der (LGBT: lesbisch, schwul/gay, bisexuell oder transgender; allem wenn das nähere soziale Umfeld nicht als unterstützend
Asendorpf 2007). Gleichzeitig zeigt eine im Jahr 2001 von erfahren wird. Eine aktuelle Untersuchung des Deutschen
13.1  Psychosexuelle Entwicklung, Sexualverhalten und sexuelle Orientierung
257 13
Jugendinstitutes (Krell & Oldemeier 2015) zeigt, dass mehr Im Fokus: Umgang mit LGBT-Jugendlichen
als zwei Drittel aller Jugendlichen vor ihrem ersten Coming-
out Ablehnung durch Familie und Freunde und immerhin Von zentraler Bedeutung ist es, Diskriminierung abzubauen
ein Fünftel direkte Bestrafung durch die Eltern sowie kör- und Vielfalt anzuerkennen. Folgende konkrete Maßnahmen
perliche Gewalt befürchten. Die Arten von Reaktionen, die können dabei helfen (vgl. Krell & Oldemeier 2015):
Jugendliche auf ihr Coming-out erfahren, sind dabei sehr 4 Im Unterricht: Berücksichtigung von LGBT-Themen im
vielfältig. Während ein Teil von positiven Erfahrungen in der Rahmen verschiedener Unterrichtseinheiten
engeren Familie berichtet, gibt eine Mehrheit an, dass ih- 4 Auf Ebene der Lehrkräfte: Lehrkräfte sollten sich fragen,
re sexuelle Orientierung bzw. geschlechtliche Identität nicht inwieweit ihr Handeln und Sprechen heteronormativ
ernst genommen wurde. Etwa 15 % berichten von Beschimp- geprägt ist und inwieweit es sensitiv ist gegenüber
fungen und Beleidigungen in der Familie und über 50 % Minderheiten
von Beschimpfungen und Beleidigungen in ihren jeweiligen 4 Auf Schulebene: Durchführung von Präventionspro-
Bildungs- und Arbeitsstätten. Zu den Diskriminierungser- grammen gegen Schikane und Mobbing aufgrund
fahrungen gehören ebenso die übermäßige Betonung ihrer sexueller und geschlechtlicher Orientierung (Toomey
sexuellen Orientierung bzw. geschlechtlichen Identität und et al. 2010).
das Ausgegrenztwerden durch andere. Knapp die Hälfte der Empirische Studien legen nahe, dass diese Programme zur
Schülerinnen und Schüler berichtet, dass ihre Lehrkräfte nie Reduktion der Suizidalität von LGBT-Jugendlichen beitragen
einschreiten, wenn Mitschülerinnen und Mitschüler wegen (Goodenow, Szalacha, & Westheimer 2006).
ihrer (vermeintlichen) sexuellen Orientierung geärgert und
wenn Begriffe wie „schwul“ oder „lesbisch“ als Beschimp-
fungen gebraucht werden. Auch eine im Jahr 2017 von der
Antidiskriminierungsstelle des Bundes veröffentlichte Studie
13.1.4 Erklärungsansätze der Entwicklung
(Küpper, Klocke & Hoffmann 2017) weist auf ablehnende
Haltungen in der Bevölkerung hin. Knapp 40 % der Befrag- sexueller Orientierungen
ten empfinden es als unangenehm, wenn zwei Männer in
der Öffentlichkeit ihre Zuneigung zeigen. Etwa der gleiche Es gibt eine Reihe theoretischer Ansätze zur Erklärung der
Prozentsatz würde es als (eher oder sehr) unangenehm emp- Entwicklung sexueller Orientierungen, von denen viele je-
finden, falls das eigene Kind schwul oder lesbisch wäre. doch nicht überzeugen können. Zudem unterscheiden sich
Auch von Salisch und Seiffge-Krenke (2008) betonen die die Ansätze dahingehend, ob spezifisch die Entwicklung ho-
große Schwierigkeit, vor die sich homosexuelle Schülerin- mosexueller Orientierungen erklärt werden soll (und hetero-
nen und Schüler gestellt sehen. Sie können weniger mit der sexuelle Orientierung als gegeben angenommen wird) oder
Unterstützung durch Eltern und Freunde rechnen, ihnen ste- ob die Entstehung jeglicher Art sexueller Orientierung in
hen selten anderweitige Rollenmodelle zur Verfügung und den Fokus gerückt wird. Im Folgenden soll zuerst auf Mo-
sie können kaum auf tradierte Rollenbilder und Verhaltens- delle zur Erklärung homosexuellen Verhaltens eingegangen
muster in den Medien (z. B. Film und Fernsehen, Jugendzeit- werden und daran anschließend ein generelles Modell der
schriften) zurückgreifen, da sich der überwiegende Teil mit Entwicklung sexueller Orientierungen vorgestellt werden.
heterosexuellen Beziehungen beschäftigt (Rutter & Schwartz Als unhaltbar erweist sich die bis in die Nachkriegs-
1996). zeit einflussreiche „Verführungstheorie“, nach der Jugendli-
Eine Folge der (antizipierten) Verletzungen sind häu- che durch ältere Homosexuelle zur Homosexualität verführt
fig Vermeidungsstrategien: Aus Angst abgelehnt zu werden, werden. Gegen diese Sichtweise spricht, dass sich homose-
sprechen LGBT-Jugendliche nicht über ihre Gefühle und xuelle Jugendliche zum eigenen Geschlecht bereits Jahre vor
fühlen sich alleine. Daten weisen auf eine erhöhte Rate ihrem ersten sexuellen Kontakt mit einer gleichgeschlecht-
an Suizidversuchen unter LGBT-Jugendlichen hin (Gross- lichen Person hingezogen fühlen (Calzo, Antonucci, Mays,
man & D’Augelli 2007; Russell & Joyner 2001). Longitudi- & Cochran 2011). Des Weiteren scheint es sehr unwahr-
nale Forschung konnte zeigen, dass psychosoziale Probleme scheinlich, dass sich die sexuelle Orientierung aus einem
im jungen Erwachsenenalter durch frühere Viktimisierungs- freien Willensentschluss einer Person ergibt. Gegen allge-
erfahrungen erklärt werden können (Toomey, Ryan, Diaz, meine Lerntheorien sprechen Befunde, dass die übergroße
Card, & Russell 2010). Den berichteten Problemen LGBT- Mehrheit der Kinder gleichgeschlechtlicher Elternpaare he-
Jugendlicher könnte der psychologische Mechanismus zu- terosexuell ist und dass einige Studien keine Unterschiede zu
grunde liegen, dass sie aufgrund ihrer abweichenden Ei- Kindern berichten, die in traditionellen Familienformen auf-
genschaften entsprechende Ablehnung und Stigmatisierung wachsen (Allen & Burrell 1999; Golombok & Tasker 1996).
durch die Umwelt antizipieren und sich daher selbst als min- Darüber hinaus zeigen sich keine Zusammenhänge mit dem
derwertig empfinden. Dieses negative Selbstbild (als Reaktion Erziehungsverhalten und/oder der Beziehung der Eltern un-
auf erlebte oder auch nur antizipierte Ablehnung anderer) tereinander (z. B. Mutter mehr oder weniger dominant; Bell,
wird in der Fachliteratur in Anlehnung an Arbeiten Goffmans Weinberg, & Hammersmith 1981). Dies spricht gegen psy-
(1986) als beschädigte Identität bezeichnet (z. B. Langer 2009). choanalytische Theorien der 50er- und 60er-Jahre, wonach
258 Kapitel 13  Psychosexuelle und soziale Entwicklung

Homosexualität durch eine zu dominante oder emotionale chen Peers), empfinden ihre gleichgeschlechtlichen Peers als
Mutter verursacht würde (für eine Zusammenstellung his- weniger vertraut und damit als exotischer, und entwickeln da-
torischer Quellen siehe Butcher, Mineka, & Hooley 2009; her eine erotische Anziehung für das gleiche Geschlecht. Der
interessanterweise decken sich diese Annahmen nicht mit Vorzug dieses Ansatzes ist, dass er ein allgemeines Modell
Freuds Sichtweise; Freud 1935). All diese Befunde stehen im der Entwicklung sexueller Orientierungen darstellt, welches
starken Gegensatz zu Anschauungen religiöser Gruppierun- gleichermaßen die Genese hetero- und homosexueller Nei-
gen, die die Heilung von homosexuellen Neigungen durch gungen erklärt. Zudem wird er durch empirische Befunde
sog. Konversationstherapien propagieren. Die medizinische unterstützt (Bell, Weinberg, & Hammersmith 1981). Da je-
und psychologische Fachwelt lehnt diese „Therapien“ als ge- doch nicht ausgeschlossen werden kann, dass ein dritter Fak-
fährlich für die Betroffenen ab (Traute 2006). tor sowohl den geschlechtsuntypischen Verhaltensweisen als
Zwei der gegenwärtig einflussreicheren theoretischen auch der sexuellen Orientierung zugrunde liegt, muss auch
Klärungsversuche beziehen sich auf die genetischen Prädis- dieses Modell kritisch diskutiert werden.
positionen sowie die „Exotic becomes erotic“-Theorie von Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass es kei-
Daryl Bem. Der erste Ansatz versucht zu erforschen, in- ne simple Erklärung für die Ontogenese sexueller Orientie-
wieweit die Entwicklung homosexueller Präferenzen durch rungen gibt. Gegenwärtige Modelle sprechen für eine kom-
Genetik oder Umwelteinflüsse zu erklären ist. Zwillingsstudi- plexe Interaktion aus genetischen Prädispositionen und Um-
en mit homosexuellen Männern und Frauen ergaben, dass die welteinflüssen. Aus pädagogisch-psychologischer Sicht sind
Hälfte der eineiigen Zwillinge, aber nur 15 bis 20 % der zwei- vermeintliche Therapieangebote abzulehnen. Da die Ausein-
eiigen Zwillinge ebenfalls homosexuell waren. Dies spricht andersetzung mit der eigenen Sexualität eine zentrale Ent-
für einen Einfluss genetischer Faktoren (Hoskins, Ritchie, & wicklungsaufgabe des Jugendalters ist (Havighurst 1981) und
Bailey 2015). Homosexualität stellt auch im Tierreich ein bei- da LGBT-Jugendliche hier vor besonderen Herausforderun-
nahe universelles Phänomen dar (Bailey & Zuk 2009), wobei gen stehen, sollte es ein wichtiges pädagogisches Anliegen
dies auf den ersten Blick ein evolutionäres Paradox darstellt sein, die Vielfalt sexueller Erlebens- und Verhaltensweisen im
(Hoskins et al. 2015): Wie kann die breite Existenz erklärt Schulkontext auf adäquate Weise zu thematisieren und auf
werden, da doch homosexuelles Verhalten gerade nicht zu eine Beseitigung diskriminierender Einstellungen hinzuwir-
Nachkommen führt? In diesem Zusammenhang werden zu- ken.
nehmend Modelle diskutiert, die von anderen evolutionären
Vorteilen ausgehen. So könnte es sein, dass die Vererbung ei-
nes Gens im selteneren homozygoten Fall – d. h. wenn das 13.2 Soziale Entwicklung: Die Beziehung zu
13 Allel von Vater und Mutter vererbt wurde und somit auf Gleichaltrigen
beiden Chromosomensätzen vorhanden ist – homosexuelles
Verhalten begünstigt. Dagegen sollte die Weitergabe des Gens
Dieses Unterkapitel ist der sozialen Entwicklung gewidmet.
im häufiger vorkommenden heterozygoten Fall – wenn das
Zuerst werden wesentliche Aspekte der Entwicklung sozialen
Allel nur einfach vorhanden ist – zur Ausprägung bestimmter
Verstehens beschrieben (7 Abschn. 13.2.1). Darauf aufbauend
Eigenschaften führen, die einen Überlebensvorteil darstellen
werden in den folgenden Punkten Freundschaftsbeziehungen
(Hoskins et al. 2015). Welche konkreten Eigenschaften das
(7 Abschn. 13.2.2) und zahlenmäßig größere soziale Grup-
sein könnten, wird in diesem Modell nicht näher spezifiziert.
pen (7 Abschn. 13.2.3) beschrieben. 7 Abschn. 12.2.4 befasst
Eine theoretische Perspektive, die den Fokus auf frühe Er-
sich mit der besonderen Rolle der Eltern in der sozialen
fahrungen richtet, wurde von Daryl Bem (1996) vorgelegt.
Entwicklung. Der letzte Punkt beschreibt zentrale Tenden-
Seine Theorie lässt sich mit dem Ausdruck „Exotic becomes
zen in der Entwicklung anti- und prosozialen Verhaltens
erotic“ zusammenfassen. Er geht davon aus, dass sich Jungen
(7 Abschn. 13.2.5).
und Mädchen aufgrund biologischer Faktoren schon früh
in der Kindheit in ihrem Temperament unterscheiden (dies
könnte den Einfluss genetischer Faktoren erklären): Jun-
gen sind lebhafter als Mädchen. Aus diesem Grund kommt 13.2.1 Die Entwicklung der Sozialen
es zu Präferenzen für geschlechtstypische Aktivitäten und Kognition
gleichgeschlechtliche Spielkameraden, sodass Jungen bevor-
zugt mit Jungen und Mädchen mit Mädchen spielen. Dies
führt dazu, dass Kinder das andere Geschlecht als weniger Soziale Kognition bezeichnet Informationsaufnahme- und
vertraut – als exotisch – empfinden, was im direkten Kon- -verarbeitungsprozesse, welche sich auf die soziale Welt
takt zu einer Art unspezifischen, autonomen Erregung führt. des Individuums beziehen.
Diese unspezifische Erregung wandelt sich in der Adoleszenz Das Forschungsgebiet der sozialen Kognition bezieht
zu einer erotischen Anziehung, sodass sich eine heterosexuel- sich darauf, wie wir andere Menschen wahrnehmen,
le Präferenz ausbildet. Die Ontogenese gleichgeschlechtlicher wie wir über sie denken und wie wir ihre Handlungen
sexueller Orientierung wird nun folgendermaßen erklärt: verstehen und erklären.
Kinder, die geschlechtsuntypische Verhaltensweisen zeigen Bedeutsamkeit der sozialen Kognition: Wie wir andere
(d. h. mehr bzw. weniger aktiv sind als ihre gleichgeschlechtli- Menschen verstehen beeinflusst unsere Beziehungen zu
13.2  Soziale Entwicklung: Die Beziehung zu Gleichaltrigen
259 13
ihnen maßgeblich, weshalb der sozialen Kognition eine klärung geht davon aus, dass diese Fähigkeiten im Bereich
wichtige Bedeutung zukommt. Bedeutsame Veränderun- der ToM Schülerinnen und Schülern helfen, ihre Lehrkräf-
gen in den Beziehungen zu Gleichaltrigen (Peers) lassen te und deren pädagogische Intentionen besser zu verstehen.
sich durch die Entwicklung sozial-kognitiver Fähigkeiten In der Tat konnte eine Studie Evidenz für diesen Wirkzu-
und Fertigkeiten erklären. sammenhang erbringen: Kinder mit besserer ToM im Alter
von 5 Jahren verstanden die Kritik ihrer Lehrkräfte im Al-
ter von 6 bis 7 Jahren besser, was schlussendlich zu besseren
1 Perspektivenübernahme und Theory-of-Mind schulischen Leistungen im Alter von 10 Jahren führte (Lecce,
Ein wesentlicher Aspekt der sozialen Kognition betrifft die Caputi, & Pagnin 2014). Die kognitive Erklärung besagt, dass
Fähigkeit, die Perspektive anderer Personen einnehmen zu ein Verständnis für die mentalen Zustände anderer auch zu
können. Im Bereich der (räumlichen) Wahrnehmung spricht einem besseren Verständnis der eigenen kognitiven Zustände
man von „Level 1 perspective taking“, wenn man korrekt an- (d. h. Metakognition) führt, was wiederum ein wichtiger Prä-
geben kann, ob eine andere Person das gleiche Objekt wie diktor schulischer Leistungen ist (vgl. Schneider & Pressley
man selbst sieht oder nicht (z. B. weil sie in einem anderen 1997). In der Tat legen empirische Befunde nahe, dass besse-
Raum ist oder weil ein Hindernis zwischen ihrem Sichtfeld re ToM-Fähigkeiten ein besseres Metagedächtnis (Teilaspekt
und dem Objekt ist), und von „Level 2 perspective taking“, der Metakognition) vorhersagen (Lockl & Schneider 2007).
wenn man versteht, dass ein Objekt oder eine Szene aus un- Darüber hinaus zeigen einige Studien auch Zusammen-
terschiedlichen Blickwinkeln anders wahrgenommen wird hänge zwischen der ToM-Entwicklung und dem Sozialver-
(Sodian 2008). Im Wissensbereich spricht man von Theory halten der Kinder. So wurde deutlich, dass höhere ToM-
of Mind (ToM), wenn man versteht, dass jemand ein ande- Fähigkeiten die soziale Beliebtheit bei 6-Jährigen vorhersag-
res Wissen über die Welt haben kann als man selbst. Dieses ten (Slaughter, Dennis, & Pritchard 2002). Je mehr Kinder
Verstehen der mentalen Zustände anderer Personen wird verstehen, wie sich jemand fühlt, wenn Ressourcen (Ballons)
häufig mit Aufgaben zum Verständnis falscher Überzeugun- nicht mit ihm geteilt werden, desto eher sind sie bereit, etwas
gen (false belief tasks) getestet. Wenn jemand glaubt, dass abzugeben (Paulus & Moore 2015). Diese Zusammenhänge
seine Kekse im Schrank liegen (während sie tatsächlich in ei- sind nicht nur auf die frühe Kindheit beschränkt. Im be-
ner Dose liegen), können wir vorhersagen, dass diese Person ginnenden Jugendalter finden sich ähnliche Muster: In einer
im Schrank (erfolglos) nach den Keksen suchen wird. Interes- Studie mit 10- bis 13-Jährigen Jugendlichen fanden Bosacki
santerweise sagt die Mehrheit 3-jähriger Kinder vorher, dass und Wilde Astington (1999) Zusammenhänge zwischen dem
die Person in der Dose suchen wird, während die Mehrheit Verständnis mentaler Zustände der Jugendlichen und der ih-
der 5–6-Jährigen versteht, dass die Person im Schrank su- nen von ihren Peers bescheinigten sozialen Kompetenz. Dies
chen wird (Perner 1991). Die Berücksichtigung der mentalen könnte damit zu tun haben, dass eine höhere ToM-Fähigkeit
Zustände anderer Personen hilft uns also, deren Handlun- damit einhergeht, die Intentionen anderer Personen besser
gen besser zu verstehen und adäquater darauf zu reagieren. zu verstehen und somit adäquater reagieren zu können. Dies
Die grundsätzliche Fähigkeit, die Perspektive anderer ein- wird auch durch Studien zum Moralverständnis belegt, in de-
zunehmen und ihre mentalen Zustände zu berücksichtigen, nen Kinder mit Geschichten konfrontiert werden, in denen
entwickelt sich demnach im Kindergartenalter – zumindest jemand aus Unachtsamkeit etwas Schlechtes tut (z. B. eine
wenn sie über sehr einfache Aufgaben abgefragt wird. Al- Pausenbrottüte wegwirft, weil er sie für Müll hält). Hier zeigt
lerdings zeigen junge Kinder diese Fähigkeit nur bei stark sich, dass Kinder mit einer höheren ToM-Fähigkeit dem aus
vereinfachten Aufgaben und wenn sie genug Zeit zum Nach- Unwissen falsch Handelnden weniger schlechte Intentionen
denken haben. In komplexeren Situationen und/oder unter unterstellen und ihn weniger moralisch verurteilen (Killen,
Zeitdruck zeigt sich, dass sich die Fähigkeiten zur Perspek- Mulvey, Richardson, Jampol, & Woodward 2011; Sodian, Li-
tivenübernahme noch bis ins späte Jugendalter und teilweise cata, Kristen-Antonow, Paulus, Killen, & Woodward 2016). Es
sogar bis ins Erwachsenenalter verbessern (Dumontheil, Ap- ist naheliegend anzunehmen, dass Kinder unter diesen Um-
perly, & Blakemore 2010). ständen eher in der Lage sind, eine positive Beziehung zu
Die Entwicklung des Verständnisses der mentalen Zu- einer unwissentlich falsch handelnden Person aufrecht zu er-
stände anderer Menschen ist auch für den Schulkontext rele- halten, d. h. dass ToM-Fähigkeiten eine wichtige Rolle in der
vant. Longitudinale Studien, in denen Kinder über die letzten Entwicklung sozialer Fertigkeiten und positiver sozialer Be-
Kindergartenjahre und die ersten Schuljahre begleitet wur- ziehungen spielen.
den, fanden Zusammenhänge zwischen der ToM-Kompetenz Obwohl Studien in einigen Aspekten ein kontinuierlich
der Kinder und ihren schulischen Leistungen: Kinder, die zunehmendes Wachstum in sozial-kognitiven Fähigkeiten
ein besseres Verständnis für die mentalen Zustände ande- nahe legen, gilt dies nicht für alle Bereiche. Dies lässt sich
rer Menschen hatten, zeigten sowohl ein besseres Verständnis am Phänomen des Egozentrismus veranschaulichen. Ego-
von mündlich vermittelter Information als auch von Evidenz zentrismus bezeichnet die Tendenz oder Haltung, die Welt
(Astington & Pelletier 2005). Es gibt unterschiedliche theore- bzw. bestimmte Geschehnisse nur aus seiner eigenen Pers-
tische Erklärungen, warum das Verständnis für die mentalen pektive zu sehen. Eine klassische Untersuchung dazu stammt
Zustände anderer schulische Leistungen beeinflussen könnte: von dem berühmten Entwicklungspsychologen Jean Piaget
eine soziale und eine kognitive Erklärung. Die soziale Er- (1896–1980) und wird wie folgt beschrieben.
260 Kapitel 13  Psychosexuelle und soziale Entwicklung

1 Soziale Informationsverarbeitung
Mythos: Die Fähigkeit zur Perspektivübernahme ent- Ein anderer Zugang zum Bereich sozial-kognitiver Fertigkei-
wickelt sich im Alter von 7 Jahren und hat damit das ten konzentriert sich auf die spezifischen Informationsver-
Ende der Entwicklung erreicht arbeitungsprozesse, die bei sozialen Interaktionen eine Rol-
Die Erforschung der Fähigkeit zur Perspektivübernahme le spielen. Dieser Fokus auf die Informationsverarbeitungs-
geht auf den Drei-Berge-Versuch von Jean Piaget zurück. prozesse bedeutet, dass versucht wird, die psychologischen
Kindern wurde der Modellaufbau einer Landschaft mit Prozesse zu identifizieren und zu beschreiben, die zwischen
drei verschieden hohen Hügeln (z. B. auf einem Tisch) aus Wahrnehmung und Handlung ablaufen. Das Prozessmodell
einer bestimmten Perspektive gezeigt. Ihnen gegenüber sozialen Problemlösens von Crick and Dodge (1994) identi-
saß eine andere Person, die durch ihre andere Sitzposition fiziert dabei sechs Schritte (. Abb. 13.1). Jede soziale Inter-
eine andere Perspektive auf die Landschaft hatte. Die aktion beginnt mit der Wahrnehmung sozialer Signale (1),
Versuchsteilnehmer sollten nun aus einer Reihe von z. B. der Körperhaltung, der Mimik und der sprachlichen
Bildern dasjenige auswählen, welches die Landschaft Aussagen anderer Personen. Diese Signale werden im nächs-
aus Sicht der anderen Person beschreibt. Piaget und ten Schritt interpretiert (2). Dabei kann ein Blick oder ein
Inhelder (1977) berichteten, dass Kinder bis zum Alter verbaler Kommentar beispielsweise als freundlich und ein-
von 7 Jahren das Bild auswählten, welches die eigene ladend oder als feindselig und abweisend gedeutet werden.
Perspektive wiedergab, was zeigt, dass sie nicht die Basierend auf diesen Interpretationen klärt der Handelnde
Perspektive einer anderen Person einnehmen konnten. nun seine Ziele (3), d. h. er überlegt sich (mehr oder weni-
Dieser Befund liefert einen wichtigen Anhaltspunkt, in ger bewusst), was er erreichen möchte. So könnte sich eine
welchem Alter Entwicklungsveränderungen im Bereich der Schülerin oder ein Schüler beispielsweise als Ziel setzen, ge-
Perspektivenübernahme auftreten. meinsam mit den anderen Schülerinnen und Schülern aus
Neuere Forschungsbefunde zeigen jedoch ein noch seiner Gruppe etwas zu spielen. Er oder sie entwirft darauf-
differenziertes Bild: In vereinfachten Aufgaben gelang es hin mögliche Handlungspläne (4), d. h. Ideen, wie es sein Ziel
bereits jüngeren Kinder im Alter von lediglich 3 Jahren, die erreichen könnte. Eine Möglichkeit wäre, sich einfach zu den
Perspektive anderer einzunehmen (Newcombe & Hutten- anderen Schülerinnen und Schülern zu stellen und kommen-
locher 1992). Dies bedeutet natürlich nicht, dass sie diese tarlos mitzuspielen. Alternativ könnte die Schülerin oder der
Fähigkeiten in komplexen Alltagssituationen anwenden Schüler die anderen Schülerinnen und Schüler fragen, ob es
können, weist jedoch auf früher vorhandene Basisfertig- mitspielen darf. Aus den möglichen Handlungsplänen wählt
keiten in der Perspektivenübernahme hin. Im Alter von 7 die Schülerin oder der Schüler schließlich einen aus (5) und
13 Jahren ist die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme auch führt die Handlung aus (6).
noch nicht vollständig ausgeprägt und hat das Ende der Dieses Modell ist letztlich ein allgemeines Modell, welches
Entwicklung erreicht. Selbst im Erwachsenenalter kann für Kinder wie Erwachsene gleichermaßen gilt. Aus entwick-
Egozentrismus in der visuellen Perspektivübernahme noch lungspsychologischer Sicht bedeutsam ist, dass jede Stufe
eine Rolle spielen, vor allem in komplexen Situationen der sozialen Informationsverarbeitung unter anderem von
(Epley, Morewedge & Keysar 2004). den bisherigen Erfahrungen einer Person beeinflusst wird.
Das bedeutet, dass die bisherigen Erfahrungen mit bestimm-
ten Verhaltensstrategien die Wahrscheinlichkeit beeinflussen,
Interessant ist die Tatsache, dass noch eine andere Form dass ein Kind eine ähnliche Strategie wieder nutzen wird.
des Egozentrismus im Laufe der Adoleszenz auftritt (Elkind Dieses Modell ist sehr hilfreich, wenn man soziales Pro-
1967). Diese wird als jugendlicher Egozentrismus bezeich- blemverhalten genauer verstehen möchte, da es die zugrunde
net. Zum einen beinhaltet dieser die Überzeugung, dass man liegenden Mechanismen genauer erklärt. So zeigt sich bei-
selbst konstant im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit aller an- spielsweise, dass aggressive Schülerinnen und Schüler dazu
deren steht (imaginary audience; ähnlich, wie wenn man im neigen, inbesondere aggressive Hinweisreize wahrzunehmen
Restaurant sein Besteck fallen lässt und glaubt, dass alle ande- und uneindeutige soziale Reize (z. B. einen Blick, einen mehr-
ren einen nun angucken; Elkind 1967). Zum anderen besteht deutigen verbalen Kommentar) als feindselig zu interpre-
die Überzeugung, dass man selbst einmalig und einzigartig ist tieren (Dodge 1993). Diese Tendenz wird auch als feindse-
(personal fable) und keine andere Person die eigene Situation liger Attributionsfehler bezeichnet. Solche Wahrnehmungs-
verstehen kann (Mietzel 2002). Der jugendliche Egozentris- und Interpretationstendenzen sind relevant, da ein Großteil
mus könnte einige für das Jugendalter typische Verhaltens- der uns in einer Situation erreichenden sozialen Informa-
weisen erklären: Die Überzeugung, außergewöhnlich und tionen nicht eindeutig ist und wir kontinuierlich mit der
einmalig zu sein, könnte erklären, warum Jugendliche so ho- Deutung mehrdeutiger Signale beschäftigt sind. Stellen wir
he Risiken eingehen und sich selbst für unverwundbar halten. uns vor, dass ein neu in eine Schulklasse gekommener Schü-
Die Idee, dass niemand die eigene Situation und das eigene ler – nennen wir ihn Max – in der Pause zu einer bereits
Empfinden verstehen kann, könnte dagegen erklären, warum spielenden Gruppe von Kindern hinzustoßen und mitspie-
sich Jugendliche gegenüber ihrer Umwelt verschließen und len möchte. Diese Gruppe von Kindern wird naturgemäß
bei Problemen seltener Unterstützung durch andere, v. a. er- eine Reihe sozialer Signale aussenden. Eines der Kinder wird
wachsene Personen, suchen. Max eher skeptisch betrachten, ein paar Kinder werden viel-
13.2  Soziale Entwicklung: Die Beziehung zu Gleichaltrigen
261 13
. Abb. 13.1 Das Prozessmodell
sozialen Problemlösens (modifi-
2. Interpretation der
ziert nach Crick & Dodge 1994) 3. Zielklärung
Reize

Emotionale Prozesse

Datenbasis:
1. Wahrnehmung - Gedächtnis 4. Entwurf von
von Reizen - Erworbene Regeln Handlungsalternativen
- Soziale Schemata
- Soziales Wissen

6. Ausführung der 5. Entscheidung für


Handlung eine Handlungsalternative

leicht freundlich gucken und wiederum ein anderes wird, da ziale Signale vieldeutig zu interpretieren anstatt sich auf eine
es gerade Zahnschmerzen hat, etwas grimmig blicken. Ei- (vielleicht nicht oder nur teilweise zutreffende) Interpretation
ne aggressive Schülerin oder ein aggressiver Schüler könnte zu beschränken.
nun vor allem das skeptisch und das grimmig blickende Kind
wahrnehmen und die anderen eher übersehen. Zugleich wird
es das skeptisch guckende Kind als eher feindselig wahrneh-
men („Der guckt mich so skeptisch an, der mag mich sicher 13.2.2 Die Entwicklung von Freundschaften
nicht“).
Darüber hinaus zeigt sich, dass aggressive Schülerinnen1 Bedeutung von Peers für die Entwicklung: Allgemeine
und Schüler insgesamt weniger Handlungspläne entwerfen, Überlegungen
dass ihre Handlungspläne häufiger aggressiver Natur sind Die Bedeutung der Gleichaltrigen (auch als Peers oder Peer-
und dass sie positive Ergebniserwartungen hinsichtlich ag- gruppe bezeichnet) für die kindliche Entwicklung wird von
gressiver Strategien haben (Dodge 1993). Letzteres bedeutet, vielen Entwicklungspsychologen als sehr hoch eingeschätzt.
dass sie davon ausgehen, mit einer aggressiven Verhaltenswei- Hier werden eine Reihe von Funktionen diskutiert: Piaget
se ihr soziales Ziel erreichen zu können. So könnte Max sich und Vygotsky, zwei bedeutende Entwicklungspsychologen
nun einige Strategien überlegen – unter anderem, hinzugehen des 20. Jahrhunderts, betonen den Einfluss der Peers für die
und die Kinder zu schubsen. Und er könnte erwarten, dass es Entwicklung kognitiver Kompetenzen. Vygotsky (1978) geht
ihm damit gelingt, mit den Kindern Kontakt aufzunehmen davon aus, dass das kooperative Handeln mit Gleichaltrigen
und sich einen Platz in der Gruppe geschaffen zu haben. (wie es sich beispielsweise in gemeinsamen Spielaktivitäten
Empirische Befunde zeigen, dass uns dieses Modell hilft, zeigt) eine zentrale Rolle in der kognitiven Entwicklung spielt.
das Problemverhalten von Schülerinnen und Schülern besser Piaget legt dahingegen den Fokus auf kognitive Konflikte,
zu verstehen. Eine Studie von Dodge, Pettit, Bates und Valen- die in der Interaktion mit Gleichaltrigen zwangsläufig auf-
te (1995) untersuchte den Zusammenhang von körperlichen treten, wenn Menschen mit unterschiedlichen Einstellungen
Missbrauchserfahrungen bis zum Alter von ca. 5 Jahren und und unterschiedlichem Wissen aufeinander treffen. Die Kri-
Störungen des Sozialverhaltens im Schulalter (ca. 8 bis 10 tik, der Kinder in solchen Konflikten ausgesetzt sind, bringt
Jahre). Die Ergebnisse sprechen dafür, dass das Problemver- sie dazu, die eigene Meinung zu hinterfragen und sich mit
halten in der Tat teilweise durch geminderte sozial-kognitive verschiedenen Argumenten auseinanderzusetzen, was letzt-
Prozesse erklärt werden konnte. Das bedeutet, die frühen ne- lich die kognitive Entwicklung fördert.
gativen Erfahrungen führten zu einer Beeinträchtigung der Neben diesem Einfluss auf die kognitive Entwicklung sind
sozialen Informationsverarbeitung (z. B. zu einer reduzier- die Peers auch eine wichtige Quelle für emotionale und so-
ten Fähigkeit, soziale Ereignisse treffend zu beschreiben), ziale Unterstützung. Vor allem Freunde spielen eine wichtige
welche wiederum mit dem sozialen Problemverhalten zu- Rolle, wenn es darum geht, mit unangenehmen Situatio-
sammenhing. Darüber hinaus benennt das Modell konkrete nen umzugehen. So zeigen empirische Untersuchungen, dass
Ansatzpunkte, um soziale Kompetenz bei Schülerinnen und Kindern der Übergang in die Schule oder auf eine weiter-
Schülern zu fördern. So zielen einige aktuelle Programme führende Schule besser gelingt, wenn sie diesen gemeinsam
(z. B. Faustlos; Cierpka 2014; Cierpka & Schick 2011) auf eine mit einem Freund oder einer Freundin durchführen (Krü-
Veränderung der sozialen Informationsverarbeitungsdefizite ger, Köhler, Pfaff, & Zschach 2007). Zugleich zeigt sich, dass
ab, z. B. indem sie Schülerinnen und Schüler trainieren, so- Freunde einen Beitrag zum Selbstkonzept der Schülerinnen
262 Kapitel 13  Psychosexuelle und soziale Entwicklung

und Schüler leisten: Ausgehend von der Annahme, dass das Konflikte hinweg erhalten bleiben und die durch ein hohes
Selbstkonzept wesentlich durch die Rückspiegelung des eige- Ausmaß an Intimität geprägt sind.
nen Eindrucks auf andere Menschen entsteht (looking glass Diese qualitativen Veränderungen im Freundschaftsver-
self; Cooley 1902), beinhaltet das Selbst der Schülerinnen ständnis gehen mit einer Veränderung der relativen Rele-
und Schüler in großen Teilen die wahrgenommenen oder vanz von Freundschaftsbeziehungen im Vergleich zu anderen
vermuteten Rückspiegelungen durch Freunde. Die Rückmel- sozialen Beziehungen einher. So zeigen empirische Unter-
dung durch Gleichaltrige und insbesondere der offene Dis- suchungen zur Selbstoffenbarung, dass Kinder im Vor- und
kurs mit Freunden tragen zur Entwicklung eines realistischen Grundschulalter ihren Eltern gegenüber am offensten sind,
Selbstkonzeptes bei (Youniss 1980). Darüber hinaus wird an- d. h. ihren Eltern die meisten persönlichen Informationen
genommen, dass Peers im Allgemeinen einen wesentlichen mitteilen (Burmeister 1996). Etwa ab der Sekundarstufe wer-
Beitrag zur moralischen Entwicklung leisten. In der Peer- den schließlich die Freunde zu den Personen, denen ge-
gruppe treffen Schülerinnen und Schüler aufeinander, ohne genüber sich Schülerinnen und Schüler am meisten selbst
dass vorab eine klare Hierarchie besteht (wie es zwischen offenbaren. Die Zunahme der Offenheit gegenüber Freunden
Eltern und Kind der Fall ist). Die Fachliteratur spricht da- geht mit einer zunehmenden Distanz zu den Eltern einher.
her auch von symmetrisch-reziproken Interaktionen, da sie Gegen Ende der Schulzeit beginnt dann der Partner oder die
auf Gegenseitigkeit und prinzipieller Gleichrangigkeit der be- Partnerin eine wichtigere Rolle zu spielen.
teiligten Personen beruhen (Youniss 1980). Hierbei müssen Entwicklungspsychologische Untersuchungen weisen
immer wieder Fragen der Gerechtigkeit unter gleichgestellten wiederholt auf den positiven Einfluss von Freundschaf-
Personen ausgehandelt werden. Unter den Peers nehmen die ten hin. In einer Übersichtsarbeit berichten von Salisch
Freunde eine ganz besondere Rolle ein. Daher soll im Folgen- und Seiffge-Krenke (1996) eine Reihe empirischer Unter-
den näher auf die Entwicklung von Freundschaft eingegangen suchungen, die zeigen, dass Schülerinnen und Schüler mit
werden. engen Freunden eher in der Lage sind, die Perspektive an-
derer Personen zu übernehmen, sich selbst als altruistischer
1 Zur Entwicklung von Freundschaft beschreiben und ein ausgeprägteres Selbstwertgefühl auf-
Bereits Kindergartenkinder können klar unterscheiden zwi- weisen. Schülerinnen und Schüler ohne einen engen Freund
schen jemandem, mit dem sie gerne spielen, und jemandem, fühlen sich dagegen isoliert. Dabei kann eine enge Freund-
mit dem sie nicht gerne spielen (Newcomb & Bagwell 1995). schaft auch einen geringen Status (7 Abschn. 13.2.3) in der
Darüber hinaus haben sie konkrete Erwartungen an Freun- größeren Gruppe der Gleichaltrigen kompensieren (Bukow-
de. So erwarten 5-, aber nicht 3-Jährige, dass jemand mehr ski, Hoza, & Boivin 1993). Keine engen Freunde zu haben ist
13 Ressourcen (z. B. Sticker oder Ballons) mit einem Freund demnach für eine Schülerin oder einen Schüler sehr proble-
teilen wird, als mit einem anderen Kind, mit dem diese Per- matisch, vor allem wenn sie oder er darüber hinaus innerhalb
son nicht gerne spielt (Paulus & Moore 2014). Dabei ist des größeren Klassenverbandes eher Ablehnung erfährt.
Freundschaft in den Kindergartenjahren und ersten Schul- Schlechte Beziehungen zu den Peers, d. h. auch das Feh-
jahren noch stark durch gemeinsame Aktivitäten geprägt. Die len von engen Freunden, ist ein häufig auftretendes Merkmal
besten Freunde sind diejenigen, mit denen man die meiste verhaltensauffälliger Schülerinnen und Schüler (Achenbach
Zeit verbringt. Da die Wahlmöglichkeiten junger Kinder in 1991).
der Regel beschränkt sind, ist hier meist die räumliche Nähe Dabei sollte nicht übersehen werden, dass Freundschaf-
(z. B. Nachbarskinder) entscheidend (Epstein 1989). Zugleich ten durchaus auch einen Risikofaktor darstellen können, falls
zeichnet sich die Freundschaft durch eine stark instrumen- die Freunde Verhaltensprobleme aufweisen. So legen empi-
telle Sicht aus: Gute Freunde sind diejenigen, die interessante rische Studien nahe, dass Schülerinnen und Schüler durch
Spielsachen haben und ähnliche Spiele mögen wie man selbst die Interaktion mit aggressiven Freunden ebenfalls aggressi-
(Bigelow 1977; Rubin, Bukowski & Parker 2006). Mit Selman ve Verhaltensweisen erwerben (Brendgen et al. 1999). Dies
(1984) kann man festhalten, dass in diesem Alter äußerliche spricht für einen kausalen Einfluss der Interaktionserfah-
Merkmale eine zentrale Rolle spielen und Freundschaften von rung mit bestimmten Peers auf das weitere Sozialverhalten
kurzer Dauer sind. (Kausalhypothese). Zugleich ist es so, dass Schülerinnen und
Mit zunehmendem Alter werden sich Kinder der Un- Schüler, die bereits Verhaltensprobleme (z. B. aggressive Ten-
terschiede zwischen Menschen bewusster und sie verstehen, denzen) haben, sich auch eher entsprechende Freunde suchen
dass andere Menschen andere Bedürfnisse haben als sie (Mrug et al. 2004). Dies spricht für die Selektionshypothese,
selbst. Zunächst dominieren noch ihre eigenen Bedürfnisse nach der sich Schülerinnen und Schüler Peers und Freunde
und Freundschaften werden nur erhalten, so lange es zu kei- suchen, die zu ihrer Persönlichkeit passen. Es ist davon auszu-
nem starken Konflikt in den Bedürfnissen kommt (Selman gehen, dass beide Sichtweisen relevante Phänomene erfassen
1984). In dieser Entwicklungsphase werden Freundschaften und es sich hierbei um wechselseitig verstärkende Prozes-
durch gegenseitige Unterstützung, Hilfe und Vermeidung se handelt. Die Fachliteratur spricht von einem reziproken
von Alleinsein definiert (Youniss 1980). Erst im Verlauf der Determinismus: Beispielsweise suchen sich Schülerinnen und
Adoleszenz kommt es nach Selman (1984) dazu (freilich nicht Schüler mit einer leicht aggressiven Verhaltenstendenz eher
bei jeder Person und in jeder Situation), dass Freundschaften aggressivere Freunde, welche in der Konsequenz diese Ver-
als beständige Beziehungen gesehen werden, die auch über haltensweisen noch verstärken.
13.2  Soziale Entwicklung: Die Beziehung zu Gleichaltrigen
263 13
Welche Fähigkeiten und Verhaltensweisen müssen Schü- auf die Gruppennormen kann zudem die größere Neigung
lerinnen und Schüler nun haben, um Freunde zu gewinnen? für abweichendes und gefährliches Verhalten unter Jugend-
Von Salisch und Seiffge-Krenke (2008) identifizieren in An- lichen erklären (Fuligni, Eccles, Barber & Clements 2001).
lehnung an Asher, Parker und Walker (1996) fünf Aufgaben, Auf der anderen Seite bieten Cliquen den Heranwachsenden
die mit Freundschaften einhergehen und die auch beim Auf- den nötigen Freiraum, um sich von ihren Eltern zu lösen, sich
bau von Freundschaften eine wichtige Rolle spielen. Erstens selbst in verschiedenen Rollen auszuprobieren und dadurch
geht es darum, dem anderen eine gute Gesellschaft zu sein, ihre Identität zu entwickeln – eine klassische Entwicklungs-
d. h. gemeinsame Aktivitäten zu unternehmen, sodass beide aufgabe des Jugendalters (Havighurst 1981). Im Laufe der
daran Freude haben. Zweitens ist der gegenseitige Austausch späten Adoleszenz (etwa ab 18 Jahren) geht die Bedeutung
von Initimität und Hilfe von Bedeutung. Drittens spielt die von Cliquen stark zurück, während die Bedeutung individu-
Fähigkeit, Zuneigung und Bewunderung oder auch Besorg- eller Beziehungen wieder zunimmt.
nis adäquat ausdrücken zu können, eine Rolle. Viertens ist Über die letzten Jahrzehnte haben sich viele Entwick-
es wichtig, die besondere Rolle der Freundschaft im Kontext lungspsychologen mit den Zusammenhängen zwischen kind-
anderer sozialer Beziehungen wertzuschätzen. Dies bedeu- lichem Sozialverhalten und dem soziometrischen Status einer
tet unter anderem, Vertraulichkeiten nicht in der größeren Schülerin oder eines Schülers in der Peergruppe beschäftigt.
Freundesgruppe weiter zu erzählen. Fünftens geht es um die
Fähigkeit, Konflikte auszutragen und einvernehmlich lösen Im Fokus: Soziometrie
zu können. All diese Fähigkeiten spielen nicht nur eine wich-
tige Rolle bei der Entstehung von Freundschaften, sondern sie Die Soziometrie beschreibt eine Reihe von Methoden,
werden teilweise auch durch Freundschaftsbeziehungen wei- mit deren Hilfe versucht wird, die Beziehungen zwischen
ter gefördert (von Salisch & Seiffge-Krenke 2008). Mitgliedern einer Gruppe mit Hilfe visueller Darstellungen
und/oder Kennzahlen zu analysieren (Moreno 2013). Der
soziometrische Status beschreibt dabei die Position einer
Person innerhalb einer Gruppe. In seiner einfachsten
13.2.3 Schülerinnen und Schüler in der
Form wird der soziometrische Status eines Kindes in einer
Gruppe: Peergruppen und Cliquen Klasse erfasst, indem man alle Kinder der Klasse bittet,
Kinder zu benennen (schriftlich oder in Einzelinterviews),
Obwohl engen Freundschaften eine wichtige Funktion in der die sie mögen und die sie nicht mögen. Anhand der
Entwicklung zukommt, spielt sich gerade in der mittleren Nennungen lassen sich die Kinder anschließend in fünf
Kindheit und im Jugendalter ein nicht unerheblicher Teil des Gruppen einteilen. Beliebte Kinder sind diejenigen, die
sozialen Lebens in Cliquen ab. In der mittleren Kindheit (et- viele positive und wenig negative Nennungen erhalten.
wa: Grundschulalter) umfassen Cliquen häufig 3 bis 9 Kinder Abgelehnte Kinder erhalten viele negative und wenig
gleichen Geschlechts, die sich durch Ähnlichkeiten in ihren positive Nennungen. Vernachlässigte Kinder erhalten wenig
Interessen, sozialen Verhaltensweisen und schulischem En- positive und wenig negative Nennungen. Kontroverse
gagement auszeichnen (Neal 2010; Rubin et al. 2006). Die Kinder erhalten sowohl viele positive als auch viele negative
Interaktion in Cliquen gibt Schülerinnen und Schülern ein Nennungen. Durchschnittliche Kinder erhalten eine mittlere
Gefühl der Zugehörigkeit und ist insofern selbstwertdien- Anzahl an beiden Nennungen.
lich, als sie der Bestätigung der Eigenschaften dient, die allen
Mitgliedern gemeinsam ist. Zum Beispiel: Falls sich die Cli-
que durch gemeinsame körperliche Aktivitäten wie etwa das Hierbei zeigen sich nun Zusammenhänge mit Problem-
Fußballspiel definiert, bestätigen sich die Gruppenmitglie- verhaltensweisen. So legen beliebte Schülerinnen und Schüler
der gegenseitig durch das gemeinschaftliche Spielen und die kaum Problemverhalten an den Tag, während abgelehnte
Gespräche über das gemeinsame Hobby. In der mittleren Schülerinnen und Schüler die höchste Rate an Problemver-
Kindheit sind Cliquen jedoch nicht sehr stabil, können sich haltensweisen zeigen (Kupersmidt & Coie 1990). Im Klas-
also in kurzer Zeit ändern. senverband abgelehnt zu sein hat sich darüber hinaus als
Im frühen und mittleren Jugendalter nimmt die Clique Entwicklungsrisiko erwiesen: So berichten empirische Studi-
für viele Schülerinnen und Schüler eine zentrale Rolle in der en von erhöhten Raten externalisierender (z. B. Delinquenz,
sozialen Interaktion ein. Die Cliquenzusammensetzung ist Substanzmissbrauch) und internalisierender (z. B. Einsam-
über die Zeit hinweg stabiler und Cliquen entwickeln mit- keit, Depression) Verhaltensweisen (7 Kap. 29). Zugleich wer-
unter starke Gruppennormen. Diese Normen können eine den diese Schülerinnen und Schüler eher Opfer von Schi-
Vielzahl von Verhaltensbereiche betreffen (z. B. bestimmte kane und Mobbing. Dies ist umso problematischer, als der
Kleidermarken, technische Geräte, Fernsehserien, Verhal- soziometrische Status, v. a. derjenige der abgelehnten Schüle-
tensweisen im Unterricht, Mutproben u. v. m.). Der starke rinnen und Schüler, eine gewisse zeitliche Stabilität aufweist
Fokus auf die Gruppe wird von der Umwelt häufig recht (Walker 2009). Untersuchungen zum Zusammenhang zwi-
zwiespältig gesehen. Zum einen erscheinen die Schülerinnen schen sozialer Informationsverarbeitung (7 Abschn. 13.2.2)
und Schüler für ihre soziale Umgebung außerhalb der Cli- und soziometrischem Status konnten zeigen, dass abgelehnte
que weniger ansprechbar und beeinflussbar. Der starke Fokus Schülerinnen und Schüler häufiger einen feindseligen Attri-
264 Kapitel 13  Psychosexuelle und soziale Entwicklung

butionsfehler begingen als andere Schülerinnen und Schüler, Dies dient dazu, in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu
d. h. anderen häufiger feindselige Intentionen unterstellten gelangen, eine hohe Rangposition einzunehmen und dadurch
(Dodge 1980). Auch hier können wir davon ausgehen, dass die eigenen (Autonomie-)Ansprüche innerhalb der sozialen
wir es mit einer reziproken Wechselbeziehung zu tun haben. Gruppe durchzusetzen.
Die ranghöchsten Schülerinnen und Schüler (Alpha-
Studie: Verantwortlichkeitszuschreibung in mehrdeuti- Position) zeichnen sich unter anderem durch hohe Initiative
gen Situationen (d. h. Einbringung von Ideen, Anstöße für Verhalten) und
Eine empirische Studie von Tittmann und Rudolph (2007) lie- Durchsetzungsfähigkeit aus. Sie sind nicht unbedingt die ag-
fert Evidenz für ein spezifischeres Kausalmodell. Die Autoren gressivsten Schülerinnen und Schüler, ihr Status basiert eher
erfassten bei mehr als 100 Kindergartenkindern die Verant- auf positivem Ansehen. Häufig sind diese Schülerinnen und
wortlichkeitszuschreibung in mehrdeutigen Situationen. Dazu Schüler auch sehr sportlich und gut aussehend. Das Ver-
wurden den Kindern Bildergeschichten vorgelegt, in denen fügen über positiv bewertete Eigenschaften spielt hier also
dem Protagonisten durch eine andere Person etwas Negatives eine wesentliche Rolle. Die Schülerinnen und Schüler auf den
geschieht (z. B. die andere Person lässt die Geburtstagstorte fal- folgenden hohen Rangreihen (Beta-Positionen) sind auch
len), und die Kinder wurden nach der Absicht dieser Person dominierend, jedoch auf eine agonistische Weise. Sie zei-
befragt. Darüber hinaus wurden die Untersuchungsteilnehmer gen am häufigsten aggressives Verhalten. Die niedrigrangigen
gebeten anzugeben, wie ärgerlich sie sich in dieser Situation Schülerinnen und Schüler gehen ihnen eher aus dem Weg.
fühlen und wie sie reagieren würden. Als weiteres Maß wur- Die Schülerinnen und Schüler auf den mittleren Rängen su-
de der soziometrische Status der Untersuchungsteilnehmer er- chen häufig nach Bestätigung, imitieren die höherrangigen
fasst. Es zeigt sich, dass die abgelehnten Kinder (im Vergleich zu und gehorchen ihnen. Die rangniedrigsten Schülerinnen und
den beliebten) der Person mehr Verantwortlichkeit zusprachen, Schüler (Omega-Position) spielen eher allein und gehen den
stärker ärgerlich reagierten und mehr aggressive Verhaltens- anderen Schülerinnen und Schüler aus dem Weg. Interessant
reaktionen berichteten. Wenn man nun versucht, den sozio- sind Beobachtungen, dass die jeweils rangniedrigeren Schü-
metrischen Status aus diesen Variablen vorherzusagen, ergab lerinnen und Schüler bei den ranghöheren nach Bestätigung
sich folgendes Modell: Die zugeschriebene Verantwortlichkeit suchen und sich ihnen unterordnen, was für eine lineare
führte zu einem erhöhten Ärger, welcher wiederum mit ag- Rangstruktur spricht.
gressiven Verhaltensreaktionen zusammenhing. Das Ausmaß Dabei finden sich bedeutende Geschlechtsunterschiede.
aggressiver Reaktionen hing nun negativ mit dem soziometri- Die bevorzugten Strategien der Jungen umfassen körperli-
schen Status zusammen. Obwohl diese Studie nur zu einem che Auseinandersetzungen, verbale Auseinandersetzungen,
13 Zeitpunkt durchgeführt wurde und daher keine Aussage über das Androhen von Gewalt und das Lächerlichmachen der
weitere Entwicklungsverläufe bietet, unterstützt sie doch den anderen Person. Die Strategien der Mädchen umfassen das
postulierten Zusammenhang zwischen sozialer Informations- Gewähren von Anerkennung, prosoziale Dominanz (u. a.
verarbeitung und sozialem Status der Kinder. den anderen ungefragt Ratschläge geben) und Beziehungs-
aggression (z. B. Vermeiden, Ignorieren, Drohen mit Bezie-
Eine etwas andere theoretische Perspektive kommt aus hungsabbruch). Es zeigt sich, dass sich in Jungengruppen
der Ethologie, d. h. der artvergleichenden Verhaltensfor- relativ schnell eine Ranghierarchie etabliert, die hohe zeit-
schung. Hier wird menschliches Sozialverhalten im Vergleich liche Stabilität aufweist, während in Mädchengruppen die
mit ähnlichen Verhaltensweisen in anderen Gattungen be- Ranghierarchie weniger eindeutig und weniger stabil ist.
leuchtet. Der Fokus dieser Betrachtungsweise liegt auf den Die Geschlechtsunterschiede im Dominanzverhalten erklärt
Funktionen, die das Verhalten erfüllt, und der evolutionären Bischof-Köhler (2011) durch die evolutionäre Funktion des
Bedeutung der jeweiligen Verhaltensweisen (Lorenz 1973). Sozialverhaltens, insbesondere mit der Theorie der paren-
Die konkreten kausalen Mechanismen, die einer Verhaltens- talen Investition der Geschlechter (vgl. Trivers 1972). Nach
weise zugrunde liegen (wie bspw. die Art der sozialen Infor- dieser Theorie unterscheiden sich die Geschlechter in der
mationsverarbeitung), stehen dabei weniger im Mittelpunkt. Höhe des Aufwands, den sie für die Nachkommenschaft auf-
Die folgenden Ausführungen folgen im Wesentlichen der bringen müssen. Da weibliche Artmitglieder in aller Regel
Übersichtarbeit von Bischof-Köhler (2011). einen höheren physischen und psychischen Aufwand haben
In Aufarbeitung von Untersuchungen Hold-Cavells (Hold (Schwangerschaft, Geburt, Füttern), sind sie selektiver in ih-
1977; Hold-Cavell 1992; Hold-Cavell & Borsutzky 1986) und rer Wahl eines Geschlechtspartners. Dementsprechend gibt
Savin-Williams (1979) weist Bischof-Köhler (2011) darauf es eine größere Konkurrenz unter den männlichen Mitglie-
hin, dass sich in Peergruppen relativ stabile Rangfolgen unter dern einer Spezies, was die entsprechenden Verhaltensunter-
den Gruppenmitgliedern ausbilden. In sich neu zusammen- schiede erklärt. Dabei sollte angemerkt werden, dass diese
findenden Gruppen – aber auch wenn die Schülerinnen und Verhaltensweisen nicht bewusst intendiert sind (also Männer
Schüler nach längerer Zeit, wie etwa den Sommerferien, wie- diese Verhaltensweisen nicht mit dem bewussten Ziel zeigen,
der in eine Gruppe zurückkehren – kommt es zu Imponier- sich in eine hohe Rangposition zu bringen, um dann eine
gehabe. Typische Verhaltensweisen sind dabei unter anderem Partnerin wählen zu können). Vielmehr ist es so, dass sich
lautstarke Verhaltensweisen, laute verbale Äußerungen und diese Verhaltensweisen evolutionär vererbt haben, da sie sich
teilweise auch aggressives Imponieren (Bischof-Köhler 2011). in der Gattungsgeschichte bewährt haben.
13.2  Soziale Entwicklung: Die Beziehung zu Gleichaltrigen
265 13
Die ethologische Perspektive ist dahingehend auch für weise zeigte sich, dass die Kinder ähnliche Verhaltensweisen
den Schulkontext interessant, da sie eine Reihe von sozialen gegenüber ihren Peers an den Tag legten, was einen Teil ih-
Verhaltensweisen zu erklären vermag, die im Klassenraum rer Schwierigkeiten mit den Gleichaltrigen erklären könnte.
und innerhalb der Schulgemeinschaft auftreten können. Von Des Weiteren können Eltern das Sozialverhalten ihrer Kinder
daher ist sie zweifelsohne eine Bereicherung des theoreti- durch ihre Überzeugungen beeinflussen. Es gibt empirische
schen Instrumentariums der Entwicklungspsychologie. Zu- Hinweise, dass sich Eltern sozial kompetenter von Eltern so-
gleich sollte darauf hingewiesen werden, dass die Reichwei- zial inkompetenter Schülerinnen und Schüler dahingehend
te und der Erklärungsanspruch evolutionärer Theorien für unterscheiden, dass erstere unangepasstes Verhalten eher auf
komplexes menschliches Sozialverhalten sehr umstritten ist zufällige situationale Faktoren attribuieren, während letztere
(Confer, Easton, Fleischman, Goetz, Lewis, Perilloux & Buss dazu neigen, das Verhalten ihrer Kinder auf unveränderliche
2010). Während die Existenz evolutionär vererbter Verhal- Persönlichkeitsmerkmale zu attribuieren (z. B. „der Opa von
tenstendenzen weitgehend unstrittig ist, können wir als Men- Max war auch schon so, das liegt in der Familie“; Rubin, Mills
schen auch durch Gründe zu einem bestimmten Verhalten & Rose-Krasnor 1989). Das bedeutet, Eltern sozial kompe-
bewegt werden, d. h. über unsere Verhaltenstendenzen reflek- tenter Schülerinnen und Schüler glauben nicht, dass sich ihr
tieren, dazu Stellung nehmen und somit potenziell andere Kind immer bzw. von Natur aus auf eine bestimmte Art und
Verhaltensweisen an den Tag legen (Habermas 1981). Weise verhält, und gestehen ihm die Möglichkeit der Ent-
wicklung und Veränderung zu.
Neben diesen vier Punkten soll hier noch ein fünfter an-
geführt werden, nämlich die Bindungserfahrungen der Schü-
13.2.4 Einfluss der Eltern-Kind-Beziehung auf lerinnen und Schüler. Wie in 7 Kap. 15 ausgeführt, geht ei-
Sozialverhalten ne sichere Bindung eher mit positiven Interaktionen einher,
während eine unsichere Bindung ein Risikofaktor für gestörte
Ein wichtiger Einflussfaktor auf das Sozialverhalten von Peerbeziehungen ist. Dies lässt sich zum Teil dadurch erklä-
Schülerinnen und Schüler sind die Erfahrungen, die sie in ren, dass eine sichere Bindung die Entwicklung der Emoti-
Interaktionen mit ihren Eltern und anderen Bezugspersonen onsregulationskompetenzen unterstützt. Empirische Evidenz
machen. Siegler, DeLoache, Eisenberg und Saffran (2014) dis- dafür kommt aus einer Studie von Beetz (2013), in welcher
kutieren vier unterschiedliche Mechanismen durch die Eltern u. a. eine Stichprobe von etwa 100 Jugendlichen im Alter
das Sozialverhalten ihrer Kinder auf direkte und indirekte von 13 bis 15 Jahren untersucht wurde. Mittels Selbstaus-
Weise beeinflussen können. kunft wurde die Sicherheit der Bindung zur Mutter und die
Zunächst fungieren Eltern als soziale Türsteher, da sie Beziehung zu den Peers erfasst. Zugleich wurden die Emoti-
darüber entscheiden, wie viele Gelegenheiten zur sozialen In- onsregulationsstrategien der Jugendlichen erhoben. Es zeigte
teraktion (und damit wie viel Zeit zum Erwerb sozialer Kom- sich, dass eine sichere Bindung zur Mutter mit einer stärkeren
petenzen) ihre Kinder haben und mit wem ihre Kinder wie Ausprägung adaptiver Emotionsregulationsstrategien (z. B.
lange interagieren. Des Weiteren sind Eltern Trainer: Sie kön- problemorientiertes Handeln, Akzeptieren, kognitive Umbe-
nen ihre Kinder beispielsweise anweisen oder beraten, wie wertung) einherging, während eine unsichere Bindung mit
sie mit anderen Kindern umgehen sollen. Auch vermitteln einer höheren Ausprägung maladaptiver Emotionsregulati-
sie ihren Kindern soziale Ziele (z. B. gut miteinander aus- onsstrategien (z. B. aggressives Verhalten, Rückzug, Selbst-
zukommen) und geben ihnen Ratschläge und Hinweise, wie abwertung) einherging. Da Schwierigkeiten in der selbstge-
soziale Probleme gelöst werden können. Auch wenn Eltern steuerten Emotionsregulation die Peer-Interaktion negativ
ihren Kindern keine direkten Instruktionen und Ratschlä- beeinflussen, könnte dies den Zusammenhang zwischen Bin-
ge geben, stellt dies eine Art Training dar, in diesem Fall dungssicherheit und Peerbeziehung erklären. Eine weitere
aber ein mangelndes oder gar schlechtes Training. Eltern Erklärung ist, dass sicher gebundene Kinder ein positiveres
agieren auch als soziale Modelle, deren soziale Verhaltens- Beziehungskonzept besitzen und weniger feindselig gegen-
weisen von ihren Kindern häufig nachgeahmt werden. Dies über anderen eingestellt sind. In der Tat zeigen Studien, dass
gilt nicht nur für augenfällige und einfache Verhaltensweisen, sicher gebundene Kinder anderen Personen mit einer gerin-
z. B. die Nachahmung aggressiven Verhaltens (vgl. Bandura, geren Wahrscheinlichkeit negative Intentionen unterstellen
Ross & Ross 1961), sondern auch für differenziertere Ver- (Suess, Grossmann, & Sroufe 1992; Zimmermann & Iwan-
haltensweisen wie in dem folgenden Beispiel veranschaulicht ski 2015). In einer Studie erfassten Paulus, Becker, Scheub
werden soll. In einer Studie von Black und Logan (1995) und König (2016) die Bindungssicherheit 5- bis 6-jähriger
wurden die Interaktionsweisen zwischen Eltern und 2- bis Kinder. Darüber hinaus hatten die Kinder in einer weiteren
5-jährigen Kindern untersucht, welche von ihren Gleichalt- Aufgabe die Möglichkeit, wertvolle Objekte mit drei unter-
rigen in einer soziometrischen Erhebung (7 Abschn. 13.2.3) schiedlichen Personen zu teilen: einem Freund, einem frem-
als abgelehnt klassifiziert wurden. Es zeigte sich, dass die El- den Kind und einem Kind, welches sie kannten, aber mit dem
tern dieser Kinder dazu neigten, auf ihre Kinder einzureden sie nicht gerne spielten (Nichtfreund). Es zeigte sich, dass
und diese nicht aussprechen zu lassen. Wenn die Eltern ihren die Ausprägung der Bindungssicherheit mit dem Ausmaß an
Kindern zum Beispiel auf Fragen antworteten, bezog sich ihre Großzügigkeit gegenüber dem Nichtfreund zusammenhing:
Antwort oftmals nicht auf die gestellte Frage. Interessanter- Je sicherer gebunden die Kinder waren, desto mehr gaben
266 Kapitel 13  Psychosexuelle und soziale Entwicklung

sie an den Nichtfreund ab. Neben Aspekten der Emotions- Schülern immer auch unter entwicklungspsychologischen
regulation weist dieser Befund auch auf ein optimistischeres Gesichtspunkten betrachtet werden muss.
Beziehungskonzept sicher gebundener Kinder hin: Obwohl Ein klassisches entwicklungspsychologisches Modell der
die Kinder den Nichtfreund nicht mochten, waren sie doch Entstehung von Aggression und Gewalt wurde von Mof-
eher dazu bereit, ihm etwas zu geben. Solche Verhaltenswei- fitt (1993) vorgelegt. Sie unterscheidet zwei Verlaufsformen:
sen sind auf lange Sicht fruchtbar, da sie ermöglichen, auch die lebenslaufpersistente und die juvenile Form. Die lebens-
mit einer Person in gutem Kontakt zu bleiben, die man nicht laufpersistente Form beschreibt Individuen, die über das
so gerne mag, was zu einer Verbesserung der Beziehung bei- Kindes- und Jugendalter hinweg antisoziale Verhaltenswei-
trägt. sen an den Tag legen. Hier geht Moffitt davon aus, dass sich
bereits sehr früh im Leben Schwierigkeiten in der Interaktion
Studie: Eltern-Kind-Beziehung und soziale Entwicklung zeigen. Diese können mitunter auf früh auftretenden (unter
Eine Studie von Laible und Kollegen (Laible, Carlo, Davis, & Kara- Umständen angeborenen, pränatalen) Defiziten und/oder auf
huta 2016) mit älteren Kindern erbringt weitere Evidenz für den weiteren Eigenschaften wie einem schwierigen Temperament
Einfluss der Eltern-Kind-Beziehung auf die soziale Entwicklung. beruhen. Diese Faktoren haben negative Auswirkungen auf
In dieser longitudinalen Studie wurden Kinder über mehrere die Eltern-Kind-Interaktion und die weiteren sozialen Bezie-
Jahre begleitet und im Alter von 4,5, 9, 12 und 15,5 Jahren hungen. In dem Maße, in dem die soziale Umwelt nicht in der
untersucht. Im Alter von 4,5 Jahren wurden u. a. mütterliche Lage ist, mit den schwierigen Verhaltensweisen des Kindes
Sensitivität und Responsivität, also die Feinfühligkeit und Ge- adäquat umzugehen, sondern mitunter selbst aggressiv oder
nauigkeit in der Wahrnehmung und Interpretation kindlichen hilflos reagiert, kommt es zu einer Verfestigung der negati-
Verhaltens, in einer Spielsituation erfasst. Eine hohe Ausprä- ven und dissozialen Verhaltensweisen des Kindes. Letztlich
gung dieser mütterlichen Faktoren sagte vermehrtes prosozia- kann es zu einem Teufelskreis von sich einander verstärken-
les Verhalten und verringertes aggressives Verhalten der Kinder den Prozessen kommen. Empirische Befunde bestätigen eine
im Alter von 9 Jahren vorher. Diese Verhaltensmerkmale der Konsistenz antisozialen Verhaltens über die Lebensspanne.
Kinder im Alter von 9 Jahren sagten wiederum das Auftreten In einer Untersuchung von Eron und Kollegen (1987) zeig-
entsprechender pro- und antisozialer Verhaltensweisen im Al- te sich beispielsweise, dass Schülerinnen und Schüler, die im
ter von 12 und 15,5 Jahren vorher. Grundschulalter von ihren Peers als aggressiv beschrieben
wurden, auch im Alter von 30 Jahren aggressiver waren. Eine
Insgesamt sind die Befunde zum Einfluss der Eltern- wesentliche Rolle bei der Entstehung und Aufrechterhaltung
Kind-Beziehung auf das Sozialverhalten der Schülerinnen aggressiven Verhaltens nehmen dabei Prozesse der sozialen
und Schüler auch relevant für Lehrkräfte. Die Ermöglichung Informationsverarbeitung (7 Abschn. 13.2.1) ein.
13 des Erwerbs sozialer Kompetenzen durch die Förderung der Die juvenile Form antisozialen Verhaltens beschreibt
Interaktion zwischen Schülerinnen und Schülern (z. B. durch einen auf die Adoleszenz beschränkten Entwicklungsverlauf.
Gruppenarbeiten), die Thematisierung passender sozialer In- Nach Moffitt (1993) ergibt sich diese Form der Aggressi-
teraktionsstrategien, das Vorleben adäquater Verhaltenswei- on durch eine Diskrepanz zwischen der biologischen Ent-
sen und das Einnehmen des Standpunktes, dass es immer wicklung Jugendlicher und ihrer fehlenden sozialen Reife.
Raum für Entwicklung gibt, sind zentrale Aspekte, die auch Als Fachterminus wird hierfür der Begriff maturity gap ge-
in der Schule bzw. im Unterricht berücksichtigt werden kön- braucht. Mit anderen Worten: Während Jugendliche bereits
nen. mit 14 bis 16 Jahren wesentliche Charakteristika biologi-
scher Reife aufweisen (u. a. Geschlechtsentwicklung) und
sich deutlich weiter entwickelt sehen als Kinder, dauert es
13.2.5 Pro- und antisoziales Verhalten in den meisten westlichen Gesellschaften noch bis zum Al-
ter von 18 Jahren, bis ihnen die Gesellschaft die vollständige
1 Antisoziales Verhalten soziale Reife zugesteht. Um diese Reifelücke zu kompensie-
Antisoziale und gewalttätige Verhaltensweisen gehören zu ren, neigen Jugendliche dazu, vermeintliches Erwachsenen-
den häufigsten Problemverhaltensweisen im Schulkontext. verhalten zu zeigen. Das heißt, es kommt zu Risikoverhal-
Ihre Ursachen und Entwicklungsverläufe sind daher von be- tensweisen, vermehrtem Alkohol- und Drogenkonsum sowie
sonderem Interesse für die Entwicklungspsychologie. Dabei aggressivem und illegalem Verhalten. Dies erklärt die star-
ist zuallererst relevant, dass Gewalt und Aggression eine un- ke Zunahme antisozialen und gewalttätigen Verhaltens im
terschiedliche Prävalenzrate (d. h. Häufigkeit des Auftretens Jugendalter, welche aber in dem Maße wieder zurückgehen
in einer Population) in den verschiedenen Altersgruppen auf- sollte, in dem sich der Reifeabstand verringert. Aus diesem
weisen. Nach Coie und Dodge (1998) zeigt sich ein Anstieg ab Modell folgen eine Reihe relevanter Implikationen bezüglich
dem Alter von 12 Jahren (Jungen: 10 bis 15 %; Mädchen: 5 %) protektiver Faktoren (Schick 2011). So zeigt sich, dass eine
bis zum Alter von 17 Jahren (Jungen: 25 bis 30 %; Mädchen: Verantwortungsübernahme im sozialen Leben (z. B. Leitung
10 bis 15 %). Bis zum Erwachsenenalter geht die Prävalenz- einer Jugendgruppe, Jugendtrainer) die Wahrscheinlichkeit
rate schließlich wieder stark zurück (Männer: 10 %; Frauen: juveniler Gewalt reduziert. Die Erklärung hierfür ist, dass
2 %). Diese starken Alterseffekte deuten darauf hin, dass ge- dem Jugendlichen durch die Übernahme sozialer Verantwor-
walttätiges und aggressives Verhalten bei Schülerinnen und tung soziale Reife zugestanden wird, wodurch die Reifelücke
13.2  Soziale Entwicklung: Die Beziehung zu Gleichaltrigen
267 13
kleiner wird und kein kompensatorisches Verhalten nötig die auf einem Verständnis der emotionalen Situation
ist. Weitere protektive Faktoren sind ein später Einsatz der einer anderen Person beruht und aus einem Gefühl der
Pubertät, eine eher ängstliche oder vorsichtige Persönlich- Anteilnahme am Leid des anderen und Sorge um den
keit sowie feste soziale Strukturen (z. B. eine längerfristige anderen besteht (Eisenberg et al. 2007).
Partnerschaft). Weitere Ausführungen zu Aggression und
Gewalttätigkeit im Kindes- und Jugendalter finden sich in
7 Kap. 29.
Mitleid tritt im Alter von 1 bis 2 Jahren zum ersten Mal auf
1 Prosoziales Verhalten (Zahn-Waxler et al. 1992) und nimmt im Laufe der Kindheit
Während die Entwicklung antisozialen Verhaltens aufgrund (Kienbaum 2014; Knafo, Zahn-Waxler, Van Hulle, Robinson
seiner gesellschaftlichen Bedeutsamkeit in den letzten Jahr- & Rhee 2008) und sogar über die Adoleszenz hinweg (Alle-
zehnten verstärkt im Fokus der Forschung stand, hat man sich mand, Steiger & Fend 2015) zu. Dabei kommt es im Verlauf
erst in den letzten Jahren zunehmend mit der Entwicklung der Adoleszenz bei Jungen zu einem temporären Rückgang
prosozialen Verhaltens auseinander gesetzt. Inspiriert wurde an Empathie und Mitleid, wobei gegen Ende der Adoles-
diese Forschung durch Befunde, dass prosoziales und koope- zenz das Ausgangsniveau wieder erreicht ist (van der Graaff
ratives Verhalten eine wichtige Rolle in der menschlichen et al. 2014). Die Fähigkeit zu Empathie und Mitleid spielt eine
Entwicklung spielt. So zeigen Untersuchungen, dass proso- wichtige Rolle in sozialen Interaktionen. Dementsprechend
ziale und kooperative Schülerinnen und Schüler mehr und hat sich die psychologische Forschung verstärkt mit der Fra-
bessere Freundschaften haben (Crick 1996) und dass proso- ge beschäftigt, wie Empathie und Mitleid gefördert werden
ziales Verhalten ein protektiver Faktor gegen das Auftreten können.
antisozialen Verhaltens ist (Schick 2011). Darüber hinaus Mehrere Studien weisen auf die Bedeutsamkeit des so-
zeigte sich, dass prosoziales Verhalten auch mit höheren schu- genannten Emotionsdiskurses (das Thematisieren und Be-
lischen Leistungen einhergeht (Caprara, Barbaranelli, Pasto- sprechen von Emotionen) hin. Schon bei 1,5- bis 3-jährigen
relli, Bandura & Zimbardo 2000). Kindern zeigte sich, dass die Wahrscheinlichkeit empathisch
Frühe prosoziale Verhaltensweisen finden sich bereits in zu reagieren und jemandem zu helfen von der Häufigkeit
den ersten Lebensjahren. Junge Kinder zeigen Mitleid und abhing, mit der ihre Eltern die Emotionen und mentalen
Trostverhalten, wenn jemand Schmerz empfindet (Zahn- Zustände anderer Personen benannten (Drummond, Paul,
Waxler, Radke-Yarrow, Wagner & Chapman 1992), sie helfen Waugh, Hammond, & Brownell 2014). Wenn Kinder in einer
anderen Personen, indem sie zu Boden gefallene Objekte Situation, in der sie mit einer anderen Personen etwas teilen
aufheben (Warneken & Tomasello 2006), und teilen eigene können, gebeten wurden, über den emotionalen Zustand der
Ressourcen (z. B. Spielzeug, Süßigkeiten) mit anderen (Svet- anderen Person nachzudenken (z. B. „Wie fühlt sich der an-
lova, Nichols & Brownell 2010). Dabei ist interessant, dass dere, wenn er nichts bekommt?“), teilten sie mehr, als wenn
diese Verhaltensweisen (Trösten, Helfen, Teilen) nicht mit- dies nicht der Fall war (Paulus & Moore 2015). In der gleichen
einander zusammenhängen, das heißt, dass Kinder, die eher Studie zeigte sich auch, dass das Ausmaß des Teilens vom
helfen, nicht automatisch auch eher trösten oder mit ande- Ausmaß der eingeschätzten Emotion abhing: Je negativer die
ren teilen (Dunfield & Kuhlmeier 2013). Daher geht man Kinder die Emotionen des anderen einschätzten, wenn nicht
davon aus, dass den unterschiedlichen Verhaltensweisen ver- mit ihm geteilt wurde, desto mehr gaben sie ab. Aus diesen
schiedene psychologische Mechanismen und Motive zugrun- und ähnlichen Studien lässt sich ableiten, dass das Thema-
de liegen (Paulus 2014a). Es werden verschiedene mögliche tisieren von Emotionen und insbesondere das Nachdenken
Motive prosozialen Verhaltens diskutiert, wie zum Beispiel über die Konsequenzen des eigenen Verhaltens für andere
die Rolle von Empathie und Mitleid, Gerechtigkeitsvorstel- Personen empathisches Verhalten fördern kann.
lungen, Reziprozitätserwartung (d. h. Erwartung, dass sich Neben Befunden zum Einfluss der Bindung auf empathi-
eine Investition auszahlt) und Modellernen, um nur einige sches Verhalten (van der Mark, IJzendoorn & Bakermans-
zu nennen. Im Folgenden soll näher auf die Entwicklung Kranenburg 2002) gibt es auch Hinweise, dass bestimmte
der Empathie als auch auf die Entwicklung des Teilens bzw. Erziehungsstile und Erzieherqualitäten für die Entwicklung
des Gerechtigkeitsempfindens eingegangen werden. Eine ver- empathischen Verhaltens förderlich sind. So zeigt sich, dass
tiefte Darstellung der Entwicklung des Moralverständnisses ein autoritativer Erziehungsstil, der sich durch ein hohes Maß
findet sich in 7 Kap. 16. an Unterstützung und Liebe der Eltern, aber auch klare Re-
geln kennzeichnet (nicht zu verwechseln mit dem autoritären
Stil), die Entwicklung prosozialen Verhaltens positiv beein-
Empathie (als englischer Begriff aus dem deutschen flusst. Ähnlich berichtet auch Kienbaum (2001) aus einer im
Wort Einfühlung gebildet) bezeichnet das Mitfühlen mit Kindergarten durchgeführten Studie, dass Kinder, deren Er-
dem emotionalen Zustand einer anderen Person (d. h. zieherinnen eher warme, zuwendende Verhaltensweisen an
in einem ähnlichen Zustand wie die andere Person zu den Tag legten und die Kinder aktiv begleiteten, empathischer
sein), wobei man sich klar darüber ist, dass die andere reagierten als Kinder, deren Erzieherinnen sich direktiv ver-
Person der primäre Träger der Emotion ist. Empathie hielten. Empathisches Verhalten lässt sich also durch einen
kann zu unterschiedlichen Verhaltensweisen führen, unter autoritativen Erziehungsstil und dem Kind zugewandte Ver-
anderem zu Mitleid. Mitleid ist eine emotionale Reaktion, haltensweisen fördern.
268 Kapitel 13  Psychosexuelle und soziale Entwicklung

Die Entwicklung von Gerechtigkeits- und Fairnessvor- spielt. Das Bewusstein um mögliche Kulturunterschiede in
stellungen ist ein klassisches Thema der Entwicklungspsy- den kindlichen Auffassungen von Fairness bzw. von proso-
chologie. Während dieses Thema im Gefolge Piagets (1932) zialem Verhalten ist in jedem Fall von großem Interesse für
zunächst vor allem im Rahmen hypothetischer Szenarien den Schulkontext, da Fragen der Gerechtigkeit ein häufiger
erforscht wurde (7 Studie), wird in letzter Zeit der Fokus ver- Konfliktstoff zwischen Schülerinnen und Schülern sind.
stärkt auf reales Entscheidungsverhalten gelegt. Dort ergibt Weitaus weniger ist über die Rolle und Entwicklung sozia-
sich im Gegensatz zur verbalen Reflexion ein leicht anderes ler Emotionen für prosoziales Verhalten bekannt. Ein wich-
Bild. tiger Punkt hierbei betrifft die Emotionen, die durch einen
Vergleich mit anderen Personen ausgelöst werden. Soziale
Studie: Nachdenken über Gerechtigkeit Vergleichsprozesse spielen ab dem Schulalter eine immer grö-
Damon (1977) präsentierte seinen Teilnehmern hypothetische ßere Rolle für die Selbsteinschätzung der Schülerinnen und
Szenarien, in denen Ressourcen zwischen zwei Personen aufge- Schüler, wohl hervorgerufen durch den Leistungsvergleich im
teilt werden sollten. Die Personen unterschieden sich u.a. darin, Schulkontext (Dweck 2002). Diese Vergleichsprozesse kön-
dass die eine Person weniger Ressourcen zur Verfügung hatte nen zu einer Abnahme des Selbstbewusstseins und Selbst-
oder mehr geleistet hatte als die andere Person. Die Ergebnisse wertgefühls führen, wobei es einen Einfluss hat, mit wem man
zeigen, dass Kinder bis zum Alter von 5 Jahren eine gleiche Ver- sich vergleicht, das heißt, ob man sich zum Beispiel mit je-
teilung der Ressourcen (also jeder bekommt die gleiche Anzahl) mandem vergleicht, der eine bessere Leistung zeigt als man
als allgemeingültige Regel sahen. Ab dem Alter von 8 bis 9 Jah- selbst (aufwärts gerichteter Vergleich) oder mit jemandem,
ren berücksichtigten sie dann andere Faktoren, zum Beispiel, der eine schlechtere Leistung zeigt (abwärts gerichteter Ver-
welche Person mehr zu einer gemeinsamen Arbeit beigetragen gleich) (vgl. Festinger 1954). Studien, in denen Kinder in
hatte oder welche Person bedürftiger ist. Insgesamt können wir einem Computerspiel mit anderen Kinder um die bessere
festhalten, dass sich das Nachdenken über Gerechtigkeit von Leistung spielten, machen deutlich, dass sowohl das Ausmaß
einer strikten Anwendung des Gleichverteilungsprinzipshin zu der berichteten Schadenfreude (Freude über das schlechte
einer Berücksichtigung verschiedener Aspekte wie etwa indivi- Abschneiden der anderen Person, wenn man selbst gewon-
dueller Verdienste oder Bedürftigkeit entwickelt. nen hatte) als auch Neid im Alter von 7 bis 13 Jahren abnimmt
(Steinbeis & Singer 2013). Der Rückgang dieser Emotionen
In Studien dazu haben Kinder die Möglichkeit, eigene scheint eine wichtige Rolle bei der Zunahme fairen Verhal-
Ressourcen mit anderen zu teilen bzw. direkt Ressourcen zwi- tens zu spielen.
schen zwei Personen aufzuteilen. Hier zeigt sich, dass bereits
13 ältere Kindergartenkinder tendenziell mehr mit armen als
mit reichen anderen teilen (Paulus 2014b) und berücksich-
tigen, wer mehr zu einer gemeinsamen Leistung beigetragen Zusammenfassung
hat (Baumard, Mascaro & Chevallier 2012). Dies deutet da- Kinder und Jugendliche durchlaufen während ihrer Schul-
rauf hin, dass Kinder bereits erste Verhaltenstendenzen zei- zeit bedeutsame Entwicklungsveränderungen im psycho-
gen, Aspekte wie ungerechte Ausgangsverteilungen bzw. den sexuellen und sozialen Bereich. Die körperliche und psy-
relativen Beitrag einzelner Personen zu berücksichtigen, dass chosexuelle Entwicklung im Jugendalter stellt die Ju-
sich aber eine theoretische Reflektion über diese Prinzipien gendlichen vor die Herausforderung, sich mit den neu
erst im Laufe der Grundschulzeit entwickelt (Schmidt, Svet- entstehenden Bedürfnissen auseinanderzusetzen und ih-
lova, Johe & Tomasello 2016). Weitere Studien zum Teilen re sozialen Beziehungen neu zu ordnen. Jugendliche mit
zeigten, dass das Teilen von Ressourcen mit der Fähigkeit frühzeitiger oder verzögerter körperlicher Entwicklung
zur Selbstkontrolle zusammenhängt: Kindern und Jugend- sowie mit abweichender sexueller Orientierung stehen
lichen mit geringerer Selbstkontrolle fiel es schwerer, etwas dabei vor besonders großen Schwierigkeiten. Im Bereich
an andere abzugeben (Eisenberg & Fabes 1998). Dies zeigt, der sozialen Entwicklung zeigt sich ein zunehmender Ein-
dass Selbstkontrolle nicht nur eine wichtige Funktion bei fluss von Freundschaftsbeziehungen und Cliquen auf das
der Regulation eigenen Verhaltens hat – beispielsweise gibt Verhalten von Kindern und Jugendlichen. Insbesondere
es Zusammenhänge zwischen geringerer Selbstkontrolle und im Klassenverband abgelehnte Schülerinnen und Schü-
der Wahrscheinlichkeit, im Jugendalter zu Drogen zu greifen ler haben ein erhöhtes Risiko für eine Reihe internalisie-
(Colder & Chassin 1997) –, sondern auch bei der Regulation render und externalisierender Problemverhaltensweisen.
sozialen Verhaltens eine entscheidende Rolle spielt. Entwicklungsveränderungen zeigen sich auch in der so-
Dabei sollte nicht übersehen werden, dass die beschrie- zialen Kognition, das heißt in der Art und Weise, wie Kin-
benen Entwicklungsverläufe mitunter deutliche interkultu- der und Jugendliche die Handlungen anderer Menschen
relle Unterschiede aufweisen. So zeigen neuere Studien, dass wahrnehmen, verstehen und erklären, und im prosozia-
sich eine Ungerechtigkeitsaversion – eine starke Abneigung len Verhalten. Eine wichtige Rolle in der Entwicklung des
gegenüber Ungleichverteilungen – vor allem in westlichen Sozialverhaltens spielen die Eltern und weitere zentrale
Ländern zeigt (Blake et al. 2015; Paulus 2015). Es bleibt Bezugspersonen. Die Ermöglichung von sozialem Aus-
eine offene Frage, inwieweit der unterschiedliche Ressourcen- tausch, die Thematisierung passender Interaktionsstrate-
reichtum der jeweiligen Länder hierbei eine zentrale Rolle
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?1. Welche negativen Auswirkungen können interindividu- Bandura, A., Ross, S., & Ross, D. (1961). Transmission of aggression through
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auf die psychosoziale Entwicklung von Jugendlichen logy, 63, 575–582.
haben? Baumard, N., Mascaro, O., & Chevallier, C. (2012). Preschoolers are able to
2. Welche Faktoren spielen bei der Entwicklung der take merit into account when distributing goods. Developmental Psy-
sexuellen Orientierung eine Rolle? chology, 48, 492–498.
Beetz, A. (2013). Bindung und Emotionsregulationsstrategien bei Jugend-
3. Warum stehen homosexuelle Jugendliche vor beson-
lichen mit und ohne emotionale Störungen und Verhaltensauffällig-
deren Herausforderungen und wie kann man dem in keiten. Empirische Sonderpädagogik, 2, 144–159.
der Schule entgegenwirken? Bell, A. P., Weinberg, M. S., & Hammersmith, S. K. (1981). Sexual preference:
4. Inwiefern spielt die Fähigkeit, mentale Zustände Its development in men and women. Bloomington, IN: Indiana Univer-
anderer Personen zu verstehen (Theory of Mind), im sity Press.
Bem, D. J. (1996). Exotic becomes erotic: A developmental theory of sexual
schulischen Kontext eine Rolle? Nennen und erläutern
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5. Das Prozessmodell sozialen Problemlösens (Crick Bischof-Köhler, D. (2011). Soziale Entwicklung in Kindheit und Jugend. Bin-
& Dodge, 1994) erklärt die Entstehung aggressiver dung, Empathie, Theory of Mind. Stuttgart: Kohlhammer.
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wiefern unterscheiden sich laut dem Modell aggressive Blake, P. R., McAuliffe, K., Corbit, J., Callaghan, T. C., Barry, O., Bowie, A.,
von nicht-aggressiven Kindern? Kleutsch, L., Kramer, L., Ross, E., Vongsachang, H., Wrangham, R., &
6. Was versteckt sich hinter dem Begriff „jugendlicher Warneken, F. (2015). The ontogeny of fairness in seven societies. Na-
ture, 528, 258–261.
Egozentrismus“?
Bosacki, S., & Astington, W. J. (1999). Theory of mind in preadolescence:
7. Wie entwickelt sich das Freundschaftsverständnis im Relations between social understanding and social competence. So-
Kindes- und Jugendalter? cial Development, 8, 237–255.
8. Welche direkten und indirekten Einflüsse können Eltern Brendgen, M., Bowen, F., Rondeau, N., & Vitaro, F. (1999). Effects of friends’
auf das Sozialverhalten ihrer Kinder haben und welche characteristics on children’s social cognitions. Social Development, 8,
41–51.
dieser Einflüsse können auch Lehrkräfte haben?
Brooks-Gunn, J., Petersen, A. C., & Eichorn, D. (1985). The study of matura-
9. Wie begründet Moffitt die juvenile Verlaufsform tional timing effects in adolescence. Journal of youth and adolescence,
antisozialen Verhaltens und welche Schutzfaktoren 14, 149–161.
lassen sich davon ableiten? Bukowski, W. M., Hoza, B., & Boivin, M. (1993). Popularity, friendship, and
10. Welche Möglichkeiten gibt es, Empathie und Mitleid emotional adjustment during early adolescence. New Directions for
Child and Adolescent Development, 23–37.
bei Kindern zu fördern?
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11. Wie entwickeln sich Gerechtigkeits- und Fairnessvor- developmental contexts of early adolescent friendship. In W. M. Bu-
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272 Kapitel 13  Psychosexuelle und soziale Entwicklung

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273 14

Kognitiv-sprachliche
Entwicklung
Dorothea Dornheim und Sabine Weinert

14.1 Entwicklung von sprachlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten – 274


14.1.1 Sprachentwicklung im ersten Lebensjahr – 274
14.1.2 Wortschatzentwicklung – 275
14.1.3 Entwicklung grammatikalischer Fähigkeiten und Fertigkeiten – 275
14.1.4 Dekontextualisierter Gebrauch von Sprache – 276
14.1.5 Entwicklung metasprachlicher Kompetenzen – 276
14.1.6 Entwicklung schriftsprachlicher Fähigkeiten und Fertigkeiten – 277

14.2 Entwicklung von Lernen und Gedächtnis – 277


14.2.1 Entwicklung des bereichsspezifischen Wissens – 278
14.2.2 Entwicklung von Basisprozessen der Informationsverarbeitung,
Aufmerksamkeit und exekutiven Funktionen – 280
14.2.3 Erwerb von Gedächtnisstrategien – 282
14.2.4 Entwicklungsveränderungen im Metagedächtnis – 284

14.3 Entwicklung von Denken und Problemlösen – 285


14.3.1 Entwicklung von problemlösendem Denken – 286
14.3.2 Entwicklung von induktivem Denken – 286
14.3.3 Entwicklung von deduktivem Denken – 287
14.3.4 Entwicklung von wissenschaftlichem Denken – 288

14.4 Beziehungen zwischen kognitiver und sprachlicher


Entwicklung – 290
14.4.1 Bedeutung der sprachlichen Entwicklung für die kognitive
Entwicklung – 290
14.4.2 Bedeutung der kognitiven Entwicklung für die sprachliche
Entwicklung – 290
14.4.3 Wechselwirkungen zwischen kognitiver und sprachlicher Entwicklung – 290

Verständnisfragen – 291

Literatur – 292

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019


D. Urhahne, M. Dresel, F. Fischer (Hrsg.), Psychologie für den Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55754-9_14
274 Kapitel 14  Kognitiv-sprachliche Entwicklung

Entwicklungspsychologie beschäftigt sich mit alterstypischen rie von Wygotski, den Selbststeuerungsprozessen eines ak-
Veränderungen und Konstanzen im Verhalten und Erleben, tiven Kindes eine soziale Entwicklungsumwelt an die Sei-
im Lernen und Leisten über die Lebensspanne. Ein Ver- te gestellt, die genauso aktiv steuernd auf das Kind ein-
ständnis der alterstypischen Veränderungen kognitiver und wirkt. Im Mittelpunkt eines derartigen interaktionistisch-
sprachlicher Fähigkeiten und Fertigkeiten vom Säuglings- ko-konstruktivistischen Entwicklungsverständnisses stehen
und Kindes- bis ins Jugendalter sowie der beeinflussenden sprachliche Interaktionsprozesse, mit deren Hilfe das Kind
Bedingungen als Basis einer Vielzahl von Kompetenzen und in der „Zone der proximalen Entwicklung“ unter Anleitung
Fähigkeiten, wie etwa schriftsprachliche und mathematische eines Erwachsenen oder älteren Kindes die nächsten kogniti-
Kompetenzen und Fähigkeiten, aber auch soziale Kompeten- ven Entwicklungsfortschritte macht und dadurch wiederum
zen ist grundlegend für Lehrberufe. Im vorliegenden Kapitel auf seine soziale Umwelt zurückwirkt. Dabei verinnerlicht
werden alterstypische Veränderungen und Konstanzen im das Kind nach Wygotski Muster der sprachlichen Interakti-
Bereich der Sprache, des Lernens und Gedächtnisses, des on und erlangt auf dem Weg über zunächst laut geäußerte
Denkens und Problemlösens unter Einbezug empirischer Be- verbale Selbstanweisungen die Fähigkeit zur verinnerlichten
funde erläutert. bewussten und gezielten metakognitiven Steuerung der eige-
Dabei ist hervorzuheben, dass die Entwicklung der Ko- nen Lern-, Gedächtnis- und Problemlöseprozesse (vgl. Miller
gnition und der Erwerb der Sprache auf der einen Seite 2000).
eigenständige Phänomenbereiche der kindlichen Entwick- Ausgehend von diesen Zusammenhängen zwischen Spra-
lung darstellen, die selbst aus jeweils verschiedenen Facet- che und Denken wird zunächst ein Blick auf die funkti-
ten bzw. Subbereichen bestehen; auf der anderen Seite sind onsbereichsspezifische Entwicklung von Sprachverständnis
Sprache und Kognition eng miteinander verflochten. Unter- und Sprachproduktion geworfen, bevor anschließend die
schiedlichste kognitive Leistungen, wie z. B. Gedächtnis- und bereichsübergreifenden und bereichsspezifischen kognitiven
Lernleistungen, Denkprozesse und Problemlösefähigkeiten Veränderungen im Gedächtnis und Denken dargestellt wer-
sowie deren alterstypische Veränderungen, werden durch die den.
sich entwickelnden sprachlichen Fähigkeiten und Fertigkei-
ten beeinflusst (Weinert 2008). Umgekehrt bauen sprachliche
Leistungen auf den sich entwickelnden kognitiven Fähig- 14.1 Entwicklung von sprachlichen
keiten auf. So erfordert beispielsweise der Worterwerb (die Fähigkeiten und Fertigkeiten
Speicherung von Wörtern) ein funktionsfähiges Gedächtnis
(Weinert 2000). Der frühkindliche Erwerb einer oder sogar mehrerer Spra-
Bevor auf die Entwicklung von Sprache und Kognition chen stellt einen nicht bewussten impliziten Lernvorgang
näher eingegangen wird, ist ein Blick auf die theoretischen dar, der auf kognitiven Grundlagen (z. B. Gedächtnis- und
Orientierungen der neueren kognitiven Entwicklungspsy-
14 chologie unverzichtbar (7 Kap. 12). Die Annahmen strenger
Lernfähigkeiten, konzeptuelle und sozial-kognitive Fähigkei-
ten) aufbaut und diese wiederum beeinflusst. Im Verlauf
Stufentheorien der kognitiven Entwicklung, wie jener von der Sprachentwicklung erwirbt das Kind ein komplexes Wis-
Jean Piaget, mit der Betonung von bereichsübergreifenden sen über phonologisch-prosodische Laut- und Klangmuster
strukturellen kognitiven Veränderungen gelten als überholt, der jeweiligen Sprache, über ihre grammatischen Strukturen
die vage Beschreibung der Veränderungsmechanismen mit (Morphologie und Syntax), über ihre lexikalischen Baustei-
den Begriffen von Anpassung, Organisation und Äquilibra- ne und die Semantik (Wortschatz, Wort- und Satzbedeutung)
tion als wenig erklärend. Entwicklungsprozesse werden heu- sowie die angemessene Nutzung von Sprache (Pragmatik)
te einerseits ausgehend von Gedächtnis- und Informations- (vgl. Weinert & Grimm 2012; . Tab. 14.1). Selbst erwachse-
verarbeitungsmodellen der kognitiven und sozial-kognitiven ne Sprachnutzerinnen und -nutzer sind dabei in der Regel
Entwicklung in den Blick genommen. Andererseits werden nicht in der Lage, explizit Auskunft über dieses komplexe,
auf der Grundlage von neueren bereichsspezifischen Ansät- produktive Regelsystem zu geben, das es ihnen erlaubt, noch
zen der Entwicklungspsychologie funktionsbereichsspezifi- nie gehörte Sätze zu äußern und zu verstehen, auch wenn sie
sche Veränderungen (z. B. spezifische Entwicklungsmecha- über die „Produkte“ dieser Prozesse (z. B. über vorgegebene
nismen der Sprachentwicklung) untersucht. Zusätzlich wer- Sätze und Formen) reflektieren können. Diese „metasprach-
den wissensbereichsspezifische Veränderungen in zentralen lichen“ Fähigkeiten entwickeln sich ebenfalls erst schrittweise
Domänen des kindlichen Weltwissens (z. B. frühes physika- (. Tab. 14.1).
lisches Kernwissen) sowie allgemeinere Mechanismen be-
reichsspezifischer Wissensveränderungen auf der Basis des
Expertise-Ansatzes betrachtet.
14.1.1 Sprachentwicklung im ersten
Auch in Bezug auf die Entwicklungsmechanismen und
Einflussfaktoren, die die Verursachung der alterstypischen Lebensjahr
Entwicklungsveränderungen zum Thema machen, reicht der
individuelle konstruktivistische Ansatz Piagets nicht weit ge- Lange bevor Kinder erste Wörter produktiv äußern, haben sie
nug. Heute wird ausgehend von ökologischen und/oder so- bereits ein differenziertes phonologisches und rhythmisch-
ziokulturellen Entwicklungstheorien, z. B. der Kontexttheo- prosodisches Wissen über die Laut- und Klangstruktur ihrer
14.1  Entwicklung von sprachlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten
275 14

. Tabelle 14.1 Komponenten der Sprache

Komponenten Definition (Inhalt) Was ein Kind lernt (Funktion)


Prosodie Sprachmelodie (Intonation), Betonung, rhyth- – Hinweise auf die formale Gliederungsstruktur (z. B. Sätze, Wörter)
mische Gliederung – Erleichtert Verarbeitung und Behalten

Phonologie Phonem D Kleinste bedeutungsunterschei- – Bedeutungsunterscheidung


dende Lautkategorie (z. B. Hut – Wut) – Organisation von Sprachlauten durch Kombinationsregeln (Phonotaktik)

Morphologie Morphem D Kleinste bedeutungstragende – Regeln der Wortbildung


Einheit (z. B. Hunde D Hund - e)

Syntax Kombination von Wörtern zu Sätzen – Regeln der Wortordnung/Satzbildung

Lexikon und Wortschatz und Wortbedeutung (z. B. kennen – Bedeutungsstruktur markiert sprachspezifische Konzepte und Katego-
Wortsemantik die Inuit verschiedene Wörter für Schnee) rien, die durch Wörter versprachlicht werden, sowie deren Beziehungen
untereinander

Satzsemantik Satzbedeutung (z. B. Hans schlägt Fritz – Fritz – Verschiebung lexikalischer Bedeutungen im Kontext der Satzbedeutung
schlägt Hans)

Pragmatik Sprechhandlungen – Situativ und kommunikativ angemessene (funktionale) Verwendung von


Konversationssteuerung Sprache
Kohärenz von Diskursen

Metasprachliche Reflexionsfähigkeit über Sprache und deren – Reflexion grammatischer Regeln und Bewusstsein für die Zusammenset-
Fähigkeiten Aufbau zung der Sprache (phonologische Bewusstheit)

Muttersprache erworben. Dieses Wissen hilft, den Sprach- nahmen (sogenannte constraints), die den Wortschatzerwerb
strom der Umweltsprache in Sätze, Teilsätze und Wörter zu leiten.
untergliedern (z. B. durch Pausen, Betonungen und rhyth-
mische Muster); zugleich erleichtert es die Speicherung ent-1 Vorannahmen im Worterwerb
sprechender sprachlicher Einheiten einschließlich der nicht- Kinder gehen zunächst davon aus, dass sich neue Wör-
bewussten Ableitung zugrundeliegender Regelmäßigkeiten. ter auf ganze Objekte und nicht auf Teile davon beziehen
Das rhythmisch-prosodische Sprachwissen stellt somit einen („Ganzheits-Constraint“), z. B. das Wort „HUND“ auf den
zentralen Einstiegsmechanismus in den Wort- und Gram- ganzen Hund und nicht nur auf Schwanz oder Schnau-
matikerwerb dar, durch den die Sprachverarbeitung bezogen ze. Zudem nehmen sie an, dass ein neues Wort auf form-
auf die jeweilige Sprache optimiert wird. Auf der Grundlage ähnliche Dinge der gleichen Kategorie ausgedehnt wird
dieser Fertigkeiten sind Kinder mit 9 Monaten in der Lage, und nicht auf Dinge mit ähnlicher Substanz oder themati-
Wörter in unterschiedlichen Sprachzusammenhängen wie- scher Verwandtschaft („Taxonomie-Constraint“). So nehmen
derzuerkennen. Zeitgleich ist ein erstes Wortverständnis zu Kinder an, dass sich das Wort „HUND“ auch auf ande-
beobachten (vgl. Weinert 2011). re Vierbeiner, nicht aber auf Felle oder den Knochen, an
dem ein Hund nagt, bezieht. Des Weiteren erkennen sie
(„Disjunktions-Constraint“), dass ein neues Wort bei einem
bereits benannten Objekt (z. B. „HUND“) vermutlich einen
14.1.2 Wortschatzentwicklung
Teil des betreffenden Gegenstands, z. B. die Schnauze, meint
(„Disjunktions-Constraint“) (Markman 1991). Und schließ-
Wenn nach einer Phase lautlicher Vokalisationen (Gurren, lich nutzen Kinder schon im zweiten Lebensjahr innersprach-
Lachen, Lallen) mit ungefähr 12 Monaten die ersten Wörter liche Hinweise, z. B. Satzrahmen und Wortart, um auf die
gesprochen werden, sind diese zunächst noch eng auf spezi- Bedeutung eines neuen Wortes zu schließen (vgl. Weinert
fische Kontexte (z. B. Begrüßungen) bezogen. Mit ungefähr 2011).
18 Monaten können die meisten Kinder ungefähr 50 Wörter
aktiv produzieren, verstehen aber bereits ca. 200 Wörter. Ab
diesem Zeitpunkt nimmt die Geschwindigkeit des Wortler-
14.1.3 Entwicklung grammatikalischer
nens deutlich zu (Wortschatzspurt). Kinder erschließen von
da an oft schon nach einmaligem Hören eines neuen Wor- Fähigkeiten und Fertigkeiten
tes eine noch vorläufige Bedeutung desselben. Dabei nutzen
sie eine Vielzahl von Quellen und Hinweisen, um den se- Mit dem Wortschatzspurt und dem schnellen Wortlernen
mantischen Gehalt des neuen Wortes herauszufinden. Dies in Verbindung steht auch die Bildung erster Zwei-Wort-
sind zum einen kommunikative Hinweise wie Blickrichtung Kombinationen, die allgemeine, aber auch muttersprachspe-
und Gesichtsausdruck des Interaktionspartners, zum ande- zifische Merkmale aufweisen. So werden typischerweise in
ren sind es besondere funktionsbereichsspezifische Voran- den Zwei-Wort-Sätzen von zweijährigen deutsch- oder eng-
276 Kapitel 14  Kognitiv-sprachliche Entwicklung

lischsprachig aufwachsenden Kindern grammatische Funk-


tionswörter (z. B. Artikel) und Morpheme (z. B. Pluralen- wesentlich geringere Bildungserfolge erzielen als Kinder mit
dungen) ausgelassen. Dadurch entsteht zunächst eine „tele- deutscher Muttersprache. Als eine Ursache für die bereits in
graphische“ Sprache mit Äußerungen wie z. B. „Tasse heiß“ der Grundschule im Lesen und in Mathematik beobachteten
oder „Baby trinken“, die ohne Artikel, Hilfsverben und Fle- Leistungsunterschiede wird bei beiden Gruppen die unzu-
xionen auskommt. In anderen Sprachen, wie z. B. dem Ita- reichende Beherrschung von Bildungssprache angesehen.
lienischen, werden dagegen vergleichsweise früh flektierte Nach Cummins (2000) wird zwischen Basic Interpersonal
Verbformen verwendet. Ähnlich ist es mit dem Erwerb von Communication Skills (BICS), der Umgangssprache, die im
Satzstellungen. Während von englisch- oder französischspra- täglichen Miteinander in konkreten sozialen Kontexten ver-
chig aufwachsenden Kindern in diesem Alter Subjekt-Verb- wendet wird, und Cognitive Academic Language Proficiency
Objekt-Reihenfolgen (SVO) bevorzugt werden, sind es bei (CALP), der sogenannten Bildungssprache, die Informatio-
deutschsprachigen Kindern SOV-Verbindungen (Weissen- nen in formellen Kontexten ohne Bezug auf eine konkrete
born 2000). Situation wohlgeformt und grammatikalisch verdichtet
Dabei vollzieht sich der Grammatikerwerb nicht als linea- transportiert, unterschieden. Dabei ist Bildungssprache
re Annäherung an die Erwachsenensprache, sondern weist strukturell durch bestimmte syntaktische und lexikalische
Reorganisationsprozesse und entwicklungstypische Zwi- Merkmale charakterisiert, z. B. seltenes Vokabular, lange
schengrammatiken auf, die ihren Ausdruck in sogenannten Wörter, komplexer Satzbau, Einsatz von Passiv und Kon-
„späten Fehlern“ finden. Nach einem anfänglich korrekten junktiv (Berendes, Dragon, Weinert, Heppt & Stanat 2013),
Gebrauch von grammatischen Partikeln treten sogenannte und scheint Kindern aus bildungsfernen Familien sowie
Übergeneralisierungen, z. B. der regelmäßigen Pluralbildung Kindern mit Deutsch als Zweitsprache besondere Probleme
(Männers, Tellers) oder von Vergangenheitsformen (sehte, zu bereiten (Heppt, Stanat, Dragon, Berendes & Weinert
geschwommt), auf (vgl. Weinert 2011). 2014).

14.1.4 Dekontextualisierter Gebrauch von


Sprache 14.1.5 Entwicklung metasprachlicher
Kompetenzen
Im dritten Lebensjahr nimmt die Fähigkeit, unterschiedliche
Sachverhalte in komplexeren Sätzen variabel ausdrücken zu Als wichtiger Schritt in der Sprachentwicklung wird die zu-
können, rasch zu. Mit 3 Jahren beherrschen Kinder wesentli- nehmende Gewinnung kognitiver Kontrolle über zunächst
che Spielarten einfacher Sätze. In der Folgezeit entwickelt sich automatische Prozesse betrachtet. Kinder beginnen über
14 die Kontrolle über vielschichtige Satzgefüge, (z. B. Relativ- Sprache nachzudenken (Karmiloff-Smith 1992). Eine derar-
und Temporalsätze einschließlich der verbindenden Funkti- tige „metasprachliche Fähigkeit“ (. Tab. 14.1) ist die phono-
onswörter oder Konnektoren bevor, nachdem, als, falls, seit, logische Bewusstheit (7 Kap. 28), die bereits im Vorschulalter
aber, obwohl usw.), deren Entwicklung auch im Schulalter wurzelnde und mit dem Schriftspracherwerb ausgebaute Fä-
noch nicht abgeschlossen ist. Auch der vollständige Erwerb higkeit, vom Inhalt der sprachlichen Äußerung abzusehen
von Passivkonstruktionen, die mit ungefähr 5 Jahren erstmals und die Aufmerksamkeit auf die formalen Eigenschaften der
verstanden werden, reicht noch bis in die mittlere Kindheit Sprache, z. B. Laute, zu richten (Wagner & Torgesen 1987).
hinein. Bis zum Alter von 4 Jahren entwickelt sich zunächst die pho-
Diese neuen sprachlichen Errungenschaften machen es nologische Bewusstheit im weiteren Sinn. Das bedeutet, dass
Kindern möglich, Sprache dekontextualisiert, d. h. auch ohne Kinder zunehmend in der Lage sind, Wortsegmente, z. B. Sil-
situative Einbettung, zu verarbeiten. Sprache kann zuneh- ben oder Endungen, zu beachten. Studien zur Bedeutung der
mend im Sinne von „Bildungssprache“ (vgl. Cummins 2000; phonologischen Bewusstheit für den späteren Schriftsprach-
7 Im Fokus) genutzt werden, was vor allem in schulischen erwerb zeigen, dass das Erkennen von Reimen im Alter von
Kontexten notwendig ist, wenn – auf der Basis komplexer 4 Jahren mit den späteren Lese- und Rechtschreibfertigkei-
dekontextualisierter sprachlicher Instruktionen und Texte – ten in der Grundschule zusammenhängt (Bradley & Bryant
Wissen vermittelt wird und Aufgabenstellungen zu bearbei- 1978). Vorschulkinder im Jahr vor der Einschulung beginnen
ten sind. oftmals auch die phonologische Bewusstheit im engeren Sinn
zu erwerben. Sie können nun einzelne Laute in Wörtern her-
Im Fokus: Bildungssprache
aushören oder vorgesprochene Laute zu Wörtern verbinden.
Diese Fähigkeit entwickelt sich besonders in Zusammenhang
Internationale Schulleistungsstudien wie PISA zeigen,
mit der Einführung erster Buchstaben und ist zentral für den
dass neben Kindern aus bildungsfernen Familien v. a.
Einstieg in den Schriftspracherwerb der Grundschule, wird
Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund
aber durch diesen zugleich beeinflusst (Schneider, Roth & En-
nemoser 2000).
14.2  Entwicklung von Lernen und Gedächtnis
277 14
14.1.6 Entwicklung schriftsprachlicher von Informationen, also der „eigentliche Lernvorgang“, ka-
Fähigkeiten und Fertigkeiten pazitätsbegrenzt (Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnis; Atkinson
& Shiffrin 1968; Baddeley 1986). Dabei versteht man unter
einem kognitiven Lernvorgang die dauerhafte und zeitstabi-
Weiterführende schriftsprachliche Fähigkeiten und Fertig- le Veränderung von Verhaltensmöglichkeiten und kognitiven
keiten im Umgang mit Texten im Grundschulalter setzen (Wissens-)Strukturen durch Erfahrung, Wiederholung und
an mündlichen Sprachkompetenzen an. Ausgehend von der Übung. Im Kontext der Gedächtnisentwicklung kann die
etwas vereinfachenden Sichtweise des „Simple View of Rea- Veränderung von Wissensstrukturen als Folge mehr oder we-
ding“-Modells von Gough und Tunmer (1986) entwickelt sich niger bewusster Prozesse (explizites versus implizites Lernen)
das Leseverständnis auf der Basis von mündlichen Sprach- betrachtet werden (. Tab. 14.2).
fähigkeiten – dem Hörverständnis, das auf Wortschatz und
Grammatik aufbaut – und den Lesefertigkeiten. Diese be-1 Entwicklung von frühen Lern- und
ziehen sich auf die Dekodierung geschriebener Wörter, d. h. Gedächtnisleistungen
die Übersetzung der Buchstabenfolgen in die entsprechenden Säuglinge verfügen bereits vorgeburtlich über grundlegende
Laute und Wörter. Gedächtnisfähigkeiten und erkennen beispielsweise nach der
Während sich mündliche, sprachliche Fähigkeiten in ei- Geburt eine kleine Geschichte wieder, die ihre Mutter in den
ner oder mehreren Erstsprachen ohne explizite Unterweisung letzten Schwangerschaftswochen häufig laut gelesen hat (De
im Kontakt mit Betreuungspersonen und Peers entwickeln, Casper & Spence 1986). Schon frühzeitig liegen erste kon-
werden die Lesefertigkeiten meist erst in der Schule systema- zeptuelle Wissensbestände und Unterscheidungen vor (z. B.
tisch durch Instruktion vermittelt. In den ersten Schuljahren physikalisches Wissen über Solidität von Objekten). Darü-
erwerben Kinder zunächst eine alphabetische Lesestrategie, ber hinaus erwerben Kinder vielfältiges Faktenwissen, das sie
sodass erste Wörter ausgehend von der Übersetzung ein- ausgehend von grundlegenden Begriffen oder Konzepten in
zelner Buchstaben in die entsprechenden Laute Schritt für semantischen und propositionalen Netzwerken und Schema-
Schritt erlesen werden. Durch wiederholendes Üben kommt ta zu verschiedenen Themenbereichen, auf unterschiedlichen
es allmählich zu einer Prozeduralisierung der Dekodierungs- Hierarchieebenen und mit zunehmend dichter werdenden
prozesse und es entwickelt sich Leseflüssigkeit (Lesegenau- Verbindungen abspeichern. Zudem bauen Kinder ein reiches
igkeit und Lesegeschwindigkeit). Denn erst wenn die Ent- Wissen über typische Ereignisse in Form von Skripts auf, z. B.
schlüsselungsvorgänge bei der Übersetzung von Buchstaben über den Ablauf eines Kindergeburtstags. Dabei spielt in den
in Laute automatisiert sind, entsteht freie mentale Kapazität ersten Lebensjahren das unwillkürlich arbeitende implizite
im Arbeitsgedächtnis (7 Abschn. 14.2.2) und es ist möglich, Gedächtnis und Lernen, das auch beim Spracherwerb zentral
auf den Sinn des Textes zu achten. Im Weiteren geht es für ist, eine größere Rolle. Implizite Lernmechanismen erwei-
die Entwicklung des Leseverständnisses darum, sprachlich sen sich generell als relativ altersunabhängig (Weinert 2009).
zunehmend anspruchsvolle Texte zielorientiert zu verstehen. Demgegenüber steht das willkürlich beeinflussbare explizite
Hierfür ist zusätzlich der Erwerb bildungssprachlicher Kom- Lernen und Gedächtnis, das sich der Sprache als Werkzeug
petenzen sowie kognitiver und metakognitiver Lesestrategien bedient (7 Kap. 2; . Tab. 14.2).
(7 Abschn. 14.2.3; 14.2.4) auch noch bis weit ins Jugendalter
hinein von Bedeutung (vgl. Artelt, Stanat, Schneider & Schie-1 Entwicklung von sprachlichen Lern- und
fele 2001; Streblow 2004). Gedächtnisleistungen
Im Fokus des vorliegenden Kapitels steht die Entwicklung
expliziter sprachlicher Lern- und Gedächtnisleistungen, die
14.2 Entwicklung von Lernen und Gedächtnis beim schulischen Wissenserwerb in unterschiedlichen Fä-
chern bedeutsam sind. Ausgangspunkt der Forschung zur
Die Entwicklung von Lernen und Gedächtnis sind zentra- Entwicklung des sprachlichen Gedächtnisses sind Befunde,
le Bereiche der kognitiven Entwicklung. Ihre Veränderun- die zeigen, dass explizite verbale Gedächtnisleistungen im Al-
gen im Vorschul- und Schulalter werden im Folgenden auf ter zwischen 5 und 15 Jahren, insbesondere in der Vor- und
der Grundlage des Informationsverarbeitungsansatzes aus- Grundschulzeit, stark ansteigen.
gehend von Gedächtnismodellen und unter Einbezug von Um verstehen zu können, welche Faktoren bei diesem
Aufmerksamkeitsprozessen sowie exekutiven Funktionen be- alterstypischen Zuwachs relevant sind, stellt sich die Fra-
schrieben (7 Kap. 2). ge nach zentralen Einflussgrößen auf Gedächtnisleistungen.
Grundsätzlich ist das menschliche Gedächtnis einerseits Folgende Entwicklungskomponenten der sprachbezogenen
durch die Fähigkeit zur langfristigen Speicherung einer na- Gedächtnis- oder Lernleistung werden unterschieden:
hezu unbegrenzten Fülle von Informationen im Sinne des 1. Bereichsspezifisches Wissen
Erwerbs von prozeduralem und deklarativem Wissen cha- 2. Basisprozesse der Informationsverarbeitung, Aufmerk-
rakterisiert (Langzeitgedächtnis; Atkinson & Shiffrin 1968; samkeit und exekutive Funktionen
. Tab. 14.2). Andererseits und zugleich sind die menschliche 3. Gedächtnisstrategien
Informationsverarbeitung und das kurzfristige Bereithalten 4. Metagedächtnis
278 Kapitel 14  Kognitiv-sprachliche Entwicklung

rung und Überwachung der Prozesse sowie das metakogniti-


. Tabelle 14.2 Begriffe der kognitiven (Entwicklungs-)Psychologie
ve Wissen betreffen, gliedern (vgl. Bjorklund 2012; Kail 1992;
Begriff Erläuterung Schneider & Lindenberger 2012; Siegler, Eisenberg, DeLoa-
Explizites Informationsverarbeitungsprozesse, die bewusst che & Saffran 2016).
Lernen sind, unter Kontrolle des Individuums stehen und
leicht sprachlich dargestellt werden können

Implizites Informationsverarbeitungsprozesse, die unbe- 14.2.1 Entwicklung des bereichsspezifischen


Lernen wusst ablaufen (z. B. Priming, prozedurales Wissen,
klassische und operante Konditionierung), die nur
Wissens
schwer sprachlich dargestellt werden können

Deklaratives Gedächtnis- und Wissensrepräsentationen, auf


Als Wissen werden aus kognitionspsychologischer Sicht al-
(explizites) die explizit, d. h. bewusst und intentional, unter le im Langzeitgedächtnis in Form von Wissensrepräsenta-
Gedächtnis/ Kontrolle des Individuums zugegriffen wird: seman- tionen festgehaltenen Inhalte bezeichnet. Mit Vorwissen ist
Wissen tisches Wissen (Faktenwissen), episodisches Wissen dasjenige Wissen gemeint, das vor der Verarbeitung und Spei-
(autobiographische Erfahrungen) cherung von neuem Wissen im Langzeitgedächtnis bereits
Prozedurales Gedächtnis- und Wissensrepräsentationen als Basis zur Verfügung steht und die Bearbeitung des neuen Wissens
(implizites) der Ausführung von motorischen und kognitiven bzw. gegebener Aufgaben in irgendeiner Weise tangiert (Krist
Gedächtnis/ Fertigkeiten, die dem bewussten Zugriff nur schwer 1999). Ausgehend von unterschiedlichen Modellvorstellun-
Wissen zugänglich sind
gen werden sowohl verschiedene Arten des Wissens (z. B. de-
Begriffe/ Grundbausteine der Wissensstrukturen im deklara- klarativ/explizit versus non-deklarativ/implizit; semantisch,
Konzepte tiven Langzeitgedächtnis episodisch, prozedural) als auch unterschiedliche Formen
Semantische Verknüpfung von Begriffen nach semantischer der Wissensrepräsentation (z. B. Begriffe, semantische Netz-
Netzwerke Ähnlichkeit und kategorialer Zugehörigkeit werke, propositionale Netzwerke, Schemata, Skripts, mentale
Proposi- Verknüpfung von Aussagen zu komplexen Syste-
Modelle, intuitive Theorien) sowie unterschiedliche Prozesse,
tionale men die mit der Speicherung und Vernetzung von Wissen ein-
Netzwerke hergehen (z. B. Aktivationsausbreitung, Priming; . Tab. 14.2),
differenziert.
Schemata Skelettartige Wissensstrukturen über typische Zu-
sammenhänge eines Realitätsbereichs (z. B. über
Objekte, Personen, Ereignisse, Handlungen), deren 1 Frühes Kernwissen und intuitive Theorien in zentralen
Leerstellen erfahrungsabhängig mit unterschiedli- Domänen des Weltverständnisses
chen Attributen gefüllt werden Neben bereichsspezifischen Ansätzen, die die Bedeutung des
Skripts bereichsspezifischen Wissens für kognitive Leistungen im
Schemata über Ereignisse (z. B. Ablauf eines Restau-
14 rantbesuchs, Kindergeburtstags, Schultags) Rahmen von Netzwerkmodellen der Wissensrepräsentati-
Mentale Komplexe Wissensstrukturen, die auch bildhafte on untersuchen (Expertise-Ansatz), werden in neueren wis-
Modelle Vorstellungen enthalten sensbereichsspezifischen Ansätzen der kognitiven Entwick-
lungspsychologie bereits bei Säuglingen angeborene oder
Intuitive In Theorien organisiertes frühes (angeborenes)
Theorien Wissen in wichtigen Domänen des Weltwissens
früh erworbene Wissensbestände als Kernwissen oder intui-
tive Theorien in evolutionär bedeutsamen Inhaltsbereichen
Aktivations- Aktivierung von weiteren Begriffen in einem postuliert (z. B. physikalisches, psychologisches, biologisches
ausbreitung semantischen Netzwerk, die eine semantische Ähn-
lichkeit mit einem bestimmten Begriff aufweisen
und mathematisches Wissen). Dieses Wissen erlaubt es u. a.,
frühzeitig zwischen unbelebten Objekten, Menschen und an-
(Seman- Verkürzung der Reaktionszeit bei einem Begriff deren Lebewesen (z. B. Tieren) zu unterscheiden und Quan-
tisches) durch die vorherige Aktivierung eines semantisch
titäten zu verarbeiten (7 Im Fokus: Die Entwicklung des Kardi-
Priming ähnlichen Begriffs
nalzahlkonzepts).
Metakogni- Deklaratives Wissen über verschiedene mentale So zeigt Spelke (2003) in Abgrenzung zu Piagets Postulat
tion, meta- Prozesse (z. B. Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, fehlender Objektpermanenz, dass Säuglinge bereits im ersten
kognitive Lernen, Gedächtnis, Wissen, Denken, Problemlösen)
Fähigkeiten sowie prozedurales Wissen, um diese mentalen Lebensjahr frühes physikalisches Kernwissen über die un-
Prozesse zu überwachen und zu steuern belebte materielle Welt besitzen, indem sie davon ausgehen,
dass Objekte der physikalischen Welt solide sind und sich im
Gegensatz zu Lebewesen nicht selbstinitiiert bewegen. Wäh-
Die alterstypischen Veränderungen im Gedächtnis lassen sich rend Spelke annimmt, dass die Entwicklung von Kernwissen
dabei in bereichsspezifische Veränderungen, die die Wis- in zentralen Wissensdomänen eine quantitative und quali-
sensstrukturen im Langzeitgedächtnis betreffen und in mehr tative Anreicherung darstellt, postuliert Carey (2009) eine
oder weniger bereichsspezifische oder bereichsübergreifen- Umstrukturierung theorieartig organisierter intuitiver Wis-
de Veränderungen, die die Verarbeitungs- bzw. Lernprozesse sensbestände durch konzeptuellen Wandel intuitiver Theori-
im Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnis einschließlich der Steue- en.
14.2  Entwicklung von Lernen und Gedächtnis
279 14
1 Weiterentwicklung von frühem Kernwissen als
Anreicherung sie zunächst eine analoge Mengenrepräsentation, mit deren
Quantitativ kann die alterstypische Entwicklung von be- Hilfe sie größere Anzahlen von Objekten näherungsweise
reichsspezifischem Wissen im Sinne einer Anreicherung als vergleichen. Ab 10 Monaten ist zusätzlich ein System
Zunahme der Anzahl der Begriffe, der Anzahl der Verbin- der präzisen Anzahlrepräsentation für bis zu 3 Objekte
dungen zwischen den Begriffen und als Veränderung der nachweisbar (Feigenson, Dehaene & Spelke 2004). Im
Stärke bzw. Enge dieser Verbindungen beschrieben werden. Weiteren kommt die Sprache dazu. Es entwickeln sich
Je nach Wissensgebiet kann es dabei große Unterschiede zwi- erste Zahlwörter und Kinder fangen an, die Zahlwortreihe
schen Kindern wie auch bezogen auf das einzelne Kind geben. aufzusagen und Dinge abzuzählen (Fuson 1988).
Ein Kind kann auf einem Gebiet Experte sein und ein großes Ein erstes Zahlenverständnis zeigen Kinder mit ca. 2 1/2
Fachwissen besitzen (z. B. über Dinosaurier). Auf einem an- Jahren, wenn sie erste Zahlwörter mit der entsprechenden
deren Gebiet ist es dagegen Novize, also ein Neuling, der über Anzahl von Objekten verknüpfen. Diese Fähigkeit kann mit
wenig Wissen verfügt. der „Gib-mir!“-Aufgabe geprüft werden, bei der man Kinder
Qualitativ verändert sich die Kodierung und Strukturie- auffordert, z. B. einer Puppe genau 1 Objekt zu geben. Als
rung des Wissens. Sind bei jüngeren Kindern Begriffe noch nächstes werden 2, dann 3 Objekte verlangt. An dieser
wenig vielfältig kodiert, steigt die Reichhaltigkeit mit dem Aufgabe scheitern Kinder, die sich noch auf dem „Zweier-
Alter an; einerseits durch einen größeren Vernetzungs- und Niveau“ befinden, und geben eine ganze Hand voll (Wynn
Merkmalsreichtum, andererseits dadurch, dass neben der 1990). Dass sie nicht weniger, sondern mehr Objekte geben,
bildhaften Vorstellung eines Affen oder Hundes auch die deutet dennoch auf ihr beginnendes Zahlenverständnis
zugehörigen sprachlich formulierten Merkmale oder umge- hin. Dieser Prozess erfolgt schrittweise im Sinne einer
kehrt zu sprachlichen Begriffen bildhafte Vorstellungen abge- Anreicherung bis zur Zahl 4 mit ca. 4 Jahren.
speichert werden. Autobiographisch erlebte Situationen und Dann vollzieht sich ein qualitativer Wandel. Zuvor haben
Episoden werden ebenfalls mit dem Faktenwissen verbun- Kinder das Aufsagen der Zahlwortreihe und Abzählen bis
den. Mit zunehmendem Alter verändert sich zugleich die ungefähr 10 verinnerlicht und erfasst, dass die Zahlwortreihe
Strukturierung des Wissens. Es entsteht eine hierarchische mit jedem Zahlwort um immer genau 1 Element fortschreitet
Organisation nach Oberbegriffen (z. B. Wildtier, Haustier), („NC1“-Prinzip). Ausgehend von einem Analogieschluss
prototypischen Basisbegriffen (z. B. Affe, Hund) sowie spe- sind sie nun in der Lage, dieses Prinzip (wie bei einem
zifischen Vertretern (z. B. Schimpanse, Schäferhund) (vgl. Reißverschluss) auf das Geben von größeren Anzahlen zu
7 Kap. 7). übertragen (Carey 2009). Fordert man ein ca. vierjähriges
Kind auf, der Puppe 5 oder mehr Objekte zu geben, so
1 Weiterentwicklung von intuitiven Theorien als beginnen Kinder in diesem Alter spontan abzuzählen. Damit
konzeptueller Wandel verfügen sie über ein Kardinalzahlkonzept als Grundlage der
Im Unterschied zu Spelke (2003) nimmt Carey (2009) an, weiteren mathematischen Entwicklung und können nun
dass sich ausgehend von angeborenen intuitiven Wissensbe- jede beliebige Anzahl von Objekten exakt durch Abzählen
ständen (intuitive Theorien; 7 Definitionen) ein Theoriewan- bestimmen (Sarnecka & Carey 2008).
del im Sinne einer qualitativen konzeptuellen Umstruktu-
rierung miteinander verknüpfter Wissensbestände vollzieht
– beispielsweise hinsichtlich des intuitiven psychologischen1 Bedeutung und Wirkung des bereichsspezifischen
Wissens (Theory of Mind, 7 Kap. 13) oder hinsichtlich der Vor- Vorwissens (Expertise-Ansatz)
stellungen, die jüngere Kinder von der Erde besitzen. Sie ha- Neben der Beschreibung der alterstypischen Wissensent-
ben z. B. die wahrnehmungsbasierte Vorstellung einer flachen wicklung kann zusätzlich gefragt werden, wie wichtig das
Erde mit einem Himmel darüber und können nicht verste- im Langzeitgedächtnis gespeicherte inhaltliche Vorwissen
hen, dass die Erde eine Kugelform hat. Anfangs adaptieren im Vergleich zu anderen Entwicklungskomponenten für die
und verzerren sie diese Information, und befürchten etwa, Lern- und Gedächtnisleistung ist. Hierzu vergleicht man die
dass Menschen auf der anderen Seite der Erde herunterfallen. Bedeutung des bereichsspezifischen Vorwissens für die Ge-
Erst wenn ältere Kinder mehr Wissen z. B. über die Erdan- dächtnisleistung beispielsweise mit der Bedeutung der Ar-
ziehungskraft aufgebaut haben, können sie sich die Erde als beitsgedächtniskapazität, die mit der Messung der Gedächt-
kugelförmigen Planeten im Weltall vorstellen (Vosniadou & nisspanne erfasst werden kann (7 Studie).
Brewer 1992). Auch die Entwicklung des Kardinalzahlbegriffs
als Grundlage der späteren Rechenleistung kann als konzep- Studie: Die Schach-Studie (Chi 1978)
tueller Wandel beschrieben werden (vgl. Carey 2009; 7 Im Um den Einfluss des mit dem Alter anwachsenden Wissens im
Fokus). Langzeitgedächtnis von jenem der Arbeitsgedächtniskapazität
auf die Gedächtnisleistung zu trennen, wurden auf der Grund-
Im Fokus: Die Entwicklung des Kardinalzahlkonzepts lage eines Experten-Novizen-Experiments von Chi (1978) zwei
Extremgruppen verglichen: zehnjährige Kinder, die Schachex-
Säuglinge starten mit zwei quantitativen Verarbeitungsme- perten waren, und Erwachsene, die man als Novizen auf diesem
chanismen. Als grundlegenden „Zahlensinn“ nutzen Wissensgebiet bezeichnen konnte. Beide Gruppen mussten
zwei Gedächtnisaufgaben bearbeiten: zum einen sollten sie ei-
280 Kapitel 14  Kognitiv-sprachliche Entwicklung

ne sinnvolle Schachaufstellung aus der Mitte eines Spiels aus ke 1997). Bei neuartigen Problemlöseaufgaben mit strategi-
dem Gedächtnis nachstellen, zum anderen zur Messung der scher Komponente (z. B. Textaufgaben in Mathematik) ist
funktionalen Arbeitsgedächtniskapazität vorgegebene Ziffern- das Abschneiden allerdings durch Vorwissen und allgemein-
folgen unmittelbar wiedergeben. kognitive Fähigkeiten bedingt, so dass auch eine höhere In-
Ergebnis dieser Studie war, dass die Kinder-Experten – ge- telligenz zu einem effizienten Wissensaufbau beitragen kann.
gen den alterstypischen Entwicklungstrend – beim Nachstellen
bzw. Erinnern der Schachaufstellung besser abschnitten als die
Erwachsenen, obwohl sie in der Aufgabe zum Zahlennachspre- 14.2.2 Entwicklung von Basisprozessen der
chen weniger Zahlen reproduzieren konnten, d. h. eine gerin- Informationsverarbeitung,
gere funktionale Arbeitsgedächtniskapazität aufwiesen.
Aufmerksamkeit und exekutiven
Doch worauf können die besseren Lern- und Gedächt- Funktionen
nisleistungen der Kinderexperten zurückgeführt werden? Bei
der Analyse der kognitiven Verarbeitungsprozesse beim Ler- Neben Steigerungen im bereichsspezifischen inhaltlichen
nen und Erinnern der Schachaufstellungen konnte gezeigt Wissen finden sich vom Vorschul- über das Grundschul-
werden, dass die Kinderexperten im Schach auf der Ba- bis zum Jugendalter auch Entwicklungsveränderungen in
sis ihres Schach-Vorwissens sinnhafte Konstellationen von mehr oder weniger bereichsspezifischen oder bereichsüber-
Schachfiguren zu sogenannten „Chunks“, also größeren Sinn- greifenden Gedächtnisprozessen. Darunter fallen Verände-
einheiten, zusammengefasst hatten. Auf diese Weise konnten rungen in sogenannten Basisprozessen der Informationsver-
sie trotz der begrenzten Speicherkapazität ihres Arbeitsge- arbeitung, (selektiven) Aufmerksamkeitsprozessen und exe-
dächtnisses mehr Figuren auf einmal verarbeiten und abspei- kutiven Funktionen, auf die im Folgenden eingegangen wird,
chern als Laien. Zudem dürfte das Vorwissen die Basispro- sowie in Gedächtnisstrategien und im Metagedächtnis.
zesse der Informationsverarbeitung beschleunigt haben, hier Ausgehend von unterschiedlichen Gedächtnismodellen
speziell den Zugriff und Abruf des Vorwissens über Schach- (z. B. Atkinson & Shiffrin 1968; Baddeley 1986; Case 1985;
aufstellungen aus dem Langzeitgedächtnis. Schon jetzt sei Cowan 1995) werden hier grundlegende Effizienzsteigerun-
vorweggenommen, dass Vorwissen auch die Kategorisierung gen der Informationsverarbeitung im Kurzzeit- und Arbeits-
von Problemen, die Nutzung von Strategien und die Überwa- gedächtnis in den Blick genommen. An diesen sind verschie-
chung und Steuerung der Informationsverarbeitung erleich- dene basale Verarbeitungsprozesse beteiligt, z. B. das Wie-
tert und teilweise erst ermöglicht. dererkennen, Verknüpfen und Abrufen von Information. Ein
weiterer Basisprozess ist das Enkodieren, bei dem spezifi-
1 Bereichsspezifisches Vorwissen und sche Aspekte oder Merkmale von Objekten und Ereignissen,
bereichsübergreifende allgemein-kognitive die vorher mit Aufmerksamkeit bedacht wurden, zur Weiter-
14 Fähigkeiten verarbeitung ins Arbeitsgedächtnis aufgenommen werden.
Die berichteten Befunde legen nahe, dass Lern- und Gedächt- Zudem werden (selektive) Aufmerksamkeitsprozesse sowie
nisleistungen vor allem durch das bereichsspezifische Vor- exekutive Funktionen und ihre Veränderungen analysiert.
wissen und weniger durch allgemein-kognitive Fähigkeiten Letztere umfassen ein breites Spektrum unterschiedlicher
bestimmt werden. Dies gilt in vergleichsweise höherem Maße grundlegender Prozesse der kognitiven Verhaltenskontrol-
für reproduktive Lernaufgaben oder einfache Schlussfolge- le, die an der Überwachung und Regulation von kognitiven
rungen, wie eine Studie, bei der ein Fußballtext vorgegeben Vorgängen sowie an der Handlungsplanung und der Hem-
wurde, zeigt. Ganz unabhängig von ihrer allgemeinen Lernfä- mung störender Handlungsimpulse beteiligt sind. Die exe-
higkeit (Intelligenz) waren die Schülerinnen und Schüler, die kutiven Funktionen – zu denen die Steuerungs- und Über-
ein großes Vorwissen über Fußball hatten, besser beim Nach- wachungsfunktionen des Arbeitsgedächtnisses, die kognitive
erzählen und Beantworten von Fragen zu einem Fußballtext Flexibilität bei Aufgabenwechseln sowie die Fähigkeit zur
als allgemein befähigtere Schülerinnen und Schüler mit ge- Hemmung automatisierter Handlungstendenzen gehören –
ringem Fußballwissen (Schneider, Körkel & Weinert 1989). sind für selbstreguliertes Verhalten und damit auch für Ent-
Zudem ist die Bedeutung des bereichsspezifischen Vor- wicklungsveränderungen in schulischen Lernprozessen rele-
wissens in den schulischen Fächern besonders groß, in de- vant. So haben beispielsweise Schülerinnen und Schüler mit
nen Wissen auf Vorwissen aufbaut, z. B. in Fremdsprachen Schwierigkeiten in den exekutiven Funktionen Probleme da-
und Mathematik. Dies konnte in der SCHOLASTIK-Studie mit, ihre Lernaufgaben auf ein Ziel hin zu planen, sie in der
für die Bedeutung von allgemein-kognitiver Befähigung (In- richtigen Reihenfolge und vollständig zu erledigen, sich dabei
telligenz) und Vorwissen in Mathematik für die weitere nicht ablenken zu lassen und/oder flexibel bei neuen Aufga-
schulische Leistungsentwicklung nachgewiesen werden. Die benstellungen zu reagieren. Die exekutiven Funktionen ent-
mathematischen Leistungen wurden sogar schon ausgehend wickeln sich bereits im Vorschulalter. Es treten jedoch noch
vom Vorschulalter in höherem Maße durch das bereichsspe- Veränderungen bis ins Jugendalter auf, die z. B. mit der weite-
zifische mathematische Vorwissen und weniger stark durch ren Entwicklung selbstregulatorischer Kompetenzen zusam-
die allgemeine Intelligenz vorhergesagt (Weinert & Helm- menhängen (vgl. Kray & Schneider 2012; 7 Kap. 15).
14.2  Entwicklung von Lernen und Gedächtnis
281 14
1 Entwicklung der funktionalen Funktionen und der selektiven Aufmerksamkeit von beson-
Arbeitsgedächtniskapazität derer Bedeutung, die wichtigen Entwicklungsveränderungen
Der Begriff Arbeitsgedächtniskapazität kann sich einerseits unterliegen.
auf die strukturelle Größe, also den zur Speicherung verfüg-
baren Raum, andererseits auf die grundlegende Effizienz oder
Leistungsfähigkeit des Arbeitsgedächtnisses beziehen (funk-1 Entwicklung und Messung von selektiver
tionale Arbeitsgedächtniskapazität). Aufmerksamkeit und exekutiven Funktionen
Während die strukturelle Kapazität nach Auffassung vie- Bei der Bearbeitung von komplexen Arbeitsgedächtnisauf-
ler Autoren (z. B. Baddeley 1986; Case 1985) nicht mit dem gaben muss die Aufmerksamkeit auf relevante Aspekte der
Alter zunimmt, zeigen sich Entwicklungsveränderungen in Information gelenkt und irrelevante Information ausgeblen-
der grundlegenden Effizienz der Prozesse des Arbeitsge- det werden. Diese Fähigkeit zur selektiven Aufmerksamkeit
dächtnisses, die empirisch über die Messung der Gedächt- entwickelt sich im Laufe des Kindesalters. Die Entwicklungs-
nisspanne erfasst wird. Dabei werden verschiedene Spannen- veränderungen sind von Hagen (1967) bei Lernaufgaben mit
maße unterschieden: ein einfaches Maß zur Erfassung der der „Central-Incidental Task“ untersucht worden. Bei diesem
grundlegenden Effizienz des verbalen Kurzzeitgedächtnis- Aufgabentyp wird die Information auf dem oberen Teil einer
ses (Ziffernspanne) und komplexe Spannenmaße. In beiden Bildkarte (z. B. ein Tier) als relevant (central), die Information
Gedächtnisspannenmaßen treten sowohl deutliche altersty- auf dem unteren Teil der Bildkarte (z. B. ein Haushaltsgerät)
pische als auch substanzielle interindividuelle Unterschiede als irrelevant (incidental) erklärt. Im Hinblick auf die Wieder-
zwischen Personen gleichen Alters auf. gabeleistung zeigt sich, dass schon bei jüngeren Kindern die
Fähigkeit zur Fokussierung der relevanten Information kon-
2Messung der Kapazität des verbalen tinuierlich mit dem Alter zunimmt. Etwas später und bis weit
Kurzzeitgedächtnisses ins Jugendalter hinein entwickelt sich zudem die Fähigkeit,
Bei der Messung der Kapazität des verbalen Kurzzeitge- die Aufmerksamkeit bei den irrelevanten Informationen ge-
dächtnisses (Atkinson & Shiffrin 1968) bzw. der phonolo- zielt zu hemmen.
gischen Schleife des Arbeitsgedächtnisses (Baddeley 1986) Ähnliche Evidenzen ergeben sich, wenn die Entwicklung
geht es um die Erfassung der Speicherfunktion des auditiv- exekutiver Funktionen mit Aufgaben zur Hemmung automa-
phonologischen Kurzzeitspeichers, der durch eine begrenzte tisierter Handlungstendenzen (Inhibition) sowie zum Wech-
Kapazität und Haltedauer gekennzeichnet ist. Dabei werden sel der Aufmerksamkeit (kognitive Flexibilität) erfasst wird.
zunehmend längere Ziffern-, Buchstaben- oder Wortfolgen Eine Aufgabe zur Erfassung der Inhibition im Schulal-
im Ein-Sekunden-Takt vorgegeben, die jeweils unmittelbar in ter ist die Go-/No-Go-Aufgabe. Hierbei müssen Kinder am
der gleichen Reihenfolge wiedergegeben werden müssen. Als Computer z. B. bei Konsonanten jeweils eine Taste drücken.
alterstypischen Entwicklungstrend findet man eine allmäh- Nur bei einem bestimmten Konsonanten (z. B. „M“) darf
liche Steigerung der verbalen Speicherkapazität von durch- nicht gedrückt werden. Dabei folgen die Buchstaben schnell
schnittlich 2 Ziffern mit 2 Jahren, auf 4 Ziffern mit 5 Jahren, 5 aufeinander und der Konsonant „M“ tritt selten auf. Befunde
Ziffern mit 7 Jahren und ungefähr 7 Ziffern (˙2) im Erwach- weisen darauf hin, dass die Hemmung bereits initiierter Re-
senenalter (Dempster 1981). aktionen vom Kindes- bis ins Jugendalter deutlich zunimmt.
Ähnliche Entwicklungstrends lassen sich auch für Auf-
2Messung der Arbeitsgedächtniskapazität durch gaben zur Erfassung der kognitiven Flexibilität nachweisen.
komplexe Spannenmaße Diese Fähigkeit kann bei jüngeren Kindern mit dem dimen-
Bei der Messung der komplexen Arbeitsgedächtniskapazität sionalen Kartensortiertest (Dimensional Change Card Sort
werden die Speicher- und Verarbeitungsfunktion des Ar- Test [DCCS]; Zelazo 2006) geprüft werden. Den Kindern wer-
beitsgedächtnisses gemeinsam geprüft. Zur Erfassung werden den Karten, auf denen z. B. ein rotes Auto und ein blauer
komplexe Gedächtnisspannenmaße eingesetzt (z. B. Ziffern- Apfel zu sehen sind, vorgelegt. Zunächst bittet man sie, die
spannenaufgaben, bei denen die Ziffern rückwärts, also in Karten nach der Farbe (rot versus blau) zu sortieren. Nach ei-
umgekehrter Abfolge wiederzugeben sind, oder Satzspannen- niger Zeit bekommen sie den Auftrag, nach der Form (Auto
aufgaben, bei denen jeweils das letzte Wort eines jeden Satzes versus Apfel) zu ordnen. Hier fällt auf, dass Kinder unter 3
in einer Serie von Sätzen zu memorieren ist). Bei diesen sol- Jahren weiter nach der alten Regel sortieren, obwohl sie die
len nicht nur seriell dargebotene Informationen (z. B. Wörter) neue Regel verstanden haben. Aber auch Kinder bis 5 Jahre
im Arbeitsgedächtnis gehalten werden, sondern es müssen haben noch Schwierigkeiten mit der Umsetzung der neuen
zusätzlich anspruchsvolle, kapazitätsrelevante Verarbeitungs- Regel und fallen immer wieder in das alte Sortiermuster zu-
prozesse (z. B. Verifikation von Sätzen) durchgeführt werden rück, d. h. sie können ihre Aufmerksamkeit nicht zwischen
(vgl. Artelt & Wirth 2014). den zwei Kategorien wechseln. Insgesamt verbessert sich die
Für beide Spannenmaße gilt, wenngleich in unterschiedli- grundlegende Fähigkeit zum Aufmerksamkeitswechsel aber
chem Maß, dass sie sowohl mehr oder weniger komplexe ba- früh in der mittleren Kindheit. An den geringer werdenden
sale Verarbeitungsprozesse (z. B. Wiedererkennung) wie auch Wechselkosten, die sich in verlangsamten Reaktionszeiten
Speicherleistungen widerspiegeln. Für komplexe Spannen- nach dem Regelwechsel zeigen, kann man aber auch noch bei
aufgaben sind dabei Fähigkeiten im Bereich der exekutiven älteren Kindern die kognitive Belastung durch die Wechsel-
282 Kapitel 14  Kognitiv-sprachliche Entwicklung

aufgabe ablesen und Weiterentwicklungen in der kognitiven derholungsaktivitäten der Kinder beim Merken der Wör-
Flexibilität feststellen. ter in der Behaltensphase hinwiesen. Diejenigen Kinder,
die Wiederholungsstrategien eingesetzt hatten, zeigten zu-
gleich eine vergleichsweise bessere Merkleistung. Diese Stu-
die belegt, dass die Häufigkeit des spontanen Einsatzes
14.2.3 Erwerb von Gedächtnisstrategien von sprachlichen Wiederholungsaktivitäten alterstypisch zu-
nimmt und zudem mit einer besseren Gedächtnisleistung
Spannenaufgaben zur Messung von funktionalen Kapazitäts- einhergeht.
veränderungen im Kurz- und Arbeitsgedächtnis sind relativ Es genügt jedoch nicht, die Quantität des Strategieeinsat-
„strategiefrei“ zu bewältigen: Aufgrund der schnellen Darbie- zes zu beobachten. Entscheidend für die Behaltensleistung
tungsrate der einzelnen Items ist der Einsatz von gezielt ge- ist vor allem auch die Qualität der Wiederholungsprozesse.
steuerten Gedächtnisstrategien nur sehr eingeschränkt mög- Dies belegt u. a. eine Studie von Ornstein, Naus und Stone
lich. Die Leistung in der Mehrzahl von Lern- und Gedächt- (1977): 7- und 11-jährige Kinder wurden aufgefordert, ih-
nisaufgaben wird jedoch entscheidend durch die Nutzung re Wiederholungsaktivitäten beim Erinnern einer Wortrei-
von mehr oder weniger bereichsspezifischen oder bereichs- he (z. B. Katze, Maus, Käse usw.) während der Merkphase
übergreifenden Strategien als weitere wichtige Komponente laut durchzuführen. Bei der Beobachtung der sprachlichen
der Gedächtnisentwicklung beeinflusst. Wiederholungsaktivitäten stellte sich heraus, dass die jünge-
Nach Flavell (1970) versteht man unter Gedächtnisstra- ren Kinder nur jeweils jedes einzelne Wort der Wortreihe
tegien bzw. kognitiven Lernstrategien potenziell bewusste, (z. B. Katze, Katze, Katze; anschließend Maus, Maus, Maus
intentionale kognitive oder Verhaltensaktivitäten, die aktiv usw.) wiederholten, während die älteren Kinder „kumulativ“
von den Lernenden zur Erreichung von Gedächtnis- bzw. mehrere Wörter in die Memorierschleifen einbezogen (z. B.
Lernzielen eingesetzt werden. Katze, Maus, Käse usw.). Die Kinder, die entsprechende Me-
Man unterscheidet verschiedene Arten von Gedächtnis- morierschleifen gebildet hatten, wiesen im Vergleich zu den
strategien: einfache Wiederholungsstrategien im Sinne des Kindern, die lediglich einzelne Wörter wiederholt hatten, ei-
(Auswendig-)Lernens durch wiederholtes Aufsagen oder Me- ne bessere Merkleistung auf. Dieser Befund zeigt, dass sich
morieren, strukturierende Organisationsstrategien, z. B. Ler- neben der Quantität auch die Qualität des sprachlichen Stra-
nen durch reduzierendes Sortieren und Ordnen nach Ober- tegieeinsatzes alterstypisch verbessert.
begriffen, und tiefergehende Elaborationsstrategien, z. B. Ler-
nen durch Stellen von Fragen an sich selbst, Ausdenken1 Entwicklung von Organisationsstrategien
von Beispielen, kritisches Vergleichen von sich scheinbar wi- Alterstypische Entwicklungsunterschiede im Einsatz von Or-
dersprechenden Informationen und Entwickeln von bildhaf- ganisationsstrategien wurden vor allem mit Hilfe von Merk-
ten Vorstellungen zur Verbesserung des Verständnisses von aufgaben erfasst, in denen Bilder oder Begriffe aus vertrauten
14 sprachlicher Information und umgekehrt, wobei neues Wis- Kategorien erinnert werden sollten. Hier hatten jüngere und
sen mit dem Vorwissen in Beziehung gesetzt wird. Daneben ältere Grundschulkinder die Aufgabe, Bildkarten mit ver-
entwickeln sich komplexe sowie fachspezifische Lernstrategi- schiedenen Tieren, Blumen, Werkzeugen und Früchten zu
en, z. B. Strategien der Textverarbeitung. lernen. Man beobachtete das Vorgehen und stellte dabei fest,
Obgleich die Mehrzahl entsprechender Strategien im dass 5- bis 7-jährige Kinder die Bildkarten beim Lernen nicht
Schulalter erworben wird, zeigen Kinder bereits im frühen nach Kategorien und Oberbegriffen ordneten. Entsprechend
Vorschulalter einfache nonverbale Gedächtnisstrategien, auf gingen sie auch beim Gedächtnisabruf unsystematisch vor
die hier nicht eingegangen wird. Im Folgenden werden wich- und konnten nur wenige Begriffe wiedergeben. Erst 10- bis
tige Strategien beim sprachbezogenen Lernen und ihre alters- 11-Jährige organisierten das Material beim Lernen und orien-
typischen Entwicklungsveränderungen in Nutzungshäufig- tierten sich auch beim Abruf systematisch an Oberbegriffen.
keit, Qualität und Effizienz beschrieben. So konnten sie eine wesentlich größere Anzahl von Begriffen
speichern und aus dem Langzeitgedächtnis abrufen (Moely,
1 Entwicklung von Wiederholungsstrategien Olson, Halwes & Flavell 1969).
Alterstypische Entwicklungsunterschiede in der Anwendung Insgesamt zeigen die Befunde, dass Organisationsstrate-
von Gedächtnisstrategien können exemplarisch am Beispiel gien in Zusammenhang mit der Zunahme des sprachbasier-
von einfachen Wiederholungsstrategien deutlich gemacht ten bereichsspezifischen inhaltlichen und des zunehmenden
werden. In einer klassischen Studie von Flavell, Beach und (metakognitiven) Wissens über Strategien und ihre Nützlich-
Chinsky (1966) sollten sich Kindergartenkinder, Erst- und keit von älteren Grundschulkindern (7 Abschn. 14.2.4) immer
Drittklässler Bildkärtchen merken. Dazu hatten sie einen häufiger spontan und gezielt eingesetzt werden. Allerdings
Weltraumhelm auf. Nachdem sich die Kinder die Kärtchen können auch schon Vorschulkinder bei eng miteinander as-
angesehen hatten, wurde das Visier des Helms für 15 Se- soziierten Begriffen entsprechende Zuordnungen behaltens-
kunden heruntergeklappt. Beobachtet wurde, ob die Kinder wirksam nutzen, wenn sie hierzu angeregt werden, oder sogar
während der Merkphase ihre Lippen bewegten. Bei 10 % nicht-bewusst auf Basis ihres Vorwissens, wenn Begriffe im
der Vorschulkinder, 60 % der Zweitklässler und 85 % der Wissensnetzwerk eng beieinander liegen und durch die Ak-
Fünftklässler zeigten sich Lippenbewegungen, die auf Wie- tivierung eines Begriffs der andere automatisch mitaktiviert
14.2  Entwicklung von Lernen und Gedächtnis
283 14
wird (Priming; . Tab. 14.2) (vgl. Bjorklund, Dukes & Brown wenn es ansatzweise gelingt, eine Strategie einzuüben, ent-
2009). steht für Kinder in diesem Stadium kein Leistungsvorteil.
Erklärt wird dies mit einer noch zu geringen Geschwindigkeit
1 Entwicklung von Elaborationsstrategien der Informationsverarbeitung und der damit zusammenhän-
Von Elaborationsstrategien spricht man, wenn Lernende die genden mangelnden Effizienz der Verarbeitungsprozesse im
Lerninhalte aktiv mit der eigenen Wissensstruktur verknüp- Arbeitsgedächtnis. Eine Ausführung von (zusätzlichen) stra-
fen. Dabei können Elaborationen notwendig sein, um beim tegischen Operationen beim Lernen benötigt noch zu viel
verständnisbezogenen Lesen die impliziten, aber nicht ex- „mentalen Platz“, der aufgrund von mangelndem Wissen
plizierten Informationen und Zusammenhänge eines Textes sowie der geringen Automatisierung von basalen Verarbei-
zu füllen, oder sie können fakultativ über den Lernstoff hi- tungsprozessen noch nicht verfügbar ist. Bezogen auf kom-
nausgehen, indem zusätzliche Verarbeitungsprozesse – bei- plexe Strategien können sich deshalb auch deutlich ältere
spielsweise tiefergehende Fragen – generiert werden. Zudem Kinder noch im Mediationsdefizit befinden.
muss zwischen Elaborationsstrategien bei bedeutungshalti-
gem Lernmaterial (z. B. Lernen aus sinnhaften Texten) und 2Produktionsdefizit
bedeutungsarmem Lernmaterial (z. B. Lernen von Listen und Vorschulkinder, Kinder in den ersten Schulklassen und auch
Aufzählungen) unterschieden werden. ältere Kinder und Jugendliche mit Lernschwierigkeiten set-
Während schon Vorschulkinder verständnisnotwendige zen viele verbale und elaborative Gedächtnisstrategien eben-
Folgerungen automatisch ziehen, wenn sie vom Text hinrei- falls nicht spontan (d. h. nicht von sich aus) ein. Sie profitieren
chend nahegelegt werden (Weinert 1988; Wimmer 1982), zei- jedoch, anders als die jüngeren Kinder, von der Vermittlung
gen vorliegende Studien, dass sich die Auftretenswahrschein- der jeweiligen Strategie mit Blick auf ihre Lernleistung. Dieses
lichkeit von fakultativen Elaborationsstrategien bei sinnhaf- „Produktionsdefizit“ wird insbesondere mit einer zu geringen
tem Lernmaterial (z. B. Schlussfolgerungen, die explizit über „Metakognition“ erklärt: Möglicherweise kennen die Kinder
den Text hinausgehen) erst im Jugendalter erhöht, während die Strategie und/oder ihren Einsatzbereich nicht (fehlen-
jüngere Kinder noch wenig spontane Elaborationsaktivitäten des Wissen über eine Strategie) oder sie haben noch nicht
(z. B. selbst gestellte Fragen an den Text) einsetzen. Grund- erkannt, dass die Strategie ihnen nutzt (Überwachungsein-
schulkinder konnten jedoch durch Erweiterungen eines Texts schränkung bzw. fehlerhafte Ursachenerklärung (Attributi-
oder durch geeignete Fragen zu derartigen Schlussfolgerun- on) der Leistungen nach Strategieeinsatz). Schließlich kann es
gen angeregt werden (Wagner & Rohwer 1981; Wimmer auch sein, dass sie noch zu geringe Steuerungskompetenzen
1982). Dies ist ein Beleg dafür, dass keine prinzipielle Unfä- beim Einsatz von Strategien aufweisen. Sie bleiben deshalb
higkeit, sondern zunächst ein sogenanntes „Produktionsdefi- vergleichsweise passive Lernende, die Lerninhalte nicht von
zit“ vorliegt (vgl. nächster Abschnitt). sich aus aktiv und zielgerichtet verarbeiten. Dies ist zu un-
Mnemotechniken oder Merkstrategien im Sinne von terscheiden von ineffizient Lernenden, die vergleichsweise
komplexen Elaborationsstrategien bei sinnarmem Lernmate- einfache, ineffiziente Strategien einsetzen (vgl. Flavell 1970).
rial werden ebenfalls erst im Jugendalter gezeigt, wenn z. B.
die Schlüsselwortmethode im Fremdsprachenunterricht der 2Beginn der spontanen Nutzung und
Schule als spezifische Merktechnik vermittelt und eingeübt Nutzungsineffizienz
wird. Bei dieser Methode versucht man als Eselsbrücke eine Nachdem Kinder begonnen haben, eine Strategie spontan zu
schwierig zu merkende Vokabel mit einer bildhaften Vor- nutzen, ist hin und wieder ein Übergangsphänomen zu beob-
stellung und einem ähnlich klingenden deutschen Wort zu achten: die sogenannte „Nutzungsineffizienz“. Trotz Einsatz
verknüpfen, um die Merkleistung für die Vokabel zu erhöhen. der Strategie verbessert sich die Gedächtnisleistung vorerst
nicht, da die Anwendung der neuen Strategie noch zu viel
1 Etappen des Strategieerwerbs mentale Kapazität im Arbeitsgedächtnis bindet. Erst wenn
Grundsätzlich steht die Entwicklung von Gedächtnisstrategi- Gedächtnisstrategien im Sinne des prozeduralen Wissens
en bei Kindern und Jugendlichen in Zusammenhang mit der ausreichend geübt und automatisiert sind, kann ein Effekt auf
schulischen Instruktion in unterschiedlichen Fächern und die Lernleistung erreicht werden.
Wissensgebieten.
Dabei ist der Strategieerwerb durch typische Entwick- 2Erwerb einer flexiblen, effizienten Strategienutzung
lungsdefizite gekennzeichnet (vgl. Flavell 1970). Unterschie- Die spontane Nutzung einer Strategie erfolgt zunächst in
den werden vier Etappen: (1) Mediationsdefizit, (2) Produk- Situationen, die dies nahelegen oder erleichtern (z. B. Ein-
tionsdefizit, (3) Beginn der spontanen Nutzung, die teilweise satz der Wiederholungsstrategie bei sichtbaren Items; Ver-
zunächst mit einer geringen Effizienz, der „Nutzungsineffi- wendung der Organisationsstrategie bei typischen Kategorie-
zienz“, verbunden ist sowie schließlich (4) der Erwerb einer Exemplaren; Elaborationsstrategien bei sehr gutem Wissen
flexiblen, effizienten Strategienutzung. in einem entsprechenden Bereich). Schrittweise löst sich die
Strategienutzung von solchen Rahmenbedingungen. Sie wird
2Mediationsdefizit automatisierter, so dass sie weniger Kapazität benötigt, und
Bei Kindern im jüngeren Kindergartenalter fällt auf, dass insbesondere auch flexibler, so dass sie zunehmend besser an
sie verbale Strategien noch nicht spontan einsetzen. Selbst Aufgabenstellungen angepasst werden kann (vgl. Bjorklund
284 Kapitel 14  Kognitiv-sprachliche Entwicklung

Metagedächtnis

deklarativ prozedural

Personenwissen
Aufgabenwissen
Überwachungsprozesse Steuerungs- und Regulationsprozesse
Strategiewissen
u. a. Leistungsprognosen, Leistungsein- u. a. Lernzeitaufteilung, Strategieauswahl
schätzung, Verständnisüberwachung und Strategieanpassung an Aufgaben

. Abb. 14.1 Komponenten des Metagedächtnisses

et al. 2009). Letzteres steht auch in Verbindung mit der Ent- takognitives Wissen und prozedurale metakognitive Strategi-
wicklung exekutiver Funktionen (7 Abschn. 14.2.2) en (. Abb. 14.1).
Insgesamt zeigen die erläuterten alterstypischen Entwick-
lungsveränderungen in der Anwendung von Gedächtnisstra-
tegien, dass gerade auch strategische Prozesse der Informati- 2Deklaratives Metagedächtnis
onsverarbeitung zentral für den erfolgreichen Wissenserwerb Eine Teilkomponente des metakognitiven deklarativen Wis-
sind. Dabei wird deutlich, dass vor allem das im Grund- sens über das Gedächtnis ist das Personenwissen, d.h. Wissen
schulalter – bezogen auf die Mehrzahl effizienter Lern- und darüber, was das eigene Gedächtnis kennzeichnet und von
Gedächtnisstrategien – noch vorhandene Produktionsdefizit dem anderer Personen unterscheidet (z. B. Wissen, wo eigene
sowie die teilweise anfänglich vorhandene Nutzungsineffizi- Schwächen und Stärken bei bestimmten Gedächtnisaufgaben
enz einem spontanen und effektiven Strategieeinsatz im Wege liegen). Die zweite Teilkomponente ist das Aufgabenwissen,
stehen. Beim Erwerb von Strategien kommt der Schule eine d. h. Wissen darüber, welche Merkmale eine Aufgabe leicht
große Bedeutung zu (vgl. Bjorklund 2012; Kail 1992). Es ist oder schwierig machen. Die dritte Teilkomponente ist das
wichtig als Lehrperson zu berücksichtigen, dass eine effek- Strategiewissen, d. h. Wissen über verschiedene Lern- und
tive Verarbeitung und Speicherung von Wissensinhalten im Gedächtnisstrategien sowie über deren Nutzen und den Ein-
Stadium des Produktionsdefizits bei den Schülerinnen und satzbereich (Flavell & Wellman 1977).
Schülern oftmals „induziert“, d. h. veranlasst werden muss.
Viele Kinder erwerben zwar einfache Wiederholungs- und
2Prozedurales Metagedächtnis
Organisationsstrategien durch die Auseinandersetzung mit
Die prozedurale Metakognition oder „metakognitive Lern-
14 verschiedenen Aufgaben mehr oder weniger nebenbei. Für
strategien“ werden unterteilt in Aktivitäten der Planung (z. B.
komplexere Gedächtnisstrategien (z. B. tiefergehende Elabo-
Wie gehe ich bei der Bearbeitung einer Aufgabe vor? Welche
rationsstrategien und fachspezifische Lernstrategien) und für
Strategien setze ich in welcher Reihenfolge ein?), der Überwa-
die Entwicklung selbstgesteuerten Lernens ist es darüber
chung (z. B. Passt die ausgewählte Strategie zur Lernaufgabe?
hinaus jedoch notwendig, geeignete Strategien explizit zu
Wird bei der Aufgabenbearbeitung mit Hilfe der Strategie das
vermitteln – einschließlich des zugehörigen metakognitiven
Lernziel erreicht?) sowie der Steuerung und Regulation von
Wissens über die Nützlichkeit und den Einsatz von Strategi-
Gedächtnisaktivitäten (z. B. Gelingt es, eine Strategie zu ver-
en und unter Einschluss metakognitiver Überwachungs- und
ändern, wenn die eingesetzte Strategie bei der Bearbeitung
Steuerungsstrategien (7 Abschn. 14.2.4). Wie das Produkti- einer Lernaufgabe nicht erfolgreich war?).
onsdefizit bei der Strategieentwicklung überwunden werden
kann, soll im Folgenden ausgehend von der Entwicklung des
1 Entwicklung des deklarativen Metagedächtnisses
Metagedächtnisses erläutert werden.
Alterstypische Unterschiede im metakognitiven Wissen wur-
den insbesondere mit Interviewstudien gezeigt (Kreutzer,
Leonard & Flavell 1975). Jüngere Kinder im Kindergarten-
alter verfügen über ein Grundwissen zum Gedächtnis. Sie
14.2.4 Entwicklungsveränderungen im
wissen beispielsweise, dass es einfacher ist, sich eine Sache
Metagedächtnis zu merken als viele Dinge auf einmal. Außerdem wissen sie,
dass es schwieriger ist, sich an Dinge zu erinnern, die län-
Metakognition umfasst das Wissen über verschiedene kog- ger zurückliegen, als an Ereignisse, die gerade passiert sind.
nitive Zustände und Prozesse sowie die Fähigkeit, die ei- Im Verlauf der Grundschulzeit und darüber hinaus verbes-
genen Kognitionen überwachen und regulieren zu können. sert sich das metakognitive Wissen beständig. Ältere Kinder
Eine Komponente der Metakognition ist dabei das Metage- wissen schon, dass es schwieriger ist, einen Text wörtlich wie-
dächtnis, worunter man spezifischer das Wissen über Ge- derzugeben, als ihn dem Sinn nach zu erzählen. Außerdem
dächtnisvorgänge versteht (Lockl & Schneider 2007). Dabei ist ihnen klar, dass sich Ablenkungen beim Lernen negativ
werden zwei Komponenten unterschieden: deklaratives me- auswirken oder dass es beim gleichzeitigen Lernen von ähnli-
14.3  Entwicklung von Denken und Problemlösen
285 14
chen Inhalten zu Verwechslungen kommen kann (Schneider über Gedächtnisstrategien und dem spontanen Einsatz von
& Lockl 2006). Gedächtnisstrategien – also der Überwindung des Produk-
tionsdefizits (Ornstein et al. 1977). Zum anderen weisen
1 Entwicklung des prozeduralen Metagedächtnisses sie einen kausalen Zusammenhang zwischen prozeduralen
Studien zu Altersunterschieden im prozeduralen Metage- metakognitiven Kompetenzen des Überwachens und Regu-
dächtnis wurden im Hinblick auf metakognitive Überwa- lierens von Gedächtnisstrategien und dem situationsange-
chungs- und Steuerungsaktivitäten durchgeführt. Um me- passten Einsatz und Transfer von Gedächtnisstrategien nach
takognitive Überwachungsprozesse zu untersuchen, werden (Campione 1982).
Kinder z. B. nach ihrer zukünftigen oder gerade erzielten Die Beziehungen zwischen den einzelnen Entwicklungs-
Leistung bei der Wiedergabe zu lernender Wortpaare ge- komponenten der Gedächtnisleistung können abschließend
fragt. Auch hier können sie im Verlauf ihrer Entwicklung in Modellen erfolgreichen Lernens (z. B. Pressley, Borkow-
ihre Gedächtnisleistungen immer besser einschätzen und ski & Schneider 1989; Hasselhorn & Gold 2013) zusam-
vorhersagen. Dabei sind jüngere Kinder im Vorschul- und mengefasst werden. Demnach werden bei erfolgreich ler-
frühen Grundschulalter in der Regel allzu optimistisch. Ei- nenden Schülerinnen und Schülern neue bereichsspezifische
ne Überschätzung eigener Leistung, die bis zum Ende der schulische Fachwissensinhalte auf der Basis von eingeüb-
Grundschule charakteristisch ist, kann dazu führen, dass die ten (Gedächtnis-)Strategien organisierend, elaborierend und
Notwendigkeit zusätzlichen strategischen Investments unter- wiederholend aktiv (sprachlich) verarbeitet und mit der be-
schätzt wird. Da die Kinder in der Mehrzahl der Studien reits vorhandenen und aktivierten bereichsspezifischen Wis-
explizit nach entsprechenden Einschätzungen gefragt und sensbasis im Langzeitgedächtnis verknüpft. Mehr oder we-
die Überwachungsprozesse damit bei ihnen veranlasst wer- niger bereichsübergreifende Strategien werden ausgehend
den, bleibt generell unklar, ob jüngere Kinder entsprechende vom entwickelten deklarativen metakognitiven Wissen ziel-
Überwachungsprozesse spontan nutzen oder ob auch hier ein gerichtet und situativ angemessen ausgewählt und mit Hil-
Produktionsdefizit vorliegt. fe allgemeiner, oft bereichsübergreifender metakognitiver
Besonders deutliche Unterschiede zwischen jüngeren und Überwachungs- und Steuerungsprozesse selbstreflexiv ein-
älteren Kindern zeigen sich hinsichtlich metakognitiver Re- gesetzt und angepasst. Daraus ergibt sich ein quantitativ
gulation und Steuerung. Dies belegt u. a. eine Studie von reichhaltigeres und qualitativ immer besser organisiertes und
Dufresne und Kobasigawa (1989) zur Einteilung der Lern- vielfältig kodiertes bereichsspezifisches Fachwissen.
zeit. An dieser Studie nahmen 6-, 8-, 10- und 12-jährige Da sich im Laufe der Entwicklung durch Reifung, Übung
Kinder teil, die die Aufgabe hatten, Paare von Bildkarten zu und Aufbau von Wissen die (sprachliche) Verarbeitungs-
lernen (Paarassoziationslernen). Die Bilder waren entweder geschwindigkeit sowie Aufmerksamkeitsprozesse und exe-
hoch assoziiert und damit leicht zu erinnern (z. B. Affe – kutive Funktionen verbessern, steigt auch die funktionale
Banane) oder wenig assoziiert und damit schwierig zu mer- Gesamtkapazität im Arbeitsgedächtnis. Dies erleichtert wie-
ken (z. B. Buch – Brot). Als Ergebnis zeigte sich, dass erst derum den Erwerb von neuem Wissen und den Einsatz wei-
die 12-Jährigen ihre Lernzeit deutlich an die Schwierigkeit terer Gedächtnisstrategien. So resultieren im Verlauf der al-
der Aufgabe anpassten und damit zielgerichtet und zeitöko- terstypischen (sprachlichen) Gedächtnisentwicklung immer
nomisch lernten. Die 6- und 8-Jährigen machten keinerlei erfolgreichere Lernprozesse und ein ständiger Zuwachs an
bedeutsamen Unterschied in der Lernzeit, obwohl auch sie bereichsspezifischem Wissen und generellen, auch bereichs-
wussten, welche Bildpaare leicht und welche mühsam zu übergreifenden Lernkompetenzen in Form von Strategien
lernen sind. Bei etwas schwächeren Schülern und etwas an- und Metakognition als Schlüssel zum weiteren lebenslangen
spruchsvolleren Aufgaben zeigen sich selbst in der 5. Klasse Lernerfolg.
sowohl bezogen auf entsprechende Schwierigkeitseinschät-
zungen als auch mit Blick auf die Lernzeitaufteilung noch
deutliche Einschränkungen in der Metakognition (Owings,
14.3 Entwicklung von Denken und
Petersen, Bransford, Morris & Stein 1980). Darüber hinaus
weisen Kinder noch lange Zeit gravierende Einschränkungen Problemlösen
bei der Verständnisüberwachung auf, d. h. der Fähigkeit zu
erkennen, wenn sie etwas nicht verstanden oder zu wenige Ein weiterer wichtiger Bereich der kognitiven Entwicklung ist
Informationen haben (Markman 1977). die Entwicklung von Denken und Problemlösen (7 Kap. 2).
In Abgrenzung zu reproduktiven Gedächtnisprozessen ist
1 Fazit logisch-schlussfolgerndes Denken dadurch gekennzeichnet,
Die Bedeutung des Metagedächtnisses für Lernen und Ge- dass über den Abruf von gespeichertem Wissen hinaus aus
dächtnis wird deutlich, wenn man die robuste Korrelation gegebenen Informationen neues Wissen entsteht. Zentral ist,
mit der Gedächtnisleistung von r D .41 ausgehend von Me- dass die Ableitungen logisch sind. Dabei kann zwischen in-
taanalysen (vgl. Schneider & Pressley 1997) betrachtet und duktiven (von Einzelbeobachtung auf allgemeines Gesetz)
mit den Befunden aus Trainings- und Deprivationsexperi- und deduktiven Schlussfolgerungen (von allgemeinem Ge-
menten in Verbindung bringt. Diese belegen zum einen den setz auf Einzelfall) unterschieden werden. Denkprozesse spie-
kausalen Zusammenhang zwischen metakognitivem Wissen len auch eine wichtige Rolle beim Problemlösen, d. h. bei
286 Kapitel 14  Kognitiv-sprachliche Entwicklung

Aufgaben, die nicht auf der Grundlage eines einfachen Ge- der Scheiben den nächsten Teilschritt in ihre Planungen ein-
dächtnisabrufes aus dem Langzeitgedächtnis lösbar sind. beziehen. Eine Erklärung für die beobachteten Unterschiede
Probleme sind dadurch gekennzeichnet, dass (a) ein un- in der Planungsfähigkeit von jüngeren Kindern ergibt sich
erwünschter Ausgangszustand existiert, der (b) in einen in Zusammenhang mit Aufgaben, mit denen die kognitive
erwünschten Zielzustand überführt werden soll. Bei der Flexibilität als Teilkomponente exekutiver Funktionen unter-
Überführung in den Zielzustand muss (c) eine Barriere, sucht wird (vgl. Kartensortiertest, 7 Abschn. 14.2.2).
ein Hindernis überwunden werden. Aus der Perspektive der
Informationsverarbeitung wird Problemlösen auch als Su-1 Erwerb von Regeln zur Lösung von Problemen
che in einem Problemraum beschrieben, der weniger oder Ein klassisches Beispiel für Problemlöseaufgaben, bei denen
mehr Problemlöseschritte bis zur Überwindung der Barrie- Regeln zur Lösung zum Einsatz kommen, sind Aufgaben mit
re enthalten kann. Dabei weisen Probleme unterschiedliche dem Waagebalken. Kindern wird hierbei eine Balkenwaage,
Merkmale auf (z. B. gut versus schlecht definiert; viel oder die im Gleichgewichtszustand fixiert wird, mit Gewichten
wenig Vorwissen als Voraussetzung) und können mit Hilfe an unterschiedlichen Positionen präsentiert. Sie sollen nun
von verschiedenen Arten von Problemlösestrategien bearbei- einschätzen, ob sich die Balkenwaage nach Entfernen der Be-
tet werden (z. B. trial and error, Regeln, Analogiebildungen, festigung in einem Gleichgewicht befindet oder nach rechts
Mittel-Ziel-Analysen). oder links neigt.
Im vorliegenden Teilkapitel wird zunächst auf die Ent- Siegler (1976) hat so die Verwendung unterschiedlich
wicklung des problemlösenden Denkens eingegangen. An- komplexer Regeln bei 5- bis 17-Jährigen untersucht. Dabei
schließend wird spezifischer die Entwicklung des induktiven stellte er fest, dass 5-jährige Kinder eine einfache Gewichts-
und deduktiven Schließens fokussiert. Aufgrund der Schul- regel nutzen und davon ausgehen, dass sich die Balkenwaage
relevanz wird abschließend die Entwicklung von Fähigkeiten dorthin senkt, wo mehr Gewichte vorhanden sind. Der Ab-
des wissenschaftlichen Denkens dargestellt (vgl. Pinquart, stand der Gewichte zum Drehpunkt der Waage wird zunächst
Schwarzer & Zimmermann 2011; Sodian 2012). vernachlässigt. Bei gleicher Anzahl von Gewichten rechts und
links vom Drehpunkt können jedoch viele 8-jährige Kin-
der derartige Probleme lösen. Sie integrieren Gewicht und
Abstand vom Drehpunkt bei der Problemlösung und berück-
14.3.1 Entwicklung von problemlösendem
sichtigen damit eine fortgeschrittene Regel.
Denken Analysiert man die Problemlösefähigkeiten von 5-Jähri-
gen genauer, sind sie nicht, wie von Piaget angenommen,
1 Entwicklung früher Problemlöse- und aufgrund einer präoperativen Denkstruktur und der damit
Planungsfähigkeiten verbundenen Zentrierung des Denkens auf eine Dimension,
Schon Säuglinge sind zu ersten Problemlösungen bei einfa- prinzipiell unfähig, den Abstand der Gewichte zu berück-
14 chen Mittel-Ziel-Aufgaben fähig. Ab 7 Monaten können sie sichtigen. Vielmehr konnte Siegler zeigen, dass die jüngeren
absichtsvoll an einer Decke ziehen (Mittel), um ein Spiel- Kinder ein Enkodierungsdefizit beim Prozess der Informa-
zeug zu erreichen (Ziel) (Willatts 1999). Anspruchsvollere tionsverarbeitung aufwiesen. Trainierte man die 5-Jährigen
Mittel-Ziel-Aufgaben, bei denen zuerst Werkzeuge ausge- gezielt darauf, den Abstand der Gewichte zu verarbeiten (En-
sucht werden müssen, um Spielzeuge heranzuziehen, bewäl- kodierung) und ließ sie danach weitere Erfahrung mit dem
tigten hingegen nur 15 % der 30 Monate alten Kinder, wenn Waagebalken sammeln, bezogen sie anschließend sowohl Ge-
der Zusammenhang von Werkzeugverwendung und Zieler- wicht als auch Abstand bei der Lösung ein (vgl. Siegler &
reichung selbständig erkannt werden musste. Erst nach der Alibali 2005).
Beobachtung eines Erwachsenen, der die Problemlösung mit
dem Werkzeug vorführte und dadurch das notwendige Wis-
sen vermittelte, wurde die Aufgabe auch von jüngeren Kin-
dern gelöst (Chen & Siegler 2000; Want & Harris 2001). 14.3.2 Entwicklung von induktivem Denken
Ein klassisches Beispiel, mit dem kindliches Planen bei
Problemlöseaufgaben gezeigt werden kann, ist die „Turm- Das Generalisieren vom Einzelfall auf eine allgemeine Re-
von-Hanoi“-Aufgabe, bei der immer kleiner werdende ge- gel, die Suche nach einer kausalen Erklärung für ein Ereignis,
lochte Scheiben von einem Stab A auf einen Stab C um- die Übertragung von Prinzipien in einem Bereich auf einen
gesteckt werden müssen, so dass sich zum Schluss wieder analogen Bereich sowie das Schließen aufgrund von Wahr-
die größte Scheibe ganz unten und die kleinste Scheibe ganz scheinlichkeiten sind Beispiele für induktives Denken.
oben befindet. Als Mittel zur Problemlösung gibt es zusätz- Um neue Erfahrungen ordnen und sich in einer kom-
lich einen Stab B, auf den die Scheiben zwischenzeitlich plexen Umwelt zurechtfinden zu können, ist es für Kinder
abgelegt werden können. Klahr und Robinson (1981) be- von Anfang an erforderlich, Erfahrungen nach gemeinsamen
obachteten, dass 3-Jährige zwar einzelne Scheiben auf die Merkmalen und Relationen zu strukturieren und induktiv
richtigen Stäbe stecken konnten, dabei aber deren Reihen- Kategorien abzuleiten. Dabei besteht eine Kategorie aus einer
folge vernachlässigten. Die 6-Jährigen behielten dagegen das begrenzten Menge von Objekten, Ereignissen oder Handlun-
übergeordnete Ziel im Blick und konnten beim Aufstecken gen mit gemeinsamen Merkmalen. Der Begriff oder das Kon-
14.3  Entwicklung von Denken und Problemlösen
287 14
zept ist die zugehörige mentale Repräsentation (. Tab. 14.2).

A D 4 7
Zum Beispiel gehören in die Kategorie „Hund“ alle Vierbei-
ner mit Fell, die bellen. Der Begriff „Hund“ beinhaltet das
im Langzeitgedächtnis gespeicherte Faktenwissen über die
Merkmale eines Hundes innerhalb eines semantischen Netz-
werks verwandter Konzepte (z. B. Tier/Schäferhund). Dieses p nicht p q nicht q
Wissen ermöglicht es, einen Hund als solchen zu erkennen,
. Abb. 14.2 Die vier Karten der Kartenwahl-Studie (nach Wason 1966)
ihn von anderen vierbeinigen Lebewesen wie Katzen oder
Pferden zu unterscheiden und zugleich relativ zu diesen ein-
zuordnen. 14.3.3 Entwicklung von deduktivem Denken
Entwicklungsbefunde zeigen, dass bereits Säuglinge über
evolutionär bedeutsame Kategorien in zentralen Wissensdo-
mänen im Sinne eines Kernwissens verfügen und z. B. eine Von deduktivem Denken wird gesprochen, wenn ein logi-
grundlegende Unterscheidung zwischen unbelebten Objek- scher Schluss auf der Grundlage gegebener Voraussetzungen
ten (z. B. Möbeln) und Lebewesen (z. B. Tieren) vornehmen. gezogen wird. Wie groß die Schwierigkeiten bei deduktiven
Nach Pauen (2002) beruht diese Unterscheidung nicht allein Denkaufgaben schon für Erwachsene sind, wurde z. B. mit
auf Oberflächenmerkmalen, sondern berücksichtigt frühes Studien zur „Kartenwahl-Aufgabe“ belegt (7 Studie).
Wissen über funktionale Aspekte. Im Verlauf der Entwick-
lung wird dieses kategoriale Kernwissen über zunächst im- Studie: Die Kartenwahl-Aufgabe (Wason 1966)
plizite induktive Denk- und Lernprozesse ausgebaut und dif- Die Erwachsenen wurden zunächst informiert, dass es vier Kar-
ferenziert. ten mit einem Buchstaben auf der einen und einer Zahl auf der
anderen Seite gibt. Ihre Aufgabe bestand darin, die Gültigkeit
1 Analogiebildung als Problemlösestrategie folgender konditionaler Aussage zu prüfen: „Wenn sich auf der
Viele Probleme werden dadurch gelöst, dass man einen einen Seite der Karte ein Vokal (p) befindet, dann befindet sich
gleichartigen, analogen Lösungsweg z. B. ausgehend von ei- auf der anderen Seite eine gerade Zahl (q)“. Speziell wurden
nem Zusammenhang zwischen zwei Objekten induktiv auf die Probanden gefragt, wie viele und welche Karten umgedreht
ein neues Problem z. B. den Zusammenhang zwischen zwei werden müssen, um diese Behauptung (wenn p, dann q) zu tes-
anderen Objekten überträgt. Schon bei jungen Kindern las- ten (. Abb. 14.2).
sen sich im Kontext von Handlungen erste Analogieschlüsse Das zentrale Ergebnis war, dass nur ca. 10 % der Erwachse-
nachweisen. Wenn beispielsweise 13 Monate alte Kinder ver- nen die Lösung wussten: Es muss die Karte mit dem Vokal (p)
stehen, dass man Spielzeuge, an denen eine Schnur befestigt gewendet werden, um festzustellen, ob eine gerade Zahl (q) da-
ist, heranziehen kann, übertragen sie diese Problemlösung hinter ist, und es muss die Karte mit der ungeraden Zahl (nicht
auf andere Gegenstände (Chen, Sanchez & Campbell 1997). q) gedreht werden, um auszuschließen, dass sich dort ein Vokal
Im Vorschulalter können Analogien verbal auf der (p) befindet.
Grundlage von alltagsnahen Begriffen gebildet werden. Ein
Beispiel stammt von Goswami und Brown (1990): Hier wur- Allerdings zeigen weiterführende Studien, dass sich die
den Kindern Begriffe auf Bildkarten vorgelegt, die eine be- Lösungswahrscheinlichkeit dramatisch verändert, wenn man
stimmte Relation zueinander aufwiesen – etwa ein Vogel und die gleiche logische Aufgabe in einen alltäglichen Kontext
ein Nest. Als drittes Kärtchen wurde den Kindern anschlie- einbettet und z. B. auf das Sortieren von Briefen mit der Re-
ßend ein Hund gezeigt. Ihre Aufgabe war es nun, aus einer gel, „wenn verschlossener Brief, dann Briefmarke“ bezieht.
Reihe von Bildern, die eine Hundehütte, einen Knochen, ei- In dieser Bedingung gelang den meisten Erwachsenen die
ne Katze und eine Hündin zeigten, dasjenige auszusuchen, Lösung. Sie prüften beim verschlossenen Brief, ob er eine
das eine analoge Relation zum Vogel-Nest-Beispiel beinhal- Briefmarke hat, und schauten beim Brief ohne Briefmarke
tete (hier die Hundehütte). Bereits 59 % der 4-Jährigen und nach, ob er offen ist. Cheng und Holyoak (1985) erklären
94 % der 9-Jährigen konnten diese Aufgabe lösen. die Befunde damit, dass bei Einbettung derartiger Aufgaben
Dieser Befund belegt, dass Kinder bei entsprechendem in einen alltäglichen Kontext pragmatische Denkschemata
Hintergrundwissen schon früh aufgrund von Analogien benutzt werden. Um zu prüfen, ob eine Regel eingehalten
schlussfolgern können. Allerdings fällt es ihnen in diesem Al- wird, verwendet man solche Denkschemata im Sinne von
ter – im Sinne eines Produktionsdefizits – schwer, spontan Erlaubnisregeln. Bei der Kartenwahlaufgabe im alltäglichen
Analogien als Problemlösestrategie zu nutzen, wenn sie bei „Briefkontext“ überlegen Menschen, ob die entsprechenden
Problemen, die auf den ersten Blick keine Ähnlichkeit auf- Erlaubnisregeln stimmen: Ein verschlossener Brief muss eine
weisen, nicht explizit auf zentrale korrespondierende Bezie- Briefmarke haben; ein Brief ohne Briefmarke darf nicht ver-
hungen aufmerksam gemacht werden (vgl. Goswami 2001). schlossen sein.
288 Kapitel 14  Kognitiv-sprachliche Entwicklung

Hiervon ausgehend wurde eine vereinfachte Kartenwahl- und unterstützt durch Unterricht den wissenschaftlichen Er-
aufgabe für Kinder entwickelt. Es zeigte sich, dass schon 6- klärungen anzupassen.
bis 7-Jährige die Aufgabe bewältigen konnten (Light, Blaye,
Gilly & Girotto 1989). Harris und Nunez (1996) führten die1 Entwicklung wissenschaftlich-kausalen Denkens und
Überlegungen noch einen Schritt weiter und forderten 3- bis Experimentierens
4-Jährige direkt auf, den Regelverstoß zu finden; zum Bei- In der naturwissenschaftlichen Forschung und im naturwis-
spiel mit einer Geschichte über ein Mädchen namens Sally, senschaftlichen Unterricht geht es darum, komplexe kausale
das seinen Mantel anziehen soll, wenn es draußen spielt. Die Zusammenhänge mit mehreren möglichen ursächlichen Fak-
Kinder sollten anschließend aus vier Bildern dasjenige aus- toren auf der Basis von wissenschaftlichen Experimenten
wählen, auf dem Sally nicht tut, was ihre Mutter sagt. Schon systematisch zu untersuchen. Ausgehend von vorhandenen
die jüngeren Kinder konnten dies erkennen und wählten das Theorien werden deduktiv Hypothesen abgeleitet und sys-
Bild, auf dem Sally ohne Mantel draußen ist. tematische Strategien der Hypothesentestung angewendet.
Ein weiteres Beispiel für deduktive Denkprozesse sind Daneben ist es zentral, die zu testenden Variablen zu iso-
Syllogismen. Hier muss die logische Schlussfolgerung ein- lieren und in einem experimentellen Forschungsdesign so
deutig aus den Prämissen abgeleitet werden. Auch hier wurde zu kontrollieren, dass jeweils nur eine Variablendimension
lange Zeit davon ausgegangen, dass jüngere Kinder nicht dazu verändert wird, während alle anderen Versuchsbedingungen
in der Lage sind, formal korrekte deduktive Schlüsse un- konstant gehalten werden. Erst dann können wissenschaftli-
abhängig vom inhaltlichen Wahrheitswert der Aussagen zu che Schlussfolgerungen gezogen und Kausalitäten festgestellt
ziehen, wie bei folgendem Syllogismus: werden. Kinder weisen bereits im Vorschulalter ein erstes,
4 Prämisse 1: Alle Katzen bellen. frühes Verständnis für einige Aspekte des experimentell-
4 Prämisse 2: Rex ist eine Katze. wissenschaftlichen Vorgehens auf. Zugleich haben aber selbst
4 Folgerung: Rex bellt. Erwachsene oft noch Schwierigkeiten mit entsprechenden
Anforderungen. Einen Überblick über entsprechende Un-
Studien zeigen jedoch, dass schon Vorschulkinder derartige tersuchungen zu diesem Thema gibt insbesondere Sodian
Schlussfolgerungen bei kontrafaktischen Syllogismen ziehen (2012).
und unabhängig vom inhaltlichen Kontext logisch korrekt
ableiten, dass Rex (eine Katze ist, die) bellt, wenn die Instruk- 2Schwierigkeiten bei der Interpretation von
tionen geeignet gestaltet sind. Werden die Prämissen in eine Beobachtungen aufgrund von Vorwissen/Erwartungen
Spielhandlung eingebettet, z. B. dass sie für einen anderen In einer Studie von Kuhn, Amsel und O’Loughlin (1988)
Planeten gelten, oder werden Kinder gebeten, sich die jewei- konnte herausgearbeitet werden, dass 11- bis 14-Jährigen,
ligen Aussagen bildlich vorzustellen, gelingt ihnen schon mit ja sogar Erwachsenen, ihr Vorwissen bzw. ihre Erwartun-
4 Jahren der korrekte deduktive Schluss (Dias & Harris 1990). gen beim wissenschaftlichen Vorgehen im Weg stehen, wenn
14 es um die korrekte Interpretation von Beobachtungen geht.
Den Jugendlichen wurden Bildkarten mit Kindern gezeigt,
die entweder erkältet oder gesund waren. Anschließend wur-
14.3.4 Entwicklung von wissenschaftlichem de für jede dieser Gruppen angegeben, ob sie Eier oder Müsli
Denken zu sich nehmen. Dann sollten die Jugendlichen beurteilen,
ob eines der konsumierten Lebensmittel eine Ursache für
1 Frühe Entwicklung kausalen Denkens die Erkältung ist. Die dargestellten Befunde auf den Bildkar-
Als weitere Form induktiven Denkens nehmen Kinder im ten wiesen dabei gleich viele Erkältungen bei den Eier- und
ersten Lebensjahr grundlegende kausale Ursache-Wirkungs- Müsliessern auf. Die Jugendlichen (wie auch viele Erwach-
Zusammenhänge zwischen verschiedenen Objekten und/ sene) hatten gravierende Probleme; sie ignorierten Belege
oder Handlungen wahr. Dadurch können sie Gesamtzusam- und gaben sehr häufig die falsche Antwort, dass die Müslies-
menhänge in der Umwelt verstehen. Im Hinblick auf physika- ser gesünder sind. Dieser Befund weist auf die Gefahr hin,
lische Ereignisse wissen z. B. schon 7 Monate alte Säuglinge dass bei bestehenden Vorannahmen durch Interferenzen mit
ausgehend von ihrem physikalischen Kernwissen, dass sich dem Vorwissen empirische Befunde missachtet und falsche
ein Klotz, der von einem anderen Klotz angestoßen wird, in Schlussfolgerungen gezogen werden. Mögliche Verzerrungen
Bewegung setzt und dass sich die Klötze hierfür berühren der Informationsverarbeitung und des Wissenserwerbs wer-
müssen (Leslie & Keeble 1987). Das Verständnis für all- den darüber hinaus auch im Rahmen intuitiver Theorien bei
tägliche Kausalzusammenhänge nimmt dabei in den ersten domänenspezifischen Zusammenhängen und Phänomenen
Lebensjahren rasch zu, so dass bereits 3- bis 4-jährige Kin- beobachtet (z. B. intuitive Biologie: fehlende Einordnung von
der wichtige Grundlagen des kausalen Denkens beherrschen Pflanzen als Lebewesen; 7 Abschn. 14.2.1) und sollten im Un-
(Gelman, Bullock & Meck 1980). Sie beachten die Kovariati- terricht gezielt berücksichtigt werden (7 Kap. 8).
on zwischen zwei Ereignissen, nehmen an, dass die Ursache
der Wirkung zeitlich vorausgeht und suchen nach plausiblen 2Grundverständnis der Variablenkontrolle
Erklärungsmechanismen. Dennoch benötigen sie noch viele Zusätzlich wird häufig angeführt, dass die Anforderungen
Jahre und Erfahrungen, um diese besser verstehen zu können bei Aufgabenstellungen zum wissenschaftlichen Denken oft-
14.3  Entwicklung von Denken und Problemlösen
289 14
mals zu komplex und deshalb für jüngere Kinder kognitiv zu bleiben. Spätestens ab dem Grundschulalter lassen sich späte-
anspruchsvoll sind. Es zeigt sich jedoch, dass bereits Grund- re Leistungsunterschiede im wissenschaftlichen Denken auf
schulkinder und nicht erst Jugendliche über ein Grundver- Gruppenebene gut vorhersagen. Dies heißt jedoch keines-
ständnis im Bereich wissenschaftlichen Denkens verfügen. wegs, dass wissenschaftliches Denken nicht gefördert wer-
Beispielsweise konnte man mit Hilfe der „Flugzeug-Studie“ den kann. So hatte z. B. in einer Interventionsstudie in einer
deutlich machen, dass bereits Zweitklässler ein erstes Ver- vierten Klasse bereits ein kurzer wissenschaftstheoretischer
ständnis von Variablenkontrolle aufweisen (7 Studie). Unterricht einen signifikanten Effekt auf das wissenschaftli-
che Denken der Kinder; eine längerfristige Förderung zeigte
Die Flugzeug-Studie (Bullock & Ziegler 1999) sogar nach einem Jahr Auswirkungen auf die Produktion
In einer Untersuchung hatten Zweit- und Fünftklässler folgen- von Variablenkontrollstrategien (Sodian, Jonen, Thoermer
de Aufgabe: Herr Müller soll ein benzinsparendes Flugzeug & Kircher 2006). Eine explizite spezielle Unterstützung des
konstruieren, wobei drei kausale Faktoren relevant sind: Flug- Erwerbs entsprechender Fähigkeiten erscheint deshalb be-
zeugnase, Flügelform, Ruderposition. Als erstes muss er den sonders wichtig.
Einfluss des Ruders auf den Energieverbrauch prüfen.
Zum Lösen der Aufgabe bekamen die Kinder je zwei un-
terschiedliche Karten zu den drei Flugzeugmerkmalen gezeigt. 1 Fazit
Aus diesen sechs Abbildungen sollten sie die zwei Karten her- Zusammenfassend ist eine eher kontinuierliche Entwicklung
aussuchen, mit denen der Einfluss des Ruders auf den Benzin- von früh verfügbaren Denkfähigkeiten und -fertigkeiten fest-
verbrauch getestet werden kann. zustellen. Die Leistungen von Kindern und Erwachsenen in
Ein Drittel der jüngeren und zwei Drittel der älteren Kinder den gestellten Aufgaben werden dabei oftmals von vergleich-
sowie fast alle Erwachsenen waren in der Lage, die richtigen baren Faktoren beeinflusst. Kontextuelle Einbettungen (z. B.
Karten auszuwählen, bei denen nur das Ruder verändert wur- Alltagsnähe des Kontextes), passendes Vorwissen im Pro-
de, die anderen Variablen aber konstant blieben und dies zu blembereich (z. B. Fehlen von gegenteiligem Wissen) sowie
begründen. Allerdings konnten die Kinder, aber auch viele Er- die Verfügbarkeit von adäquaten Problemlösestrategien (z. B.
wachsene, spontan keine Vorschläge dazu machen, wie man Mittel-Ziel-Analysen, Regeln, Analogien) – die sich nach dem
methodisch vorgehen muss, um den Einfluss der verschiede- Modell überlappender Wellen von Siegler (2006) aber erst
nen Flugzeugmerkmale auf den Verbrauch wissenschaftlich zu nach und nach durchsetzen – sind dabei in allen Alters-
untersuchen. gruppen von besonderer Bedeutung. Auch das Verständnis
vorgegebener Lösungen im Vergleich zur Produktion eigener
2Verständnis von Hypothesen-Befund-Beziehungen Lösungen erweist sich als deutlich einfacher und ist früher zu
Ergänzend wurden Teilfähigkeiten des wissenschaftlichen beobachten.
Denkens sogar schon bei Kindergartenkindern nachgewie- Unter günstigen Aufgabenbedingungen sind bereits Kin-
sen. So konnten 4- bis 6-Jährige korrekte Schlüsse ausgehend dergartenkinder in der Lage, vielfältige Probleme zu lösen
von einem szenischem Spiel mit der Puppe „Robby“ ziehen, und logische Schlüsse zu ziehen. Dies legt nahe, dass die
bei dem sie mit der Hypothese konfrontiert wurden, dass grü- alterstypischen Veränderungen im Schulalter nicht auf ei-
ne Kaugummis schlecht für die Zähne sind. Hierbei legte man nem qualitativen Wandel kognitiver Strukturen im Sinne
den Versuchskindern und „Robby“ Bildkarten mit verschie- der Entwicklung von konkreten zu formal-logischen Ope-
denen Befunden vor. Darauf waren jedoch Kinder mit grünen rationen, wie sie von Piaget angenommen wurde, beruhen.
Kaugummis und gesunden Zähnen zu sehen und Kinder mit Stattdessen greift der prozessorientierte Informationsverar-
roten Kaugummis und schlechten Zähnen. Dann wurden die beitungsansatz auf der Basis von Gedächtnismodellen bes-
Kindergartenkinder befragt, was sie ausgehend von diesen ser: Erklärungswirksam sind Komponenten der Informati-
Bildern glauben, was nun richtig sei. 90 % ließen sich durch onsverarbeitung, wie z. B. bereichsspezifisches inhaltliches
die gegenteilige Befundlage überzeugen und gaben richtig an, und problemlösebezogenes Wissen, die mehr oder weniger
dass die roten Kaugummis schlecht für die Zähne sind. Grö- bereichsspezifische, teilweise bereichsübergreifende Effizienz
ßere Schwierigkeiten hatten sie nur, wenn die Befunde nicht von Basisprozessen der Verarbeitung und der hiermit ver-
eindeutig waren oder sie vorher eine starke gegenteilige Über- bundenen funktionalen Arbeitsgedächtniskapazität. Zudem
zeugung hatten (Koerber, Sodian, Thoermer & Nett 2005). erweisen sich Veränderungen in den Aufmerksamkeitspro-
zessen sowie in den kognitiven Kontrollprozessen ausge-
1 Unterschiede und Förderung von wissenschaftlichem hend von den exekutiven Funktionen in Zusammenhang
Denken mit dem zunehmend metakognitiv gesteuerten Einsatz von
Obgleich die Fähigkeiten und Fertigkeiten im wissenschaft- Problemlösestrategien als zentral und unterliegen einem Ent-
lichen Denken alterstypisch zunehmen, zeigen Längsschnitt- wicklungswandel. Wissenschaftstheoretisches Wissen, z. B.
studien (Bullock, Sodian & Koerber 2009) bedeutsame inter- das Verständnis wissenschaftlicher Begriffe wie „Hypothe-
individuelle Unterschiede (z. B. beim Verständnis des Expe- se“ oder „Theorie“, kommen als spezifischer Ansatzpunkt der
rimentierens), die über die Zeit hinweg vergleichsweise stabil Förderung wissenschaftlichen Denkens hinzu.
290 Kapitel 14  Kognitiv-sprachliche Entwicklung

14.4 Beziehungen zwischen kognitiver und rigen Sachtext zu lesen (vgl. Weinert, 2008). Schließlich zei-
sprachlicher Entwicklung gen verschiedene Ergebnisse, dass Sprache zudem bedeutsam
für die sozial-kognitive und sozial-kommunikative Entwick-
lung ist (Rose, Ebert & Weinert 2016).
Wie erwähnt, ist die kognitiv-sprachliche Entwicklung kein
homogenes Phänomen. Sprache und Kognition setzen sich
aus verschiedenen Komponenten zusammen, die jeweils ei-
gene Anforderungen stellen und mehr oder weniger gut 14.4.2 Bedeutung der kognitiven
bewältigt werden können. Während ein Kind in einem Ent- Entwicklung für die sprachliche
wicklungsbereich fortgeschritten sein kann, kann es in ei-
Entwicklung
nem anderen weniger weit entwickelt sein. Die Frage, in
welcher Weise sich die sprachliche und die kognitive Ent-
wicklung wechselseitig beeinflussen und zusammenwirken, Umgekehrt bildet die kognitive Entwicklung eine wichtige
ist von großer entwicklungstheoretischer sowie praktischer Basis für und Einflussgröße auf den Spracherwerb. Ohne
Bedeutung für Lehrende aller Schularten. eine angemessene Verarbeitung des Sprachangebots (Pro-
zesse der Informationsverarbeitung), ohne implizite, nicht
bewusste Gedächtnis- und Lernfähigkeiten, ohne begrifflich-
konzeptuelle Grundlagen wäre der Erwerb der jeweiligen
14.4.1 Bedeutung der sprachlichen Einzelsprache nicht möglich. Wörter und längere sprachliche
Entwicklung für die kognitive Äußerungen müssen herausgelöst, verarbeitet und auf ihrer
Entwicklung Grundlage die phonologischen, lexikalischen sowie gram-
matischen Regelhaftigkeiten abgeleitet werden. Erst dadurch
kann prozedurales sprachliches Wissen als Basis von Sprach-
Modelle des Gedächtnisses, der Informationsverarbeitung
produktion und -verstehen erworben werden. Betrachtet
und des Lernens machen deutlich, auf welche Weisen die
man den Wortschatzerwerb, so müssen z. B. Bedeutungen
sprachliche Entwicklung Einfluss auf die kognitive Entwick-
erworben und Wortformen dauerhaft gespeichert werden.
lung nimmt. Im Arbeitsgedächtnis zu verortende Aufmerk-
Zwischen Konzept- und Wortschatzerwerb bestehen dabei
samkeitsprozesse können durch sprachliche Hinweise von
bedeutsame Beziehungen; insbesondere das Arbeitsgedächt-
Interaktionspartnern und Lehrpersonen unterstützt werden.
nis mit seiner interindividuell unterschiedlichen Kapazität
Sprache stellt zudem ein zentrales Kodierungssystem dar, das
stellt hierbei eine zentrale Basis des frühen Worterwerbs (Ver-
die Verarbeitung von Informationen und den Aufbau von
arbeitung und Speicherung der Wortformen) sowohl in der
neuem Wissen befördert. So unterstützen Sprachrhythmus
Erst- als auch in Zweit- und Fremdsprachen dar und bildet
und Sprachmelodie nicht nur das Sprachlernen und Behalten
14 im Säuglingsalter, sondern auch spätere Lern- und Behal-
zugleich eine Grundlage für die Verarbeitung und den Er-
werb grammatischer Formen (vgl. Weinert 2010).
tensprozesse (z. B. beim Auswendiglernen von Gedichten).
Der verfügbare Wortschatz, das grammatikalische Wissen
sowie das Wissen über Textsorten begünstigen darüber hi-
naus die Kodierung im Arbeitsgedächtnis oder ermöglichen 14.4.3 Wechselwirkungen zwischen
erst eine längerfristige Lern- und Gedächtnisleistung (z. B.
kognitiver und sprachlicher
wenn Informationen aus Texten zu verarbeiten, zu behalten
und wiederzugeben sind). Sogar die Erinnerung an bildhaf- Entwicklung
te Ereignisse wird durch deren Versprachlichung erleichtert.
Problemlöseprozesse, selbst die Lösung nonverbaler Intelli- Die Beziehungen zwischen kognitiven und sprachlichen Ent-
genztestaufgaben, werden durch sprachliche Strategien und wicklungsveränderungen sind dabei vielfältig, komplex, dy-
deren metakognitive Steuerungen durch selbstbezogenes lau- namisch und keineswegs konstant über die gesamte Entwick-
tes oder inneres Sprechen im Sinne Wygotskis unterstützt (Bi- lung; zugleich spielen sie mit Umweltangeboten und Förde-
vens & Berk 1990; Neubauer 2009; vgl. Weinert 2008). Insbe- rungen zusammen. Aufbauend auf kognitive Grundfähig-
sondere erfolgt ein Großteil unseres Wissenserwerbs in und keiten in Lern-, Gedächtnis- und Denkprozessen erwerben
außerhalb der Schule über sprachlich vermittelte Informa- Kinder in der Kommunikation und bei entsprechender An-
tionen, einschließlich des Erwerbs metakognitiven Wissens regung in einer sprachlich förderlichen Entwicklungsumwelt
und einer intuitiven Psychologie (Ebert 2011). Die Bedeutung sprachliche Kompetenzen. Diese wirken sich wiederum über
des über mündliche und schriftliche Texte, Instruktionen, Effizienzsteigerungen der Verarbeitungsprozesse des Arbeits-
Gespräche vermittelten Wissens kann deshalb für die Ent- gedächtnisses sowie über (innere) sprachlich gesteuerte kog-
wicklung von Lernen und Gedächtnis, Denken und Problem- nitive und metakognitive Strategien sowie über den Auf-
lösen gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Dies kann bau bereichsspezifischen sprachlich vermittelten Wissens auf
man daran beobachten, dass Anfänger in einem Fachgebiet kognitive Fähigkeiten und Verarbeitungsprozesse aus. Ge-
scheitern, wenn sie versuchen, den komplexen Informationen meinsames sprachliches Denken über Sachverhalte begüns-
eines Experten in einem Vortrag zu folgen oder einen schwie- tigt nicht nur den Spracherwerb, sondern auch die kognitive
14.4  Beziehungen zwischen kognitiver und sprachlicher Entwicklung
291 14

Phonologisches Arbeitsgedächtnis
Zusammenfassung
4 Jahre 5 Jahre 6 Jahre
Ausgehend von theoretischen Ansätzen in der kogniti-
ven Entwicklungspsychologie einschließlich der interak-
4 Jahre 5 Jahre 6 Jahre tionistischen Kontexttheorie von Wygotski, die die Be-
deutung der sprachlichen Interaktion für die Entwicklung
Wortschatz
der bewussten Steuerung von kognitiven Prozessen be-
Spezifischer Prädiktor für Leistungsveränderungen tont, wurden wichtige alterstypische Veränderungen in
Kein signifikanter spezifischer Vorhersagebeitrag für Sprache und Kognition (Gedächtnis, Lernen, Denken, Pro-
Leistungsveränderungen blemlösen) unter Einbezug empirischer Befunde nach-
(Anmerkung: jeweils unter Kontrolle der Ausgangsleistung) gezeichnet. Dargestellt wurden u. a. Entwicklungszusam-
menhänge zwischen dem Erwerb bereichsspezifischen
. Abb. 14.3 Phonologisches Arbeitsgedächtnis und Wortschatz: Wissens einschließlich des Erwerbs intuitiver Theorien
Alterstypische Veränderungen des Zusammenhangs (nach Gathercole, und mehr oder weniger bereichsspezifischen sowie be-
Willis, Emslie & Baddeley 1992, S. 895)
reichsübergreifenden Komponenten der Gedächtnisent-
wicklung (Basisprozesse, Aufmerksamkeitsprozesse, exe-
Entwicklung. Wirkrichtungen zwischen den Entwicklungs- kutive Funktionen, Strategien, deklaratives und prozedu-
bereichen können sich dabei entwicklungstypisch ändern. rales Metagedächtnis). Zusammenhänge zwischen Ge-
Dies wird eindrucksvoll für die Beziehungen zwischen dächtniskomponenten und Entwicklungsveränderungen
Wortschatzerwerb und phonologischem Arbeitsgedächtnis im Denken und Problemlösen wurden herausgearbeitet;
in einer Längsschnittstudie von Gathercole, Willis, Emslie auch die wechselseitigen Zusammenhänge von Sprache,
und Baddeley (1992) aufgezeigt. Zwar sind interindividu- Gedächtnis und Denken wurden beleuchtet. Eine Kennt-
elle Unterschiede in beiden Bereichen stets assoziiert und nis der Dynamik der kognitiv-sprachlichen Entwicklungs-
wechselseitig prädiktiv. Doch ist es zunächst die funktionale veränderungen vom Säuglings- bis zum Jugendalter bil-
Kapazität des phonologischen Arbeitsgedächtnisses, die die det ein zentrales Grundwissen für Lehrende. Vor dem
Entwicklung des Wortschatzes im kommenden Lebensjahr Hintergrund dieses Wissens kann ein breites Spektrum
vorhersagt; mit ca. 5 Jahren dreht sich das Wirkverhältnis von sprachbezogenen Lern- und Gedächtnisprozessen
um. Jetzt ist es der Entwicklungsstand im Wortschatz, der sowie Denk- und Problemlöseprozessen im Schulalltag als
die Entwicklung der Arbeitsgedächtnisleistungen im folgen- Grundlage professioneller Handlungskompetenz reflek-
den Lebensjahr vorherzusagen gestattet (vgl. Weinert 2004; tiert werden.
. Abb. 14.3).
Einschränkungen auf der kognitiven Seite der Entwick-
lung – sei es durch anlagebedingte Schwächen oder eine
wenig förderliche Entwicklungsumwelt – können zu Schwie-
rigkeiten auf der sprachlichen Seite führen. Umgekehrt kön-
nen sich sprachliche Restriktionen – unabhängig davon, ob Verständnisfragen
es sich um genetisch bedingte Spracherwerbsschwierigkei-
ten oder um Spracheinschränkungen im Zusammenhang
?1. Stellen Sie mindestens drei neuere theoretische Orien-
mit familiären Anregungen handelt – zu spezifischen kog-
tierungen (Modelle, Erklärungsansätze) der kognitiven
nitiven Folgeproblemen und -risiken auswachsen (Weinert,
Entwicklungspsychologie in der Nachfolge von Piaget
Ebert & Dubowy 2010). Deshalb ist es für Lehrende wich-
dar, auf deren Basis Entwicklungsveränderungen
tig, sich dieser Zusammenhänge bewusst zu sein, um über
erklärt werden. Führen Sie dabei einen Verweis auf
entwicklungsförderliche sprachliche Interaktionsprozesse die
das jeweilige Teilkapitel auf, in dem die theoretische
kognitiv-sprachliche Entwicklung von Kindern und Jugend-
Orientierung behandelt wird.
lichen anzuregen. Des Weiteren sollten bei kognitiven oder
2. Skizzieren Sie zentrale Annahmen der Kontexttheorie
sprachlichen Schwierigkeiten und Einschränkungen ange-
von Wygotski und gehen Sie dabei auf Einflussfaktoren
messene Hilfestellungen mit Blick auf die nächsten Entwick-
und Entwicklungsmechanismen bezogen auf die
lungsschritte im Sinne Wygotskis gegeben werden, um dort
kognitiv-sprachliche Entwicklung ein.
entlastend und unterstützend einzugreifen, wo sich durch
3. Was versteht man unter der prosodischen Komponente
individuelle, kulturelle oder soziale Unterschiede bedingt be-
der Sprache und welche Bedeutung/Funktion kommen
sondere Entwicklungsherausforderungen stellen.
ihr im frühen Sprachlernprozess zu?
292 Kapitel 14  Kognitiv-sprachliche Entwicklung

4. Was versteht man unter dem „Wortschatzspurt“ und Berendes, K., Dragon, N., Weinert, S., Heppt, B., & Stanat, P. (2013). Hürde
wann wird er beobachtet? Erläutern Sie drei beteiligte Bildungssprache? Eine Annäherung an das Konzept „Bildungsspra-
Wortlernmechanismen mit je einem Beispiel. che“ unter Einbezug aktueller empirischer Forschungsergebnisse.
In A. Redder & S. Weinert (Hrsg.), Sprachförderung und Sprachdia-
5. Erläutern Sie die Entwicklung des Kardinalzahlkon- gnostik – interdisziplinäre Perspektiven (S. 17–41). Münster: Waxmann.
zepts als Beispiel für die Entwicklung von frühem Bivens, J. A., & Berk, L. E. (1990). A longitudinal study of the development of
bereichsspezifischem Wissen in Mathematik. elementary school children’s private speech. Merrill-Palmer-Quarterly,
6. Beschreiben Sie ein Experten-Novizen-Experiment 36, 443–463.
(z. B. die Schach-Studie) und erklären Sie, wie die Bjorklund, D. F. (2012). Children’s thinking: Cognitive development and indi-
vidual differences (5. Aufl.). Wadsworth: Belmont, CA.
Wirkungen des bereichsspezifischen Vorwissens auf Bjorklund, D. F., Dukes, C., & Brown, D. R. D. (2009). The development of me-
die Gedächtnisleistung hervorgebracht werden. mory strategies. In M. L. Courage & N. Cowan (Hrsg.), The development
7. Stellen Sie die Etappen des Erwerbs einer Gedächt- of memory in infancy and childhood (S. 145–175). New York: Psycholo-
nisstrategie dar. Erläutern Sie die Ursachen der gy Press.
verschiedenen frühen Defizite der Strategienutzung. Bradley, L., & Bryant, P. E. (1978). Difficulties in auditory organization as a
possible cause of reading backwardness. Nature, 271, 746–747.
8. Definieren Sie den Begriff Metagedächtnis. Nennen Bullock, S., Sodian, B., & Koerber, S. (2009). Doing experiments and un-
Sie beide Komponenten sowie Subkomponenten derstanding science. Development of scientific reasoning from child-
und skizzieren Sie deren Funktion. Beschreiben Sie, hood to adulthood. In W. Schneider & S. Bullock (Hrsg.), Human devel-
wie sich Elaborationsstrategien zum Verstehen von opment from early childhood to early adulthood: Findings from a 20 year
bedeutungshaltigen Texten entwickeln. Warum ist es longitudinal study (S. 173–198). New York: Psychology Press.
Bullock, S., & Ziegler, A. (1999). Scientific reasoning: Developmental and in-
bei der Vermittlung und Förderung von Elaborations- dividual differences. In F. E. Weinert & W. Schneider (Hrsg.), Individual
strategien wichtig, das deklarative und prozedurale development from 3 to 12. Findings from the Munich Longitudinal Study
Metagedächtnis einzubeziehen, um die typischen (S. 38–54). Cambridge, UK: Cambridge University Press.
Entwicklungsdefizite (beim Einsatz von Elaborations- Campione, J. C. (1982). Ein Wandel in der Instruktionsforschung mit lern-
strategien) zu überwinden? schwierigen Kindern: Die Berücksichtigung metakognitiver Kompo-
nenten. In F. E. Weinert & R. Kluwe (Hrsg.), Metakognition, Motivation
9. Mit welchen Komponenten der Gedächtnisent- und Lernen (S. 109–131). Stuttgart: Kohlhammer.
wicklung hängen Entwicklungsveränderungen im Carey, S. (2009). The origin of concepts. New York: Oxford University Press.
Problemlösen und Denken zusammen? Verweisen Sie Case, R. (1985). Intellectual development: Birth to adulthood. New York: Aca-
für jede Komponente der Gedächtnisentwicklung auf demic Press.
zwei empirische Befunde aus dem Kapitel. Chen, Z., Sanchez, R. P., & Campbell, T. (1997). From beyond to within their
grasp: Analogical problem solving in 10- and 14-month olds. Develop-
10. Beschreiben und interpretieren Sie die Befunde einer mental Psychology, 33, 790–801.
Studie zum Grundverständnis der Variablenkontrolle Chen, Z., & Siegler, R. (2000). Across the great divide: Bridging the gap
bei Grundschülern im Vergleich zu jenen von Erwach- between understanding of toddlers’ and older children’s thinking.
senen vor dem Hintergrund der Entwicklungstheorie Monographs of the Society for Research in Child Development, 65(2), 1–
14 von Jean Piaget und neueren Erklärungsansätzen der 96.
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11. Erläutern Sie – bezogen auf Wortschatz und Chi, M. T. H. (1978). Knowledge structure and memory development. In
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sind. Cowan, N. (1995). Attention and memory: An integrated framework. New
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12. Erläutern Sie, wie sich Spracheinschränkungen in Cummins, J. (2000). Language, power, and pedagogy. Bilingual children in
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14
295 15

Motivationale und emotionale


Entwicklung
Klaudia Kramer und Gottfried Spangler

15.1 Motivations- und Interessenentwicklung – 296


15.1.1 Neugier, Interesse und selbstbestimmte Motivation – 296
15.1.2 Leistungsmotivation und Motivationale Zielorientierungen – 300
15.1.3 Volition und Selbstregulation – 302

15.2 Emotionale Entwicklung und Bindung – 304


15.2.1 Emotionale Entwicklung – 304
15.2.2 Bindung – 306
15.2.3 Emotion, Bindung und Schule – 309

Verständnisfragen – 310

Literatur – 311

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019


D. Urhahne, M. Dresel, F. Fischer (Hrsg.), Psychologie für den Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55754-9_15
296 Kapitel 15  Motivationale und emotionale Entwicklung

Bei der zu Rate gezogenen Literatur wurde insbesondere ist gekennzeichnet durch eine gewisse Valenz, also durch den
auf zusammenfassende Arbeiten aus Lehrbüchern, Handbü- „Wert“ eines Gegenstandes, eines Themas oder einer Tätig-
chern und Überblicksartikel Bezug genommen und bei empi- keit für die Person.
rischer Forschung nur beispielhaft auf entsprechende Arbei-
ten zurückgegriffen. Bei näherem Interesse können Hinweise1 Neugier
auf spezifische empirische Arbeiten den zusammenfassenden Neugier wird in einigen theoretischen Konzepten als grund-
Quellen entnommen werden. legendes Motiv beschrieben, sich neuen, überraschenden und
Dieses Kapitel ist in zwei große Abschnitte eingeteilt. Im reizvollen Ereignissen oder Gegenständen zuzuwenden. Sie
ersten Abschnitt gehen wir auf die motivationale Entwicklung gilt als wesentliche Basis für Explorationsverhalten und Ler-
und die Interessenentwicklung ein. Im zweiten Abschnitt nen. Neugier kann durch eine stimulierende Situation her-
werden die emotionale Entwicklung und das Konzept der vorgerufen werden, beispielsweise dann, wenn das Ausmaß
Bindung erläutert. der Frage, die eine Person zu einer Situation hat, das aktuelle
Wissen übersteigt. Sie wird neugierig auf eine Situation, wenn
durch diese eine Wissenslücke, die von der Person auch als
15.1 Motivations- und Defizit erlebt wird, geschlossen werden kann (Loewenstein
Interessenentwicklung 1994).

Im Fokus: Sind Menschen zu neugierig?


Warum beschäftigen sich Schülerinnen und Schüler ausdau-
ernd mit Hobbys, warum lernen sie mal mehr, mal weniger
Neugier ist im alltagspsychologischen Sprachgebrauch
gerne? Was bewegt bzw. motiviert uns zu unseren Tätigkei-
häufig negativ konnotiert, insbesondere dann, wenn sich
ten? Der vorliegende Beitrag zur Motivationsentwicklung ist
Menschen für Sachen interessieren, die sie nichts angehen.
entsprechend dreier für die Beschreibung und Erklärung mo-
Neugier verleitet Menschen dazu, impulsiv zu handeln und
tivationsbezogener Phänomene wesentlicher Fragen struktu-
geht mit dem Wunsch einher, Informationen zu gewinnen,
riert: (1) Möchte ich diese Aufgabe erledigen und warum
auch entgegen besseren Wissens. So hört etwa eine Person
möchte ich das? (2) Traue ich mir zu, diese Aufgabe zu
der Konversation am Nachbartisch zu, wenn jene sich über
bearbeiten? (3) Wie muss ich vorgehen, um diese Aufgabe
außergewöhnliche Themen unterhalten, obwohl es das
erfolgreich zu bewältigen (vgl. Eccles, Wigfield & Schiefele
Gebot der Höflichkeit untersagt. Ein weiteres Beispiel sind
1998; Wigfield, Eccles, Fredricks, Simpkins, Roeser & Schie-
Gaffer bei Unfällen: Warum bleiben Personen bei einem
fele 2015)?
Unfall stehen, wollen wissen, was passiert ist und sehen
Unter jede dieser drei Fragen lassen sich theoretische
bei den Rettungsaktionen zu? In manchen Fällen mag die
Konzepte zur Beschreibung und Erklärung der Entwicklung
reine Schau- oder Sensationslust der Hauptgrund sein. Aber
motivationaler, volitionaler und interessenbezogener Phäno-
auch die Neugier erfahren zu wollen, wie es zu diesem
mene subsummieren. Die ersten beiden Fragen fokussieren
Unglück kam, um eine solch große Gefahr für sich selber
auf motivationale Aspekte wie etwa das erlebte Ausmaß der
15 Fremd- oder Selbstbestimmung oder den Wert, die Ergebnis-
und seine Angehörigen verhindern und ausschließen zu
können, kann der Beweggrund sein. Während Neugier in
oder Selbstwirksamkeitserwartungen sowie die Ursachen-
diesen Beispielen durchaus einen Nutzen für die Person hat,
zuschreibungen der Lernhandlungen und ihrer Ergebnisse.
kann Neugier auch bedeuten, Dinge zu tun, die der eigenen
Für die Klärung der dritten Frage greifen wir auf Konzepte
Person schaden, zum Beispiel dann, wenn Jugendliche
zurück, die sowohl motivationale, volitionale als auch kog-
mit Drogen experimentieren, die ein hohes Suchtpotential
nitive Aspekte integrieren wie beispielsweise die Modelle
haben.
zur Beschreibung selbstregulierten Lernens (zur Klärung der
Begriffe Motivation, Motiv, Lern- und Leistungsmotivation
7 Kap. 11).
Die erste grundlegende Form der Neugier, die Orien-
tierungsreaktion, wird in der psychologischen Fachliteratur
als perzeptive Neugier beschrieben. Sie wird durch unbe-
15.1.1 Neugier, Interesse und kannte Reize ausgelöst, wie beispielsweise für Säuglinge neue,
selbstbestimmte Motivation auffällige Bilder oder Geräusche und sie wird durch die wie-
derholte Darbietung dieser Reize wieder reduziert. Das Baby
1 Valenz: Möchte ich diese Aufgabe erledigen und warum habituiert bzw. gewöhnt sich an den mehrfach dargebotenen
möchte ich das? Reiz, es hat ausreichend Information gewonnen und schaut
Diese Frage fokussiert den intrinsischen Kern der Motivati- wieder weg (zur kognitiven Entwicklung 7 Kap. 14). Davon
on. Kinder tun viele Dinge aus freien Stücken. Sie spielen und abzugrenzen ist die epistemische Neugier, mit ihr wird der
beschäftigen sich mit Gegenständen aus Neugier, aus Freude Drang, neues Wissen zu erwerben, begrifflich gefasst. Vor
an der Tätigkeit oder aus Interesse am Thema. Das damit ver- allem dann, wenn sie auf einen konkreten Wissensbereich
bundene Explorationsverhalten gilt als wichtigster Motor der fokussiert, wird die inhaltliche Abgrenzung zu „Interesse“
frühkindlichen Erfahrungsbildung. Jede motivierte Tätigkeit schwierig. In aktuellen motivationspsychologischen Arbeiten
15.1  Motivations- und Interessenentwicklung
297 15
wird Neugier zudem häufig nicht mehr als Motiv, sondern –
genauso wie Explorationsverhalten – eher als Verhaltensten- damit neue Erkenntnis zu gewinnen. Diese menschliche
denz konzeptualisiert. Denn beide sind nicht auf bestimmte Tendenz zur Herstellung eines Gleichgewichts zwischen
Inhaltsklassen bezogen, sondern werden als allgemeine mo- kognitiven Strukturen und Umwelterfahrung wird Äqui-
tivationale Orientierungen des Aufsuchens beschrieben. Sie libration genannt. Zum Herstellen von Äquilibration sind
wirken in vielfältigen Situationen und über die wichtigen nach Piaget zwei Hauptprozesse relevant: Erstens die
Inhaltsklassen motivierten Verhaltens, wie Leistung, Macht Assimilation, also die Anpassung der Erfahrungswerte an
und Anschluss, hinweg verhaltensregulierend (Heckhausen die eigene kognitive Struktur. Beispielsweise integriert das
& Heckhausen 2006). Damit stellt sich die Frage, ob die wis- Kind mehrere Gegenstände an das bereits entwickelte
senschaftliche Motivations- und Interessenspsychologie des Verhaltensschema „Greifen“: Es erkennt, dass man auch eine
Konstruktes der Neugier überhaupt noch bedarf. Erkenntnis- Rassel, einen Bauklotz, einen Finger und weitere Gegen-
se aus den wissenschaftlichen Arbeiten rund um die Neugier stände greifen kann. Als zweiter wichtiger Prozess wird die
sollten aber nicht verloren gehen, da sie für Überlegungen zur Akkommodation beschrieben, also die Veränderung der
Motivationsförderung im schulischen Alltag bedeutsam sind. eigenen geistigen Strukturen bzw. Schemata als Anpassung
an neue Erfahrungen. Beispielsweise will das Kind nun auch
Im Fokus: Was macht neugierig? Wasser „greifen“ und merkt, dass das nicht geht. Das Schema
„Greifen“ wird zunächst erweitert um „Wasser kann man
Nach Berlyne (1960) wird Neugier durch bestimmte Reiz-, nicht greifen“ und später wird ein neues Schema entwickelt:
Situations- oder Umweltparameter angeregt, die einen „Schöpfen, Wasser muss man schöpfen“. Im Wechselspiel
kognitiven Konflikt herausfordern. Dabei ist subjektive von Assimilation und Akkommodation wird ein neuer,
Unsicherheit der entscheidende motivationale Zustand, jeweils höherer Gleichgewichtszustand (Äquilibration)
der durch exploratives Verhalten wieder reduziert werden erreicht.
kann. Auslöser subjektiver Unsicherheit sind Variablen der
Reizsituation bzw. des Vergleichs wie:
1. (subjektive) Neuartigkeit (Vergleich eines Umweltreizes Allen älteren und auch den neueren Forschungsansät-
mit bekannten Merkmalen), zen zur Neugier ist gemein, dass sie die konkreten Auslöser,
2. Komplexität und Mehrdeutigkeit, also den Gegenstand, auf den die Neugier ausgerichtet ist,
3. Ungewissheit (bei unsicheren Erwartungen) sowie vernachlässigen. Um mit Krapp (1994) zu sprechen, hat es
4. Konflikt (bei gleichzeitig aktivierten Reaktionstenden- die Forschung lange Zeit versäumt, den Inhaltsaspekt des
zen). Neugier- und Explorationsverhaltens angemessen zu analy-
sieren. So würde man einer Schülerin, die sich gerne mit
physikalischen Konzepten auseinandersetzt, nicht Neugier,
Die subjektive Unsicherheit bzw. die kognitiven Konflik- sondern Interesse an Physik zuschreiben.
te gelten also als zentrale Auslöser für Neugier. Sie zeigen
sich im Zweifel, beispielsweise im Konflikt zwischen glauben1 Interesse und selbstbestimmte Motivation
oder ablehnen einer Aussage, Perplexität bzw. Verwirrung – Interesse wird in der pädagogisch-psychologischen Interes-
also dann, wenn die Person zu Überzeugungen kommt oder sentheorie (Krapp 2002; Krapp & Prenzel 1992) als mehrdi-
Argumenten ausgesetzt ist, die sich gegenseitig ausschließen mensionales Konstrukt aufgefasst, dessen wichtigstes Merk-
oder (scheinbar) widersprechen. Solche Denkprozesse lösen mal die Gegenstandsspezifität ist, wodurch es sich von Neu-
ein vertieftes Nachdenken und die aktive, verständnisorien- gier und anderen motivationalen Konstrukten wie Explora-
tierte Auseinandersetzung mit dem Lernstoff aus. tion oder Leistungsmotivation abgrenzt. Es wird zwischen
individuellen und situationalen Interessen unterschieden.
Im Fokus: Kognitive Konflikte als Motor der Entwicklung Letztere entstehen aufgrund der situationsspezifischen Inte-
ressantheit des Gegenstandes, etwa wenn die Lehrkraft eine
Auch Piaget (1974) beschreibt den Zustand des kognitiven spannende Unterrichtsstunde zum Bau eines Fledermaus-
Konflikts. Er begreift kognitive Konflikte als Motor der empfängers durchführt und Schülerinnen und Schüler, die
kindlichen Entwicklung. Intrinsische Neugier und Entde- sich sonst eher weniger für Physik interessieren, voll bei
ckungslust, aktiv die Welt zu erkunden, sind dabei die der Sache sind. Individuelles Interesse bezeichnet im Ge-
Triebfedern. Die Entwicklung kognitiver Strukturen entsteht gensatz dazu eine länger andauernde, herausgehobene Bezie-
nach seiner Theorie im dynamischen Wechselspiel von hung einer Person zu einem Gegenstand (Krapp & Prenzel
Anpassungsprozessen zwischen Organismus und der Welt 1992), etwa wenn sich Schüler freiwillig über ein Jahr auf
(Adaptation). Das Kind erlebt eine neue Information als einen Sprachaufenthalt im Ausland vorbereiten. Solche in-
nicht zu dem passend, was es bisher weiß, es befindet sich dividuellen Interessen sind ein wesentlicher Bestandteil des
im kognitiven Ungleichgewicht (Disäquilibrium). Es erkennt Selbstkonzepts einer Person (Hannover 1998). Bittet man
die Unzulänglichkeiten der eigenen Verstehensstruktur und beispielsweise Kinder, sich selbst zu beschreiben, sprechen
strebt danach, dieses Ungleichgewicht aufzuheben und sie über ihre eigenen Vorlieben und Interessen. Interessen-
objekte können dabei tatsächliche Gegenstände (wie z. B.
298 Kapitel 15  Motivationale und emotionale Entwicklung

Modelleisenbahn, Pferde) oder Tätigkeiten (Fußballspielen, weil es mitmachen will. Wenn das Kind nun feststellt, dass
Tanzen) oder ganze Themengebiete wie Wikinger, Dinosauri- es relativ gut Fußball spielen kann und es ihm auch Spaß
er oder später im Studierendenalter Physik oder Psychologie macht, wird es vielleicht häufiger spielen wollen und einem
sein. Verein beitreten – ein individuelles Interesse entwickelt sich.
Gleichwohl Interessen sehr individuell sind, entstehen sie ver-
Unter Interesse versteht man eine mehr oder weniger
mutlich oft im sozialen Kontext (s. Krapp & Hascher 2014).
überdauernde spezifische Beziehung zwischen einer
1 Interessenentwicklung
Person und einem Gegenstand aus ihrem Lebensraum
(Krapp 2003).
Klassische altersbezogene Stufenmodelle zur Interessenent-
Merkmale: Ein Objekt wird zum Interessengegen-
wicklung (Todt 1995) umschreiben folgende Etappen: (1)
stand für eine Person, wenn es persönliche Bedeutung
universelle Interessen (bis ca. 2 Jahre), (2) kollektive, ge-
erlangt (wertbezogene Valenz), die Interessenhandlung
schlechtstypische Interessen (ca. 2 bis 8 Jahre), (3) allgemeine
der Person also wichtig ist und sie mit ihren grund-
Interessen (ab ca. 7 bis 9 Jahre), (4) vermehrte Ausbildung
legenden Werten im Einklang steht. Es entsteht eine
individueller Interessen (ab ca. 9 Jahren). Die zunehmen-
herausgehobene Beziehung zu diesem Gegenstand
de Entwicklung von individuellen Interessen ist nach diesen
(Gegenstandsspezifizität). Außerdem fühlt sich die Person
Ansätzen durch Ausblendungsvorgänge geprägt. Demnach
während der interessenbezogenen Beschäftigung, zumin-
werden in der Phase der geschlechtstypischen Interessen Tä-
dest in der Bilanz, gut (emotionale Valenz bzw. positive
tigkeiten, Themen und Gegenstände, die nicht mit dem ei-
Gefühlsbilanz). Weitere wesentliche Merkmale eines Inter-
genen Geschlechterstereotyp in Einklang gebracht werden
können, vermehrt ausgeblendet. Untersuchungen in diesem
esses in diesem Sinne sind die Selbstintentionalität, d. h.
Alter (Kindergartenalter) zeigen bereits relativ stabile Person-
die freiwillige und zielorientierte Beschäftigung mit dem
Gegenstandsbezüge (Renninger 2000). Weitergehend werden
Gegenstand und die epistemische Orientierung, d. h. der
Wunsch, mehr über das Interessengebiet zu erfahren. Da-
ab der späten Kindheit und während des Jugendalters mög-
mit erfolgt interessengeleitetes Lernen aus freien Stücken,
liche Interessenobjekte und -tätigkeiten, die nicht mit den
die lernende Person eignet sich selbständig Wissen an.
Vorstellungen der eigenen beruflichen Zukunft übereinstim-
men, zunehmend ausgeblendet.
Im Folgenden wird die Entwicklung der Interessen noch
Situationale Interessen weisen eine ähnliche Struktur auf etwas differenzierter betrachtet. In der Interessenforschung
wie individuelle Interessen, das Merkmal der Zeitstabilität wird davon ausgegangen, dass die Entwicklung einer indi-
und die Integration in das Selbstkonzept der Person feh- viduellen Präferenzstruktur der eigentlichen Interessenent-
len allerdings. Sie sind durch die kurzfristige Interessantheit wicklung vorgeschaltet ist. Angenommen werden frühe in-
des Gegenstandes oder des Kontexts, in dem er präsentiert dividuelle Sensibilitäten bezüglich bestimmter Stimuli in der
wird, bestimmt. Ein aus der Umgebung, z. B. durch inter- Umwelt (Krapp 2003). Entwicklungspsychologische Interes-
essanten Unterricht oder durch das Spiel mit den Freun- sentheorien postulieren für das Säuglings- und Kleinkindal-
15 den im Kindergartenalter angeregtes situationales Interesse ter (0 bis 2 Jahre) „universelle Interessen“. Das Kind sei vor
kann sich zu einem länger anhaltenden individuellen Inte- allem auf der Suche nach Struktur (Todt 1995; Krapp & Ha-
resse entwickeln. Im Zuge der wiederholten Beschäftigung scher 2014). In den ersten Lebenswochen wendet das Baby
entsteht über die Prozesse der Integration und Internalisation seinen Blick v. a. Gesichtern und klaren Kanten und Linien
eine stabile Person-Gegenstands-Beziehung. Der Interessen- zu, wie etwa deutlichen Schwarz-Weiß-Mustern. Babys wid-
gegenstand wird zum Bestandteil des eigenen Selbst bzw. der men ihre Aufmerksamkeit neuen, für sie unbekannten Ob-
eigenen Identität. jekten, und sie finden Objekte, die sich bewegen, sehr span-
Wie kann dieser Prozess der Integration erklärt wer- nend. Diese angeborenen Tendenzen der Säuglinge macht
den? Hier bezieht sich die Interessentheorie auf die in der man sich in der kognitiven Entwicklungspsychologie z. B. in
Selbstbestimmungstheorie (Ryan & Deci 2000) postulierten Habituationsaufgaben zu Nutze. Auf der Basis dieses For-
Wirkmechanismen zur Entstehung selbstbestimmt motivier- schungsparadigmas konnte man beispielsweise zeigen, dass
ter Tätigkeiten (Krapp 1998). Die Selbstbestimmungstheorie Säuglinge bereits im Alter von sieben Monaten zwischen be-
beschreibt die Merkmale einer befriedigenden Auseinander- lebten (wie Tiere) und unbelebten Objekten (wie Möbel oder
setzung mit einem Objekt: Die Person erlebt sich in ihrer Tä- Autos) unterscheiden können. Diese Befunde führten in der
tigkeit kompetent, autonom (selbstbestimmt) und sozial ein- Interessenforschung mit Säuglingen zur Frage, ob sich mit
gebunden. Dabei erlangen die drei psychologischen Grund- der Fähigkeit, zwischen Objektkategorien unterscheiden zu
bedürfnisse Kompetenzerleben, Autonomieerleben und So- können, bereits individuelle Präferenzstrukturen zeigen. Un-
ziale Einbindung im Entwicklungsverlauf nicht immer die tersucht man die Interessenentstehung im ersten Lebensjahr
gleiche Bedeutung. So kann z. B. in frühen Phasen der Entste- genauer, macht es Sinn, sich zunächst auf das situationale In-
hung einer Interessenbeziehung das motivationsförderliche teresse der Kinder zu konzentrieren, also zu überprüfen, ob
Gefühl der sozialen Eingebundenheit ausschlaggebend sein. Kinder bestimmte Spielzeuge gegenüber anderen bevorzu-
Ein Kind, das sich zunächst nicht für Fußball spielen inter- gen. Individuelle Interessen als Teil des Selbstkonzeptes, so
essiert, wird sich am Spiel der Freunde beteiligen, einfach, wie es die pädagogischen Interessentheorie annimmt, wird
15.1  Motivations- und Interessenentwicklung
299 15
man bei Säuglingen im ersten Lebensjahr noch nicht unter- schulalter zeigen generell ein sehr hohes Interesse an vielen
suchen können, da sich ein Bewusstsein vom eigenen Selbst verschiedenen Themen. Die Themenbereiche Tiere und Fahr-
erst ab einem Alter von ungefähr 18 Monaten entwickelt und zeuge werden von den meisten Kindern als sehr attraktiv
die Entwicklung eines Selbstkonzeptes, das an die sprach- wahrgenommen, aber auch schulisch besetzte Tätigkeiten wie
liche und repräsentationale Entwicklung gekoppelt ist, frü- Rechnen, Schreiben, Lesen sind in der Regel positiv konno-
hestens im Kindergartenalter beginnt (7 Kap. 16). Über einen tiert.
längsschnittlichen Ansatz kann aber weitergehend untersucht Ab dem späten Grundschulalter und insbesondere in
werden, inwieweit sich bereits im ersten Lebensjahr zeitlich der Sekundarstufe sinken die Interessen an den Schulfä-
überdauernde individuelle Präferenzen zeigen. chern aber sehr deutlich ab. Mit Eintritt der Pubertät bilden
sich identitätsrelevante individuelle Interessen aus. Spätes-
Studie: Frühe Interessenentwicklung tens dann werden Interessensgebiete vermehrt ausgegrenzt,
54 Säuglinge wurden in einem experimentellen Ansatz im Al- die nicht zum eigenen Selbstkonzept mit seinen Merkmalen
ter von 8, 10 und 12 Monaten längsschnittlich untersucht. Die wie Geschlecht, spezifische Gruppenzugehörigkeit, wahrge-
Babys wurden durch Objektexaminationsaufgaben entspre- nommene eigene Fähigkeiten und Vorlieben passen. Der Ab-
chend dem Habituationsparadigma mit zwei Spielzeugkatego- wärtstrend zeigt sich für alle Jugendliche, besonders aber bei
rien, nämlich Tieren und Fahrzeugen, vertraut gemacht. In einer Mädchen für die Naturwissenschaften (für einen Überblick s.
anschließenden Objektpräferenzaufgabe konnten die Kinder Wigfield et al. 2015 oder Krapp & Hascher 2014).
zwischen je einem Tierspielzeug und einem Fahrzeugspielzeug
wählen. Die Aufgaben wurden zu den drei Messzeitpunkten 1 Berufspsychologische Interessenentwicklung
hochstandardisiert durchgeführt und auf Video aufgezeichnet. Ein sehr prominenter berufspsychologischer Ansatz begreift
Die anschließende Auswertung der Blick- und Explorationsdau- Interesse als Persönlichkeitskonstrukt, wonach sich erwach-
er der Spielzeugobjekte machte geschlechtsspezifische und sene Menschen in ihren berufsbezogenen Präferenzen unter-
individuelle Unterschiede deutlich. Es scheinen sich mehr Mäd- scheiden. Holland (1992), auf den dieses theoretische Kon-
chen für Gegenstände aus der belebten (Tiere) und mehr Jun- strukt zurückgeht, postuliert das Berufsinteressenhexagon,
gen für Gegenstände aus der unbelebten Welt (Fahrzeuge) zu durch das sich sechs, bestimmte Tätigkeiten präferierende
interessieren.Wichtig ist hierbei allerdings auch, die individuel- Interessentypen ausmachen lassen: der realistische Typ (R)
le Ebene der Kinder zu betrachten. So interessieren sich einige bevorzugt die Arbeit mit Gegenständen und Geräten und
Jungen über die drei Messzeitpunkte hinweg konsistent vor al- Arbeit im Freien, der konventionelle Typ (C) bevorzugt ei-
lem für Spielzeugtiere, und andere Jungen entschieden sich, ne strukturierte Umwelt und konventionelles Wissen, der
wenn sie die Wahl hatten, vorwiegend für Spielzeugfahrzeuge. unternehmerische Typ (E) versucht in der Gruppe aufzustei-
Die Gruppe von Jungen, die bereits im Säuglingsalter ein aus- gen und Führungsrollen zu übernehmen, der investigative,
geprägtes Interesse an Fahrzeugen hatte, zeigte im Alter von 7 forschende Typ (I) bevorzugt akademisch-wissenschaftliche
Jahren gleiche Vorlieben (Kramer & Enzelberger 2015). Tätigkeiten, der künstlerische Typ (A) bevorzugt unstruktu-
rierte Umwelten als Gelegenheit zur Selbstdarstellung, der
Die erstaunlichen zeitstabilen Präferenzen, die sich in soziale Typ (S) bevorzugt Arbeit mit und für andere und hat
Studien insbesondere für Spielzeuggegenstände aus der unbe- Freude am sozialen Kontakt. Diese sechs Faktoren können
lebten Welt ergaben und in Einklang mit Ergebnissen aus der entlang zweier Dimensionen angeordnet werden, die jeweils
biologischen Geschlechterforschung stehen, zeigen, dass wir zwei Pole ausbilden: (1) Menschen vs. Dinge bzw. die beleb-
früher als bisher angenommen von individuellen Präferenzen te Welt vs. die unbelebte Welt und (2) Ideen vs. Daten bzw.
bzw. „frühen Interessen“ ausgehen müssen. Die bislang für abstrakte vs. konkrete Bereiche.
den Altersbereich von 0 bis 2 Jahren angenommenen „uni- Die persönlichkeitspsychologisch basierte Berufsinteres-
versellen Interessen“, für alle Kinder gleichermaßen, müssen senforschung brachte eine Vielzahl von Befunden hervor. Die
vermutlich differentieller betrachtet werden. Auch die an- Entwicklung von Präferenzen bei Kindern und Jugendlichen
schließende Stufe der „geschlechtsspezifischen Interessen“, wurde allerdings nur vereinzelt in den Blick genommen. So
die in Zusammenhang mit der Geschlechtsrollenentwicklung zeigt Tracey in seinen Studien mit Kindern und Jugendlichen,
betrachtet und ab einem Alter von ca. 2 bis 3 Jahren angenom- dass sich die von Holland postulierte hexagonale Interessen-
men wird, muss vermutlich überdacht werden. Die Befund- struktur erst ab dem Jugendalter empirisch zeigen lässt, sich
lage zeigt eine frühere Präferenz für geschlechtsspezifische die Faktoren aber unabhängig voneinander abbilden lassen
Spielzeuggegenstände, spätestens ab 1,5 Jahren, vermutlich (Tracey 2002). Die Befunde weisen auf deutliche geschlechts-
aber auch schon früher (für einen Überblick s. Kramer & En- spezifische Unterschiede in den Interessen hin: Mädchen wei-
zelberger 2015). sen höhere Werte für die Skalen A (künstlerisch), S (sozial)
Für das Grundschulalter bis zum Eintritt der Pubertät und C (konventionell) auf, wohingegen Jungen höhere Werte
wird die Phase der „allgemeinen Interessen“, in der sich die auf den Skalen R (realistisch) und I (investigativ, forschend)
Kinder vorwiegend an ihren eigenen Kompetenzen („Was zeigen. Auch Bergmann und Eder (2005) beziehen sich in ih-
kann ich gut?“), an den Interessen der Gleichaltrigen und ren Studien mit dem Allgemeinen Interessen-Struktur-Test
den vorherrschenden gesellschaftlichen Beschäftigungsange- (AIST) für die Berufsorientierungsphase auf die Theorie von
boten orientieren, angenommen. Kinder im frühen Grund- Holland. Untersuchungen der österreichischen Zusatzanaly-
300 Kapitel 15  Motivationale und emotionale Entwicklung

sen für PISA 2009 machen erhebliche geschlechtsspezifische bens nach Wirksamkeit können schon im Neugeborenenalter
Interessenunterschiede deutlich. Weibliche Interessen bezie- beobachtet werden und Babys sind ab ca. dem 3. Lebensmo-
hen sich v. a. auf die Skalen S (sozial) und A (künstlerisch) nat zunehmend bestrebt, Effekte in ihrer Umwelt hervorzuru-
und männliche auf R (realistisch) und I (forschend) (Eder fen. Wenn ihnen dies gelingt, freuen sie sich und sie bemühen
2012). sich, diese Effekte weiterhin hervorzurufen. In der anglo-
amerikanischen Forschung ist das Wirksamkeitsstreben un-
ter dem Begriff der „mastery motivation“ untersucht worden.
15.1.2 Leistungsmotivation und Heckhausen und Heckhausen (2006) beziehen sich u. a. auf
jene Forschungsarbeiten und zeichnen die Entwicklung der
Motivationale Zielorientierungen
frühen Wirksamkeitsmotivation durch drei Entwicklungs-
phasen nach:
1 Zutrauen: Traue ich mir zu, diese Aufgabe zu 1. Phase 1 (0 bis ca. 8 Monate): Die Hauptmerkmale sind Ex-
bearbeiten? ploration und Neugier, die sich auf die Erkundung neuer
Bereits in den ersten Lebensmonaten sind Babys hochmo- Reize, Merkmale und Objekte der Umwelt richten. Sie gel-
tiviert, sich mit Gegenständen der Umgebung zu beschäfti- ten als präadaptierte, angeborene Verhaltensorientierun-
gen. Aber erst im zweiten Lebensjahr entwickeln die Kinder gen. Es wird angenommen, dass schon Babys in diesem
selbstbezogene Emotionen wie Stolz und Scham, die eng Alter eine generalisierte Erwartung eigener Wirksamkeit
an die Entwicklung der Leistungsmotivation geknüpft sind. aufbauen können. Belegt wird dies u. a. durch Studien,
Leistungsmotiviertes Verhalten ist auf die Erreichung eines die positive Affektreaktionen bei verhaltenskontingenter
Gütestandards ausgerichtet (McClelland et al. 1953). Eine Darbietung von Effekten fanden.
leistungsmotivierte Person ist bestrebt, etwas besonders gut 2. Phase 2 (9 Monate bis ca. 2 Jahre): Wirksamkeitsmit-
zu machen, sich selbst zu übertreffen oder sich im Wettbe- tel und -effekte werden voneinander unterschieden. Das
werb mit anderen zu beweisen (Brandstätter 2013). Voraus- Kind erprobt verschiedene Aktivitäten und Handlungs-
setzung dafür ist, dass sich die Person die Aufgabe zutraut weisen, die den Effekt bisher hervorgebracht haben, das
bzw. dass sie erwartet, Erfolg zu haben und Misserfolg ab- eigentliche Handlungsziel steht dabei aber nicht vorran-
wenden zu können. Das Anspruchsniveau (Gütemaßstab) gig im Fokus. Die Kinder gehen sozusagen im Rausch der
der lernenden Person entscheidet darüber, was sie als Er- Aktivität auf. Kinder, die in diesem Alter beispielsweise
folg oder Misserfolg wahrnimmt. Die Selbstbewertung der ein Holzpuzzle zusammensetzen, machen, selbst wenn sie
eigenen Tüchtigkeit geht damit einher. Die Intensität der Leis- das Ziel erreicht haben, einfach weiter oder fangen wieder
tungsmotivation wird mit Hilfe der Erwartungs-Mal-Wert- von vorne an (für einen Überblick s. Heckhausen & Heck-
Theorien erklärt und ist demzufolge abhängig von dem zu hausen, 2006). Piaget beschreibt diese Verhaltensweisen
erwartenden Erfolg des Handlungsergebnisses (Erwartungs- als Zirkulärreaktionen.
komponente) und vom Anreiz des Handlungsergebnisses 3. Phase 3 (ab ca. 2 Jahren): Zentrierung auf ein intendier-
(Wertkomponente). Die Richtung der Leistungsmotivation tes Handlungsziel. Nun wird das Ergebnis der eigenen
15 wird bestimmt durch die beiden Ausprägungen des Leis- Handlung zunehmend wichtig, ohne dass damit bereits
tungsmotivs: Erfolgsmotiv (Hoffnung auf Erfolg) und Miss- ein Rückschluss auf die eigene Tüchtigkeit verknüpft ist.
erfolgsmotiv (Furcht vor Misserfolg). Je nach Ausprägung Plötzlich-diskrete Effekte, wie etwa das Ertönen einer
suchen Schülerinnen und Schüler leistungsthematische Si- Trommel oder das Fallen eines Gegenstands, sind zu Be-
tuationen eher auf und verstehen sie als Herausforderung ginn des 2. Lebensjahres attraktive Handlungsziele, die
oder meiden diese vermehrt, weil sie sie als Bedrohung wahr- den Aktivitäten von Kleinkindern eine Richtung geben
nehmen. (Spangler, Bräutigam & Stadler, 1984).
Heckhausen beschreibt diese Zusammenhänge im Selbst-
bewertungsmodell der Leistungsmotivation (Heckhausen & 2Selbermachenwollen und Autonomieerleben
Heckhausen 2006). Er skizziert drei Teilprozesse: Zielset- Wenn die Kinder dann ca. 1,5 Jahre alt werden, beginnt die
zung/Anspruchsniveau, Ursachenzuschreibungen/Attributi- intensive Phase des Selbermachenwollens. Die Kinder entwi-
onsstile und Selbstbewertung (7 Kap. 11). ckeln eine Vorstellung vom eigenen Selbst (7 Kap. 16), was
sich u. a. darin zeigt, dass sie die „Rote-Punkt-Aufgabe“ lö-
1 Entwicklung der Leistungsmotivation sen können. Sie erkennen sich, bei vorhandenem objektivem
Die Leistungsmotivation entwickelt sich in drei Etappen: dem Selbstbewusstsein, selbst im Spiegel und versuchen einen ro-
Wirksamkeitsstreben, dem Selbermachenwollen und der Be- ten Punkt, der ihnen auf die Nase gemalt wurde, nicht mehr
wertung der eigenen Tüchtigkeit (Heckhausen & Heckhausen am Spiegel wegzuwischen, sondern die eigene Nase sauber zu
2006). machen. Die Kinder beginnen in diesem Alter auch Personal-
pronomina (ich, du etc.) zu verwenden, sie erleben sich als die
2Wirksamkeitserleben und Freude am Effekt primäre Ursache von Handeln (internale Kontrollüberzeu-
Das Streben nach Wirksamkeit und Kontrolle der physischen gung) und wollen alles „alleine“ machen. Sie befinden sich in
und sozialen Umwelt gehört zur motivationalen Grundaus- der Autonomiephase (umgangssprachlich Trotzphase). Hier
stattung des Menschen. Erste Erscheinungsformen des Stre- beginnen die Eltern, die Handlungen ihrer Kinder zu bewer-
15.1  Motivations- und Interessenentwicklung
301 15
ten, sie zu loben oder auch zu tadeln, was zu ersten Stolz- oder Im Verlauf des späten Vorschulalters und der Grund-
Verlegenheitsreaktionen auf Seiten des Kindes führen kann schulzeit entwickeln Kinder ihre leistungsbezogenen Über-
(Holodynski 2007). Damit entwickelt sich eine weitere wich- zeugungen deutlich weiter (Holodynski 2007). Mit 5 Jahren
tige Komponente, die beim Auftreten von selbstbewussten unterscheiden sie zwischen internen Ursachen (Tüchtigkeit)
Emotionen wie Scham oder Stolz eine Rolle spielt, nämlich und externen Ursachen (Schwierigkeit). Während als interne
das Bewusstsein für die Regeln und Normen, die in der je- Gründe für Erfolg und Misserfolg mit ca. 6 Jahren vor allem
weiligen Kultur (oder Familie) gelten. Das Erleben von Scham Anstrengung angegeben wird, geben Kinder ab ca. neun bis
setzt beispielsweise voraus, dass man sich einer Normverlet- zwölf Jahren vermehrt Fähigkeit als Grund an. Anstrengung
zung bewusst ist (Lohaus & Vierhaus 2015). Stolz, eine Sache und Fähigkeit können zwar differenziert werden, aber die
gut gemacht zu haben, bedeutet gleichzeitig, die Leistungs- Unterscheidung wird nicht durchgängig angewandt. Erst ab
norm der Familie verinnerlicht zu haben. Damit beginnt der einem Alter von ca. 12 Jahren wird Fähigkeit als Disposition
letzte Schritt der Leistungsmotivationsentwicklung. verstanden und es wird erkannt, dass sie Anstrengungser-
folg limitieren und Anstrengung kompensatorisch für Fähig-
2Orientierung an Gütemaßstäben und Bewertung der keit wirken kann. Weiterhin werden ab ca. zwölf Jahren das
eigenen Tüchtigkeit external variable Attributionsmuster vermehrt in den Blick
Die dritte Etappe der Entwicklung der Leistungsmotivation genommen und Glück oder Pech für Leistungsergebnisse ver-
ist eng an die Entwicklung der Fähigkeit geknüpft, die eigenen antwortlich gemacht.
Leistungen zu bewerten. Vor einem Alter von 22 Monaten be-
werten Kinder ihre Leistungen noch nicht selbst, sie zeigen1 Motivationale Zielorientierungen
aber bereits positive emotionale Reaktionen und Kontaktauf- Mit den motivationalen Konzepten der Zielorientierun-
nahme, wenn sie eine Aufgabe erfolgreich bewältigt haben. gen (goal orientations) werden die Wertkomponente des
Bei Misserfolg zeigen sie negative Emotionen und wenden Erwartungs-Wert-Modells und damit die Gütemaßstäbe, an
sich ab. Mit ca. 3 bis 3,5 Jahren sind sie schließlich in der denen Lernende Erfolge oder Misserfolge bevorzugt mes-
Lage, ihre eigene Leistung zu bewerten und diese als Erfolg sen, genauer gefasst. In den ursprünglichen Ansätzen werden
oder Misserfolg einzuschätzen. Wenn sie etwas geschafft oder drei motivationale Zielorientierungen beschrieben: Lern-
gut gemacht haben, zeigen sie Stolz und nicht mehr nur Freu- zielorientierung (Aufgabenorientierung), Leistungszielorien-
de. Die Kinder verfügen dann bereits über ein elaborierteres tierung (Performanzzielorientierung) und Arbeitsvermei-
Selbstbild, sie haben nicht nur ein Bild vom eigenen Ich, son- dungszielorientierung (für einen Überblick s. Wigfield et al.
dern auch eine Vorstellung vom eigenen Handlungspotenzial. 2015). Lernende, die vorwiegend Lernziele (mastery goals)
Ein Indikator hierfür ist das Erleben von Stolz und Scham. verfolgen, wollen den Lerninhalt verstehen, ihr eigenes Wis-
Mit ca. 3,5 Jahren ist leistungsmotiviertes Handeln voll sen und die Kompetenzen erweitern; sie nehmen Misserfolge
ausgeprägt. Das Kind kann sich auf einen Gütemaßstab bzw. und Fehler als Chance zur Weiterentwicklung, und nicht als
auf die eigene Tüchtigkeit beziehen, es handelt, um einen Feststellung ihrer Inkompetenz. Lernende mit Performanz-
von der Tätigkeit unabhängigen Zielzustand zu erreichen. Es bzw. Leistungszielen (performance goals) fokussieren vorwie-
spielt beispielsweise Klavier, um anschließend von den Eltern gend auf die Folgenanreize des Lernprozesses, also darauf,
gelobt zu werden oder es übt Grammatik, weil es eine schlech- etwa die eigenen Fähigkeiten oder Kompetenzen durch gute
te Note im Test vermeiden will. Das ursprünglich wirk- bzw. Noten oder in Wettbewerbssituationen mit anderen zu de-
effektmotivierte Handeln entwickelt sich zum leistungsmo- monstrieren (7 Kap. 11).
tivierten Handeln. Intrinsisch motivierte Tätigkeiten werden Dweck (2006) beschreibt auf der Basis ihrer Untersuchun-
durchgeführt, weil die Tätigkeit an sich Spaß macht oder der gen mit Kindern und deren Umgang mit Leistungsanforde-
Gegenstand interessant ist – der angestrebte Zielzustand liegt rungen, warum manche Kinder erfolgszuversichtlich bleiben,
also innerhalb der Tätigkeit. Beim leistungsmotivierten Han- während andere eine eher ängstliche Einstellung entwickeln.
deln liegt er oft auch außerhalb, wie Lob der Eltern oder Sie fokussiert verstärkt auf den dispositionalen Charakter
Vermeidung einer schlechten Note (für einen Überblick s. der motivationalen Orientierungen und unterscheidet ein
Krapp & Hascher 2014). „growth mindset“, also ein dynamisches Selbstbild, von einem
Leistungsmotivation entwickelt sich in der Interaktion „fixed mindset“, also einem statischen Selbstbild. Sie stellt ein
mit wichtigen anderen Personen, wie den Eltern, Erzieherin- auf Wachstum und Weiterentwicklung ausgerichtetes Selbst-
nen in den Kindertagesstätten oder in der Schule. So konnte bild jenem gegenüber, das durch die Überzeugung geprägt ist,
Holodynski (2007) zeigen, dass Kinder bis ins Vorschulalter die eigene intellektuelle Ausstattung wie Intelligenz und die
Reaktionen von Stolz und Scham nur im Beisein von Erwach- grundlegenden Fähigkeiten, Kompetenzen und Begabungen
senen zeigen, nicht aber wenn sie alleine sind. In diesem Alter seien weitgehend festgelegt und man müsse darauf achten,
zeigen sich bereits individuelle Unterschiede in Bezug auf die dass keiner merkt, welche Fehler und Defizite man aufweist.
Ausprägungen der Richtung des Leistungsmotivs, bei man- Kinder und Jugendliche mit einem dynamischen Selbstbild
chen Kindern ist Hoffnung auf Erfolg stärker ausgeprägt, bei bzw. einer lernzielorientierten motivationalen Orientierung
anderen die Furcht vor Misserfolg. Nach den Befunden von sind offen für Situationen, die Selbsterprobung und Erkennt-
Holodynski zeigen Kinder erst im Grundschulalter selbstbe- nisse über sich selbst zulassen, Herausforderungen darstellen
wertende Emotionen auch in Alleinsituationen. und eine persönliche Weiterentwicklung fördern. Rückmel-
302 Kapitel 15  Motivationale und emotionale Entwicklung

dungen über Fehler und Verbesserungsoptionen werden als gefasst, die bei der Verhaltenssteuerung notwendig sind, um
hilfreich für den eigenen Kompetenzzuwachs betrachtet. auf ein Ziel zu fokussieren und die Zielerfüllung gegen kon-
In neueren Arbeiten werden Befunde aufgegriffen, die po- kurrierende Handlungsalternativen abzuschirmen. Sie sind
sitive Zusammenhänge zwischen motivationaler Leistungs- kognitive Fähigkeiten, die beim zielgerichteten und reflexi-
zielorientierung und Lernerfolg aufzeigen und es wird eine ven, also dem selbstreguliertem Lernen, dem Problemlösen,
Erweiterung des dichotomen Konzeptes um die Dimension und der konzentrierten Aufgabenbearbeitung eingesetzt wer-
„aufsuchend vs. vermeidend“ vorgeschlagen (Wigfield et al. den. Sie überwachen das Denken und Handeln, helfen bei der
2015; 7 Kap. 11). Forschungsergebnisse zeigen, dass die aufsu- Fehleranalyse und -korrektur und ermöglichen eine flexible
chende Leistungszielorientierung auch mit guten Leistungs- Anpassung an neue, komplexe Aufgabensituationen.
ergebnissen einhergeht, während Personen mit vorwiegend Studien mit Vorschulkindern zeigen die Bedeutung die-
vermeidender Leistungszielorientierung, ähnlich der Miss- ser Fähigkeiten für die Schulreife und die bessere Anpas-
erfolgsorientierung, weniger gute Leistungsergebnisse erzie- sung in der Schule. Kindern mit gut ausgeprägten exekutiven
len. Eine motivationale Lernzielorientierung hängt zwar mit Funktionen fällt das Stillsitzen, Aufpassen und die Regel-
höherer Selbstwirksamkeit, tiefenorientierten Lernstrategien einhaltung wesentlich leichter und sie zeigen eine positive-
und intrinsischer Motivation zusammen, weniger eindeu- re Lernentwicklung. Deutliche Unterschiede zeigen sich für
tig zeigt sich hier aber der Zusammenhang mit positiven Kinder mit niedrigerem sozioökonomischen Hintergrund.
Leistungsergebnissen. Möglicherweise erzielen aufgabenori- Selbst bei Kontrolle allgemeiner kognitiver Fähigkeiten wei-
entierte Schülerinnen und Schüler nicht immer auch gute sen sie weniger gut ausgeprägte exekutive Funktionen auf,
Leistungen im Sinne von guten Noten, weil sie sich bevorzugt sodass diskutiert wird, ob diese den Leistungsunterschied
mit ihren Interessengebieten und weniger mit den genauen zwischen Kinder mit geringerem und höherem sozioökono-
schulischen Leistungsanforderungen beschäftigen (für einen mischen Hintergrund wesentlich erklären können. Studien
Überblick s. Wigfield et al. 2015). im Jugendalter weisen ebenso auf die Bedeutung der exeku-
Motivationale Zielorientierungen sind als persönliche tiven Funktionen hin: Jugendliche mit ausgeprägten Fähig-
Dispositionen konzeptualisiert, gleichwohl werden sie durch keiten in diesem Bereich sind insgesamt sozial kompetenter,
Kontextfaktoren in ihrer Entwicklung beeinflusst. Kinder im besser in der Schule und haben weniger Alkohol- und Dro-
Kindergarten und jüngere Grundschulkinder zeigen sich vor genprobleme (Zelazo 2015).
allem als lernzielorientiert und möchten ihre Fähigkeiten ver-
bessern. Wenn in der Grundschule der soziale Vergleich an-
Exekutive Funktionen werden typischerweise anhand
gestoßen wird und sich Situationen mit Bewertungscharakter
dreier Fähigkeiten beschrieben und gemessen:
häufen, kommt die Leistungszielorientierung vermehrt zum
1. „Shifting“ bzw. Kognitive Flexibilität, wie beispielsweise
Tragen. Dies setzt sich im Verlauf der späten Kindheit und des
etwas von verschiedenen Seiten betrachten, die
Jugendalters fort. Kontexte, in denen Experimentieren und
Perspektive einer anderen Person auf eine bestimmte
neugieriges Ausprobieren im Vordergrund stehen, befördern
Situation einnehmen oder Aufgabenwechsel,
allerdings eher eine Lernzielorientierung (vgl. Krapp & Ha-
2. „Updating“ bzw. Informationen im Gedächtnis
15 scher 2014).
aufrechterhalten und für Denkprozesse nutzen und
3. „Inhibition“ bzw. inhibitorische Kontrolle, d. h. die
Fähigkeit, Verhalten zu hemmen und sich nicht
15.1.3 Volition und Selbstregulation ablenken zu lassen.

1 Strategien/Wille: Wie muss ich vorgehen, um diese Diese exekutiven Funktionen (EF) variieren entlang eines
Aufgabe erfolgreich zu bewältigen? Kontinuums von „hot EF“ bis „cool EF“. Mit „heißen exe-
Wenn die ersten drei eingangs formulierten Fragen positiv kutiven Funktionen“ werden emotionale und motivationale
beantwortet sind, die Person also die Aufgabe, z. B. eine Semi- Prozesse reguliert, die „kühlen“ steuern und überwachen ra-
nararbeit zu verfassen, bearbeiten möchte, weil sie das Thema tionale Denkvorgänge und Handlungen.
interessant findet und weil sie sich auch zutraut und erwartet,
eine gute Arbeit schreiben zu können, ändert sich die moti- Studien: Belohnungsaufschub
vationale Lage und sie tritt in die Umsetzungsphase, also die Das prominenteste Beispiel für emotions- und motivations-
Volitionsphase ein. Während es bei motivationalen Prozessen bezogene exekutive Funktionen ist die Fähigkeit zum Be-
um das Wählen eines Zieles geht, gewinnen nun, nach Über- lohnungsaufschub (delay of gratification). In dem klassischen
schreitung des Rubikons, Prozesse an Bedeutung, die sich um Marshmallow-Experiment von Mischel (2015; Mischel & Mischel
das Wollen drehen (für eine ausführliche Beschreibung voli- 1983) wurden Kinder vor die Wahl gestellt auf den Verzehr
tionaler Kontrollstrategien 7 Kap. 11). der sofort verfügbaren kleineren Süßigkeit zu verzichten, um
Fähigkeiten, die volitionsstrategisches Verhalten ermögli- dann nach einer längeren Wartezeit, alleine im Zimmer, die
chen, basieren auf exekutiven Funktionen, die den Aufgaben doppelte Menge zu bekommen. Kindern im Kindergartenalter
des Arbeitsgedächtnisses zugeordnet werden können. Da- fällt der Belohnungsaufschub noch sehr schwer, insbesonde-
runter werden selbstregulatorische Prozesse (des Wollens) re dann, wenn die Süßigkeit unmittelbar zugänglich ist. Das
15.1  Motivations- und Interessenentwicklung
303 15
Warten fiel ihnen aber deutlich leichter, wenn sie aufgefordert
wurden, an etwas zu denken, was Spaß machte. Kinder im spä- Entwicklung, also in der sensu-motorischen Stufe, noch
teren Grundschulalter berichteten dann auch selbst über gut nicht über unabhängig von den eigenen Handlungen
funktionierende Ablenkungsstrategien. Ein Kind erklärte bei- existierende mentale Repräsentationen der Objekte. Die
spielsweise, es stelle sich vor, das Marshmallow sei eine kleine Vorstellungstätigkeit sei an die Handlung geknüpft.
Wolke, die nicht schmecke und die man nicht essen könne.
Es lenkte seine Aufmerksamkeit also weg von der attraktiven
Süßigkeit und schaffte es damit besser, die Wartezeit zu über- Neuere Befunde zur Entwicklung begrifflichen Wissens
brücken (Mischel & Mischel 1983). stellen diese Annahme Piagets aber stark in Frage (für einen
Überblick Sodian 2014). Die Überwindung des klassischen
Exekutive Funktionen, die die rationale Handlungssteue- A-nicht-B-Fehlers ist nach neuerem Verständnis nicht Aus-
rung fundieren, werden typischerweise mit dem Stroop-Test druck einer dann entwickelten Objektpermanenz, sondern
gemessen. Es werden nacheinander farbig dargestellte Farb- vielmehr ein Ausdruck angewandter inhibitorischer Kon-
wörter eingeblendet, also z. B. das Wort Blau in grüner Farbe. trolle und eines sich entwickelnden Arbeitsgedächtnis (vgl.
Der Proband hat zunächst die Aufgabe, die Farbe zu be- Diamond 2002).
nennen, dann erfolgt ein Wechsel: Er soll sich nun auf das Entwicklungspsychologische Studien belegen eine deutli-
Wort konzentrieren und sich nicht von der Farbe beirren las- che Veränderung der exekutiven Funktionen im Alter zwi-
sen. Zunächst ist also vor allem „Inhibition“ wichtig, später schen 3 und 6 Jahren, unabhängig vom sozioökonomischen
dann auch „Shifting“. Ein anderes typisches Beispiel für die Hintergrund (McClelland 2015). Die einzelnen Komponen-
Erfassung von „kühlen“ exekutiven Funktionen ist die Kar- ten der exekutiven Funktionen wie Aufmerksamkeitswechsel,
tensortierungsaufgabe. Zunächst sollen beispielsweise Karten Arbeitsgedächtnis oder inhibitorische Kontrolle zeigen un-
nach Farbe sortiert werden, dann nach Form oder Zahl (Wis- terschiedliche Entwicklungsverläufe. Für das Erwachsenenal-
consin Card Sorting Test). Auch hier zeigt sich gerade der ter zeigen sich die exekutiven Funktionen kulturübergreifend
Wechsel als besonders herausfordernd. als ein mehrdimensionales Konstrukt. Bei jüngeren Kindern
können die drei Funktionen weniger gut voneinander diffe-
1 Entwicklung der exekutiven Funktionen
renziert werden, Faktorenanalysen zeigen lediglich ein oder
Die Entwicklung der Selbstregulation und der exekutiven zwei Faktoren. Studien belegen eine raschere Entwicklung
Funktionen wird in der aktuellen Forschungstradition vor der inhibitorischen Kontrolle und eine etwas spätere Ent-
dem Hintergrund eines relationalen Entwicklungsbegriffes wicklung des Aufmerksamkeitswechsels und des effizienteren
betrachtet. Entwicklung wird hier verstanden als eine in dy- Arbeitsspeichers (McClelland 2015).
namisch aufeinander bezogenen Interaktionsprozessen zwi- Unzureichend ausgeprägte exekutive Funktionen wer-
schen biologisch reifungsbezogenen, individuellen und um- den häufig auch in Zusammenhang mit einer Aufmerk-
weltbezogenen Merkmalen stattfindende Veränderung (Mc- samkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) beschrie-
Clelland 2015, 7 Kap. 12). Es wird von einer relativen Plasti- ben (7 Kap. 28). Vermutlich sind je nach Störungsbild die
zität der Funktionen ausgegangen, d. h. exekutive Funktionen exekutiven Funktionen in unterschiedlichem Ausmaß betrof-
und Selbstregulationskompetenzen entwickeln sich weiter bis fen.
ins hohe Erwachsenenalter.
Bereits wenn Kinder im Alter von ca. einem Jahr die, im1 Entwicklung der Selbstregulation
theoretischen Verständnis von Piaget, kognitive Fähigkeit der Selbstregulation ist ein breit gefasstes Konstrukt und be-
Objektpermanenz entwickelt haben, greifen sie auf exekutive schreibt adaptive Prozesse, die einem Individuum die Auf-
Funktionen zurück. rechterhaltung oder Wiederherstellung eines optimalen emo-
Im Fokus: Entwicklung der Objektpermanenz tionalen, motivationalen und kognitiven Erregungszustan-
des ermöglichen (Liew 2012). In neueren Überblicksarbeiten
Babys unterliegen im ersten Lebensjahr dem A-nicht-B- werden top-down- und bottom-up-Regulationsprozesse un-
Fehler. In dieser von Piaget entwickelten Aufgabe sollen terschieden. Erste umfassen die vorwiegend bewusst und
die Kinder ein vom Versuchsleiter unter einem Becher A reflexiv ablaufenden exekutiven Funktionen mit ihren beiden
verstecktes Objekt aufdecken. Die Kinder schauen dabei Ausprägungen in „hot“ und „cool“, zweite beziehen sich auf
zu, wie das Objekt unter dem Becher versteckt wird und die implizit und prozeduralisiert ablaufenden emotions- und
decken es anschließend auf. Diese Handlung wird mehrfach motivationsbezogenen Regulationsprozesse. Selbstregulation
durchgeführt. Dann legt der Versuchsleiter vor den Augen erfolgt im dynamischen Wechselspiel automatisierter und re-
des Kindes das Objekt unter Becher B. Viele der Kinder flexiv gesteuerter Regulationsprozesse. So zieht ein 4-jähriges
werden, obwohl sie gesehen haben, dass das Objekt nun Kind vielleicht die Hand wieder zurück (inhibitorische Ver-
unter B liegt, wieder Becher A aufdecken. Piaget erklärte haltenskontrolle), wenn es gesagt bekommt, dass es die Sü-
diesen typischen Fehler mit mangelnder Objektpermanenz, ßigkeit nicht sofort essen soll und es nimmt stattdessen die
d. h. das Kind verfüge in der ersten Stufe der kognitiven Finger vor den Mund, kaut vielleicht auf den Nägeln (bottom-
up-Regulation). Anschließend nutzt es vielleicht den Regula-
304 Kapitel 15  Motivationale und emotionale Entwicklung

tionsmechanismus der sprachlichen Umgestaltung und stellt1 Entwicklung unterschiedlicher Emotionsqualitäten


sich vor, dass die Süßigkeit ein kleiner Kieselstein sei, den Emotionale Basisfertigkeiten und -kompetenzen, also Emo-
man nicht essen könne (top-down-Regulation, „hot“). tionen ausdrücken, sie bei anderen wahrnehmen und ver-
Die Selbstregulationsfähigkeiten entwickeln sich im stehen sowie sie flexibel einsetzen zu können, entwickeln
Vorschul- und Grundschulalter sehr deutlich. Insbesondere sich schon sehr früh im Kleinkindalter. Schon beim Neu-
für das selbstregulierte Lernen ist das Metagedächtnis mit sei- geborenen können wir angeborene emotionale Ausdrucks-
nen beiden Komponenten des deklarativen und prozeduralen reaktionen beobachten. Holodynski, Hermann und Kromm
Metagedächtnisses von zentraler Bedeutung (7 Kap. 14). Für (2013) nennen hier Missbehagen, Ekel, Erschrecken, Interes-
letzteres werden unterschiedliche Entwicklungsverläufe der se und endogenes Wohlbehagen. Diese werden als „Vorläu-
zugrunde liegenden Prozesse angenommen. Überwachungs- feremotionen“ betrachtet (Sroufe 1996), da sie nicht durch
prozesse (Monitoring; eigene kognitive Vorgänge beobachten Zuschreibung von Bedeutung, sondern nur durch absolute
und darüber reflektieren: „Bin ich auf dem richtigen Weg?“) Reizmerkmale ausgelöst werden und in ihrer Reaktion noch
oder Leistungsvorhersagen („Wie viele Wörter werde ich keine Feinabstimmung auf Anlass und Kontext erfolgt.
richtig erinnern können?“) können bereits Kindergarten- Aus den Vorläuferemotionen entstehen im Verlauf des
kinder durchführen. Selbstregulationsprozesse wie etwa die ersten Lebensjahres auf dem Hintergrund unterstützender
Prozesse der Selbstkontrolle (bewusste oder unbewusste Emotionsregulation durch die Bezugspersonen (in der Re-
Entscheidungen, die wir aufgrund der Ergebnisse unserer gel die Eltern) voll funktionsfähige Emotionen, die prompt
Überwachungsaktivitäten treffen) werden im Gegensatz da- und durch Zuschreibung motivrelevanter Bedeutung ausge-
zu erst im Verlauf der Grundschule erworben (z. B. „Um löst werden und in den Ausdruckszeichen auf den Anlass aus-
schwierigeres Lernmaterial zu lernen, verwende ich mehr gerichtet und fein abgestimmt sind. Schon am Ende des ersten
Zeit, um es mir merken zu können“) und entwickeln sich Lebensjahres ist beim Kind die emotionale Ausdrucksfähig-
nach der Grundschulzeit bis ins Erwachsenenalter deutlich keit zumindest im Hinblick auf primäre Emotionen (z. B.
weiter (Schneider & Lindenberger 2012). Freude, Kummer, Ärger, Angst) in differenzierter Weise ge-
geben (Sroufe 1996).
In der weiteren Entwicklung ergeben sich dann Verän-
15.2 Emotionale Entwicklung und Bindung derungen bezüglich potentieller Auslöser von Emotionen.
Schon in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres kön-
Die emotionale Entwicklung eines Kindes ist stark mit der nen bindungsrelevante Situationen spezifische Emotionen bei
Entwicklung der kindlichen Bindungen mit seinen Bezugs- Kindern auslösen, negative Gefühle (z. B. Angst) bei einer
personen verknüpft, in denen Emotionen eine wichtige Kom- Trennung von den Bezugspersonen oder bei Konfrontati-
munikationsfunktion erfüllen, in denen eine Regulierung on mit einer fremden Person oder positive Gefühle beim
von Emotionen erfolgt und auf deren Hintergrund das Kind Wiedersehen bzw. bei Kontaktaufnahme mit der Bezugsper-
Strategien zur Emotionsregulation entwickelt. son (Marvin, Britner & Russel 2016). Im zweiten Lebensjahr
reagieren Kinder auf negativen Emotionsausdruck von Er-
15 wachsenen, wenn sie sich an bestimmte Verhaltensregeln
15.2.1 Emotionale Entwicklung 1 nicht halten. Sie zeigen dann Unsicherheit oder Kummer
und Angst und versuchen ihr Verhalten anzupassen (z. B.
Kochanska 1993). Oder sie reagieren mit deutlichem Ärger,
Emotionen sind nach Holodynski und Oerter (2012, S. 498) wenn sie in ihren Handlungen unterbrochen werden oder da-
„kulturell überformte psychische Prozesse. . . , die für eine ran gehindert werden, Handlungen selbst auszuführen. Dies
motivbezogene Regulation von Handlungen sorgen.“ geht mit Fortschritten in der Selbstentwicklung der Kinder
einher, im Zuge dessen auch Sekundäremotionen, vor allem
Selbstbewertungsemotionen wie Scham, Stolz oder Schuld
Im Hinblick auf die emotionale Entwicklung von Kin- auftreten. So zeigen Kinder mit dem beginnenden vierten Le-
dern werden aus entwicklungspsychologischer Sicht drei un- bensjahr, wenn sie individuelle Gütemaßstäbe im Hinblick
terschiedliche Perspektiven eingenommen. Es werden die auf eigene Verhaltenskompetenzen entwickelt haben, also
Entwicklung unterschiedlicher Emotionsqualitäten, die Ent- leistungsmotiviert handeln können, deutlich Freude nach Er-
wicklung der Fähigkeit zur Emotionsregulation sowie die folg und Ärger, Scham oder Schuldgefühle nach Misserfolg
Verhaltenssteuerung im Hinblick auf aktuell gegebene Hand- (vgl. Heckhausen & Heckhausen 2006). Mit zunehmender
lungsziele des Organismus betrachtet. Fähigkeit zur Imagination (im Alter von etwa 2 und 4 Jahren)
können auch irrationale Ängste entstehen. Im Schulalter kön-
1
Für zusammenfassende Beschreibungen der emotionalen Entwick- nen dann mangelnde Anerkennung durch Gleichaltrige und
lung wurden insbesondere Überblicks- und Lehrbucharbeiten von
Manfred Holodynski sowie L. Allen Sroufe herangezogen, auf die auch mangelnde schulische Leistungen zusätzlich Angst auslösen.
immer wieder, aber nicht in jeder Einzelheit in Referenzen hingewie- Bereits ab dem Vorschulalter verfügen Kinder somit über dif-
sen wird. ferenzierte Emotionsausdrucksfähigkeiten.
15.2  Emotionale Entwicklung und Bindung
305 15
Auch die Fähigkeit, Emotionen wahrzunehmen und in ih- Allerdings tun sich auch noch zweijährige Kinder schwer,
rer Bedeutung zu verstehen, entwickelt sich sehr früh. den Emotionsausdruck vom zugrundeliegenden Gefühl zu
unterscheiden, können sich also nicht vorstellen, dass je-
mand, der fröhlich ist, ein trauriges Gesicht machen kann.
Holodynski und Oerter (2012) definieren die „Emotionale Nach Lewis, Sullivan und Vasen (1987) sind sie auch noch
Eindrucksfähigkeit“ als die „Fähigkeit, sich in seinem kaum in der Lage, einen Emotionsausdruck willentlich zu
Gefühlserleben von den Ausdruckszeichen anderer produzieren. Diese Fähigkeit zur Unterscheidung von Gefühl
Personen beeindrucken zu lassen.“ und Ausdruck kann im Alter von 4 bis 5 Jahren erstmals
für die Emotionen Traurigkeit, Angst und Ekel nachgewiesen
werden. Der zielgerichtete (willentliche) Einsatz, also Emo-
Schon im Säuglingsalter reagieren Kinder unterschiedlich tionen vorzutäuschen, ist erst ab dem Grundschulalter mög-
auf positive und negative Emotionen von Interaktionspart- lich, wobei spontane Ausdruckskontrolle durchaus schon im
nern, sie lassen sich beispielsweise vom Weinen anderer Kin- Kleinkindalter beobachtet werden kann.
der „anstecken“. In der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres Beginnend im Vorschulalter und dann zunehmend im
lassen sich erste Hinweise auf das Phänomen der sozialen Grundschulalter verfügen Kinder im Hinblick auf Emoti-
Bezugnahme beobachten: Kinder orientieren sich am Emo- onsausdruck über Darbietungsregeln, die steuern, wann und
tionsausdruck ihrer Bezugspersonen, übernehmen deren Be- in welchen Situationen spezifische Emotionen ausgedrückt
wertung und richten ihr Verhalten danach aus, wenn sie sich werden bzw. werden dürfen. Diese Regeln können einerseits
in der Bewertung einer Situation unsicher sind. mehr oder weniger verbindliche Regeln einer Gesellschaft
Nach Fabes, Eisenberg, Karbon, Bernzweig, Speer und bzw. einer sozialen Gruppe sein, andererseits können sie auf
Carlo (1994) können 2-jährige Kinder positive Emotionen spezifischen individuellen Erfahrungen mit sozialen Reaktio-
differenziert wahrnehmen, tun sich aber noch schwer, zwi- nen auf den Ausdruck von Emotionen beruhen. So können
schen verschiedenen negativen Emotionen anderer Perso- schon die meisten Fünfjährigen richtig bewerten, wie sich
nen zu unterschieden. Ab dem Alter von 2 Jahren können eine Person tatsächlich fühlt, die einen negativen Gesichts-
Kinder unterschiedliche Gesichtsausdrücke zum Teil auch ausdruck nicht zeigen will und welchen Gesichtsausdruck
begrifflich benennen bzw. Emotionsbegriffe verstehen (z. B. sie dann zeigt. Im gleichen Altersbereich erwerben sie auch
Ridgeway, Waters & Kuczaj 1985). Diese Fähigkeiten verbes- die Fähigkeit, Emotionen wie Traurigkeit, Angst oder Ekel
sern sich deutlich bis zu Beginn des Grundschulalters. Im (weniger aber z. B. Ärger oder Überraschung) willentlich aus-
Vorschulalter tun sich Kinder allerdings noch schwer, am- zudrücken. Ab dem Grundschulalter können sie Emotionen
bivalente oder gemischte Gefühle zu verbalisieren. Erst ab auch vortäuschen. Damit sind sie in der Lage, sich an Aus-
Beginn des Grundschulalters sind sie in der Lage, multiple drucksregeln anzupassen, aber auch Emotionen zu suggerie-
Emotionen mit gleicher Valenz in einer Situation zu beschrei- ren.
ben, und erst ab etwa 11 Jahren können sie Verständnis für Durch verbesserte Regulationsmöglichkeiten, aufgrund
widerstreitende Gefühle in einer Situation ausdrücken. der fortschreitenden kognitiven und sprachlichen Entwick-
Ab dem Ende des zweiten Jahres beginnen Kinder über lung, kommt es zu einer Reduktion negativer emotionaler
ein Emotionsverständnis zu verfügen, d. h. sie sind in der La- Reaktionen auf Trennung bzw. auf fremde Personen (Srou-
ge, Emotionen als Ausdruck subjektiver Befindlichkeit der fe 1996). Außerdem entwickeln die Kinder zunehmend die
Person zu erkennen, die für sie handlungsleitend ist. Sie ver- Fähigkeit, mit hoher Erregung umzugehen, sodass sie bei-
stehen sie als Hinweise auf innere Zustände, Vorlieben und spielsweise auch ihr Verhalten bei intensiven Tobespielen mit
Meinungen der anderen Person (z. B. Harris, Johnson, Hut- den Eltern regulieren können.
ton, Andrews & Cooke 1989), bringen sie also in Zusam- Durch die Befolgung von Darbietungsregeln, aber auch
menhang mit deren Überzeugungen, Wünschen oder Inten- aufgrund zunehmender Fähigkeit zur intrapersonalen Regu-
tionen. Mit 4 Jahren wissen sie, dass Emotionen nicht nur lation kommt es nach Holodynski (2006) mit zunehmen-
von äußeren Ereignissen oder Wünschen abhängen, sondern dem Alter zu einer Entkopplung von Ausdrucks- und Er-
auch davon, was die betreffenden Personen erwartet haben lebenskomponenten. Die intrapsychische Regulation führt
oder darüber denken (z. B. Wellman & Wooley 1990), wobei zur Internalisierung von Ausdruckszeichen bzw. zur Minia-
im späten Vorschulalter auch erkannt wird, dass Emotionen turisierung der Ausdrucksintensität in Alleinsituationen im
auch durch Kognitionen (z. B. Erinnerungen an einen erlitte- Vergleich zur Erlebensintensität.
nen Verlust) ausgelöst werden können. Bezüglich des Schulalters gibt es eine Reihe von Studi-
Emotionsverständnis äußert sich ebenso in empathischen en, die das Auftreten bzw. Erleben von positiven und ne-
Reaktionen. Während noch am Ende des ersten Lebensjah- gativen Emotionen über die Schuljahre hinweg beschreiben.
res Kinder auf Kummer mit Anzeichen eigenen Kummers Dabei deuten sich nach Frenzel und Stephens (2011) eher un-
reagieren (Gefühlsansteckung), kann im Verlauf des zweiten günstige Entwicklungsverläufe an, nach denen Kinder zwar
Lebensjahres zunehmend empathisches Verhalten festgestellt zu Schulbeginn noch häufig positive Emotionen berichten,
werden. Beispielsweise versuchen Kinder in diesem Alter eine die positiven Emotionen dann aber über die Grundschule
traurige Person zu trösten oder sie abzulenken. hinweg und auch noch im Sekundarstufenbereich kontinu-
306 Kapitel 15  Motivationale und emotionale Entwicklung

ierlich abnehmen. Im gleichen Zeitraum ist ein Anstieg von Die zunehmende Fähigkeit zur eigenständigen emotio-
negativen Emotionen festzustellen, der bezüglich leistungs- nalen Regulation in Verbindung mit Fortschritten in der
bezogener Angst schon hauptsächlich im Grundschulalter kognitiven Entwicklung ist sehr entscheidend für die Qualität
erfolgt. Zur Erklärung dieser ungünstigen Entwicklungsver- des kindlichen Interaktionsverhaltens in interpersonalen Be-
läufe werden Veränderungen im Selbstkonzept, ein Anstieg ziehungen. So stellen Selbstregulationsfähigkeiten wichtige
der Anforderungen, zunehmender Wettbewerb, Bezugsgrup- Kompetenzen zur Selbstkontrolle dar, die für die Entwick-
peneffekte und möglicherweise altersbezogene Änderungen lung prosozialen und antisozialen (aggressiven) Verhaltens
in Instruktionsmethoden genannt. wesentlich ist. Für das im beginnenden Vorschulalter fest-
stellbare Absinken körperlicher Aggressionen spielen wohl
1 Entwicklung der Emotionsregulation verbesserte inter- und intrapersonale Kompetenzen der Emo-
Nach Sroufe (1979) ist ein Kind in den ersten Lebensjahren tionsregulation eine wichtige Rolle, einhergehend mit fort-
ein primär affektives Wesen. Es kommt zur Differenzierung schreitender sprachlicher Entwicklung, der sich entwickeln-
spezifischer Emotionen und es entstehen die Grundlagen für den Fähigkeit zum Bedürfnisaufschub und der Fähigkeit zur
emotionale Regulationsprozesse und individuelle Regulati- Perspektivenübernahme oder Empathie. Die Kompetenz zu
onsstrategien. prosozialem Verhalten (Empathie, Altruismus) erfordert die
Die Entwicklung der emotionalen Regulation, die eng mit Fähigkeit, eigene Wünsche zurückzustellen und die Wünsche
der Bindungsentwicklung verbunden ist, vollzieht sich nach und die Perspektive anderer zu berücksichtigen. Es muss ein
Holodynski (2006) von einer interindividuellen Regulation Verständnis für unabhängig verantwortliches Handeln vor-
im Säuglingsalter hin zu einer zunehmend intraindividuel- liegen, bzw. die Erkenntnis, dass Handlungen bei anderen
len Regulation im weiteren Entwicklungsverlauf. Während Gefühle auslösen, die sich von den eigenen unterscheiden
der Säugling noch weitgehend auf externe Regulation durch (Eisenberg & Fabes 1998). Die Fähigkeit zur Perspektiven-
die Bezugsperson angewiesen ist, die sich auch auf physio- übernahme ist allerdings zunächst noch begrenzt. Zu Be-
logischer Ebene nachweisen lässt (vgl. Spangler, Schieche, ginn des zweiten Lebensjahres gehen Kinder im Wesentlichen
Ilg, Maier & Ackermann 1994), sind Kinder ab dem zweiten noch von der eigenen Perspektive aus, bringen beispielswei-
Lebensjahr bis zu einem gewissen Grad schon zu einer eigen- se, um ein anderes Kind zu trösten, die eigene Mutter oder
ständigen Regulation fähig, wobei hier noch oft die Anwe- ein eigenes Spielzeug herbei. Mit zunehmender Fähigkeit zur
senheit einer Bezugsperson erforderlich ist. Dies äußert sich Perspektivenübernahme können sie dann auch auf die Be-
beispielsweise darin, dass sie die Aufmerksamkeit von unan- dürfnisse anderer reagieren. Aktives Hilfeverhalten wird aber
genehmen Ereignissen abziehen und auf angenehme hinlen- im Vorschulalter noch eher selten gezeigt.
ken, Selbstberuhigungsverhalten zeigen oder dass sie aktiv
Trost bei der Bezugsperson suchen (z. B. Bridges & Grolnik
1995). Nach Sroufe (1996) kommt es während des Vorschulal- 15.2.2 Bindung
ters zu einem signifikanten Anstieg in der Fähigkeit, Emo-
tionen zu kontrollieren und direkt auszudrücken, sowie die
1 Grundbegriffe und allgemeine Bindungsentwicklung
15 Verhaltensorganisation auch bei Konfrontation mit starken
Die emotionale Entwicklung von Kindern ist sehr eng ver-
Emotionen aufrechtzuerhalten. Mit zunehmender kognitiver
bunden mit der Entwicklung erster kindlicher Bindungen
Entwicklung entsteht bis zum Jugendalter auch immer mehr
mit seinen primären Bezugspersonen. Die Bindungstheorie
die Fähigkeit zur reflexiven Emotionsregulation, bei der emo-
(Ahnert & Spangler 2014; Bowlby 1984; Grossmann & Gross-
tionsbedingte Handlungseigenschaften willentlich gehemmt
mann 2004) stellt eine sozial-emotionale Entwicklungstheo-
und durch weniger dominante Reaktionen ersetzt werden
rie dar, die von biologisch vorgegebenen Verhaltenssystemen
(Holodynski et al. 2013). In früheren Altersphasen werden
ausgeht, welche aufgrund sozialer Erfahrungen im Verlauf
hierzu eher Verhaltensstrategien, später vermehrt kognitive
der Entwicklung in spezifischer Weise organisiert werden.
Strategien verwendet.
Emotionen besitzen dafür eine wichtige Regulationsfunktion.
Mit zunehmender Fähigkeit zur Emotionskontrolle
kommt es im Verlauf des Vorschulalters auch zu einem
deutlichen Anstieg der Frustrationstoleranz (z. B. Bridges Die Bindung ist ein affektives Band zwischen zwei
& Grolnik 1995), was sich beispielsweise in weniger är- Personen, eine stabile Neigung, Nähe zu suchen. Ihr
gerlichen Reaktionen und geringerem Widerstand gegen Ursprung wird phylogenetisch durch die biologische
elterliche Regeln und Aufforderungen zeigt bzw. in mehr Schutzfunktion erklärt (Gefahren und Möglichkeiten
Ausdauer und Suche nach sozialer Unterstützung bei zum Lernen), ontogenetisch liegt ihre Funktion in der
misslingender Aufgabenbewältigung. Die erhöhte Frustra- emotionalen Regulation.
tionstoleranz geht einher mit einer verbesserten Fähigkeit
von Kindern, Emotionen zu unterdrücken bzw. sie flexi-
bel auszudrücken sowie durch das Lernen von Strategien, Die Bindungsentwicklung erfolgt nach Bowlby (1984) auf
um mit frustrationsbegleitender Spannung umzugehen (z. B. der Basis der kindlichen Erfahrungen mit den Bezugsper-
Aufmerksamkeitsumlenkung). sonen und wird in vier Phasen (s. a. Marvin et al. 2016)
15.2  Emotionale Entwicklung und Bindung
307 15
beschrieben. In der ersten Phase (bis etwa 2 bis 3 Monate) Im Fokus: Die Bindungsqualitäten
zeigt das Kind Orientierungsverhalten gegenüber Menschen
und reagiert spezifisch auf soziale Reize, differenziert aber Kinder mit einer sicheren Bindung sind in Anwesenheit der
noch kaum zwischen verschiedenen Personen. In der zwei- Bezugsperson positiv gestimmt und sie zeigen interessiertes
ten Phase (etwa 3 bis 6 Monate) wird dieses Orientierungs- Explorationsverhalten. Irritationen durch die Ankunft der
verhalten zunehmend auf vertraute Personen gerichtet. Von fremden Person können durch soziale Bezugnahme auf
einer tatsächlich bestehenden Bindung wird erst in der drit- die Bezugsperson reguliert werden. Bei der Trennung von
ten Phase (ab ca. 6 oder 7 Monaten) gesprochen, wenn das der Bezugsperson zeigen sie Bindungsverhalten, indem
Kind aktives Bindungsverhalten, wie etwa Kontaktaufnahme sie deutlich ihren Kummer äußern, meist auch weinen
oder Nachfolgen zeigt. Das Kind wird „zunehmend wähle- und durch Nachfolgen die Nähe aktiv wiederherzustellen
risch in der Behandlung von Personen“ (Bowlby 1984, S. 248) versuchen. Bei der Rückkehr der Bezugsperson nehmen
und ängstlich gegenüber Fremden. Es versucht, Nähe zur sie Kontakt zu ihr auf, können sich mit ihrer Hilfe wieder
Bezugsperson aufrechtzuerhalten, und nutzt sie als „sichere schnell emotional stabilisieren und finden wieder zum
Basis“ für die Erkundung der Umwelt. Das Kind reagiert mit Explorationsverhalten zurück. Sie kommunizieren also ihre
Schreien auf das Weggehen der Bezugsperson und lässt sich Gefühle offen und können dadurch Nähe zur Bezugsperson
nur von ihr trösten. In der vierten Phase, die etwa im drit- herstellen und sich mit ihrer Hilfe regulieren.
ten Lebensjahr beginnt, bildet sich dann eine „zielkorrigierte Bei den sogenannten unsicher-vermeidenden Kindern zeigt
Partnerschaft“. Das Kind ist aufgrund seiner kognitiven Ent- sich die emotionale Belastung wenig im Emotionsausdruck.
wicklung nun immer mehr in der Lage, auch Interessen und Während sie in Anwesenheit der Bezugsperson und auch
Bedürfnisse seiner Bezugspersonen in seine eigene Verhal- nach Ankunft der fremden Person Explorationsverhaltenzei-
tenssteuerung miteinzubeziehen und kann seine Bedürfnisse gen, reagieren sie auf die Trennung von der Bezugsperson
nach Nähe und Regulation entsprechend anpassen. wenig emotional, zeigen aber teilweise eine leichte Reduzie-
Für die Organisation des Bindungsverhaltenssystems rung der Spielqualität. Bei der Rückkehr der Bezugsperson
spielen nach Bowlby (1984) Emotionen eine zentrale Rolle, ignorieren sie diese oder vermeiden den Körperkontakt
da sie Informationen zur Bewertung einer gegebenen Situa- deutlich. Die emotionale Betroffenheit wird also nicht
tion liefern und damit zur Aktivierung von Bewältigungs- kommuniziert, eine effektive Verhaltensregulierung mithilfe
prozessen beitragen. Entfernt sich beispielsweise die Mutter der Bezugsperson ist damit erheblich eingeschränkt.
eines Kleinkindes zu weit vom Kind oder wird das Kind Kinder mit einer unsicher-ambivalenten Bindung zeigen
mit einem bedrohlichen Reiz konfrontiert, so empfindet es bei der Trennung massive emotionale Reaktionen, ihre
Kummer oder Angst, wodurch es zur Aktivierung des Bin- Regulationsversuche erscheinen aber dysfunktional. Noch
dungsverhaltenssystems kommt. Das Kind zeigt Bindungs- in Anwesenheit der Bezugsperson wirken sie teilweise
verhaltensweisen wie Weinen, ängstliches Rufen oder aktives ängstlich oder zögerlich im Explorationsverhalten, was
Nähe-Suchen, die die soziale Regulation von Emotionen in- durch die Ankunft einer fremden Person verstärkt wird. Nach
itiieren. So führt das kindliche Weinen zur Aktivierung des heftigen emotionalen Reaktionen bei der Trennung nehmen
mütterlichen Fürsorgesystems (Bowlby 1984), sodass die Be- sie bei der Rückkehr der Bezugsperson zwar Kontakt auf,
zugsperson die notwendige Nähe zum Kind wiederherstellt. zeigen aber gleichzeitig Ärger und Widerstand und sind nur
Durch den Emotionsausdruck bewerkstelligt das Kind also verzögert in der Lage, sich mit Hilfe der Bezugsperson wie-
eine soziale Emotions- und Verhaltensregulation. der zu stabilisieren und zur Exploration zurückzufinden. Sie
Auf der Basis seiner Erfahrungen mit der Bezugsper- zeigen also Bindungsverhalten und reagieren sensibel auf
son entstehen beim Kind langfristig spezifische Erwartungen bereits geringe emotionale Anforderungen, können aber die
bezüglich der Verfügbarkeit der Bezugsperson (ein „inne- Bezugsperson nicht zu einer effizienten Emotionsregulation
res Arbeitsmodell von Bindung“), die in bindungsrelevanten nutzen.
bzw. emotional anfordernden Situationen zur Verhaltens-
bzw. Emotionsregulierung beitragen (vgl. Spangler & Zim-
mermann 1999a). Während den beschriebenen Bindungsmustern in der Re-
gel organisierte Verhaltensstrategien zugrunde liegen, wirken
1 Individuelle Unterschiede in der Bindungsqualität sie bei manchen Kindern desorganisiert, was so weit ge-
Unterschiede in der Bindungsqualität werden in emotionalen hen kann, dass die zugrundliegende Struktur nicht mehr er-
Anforderungssituationen erfasst, in denen es zur Aktivierung kennbar ist. Bindungsdesorganisation kommt nach Main und
des Bindungsverhaltenssystems kommt. Eine standardisierte Solomon (1990) in ungeordneten oder unterbrochenen Be-
Situation zur Erfassung der Bindungsqualität im Kleinkind- wegungen, in sich widersprechenden Verhaltensweisen und
alter ist die „Fremde Situation“ (Ainsworth, Blehar, Waters & in Verwirrung oder Furcht vor der Bezugsperson zum Aus-
Wall 1978). Dabei werden kurze Konfrontationen des Kindes druck. Eine systematische Regulation der kindlichen Emo-
mit einer fremden Person bzw. kurze Trennungen des Kindes tionen erfolgt hier weder auf intrapersonaler Ebene, noch
von der Bezugsperson initiiert, die Situation wird auf Video interpersonal durch die Einbeziehung der Bezugsperson.
aufgezeichnet und das Verhalten des Kindes wird hinsichtlich Vergleichbare Bindungsmuster lassen sich auch bei älte-
der Bindungsqualität analysiert. ren Kindern oder Jugendlichen in Interaktion mit der Be-
308 Kapitel 15  Motivationale und emotionale Entwicklung

zugsperson feststellen, wobei hier die Verhaltensstrategien beziehungen. Die Kinder erwerben Vertrauen in die Ver-
die gleichen bleiben, sich aber entwicklungsbedingt die kon- fügbarkeit der Bezugsperson und können somit in belasten-
kreten Verhaltensweisen verändern (z. B. Main & Cassidy den Situationen ihre Bedürfnisse kommunizieren und Nähe
1988). So benötigen ältere Kinder mit einer sicheren Bindung herstellen. Kinder mit wenig feinfühligen Bezugspersonen
nach einer Trennung meist nicht mehr den direkten Körper- entwickeln dagegen häufig unsichere Bindungen. Entweder
kontakt mit der Bezugsperson, sie treten aber schnell und vermeiden sie aus Angst vor Zurückweisung die Nähe und
zwanglos in einen, auch bedürfnis- und emotionsbezogenen können die Unterstützung der Bezugsperson zur emotiona-
Dialog, während bei den unsicher-vermeidenden Kindern len Regulation nicht in Anspruch nehmen. Oder sie reagie-
der Dialog verzögert und unter Vermeidung emotionaler ren belastet, sind aber gleichzeitig verärgert und erwarten
Themen erfolgt und bei den unsicher-ambivalenten Kindern Frustration, und es gelingt ihnen kaum, die Bezugsperson
Kontaktaufnahme in eher kleinkindhafter Weise erfolgt und zur emotionalen Regulation zu nutzen. Bindungsdesorga-
sich in subtilem feindseligen Verhalten oder in der Art der nisation entsteht einerseits, wenn die Bezugsperson ängst-
Kontaktsuche erneut Ambivalenz zeigt. Desorganisiertes Ver- liches oder beängstigendes Verhalten gegenüber dem Kind
halten verändert sich bis zum Grundschulalter in eher kon- zeigt. Sie tritt beispielsweise sehr häufig bei von ihren El-
trollierendes Verhalten gegenüber der Bezugsperson. tern misshandelten Kindern auf (Lyons-Ruth & Jacobvitz
Die Bindungsmuster zeigen altersübergreifend eine ge- 2016). Desorganisation resultiert daraus, dass in solchen Fäl-
wisse Stabilität, d. h., dass Kinder, die in der frühen Kind- len Bedrohung von der Bezugsperson selbst kommt, bei der
heit eine sichere Bindung entwickelt haben, auch am Ende sie gleichzeitig Unterstützung im Umgang damit benötigen.
des Vorschulalters oder im Grundschulalter ähnliche Bin- Andererseits wird Desorganisation häufig auch bei Kindern
dungsverhaltensstrategien verwenden (Main & Cassidy 1988; beobachtet, die schon als Neugeborene Einschränkungen in
Wartner et al. 1994) und beispielsweise bei Kummer Unter- ihrer Verhaltensregulationsfähigkeit zeigten (z. B. Spangler,
stützung bei ihren Bezugspersonen suchen (Zimmermann Grossmann, Grossmann & Fremmer-Bombik 2000). Wäh-
et al. 1997). Diese Stabilität ist auch durch die Stabilität der rend hierzu mittlerweile auch Hinweise auf genetische Merk-
emotionalen Verfügbarkeit der Bezugspersonen bedingt, so- male vorliegen, scheinen diese nur bei gleichzeitig gegebe-
dass sich Veränderungen in der Bindungsqualität ergeben ner mangelnder Feinfühligkeit der Bezugsperson wirksam zu
können, wenn sich die Erfahrungen des Kindes im Verlauf werden (Spangler et al. 2009). Feinfühliges Verhalten von El-
der Entwicklung ändern. tern wirkt bei ungünstigen genetischen Dispositionen also
wohl als sozialer Puffer.
1 Feinfühligkeit der Bezugsperson als wichtige
Voraussetzung zur Entwicklung von Bindungssicherheit1 Langfristige Konsequenzen von Bindungserfahrungen
Für die Entwicklung einer sicheren Bindung spielt die Fein- für die kindliche Entwicklung
fühligkeit der Bezugsperson eine wichtige Rolle (Ainsworth Aufbauend auf den ersten Bindungserfahrungen entwickelt
et al. 1978; Fearon & Belsky 2016; Grossmann, Grossmann, ein Kind nach der Bindungstheorie eine innere Repräsenta-
Spangler, Süss & Unzner 1985). tion von Bindung, das sog. „innere Arbeitsmodell von Bin-
15 dung“ (Bretherton & Munholland 2016).
Feinfühligkeit ist die Fähigkeit einer Bezugsperson, kindli-
che Signale wahrzunehmen und richtig zu interpretieren Das innere Arbeitsmodell von Bindung umfasst einerseits
und prompt und angemessen darauf zu reagieren. Sie be- Vorstellungen und Wissen des Kindes über Bindung und
inhaltet also Aufmerksamkeits- und Bewertungsprozesse Bindungsstrategien sowie Erwartungen bezüglich der
wie auch konkretes Fürsorgeverhalten gegenüber dem Verfügbarkeit und des Verhaltens der Bezugsperson,
Kind. andererseits aber auch Vorstellungen, Selbstwert- und
Kompetenzeinschätzungen über die eigene Person.

Während sich beim Säugling Kommunikation von Be-


dürfnissen insbesondere durch negativen Emotionsausdruck Diese Vorstellungen und Erwartungen sind an der Steue-
(z. B. Weinen) vollzieht, entstehen im weiteren Entwicklungs- rung des Verhaltens in bindungsrelevanten bzw. in emotional
verlauf differenziertere und wirksamere Kommunikations- anfordernden Situationen beteiligt und wirken im Verlauf der
formen (Ainsworth & Bell 1974). Eine feinfühlige Bezugs- Entwicklung zunehmend auch in Abwesenheit der Bezugs-
person kann kindliche Bedürfnisse auch bei subtilem Aus- person, können somit den Einfluss von Bindungserfahrungen
drucksverhalten des Kindes richtig wahrnehmen und unab- auf das Verhalten in anderen Kontexten erklären.
hängig von eigenen Bedürfnissen richtig interpretieren. Sie ist Kinder mit einem sicheren Arbeitsmodell sind, insbeson-
bereit und in der Lage, darauf unmittelbar und den Bedürf- dere in emotionalen Anforderungssituationen, eher in der
nissen und dem Entwicklungsstand des Kindes entsprechend Lage, auftretende Gefühle wahrzunehmen und sie für die
angemessen einzugehen. Verhaltensregulation zu nutzen. Durch das Vertrauen in die
Eine feinfühlige emotionale Regulation durch die Be- Verfügbarkeit von Bezugspersonen können sie ihre Gefüh-
zugsperson fördert die Entwicklung eigener Emotionsregu- le kommunizieren und somit soziale Ressourcen zur Ver-
lationsstrategien und den Aufbau von sicheren Bindungs- haltenssteuerung nutzen. Entsprechend der psychologischen
15.2  Emotionale Entwicklung und Bindung
309 15
Funktion von Bindung erfüllen sichere Bindungen damit die McLeod (1990) betont die Bedeutung einer effektiven emo-
wichtige Regulationsfunktion beim Auftreten von Belastun- tionalen Regulation bei der Aufgabenbearbeitung, insbeson-
gen. Sie tragen dazu entweder entwicklungspsychologisch dere beim Auftreten von Fehlern, um daraus resultierende
durch ihren Einfluss auf die Entwicklung von Kompetenzen Lernblockaden zu vermeiden. Emotionale Regulationspro-
und Persönlichkeitsmerkmalen oder aktual-genetisch durch zesse werden vorwiegend dann eine wesentliche Rolle spie-
spezifische Regulationskompetenzen im Belastungskontext len, wenn Schüler an ihre Leistungsgrenzen stoßen, z. B. bei
bei (Spangler & Zimmermann 1999b). Verständnisschwierigkeiten, bei Problemen in der Aufgaben-
Bindungssicherheit hat keinen Einfluss auf kognitive bzw. bearbeitung und in Prüfungssituationen, insbesondere bei
intellektuelle Fertigkeiten. Empirisch gut belegt sind aber drohendem Misserfolg. Wenn die kognitiven Ressourcen er-
Einflüsse auf die Persönlichkeitsentwicklung bzw. die Ent- schöpft sind, spielt die Fähigkeit aufkommende Emotionen
wicklung sozialer, emotionaler und motivationaler Kompe- zu regulieren bzw. angemessen zur Verhaltensregulation ein-
tenzen (Thompson 2016). Der Aufbau einer sicheren Bin- zusetzen eine entscheidende Rolle. Hier kommt es darauf an,
dung am Ende des ersten Lebensjahres ist Grundlage für die inwieweit Lernende in der Lage sind, (1) auftretende negative
Entwicklung von Autonomie in der nachfolgenden Entwick- Gefühle korrekt wahrzunehmen und zur Regulation von pro-
lungsphase (Sroufe 1979). Beispielsweise zeigen zweijährige blemlösenden Handlungen einzusetzen, (2) bei mangelnden
Kinder mit sicherer Bindung in Anforderungssituationen zu- eigenen Ressourcen auf soziale Ressourcen zurückzugreifen,
nächst häufiger eigenständige Bewältigungsstrategien, kön- und (3) Misserfolg bzw. Versagen so zu regulieren, dass damit
nen sich aber gleichzeitig Unterstützung bei der Bezugsper- nicht eine generalisierte negative Selbstbewertung hinsicht-
son holen, wenn die eigenen Ressourcen nicht ausreichen. lich eigener Leistungsfähigkeit entsteht.
(Matas et al. 1978; Schieche & Spangler 2005). Bezüglich Nach Crittenden (1995) unterscheiden sich Kinder in Ab-
sozialer Kompetenzen konnte man feststellen, dass Bindungs- hängigkeit von der Bindungssicherheit in ihrer Fähigkeit,
sicherheit mit kompetenteren Konfliktbewältigungsstrategi- kognitive und emotionale Bewertungsprozesse zu integrie-
en und weniger aggressivem Verhalten gegenüber Gleichalt- ren und Problemlösestrategien auch unter Nutzung sozia-
rigen im Kindergarten einherging (z. B. Suess et al. 1992) ler Ressourcen (durch Inanspruchnahme von Unterstützung
oder mit positiveren Freundschaftsbeziehungen im Jugendal- durch Eltern oder Lehrkräften) flexibel einzusetzen. Bei Kin-
ter (Zimmermann 2015). Sicher gebundene Kinder verfügen dern mit einer unsicheren Bindung, mit häufig entweder
über ein realistisch-positives Selbstkonzept und sie entwi- stark idealisiertem oder sehr negativem Selbstbild, kommt
ckeln im Vergleich zu unsicher gebundenen auch ein besseres es zu Fehleinschätzungen der eigenen Leistungsfähigkeit, die
Selbstwertgefühl (Thompson 2016). Bei Vorschulkindern wie Wahrnehmung negativer Emotionen und deren verhaltens-
bei Jugendlichen geht Bindungssicherheit mit einer größeren und motivationsregulierender Funktion ist eingeschränkt.
Ich-Flexibilität einher, d. h. mit der Fähigkeit, Gefühle, Be- Oder es kommt zur Dominanz negativer emotionaler Prozes-
dürfnisse und Handlungen flexibel an kontextspezifische An- se, verbunden mit eingeschränkter kognitiver Verarbeitungs-
forderungen anzupassen. Zimmermann, Mohr und Spangler möglichkeit.
(2009) konnten zeigen, dass das mit genetischen Merkmalen Bereits im Kleinkindalter zeigen Kinder mit sicherer Bin-
assoziierte Autonomiebestreben von Kindern im beginnen- dung vergleichsweise mehr konzentrierte Ausdauer bei Pro-
den Jugendalter in eher kooperativer Autonomie bei sicher blemlöseaufgaben, mehr Anstrengungsbereitschaft bei dro-
gebunden Jugendlichen und eher feindseliger Autonomie bei hendem Misserfolg, und mehr metakognitive Fertigkeiten,
unsicher gebundenen zum Ausdruck kam. wie Überwachung und Bewertung eigenen Handelns (z. B.
Lütkenhaus, Grossmann & Grossmann 1985; Matas et al.
1978). Nach Geserick und Spangler (2007) waren Kinder mit
einer sicheren Bindung in der frühen Kindheit in Aufgaben-
15.2.3 Emotion, Bindung und Schule situationen mit der Mutter im Vorschulalter mehr dazu in
der Lage, Unterstützung der Mutter bezüglich der Aufgaben-
Entwicklungspsychologische Einflüsse von Bindungserfah- lösung zu nutzen. Zimmermann, Maier, Winter und Gross-
rungen sind aufgrund der Bedeutung von Emotionen im mann (2001) beobachteten Jugendliche in einer komplexen
Lern- und Leistungskontext auch für schulische Kontexte Problemlösesituation mit einem Freund. Sie fanden heraus,
zu erwarten (vgl. Spangler & Zimmermann 1999c). Krapp dass Jugendliche mit einem unsicheren Bindungshintergrund
(1998) hat auf die wichtige Rolle von positiven Emotionen beispielsweise bei erlebter Hilflosigkeit ihre Zusammenarbeit
in Lehr-Lern-Situationen für die Motivations- und Interes- mit dem Freund verändern und zu mehr Ausgrenzen neigten,
senentwicklung hingewiesen. Er beruft sich hierbei auf die also gerade bei Unterstützungsbedarf die Nutzung sozialer
Selbstbestimmungstheorie nach Deci und Ryan (1993), bei Unterstützung behindern. In einer neueren Studie von Leyh
der mit dem Grundbedürfnis nach sozialer Eingebunden- et al. (2016) zeigten Jugendliche mit einer unsicheren im Ver-
heit die besondere Bedeutung von emotionalen Beziehungen gleich zu solchen mit einer sicheren Bindungsrepräsentation
für Motivationsprozesse betont wird. Auch die einschlägige in einer kognitiven Aufgabe bei gegebenem emotional negati-
Schulleistungsforschung verweist auf Einflüsse von Emotio- ven (aber nicht positivem) Kontext geringere Leistungen und
nen auf Leistung, wobei es hier insbesondere auf die Fähig- auf neurophysiologischer Ebene eingeschränkte Aufmerk-
keit ankommt, mit negativen Gefühlen effektiv umzugehen. samkeitsressourcen.
310 Kapitel 15  Motivationale und emotionale Entwicklung

Zusammenfassung zen und ist grundsätzlich auch schon zu eigenständiger


Theoretische Konzepte, die sich um die Erklärung von Mo- (intraindividueller) Emotionsregulation in der Lage. Wei-
tivation und Motivationsentwicklung bemühen, drehen tere Ausdifferenzierungen erfolgen aber auch noch wäh-
sich im Wesentlichen um drei zentrale Fragen. rend der Schulzeit, einhergehend mit zunehmenden kog-
1. Vor dem Hintergrund der Frage „Möchte ich diese nitiven Fähigkeiten.
Aufgabe bearbeiten und warum?“ wurden die motiva- Erfahrungen von Bindungssicherheit auf dem Hinter-
tionspsychologischen Konstrukte Neugier, Interesse grund elterlicher emotionaler Verfügbarkeit haben po-
und selbstbestimmte Motivation beschrieben. Inte- sitive Konsequenzen für die Entwicklung von Persön-
resse mit dem Merkmal der Gegenstandsspezifität ist lichkeitsmerkmalen und sozialen, emotionalen und mo-
dabei vermutlich das für die Schule relevanteste Kon- tivationalen Kompetenzen, also Merkmalen, die im Kon-
strukt. Theoretische Konstrukte zu Neugier und selbst- text von Schule und Lernen förderlich sind. Die aus der
bestimmter Motivation helfen u. a., die Entstehung Bindungssicherheit resultierenden Fähigkeiten zur Emoti-
von motiviertem Lernen und situationalem sowie in- onsregulation helfen dem Kind insbesondere bei der Be-
dividuellem Interesse zu erklären. wältigung emotionaler Belastungssituationen, die auch
2. Im Rahmen der zweiten Frage: „Traue ich mir zu, diese im schulischen Kontext beim Auftreten von Problemen
Aufgabe zu bearbeiten, erwarte ich Erfolg zu haben?“ zur Anwendung kommen, insbesondere wenn es zur
wurde das theoretische Konstrukt der Leistungsmo- Überforderung kognitiver Ressourcen kommt.
tivation beschrieben. Hier geht es um die Auseinan-
dersetzung mit einem Gütemaßstab, also die Motiva-
tion, etwas gut machen zu wollen. Kinder sind nicht
von Anfang an leistungsmotiviert, jedoch entwickeln Verständnisfragen
sich Vorläufer wie Wirksamkeitsstreben und Selber-
machenwollen im ersten und zweiten Lebensjahr. Erst
im dritten Lebensjahr, wenn die Kinder Emotionen wie ?1. Für welche drei zentralen Fragen und Phänomen-
Stolz und Scham erleben, tritt die Fähigkeit zur Be- bereiche stellt die entwicklungspsychologische
wertung der eigenen Tüchtigkeit als zentrale Stufe der Motivationsforschung Wissen bereit?
Leistungsmotivationsentwicklung hervor. Leistungs- 2. Erläutern Sie die Bedeutung des theoretischen
motivation ist nicht gleichzusetzen mit Wettbewerbs- Konstrukts der Neugier für das Lernen in der Schule.
motivation. Die unterschiedlichen Facetten werden Grenzen Sie die Konzeption dabei auch von Interesse
mit den motivationalen Konstrukten Lern- und Leis- und Leistungsmotivation ab.
tungszielorientierung genauer beschrieben. 3. Wie entwickeln sich Interessen ab dem Säuglingsalter?
3. Die entwicklungspsychologische Beleuchtung der 4. Beschreiben Sie die Entwicklung der Leistungsmotiva-
dritten Frage: „Wie muss ich vorgehen, um diese tion ab dem Säuglingsalter.
15 Aufgabe erfolgreich zu bewältigen?“ führt zur Be- 5. Welche Selbstbilder (mind sets), die in engem Zu-
trachtung der exekutiven Funktionen und der Selbst- sammenhang mit motivationalen Zielorientierungen
regulation. Exekutive Funktionen mit den drei Be- stehen, unterscheidet Carol Dweck?
stimmungsmerkmalen kognitive Flexibilität, Arbeits- 6. Welche Rollen spielen exekutive Funktionen für die
gedächtniskapazität und inhibitorische Kontrolle ent- Entwicklung der Selbstregulationsfähigkeit ab dem
wickeln sich ab dem ersten Lebensjahr, bleiben über Säuglingsalter?
die Lebenspanne hinweg plastisch und werden als 7. Welche typischen Fragen stellt die entwicklungspsy-
Kernaspekt der Selbstregulation mit seinen top-down- chologische Emotionsforschung?
und bottom-up-Regulationsprozessen verstanden. 8. Wie wird Bindung definiert und in welchen typischen
Die emotionale Entwicklung kann im Hinblick auf die Phasen entwickelt sie sich?
Entwicklung von Kompetenzen im Erleben, Wahrnehmen 9. Welche Bindungsqualitäten werden voneinander
und Verstehen von Emotionen sowie von Emotionsre- unterschieden und worin zeigt sich jeweils dafür
gulationskompetenzen beschrieben werden. Wesentliche typisches kindliches Verhalten in der „Fremden
Grundlagen und Voraussetzungen hierfür entstehen be- Situation“?
reits im Kleinkind- oder Vorschulalter, wobei das Kind auf 10. Über welche emotionalen Kompetenzen verfügen
die Unterstützung seiner Bezugspersonen angewiesen ist, Kinder zu Beginn des Schulalters?
die ihm notwendige Erfahrungen und externe Regulie- 11. Inwieweit spielen kindliche Bindungserfahrungen
rung zur Verfügung stellen. Beim Schuleintritt verfügt ein eine Rolle für die emotionale Regulationsfähigkeit?
Kind bereits über umfangreiche emotionale Kompeten- Erläutern Sie dies am Beispiel emotionaler Anforde-
rungssituationen im schulischen Kontext!
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315 16

Entwicklung des Selbst und der


Persönlichkeit
Martin Pinquart

16.1 Einleitung – 316

16.2 Kernmerkmale der Persönlichkeit – 316


16.2.1 Was sind Kernmerkmale der Persönlichkeit? – 316
16.2.2 Entwicklung der Kernmerkmale der Persönlichkeit – 317
16.2.3 Einflüsse auf die Kernmerkmale – 317

16.3 Selbstkonzept und Selbstwert – 318


16.3.1 Die Struktur des Selbstkonzepts – 318
16.3.2 Die Entwicklung des Selbstkonzepts – 319
16.3.3 Einflüsse auf das Selbstkonzept – 321

16.4 Identität – 322


16.4.1 Identitätszustände und Identitätsprozesse – 322
16.4.2 Entwicklung der Identität – 323
16.4.3 Einflüsse auf die Identitätsentwicklung – 323

16.5 Wertsystem: Moralisches Urteil und Verhalten – 324


16.5.1 Theoretische Zugänge – 324
16.5.2 Entwicklung moralischer Urteile und moralischen Verhaltens – 324
16.5.3 Moralisches Urteil und moralisches Verhalten – 324
16.5.4 Einflüsse auf die Moralentwicklung – 326

16.6 Einflüsse der Persönlichkeit auf die Bewältigung schulischer


Anforderungen – 326

Verständnisfragen – 327

Literatur – 328

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019


D. Urhahne, M. Dresel, F. Fischer (Hrsg.), Psychologie für den Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55754-9_16
316 Kapitel 16  Entwicklung des Selbst und der Persönlichkeit

16.1 Einleitung . Tabelle 16.1 Das Fünffaktorenmodell der Persönlichkeit (Quelle:


nach Costa & McCrae 1992)

Allgemein gesagt versteht man unter dem Begriff Faktor Schwach ausgeprägt Stark ausgeprägt
„Persönlichkeit“ Merkmale des Erlebens und Verhaltens, Neurotizismus Selbstsicher, ruhig Emotional, verletzlich
welche über verschiedene Situationen hinweg konsistent
und mittelfristig stabil sind und in denen sich Menschen Extraversion Zurückhaltend, reser- Gesellig
viert
im Allgemeinen voneinander unterscheiden.
Offenheit für Konsistent, vorsichtig Erfinderisch, neugierig
Erfahrungen
Es werden also nur solche Merkmale der Persönlichkeit
Gewissenhaftig- Unbekümmert, nach- Effektiv, organisiert
zugerechnet, anhand derer sich die individuellen Besonder- keit lässig
heiten des Erlebens und Verhaltens von Personen in robuster
Verträglichkeit Kompetitiv, misstrau- Kooperativ, freundlich,
Weise erkennen lassen. Dies kann sich zum Beispiel da-
isch mitfühlend
rauf beziehen, ob jemand zuhause und im Unterricht seinen
Pflichten und Aufgaben in der Regel immer, manchmal oder
nur selten nachkommt und ob jemand über verschiedene Si-
tuationen hinweg vorlaut oder aber zurückhaltend ist.
Erfahrungen, Gewissenhaftigkeit und Verträglichkeit (Costa
Die Persönlichkeitspsychologie hat sich meist mit der
& McCrae 1992). Jedes dieser Merkmale lässt sich weiter in
Struktur der Persönlichkeit befasst, also mit der Ausprägung
verschiedene Aspekte untergliedern (. Tab. 16.1). Das Fünf-
von wichtigen Aspekten der Persönlichkeit. Welche Eigen-
faktorenmodell wurde auf Basis zahlreicher wissenschaftli-
schaften sind also bei einer Person besonders hoch und wel-
chen Studien entwickelt, über die letzten drei Jahrzehnte hin-
che besonders niedrig ausgeprägt? Neben solchen Struktur-
weg verbessert und in vielen verschiedenen Ländern immer
merkmalen kann man aber auch Prozessmerkmale betrach-
wieder bestätigt. Fragebögen zur Erfassung der fünf Kern-
ten – etwa wie Menschen im Allgemeinen mit Informationen
dimensionen der Persönlichkeit liegen für das Jugend- und
umgehen, die nicht zu ihrem bisherigen Selbstbild passen.
Erwachsenenalter vor.
Strukturmerkmale können noch weiter in sogenannte
Die bedeutendste Alternative zum Fünffaktorenmodell
Kernmerkmale (die den Kern der Persönlichkeit bilden) und
stellt das HEXACO-Modell dar, welches einen sechsten Fak-
Oberflächenmerkmale (z. B. Identität oder moralische Ein-
tor (Ehrlichkeit-Bescheidenheit) hinzugefügt hat, der im
stellungen) aufgeteilt werden. Kernmerkmale sind nicht di-
Fünffaktorenmodell einen Aspekt der Verträglichkeit dar-
rekt der Beobachtung zugänglich und müssen aus dem Ver-
stellt. Darüber hinaus werden die übrigen fünf Dimensionen
gleich des Verhaltens in einer Vielzahl von Situationen er-
der Persönlichkeit etwas anders als im Fünffaktorenmodell
schlossen werden. Sie sollten über die Zeit hinweg besonders
definiert (vgl. Herzberg & Roth 2014).
stabil sein. Oberflächenmerkmale können dagegen leichter
Im Kindesalter und im frühen Jugendalter wird die Per-
beobachtet oder erfragt werden und sind auch stärker verän-
sönlichkeit nicht anhand des Fünffaktorenmodells sondern
derbar.
stattdessen über sogenannte Temperamentsmerkmale erfasst,
Unterschiede in der Persönlichkeit beeinflussen das Ver-
16 welche Eltern, Erzieherinnen und Erzieher oder Beobachte-
halten der Kinder im schulischen Kontext. Umgekehrt hat
rinnen und Beobachter und im Jugendalter auch Jugendliche
auch die Schule selbst einen Einfluss auf die Persönlichkeits-
selbst einschätzen. Mit dem Temperament werden – ana-
entwicklung.
log zum Begriff der Persönlichkeit – typische Merkmale des
Das vorliegende Kapitel beginnt mit den Kernmerkmalen
Erlebens und Verhaltens erfasst, welche über die Zeit und
der Persönlichkeit, gefolgt vom Selbstkonzept, der Identität
über verschiedene Situationen hinweg relativ stabil sind. Im
und dem Wertesystem. Hierbei werden jeweils die theore-
Gegensatz zum Fünffaktorenmodell der Persönlichkeit im
tischen Konzepte kurz umrissen, Befunde zur Entwicklung
Erwachsenenalter gibt es unter den Temperamentsforsche-
und Einflüsse auf die Persönlichkeitsentwicklung zusammen-
rinnen und -forschern keine Übereinstimmung darüber, was
gefasst. Der Schwerpunkt wird jeweils auf die Zeit zwischen
die wichtigsten Temperamentsmerkmale sind. So identifi-
mittlerer Kindheit und dem späten Jugendalter gelegt.
zierten Thomas und Chess (1980) die folgenden neun Tem-
peramentsmerkmale: Ausmaß der Aktivität, Regelmäßigkeit
16.2 Kernmerkmale der Persönlichkeit biologischer Rhythmen, Annäherung/Vermeidung von neu-
en Reizen, Anpassungsvermögen, sensorische Reizschwel-
le, Stimmungslage, Intensität der Reaktionen, Ablenkbarkeit
16.2.1 Was sind Kernmerkmale der und Ausdauer.
Persönlichkeit? Temperamentsmerkmale bilden eine wichtige Grundlage
für die Kernmerkmale der Persönlichkeit im Erwachsenen-
In der Psychologie hat das Fünffaktorenmodell eine weite alter. So stehen z. B. hohe Ausdauer und geringe Ablenk-
Verbreitung gefunden, welches folgende Kernmerkmale un- barkeit (als Temperamentsmerkmale in der Kindheit) mit
terscheidet: Neurotizismus, Extraversion, Offenheit für neue einer höheren Gewissenhaftigkeit im Erwachsenenalter in
16.2  Kernmerkmale der Persönlichkeit
317 16
Zusammenhang. Eine ausgeprägte negative Stimmungslage Persönlichkeitsmerkmale ab dem 10. Lebensjahr aus. Insge-
und Schwierigkeiten sich an neue Situationen anzupassen, samt gingen Daten von 50 120 Personen in die Analyse ein,
sind Vorläufer des Neurotizismus (Caspi & Shiner 2006). die im Abstand von etwa 6 Jahren wiederholt befragt wur-
In verschiedenen Studien hat man darüber hinaus Teil- den. Gefunden wurden kleine bis sehr kleine Veränderungen
gruppen von Kindern identifiziert, die sich durch typische in der mittleren Ausprägung von drei der fünf Persönlichkeits-
Kombinationen von Temperamentsmerkmalen unterschei- merkmale im Jugendalter und jungen Erwachsenenalter. Das
den. So kann man z. B. unterkontrollierte von gehemmten Ausmaß des Neurotizismus sank ein wenig zwischen dem 10.
und gut angepassten Kindern unterscheiden. Unterkontrol- und 18. Lebensjahr um d D :16 Standardabweichungseinhei-
lierte Kinder verfügen über besonders wenig Selbstkontrolle. ten und weiter zwischen 18 und 21 Jahren um d D :12. Soziale
Sie sind irritierbar, impulsiv, nicht ausdauernd und haben Dominanz (z. B. Selbstsicherheit;als ein zentraler Aspekt der Ex-
Schwierigkeiten beim Stillsitzen. Gehemmte Kinder sind da- traversion) stieg dagegen im Altersbereich von 10 bis 18 Jahren
gegen übermäßig ängstlich, zurückhaltend und leicht durch (d D :20) und deutlicher zwischen dem 18. und 21. Lebensjahr
Fremde zu beunruhigen (Caspi et al. 2003). Gut angepasste an (d D :41). Ebenso wuchs die Offenheit für neue Erfahrun-
Kinder verfügen über eine angemessene Selbstkontrolle und gen zwischen dem 10. und 18. Lebensjahr (d D :23) und etwas
lassen sich durch neue Anforderungen nicht so leicht aus der stärker zwischen dem 18. und 21. Lebensjahr (d D :37). Die
Ruhe bringen. Oft stößt man auch auf den Begriff „schwieri- mittleren Ausprägungen der Verträglichkeit und Gewissenhaf-
ges Temperament“. Damit gemeint sind Kinder, die viel wei- tigkeit blieben bis zum 21. Lebensjahr unverändert und stiegen
nen, ihre Gefühle sehr intensiv zum Ausdruck bringen, wenig erst danach an.
feste Verhaltensabläufe zeigen und sich schlecht durch andere
Menschen lenken lassen (Thomas & Chess 1980). Schwierig In der Kindheit und Jugend verfestigen sich zudem inter-
meint hier, dass Eltern und andere Personen besonders vie- individuelle Unterschiede in den Persönlichkeitsmerkmalen.
le Schwierigkeiten haben, mit diesen Kindern umzugehen. Die Persönlichkeit ist also in den ersten Lebensjahren am
Ein unterkontrolliertes, gehemmtes oder schwieriges Tempe- stärksten formbar. Roberts und DelVeccio (2000) zeigten in
rament in der Kindheit erhöht auch das Risiko, bis in das ihrer Metaanalyse, dass die korrelative Stabilität von Persön-
Jugend- und Erwachsenenalter entsprechende Probleme zu lichkeitsmaßen vom Kleinkind- zum Vorschulalter und dann
haben. wieder zwischen dem Jugendalter und dem mittleren Er-
wachsenenalter zunahm (. Abb. 16.1). Der mittlere Abstand
zwischen zwei Messungen betrug hierbei etwa 7 Jahre. So
16.2.2 Entwicklung der Kernmerkmale der korrelierten zwei zeitversetzte Messungen bei Kindern, die
Persönlichkeit zum ersten Messzeitpunkt jünger als 3 Jahre waren, im Mit-
tel nur mit r D :35, bei den 3- bis 6-Jährigen dagegen schon
mit r D :52. Insgesamt sind Temperaments- bzw. Persönlich-
Veränderungen der Persönlichkeit bzw. des Temperaments
keitsmerkmale in den ersten Lebensjahren weniger korrelativ
in den ersten Lebensjahren wurden relativ selten unter-
stabil als lange Zeit vermutet wurde.
sucht. Dies liegt daran, dass sich Temperamentsmerkmale je
nach Alter unterschiedlich äußern und man altersspezifische
Messinstrumente benötigt, deren Ergebnisse nur schlecht
über verschiedene Altersgruppen hinweg vergleichbar sind. 16.2.3 Einflüsse auf die Kernmerkmale
Guerin und Gottfried (1994) fanden von der frühen zur spä-
ten Kindheit eine Abnahme des Aktivitätsniveaus und der1 Biologische Einflüsse
Intensität der Emotionen. Eine Zunahme der Stabilität bio- Verhaltensgenetische Studien zeigen, dass etwa 30 bis 40 %
logischer Rhythmen, der Ausdauer und der positiven Emo- der interindividuellen Unterschiede in Temperamentsmerk-
tionalität wurde zudem im Vorschulalter nachgewiesen. malen durch genetische Faktoren aufgeklärt werden (Emde
Die Metaanalyse von Roberts, Watson und Viechtbau- & Hewitt 2001). Ebenso sind im Mittel 40 % der interin-
er (2006) fand im Mittel kleine positive Veränderungen der dividuellen Unterschiede in den fünf Kerndimensionen der
Kernmerkmale der Persönlichkeit zwischen dem 10. und Persönlichkeit auf genetische Faktoren zurückzuführen (Vu-
21. Lebensjahr. Diese verlaufen hin zu mehr Selbstkontrol- kasović & Bratko 2015).
le, Selbstsicherheit und Offenheit für Neues. Auch jenseits
des 20. Lebensjahres fanden die Autoren im Mittel positive1 Umwelteinflüsse
Veränderungen der untersuchten Persönlichkeitsmerkmale. Wichtig ist die Passung von Temperament und Elternver-
Erst im hohen Erwachsenenalter werden vereinzelt ungünsti- halten. Ein ungünstiges Elternverhalten hat dann negativere
ge Veränderungen in den Kernmerkmalen der Persönlichkeit Auswirkungen, wenn das Kind bereits ungünstige Tempe-
gefunden. ramentsmerkmale aufweist. Eine zu geringe Selbstkontrolle
wird sich z. B. eher verfestigen, wenn die Eltern wenig Gren-
Studie: Veränderung der Persönlichkeitsmerkmale zen setzen und nicht beim Aufbau von Selbstkontrollfähig-
Roberts, Watson und Viechtbauer (2006) werteten Daten keiten helfen (Bates, Pettit, Dodge & Ridge 1998). Analog
von 92 Längsschnittstudien zur Veränderung der „Big-Five“- erhöhen z. B. geringe elterliche Sensibilität und Wärme das
318 Kapitel 16  Entwicklung des Selbst und der Persönlichkeit

. Abb. 16.1 Altersunterschiede 0,8 0,75


in der korrelativen Stabilität von 0,72
Kernmerkmalen der Persönlichkeit 0,7
(nach Roberts & DelVeccio, 2000) 0,62
0,57 0,59
0,6
0,52

Korrelative Stabilität
0,51
0,5 0,47
0,45
0,4 0,35
0,3

0,2

0,1

0
<3 3–6 6–12 12–18 18–22 22–29 30–39 40–49 50–59 60–73
Alter bei Erstmessung in Jahren

Risiko, dass sich die Gehemmtheit der Kinder stabilisiert (Ru- die Frage „Wer bin ich?“. Die affektive Komponente beinhal-
bin, Burgess & Hastings 2002). tet den Selbstwert, also die Positivität der Einstellung zu sich
Eine Längsschnittstudie mit mehr als 2000 Abitu- selbst. Die handlungssteuernde Komponente umfasst Vor-
rientinnen und Abiturienten zeigte, dass positive und stellungen darüber, wie man in Zukunft sein möchte und gibt
negative Lebensereignisse Veränderungen der Big-Five- damit die Richtung beim Setzen von Entwicklungszielen vor
Persönlichkeitsmerkmale vorhersagten. Negative Lebens- (Identität). Sie enthält zudem Wahrnehmungen der eigenen
ereignisse gingen mit einem Zuwachs von Neurotizismus Kompetenz (sog. Selbstwirksamkeitserwartungen).
(r D :30) und einer Abnahme der Extraversion (r D :10) In der Psychologie sind hierarchische Selbstkonzeptmo-
einher. Positive Lebensereignisse waren dagegen mit einer delle verbreitet. Eines der bekanntesten Modelle (bezogen
Abnahme von Neurotizismus (r D :24) und der Zunah- auf Schülerinnen und Schüler) stammt von Shavelson, Hub-
me von Extraversion, Offenheit, Gewissenhaftigkeit und ner und Stanton (1976). Auf der obersten Ebene steht das
Verträglichkeit (r D :11 bis r D :16) verbunden. Diese allgemeine Selbstkonzept. Auf der nächstniedrigen Ebene fol-
Zusammenhänge fallen allesamt klein aus. Zudem ist zu be- gen vier bereichsspezifische Selbstkonzepte – und zwar das
achten, dass Lebensereignisse nur zum Teil fremdbestimmt schulische Selbstkonzept („Wie kompetent bin ich in der
sind. Höhere Neurotizismuswerte und höhere Offenheit für Schule?“), das soziale Selbstkonzept („Wie gut sind meine Be-
neue Erfahrungen im letzten Gymnasialjahr gingen z. B. ziehungen zu anderen Menschen?“), das emotionale Selbst-
mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit einher, innerhalb konzept („Wie gut fühle ich mich?“) und das körperliche
der folgenden vier Jahre die Studienrichtung zu wechseln, Selbstkonzept („Wie attraktiv und körperlich leistungsfähig
während eine höhere Gewissenhaftigkeit mit einer verringer- bin ich?“). Auf der nächstniedrigen Ebene lassen sich die
ten Wahrscheinlichkeit des Studienplatzwechsels einherging Selbstkonzepte weiter aufgliedern, wie etwa das schulische
16 (Lüdtke, Roberts, Trautwein & Nagy 2011). Einflüsse schu- Selbstkonzept in das mathematische Selbstkonzept („Wie gut
lischer Merkmale auf Veränderungen der Kerndimensionen bin ich in Mathematik?“), das Selbstkonzept bezogen auf das
der Persönlichkeit wurden bisher nicht systematisch unter- Fach Deutsch usw. (. Abb. 16.2). Bewertungen des Verhal-
sucht. tens in spezifischen Situationen (wie etwa der Erfolg oder
Misserfolg in einer Mathematikprüfung) wirken sich auf das
zugehörige Selbstkonzept (hier also das Selbstkonzept der
16.3 Selbstkonzept und Selbstwert mathematischen Fähigkeiten) aus. Veränderungen des spezi-
fischen Selbstkonzepts führen wiederum zu Veränderungen
des allgemeinen Selbstkonzepts. Hierbei sind die Effekte ein-
16.3.1 Die Struktur des Selbstkonzepts zelner Erfahrungen – wie z. B. eine schlechte Note zu bekom-
men – auf das spezifische Selbstkonzept stärker als auf das
Das Selbstkonzept umfasst im weitesten Sinne selbstbezo- allgemeine Selbstkonzept.
genes Wissen, Überzeugungen und Bewertungen. Es kann Selbstkonzeptbereiche sind zudem nicht für alle Men-
auch als Einstellung zu sich selbst definiert werden, bestehend schen in gleichem Maße bedeutsam. Veränderungen eines
aus einer kognitiven, affektiven und handlungssteuernden Selbstkonzeptbereichs sollten sich eher dann auf das allge-
Komponente (Rosenberg 1979). Die kognitive Seite umfasst meine Selbstkonzept auswirken, wenn dieser Bereich für die
Selbstbeschreibungen, also gewissermaßen die Antwort auf Person wichtiger bzw. zentraler ist.
16.3  Selbstkonzept und Selbstwert
319 16
. Abb. 16.2 Das hierarchische

Einschätzung des Verhaltens in spezifischen Situationen


Mathematik
Selbstkonzeptmodell von Shavel-
son et al. (1976, S. 413)
Muttersprache
Schulisches
Selbstkonzept
Geschichte

Naturwissenschaften

Gleichaltrige
Soziales
Globales
Selbstkonzept
Selbstkonzept Andere

Emotionales
Gefühle
Selbstkonzept

Körperliche Leistungsfähigkeit
Körperliches
Selbstkonzept
Aussehen

16.3.2 Die Entwicklung des Selbstkonzepts schiedenen schulischen Bereichen (wie Lesen, Rechnen und
Schreiben) und über die Zeit hinweg ein verallgemeinertes
Ab wann verfügen Kinder über ein Selbstkonzept? Diese Urteil darüber gebildet werden, wie gut man in der Schule
Frage ist für die ersten Lebensjahre nicht leicht zu beant- ist und ob man z. B. klug ist. Diese kognitiven Fähigkei-
worten. Denn das Selbstkonzept wird in der Regel mit Hilfe ten entwickeln sich in der mittleren und späten Kindheit,
von verbalen Aussagen über sich selbst erfasst und die dafür so dass während der Grundschulzeit konkrete, unmittel-
notwendigen sprachlichen Fähigkeiten müssen erst erworben bar beobachtbare Selbstbeschreibungen zunehmend von ab-
werden. Für einen Aspekt des Körperkonzepts – das Konzept strakteren abgelöst werden. Anfangs sind die Selbstbeschrei-
über das eigene Aussehen – gibt es allerdings eine Unter- bungen noch stark durch ein Alles-oder-nichts-Denken ge-
suchungsmethode, die ohne Sprache auskommt. Beim soge- kennzeichnet und Kinder nutzen nur die Extrempole der
nannten Rouge-Test wird Kindern unbemerkt ein Farbklecks Eigenschaftsdimensionen (etwa „Ich bin groß.“ oder „Ich
auf die Stirn getupft und beobachtet, wie sie im Anschluss auf bin klug.“). Während der Grundschulzeit werden Selbstbe-
ihr Spiegelbild reagieren. Wenn die Kinder gezielt den Klecks schreibungen zunehmend differenzierter und Kinder können
auf ihrer Stirn berühren, dann haben sie mit Sicherheit er- sich nun zum Beispiel als leistungsstark in einem Schulfach
kannt, dass es sich beim Spiegelbild um ihr Abbild handelt. Ab und schwach in einem anderen sehen. Neben diesem in-
dem 15. bis 17. Lebensmonat tritt ein solches Verhalten erst- ternen Vergleichsrahmen (wie bin ich in einem Schulfach
mals bei einzelnen Kindern auf und etwa drei Viertel der 18- im Vergleich zu einem anderen Fach) nutzen Grundschü-
bis 24-monatigen Kinder berühren den Farbklecks auf ihrer lerinnen und Grundschüler zunehmend die Leistungen der
Stirn (Lewis & Brooks-Gunn 1979). Viele 18- bis 24-monatige Mitschülerinnen und Mitschüler als externen Vergleichsrah-
Kinder können sich auch auf Fotos erkennen und benutzen men (siehe das Internal/External Frame of Reference-Modell
dazu das Personalpronomen „ich“. von Marsh 1986). Die zunehmende Nutzung temporaler und
Qualitative Veränderungen des Selbstkonzepts. Ab dem sozialer Vergleiche trägt zu einer ausgewogeneren Sicht auf
Vorschulalter kann man durch Selbstaussagen der Kinder et- sich selbst bei. Zudem hilft auch die zunehmende Fähigkeit
was über deren Selbstkonzept erfahren. Hierbei treten deutli- zur Perspektivübernahme bei der Entwicklung einer realis-
che Entwicklungsprozesse sowohl in den Inhalten als auch in tischen Selbstsicht: Kinder lernen, sich in andere Menschen
der Struktur der Selbstbeschreibungen auf (vgl. Harter 2012). hineinzuversetzen und sich gewissermaßen aus der Perspek-
Die Selbstbeschreibungen von Kindern im Vorschulalter be- tive anderer zu bewerten.
stehen vor allem aus konkreten, anschaulichen Merkmalen Im Jugendalter werden in Selbstbeschreibungen immer
(wie der äußeren Erscheinung, bevorzugten Aktivitäten und mehr psychische und abstrakte Merkmale benutzt und die
materiellem Besitz). Wenn Kinder in diesem Alter ihre Fä- Beschreibungen werden logisch besser verknüpft. Die Er-
higkeiten beschreiben, so bezieht sich das in der Regel auf schließung psychischer Eigenschaften erfordert Abstraktio-
konkret Anschauliches. Selbstbeschreibungen sind in diesem nen höherer Ordnung und die Fähigkeit zur systematischen
Alter noch nicht kohärent organisiert, da den Kindern die da- Selbstbeobachtung, die im Jugendalter entstehen.
für notwendigen kognitiven Fähigkeiten fehlen. Stattdessen Veränderungen bereichsspezifischer Selbstkonzepte. Be-
werden die Merkmale als Aufzählung recht willkürlich anein- funde zu Veränderungen in der mittleren Ausprägung be-
andergereiht. reichsspezifischer Selbstkonzepte (etwa anhand des Shavel-
Die Nutzung abstrakterer Selbstbeschreibungen erfor- son-Modells . Abb. 16.2) sind nicht völlig konsistent und es
dert die kognitive Fähigkeit, Informationen hierarchisch zu gibt bisher keine Metaanalyse, welche die Befunde der Ein-
ordnen. So muss zum Beispiel aus den Leistungen in ver- zelstudien systematisiert. Eine durch Cole und Mitarbeiter
320 Kapitel 16  Entwicklung des Selbst und der Persönlichkeit

. Abb. 16.3 Veränderung des 3,6


schulischen Selbstkonzepts beim
Übergang zur weiterführenden
Schule (nach Gerlach 2006)
3,4

Schulisches Selbstkonzept
3,2

3,0

8
(künftige) Gymnasiasten
(künftige) Realschüler
(künftige) Hauptschüler
2,6
T1 T2 T3
(Grundschule) (Grundschule) (weiterführende Schule)

(2001) durchgeführte amerikanische Längsschnittstudie (von weiteren Veränderungen feststellten. Das Selbstkonzept des
Klassenstufe 3 bis 11) und eine deutsche Studie (von Klassen- eigenen Aussehens wurde nur in der amerikanischen Studie
stufe 3 bis 6) von Gerlach (2006) fanden eine Zunahme des untersucht. Hier gab es über die Schulzeit eine Verbesserung
sozialen Selbstkonzepts, d. h. die Schülerinnen und Schüler des Selbstkonzepts bei Jungen und ein zeitweises Absinken
fühlten sich mit wachsendem Alter zunehmend besser in der während der Pubertät bei Mädchen. Während sich Jungen
Gruppe Gleichaltriger integriert. Das schulische Selbstkon- in der Pubertät durch Größen- und Muskelwachstum einem
zept stieg in der amerikanischen Studie in der Grundschulzeit verbreiteten männlichen Schönheitsideal annähern, entfer-
an, sank dann beim Übergang zur weiterführenden Schu- nen sich die Mädchen aufgrund der Gewichtszunahme vom
le und stieg dann im Verlauf des Besuchs dieser wieder an. schlanken Schönheitsideal.
In der deutschen Studie gab es im Mittel keine Veränderun- Die korrelative Stabilität bereichsspezifischer Selbstkon-
gen des schulischen Selbstkonzepts beim Übergang von der zepte ist bereits im Grundschulalter recht hoch – Cole et al.
Grundschule zur weiterführenden Schule. Bei genauerer Be- (2001) fanden hier bereits mittlere Korrelationen von etwa
trachtung der Art der weiterführenden Schule zeigten sich r D :70 über einen Zeitraum von 6 Monaten. Die kor-
aber unterschiedliche Verläufe (. Abb. 16.3). Das schulische relative Stabilität nimmt während der Schulzeit weiter zu,
Selbstkonzept sank beim Übergang zum Gymnasium, wäh- solange man die gleiche Klasse besucht. Interindividuelle Un-
rend es beim Übergang zur Hauptschule anstieg. Dies wird terschiede im Selbstkonzept verfestigen sich also. Ein Schul-
dadurch erklärt, dass Schülerinnen und Schüler soziale Ver- oder Klassenwechsel geht dagegen mit einer vorübergehen-
gleiche zur Bewertung ihrer Leistungen nutzen. Während den Abnahme der korrelativen Stabilität einher, da sich die
16 sich leistungsstarke Grundschülerinnen und Grundschüler Vergleichsgruppe verändert und man in der neuen Klasse erst
mit vielen leistungsschwächeren Mitschülerinnen und Mit- wieder seinen Platz finden muss (Cole et al. 2001).
schülern vergleichen können, besteht deren Vergleichsgruppe Veränderungen des allgemeinen Selbstwerts. Selbstbe-
im Gymnasium nur noch aus vergleichsweise leistungsstar- wertungen sind implizit in vielen Selbstbeschreibungen ent-
ken Schülerinnen und Schülern. Leistungsschwache Schüle- halten. Das kommt bereits im Vorschulalter beim Gebrauch
rinnen und Schüler schneiden bei sozialen Vergleichen in bewertender Begriffe wie „gut“ oder „hübsch“ zum Aus-
der Grundschule schlecht ab (da es in den Klassen auch vie- druck. Globalere Selbstbewertungen – wie etwa die Einschät-
le leistungsstarke Schülerinnen und Schüler gibt). Nach dem zung, ob man viele gute Eigenschaften besitzt oder ein wert-
Wechsel auf die Hauptschule müssen sie weniger Verglei- voller Mensch ist – treten aber erst ab dem Alter von etwa 8
che mit leistungsstarken Mitschülerinnen und Mitschülern bis 9 Jahren auf, wenn Kinder systematisch soziale Vergleiche
anstellen, denn die meisten Klassenkameradinnen und Klas- anzustellen beginnen (Harter 2012).
senkameraden haben nun ein ähnliches Leistungsniveau wie Die Selbstbewertungen im Vorschulalter sind in vielen
sie selbst. In der psychologischen Literatur wird dieses Phä- Fällen unrealistisch hoch. Kinder können in diesem Alter
nomen Fischteicheffekt genannt. Der kleine Fisch fühlt sich noch nicht Wunsch und Realität auseinanderhalten, sodass
in einem kleinen Teich unter anderen kleinen Fischen grö- Selbstbewertungen oft eher von Ambitionen als von Tatsa-
ßer als in einem großen Teich, in dem er von großen Fischen chen bestimmt sind. Der zunehmende Realismus von Selbst-
umgeben wird. bewertungen allerdings in der mittleren und späten Kindheit
Beim sportlichen Selbstkonzept fand Gerlach (2006) im hat zur Folge, dass der allgemeine Selbstwert über die Grund-
Mittel keine Veränderungen, während Cole et al. (2001) einen schulzeit oftmals absinkt (Hoglund 1995). Eine Metaanalyse
kleinen Anstieg in der Grundschulzeit und danach keine von Orth, Erol und Luciano (2018) zeigte allerdings im Mit-
16.3  Selbstkonzept und Selbstwert
321 16
tel einen kleinen Anstieg zwischen dem 4. und 11. Lebensjahr elterlichen Erwartungen an die Leistungen ihrer Kinder und
und vom späten Jugendalter zum Erwachsenenalter. Letz- das Selbstkonzept über ihre mathematischen Fähigkeiten be-
terer kann vermutlich durch Erfolge bei Schritten in das einflusst (z. B. Tiedemann 2000). Solche Erwartungseffekte
Erwachsensein (wie das Erreichen finanzieller Unabhängig- tragen dazu bei, dass Geschlechtsunterschiede in Bereichen
keit) erklärt werden. des schulischen Selbstkonzepts oft größer ausfallen als tat-
Dass es im Jugendalter im Mittel keine Veränderungen im sächliche Leistungsunterschiede (Hyde & Durik 2005).
Selbstwert gibt, bedeutet aber nicht, dass der Selbstwert bei Wie schon in 7 Abschn. 16.3.2 berichtet, wird das schuli-
allen Jugendlichen stabil bleibt. Mittels statistischer Verfah- sche Selbstkonzept vom sozialen Vergleich mit der Leistung
ren lassen sich unterschiedliche Verläufe finden. Meist gibt der Mitschülerinnen und Mitschüler beeinflusst. Die gleiche
es eine Gruppe mit stabil hohem und eine Gruppe mit stabil Leistung geht mit einem schlechteren schulischen Selbstkon-
niedrigem Selbstwert, die zusammen zwischen etwa 50 % und zept einher, wenn man von mehr leistungsstärkeren Mit-
90 % der Teilnehmerinnen und Teilnehmer umfassen. Darü- schülerinnen und Mitschülern umgeben ist (z. B. Gerlach
ber hinaus gibt es aber auch Teilgruppen mit steigendem und 2006). Das führt dazu, dass sich Schülerinnen und Schü-
sinkendem Selbstwert bzw. mit nichtlinearem Verlauf (z. B. ler verschiedener Schulformen weniger in ihrem schulischen
Birkeland, Melkevik, Holsen & Wold 2012). Selbstkonzept unterscheiden, als man eigentlich angesichts
Während der Kindheit und Jugend stabilisieren sich in- der Leistungsunterschiede erwarten würde.
terindividuelle Unterschiede im Selbstwert. So ermittelte die Prinzipiell wäre auch ein anderer Effekt denkbar, wenn
Metaanalyse von Trzesniewski, Donnellan und Robins (2003) man eine Schule mit einem besonders hohen Prestige – wie
bei 6- bis 11-Jährigen eine korrelative Stabilität von r D :40, z. B. ein Elitegymnasium – besucht. Hier könnten sich Schü-
die auf r D :65 bei 22- bis 30-Jährigen stieg und danach wie- lerinnen und Schüler „im Erfolg der Anderen sonnen“ und
der etwas abnahm. Der Abstand zwischen den Messungen sich aufgrund der Schulzugehörigkeit besonders positiv be-
betrug hierbei im Mittel etwa 5 Jahre. Der Selbstwert älte- werten – obwohl man von leistungsstarken Mitschülerinnen
rer Jugendlicher beruht auf immer mehr Erfahrungen, sodass und Mitschülern umgeben ist. Also: „Wenn ich klug genug
eine neue Erfahrung diesen immer weniger in Frage stellen bin um auf diese besondere Schule mit den vielen sehr klugen
kann. Schülerinnen und Schülern zu gehen, dann muss ich selbst
sehr klug sein.“ Ein solcher positiver Effekt wird vor allem
kurz nach dem Wechsel auf prestigereiche Schulen gefun-
den, während auf längere Sicht der soziale Vergleich mit den
16.3.3 Einflüsse auf das Selbstkonzept anderen leistungsstarken Schülerinnen und Schülern wieder
das schulische Selbstkonzept verschlechtert (Marsh, Köller &
Biologische Einflüsse. Zwillingsstudien haben gezeigt, dass – Baumert 2001).
ähnlich zu den Kerndimensionen der Persönlichkeit – etwa Bezüglich schulischer Einflüsse auf das Selbstkonzept ist
30 % bis 50 % der interindividuellen Unterschiede im Selbst- auch das Verhalten der Lehrkräfte bedeutsam. Die Lehrkräf-
wert auf genetische Faktoren zurückzuführen sind (Kamaku- te als unterstützend zu erleben geht mit einem etwas höheren
ra, Ando & Ono 2007). Hierfür gibt es zwei Erklärungen, von Selbstwert einher (z. B. Reddy, Rhodes & Mulhall 2003). Al-
denen bisher nur die erste empirisch untersucht und bestätigt lerdings gibt es Hinweise darauf, dass Unterstützung durch
wurde. Genetische Faktoren beeinflussen demnach die Aus- Eltern sowie Gleichaltrigen vergleichsweise wichtiger als die
prägung von Merkmalen wie Intelligenz, deren Bewertung Unterstützung durch Lehrkräfte ist. Ebenso gibt es – ana-
eine Quelle des Selbstwerts bildet. Zudem ist auch denkbar, log zu den Eltern – Hinweise, dass Geschlechtsstereotypien
dass genetische Faktoren die Informationsverarbeitung und der Lehrerinnen und Lehrer das schulische Selbstkonzept ih-
damit die Art und Weise beeinflussen, wie Menschen sich be- rer Schülerinnen und Schüler beeinflussen können. Durch
werten. Lehrkräfte durchgeführte Interventionen zur Verbesserung
Zum Teil wurde ein geringerer Selbstwert bei Frühpuber- des Selbstkonzepts ihrer Schülerinnen und Schüler führen
tierenden als bei anderen Jugendlichen gefunden. Vermut- im Mittel zu moderaten Effekten mit Verbesserungen von et-
lich ist das vor allem dann der Fall, wenn die Jugendlichen wa einer halben Standardabweichung. Wirksam ist hierbei
schlecht auf die biologischen Veränderungen vorbereitet und vor allem die Arbeit mit positiven Rückmeldungen (O’Mara,
deshalb verunsichert sind. Marsh, Craven & Debus 2006).
Soziale Einflüsse. Das Elternverhalten beeinflusst die Ent- Wenn Lehrkräfte meinen, dass Jungen schlechter als Mäd-
wicklung des Selbstkonzepts. So zeigen Metaanalysen von chen lesen können, so sagt dies einen schlechteren Verlauf des
Khaleque (2013 2015), dass elterliche Wärme mit einem hö- Selbstkonzepts der Lesefähigkeiten der Jungen im Folgejahr
heren Selbstwert der Kinder (r D :21 bis r D :26) einhergeht, vorher. Das Selbstkonzept der Mädchen wurde dagegen nicht
während vernachlässigendes Elternverhalten mit einem nied- von der Meinung und dem damit verbundenen Verhalten
rigeren Selbstwert verbunden ist (r D :41). Bereichsspe- der Lehrkräfte beeinflusst (Retelsdorf, Schwartz & Asbrock
zifische Selbstkonzepte werden auch von Geschlechtsstereo- 2015).
typien und Erwartungen der Eltern sowie anderer wichtiger Fähigkeit und Leistungen. Gute Schulnoten tragen zu ei-
Bezugspersonen beeinflusst. So meinen viele Eltern, dass Jun- nem besseren Selbstkonzept bei, wobei Effekte auf das schu-
gen besser in Mathematik seien als Mädchen, was dann die lische Selbstkonzept stärker sind als auf den allgemeinen
322 Kapitel 16  Entwicklung des Selbst und der Persönlichkeit

Selbstwert. So zeigte eine Metaanalyse von Huang (2011), (1966) ist die Identitätsentwicklung durch die Erkundung
dass die anfangs erfassten Schulnoten die Positivität des von verfügbaren Möglichkeiten (Exploration) und das Ein-
Selbstkonzepts zum Folgezeitpunkt vorhersagten (r D :19 bis gehen von Festlegungen (Commitment) gekennzeichnet.
r D :25). Diese Zusammenhänge sind als klein zu bewerten. Anhand der Kombination einer hohen bzw. niedrigen
Ebenso gingen bessere anfängliche Noten mit einer stärkeren Ausprägung dieser beiden Dimensionen unterschied er
Verbesserung des Selbstkonzepts einher. vier Identitätszustände (vgl. . Tab. 16.2).
Ein höherer Intelligenzquotient hängt ebenfalls mit einem
besseren Selbstkonzept der schulischen Fähigkeiten zusam-
men (z. B. r D :25; Steinmayr & Meisner 2013). Die Themen der Identität umfassen verschiedene Berei-
Prozesse des Selbstkonzeptschutzes. Angesichts der im che, etwa die berufliche Identität (also welchen Beruf man er-
Jugend- und Erwachsenenalter relativ hohen korrelativen greifen möchte) und die politische/ideologische Identität (mit
Stabilität bereichsspezifischer Selbstkonzepte und des allge- welcher Weltanschauung oder politischen Partei man sich
meinen Selbstwerts interessiert sich die Psychologie für Pro- identifiziert). Hierbei können sich die Identitätszustände zwi-
zesse, mit denen Menschen ihr Selbstkonzept stabilisieren. schen diesen Bereichen unterscheiden. Jugendliche können
Brandtstädter hat hierfür ein Erklärungsmodell entwickelt z. B. viele Informationen über verschiedene Berufe erkunden
(z. B. Brandtstädter 2007). Ausgangspunkt sind Widersprü- und sich auf dieser Basis für einen Beruf entschieden haben
che zwischen dem vorhandenen Selbstkonzept und neuen (erarbeitete Identität), während sie sich überhaupt nicht mit
Informationen, die man über sich erhält. Nehmen wir als Politik beschäftigen und hier auch keine Festlegungen einge-
Beispiel einen Schüler, der von sich meint, sehr gut in Ma- gangen sind (diffuse Identität).
thematik zu sein, aber in einer Klassenarbeit eine schlechte Vor kurzem hat Luyckx zwei Arten der diffusen Identi-
Mathematiknote bekommt. Hier gibt es zwei Wege, diese Dis- tät unterschieden: Die sorgenfreie diffuse Identität beschreibt,
krepanz zu reduzieren. Zum einen könnte der Schüler aktiv dass die Person sich nicht mit einem Thema beschäftigen will
werden (also z. B. mehr üben), um bei den nächsten Leis- – etwa weil sie meint, dass dazu später noch genug Zeit sei.
tungstests wieder sehr gut abzuschneiden und in Zukunft Die sorgenvolle diffuse Identität beschreibt dagegen Perso-
wieder solche Rückmeldungen zu bekommen, die zu seinem nen, die eigentlich Möglichkeiten erkunden und sich festle-
positiven Selbstkonzept passen. Brandtstädter spricht hier gen wollen, dies aber nicht schaffen, weil z. B. aufgrund eines
von assimilativen Prozessen. Funktioniert das nicht, so könn- fehlenden Schulabschlusses berufliche Perspektiven fehlen
te der Schüler psychische Prozesse (sogenannte akkommoda- (z. B. Luyckx, Klimstra, Duriez, Van Petegem & Beyers 2013).
tive Prozesse) einsetzen, um die Diskrepanz zu reduzieren. Hier geht die diffuse Identität also mit einem beeinträchtigten
Beispielsweise könnte er soziale Abwärtsvergleiche mit jenen psychischen Befinden einher, während Menschen mit einer
Mitschülerinnen und Mitschülern suchen, die schlechter als sorgenfreien diffusen Identität unbekümmert sind.
er selbst in dem Leistungstest abschnitten („Im Vergleich zu Sich auf eine Identität festzulegen bedeutet nicht zwangs-
denen bin ich sehr gut“) oder die Wichtigkeit der Aufgaben läufig, dass damit die Identitätsentwicklung in diesem Be-
abwerten, mit denen er Schwierigkeiten hat (etwa: „Um gut in reich abgeschlossen ist. Dies wird z. B. in dem Modell der
Mathe zu sein, muss man so etwas gar nicht können“). In eini- Identitätsentwicklung von Luyckx, Goosens und Soenens
gen Arbeiten ergänzte Brandtstädter eine dritte Gruppe von (2006) deutlich. Dieses unterscheidet zwei aufeinander auf-
Prozessen – sogenannte immunisierende Prozesse – mit de- bauende Kreisprozesse, in denen jeweils zwei Aspekte zusam-
16 menwirken. Der erste Kreisprozess umfasst analog zu dem
ren Hilfe man die negative Information erst gar nicht an sich
herankommen lässt (und sich z. B. am Tag der Klassenarbeit Modell von Marcia (1966) die Herausbildung einer Identität
krank meldet und die negative Note vorerst vermeidet). durch Exploration in der Breite (also von vielen Möglichkei-
Da man für akkomodative Prozesse kognitive Flexibili- ten) und das Eingehen von Festlegungen. Sobald man eine
tät benötigt, wäre es naheliegend, dass mit der kognitiven Festlegung eingegangen ist, setzt der zweite Kreisprozess ein.
Entwicklung im Kindes- und Jugendalter akkomodative Pro- Hier geht es darum, sich mit den Vor- und Nachteilen der ge-
zesse zunehmen bzw. immer differenzierter werden. Bisher troffenen Festlegung vertieft auseinanderzusetzen (Explorati-
hat man eine solche Zunahme aber nur im Erwachsenenalter on in der Tiefe) und sich – im Idealfall – mit der getroffenen
nachgewiesen (Brandtstädter 2007). Festlegung immer mehr zu identifizieren (Identifikation mit
der Festlegung). Allerdings kann ein Hinterfragen der getrof-

16.4 Identität
. Tabelle 16.2 Die Identitätszustände nach Marcia (1966)
16.4.1 Identitätszustände und
Exploration
Identitätsprozesse
Niedrig Hoch

Eingehen einer Niedrig Diffuse Identität Moratorium


Die Identität umfasst all das, was die eigene Individualität Festlegung
ausmacht, und das Erleben von Gleichheit und Kontinuität Hoch Übernommene Erarbeitete
der eigenen Person über die Zeit. Nach James Marcia Identität Identität
16.4  Identität
323 16
fenen Festlegung auch dazu führen, dass man diese wieder änderung der Identität: 36 % zeigten diese zwischen zwei
aufgibt und dann erneut den ersten Kreisprozess durchlaufen Messzeitpunkten. Immerhin 15 % zeigten jedoch einen Rück-
muss. schritt. Eine erarbeitete Identität wurde dabei am ehesten
aufrechterhalten (von 66 % der Personen mit einer solchen
Identität zum ersten Messzeitpunkt) gefolgt von der vor-
weggenommenen Identität (53 %). Ein Moratorium wurde
16.4.2 Entwicklung der Identität dagegen am seltensten aufrechterhalten (34 %) und stellt also
meist ein Durchgangsstadium vor dem Eingehen einer Fest-
Am Anfang der Identitätsentwicklung steht die diffuse Iden- legung dar.
tität, wenn Menschen also noch nicht die vorhandenen Mög- Zum Identitätsmodell von Luyckx gibt es bisher erst we-
lichkeiten exploriert haben und keine Festlegung eingegan- nige Längsschnittstudien. Eine Querschnittstudie mit 14- bis
gen sind. Ein möglicher Entwicklungspfad würde dann von 30-Jährigen fand die stärkste Ausprägung der verschiede-
der diffusen Identität über das Erkunden von Möglichkeiten nen Formen der Exploration um das 22. Lebensjahr. Das
(Moratorium) hin zu einer erarbeiteten Identität führen. Al- Eingehen von Festlegungen und die Identifikation mit der
ternativ könnten Jugendliche, ohne selbst aktiv zu erkunden, Festlegung zeigten einen schwach positiven Zusammenhang
erst einmal Überzeugungen von Eltern oder anderen Erwach- mit dem Lebensalter (Luyckx et al. 2013).
senen übernehmen (vorweggenommene Identität). Werden
diese Überzeugungen später in Frage gestellt, sollte auch hier
ein Moratorium durchlaufen und dann eine erarbeitete Iden-
tität erreicht werden. Bei diesen Entwicklungspfaden handelt 16.4.3 Einflüsse auf die Identitätsentwicklung
es sich um Höherentwicklungen, also Veränderungen hin
zu mehr Exploration und/oder Festlegung. Prinzipiell wä-
1 Biologische Einflüsse
ren aber auch Rückschritte in der Entwicklung möglich, etwa
Genetische und andere biologische Einflüsse auf die Iden-
wenn eine erarbeitete Identität aufgegeben wird und man z. B.
titätsentwicklung wurden bisher nicht systematisch unter-
ein nach reichlicher Überlegung gewähltes Studium abbricht.
sucht.
Erikson (1988) sah die Identitätsentwicklung als zentra-
le Aufgabe des Jugendalters. Heute weiß man allerdings,
dass die Identitätsentwicklung meist noch nicht im Jugend-1 Soziale Einflüsse
alter abgeschlossen ist und sich große Veränderungen bis Die Identitätsentwicklung wird gefördert, wenn die soziale
hinein in das junge Erwachsenenalter vollziehen. Kroger, Umwelt die Exploration möglicher Identitäten und das Ein-
Martinussen und Marcia (2010) haben die Befunde von vie- gehen von Festlegungen unterstützt. Wenn Eltern dagegen
len Längsschnitts- und Querschnittstudien systematisiert. Bei starre Erwartungen an die Jugendlichen haben, etwa dass die-
den 13-Jährigen, den jüngsten Teilnehmerinnen und Teil- se später im elterlichen Unternehmen arbeiten sollen, und
nehmern, waren die vorweggenommene Identität (34 %) und ihren Kindern wenig Autonomie zugestehen, sollte dies eine
diffuse Identität (29 %) am häufigsten vertreten. Die diffuse vorweggenommene Identität fördern. Jugendliche mit dif-
Identität nahm mit 14 Jahren noch etwas zu (36 %) und sank fuser Identität berichten häufig, dass sie wenig emotionale
dann allmählich ab. Auch die vorweggenommene Identität Bindung an ihre Eltern haben und auch wenig Autonomie in
sank im Mittel ab, wobei aber bei der ältesten Gruppe (30- bis der Familie eingeräumt bekommen (vgl. Fuhrer & Trautner
36-Jährige) immerhin noch 17 % diesen Identitätsstatus auf- 2005).
wiesen. Das Moratorium zeigte einen umgekehrt u-förmigen Rich und Schachter (2012) fanden bei jenen Schülerin-
Verlauf. Es stieg von 23 % bei den 13-Jährigen auf 42 % bei nen und Schülern eine höhere Identitätsexploration, die ihre
den 19-Jährigen an und fiel dann wieder auf 21 % bei den 30- Lehrerinnen und Lehrer als unterstützender wahrnahmen,
bis 36-Jährigen. Die erarbeitete Identität schließlich stieg von Lehrkräfte eher als Vorbilder ansahen und die meinten, dass
13 % bei den 13-Jährigen auf 47 % bei den 30- bis 36-Jährigen in ihrer Schule nicht nur gute Leistungen gefördert werden
an. sollen, sondern auch die soziale und Werteentwicklung an-
Die diffuse und vorweggenommene Identität werden also geregt wird.
zunehmend durch eine erarbeitete Identität abgelöst, wobei
aber nur knapp die Hälfte der 30- bis 36-Jährigen sich zum1 Einflüsse von Persönlichkeit und Verhalten
Untersuchungszeitpunkt ihre Identität erarbeitet hatte. Ange- Eine hohe Offenheit für neue Erfahrung sagte einen Anstieg
sichts längerer Ausbildungszeiten und einer immer späteren der verschiedenen Formen der Identitätsexploration vorher.
Übernahme von Erwachsenenrollen hat sich die Identitäts- Eine hohe Gewissenhaftigkeit ging sowohl mit mehr Explora-
entwicklung zunehmend in das Erwachsenenalter verlagert. tion als auch mit dem Eingehen von Festlegungen einher. Wer
Auch im Erwachsenenalter werden oftmals bisher gültige zielgerichtet plant und seine Impulse gut kontrolliert, kann
Identitäten aufgegeben – etwa als Folge des Arbeitsplatzver- also besser bestehende Möglichkeiten erkunden und daraus
lusts oder einer Ehescheidung. gezielt auswählen. Ebenso ging in einem Teil der Studien ei-
Zwar war in den Analysen von Kroger, Martinussen und ne höhere Extraversion mit mehr Exploration und Festlegung
Marcia (2010) die Höherentwicklung die dominierende Ver- einher. Die Befunde für Neurotizismus und Verträglichkeit
324 Kapitel 16  Entwicklung des Selbst und der Persönlichkeit

waren dagegen inkonsistent (Luyckx, Teppers, Klimstra, & stehlen sollte, und würde es sich auch so verhalten und zu-
Rassart 2014). gleich vermuten, dass der Dieb Schuldgefühle bekommt? Ein
Wer ein erhöhtes Ausmaß aggressiven und delinquenten Beispiel für Letzteres ist das Heinz-Dilemma von Kohlberg
Problemverhaltens im frühen Jugendalter aufweist, hat im (1996). Heinz verfügt nicht über das Geld, um ein sehr teures
weiteren Verlauf der Jugend mehr Probleme beim Eingehen Medikament zu kaufen, das seiner kranken Frau das Leben
von Festlegungen und stellt einmal getroffene Festlegungen retten könnte. Sollte er in die Apotheke einbrechen, um das
eher in Frage (Crocetti, Klimstra, Hale, Koot & Meeus 2013). Medikament zu stehlen? Hier geraten die moralische Norm,
Dies könnte einerseits daran liegen, dass Problemverhalten Leben zu bewahren, und die Norm, nicht zu stehlen, in Kon-
mit mehr Impulsivität einhergeht, die das Treffen durch- flikt. Egal, für welchen Lösungsweg man sich entscheidet, es
dachter Entscheidungen hemmt. Andererseits kann Problem- ergeben sich in jedem Fall mögliche negative Konsequenzen.
verhalten auch die Verfügbarkeit von attraktiven Optionen Ausgewertet werden die Begründungen für den vorgeschla-
einschränken und deshalb eine Festlegung erschweren. genen Lösungsweg.
Aus Festlegungen resultierende Erfolgs- und Misserfolgs- Kohlberg nahm drei Niveaus des moralischen Urteilens
erlebnisse haben einen Einfluss darauf, ob man die Festlegung an, von denen jedes sich wiederum in zwei Stufen untertei-
aufrechterhält. So erhalten Jugendliche mit guten Noten eher len lässt (. Tab. 16.3). Auf dem präkonventionellen Niveau
die Wahl ihres Bildungswegs aufrecht (Pop, Negru-Subtirica, wird das Verhalten dadurch gelenkt, Strafen zu vermeiden
Crocetti, Opre & Meeus 2016). und einen persönlichen Nutzen zu erzielen. Auf dem konven-
tionellen Niveau lassen sich Menschen von den Erwartungen
von Bezugspersonen bzw. später von Gesetzen leiten. Auf
16.5 Wertsystem: Moralisches Urteil und dem postkonventionellen Niveau schließlich orientieren sich
Verhalten Menschen an allgemeinen moralischen Werten und folgen
diesen, selbst wenn das im Widerspruch zu Gesetzen stehen
sollte. Die höchste Stufe des moralischen Urteils, auf der Men-
16.5.1 Theoretische Zugänge schen sich selbst universelle ethische Prinzipien ausdenken,
wurde extrem selten gefunden.
Um sich in sozialen Situationen angemessen zu verhalten, be-
nötigen Menschen Wissen über dafür gültige soziale Normen,
etwa darüber, welche Verhaltensweisen gut oder schlecht 16.5.2 Entwicklung moralischer Urteile und
sind. Angesichts möglicher Konflikte zwischen verschiede- moralischen Verhaltens
nen Normen bzw. zwischen Normen und den eigenen Inte-
ressen müssen Menschen abzuwägen lernen, welche Normen
Kohlbergs Stufen des moralischen Urteils wurden in zahl-
unter welchen Bedingungen anzuwenden sind und wie weit
reichen Studien ab dem Übergang von der Kindheit zum
Normen veränderbar sind. Neben dem Urteil darüber, wel-
Jugendalter untersucht, da für jüngere Kinder seine morali-
ches Verhalten in einer gegebenen Situation gut oder schlecht
schen Dilemmas nicht altersangemessen wären. Während in
ist, müssen Menschen auch die Bereitschaft (Motivation) ent-
einer Längsschnittstudie Kohlbergs etwa 86 % der 9-Jährigen
wickeln, sich nach diesen Normen zu verhalten.
auf dem präkonventionellen Niveau (meist auf Stufe 2) urteil-
16 ten, nahm dieser Anteil mit wachsendem Alter immer mehr
ab. Die Orientierung an den Erwartungen von Bezugsper-
Moralisches Denken oder Urteilen betrifft Vorstellungen
sonen (Stufe 3) war im mittleren Jugendalter am stärksten
über Gut und Böse, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit,
ausgeprägt. Die Orientierung an Gesetzen (Stufe 4) nahm mit
und über Gründe, Gutes oder Schlechtes zu tun. Die
steigendem Alter zu. Eine Orientierung am Gesellschaftsver-
Forscherinnen und Forscher gehen dabei meist davon aus,
trag und den individuellen Rechten (Stufe 5) trat erstmals
dass sich die Entwicklung der moralischen Urteilsfähigkeit
um das 20. Lebensjahr auf und wuchs auf etwa 10 % bei den
in einer Abfolge von logisch aufeinander aufbauenden,
36-Jährigen (. Abb. 16.4). Nur 4 % der Teilnehmerinnen und
qualitativ unterschiedlichenStufen vollzieht (z. B. Kohlberg
Teilnehmer zeigten im Längsschnitt Entwicklungsrückschrit-
1996).
te (Colby et al. 1983). Ähnliche Befunde wurden in späteren
Längsschnittstudien erzielt.
Moralisches Urteilen wird meist anhand von Dilemmas
untersucht, in denen entweder ein persönliches Bedürfnis mit
einer moralischen Norm in Konflikt gerät (in Dilemmas für 16.5.3 Moralisches Urteil und moralisches
Kinder im Vor- und Grundschulalter) oder in denen zwei Verhalten
moralische Normen in Widerspruch geraten (in Dilemmas
für Jugendliche und Erwachsene). Ein Beispiel für Ersteres Im Vorschul- und Grundschulalter wurde bei Kindern in der
ist die Geschichte eines Kindes, das in der Manteltasche ei- westlichen Welt ein zweistufiger Prozess der moralischen Ent-
nes anderen Kindes eine Tüte mit Süßigkeiten sieht, die es wicklung gefunden. Zuerst erwerben die Kinder das Wissen
selbst gern essen würde. Versteht das Kind, dass man nicht darüber, was richtig oder falsch ist (also, dass man z. B. nicht
16.5  Wertsystem: Moralisches Urteil und Verhalten
325 16
als 90 % der 4- bis 5-Jährigen, dass Stehlen falsch ist; die-
. Tabelle 16.3 Kohlbergs Stufentheorie der moralischen
Entwicklung (nach Kohlberg, 1996, S. 128ff.) ser Anteil wuchs auf 100 % bei den 8- bis 9-Jährigen. Fast
80 % der 4- bis 5-Jährigen erwarteten aber, dass sich der Dieb
Stufe Welche Prinzipien wenden Menschen in einer vorgegebenen Geschichte gut fühlen wird (weil ihm
an? die entwendeten Süßigkeiten schmecken). Dagegen schrie-
Präkonventionelles Niveau ben bereits 75 % der 8- bis 9-Jährigen dem Dieb negative
1 Orientierung an Von Autoritätspersonen aufgestellte Re-
Gefühle zu (Nunner-Winkler 2007).
Gehorsam und Strafe geln und Normen müssen eingehalten Dass Zusammenhänge zwischen dem Niveau des mo-
(heteronome Moral) werden, damit man nicht bestraft wird ralischen Urteils bzw. moralischen Einstellungen im Allge-
meinen und dem moralischen Verhalten von Kindern und
2 Instrumentell- Man soll Regeln befolgen, wenn sie
relativistische einem selbst nützen. Auch andere Jugendlichen oft nicht allzu hoch sind (Raaijmakers, Engels
Orientierung Menschen haben das Recht, sich so & Van Hoof 2005), kann auch dadurch erklärt werden, dass
zu verhalten moralische Einstellungen oftmals sehr allgemein formuliert
Konventionelles Niveau sind. Damit aus der Einstellung „Man soll Menschen in Not
helfen.“ hilfreiches Verhalten wird, muss z. B. erst einmal fest-
3 Orientierung Man soll Erwartungen nahestehender gestellt werden, dass eine solche Notsituation vorliegt. Dann
an moralischen Personen erfüllen, um in deren Augen
Erwartungen nahe- gut dazustehen. Soziale Übereinkünfte
muss die Person überlegen, ob sie dazu in der Lage wäre, zu
stehender Personen haben Vorrang vor individuellen Interes- helfen und was zu tun ist. Vor der Entscheidung muss sie das
sen Ziel zu helfen mit ihren anderen Zielen abwägen und prü-
4 Orientierung an Man soll Gesetze einhalten und Pflichten
fen, ob die Hilfeleistung die höchste Priorität hat. Bei diesen
Gesetz und Ordnung erfüllen, weil dies für das Funktionieren Abwägungen spielen also Merkmale der Situation eine Rol-
der Gesellschaft notwendig ist le.
Auf den beiden ersten Stufen des Modells von Kohlberg
Postkonventionelles oder prinzipiengeleitetes Niveau
spielen solche situativen Merkmale eine besonders große Rol-
5 Orientierung am Absolute Werte und Rechte – wie Le- le. Wer z. B. Strafen vermeiden will, wird eher dann Regeln
Gesellschaftsvertrag ben und Freiheit – müssen respektiert
einhalten, wenn eine größere Gefahr besteht, dass die Regel-
und den individuel- werden, weil das dem allgemeinen
len Rechten Wohlergehen dient. Ansonsten sollen verletzung entdeckt und bestraft wird. Hier bestimmen also
gruppenspezifische Gesetze und Regeln vor allem Merkmale der Situation und der Lerngeschichte,
eingehalten werden ob man sich moralisch oder unmoralisch verhält (Gewirtz &
6 Orientierung an uni- Was richtig ist, wird durch Gewissens-
Pelaez-Nougueras 2014). Ein Schüler wird z. B. eher in einer
versellen ethischen entscheidungen bestimmt im Einklang Klassenarbeit mogeln, wenn er sich daraus einen großen Nut-
Prinzipien mit selbst gewählten, universellen, um- zen verspricht, wenn das Risiko des Erwischtwerdens gering
fassenden und konsistenten ethischen ist und wenn es Mitschülerinnen und Mitschüler als soziale
Prinzipien (wie Gegenseitigkeit, Gleich- Modelle gibt, die erfolgreich betrügen. Einige Lerntheoretiker
heit, Würde jedes einzelnen Menschen)
meinten sogar, dass solche situativen Merkmale grundsätzlich
ausreichend seien, um das moralische Verhalten vorherzusa-
gen. Verinnerlichte Wertsysteme und die moralische Urteils-
stehlen und man anderen Menschen in Not helfen sollte). Im kompetenz im Sinne Kohlbergs seien hingegen für das Ver-
zweiten Schritt entsteht die Motivation, sich entsprechend des halten völlig unbedeutend. Tatsächlich zeigten Experimente,
moralischen Wissens zu verhalten. So wussten bereits mehr dass Grundschülerinnen und Grundschüler eher dann mo-

. Abb. 16.4 Veränderungen 70


des moralischen Urteils in der Stufe 1 Stufe 2 Stufe 3 Stufe 4 Stufe 5
Längsschnittstudie von Kohlberg 60
(nach Colby et al., 1983, S. 46)
50
Prozentangaben

40

30

20

10

0
9 14 19 24 29 34
Alter in Jahren
326 Kapitel 16  Entwicklung des Selbst und der Persönlichkeit

geln, wenn sie vorher ein anderes Kind beobachteten, das moralischen Urteil (d D :41 Standardabweichungseinheiten;
Schläfli, Rest & Thomas 1985). Konventioneller Ethik- und
erfolgreich mogelte, als wenn das andere Kind dabei erwischt
und bestraft wurde. Einige Kinder schummelten aber selbst Sozialkundeunterricht erwies sich dagegen für die Entwick-
dann nicht, wenn ein anderes Kind beim Mogeln Erfolg hatte.lung des moralischen Urteilens als wirkungslos. Vermutlich
Ein paar andere Grundschülerinnen und Grundschüler lie- lernten dort die Schülerinnen und Schüler nicht, Normen
ßen sich auch dann nicht vom Betrügen abhalten, wenn sie und Werte kritisch zu hinterfragen.
zuvor gesehen hatten, dass ein anderes Kind erwischt und be- In den USA wird zunehmend ehrenamtliche Arbeit in der
Kommune in schulische Programme integriert. Positive Wir-
straft worden war (Montada, Setter to Bulte, Sütter & Winter
kungen auf die moralische Entwicklung werden vor allem
1974). Solche Befunde zeigen, dass nicht ausschließlich Situa-
tionsmerkmale bestimmen, ob man gegen Regeln verstößt. dann gefunden, wenn die Teilnehmerinnen und Teilnehmer
Merkmale der Person, wie verinnerlichte Normen, spielen al-selbst Einfluss auf die Auswahl der ehrenamtlichen Aktivi-
so auch hier eine Rolle. tät haben, die Schülerinnen und Schüler im Ehrenamt mit
Diese Studien liefern Ansatzpunkte, wie man über die moralisch bedeutsamen Themen konfrontiert werden (etwa
Gestaltung von Prüfungssituationen und von anderen schuli- mit sozialer Ungleichheit) und die gemeinsame Reflexion der
schen Situationen das Risiko des Mogelns beeinflussen kann: gemachten Erfahrungen ein fester Programmbestandteil ist
Eine hohe Aufmerksamkeit der Lehrkräfte und eine für al- (Nucci 2006).
le Schülerinnen und Schüler sichtbare Nicht-Duldung von Auf Kohlberg geht die Anregung zurück, die „moralische
Betrugsversuchen lassen Betrugsversuche weniger werden, Atmosphäre“ in der Schule zu fördern, indem Schülerinnen
können sie aber nicht ganz verhindern. und Schüler mehr Mitbestimmungsrechte erhalten. Wenn bei
Entscheidungsprozessen z. B. jede Schülerin bzw. jeder Schü-
ler und jede Lehrkraft jeweils eine Stimme hat und für das
Endergebnis die Güte der Argumente und nicht die Auto-
16.5.4 Einflüsse auf die Moralentwicklung
rität der Rolle als Lehrkraft entscheidend ist, dann sollten
Kinder und Jugendliche lernen, soziale Regeln zu entwickeln
1 Kognitiver Entwicklungsstand und praktizieren (das „Modell der gerechten Schulgemein-
Auf den ersten Stufen der Moralentwicklung werden zuneh- schaft“). Diese Maßnahme hatte allerdings im Vergleich zur
mend Interessen und Erwartungen anderer Menschen be- Diskussion moralischer Dilemmas schwächere Effekte auf die
rücksichtigt. Passend dazu geht eine bessere Fähigkeit zur Entwicklung des moralischen Urteilens (Power, Higgins &
Perspektivübernahme, sprich sich in andere Menschen hin- Kohlberg 1989).
einzuversetzen, mit einer höheren moralischen Urteilsfähig-
keit einher (Krebs & Gilmore 1982).

1 Soziale Einflüsse
Die Familie spielt eine entscheidende Rolle für die moralische 16.6 Einflüsse der Persönlichkeit auf die
Sozialisation der Kinder. Eltern vermitteln moralische Nor- Bewältigung schulischer Anforderungen
men und Werte und bilden soziale Modelle für angemessenes
16 Verhalten. Entwicklungsfördernd ist ein erklärender (induk-
tiver) Erziehungsstil, bei dem Eltern Gebote und Verbote auf Verschiedene Metaanalysen zeigen übereinstimmend, dass
eine Weise erläutern, die dem Verständnis des Kindes ange- vor allem eine höhere Gewissenhaftigkeit mit besseren No-
messen sind, Eltern Folgen des Verhaltens für das Kind und ten in Schule und Studium einhergeht (r D :24 bis r D :43;
für andere Menschen deutlich machen und sie dem Kind aus- O’Connor & Paunonen 2007; Poropat 2014). Meist wurde
reichend Entscheidungsfreiräume lassen. auch ein sehr kleiner positiver Zusammenhang der Verträg-
Hemmend wirken dagegen ein Macht ausübender (au- lichkeit mit den akademischen Leistungen gefunden (r D :06
toritärer) Erziehungsstil (z. B. körperliche Strafen) und die bis r D :09; O’Connor & Paunonen 2007; Vedel 2014). Zwei
Androhung von Liebesentzug, wenn sich das Kind uner- Metaanalysen fanden auch einen positiven Zusammenhang
wünscht verhält (Turiel 2006). zwischen Offenheit und Leistung (r D :07 bis r D :37;
Die schulische Förderung der Entwicklung des morali- Poropat 2014; Vedel 2014). Extraversion (r D :15) und
schen Urteilens erfolgt vor allem durch drei Maßnahmen: Neurotizismus (r D :10) waren nur dann mit Schulnoten
Seit Mitte der 1970er Jahre wird die Diskussion moralischer verbunden, wenn Erwachsene die Persönlichkeit von Erst-
Dilemmas in den Unterricht einiger Schulen integriert (im bis Siebtklässlern einschätzten (Poropat 2014). Zusammen-
deutschen Sprachraum z. B. die Konstanzer Methode der hänge zwischen Persönlichkeit und Leistung werden hier-
Dilemma-Diskussion; Lind 2010). Hierbei werden über min- bei vermutlich durch schulische Verhaltensweisen vermittelt.
destens zehn bis zwölf Unterrichtsstunden moralische Dilem- Gewissenhaftere, verträglichere und offenere Schülerinnen
mas diskutiert. Für den Erfolg sind eine aktive Beteiligung und Schüler schwänzen z. B. seltener den Unterricht und
sowie ein aktiver Meinungsstreit wichtig. Die Interventionen verpassen damit weniger Unterrichtsstoff (Lounsbury, Steel,
erbrachten im Mittel einen kleinen bis mittleren Zuwachs im Loveland & Gibson 2004). Wer sehr gewissenhaft ist, schiebt
16.6  Einflüsse der Persönlichkeit auf die Bewältigung schulischer Anforderungen
327 16
zudem das Erledigen von Aufgaben viel seltener auf (van Eer-
de 2004). bekommen, im Vergleich zu Mitschülerinnen und Mit-
Beim Verhältnis von Schulnoten und schulischem Selbst- schülern gut oder schlecht abzuschneiden und unter-
konzept geht man oft von reziproken Effekten aus, also stützende Lehrerinnen und Lehrer zu haben, tragen zu
dass nicht nur Schulnoten das Selbstkonzept beeinflussen Veränderungen der Persönlichkeit bei. Aspekte der Per-
(7 Abschn. 16.3.3), sondern dieses auch wieder Rückwirkung sönlichkeit wie Gewissenhaftigkeit oder Offenheit für Er-
auf die Schulleistung hat, etwa weil man mehr seinen Fä- fahrungen haben auch Rückwirkungen auf den Schuler-
higkeiten vertraut. Trifft dies zu, so könnte man über die folg und auf Problemverhalten im schulischen Kontext.
Verbesserung des Selbstkonzepts bessere Schulleistungen för- Zusammenhänge von einzelnen Persönlichkeitsaspekten
dern. Die Befundlage ist allerdings widersprüchlich. Eine mit einzelnen Einflussfaktoren bzw. von Persönlichkeits-
Metaanalyse von Valentine, DuBois und Cooper (2004) fand, aspekten und Schulleistung sind meist nur schwach aus-
dass ein positiveres Selbstkonzept und höhere Selbstwirksam- geprägt. Das ist nicht verwunderlich, da eine Vielzahl von
keitserwartungen einen günstigeren Verlauf der Schulleis- Faktoren die Persönlichkeit und die Leistung beeinflussen.
tung im Folgezeitraum vorhersagten. Die Zusammenhänge Gemeinhin wird als Erziehungsauftrag der Schu-
waren insgesamt schwach ausgeprägt, jedoch etwas stärker, le verstanden, dass diese zur Entwicklung mündiger
wenn sich Selbstkonzept und Leistung auf das gleiche Fach und sozial verantwortlicher Persönlichkeiten beitragen
bezogen (wie z. B. Mathematik). Die Metaanalyse von Huang und gesellschaftlich wünschenswerte Wertorientierun-
(2011) fand zwar, dass ein positiveres anfängliches Selbst- gen und Verhaltensbereitschaften vermitteln soll (Hof-
konzept bessere Schulnoten zum Folgezeitpunkt vorhersagt mann & Siebertz-Reckzeh 2008). Tatsächlich messen Lehr-
(r D :20 bis r D :27), allerdings ließ sich aus dem anfäng- kräfte der Förderung der Persönlichkeit der Schülerinnen
lichen Selbstkonzept nicht die Veränderung der Schulnoten und Schüler eine ähnlich hohe Wichtigkeit zu wie fachli-
vorhersagen. Leider wurden in der letzteren Analyse die Stu- chen Zielen (Hofer 2014). Allerdings finden vorliegende
dien zum allgemeinen und schulischen Selbstkonzept nicht Studien in der Regel nur kleine Effekte von Aspekten der
getrennt analysiert. Schule – wie Verhalten der Lehrkräfte und Klassenklima
Eine höhere moralische Urteilsfähigkeit könnte für gute – auf die Oberflächenmerkmale der Persönlichkeit der
Noten im Ethikunterricht hilfreich sein. Zudem hemmt ein Schülerinnen und Schüler (Reddy et al. 2003; Retelsdorf
höheres moralisches Urteil die Delinquenz und damit ein im et al. 2015; Rich & Schachter 2012). Überzeugende Belege
Schulkontext störendes Verhalten (Raaijmakers et al. 2005). für schulische Einflüsse auf Kernmerkmale der Persönlich-
Die Persönlichkeit beeinflusst nicht nur den Erfolg der keit fehlen völlig. Ein Grund für diese unbefriedigenden
Schülerinnen und Schüler beim Bewältigen schulischer An- Befunde sind Zielkonflikte zwischen Wissensvermittlung
forderungen. Sie hat auch Einfluss darauf, wie gut Lehrerin- und Persönlichkeitsentwicklung: Die Förderung der Per-
nen und Lehrer mit ihren Anforderungen zurechtkommen. sönlichkeitsentwicklung kommt bei einem starken Fokus
Neurotizismus ist hierbei ein Risikofaktor für berufliches auf die Leistungsentwicklung oft zu kurz (Hofmann &
Stresserleben und Burnout, während Gewissenhaftigkeit und Siebertz-Reckzeh 2008). Denkbar ist jedoch auch, dass
Extraversion zum Teil mit einem geringeren Stresserleben manche schulische Einflüsse auf die Persönlichkeitsent-
einhergehen (z. B. Klusmann, Kunter, Voss & Baumert 2012; wicklung bisher übersehen wurden, da sich die Bildungs-
Kokkinos 2007). Die Tätigkeit als Lehrkraft stresst also eher forschung sehr stark auf die Entwicklung kognitiver Kom-
jene Menschen, die insgesamt wenig emotional ausgeglichen petenzen konzentriert hat (Hofer 2014). Notwendig ist
sind, die mit Anforderungen nicht sehr organisiert umgehen also mehr Forschung zur wirksamen Förderung der Per-
und die weniger kontaktfreudig sind. sönlichkeitsentwicklung durch die Schule. Angesichts der
Vielzahl von Einflussfaktoren auf die Persönlichkeitsent-
wicklung überrascht es allerdings keinesfalls, dass einzel-
Zusammenfassung ne Faktoren – wie etwa Unterstützung durch die Lehrkräf-
In Kindheit und Jugend treten überwiegend positive te – im Mittel nur kleine Effekte haben.
Veränderungen in Kerndimensionen der Persönlichkeit,
Aspekten des Selbstkonzepts, der Identität und im mo-
ralischen Urteilen auf. Interindividuelle Unterschiede in Verständnisfragen
Kernmerkmalen der Persönlichkeit und im Selbstkonzept
verfestigen sich in Kindheit und Jugend immer mehr.
Die Persönlichkeitsentwicklung wird vom Zusammen-
?1. Welche Veränderungen gibt es in den Kerndimensio-
nen der Persönlichkeit im Jugendalter?
spiel von biologischen Einflüssen, sozialen Einflüssen und 2. Sind Temperamentsmerkmale vor allem durch
der Eigenaktivität des Individuums beeinflusst. Erfahrun- unsere Erbanlagen bestimmt und sind deshalb
gen in der Schule wie gute oder schlechte Noten zu interindividuelle Unterschiede in diesen Merkmalen
schon in der frühen Kindheit sehr stabil?
328 Kapitel 16  Entwicklung des Selbst und der Persönlichkeit

3. Wie verändert sich der allgemeine Selbstwert im Gerlach, E. (2006). Selbstkonzepte und Bezugsgruppeneffekte: Entwick-
Jugendalter? lung selbstbezogener Kognitionen in Abhängigkeit von der sozialen
4. Ist der Besuch eines Gymnasiums förderlich für das Umwelt. Zeitschrift für Sportpsychologie, 13, 104–114.
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6. Nennen Sie zwei Faktoren, die zu Geschlechtsunter- Harter, S. (2012). The construction of the self: Developmental and sociocultu-
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7. Ab welchem Alter kann man erwarten, dass die meisten Herzberg, P. Y., & Roth, M. (2014). Persönlichkeitspsychologie. Wiesbaden:
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8. Welche typischen Wege der Identitätsentwicklung Hofer, M. (2014). Persönlichkeitsentwicklung als schulisches Erziehungs-
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9. Was sind nach Kohlberg wichtige Schritte bei der Hofmann, H., & Siebertz-Reckzeh, K. (2008). Sozialisationsinstanz Schu-
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10. Mit welchen schulischen Maßnahmen kann man am Schweer (Hrsg.), Lehrer-Schüler-Interaktion: Inhaltsfelder, Forschungs-
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11. Welche Persönlichkeitseigenschaften sind mit einem Hoglund, C.L. (1995). Longitudinal study of gender differences in global and
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331 IV

Lehren und
Unterrichten
Inhaltsverzeichnis

Kapitel 17 Lehren und Unterrichten – 333

Kapitel 18 Unterrichtsqualität – 353

Kapitel 19 Medien im Unterricht – 373

Kapitel 20 Kompetenzen und berufliche Entwicklung von


Lehrkräften – 395
333 17

Lehren und Unterrichten


Ingo Kollar und Frank Fischer

17.1 Ein begriffliches Rahmenmodell zur Konzeptualisierung von


unterrichtlichen Lehr-Lernprozessen – 334

17.2 Die Schülerebene: Zur Bedeutung von Lernaktivitäten und


-prozessen – 335

17.3 Beispiele für lernförderliche Lernaktivitäten und -prozesse – 336


17.3.1 Erklären – 337
17.3.2 Fragenstellen – 338
17.3.3 Argumentieren – 338
17.3.4 Peer-Feedback – 338

17.4 Die Lehrerebene: Zur Unterscheidung zwischen


Unterrichtsmethoden und Lehrtechniken – 338

17.5 Unterrichtmethoden: Von der direkten Instruktion bis zum


Knowledge Building – 339
17.5.1 Direkte Instruktion – 339
17.5.2 Der Four-Components/Instructional Design-Ansatz – 340
17.5.3 Cognitive Apprenticeship – 341
17.5.4 Forschendes Lernen – 341
17.5.5 Problemorientiertes Lernen – 343
17.5.6 Der Knowledge-Building-Ansatz – 344

17.6 Auswahl und Einsatz von Lehrtechniken – 344


17.6.1 Techniken zur Überwachung von Lernprozessen – 344
17.6.2 Techniken zum Herstellen von Lernbereitschaft – 345
17.6.3 Techniken zur Präsentation und Demonstration von Lehrinhalten – 345
17.6.4 Techniken zur Unterstützung von Schülerarbeitsphasen (Scaffolding) – 345
17.6.5 Techniken zum Geben von lernförderlichem Feedback – 346

17.7 Schluss – 347

Verständnisfragen – 348

Literatur – 348

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019


D. Urhahne, M. Dresel, F. Fischer (Hrsg.), Psychologie für den Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55754-9_17
334 Kapitel 17  Lehren und Unterrichten

Unterrichten ist eine komplexe Tätigkeit. Sie verlangt von 17.1 Ein begriffliches Rahmenmodell zur
Lehrkräften eine aufwändige Planung, welche Unterrichts- Konzeptualisierung von
methoden und Lehrtechniken eingesetzt werden sollen. unterrichtlichen Lehr-Lernprozessen
Während des Unterrichts sind Lehrkräfte gefordert, das Lern-
geschehen kontinuierlich zu überwachen. Auftretende Pro-
bleme müssen diagnostiziert und der Unterricht fortwährend In Anlehnung an das Angebots-Nutzungs-Modell des Un-
den aktuellen Bedingungen angepasst werden. All dies ge- terrichts (z. B. Helmke & Weinert, 1997) wird im Kontext
schieht nach Möglichkeit im Einklang mit wissenschaftlichen dieses Kapitels zwischen (a) lehrer- und schülerseitigen Ein-
Befunden (Bromme, Prenzel & Jäger 2014; Stark 2017). gangsvoraussetzungen und (b) lehrer- und schülerseitigen
Zur Frage, wie effektiver Unterricht gestaltet sein kann, Lernergebnissen unterschieden, die durch den Unterricht er-
können aus verschiedenen Forschungstraditionen heraus zielt werden. Zwischen den Eingangsvoraussetzungen auf der
Aussagen getroffen werden. Beispielsweise beschreibt die For- einen Seite und den Lernergebnissen auf der anderen Seite
schung zu Unterrichtsqualität dafür allgemeine Aspekte des stehen die im Unterricht stattfindenden bzw. durch sie initi-
Unterrichts, die sich förderlich auf den Wissens- und Kompe- ierten Lehr-Lernprozesse (. Abb. 17.1).
tenzerwerb von Schülerinnen und Schülern auswirken (z. B. Zu den maßgeblichen Eingangsvoraussetzungen auf Leh-
kognitive Aktivierung, konstruktive Unterstützung, Klassen- rerseite hat die Forschung zur Lehrerprofessionalität zahl-
raummanagement; 7 Kap. 18). Die Forschung zur Lehrer- reiche Erkenntnisse geliefert. Hierbei wurden vier beson-
professionalität hebt demgegenüber insbesondere auf die ders starke Einflussgrößen ermittelt (s. Baumert & Kunter,
Eingangsvoraussetzungen von Lehrenden ab, die zu einer 2006): (1) Professionswissen, (2) berufliche Überzeugungen,
hohen Effektivität und Qualität des Unterrichts beitragen (3) motivationale Orientierungen und (4) Selbstregulations-
(7 Kap. 20). Das vorliegende Kapitel bildet eine Ergänzung zu fähigkeiten (z. B. Baumert & Kunter, 2006; 7 Kap. 20). Mit
den beiden genannten Perspektiven. Es verweist in stärkerem Blick auf relevante Eingangsvoraussetzungen auf Schülersei-
Maße auf konkrete Handlungsmöglichkeiten, die Lehrenden te wird oft zwischen kognitiven Lernvoraussetzungen auf der
im Unterrichtsgeschehen zur Verfügung stehen, und stellt einen Seite und motivational-affektiven Lernvoraussetzun-
dar, welche Effekte von diesen Handlungen auf spezifische gen auf der anderen Seite unterschieden. Zu ersteren gehört
Lernaktivitäten und -prozesse von Schülerinnen und Schü- etwa das fachspezifische Vorwissen der Schülerinnen und
lern erwartet werden können, so dass Wissens- und Kompe- Schüler (s. de Jong & Ferguson-Hessler 1996), aber auch de-
tenzerwerb positiv beeinflusst werden. ren Intelligenz (z. B. Maltby, Day & Macaskill 2011). Beispiele
Das Kapitel ist wie folgt aufgebaut: Zunächst wird für motivational-affektive Lernvoraussetzungen sind Interes-
ein begriffliches Rahmenmodell zur Konzeptualisierung sen (Lewalter & Krapp, 2004), Zielorientierungen (Hulleman,
von unterrichtlichen Lehr-Lernprozessen präsentiert, das Schrager, Bodmann & Harackiewicz 2010) oder das Fähig-
die zentrale Bedeutung von schülerseitigen Lernaktivitäten keitsselbstkonzept der Schülerinnen und Schüler (Wolter &
und -prozessen und darauf bezogene Unterrichtsmethoden Hannover, 2014).
und Lehrtechniken betont. Ihre Auslösung und Förderung Mit Blick auf die Lernergebnisse geht es auf Schülersei-
dient dem Wissenserwerb der Schülerinnen und Schüler te v. a. darum, durch die Teilnahme am Unterricht Wissen,
(7 Abschn. 17.1). Daran schließt sich eine Darstellung theo- Fertigkeiten und Kompetenzen sowie lernförderliche For-
retischer Überlegungen zur Natur schülerseitiger Lernaktivi- men von Motivation und Emotionen aufzubauen (Baumert &
täten und Lernprozesse an, die mit einem erhöhten Wissens- Kunter 2006; Vogel, Wecker, Kollar & Fischer 2017; zur Mul-
erwerb einhergehen (7 Abschn. 17.2). Anschließend werden tikriterialität von Unterricht 7 Kap. 18). Unterricht führt aber
17 Beispiele für empirisch nachweislich lernförderliche Lernak- auch auf Seiten der Lehrkraft zu gewissen Effekten. Beispiels-
tivitäten dargeboten (7 Abschn. 17.3). In 7 Abschn. 17.4 wird weise können bestimmte Erfahrungen und Beobachtungen
die getroffene Unterscheidung von Unterrichtsmethoden und während des Unterrichts subjektive Überzeugungen zur Ef-
Lehrtechniken genauer begründet, bevor in 7 Abschn. 17.5 fektivität bestimmter Unterrichtsformen bestätigen oder ver-
zentrale, in der empirischen Lehr-Lernforschung gut unter- ändern (Kleickmann, Vehmeyer & Möller 2010). Gleiches gilt
suchte Unterrichtsmethoden genauer dargestellt werden. In für Erwartungen bezüglich der Leistungsfähigkeit einzelner
7 Abschn. 17.6 werden daran anschließend empirische Be- Schülerinnen und Schüler (Glock & Krolak-Schwerdt 2013)
funde zur Lernwirksamkeit unterschiedlicher Lehrtechniken sowie für Überzeugungen über die eigenen Fähigkeiten im
gezeigt. 7 Abschn. 17.7 fasst die wesentlichen Aussagen dieses Hinblick auf das Unterrichten (Holzberger, Philipp & Kunter
Kapitels noch einmal kurz zusammen. 2013).
17.2  Die Schülerebene: Zur Bedeutung von Lernaktivitäten und -prozessen
335 17
Eingangsvoraussetzungen Lehr- und Lernprozesse Ergebnisse

Professionswissen
Auswahl und Auswahl und Anwendung
Anwendung von von Lehrtechniken
Unterrichtsmethoden Lernergebnisse
Werte/Ziele/ z. B.
Überzeugungen z. B. Überwachen von z. B.
Direkte Instruktion Lernprozessen Subjektive Theorien
Problemorientiertes Lernbereitschaft erzeugen
Motivationale Lernen Demonstrieren/Präsentieren Lehr-lern-bezogene
Orientierungen Knowledge Building Scaffolding Einstellungen
Feedback geben

Selbstregulation

Lehrerebene
Schülerebene

Lernergebnisse

Kognitive Erwerb deklarativen


Lernvoraussetzungen Lernaktivitäten Lernprozesse Wissens

Passiv Speichern Fertigkeits- und


Aktiv Integrieren Kompetenzerwerb
Konstruktiv Inferieren (fachspezifisch und
Motivational-affektive Interaktiv Ko-Inferieren generell)
Lernvoraussetzungen
Motivational-
affektive
Lernergebnisse

. Abb. 17.1 Begriffliches Rahmenmodell für die Analyse und Förderung von Lehr- und Lernprozessen im Unterricht

Wie das Modell in . Abb. 17.1 andeutet, wirken lehrer- lie 2014). Lernprozesse beziehen sich dagegen auf die nicht
und schülerseitige Eingangsvoraussetzungen jedoch nicht di- beobachtbaren, kognitiven (d. h. Gedächtnis-)Prozesse, die
Lernende bei der Auseinandersetzung mit Lerninhalten zei-
rekt auf Lernergebnisse, sondern stets vermittelt über das Un-
terrichtsgeschehen. Wie bei Eingangsvoraussetzungen und gen.
Lernergebnissen kann auch beim Lehr-Lernprozess zwischen Dass sichtbare Lernaktivitäten eng mit kognitiven Lern-
einer Lehrer- und einer Schülerebene unterschieden werden. prozessen zusammenhängen, stellt die Grundannahme des
Auf der Lehrerebene differenziert das Modell zwischen Un- von Chi und Wylie (2014) vorgeschlagenen „ICAP“-Modells
terrichtsmethoden und Lehrtechniken; auf der Schülerebene dar. Dieses unterscheidet mit Blick auf sichtbare Lernaktivi-
zwischen Lernaktivitäten und Lernprozessen. Im Folgenden täten zwischen passiven („passive“), aktiven („active“), kon-
wird beschrieben, welche Lernaktivitäten und -prozesse es struktiven („constructive“) und interaktiven („interactive“)
zu unterscheiden gilt und in welchen wechselseitigen Zu- Lernaktivitäten. Äußerlich passiv ist ein Lernender etwa
sammenhängen diese zueinander stehen. Darauf folgt eine dann, wenn er den Erklärungen einer Lehrkraft zuhört oder
Beschreibung der Lehrerebene mit der Unterscheidung zwi- eine computerbasierte Animation ansieht. Aktiv ist er, wenn
schen Unterrichtsmethoden auf der einen und Lehrtechniken er sichtbare Aktivitäten ausführt, die jedoch nicht über ein
auf der anderen Seite. Reproduzieren oder Organisieren von Lerninhalten hinaus-
gehen. Beispiele wären das Mitschreiben der Ausführungen
der Lehrkraft oder das Unterstreichen von Wörtern in ei-
17.2 Die Schülerebene: Zur Bedeutung von
nem Text. Konstruktive Lernaktivitäten liegen vor, wenn der
Lernaktivitäten und -prozessen Lernende sichtbare Handlungen unternimmt, mit denen er
über die wahrgenommenen Informationen hinausgeht und
Wie beschrieben beeinflussen schülerseitige Lernvorausset- selbsttätig Wissen konstruiert. Dies ist etwa der Fall, wenn
zungen die Art und Weise, wie Schülerinnen und Schüler sich sich eine Schülerin das Vorgehen bei der Lösung eines ma-
mit Lerninhalten beschäftigen. Diesbezüglich kann zwischen thematischen Problems selbst erklärt. Interaktive Aktivitäten
Lernaktivitäten und Lernprozessen unterschieden werden. bezeichnen sichtbare Handlungen, bei denen Lernende auf
Lernaktivitäten können als äußerlich sichtbares Verhalten Beiträge Anderer (z. B. der Mitlernenden) Bezug nehmen
bezogen auf Lerninhalte verstanden werden (Chi & Wy- (z. B. mit einem Gegenargument).
336 Kapitel 17  Lehren und Unterrichten

Chi und Wylie (2014) gehen nun davon aus, dass ein 17.3 Beispiele für lernförderliche
Engagement in unterschiedlichen äußerlich sichtbaren Lern- Lernaktivitäten und -prozesse
aktivitäten mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit mit einem
unterschiedlichen Niveau der dabei ablaufenden Lernpro-
zesse einhergeht. Mit Lernprozessen sind Vorgänge gemeint, Als besonders lernförderlich – im Sinne einer Auslösung tief-
die im Gedächtnis der Schülerinnen und Schüler während gehender kognitiver Lernprozesse – hat sich laut Chi und
des Lernens ablaufen und einer direkten Beobachtung von Wylie (2014) wie beschrieben ein Engagement in konstruk-
außen unzugänglich sind (7 Kap. 2). In Phasen, in denen tiv-interaktiven Lernaktivitäten erwiesen. Passive und akti-
der Lernende äußerlich passiv ist, sind laut Chi und Wylie ve Aktivitäten gehen dagegen eher mit weniger tiefgehen-
(2014) vor allem simple Speicherungsprozesse wahrschein- den Lernprozessen einher. Konstruktiv-interaktive Aktivitä-
lich: Eine Schülerin hört etwa der Erklärung der Lehrperson ten lassen sich insbesondere in kooperativen Lernsettings
zum Aufbau des politischen Systems in Deutschland zu und anregen (7 Im Fokus). Beispiele für konstruktiv-interaktive
speichert dieses Wissen je nach Grad des vorhandenen Vor- Aktivitäten, von denen bekannt ist, dass sie positiv mit hoch-
wissens mehr oder weniger isoliert im Langzeitgedächtnis ab. wertigen kognitiven Lernprozessen und -ergebnissen zusam-
Ist die Schülerin im Sinne von Chi und Wylie (2014) äußer- menhängen, sind u. a. (1) das Erklären, (2) das Fragenstellen,
lich aktiv, sind dagegen bereits etwas höherwertige kogniti- (3) das Argumentieren und (4) das Feedback geben.
ve Prozesse wahrscheinlich: Unterstreicht sie beispielsweise
Stellen in einem Text, so wird sie dabei auf Basis des vorhan- Im Fokus: Kooperatives Lernen
denen Vorwissens Entscheidungen darüber treffen, welche
Textinhalte wichtig und weniger wichtig sind. Neue Infor- Insbesondere eher schülerzentrierte Unterrichtsmethoden
mationen werden auf diese Weise in bestehende Schemata sehen häufig eine zumindest phasenweise Umsetzung
im Langzeitgedächtnis integriert. Eine Revision bestehender kooperativen Lernens im Unterricht vor. Unter dem Begriff
Schemata oder die Konstruktion komplett neuer Schemata „kooperatives Lernen“ werden Lernsituationen subsumiert,
ist allerdings erst wahrscheinlich, wenn die Schülerin äußer- in denen Kleingruppen (üblicherweise zwei bis sechs
lich konstruktive Aktivitäten zeigt: Erstellt sie beispielsweise Schülerinnen und Schüler) versuchen, ihr Wissen bzw.
eine Mind-Map, in der sie die Beziehungen zwischen unter- ihre Fertigkeiten zu einem bestimmten Thema auf Basis
schiedlichen theoretischen Begriffen repräsentiert, so muss der Interaktionen innerhalb der Kleingruppe zu erweitern
sie hierfür über ihr vorhandenes Wissen hinausgehen und (Dillenbourg, 1999). Dem kooperativen Lernen werden
die entsprechenden Zusammenhänge inferieren (Inferenz: teils erhebliche Potenziale zur Förderung individuellen
Schlussfolgerung). Durch diesen Prozess werden bestehen- Wissens- und Fertigkeitserwerbs zugeschrieben. Kyndt,
des Wissen verfeinert oder sogar neues Wissen konstruiert. Raes, Lismont, Timmers, Cascallar und Dochy (2013)
Zeigen Lernende interaktive Aktivitäten, etwa wenn zwei berichten etwa von einer durchschnittlichen Effektstärke
Schülerinnen über die richtige Herangehensweise an einen von d D :54 für das Lernen in Kleingruppen gegenüber
mathematischen Beweis diskutieren, werden zusätzlich zu lehrerzentriertem Unterricht, wobei diese Effekte im
den bereits genannten kognitiven Prozessen auch sog. Co- naturwissenschaftlichen Unterricht etwas stärker zu sein
Inferenzen nötig: Durch das Durchdenken und Reagieren scheinen als in sozialwissenschaftlichen oder sprachlichen
auf Beiträge ihrer Lernpartnerin erhält die Schülerin weitere Fächern. Zudem zeigen sich in der Grundschule eher stärkere
Anstöße für eine vertiefte Elaboration der Lerninhalte. Dies Effekte des kooperativen Lernens als in der Sekundarstufe.
kann zu einer Verfeinerung bestehender und dem Aufbau Auch die Entwicklung positiver Einstellungen zur Schule
17 neuer Wissensstrukturen führen. kann nach Kyndt et al. (2013) durch kooperatives Lernen
Mit einigem Recht wird der kritische Leser einwenden, gefördert werden.
dass äußerliche Passivität nicht automatisch mit wenig an- Trotz dieser generell positiven Befundlage ist jedoch
spruchsvollen kognitiven Prozessen einhergeht. Selbstver- anzumerken, dass sich derartige Erfolge in der Regel nicht
ständlich können Lernende auch sehr tiefgehend über Dinge automatisch einstellen, sondern dass diese insbesondere
nachdenken, die ihnen etwa im Rahmen eines Lehrervortrags dann erreicht werden, wenn das kooperative Lernen von
präsentiert werden. Chi und Wylie (2014) weisen daher da- außen strukturiert wird. In einer Studie von Weinberger,
rauf hin, dass der Zusammenhang zwischen den sichtbaren Stegmann und Fischer (2012) zeigte sich zum Beispiel, dass
passiven, aktiven, konstruktiven und interaktiven Lernakti- der Wissenserwerb von in Gruppen lernenden Studierenden
vitäten auf der einen Seite und den genannten kognitiven nur dann höher als der Wissenserwerb von individuell
Prozessen auf der anderen Seite nicht als deterministisch lernenden Studierenden war, wenn deren Kooperation
aufzufassen ist. Stattdessen argumentieren sie auf der Basis von einem computerbasierten Lernprogramm strukturiert
empirischer Befunde, dass höherwertige kognitive Prozesse wurde.
zumindest wahrscheinlicher werden, je weiter die beobacht- Eine Strukturierung kooperativen Lernens kann dabei auf
baren Lernaktivitäten sich vom Pol der Passivität hin zur unterschiedliche Art und Weise erfolgen. Beispielsweise
Interaktivität bewegen.
17.3  Beispiele für lernförderliche Lernaktivitäten und -prozesse
337 17

werden im Gruppenpuzzle (Aronson, Blaney, Stephan, Ro- klar, dass die persönliche Leistung mit darüber entscheidet,
senfield & Snapps 1977) im Unterricht zunächst sogenannte ob die Gruppe im Anschluss die in Aussicht gestellte
Stammgruppen gebildet, die der Einführung der Lehrkraft Belohnung erhält (individuelle Verantwortlichkeit). Slavin
in ein neues Themengebiet gemeinsam folgen. Am Ende (1999) berichtet von insgesamt positiven Effekten der
der Einführung werden mehrere Teilthemen vorgestellt. Die Gruppenrallye im Vergleich zu traditionellem Unterricht
Schülerinnen und Schüler werden dann soweit möglich auf den Wissenserwerb sowie auch auf nicht-kognitive
auf Basis ihrer eigenen Präferenzen auf sogenannte „Ex- Lernergebnisse wie die Qualität der Beziehungen zwischen
pertengruppen“ verteilt, in denen sich jeweils vier bis fünf den Lernenden, deren Selbstbewusstsein etc.
Schülerinnen und Schüler vertieft mit je einem Teilaspekt Noch direkter als im Gruppenpuzzle und bei der Gruppenral-
beschäftigen. Im Anschluss kehren die Lernenden dann lye können hochwertige Kooperationsprozesse zudem über
wieder in ihre Stammgruppen zurück, sodass in diesen nun sog. Kooperationsskripts (Fischer, Kollar, Stegmann & We-
stets eine Expertin bzw. ein Experte für jedes Teilthema cker, 2013) initiiert werden. Diese machen den Lernenden
präsent ist. Während der dann ablaufenden Diskussionen innerhalb einer Kleingruppe genaue Vorgaben darüber,
ist jede(r) Lernende gefordert, einerseits das eigene Wissen welche Lernaktivitäten sie in den Kleingruppen in welcher
zu explizieren und auf Rückfragen möglichst kompetent Reihenfolge zeigen sollen und welche Rollen sie dabei
zu antworten und andererseits zu versuchen, von den einnehmen sollen. Beispielsweise kann einer Lernenden in
übrigen Gruppenmitgliedern möglichst viel über deren einer Kleingruppe zur Aufgabe gemacht werden, in einer
Expertisegebiet zu erfahren. Insofern werden konstruktive naturwissenschaftlichen Debatte eine bestimmte Position
und interaktive Aktivitäten wie im ICAP-Modell von Chi und zu vertreten (etwa, dass die Präimplantationsdiagnostik
Wylie (2014) beschrieben durch die gemischte Gruppen- verboten sein sollte). Dann kann ein Kooperationsskript sie
zusammensetzung quasi natürlich ausgelöst. Im Hinblick dazu auffordern, hierzu (evtl. auf Basis vorgegebener oder
auf die Effekte des Gruppenpuzzles auf den Wissenserwerb selbst gesammelter Ressourcen) eine Begründung abzuge-
berichten Wecker und Fischer (2014) von gegenüber dem ben. Eine Lernpartnerin kann dazu aufgefordert werden,
Frontalunterricht gemischten Ergebnissen, die dadurch sich das Argument ihrer Mitlernenden kritisch anzuhören
zustande kommen, dass der Wissenserwerb über die The- und im Anschluss ein Gegenargument zu formulieren und
men, für die Schülerinnen und Schüler jeweils Expert(inn)en auch dieses mit entsprechenden Evidenzen zu unterstützen.
waren, positiv beeinflusst wird, sich gleichzeitig aber oft Danach könnten beide Lernenden gemeinsam aufgefordert
keine oder manchmal gar negative Effekte hinsichtlich des werden, einen Kompromiss zu finden. Entsprechende Ko-
Erwerbs von Wissen zu den übrigen Teilthemen zeigen. operationsskripts haben sich gegenüber unstrukturiertem
Aus einer stärker motivational orientierten Perspektive kooperativen Lernen als sehr effektiv erwiesen, insbeson-
heraus basiert eine weitere Möglichkeit zur Strukturierung dere was den Erwerb von eher generelleren Fertigkeiten
von Kleingruppenkooperation auf dem In-Aussicht-Stellen (Kooperationsfertigkeiten, Kommunikationsfertigkeiten)
von Gruppenbelohnungen bei gleichzeitiger Berücksich- angeht, aber auch hinsichtlich des Erwerbs von Wissen über
tigung individueller Verantwortlichkeit. Beispielhaft ist die in den Gruppen diskutierten Inhalte (Vogel, Wecker,
dies im Gruppenrallye-Ansatz von Slavin (1999) gelöst: Kollar & Fischer 2017).
Hierbei folgen die Schülerinnen und Schüler zunächst einer
herkömmlichen Unterrichtseinheit. Danach absolvieren sie
einen individuellen Test, für den sie Punkte erhalten. Auf
Basis der Testergebnisse werden im Anschluss heterogene 17.3.1 Erklären
Gruppen gebildet, die sowohl schwächere als auch stärkere
Lernende beinhalten. Diese sollen sich in der Folge auf Basis Bezüglich des Erklärens haben empirische Studien gezeigt,
von durch die Lehrkraft bereitgestellten Lernmaterialien dass Lernende, die sich neue Inhalte selbst oder anderen
nochmals mit den Lerninhalten beschäftigen. Dabei wird erklären, mehr Wissen erwerben als Lernende, die den Erklä-
angekündigt, dass am Ende dieser Phase wiederum ein indi- rungen anderer nur zuhören (z. B. King 2007). Entsprechende
vidueller Test steht und dass Gruppen, bei denen im Schnitt Befunde wurden beispielsweise in der Forschung zu Lösungs-
über die einzelnen Gruppenmitglieder ein bestimmter beispielen erbracht (Renkl & Atkinson 2003). Dort wurde
Lernzuwachs (gemessen in der Differenz aus Punktwerten gezeigt, dass Lernende mehr Wissen erwerben, wenn sie zu
im Nachtest minus Punktwerten im Vortest) festgestellt Beginn der Auseinandersetzung mit einem neuen Lerninhalt
wird, eine Belohnung erhalten (z. B. Bonuspunkte für die mehrere ausgearbeitete Lösungsbeispiele studieren als wenn
Benotung). Für den Erhalt der Belohnung ist es aus Sicht sie bereits relativ früh beginnen, selbständig entsprechende
des einzelnen Lernenden also nicht nur wichtig, selbst eine Probleme zu lösen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn
gute Leistung im Nachtest zu erbringen, sondern auch seine sie nur über wenig Vorwissen verfügen. Die Vorteile des Stu-
Mitlernenden in deren Wissenskonstruktionsprozess zu diums ausgearbeiteter Lösungsbeispiele kommen zudem vor
unterstützen. Gleichzeitig ist jeder bzw. jedem Lernenden allem dann zum Tragen, wenn sie die Lernenden dazu auf-
fordern, sich die einzelnen Lösungsschritte selbst zu erklären
338 Kapitel 17  Lehren und Unterrichten

(Chi, Bassok, Lewis, Reimann & Glaser 1989; Renkl, Stark, der Zusammenhang zwischen Argumentieren und Lerner-
Gruber & Mandl, 1998). Laut weiteren Ergebnissen (Gerjets, folg bisweilen weniger deutlich ist als häufig angenommen
Scheiter & Catrambone 2006) ist jedoch darauf zu achten, (Wecker & Fischer, 2014). Auch stellt der Transfer einmal er-
dass Aufforderungen zu Selbsterklärungen so gestaltet sind, worbener Argumentationsfertigkeiten auf neue Kontexte eine
dass sie keine reine Wiederholung von bereits bekannten Lö- oft nicht leicht zu nehmende Hürde dar (Iordanou 2010).
sungsprinzipien auslösen, sondern die Lernenden im Sinne Entsprechende Befunde weisen auf die Wichtigkeit von Un-
des ICAP-Modells vor allem auch zu konstruktiven Aktivi- terstützungsmaßnahmen („Scaffolds“) hin, durch die Schü-
täten auffordern. Auch in kooperativen Lernsituationen hat lerinnen und Schüler beim Argumentieren gefördert werden
sich gezeigt, dass das Produzieren von Erklärungen positiv können (z. B. Christodoulou & Osborne 2014).
mit dem Wissenserwerb zusammenhängt (Webb, 1989).

17.3.4 Peer-Feedback
17.3.2 Fragenstellen
Dass Schülerinnen und Schüler einander Rückmeldung
Eine weitere effektive, konstruktiv-interaktive Lernaktivität geben, wird als eine weitere wirkungsvolle konstruktiv-
liegt vor, wenn sich Schülerinnen und Schüler wechselsei- interaktive Lernaktivität angesehen. In der Literatur wird dies
tig Fragen zu den Lerninhalten stellen. Dies ist allerdings als Peer-Feedback bezeichnet (Strijbos & Sluijsmans 2010).
nur dann der Fall, wenn sie in der Lage sind, einander an- Die Auswirkungen von Peer-Feedback sind insbesondere
spruchsvolle Fragen zu stellen, die eine tiefe Elaboration über dann günstig, wenn sich die Rückmeldung auf den Lern-
das Lernmaterial auslösen. Häufig sind die von Schülerinnen prozess und weniger auf das Lernergebnis des Lernpartners
und Schülern generierten Fragen jedoch eher von geringe- bezieht (Hattie & Timperley 2007). Allerdings sind Schüle-
rer Qualität und fokussieren z. B. auf die Reproduktion von rinnen und Schüler häufig nur eingeschränkt dazu in der
Faktenwissen (Cameron, Van Meter & Long 2017). In einem Lage, hochwertiges, prozessbezogenes Feedback zu geben
umfangreichen Forschungsprogramm konnte King (2007) je- (Hovardas, Tsivitanidou & Zacharia, 2014) und bei Erhalt
doch zeigen, dass Schülerinnen und Schüler, die darin trai- eines solchen Feedbacks die darin liegenden Potenziale aus-
niert werden, Mitlernenden zum Denken anregende Fragen zuschöpfen (Patchan, Schunn & Correnti 2016). Insgesamt
zu stellen, ein tieferes Verständnis in Bezug auf die Lern- weisen diese Befunde darauf hin, dass der Prozess des Feed-
materialien entwickeln, als Lernende, die beim Fragenstellen backgebens von Seiten der Lehrkraft gut angeleitet sein muss
nicht angeleitet werden. Um die Lernenden im Fragenstel- und das Peer-Feedback auf zuvor festgelegten, prozessbezo-
len zu unterstützen, stellte King den Lernenden Fragestämme genen Kriterien basieren sollte, um lernwirksam zu sein (z. B.
zur Verfügung, die ihnen bei der Formulierung entsprechen- Van Steendam, Rijlaarsdam, Sercu & Van den Bergh 2010).
der Fragen halfen. Beispiele waren „Was ist der Unterschied
zwischen . . . und . . . ?“ oder „Was sind Folgerungen aus . . . ?“
Auch birgt das Stellen entsprechender Fragen für die Emp- 17.4 Die Lehrerebene: Zur Unterscheidung
fängerin ein großes Lernpotenzial, da die Beantwortung der zwischen Unterrichtsmethoden und
Fragen erfordert, neue Lösungen und alternative Sichtweisen Lehrtechniken
auf die Lerninhalte zu entwickeln oder das erworbene Wissen
auf neue Probleme anzuwenden.
Das in . Abb. 17.1 dargestellte Rahmenmodell nimmt an,
17 dass die beschriebenen schülerseitigen Lernaktivitäten und
-prozesse einerseits von schülerseitigen Eingangsvorausset-
17.3.3 Argumentieren zungen, andererseits aber auch von lehrerseitigem unterricht-
lichem Handeln beeinflusst werden können. Zur Beschrei-
Dem Argumentieren wird in der Literatur ein großes lern- bung dieses „Lehrerhandelns“ soll im Rahmen dieses Kapitels
förderliches Potenzial zugeschrieben (z. B. Andriessen, Baker eine Unterscheidung zwischen den Begriffen „Unterrichts-
& Suthers, 2003; Kuhn & Crowell, 2011). Insbesondere dann, methoden“ einerseits und „Lehrtechniken“ andererseits ge-
wenn Lernende beim Argumentieren ihre Behauptungen be- troffen werden. Unter „Unterrichtsmethoden“ werden dabei
gründen müssen und auf Argumente Anderer mit Gegen- instruktionale Ansätze verstanden, auf deren Grundlage um-
argumenten reagieren (Asterhan & Schwarz, 2009), ist ein fassendere Unterrichtsabläufe geplant und durchgeführt wer-
großer Wissenszuwachs möglich (z. B. Stegmann, Wecker, den können. Häufig wird dabei zwischen „lehrer-“ und „schü-
Weinberger & Fischer, 2012). Ein auf raschen Konsens ausge- lerzentrierten“ Methoden (oder „direkten“ vs. „konstruktivis-
richtetes Argumentieren scheint für den Lernerfolg dagegen tischen Instruktionsansätzen“; z. B. Renkl, 2008) unterschie-
weniger günstig zu sein (Asterhan & Schwarz 2009; Vogel den. Zu den stärker lehrerzentrierten Ansätzen, in denen das
et al. 2016). Studien zeigen jedoch, dass Schülerinnen und Lernen der Schülerinnen und Schüler eher fremd- (d. h. von
Schüler spontan nur sehr eingeschränkt dazu in der Lage sind, der Lehrkraft) gesteuert wird, zählen etwa die direkte Instruk-
auf hohem Niveau zu argumentieren (z. B. Kollar, Fischer tion (Slavin 2015) oder der Four-Components/Instructional-
& Slotta, 2007). Dies kann möglicherweise erklären, warum Design-Ansatz (van Merriënboer & Kirschner 2017). Zu den
17.5  Unterrichtmethoden: Von der direkten Instruktion bis zum Knowledge Building
339 17
stärker schülerzentrierten Ansätzen, in denen Schülerinnen über den Stundenablauf. Beides erleichtert es Schülerin-
und Schüler eher größere Spielräume zur Steuerung ihres nen und Schülern, ihre Aufmerksamkeit im weiteren Ver-
eigenen Lernprozesses erhalten, zählen unter anderem der lauf der Unterrichtseinheit auf lernrelevante Inhalte zu
Cognitive-Apprenticeship-Ansatz (Collins, Brown & Newman, lenken (7 Kap. 2).
1989), das forschende Lernen (Lazonder & Harmsen 2016), 2. Danach versucht die Lehrkraft, die kognitiven Lernvor-
das problemorientierte Lernen (Dochy, Segers, van den Bos- aussetzungen zu schaffen, die für den Erwerb neuen Wis-
sche & Gijbels 2003) sowie der Knowledge-Building-Ansatz sens notwendig sind. Dies bedeutet, dasjenige Vorwissen
(Scardamalia & Bereiter 2014). Mit dem Begriff „Lehrtechni- bei den Schülerinnen und Schülern zu aktivieren, das es
ken“ werden dagegen konkrete Handlungen bezeichnet, die wahrscheinlicher macht, dass neue Informationen effektiv
die Lehrperson mit dem Ziel anwendet, die Auseinanderset- verarbeitet und in das Vorwissen integriert werden (Chi &
zung der Schülerinnen und Schüler mit dem Lerngegenstand Wylie, 2014).
zu steuern und zu unterstützen (s. a. Aebli 1976). Hierzu 3. Danach präsentiert die Lehrkraft die neu zu lernenden
zählen Techniken zur Überwachung von Lernprozessen ge- Inhalte, wobei insbesondere eine klare, strukturierte und
nauso wie Techniken zum Herstellen von Lernbereitschaft, effiziente Stoffdarbietung den Wissenserwerb erleichtert.
zum Präsentieren und Demonstrieren, zur Unterstützung Hierbei soll insbesondere eine Überlastung des kapazi-
von Schülerarbeitsphasen (Scaffolding) oder zum Feedback tätsbeschränkten Arbeitsgedächtnisses der Schülerinnen
geben. Im Folgenden werden die genannten Unterrichtsme- und Schüler vermieden werden (Sweller, 2005), was durch
thoden und Lehrtechniken näher beschrieben. geeignete Präsentations- und Demonstrationstechniken
(s. u.) erreicht werden kann.
4. Während der Stoffpräsentation sollte die Lehrkraft zudem
17.5 Unterrichtmethoden: Von der direkten immer wieder kurze Verständnisüberprüfungen einstreu-
Instruktion bis zum Knowledge Building en. Dies können etwa kurze Fragen sein, die von den
Schülerinnen und Schülern alleine oder gemeinsam be-
antwortet werden. Auf diese Weise erhalten zum einen die
Die instruktionspsychologische Forschung hat in den vergan-
Schülerinnen und Schüler Informationen zu eventuellen
genen Jahrzehnten eine Vielzahl von Unterrichtsmethoden
Wissenslücken, die es zu schließen gilt. Zum anderen lie-
hervorgebracht und auf ihre Effekte hin untersucht. Im Rah-
fern die jeweiligen Antworten der Lehrperson wertvolle
men dieses Kapitels soll eine gewisse Bandbreite von stark
diagnostische Informationen, die dazu geeignet sind, das
lehrergesteuerten bzw. „direkten“ Instruktionsansätzen auf
Lehrtempo ggf. anzupassen oder spezifische Lerninhalte
der einen Seite bis hin zu deutlich schülerzentrierten Ansät-
noch einmal auf andere Art und Weise zu präsentieren.
zen auf der anderen Seite vorgestellt werden (. Tab. 17.1).
5. In der Phase des selbständigen Übens erhalten die Ler-
nenden dann Gelegenheit, zuvor präsentierte Inhalte selb-
ständig auf neue Inhalte anzuwenden. Zumindest in frü-
17.5.1 Direkte Instruktion hen Übungsphasen hat sich dabei das Studium ausgear-
beiteter Lösungsbeispiele als effektiv erwiesen (z. B. Renkl
Bei der direkten Instruktion steht die Lehrperson im Zen- & Atkinson, 2003). Erst wenn die Schülerinnen und Schü-
trum des Geschehens: Sie bestimmt in hohem Maße, was ler deklaratives Wissen über die jeweilige Lösungsstrate-
gelernt wird, in welche Phasen sich der Unterricht gliedert gie aufgebaut haben, sollten sie nach und nach selbständig
und welche Aktivitäten die Schülerinnen und Schüler da- neue Aufgaben bearbeiten (van Merriënboer, 2013).
bei zeigen sollen. Durch die strukturierte Darstellung und 6. Auch das verzögerte Üben und Wiederholen (etwa in
Bearbeitung der Lerninhalte, so das Argument, können Schü- Form von Hausaufgaben) dient der weiteren Elaboration
lerinnen und Schüler in vergleichsweise kurzer Zeit viel neues der Lerninhalte sowie der Automatisierung der angeziel-
Wissen erwerben. Aber wie sieht eine gelungene Umsetzung ten Fertigkeiten, wodurch das Speichern und Abrufen des
direkter Instruktion aus? Slavin (2015) schlägt hierzu einen Gelernten weiter gefördert wird.
sieben Schritte umfassenden Unterrichtsablauf vor: 7. Das Bewerten der Schülerleistungen sowie die darauf
1. Zuerst benennt die Lehrkraft die Lernziele, die in der Un- aufbauende Rückmeldung sollen sicherstellen, dass die
terrichtsstunde verfolgt werden und gibt einen Überblick Schülerinnen und Schüler über ihren Leistungsstand und
über die Qualität ihres Lernprozesses informiert sind, und
kann neue Lernprozesse auslösen.
. Tabelle 17.1 Überblick über die behandelten Unterrichtsme-
thoden Renkl (2008) weist darauf hin, dass direkte Instruktionsme-
thoden an Schulen im deutschsprachigen Raum dominieren
Eher lehrerzentrierte Ansätze Eher schülerzentrierte Ansätze – wenn auch häufig „in schlechter Ausführung“ (S. 122).
Direkte Instruktion Cognitive Apprenticeship Wird die direkte Instruktion aber ähnlich strukturiert wie
Four-Components/Instructional Forschendes Lernen von Slavin beschrieben durchgeführt, hat sie sich als eine
Design Problemorientiertes Lernen effektive Lehrmethode zur Förderung des Lernerfolgs erwie-
Knowledge Building
sen. Hattie (2009) gibt ihre durchschnittliche Effektstärke im
340 Kapitel 17  Lehren und Unterrichten

Vergleich zu anderen Formen traditionellen Unterrichtens Aufgabenklasse wird die zu ihrer Bewältigung angebote-
mit d D :59 an, was einem mittelstarken Effekt gleich- ne instruktionale Unterstützung dabei zunehmend redu-
kommt. Andere Metaanalysen zeigen positive Effekte der ziert: Während zur ersten Aufgabe etwa ein vollständig
direkten Instruktion insbesondere bei schwächeren Schüle- ausgearbeitetes Lösungsbeispiel präsentiert wird, erhalten
rinnen und Schülern, etwa wenn sie bei Schülerinnen und die Schülerinnen und Schüler bei der zweiten Aufgabe et-
Schülern mit Lernstörungen eingesetzt wird (Chodura, Kuhn wa ein teilweise ausgearbeitetes Lösungsbeispiel, bei dem
& Holling 2015; Swanson & Hoskyn 1998). Aus kogniti- sie einzelne Schritte selbst durchführen müssen. Zum Ab-
onspsychologischer Sicht lässt sich dies u. a. damit erklären, schluss einer Aufgabenklasse wird den Schülerinnen und
dass es sich bei Schülerinnen und Schüler (und insbesonde- Schülern dann ein analoges, offenes Problem präsentiert,
re auch bei schwächeren Schülerinnen und Schülern) zum welches Sie selbständig lösen sollen. Für komplexere Auf-
Zeitpunkt der Einführung eines neuen Themengebiets in aller gaben wird dann eine neue Aufgabenklasse gebildet.
Regel um Novizen mit wenig Vorwissen handelt. Eine en- 2. Unterstützende Informationen: Diese versorgen die Ler-
ge Anleitung des Lernprozesses durch die Lehrkraft erhöht nenden mit Informationen darüber, wie die zu lernende
dementsprechend deutlich die Wahrscheinlichkeit der geziel- Fertigkeit aufgebaut ist, in welchen Situationen sie benö-
ten Verarbeitung von Lerninhalten. Je mehr das Vorwissen tigt wird und welche Probleme bei ihrer Umsetzung auf-
steigt, desto eher büßen jedoch direkte Instruktionsansätze treten können. Diese Informationen werden bereits vor
an Effektivität ein, sodass eher offenere Formen der direk- der Beschäftigung mit den Aufgaben einer neuen Aufga-
ten Instruktion den Wissenserwerb besser fördern. Dies ist benklasse gegeben und sollten während der Bearbeitung
in der Forschung als „expertise-reversal effect“ (Kalyuga 2007) der Aufgaben weiterhin verfügbar sein (etwa auf einem
bekannt (7 Definition) – mit zunehmender Expertise der Ler- Arbeitsblatt).
nenden kann sich die Wirkung des Instruktionsansatzes ins 3. Prozedurale Informationen: Hiermit sind Informationen
Gegenteil verkehren. gemeint, die den Lernenden Hilfestellungen bei der Aus-
führung konkreter Teilfertigkeiten bieten. Diese Infor-
mationen sollen den Lernenden genau dann präsentiert
Ein Expertise-Reversal-Effekt liegt vor, wenn Instruktions-
werden, wenn sie bei der Ausführung der betreffenden
ansätze oder -maßnahmen, die bei Novizen zu positiven
Teilfertigkeiten Schwierigkeiten haben. Hat eine Schüle-
Effekten auf den Wissenserwerb führen, mit steigender
rin beispielsweise beim Lösen von mathematischen Glei-
Expertise an Effektivität verlieren und sich im Extrem-
chungen Probleme damit, alle Variablen auf eine Seite
fall sogar hinderlich auf den Wissenserwerb auswirken.
der Gleichung zu übertragen, sollte sie in genau diesem
Letzteres kann dadurch erklärt werden, dass Lernende
Moment nochmals eine Erklärung dazu erhalten, wie bei
mit höherem Vorwissen durch die Vorgabe detaillierter
diesem Teilschritt vorzugehen ist. Diese Erklärung könnte
Instruktionen dazu gezwungen werden, bereits Gewuss-
beispielsweise mündlich von einer Lehrkraft oder einem
tes noch einmal zu verarbeiten (Redundanz). Hierdurch
Mitschüler kommen.
werden Arbeitsgedächtnisressourcen gebunden, die dann
4. Gelegenheiten zur Übung von Teilschritten: Diese bie-
nicht für die weitere Verfeinerung bereits entwickelter
ten den Lernenden die Möglichkeit, Routinefertigkeiten
oder den Aufbau neuer Schemata im Langzeitgedächtnis
losgelöst vom komplexen Gesamtkontext der Aufgabe
genutzt werden können.
einzuüben. Etwa könnte die Schülerin in obigem Beispiel
wiederholt vor die Aufgabe gestellt werden, Variablen von
einer Seite der Gleichung auf die andere Seite zu trans-
17 ferieren. Dieses isolierte Üben ist allerdings nur dann
17.5.2 Der Four-Components/Instructional
notwendig, wenn nachhaltige Probleme bei der Ausfüh-
Design-Ansatz rung des betreffenden Teilschritts bestehen und wenn die
Lernaufgaben zu wenige Gelegenheiten dafür bieten, die-
Eine weitere, eher lehrerzentrierte Unterrichtsmethode stellt se Teilfertigkeit zu automatisieren.
der Four-Components/Instructional Design-Ansatz (4C-ID-
Ansatz) von van Merriënboer und Kirschner (2017) dar. Der Empirisch überprüft wurde der 4C/ID-Ansatz bisher eher im
4C/ID-Ansatz zielt darauf ab, Lernende beim Aufbau von Hochschul- und Weiterbildungskontext, so z. B. in der Medi-
komplexen Fertigkeiten zu unterstützen. Zur Gestaltung ent- zin (z. B. Maggio, ten Cate, Irby & O’Brien 2015), aber auch in
sprechender Unterrichtsphasen sieht das Modell vier Kom- der Lehrerbildung (z. B. Hoogveld, Paas, Jochems & van Mer-
ponenten vor: riënboer 2001). Der 4C/ID-Ansatz erwies sich dabei gegen-
1. Lernaufgaben: Lernaufgaben versetzen die Schülerinnen über anderen Instruktionsansätzen in der Regel als überlegen.
und Schüler in Situationen, in denen sie ein authenti- Für den Schulkontext konnten Sarfo und Elen (2007) zeigen,
sches Problem bearbeiten müssen. Diese Aufgaben sollten dass eine auf dem 4C/ID-Ansatz beruhende, sechs Unter-
reichhaltig und komplex sein. Dabei werden Aufgaben, richtsstunden umfassende Unterrichtseinheit für den techni-
zu deren Bearbeitung die gleichen Wissensinhalte nötig schen Unterricht günstigere Effekte auf den Wissenserwerb
sind, zu sogenannten „Aufgabenklassen“ zusammenge- der Schülerinnen und Schüler hatte als eine herkömmliche
fasst. Im Verlauf der Aufgabensequenz innerhalb einer Unterrichtseinheit zum gleichen Thema. Begründet werden
17.5  Unterrichtmethoden: Von der direkten Instruktion bis zum Knowledge Building
341 17
diese Effekte u. a. dadurch, dass durch die Abfolge von immer der Lernenden ausgeblendet werden (Fading), bis die Ler-
komplexer werdenden Lernaufgaben sowie die dabei jeweils nenden schließlich Probleme auch ohne Hilfestellungen
graduell abnehmende instruktionale Unterstützung und die erfolgreich bewältigen können.
Bereitstellung von zusätzlichen Informationen der Kapazi- 4. Artikulation: Artikulation bedeutet im Kontext von Cog-
tätsbeschränkung des Arbeitsgedächtnisses stark Rechnung nitive Apprenticeship, dass sowohl die Lehrperson als auch
getragen wird. Auf diese Weise wird die Wahrscheinlichkeit die Schülerinnen und Schüler dazu angehalten sind, ihre
erhöht, dass sich Lernende insbesondere in solchen kogni- eigenen Denkprozesse bei der Bearbeitung von Aufgaben
tiven Prozessen engagieren, die für den Schemaerwerb von zu versprachlichen. In Bezug auf die Lehrperson ist dies
zentraler Bedeutung sind (Kirschner, Sweller & Clark 2006). insbesondere während des Modellierens wichtig; für die
Schülerinnen und Schüler gilt dies insbesondere dann,
wenn sie selbst Aufgaben bearbeiten. Eine Artikulation
der Denkprozesse kann zum einen Mitschülerinnen und
17.5.3 Cognitive Apprenticeship Mitschüler in deren Lernprozess unterstützen, liefert zum
anderen aber auch wertvolle Informationen für die Lehr-
Ein Ansatz, der stärker als die beiden bisher beschriebenen person, um bei Schwierigkeiten im Problemlöseprozess
Ansätze von den Schülerinnen und Schülern selbst gesteuerte eingreifen zu können.
Lernprozesse zulässt, ist der Cognitive Apprenticeship-Ansatz 5. Reflexion: Zudem soll den Schülerinnen und Schülern
(Collins, Brown & Newman 1989). Seine Grundidee ist, dass im Rahmen des Cognitive-Apprenticeship-Ansatzes ausrei-
die Schülerinnen und Schüler während des Lernprozesses chend Gelegenheit gegeben werden, ihren eigenen Pro-
eine ähnliche Position bekleiden wie Lehrlinge in der tradi- blemlöseprozess mit dem ihrer Mitlernenden oder ande-
tionellen Handwerkslehre. Dies bedeutet, dass sie sich mit rer Personen (z. B. Experten) zu vergleichen und so ein
authentischen Problemstellungen befassen, die eine steigende mentales Modell eines erfolgreichen Problemlöseprozes-
Komplexität und Diversität aufweisen und in ihrem Pro- ses zu konstruieren.
blemlöseprozess von der Lehrkraft angeleitet werden. Hier- 6. Exploration: Exploration meint im Kontext des Cognitive-
durch sollen sie einerseits Domänenwissen, andererseits aber Apprenticeship-Ansatzes, dass die Schülerinnen und Schü-
auch heuristische Strategien, metakognitive Strategien und ler Gelegenheiten dazu bekommen sollten, ihr zuvor er-
Lernstrategien erwerben. Kern des Cognitive-Apprenticeship- worbenes Wissen auf neue Probleme anzuwenden. Dies
Ansatzes ist die instruktionale Unterstützung der Schülerin- soll allerdings erst dann geschehen, wenn sie sicher genug
nen und Schüler durch sechs Methoden: im Einsatz der angezielten Problemlösestrategien sind
1. Modellierung von Problemlöseprozessen: Ein zentrales und über genügend Domänenwissen verfügen, um neue
Prinzip des Cognitive-Apprenticeship-Ansatzes ist es, den Probleme selbständig zu lösen.
Schülerinnen und Schülern einen Einblick in die Pro-
blemlöseprozesse von Experten zu geben. Um dies zu Empirische Studien zur Überprüfung der Effektivität des
erreichen, ist es daher wichtig, dass diese durch die Lehr- Cognitive-Apprenticeship-Ansatzes testen zumeist Effekte auf
person modelliert werden (z. B. Goeze, Zottmann, Vogel, anwendungsbezogenes Wissen und domänenübergreifende
Fischer & Schrader, 2014). Beispielsweise könnte im Rah- Fertigkeiten. Für Reciprocal Teaching („Gegenseitiges Leh-
men des Mathematikunterrichts die Lehrkraft an der Tafel ren“, Palincsar & Brown 1984), einen Ansatz zur För-
demonstrieren, wie ein bestimmtes Algebraproblem ge- derung von Lesekompetenzen, der Ideen des Cognitive-
löst werden kann. Alternativ könnte auch ein Video ein- Apprenticeship-Ansatzes im Vergleich zu herkömmlichen Le-
gesetzt werden, das einen Experten bei der Lösung einer setrainings umsetzt, berichten etwa Rosenshine und Meister
entsprechenden Aufgabe zeigt. (1994) Effektstärken von d D :88 bei nicht-standardisierten
2. Coaching: Im weiteren Verlauf des Unterrichts sollen die und von d D :32 bei standardisierten Lesetests. Zahlrei-
Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit erhalten, sich che weitere Studien belegen die Effekte der einzelnen im
selbständig an der Lösung analoger Probleme zu versu- Cognitive-Apprenticeship-Ansatz vorgesehenen Maßnahmen.
chen. Sollten einzelne Lernende oder Lerngruppen dabei So hat sich beispielsweise eine umfassende Forschung zu den
Schwierigkeiten haben, soll die Lehrperson den Schü- Effekten von Scaffoldingmaßnahmen herausgebildet, die auf
lerinnen und Schülern beratend bzw. helfend zur Seite sehr robuste Effekte von Hilfestellungen durch Lehrkräfte im
stehen. Lernprozess hinweist (für eine Zusammenfassung s. Belland,
3. Scaffolding und Fading: Hiermit ist die Nutzung von ge- Walker & Kim 2017).
stuften Hilfestellungen gemeint, die die Lehrkraft übli-
cherweise bereits vor dem Unterricht entwickelt hat. Ein
Beispiel wäre ein Arbeitsblatt, das die zentralen Problem-
löseschritte für ein analoges Algebraproblem nochmals 17.5.4 Forschendes Lernen
erklärt und die Schülerinnen und Schüler ggf. dazu auf-
fordert, sich die Nützlichkeit bzw. Notwendigkeit dieser Ein weiterer Vertreter stärker schülerzentrierter Unterrichts-
Schritte selbst zu erklären. Allerdings sollten entsprechen- methoden ist das forschende Lernen (de Jong & van Joolin-
de Unterstützungsmaßnahmen mit steigender Expertise gen, 1998). Als Ausgangspunkt für das Lernen dient dabei ein
342 Kapitel 17  Lehren und Unterrichten

wissenschaftliches Problem, das die Schülerinnen und Schü-


ler lösen bzw. für das sie eine Erklärung erarbeiten sollen. So bei denen die Lehrkraft durch Vortrag oder Unterrichts-
könnte etwa im Physikunterricht die Aufgabe gestellt werden, gespräch Wissen an passiv aufnehmende oder nur auf
eine Erklärung für die Mondphasen, d. h. den zu- und abneh- Fragen reagierende Schülerinnen und Schüler weitergibt.
menden Mond, zu entwickeln. Die Präsentation eines solchen In den neuen Modellen (wie dem forschenden oder
Problems macht dann ein schülerseitiges Engagement in For- dem problemorientierten Lernen) argumentieren sie
schungsaktivitäten notwendig. Dazu kann gehören, dass die für ein von sozialkonstruktivistischen Ideen geprägtes
Schülerinnen und Schüler (1) Forschungsfragen entwickeln Bild des lernenden Menschen, der sich in Interaktion
und (2) Hypothesen aufstellen, (3) Daten sammeln und (4) mit den Gegenständen, Werkzeugen und Personen
interpretieren, auf Basis dieser Daten (5) Schlussfolgerungen seiner Umgebung selbst ein eigenes Weltverständnis
ziehen und (6) ihre Erkenntnisse im Klassenkontext berich- konstruiert.
ten (Fischer et al., 2014). Da nicht davon ausgegangen werden Im Jahre 2006 bliesen Paul Kirschner, John Sweller und
kann, dass sich Schülerinnen und Schüler in diesen Aktivi- Richard Clark mit einem Artikel im Educational Psychologist
täten ohne weiteres auf hohem Niveau engagieren können, jedoch zum Generalangriff auf die konstruktivistischen
ist es nötig, dass die Lehrkraft die Durchführung anleitet. Modelle des Lehrens und Lernens. Sie argumentierten,
Dies kann etwa durch die Modellierung entsprechender Stra- dass es weder einen theoretisch haltbaren Grund noch
tegien, durch elaboriertes Feedback oder den Einsatz von empirische Evidenz für die Wirksamkeit von Lernumgebun-
vorstrukturierten Materialien geschehen, die beispielsweise gen gebe, die strikt nach konstruktivistischen Prinzipien
die Formulierung von Hypothesen erleichtern (de Jong & van gestaltet seien. Ihre Erklärung und ihr zugleich wichtigstes
Joolingen 1998). Eine weitere, häufig realisierte Möglichkeit theoretisches Gegenargument lautete, dass komplexes
ist, die Schülerinnen und Schüler in Kleingruppen arbeiten Problemlösen mit der Notwendigkeit, Teilaufgaben und
zu lassen und die Kleingruppenarbeit instruktional anzulei- Teilziele zu definieren und ggf. mit anderen zu koope-
ten (z. B. Kolodner 2007). Auch sind in allen Phasen des rieren, inkompatibel mit der kognitiven Architektur der
forschenden Lernens Elemente direkter Instruktion denkbar, Lernenden sei. Damit meinten sie insbesondere, dass
etwa wenn den Schülerinnen und Schülern Vorwissen fehlt, das Arbeitsgedächtnis der „konstruktivistisch“ Lernen-
das zur Aufgabenbearbeitung nötig ist (Hmelo-Silver, Dun- den mit der Vielzahl von Aufgaben und Informationen
can & Chinn 2007). Des Weiteren bieten computerbasierte überfordert würde. Dies träfe umso mehr auf Lernende
Lernprogramme wie die Web-based Inquiry Science Envi- mit geringem Vorwissen zu, weil ihnen Wissensstruktu-
ronment (7 https://wise.berkeley.edu/; Slotta & Linn 2009) ren im Langzeitgedächtnis (7 Kap. 2) fehlten, die helfen
oder Go-Lab (7 http://www.golabz.eu/; de Jong, Sotiriou & könnten, eintreffende Informationen zu organisieren und
Gillet 2014) vielfältige Möglichkeiten, forschendes Lernen zu verstehen. Statt also Lernende mit wenig Vorwissen
im Unterricht umzusetzen und zu strukturieren. Insgesamt mit offenen und komplexen Probleme zu konfrontieren,
wird deutlich, dass beim forschenden Lernen eine komplet- sollten Schülerinnen und Schüler vielmehr Anleitung und
te Selbststeuerung des Lernprozesses durch die Lernenden Unterstützung erhalten, d. h. weniger selbst- als vielmehr
meist nicht sinnvoll ist, auch wenn Kritikerinnen und Kriti- stark fremdgesteuert lernen.
ker dies häufig anzunehmen scheinen (7 Mythos). Vielmehr Von Vertreterinnen und Vertretern konstruktivistischer
kann und soll sich die Lehrkraft an verschiedenen Punkten Modelle erfolgte auf diese Position eine Reihe von Ant-
in den Lernprozess einschalten und für die Lernenden vor al- worten (Hmelo-Silver, Duncan & Chinn, 2007; Kuhn 2007;
lem als Coach und Begleiter, in Einzelfällen aber durchaus als Schmidt, Loyens, van Gog & Paas 2007). Im Tenor argu-
17 Vermittler von neuen Informationen fungieren. mentierten die meisten Beiträge in eine ähnliche Richtung.
Sie zeigten auf, dass gut gestaltete konstruktivistische
Lernumgebungen zahlreiche Unterstützungsangebote
bereitstellen, mit denen die Lernenden die komplexen
Mythos: Konstruktivistische Lernumgebungen igno-
Problemstellungen sehr wohl bearbeiten können, ohne
rieren die Art, wie Menschen Informationen verar-
dass eine Überlastung des Arbeitsgedächtnisses auftritt.
beiten
Dadurch ließen sich sinnvolle Problemstellungen statt der
In den 1980er- und 1990er-Jahren wurde die Lehr-Lern-
sonst üblichen „Spielzeugprobleme“ in den Schulunterricht
forschung von einer wissenschaftlichen Reformbewegung
integrieren (z. B. Hmelo-Silver, et al. 2007).
erfasst, die noch heute deutliche Auswirkungen auf
Mittlerweile liegen metaanalytische Arbeiten vor,
Forschung und Praxis hat. Viele hochrangige pädago-
die Belege für die Effektivität konstruktivistischer Lehr-/
gische und psychologische Wissenschaftlerinnen und
Lernumgebungen wie problembasiertes Lernen (Dochy,
Wissenschaftler zweifelten mehr und mehr daran, dass
Segers, van den Bossche & Gijbels 2003) oder forschendes
das traditionelle schulische Lernen zu einem Wissen führt,
Lernen (z. B. Lazonder & Harmsen 2016) liefern – insbe-
das die Schülerinnen und Schülern später anwenden
sondere dann, wenn sie den Lernprozess der Lernenden
können. Sie entwickelten neue Modelle des Lernens und
anleiten. Die darin aufgezeigten mittleren Effektstärken
Lehrens, und grenzten diese von Unterrichtsformen ab,
17.5  Unterrichtmethoden: Von der direkten Instruktion bis zum Knowledge Building
343 17
entwicklung des Ansatzes im pädagogisch-psychologischen
stehen in direktem Widerspruch zur These der mangelnden Bereich leitend waren Annahmen zum „situierten Lernen“
Evidenz für konstruktivistische Lehransätze (Kirschner et al., (Lave & Wenger, 1991), demzufolge Wissen, das in authen-
2006). tischen Kontexten erworben wird, leichter auf neue Anwen-
Die Kontroverse hat der Psychologie geholfen zu dungskontexte übertragen werden kann als Wissen, das zum
klären, was konstruktivistische Modelle des Lehrens Beispiel über Vorlesungen oder über das Studium wissen-
und Lernens sind und was sie von traditionellen Unter- schaftlicher Texte erworben wurde. Durch die Umsetzung
richtsmodellen unterscheidet. Für viele Forscherinnen kooperativen Lernens erfahren die Lernenden, dass kom-
und Forscher sowie Praktikerinnen und Praktiker ste- plexe Probleme aus unterschiedlichen Perspektiven heraus
hen die konstruktivistischen Ansätze zur Gestaltung angegangen werden können.
von Lernumgebungen für eine grundsätzliche Kritik am Gemäß dem Modell von Hmelo-Silver (2004) wird den
Frontalunterricht. Auf Basis der genannten Befunde wird Lernenden beim problemorientierten Lernen zunächst ein
eine unversöhnliche Gegenüberstellung von „direkten“ authentisches und möglichst reichhaltiges Problem präsen-
Instruktionsansätzen als Lehr-/Lernformen, die komplett tiert. Dieses soll danach in Kleingruppen näher analysiert
auf ein fremdgesteuertes (insb. lehrergeleitetes) Lernen werden. Die Kleingruppen diskutieren, welche Informatio-
setzen und „konstruktivistischen“ Instruktionsansätzen, nen sie zur Lösung des Problems benötigen. Dabei differen-
die ein komplett selbstgesteuertes Lernen realisieren, zieren sie Teilaspekte, zu denen dann jeweils die einzelnen
der Realität nicht gerecht. Letztlich weisen empirische Gruppenmitglieder relevante Informationen suchen, etwa auf
Befunde darauf hin, dass gut gemachter lehrergeleiteter der Basis von Büchern oder Internetquellen. Das dabei er-
Unterricht genauso Phasen für selbstgesteuertes Lernen worbene Wissen bringen die Gruppenmitglieder dann wieder
(7 Kap. 4) beinhaltet, wie gut gemachter konstruktivistisch in die Kleingruppe ein. Dort werden auf Basis des zusam-
orientierter Unterricht genauso Phasen von (lehrergesteu- mengetragenen Wissens mögliche Lösungen für das Problem
erter) Anleitung benötigt. Berücksichtigt man die Befunde diskutiert. Zum Abschluss reflektiert die Gruppe die Qua-
zum Kompetenzerwerb, so steht die selbstgesteuerte lität ihres Problemlöseprozesses. Während aller Phasen ist
Bearbeitung komplexer, authentischer Probleme jedoch die Lehrperson gefordert, das Problemlösen der Schülerin-
nicht am Anfang des Lehr-/Lernprozesses, sondern eher an nen und Schüler zu überwachen und Hilfestellung zu geben,
dessen Ende. insbesondere auf Anfrage.
Zum problemorientierten Lernen liegen mehrere Meta-
analysen vor. Hattie (2009) berichtet von einer im Vergleich
zu nicht-problemorientiertem Unterricht recht geringen Ef-
Empirisch schneidet das forschende Lernen im Hin-
fektstärke beim Lernerfolg (d D :15). Metaanalysen aus
blick auf die Förderung des Wissenserwerbs im Durchschnitt
dem universitären Lehrkontext weisen aber auf zahlreiche
schwächer ab als die direkte Instruktion. So berichtet Hattie
Moderatorvariablen hin, die die Effektivität des problemori-
(2009) von einer im Vergleich zur direkten Instruktion gerin-
entierten Lernens beeinflussen. So zeigen etwa Schmidt, van
geren mittleren Effektstärke von d D :31, wenn schulische
der Molen, te Winkel und Wijnen (2009), dass die Effek-
Leistungsmaße als abhängige Variable herangezogen werden.
tivität des problembasierten Lernens im Hinblick auf den
Neuere Metaanalysen von Lazonder und Harmsen (2016)
Erwerb von Faktenwissen in etwa vergleichbar mit der Ef-
sowie von Furtak, Seidel, Iverson und Briggs (2012) verdeutli-
fektivität alternativer Lehrformen ist. Deutliche Vorteile des
chen jedoch, dass die Effektivität forschenden Lernens durch
problembasierten Lernens zeigen sich aber hinsichtlich des
eine zusätzliche Strukturierung von Lernaktivitäten deutlich
Erwerbs von domänenspezifischen und domänenübergrei-
gesteigert werden kann.
fenden Handlungskompetenzen. Ähnliche Befunde werden
in einer Metaanalyse von Gijbels, Dochy, van den Bossche
und Segers (2003) berichtet. Dochy et al. (2003) zeigen da-
17.5.5 Problemorientiertes Lernen rüber hinaus, dass die Effekte des problembasierten Lernens
(in Übereinstimmung mit dem Expertise-Reversal-Effekt) mit
Eine dem forschenden Lernen nicht unähnliche Unterrichts- steigender Expertise der Lernenden eher zunehmen. Demi-
methode ist das problemorientierte oder problembasierte rel und Dagyar (2016) berichten für den Schulkontext zudem
Lernen (Dochy et al. 2003). Ursprünglich im Rahmen der Me- von positiven Effekten des problemorientierten Lernens auf
dizinausbildung entwickelt (Barrows 1986), handelt es sich die schülerseitigen Einstellungen zum Unterricht. Zusam-
dabei um einen etwas unscharfen Sammelbegriff für Ansät- mengefasst deuten diese Befunde also darauf hin, dass pro-
ze, in denen Lernende mit authentischen Problemstellungen blemorientiertes Lernen insbesondere im Hinblick auf den
konfrontiert werden und diese wiederum unter Anleitung, Erwerb von stärker anwendungsnahem, handlungsbezoge-
aber zu großen Teilen selbständig bearbeiten (wie zum Bei- nem Wissen und Fertigkeiten effektiv ist und hinsichtlich des
spiel im Anchored-Instruction-Ansatz; CTGV 1993). Dabei Erwerbs konzeptuellen bzw. deklarativen Wissens offenbar
spielt insbesondere das Lernen in Kleingruppen (7 Im Fo- zumindest nicht schlechter abschneidet als herkömmliche
kus: Kooperatives Lernen) eine zentrale Rolle. Für die Weiter- Formen des Unterrichtens.
344 Kapitel 17  Lehren und Unterrichten

17.5.6 Der Knowledge-Building-Ansatz lerzentriert nicht einfach und vielleicht auch nicht hilfreich
ist. In „guter“ Ausführung beinhalten nämlich auch lehrer-
Eine Unterrichtsmethode, die Schülerinnen und Schülern zentrierte Unterrichtsmethoden Gelegenheiten zur Selbst-
sehr große Spielräume zur Gestaltung ihres eigenen Lern- steuerung (etwa bei der Bearbeitung von Übungsaufgaben im
prozesses einräumt, ist der sogenannte Knowledge-Building- Kontext der direkten Instruktion), genauso wie eine erfolg-
Ansatz (Scardamalia & Bereiter 2014). Seine Grundidee ist, reiche Umsetzung schülerzentrierter Ansätze ganz essenziell
aus den Schülerinnen und Schülern einer Klasse eine echte von einer klaren Anleitung der Lehrkraft abhängt und mit-
„Lerngemeinschaft“ zu formen, in der alle Mitglieder gefor- hin „lehrerzentrierte“ Elemente enthält. Für eine effektive
dert sind, eigene Ideen zu Lerninhalten zu formulieren, zu Anleitung innerhalb aller beschriebenen Unterrichtsmetho-
äußern und auf den Ideen anderer Lernender aufzubauen, den ist es allerdings wichtig, dass die Lehrperson wirkungs-
um das „gemeinschaftliche Wissen“ kontinuierlich zu erwei- volle Lehrtechniken anwendet. „Lehrtechniken“ bezeichnen
tern. Für die Umsetzung des Ansatzes spielt die webbasierte Handlungen, die die Lehrperson verwendet, um die Ausein-
Lernplattform „KnowledgeForum“ (7 www.knowledgeforum. andersetzung der Schülerinnen und Schüler mit dem Lern-
com) eine zentrale Rolle. KnowledgeForum fungiert als prin-
gegenstand zu steuern und zu unterstützen (s. a. Aebli, 1976)
zipiell unendlicher Speicher für das von Schülerinnen und und sie dabei zu qualitativ hochwertigen Lernaktivitäten und
Schülern generierte Wissen. Dort können sie Nachrichten Lernprozessen zu bewegen (s. o.). Im Folgenden werden in
(sog. „Ideen“) posten, die für alle anderen Lernenden sichtbar Anlehnung an Klauer und Leutner (2007) Lehrtechniken be-
werden. Auf jede Idee kann mit einer neuen Idee oder einer schrieben, die sich auf fünf Problembereiche beziehen und
Frage reagiert werden. Dadurch, dass nach und nach neue die in allen beschriebenen Unterrichtsmethoden einsetzbar
Ideen und Antworten gepostet werden, entsteht ein zuneh- sind: Diese betreffen die Überwachung von Lernprozessen,
mend komplexes Wissensnetzwerk. Um die Übersichtlichkeit das Herstellen von Lernbereitschaft, das Präsentieren und
des Netzwerks zu gewährleisten, können mehrere thematisch Demonstrieren, die Unterstützung von Schülerarbeitsphasen
ähnliche Beiträge von Schülerinnen oder Schülern zu grö- (Scaffolding) und das Feedback geben.
ßeren Einheiten zusammengefasst und graphisch aufbereitet
werden. Die Frage der Korrektheit des geposteten Wissens,
d. h. ob die Informationen mit der derzeit gültigen Lehrmei- 17.6.1 Techniken zur Überwachung von
nung übereinstimmen, tritt beim Knowledge Building in den Lernprozessen
Hintergrund. Stattdessen steht die Lerngemeinschaft selbst
in der Verantwortung zu entscheiden, welche Beiträge mit
Blick auf das gemeinschaftliche Lernziel neu und hilfreich Eine Grundlage für effektives Unterrichten ist, dass die Lehr-
sind. Insofern wird die Verantwortung für die Qualität des person, Probleme von Schülerinnen und Schülern beim Ler-
Lernprozesses von der Lehrperson auf den Lernenden über- nen erkennt und auf diese schnell und angemessen reagiert.
tragen. Die Hauptaufgabe der Lehrkraft besteht darin, den Dies betrifft zum einen echte Lernprobleme, d. h. Schwie-
Knowledge-Building-Ansatz einzuführen und während des rigkeiten beim Verstehen der Unterrichtsinhalte, zum an-
Lernprozesses darauf zu achten, dass der gemeinsame Wis- deren aber auch Disziplinprobleme. Sie zu erkennen und
senskonstruktionsprozess nicht ins Stocken gerät. angemessen entgegenzuwirken, ermöglicht den Schülerin-
Die Komplexität des Knowledge-Building-Ansatzes macht nen und Schülern ein konzentriertes Arbeiten (classroom
es schwierig, geeignete Vergleichsbedingungen zu schaffen, management; Wolff, Jarodzka, van den Bogert & Boshuizen
um seine Wirksamkeit empirisch zu überprüfen. Es ver- 2016; 7 Kap. 18). Daher muss die Lehrkraft den Lernprozess
17 der Klasse sowie die Lernfortschritte Einzelner so gut wie
wundert daher nicht, dass experimentelle Studien rar sind.
Stattdessen dominieren Einzelfallstudien, in denen typischer-möglich überwachen – ein Kernaspekt „diagnostischer Kom-
weise beschrieben wird, wie eine, manchmal auch mehrere, petenz“ (z. B. Schrader, 2013).
Lerngemeinschaft(en) über einen längeren Zeitraum hinweg In der empirischen Unterrichtsforschung hat sich zur
ihr Wissen zu einem Themengebiet kontinuierlich erwei- Konzeptualisierung prozessbegleitender Diagnostik das Kon-
tern (z. B. zwei Schuljahre; Sun, Zhang & Scardamalia 2010). strukt der „professionellen Unterrichtswahrnehmung“ von
Dabei wird auf der Basis qualitativer Analysen von Wissens- van Es und Sherin (2008) als hilfreich erwiesen. Das kom-
netzen die steigende Qualität von schülergenerierten Ideen petente Lösen von Problemsituationen im Unterricht um-
über die Lerneinheit hinweg aufgezeigt (z. B. Zhang, Scarda- fasst demnach vier Schritte: Zunächst erkennt die Lehrperson
malia, Lamone, Messina & Reeve 2007). das Problem als solches und richtet ihre Aufmerksamkeit
darauf („Erkennen“). Danach beschreibt und kategorisiert
sie das Problem im Hinblick auf mögliche aktuelle Ursa-
chen hin genauer („Beschreiben“). Im Anschluss entwickelt
17.6 Auswahl und Einsatz von Lehrtechniken die Lehrperson ein mentales Erklärungsmodell, das die zu-
vor als bedeutsam erachteten Ursachen nach Relevanz ord-
In der Zusammenschau der beschriebenen Unterrichtsme- net und nach Möglichkeit mit bildungswissenschaftlicher
thoden zeigt sich, dass eine streng dichotome Einteilung von Evidenz in Zusammenhang bringt („Erklären“). Abschlie-
Instruktionsansätzen als entweder lehrerzentriert oder schü- ßend trifft die Lehrperson Vorhersagen über möglicherweise
17.6  Auswahl und Einsatz von Lehrtechniken
345 17
effektive Handlungsmöglichkeiten, wählt vielversprechende Bedeutung, sowohl Wert- als auch Erwartungskognitionen
Handlungen aus und setzt diese um („Vorhersagen“). Empiri- positiv zu beeinflussen (7 Kap. 11). Mit Blick auf eine Ver-
sche Studien zeigen, dass Lehrpersonen mit größerer Unter- änderung von Wertkognitionen bietet es sich beispielsweise
richtserfahrung in der Regel über umfangreichere Kompeten- an, die Nützlichkeit der zu behandelnden Lerninhalte für
zen zur professionellen Unterrichtswahrnehmung verfügen die Bewältigung auch außerschulisch bedeutsamer Proble-
als weniger erfahrene Lehrkräfte. Wolff et al. (2016) konn- me zu betonen. Erwartungskognitionen (i. S. v. Erfolgserwar-
ten beispielsweise zeigen, dass erfahrenere Lehrkräfte besser tungen) können beispielsweise durch attributional günstige
dazu in der Lage sind, ihre Aufmerksamkeit auf das Gesamt- Leistungsrückmeldungen (z. B. Attribution auf mangelnde
geschehen im Unterricht zu richten und dabei wichtige von Anstrengung nach Misserfolgen) positiv beeinflusst werden.
weniger wichtigen Informationen zu unterscheiden. Weniger Die Motivierung von Schülerinnen und Schülern ist dabei
erfahrene Lehrkräfte richten ihre Aufmerksamkeit dagegen keineswegs nur zu Beginn einer Unterrichtsstunde wichtig,
häufig zu einseitig auf einzelne „Problemschüler“. Zur För- sondern stellt eine Daueraufgabe für Lehrkräfte dar. Aktuelle
derung von Kompetenzen zur Unterrichtswahrnehmung ha- Studien weisen etwa darauf hin, dass sich auch Lehrerenthu-
ben sich erfahrungsbasierte Trainings als effektiv erwiesen, siasmus (Keller, Woolfolk Hoy, Goetz & Frenzel 2016) und
in denen die Teilnehmenden etwa anhand von Videofällen Lehrerhumor (Dresel, Bieg, Fasching, Steuer, Nitsche & Dick-
im Umgang mit problematischen Unterrichtssituationen trai- häuser 2014) im Unterricht positiv auf motivational-affektive
niert werden (z. B. Blomberg, Sherin, Renkl, Glogger & Seidel Zustände der Schülerinnen und Schüler auswirken können.
2013; 7 Kap. 20).

17.6.3 Techniken zur Präsentation und


17.6.2 Techniken zum Herstellen von Demonstration von Lehrinhalten
Lernbereitschaft
Das Präsentieren neuer Informationen und das Demonstrie-
Ein weiteres Set effektiver Lehrtechniken betrifft das Her- ren von Fertigkeiten zählen zu den Kernaufgaben von Lehr-
stellen von Lernbereitschaft auf Seiten der Schülerinnen und kräften. Neue Inhalte sollen logisch und strukturiert dargebo-
Schüler. Auf kognitiver Seite sollte die Lehrkraft versuchen, ten und damit dafür Sorge getragen werden, dass die Schüle-
das Vorwissen der Schülerinnen und Schüler zur behandelten rinnen und Schüler beim Übergang zu einem neuen Thema
Unterrichtsthematik zu aktivieren. Dies kann etwa über das erkennen, wie eine Unterrichtsphase auf der anderen aufbaut.
Anknüpfen des Lernstoffs an Alltagsphänomene geschehen. Während des Präsentierens ist darauf zu achten, dass die Ler-
Eine andere Möglichkeit ist, die Schülerinnen und Schüler zu nenden nach Möglichkeit nicht mit Informationen belastet
Anfang eines neuen Themas im Unterrichtsgespräch alles äu- werden, die für den Wissensaufbau bedeutungslos oder gar
ßern zu lassen, was sie bereits dazu wissen. Die Aktivierung schädlich sind (van Merriënboer & Sweller, 2005). Vielmehr
von vorhandenem Wissen erleichtert die Verarbeitung und sollte versucht werden, neue Inhalte so klar zu präsentieren,
Integration neuer Informationen (Dochy, Segers & Buehl, dass die Lernenden ihre begrenzte Arbeitsgedächtniskapazi-
1999). tät in die Verarbeitung relevanter Informationen investieren
Des Weiteren kann das Herstellen von Aufmerksamkeit und irrelevante Informationen dabei ausblenden.
als Grundbedingung für den weiteren Lernprozess angese- Im Hinblick auf die Förderung des Fertigkeitserwerbs
hen werden, da nur solche Umweltreize, auf die der Lernende kommt zudem Modellierungs- und Artikulationsprozessen
seine Aufmerksamkeit richtet, überhaupt weiterverarbeitet eine wesentliche Bedeutung zu (Collins, Brown & Newman
werden können (Atkinson & Shiffrin 1968; 7 Kap. 2). Slavin 1989): Erfolgreichen Lehrkräften gelingt es in hohem Maße,
(2015) fordert daher u. a., dass die Lehrkraft zu Beginn einer neue Fertigkeiten (z. B. hinsichtlich des Schreibens einer Er-
Unterrichtsstunde für einen pünktlichen Unterrichtsbeginn örterung im Deutschunterricht) klar zu demonstrieren und
und einen deutlich wahrnehmbaren, „offiziellen“ Start der dabei ihre Denkprozesse so zu externalisieren, dass sie für
Unterrichtseinheit sorgen sollte. Während der Präsentation Schülerinnen und Schüler erfahrbar und reproduzierbar wer-
neuen Lernmaterials können Lehrpersonen zudem Signale den. Dadurch werden diese beim Aufbau eines konzeptuellen
setzen („Signalling“; Moreno 2007): Durch das Betonen be- Modells der Zielfertigkeit unterstützt. Dieses deklarative Wis-
sonders wichtiger Aspekte („Hier müsst ihr gut aufpassen!“) sen bildet die Grundlage für den weiteren Fertigkeitserwerb
können die Aufmerksamkeitsprozesse der Schülerinnen und (Anderson 1996).
Schüler zumindest kurzfristig positiv beeinflusst werden.
Während Schülerarbeitsphasen können auch Arbeitsmateria-
lien so gestaltet werden, dass sie die Aufmerksamkeit zum
17.6.4 Techniken zur Unterstützung von
Beispiel durch auffällige Farben oder grafische Layouts auf die
wichtigen Inhalte und Arbeitsanweisungen lenken. Schülerarbeitsphasen (Scaffolding)
Auch auf motivational-affektiver Seite stehen der Lehr-
kraft Handlungsmöglichkeiten zum Herstellen von Lern- Im Kontext des Fertigkeitserwerbs ist es wichtig, dass Lehr-
bereitschaft zur Verfügung. Hierbei ist es von besonderer kräfte Übungsphasen realisieren, in denen die Schülerin-
346 Kapitel 17  Lehren und Unterrichten

nen und Schüler zuvor erworbenes deklaratives Wissen pro- nügend angestrengt“). Wie Dresel und Ziegler (2006) zeigen
zeduralisieren (Anderson, 1996), d. h. in Handlungswissen konnten, können Lehrende zum Einsatz motivationsförder-
überführen können. Gerade in frühen Phasen des Fertig- licher Attributionen angeleitet werden, was wiederum das
keitserwerbs ist auf eine angemessene Strukturierung des Attributionsverhalten der Schülerinnen und Schüler sowie
Übungsprozesses zu achten. Üblicherweise profitieren Schü- ihre Schulleistungen positiv verändert.
lerinnen und Schüler zu Beginn von einer eher kleinschrit-
tigen Anleitung. Diese kann z. B. über die Präsentation von Im Fokus: Kompetenzförderliches Feedback
ausgearbeiteten Lösungsbeispielen realisiert werden (Renkl &
Atkinson, 2003). Mit zunehmender Expertise, d. h. je weiter Um Kompetenzen aufzubauen, benötigen Lernende
die Prozeduralisierung und Automatisierung der Zielfertig- Rückmeldungen. Die empirische Lehr-Lernforschung zeigt
keit voranschreitet, sollte die instruktionale Unterstützung allerdings, dass nicht jede Art der Rückmeldung positive
jedoch zurückgenommen werden („Fading“; vgl. Pea 2004). Effekte auf den Lernprozess und den Lernerfolg von
Auch kann es sinnvoll sein, während der Übungsphasen ko- Schülerinnen und Schülern hat. Rückmeldungen haben
operatives Lernen einzusetzen, um zu erreichen, dass sich die dann positive Effekte, wenn sie auf die richtige Art gestaltet
Schülerinnen und Schüler in den beschriebenen konstruktiv- sind. Die Feedbackforschung interessiert sich hierbei für
interaktiven Lernaktivitäten und damit verbundenen kog- die Bedingungen, unter denen bestimmte Formen von
nitiven Elaborationsprozessen engagieren. Auch hier ist auf Feedback förderlich für den Kompetenzerwerb sind.
eine angemessene Strukturierung des Lernprozesses zu ach- Es gibt unterschiedliche Feedbackmodelle. Ein durch eine
ten (7 Im Fokus: Kooperatives Lernen). Metaanalyse empirisch gestütztes Feedbackmodell stammt
von Hattie und Timperley (2007). In diesem Modell werden
unter Feedback Informationen verstanden, die Lernenden
helfen, die Diskrepanz zwischen einem schon erreichten
17.6.5 Techniken zum Geben von Niveau und dem Zielniveau einer Kompetenz zu reduzieren.
lernförderlichem Feedback Eine wichtige Unterscheidung erfolgt zwischen den drei
Komponenten Feed-Up, Feed-Back und Feed-Forward.
Von zentraler Bedeutung für den Wissenserwerb der Schü- Die erste Komponente ist Feed-Up. Feed-Up informiert über
lerinnen und Schüler ist zudem, dass Lehrkräfte ihnen nach das angestrebte Ziel. Ein solches Ziel könnte beispielsweise
dem Lernprozess Feedback geben (s. Im Fokus „Kompetenz- sein, dass Schülerinnen und Schüler die Formeln für
förderliches Feedback“). Tatsächlich stellt Lehrerfeedback in Kreisberechnungen kennen und diese bei der Lösung
den metaanalytischen Betrachtungen von Hattie (2009) einen alltagsnaher Probleme anwenden können. Im Fach Deutsch
der stärksten lehrerseitigen Einflussfaktoren auf Schülerleis- kann es ein Ziel sein, dass die Schülerinnen und Schüler
tungen dar. Dieses Potenzial wird am ehesten genutzt, wenn die drei Teile eines Arguments, Behauptung, Begründung
das Feedback eine elaborierte Auseinandersetzung mit po- und Beleg, kennen und ein Argument mit diesen Teilen
sitiven und negativen Aspekten des Lern- und Selbststeue- entwickeln können.
rungsprozesses bietet und weniger, wenn die Schülerin bzw. Die zweite Komponente ist Feed-Back. Feed-Back informiert
der Schüler nur über die Richtigkeit der Aufgabenlösung die Lernenden darüber, in welchen Ausmaß sie bereits über
informiert wird (Hattie & Timperley 2007). Auch ein rein die angestrebte Kompetenz verfügen, d. h. wie weit oder in
personenbezogenes Lob („Du bist ein guter Schüler!“) oder welchem Bereich sie von dem Ziel entfernt sind. Enthält das
ein oberflächliches prozessbezogenes Lob („Das hast du gut Argument alle drei Teile? Was fehlt noch?
17 gemacht!“) hat wenig informationellen Wert. Wichtig auf Die dritte Komponente ist Feed-Forward. Feed-Forward
Schülerseite ist jedoch, dass das Feedback auch effektiv ver- informiert den Lernenden darüber, was als nächstes ansteht
arbeitet wird (Kollar & Fischer, 2010). Dies ist zum Beispiel und wie weiter geübt werden kann. Die Lehrkraft gibt z. B.
dann der Fall, wenn eine Schülerin ihre eigene Leistung in Hinweise auf die Anwendung einer anderen Strategie bei der
einer Klassenarbeit sorgfältig vor dem Hintergrund des er- erneuten Lektüre eines Textes oder auf Übungsaufgaben,
haltenen Feedbacks überprüft, anstatt lediglich die erhaltene die die Anwendung einer neu gelernten Fertigkeit in
Note zur Kenntnis zu nehmen. anderen Kontexten erfordern.
Feedback ist aber nicht nur im Hinblick auf die Förderung Eine in diesem Sinne vollständige Feedbacknachricht
kognitiver Lernprozesse von Bedeutung. Auch motivational informiert den Lernenden also, was das Ziel war, wie die
bedeutsame Kognitionen können wie erwähnt durch unter- Bearbeitung bezogen auf dieses Ziel gelungen ist und
schiedliche Formen und Inhalte von Feedback beeinflusst welche Teilziele und Aufgaben der Lernende als nächstes
werden. Beispielsweise weisen Studien auf positive Effekte angehen sollte, um die noch bestehende Diskrepanz zu
von Rückmeldeprozessen auf die Lernmotivation hin, wenn reduzieren.
Lehrkräfte Misserfolge nicht an vermeintlich mangelnder Oft enthalten Rückmeldungen von Lehrkräften jedoch
Begabung der Schülerinnen und Schüler festmachen („Das nur knappe Informationen darüber, wie die Bearbeitung
Thema liegt Dir nicht“), sondern internal und variabel attri- gelungen ist (z. B. eine Note, die allerdings nur geringen
buieren (Weiner 1985; 7 Kap. 10) und sie z. B. auf mangelnde Informationswert für die Schülerin hat), erinnern die
Anstrengung zurückführen („Da hast Du Dich noch nicht ge-
17.7  Schluss
347 17

Lernenden aber selten daran, was eigentlich erreicht werden 4. Personales Feedback ist auf die Beurteilung der ganzen
sollte (Feed-Up). Noch seltener beinhaltet Lehrerfeedback Persönlichkeit des Lernenden bezogen, z. B. „Du bist ein
Hinweise, was nun als Nächstes angegangen werden könnte intelligenter Schüler“. Diese Form des Feedbacks hilft
(Feed-Forward). dem Lernenden nicht, die Diskrepanz zwischen aktueller
Neben den genannten drei Komponenten ist der Bezugs- Leistung und angestrebtem Lernziel zu verringern,
punkt des Feedbacks entscheidend, um zu verstehen, erwies sich empirisch nicht als lernförderlich und hatte
unter welchen Bedingungen Rückmeldungen lernförderlich manchmal sogar negative Auswirkungen auf das Lernen.
sind und unter welchen nicht. Vier Bezugspunkte werden Insgesamt erscheint also bei komplexeren Aufgaben opti-
unterschieden: (1) Feedback zur Korrektheit der Aufgabe mal, Feedback zum Lernprozess zu geben, bis die Lernenden
(evaluatives Feedback), (2) Feedback zum Lernprozess (hin- die Schritte bei der Bearbeitung grundlegend verstanden
weisgebendes Feedback), (3) Feedback zur Selbstregulation haben. Anschließend ist Feedback zur Selbstregulation mit
des Lernprozesses und (4) Personales Feedback. hoher Wahrscheinlichkeit effektiver. Personales Feedback
1. Besonders häufig geben Lehrkräfte Feedback zur Kor- hat keine nachgewiesenen lernförderlichen Eigenschaften.
rektheit der vom Lernenden erreichten Aufgabenlösung, Gleiches gilt für Feedback zur Korrektheit der Aufgabe bei
das den Lernenden über das Ergebnis der Bearbeitung komplexen Aufgaben (z. B. Essay schreiben).
informiert und häufig in Richtig/Falsch-Informationen,
kurzen verbalen Bewertungen („prima“) oder Noten
besteht. Hattie und Timperley (2007) zeigten anhand der
Forschungsliteratur auf, dass diese Art von Feedback nur 17.7 Schluss
selten kompetenzförderliche Wirkungen hat: Nämlich
dann, wenn dem Lernenden vollkommen klar ist, worauf In der öffentlichen Bildungsdiskussion wird häufig gefordert,
genau sich die Bewertung bezieht. Und das ist nur bei den lehrergeleiteten Unterricht in der Schule abzuschaffen
einfachen Aufgaben der Fall, bei denen die Lernenden und stattdessen mehr „projekt-“ oder „problemorientierte“
sich aufgrund der Richtig/Falsch-Information eindeutig Lernformen, möglichst auch mit einem hohen Anteil ko-
erschließen können, was genau sie falsch gemacht operativer Lernmethoden, umzusetzen. Diese Forderung er-
haben. Es gibt noch eine Situation, in denen diese Art scheint vor dem Hintergrund psychologischer Theorien und
von Feedback geeignet ist: wenn Lernende dabei sind, Befunde zum Lehren und Lernen jedoch als zu undifferen-
bestimmte Bearbeitungsschritte zu automatisieren. ziert. Der Schlüssel zum Erreichen hervorragender Lerner-
2. Feedback zum Lernprozess informiert die Lernenden gebnisse liegt vielmehr in einem lernerseitigen Engagement
darüber, inwieweit sie im Bearbeitungsprozess alle in hochwertigen Lernaktivitäten und -prozessen. Aufgabe der
erforderlichen Schritte durchgeführt bzw. inwieweit sie Lehrkraft ist es, hierfür möglichst optimale Rahmenbedin-
angemessene Strategien verwendet haben. Ein Beispiel gungen zu schaffen. Auf der Ebene der sichtbaren Lernaktivi-
wäre etwa: „Deine Argumentation berücksichtigt täten sollte sie dafür sorgen, dass die Schülerinnen und Schü-
bisher nur eine Art von Gegenargumenten. Neben den ler dem Unterricht nicht nur passiv folgen, sondern dabei
Schlussfolgerungen könntest du auch die Prämissen immer wieder auch konstruktiv-interaktive Aktivitäten zei-
angreifen“. Feedback auf der Prozessebene ist sehr gen, die mit tiefgehenden kognitiven Elaborationsprozessen
effektiv bei komplexeren Leistungen. Durch Feedback verbunden sind. Dazu gehören unter anderem das Erklären,
auf der Prozessebene erhalten Lernende Hinweise, Fragestellen, Argumentieren und Geben von Peer-Feedback.
ob und wie ihre Vorgehensweise von effektiven Solche Aktivitäten werden im Rahmen unterschiedlicher Un-
Vorgehensweisen abweicht. terrichtsmethoden – von der direkten Instruktion bis zum
3. Feedback zur Selbstregulation des Lernprozesses gibt Knowledge Building – in unterschiedlicher Weise gewichtet
den Lernenden Hinweise zum Überwachen, Steuern und und orchestriert.
Gestalten der eigenen Lernprozesse. Ein beispielhaftes Im Kontext von Unterrichtsmethoden werden geeigne-
Feedback zur Selbstregulation ist: „An dieser Stelle war te Lehrtechniken eingesetzt, um bestimmte Lernaktivitäten
dein Argument nicht stichhaltig. Bitte prüfe, was du der Schülerinnen und Schüler gezielt zu stimulieren oder zu
in der Vorbereitung auf die Diskussion anders hättest strukturieren.
machen können, um zu einem besseren Argument zu
kommen “. Wenn davon ausgegangen werden kann,
dass ein Lernender den Prozess der Aufgabenbearbei-
tung (hier: des Argumentierens) grundlegend kennt,
dann ist Feedback auf der Selbstregulierungsebene
wirkungsvoller als Feedback auf der Prozessebene.
348 Kapitel 17  Lehren und Unterrichten

3. Welche sichtbaren Lernaktivitäten sollten Sie als


Zusammenfassung Lehrkraft auf Seiten Ihrer Schülerinnen und Schüler
5 Nach Hattie (2009) „kommt es auf die Lehrkraft an“: gemäß dem ICAP-Modell von Chi und Wylie (2014)
Sie verfügt über zahlreiche Handlungsmöglichkeiten, anregen und welche (kognitiven) Lernprozesse
den Lernprozess der Schülerinnen und Schüler so zu sind mit diesen stärker verknüpft als mit weniger
unterstützen, dass sie eine reichhaltige und flexible lernförderlichen sichtbaren Lehraktivitäten?
Wissensbasis sowie flexibel anwendbare Fertigkeiten 4. Eine befreundete Lehramtsstudentin sagt zu Ihnen:
und Kompetenzen erwerben können. „Direkte Instruktion funktioniert laut Hattie viel besser
5 Damit die Lehrkraft den Lernprozess der Schülerinnen als diese ganzen schülerzentrierten Unterrichtsmetho-
und Schüler unterstützen kann, benötigt sie Wissen den – ich gestalte meinen Unterricht also nur noch
über solche Lernaktivitäten und kognitiven Prozesse, gemäß der direkten Instruktion“. Wie stehen Sie zu
die in einem engen Zusammenhang mit dem Wis- dieser Aussage?
senserwerb stehen. Hierfür ist insbesondere ein En- 5. Welche Lehrtechniken sollten Lehrpersonen anwen-
gagement in konstruktiv-interaktiven Lernaktivitäten den, um den Wissenserwerb von Schülerinnen und
hilfreich, weil dieses auf kognitiver Ebene mit einer er- Schülern zu unterstützen?
höhten Wahrscheinlichkeit besonders hochwertiger 6. Wie sollte Feedback gestaltet sein, damit die
Inferenz- und Co-Inferenzprozessen einhergeht. Wahrscheinlichkeit für positive Effekte auf den
5 Zur Auslösung und Unterstützung entspre- Wissenserwerb gesteigert wird?
chender Lernaktivitäten und -prozesse hat die 7. Worauf sollte bei der Unterstützung von Schülerar-
Lehr-Lernforschung verschiedene Unterrichtsme- beitsphasen geachtet werden?
thoden entwickelt, die von stärker lehrer- zu mehr 8. Was ist die Grundidee des Cognitive-Apprenticeship-
schülerzentrierten Zugängen reichen. Ansatzes?
5 Bei diesen Unterrichtsmethoden handelt es sich al- 9. Was ist beim Einsatz von kooperativem Lernen zu
lerdings eher um Lehr-/Lernphilosophien, die zwar beachten?
hilfreiche Orientierungen bei der Unterrichtsplanung 10. Inwiefern ist der Knowledge-Building-Ansatz als eine
bieten können, aber nicht direkt auf die Kompetenz- Extremform schülerzentrierter Instruktionsansätze zu
entwicklung der Schülerinnen und Schüler wirken. sehen?
5 Von größerer Bedeutung für die Beeinflussung von
schülerseitigen Lernaktivitäten und -prozessen sind
die konkreten Handlungen, die Lehrkräfte im Un- Literatur
terricht zur Unterstützung des Lernens vollziehen.
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Literatur
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353 18

Unterrichtsqualität
Barbara Drechsel und Ann-Kathrin Schindler

18.1 Einleitung – 354

18.2 Modelle der Unterrichtsqualität – 354

18.3 Basisdimensionen der Unterrichtsqualität – 358


18.3.1 Klassenführung – 360
18.3.2 Kognitive Aktivierung – 363
18.3.3 Konstruktive Unterstützung – 365
18.3.4 Unterrichtsqualität schulen und erlernen – 367

18.4 Zusammenspiel verschiedener Aspekte von


Unterrichtsqualität – 367
18.4.1 Differenzierung und Individualisierung als Wege zum Umgang mit
Heterogenität – 367
18.4.2 Kompetenzorientierter Unterricht – 369

Verständnisfragen – 370

Literatur – 370

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019


D. Urhahne, M. Dresel, F. Fischer (Hrsg.), Psychologie für den Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55754-9_18
354 Kapitel 18  Unterrichtsqualität

Denken Sie an die Medizin: Dort wird seit langem beforscht, denheit, Stress und Belastung bei Lehrpersonen (Dicke, El-
unter welchen Bedingungen und mit welchen Behandlungs- ling, Schmeck & Leutner 2015; Klusmann, Kunter, Voss &
methoden ein möglichst erfolgreicher Genesungsprozess bei Baumert 2012). Im Unterricht treffen viele Aspekte des Leh-
Patientinnen und Patienten stattfindet. Persönliche Erfah- rerberufs zusammen. Im Blickpunkt stehen die Vermittlung
rungen von Ärztinnen und Ärzten stellen hierfür seit jeher von Wissen und die kognitive Auseinandersetzung mit fach-
eine wichtige Ressource dar. So wurde z. B. die Sterilisation lichen Inhalten bei jeder einzelnen Schülerin und jedem ein-
von Operationsinstrumenten eingeführt, weil bemerkt wur- zelnen Schüler. Unterricht ist aber auch ein Ort, an dem sozia-
de, dass es bei der Wiederverwendung von ungereinigtem le Interaktion stattfindet, Verhaltensweisen gelernt werden,
Operationsbesteck vermehrt zu Infektionen kam. Unter Louis bestimmte Abläufe und Regeln eingehalten werden sollen.
Pasteur wurde Ende des 19. Jahrhunderts begonnen, Instru- Um dieser Komplexität von Unterricht angemessen begegnen
mente mit Dampf zu sterilisieren. In der Folge wurde die zu können, benötigen Lehrpersonen zunächst professionel-
Wirkung vieler Faktoren auf die Keimfreiheit des Operati- les Wissen in verschiedenen Sparten und Bereichen. Darüber
onsbestecks umfassend wissenschaftlich untersucht und auf hinaus sind professionelle Haltungen und Überzeugungen
Basis der damit gewonnenen Evidenzen wurde die medizini- in Bezug auf die verschiedenen Tätigkeitsschwerpunkte oder
sche Praxis in den Operationssälen optimiert. Rollen im Lehrerberuf, funktionale motivationale Orientie-
In der Medizin wird die Untersuchung spezifischer Teil- rungen und adäquate selbstregulative Fähigkeiten erforder-
aspekte nicht zuletzt wegen der überlebenswichtigen Bedeu- lich, wie beispielsweise im etablierten Modell von Baumert
tung seit langer Zeit betrieben und ihre Wirkung ist offen- und Kunter (2006; s. auch Kunter et al. 2011) dargestellt ist
sichtlich. Dagegen wurde Bildung – und hier im Speziellen (7 Kap. 20).
der Unterricht – in der in Deutschland stark erziehungs- Fachwissen liefert den inhaltlichen Hintergrund für das
wissenschaftlich geprägten Tradition bis in die 1970er-Jahre Unterrichten. Fachdidaktisches Wissen hilft, Lernziele zu
nicht systematisch und empirisch fundiert erforscht. Zwar formulieren und die Inhalte aufzubereiten, zu reduzieren
geht es im Bildungssektor nicht um das Überleben von Pa- und adressatengerecht umzusetzen. Ein Blick durch die
tienten, gelungene Lernprozesse in der Schule sind aber hoch pädagogisch-psychologische Brille auf Unterricht erlaubt Be-
bedeutsam für die Lebensläufe aller Schülerinnen und Schü- dingungen zu erkennen, die Lernprozesse bei den Schüle-
ler und die Gesellschaft insgesamt. Jährlich fließen Millio- rinnen und Schülern anregen, wie man mit Hilfe psycho-
nen öffentlicher Gelder unter anderem in die Finanzierung logischer Erkenntnisse die Qualität von Unterricht verbes-
von Unterricht. Mit der empirischen Wende in der Erzie- sern kann und welche Komponenten für Unterrichtsqualität
hungswissenschaft und einer verstärkten Zuwendung der bedeutsam sind. Die wissenschaftliche Grundlage dafür bie-
Psychologie zum Unterricht um das Jahr 2000 zeigten Studi- tet die empirische Unterrichtsforschung, die diese drei Per-
en wie z. B. die PISA-Studien (Programme for International spektiven miteinander verknüpft. Dieses Kapitel bietet einen
Student Assessment), dass die Qualität von deutschem Un- Überblick über wichtige theoretische Modelle und Theorien
terricht offensichtlich fehleingeschätzt wurde und Schülerin- sowie den aktuellen Forschungsstand dazu.
nen und Schüler über weniger Kompetenzen verfügten als Aus einer pädagogisch-psychologischen Perspektive ge-
basierend auf unsystematischen Erfahrungen angenommen ben wir zunächst einen Überblick über das Angebots-
worden war (Baumert et al. 2001). In den gleichen Zeit- Nutzungs-Modell, das den aktuellen Forschungsstand bezüg-
raum fällt der Beginn der empirischen Unterrichtsforschung, lich wirksamer Komponenten von Unterricht integriert. In
die in ihren Forschungsdesigns deutlich von psychologischen 7 Abschn. 18.3 gehen wir genauer darauf ein, welche Basis-
Untersuchungsmethoden geprägt ist (7 Kap. 27). Hier sind dimensionen der Unterrichtsqualität einen großen Beitrag
besonders videobasierte Beobachtungsstudien zu nennen. Sie zu qualitativ hochwertigem Unterricht leisten (Klassenfüh-
helfen zum einen zu untersuchen, welche unterrichtlichen rung, kognitive Aktivierung, konstruktive Unterstützung).
18 Komponenten und Lehrweisen sich wie auf das Lernen von 7 Abschn. 18.4 beschäftigt sich mit Merkmalen von Unter-
Schülerinnen und Schülern auswirken (teacher and teaching richtsqualität, die wichtige Herausforderungen der aktuellen
effectiveness, z. B. Seidel & Shavelson 2007), und zum ande- Diskussion über schulisches Lernen adressieren: Die wach-
ren zu klären, inwiefern wirksame Komponenten tatsächlich sende Heterogenität im Bildungskontext lässt Differenzie-
in Unterricht implementiert sind (z. B. Hiebert et al. 2003). rung und Individualisierung beim Lernen als unerlässliche
Maßnahmen für das erfolgreiche Lernen aller Schülerinnen
und Schüler erscheinen.
18.1 Einleitung
18.2 Modelle der Unterrichtsqualität
Unterrichten ist das Kerngeschäft von Lehrerinnen und Leh-
rern. Die meiste Arbeitszeit von Lehrpersonen fließt in das
Planen, Halten und Nachbereiten von Unterricht. Lehrkräfte Unterricht: Gestaltung von Lernumgebungen mit dem
nennen sehr häufig Unterrichten als die Quelle ihrer Be- Ziel, optimale Gelegenheiten für die effektive Ausführung
rufszufriedenheit und machen an gelungenen Stunden oder von Lernaktivitäten der Schülerinnen und Schüler
Sequenzen persönliche Erfolge fest (Bromme & Haag 2008). bereitzustellen (nach Seidel & Reiss 2014, S. 254).
Unterricht ist aber auch nicht selten Ursache für Unzufrie-
18.2  Modelle der Unterrichtsqualität
355 18
Dass Unterricht sich auf Lernprozesse von Lernenden samkeit und Effektivität von Unterricht im Auge zu behalten.
auswirkt und auswirken soll, ist unbestritten. Was aber ist mit Die ertragsorientierte Perspektive nimmt die Wirkungen von
„gutem“ Unterricht gemeint? Lange Zeit gab es zu dieser Fra- Unterricht in den Blick. Die unmittelbare Folgefrage nach
ge im deutschen Sprachraum nur wenige empirische Unter- der Qualität, die hier zu stellen ist, lautet: „Gut wofür?“ Je
suchungen, deren theoretische Konzeption, Stichprobenplan, nachdem, welches Zielkriterium verfolgt wird, stehen un-
Design und statistische Auswertung strengen methodischen terschiedliche Aspekte von Unterricht im Vordergrund und
Standards entsprachen. Häufig waren die Begriffe unscharf: unterschiedliche Erträge von Unterricht werden als Erfolg
Wie entsteht „guter“ Unterricht und woran wird er sichtbar? betrachtet. Je nachdem, welche Schülergruppe es zu un-
Durch die Persönlichkeit der Lehrperson, durch ihre Pro- terrichten gilt, unterscheiden sich die Ziele. In der ersten
fessionalität und Kompetenz, durch die Unterrichtsprozesse, Grundschulklasse beispielsweise geht es stark darum, den
durch die Unterrichtseffekte – oder durch eine Mischung von geregelten Tagesablauf zu verstehen und zu lernen, sich in
alledem? Ausführlich wurde untersucht, was seitens des Bil- das Klassengeschehen einzuordnen. Das Vorgehen der Lehr-
dungssystems in das unterrichtliche Lernen investiert wird kraft unterscheidet sich dabei von dem einer Erzieherin in
(Qualifikation von Lehrkräften, Curricula, Lehrmittel). Erst der Kindertagesstätte. Am Ende der Realschule stehen hin-
in jüngerer Zeit wendet sich die Forschung stärker den Bil- gegen Wissenserwerb, strategisches Vorgehen in Prüfungs-
dungsergebnissen zu, also dem Ertrag des Unterrichts bei situationen und das Überprüfen der eigenen Interessen für
Schülerinnen und Schülern (Ditton 2000). die anstehende Berufswahl im Vordergrund. Aber nicht nur
für unterschiedliche Lernergruppen, auch innerhalb einer
1 „Guter“ und „effektiver“ Unterricht Gruppe und häufig sogar innerhalb einer Stunde oder Unter-
David Berliner (1987; 2005) unterscheidet Unterrichtsquali- richtssequenz gilt, dass unterschiedliche Ziele verfolgt wer-
tät in die beiden Aspekte „gutes“ und „effektives“ Unterrich- den. Dies wird häufig unter dem Stichwort „Multikriterialität
ten – eine für die Praxis nützliche Unterscheidung, die hilft, von Unterricht“ zusammengefasst: Ein wesentliches Ziel un-
Qualitätskriterien anzulegen. „Gutes“ Unterrichten ist darauf terrichtlichen Lernens ist der Erwerb von Faktenwissen und
bedacht, die „üblichen“ Standards zu erfüllen, die für Unter- konzeptueller Verstehensprozesse, also das Erreichen kogni-
richt existieren (und sich in unterschiedlichen Klassenstufen, tiver Lernziele. Daneben hat Unterricht aber auch eine Viel-
Schularten oder auch über Staaten oder Kulturen unterschei- zahl motivationaler, volitionaler und sozialer Ziele, die ne-
den können): In einer guten Unterrichtsstunde werden bei- ben dem fachlichen Lernen auch Persönlichkeitsbildung und
spielsweise festgelegte Phasen eingehalten und abgewechselt, fachübergreifendes Lernen implizieren (Kunter 2005), z. B.
unterschiedliche Medien zum Einsatz gebracht und verschie- Motivation, Lernfreude und Interessenentwicklung (Knogler,
dene Sozialformen genutzt. Guter Unterricht in diesem nor- Harackiewicz, Gegenfurtner & Lewalter 2015), ein positives
mativen Sinne sieht vor, dass als angemessen geltende Metho- Fähigkeitsselbstkonzept (Huber, Häusler, Jurik & Seidel 2015)
den und Strategien im Unterricht umgesetzt werden. Anders oder die Förderung von Kooperation oder Fairness.
ausgedrückt bedeutet normativ, dass es bestimmte etablierte Diese Ziele stehen nicht von vornherein automatisch al-
Sichtweisen darüber gibt, welche Methoden in einem „guten le im Einklang miteinander. Ein bekanntes Beispiel dafür,
Unterricht“ vorkommen. Beispielsweise werden kooperati- dass es im Unterricht solche Zielkonflikte gibt, erläutert die
ve Lernformen als wichtig erachtet, um Lernende in ihrer SCHOLASTIK-Studie (Helmke & Weinert 1997). Es wurde
Teamfähigkeit zu schulen, die als ein wünschenswertes Lern- gezeigt, dass in vielen Schulklassen zwar die Bedingungen
ergebnis betrachtet wird. Arbeiten Schülerinnen und Schüler für den Kompetenzerwerb sehr gut sind, dass die Umset-
im Unterricht also häufig in Gruppen, so ist dies als guter zung dieser Bedingungen aber möglicherweise auf Kosten der
Unterricht zu bezeichnen. Dennoch ist bei dieser Betrach- Möglichkeiten geht, Lernfreude oder ein positives fachspezi-
tungsweise Vorsicht geboten: die Realisierung bestimmter fisches Selbstkonzept zu entwickeln und umgekehrt (Schra-
„innovativer“ Unterrichtsmethoden (z. B. Projektunterricht, der, Helmke & Dotzler 1997). Darüber hinaus erbrachte
Kleingruppenarbeit oder anderer Formen des offenen Unter- die Studie, dass es Lehrpersonen gibt, denen es gelingt, gu-
richts) ist nicht per se bereits guter Unterricht, ebenso wie te Bedingungen für beide Aspekte (Kompetenzerwerb und
lehrerzentrierter und frontaler Unterricht keineswegs auto- Lernfreude) zu schaffen, aber auch Lehrpersonen, die für
matisch „schlecht“ ist (7 Kap. 17). Qualität entsteht genau beide Facetten nur unzureichende Bedingungen bieten. Ein
dann, wenn die Unterrichtsmethoden auch effektiv sind, also weiteres Ergebnismuster hat sich in vielen weiteren Studi-
ihre Lehrziele erreichen. „Effektives“ Unterrichten ist an der en immer wieder bestätigt (vgl. Seidel & Shavelson 2007):
Frage orientiert, ob bestimmte (Leistungs-)Ziele durch den Die Lehrpersonen, die gut darin waren, sowohl das Dazuler-
Unterricht erreicht werden, also Schülerinnen und Schüler in nen in Mathematik als auch die Lernfreude in diesem Fach
Folge des Unterrichts erwünschte Ergebnisse erreichen. Qua- bei ihren Schulkindern anzuregen, erreichten dies auf sehr
lität entsteht nach Berliner (1987), indem die beschriebene unterschiedlichen Wegen. Als erstes Fazit lässt sich dem-
normative und die ertragsorientierte Perspektive miteinander nach festhalten: „Unterrichtsqualität“ lässt sich nicht als ein
verschränkt werden. Neben den im Unterricht realisierten richtiger Weg zum Ziel beschreiben. Auch in der Forschung
Input-Faktoren, also bestimmten Strukturen und Bestand- gab und gibt es nicht nur einen richtigen Weg, um „Unter-
teilen, die als konstitutiv für Unterricht angesehen werden, richtsqualität“ zu untersuchen, was wir im Folgenden genauer
ist es ebenso wichtig, die Output-Faktoren, also die Wirk- erläutern wollen:
356 Kapitel 18  Unterrichtsqualität

Mythos: Es gibt nur einen James Bond schen den Voraussetzungsvariablen (zu denen neben den
Im Zuge der Frage, wie „guter“ und „effektiver“ Unterricht Merkmalen der Lehrkraft wie z. B. deren Persönlichkeit
zustande kommt, beschäftigte sich die Unterrichtsfor- und Kompetenzen auch die schülerseitigen Lernvoraus-
schung immer wieder mit der Lehrperson. Die Anfänge setzungen gehören) und den Kontextvariablen (die auf
der Forschung waren dabei eher deskriptiv orientiert: die Schulklasse und Schule insgesamt bezogen sind und
Man bemühte sich, das Handeln, Denken oder die ge- z. B. die Klassenzusammensetzung oder die kulturellen
sellschaftliche Position von Lehrkräften zu beschreiben Rahmenbedingungen umfassen) einerseits sowie den
und dadurch herauszufinden, welche charakteristischen Produktvariablen (den Lernergebnissen der Schülerinnen
Persönlichkeitsmerkmale „gute Lehrer“ mitbringen und Schüler) andererseits durch die Prozessvariablen des
müssen, um ihre Aufgaben erfolgreich erfüllen zu kön- Unterrichts (also das Handeln der Lehrkraft, das Inter-
nen. Das Persönlichkeitsparadigma bediente sich teils aktionsgeschehen in der Klasse und die Lernaktivitäten
geisteswissenschaftlich-phänomenologischer und teil- der Schülerinnen und Schüler) vermittelt sind. Eine auf-
weise an der differenziellen Persönlichkeitspsychologie schlussreiche Methode in diesem Zusammenhang ist der
orientierter Forschungsansätze. Die Befunde dieser ers- Optimalklassenansatz (z. B. Helmke 2012). Hier werden im
ten Forschungsbemühungen waren ernüchternd: Die ersten Schritt Schulklassen identifiziert, die im Hinblick
„ideale Lehrerpersönlichkeit“, durch deren Wirken Lehr- auf ein Zielkriterium (z. B. Schulleistung, Ausbalancieren
Lernprozesse besonders wirkungsvoll ausgelöst worden von kognitiven, motivational-affektiven und sozialen
wären, ließ sich nicht entdecken. Bestimmte Persön- Lernzielen) besonders erfolgreich sind. Im zweiten Schritt
lichkeitsmerkmale wie Intelligenz, Offenheit gegenüber werden die Merkmale der Lehrkräfte und die Profile ihres
Mitmenschen, Gewissenhaftigkeit oder Verträglichkeit und Unterrichts betrachtet.
Empathie konnten zwar als relevante Faktoren identifiziert Wenn man bedenkt, wie viele unterschiedliche kogni-
werden. Heute wird eine Grundausstattung mit diesen tive Prozesse notwendig sind, um das Klassengeschehen
Faktoren aber eher als „Mindestanforderung“ (Seidel & sinnvoll, adaptiv (in Abhängigkeit von unterschiedlichen
Reiss 2014) verstanden, aus der alleine noch kein quali- Voraussetzungen und Kontextbedingungen) und für alle
tätsvoller Unterricht resultiert und ohne dass geklärt wäre, Lernenden gewinnbringend zu steuern, wird deutlich, wie
was der spezifische Beitrag dieser Eigenschaften für den komplex die Tätigkeit einer Lehrperson ist.
Lehrerberuf ist. Das Expertenparadigma beruht auf der Beurteilung
In der Folge wurde in neueren Forschungsansätzen von Lehrpersonen als mehr oder weniger kompetenten
die Perspektive erweitert: Man konzentrierte sich stärker Fachleuten (Expertinnen und Experten) für die „Kunst
auf die konkreten Aktivitäten des Lehrens in der Klasse des Unterrichtens“. Es geht aber nicht wie beim Per-
und die Interaktionsprozesse, in die eine Lehrkraft beim sönlichkeitsparadigma um Charaktereigenschaften oder
Unterrichten involviert ist. Das Prozess-Produkt-Paradigma Führungsstile, sondern um sogenannte „Lehrerexpertise“,
fragt nach der Beschaffenheit dieser Unterrichtsprozesse das berufsbezogene Wissen und Können sowie subjektive
und nimmt zudem deren Wirkungen in den Blick. Es Theorien und Überzeugungen (beliefs) von Lehrerinnen
stellt also beispielsweise die Auswirkung bestimmter und Lehrern (Bromme 1992/2014). In neueren Studien wur-
Verhaltensmuster und Fertigkeiten der Lehrenden, die im den diese professionellen Kompetenzen von Lehrkräften
Unterricht zum Einsatz kommen, auf Indikatoren des Schü- intensiv untersucht (Kunter et al. 2011; 7 Kap. 20). In der
lerverhaltens (z. B. Schülerleistung) in den Mittelpunkt. Mit aktuellen Forschung wird davon ausgegangen, dass das
diesem Forschungsansatz gelang es, Lehrerverhaltens- Prozess-Produkt-Paradigma und das Expertenparadigma
weisen zu identifizieren, die mit größeren Lernzuwächsen einander wechselseitig und gewinnbringend ergänzen.
18 einhergehen. Beispielsweise wurde geklärt, welche Form Nun mag man sich fragen, was die Paradigmen der
von Feedback wirkungsvoll ist, welche Arten von Arbeits- Unterrichtsforschung mit James Bond zu tun haben. Wir
aufträgen hilfreich sind und wie mit Unterrichtsstörungen haben dieses Beispiel gewählt, weil daran illustriert werden
wirksam umgegangen wird. Es zeigte sich aber auch, dass kann, wie sich die Forschung weiterentwickelt hat. Wie
das Unterrichtsgeschehen durch weitere Variablen beein- uns über viele Jahrzehnte vorgeführt wurde, gibt es nicht
flusst wird wie z. B. dem Vorwissen und dem fachlichen die eine Bond-Persönlichkeit: Jeder Darsteller hat der
Interesse der Schülerinnen und Schüler. Die Wirkungen Rolle sein eigenes Charisma verliehen und viele unter-
von Lehrerverhaltensweisen hängen also stark davon schiedliche Persönlichkeiten führten die Agententätigkeit
ab, auf welche Voraussetzungen sie bei Schülerinnen erfolgreich aus. Auch führte bei Bond nicht immer nur ein
und Schülern treffen und auch in welchen Kontexten bestimmtes Handeln (Prozess) zum immer gleichen Effekt
sie sich abspielen. Grundsätzlich lassen sich vier Arten (Produkt), sondern der Situation angemessenes Verhalten
von Variablen unterscheiden: Voraussetzungs-, Kontext-, begünstigte Agentenerfolge. Außerdem spielt Expertise
Prozess- und Produktvariablen (Dunkin & Biddle 1974). für das erfolgreiche Agentendasein eine große Rolle – Til
Zentrale Annahme ist, dass die Zusammenhänge zwi- Schweiger, der Novizen-Agent im Tatort, würde in den von
18.2  Modelle der Unterrichtsqualität
357 18
gen Forschungsstand über Bedingungen, Vernetztheit und
James Bond zu bewältigenden Situationen vermutlich an Konsequenzen des Unterrichts und soll explizit verhindern,
seine Grenzen stoßen. Übertragen gesprochen steckt also „guten Unterricht“ kurzschlüssig auf nur wenige Elemente im
in jeder Lehrperson ein bisschen Agent, der ein breites gesamten Wirkungsprozess zu reduzieren. Das Modell ist bei-
berufsbezogenes Wissen und Können braucht, um in spielsweise in der Lage zu erklären, warum guter Unterricht
verschiedenen Unterrichtssituationen erfolgreich handeln nicht unbedingt bei allen Schülerinnen und Schülern gu-
zu können. te Lernergebnisse bewirkt. Schulischer Lernerfolg wird hier
verstanden als ein Produkt aus dem Zusammenspiel vieler
Faktoren, wobei die Quantität und die Qualität von Un-
1 Das Angebot-Nutzungs-Modell terricht nur eine Auswahl davon darstellen. Die Nutzung
Im Anschluss an den Einblick in die Paradigmen der Un- des Unterrichtsangebots wird, so die Annahme, entschei-
terrichtsforschung wird nun ein Modell vorgestellt, das zur dend beeinflusst durch die Lernenden bzw. deren kognitive,
Analyse und Bewertung von Unterricht heute sehr verbreitet metakognitive und motivationale, soziale und kulturelle Vor-
und gut geeignet ist (. Abb. 18.1). Das sogenannte Angebots- aussetzungen. Die Bedeutung der individuellen Schülervor-
Nutzungs-Modell wurde maßgeblich von Helmke (2012) auf- aussetzungen wurde bereits in den 1980er-Jahren von Brophy
bauend auf mehreren Vorläufermodellen entwickelt. Wäh- und Good (1986) betont. Neuere empirische Untersuchungen
rend ältere Modelle davon ausgehen, dass Unterricht die belegen in diesem Zusammenhang die Bedeutung des Zu-
Lernergebnisse der Lernenden direkt beeinflusst (Bloom sammenspiels individueller Schülervoraussetzungen für un-
1976; Carroll 1963), bilden Angebots-Nutzungs-Modelle sehr terrichtliche Interaktionen (z. B. Jurik, Gröschner & Seidel
viel umfassender die Wechselwirkungen zwischen Lernen- 2013). In Helmkes (2012) Modell wird zudem deutlich, dass
den, Lehrenden sowie institutionellen und informellen Kon- Lernende mitverantwortlich für die Konstruktion ihres Wis-
textbedingungen schulischen Lernens ab. Unterricht wird sens sind.
hier als Angebot verstanden, das Lehrende für ihre Schü- Passend zu der oben dargestellten Multikriterialität von
lerinnen und Schüler machen, das aber nicht automatisch Unterricht werden im Angebot-Nutzungs-Modell die Erträge
in idealer Weise von ihnen genutzt wird. Zur Beschreibung des Unterrichts im Sinne von Lernergebnissen nicht ein-
und Erklärung der Faktoren, die beim Unterrichten eine dimensional beschrieben – es können fachliche und über-
Rolle spielen, sind solche theoretischen Modellvorstellungen fachliche Ergebnisse sein, beispielsweise Wissen und Kön-
sehr hilfreich, auch wenn sie die Realität im Klassenzimmer nen, Überzeugungen und Interessen bezüglich eines Faches
niemals vollumfänglich wiedergeben können oder wollen. oder überfachliche Kompetenzen wie etwa Lern- oder Pro-
Das Angebots-Nutzungs-Modell reflektiert den gegenwärti- blemlösestrategien. Im Blickpunkt stehen also nicht nur die

Familie
Lehrperson
Strukturelle Merkmale (Schicht , Sprache , Kultur, Bildungsnähe):
Professionswissen
Prozessmerkmale der Erziehung und Sozialisation
Fachliche,
didaktische, Unterricht
diagnostische und (Angebot)
Lernpotenzial
Klassenführungs-
Vorkenntnisse, Sprache(n), Intelligenz; Lern- und Gedächtnis-
kompetenz Prozessqualität des
strategien, Lernmotivation, Anstrengungsbereitschaft,
Unterrichts
Pädagogische Ausdauer, Selbstvertrauen
Orientierungen - Fachübergreifend
Erwartungen und Ziele - Fachspezifisch
Wahrnehmung Lernaktivitäten Wirkungen
Engagement , Geduld Qualität des und (Nutzung) (Ertrag)
und Humor Lehr-/Lern-Materials Interpretation
Aktive Lernzeit Fachliche Kompetenzen
und Unterricht
Fachübergreifende
Außerschulische Kompetenzen
Unterrichtszeit Lernaktivitäten
Erzieherische
Wirkungen der Schule

Kontext

Kulturelle Regionaler Schulform Klassen- Didaktischer Schulklima


Rahmenbedingungen Kontext Bildungsgang zusammensetzung Kontext Klassenklima

. Abb. 18.1 Modifiziertes Angebots-Nutzungs-Modell (nach Helmke 2012 zitiert nach Kunter & Trautwein 2013)
358 Kapitel 18  Unterrichtsqualität

„Freiarbeit“ zeigt: Lipowsky (2002) erläutert für die Grund-


(kognitive) Lern- und Leistungsentwicklung von Lernenden,
schule, dass offene Lernsituationen nicht generell, sondern in
sondern auch die Persönlichkeits- und motivational-affektive
Abhängigkeit von den Schülerinnen und Schülern, den Lehr-
Entwicklung. Darüber hinaus ist zu beachten, dass sich die
vielen Parameter im Modell (die verschiedenen Boxen in kräften, den Kontexten und den Inhalten wirken. Freiarbeit
. Abb. 18.1) von Fall zu Fall unterschiedlich auswirken kön-
ist auf Ebene der Sichtstruktur vermutlich leicht zu erkennen,
da sie durch bestimmte Verhaltensweisen charakterisiert ist.
nen: „Je nach fachlichem (und damit zugleich curricularem)
Wichtig ist die Ebene der darunterliegenden Prozesse (Tie-
Kontext ist mit qualitativen Unterschieden der Wirkungszu-
sammenhänge zu rechnen: Was für Mathematik/5. Klassen- fenstruktur) bei der Freiarbeit und damit die Qualität der
Lern- und Arbeitsprozesse: Werden Fragen gestellt, die kog-
stufe gilt, lässt sich nur begrenzt auf andere Fächer und/oder
Klassenstufen übertragen“ (Helmke 2002, S. 263). nitive Prozesse auslösen? Wird zum Elaborieren, Organisie-
Als Zwischenfazit aus den beiden vorangegangen Ab-ren und Zusammenfassen angeregt? Bietet sich das Lernma-
terial an, um bestimmte Fertigkeiten zu routinisieren? Gibt
schnitten ist festzuhalten, dass eine vordergründige Unter-
es auch in dem offenen Setting genügend Zielklarheit und
scheidung in „guten“ und „schlechten“ Unterricht schwierig
Struktur, damit alle Lernenden wissen, was sie zu tun haben?
ist, weil Unterricht von vielen Faktoren mitbestimmt wird.
All diese Aspekte können unter dem Begriff „Freiarbeit“ zu-
Was guten Unterricht ausmacht, lässt sich nur mit Bezug auf
sammengefasst werden – hier kann es große Unterschiede
Kriterien bestimmen: Beispielweise werden Lehrkräfte, die
geben, obwohl sich die Freiarbeit womöglich auf der Sicht-
auf möglichst großen durchschnittlichen Leistungszuwachs,
ebene für außenstehende Betrachter sehr ähnlich darstellt.
auf eine Verringerung von Leistungsunterschieden und die
Förderung von Selbstvertrauen in das eigene Lernen Wert Wir sehen also: Sichtstrukturen und Tiefenstrukturen
legen, beim Unterrichten auf andere Unterrichtsmerkmaledes Unterrichts variieren oft unabhängig voneinander. In ei-
ner Reihe von Studien gehen die Autorinnen und Autoren
setzen als Lehrkräfte, denen vor allem an der Entwicklung
sozialer Kompetenzen und Werthaltungen gelegen ist. Gu-noch einen Schritt weiter und schlussfolgern, dass es weniger
von Merkmalen der Sicht- als von Merkmalen der Tiefen-
ter Unterricht zeigt sich in einer gelungenen Kombination
von Unterrichtselementen bzw. dem jeweils angemessenen strukturen abhängt, ob Unterricht erfolgreich ist (z. B. Hattie
Umgang mit Gestaltungselementen angesichts bestimmter 2008; Seidel & Shavelson 2007). Für erfolgreichen Unter-
Voraussetzungen und Bedingungen (7 Kap. 17). richt im beschriebenen Sinne ist es deshalb wichtig, die Pro-
zesse zu benennen, die bestimmen, welche kognitiven und
1 Oberflächen- und Tiefenstrukturen von Unterricht motivational-affektiven Prozesse im Unterricht ausgelöst und
Für die Beschreibung und Planung von Unterricht ist die vorangetrieben werden. Welches sind also die Tiefenstruktu-
Unterscheidung zwischen Sicht- und Tiefenstrukturen des ren, die erfolgreichen Unterricht ausmachen? Eine wichtige
Unterrichts wichtig (Oser & Baeriswyl 2001). Einteilung, die sich in den letzten Jahren in der Forschung
etabliert hat, haben Klieme, Lipowsky, Rakoczy und Ratzka
(2006) in einem Projekt zum Mathematikunterricht vorge-
Sichtstrukturen (auch: Oberflächenstrukturen) können schlagen.
„direkt“ durch das Betrachten der Unterrichtssituation
erkannt werden. Dazu zählen z. B. die Sozialform (Einzel-
arbeit, Partnerarbeit, Gruppenarbeit, Plenumsunterricht),
18.3 Basisdimensionen der
der Medieneinsatz (z. B. Tafel, Buch, digitale Medien) oder
Redeanteile von Lehrpersonen sowie Schülerinnen und
Unterrichtsqualität
Schülern.
Zur Identifikation der Tiefenstrukturen ist es notwen- Nach umfangreichen theoretischen Vorarbeiten und der
18 dig, das Unterrichtsgeschehen stärker zu interpretieren. Konsultation der Ergebnisse einer Vielzahl von Studien kom-
Fragen, die sich dem Betrachter hier stellen sind z. B.: men Klieme et al. (2006) zu dem Schluss, dass vor allem drei
Wie kognitiv anregend ist der Unterricht? Gibt es eine Bereiche eine wichtige Rolle für die gut organisierte und kon-
„Fehlervermeidungskultur“ (Oser & Baeriswyl 2001), die struktive Gestaltung einer unterrichtlichen Lernumgebung
dazu führt, dass die Lernenden sich lieber nicht mit Fragenspielt: kognitive Aktivierung, Klassenführung und konstruk-
oder Vermutungen zu Wort melden, um nicht in die Gefahr tive Unterstützung werden als „Basisdimensionen guten Un-
zu geraten, einen (unerwünschten) Fehler zu machen? Wie terrichts“ verstanden, die wir im Folgenden erläutern wollen.
wertschätzend ist der Umgang miteinander? Diese sind als eine wichtige Grundlage für die Ausprägun-
gen von Unterricht zu verstehen, die sowohl konzeptuelles
Verständnis als auch die Motivation von Schülerinnen und
Es wäre naheliegend zu denken, dass das eine das andere Schülern fördern sollen.
bedingt: Lehrende, die auf der Sichtebene guten Unterricht Die theoretische Grundlage der drei Basisdimensionen
halten (also beispielsweise vielfältige Sozialformen einset- bilden Beiträge aus unterschiedlichen Forschungstraditionen
zen), sind auch hinsichtlich der Tiefenstruktur erfolgreich der letzten 50 Jahre, Arbeiten der Schuleffektivitätsforschung,
(z. B. anregen, aus Fehlern zu lernen). Dies hat sich aber in Arbeiten der empirischen Unterrichtsforschung sowie Arbei-
mehreren Studien als Fehlschluss erwiesen, wie das Beispiel ten in reformpädagogischer und fachdidaktischer Tradition.
18.3  Basisdimensionen der Unterrichtsqualität
359 18
In der Terminologie des Angebots-Nutzungs-Modells ist anschließenden Abschnitt genauer beschrieben – erreicht,
dabei bedeutsam, wie Schülerinnen und Schüler Angebote indem Störungen möglichst gar nicht erst aufkommen, in-
der Lehrperson bezüglich der drei Basisdimensionen in der dem z. B. alle Schülerinnen und Schüler in Lernaktivitäten
jeweiligen Unterrichtssituation nutzen und wie sich diese auf involviert werden, diese Aktivitäten reibungsfrei ineinander
ihr Lernen auswirken. übergehen und die Lehrkraft eine gewisse Allgegenwärtigkeit
Eine wichtige Grundüberlegung zum Erwerb von Wissen zeigt (Seidel 2015).
und konzeptuellem Verständnis ist das Konzept der kogni- Die im Folgenden genauer vorgestellten drei Basisdimen-
tiven Aktivität nach Mayer (2004, vgl. auch Renkl 2008). sionen sind als integrative Elemente zu verstehen, das heißt
Unterricht wird als „gut“ oder qualitativ hochwertig bezeich- durch eine positive Umsetzung einer Dimension kann eine
net, wenn er kognitive Aktivitäten auslöst, aufrechterhält andere ebenfalls positiv beeinflusst werden.
und steuert. Diese kognitiven Aktivitäten sollen ermöglichen,
dass Lernende Inhalten Relevanz zuschreiben, ein Verständ-
nis von Prinzipien entwickeln oder bestimmte Argumenta- Studie: „One lesson is all you need?“
tionen nachvollziehen und Anwendungsbezüge für erwor- Praetorius, Pauli, Reusser, Rakoczy und Klieme (2014) unter-
benes Wissen herstellen können. In der theoretischen Fun- suchten wie viele Unterrichtsbeobachtungen nötig sind, um
dierung von Unterrichtsqualität spielt es eine wichtige Rolle, eine verlässliche Aussage über die Ausprägung der drei Basis-
ob solche kognitiven Aktivitäten bei möglichst vielen Schü- dimensionen treffen zu können. Hierfür stuften die Forscherin-
lerinnen und Schülern einer Lerngruppe entstehen. Unter nen und Forscher je fünf Unterrichtsvideos von N D 38 Ma-
kognitive Aktivierung versteht man deshalb den Anregungs- thematiklehrkräften der achten und neunten Jahrgangsstufe in
gehalt von unterrichtlichen Maßnahmen für die Initiierung Deutschland und der Schweiz mithilfe von Items auf einer 4-
kognitiver Aktivität auf Seiten der Lernenden. stufigen Skala ein (von „trifft nicht zu“ bis „trifft zu“). Dabei zeig-
In vielen pädagogisch-psychologischen Forschungsarbei- te sich stabiles Lehrkraftverhalten bezüglich Klassenführung
ten wurde die kognitive Aktivierung als ein Faktor identifi- und konstruktiver Unterstützung über Unterrichtsstunden hin-
ziert, der hinter den beobachtbaren Aktivitäten stehen muss, weg. 63 % der beobachteten Varianz in der Klassenführung wa-
damit bedeutungsvolles Lernen für möglichst viele Schüle- ren an die unterschiedlichen Lehrpersonen gebunden, 13 % an
rinnen und Schüler stattfinden kann (Lipowsky 2015). Je unterschiedliches Verhalten der Lehrperson in ihren fünf Unter-
nach Anforderungen des Fachs können zielführende kogni- richtsstunden. Das heißt, die Lehrpersonen unterschieden sich
tive Aktivitäten sehr unterschiedlich sein. Im Mathematik- in hohem Maß in der Qualität ihrer Klassenführung, eine Lehr-
unterricht wird es beispielsweise sinnvoll sein, im Unterricht kraft, die Klassenführung aber einmal erfolgreich umsetzte, tat
statt Routineaufgaben anspruchsvolle und offene Aufgaben dies aber mit großer Wahrscheinlichkeit auch in den Folge-
mit verschiedenen Lösungswegen zu verwenden, während stunden. Bezüglich der konstruktiven Unterstützung konnten
Experimentieren im Naturwissenschaftsunterricht problem- sogar nur 5 % der Varianz durch stundenspezifisches Verhalten
basierte Lerngelegenheiten schafft, der Religionsunterricht erklärt werden – Lehrpersonen verhielten sich diesbezüglich
mit Bildern zeitgenössischer Kunst arbeiten oder der Litera- also sehr stabil. Ein anderes Bild zeigte sich für die kognitive
turunterricht zu kritischen Kommentaren anregen kann. Aktivierung: Hier waren lediglich 46 % der Varianz über die Un-
Als motivationstheoretische Grundlage der konstruktiven terrichtsstunden hinweg an die Lehrpersonen gebunden. Das
Unterstützung wird häufig auf die in der Selbstbestimmungs- heißt, eine Lehrkraft, der in einer Unterrichtsstunde kognitive
theorie der Motivation nach Ryan und Deci (2002) sowie Aktivierung entlang der Ratingkriterien gelang, konnte dies in
der pädagogisch-psychologischen Interessentheorie (Krapp einer Folgestunde nicht unbedingt erneut realisieren. Mithil-
2002) beschriebene Struktur von Bedingungen für selbstbe- fe der Generalizability Theory (Shavelson 2004), die überprüft,
stimmt motiviertes Lernen zurückgegriffen. Lernende profi- wie viele Messungen nötig sind, um eine verlässliche Aussage
tieren demnach besonders von einem Lernumfeld (z. B. Un- treffen zu können, kommt die Forschergruppe zu dem Schluss,
terrichtsangebot), das sie in ihrem Streben nach Autonomie, dass für die reliable Erfassung von kognitiver Aktivierung neun
Kompetenzerleben und sozialer Eingebundenheit unterstützt Unterrichtsobservationen nötig sind. Es bedarf also zahlreichen
und damit ein positives emotionales Erleben wahrschein- Beobachtungen, um ein verlässliches Bild über die Umsetzung
lich macht. Eine Vielzahl von Studien weist darauf hin, dass kognitiv aktivierender Maßnahmen im Unterricht zu erhalten,
beispielsweise wertschätzende Beziehungen zwischen Lehr- während zur Erfassung der beiden anderen Dimensionen je-
kräften und ihren Schülerinnen und Schülern, positive und weils eine Beobachtung genügt.
informative Rückmeldungen sowie Freiheitsgrade beim Ler- Die vorgestellte Studie zeigt, dass Klassenführung und kon-
nen und Arbeiten, selbstbestimmte Motivation im Unterricht struktive Unterstützung einer höheren Stabilität zu unterliegen
fördern (7 Kap. 11). scheinen, während kognitive Aktivierung stärker stundenspe-
Als grundlegend wird schließlich die Dimension Klas- zifisch ausfällt. Umso wichtiger ist es, dass Lehrpersonen ein
senführung (classroom management) angesehen. Klassenfüh- fundiertes Wissen über die Umsetzungsmöglichkeiten der Ba-
rung fasst Maßnahmen zusammen, die von der Lehrkraft er- sisdimensionen haben, um situationsangemessen in der einzel-
griffen werden, damit den Schülerinnen und Schülern mög- nen Unterrichtsstunde, aber auch stabil über die Zeit hinweg
lichst viel Lernzeit zur Verfügung steht. Dies wird – wie im Unterrichtsqualität zu erzeugen.
360 Kapitel 18  Unterrichtsqualität

18.3.1 Klassenführung Im Folgenden stellen wir die Schlüsselfunktionen von


Klassenführung vor.
Definition: Klassenführung
1 Regeln und Normen
Die Basisdimension Klassenführung beschreibt, inwiefern Wie die Definition von Klassenführung verdeutlicht, ist eine
die Lehrperson für einen strukturierten, klaren und wichtige Funktion dabei, Unterricht möglichst störungsarm
störungspräventiven Unterricht sorgt, um maximal zu halten. Studien zeigten in diesem Zusammenhang, dass
mögliche Unterrichtszeit zur Auseinandersetzung mit störungsarmer Unterricht positiv mit dem Lernen von Schü-
Lerninhalten zu gewährleisten (Weinert 1996). lerinnen und Schülern zusammenhängt (Kunter et al. 2007;
Rakoczy 2007). Je geringer das unterrichtliche Störungsauf-
Gelingende Klassenführung ist ein zentrales Element kommen, desto höher schätzen Schülerinnen und Schüler
für die Berufszufriedenheit von Lehrpersonen (Dicke et al. ihre kognitiven Aktivitäten und Herausforderungen sowie ihr
2015). In der Vorstellung von Lehramtsstudierenden ist Klas- positives emotionales Erleben im Unterricht ein.
senführung in den ersten schulpraktischen Erfahrungen häu- Regeln und Normen, die von der Lehrperson gemein-
fig entscheidend für erlebte Erfolge und Misserfolge. Dabei sam mit den Lernenden entwickelt und etabliert werden,
fällt auf, dass Studierende Klassenführung häufig gleichset- bilden eine Grundlage um Störungen vorzubeugen. Außer-
zen mit Disziplinierung oder gekonntem Bestrafen. Im Fol- dem ist es bei klaren Regeln leicht nachzuvollziehen, wann
genden möchten wir diese eingeschränkte Sicht auf Klassen- und warum Lehrkräfte Disziplinierungsmaßnahmen anwen-
führung genauer beleuchten und aufzeigen, warum Diszi- den. Schönbächler (2006) konnte in diesem Zusammenhang
plinierungsmaßnahmen im Unterrichtsgeschehen nur dann Folgendes zeigen: Schülerinnen und Schüler (N D 923), die
eingesetzt werden sollten, wenn das normale unterrichtliche zu den wichtigsten Regelsystemen im Klassenzimmer befragt
Handwerkszeug, das wir in diesem Abschnitt vorstellen wer- wurden, gaben an, dass Regeln im Bereich Ordnung/Ruhe
den, nicht mehr ausreicht. Klassenführung ist eine komplexe am bedeutendsten waren (61,6 % der Nennungen), Lehr-
Tätigkeit, die Lernsituationen rahmt und viel mehr ist als nur personen (N D 605) hingegen schätzten Regeln bezüglich
Disziplinierung. Sie ist als eine integrative und präventive Di- sozialer Interaktionen als die wichtigsten ein (48,4 % der
mension zu verstehen, beinhaltet den Blick auf viele Aspekte Nennungen). Regelklarheit bezüglich der Interaktionen im
des Unterrichts und ist viel mehr als nur das Disziplinieren Klassenverband wird in der Literatur auch als wichtig für die
von Störverhalten. kognitive Aktivierung herausgestellt (z. B. Walshaw & An-
thony 2008). Durch ein explizites Klären von Regeln und
Im Fokus: Ein Beispiel aus der Medizin Verantwortlichkeiten wird sichergestellt, dass Schülerinnen
und Schüler wissen, wann und wie von ihnen erwartet wird,
Bei einem Patienten wird Bluthochdruck diagnostiziert. am Unterrichtsgeschehen aktiv teilzunehmen, und was Stö-
Selbstverständlich ist zum Zeitpunkt der Diagnose eine rungen vorbeugen kann (7 Kap. 21).
Behandlung der Symptome nötig, damit es nicht zu weit- Neben der Transparenz von Regeln erwies sich die Ad-
reichenderen Folgen kommt. Auf längere Sicht gesehen aptivität und Flexibilität von Lehrpersonen in unerwarteten
wird ein guter Arzt sich in dieser Situation aber immer auf Unterrichtssituationen als positiv prädiktives Merkmal für
Ursachensuche begeben und den Patienten nach seiner Vor- Schülerleistungen. Beispielsweise ließ die adaptive und flexi-
geschichte und Lebensweise befragen. Anschließend wird ble Reaktion auf fehlendes Vorwissen (etwa Inhalte spontan
der Arzt Empfehlungen aussprechen, welche Maßnahmen zu wiederholen, wenn dies angezeigt ist) eine Vorhersage da-
der Ursache des Bluthochdrucks begegnen, um ungesunde rüber zu, wie gut die Lernenden ihre Lehrkraft akzeptierten
Verhaltensweisen möglichst einzudämmen. Beim Übertra- (Neuenschwander 2006). Auf Möglichkeiten der adaptiven
18 gen dieser Diagnosesituation auf das Klassenzimmer – und Unterrichtsgestaltung wird im letzten Teil dieses Kapitels ge-
hier im Speziellen auf die Klassenführung – gilt es, gleiche nauer eingegangen.
Überlegungen anzustellen: Wann ist es nötig Symptome,
also z. B. das „Fehlverhalten“ einer Schülerin oder eines 1 Management von Lernzeit
Schülers, zu behandeln und Disziplinierungsmaßnahmen Neben dem Geringhalten von Störungen ist das Management
wie z. B. Ermahnungen oder time outs anzuwenden? Wann von Lernzeit eine weitere Schlüsselfunktion von Klassenfüh-
ist es nötig, an den Ursachen anzusetzen, also z. B. an der rung. Darunter werden Maßnahmen verstanden, die von der
Langeweile, die durch mangelnde Stringenz des Lehrervor- Lehrperson getroffen werden, um die Lernzeit für die Ausein-
trags oder fehlende Klarheit von Arbeitsaufträgen entsteht? andersetzung mit Lerninhalten (time on task) zu maximieren.
Diese Langeweile mit ihren Ursachen könnte als Ergebnis Zum Management von Lernzeit gehört, dass Lehrende sowie
eines diagnostischen Prozesses erkannt worden sein und Schülerinnen und Schüler pünktlich zum Unterricht kom-
ihr könnte durch entsprechende Maßnahmen vorgebeugt men und dass in einem für möglichst viele angemessenen
werden – beispielsweise durch eine stringentere, besser Tempo vorgegangen wird (da vermeintlich effizientes, zügiges
geplante und durchdachte Vorgehensweise der Lehrper- Vorgehen häufig mit Extraschleifen verbunden ist, weil eini-
son und durch besser organisierte Anweisungen für die ge Lernende den Anschluss verloren haben). Auch das Poolen
Schülerarbeitsphasen. von Stunden zu Doppeleinheiten kann helfen, aktive Lernzeit
zu maximieren – beispielsweise in Fächern, in denen Aufbau-
18.3  Basisdimensionen der Unterrichtsqualität
361 18
arbeiten nötig sind, z. B. für anschließendes Experimentieren. weiterung und Verständnis legte), zu einer an Performanzzie-
Es konnte gezeigt werden, dass großzügig bemessene Lernzeit len (Fokus auf die Demonstration von Kompetenzen und das
positiv mit der Aufmerksamkeit der Schülerinnen und Schü- Verbergen von Kompetenzdefiziten) orientierten Lehrperson
ler zusammenhängt (Brophy & Good 1986). bewirkte, dass Schülerinnen und Schüler sich angesichts der
Die Strukturierung von Unterricht sowie eine explizite größeren Bedeutung von Leistungssituationen im Unterricht
Orientierung an Lernzielen, die Schülerinnen und Schülern nach dem Wechsel stärker störend und unberechenbarer ver-
transparent gemacht werden, gelten als wichtige Gestaltungs- hielten (7 Kap. 11).
kriterien, um maximale Lernzeit bereitzustellen. Der Unter- Als Zwischenfazit lässt sich sagen, dass die Schlüssel-
richt von diesbezüglich erfolgreichen Lehrpersonen zeichnet funktionen von Klassenführung zumeist präventiv orientiert
sich aus durch ein für die Lernenden explizites Lernziel, sind, Störungen also durch die Umsetzung bestimmter Un-
einen roten Faden durch den Unterrichtsverlauf und klare terrichtsqualitätsmerkmale wie z. B. einer expliziten Orien-
Arbeitsanweisungen (Mayr 2006). Obwohl die positive Wir- tierung an Lehr- und Lernzielen oder einer Trennung von
kung der genannten Aspekte auf die Lernentwicklung von Lern- und Leistungssituationen vorgebeugt werden kann.
Schülerinnen und Schülern gezeigt wurde (Seidel, Rimme-
le & Prenzel 2005), werden Ziele im deutschen Unterricht1 Techniken der Klassenführung nach Kounin
häufig nur unzureichend explizit gemacht (Seidel 2011). Der- In Bezug auf Klassenführungselemente auf der konkreten
zeit gibt es Bestrebungen in der Lehrerbildung, Studierende Handlungsebene leistete Kounin (1976/2006) Pionierarbeit.
bereits in der ersten Phase der Ausbildung bezüglich die- Er begann bereits in den 1950er Jahren dazu zu forschen,
ser Komponente zu schulen. Dabei konnte gezeigt werden, auch heute noch sind seine „Techniken der Klassenführung“,
dass Studierende, die im Rahmen eines Praxissemesters ein die wir in diesem Abschnitt vorstellen wollen, von großer
diesbezügliches Begleitseminar besuchten, ihre professionel- Relevanz. Kounin begann seine ausgiebigen Forschungen
le Unterrichtswahrnehmung mit Blick auf die Orientierung nach einer persönlichen Erfahrung als Hochschullehrer: In
an Lernzielen verbesserten (Stürmer, Könings & Seidel 2013). einer seiner Veranstaltungen las einer der Studierenden Zei-
tung, woraufhin Kounin diesen öffentlich maßregelte. Als
1 Lernförderliches Klassenklima Konsequenz musste er feststellen, dass sich daraufhin alle
Eine weitere präventive Schlüsselfunktion von Klassenfüh- Studierenden wesentlich zurückhaltender verhielten, weniger
rung ist es, durch entsprechende Lernbegleitung ein lern- an Gesprächen teilnahmen und auf ihre Unterlagen starr-
förderliches Klassenklima herzustellen und damit Störun- ten. Die Beobachtung dieser unbeabsichtigt hervorgerufenen
gen vorzubeugen. Um Lernprozesse begleiten zu können ist Verhaltensweisen veranlasste ihn dazu, Maßnahmen zur Dis-
es wesentlich, dass die Lehrperson externe (also sichtbare) ziplinierung genauer zu erforschen und auf dieser Grundlage
Lernaktivitäten beobachtet und interne (also nicht sichtba- seine Techniken zu entwickeln (. Abb. 18.2).
re) Lernprozesse diagnostizieren kann. Vor allem Letzteres Kounins Techniken stehen im Einklang mit den im vor-
ist nur dann möglich, wenn Schülerinnen und Schüler die angegangen Abschnitt hervorgehobenen hauptsächlich prä-
Möglichkeit erhalten, ihre Lernprozesse öffentlich zu ma- ventiven Maßnahmen von Klassenführung – er kam ebenfalls
chen, das heißt sich aktiv zu beteiligen, eigene Ideen zu äu- zur Erkenntnis, dass nicht die Art der Disziplinierungsmaß-
ßern sowie Erklärungen, Fragen und Probleme einzubringen. nahmen bei Störungen entscheidend ist, sondern vielmehr
Walshaw und Anthony (2008) regen in diesem Zusammen- eine strukturierte und kognitiv aktivierende Gestaltung von
hang an, Verantwortlichkeiten für die aktive Partizipation Lernumgebungen. Verglichen werden kann dies mit einem
am Unterrichtsgeschehen zu klären: Für Schülerinnen und Auto, das mit den vier Rädern „Allgegenwärtigkeit und
Schüler ist es wichtig zu wissen, dass von ihnen erwartet Überlappung“, „Reibungslosigkeit und Schwung“, „Grup-
wird, am Unterrichtsgeschehen teilzunehmen, sie von der penmobilisierung“ sowie „Abwechslung und Herausforde-
Lehrperson aber auch die Möglichkeit dafür eingeräumt be- rung“ fährt und lediglich den Ersatzreifen „Disziplinierungs-
kommen (7 Kap. 21). Diesbezüglich konnte gezeigt werden, maßnahmen“ im Kofferraum hat.
dass Schülerinnen und Schüler in stark von der Lehrperson
dominierten Interaktionen über ein geringeres Autonomie-1 Allgegenwärtigkeit und Überlappung
empfinden berichten, was wiederum die Wertschätzung der Mit Allgegenwärtigkeit meint Kounin, inwiefern Lehrende
Beziehung zur Lehrperson negativ beeinflusst (Rakoczy 2007; Omnipräsenz im Klassenzimmer zeigen und den Lernenden
Seidel et al. 2005). Eine wechselseitig wertschätzende Bezie- klar ist, dass ihre Lehrperson über alle Geschehnisse im Un-
hung stellt allerdings eine wichtige Grundlage für störungs- terricht informiert ist. Eine hohe Allgegenwärtigkeit hängt
armen Unterricht dar. positiv mit dem Mitarbeitsverhalten und negativ mit dem
Um für ein lernförderliches Klassenklima zu sorgen und Störverhalten von Schülerinnen und Schülern zusammen.
zur Partizipation zu ermutigen, ist es von zentraler Bedeu- Mit der Allgegenwärtigkeit geht die Überlappung einher, die
tung, Lern- von Leistungssituationen zu trennen. Einen in- beschreibt, dass die Lehrperson mehrere Dinge im Klassen-
teressanten Befund dazu stellen Turner und Patrick (2004) zimmer gleichzeitig im Blick hat und darauf reagiert. Am
vor: In einer Klasse wurde das Schülerverhalten vor und nach Beispiel eines während einer Lernaktivität auftretenden Stör-
einem Lehrerwechsel betrachtet. Der Wechsel von einer Lehr- verhaltens (also zweier überlappender Ereignisse) wäre in
kraft, die Lernziele betont (also den Fokus auf Kompetenzer- diesem Sinne eine gute Reaktion, dass die Lehrperson das
362 Kapitel 18  Unterrichtsqualität

Disziplinierung Fähigkeit des Lehrenden, bei Störungen auf eine klare, feste und nicht zu harte Weise zu reagieren.

Verdeutlichung an die Lernenden, dass die Lehrkraft über Situationen im Klassenzimmer stets informiert
Allgegenwärtigkeit
ist und gegebenenfalls einschreiten wird; sowie die Fähigkeit, bei gleichzeitig auftretenden Problemen die
und Überlappung
Aufmerksamkeit simultan auf mehrere Dinge zu richten.

Reibungslosigkeit Fähigkeit des Lehrenden, für einen flüssigen Unterrichtsverlauf zu sorgen und speziell in Übergangsphasen
und Schwung für eine fortgesetzte Auseinandersetzung mit den Lerninhalten zu sorgen.

Fähigkeit des Lehrenden, sich auf die Gruppe als Ganzes zu konzentrieren; gleichzeitig aber auch
Gruppenmobilisierung
die Fähigkeit, die einzelne Schülerin und den einzelnen Schüler individuell zu unterstützen.

Abwechslung und Fähigkeit des Lehrenden, die Lernaktivitäten (insbesondere in Stillarbeitsphasen) so zu gestalten, dass sie
Herausforderung abwechslungsreich und herausfordernd erlebt werden.

. Abb. 18.2 Merkmalsbereiche einer effektiven Klassenführung (nach Kounin 1976/2006) übernommen aus Seidel & Schindler (2018)

Fehlverhalten nur kurz und bündig ermahnt, sich dann aber unterschätzen, von Mobilisierung im Sinne einer Integration
schnell wieder der Lernaktivität widmet. Eine stärkere Fokus- in Interaktionen profitieren (Huber et al. 2015) (7 Kap. 11).
sierung der Lernaktivitäten anstelle der Störungen begünstigt
laut empirischer Ergebnisse die Mitarbeit von Schülerinnen1 Abwechslung und Herausforderung
und Schülern, was im Einklang mit den Befunden zum time Neben dem binnendifferenzierenden Charakter von Lern-
on task steht (Weinert & Helmke 1997). material ist es zudem von Relevanz, wie abwechslungsreich
und herausfordernd das Material für die Lernenden ist. Ei-
1 Reibungslosigkeit und Schwung ne abwechslungsreiche und herausfordernde Lernumgebung
Als reibungslos und schwungvoll ist Unterricht anzusehen, variiert verschiedene Sozialformen, bezieht das gesamte Klas-
dessen Verlauf strukturiert entlang eines roten Fadens ver- senzimmer als Lernort mit ein, ist intellektuell heraus- aber
läuft und damit zur fortgesetzten Auseinandersetzung der nicht überfordernd und anschaulich gestaltet. Auch für die-
Schülerinnen und Schüler mit den Lerninhalten führt. Auch se beiden Aspekte konnte Kounin positive Zusammenhänge
dies wirkt sich gemäß Kounins (1976/2006) Befunden positiv mit dem Schülerverhalten feststellen.
auf die Mitarbeit sowie das Ausbleiben von Störungen aus.
Um die Reibungslosigkeit zu gewährleisten, ist vor allem die1 Disziplinierungsmaßnahmen
Orientierung an einem Lernziel unabdingbar (Seidel 2011). Mit der letzten Technik beschreibt Kounin das, was wir als
„Ersatzreifen“ bezeichnet haben, d. h. die Frage der Gestal-
1 Gruppenmobilisierung tung von Disziplinierungsmaßnahmen, um unerwünschten
Eine wichtige Aufgabe der Lehrperson besteht darin, mög- Störungen zu begegnen. Die Modifikation pädagogisch un-
18 lichst viele Schülerinnen und Schüler zu mobilisieren und erwünschten Verhaltens hat eine lange Tradition in der For-
sie in den Unterricht einzubinden. Dies bedeutet im Sinne schung zum Lernen von Verhalten bzw. operanten Kondi-
des Angebot-Nutzungs-Modells erstens, binnendifferenzier- tionieren (7 Kap. 1). Die Lehrperson sollte auf eine klare,
tes Lernmaterial für Schülerinnen und Schüler mit unter- feste und nicht zu harte Weise reagieren. Klarheit meint da-
schiedlichen kognitiven und affektiven Voraussetzungen be- bei die Konkretheit der Information, die dem Lernenden bei
reitzustellen, und zweitens, die Lernenden in Interaktionen einer Maßregelung gegeben werden. So wird unterschieden
zu involvieren. Dies ermöglicht, dass Lernende aktiv gemäß zwischen einer wenig ratsamen informationsarmen Diszipli-
ihrer Voraussetzungen eingebunden sind. Sie haben die Mög- nierung („Lass das“), einer verhaltensbenennenden Diszipli-
lichkeit, sich mit dem Lerngegenstand auseinanderzusetzen nierung („Du sollst nicht mit deinem Nachbarn sprechen“)
und neigen dadurch weniger zu Störungen. In diesem Zu- und einer konstruktiven Disziplinierung, die Hinweise für
sammenhang zeigte sich, dass Lehrpersonen häufiger mit weiteres Verhalten gibt („Bitte konzentriere dich auf deine
Schülerinnen und Schülern mit günstigen Voraussetzungen Aufgabe“).
wie z. B. einem positiven Fähigkeitsselbstkonzept interagie- Daneben ist die Festigkeit ein weiterer Aspekt der Qualität
ren (Jurik, Gröschner & Seidel 2014). Neuere empirische einer Disziplinierungsmaßnahme. Dies meint, mit welcher
Befunde zeigen, dass vor allem Lernende, die über günstige Ernsthaftigkeit die Lehrperson die Maßnahme vornimmt, al-
kognitive Voraussetzungen verfügen, aber ein geringes Fähig- so z. B. durch Blickkontakt die Festigkeit bis zur Beendigung
keitsselbstkonzept haben und sich und ihre Leistungen eher des Fehlverhaltens untermauert.
18.3  Basisdimensionen der Unterrichtsqualität
363 18
Während bei Klarheit und Festigkeit „je mehr desto bes- Einbezug des Vorwissens auf Individualebene, dass Schüle-
ser“ gilt, ist dies beim dritten Charakteristikum von Diszipli- rinnen und Schüler mit geringem Vorwissen davon profi-
nierungsmaßnahmen anders: Unter Härte wird das gezeigte tierten, wenn Lerninhalte klar strukturiert waren. In einem
Maß an Aggressivität verstanden (z. B. Zorn durch böse Bli- zweiten Schritt zeigte sich, dass die kognitive Aktivität ein
cke oder angedrohte Strafen). Von dieser sollte nur soweit wie Prädiktor der Leistungsentwicklung war, wenn das individu-
gerade zur Durchsetzung der Maßnahme nötig Gebrauch ge- elle Vorwissen mit einbezogen wurde. Das bedeutet, dass bei
macht werden. einer höheren (wahrgenommenen) kognitiven Aktivität die
Schülerinnen und Schüler ihr Vorwissen verstärkt nutzen,
was sich wiederum positiv auf die Leistung auswirkt.
18.3.2 Kognitive Aktivierung
Im Fokus: Strukturierungsmaßnahmen

Definition: Kognitive Aktivierung (u. a. Lipowsky 2007)


Kognitive Aktivierung bezeichnet all diejenigen Maß- 4 Klarheit von Lernmaterial: Adäquate Sprechgeschwin-
nahmen, welche die Lehrperson unternimmt, um die digkeit und -lautstärke, ein angemessenes Vokabular,
Schülerinnen und Schüler zur aktiven und tiefergehenden deutlich lesbare und übersichtliche Tafelanschriften sind
Auseinandersetzung mit Lernmaterialien anzuregen wichtige strukturierende Voraussetzungen für kognitiv
(Klieme et al. 2006). aktivierenden Unterricht. Ebenso essentiell ist die Qua-
lität von Arbeitsaufträgen: klare Formulierungen helfen
Lernenden zweifelsfrei zu wissen, was sie zu tun haben.
Grundlegende Annahmen des strukturierten Wissenser-
Entsprechende zum Lernziel passende Lernmateriali-
werbs (7 Kap. 2) werden auch für die Qualität von Unterricht
en, z. B. Arbeitsblätter, unterstützen beim Verstehen,
angenommen: Im Rahmen eines kognitiv aktivierenden Un-
Wiederholen oder Vertiefen von Lerninhalten.
terrichts können Schülerinnen und Schüler neues Wissen
4 Explizite Orientierung an Lernzielen ermöglichen: Um
an Vorwissen anknüpfen (organisierende Prozesse), Lern-
Lernanforderungen übernehmen zu können, brauchen
inhalte tiefgehend verarbeiten (elaborierende Prozesse) und
Lernende vor den eigentlichen Lerntätigkeiten einen
dargebotene Inhalte durch eine hohe Strukturierung nach-
Überblick über Lernziele: Je nach Altersstufe kann man
vollziehen (nachvollziehende Prozesse; Bransford & Dono-
mit Schülerinnen und Schülern anhand des Lehrplans
van 2005). Mayer (2004) postuliert, dass die Qualität von
besprechen, was in einem Schuljahr oder zu einem
Aktivitäten im Unterricht danach beurteilt werden sollte, in
bestimmten Thema verlangt ist und wie diese Ziele
welchem Umfang sie kognitive Verarbeitungsprozesse ansto-
erreicht werden können. Lernziele können auch anhand
ßen und zulassen. Im Sinne des Angebots-Nutzungs-Modells
von Beispielen und Alltagsbezügen veranschaulicht
gilt auch hier: Die Lehrkraft macht ein bestimmtes Angebot,
werden.
was bei entsprechender Qualität die Schülerinnen und Schü-
4 Gliedern, Zusammenfassen und Sichern: Es fällt Lernen-
ler wahrscheinlicher dazu anregt, kognitiv aktiv zu werden.
den dann leichter dargebotene Inhalte nachzuvollziehen
Im Folgenden stellen wir einige Qualitätsmerkmale vor, die
und zu elaborieren, wenn diese klar gegliedert sind.
im Zusammenhang kognitiver Aktivierung diskutiert wer-
Dafür ist es hilfreich, Teilschritte und -ergebnisse zusam-
den.
menzufassen und explizit zu sichern. In Übungs- und
Konsolidierungsphasen können so u. a. Unklarheiten
1 Strukturiertheit
im Lerngeschehen identifiziert werden. Abschließende
Wie bereits in 7 Abschn. 18.3.1 dargestellt, bilden Klarheit
Zusammenfassungen können das Einprägen zentraler
und Strukturiertheit eine wesentliche Grundlage für effekti-
Aspekte sowie das Anregen weiterer Fragen zum Thema
ven Unterricht. Lerninhalte, die systematisch organisiert sind
unterstützen.
und nachvollziehbar präsentiert werden, können schnell und
effizient verstanden und an Vorwissen angeknüpft werden. In
zahlreichen Studien zeigte sich ein positiver Zusammenhang
der Strukturiertheit des Unterrichts mit der Leistungsent-1 Aufgabenformate und Experimente
wicklung sowie dem motivationalen Erleben von Schülerin- Ein wichtiger Aspekt eines hochwertigen Unterrichts ist die
nen und Schülern (Rakoczy et al. 2007; Seidel & Shavelson Qualität von Aufgaben. Dabei geht es darum, inwiefern ei-
2007). Wie bereits berichtet, konnte für die Strukturiertheit ne Aufgabe offen ist, das heißt mehrere Lösungswege zulässt,
von Unterricht gezeigt werden, dass diese als wesentlicher herausfordernd aber nicht überfordernd ist und – im Sinne
Prädiktor für störungsarmen Unterricht gilt (Helmke & Wei- der kognitiven Aktivierung – das Vorwissen der Schüler ak-
nert 1997). Rakoczy, Klieme, Lipowsky und Drollinger-Vetter tiviert und mit einbindet. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist,
(2010) untersuchten, inwiefern eine stärkere Strukturiertheit dass Aufgaben in den roten Faden des Unterrichtsverlaufs
prädiktiv für die durch die Lernenden selbst berichtete kog- passend eingebettet werden und in ihrem Niveau den vor-
nitive Aktivität im Unterricht ist. Auf Klassenebene konnten angegangenen Theorieelementen entsprechen (Drollinger-
keine Effekte nachgewiesen werden, allerdings zeigte sich bei Vetter 2011).
364 Kapitel 18  Unterrichtsqualität

Ergebnisse der ersten TIMS-Studie (Trends in Internatio- entfällt (Seidel 2011). In diesem Zusammenhang konnte häu-
nal Mathematics and Science Study) zeigten im Zusammen- fig das Muster Initiation – Response – Follow-up identifiziert
hang mit der Aufgabenqualität, dass nur etwa jede zehnte vi- werden (Mercer & Dawes 2014). Die Lehrperson beginnt da-
deographierte Mathematikstunde Aufgaben beinhaltete, die bei meist mit einer Frage, woraufhin eine Schülerin oder ein
mehrere Lösungsansätze zuließen (Baumert et al. 1997). Zu Schüler antwortet und ein Feedback durch die Lehrperson
ähnlichen Ergebnissen kam auch die TIMSS-Erhebung im erfolgt (Cazden 2001). Dieses Muster ist nicht per se als pro-
Jahr 2000, in der die Schülerinnen und Schüler sehr häufig blematisch zu sehen, sondern seine Lernförderlichkeit hängt
berichteten, im Mathematikunterricht zumeist Informatio- vielmehr von seiner Qualität ab, die maßgeblich durch die
nen von der Tafel abzuschreiben, Gleichungen prozedural Qualität der Lehrerfrage gesteuert wird (Chin 2006). Ist die
zu lösen oder ihrer Lehrkraft beim Lösen von Aufgaben zu- Frage der Lehrperson geschlossen und erzwingt damit ein
zusehen (Baumert & Köller 2000). Auch zwölf Jahre später bestimmtes Stichwort, zeigen Studien negative Auswirkun-
berichteten im Rahmen von PISA nur 10 % der Schülerinnen gen unter anderem auf die Lernmotivation von Schülerinnen
und Schüler, dass Aufgaben im Mathematikunterricht einge- und Schülern (z. B. Jurik et al. 2014). Auch lassen stichworter-
setzt wurden, die mehr als einen offensichtlichen Lösungsweg zwingende Fragen nur eine geringe Beteiligung zu, die sich
zuließen (Schiepe-Tiska et al. 2013). wiederum als positiver Prädiktor für die wahrgenommene
Für den Physikunterricht konnte zudem gezeigt werden, kognitive Aktivierung von Schülerinnen und Schülern erwie-
dass Experimente dazu beitragen können, Schülerinnen und sen hat. Oliveira (2010) postuliert in Übereinstimmung mit
Schüler kognitiv zu aktivieren. Tesch (2005) sowie Seidel et al. den Kriterien kognitiv aktivierenden Unterrichts (Bransford
(2007) fanden allerdings Hinweise darauf, dass Experimente & Donovan 2005), dass eine anregende Frage offen, heraus-
zumeist lehrergesteuert und phänomenpräsentierend einge- fordernd und verknüpfend sein sollte. Durch solche Fragen
setzt wurden – d. h. in einer Weise, in der ihr Potenzial zur wird eine Verknüpfung mit vorhandenem Vorwissen geför-
kognitiven Aktivierung oft nicht genutzt wird. Laut Schüler- dert und Schülerinnen und Schüler können darauf aufbauend
angaben in PISA 2006 finden eigene Experimente nur in etwa neue Ideen elaborieren.
jeder fünften Unterrichtsstunde statt und sind dann zumeist Zusammenfassend lässt sich über Aufgaben, Experimente
ebenfalls durch die Lehrperson vorstrukturiert. Nur 14 % der und Lehrerfragen sagen, dass sie von herausragender Bedeu-
Schülerinnen und Schüler gaben an, eigene Experimente zu tung für die kognitive Aktivierung sind. Entscheidender als
entwickeln. die Häufigkeit des Einsatzes ist dabei, wie gut diese Elemente
Diese Befunde zeigen, dass für die untersuchten Fächer eingesetzt werden. So kann eine einzige gut im Unterrichts-
durchaus Nachbesserungsbedarf besteht, wenn man die Idee verlauf eingebettete offene Lehrerfrage eine darauffolgende
der kognitiven Aktivierung ernst nimmt und Lernende zum produktive Schülerdiskussion anstoßen, im Rahmen derer
Organisieren und Elaborieren von Wissen anregen möchte Schülerinnen und Schüler ihre Ideen offenbaren und ausbau-
(7 Kap. 4). Ein prominentes Projekt in diesem Zusammen- en.
hang ist der bundesweite Modellversuch SINUS (Steigerung
der Effizienz des mathematisch-naturwissenschaftlichen Un- Im Fokus: Gestaltung von Aufgaben- und Frageformaten?
terrichts; Prenzel 2000), in dem Lehrpersonen in Reaktion auf
die PISA- und TIMSS-Ergebnisse im Rahmen von elf Modu- 4 Mehrere Antwortmöglichkeiten zulassen: „Ist 2 oder 4
len unter anderem an der Aufgabenkultur im mathematisch- größer?“ oder „Erkläre warum 4 größer ist als 2!“ Dieses
naturwissenschaftlichen Unterricht arbeiteten. Forschungs- einfache Beispiel verdeutlicht, wie unterschiedlich
befunde zeigen, dass die Schülerinnen und Schüler durch eine Frage bezüglich ihres Potentials zu kognitiver
die Teilnahme ihrer Lehrpersonen an diesem Programm im Aktivierung formuliert sein kann. Während bei der
Vergleich zur PISA-Kontrollgruppe ein gesteigertes Interes- ersten Frage als Antwortmöglichkeit nur die 2 oder 4
18 se und höhere Kompetenzen in Naturwissenschaften und bleibt (und damit auch eine 50 % Ratechance), lässt
Mathematik aufwiesen (Prenzel, Carstensen, Senkbeil, Oster- die zweite Arbeitsanweisung Raum für verschiedene
meier & Seidel 2005). Die im vorangegangenen Abschnitt für elaboriertere Schülerantworten wie z. B. „Die 4 ist größer,
den mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht be- weil sie auf dem Zahlenstrahl weiter rechts liegt“ oder
schriebene Situation ist dort im Vergleich zu anderen Fächern „Die 4 ist größer, weil 2 C 2 4 ergibt“ oder „Die 4 ist
am besten untersucht – es ist jedoch naheliegend anzuneh- größer, weil 2  2 4 ergibt“ oder „Die 4 ist größer, weil
men, dass es derartige Problemlagen auch in anderen Fächern wenn ich 4 Äpfel esse satter werde als wenn ich 2 Äpfel
gibt. esse“.
4 Eine zentrale Frage/Aufgabe stellen: Eine einzige
1 Lehrerfragen zentrale Frage oder Aufgabenstellung für eine Unter-
Neben der Offenheit von Aufgaben sind Fragen ein weiteres richtsstunde oder -einheit kann der Engschrittigkeit
wichtiges Instrument zur kognitiven Aktivierung von Schüle- von Frageroutinen im Unterricht entgegenwirken und
rinnen und Schülern. Für den deutschen Sekundarunterricht Themen, bei denen es nicht genau eine richtige Antwort
zeigten Studien wiederholt, dass etwa drei Viertel der Un- gibt, Raum gewähren (z. B. Reznitskaya, 2012).
terrichtszeit auf das fragend-entwickelnde Klassengespräch
18.3  Basisdimensionen der Unterrichtsqualität
365 18

4 Fragen/Aufgaben mit Echtheitscharakter und Alltagsbe- 4 Das Risiko des Fehlers eingehen: Es ist besser, wenn
zug: „Echte“ Problemstellungen sind motivierend und Schülerinnen und Schüler sich mit einem fehlerhaften
Themen erscheinen relevanter, wenn sie uns im Alltag Unterrichtsbeitrag zu Wort melden, als wenn sie nichts
begegnen. Dies gilt auch bei der Auswahl von Fragen sagen aus Angst, es könnte falsch sein.
und Aufgaben im Unterricht, wobei das persönliche 4 Analyse von Fehlern und Kommunikation über Fehler:
Umfeld sowie Alter und Interessen der Schülerinnen Lehrkräfte sollten in der Lage sein, Fehler zu analysieren,
und Schüler berücksichtigt sein müssen. nachzuvollziehen, wie es zu einem Fehler kommen
4 Experimente selbst planen: Gut kochen zu können konnte und welche Art Fehler vorliegt (z. B. Flüchtig-
beinhaltet, bewährte Rezepte nachzukochen, aber keitsfehler, konzeptionelles Missverständnis, falsche
auch, Rezepturen selbst zu erweitern. Übertragen auf Inferenz, Fehler aufgrund unvollständiger Modellbil-
den Unterricht stellt sich die Frage: Wann sind klare dung, Identifikationsfehler, Themaverfehlung), und
„Rezepturen“ für Experimente hilfreich, wann ist Raum diese mit Schülerinnen und Schülern konstruktiv und
für das eigene Planen, Durchführen und Reflektieren lernwirksam zu thematisieren (Lernfunktionalität von
von Experimenten? Ein Beispiel für eine der neueren Fehlern).
didaktischen Möglichkeiten ist „Chemie im kleinen 4 Lehrkraftunterstützung bei Fehlern: Lehrpersonen
Maßstab“ (Microscale-Chemie), bei der Schülerinnen sollten Fehler nicht einfach übergehen, sondern
und Schüler anhand von Kleinmengen unkompliziert Lernende dabei unterstützen, Strategien für den
und sicher eigenständig experimentieren können. Umgang mit ihnen zu entwickeln. Bei Bedarf sollten
inhaltliche Hilfestellungen angeboten werden.
4 Abwesenheit negativer Mitschülerreaktionen: Ausla-
1 Fehlerkultur chen oder herabsetzendes Kommentieren nach Fehlern
Um Lernende im Rahmen offener Aufgaben, der Planung ei- sollte durch die Lehrkraft unterbunden werden.
gener Experimente und bei der Beantwortung offener Fragen
zur Partizipation zu ermutigen, sind eine gute Fehlerkultur
und deren Explizierung eine wichtige Bedingung. Wie bereits
im Abschnitt zur Klassenführung herausgestellt, ist dabei die 18.3.3 Konstruktive Unterstützung
Trennung von Lern- und Leistungssituationen entscheidend,
so dass die Schülerinnen und Schüler wissen, wann es gilt,
Im Folgenden nehmen wir die dritte Basisdimension von Un-
Fehler zu vermeiden, und wann Fehler erlaubt sind und eine
terrichtsqualität nach Klieme et al. (2006) genauer in den
wichtige Lernressource bilden (Seidel, Prenzel, Duit & Lehrke
Blick.
2003). Videobefunde für den Physikunterricht zeigten, dass
Fehler nur selten explizit im Unterricht thematisiert werden
und existierende Schülerfehlvorstellungen oft unzureichend Die Basisdimension Konstruktive Unterstützung fasst
aufgegriffen werden (Meyer, Seidel & Prenzel 2006). zusammen, inwiefern Strukturen im Klassenzimmer
implementiert sind, welche Schülerinnen und Schülern
Im Fokus: Erzeugen eines konstruktiven Fehlerklimas für ihr Lernen Hinweise, Begleitung und Hilfestellungen
geben (Klieme et al. 2006).
Was konkret getan werden kann, um in einer Lerngruppe ein
konstruktives Fehlerklima zu gewährleisten, haben Steuer,
Rosentritt-Brunn und Dresel (2013) zusammengefasst. 1 Unterstützende unterrichtliche Organisationsformen
4 Fehlertoleranz der Lehrkraft: Eine entscheidende Rolle Im Unterricht stehen der Lehrperson unterschiedliche Or-
im Geschehen kommt der Haltung der Lehrperson zu: ganisationsformen zur Verfügung, im Rahmen derer Schü-
Lehrerinnen und Lehrer sollten eine fehlertolerante lerinnen und Schüler miteinander agieren und sich gegen-
Haltung verinnerlicht haben und kommunizieren, dass seitig unterstützen können sowie von der Lehrkraft Unter-
Fehler nichts Schlimmes sind. stützung erfahren. Dabei herrscht Konsens in der interna-
4 Bewertungsirrelevanz von Fehlern und Abwesenheit tionalen Forschung, dass Schülerinnen und Schüler in den
negativer Lehrkraftreaktionen: Lernende müssen sich beiden wichtigsten Organisationsformen (Plenum und Schü-
in Lernsituationen sicher fühlen, zu jeder Zeit Fehler lerarbeitsphasen) erfolgreich lernen, wenn die darin einge-
machen zu dürfen, ohne dass Konsequenzen in Form betteten Interaktionen von hoher lernförderlicher Qualität
von negativen Bewertungen folgen, aber auch ohne sind (Furtak 2006; Webb 2009). Das ist dann der Fall, wenn
Augenrollen oder „scherzhaftes“ Bloßstellen vor der jeweils systematisch und gut strukturiert, mit klaren Lern-
Klasse. zielen, eindeutig formulierten Arbeitsanweisungen und in-
tensiver kognitiver Aktivierung gearbeitet wird. Dazu kann
366 Kapitel 18  Unterrichtsqualität

insbesondere eine angemessene Gruppenzusammensetzung


. Tabelle 18.1 Formen des Feedbacks nach Hattie und Timperley
beitragen. Zusammenarbeit in heterogenen Gruppen ist eine (2007)
für viele Lerninhalte günstige Arbeitsform, die alle Mitglieder
in ihrem Lernen voranbringt. Vor allem leistungsschwächere Form des Feed- Wirksam- Beispiel
Schülerinnen und Schüler profitieren hier von der Unter- backs keit
stützung durch leistungsstärkere, aber auch leistungsstarke Feedback zur  „Richtig“/“Falsch“
Schülerinnen und Schüler weisen tendenziell positivere Lern- Korrektheit der „Ja“/“Nein“
entwicklungen auf als in homogenen Gruppen (Gillies 2007). Aufgabe (D eva- „Gut“/“Schlecht“
luatives Feedback)
Eine gute Möglichkeit, innerhalb von Lerngruppen zu
differenzieren, stellt das Stationenlernen dar, das Texte, prak- Feedback zum C „Das war schon gut. Erläutere aber
tische Aufgaben, Aufgaben am Computer, Bücher und au- Lernprozess (D nochmal genauer, was bedeuten
hinweisgebendes die 2 und die 4 in deinem Ergeb-
ditive Materialien nutzen kann. Die Lernenden können im Feedback) nis“
Idealfall nicht nur über den Umfang der Aufgaben (mit-)
entscheiden, sondern auch ihre Aufgaben aus verschiedenen Feedback zur C „Ich weiß, dass du das normaler-
Selbstregulation weise besser kannst, und in der
Kompetenzniveaus wählen, wenn Stationen niveaudifferen-
des Lernprozesses Schulaufgabe bin ich mir sicher,
ziert aufgebaut sind. Digitale Medien bieten viele Möglichkei- dass du das hinbekommst“
ten, abhängig vom individuellen Erfolg bei vorangegangenen
Personales Feed-  „Du bist ein guter Schüler“
Aufgaben, entweder schwerere oder leichtere Aufgaben be-
back
reitzustellen. Weitere differenzierende Maßnahmen werden
im vierten Teil dieses Kapitels vorgestellt, das zum Abschluss
das Zusammenspiel von Elementen der Unterrichtsqualität
richt zeigten, dass Feedback häufig auf dem Level des kor-
diskutiert.
rektiven (evaluativen) Feedbacks bleibt, d. h. Schülerantwor-
ten nur mit einem Ja oder Nein evaluiert werden (Helmke
1 Unterstützende unterrichtliche Interaktionen
et al. 2008; Pauli & Lipowsky 2007; Seidel & Prenzel 2006;
In die verschiedenen Organisationsformen sind Interaktio-
7 Kap. 21).
nen zwischen Lehrperson und Schülerinnen und Schülern
sowie Schülerinnen und Schülern untereinander eingebettet.
Im Fokus: Konstruktive Feedbackkultur
Für einen unterstützenden Charakter der Interaktionen ist ei-
ne positive, symmetrische und durch Empathie sowie durch-
Wie in einer guten Partnerschaft, einem Team im Sport
gehende Wertschätzung charakterisierte Beziehung zwischen
oder in einem Unternehmen muss gute Feedbackkultur
den beteiligen Akteuren ein wesentliches Kriterium – welche
gemeinsam erlernt und etabliert werden. Im Folgenden
Aspekte darunter subsumiert werden und wie diese erreicht
finden sich einige Gestaltungsmöglichkeiten dafür:
werden können, ist ausführlich in 7 Kap. 21 dargestellt.
4 Cookie – Lemon – Cookie: In ausführlichen Feedback-
Seitens der Lehrperson hat sich Feedback als ein wesent-
situationen (z. B. während eines Lerngesprächs oder
liches unterstützendes Element herausgestellt. Hattie (2008)
einer Einzelarbeitsphase, nach Beendigung einer Pro-
kam zu dem Ergebnis, dass Feedback ein zentraler Prädiktor
jektarbeit) ist es günstig, Rückmeldungen nach dem
für erfolgreiches Schülerlernen ist. In ihrer Überblicksarbeit
Schema „süß – sauer – süß“ zu geben. Das Gespräch
zur Qualität von Feedback differenzieren Hattie und Tim-
wird zunächst mit positiven Aspekten begonnen, dann
perley (2007) dabei unterschiedliche Formen des Feedbacks:
zu Verbesserungswürdigem übergeleitet und positiv
Feedback zur Korrektheit der Aufgabe (evaluatives Feed-
beendet.
back), Feedback zum Lernprozess (hinweisgebendes Feed-
4 Konstruktive Hinweise zum Weiterlernen geben: Aus rein
18 back), Feedback zur Selbstregulation des Lernprozesses und
„evaluativem“ Feedback ergibt sich, dass bei falschen
personales Feedback (. Tab. 18.1). Letztere Feedbackform,
Antworten keine Aufklärung darüber erfolgt, was an
die dem Lernenden Rückmeldung zu seiner Person, aber
der Antwort falsch war oder was getan werden müsste,
nicht zu seiner Lernaktivität gibt, hat sich als am wenigs-
um auf eine richtige Antwort zu kommen. Deshalb
ten wirksam gezeigt. Auch eine reine Auskunft im Sinne
sollten vor allem bei falschen Antworten Hinweise
eines Richtig-Falsch-Feedbacks zur Korrektheit der Aufga-
gegeben werden, wie weiter gelernt werden kann.
be erwies sich als wenig effektiv. Erhalten Schülerinnen und
Dies kann durch die Lehrperson geschehen, die falsche
Schüler hingegen Rückmeldungen zum weiteren Vorgehen
Antwort kann aber auch in die Klasse zur Diskussion
im Lernprozess oder zur Selbstregulation ihres Lernens, wirkt
zurück gespielt werden. Eine gute Fehlerkultur (wie
sich dies positiv auf ihre Lernerfolge aus.
oben vorgestellt) ist dafür eine Grundvoraussetzung,
Videostudien für den deutschen Unterricht zeigten, dass
um falsche Antworten aufzugreifen und als Lernchance
trotz seiner erwiesenen positiven Wirkung auf Schülerlernen
sehen zu können.
gehaltvolles Feedback nur selten vorkommt. Internationale
Studien für den Physik-, Mathematik- und Englischunter-
18.4  Zusammenspiel verschiedener Aspekte von Unterrichtsqualität
367 18
Qualitätsverbesserungsprozess mit gewissen Herausforderun-
4 Schülerinnen und Schüler geben Lehrkräften Feedback: gen verbunden, da Routinen verändert werden müssen, auf die
Schülerinnen und Schüler können wertvolle Feed- Lehrkräfte z. T. seit geraumer Zeit zurückgreifen und demzufol-
backgeber zur Verbesserung der Unterrichtsqualität ge nicht einfach zu beeinflussen sind.
sein. Wie nehmen sie den Unterricht wahr? Haben sie
das Gefühl, dass Raum für falsche Antworten besteht?
Fühlen sie sich in ihren Antworten ernst genommen 18.4 Zusammenspiel verschiedener Aspekte
und wertgeschätzt? Es mag durchaus Überwindung
von Unterrichtsqualität
kosten, Schülerinnen und Schüler zu befragen, wie sie
die Qualität des eigenen Unterrichts wahrnehmen. Darin
besteht jedoch großes Potential, ein vertrauensvolles Die ersten Vergleichsstudien haben das Bildungssystem An-
und qualitätsorientiertes Miteinander in der Klasse zu fang des Jahrtausends in den Blick genommen und einerseits
gestalten. sichtbar gemacht, dass es Lehrpersonen nicht immer gelingt,
alle Schülerinnen und Schüler entsprechend ihrer Voraus-
setzungen zu fördern. Andererseits verdeutlichten sie, dass
deutsche Schülerinnen und Schüler über zu wenig anwendba-
res, anschlussfähiges und alltagstaugliches Wissen verfügen
18.3.4 Unterrichtsqualität schulen und (Baumert et al. 2001). Seither wurden zahlreiche Maßnahmen
erlernen ergriffen, um die Passung zwischen den Lernangeboten der
Schule und den Nutzungsvoraussetzungen der Schülerinnen
In den vorangegangen Abschnitten wurde deutlich, dass die und Schüler zu verbessern. Zu gewährleisten, dass das in der
Forschung bereits etliche Merkmale identifizieren konnte, die Schule Gelernte besser anschlussfähig an weiteres Lernen und
maßgeblich zu Unterrichtsqualität beitragen. Wir haben an zur Bewältigung von alltäglichen Herausforderungen geeig-
mehreren Stellen aber auch empirische Belege dafür gege- net ist, wurde ein wichtiges Ziel. Der abschließende Abschnitt
ben, dass diese Elemente zum Teil noch unzureichend in soll zeigen, dass Unterrichtsqualität – verstanden als Klas-
der Unterrichtspraxis umgesetzt werden. Die zunehmende senführung, kognitive Aktivierung und konstruktive Unter-
Zahl wissenschaftlich fundierter Fortbildungsprojekte zeigt stützung – Antworten auf Fragen in der aktuellen Diskussion
an, dass es hier Handlungsbedarf gibt. Exemplarisch dafür um unterrichtliche Herausforderungen und Ziele gibt: Immer
greifen wir zum Thema „Feedback“ Befunde des Projekts größer werdende Heterogenität im Bildungskontext macht
DIALOGUE auf (7 Kap. 21), welches das Anliegen hatte, mit Differenzierung und Individualisierung beim Lernen zu not-
Lehrpersonen an der Qualität von Feedback und Fragen als wendigen Mitteln, um Schülerinnen und Schülern relevante
Elemente der kognitiven Aktivierung und konstruktiven Un- Inhalte vermitteln zu können.
terstützung zu arbeiten. Als eine weitere wichtige Veränderung in unserem Schul-
system in den vergangenen 15 Jahren ist das kompetenz-
Studie: DIALOGUE orientierte Lernen zu nennen. Sichtbar geworden an der
Im DIALOGUE-Projekt (Pehmer et al. 2015) planten N D 6 Einführung der nationalen Bildungsstandards sind Ziele von
Lehrpersonen in Videozirkeln im kollegialen Austausch Unter- Lernprozessen in den Blick gerückt, die man unter dem Stich-
richt für ihre neunten Naturwissenschafts- und Mathematik- wort Kompetenzen subsumieren kann.
klassen. Dabei war es ihre Aufgabe, Elemente zur Aktivierung
und Unterstützung der Schülerinnen und Schüler im Unter-
richtsgespräch in ihren Unterrichtsplan zu integrieren. Nach- 18.4.1 Differenzierung und
folgend wurden die Lehrpersonen bei der Umsetzung video-
Individualisierung als Wege zum
graphiert; in zwei Videoreflexionssitzungen wurden von einem
Forscherteam ausgewählte Unterrichtsausschnitte kollegial re- Umgang mit Heterogenität
flektiert. In der zweiten Schuljahreshälfte wurde der Videozirkel
ein zweites Mal durchgeführt. Im Fokus stand unter anderem, „Bei so großen Klassengrößen kann man nicht differenziert
inwiefern die Lehrkräfte ihr Feedback- und Frageverhalten ver- und individuell fördern“. So oder so ähnlich wird es häu-
ändern würden. Dafür wurden in zu Beginn und zum Ende fig formuliert, wenn man mit (angehenden) Lehrpersonen
des Schuljahres gefilmten Unterrichtsstunden Sprechsegmen- spricht. Im Folgenden möchten wir kleinere Maßnahmen für
te der Lehrpersonen auf diese beiden Elemente hin unter- den Unterricht vorstellen, die innere Differenzierung ermög-
sucht. Es konnte festgestellt werden, dass Lehrpersonen zum lichen und schließlich am Beispiel eines bayerischen Gym-
Ende des Schuljahres mehr Feedback mit Bezug zum Lern- nasiums eine Variante aufzeigen, wie eine Schule sich des
prozess gaben (Prätest: 8 %; Posttest: 19 %), aber nicht mehr individuellen Lernens angenommen hat (7 Im Fokus).
kognitiv aktivierende Fragen stellten (Prätest: 38 %; Posttest: Die vorangegangenen Abschnitte haben deutlich ge-
40 %). Die Ergebnisse indizieren, dass die Veränderung von Un- macht: Die unterschiedlichen Voraussetzungen der Schüle-
terrichtsqualität möglich ist und die Videographie dafür ein rinnen und Schüler machen adaptive Unterrichtsgestaltung
vielversprechendes Mittel zu sein scheint. Allerdings ist dieser notwendig, damit das Unterrichtsangebot von allen Lernen-
368 Kapitel 18  Unterrichtsqualität

den gut genutzt werden kann. Maßnahmen zur inneren Dif- teratur auch betont, dass bei adaptiven Maßnahmen auch
ferenzierung des Unterrichts und Individualisierung des Ler- immer die Vermittlung von Strategien zum selbstregulierten
nens ermöglichen konstruktiven Umgang mit Heterogenität. Lernen im Blickpunkt stehen sollten, damit Schülerinnen und
Um (idealerweise) für jede Schülerin und jeden Schüler ein Schüler mit zunehmenden Kompetenzen ihren Lernprozess
mittleres Anspruchsniveau zu setzen, so dass sie die Aufgaben selbst steuern können (Corno 2008; 7 Kap. 4).
mit einiger, aber nicht zu viel Anstrengung meistern können, Darüber hinaus wird deutlich, dass Entscheidungen,
ist ein unterstützendes Klima von großer Bedeutung. Dazu denen eine der vorgestellten Differenzierungen folgt, im-
gehört neben den angemessenen unterrichtlichen Organisa- mer die Diagnose eines Lernstandes zugrunde liegen muss
tionsformen auch ein Verständnis fördernder Umgang mit (7 Kap. 25). Lehrkräfte müssen über die Bedürfnisse und
Fehlern, konstruktives Feedback und ein Unterrichtstempo, Schwierigkeiten ihrer Schülerinnen und Schüler Bescheid
das allen erlaubt, über die in Frage stehenden Inhalte nach- wissen, um angemessene Lernbegleitung leisten zu können.
zudenken. Darüber hinaus sollten sie sich immer der Vorläufigkeit ihres
Es handelt sich dabei nicht um ein neues Phänomen, denn Urteils bewusst sein: Überraschende Lernerfolge sind in der
Heterogenität findet sich, seit Unterricht in Schulklassen or- weiteren Unterrichtsplanung ebenso zu berücksichtigen und
ganisiert ist. Der Umgang mit heterogenen Lernvorausset- zu reflektieren wie unerwartete Stagnationen.
zungen verlangt ein Repertoire an Methoden zur Differenzie- Ein hilfreiches Mittel der Differenzierung sind – wie be-
rung des Unterrichts, die Beck et al. (2008) als adaptive Lehr- reits beschrieben – Aufgaben. Die Art der Instruktion, die
kompetenz beschrieben haben. Während bei äußerer Diffe- Erwartung an die richtige Lösung (gibt es eine oder mehrere
renzierung abhängig vom Lernniveau oder unterschiedlichen oder gar eine Vielzahl richtiger Lösungen?) und die Zielset-
Interessen Gruppen eingeteilt werden, die räumlich getrennt zung von Aufgaben (geht es darum, ein Thema zu durchdrin-
und von verschiedenen Personen bzw. zu verschiedenen Zei- gen oder ein neues Phänomen zu verstehen, um Routinisieren
ten unterrichtet werden (Dumont 2016), spricht man von und Einschleifen oder darum, beispielsweise bestimmte Aus-
innerer Differenzierung oder Binnendifferenzierung, wenn nahmen im Fremdsprachen-Grammatikunterricht zuverläs-
flexibel wechselnde, differenzierende Maßnahmen innerhalb sig identifizieren zu können und sich die dahinter liegenden
der bestehenden Klasse/Lerngruppe erfolgen. Für bestimmte Regeln zu eigen zu machen und anzuwenden?) erlauben viele
Lernaufgaben werden z. B. temporäre Lerngruppen gebildet, verschiedene Möglichkeiten, Lernende kognitiv zu aktivie-
die jeweils angemessene didaktische Arrangements (z. B. dif- ren. Sie geben Schülerinnen und Schülern Möglichkeiten,
ferenzierte Aufgabenstellungen, unterschiedliche Arbeitsfor- sich mit bestimmten Phänomenen, Ausschnitten des Stof-
men, Projekte) bearbeiten. Dadurch sollen Schülerinnen und fes oder spezifischen Schwierigkeiten gezielt zu beschäftigen
Schülern – individuell oder in Gruppen – unterschiedliche und geben dafür eine Struktur vor. Aufgaben erlauben es,
Lernwege angeboten werden. Auch der Begriff Individuali- Lernfortschritte sichtbar zu machen und ermöglichen der
sierung zielt auf die bestmögliche Passung von Unterrichts- Lehrperson individuelles Feedback zu geben, da durch Auf-
angebot und Schülervoraussetzungen (Fischer 2014; vgl. z. B. gabenlösungen ein gründlicher Einblick in die Denk- und
Meyer, Prenzel & Hellekamps 2008). Dumont (2016) unter- Arbeitsweisen der Lernenden ermöglicht wird. Eine relativ
scheidet fünf Formen der inneren Differenzierung: einfache, weil bereits in vielen Schulbüchern enthaltene Vari-
4 die methodische, bei der Aufgabenstellungen und Aufga- ante des qualitativen Differenzierens, arbeitet beispielsweise
benformate, beispielsweise in einer Kategorisierung nach mit paralleldifferenzierenden Aufgaben. Der gleiche Inhalt
Pflichtaufgaben, Wahlaufgaben und Zusatzaufgaben, va- wird auf unterschiedlichen Anspruchsniveaus in Teilgruppen
riiert werden, der Klasse parallel und alternativ bearbeitet. Leuders und Pre-
4 die mediale, die von der Variation der Arbeitsmaterialien diger (2016) geben viele weitere konkrete Beispiele, wie Diffe-
lebt (so kann man sich etwa mit Rechtschreibung auf sehr renzierung im Mathematikunterricht erfolgen kann. Auch die
18 unterschiedliche Weise vertieft befassen, über eine Kartei Bildungsstandards der unterschiedlichen Unterrichtsfächer
mit schwierigen Wörtern oder über die Textproduktion ordnen Aufgaben Anforderungsniveaus zu und dienen da-
am Computer mit einem Rechtschreibkontrolltool), mit als gute Schwierigkeitsorientierung (7 https://www.kmk.
4 die quantitative, die vor allem die Bearbeitungszeit und org/themen/qualitaetssicherung-in-schulen.html).
den Umfang der Aufgaben auf die Lernenden abstimmt,
4 die qualitative, die adaptiv mit den Lernzielen und dem Im Fokus: Konzept für Differenzierung und Individualisierung
Schwierigkeitsniveau umgeht (also beispielsweise offene
und geschlossene Wochenpläne verwendet) und Das Albrecht-Ernst Gymnasium in Oettingen (7 http://www.
4 die inhaltliche, die Aufgabeninhalte und Themen variiert gymnasiumoettingen.de/) hat sich in Reaktion auf die erste
(z. B. ermöglicht die Verwendung von Impulsaufgaben PISA-Erhebungsrunde die Frage gestellt, wie Schülerinnen
Spielräume bei der Wahl des Inhalts und der Vorgehens- und Schüler individuell in ihrem Kompetenzerwerb
weise). gefördert werden können. Ein wesentlicher Kernaspekt des
daraus entstandenen Lernkonzepts ist die Übersetzung des
An diesen Stellen können Lernangebote variiert und ange- Lehrplans in einen Lernplan für Schülerinnen und Schüler,
passt werden. Zusätzlich zur Herstellung der Passung zwi- was im Einklang mit der in diesem Kapitel an mehreren
schen Lernvoraussetzung und Lernangebot wird in der Li-
18.4  Zusammenspiel verschiedener Aspekte von Unterrichtsqualität
369 18
Betrachtet man die Merkmale von Unterrichtsqualität,
Stellen betonten Bedeutung von Strukturiertheit und wie dieses Kapitel sie beschreibt, so wird deutlich, dass viele
Zielorientierung für erfolgreiches Lernen steht. Im Rahmen Voraussetzungen zum Kompetenzerwerb erfüllt sind, wenn
des Lernplans werden (fächerübergreifend) Lerninhalte die beschriebenen Basisdimensionen von Unterricht umge-
in Kompetenzbereiche eingegliedert und die Lernenden setzt werden. Abschließend möchten wir relevante Hand-
wissen, welche Kompetenzen sie im Rahmen der Auseinan- lungsmöglichkeiten innerhalb der Basisdimensionen zusam-
dersetzung mit den zugehörigen Lernmaterialien erwerben menfassend diskutieren, die in diesem Kapitel vorgestellt
können. Im Zuge der Differenzierung werden für jeden wurden.
Kompetenzbereich Lernmaterialien in drei Schwierigkeits- Zunächst ist es wichtig, dass Schülerinnen und Schü-
stufen bereitgestellt. Die Schülerinnen und Schüler können ler wissen, welche Kompetenzen sie erwerben sollen. Ziel-
damit, gemäß ihrer Voraussetzungen und ihres Vorwis- klarheit ist natürlich nicht für Lernende aller Altersstufen
sens, an unterschiedlichen Schwierigkeitsstufen ansetzen. gleichermaßen von Anfang an nachvollziehbar – es ist aber
Über den Zeitpunkt der Leistungserbringung in jedem ein wichtiger Lernprozess, sich nach und nach mehr über
Kompetenzbereich entscheiden sie individuell – um dem das eigene Lernen klar zu werden. Darüber hinaus spielt
Umstand Rechnung zu tragen, dass nicht alle im Gleich- selbstreguliertes Lernen (7 Kap. 4) im kompetenzorientierten
schritt lernen, sondern dass Differenzierung bedeutet, den Unterricht im Laufe des Lernens eine immer größere Rolle.
unterschiedlichen Bedarf von Lernzeit zu berücksichtigen. Autonomie in der Wahl der Lernziele, das bewusste Fördern
und Entwickeln metakognitiver Kompetenzen und die Fähig-
keit zum kooperativen Lernen sind hier von herausragender
Bedeutung.
„Wissen allein ist noch keine Kompetenz, stellt jedoch
18.4.2 Kompetenzorientierter Unterricht die Grundlage für jeden Kompetenzerwerb dar“ (ISB 2016).
In diesem Sinne sind Lernprozesse, bei denen der Fokus
Kompetenzorientierte Wissenserwerbsprozesse ermöglichen auf die Strukturiertheit des Unterrichts, auf ein Unterrichts-
Schülerinnen und Schülern anwendbare und anschlussfähi- tempo, das allen Schülerinnen und Schülern Nachdenken
ge Kenntnisse und Fertigkeiten zu erwerben. Im Fokus steht erlaubt, und auf die kognitive Aktivierung der Lernenden ge-
dabei, wie Schülerinnen und Schüler fachliche Kompetenzen legt wird, eine wichtige Basis kompetenzorientierten Lernens.
(z. B. in den Naturwissenschaften) erwerben und gleichzeitig Diese Aktivierung geschieht je nach Fach durch unterschied-
die Bereitschaft entwickeln, sich im Kontext dieses Wissens liche Lernaktivitäten, wie beispielsweise Experimentieren,
mit wichtigen (z. B. gesellschaftlichen) Fragen zu befassen. das Formulieren eigener (Forschungs-)Fragen, intelligentes
Kompetenzorientierter Unterricht gelangte in den vergange- Üben mit Hilfe sinnvoller Aufgabenformate und immer, in-
nen Jahren, unterfüttert durch die Einführung der nationalen dem Lehrkräfte gutes, also informierendes und motivieren-
Bildungsstandards für viele Fächer, zu großer Bedeutung. Zu des Feedback geben.
den neuen bayerischen Lehrplänen „PLUS“ heißt es beispiels- Zu kompetenzorientiertem Unterricht gehört weiter-
weise: „Die Lehrpläne sind kompetenzorientiert ausgerichtet. hin, dass die Lehrer-Schüler-Beziehungen in motivationa-
Sie geben Auskunft über die im Unterricht nachhaltig aufzu- ler und affektiver Hinsicht positiv getönt sind. Wie wir in
bauenden Kompetenzen und beschreiben, an welchen Inhal- 7 Abschn. 18.3.1 zu Klassenführung beschrieben haben, ist
ten diese erworben werden. Diese Kompetenzen gehen über dies kein Widerspruch zu einer Arbeitsweise, die von kla-
reines Wissen hinaus und haben stets konkrete Anwendungs- ren Regeln bestimmt ist, bei der die Lehrkraft Störungen
situationen im Blick. Die Schülerinnen und Schüler schaffen energisch vorbeugt, und die möglichst viel Zeit für den ei-
sich also ‚Werkzeuge‘, die sie zur Lösung lebensweltlicher gentlichen, themenzentrierten Unterricht lässt.
Problemstellungen, zur aktiven Teilhabe an gesellschaftlichen Ein unterstützendes Unterrichtsklima entsteht, wenn
Prozessen und an kulturellen Angeboten sowie nicht zuletzt Lehrende für Lernende (idealerweise) ein mittleres An-
zum lebenslangen Lernen befähigen“ (ISB 2016). Im Folgen- spruchsniveau vorsehen, bei dem man die Aufgaben mit eini-
den geben wir Anregungen dazu, wie es gelingen kann, diese ger, aber nicht zu viel Anstrengung meistern kann. In diesem
Ziele angesichts des komplexen Geschehens im Klassenzim- Zusammenhang ist auch der Umgang mit Fehlern zentral, der
mer nicht aus dem Auge zu verlieren. auf das Weiterentwickeln im Sinne eines besseren Verständ-
Kompetent sein bedeutet, in einem bestimmten Bereich nisses gerichtet ist.
in verschiedenen Situationen bestimmte Anforderungen si-
cher bewältigen zu können. Eine in einem bestimmten Fach
oder Gebiet kompetente Person hat gelernt, ihr Wissen viel-
fach anzuwenden, es bleibt nicht „träge“ (Renkl 2018). In Zusammenfassung
kompetentes Handeln geht Wissen ein, das man äußern kann Guter Unterricht ist etwas, was geplant werden muss. Ent-
(„Wissen, dass . . . “), aber auch Wissen als Fertigkeit („Wissen, gegen früherer Annahmen, die von der „geborenen“ Leh-
wie . . . “). Hinzu kommen eine bestimmte Einstellung und rerpersönlichkeit ausgingen, die das Unterrichten bereits
die Fähigkeit, sich beim Handeln selbst über die Schulter zu als Fähigkeit mitbringt, wissen wir heute erstens, dass Un-
schauen (7 Kap. 4).
370 Kapitel 18  Unterrichtsqualität

Literatur
terrichten gelernt werden kann und muss (Kunter, Seidel
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die gute Strukturierung des Unterrichts bedienen alle drei
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Klassenführung auf und inwiefern spielt dabei die
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18 7. „Schüler zu aktivieren braucht immer ein methodisches Dicke, T., Elling, J., Schmeck, A., & Leutner, D. (2015). Reducing reality shock.
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372 Kapitel 18  Unterrichtsqualität

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18
373 19

Medien im Unterricht
Christof Wecker und Karsten Stegmann

19.1 Informationen vermitteln – 376


19.1.1 Systematisierung multimedialer Darstellungsmittel – 376
19.1.2 Theorien des Lernens mit multimedialen Darstellungsmitteln – 377
19.1.3 Prinzipien des multimedialen Lernens – 378

19.2 Individuelle Lernaktivitäten ermöglichen und unterstützen – 381


19.2.1 Simulationsbasiertes entdeckendes Lernen – 382
19.2.2 Spielbasiertes Lernen – 385

19.3 Kommunikation und Kooperation ermöglichen und


unterstützen – 386
19.3.1 Grundannahmen zum Lernen durch Kooperation – 386
19.3.2 Kooperation und Kommunikation – 386
19.3.3 Die Rolle von Medien für die Kommunikation – 387
19.3.4 Möglichkeiten der Unterstützung von Kommunikation und Kooperation
durch digitale Medien – 388

Verständnisfragen – 391

Literatur – 392

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019


D. Urhahne, M. Dresel, F. Fischer (Hrsg.), Psychologie für den Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55754-9_19
374 Kapitel 19  Medien im Unterricht

Im Alltag der meisten Menschen sind digitale Medien wie Kommunikation und Kooperation dient oft gleichzeitig so-
Smartphone, Computer, Internet oder Fernseher allgegen- wohl der Erarbeitung von Wissen als auch der Festigung von
wärtig. Manche davon sind ständige Begleiter in der Freizeit, Kompetenzen wie Argumentationsfähigkeiten, etwa wenn in
aber auch unentbehrliche Werkzeuge bei der täglichen Ar- Gruppen über zu lernende Inhalte diskutiert wird.
beit. Dies gilt nicht nur für Erwachsene, sondern auch für Für jede der genannten Funktionen können unterschied-
Kinder und Jugendliche. Nichts deutet darauf hin, dass sich liche Technologien zum Einsatz kommen, und die meisten
daran in absehbarer Zeit etwas ändern wird; vielmehr schei- Technologien können für mehr als eine dieser Funktionen
nen sich die technischen Möglichkeiten immer rasanter wei- eingesetzt werden: So lassen sich beispielsweise mit dem
terzuentwickeln. Computer und aus dem Internet Texte, Bilder und Videos ab-
Daraus ergeben sich für die Schule neue Herausforderun- rufen und anzeigen, also Informationen zugänglich machen.
gen, aber auch neue Möglichkeiten: Einerseits müssen Kinder Daneben können Schülerinnen und Schüler damit auch selbst
und Jugendliche lernen, in ihrem gegenwärtigen Alltag und Lernaktivitäten ausführen, etwa wenn sie mit einem simu-
ihrem späteren privaten und beruflichen Leben mit den je- lationsbasierten Lernprogramm zur Newtonschen Mechanik
weils vorhandenen Medien sinnvoll umzugehen. Dabei geht arbeiten und sich so Wissen über physikalische Gesetzmäßig-
es nicht nur um technisches Können bezüglich der Hand- keiten aneignen. Und schließlich können sie mit Hilfe dieser
habung digitaler Geräte, sondern auch um Kompetenzen Technologien mündlich oder schriftlich kommunizieren, et-
etwa der Bewertung von Informationen, der angemessenen wa in Chats, Diskussionsforen oder Audio- und Videokonfe-
Kommunikation oder des persönlichen Datenschutzes. An- renzen.
dererseits lassen sich digitale – aber auch ältere „analoge“ – Smartphone und Tablet (mobile learning) können eben-
Medien dazu einsetzen, Schülerinnen und Schülern dabei zu falls alle drei Funktionen erfüllen: Um mündliche – später
helfen, Wissen und Kompetenzen in den unterschiedlichs- auch schriftliche – ortsungebundene Kommunikation zu er-
ten Bereichen zu erwerben. Die psychologischen Grundlagen möglichen, wurden Mobiltelefone ursprünglich entwickelt.
dieses didaktischen Einsatzes von Medien zur Förderung von Inzwischen lassen sich darauf aber ebenfalls Texte, Bilder und
Wissen und Kompetenzen stellen den Schwerpunkt dieses Videos abrufen und abspielen, d. h. Informationen bereitstel-
Kapitels dar. len. Auch die Möglichkeiten, mit Hilfe dieser Geräte selbst
In Bezug auf den Erwerb von Wissen und Kompetenzen lernförderliche Aktivitäten auszuführen, haben deutlich zu-
sind drei Funktionen von Medien beim Lernen von Interesse: genommen, etwa indem Lernende damit Texte erstellen oder
(1) Informationen bereitstellen, (2) individuelle Lernaktivitä- Fotos und Videos aufnehmen, um sich mit Lerninhalten aus-
ten ermöglichen und unterstützen sowie (3) Kommunikation einanderzusetzen.
und Kooperation ermöglichen und unterstützen. Bei der Ver- Ein weiteres Beispiel stellen sogenannte Audience-
mittlung von Wissen und Kompetenzen lassen sich ferner Response-Systeme (auch „Clicker“ genannt) dar. Dabei
jeweils grob zwei Phasen unterscheiden: eine Phase der Er- handelt es sich um kleine Geräte von ähnlicher Größe wie
arbeitung, in der die Lernenden Informationen über die zu Smartphones, auf denen Schülerinnen und Schüler im Unter-
lernenden Inhalte erhalten bzw. neue Handlungsweisen ken- richt Fragen beantworten bzw. Aufgaben bearbeiten können
nen lernen und erstmalig selbst ausführen, sowie eine Phase (Ermöglichung von Lernaktivitäten) und die Lösungen per
der Festigung, in der diese Inhalte etwa angewandt oder wie- Funk an einen Rechner übermitteln, der die Ergebnisse zu-
derholt bzw. diese Handlungsweisen geübt werden (siehe z. B. sammengefasst, ggf. grafisch aufbereitet der Lehrkraft anzeigt
VanLehn 1996). und ihr damit wichtige diagnostische Informationen über-
Die genannten Funktionen von Medien beim Lernen spie- mittelt (Kommunikation).
len in den verschiedenen Phasen der Vermittlung von Wissen Ähnliches gilt schließlich für webbasierte Lernplattfor-
und Kompetenzen jeweils eine unterschiedlich große Rolle. men wie beispielsweise „Moodle“ bzw. die Plattform „Mebis“
So hat die Bereitstellung von Informationen vor allem bei für jegliche Form des Lernens mit Medienbezug in Bay-
der Erarbeitung von Wissen und z. T. auch von Kompetenzen ern (7 www.mebis.bayern.de). Auf diesen Plattformen werden
ihren Platz. Das Ermöglichen von individuellen Lernaktivitä- üblicherweise vor allem Materialien bereitgestellt, d. h. Infor-
19 ten durch Medien kann einerseits der Erarbeitung vor allem mationen in unterschiedlichen Formen aufbereitet vermittelt.
von Wissen dienen, wie im Fall des simulationsbasierten Darüber hinaus beinhalten sie zumeist Kommunikations-
entdeckenden Lernens oder des webbasierten forschenden tools wie beispielsweise moderierte Diskussionsforen und
Lernens, anderseits aber auch der Festigung von Wissen und ermöglichen damit Kommunikation und Kooperation beim
Kompetenzen, wie im Fall von Trainingsprogrammen für Vo- Lernen.
kabeln, Intelligenten Tutoriellen Systemen oder des Einsatzes Es zeigt sich also, dass die Unterscheidung gängiger Tech-
von digitalen Medien als Arbeitswerkzeugen zur Förderung nologien quer zu den Funktionen von Medien liegt: Die
von Kompetenzen im Umgang mit bestimmten Typen von meisten neueren Technologien – dabei handelt es sich beim
Software (z. B. Textverarbeitung, Tabellenkalkulation, Prä- heutigen Stand der Technik letztlich in aller Regel um ver-
sentationssoftware). Das Ermöglichen und Unterstützen von netzte Computer – eignen sich für alle drei Funktionen.
Medien im Unterricht
375 19
Empfehlungen zum Einsatz von Medien können daher aus
psychologischer Perspektive nicht zum Gegenstand haben, 3. Clark argumentierte: Wenn in einer Untersuchung ein
wann welche Technologien zum Einsatz kommen sollten (sie- bestimmtes Treatment einen Effekt auf ein Lernergebnis
he dazu 7 Im Fokus), sondern vor allem, wie der Einsatz dieser hat, könne es sich bei der Ursache nicht um ein Medium
Technologien in Abhängigkeit von den jeweils im Vorder- handeln, sondern es müsse mit dem Medium zugleich
grund stehenden Funktionen gestaltet werden sollte. Daher auch die instruktionale Methode variiert („konfundiert“)
behandeln die folgenden Abschnitte Prinzipien für den Ein- worden sein (Clark 1994, S. 25). Damit immunisierte er
satz von Medien zur Vermittlung von Informationen, zur seine Position gegen jegliche empirische Widerlegung.
Ermöglichung und Förderung von Lernaktivitäten und zur Positionen, die empirisch nicht widerlegt werden kön-
Ermöglichung und Förderung von Kommunikation und Ko- nen, sind jedoch keine wissenschaftlichen Positionen.
operation zwischen Schülerinnen und Schülern. Der Streitgegenstand wird dadurch letztlich ins Termi-
nologische verlagert: Dass ein Medium keinen Effekt
auf Lernergebnisse haben könne, läuft damit auf nichts
Im Fokus: Können Medien Lernergebnisse beeinflussen? weiter hinaus als das Dogma: „Wenn etwas nachweislich
einen Effekt auf ein Lernergebnis hat, bin ich nicht bereit,
In einer Metaanalyse zu den Effekten des Einsatzes von es ‚Medium‘ zu nennen.“ Damit wird Clarks Position zu
Medien auf den Lernerfolg kam Richard Clark 1983 zu dem einer rein sprachlichen Festlegung, die an der Realität
Ergebnis, dass Medieneffekte häufig nicht feststellbar sind, gar nicht scheitern kann, und damit gehaltlos.
wenn in Untersuchungen die eingesetzte Unterrichtsmetho- 4. Schließlich verhedderte sich Clark auch noch in
de konstant gehalten wird. Darüber hinaus zeigte sich, dass philosophisch-kausalitätstheoretischen Überlegungen:
Medieneffekte bei kurzen Interventionen mit neuen Medien Er vertrat die Ansicht, als Ursache käme nur in Frage,
größer ausfallen, sodass sich die Vermutung aufdrängt, was nicht ersetzt werden kann, ohne dass die fragliche
dass es sich dabei eher um einen Effekt der Neuheit des Wirkung ausbleibt (vgl. Clark 1994, S. 22). Bedingungen,
Mediums (einen sogenannten novelty effect) als um einen die für das Eintreten einer Wirkung „lediglich“ hinrei-
dauerhaften Effekt des untersuchten Mediums handelt. Er chend, jedoch nicht notwendig seien, seien in diesem
zog daraus den Schluss, dass Lernergebnisse durch Medien Sinne austauschbar und kämen daher als Ursachen
nicht beeinflusst werden. Seiner Auffassung der Rolle nicht in Betracht (vgl. Clark 1994, S. 25 f.). Hätte er damit
von Medien zufolge seien diese mit einem Lastwagen zu Recht, hätte dies zunächst einmal die fragwürdige
vergleichen, der Lebensmittel zu den Kunden transportiert, Konsequenz, dass jedes Lernergebnis, das überhaupt
dadurch aber nicht deren Ernährung beeinflusst. Analog durch eine Methode beeinflusst werden kann, nur durch
dazu transportierten Medien Inhalte und Methoden zu den eine einzige Methode beeinflusst werden kann. Dies wi-
Lernenden, beeinflussten dadurch aber nicht deren Lernen. derspricht klar dem Common Sense. Wie absurd Clarks
Um die Effekte von Medien entspann sich in der Folge eine Argumentation ist, lässt sich jedoch am besten mit Hilfe
lebhafte Debatte, zu der Clark schließlich einen Aufsatz mit einer Analogie verdeutlichen: Wenn ein Auftragskiller
dem provokanten Titel „Media will never influence learning“ jemanden tötet, ist und bleibt er ein Mörder, auch wenn
(Clark, 1994) beisteuerte. Darin stellte Clark die radikale an seiner Stelle mit demselben Ergebnis auch einer
Behauptung auf, Medien könnten bereits aus prinzipiellen seiner Kollegen hätte engagiert werden können (oder
Gründen Lernergebnisse überhaupt nicht beeinflussen. das Opfer auch durch Blitzschlag oder Ärztepfusch hätte
Clarks Argumentation wies jedoch folgende Mängel auf: ums Leben kommen können). Ein Medium ist und bleibt
1. Clark stellte folgende „Ersetzbarkeitsforderung“ (re- die Ursache eines in einem kontrollierten Experiment
placeability challenge) auf: Zum Nachweis eines jedes festgestellten Unterschieds im Lernergebnis, auch
behaupteten Medieneffekts müsse gezeigt werden, dass wenn an seiner Stelle mit demselben Ergebnis auch ein
es keine andere Methode gibt, mit der sich dieselben anderes Medium hätte eingesetzt werden können.
Lernergebnisse erzielen lassen (Clark 1994, S. 22). Es ist Auch wenn Clarks Argumentation bei Lichte besehen nicht
ein wissenschaftstheoretischer Gemeinplatz, dass keine haltbar ist (und es erstaunt, dass dies in der damaligen
Untersuchung jemals belegen kann, dass es etwas nicht Diskussion nicht herausgearbeitet wurde), bleibt die von
gibt. Diese Forderung ist somit prinzipiell unerfüllbar. ihm ursprünglich berichtete Befundlage und die daraus
2. Clark behauptete mehrfach und ohne weiteren Beleg, ableitbare Erkenntnis bestehen: Obwohl Medien sich
jede Methode könne mit verschiedenen Medien reali- prinzipiell auf Lernergebnisse auswirken können, haben
siert werden (Clark 1994, S. 22; 27). Diese Behauptung sie tatsächlich häufig keinerlei oder nur geringfügige
stellt eine so genannte Allaussage dar und kann – dies ist Auswirkungen auf den Lernerfolg, solange sie Lernende
ebenfalls ein wissenschaftstheoretischer Gemeinplatz nicht zu anderen Lernaktivitäten anregen als andere Medien.
– daher durch keine Untersuchung bewiesen werden. Die Debatte legt daher zumindest ein gesundes Maß an
Nach seinen eigenen Maßstäben (s. o.) wäre er mit Skepsis nahe gegenüber überzogenen pädagogischen
dieser Aussage seinerseits verpflichtet, eine unerfüllbare Erwartungen an den fortwährenden Strom jeweils „neuer“
Forderung zu erfüllen. Medien.
376 Kapitel 19  Medien im Unterricht

19.1 Informationen vermitteln . Tabelle 19.1 Systematisierung der Darstellungsmittel

Modalität Kodalität Persistenz


19.1.1 Systematisierung multimedialer
Darstellungsmittel Geräusche Auditiv Non-verbal Transient

Mündlicher Text Auditiv Verbal Transient


Betrachten wir als Beispiel eine Unterrichtseinheit zum Bohr- Schriftlicher Text Visuell Verbal Persistent
schen Atommodell im Chemieunterricht: Zur Vermittlung
Grafiken: Diagram- Visuell Verbal/non- Persistent
dieses Lerninhalts können unterschiedlichste Vermittlungs- me verbal
formen von Texten und Abbildungen in Schulbüchern über
Tafelbilder und PowerPoint-Präsentationen bis hin zu mul- Grafiken: Abbilder Visuell Non-verbal Persistent
timedialen Lernprogrammen zum Einsatz kommen. In allen Video Visuell Non-verbal Transient
diesen Fällen handelt es sich um multimediales Lernen.

Unter multimedialem Lernen versteht man Lernen aus Text eine erneute Verarbeitung zur Verfügung. Audio und Video
und Bildern (vgl. Mayer 2009, S. 5). sind dagegen transient, d. h. die darin enthaltene Information
„zerfällt“ im Augenblick der Darbietung und geht damit für
weitere Verarbeitungsversuche verloren, sofern sie nicht so-
Mit „Text“ sind dabei sowohl schriftliche Texte als auch fort eingeprägt werden oder durch bestimmte Vorkehrungen
gesprochene Sprache gemeint, mit „Bildern“ neben statischen wie etwa eine Zurück-Taste erneut abgerufen werden können.
Grafiken auch Filme und Animationen. Multimediale Lern- Wie . Tab. 19.1 deutlich macht, gelten für digitale Medi-
materialien verfügen somit über die folgenden vier Darstel- en dieselben Unterscheidungsmöglichkeiten, die sich bereits
lungsmittel: auf „traditionelle“ bzw. „analoge“ Medien anwenden lassen.
1. (schriftlicher) Text (einschließlich so genannten Hyper- Daher werden in der Forschung keine künstlichen Grenzen
texten wie bei Internetseiten üblich, die über Links mit- zwischen „alten“ und „neuen“ Medien gezogen und beide hier
einander verknüpft sind), gemeinsam behandelt.
2. Grafiken, bei denen noch feiner zu unterscheiden ist zwi- Für Bilder wurde in der Forschung eine feinere Einteilung
schen Abbildern, die konkrete Objekte aufgrund ihrer vorgeschlagen, die auf ihrer Funktion bezüglich des illustrier-
Ähnlichkeit mit diesen im Aussehen darstellen („realisti- ten Textes beruht (Levin, Anglin & Carney 1987; siehe auch
sche Bilder“), und Diagrammen, die auch abstrakte Sach- Mayer 1993) und für ihre Auswirkungen auf den Lernerfolg
verhalte auf der Grundlage bestimmter Darstellungskon- von Bedeutung ist:
ventionen sowie von Analogien zwischen Eigenschaften 1. Dekoration: Bilder mit dieser Funktion sind für das Ver-
der Darstellung und des Dargestellten veranschaulichen ständnis des Textinhalts irrelevant. Sie dienen nur der
können („logische Bilder“), Steigerung der Attraktivität des Textes bzw. der Motiva-
3. Audio wie beispielsweise bei Podcasts und tion der Lernenden.
4. Video wie beispielsweise bei Animationen, Videoauf- 2. Repräsentation: Ein Bild mit dieser Funktion enthält
zeichnungen von Vorlesungen, Demonstrationsvideos auf Personen, Gegenstände oder Handlungen aus dem Text
YouTube sowie so genannten Hypervideos, durch die ähn- und verleiht der Darstellung damit einen höheren Grad
lich wie bei einem Hypertext mittels Links navigiert wer- an Konkretheit; bestimmte Informationen können somit
den kann. auch dem Bild alleine entnommen werden.
3. Organisation: Bilder mit dieser Funktion, z. B. Karten
Diese Darstellungsmittel lassen sich in Bezug auf verschiede- oder Ablaufdiagramme, stellen einen organisierenden
ne Aspekte systematisieren (. Tab. 19.1): Rahmen bereit, in den die Informationen aus dem Text
Nach der angesprochenen Sinnesmodalität sind (schriftli- eingeordnet werden können, und verleihen dem Text da-
19 cher) Text, Grafiken und Video als visuell zu klassifizieren, da durch eine höhere Kohärenz.
sie mit den Augen aufgenommen werden, während gespro- 4. Interpretation: Bilder mit dieser Funktion, z. B. bildli-
chene Sprache, aber auch Geräusche als auditiv einzuordnen che Analogien, helfen, schwierigen Textpassagen und ab-
sind, da sie mit den Ohren aufgenommen werden. In Bezug strakten Begriffen eine eindeutige Bedeutung zu verlei-
auf die so genannte Kodalität werden (schriftlicher) Text und hen, und erhöhen damit die Verständlichkeit des Textes.
gesprochene Sprache als verbale Darstellungsmittel bezeich- 5. Transformation: Bilder mit dieser Funktion beinhalten ei-
net. Abbilder sind dagegen piktoriale Darstellungsmittel. We- ne Art visueller Eselsbrücken, indem sie Textinformatio-
niger klar lassen sich Diagramme klassifizieren, da sie zumeist nen konkreter darstellen (recoding), in einem bekannten
nicht ohne Beschriftungen in Form von Text auskommen. Kontext auf einander beziehen (relating) und mit einer
Wie die piktioralen Darstellungsmittel sind auch Geräusche Abrufhilfe (retrieving) versehen.
als non-verbal einzuordnen. Eine dritte Einteilungsmöglich-
keit beruht auf der sogenannten Persistenz: Schriftlicher Text Diese Einteilung lässt sich auch auf Video als transientes visu-
und Grafiken sind persistent, d. h. sie stehen dauerhaft für elles Darstellungsmittel sowie teilweise auf Audio (insbeson-
19.1  Informationen vermitteln
377 19
Multlmediale Sensorisches Arbeits- Langzeit-
Darbietung Gedächtnis gedächtnis gedächtnis

Auswahl von Organisation Verbales


Worte Ohren Klänge
Worten von Worten Modell
Integration
Vorwissen

Auswahl von Organisation Bildliches


Bilder Augen Abbilder
Abbildern von Abbildern Modell

. Abb. 19.1 Kognitive Theorie des multimedialen Lernens (CTML; nach Mayer 2005, S. 37)

dere Geräusche) übertragen, sodass sämtliche non-verbalen arbeitungskanälen zu einem so genannten verbalen bzw.
Darstellungsmittel danach klassifiziert werden können. einem piktorialen Modell organisiert, indem die Bezie-
hungen der einzelnen Informationen zueinander ermittelt
werden. Schließlich werden das verbale und das piktoria-
le Modell miteinander und mit dem Vorwissen aus dem
19.1.2 Theorien des Lernens mit Langzeitgedächtnis integriert, indem Beziehungen zwi-
multimedialen Darstellungsmitteln schen den Informationen hergestellt werden.

Nicht jeder Verarbeitungsvorgang, der beispielsweise bei


Für das multimediale Lernen ist die so genannte kognitive der Auseinandersetzung mit einem multimedialen Lernpro-
Theorie des multimedialen Lernens (Cognitive Theory of Mul- gramm zum Bohrschen Atommodell stattfindet, ist für den
timedia Learning, CTML) einschlägig. Lernerfolg auf dieselbe Weise und im selben Ausmaß von
In Anlehnung an kognitionspsychologische Erkenntnis- Bedeutung. In Anlehnung an die Unterscheidung verschie-
se geht diese Theorie von drei Gedächtnisspeichern aus dener Arten kognitiver Belastung aus einer früheren Fassung
(. Abb. 19.1): einem sensorischen Gedächtnis, das aus der der so genannten Theorie der kognitiven Belastung (Cognitive
Wahrnehmung stammende Sinneseindrücke für sehr kurze Load Theory, CLT; Sweller, van Merriënboer & Paas 1998)
Zeit verfügbar hält, einem Arbeitsgedächtnis, das Informa- werden in der kognitiven Theorie des multimedialen Lernens
tionen zeitweilig aufnimmt und damit deren bewusste Ma- drei Arten kognitiver Anforderungen unterschieden (Mayer
nipulation ermöglicht, sowie einem Langzeitgedächtnis, das 2009; deutsche Terminologie analog zur Übersetzung der
Wissen unbegrenzt speichert (Mayer 2009; 7 Kap. 2). Den entsprechenden Bezeichnungen aus der CLT durch Leutner,
Kern der Theorie bilden drei Annahmen: Opfermann & Schmeck 2014):
1. Annahme zweier Kanäle (dual channel assumption): Kog- 1. Inhaltsbedingte kognitive Verarbeitung (essential cogni-
nitive Verarbeitung findet in zwei weitgehend voneinan- tive processing; in der CLT: intrinsic cognitive load) besteht
der unabhängigen Verarbeitungskanälen statt: einem für darin, dass Information im Arbeitsgedächtnis gehalten
auditive bzw. verbale Informationen und einem für visu- wird und entspricht vor allem dem Verarbeitungsvorgang
elle bzw. piktoriale Informationen (. Abb. 19.1). Die Ver- der Auswahl von Informationen. Die daraus resultieren-
arbeitung von schriftlichem Text beginnt aufgrund der de kognitive Belastung ist abhängig von der Komplexität
Aufnahme über die Augen im visuellen Verarbeitungs- des Lernmaterials und dem themenbezogenen Vorwissen
kanal und wird nach der Umwandlung in sprachliche einer Person.
Information im Arbeitsgedächtnis im verbalen Verarbei- 2. Sachfremde kognitive Verarbeitung (extraneous cognitive
tungskanal fortgesetzt. processing; in der CLT: extraneous cognitive load) ist jeder
2. Annahme begrenzter Kapazität (limited capacity assump- Verarbeitungsvorgang, der nicht dem Lehrziel dient und
tion): Beide Verarbeitungskanäle weisen jeweils eine be- auf mangelhafte instruktionale Gestaltung des Lernmate-
schränkte Verarbeitungskapazität auf. Überschreiten die rials zurückzuführen ist.
zu verarbeitenden Informationen diese Kapazität, wird 3. Lernrelevante kognitive Verarbeitung (generative cogni-
der Lernerfolg dadurch beeinträchtigt. tive processing; in der ursprünglichen Fassung der CLT:
3. Annahme aktiver Verarbeitung (active processing assump- germane cognitive load) umfasst alle Verarbeitungsvor-
tion): Die Informationsverarbeitung umfasst drei Arten gänge, die der Sinnentnahme aus dem Lernmaterial die-
von Verarbeitungsvorgängen (in . Abb. 19.1 dargestellt nen und vor allem der Organisation und Integration ent-
durch Pfeile): Auswahl (selection), Organisation (organi- sprechen.
zation) und Integration (integration). Lediglich einem Teil
der Informationen in den beiden Verarbeitungskanälen Wenn einer der Kanäle durch die Gesamtheit dieser drei Ar-
im sensorischen Gedächtnis wird Aufmerksamkeit zuge- ten von Verarbeitung überlastet wird, wird weniger gelernt,
wendet. Dadurch werden diese ausgewählt und gelangen als eigentlich möglich wäre. Neben der CTML und der CLT
ins Arbeitsgedächtnis. Dort werden sie in den beiden Ver- existieren weitere Theorien zum Lernen aus Text und Bildern
378 Kapitel 19  Medien im Unterricht

wie etwa das so genannte Integrierte Modell des Text- und Bild-
verstehens (Schnotz 2014), die einander in den wesentlichen außerdem darauf hin, dass auch dann, wenn nachgewiesen
Kernannahmen jedoch stark ähneln. werden könnte, dass für verschiedene Lernstilgruppen
unterschiedliche Lernmethoden optimal sind, immer
noch zu klären wäre, ob der durch eine Anpassung der
Lernmethode an individuelle Lernstile erzielbare Ertrag
Mythos: „Ich bin halt eher so der visuelle Typ.“ – Man-
(d. h. das Ausmaß, in der die jeweils wirksamste Methode
gelnde Berücksichtigung individueller Lernstile als
die jeweils zweitwirksamste Methode übertrifft) den dafür
Ursache für ausbleibenden Lernerfolg?
nötigen Aufwand rechtfertigt. Darüber hinaus ist die
Die Überzeugung, es gebe unterschiedliche Lerntypen,
Vorstellung, dass jeder beliebige Lerninhalt in jeder belie-
ist bei Schülerinnen und Schülern wie bei Eltern und
bigen Modalität dargeboten werden könne (und dass die
Lehrkräften weit verbreitet. Beispielsweise behaupten viele
Lehrkraft dafür verantwortlich sei, dies zu tun), wohl eher
Personen von sich, sie gehörten einem visuellen Lerntyp
naiv. Dass sich die Lernstilhypothese trotz des eklatanten
an, d. h. sie lernten am besten, wenn ihnen Lerninhalte
Mangels an wissenschaftlicher Untermauerung so großer
visuell dargeboten werden, also etwa in Form von Bildern,
Beliebtheit erfreut, führen die Autoren darauf zurück, dass
Diagrammen, Videos oder Animationen. Allgemeiner
sie dem Bedürfnis entgegenkommt, als Individuum ernst
besagt die „Lernstilhypothese“, dass der Lernerfolg größer
genommen zu werden, und Lernenden ermöglicht, die
ist, wenn Instruktion auf den individuellen Lernstil abge-
Verantwortung für ausbleibenden Lernerfolg auf andere
stimmt wird, als wenn dies nicht der Fall ist. Dieser Ansicht
abzuwälzen (Pashler et al. 2008).
gingen Pashler, McDaniel, Rohrer und Bjork (2008) in einer
systematischen Überblicksarbeit auf den Grund. Sie formu-
lierten darin zunächst Anforderungen an wissenschaftliche
Untersuchungen, die Belege für die Lernstilhypothese
liefern könnten. In forschungsmethodischer Hinsicht muss
in einer solchen Untersuchung (1) auf der Grundlage einer
19.1.3 Prinzipien des multimedialen Lernens
Messung von Lernstilen eine Einteilung von Lernenden
in mindestens zwei Gruppen vorgenommen werden, (2) Aus der kognitiven Theorie des multimedialen Lernens und
den Lernenden innerhalb jeder dieser Gruppen (zufällig) ihren Verwandten wurde eine Reihe von Prinzipien über die
eine von mindestens zwei Lernmethoden zugewiesen Auswirkungen unterschiedlicher Gestaltungsvarianten mul-
werden und (3) im Anschluss an die Lernphase mit allen timedialer Lernmaterialien auf den Lernerfolg abgeleitet und
Lernenden ein identischer Test für den Lernerfolg durch- durch Experimente empirisch überprüft. Einige dieser Prin-
geführt werden. Als Ergebnis müsste sich in einer solchen zipien thematisieren Unterschiede in der Lernwirksamkeit
Untersuchung dann zeigen, dass (4) in diesen Gruppen unterschiedlicher Kombinationen von Text und Bildern. Die-
der höchste Lernerfolg mit jeweils unterschiedlichen se Kombinationen unterscheiden sich voneinander darin, ob
Lernmethoden erzielt wird. sie (1) schriftlichen Text enthalten oder nicht, (2) mündli-
Trotz der großen Verbreitung der Lernstilhypothese chem Text enthalten oder nicht und (3) statische bzw. bewegte
und der beträchtlichen Menge an Veröffentlichungen Bilder enthalten oder nicht (. Abb. 19.2).
zu Lernstilen erbrachte die Auswertung der Literatur Diese Kombinationen lassen sich auf der Grundlage des
jedoch kaum Untersuchungen, die den genannten Multimedia-Prinzips, des Modalitätsprinzips und des Red-
forschungsmethodischen Anforderungen genügen. undanzprinzips sowie des Aufmerksamkeitsteilungsprinzips
Unter diesen waren nach Angaben der Autoren nur zwei nach dem Grad ihrer Effektivität ordnen (. Abb. 19.3).
Studien, in denen die jeweils optimale Lernmethode in Das Multimedia-Prinzip ((7) vs. (3); . Abb. 19.2) besagt,
den verschiedenen Lernstilgruppen – im Einklang mit der dass der Lernerfolg bei einer Kombination aus schriftlichem
Lernstilhypothese – verschieden war. Eine dieser beiden
19 Studien wurde von den Autoren im Detail diskutiert und
in forschungsmethodischer Hinsicht stark kritisiert. In den Schriftlicher Text
übrigen drei Studien, die die forschungsmethodischen Nein Ja
Anforderungen erfüllten, fanden sich dagegen gerade Mündlicher Text
keine Belege dafür, dass für verschiedene Lernstilgruppen Nein Ja Nein Ja
jeweils unterschiedliche Lernmethoden optimal sind.
Aus Sicht der Autoren folgt aus den vorliegenden Nein (1) (2) (3) (4)
Befunden zwar nicht, dass die Lernstilhypothese nicht
Bilder
zutrifft, insbesondere da ja nur einzelne Lernstile unter-
sucht wurden; sie betonen aber, dass praktisch keine Ja (5) (6) (7) (8)
belastbaren Belege für ihre Gültigkeit vorliegen. Sie weisen
. Abb. 19.2 Kombinationen aus Text und Bildern
19.1  Informationen vermitteln
379 19
. Abb. 19.3 Effektivität unter- Schriftlicher Text
Aufmerksamkeits-
schiedlicher Kombinationen aus und Bilder
teilungseffekt
Text und Bildern integriert

Mullimedia- Schriftlicher Text


Schriftlicher Text Modalitäls-
effekt und Bilder
effekt

Mündlicher Text
Redundanz- und Bilder
effekt
Schriftlicher und
mündlicher Text
und Bilder
Lernförderlicher

Text und Bildern größer ausfällt als bei schriftlichem Text Methodik
alleine (Mayer 2009). Dieses Prinzip wird damit begrün-
det, dass bei einer Kombination aus schriftlichem Text und Teilnehmende
Bildern mehr lernrelevante Verarbeitung stattfinden könne, An der Untersuchung nahmen 66 Schülerinnen und Schüler
durch die Informationen aus dem Text und aus den Bildern fünfter Klassen im Alter von zehn bis elf Jahren teil, darunter 28
miteinander integriert werden, und dass dadurch ein bes- Jungen und 38 Mädchen.
seres Verständnis ermöglicht werde (Mayer 2009). Richard
Mayer beziffert diesen so genannten Multimediaeffekt auf der Untersuchungsplan
Grundlage eigener Untersuchungen mit einer Effektstärke Es wurde ein Design mit den beiden Faktoren Animation
von d D 1:39 (Mayer 2009; zur Beurteilung von Effektstär- (statische Grafiken vs. Animation) und Segmentlänge (kurze vs.
ken 7 Kap. 27). Eine ältere Metaanalyse ergab eine Effektstärke lange Segmente) realisiert.
von d D 0:71 (Levin et al. 1987). Eine wichtige Rolle
für die Höhe des Effekts von Kombinationen aus Text und Unterrichtseinheit und Ablauf
Bildern auf den Lernerfolg spielen jedoch die oben beschrie- Die Lernenden hatten die Aufgabe, innerhalb einer Lern-
benen Funktionen von Bildern: Bilder mit bloßer Dekorati- phase von 430 Sekunden eine Origami-Figur mit 24 Schritten
onsfunktion erwiesen sich in der genannten Metaanalyse als falten zu lernen. Nach einem Vortest mit Fragen zu demogra-
wirkungslos für den Lernerfolg. Bilder mit Repräsentations-, phischen Informationen und einschlägigen Vorkenntnissen be-
Organisations-, Interpretations- und Transformationsfunk- gann die Lernphase, auf die ein abschließender Nachtest folgte.
tion weisen (in dieser Reihenfolge) mittlere bis große Ef-
fektstärken (d) zwischen etwa 0.5 und 1.4 auf (Levin et al. Bedingungen
1987). Unterschieden werden sollte außerdem nach der Quel- In der Bedingung mit einer Animation mit langen Segmen-
le unterschiedlicher Bestandteile des erworbenen Wissens: ten wurde den Teilnehmenden ein Video ohne Audiospur von
Während in einer weiteren Metaanalyse eine Effektstärke von 250 Sekunden Dauer gezeigt, auf dem die 24 Schritte der
0.55 für Wissen über Informationen, die auch in Bildern Origami-Figur vorgeführt wurden. Danach konnten sie diese
enthalten sind, ermittelt werden konnte, fanden sich keine 180 Sekunden lang gedanklich wiederholen. In der Bedingung
Belege für Effekte auf Wissen über Informationen aus dem mit einer Animation mit kurzen Segmenten wurden ihnen sechs
Text, die nicht auch in Bildern enthalten sind (Levie & Lentz Videos ohne Audiospur mit je vier der 24 Schritte gezeigt.
1982). Nach jedem der sechs Videosegmente konnten sie diese jeweils
30 Sekunden lang gedanklich wiederholen. In der Bedingung
mit statischen Grafiken mit langen Segmenten wurde ihnen für
Studie: Effekte von Animationen auf den Erwerb motori- eine Zeitspanne von 250 Sekunden eine scrollbare Seite mit je
scher Fertigkeiten (Wong, Leahy, Marcus & Sweller 2012) drei bis fünf Screenshots aus dem Animationsvideo pro Schritt
Aufbauend auf Studien, in denen positive Effekte von Anima- gezeigt. Danach konnten sie diese 180 Sekunden lang gedank-
tionen im Vergleich zu statischen Bildern auf den Erwerb moto- lich wiederholen. In der Bedingung mit statischen Grafiken mit
rischer Fertigkeiten nachgewiesen wurden, wurde untersucht, kurzen Segmenten wurden ihnen jeweils gleich lang wie die ent-
ob dieser positive Effekt von Animationen nur bei Animatio- sprechenden Segmente in der Bedingung mit Animation mit
nen mit kürzeren Segmenten, nicht aber bei Animationen mit kurzen Segmenten sechs scrollbare Seiten mit je vier der 24
längeren Segmenten auftritt. Da Animationen „transient“ sind, Schritte mit drei bis fünf Screenshots aus dem Animationsvideo
d. h. Informationen beinhalten, die verschwinden, um durch pro Schritt gezeigt. Nach jeder der sechs Seiten konnten sie die-
neue Informationen ersetzt zu werden, müssen bei Anima- se jeweils 30 Sekunden lang gedanklich wiederholen.
tionen mit längeren Segmenten mehr Informationen für die
weitere Verarbeitung im Arbeitsgedächtnis gehalten werden. Messung des Lernerfolgs
Das kann zur Überlastung führen, sodass Informationen vor der Der Lernerfolg wurde im Nachtest anhand der Aufgabe er-
weiteren Verarbeitung verloren gehen können. fasst, innerhalb von vier Minuten aus einem quadratischen Blatt
380 Kapitel 19  Medien im Unterricht

Papier die zuvor gezeigte Figur zu falten. Dabei konnten bis zu 2009). Als Begründung für dieses Prinzip wird angeführt,
16 Punkte (je einer für jede richtige Faltung) erzielt werden. dass es zum einen bei der Verarbeitung von schriftlichem Text
und Bildern zu einer kognitiven Überlastung des visuellen
Ergebnisse und Schlussfolgerungen Kanals und zum anderen durch den unnötigen Versuch, den
schriftlichen und den mündlichen Text miteinander abzu-
Der Lernerfolg war in den Bedingungen mit Animationen im gleichen und Beziehungen zwischen beiden herzustellen, zu
Durchschnitt statistisch belastbar höher als in den Bedingun- einer kognitiven Überlastung des verbalen Kanals kommen
gen mit statischen Grafiken; dieser Unterschied entsprach einer könne (Mayer 2009). Während Mayer auf der Grundlage eige-
mittleren bis großen Effektstärke. Für die Segmentlänge wurde ner Untersuchungen die Effektstärke für den Redundanzeffekt
kein statistisch belastbarer Unterschied im Lernerfolg festge- mit d D 0:72 beziffert (Mayer 2009), ergab eine Metaana-
stellt. Auch der erwartete Interaktionseffekt zwischen Anima- lyse eine Effektstärke von d D 0:29 für Bedingungen mit
tionen und Segmentlänge war statistisch belastbar und lag im schriftlich und mündlich dargebotenem Text im Vergleich
Bereich einer mittleren Effektstärke: Animationen hatten nur zu Bedingungen mit ausschließlich mündlich dargebotenem
bei kurzen Segmenten einen statistisch belastbaren, großen Text, während im Vergleich zu nur schriftlichem Text kein
Effekt auf den Lernerfolg, nicht jedoch bei langen Segmen- Unterschied festgestellt werden konnte (Adesope & Nesbit
ten. Die Autoren erklären dies damit, dass Animationen eine 2012). Dem Redundanzprinzip fehlt somit eine eindeutige
realistischere Darstellung eines Bewegungsablaufes bieten, da empirische Untermauerung.
sie weniger Schlussfolgerungen erfordern, und somit weniger Das Aufmerksamkeitsteilungsprinzip (split-attention prin-
kognitive Belastung verursachen, jedoch nur, wenn keine lan- ciple) bzw. räumliche Kontiguitätsprinzip (Variante von (6) vs.
gen Segmente mit transienter Information zu verarbeiten sind. (6); . Abb. 19.2) besagt, dass der Lernerfolg bei einer Kombi-
nation aus schriftlichem Text und Bildern, die miteinander
integriert dargeboten werden, größer ausfällt als bei einer
Das Modalitätsprinzip ((6) vs. (7); . Abb. 19.2) besagt, dass Kombination aus schriftlichem Text und Bildern, die iso-
der Lernerfolg bei einer Kombination aus mündlichem Text liert voneinander dargeboten werden (Mayer 2009). Dieses
und Bildern größer ausfällt als bei einer Kombination aus Prinzip wird damit begründet, dass durch die integrierte Dar-
schriftlichem Text und Bildern (Mayer 2009). Dieses Prin- stellung eine kognitive Überlastung aufgrund von visuellen
zip wird damit begründet, dass bei einer Kombination aus Suchaktivitäten bei der Integration von Text- und Bildin-
mündlichem Text und Bildern für die Verarbeitung des Texts formationen durch die Lernenden vermieden werde (Mayer
ausschließlich die kognitive Kapazität des auditiven Kanals 2009). Mayer beziffert diesen räumlichen Kontiguitätseffekt
genutzt werde, während es bei einer Kombination aus schrift- auf der Grundlage eigener Experimente mit einer Effektstärke
lichem Text und Bildern zu einer kognitiven Überlastung des von d D 1:12 (Mayer 2009). In einer Metaanalyse wurde für
visuellen Kanals kommen könne (Mayer 2009). Mayer bezif- den Aufmerksamkeitsteilungseffekt ebenfalls eine vergleichs-
fert diesen so genannten Modalitätseffekt auf der Grundlage weise hohe positive Effektstärke von d D 0:72 ermittelt
eigener Arbeiten mit einer Effektstärke von d D 1:02 (Mayer (Ginns 2006).
2009). Eine Metaanalyse ergab eine mittlere Effektstärke von Das zeitliche Kontiguitätsprinzip besagt, dass der Lerner-
d D 0:72 (Ginns 2005). Besondere Beachtung verdient in folg bei einer Kombination aus mündlichem Text und Bil-
diesem Zusammenhang allerdings, dass der Modalitätseffekt dern, die gleichzeitig miteinander dargeboten werden, grö-
in einer Reihe von Primärstudien nicht repliziert werden ßer ausfällt als bei einer Kombination aus mündlichem Text
konnte (z. B. Lindow, Fuchs, Fürstenberg, Kleber, Schweppe und Bildern, die nicht gleichzeitig miteinander dargeboten
& Rummer 2011). Vertreter der CLT erklärten diese uner- werden (Mayer 2009). Die Begründung für dieses Prinzip
warteten Befunde mit der Transienz mündlicher Texte: Diese besagt, dass durch die gleichzeitige Darbietung von mündli-
müssen anders als persistente schriftliche Texte für die wei- chem Text und Bildern eine kognitive Überlastung vermieden
tere Verarbeitung im Arbeitsgedächtnis gehalten werden, da werden könne, wie sie bei nicht gleichzeitiger Darbietung auf-
sie „nach ihrem Verklingen“ nicht erneut konsultiert werden grund der Notwendigkeit auftreten könne, die Informationen
19 können. Insbesondere bei langen oder komplexen mündli- aus einer Informationsquelle im Arbeitsgedächtnis zu halten,
chen Texten könne es dadurch zu einer kognitiven Überlas- bis die entsprechenden damit zu integrierenden Informatio-
tung kommen, sodass sich der Modalitätseffekt bei diesen nen aus der anderen Informationsquelle eintreffen (Mayer
Texten auch umkehren könne. Diese Erklärung führte zu ei- 2009). Die von Mayer auf der Grundlage eigener Studien er-
ner Revision und Einschränkung des Modalitätsprinzips, das mittelte Effektstärke für diesen zeitlichen Kontiguitätseffekt
nun nur noch für kurze und wenig komplexe Texte gelten soll, beträgt d D 1:31 (Mayer 2009). Auch in diesem Fall ergab
und zur Einführung der umgekehrten Aussage unter der Be- eine Metaanalyse eine vergleichsweise hohe positive Effekt-
zeichnung Transienzprinzip (transiency principle) für längere stärke von d D 0:78 (Ginns 2006).
oder komplexere Texte (Low & Sweller 2014; 7 Studie). Das Kohärenzprinzip besagt, dass der Lernerfolg bei Lern-
Das Redundanzprinzip ((6) vs. (8); . Abb. 19.2) besagt, material, das keine überflüssigen Informationen wie bei-
dass der Lernerfolg bei einer Kombination aus mündlichem spielsweise interessante, aber irrelevante Textinformationen,
Text und Bildern größer ausfällt als bei einer Kombination Bilder, Geräusche, Musik oder für das Verständnis der Kern-
aus mündlichem und schriftlichem Text und Bildern (Mayer aussagen unnötigen Text enthält, größer ausfällt als bei Lern-
19.2  Individuelle Lernaktivitäten ermöglichen und unterstützen
381 19
material, das derartige überflüssige Informationen enthält zum Thema „Einführung des Teilchenmodells“ entwickelt.
(Mayer 2009). Als Begründung für dieses Prinzip wird an- Jede einzelne Lerneinheit besteht aus einem Basistext, einem
gegeben, dass bei Lernmaterial ohne derartige überflüssi- Experiment, interaktiven Lernaufgaben und einer Zusam-
ge Informationen eine kognitive Überlastung aufgrund der menfassung sowie einer Aufforderung an die Lernenden zum
Verarbeitung überflüssiger Informationen vermieden wird Erstellen einer eigenen Zusammenfassung. Zur Darstellung
(Mayer 2009). Die von Mayer auf der Grundlage eigener der Inhalte werden Texte eingesetzt, die gemäß auf wissen-
empirischer Untersuchungen für diesen Kohärenzeffekt bei schaftlicher Grundlage entwickelten Gestaltungsregeln für
unterschiedlichen Arten überflüssiger Information ermittel- verständliche Texte formuliert wurden. Beim Einsatz von Bil-
ten Effektstärken (d) liegen im Bereich zwischen 0.82 und dern werden Prinzipien des multimedialen Lernens beachtet,
1.66 (Mayer 2009). insbesondere das Kohärenzprinzip, sodass keine dekorativen
Somit bleibt festzuhalten, dass manche der Prinzipien Bilder verwendet werden, und das räumliche Kontiguitäts-
des multimedialen Lernens (insbesondere Multimediaprin- prinzip, sodass Text und Bilder so eng wie möglich mitein-
zip, Aufmerksamkeitsteilungsprinzip, zeitliches Kontiguitäts- ander integriert werden. Die digitalen Möglichkeiten werden
prinzip) empirisch gut gesichert sind, während sich andere insbesondere dafür genutzt, Animationen sowie Videos von
angesichts empirischer Forschungsergebnisse als revisionsbe- Experimenten einzubinden. Das Potential digitaler Techno-
dürftig erweisen (Modalitätsprinzip) oder nicht ohne Weite- logien wird außerdem für Möglichkeiten für die Lernenden
res mit der Befundlage in Einklang zu bringen sind (Redun- genutzt, selbstbestimmte Lernaktivitäten auszuführen. Da-
danzprinzip). Neben diesen grundlegenden Prinzipen findet zu gehört beispielsweise die wiederkehrende Aufgabe, zu
sich in der Literatur eine Vielzahl weiterer Prinzipien, etwa jeder Lerneinheit selbstständig eine Zusammenfassung zu
das Signalisierungsprinzip, das Segmentierungsprinzip, das erstellen und in einer persönlichen „Lernlandkarte“ einzu-
Vortraining-Prinzip oder das Prinzip des generativen Zeich- tragen. Daneben bietet das digitale Schulbuch eine Vielzahl
nens sowie mehrere Animationsprinzipien (vgl. Mayer 2014). interaktiver Lernaufgaben wie das Erstellen von Zeichnun-
Von besonderer Bedeutung ist neben den oben im De- gen beispielsweise von Teilchenmodellen. Außerdem sind
tail ausgeführten grundlegenden Prinzipien abschließend das Simulationen, anhand derer die Schülerinnen und Schüler
folgende Prinzip, das die Gültigkeit der übrigen Prinzipien selbst Experimente durchführen können, eingebunden (Ul-
auf Lernende mit geringem Vorwissen einschränkt: rich et al. 2014). Hier zeigt sich erneut, dass digitale Medien
Das Prinzip der Effektumkehrung bei hohem Vorwissen mehr als eine Funktion zugleich haben können: Neben der
(expertise reversal principle) besagt, dass bei Lernenden mit Vermittlung von Informationen durch multimediale Darstel-
hohem Vorwissen die oben beschriebenen Effekte nicht oder lungsmittel ermöglicht eChemBook den Schülerinnen und
sogar umgekehrt auftreten (Kalyuga 2014). Beispielsweise Schülern, selbstbestimmte Lernaktivitäten auszuführen, und
führt die Integration von schriftlichem Text in ein Bild bei bietet dafür Unterstützung an. Damit lässt sich mit diesem
Lernenden mit hohem Vorwissen zu einem geringeren Lern- digitalen Schulbuch auch sogenanntes simulationsbasiertes
erfolg als das Bild alleine (Kalyuga, Chandler & Sweller 1998). entdeckendes Lernen realisieren, das im folgenden Abschnitt
Diese Umkehrung wird damit erklärt, dass für Lernende mit genauer erläutert wird.
hohem Vorwissen die integrierten Informationen redundant
sind und dadurch zu kognitiver Überlastung führen. Derar-
tige Effektumkehrungen bei hohem Vorwissen konnten für
verschiedene der oben genannten Prinzipien nachgewiesen 19.2 Individuelle Lernaktivitäten
werden (z. B. das Aufmerksamkeitsteilungsprinzip) (Kalyuga ermöglichen und unterstützen
2014).
Die dargestellten Prinzipien beanspruchen Geltung für
eine Vielzahl digitaler wie auch älterer analoger Medien Im vorhergehenden Abschnitt lag die optimale mediale Ge-
im Unterricht: für das Layout von Schulbüchern und Ar- staltung von Lernmaterial zum Zweck der Informationsver-
beitsblättern ebenso wie für die Gestaltung von Tafelbil- mittlung im Fokus. Im aktuellen Abschnitt steht dagegen die
dern, Darstellungen auf dem Smartboard oder PowerPoint- Funktion von Medien im Vordergrund, Lernaktivitäten zu er-
Präsentationen, oder auch für Multimedia-Angebote im Un- möglichen und zu unterstützen. Zu diesem Zweck werden
terricht. Zu letzteren zählen auch neuere Entwicklungen wie durch Medien Aspekte der Realität simuliert. Die eingesetz-
„digitale Schulbücher“. Ein Beispiel dafür stellt „eChem- ten Simulationen bilden einen relevanten Ausschnitt eines
Book“ dar, ein Projekt, in dem in einer Zusammenarbeit realen Systems von Variablen und Zusammenhängen zwi-
zwischen Vertretern der Pädagogischen Psychologie sowie schen diesen Variablen ab. Im Rahmen der simulierten Reali-
der Fachdidaktik für Chemie, einem Schulbuchverlag und ei- tät müssen die Lernenden bestimmte Aspekte manipulieren,
nem Hersteller von Smartboards ein Prototyp für ein digitales um aus den Auswirkungen Schlüsse zu ziehen, Informationen
Schulbuch für den Chemieunterricht entwickelt und im Rah- recherchieren oder Probleme lösen. Im Folgenden werden
men empirischer Untersuchungen erprobt wurde (Ulrich, zwei instruktionale Ansätze vorgestellt, bei denen Medien in
Richter, Scheiter & Schanze 2014). In diesem digitalen Schul- Form von Simulationen zu Einsatz kommen: (1) das simu-
buch ist jedes Thema in voneinander weitgehend unabhän- lationsbasierte entdeckende Lernen und (2) das spielbasierte
gige Lerneinheiten gegliedert. Zunächst wurde eine Einheit Lernen mit Simulationen.
382 Kapitel 19  Medien im Unterricht

19.2.1 Simulationsbasiertes entdeckendes auch allgemeine Problemlösekompetenzen erworben wer-


Lernen den. Da simulationsbasiertes entdeckendes Lernen außerdem
häufig in kleinen Gruppen von zwei oder mehr Schülerinnen
Das simulationsbasierte entdeckende Lernen ist eine Form und Schülern durchgeführt wird, eignet es sich auch zur För-
der Erarbeitung von Wissen über Gesetzmäßigkeiten, die derung von Kooperations- und Argumentationsfähigkeiten
anhand von Experimenten erschlossen und geprüft werden (7 Kap. 17).
können. Die Kernelemente dieses Ansatzes lassen sich folgen- Die eingesetzten Simulationen bilden in der Regel ein rea-
dermaßen definieren: les System von Variablen und Zusammenhängen zwischen
diesen ab. In der Forschung wurden jedoch auch Simula-
tionen entwickelt, denen kein direktes Gegenstück in der
Als entdeckendes Lernen bezeichnet man ein Lernszenario, Realität entspricht. Damit kann zwar kein inhaltliches Wis-
in dem die Lernenden Wissen über Gesetzmäßigkeiten sen über einen realen Phänomenbereich erworben werden.
erwerben sollen, indem sie selbst Experimente zu den Ein Vorteil dieser Simulationen liegt jedoch darin, dass damit
Phänomenen, von denen diese Gesetzmäßigkeiten der Schwerpunkt auf die Förderung von Kompetenzen des
handeln, durchführen und daran die Gültigkeit von wissenschaftlichen Denkens gelegt werden kann, ohne dass
Vermutungen über diese Gesetzmäßigkeiten überprüfen deren Einübung durch vorhandenes inhaltliches Vorwissen
(vgl. de Jong & van Joolingen 1998). der Schülerinnen und Schüler beeinträchtigt wird.
Entdeckendes Lernen ist in vielen Fällen auch ohne com-
puterbasierte Simulationen möglich. Gründe für den Einsatz
Dieser Ansatz bietet sich primär zur Vermittlung von von computerbasierten Simulationen sind jedoch häufig, dass
Wissen über Gesetzmäßigkeiten aus dem Bereich der Na- diese eine ökonomische Möglichkeit darstellen, allen Schü-
turwissenschaften und teilweise auch der Sozial- und Wirt- lerinnen und Schülern das Experimentieren mit dem fragli-
schaftswissenschaften an. Viele Inhalte aus anderen Schul- chen System zu ermöglichen, ohne dass dafür große Mengen
fächern, etwa historische Tatsachen, soziale und institutio- an Material nötig wären. Darüber hinaus birgt das Lernen mit
nelle Normen oder teilweise konventionsbasierte Merkmale computerbasierten Simulationen in vielen Fällen vergleichs-
literarischer, musik- oder kunstgeschichtlicher Genres oder weise wenig Risiko für Unfug – etwa im Vergleich zu realen
Epochen, lassen sich hingegen nicht oder zumindest nicht Experimenten zum Schwimmen und Sinken von Gegenstän-
sinnvoll durch Experiment und Beobachtung erarbeiten. den im Wasser –, wenige Gefahren – etwa im Vergleich zu
Eine prototypische Aufgabe beim entdeckenden Lernen realen Experimenten im Bereich der Elektrizitätslehre – und
besteht etwa darin, das Hookesche Gesetz zum Zusammen- geringeren Zeitbedarf – etwa im Vergleich zu realen Experi-
hang zwischen einer Kraft und der Ausdehnung einer durch menten zur Kreuzung von Erbsenpflanzen. Ergebnisse empi-
diese Kraft gedehnten Feder zu entdecken und dazu zunächst rischer Untersuchungen deuten darauf hin, dass es für den
herauszufinden, von welchen von mehreren physikalischen Lernerfolg zumeist keine Rolle spielt, ob reale Experimen-
Größen überhaupt abhängt, wie weit eine Feder gedehnt te oder Experimente mit computerbasierten Simulationen
wird. Dazu können Lernende in einer Computersimulation durchgeführt werden (z. B. Triona & Klahr 2003).
zwischen acht Federn wählen, von denen für jeden Simulati-
onsdurchgang immer zwei nebeneinander verwendet werden1 Theoretischer Hintergrund des entdeckenden Lernens
können. Diese acht Federn unterscheiden sich in ihrer Länge Für das Lernen durch das Entdecken von Wirkungszusam-
(kurz vs. lang), der Dicke des Drahtes (dünn vs. dick) und ih- menhängen wie in computerbasierten Simulationen ist die
rem Durchmesser (klein vs. groß). Außerdem kann zwischen so genannte Theorie der wissenschaftlichen Entdeckung als
zwei Gewichten (leicht vs. schwer) gewählt werden, die in der doppelter Suche (Scientific Discovery as Dual Search, SDDS;
Simulation unten an die Federn gehängt werden können. Bei Klahr & Dunbar 1988) einschlägig. Dieser Theorie zufolge
jedem Durchgang können die Lernenden nach dem Start der „durchsuchen“ Lernende beim Experimentieren zwei „Räu-
Simulation wie in einem realen Versuch beobachten, wie weit me“: den Experiment- und den Hypothesenraum. Der Ex-
19 jede der beiden verwendeten Federn gedehnt wird (vgl. Chen perimentraum umfasst alle möglichen Experimente in einem
& Klahr 1999). Phänomenbereich bzw. mit einem System.
Mit einem derartigen simulationsbasierten Lernszenario
können zumindest zwei mögliche Lernergebnisse erreicht Unter einem Experiment versteht man einen Vergleich
werden: Zum einen können die Schülerinnen und Schüler da- von zwei Versuchen. Ein Versuch umfasst jeweils die
mit inhaltliches Wissen erwerben – in diesem Fall Wissen da- Festlegung eines bestimmten Wertes für jede einzelne frei
rüber, wovon abhängt, wie weit eine Feder gedehnt wird. Zum variierbare Größe sowie das Ziel, die davon möglicherweise
anderen können in solchen Lernszenarien auch verschiedene abhängige interessierende Größe zu beobachten.
fächerübergreifende Kompetenzen gefördert werden. An ers-
ter Stelle stehen dabei Kompetenzen des wissenschaftlichen
Denkens – in diesem Fall etwa, wie man durch Experimente Im Beispiel mit den Federn gibt es 16 mögliche Versu-
Gesetzmäßigkeiten entdecken und überprüfen kann. Darü- che (2 Längen  2 Dicken  2 Durchmesser  2 Gewichte).
ber hinaus können in simulationsbasierten Lernumgebungen Da in jedem Durchgang zwei Federn miteinander verglichen
19.2  Individuelle Lernaktivitäten ermöglichen und unterstützen
383 19
werden, können mit diesem Material insgesamt 120 verschie- zwischen den beiden verglichenen Konstellationen identische
dene Experimente (16 Kombinationen aus einer Feder und Werte haben. Diese Vorgehensweise wird als „Strategie der
einem Gewicht  15 andere Kombinationen aus einer Feder Variablenkontrolle“ (control of variables strategy, CVS) be-
und einem Gewicht/2 (irrelevante) Reihenfolgen) durchge- zeichnet. Selbstverständlich sind aber auch andere Vergleiche
führt werden, sofern man Vergleiche zwischen identischen möglich, bei denen sich die beiden verglichenen Konstella-
Kombinationen aus Feder und Gewicht außen vor lässt. tionen nicht nur in der interessierenden variierbaren Größe
Der Hypothesenraum umfasst alle zu einem Phänomen- unterscheiden. Im Beispiel wäre dies der Fall, wenn sich die
bereich bzw. über ein System formulierbaren Hypothesen. beiden Versuche nicht nur im Durchmesser der Feder un-
terscheiden würden, sondern auch noch in der Dicke des
Unter einer Hypothese wird eine Aussage über Bestehen,
Drahts. Solche Vergleiche kommen insbesondere bei Schüle-
Richtung und Ausmaß eines unter bestimmten Bedin-
rinnen und Schülern der zweiten und dritten Jahrgangsstufe
gungen vorhandenen Zusammenhangs zwischen einer
häufig vor. Das Ausmaß der Anwendung der Strategie der Va-
variierbaren Größe mit einer anderen Größe verstanden.
riablenkontrolle ist dabei entscheidend für den Lernerfolg:
Schülerinnen und Schüler, die diese Strategie konsistent an-
wenden, erwerben mehr inhaltliches Wissen über das System
Von diesen möglichen Hypothesen treffen in der Regel bzw. den Phänomenbereich als diejenigen, die dies nicht tun
einige zu, die meisten anderen nicht. Wenn es im Beispiel (Chen & Klahr 1999).
mit den Federn nicht um die exakte Ausdehnung der Feder, Nachdem die Lernenden ein Experiment durchgeführt
sondern lediglich darum gehen soll, ob eine bestimmte Aus- haben, ziehen sie aus ihren Beobachtungen Schlussfolgerun-
prägung einer variierbaren Größe im Vergleich zur jeweils gen über die Gültigkeit ihrer Hypothesen und nehmen ggf.
anderen Ausprägung derselben variierbaren Größe die Deh- Modifikationen daran vor, d. h. sie durchsuchen den Hypo-
nung der Feder vergrößert, verringert oder unverändert lässt, thesenraum nach Abwandlungsmöglichkeiten der bisherigen
lassen sich insgesamt zwölf „allgemeine“ Hypothesen formu- Hypothese. Wenn im durchgeführten Experiment beispiels-
lieren, d. h. Hypothesen (4 variierbare Größen  3 mögli- weise tatsächlich ein Unterschied in der Ausdehnung der
che Auswirkungen) über die Rolle einer variierbaren Größe Feder (in der vorhergesagten Richtung) beobachtet wurde,
für die Ausdehnung der Feder unabhängig von den Ausprä- können sie als nächstes Hypothesen in Betracht ziehen, in
gungen der anderen drei variierbaren Größen. Ein Beispiel denen die Geltung dieses Zusammenhangs auf bestimmte
für eine solche allgemeine Hypothese lautet: „Bei kleinem Bedingungen eingeschränkt wird. Wenn dagegen kein Unter-
Durchmesser der Feder ist ihre Ausdehnung [bei gleichem schied in der Ausdehnung der Feder (in der vorhergesagten
Gewicht] geringer als bei großem.“ Darüber hinaus können Richtung) festgestellt wurde, kann die aktuelle Hypothese
aber auch eingeschränkte Hypothesen, sogenannte „Inter- verworfen und abgeändert werden. Eine solche Abwandlung
aktionshypothesen“ aufgestellt werden. In diesen wird ein kann sich etwa auf die Wirkungsrichtung der fraglichen va-
solcher Zusammenhang lediglich für bestimmte Konstella- riierbaren Größe beziehen, auf die Auswahl einer anderen
tionen der übrigen variierbaren Größen angenommen. Ein variierbaren Größe oder auf die Suche nach anderen Kon-
Beispiel dafür wäre „Wenn der Draht dick und das Gewicht stellationen der übrigen variierbaren Größen, unter denen die
schwer ist, ist bei kleinem Durchmesser der Feder ihre Aus- vorhergesagte Wirkung auftreten könnte.
dehnung geringer als bei großem.“ Die Aktivitäten beim Durchsuchen der beiden Räume
Nach der Theorie der wissenschaftlichen Entdeckung als werden auch als transformative Aktivitäten bezeichnet (de
doppelter Suche lässt sich wissenschaftliches Denken, das Jong & van Joolingen 1998), da sich der Wissensstand der Ler-
zur Entdeckung von Wirkungszusammenhängen führt, als nenden verändert. Zu diesen gehören:
koordinierte Suche in den beiden beschriebenen Räumen, 1. das Aufstellen von Hypothesen (Suche im Hypothesen-
dem Hypothesen- und dem Experimentraum, charakterisie- raum),
ren: Wenn Lernende eine Vermutung über die Rolle einer 2. die Entwicklung von Experimenten (Suche im Experi-
variierbaren Größe aufgestellt haben und diese Hypothese mentraum) und
prüfen möchten, überlegen sie sich, mit welchem Experiment 3. das Ziehen von Schlussfolgerungen aus den beobachteten
sie diese prüfen könnten. Sie suchen also in Abhängigkeit von Daten (Suche im Hypothesenraum).
der formulierten Hypothese im Experimentraum nach einem
geeigneten Experiment. Wenn die Hypothese beispielsweise Da diese im Verlauf mehrerer aufeinander folgender Experi-
lautet: „Bei kleinem Durchmesser der Feder ist ihre Ausdeh- mente in der Regel zyklisch durchlaufen werden, spricht man
nung geringer als bei großem.“, könnten sie beispielsweise auch von einem so genannten „Forschungszyklus“ (inquiry
für die beiden zu kontrastierenden Versuche zwei Konstella- cycle). Dabei ist jedoch zu beachten, dass jederzeit zu bereits
tionen von Werten der variierbaren Größen auswählen, die ausgeführten Aktivitäten zurückgegangen oder zu eigentlich
sich in ihrem Durchmesser unterscheiden, z. B. kleiner vs. erst später folgenden Aktivitäten gesprungen werden kann.
großer Durchmesser der Feder bei dickem Draht, langer Fe- Neben diesen transformativen Aktivitäten, durch die der
der und schwerem Gewicht. Ein solches Experiment ist in Wissensstand unmittelbar verändert wird, spielen auch so ge-
Bezug auf die Wirksamkeit der fraglichen variierbaren Größe nannte regulative Aktivitäten, also Steuerungsaktivitäten wie
nur informativ, wenn die übrigen variierbaren Größen jeweils das Planen und Überwachen eine wichtige Rolle (7 Kap. 4).
384 Kapitel 19  Medien im Unterricht

1 Möglichkeiten der Unterstützung beim sammenhänge auswirkt. Erwartet wurde ein positiver Effekt, da
simulationsbasierten entdeckenden Lernen durch eine Beschränkung der Anzahl der fokussierten Variablen
In einer Reihe von Untersuchungen hat sich jedoch gezeigt, die Auswahl von Werten weiterer Variablen eingeschränkt wird
dass viele Schülerinnen und Schüler Schwierigkeiten bei der und die Lernenden bei der Steuerung ihrer Suche im Experi-
Ausführung der angesprochenen Lernaktivitäten haben (de mentraum unterstützt werden.
Jong & van Joolingen 1998; Zimmerman 2007). Vor diesem
Hintergrund überrascht es kaum, dass Befunden zufolge ent- Methodik
deckendes Lernen im Vergleich zu darstellenden und stärker
unterstützenden Unterrichtsmethoden eher negative Auswir- Teilnehmende
kungen auf den Lernerfolg hat: In einer Metaanalyse wurde An der Untersuchung nahmen 61 Schülerinnen und Schüler
eine negative Effektstärke von d D 0:38 für entdeckendes im Alter von etwa elf Jahren teil, darunter 29 Jungen und 32
Lernen im Vergleich zu eher direkten Formen der Wissens- Mädchen.
vermittlung ermittelt (Alfieri, Brooks, Aldrich & Tenenbaum
2011; siehe auch Furtak, Seidel, Iverson & Briggs 2012; s. Untersuchungsplan
7 Kap. 16). Es wurde ein einfaktorielles Design mit den drei Bedin-
Es erscheint daher unabdingbar, Schülerinnen und Schü- gungen ganze Aufgabenstellung, aufgeteilte Aufgabenstellung
ler beim entdeckenden Lernen durch geeignete Maßnahmen und eigene Aufgabenstellung eingesetzt. Die Teilnehmer wur-
zu unterstützen. Beim Aufstellen von Hypothesen können den einzeln per Zufall auf die drei Bedingungen verteilt.
Lernende beispielsweise schlicht dazu angehalten werden,
ihre Hypothesen schriftlich festzuhalten, oder ihnen kann Unterrichtseinheit und Ablauf
eine Struktur zur Formulierung von Hypothesen oder zur Die Lernenden sollten innerhalb einer Lernphase von 30 Mi-
Beschreibung von Vorhersagen etwa in Form eines Rasters nuten Dauer im regulären naturwissenschaftlichen Unterricht
für erwartete Beobachtungen vorgegeben werden. Bei der durch Versuche in einer Computersimulation herausfinden, wie
Entwicklung und Durchführung von Experimenten können sich die Tonhöhe (tief, mittel, hoch) sowie die Größe (klein,
ihnen Hinweise zum Experimentieren oder auch genaue Auf- mittel, groß), das Material (glatt, rau) und die Farbe (weiß, rot,
gabenstellungen für durchzuführende Experimente gegeben schwarz) der Wandfläche auf die Dauer des Nachhalls eines
werden (7 Studie). Für die Dokumentation der Beobachtun- Gongs auswirken. Nach einem Fragebogen zu ihren Überzeu-
gen, die sie dabei machen, kann ihnen etwa ein Beschrei- gungen zu den Auswirkungen der vier variierbaren Größen auf
bungsraster zur Verfügung gestellt werden. Wenn es schließ- die Dauer des Nachhalls und einer Demonstration der Nutzung
lich um das Ziehen von Schlussfolgerungen aus den beob- der Lernumgebung an einer digitalen Tafel begann die Lern-
achteten Daten geht, können die Lernenden durch Aufga- phase in der Computersimulation, bevor abschließend erneut
benstellungen zum Erklären der Beobachtungen unterstützt der Fragebogen zu den Überzeugungen der Lernenden zu den
werden. Über diese Arten der Unterstützung für die genann- Auswirkungen der vier variierbaren Größen auf die Dauer des
ten transformativen Aktivitäten hinaus können Lernende Nachhalls bearbeitet wurde.
beim forschenden Lernen auch hinsichtlich ihrer regulativen
Aktivitäten unterstützt werden, etwa durch die Bereitstellung Bedingungen
eines „digitalen Notizbuchs“, einer Anleitung zu den einzel- In der Bedingung mit der ganzen Aufgabenstellung wurde
nen Schritten beim Experimentieren oder die Vorgabe einer den Lernenden eine einzige Aufgabenstellung vorgelegt, in der
Abfolge von Aktivitäten mit unterstützenden Hinweisen (de alle vier variierbaren Größen genannt wurden. In der Bedin-
Jong & van Joolingen 1998). gung mit aufgeteilter Aufgabenstellung wurde ihnen nacheinan-
Entdeckendes Lernen kann sich im Vergleich zu darstel- der je eine Aufgabenstellung zu jeder der vier variierbaren Grö-
lenden und stärker unterstützenden Unterrichtsmethoden ßen vorgelegt. In der Bedingung mit eigener Aufgabenstellung
positiv auf den Lernerfolg auswirken, wenn die Lernenden wurden sie einmalig aufgefordert, eine eigene Fragestellung zu
dabei angemessen unterstützt werden. Die bereits erwähn- formulieren, die im weiteren Verlauf der Lernphase dauerhaft
19 te Metaanalyse ermittelte dafür eine kleine, jedoch statistisch oben auf dem Bildschirm der Simulation angezeigt wurde.
belastbar positive Effektstärke von d D 0:30 (Alfieri et al.
2011). Messung der Lernaktivitäten und des Lernerfolgs
Die Anwendung der Strategie der Variablenkontrolle wurde
Studie: Förderung der Anwendung der Strategie der Va- anhand der durchschnittlichen Anzahl der veränderten Wer-
riablenkontrolle durch aufgeteilte Aufgabenstellungen te bei den variierbaren Größen zwischen zwei Versuchen er-
beim simulationsbasierten forschenden Lernen (Lazon- fasst. Die Korrektheit der Überzeugungen zu den Auswirkungen
der & Kamp 2012) der variierbaren Größen auf die Dauer des Nachhalls wurde im
Es wurde untersucht, wie sich die Aufteilung der Aufgabenstel- genannten Fragebogen mit vier geschlossen Aufgaben zu den
lung beim simulationsbasierten forschenden Lernen in meh- Auswirkungen der vier variierbaren Größen auf die Dauer des
rere Einzelfragestellungen unter anderem auf die Anwendung Nachhalls erfasst, indem die Antworten der Lernenden mit den
der Strategie der Variablenkontrolle und dadurch schließlich tatsächlichen Auswirkungen der variierbaren Größen in der Si-
auf den Erwerb von Wissen über die untersuchten kausalen Zu- mulation verglichen wurden.
19.2  Individuelle Lernaktivitäten ermöglichen und unterstützen
385 19
Ergebnisse und Schlussfolgerungen vitäten werden dazu in Spielszenarien eingebettet. Dies be-
zeichnet man auch als „Gamification“. Die Spielkomponenten
Die Anwendung der Strategie der Variablenkontrolle war un- dienen der Schaffung einer folgenbasierten Motivation (z. B.
ter Kontrolle der Anzahl von Versuchen in der Bedingung mit Erreichung einer angestrebten Belohnung) für die eigentli-
aufgeteilter Aufgabenstellung vor der Bedingung mit eigener che Lernaktivität. Im sogenannten „Input-Prozess-Ergebnis-
Aufgabenstellung und der Bedingung mit ganzer Aufgabenstel- Modell“ (Garris, Ahlers & Diskell 2002) besteht der Input aus
lung am systematischsten; die Effektstärke zwischen allen drei dem Lerninhalt und den Spielelementen. Aus diesen Kom-
Bedingungen fiel mittel bis groß aus. Anders als der Unter- ponenten ergibt sich der „Spielprozess“. Dieser lässt sich als
schied zwischen den Bedingungen mit vorgegebener (ganzer Kreislauf aus (a) Einschätzung der Situation durch den Spie-
oder aufgeteilter) und der mit eigener Aufgabenstellung war ler, (b) Handlung des Spielers und (c) Feedback auf die Hand-
der Unterschied zwischen aufgeteilter und ganzer Aufgaben- lung des Spielers beschreiben. In diesem Kreislauf wird die
stellung statistisch belastbar. Die Ergebnisse zur Korrektheit der Interaktivität deutlich, die Spiele charakterisieren. Im Verlauf
Überzeugungen zu den Auswirkungen der variierbaren Größen eines Spiels erhalten die Spielteilnehmer fortlaufend Rück-
auf die Dauer des Nachhalls waren dazu parallel. Weitere Ana- meldung über den Erfolg ihres Handelns und können darauf
lysen ergaben folgende statistisch belastbaren Zusammenhän- basierend ihr Handeln reflektieren und ggf. ändern. Dadurch
ge: Je systematischer die Anwendung der Strategie der Variablen- kommt es zu Wissens- bzw. Kompetenzerwerb. Dieses Ergeb-
kontrolle, desto mehr korrekte Schlussfolgerungen zu wirksa- nis kann zusätzlich durch eine Reflexionsphase des Spielpro-
men variierbaren Größen wurden gezogen und desto höher fiel zesses im Anschluss an das Spiel gefördert werden.
die Korrektheit der Überzeugungen der Lernenden zu den Auswir- Mögliche Spielelemente lassen sich in Anlehnung an die
kungen der variierbaren Größen auf die Dauer des Nachhalls aus. Selbstbestimmungstheorie (Deci & Ryan 1985) danach klas-
Daraus lässt sich folgern, dass aufgeteilte Aufgabenstellungen sifizieren, inwieweit durch sie die Bedürfnisse nach Kompe-
Lernenden vermittelt über eine systematischere Anwendung tenzerleben, Autonomie und sozialer Eingebundenheit be-
der Strategie der Variablenkontrolle zu größerem Wissen über friedigt werden. Zahlreiche Spielelemente zielen darauf ab,
die untersuchten kausalen Zusammenhänge verhelfen kön- den Spielern durch positives Feedback auf bestimmte Akti-
nen. vitäten Kompetenzerleben zu ermöglichen. Zu solchen Spiel-
elementen gehören Abzeichen (Badges), Belohnungen (Re-
wards) oder Punkte für bestimmte Leistungen (z. B. tägliches
19.2.2 Spielbasiertes Lernen Üben der Vokabeln). Solche Formen des Feedbacks können
an Herausforderungen (Challenges, Quests) geknüpft werden,
Beim spielbasierten Lernen mit Simulationen (game-based die bestanden bzw. gelöst werden müssen. Dabei können eher
learning) sind sowohl der Erwerb als auch die Festigung von einfache Aufgaben (z. B. Rätsel) durch Zeitlimits anspruchs-
Wissen und Fertigkeiten möglich. In der simulierten Reali- voller und damit ggf. motivierender gemacht werden. Eine
tät ist die Anwendung der zu lernenden Aspekte relevant, um weitere Möglichkeit der Anpassung der Aufgabenstellung an
die im Spiel gestellten Aufgaben zu meistern. Darüber hi- die persönlichen Fähigkeiten besteht in Levels, die die Spie-
naus soll die spielerische Umgebung positive Effekte auf die ler nach und nach durchlaufen, wobei sie immer schwierigere
Selbstwirksamkeit haben, da sich die Lernenden im Idealfall Herausforderungen zu bewältigen haben.
in der geschützten Umgebung der Simulation als selbstbe- Spielelemente, die auf das Autonomieerleben der Spie-
stimmt und kompetent erleben. ler abzielen, sind u. a. Möglichkeiten, im Spiel verwendete
Ein Beispiel für den Einsatz von spielbasiertem Lernen Figuren („Avatare“) frei zu konfigurieren oder die Heraus-
zur Vermittlung geschichtlicher Fakten ist das Spiel „Fre- forderungen (bzw. deren Reihenfolge) selbst auszuwählen.
quency 1550“ (Huizenga, Admiraal, Akkerman & ten Dam Spielelemente zur Förderung der sozialen Eingebundenheit
2009). Das Spiel zielt darauf ab, Wissen über das Leben im können z. B. im Bilden von Gruppen bestehen, deren Mitglie-
Mittelalter zu erwerben. Im Rahmen des Spiels schlüpfen der gegeneinander spielen oder gemeinsam die Herausforde-
Schülerinnen und Schüler in die Rolle von Menschen, die im rungen angehen.
16. Jahrhundert das Recht erwerben wollen, innerhalb der
Stadtmauern von Amsterdam zu leben. Dazu müssen im ge-1 Möglichkeiten der Unterstützung beim spielbasierten
samten Stadtgebiet von Amsterdam Aufgaben gelöst werden. Lernen
Das Stadtgebiet ist dabei in verschiedene Zonen unterteilt. Zu Eine Reihe von empirischen Studien konnte zeigen, dass
jeder Zone müssen Informationen zusammengetragen wer- spielbasiertes Lernen das Potenzial hat, Wissen, Fertigkeiten,
den, die das Lösen der Aufgaben ermöglichen. Mobile Geräte Einstellungen und Überzeugungen positiv zu beeinflussen
mit GPS erlauben es, im heutigen Amsterdam zur entspre- (z. B. Barab et al. 2009; Kafai, Quintero & Feldon 2010). In
chenden Position Informationen zur Stadt im Mittelalter zu einer Metaanalyse berichten Clark, Tanner-Smith und Kil-
erlangen (z. B. in Form von Videos). lingsworth (2016) sowohl für den inhaltlichen Wissens- und
Fertigkeitserwerb als auch für die Veränderung von Persön-
1 Theoretischer Hintergrund des spielbasierten Lernens lichkeitseigenschaften (z. B. Offenheit, positives Selbstbild)
Ein zentraler Ansatzpunkt des spielbasierten Lernens ist die positive Effektstärken von jeweils d D 0:35. Im Rahmen
Schaffung von Motivation für Lernaktivitäten. Die Lernakti- der Metaanalyse untersuchten die Autoren, von welchen Ge-
386 Kapitel 19  Medien im Unterricht

staltungsmerkmalen die Effektivität spielbasierten Lernens 19.3.1 Grundannahmen zum Lernen durch
abhängt. Dabei zeichnet sich ab, dass sich ein großer Auf- Kooperation
wand für eine Hintergrundgeschichte, visueller Realismus,
eine aufwändige und eng mit der Lernaktivität verzahnte
Dem computerunterstützten kooperativen Lernen liegt wie
Spielmechanik, große Variation der möglichen Aktionen im
Ansätzen des Lernens in Gruppen ohne Medienunterstüt-
Spiel, Interaktionsmöglichkeiten zwischen den Spielern und
zung die Annahme zu Grunde, dass Lernende in Gruppen
ein komplexes Belohnungssystem nicht auszahlen (vgl. Clark,
bestimmte Lernaktivitäten ausführen können, die das Auftre-
Tanner-Smith & Killingsworth 2016). Während spielbasier-
ten wünschenswerter Lernergebnisse begünstigen (Wecker &
tes Lernen mit lediglich schematischen Darstellungen (d D
Fischer 2014). Dazu gehört etwa das gemeinsame Elaborie-
0:48) oder Cartoons (d D 0:32) positive Effektstärken hat,
ren, d. h. zu neuen Lerninhalten, die in einem gemeinsam
lässt sich bei Verwendung realistischer Visualisierungen kein
gelesenen und besprochen Lehrbuchtext vorgestellt werden,
Effekt (d D 0:01) feststellen. Spielbasiertes Lernen mit
in einer Gruppe gemeinsam nach Beispielen aus der eige-
einer für das Spiel irrelevanten Rahmenhandlung, die aber
nen Alltagserfahrung der Gruppenmitglieder zu suchen. Eine
die Spielattraktivität erhöht, zeitigt die größten Effekte (d D
weitere Lernaktivität, die für das Verstehen von neuen Lern-
0:63). Die Befunde zeigen darüber hinaus, dass individuel-
inhalten hilfreich sein kann, besteht darin, unterschiedliche
les spielbasiertes Lernen größere Effekte hat als jegliche Form
Sichtweisen der Gruppenmitglieder darüber zu diskutieren,
von Spielen in Gruppen. Unterstützung (Scaffolding) beim
wie bestimmte Inhalte zu verstehen sind, um die dabei auf-
spielbasierten Lernen hat ebenfalls positive Effekte, wobei
tretenden kognitiven Konflikte aufzulösen und dadurch zu
diese sowohl ins Spiel integriert sein als auch von einer Lehr-
einem angemessenen Verständnis neu eingeführter Begriffe
kraft kommen kann.
oder Prinzipien zu gelangen. Dies wäre etwa der Fall, wenn
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Effekti-
Lernende in einer Unterrichtseinheit zum Thema „Wahlen in
vität des spielbasierten Lernens nicht vom technischen Auf-
der Demokratie“ darüber diskutieren, was mit den Begriffen
wand der Umsetzung abhängt. Ein großer Aufwand kann den
der „Allgemeinheit“ oder „Unmittelbarkeit“ von Wahlen je-
Lernerfolg sogar beeinträchtigen. Stattdessen sollten digitale
weils gemeint ist.
Medien dazu eingesetzt werden, Lernaktivitäten um einfache
Ob derartige lernförderliche Aktivitäten beim kooperati-
spielerische Komponenten zu erweitern und Lernende bei ih-
ven Lernen auftreten, hängt jedoch von bestimmten motiva-
ren Lernaktivitäten zu unterstützen.
tionalen und kognitiven Lernvoraussetzungen auf Seiten der
Gruppenmitglieder sowie von bestimmten situationalen Be-
dingungen ab (Wecker & Fischer 2014). Eine entscheidende
19.3 Kommunikation und Kooperation Frage beim kooperativen Lernen besteht deshalb darin, wie
ermöglichen und unterstützen die angesprochenen Lernvoraussetzungen bei den Lernen-
den ausgeprägt sind, wie ungünstige Ausprägungen dieser
Lernvoraussetzungen möglicherweise durch die instruktio-
Digitale Medien können nicht nur einzelnen Lernenden ein
nale Gestaltung der Lernsituation kompensiert werden kön-
Betätigungsfeld bieten, in dem diese individuelle Lernakti-
nen und welche sonstigen instruktionalen Gestaltungsmög-
vitäten ausführen können und durch die Rückmeldungen
lichkeiten den Lernerfolg begünstigen können.
des Systems Wissen aufbauen oder Kompetenzen einüben
können, sie können auch Gruppen von Lernenden Kommu-
nikation und Kooperation – auch über zeitliche und räum-
liche Distanzen – ermöglichen. Dies gilt für bereits relativ 19.3.2 Kooperation und Kommunikation
betagte digitale Kooperationsmedien wie Chats, Diskussions-
foren und Videokonferenzen oder auch Wikis ebenso wie Für die Analyse von Kooperation hat sich die Betrachtung
für soziale Netzwerke und Kommunikations-Apps. Wenn di- von Gruppen als informationsverarbeitende Systeme als hilf-
gitale Kooperationsmedien zum Lernen eingesetzt werden, reich erwiesen (Hinsz, Tindale & Voolrath 1997). Diesem
19 spricht man auch von „computerunterstütztem kooperativem Ansatz zufolge kann man eine Gruppe von Personen, die
Lernen“ (computer-supported collaborative learning, CSCL). gemeinsam eine Aufgabe bearbeiten, zusammengenommen
Diesem Ansatz liegt die Überzeugung zu Grunde, dass sich als ein einzelnes kognitives System betrachten, ähnlich wie
Kooperation positiv auf verschiedene Lernergebnisse auswir- im sogenannten Informationsverarbeitungsansatz individu-
ken kann. Die entsprechenden Grundannahmen werden im elle Personen jeweils als ein kognitives System betrachtet wer-
folgenden ersten Abschnitt dieses Teils kurz vorgestellt, be- den. Wie einzelne Personen können Gruppen gemeinsam ein
vor im zweiten Abschnitt auf die Rolle der Kommunikation Verarbeitungsziel verfolgen, Informationen Aufmerksamkeit
im Rahmen der Kooperation eingegangen wird, im dritten zuwenden, über Mechanismen der Enkodierung, der Spei-
Abschnitt die Rolle der Medien für Kommunikation und Ko- cherung und des Abrufs von Informationen verfügen, einen
operation beleuchtet wird und im abschließenden vierten gemeinsamen Verarbeitungsbereich für Informationen nut-
Abschnitt Möglichkeiten der Unterstützung von Kommuni- zen und dadurch ein Resultat erarbeiten, zu dem aus der
kation und Kooperation durch digitale Medien vorgestellt Umwelt Feedback aufgenommen werden kann (Hinsz et al.
werden. 1997). Diese kognitiven Funktionen, über die auch Einzel-
19.3  Kommunikation und Kooperation ermöglichen und unterstützen
387 19
personen verfügen, realisieren sich in Gruppen nicht wie cen bereitstellen, die im Rahmen der Lernaktivität benötigt
bei Einzelpersonen primär gedanklich, sondern vor allem im werden. Ein Beispiel dafür ist die gemeinsame Internetrecher-
sprachlichen Austausch zwischen den Gruppenmitgliedern. che von mehreren Lernenden, die gemeinsam Argumente für
Beispielsweise kann eine Gruppe einer Information schlicht eine Diskussion über ein gesellschaftlich relevantes Thema
dadurch Aufmerksamkeit zuwenden, dass ein Gruppenmit- wie etwa den Einsatz grüner Gentechnik zusammentragen
glied sie ausspricht. Dafür, dass eine Gruppe einer Informa-sollen. In Face-to-face-Situationen können digitale Medien
tion Aufmerksamkeit zuwendet, ist es nicht einmal erforder- auch dazu dienen, bestimmte lernförderliche kooperative
lich, dass alle Gruppenmitglieder die Information erhalten; Lernaktivitäten zu unterstützen. Dies wäre im Beispiel der
vielmehr kann es bei geeigneter „kognitiver Arbeitsteilung“ Internetrecherche dann der Fall, wenn ein Gruppenmitglied
genügen, wenn sie von den jeweils zuständigen Gruppenmit- durch Hinweise auf dem Bildschirm dazu aufgefordert wird,
die von einem anderen Gruppenmitglied im Internet gefun-
gliedern verarbeitet wird. Es ist somit nicht erforderlich, dass
alle der genannten Funktionen sich immer explizit im sprach-denen Informationen kritisch auf ihre Relevanz, ihre Wissen-
lichen Austausch der Gruppe zeigen müssen. Beispielsweise schaftlichkeit und Glaubwürdigkeit und ihre Unparteilichkeit
kann eine Gruppe gerade dann, wenn die Gruppenmitglieder zu überprüfen.
gut eingespielt sind, ein gemeinsames Verarbeitungsziel be- Bei computervermittelter Kommunikation fallen dagegen
sitzen, ohne dass es darüber einer expliziten Verständigung je nach Art des verwendeten Kommunikationsmediums be-
bedürfte. Selbstverständlich kann jedoch auch nicht davon stimmte Informationen weg (Hesse, Garsoffky & Hron 2002).
ausgegangen werden, dass eine Gruppe zu jedem Zeitpunkt Während beispielsweise in einer Videokonferenz im Ver-
über ein gemeinsames Verarbeitungsziel verfügt. gleich zu einer Face-to-face-Situation kaum Informationen
fehlen, gehen in einer Audiokonferenz Mimik, Gestik und
Körpersprache verloren. Wenn computervermittelte Kom-
Aufbauend auf dieser Perspektive von Gruppen als
munikation beispielsweise in einem Diskussionsforum oder
informationsverarbeitenden Systemen verstehen wir im
einem Chat schriftlich stattfindet, gehen alle stimmlichen
Folgenden Kooperation als die arbeitsteilige Erstellung
Aspekte einer Äußerung wie Artikulation, Tonhöhe, Laut-
eines Gruppenprodukts im Sinne des Resultats der
stärke, Sprechgeschwindigkeit oder Pausen verloren. Mit der-
gemeinsamen Informationsverarbeitung. Kommunikation
artigen Informationsverlusten können sowohl Nachteile als
wird dagegen als der Austausch von in der Gruppe
auch Vorteile einhergehen: Einerseits steigt dadurch das Ri-
vorhandenen Informationen verstanden (vgl. Hesse et al.
siko von Missverständnissen, weil beispielsweise nonverba-
2015, S. 38).
le Möglichkeiten des Hinweisens bzw. der Disambiguierung
nicht zur Verfügung stehen oder weil Indikatoren für Ironie
Kommunikation stellt somit eine wichtige Komponente nicht übermittelt werden. Als Behelfslösung für das letzt-
der Kooperation dar, insbesondere da sie auch zur Steuerung genannte Problem haben sich daher Kommunikationsmittel
bzw. Koordination der kooperativen Aktivitäten der Grup- wie Emoticons herausgebildet. Andererseits kann es durch
penmitglieder beiträgt. Im folgenden Abschnitt gehen wir den Wegfall von Informationen über den sozialen Status ein-
daher auf die Rolle ein, die Medien für die Kommunikation zelner Gruppenmitglieder auch zu einer im Sinne des Lerner-
in Gruppen spielen können. folgs in der Regel wünschenswerten ausgewogeneren Beteili-
gung aller Gruppenmitglieder kommen (Bordia 1997; Hesse
et al. 2002). Außerdem sind im Sinne der oben dargestellten
19.3.3 Die Rolle von Medien für die kognitiven Theorie des multimedialen Lernens viele Infor-
Kommunikation mationen, die etwa in einem Videochat übertragen werden,
potentielle Quellen sachfremder kognitiver Verarbeitung und
daher dem Lernen eher abträglich.
Im Zusammenhang des Lernens mit digitalen Medien sind
Computervermittelte Kommunikation lässt sich ferner
nach dem Grad ihrer medialen Vermitteltheit zwei Arten von
nach ihrer zeitlichen Struktur weiter differenzieren:
Kommunikation zu unterscheiden:

Von Face-to-face-Kommunikation spricht man dann, wenn Kommunikation verläuft synchron („zeitgleich“), wenn
Kommunikation nicht vermittelt durch ein digitales es zu keiner nennenswerten zeitlichen Verzögerung
Medium, sondern unter persönlich Anwesenden direkt zwischen der Erstellung (Produktion) bzw. dem Senden
stattfindet. einer Nachricht und dem Empfangen bzw. der Aufnahme
Von computervermittelter Kommunikation (computer- (Rezeption) der Antwort darauf kommt (vgl. Zumbach
mediated communication) spricht man dagegen dann, 2010, S. 131).
wenn Kommunikation ausschließlich durch die digitale
Übertragung von Text, Ton und Bild zustande kommt.
In diesem Fall verbleibt zwischen dem Abschluss der Pro-
Auch wenn Lernende face-to-face – also direkt – mitein- duktion einer Nachricht und dem Beginn der Rezeption der
ander kommunizieren, kann ein (digitales) Medium Ressour- nächsten Nachricht eines Kommunikationspartners für den
388 Kapitel 19  Medien im Unterricht

Sender der ersten Nachricht keine Zeit für andere Aktivitä- mehrere Ansätze ableiten, die sich mit digitalen Medien rea-
ten. lisieren lassen: Zum einen erfordert ein gemeinsamer Zugriff
auf das gemeinsam erstellte Gruppenprodukt im Sinne des
beschriebenen gemeinsamen Arbeitsbereichs geteilte exter-
Kommunikation verläuft asynchron („zeitversetzt“), wenn nale Repräsentationen, wie sie etwa durch Wikis, kooperative
es zwischen der Erstellung (Produktion) bzw. dem Senden Zeichentools oder auch Desktop-Sharing realisiert werden
einer Nachricht und dem Empfangen bzw. der Aufnahme können. Zum anderen bedürfen die kooperativen Aktivitäten
(Rezeption) der Antwort darauf zu einer merklichen der einzelnen Gruppenmitglieder wie bei der kognitiven Ver-
zeitlichen Verzögerung kommt (vgl. Zumbach 2010, arbeitung eines Individuums der Steuerung und Koordinati-
S. 130f.). on. Da für unzureichende Koordination einerseits mangelnde
Informationen über die übrigen Gruppenmitglieder, ande-
rerseits mangelnde eigene Fähigkeiten bezüglich der jeweils
In diesem Fall stehen die Nachrichten in der Regel belie- angemessenen kooperativen Aktivitäten verantwortlich sein
big lange als gespeicherter Text – oder auch als Audiodatei können, gibt es zumindest zwei Ansatzpunkte zur Förderung
bzw. „Sprachnachricht“ – für die Rezeption zur Verfügung. der Steuerung und Koordination von Kooperationsaktivitä-
Zwischen dem Abschluss der Produktion einer Nachricht ten: die Vermittlung von Informationen über die Gruppe und
und dem Beginn der Rezeption der nächsten Nachricht ei- die übrigen Gruppenmitglieder durch sogenannte Group-
nes Kommunikationspartners verbleibt daher für den Sender Awareness-Tools und Hilfestellungen zur Auswahl und Aus-
der ersten Nachricht häufig Zeit für andere Aktivitäten. Die- führung der jeweils angemessenen Kooperationsaktivitäten
se können entweder bei einer Kommunikation per E-Mail durch sogenannte externale Kooperationsskripts. Auf diese
oder in einem Diskussionsforum in der Rezeption und Be- drei Möglichkeiten der Unterstützung des kooperativen Ler-
antwortung anderer Nachrichten aus derselben Kommuni- nens in Gruppen wird im Folgenden eingegangen.
kation bestehen, wodurch getrennte Kommunikationsstränge
(Threads) entstehen, oder in beliebigen Alltagstätigkeiten oh-1 Geteilte externale Repräsentationen
ne Bezug zur laufenden Kommunikation. Auf diese Weise Eine textliche Form einer geteilten externalen Repräsentation
können Lernende auch gleichzeitig mit verschiedenen Perso- stellen Wikis da. Ein Wiki ist ein Textdokument im Internet,
nen in einem kommunikativen Austausch stehen. das von einer beliebigen Anzahl von Personen erstellt und
bearbeitet werden kann. Das bekannteste Beispiel einer Wiki-
basierten Internetplattform stellt die Online-Enzyklopädie
19.3.4 Möglichkeiten der Unterstützung von Wikipedia dar. Wikis sind als geteilte externale Repräsen-
tationen für kooperatives Lernen mit digitalen Medien von
Kommunikation und Kooperation
Interesse, weil bei ihrer Erstellung und Bearbeitung von einer
durch digitale Medien „Koevolution“ des Wikis und des Wissens der daran arbeiten-
den Personen ausgegangen werden kann (Cress & Kimmerle
Wie sich aus den bisherigen Ausführungen ergibt, stehen 2008; Kimmerle, Moskaliuk & Cress 2011): Der Erweiterung
Lernende bei der Kooperation und Kommunikation anhand des vorhandenen Textes („Assimilation“) entspricht der indi-
von digitalen Medien vor einer Reihe unterschiedlicher Her- viduelle Erwerb von Faktenwissen durch die Lernenden, und
ausforderungen. So kann es bei Face-to-face-Kommunikation der Bearbeitung und Umstrukturierung des vorhandenen
und computervermittelter Kommunikation zu kognitiver Textes („Akkommodation“) der Aufbau und die Modifikati-
Überlastung sowie zu Missverständnissen kommen. Ein Ko- on eines vertieften Verständnisses auf Seiten der Lernenden
operationshindernis stellt außerdem das Phänomen dar, dass (Kimmerle et al. 2011).
sich Gruppenmitglieder häufig eher mit Informationen be- Empirische Untersuchungen zeigen, dass der Lernerfolg
fassen, die allen Gruppenmitgliedern bekannt sind, anstatt bei der Bearbeitung eines Wikis am größten ausfällt, wenn die
Informationen auszutauschen, über die nur einzelne Grup- Diskrepanz zwischen dem zu Beginn der Bearbeitung vorge-
19 penmitglieder verfügen (Stasser & Titus 1985). Zudem erfor- fundenen Textbestand des Wikis und dem Wissensstand des
dert Kooperation anhand von digitalen Medien häufig be- Lernenden mittelgroß ist, d. h. wenn Lernende einen Teil ih-
trächtlichen Koordinationsaufwand. Außerdem kann es wie res individuellen Wissensstandes bereits im Wiki dargestellt
beim kooperativen Lernen ohne digitale Medien zum sozia- finden, aber darüber hinaus noch über Wissen verfügen, das
len Faulenzen (social loafing bzw. free rider effect) kommen, sie zur Erweiterung des Wikis verwenden können (Kimmerle
da sich ein Teil der Gruppe darauf verlässt, dass die übri- et al. 2011; Moskaliuk, Kimmerle & Cress 2009). Vergleich-
gen Gruppenmitglieder die Aufgabenstellung auch ohne ihr bare Effekte lassen sich aufgrund der ähnlichen Konstellation
Zutun zufriedenstellend bearbeiten werden (Salomon & Gl- beim kooperativen Lernen durch die gemeinsame Erstellung
oberson 1989). von Texten mit „Google Docs“ erwarten.
Mit Blick auf Möglichkeiten zur Unterstützung der Kom- Ein Beispiel für eine graphische Form einer geteilten ex-
munikation und Kooperation lassen sich aus der Perspek- ternalen Repräsentation stellen sogenannte Argumentations-
tive von Gruppen als informationsverarbeitenden Systemen diagramme dar.
19.3  Kommunikation und Kooperation ermöglichen und unterstützen
389 19
sen regulieren können, wenn sie über diese Informationen
Unter einem Argumentationsdiagramm (argumentation
verfügen (Miller & Hadwin 2015).
map bzw. diagram) versteht man eine graphischen
Group-Awareness-Tools lassen sich in kognitive und
Darstellung einer Argumentationsstruktur. In der Regel
soziale Group-Awareness-Tools einteilen. Kognitive Group-
werden dazu Baumgraphen verwendet, in denen Kästen
Awareness-Tools vermitteln Informationen, die sich auf das
o. Ä. einzelne Aussagen in einer Argumentation darstellen
Lernthema beziehen, d. h. Informationen über das Wissen,
und Verbindungslinien o. Ä. zwischen den Kästen die
die Meinungen und die Hypothesen der Lernpartner (Bode-
argumentativen Beziehungen (z. B. „spricht für“; „steht
mer et al. 2018; s. a. Janssen & Bodemer 2013), und bezie-
im Widerspruch zu“) zwischen diesen Aussagen (siehe
hen sich somit vorrangig auf den sogenannten „Inhaltsraum“
Andriessen 2006).
(Janssen & Bodemer 2013). Soziale Group-Awareness-Tools
vermitteln dagegen Informationen über das Verhalten, die
Solche Argumentationsdiagramme lassen sich auf ganz Emotionen und die Motivation der Lernpartner, also z. B. ih-
unterschiedliche Weisen beim computerunterstützten koope- re Beteiligung, ihr Wohlergehen, die von ihnen empfundene
rativen Lernen nutzen. Beispielsweise können die Gruppen- Freundlichkeit oder ihr Engagement (Bodemer et al. 2018;
mitglieder in einem Argumentationsdiagramm die Argu- s. a. Janssen & Bodemer 2013), und beziehen sich somit vor-
mente aus einer Diskussion als Ergebnis festhalten. Anderer- rangig auf den sogenannten „Beziehungsraum“ (Janssen &
seits kann eine Diskussion computervermittelt auch direkt in Bodemer 2013).
einem kooperativen Softwaretool zur Erstellung eines Argu- Die Bereitstellung der genannten Informationen in
mentationsdiagramms geführt werden, indem die Lernenden Group-Awareness-Tools erfolgt in drei Schritten (Bodemer
ähnlich wie in einem Chat einzelne Aussagen schriftlich bei- et al. 2018; s. a. Janssen & Bodemer 2013):
steuern, jedoch jeweils direkt in Form eines Kastens im Ar- 1. Group-Awareness-Tools sammeln Informationen über die
gumentationsdiagramm, und dabei durch Verbindungslinien Gruppenmitglieder. Dies kann entweder als Nebenpro-
verdeutlichen, worauf sich das jeweilige Argument bezieht. dukt der Kooperation (z. B. durch Auswertung von Beiträ-
Eine weitere Verwendungsmöglichkeit von Argumentations- gen) oder gezielt (z. B. durch Fragebögen oder Wissens-
diagrammen, die auch auf die beiden bisher genannten auf- tests) geschehen.
bauen kann, ist ihre Nutzung zur Vorbereitung des gemein- 2. Group-Awareness-Tools transformieren und bereiten diese
samen Verfassens eines argumentativen Textes. Informationen auf. Dadurch reduzieren sie deren Kom-
Diese vielfältigen Möglichkeiten der Nutzung von Argu- plexität (z. B. durch die Angabe von Mittelwerte, Varian-
mentationsdiagrammen haben ihren Niederschlag auch in zen o. Ä.) und ermöglichen Vergleiche.
der Forschung zu ihrer Lernförderlichkeit gefunden. Neben 3. Group-Awareness-Tools bieten die Informationen dar. Dies
Untersuchungen mit eher ernüchternden Ergebnissen mit kann dauerhaft statisch oder permanent aktualisiert ge-
Blick auf den Erwerb von Fachwissen und auch von argumen- schehen. Dabei wird häufig ein graphisches Format ge-
tativen Fähigkeiten (van Drie, van Boxtel, Jaspers & Kanselaar wählt, um Vergleiche zwischen den Ausprägungen eines
2005) finden sich dabei auch Studien, in denen positive Effek- Merkmals bei verschiedenen Gruppenmitgliedern oder
te auf Lernaktivitäten, Gruppenprodukte und Lernergebnisse zu verschiedenen Zeitpunkten zu ermöglichen.
erzielt werden konnten (Janssen, Erkens, Kirschner & Kanse-
laar 2010). Ein Beispiel für ein Group-Awareness-Tool stellt das soge-
nannte Knowledge-Awareness-Tool dar. Es stellt den Wissens-
1 Group-Awareness-Tools
stand eines Lernpartners zu jedem einzelnen Kapitel eines
Auf die Steuerung und Koordination der Kooperationsakti- zuvor gelesenen Textes in Form eines Balkendiagramms dar
vitäten der Gruppenmitglieder zielen Group-Awareness-Tools und greift dazu auf die Ergebnisse objektiver Wissenstests
ab. zurück, die von den Gruppenmitgliedern zuvor bearbeitet
wurden. Dieses Group-Awareness-Tool erwies sich als förder-
Unter Group-Awareness versteht man die Informationen, lich für die Einschätzung des Wissensstands des jeweiligen
die Gruppenmitglieder über Aspekte einer Gruppe Lernpartners, für die gezeigten Lernaktivitäten und den Wis-
oder der übrigen Gruppenmitglieder haben, z. B. deren senserwerb (7 Studie).
Aufenthaltsort, Aktivitäten, Emotionen, Interessen oder
Wissen (Bodemer, Janssen & Schnaubert 2018, S. 351).
Studie: Verbesserung der Einschätzung des Wissens von
Ein Group-Awareness-Tool ist ein Software-Tool,
Lernpartnern durch ein Knowledge-Awareness-Tool (San-
das Informationen über Aspekte einer Gruppe oder
gin, Molinari, Nüssli & Dillenbourg, 2011)
der übrigen Gruppenmitglieder bereitstellt, die für
In dieser Untersuchung wurde überprüft, wie sich ein ko-
kooperatives Lernen relevant sind (vgl. Bodemer et al.
gnitives Group-Awareness-Tool, das sogenannte Knowledge-
2018; Janssen & Bodemer 2013).
Awareness-Tool (KAT), das Lernende über den Wissensstand
ihrer Lernpartner informiert, auf Lernaktivitäten und den Wis-
Die Idee hinter Group-Awareness-Tools besteht darin, dass senserwerb auswirkt. Es wurde erwartet, dass das Tool die Ler-
Gruppenmitglieder ihre Kooperationsaktivitäten angemes- nenden für den tatsächlichen Wissensstand ihrer Lernpartner
390 Kapitel 19  Medien im Unterricht

sensibilisiert, dadurch angemessenere Lernaktivitäten ermög- Knowledge-Awareness-Tool statistisch belastbar mehr Elabora-
licht und so zu einem größeren Wissenserwerb beiträgt. tion und Wissensverifikation und -aushandlung statt als in der
Bedingung ohne das Knowledge-Awareness-Tool (d D 0:8).
Methodik Die Autoren folgerten aus diesen Ergebnissen, dass das
Knowledge-Awareness-Tool eine akkuratere Einschätzung des
Teilnehmende Wissens des Lernpartners ermöglicht. Um die eigenen Äuße-
An der Untersuchung nahmen 64 Studierende im ersten rungen besser an das Wissen des Lernpartners anzupassen,
Semester im Alter von durchschnittlich 21 Jahren in zufällig ge- und weil sich die Lernenden weniger sicher über das Wissen
bildeten Zweiergruppen teil. Davon waren 18 weiblich und 46 ihrer Lernpartner seien, würden Äußerungen stärker elaboriert
männlich. und Wissen mehr verifiziert und ausgehandelt, wodurch der
Wissenserwerb steige.
Untersuchungsplan
Es wurde ein Prä-Post-Kontrollgruppenplan mit einer Be- Insgesamt zeigten sich in der Forschung zu Group-
dingung ohne und einer Bedingung mit Knowledge-Awareness- Awareness-Tools häufig positive Effekte solcher Tools
Tool umgesetzt. Die Teilnehmenden wurden in den zufällig auf Lernaktivitäten und Lernergebnisse (Bodemer et al.
gebildeten Zweiergruppen auf die Bedingungen verteilt. 2018).

Unterrichtseinheit und Ablauf 1 Kooperationsskripts


Als Lerninhalt dienten drei Teilthemen der Reizleitung in Wenn unangemessene Steuerung und Koordination von Ko-
Nervenzellen. Die Lernenden hatten in der Kooperationsphase operationsaktivitäten weniger darauf zurückzuführen sein
die Aufgabe, mit einem Softwaretool gemeinsam ein Concept dürfte, dass die Lernenden nicht über ausreichende Infor-
Map zu diesem Thema zu erstellen und kommunizierten dazu mationen über den Wissensstand oder andere Merkmale
per Headset in einer Audiokonferenz. Dazu lasen sie inner- ihrer Lernpartner verfügen, sondern auf mangelnde Fähig-
halb von zwölf Minuten einen Text mit drei Abschnitten zu keiten in angemessenen Kooperationsaktivitäten, bieten sich
den einzelnen Teilthemen, bearbeiteten einen Vortest, sahen sogenannte Kooperationsskripts als Unterstützungsmaßnah-
ein zweieinhalbminütiges Videotutorial zur Concept-Mapping- me an.
Software und hatten dann 20 Minuten Zeit für die gemeinsame
Erstellung der Concept Map, bevor sie den Nachtest bearbeite-
Ein Kooperationsskript ist eine Konfiguration textlich oder
ten und das Wissen ihrer Lernpartner einschätzten.
graphisch repräsentierter Hilfestellungen, die Lernende in
Gruppen bei ihren Kooperationsaktivitäten anleiten sollen
Bedingungen
(siehe Fischer, Kollar, Stegmann & Wecker 2013, S. 57).
Die Lernenden in der Bedingung mit Knowledge-Awareness-
Tool sahen während der Erstellung der Concept Map ein Bal-
kendiagramm, das das Wissen ihres Lernpartners zu den drei Spezifische Kooperationsskripts unterscheiden sich von-
Teilthemen darstellte; bei den Lernenden in der Bedingung oh- einander in fünf Aspekten (Kollar, Fischer & Hesse 2006):
ne Knowledge-Awareness-Tool war dies nicht der Fall. 1. Ein Kooperationsskript ist auf mindestens ein bestimmtes
Ziel bezüglich des Erreichens eines bestimmten Lerner-
Messung der abhängigen Variablen gebnisses ausgerichtet.
Der Wissenserwerb wurde im Nachtest mit denselben sechs 2. Ein Kooperationsskript legt fest, welche Aktivitäten zum
Multiple-Choice-Aufgaben und 24 Aufgaben zur Verifikation Erreichen des angestrebten Lernergebnisses ausgeführt
von Schlussfolgerungen erfasst wie das Wissen im Vortest. Die werden sollen.
Akkuratheit der Einschätzung des Wissens der Lernpartner wur- 3. Ein Kooperationsskript beinhaltet eine bestimmte Se-
de anhand der Übereinstimmung zwischen der Einschätzung quenzierung dieser Aktivitäten, d. h. es legt die für das
des Wissens des Lernpartners und dessen tatsächlichem Wis- Erreichen des angestrebten Lernergebnisses nötige Rei-
19 sen aus dem Wissenstest gemittelt über die drei Kapitel erfasst. henfolge dieser Aktivitäten fest.
Maße für Elaboration und Wissensverifikation und -aushandlung 4. Ein Kooperationsskript kann die vorgesehenen Aktivitä-
wurden auf der Grundlage einer Klassifikation der transkribier- ten auf verschiedene Rollen aufteilen.
ten und segmentierten Äußerungen während der kooperativen 5. Ein Kooperationsskript kann in unterschiedlichen Ar-
Lernphase gebildet. ten der Repräsentation vorliegen, etwa textlich oder gra-
phisch, oder auch „internal“, wenn das Kooperations-
Ergebnisse und Schlussfolgerungen skript vor Beginn der eigentlichen kooperativen Lernpha-
se – z. B. im Rahmen eines Vortrainings – „internalisiert“
Der Wissenserwerb war in der Bedingung mit dem wurde.
Knowledge-Awareness-Tool statistisch belastbar höher als
in der Bedingung ohne das Knowledge-Awareness-Tool Ein Beispiel für ein Kooperationsskript stellt das so genannte
(d D 0:7). Dieser Effekt wurde statistisch belastbar durch Argumentsequenzskript dar, das für argumentative Ausein-
die Akkuratheit der Einschätzung des Wissens der Lernpart- andersetzungen jeweils eine dreischrittige Abfolge von Ge-
ner vermittelt. Außerdem fanden in der Bedingung mit dem sprächsbeiträgen vorsieht: Ein Gruppenmitglied äußert ein
19.3  Kommunikation und Kooperation ermöglichen und unterstützen
391 19
Argument, worauf ein weiteres Gruppenmitglied mit einem
Gegenargument antworten soll, bevor wiederum das erste chen Entdeckung als doppelter Suche darauf an, dass die
Gruppenmitglied auf der Grundlage der beiden zuvor ge- Formulierung von Hypothesen und die Durchführung von
äußerten, einander widersprechenden Argumente eine „In- Experimenten durch die Lernenden systematisch anein-
tegration“ formulieren soll, das den beiden konfligierenden ander gekoppelt werden. Werden sie dabei nicht unter-
Sichtweisen Rechnung trägt (Stegmann, Weinberger & Fi- stützt, erweist sich forschendes Lernen häufig als weni-
scher 2007). ger wirksam als direkte Formen der Wissensvermittlung.
In der Forschung zu Kooperationsskripts zeigten sich in Computerunterstütztes simulationsbasiertesforschendes
der Regel positive Effekte auf die damit angestrebten koopera- Lernen bietet jedoch vielfältige Möglichkeiten, Lernende
tiven Lernaktivitäten (z. B. Weinberger, Ertl, Fischer & Mandl durch bestimmte Tools und Scaffolds zu unterstützen und
2005). In Bezug auf den Erwerb von Fachwissen ist die Be- dadurch den Lernerfolg zu steigern.
fundlage mit positiven, negativen und Nulleffekten äußerst Die rasantesten technischen Weiterentwicklungen
uneinheitlich. In einer Metaanalyse ergab sich ein zwar sta- und die intensivsten Forschungsbemühungen finden der-
tistisch signifikanter, jedoch kleiner positiver durchschnitt- zeit im Bereich der Nutzung von Medien zur Ermögli-
licher Effekt (d D 0:20; Vogel, Wecker, Kollar & Fischer chung und Unterstützung von Kommunikation und Ko-
2017). Demgegenüber fallen Effekte von Kooperationsskripts operation beim Lernen statt. Auf der Grundlage der Pers-
auf fächerübergreifende Kompetenzen in den jeweils im Ko- pektive von Gruppen als informationsverarbeitendenSys-
operationsskript vorgesehenen Aktivitäten (z. B. Argumenta- temen lassen sich externale geteilte Repräsentationen,
tionskompetenz) konsistent positiv aus. Die entsprechende Group-Awareness-Tools und computerbasierte Kooperati-
mittlere Effektstärke lag in der erwähnten Metaanalyse im onsskripts als Möglichkeiten der Unterstützung von Ler-
Bereich eines großen Effekts (d D 0:95; Vogel et al. 2017). nenden entwickeln.
Inzwischen wurden Kooperationsskripts zur Förderung des In allen Bereichen ist deutlich geworden, dass aus psy-
Argumentierens beispielsweise auch in eine Facebook-App chologischer Sicht jeweils Aspekte menschlicher Informa-
integriert und erbrachten dort zumindest unter bestimmten tionsverarbeitung über den Lernerfolg entscheiden, die
Bedingungen ebenfalls positive Effekte auf den Lernerfolg sich zwischen Lernszenarien mit und ohne digitale Medi-
(Tsovaltzi, Judele, Puhl & Weinberger 2015). en nicht grundlegend unterscheiden. Ein Mehrwert von –
insbesondere digitalen – Medien im Unterricht kann aller-
dings darin liegen, dass durch sie individuelle und koope-
rative Lernaktivitäten ermöglicht und unterstützt werden,
Zusammenfassung
die anders nicht oder nur schwer angeregt werden könn-
Aus psychologischer Sicht ergibt es wenig Sinn, in Fragen
ten. Wir hoffen, mit diesem Beitrag Hintergrundwissen
der lernförderlichen Gestaltung von Medien von tech-
bereitgestellt zu haben, auf dessen Grundlage sich Medi-
nisch oder auch entwicklungshistorisch motivierten Un-
en kreativ, flexibel und frei von Dogmen lernförderlich im
terscheidungen von Medientypen auszugehen. Zielfüh-
Unterricht einsetzen lassen.
render ist die Berücksichtigung der Funktionen, die ein
Medium hinsichtlich des Lernens erfüllen soll, und eine
Orientierung an grundlegenden psychologischen Theori-
en und Forschungsergebnissen dazu, durch welche Me-
chanismen und unter welchen Bedingungen das Medium Verständnisfragen
diese Funktionen optimal erfüllen kann.
Bei der Nutzung von Medien zur Bereitstellung von ?1. Welche Funktionen des Einsatzes von Medien im
Informationen hängt der Lernerfolg entscheidend davon Unterricht lassen sich unterscheiden?
ab, inwiefern die Kombination unterschiedlicher media- 2. Beschreiben Sie die Verarbeitung von schriftlichem
ler Darstellungsmöglichkeiten wie Text, Grafiken, Audio Text gemäß der kognitiven Theorie des multimedialen
oder Video auf Mechanismen der menschlichen Informa- Lernens.
tionsverarbeitung und dabei bestehende Kapazitätsbe- 3. Aus welchen Annahmen der kognitiven Theorie
schränkungen abgestimmt wird, wie sie beispielsweise des multimedialen Lernens lässt sich das zeitliche
in der kognitiven Theorie des multimedialen Lernens be- Kontiguitätsprinzip auf welche Weise ableiten?
schrieben werden. Orientierung bieten hier insbesondere 4. Sie sollen eine multimediale Lerneinheit zum Thema
Prinzipien des multimedialen Lernens wie beispielsweise „Wie funktioniert eine Fahrradluftpumpe?“ mit animier-
das Aufmerksamkeitsteilungsprinzip. ten Bildern und schriftlichem Text auf dem Bildschirm
Wenn Medien dazu eingesetzt werden sollen, Mög- so überarbeiten, dass der Lernerfolg dadurch gestei-
lichkeiten für Lernaktivitäten zu eröffnen, durch die sich gert wird. Nennen Sie alle Möglichkeiten, die Ihnen
die Lernenden Wissen – beispielsweise über naturwissen- einfallen.
schaftliche Sachverhalte oder Gesetzmäßigkeiten – selbst 5. Wählen Sie ein Thema aus, das sich für die Behandlung
erarbeiten, kommt es nach der Theorie der wissenschaftli- im Rahmen von simulationsbasiertem entdeckendem
Lernen eignet, und beschreiben Sie eine mögliche
392 Kapitel 19  Medien im Unterricht

Aufgabenstellung und die dazu durchführbaren Cress, U., & Kimmerle, J. (2008). A systemic and cognitive view on col-
Experimente. laborative knowledge building with wikis. International Journal of
6. Erklären Sie die Bedeutung der Begriffe „Hypothese“, Computer-Supported Collaborative Learning, 3, 105–122.
de Jong, T., & van Joolingen, W. R. (1998). Scientific discovery learning with
„Experiment“, „Hypothesenraum“ und „Experiment- computer simulations of conceptual domains. Review of Educational
raum“ im Rahmen der Theorie der wissenschaftlichen Research, 68(2), 179–201.
Entdeckung als doppelter Suche und beschreiben Sie Deci, E. L., & Ryan, R. M. (1985). Intrinsic motivation and self-determination
die zentralen Annahmen dieser Theorie. in human behavior. New York: Kluwer.
7. Geben Sie den Stand der empirischen Forschung zur Fischer, F., Kollar, I., Stegmann, K., & Wecker, C. (2013). Toward a script
theory of guidance in computer-supported collaborative learning.
Wirksamkeit des forschenden Lernens wieder und Educational Psychologist, 48(1), 56–66.
nennen Sie Möglichkeiten der Unterstützung zur Furtak, E. M., Seidel, T., Iverson, H., & Briggs, D. C. (2012). Experimental
Steigerung des Lernerfolgs. and quasi-experimental studies of inquiry-based science teaching: A
8. Beschreiben Sie, wie man vor dem Hintergrund meta-analysis. Review of Educational Research, 82(3), 300–329.
der metaanalytischen Befunde zum spielbasierten Garris, R., Ahlers, R., & Driskell, J. E. (2002). Games, motivation, and learning:
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9. Beschreiben Sie die Komponenten einer Gruppe als contiguity and temporal contiguity effects. Learning and Instruction,
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Hesse, F., Care, E., Buder, J., Sassenberg, K., & Griffin, P. (2015). A frame-
10. Beschreiben Sie Funktion und Grundtypen von Group- work for teachable collaborative problem solving skills. In P. Griffin &
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Bereitstellung von Informationen über die Gruppe bzw. Dordrecht: Springer.
die übrigen Gruppenmitglieder. Hesse, F. W., Garsoffky, B., & Hron, A. (2002). Netzbasiertes kooperatives
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395 20

Kompetenzen und berufliche


Entwicklung von Lehrkräften
Cordula Artelt und Mareike Kunter

20.1 Anforderungen des Lehrberufs – 396

20.2 Eine gute Lehrkraft – wie wird man das? – 396

20.3 Kompetenzmodelle zur Beschreibung der „guten Lehrkraft“ – 398


20.3.1 Professionswissen – 399
20.3.2 Berufliche Überzeugungen – 403
20.3.3 Motivationale Orientierungen – 404
20.3.4 Selbstregulative Fähigkeiten – 406

20.4 Berufliche Entwicklung von Lehrkräften – Verlaufsperspektive – 407


20.4.1 Die eigene Schulzeit – 408
20.4.2 Die erste Phase der Lehrerbildung: Das Studium – 409
20.4.3 Die zweite Phase der Lehrerbildung: Der Vorbereitungsdienst – 410
20.4.4 Lernen im Beruf oder die „Dritte Phase“ der Lehrerbildung – 411

Verständnisfragen – 415

Literatur – 415

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019


D. Urhahne, M. Dresel, F. Fischer (Hrsg.), Psychologie für den Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55754-9_20
396 Kapitel 20  Kompetenzen und berufliche Entwicklung von Lehrkräften

Ein Wochentag von Frau Reger (Lehrerin an einer Real- dingungen geschaffen werden (classroom management), da-
schule): Frau Reger kommt in die Schule und erfährt im mit Lernen überhaupt erst möglich wird.
Sekretariat, dass sie heute eine Stunde in der Parallelklas-
se übernehmen soll, da ihr Kollege krank ist. Ihr eigener1 Professionelle Tätigkeit als „schlecht definiertes
Stundenplan sieht Unterricht in den Fächern Deutsch und Problem“
Geschichte vor, wobei sie Deutsch in drei verschiedenen Klas- Die Forschung zum Problemlösen in der Psychologie un-
senstufen unterrichten muss. Seit drei Monaten hat sie in ih- terscheidet Probleme unter anderem danach, wie gut oder
ren Klassen zwei Kinder aus Syrien, deren Deutschkenntnisse schlecht sie definiert sind. Während sich gut definierte Pro-
nicht ausreichen, um dem normalen Unterricht zu folgen. bleme durch einen klar festgelegten Ausgangs- und Zielzu-
Im Geschichtsunterricht in der 5. Klasse werden heute die stand auszeichnen, ist dies bei sogenannten „schlecht defi-
Abschlussarbeiten aus einer Arbeitsgruppe der Schülerinnen nierten“ Problemen nicht der Fall. Bis zu einem gewissen
und Schüler vorgestellt. In ihrer eigenen Klasse muss sie heu- Grad kann so die Unterrichtstätigkeit aufgrund ihrer Kom-
te zudem die Organisation für die Klassenfahrt nach Südtirol plexität und zum Teil auch geringen Planbarkeit als schlecht
voranbringen. In der großen Pause hat sie Hofaufsicht und definiertes Problem und damit dynamisch bezeichnet wer-
am Nachmittag ein Elterngespräch, bei dem es erneut um das den. Entsprechend fällt es schwer, klare Standards für hoch-
auffällige Lern- und Sozialverhalten einer Schülerin geht. Die kompetente Leistungen von Lehrkräften zu formulieren (s. a.
Rektorin der Schule wird bei diesem Gespräch dabei sein. Am Berliner 2005). Tenorth (2006) erläutert die Unsicherheit
Nachmittag muss Frau Reger Schulaufgaben korrigieren und professionellen Handelns von Lehrkräften darüber, dass ih-
hierbei – darauf haben sie sich in der Fachgruppe Deutsch re Berufsaufgabe weder normativ noch operativ eindeutig
zum Zweck einer objektiveren Beurteilung geeinigt – auch die vorgegeben ist, sondern unter Berücksichtigung der jewei-
Aufsätze der Schülerinnen und Schüler aus der Parallelklasse ligen Umstände des Einzelfalls und der jeweiligen Situation
bewerten. interpretiert und konkretisiert werden muss. Für die beruf-
liche Entwicklung von Lehrkräften heißt dies, dass selbst
die beste Lehrerbildung nicht in der Lage sein wird, Lehr-
kräfte auf alle eventuell auftretenden Anforderungen optimal
20.1 Anforderungen des Lehrberufs
vorzubereiten; es ist häufig nicht möglich, für die in unse-
rem Eingangsbeispiel genannten Situationen die eine richtige
Diese Darstellung eines fiktiven Arbeitstags einer Lehrerin Handlungsweise vorab zu bestimmen. Frau Reger wird viele
verdeutlicht die Vielschichtigkeit der professionellen Tätig- ihrer Handlungen an die Erfordernisse der jeweiligen Situati-
keit von Lehrerinnen und Lehrern, auch wenn natürlich nicht on anpassen müssen. Ziel dieses Kapitels ist es zu zeigen, dass
an jedem Tag all die genannten Aufgaben vorkommen wer- erfolgreiche Lehrkräfte ihre Tätigkeit dennoch nicht völlig
den. Das Aufgabenspektrum ist festgelegt und umrissen – „aus dem Bauch heraus“ steuern, sondern dass dem zielfüh-
unter anderem in Gesetzen, administrativen Vorgaben, Lehr- renden Handeln im Unterrichts- und Schulalltag bestimmte
plänen und Bildungsstandards. Neben einem Bildungs- und professionelle Kompetenzen zugrunde liegen, die Lehrkräfte
Erziehungsauftrag, der sich vorrangig in der Unterrichtstä- im Verlauf ihrer Ausbildung und ihres Berufslebens aufbauen
tigkeit von Lehrkräften niederschlägt und auf verschiedene und erweitern.
Lern- und Entwicklungsziele der Schülerinnen und Schüler
hin ausgerichtet ist, haben Lehrkräfte die Aufgabe, Schülerin-
nen und Schüler sowie Eltern zu beraten (Schullaufbahnemp- 20.2 Eine gute Lehrkraft – wie wird man das?
fehlungen, Lerngespräche), Schulveranstaltungen zu planen
und sich – last but not least – in der Organisation ihrer Schu- Was macht eine gute Lehrkraft aus? Ein Verständnis davon,
le zu engagieren (Schulentwicklung). was gute Lehrkräfte auszeichnet, ist notwendig, um zu er-
Die wichtigste Aufgabe für alle Lehrkräfte ist dabei si- mitteln, welche Bedingungen erfüllt (d. h. welche formellen
cher das Unterrichten. Die Gleichzeitigkeit vieler Ereignisse und informellen Lernprozesse erfolgen und welche Sozia-
im Unterricht erfordert, dass pädagogische Entscheidungen lisationsbedingungen gegeben) sein sollten, um Lehrkräfte
oft sehr rasch getroffen werden. Gerade zu Beginn ihrer prak- gut für ihren Berufsalltag vorzubereiten. Die Forschung hat
20 tischen Tätigkeit haben Lehrerinnen und Lehrer Probleme allerdings zutage gebracht, dass es weder den einen guten Un-
mit der Komplexität des unterrichtlichen Geschehens und der terricht noch die eine gute Lehrkraft gibt.
Auswahl adäquater Handlungsoptionen („Praxisschock“). So
müssen sie nicht nur den Unterrichtsprozess und die Lern-
aktivitäten der gesamten Klasse organisieren, sondern dabei
auch den individuellen Bedürfnissen der Schülerinnen und Mythos: Der gute Unterricht
Schüler so gut wie möglich gerecht werden. Dabei soll die In der Bildungspraxis und -politik wird immer wieder gerne
Wissensvermittlung fachlich, didaktisch und lernpsycholo- über „den guten Unterricht“ gestritten. So gehörte es lange
gisch angemessen organisiert sein und zudem das Interesse zum guten pädagogischen Ton, ein Ende des Frontalunter-
der Schülerinnen und Schüler für den Lernstoff geweckt wer- richts zugunsten „neuer Lernkulturen“ zu fordern, in denen
den. Darüber hinaus müssen die notwendigen Rahmenbe-
20.2  Eine gute Lehrkraft – wie wird man das?
397 20

stärker individualisierte Methoden eingesetzt werden zungen scheinen bei geringer Strukturierung jedoch eher
(Tillmann 2011). Seit Veröffentlichung der großen Meta- überfordert.
analyse von Hattie (2009) ist diese Überzeugung jedoch
ins Wanken geraten – wies doch gerade die so verpönte Multiple Lernziele (Wirksam für was?)
direkte Instruktion große Effektstärken im Hinblick auf das Unterricht ist multifunktional, verfolgt also in der Regel
schulische Lernen auf. Bei welcher Methode handelt es sich mehr als ein Ziel. Auch wenn der Aufbau von fachlichem
denn nun wirklich um „guten Unterricht“? Die empirische Wissen oft im Vordergrund steht, stellt er nicht das
Unterrichtsforschung zeigt, dass es kaum möglich ist, alleinige Ziel unterrichtlicher Bemühungen dar. Weitere
„guten Unterricht“ anhand der eingesetzten Methoden zu Unterrichtsziele sind etwa die Förderung des Interesses
beschreiben. Zumindest dann, wenn man als Kriterium für an einem Gegenstandsbereich, die Vermittlung von
guten Unterricht nicht die Realisierung von pädagogisch Wissen darüber, wie man selbstgesteuert lernt, oder der
oder didaktisch positiv konnotierter Unterrichtsmethoden Aufbau sozialer Kompetenzen. Auch die Automatisierung
sieht, sondern als Gütemaßstab die tatsächlich nachweis- von Fertigkeiten oder das Erlernen von Strategien
bare Förderung schulischer Kompetenzen (Wissen, Können können Zieldimensionen des Unterrichts sein. Die
und Motivation) ansetzt, wird deutlich, dass es kaum eine Angemessenheit von Unterrichtsmethoden variiert
Methode per se gibt, die alle diese Ziele in optimaler Weise also auch in Abhängigkeit vom Lernziel (s. a. Kunter 2005).
erreicht. Was sind weitere Gründe, warum es den einen
guten Unterricht nicht geben kann? Lehrmethoden an sich
machen keinen guten Unterricht. Es kann sehr schlecht
Genauso, wie es kaum möglich ist, den einen „guten“ Un-
gestalteten „offenen Unterricht“ und wenig überzeugende
terricht zu bestimmen, so ist es auch schwierig, die Qualität
Formen direkter Instruktion geben – anderseits können
von Lehrkräften anhand einiger offensichtlicher Merkmale
auch beide Ansätze virtuos eingesetzt werden (s. a. Helmke
festzumachen. Die vielfältigen Aufgaben des Lehrerberufs
2003; Renkl 2015). Es kommt ganz wesentlich auf die
bringen es mit sich, dass unterschiedliche Fähigkeiten ge-
Qualität der Umsetzung eines Unterrichtsmodells an.
fragt sind, und vermutlich wird keine Lehrkraft in all den
Vorausgesetzt, dass eine Lehrmethode für die Erreichung
oben genannten Tätigkeitsbereichen immer optimale Leis-
eines Lernziels prinzipiell geeignet ist, scheint die Qualität
tungen zeigen. Dennoch ist die Diskussion um die Qualität
der Umsetzung der jeweils gewählten Methode sogar von
von Lehrkräften häufig von der Vorstellung geprägt, dass vie-
größerer Bedeutung zu sein als die Wahl der Methode
le Bildungsprobleme dann gelöst wären, wenn man einfach
selbst. Zwei weitere Überlegungen, die dagegensprechen,
mehr „gute“ Lehrerinnen und Lehrer gewinnen könnte. In
dass es den einen guten Unterricht gibt, spiegeln sich in
diesen Alltagsmeinungen und bildungspolitischen Diskus-
den folgenden beiden Fragen wider (s. a. Helmke 2003): Für
sionen finden sich häufig unterschiedliche Annahmen darü-
wen ist der Unterricht wirksam? Für was soll der Unterricht
ber, wie das gelingen könnte. Aus psychologischer Sicht lassen
wirksam sein?
sich dabei drei grundsätzliche Prinzipien unterscheiden, die
jeweils zu sehr unterschiedlichen praktischen Schlussfolge-
Aptitude Treatment Interaction (Wirksam für wen?)
rungen führen, nämlich die Selektion, die Motivierung und
Befunde, die die unbedingte Überlegenheit einer Lehr-
die Qualifikation (. Abb. 20.1).
methode infrage stellen, stammen u. a. aus der Forschung
zur sogenannten Aptitude-Treatment-Interaction, kurz:
1 Selektion
ATI-Forschung. Diesem Ansatz, der 1977 von Cronbach
Selektion bedeutet Auswahl. Bei dieser oft anzutreffenden
und Snow begründet wurde, liegt der Gedanke zugrunde,
Sichtweise wird davon ausgegangen, dass es charakteristische
dass es eine Wechselwirkung (Interaktion) zwischen den
Persönlichkeitsmerkmale und Talente gibt, die mehr oder we-
Merkmalen von Lernenden (Aptitude) und der Unterrichts-
niger angeboren sind und darüber bestimmen, wer eine gute
methode (Treatment) gibt. Anders formuliert bedeutet dies,
Lehrkraft ist: Man kann es oder man kann es eben nicht.
dass – bei einem gegebenen Lernziel – für unterschiedliche
Die Vorstellung des „berufenen Lehrers“ hat in der pädago-
Lernende eine jeweils andere Unterrichtsmethode optimal
gischen Diskussion eine lange Tradition (z. B. Döring 1931).
ist. Ein oft bestätigter Befund aus der ATI-Forschung
besagt etwa, dass Lernende mit ungünstigen Lern-
voraussetzungen (z. B. geringes Vorwissen, geringere
Intelligenz, Ängstlichkeit) eher von hochstrukturierten Un- Selektion Motivierung Qualifikation
→ → →
terrichtsformen profitieren, während Lernende mit guten „Eignung“ „Wollen“ „Wissen“
Lernvoraussetzungen nicht nur mehr Freiheitsgrade beim
Lernen vertragen, sondern von offenen Unterrichtsformen
wie dem angeleiteten Entdecken auch mehr profitieren Gute
(Kalyuga 2007). Lernende mit ungünstigen Lernvorausset- Lehrkraft

. Abb. 20.1 Vorstellungen zur guten Lehrkraft


398 Kapitel 20  Kompetenzen und berufliche Entwicklung von Lehrkräften

Persönlichkeitsmerkmale, die in diesem Zusammenhang dis- dung ist. Anders als die oben genannte Selektionsannah-
kutiert werden, sind zum Beispiel Einfühlungsvermögen, Fle- me, die besagt, dass ein Talent zum Lehrerberuf angeboren
xibilität oder schnelle Verarbeitungsfähigkeit (Kennedy, Ahn ist, wird bei der Qualifikationsannahme davon ausgegangen,
& Choi 2008; Sternberg & Horvath 1995). Folgt man der dass es vor allem die berufsspezifischen Kenntnisse sind, die
Vorstellung einer geborenen Lehrkraft, wäre es eine adä- bestimmen, wie gut eine Lehrkraft ihren Beruf bewältigt. Die-
quate Strategie, einen besonderen Fokus auf die Auswahl ses spezifische Wissen, so die Vorstellung, wird während der
derjenigen Personen zu legen, die bereits vor der Ausbil- beruflichen Ausbildung aufgebaut und vertieft sich – im Op-
dung die gewünschten Merkmale aufweisen. Die in vielen timalfall – im Verlauf der beruflichen Karriere. Mangelnder
Lehrerbildungssystemen verankerten Orientierungspraktika beruflicher Erfolg wäre somit vor allem eine Folge nicht aus-
oder Eingangstests können als Ausdruck eines solchen Prin- reichender Aus- oder Weiterbildung. Als praktische Konse-
zips der Selektion gesehen werden. Aus empirischer Sicht ist quenz wird der Ausbildung von Lehrkräften (also dem Studi-
jedoch festzustellen, dass die Suche nach den Eigenschaften um und der anschließenden praktischen Phase im Vorberei-
eines „berufenen Lehrers“ bisher wenig erfolgreich war. Es tungsdienst) eine übergeordnete Rolle zugesprochen. Wie wir
lassen sich zwar durchaus Verhaltensweisen effektiver Lehr- in 7 Abschn. 20.4 zeigen, steht außer Frage, dass die Kompe-
kräfte identifizieren, diese sind aber allenfalls schwach mit tenzen von Lehrkräften durch ihre Ausbildung entscheidend
allgemeinen Persönlichkeitsmerkmalen oder generellen kog- beeinflusst werden. Die in der öffentlichen Diskussion häufig
nitiven Merkmalen von Lehrkräften und Lehramtsstudieren- vorgenommene Einengung der Qualifikationsannahme auf
den korreliert (Mayr 2014). Auch für die in jüngerer Zeit an die Erstausbildung greift dabei jedoch zu kurz.
vielen Universitäten eingesetzten Selbsterkundungstests, die Die genannten Vorstellungen implizieren verschiedene
Persönlichkeitseigenschaften und Interessen von angehen- Wege zur „guten“ Lehrkraft und haben ganz unterschiedli-
den Lehramtsstudierenden erfassen, fehlen bisher empirische che praktische Konsequenzen. So wenig jedoch, wie es den
Nachweise dafür, dass diese generellen Talente den späteren einen „guten Unterricht“ gibt, gibt es auch den einen Weg zur
Erfolg im Studium oder Beruf wirklich vorhersagen können „guten Lehrkraft“. Im folgenden Abschnitt stellen wir einen
(Köller, Klusmann, Retelsdorf & Möller 2013). theoretischen Zugang vor, der die verschiedenen Vorstel-
lungen miteinander verknüpft und die für eine erfolgreiche
1 Motivierung Berufsausübung relevanten Merkmale von Lehrkräften in ei-
Eine andere Vorstellung basiert auf der Idee, dass viele schuli- nem Modell zusammenfasst.
sche Probleme vor allem dadurch entstehen, dass Lehrkräfte
sich nicht genug anstrengen, es also nicht unbedingt an der
20.3 Kompetenzmodelle zur Beschreibung
Eignung, sondern eher am „Wollen“ mangelt. Lehrkräften – so
die Überlegung – fehle es möglicherweise an der Motivation, der „guten Lehrkraft“
sich im Beruf anzustrengen und sich weiterzubilden, sodass
es vor allem darum gehen müsse, die Belohnungsstruktur Kompetenzmodelle beschäftigen sich mit der Frage, über
des Berufs stärker ins Auge zu fassen (Shulman & Shulman welche Kompetenzen Lehrkräfte verfügen müssen, um die
2004). Diese Annahme hat zwei mögliche praktische Konse- Anforderungen ihrer professionellen Tätigkeit zu meistern.
quenzen: Erstens müsste – analog zum Selektionsprinzip – Darüber, welche Kompetenzbereiche dem professionellen
dafür gesorgt werden, dass nur „ausreichend“ motivierte Per- Handeln von Lehrkräften zugrunde liegen, existiert eine um-
sonen Lehrkräfte werden (7 Mythos: Müssen Lehrkräfte ihren fangreiche Literatur (z. B. Baumert & Kunter 2006; Darling-
Beruf lieben?). Zweitens müsste man Lehrkräfte besser für ih- Hammond & Bransford 2005).
re Tätigkeiten belohnen, also stärkere Anreize dafür schaffen,
sich anzustrengen und die eigene professionelle Entwicklung Kompetenzen sind persönliche Voraussetzungen für die
voranzutreiben. Diskutiert werden hier unter anderem hö- erfolgreiche Bewältigung spezifischer (beruflicher) Anfor-
here Gehälter oder leistungsbezogene Zulagen (Firestone & derungen. Sie werden in der Regel als kontextspezifisch
Pernell 1993). Im deutschen Diskurs wird dabei gerne auf (z. B. fachbezogen) verstanden. Kompetent sein bedeutet
den vermeintlich wenig motivierenden Beamtenstatus hinge- dabei nicht nur, dass Personen über relevantes Wissen
wiesen. Aus psychologischer Sicht ist diese Argumentation verfügen oder entsprechende Techniken beherrschen,
20 jedoch recht kritisch zu sehen. So liegt ihr zum einen ein sondern auch, dass sie in Bezug auf die Anforderungen
eher veraltetes Verständnis von Motivation zugrunde, das die motiviert sind und ihr eigenes Handeln zieladäquat regu-
Beweggründe von Personen für ihr Handeln auf verkürzte lieren können. Zudem werden unter Kompetenzen in der
Weise beschreibt. Zum anderen zeigen Modellversuche, in Regel diejenigen persönlichen Voraussetzungen gefasst,
denen neue Gehaltsmodelle mit erfolgsabhängiger Bezahlung die veränderbar sind, d. h. durch Lern- und z. T. auch
für Lehrkräfte untersucht wurden, dass sich dadurch kaum Sozialisationserfahrungen wesentlich geprägt sind und
Verhaltensänderungen zeigen (Fryer 2013; Yuan et al. 2012). auch modifiziert werden können. Unter professionellen
Kompetenzen versteht man diejenigen persönlichen
1 Qualifikation Voraussetzungen, die für die erfolgreiche Ausübung eines
Eine dritte Vorstellung geht davon aus, dass die erfolgreiche bestimmten Berufs notwendig sind.
Berufsausübung vor allem eine Frage der richtigen Ausbil-
20.3  Kompetenzmodelle zur Beschreibung der „guten Lehrkraft“
399 20

Professionswissen SeIbstreguIative
Die fachbezogenen Anteile (Fachwissen und fachdidaktisches
Fähigkeiten Wissen) sind fest im Curriculum verankert. Neben dem Fach-
fachbezogenes und
fachunobhängiges konzeptuelles, Widerstandsfähigkeit und
studium des jeweiligen Unterrichtsfaches absolvieren Lehr-
prozedurales und situationales Engagement amtsstudierende ein fachdidaktisches Studium, das die Lehre
Wissen der Vermittlung fachlicher Inhalte zum Gegenstand hat.
Daneben stehen fachunabhängige Inhalte, die nicht an ein
Berufliche Motivationale einzelnes Unterrichtsfach gebunden sind. Diese beinhalten
Überzeugungen Orientierungen das Wissen, das auf den Unterricht an sich bezogen ist und
professionelle Werte und z. B. intrinsische Motivation, pädagogische und psychologische Kenntnisse über Prinzipi-
Einstellungen Selbstwirksamkeit, en von gelingenden Lehr-Lern-Prozessen umfasst. Weiterhin
Zielorientierungen
ist Wissen relevant, das über den Unterricht hinausgeht, al-
so den weiteren Kontext professionellen Handelns betrifft. So
. Abb. 20.2 Aspekte professioneller Kompetenzen von Lehrkräften müssen Lehrkräfte – wie in unserem Eingangsbeispiel Frau
nach Baumert und Kunter (2006)
Reger beim Elterngespräch – Schülerinnen und Schüler sowie
Eltern beraten, sei es bezüglich des Umgangs mit bestimmten
Da Kompetenzen in der Regel als veränderbar angese- Stärken und Schwächen der Lernenden oder in Bezug auf die
hen werden (7 Definition), fügt sich der Kompetenzbegriff zu wählende Schulform in der Sekundarstufe I. Die fachunab-
nahtlos in den im vorherigen Abschnitt vorgestellten Ansatz hängigen Inhalte sind in der Lehrerausbildung in der Regel in
der Qualifikation (als Mittel für die Herausbildung profes- Modulen der Fächer(gruppen) Erziehungswissenschaft (All-
sioneller Kompetenzen) ein und hat gegenüber dem Ansatz gemeine Pädagogik und Schulpädagogik), Psychologie und
der Selektion den Vorteil, dass auch fachliche Anforderungen ggf. Soziologie enthalten; in jüngerer Zeit werden diese Stu-
professionellen Lehrerhandelns thematisiert werden. Dass dienteile oft als „Bildungswissenschaften“ bezeichnet.
gerade diese Merkmale für die Erzielung fachlicher Leis- Was für Wissen sollten Lehrkräfte nun haben? Um die-
tungen zentral sind, unterstreichen empirische Studien der se Frage angemessen diskutieren zu können, sind einige aus
letzten Jahre (z. B. Kunter et al. 2011) genauso wie Systemati- der psychologischen Literatur stammende Unterscheidungen
ken professioneller Kompetenzen von Lehrkräften (National hilfreich.
Board for Professional Teaching Standards [NBPTS] 2002;
Terhart 2002). Kompetenzmodelle liefern nicht nur eine Sys-1 Unterschiedliche Arten und Qualitäten von Wissen
tematik der für professionelles Handeln relevanten Bereiche, Aus kognitionspsychologischer Sicht kann Wissen als relativ
sondern beinhalten auch Annahmen zur Entwicklung dieser überdauernder Inhalt des Langzeitgedächtnisses aufgefasst
Fähigkeiten. Wie wir sehen werden, ist die Entwicklung pro- werden (7 Kap. 2). Das Wissen einer Person lässt sich da-
fessioneller Kompetenzen ein langfristiger Prozess, der die bei über die Menge und Qualität mentaler Repräsentationen
verschiedenen Phasen der Ausbildung und beruflichen Ent- charakterisieren (s. a. Artelt & Wirth 2014). De Jong und
wicklung umfasst. Ferguson-Hessler (1996) haben eine Taxonomie der Wissens-
Wir orientieren uns im Folgenden im Wesentlichen an formen erarbeitet, die Wissensarten und Wissensmerkmale
dem von Baumert und Kunter (2006) vorgeschlagenen Kom- unterscheidet und anhand derer sich konzeptuelle Unter-
petenzmodell (. Abb. 20.2), das im deutschen Sprachraum schiede in der Wissensausprägung verdeutlichen lassen. Für
viel Verbreitung gefunden hat. Baumert und Kunter (2006) das Verständnis von Art und Qualität des professionellen
unterscheiden vier in sich noch einmal zu differenzierende Wissens der Lehrkräfte sind dabei die Wissensarten kon-
Aspekte, die im Zusammenspiel die professionellen Kompe- zeptuelles, prozedurales und situationales Wissen besonders
tenzen von Lehrkräften ausmachen. relevant.
Konzeptuelles Wissen – Konzeptuelles Wissen (manchmal auch
semantisches Wissen genannt) umfasst sowohl Wissen über Fakten
20.3.1 Professionswissen als auch über Begriffe und Prinzipien. Bezogen auf das professionelle
Wissen von Lehrkräften bedeutet dies etwa, dass eine Lehrkraft mit aus-
geprägtem konzeptuellen Wissen eine reichhaltige Wissensbasis über
Das Professionswissen von Lehrkräften stellt ein zentrales die zu vermittelnden fachlichen Inhalte hat. Besonders die im fachbezo-
Element im Modell professioneller Kompetenzen dar. Es genen Teil der ersten Phase der Lehrerbildung vermittelten Inhalte sind
(wenngleich nicht ausschließlich) konzeptueller Natur.
kann als konzeptueller Hintergrund aufgefasst werden, vor
Prozedurales Wissen – Prozedurales Wissen wird als Wissen über
dem Situationen im praktischen Handeln von Lehrkräften Handlungen verstanden, die – bezogen auf den konkreten Anforde-
eingeordnet und Handlungsoptionen bewertet werden kön- rungsbereich – zum gewünschten Erfolg führen. Prozedurales Wissen
nen. Mehr als die anderen drei Kompetenzbereiche sind bezieht sich damit auf das „Wie“ des Unterrichtens und beinhaltet ei-
Inhalte des professionellen Wissens explizit in den Curricu- nerseits das deklarative prozedurale Wissen über die für die Erreichung
la der Lehramtsstudiengänge zu finden. Dies wird deutlich, eines bestimmten Ziels geeigneten Methoden und andererseits das (z. T.
automatisierte) Wissen über die Umsetzung dieser Methoden, was stär-
wenn die Unterteilung in fachbezogene und fachunabhän- ker den Charakter von „Können“ hat. Besonders die im fachdidaktischen
gige Aspekte des Professionswissens und die dazugehörigen Studium vermittelten Inhalte sind (wenngleich nicht ausschließlich)
Unterfacetten in den Blick genommen werden (. Abb. 20.3). deklarativer prozeduraler Natur. Automatisiertes prozedurales Wissen
400 Kapitel 20  Kompetenzen und berufliche Entwicklung von Lehrkräften

Professionelles Wissen von Lehrkräften


z. B. konzeptuell, prozedural und situational

Fachbezogen Fachunabhängig*

Fachwissen Fachdidaktisches Auf den Unterricht Über den Unterricht


Wissen bezogen hinausgehend
Wissen über den zu Wissen darüber, wie der Wissen, das sich auf die Wissen, das sich auf den
vermittelnden Stoff vermittelt werden Gestaltung von Unter- weiteren Kontext von
Unterrichtsstoff kann richtssituationen bezieht Schule bezieht
Beispiele: Beispiele: Beispiele: Beispiele:
Wissen über Wissen über Wissen über Wissen über
- Fakten - Schülerkognitionen - Lernprozesse - Beratung
- Zusammenhänge - Aufgaben - Klassenführung - Bildungstheorien
- typische Situationen - Darstellungsformen - Lehr-Lern-Methoden - Schulorganisation
- Lernprozessdiagnostik - den Lehrerberuf

* Bildungswissenschaftliches Wissen

. Abb. 20.3 Fachbezogene und fachunabhängige Bereiche professionellen Wissens ( D bildungswissenschaftliches Wissen)

hat. Das Wissen kann dabei zwischen oberflächlich und


(s. a. Ausführungen zum Wissensmerkmal „Automatisierungsgrad“) hin-
gegen wird eher im Rahmen von Praktika und im Vorbereitungsdiensttief verarbeitet variieren und damit unterschiedlich stark
erworben. mit dem vorhandenen Vorwissen in Beziehung stehen.
Situationales Wissen – Beim situationalen Wissen handelt es sich
3. Automatisierungsgrad: Der Automatisierungsgrad gibt
um Wissen über Anforderungen und Merkmale von Problemen, die in
bestimmten Inhaltsbereichen und Domänen typischerweise auftau- u. a. an, wie leicht auf das jeweilige Wissen zugegriffen
werden kann und ob es bei der Handlungsausführung
chen und dabei helfen, die Aufmerksamkeit auf relevante Aspekte der
Problemlösung zu lenken. Will eine erfahrene Lehrkraft etwa ein neues
bewusst verarbeitet werden muss. Er variiert zwischen de-
Thema im Unterricht einführen, weiß sie in der Regel, welche Schwie-
klarierbar und explizit auf der einen und automatisiert
rigkeiten oder Missverständnisse bei den Schülerinnen und Schülern
hierbei typischerweise zu erwarten sind.
und implizit auf der anderen Seite. Explizites und dekla-
rierbares Wissen ist eher theoretisch-konzeptueller Natur
und wurde von der Person bisher kaum praktisch umge-
Die Unterscheidung zwischen den drei genannten Wissensar- setzt. Der Zugriff auf dieses wenig automatisierte Wissen
ten allein reicht nicht aus, um die verschiedenen Qualitäten erfolgt in der Regel bewusst und relativ langsam. Der Zu-
von Wissen hinreichend zu beschreiben. Dafür sind weitere griff auf automatisiertes und implizites Wissen (in Form
Merkmale zentral (vgl. De Jong und Ferguson-Hessler 1996), von „Wenn-Dann-Regeln“) erfolgt durch die dieser Wis-
die jedoch nicht als unabhängig voneinander zu verstehen sensform vorangegangenen intensiven und wiederholten
sind – vielmehr wurden sie hier mit dem Ziel formuliert, Anwendung sehr schnell. Gleichzeitig wird hochgradig
verschiedene Richtungen und theoretische Zugänge in der automatisiertes Wissen von den Personen selbst oft nur
psychologischen Forschung zum „Wissen“ abzubilden. Be- noch subbewusst wahrgenommenen.
sonders relevant für den Kontext des Lehrerwissens sind
dabei die folgenden Wissensmerkmale:
1. Struktur des Wissens: Das Wissen zu einem bestimmten Professionelles Wissen in hoher Qualität kann man sich
Gegenstandsbereich kann mehr oder weniger stark aus- als ein gut organisiertes Netzwerk miteinander verbunde-
differenziert und geordnet sein. Im Extremfall besteht es ner Wissenskomponenten (Strukturiertheit des Wissens) vor-
entweder aus einer Ansammlung isolierter Wissensein- stellen, das einen hohen Grad an Elaboriertheit aufweist
heiten oder aus einem gut organisierten Netzwerk mitein- (Verarbeitungstiefe) und durch vielfältige „Anwendung“ und
20 ander verbundener Wissenskomponenten. Die Struktur Verschmelzung mit konkreten Episoden zum Teil zu impli-
des Wissens ist auch ein wesentliches Differenzierungs- zitem Wissen geworden ist (Automatisierungsgrad). Daran
kriterium für das Wissen von Expertinnen und Experten wird deutlich, dass solches professionelles Wissen sich bis
im Vergleich zu Laien. weit in die Phase der beruflichen Praxis hinein entwickelt.
2. Verarbeitungstiefe: Diese Kategorie ist der Kategorie der Am Ende der ersten Phase der Lehrerbildung kann das im
Struktur des Wissens ähnlich. Allerdings wird hierbei die Studium erworbene fachbezogene und fachunabhängige kon-
Art der Verarbeitung von Informationen (Enkodieren) zeptuelle, prozedurale und z. T. auch situationale Wissen von
betont und weniger die Art der hiermit gegebenenfalls Lehrkräften bereits tief verarbeitet, d. h. elaboriert und auf
verbundenen Repräsentation im Gedächtnis. Die Dimen- eine kohärente, strukturierte und vernetzte Art im Gedächt-
sion der Verarbeitungstiefe bringt zum Ausdruck, wel- nis repräsentiert sein. In Bezug auf die Verknüpfung mit
chen Elaboriertheitsgrad und Bedeutungsgehalt Wissen Handlungsanlässen und die Anreicherung des Wissens mit
20.3  Kompetenzmodelle zur Beschreibung der „guten Lehrkraft“
401 20
Episoden aus dem professionellen Alltag bedarf es jedoch der Lernenden geschehen. Ein Beispiel für fachdidaktisches
einer – reflektierten – Praxis (s. a. Kasten „Träges Wissen“; Wissen ist das Wissen über typische Schwierigkeiten und
7 Abschn. 20.4). Auch sogenannte Experten/Laien-Vergleiche Fehlvorstellung von Lernenden in Bezug auf einen konkreten
zeigen, dass das professionelle Wissen bei erfahrenen Lehr- Unterrichtsgegenstand. Ein im Sachunterricht der Grund-
kräften in spezifischer Art und Weise mit praktischen Hand- schule hinlänglich untersuchtes Beispiel hierfür sind Fehl-
lungsanlässen verknüpft ist (s. a. Bromme 2014/1992). Die vorstellungen von (nicht nur) Grundschulkindern darüber,
damit einhergehende Effizienz der Informationsverarbeitung welche Materialeigenschaften dazu führen, dass Gegenstän-
und das schnelle Entscheidungsverhalten (insbesondere im de auf dem Wasser schwimmen oder aber sinken (s. a. Möller,
Unterrichtskontext) können dabei zum Teil über die Auto- Jonen, Hardy & Stern 2002). Empirische Arbeiten (Depae-
matisierung des Wissens erklärt werden. Auf die Prozesse des pe et al. 2013; Hill, Rowan & Loewenberg Ball 2005; Lange,
Wissenserwerbs in verschiedenen Phasen der Lehrerbildung Kleickmann, Trobst & Möller 2012) konnten nachweisen,
und der Berufspraxis gehen wir in 7 Abschn. 20.4 genauer dass die Qualität und der Umfang fachdidaktischen Wissens
ein. Zunächst jedoch betrachten wir die verschiedenen Be- bei Lehrkräften wichtige Prädiktoren der Leistung ihrer Schü-
reiche professionellen Wissens von Lehrkräften genauer und lerinnen und Schüler sind.
diskutieren sie vor dem Hintergrund der eingeführten Unter-
scheidung nach Wissensarten und Wissensmerkmalen. Fachunabhängiges Wissen
Fachunabhängiges Wissen, das oft auch als bildungswissen-
1 Fachbezogenes Wissen schaftliches Wissen bezeichnet wird, kann danach unter-
Fachwissen schieden werden, ob es eher unterrichtsbezogen oder aber auf
Eine herausragende Bedeutung in der Lehrerausbildung und den weiteren Bereich der professionellen Tätigkeit von Lehr-
der professionellen Tätigkeit von Lehrkräften kommt dem kräften bezogen ist (. Abb. 20.3).
Fachwissen zu. Fachwissen kann dabei als tiefes Verständnis
des zu unterrichtenden Schulstoffs verstanden werden. Nach Unterrichtsbezogenes Wissen
der oben dargestellten Wissenstaxonomie ist das Fachwissen Unterrichtsbezogenes Wissen, das manchmal auch als „päd-
primär als konzeptuelles Wissen – Wissen über Konzep- agogisches Wissen“ bezeichnet wird, betrifft die Schaffung
te, Fakten und Prinzipien – zu verstehen. Fachwissen weist und Optimierung von Lehr-Lern-Situationen allgemein und
jedoch auch prozedurale Aspekte auf, wie beispielsweise Wis- bezieht sich auf entwicklungspsychologisches, pädagogisch-
sen darüber, wie in der Physik Versuchsanordnungen konzi- psychologisches und pädagogisches Wissen (Voss et al. 2015).
piert oder in der Mathematik mathematische Beweise geführt Es handelt sich hierbei um generisches Wissen, das also nicht
werden können. Auch beinhaltet Fachwissen Elemente, die spezifisch für eine bestimmte fachliche Domäne ist, sondern
De Jong und Ferguson-Hessler (1996) als situationales Wis- auf verschiedene Fächer anzuwenden ist. Als ein typisches
sen bezeichnen, nämlich unter anderem dann, wenn es um Beispiel hierfür kann das prozedurale Wissen über effiziente
die Spezifika der Vorgehensweisen in bestimmten fachlichen Formen der Klassenführung angesehen werden oder – et-
Domänen geht. So sind sich Historiker und Geschichtslehr- was komplexer – die Kenntnis darüber, wie man die für eine
kräfte der Notwendigkeit und der Probleme des Studiums von Unterrichtseinheit wichtige Gruppenarbeit so gestaltet, dass
Originalquellen durchaus bewusst, genauso wie Germanisten die Motivation der Schülerinnen und Schüler aufrecht er-
und Deutschlehrkräfte die Arbeit von Literaturkritikern an- halten bleibt und die Materialien vertieft bearbeitet werden.
ders bewerten als die von Laien. Unterrichtsbezogenes Wissen – wie fachdidaktisches Wis-
Für die Teilhabe an einer Fachkultur (communities of prac- sen auch – ist spezifisch für den Lehrerberuf. Voss et al.
tice, vgl. Lave & Wenger 1991) ist konzeptuelles, prozedurales (2015) haben nach Sichtung bestehender Systematiken zum
und situationales Fachwissen essentiell. Aber auch der Erfolg pädagogischen Wissen einen Vorschlag für dessen Konzep-
unterrichtlicher Bemühungen hängt – wenngleich indirekt – tion erarbeitet, dem wir uns anschließen. Demnach bezieht
von der Qualität des fachlichen Wissens ab. So konnte im sich pädagogisches Wissen, das hier als unterrichtsbezoge-
Rahmen der COACTIV-Studie (Kunter et al. 2011; 7 Studie: nes Wissen bezeichnet wird, auf die Bereiche „Lernen und
Die COACTIV-Studie) etwa gezeigt werden, dass das Fachwis- Lernende“, „Umgang mit der Klasse als einem komplexen so-
sen zwar selbst gerade keinen direkten Einfluss auf das Un- zialen Gefüge“, „methodisches Repertoire“ und „Gestaltung
terrichtshandeln hat, jedoch von einem indirekten Einfluss von Lernumgebungen“ und umfasst die folgenden Inhalte
auszugehen ist, da Fachwissen den Aufbau von fachdidakti- (. Tab. 20.1).
schem Wissen ermöglichen sollte.
Studie: Die COACTIV-Studie
Fachdidaktisches Wissen Eine der ersten Studien, die die Bedeutung der professionellen
Beim fachdidaktischen Wissen geht es darum, wie fachliche Kompetenzen von Lehrkräften wissenschaftlich untersucht hat,
Inhalte durch Instruktion vermittelt werden können. Wis- war die COACTIV-Studie („Professionswissen von Lehrkräften,
sen darüber, wie Inhalte zugänglich gemacht werden kön- kognitiv aktivierender Mathematikunterricht und die Entwick-
nen, drückt sich etwa darin aus, dass Lehrkräfte Phänome- lung mathematischer Kompetenz“), die in den Jahren 2002 bis
ne oder Gesetzmäßigkeiten adäquat erklären können. Dies 2007 in einem Kooperationsprojekt des Max-Planck-Instituts
kann nicht unabhängig vom Vorwissen oder den Interessen für Bildungsforschung, der Universität Kassel und der Univer-
402 Kapitel 20  Kompetenzen und berufliche Entwicklung von Lehrkräften

Die Studie gab darüber hinaus wichtige Einsichten in die


. Tabelle 20.1 Bestandteile pädagogischen Wissens (Quelle: Voss
et al. 2015, S. 194) Entwicklung professioneller Kompetenzen und die Bedeutung
spezifischer Teilaspekte dieser Kompetenzen (eine Zusammen-
Lernen und Lernende fassung der Ergebnisse liefern Kunter et al. 2011). Sie gilt als eine
– Lernprozesse (lern-, motivations- und emotionspsychologisches der wichtigsten deutschsprachigen Studien zur Professionalität
Wissen) von Lehrkräften und ihre Ergebnisse flossen in diverse Refor-
– Unterschiede in den Voraussetzungen der Lernenden (Heteroge- men der Lehrerbildung ein.
nität)
– Altersstufen und Lernbiographien (entwicklungspsychologisches
Wissen) Empirische Forschung zu den Effekten dieses Wissensbe-
reichs gibt es bisher erstaunlich wenig, vielleicht auch des-
Umgang mit der Klasse als einem komplexen sozialen Gefüge halb, weil es selbstverständlich erscheint, dass Wissen dieser
– Klassenführung/Strukturierung der Klassenprozesse Art für das praktische Lehrerhandeln eine Rolle spielt. Al-
– Interaktion/Kommunikation und soziale Konflikte lerdings wäre es nicht zuletzt auch für die Verbesserung der
Methodisches Repertoire Lehrerbildung wichtig, die Art des Einflusses dieses Wissens
auf praktisches Lehrerhandeln besser zu verstehen – insbe-
– Lehr-Lern-Methoden und -Konzepte und deren lernzieladäquate sondere auch im Zusammenspiel mit fachdidaktischem und
Orchestrierung
– Generelle Prinzipien der Individual- und Lernprozessdiagnostik
fachlichem Wissen (7 Exkurs).
und Evaluation
1 Über den Unterricht hinausgehendes Wissen
Gestaltung von Lernumgebungen (räumliche, materiale und
mediale Gestaltung)
Als weitere Facette des fachunabhängigen Wissens sind die
Wissensbereiche zu nennen, die über den Unterricht hinaus-
gehen und andere Felder der professionellen Tätigkeit be-
treffen. Hierzu gehört beispielsweise Wissen über Beratung
(Frau Reger im obigen Beispiel hat ein schwieriges Eltern-
sität Oldenburg durchgeführt wurde (vgl. Kunter al. 2011). Die gespräch vor sich). Dieses Wissen umfasst neben dem Wie
Studie war an die deutsche PISA-Studie 2003/2004 angekop- (Experten/Laien-Kommunikation, Gesprächsführung) und
pelt und untersuchte Mathematiklehrkräfte. COACTIV zeichne- dem Was der Beratung (Inhalte) auch Wissen darüber, wann
te sich durch zwei besondere Aspekte aus: Zum einen wurden die Zuständigkeit an andere Personen weitergegeben werden
erstmalig unterschiedliche Aspekte professioneller Kompeten- sollte. Andere für die professionelle Tätigkeit und (institu-
zen von Lehrkräften (Fachwissen und fachdidaktisches Wissen, tionelle) Entwicklung der Schule relevante Kenntnisbereiche
Überzeugungen, Motivation und Selbstregulation) direkt erho- sind die der Schulorganisation, des Professionsverständnis-
ben, d. h. die Lehrkräfte selbst bearbeiteten Tests und Fragebö- ses des Lehrerberufs und der Bildungstheorien, etwa Wissen
gen, die speziell im Rahmen von COACTIV entwickelt wurden. über die erziehungsphilosophischen, bildungstheoretischen
Zum anderen erlaubte es die Verbindung mit der PISA-Studie, und historischen Grundlagen von Schule und Unterricht
die Wirkungen professioneller Kompetenzen der Lehrkräfte auf (Kunina-Habenicht et al. 2012).
die Qualität des Unterrichts und den Lernerfolg der unterrich-
teten Schülerinnen und Schüler zu prüfen. Exkurs: Welches fachliche und fachübergreifende Wissen
In die Studie gingen Daten von 198 Lehrkräften und ihren benötigen Lehrkräfte, um diagnostische Urteile zu fällen?
Klassen ein. Neben den erwähnten Tests und Fragebögen für Eine zentrale Aufgabe von Lehrkräften besteht darin, die Lern-
die Lehrkräfte wurde die Qualität des Unterrichts durch Lehrer- leistungen ihrer Schülerinnen und Schüler zu beurteilen. Die
und Schülerfragebögen sowie Analysen der durch die Lehr- Anforderung der Schülerbeurteilung umfasst dabei nicht nur
kräfte gestellten Aufgaben erfasst sowie die PISA-Daten der die formalisierte Beurteilung (Zensurengebung). Ebenso wich-
Schülerinnen und Schüler herangezogen. tig ist die Wahrnehmung der individuellen Fehlvorstellungen,
Als ein erstes wichtiges Ergebnis der Studie stellte sich Lernstrategien und Verständnisschwierigkeiten von Schülerin-
heraus, dass sich Lehrkräfte in allen Kompetenzaspekten sub- nen und Schülern vor dem Hintergrund ihres kognitiven Ent-
stanziell unterscheiden und dass ein Teil dieser Unterschiede wicklungsstandes (Chi, Siler & Jeong 2004). Die beiden Ziel-
20 auf Unterschiede in der Ausbildung zurückzuführen war. Zwei- größen diagnostischer Tätigkeit von Lehrkräften – die zusam-
tens manifestierten sich diese Unterschiede in der Qualität des menfassende Bewertung auf der einen Seite und die auf die
Unterrichts: Lehrkräfte mit höherem fachdidaktischen Wissen, Optimierung des Lernverhaltens hin ausgerichtete individuel-
mehr Enthusiasmus für den Unterricht und besseren Selbst- le prozessbegleitende Lernrückmeldung auf der anderen Seite
regulationsfähigkeiten unterrichteten auch anregender, unter- – werden auch als summative und formative Diagnostik be-
stützender und besser organisiert als Lehrkräfte mit geringeren zeichnet (s. a. Artelt & Drechsel 2014). Besonders die forma-
Kompetenzausprägungen. Diese Unterschiede bewirkten drit- tive Diagnostik hat in den letzten Jahren in der Forschung
tens unterschiedliche Lernerfolge bei den Schülerinnen und viel Aufmerksamkeit erfahren. Formative Diagnostik, oder auch
Schülern, sodass mit der Studie nachgewiesen werden konnte, Prozessdiagnostik, schaut nicht nur auf Arbeitsergebnisse, son-
dass professionelle Kompetenzen tatsächlich wichtige Fakto- dern auch auf den Arbeitsstil, die Art, wie sich ein Kind einer
ren für die beruflichen Leistungen von Lehrkräften darstellen. Aufgabe nähert und wie es sie ausführt. Insofern ist sie eine
20.3  Kompetenzmodelle zur Beschreibung der „guten Lehrkraft“
403 20
lernbegleitende Diagnostik, bei der fortlaufend der aktuelle Merkmale des Aktivitäten des
Förderbedarf ermittelt wird (7 Kap. 24, 25). Lesers/der Leserin Lesers/der Leserin
Welches Wissen benötigen Lehrende, um derartige diag- - Inhaltliches Vorwissen - Adäquater Einsatz
nostische Urteile zu fällen? Offensichtlich fließen hier mehrere - Wortschatz von Lernstrategien
Wissenselemente ein. Neben fachlichem Wissen ist auch fach- - Motivation - Lesetempo
didaktisches Wissen und fachunabhängiges unterrichtsbezo- - Einstellungen - Verstehensüberwachung
- Lernstrategiewissen - Selbstregulation
genes Wissen vonnöten. Um die Art des Umgangs einzelner - Kenntnisse von - Nutzung von Hilfsmitteln
Schülerinnen und Schüler mit bestimmten Lern- und Leistungs- Textmerkmalen etc.
anforderungen einschätzen zu können, ist beispielsweise die - Geschwindigkeit des
Kenntnis der Anforderungen zentral, die in Aufgaben enthalten lexikalischen Zugriffs
etc.
sind. Wenn Lehrkräfte nicht erkennen, dass Aufgaben im Unter-
richt unterschiedlich schwer sind, kann im diagnostischen Pro-
Beschaffenheit des Textes Leseanforderung
zess auch nicht beachtet werden, dass unterschiedlich schwere
- Inhaltsorganisation und - Verstehendes Lesen
Aufgaben unterschiedliche Lösungswahrscheinlichkeiten ha-
Strukturierung (Kohäsion ) - Kritisches Lesen
ben. Um die Leistungen von Lernenden akkurat einschätzen - Bilder/Diagramme - Reflexives Lesen
zu können, benötigen Lehrkräfte darüber hinaus Wissen über - Sequenzielles Arrangement - Involviertes Lesen
typische Denkfehler oder Lernprozesse im jeweiligen Bereich. - Vorwissensaktivierung - Genaues Lesen
etc. etc.
Hierzu zählen etwa Kenntnisse darüber, welche Beobachtun-
gen darüber Auskunft geben, ob eine Schülerin oder ein Schü-
ler eine bestimmte Aufgabenanforderung beherrscht und wie . Abb. 20.4 Merkmalsklassen, die bei der Bewertung individueller
Schülerleistungen beim Textverstehen berücksichtigt werden sollten
das jeweilige Schülerverhalten in Bezug auf die einzuschät-
zende Schülerfähigkeit interpretiert werden sollte. Es ist da-
her von zentraler Bedeutung, fach- oder domänenspezifische
20.3.2 Berufliche Überzeugungen
(Leistungs-)Anforderungen zu berücksichtigen.
Ein Beispiel aus dem Bereich des Textverstehens (Lesen) soll
dies verdeutlichen. Stellen wir uns noch einmal Frau Reger vor, In der Forschung zu professionellen Kompetenzen von Lehr-
die eine Schülerin im Unterricht bittet, einen kommentieren- kräften werden wertende schul- und unterrichtsbezogene
den Text aus einer Tageszeitung zu einem zeitgeschichtlichen Vorstellungen und Annahmen als berufliche oder professio-
Ereignis zusammenzufassen. Aufbauend auf dem von Cam- nelle Überzeugungen bezeichnet (s. a. Wilde & Kunter in
pione und Armbruster (1985) formulierten Tetraeder-Modell Druck).
zur Analyse von Lernprozessen benötigen Lehrkräfte zur Be-
urteilung der hierin einfließenden Textverstehensleistung der Professionelle Überzeugungen sind schul- und unter-
Schülerin Wissen in vier Bereichen (. Abb. 20.4, s. a. Artelt et al. richtsbezogene Vorstellungen und Annahmen, die eine
2005). Leserbezogene Merkmale und Aktivitäten müssen ge- bewertende Komponente beinhalten. Der übergeordnete
nauso berücksichtigt werden wie die jeweilige Leseanforde- Begriff der Überzeugungen (engl. beliefs) beinhaltet auch
rung und die Beschaffenheit des Textes. Wichtig ist hierbei, Einstellungen und Werthaltungen, die sich auf Schule
dass diese Merkmale jeweils in Relation zueinander gesehen und Unterricht beziehen. Überzeugungen sind subjektiv;
werden. Lehrkräfte, die die Leistungen ihrer Schülerinnen und dennoch sind Personen, die eine bestimmte Überzeu-
Schüler beim Verstehen von Texten einschätzen wollen, müs- gung haben, von ihrer Gültigkeit bzw. Angemessenheit
sen bei der Beurteilung also idealerweise Informationen aus überzeugt.
allen vier Bereichen (und deren Wechselwirkung) berücksich-
tigen. Je mehr Wissen sie in den jeweiligen Bereichen haben
und nutzen, desto akkurater sollte ihr Urteil ausfallen. Die Güte Obwohl Überzeugungen eng mit Wissen zusammenhän-
diagnostischer Urteile hängt also zentral vom fachlichen Wis- gen und die Abgrenzung der beiden Konzepte häufig nicht
sen, dem Wissen über spezifische Anforderungen bestimmter einfach ist (vgl. Fives & Buehl 2012), ist es sinnvoll, zwi-
Aufgaben und Fragen, dem Wissen über die Lernvoraussetzun- schen beiden zu unterscheiden. Für Überzeugungen ist nur
gen der Lernenden sowie dem Wissen über gelingende und wichtig, inwieweit das Individuum an den Wahrheitsgehalt
misslingende Lösungswege bei der Bearbeitung von Aufgaben glaubt. Wissen hingegen sollte im Fachdiskurs validiert und
ab. Darüber hinaus benötigen Lehrkräfte auch fachunabhängi- widerspruchsfrei sein. Beide beeinflussen das professionelle
ges allgemeines Wissen über den diagnostischen Prozess und Handeln von Lehrkräften.
über pädagogische und psychologische Diagnostik (z. B. über Überzeugungen lassen sich nach expliziten und implizi-
Urteilsfehler und -tendenzen, aber auch über Gütekriterien wie ten Überzeugungen unterscheiden (s. a. Fives & Buehl 2012).
Reliabilität, Validität und Objektivität; 7 Kap. 24) Explizit bedeutet, dass sich die Lehrkraft ihrer Überzeu-
404 Kapitel 20  Kompetenzen und berufliche Entwicklung von Lehrkräften

gung bewusst ist, was hingegen bei impliziten Überzeugun- seien sie auf sich selbst als Lehrkraft, auf den Lehr-Lern-
gen nicht der Fall ist. Explizite und implizite Überzeugun- Kontext oder das Bildungssystem bezogen – und ihre bewuss-
gen müssen nicht unbedingt übereinstimmen. Bei implizi- te Überprüfung werden daher als eine wichtige Komponente
ten Überzeugungen spielt die individuelle Sozialisation und von Professionalität gesehen.
Lerngeschichte eine besondere Rolle. So kann eine positive
implizite Überzeugung in Bezug auf eine bestimmte Unter-
richtsmethode etwa dadurch entstehen, dass diese oft von
20.3.3 Motivationale Orientierungen
einer sehr beliebten Lehrkraft eingesetzt wurde und dieses
mit vielen positiven Erlebnissen bei der die Überzeugung he-
genden Person verbunden war (klassisches Konditionieren). Eine Besonderheit des Kompetenzbegriffs besteht darin, dass
Explizite Überzeugungen sind hingegen meist das Produkt hiermit die Anwendung von Wissen und Fähigkeiten in be-
der gedanklichen Auseinandersetzung mit einem Thema und stimmten Situationen gemeint ist. Fischer, Bullock, Roten-
entsprechenden Argumenten. Zwar können auch andere Fak- berg und Raya (1993) sprechen von Kompetenz als an emer-
toren (z. B. das Auftreten einer Rednerin oder eines Redners) gent characteristic of a person in a context; Connell, Sheridan
Einfluss auf die Bildung einer Überzeugung haben, die nach- und Gardner (2003) bezeichnen Kompetenz als Umsetzung
haltigste Form der Bildung einer expliziten Überzeugung ist von Fähigkeiten in gegebenen Situationen. Hierbei wird deut-
jedoch die der Bewertung der Argumente, die für oder gegen lich, dass es einer Handlungsveranlassung bedarf, damit sich
eine Überzeugung sprechen. Wissen und Fähigkeiten in kompetenter Handlung äußern
Berufliche Überzeugungen weisen in der Regel eine hohe können. Mit Veranlassung ist hier Motivation gemeint. Wie
Stabilität auf. Es scheint jedoch einen Unterschied zu machen, viel Zeit Lehrkräfte beispielsweise für die Unterrichtsvorbe-
ob es sich um alte oder neu erworbene Überzeugungen han- reitung investieren, ob sie wirklich alle relevanten Merkma-
delt (Fives & Buehl 2012). Alte, tief verankerte und oft auch le bei der Beurteilung einer Schülerleistung berücksichtigen
implizite Überzeugungen scheinen eher stabil und schwer zu oder aber auf der Basis eines Schemas (z. B. „fauler Schüler“)
ändern, während sich neu erworbene, isolierte Überzeugun- urteilen, ist auch durch motivationale Merkmale der Lehr-
gen leichter verändern lassen. Für das professionelle Handeln kraft bestimmt.
von Lehrkräften sind Überzeugungen relevant, da sie die In der Psychologie ist Motivation ein allgemeiner Begriff
Wahrnehmung und das Verhalten beeinflussen. Fives und für alle Prozesse, die der Initiierung, der Richtungsgebung
Buehl (2012) beschreiben drei Funktionen von Überzeugun- und der Aufrechterhaltung physischer und psychischer Ak-
gen (s. a. Wilde & Kunter in Druck): tivitäten dienen (7 Kap. 11). Im Rahmen dieses Kapitels sind
1. Überzeugungen können als Filter für die Wahrnehmung wir auf die Motivation von Lehrkräften schon zu Beginn ein-
wirken. Je nach Überzeugung nehmen Lehrkräfte Ereig- gegangen (7 Abschn. 20.2). In diesem Abschnitt gehen wir auf
nisse unterschiedlich wahr und gehen mit neuen Informa- Formen der habituellen Motivation ein, also auf eher stabile
tionen anders um. So ist beispielsweise davon auszugehen, motivationale Orientierungen, die bei Lehrkräften situations-
dass in einer Fortbildung zum Thema „Digitale Medien übergreifend vorliegen können, nämlich den Zielorientierun-
im Unterricht“ diejenigen Lehrkräfte, die digitalen Medi- gen, der Selbstwirksamkeit und der intrinsischen Motivation
en eher kritisch gegenüberstehen, in der Fortbildung ver- (7 Mythos: „Müssen Lehrkräfte ihren Beruf lieben?“).
mehrt auf die Schwierigkeiten bei der Umsetzung achten
werden, während Lehrkräfte mit positiven Überzeugun-1 Zielorientierungen
gen vor allem die Chancen wahrnehmen werden. Arbeiten zu Zielorientierungen basieren auf Theorien der
2. Überzeugungen liefern einen Rahmen, um berufliche Si- Leistungsmotivation, in denen die Auseinandersetzung mit
tuationen einzuordnen und zu bewerten. So wird bei- einem Gütemaßstab als zentrales Merkmal gesehen wird.
spielsweise Frau Reger die Auflage, auch die Arbeiten der Hierauf aufbauend unterscheiden Arbeiten zu Zielorientie-
Parallelklassen zu korrigieren, unterschiedlich bewerten, rungen eine Lernzielorientierung, bei der es um den Erwerb
je nachdem welche Überzeugungen sie hinsichtlich der von Kompetenzen geht und der relevante Gütemaßstab die
für akkurate Diagnosen notwendigen Schritte hat. Leistung der eigenen Person ist, und eine Performanzziel-
3. Schließlich können sich Überzeugungen auch direkt auf orientierung, bei der es um die Darstellung der Kompeten-
20 das Verhalten von Lehrkräften auswirken. Frau Reger zen und den Kompetenzvergleich mit anderen geht und der
wird beispielsweise bei der Korrektur wahrscheinlich um- relevante Gütemaßstab durch die Leistungen von anderen
so mehr Zeit investieren, je mehr sie vom Nutzen der definiert wird (Dweck 1986). Personen mit einer Lernziel-
Parallelkorrektur überzeugt ist. orientierung wollen ihre Leistung steigern und sehen in leis-
tungsthematischen Situationen die Möglichkeit des Lernens
Ähnlich wie Wissen können auch Überzeugungen mehr oder und des Erreichens von selbstgesetzten Standards. Personen
weniger elaboriert und differenziert sein. Problematisch sind mit einer Performanzzielorientierung wollen hingegen besser
Überzeugungen dann, wenn sie auf falschen Prämissen be- sein als andere oder zumindest verschleiern, dass sie schlech-
ruhen (in Form von unreflektierten naiven bzw. intuitiven ter sind. Bei Performanzzielorientierungen wird daher oft
Überzeugungen) und das Handeln einschränken. Eine reflek- auch nach Annäherungs- und Vermeidungsperformanzzie-
tierte Auseinandersetzung mit den eigenen Überzeugungen – len differenziert (Elliot 1999).
20.3  Kompetenzmodelle zur Beschreibung der „guten Lehrkraft“
405 20
Zielorientierungen sind im Gedächtnis gespeicherte und
im Selbstkonzept von Personen verankerte habituelle Vor- – gerne in Verbindung mit dem Ruf: „Wir brauchen mehr
stellungen und Bewertungsmaßstäbe für eigene Lernerfolge. Lehrkräfte, die ihre Arbeit lieben!“ Doch gibt es tatsächlich
Es handelt sich also um Tendenzen im Umgang mit Leis- gesicherte Anhaltspunkte dafür, dass die Motivation von
tungssituationen. Etliche Studien im Bereich des schulischen Lehrkräften generell problematisch ist?
Lernens zeigen, dass Lernzielorientierungen mit günstigem Die psychologische Forschung hat schon vor langer
Lernverhalten und guten Lern- und Arbeitsergebnissen zu- Zeit festgestellt, dass Motivation von Menschen nicht
sammenhängen (z. B. Eccles & Wigfield 2002). die Form einer einzigen mentalen Energie annimmt,
Butler (2007; Butler & Shibaz 2008) hat untersucht, welche die man entweder hat oder nicht. Stattdessen erleben
Rolle Zielorientierungen von Lehrkräften für ihr Verhalten Menschen viele unterschiedliche Formen der Motivation
spielen. Sie konnte zeigen, dass Lehrkräfte in Abhängigkeit – zum Teil sogar gleichzeitig. Formulierungen wie „den
von ihrer Zielorientierung zu unterschiedlichen Unterrichts- Job lieben“ zielen auf eine Form der Motivation ab, die
gestaltungen neigen, was sich auch im Verhalten der Schüler in der Psychologie als intrinsische Motivation bezeichnet
niederschlug. So zeigten Lehrkräfte mit ausgeprägten Perfor- wird (Ryan & Deci 2000). Darunter versteht man einen
manzzielorientierungen eher zu einem kompetitiven Unter- motivationalen Zustand, in dem Personen Tätigkeiten
richtsstil, während eine Lernzielorientierung bei Lehrkräften allein um ihrer selbst willen ausüben, d. h. die Freude an
tendenziell auch mit einem Unterricht korrespondierte, der der Tätigkeit ist der einzige Beweggrund. Im Kontrast dazu
Lernziele der unterrichteten Schülerinnen und Schüler för- steht die so genannte extrinsische Motivation, bei der
derte (s. a. Anderman & Anderman 1999). Nitsche et al. Menschen Handlungen ausführen, weil sie eine bestimmte
(2013) konnten weiterhin zeigen, dass Lehrkräfte mit stärke- Konsequenz als Folge der Handlung erwarten (7 Kap. 11).
rer Lernzielorientierung mehr an Fortbildungen teilnahmen In der Pädagogik ist die Annahme weit verbreitet, die
und weniger Krankheitstage aufwiesen als ihre Kolleginnen intrinsische Motivation sei der extrinsischen überlegen
und Kollegen. – nur wenn Schüler „von innen heraus“ lernen, seien
nachhaltige Lernergebnisse möglich.
1 Selbstwirksamkeit Die Unterscheidung zwischen intrinsischer und ex-
Als weiteres relevantes motivationales Konstrukt ist die trinsischer Motivation lässt sich gut auf die Debatte um
Selbstwirksamkeit von Lehrkräften zu sehen. Die Überzeu- die scheinbar unmotivierten Lehrkräfte anwenden: Der
gung, dass man eine bestimmte Handlung erfolgreich aus- Volksmund vermutet, dass sich im Lehrerberuf zu viele
üben oder eine Aufgabe bewältigen kann, ist eine der Bedin- Lehrkräfte tummeln, die den Beruf „nur“ wegen der Ferien,
gungen dafür, dass Menschen aus eigenen Stücken überhaupt guten Bezahlung oder anderen Bequemlichkeiten aus-
aktiv werden und auch dafür, wie sie sich in Anbetracht von üben, es den Lehrkräften also an intrinsischer Motivation
Schwierigkeiten verhalten. Die sogenannte Lehrerselbstwirk- mangele. Ziel müsste es daher sein, vermehrt Personen für
samkeit bezieht sich auf die Einschätzung einer Lehrkraft da- den Lehrerberuf zu gewinnen, die weniger extrinsisch und
rüber, wie gut es ihr gelingen kann, das Lernen und Verhalten stärker intrinsisch motiviert seien.
ihrer Schülerinnen und Schüler zu unterstützen und zu för- An dieser Stelle ist es hilfreich, sich ausführlicher
dern – und zwar auch bei vermeintlich schwierigen oder un- mit dem Konstrukt der extrinsischen Motivation zu
motivierten Schülerinnen und Schülern (Tschannen-Moran beschäftigen. Denn die psychologische Forschung
& Woolfolk, Hoy 2001; s. a. Kunter 2014). Die Forschung zeigt, dass die simple Unterscheidung in „intrinsische
zeigt, dass Lehrkräfte mit hohen Selbstwirksamkeitserwar- Motivation D gut“ und „extrinsische Motivation D
tungen weniger anfällig für Stresserkrankungen sind und schlecht“ die Wirklichkeit nur unzureichend abbildet.
innovativere Unterrichtsmethoden verwenden (Schwarzer & Die Motivationsforschung ist sich mittlerweile einig,
Warner 2014). Selbstwirksamkeitserwartungen sind genera- dass extrinsische Motivation unterschiedliche Formen
lisierte selbstbezogene Kognitionen und als solche nicht so annehmen kann und nicht immer nachteilig ist. So
leicht veränderbar. Es gibt jedoch empirische Belege, dass lassen sich unterschiedliche Grade an extrinsischer
es durch Modifikation von Attributionen (Reattributionstrai- Motivation unterscheiden, die man sich entlang eines
ning) und das Erleben von Wirksamkeit (u. a. durch realisti- Kontinuums der Selbstbestimmtheit vorstellen kann
sche Zielsetzung) möglich ist, dysfunktionale professionelle (Ryan & Deci 2000). Die am geringsten selbstbestimmte
Selbstwirksamkeitserwartungen von Lehrkräften zu verän- Motivation ist dabei die reine externale Motivation,
dern (Ross & Bruce 2007). bei der Handlungen ausschließlich durch Belohnungen
oder Bestrafungen gesteuert sind. Es gibt jedoch andere
Formen der extrinsischen Motivation, die sich durch einen
relativ hohen Grad an Selbstbestimmtheit auszeichnen.
Mythos: Müssen Lehrkräfte ihren Beruf lieben? (Ex-
Strengt sich beispielsweise ein Schüler beim Lernen an,
trinsische und intrinsische Motivation)
weil er eine gute Abiturprüfung für sein Traumstudium
Schlechte Bildungsergebnisse werden häufig auf die
benötigt, ist dieser Schüler zwar immer noch extrinsisch
„mangelnde Motivation“ von Lehrkräften zurückgeführt
406 Kapitel 20  Kompetenzen und berufliche Entwicklung von Lehrkräften

motiviert, doch in einer sehr selbstbestimmten Form. motivationale Faktor ist. Der hohe Maßstab, der in der
In der Motivationsforschung hat es sich daher etabliert, öffentlichen Diskussion gerne an die Beweggründe von
nicht länger strikt zwischen extrinsischer und intrinsischer Lehrkräften gestellt wird, ist ein Widerhall der zu Beginn
Motivation zu unterscheiden, sondern von mehr oder des Kapitels dargestellten Vorstellung, zum Lehrer bzw.
weniger autonomer Motivation zu sprechen. Diese zur Lehrerin müsse man berufen sein. Die psychologische
Unterscheidung ist auch zur Analyse der Motivation von Forschung zeigt eindeutig, dass auch extrinsisch motivierte
Lehrkräften relevant. Lehrkräfte sehr gute Leistungen in ihrem Beruf zeigen
Die Forschung zeigt nämlich, dass viele Lehrkräfte können – solange diese extrinsische Motivation von einem
durchaus autonom motiviert sind. Untersucht man die hohen Grad an Selbstbestimmtheit gekennzeichnet ist.
Gründe, warum Lehramtsstudierende den Beruf gewählt Wie Selbstbestimmtheit im Lehrerberuf aufrechterhalten
haben, findet man häufig mehrere Anlässe und dabei werden kann – dies ist eine andere Frage (siehe hierzu z. B.
sowohl intrinsische als auch extrinsische Formen der Firestone & Pernell 1993; Kunter & Holzberger 2014).
Motivation (Pohlmann & Möller 2010; Richardson & Watt
2014). Es finden sich weiterhin keinerlei Belege dafür,
dass Lehrkräfte ihren Beruf überwiegend aus wenig
selbstbestimmten, extrinsischen Gründen (wie den oben
genannten materiellen oder zeitlichen Vorteilen) heraus 20.3.4 Selbstregulative Fähigkeiten
wählen. Stattdessen kommt in allen Untersuchungen
stärker autonomen Motivationsformen wie der Freude Auch selbstregulative Fähigkeiten stellen wichtige Vorausset-
am Umgang mit Kindern und Jugendlichen, dem Wunsch zungen zur erfolgreichen Bewältigung professionsbezogener
etwas zur Gesellschaft beizutragen oder dem Interesse am Anforderungen dar (. Abb. 20.2; Baumert & Kunter 2006).
Fach die größte Bedeutung für die Berufswahl zu.
Die Forderung, es fehlten Lehrkräfte, die den Beruf
aus Liebe und Leidenschaft ausüben, impliziert weiterhin, Unter selbstregulativen Fähigkeiten von Lehrkräften wer-
dass intrinsische Motivation bei Lehrkräften automatisch den nach Klusmann (2011) Fähigkeiten verstanden, um im
zu besseren Ergebnissen führe. Die Befundlage hierzu ist beruflichen Kontext effektiv mit den eigenen Ressourcen
jedoch alles andere als eindeutig. Eine Längsschnitt-Studie, haushalten zu können. Eine adaptive Selbstregulation
die den Effekt unterschiedlicher Gründe der Berufswahl wird dabei als Kombination aus hohem beruflichen
auf verschiedene Indikatoren des Berufserfolgs unter- Engagement und hoher beruflicher Widerstandsfähig-
suchte, fand keine Vorteile von intrinsischer gegenüber keit gesehen. Berufliches Engagement bezeichnet die
extrinsischer Motivation (Wilhelm, Dewhurst-Savellis & grundlegende Bereitschaft einer Person, Ressourcen (d. h.
Parker 2000). König und Rothland (2012) kamen in einer Energie und Anstrengung) in die Arbeit zu investieren.
Studie mit Lehramtsstudierenden sogar zu dem Befund, Berufliche Widerstandsfähigkeit hingegen beschreibt
dass intrinsisch motivierte Studierende weniger Wissens- die Fähigkeit eines Individuums, sich von beruflichen
zuwächse im Verlauf des Studiums zeigten. Insgesamt Belangen zu distanzieren und erfolgreich mit Misserfolgen
zeigt sich somit, dass eine rein intrinsische Motivation bei umzugehen, d. h. Ressourcen zu schützen.
Lehrkräften nicht zwangsläufig zu besseren beruflichen
Leistungen führt als extrinsische Formen der Motivation.
Doch wie sieht es mit den unterschiedlichen Formen Lehrkräfte mit hohen selbstregulativen Fähigkeiten zeich-
der extrinsischen Motivation aus? Hier ist die Befundlage nen sich dadurch aus, dass sie ein anforderungsgerechtes Ni-
recht eindeutig. Verschiedene Studien zeigen, dass veau beruflichen Engagements zeigen, sich aber gleichzeitig
Lehrkräfte mit autonomer Motivation – also, wenn sie auch von beruflichen Belangen distanzieren und ihre Res-
Freude am Beruf erleben und ihre Tätigkeit als wichtig sourcen schonen können. Theoretisch und empirisch lassen
erachten – bessere Berufsergebnisse zeigen, zum Beispiel sich Personen dieses optimalen Verhaltenstyps (Gesundheits-
im Hinblick auf die Qualität ihres Unterrichts sowie das typ in . Abb. 20.5) von den drei übrigen unterscheiden, die
20 Lernen und die Motivation ihrer Schülerinnen und Schüler, durch andere Kombinationen aus Widerstandsfähigkeit und
als weniger autonom motivierte Lehrkräfte (Kunter & Engagement gekennzeichnet sind (Klusmann, Kunter, Traut-
Holzberger 2014). wein, Lüdtke & Baumert 2008, basierend auf Schaarschmidt
Die Forderung „Wir brauchen mehr Lehrkräfte, die & Fischer 1997)
ihren Beruf lieben“ entbehrt somit jeder theoretischen Spiegelbildlich zum Gesundheitstyp ist Risikotyp B durch
und empirischen Grundlage und kann in das Gebiet der geringes Engagement und geringe Widerstandsfähigkeit ge-
Mythen verwiesen werden. Wir finden weder, dass generell kennzeichnet. Lehrkräften mit diesem ungünstigen Muster
ein motivationales Defizit bei Lehrkräften vorliegt, noch, der Selbstregulation fehlt es sowohl am nötigen Ressour-
dass allein die „Liebe“ zum Beruf der entscheidende ceninvestment als auch am Schutz eigener Ressourcen, um
die berufliche Leistungsfähigkeit langfristig zu gewährleisten.
Die beiden weiteren Muster der Selbstregulation sind jeweils
20.4  Berufliche Entwicklung von Lehrkräften – Verlaufsperspektive
407 20
Widerstandsfähigkeit der Ausbildungsschulen und Studienseminare. Die inhaltli-
che und institutionelle Trennung der Lehrerbildung geht mit
Schontyp Gesundheitstyp einem strukturbedingt geringen Bezug zwischen Theorie und
Praxis einher. Allerdings bedeutet die Aufteilung in eine pri-
mär analytisch-konzeptuelle und eine praxisorientierte Phase
Risikotyp B Risikotyp A nicht, dass die Verbindungen zwischen Theorie und Praxis
im späteren professionellen Handeln der Lehrkräfte schwach
ausgeprägt sein müssen. Wohl jedoch, dass es im starken
Engagement Maße von der Initiative der angehenden Lehrkräfte und der
Aktivität von Seminarleiterinnen und -leitern abhängt, dass
. Abb. 20.5 Vier Verhaltensstile der Selbstregulation (nach Schaar- die universitär vermittelten Wissensbestände für die prakti-
schmidt und Fischer 1997 sowie Klusmann 2011)
sche Arbeit und die Entwicklung der professionellen Tätigkeit
von Lehrkräften nutzbar gemacht werden. Gleichzeitig be-
durch hohe Ausprägungen in nur einer der beiden Dimensio- deutet gute Lehre in der ersten, universitären Phase auch, dass
nen gekennzeichnet. So weist der Schontyp ein niedriges En- die Vermittlung theoretischen Wissens durch Phänomene aus
gagement bei hoher Widerstandsfähigkeit auf. Personen mit der Praxis motiviert und auf diese rückbezogen wird (z. B.
diesem Verhaltensstil sollten in der Lage sein, Ressourcen zu durch Fall-/Situationsbeschreibungen, Videovignetten etc.).
erhalten, jedoch fehlt das nötige Engagement, um langfristig Unterstützt werden können die notwendigen wissensbezoge-
die beruflichen Anforderungen zu meistern. Das vierte Mus- nen Transferleistungen (7 Im Fokus: Wenn Wissen und Praxis
ter der Kombination aus Engagement und Widerstandsfähig- unverbunden bleiben) u. a. auch dadurch, dass ausgewählte
keit wird als Risikotyp A beschrieben. Dieser zweite Risikotyp praxisbezogene Lehr-Lern-Arrangements oder Trainings in
zeigt hohes Engagement, gleichzeitig jedoch geringe Wider- die universitäre Ausbildung integriert werden.
standsfähigkeit. Sein ausgiebiges Ressourceninvestment und
Im Fokus: Träges Wissen
die mangelnde Fähigkeit, vorhandene Ressourcen zu schüt-
zen, sollten langfristig zum Erleben von Stress führen. Dies
In der psychologischen Forschung ist das Phänomen einer
deutet sich in empirischen Befunden an, die zeigen, dass
mangelnden Vernetzung von Wissenselementen ein gut
Lehrkräfte der Risikotypen A und B die höchste emotionale
bekanntes Phänomen, das auch unter dem Begriff des
Erschöpfung und gleichzeitig die geringste Arbeitszufrieden-
trägen Wissens diskutiert wird. Systematisch geordnetes
heit erleben, während Lehrkräfte mit dem Verhaltensstil des
Wissen läuft immer Gefahr, beim Lösen komplexer Probleme
Gesundheitstyps die günstigsten Werte im beruflichen Wohl-
– und das praktische Unterrichtshandeln stellt ein solches
befinden aufweisen (Klusmann et al. 2008). Berücksichtigt
komplexes und dynamisches Problem dar – träge zu
man weiter, dass die emotionale Erschöpfung von Lehrkräf-
bleiben: obwohl es vorhanden und relevant ist, wird es
ten – auch unter Kontrolle relevanter Hintergrundvariablen –
nicht genutzt. Aus lernpsychologischer Perspektive lässt
in einem negativen Zusammenhang zur Leistung der jeweils
sich das Phänomen, dass Gelerntes nicht angewendet
unterrichteten Schülerinnen und Schüler steht, wie Klus-
wird, anhand verschiedener Modelle erklären (Renkl 1996).
mann und Richter (2014) auf Basis einer repräsentativen
Gründe für die Nicht-Nutzung können dabei – Renkl spricht
Stichprobe des IQB-Ländervergleichs für die Primarstufe zei-
hierbei von Metaprozesserklärungen – u. a. metakognitiver
gen konnten, wird deutlich, welche Relevanz dieser Facette
(z. B. die Person merkt nicht, dass in einer gegebenen
professioneller Kompetenzen von Lehrkräften zukommt.
Situation Wissen relevant ist) oder motivationaler (z. B.
es bestehen keine Anreize, das Gelernte zu verwenden)
Natur sein. Diese Erklärungen gehen davon aus, dass das
20.4 Berufliche Entwicklung von Wissen vorhanden, aber nicht (adäquat) angewendet
Lehrkräften – Verlaufsperspektive wird. Man kann jedoch auch – mit guten Gründen –
die Qualität des Wissens selber in den Blick nehmen
Die Ausbildung für Lehrkräfte ist in Deutschland in zwei (7 Abschn. 20.3) und als Gründe für träges Wissen Defizite
Phasen unterteilt: Die universitäre erste Phase ist analytisch- in der Verarbeitungstiefe des Wissens (Elaborationsgrad)
konzeptuell angelegt und fokussiert hauptsächlich die Ver- oder seiner Struktur (Wissensbereiche werden getrennt
mittlung berufsfeldbezogenen Wissens mit dem Ziel, damit voneinander im Gedächtnis abgespeichert) oder einen
ein begriffliches Verständnis der späteren professionellen Tä- geringen Automatisierungsgrad vermuten. Einer getrennten
tigkeit als Lehrkraft zu ermöglichen. Phase zwei der Lehrer- Abspeicherung und mangelnden Verbindung zwischen z. B.
bildung ist praxisorientiert und findet im Rahmen des Vor- akademischem Wissen und Wissen aus der Praxis in der
bereitungsdienstes statt. Das Ziel der zweiten Phase besteht Lehrerbildung kann durch unterschiedliche Maßnahmen
vorrangig darin, Handlungssicherheit bei den angehenden entgegengewirkt werden (Wahl 2013, 7 Abschn. 20.4,
Lehrkräften zu erzeugen. Realisiert wird dies durch die pro- 7 Im Fokus: Lehrerbildungssysteme). Für eine zunehmende
fessionelle Begleitung der unterrichtspraktischen Arbeit der Automatisierung des Wissens bedarf es dabei intensiver
angehenden Lehrkräfte durch Vertreterinnen und Vertreter
408 Kapitel 20  Kompetenzen und berufliche Entwicklung von Lehrkräften

Auch vor Beginn der formellen Ausbildung werden wichtige


Praxiserfahrung und wiederholter Anwendung, da sich erst Grundlagen für die spätere Tätigkeit als Lehrkraft gelegt. Und
hierdurch die notwendige Verschmelzung des Wissens mit auch nach Abschluss der Ausbildung, d. h. nach dem Ende
konkreten (Anwendungs-)Episoden vollzieht. Hiermit geht der zweiten Phase, findet relevante professionelle Entwick-
einher, dass – so die Annahme – Situationen allein, d. h. ohne lung statt. Die für die professionelle Entwicklung relevanten
Umweg über eine bewusste Steuerung durch die handelnde Etappen und die dabei relevanten Erfahrungen werden nach-
Person, die Aktivierung des Handlungswissens und die folgend genauer dargestellt.
Handlung selber auslösen können. Die damit entstandene
Wissensqualität unterscheidet sich insofern, als dass die
Anwendung des Wissens nicht oder so gut wie nicht mehr
bewusst erfolgt. Bezogen auf Lehrkräfte bedeutet dies, 20.4.1 Die eigene Schulzeit
dass Lehrkräfte zu Beginn ihrer schulpraktischen Tätigkeit
aufgrund der noch nicht erfolgten Automatisierung eine Die Zeit, die Schülerinnen und Schüler in der Schule ver-
andere Form der Wissensanwendung praktizieren. Hier bringen, beträgt bis zu 15.000 Stunden (Rutter, Maughan,
läuft der Weg darüber, dass Handlungsoptionen vor dem Mortimore & Ourston 1979). In dieser Zeit werden nicht
Hintergrund professionellen Wissens vergleichend bewertet nur curricular vorgegebene Inhalte gelernt, sondern auch
werden. Annahmen zur Entstehung des automatisierten Erfahrungen gemacht, die für die Herausbildung von pro-
Wissens ähneln denen, die für die Ausbildung von Hand- fessionsbezogenen Überzeugungen bedeutsam sind (Miller &
lungsschemata und Unterrichtsskripts verwendet werden. Shifflet 2016). Für angehende Lehrkräfte sind die Ergebnisse
Als dritten Erklärungsstrang für träges Wissen nennt Renkl dieser impliziten Lernprozesse in zweierlei Hinsicht relevant:
(1996) Situiertheitserklärungen. Die hierunter gefassten Zum einen haben die während der Schulzeit etablierten Über-
Theorien und Modelle (u. a. Greeno 1998; Lave & Wenger zeugungen und Orientierungen einen Einfluss darauf, wie
1991) gehen davon aus, dass Wissen im erheblichen Maße Inhalte der Lehrerbildung adressiert und rezipiert werden
an Situationen gebunden ist, in denen es erworben wurde. (Richardson 1996); zum anderen dienen sie auch als Folie
Der Befund, dass Wissen, das ohne konkrete Verbindung für das spätere professionelle Handeln als Lehrkraft. Wie aber
zum Schulkontext im Rahmen von Fortbildungen erworben entstehen professionsrelevante Überzeugungen während der
wurde, selten angewendet wird, kann auch vor diesem Schulzeit? Hierzu ist es hilfreich, sich die psychologischen
Hintergrund gesehen werden (7 Abschn. 20.4.4). Effekte des Lehrerhandelns genauer vor Augen zu führen.
Verdeutlicht werden soll dieser Prozess für zwei Bereiche:
(epistemologische) Überzeugungen und Zielorientierungen.
In Diskussionen um Verbesserungen der Lehrerbildung Da es sich hierbei auch um Facetten professioneller Kompe-
ist es Standard, „mehr Praxis“ und „weniger Theorie“ zu for- tenzen von Lehrkräften handelt, wurden beide Begriffe schon
dern. Es ist jedoch sowohl aus theoretischer als auch empiri- in den 7 Abschn. 20.3.2 und 20.3.3. eingeführt.
scher Sicht ein Irrtum, Praxis und Theorie zugunsten der ers-
teren gegeneinander auszuspielen. Wie wir in 7 Abschn. 20.11 Epistemologische Überzeugungen
gezeigt haben, handelt es sich bei den beruflichen Anfor- Epistemologische Überzeugungen (z. B. Hofer & Pintrich
derungen an Lehrkräfte um komplexe Probleme, für die es 2002; Schommer 1993) beziehen sich auf die Entstehung,
im seltensten Fall einfache Handlungsroutinen gibt, die man Struktur, Verlässlichkeit und Veränderbarkeit von Wissen
durch praktisches Einüben beherrschen kann. Lehrerbildne- und Erkenntnissen. Als intuitive Theorien über die Natur von
rinnen und Lehrerbildner aller Phasen sind sich einig, dass Erkenntnis (Epistemologie) üben sie Einfluss auf den eigenen
ein theoretischer Rahmen notwendig ist, um die Praxis an- Erkenntnisprozess aus, also auf das eigene Denken, Schluss-
gemessen einzuordnen und reflektieren zu können (Kunina- folgern, die Art der Informationsverarbeitung und letztlich
Habenicht et al. 2012). Die besondere Bedeutung einer um- auch die Motivation, sich mit bestimmten Dingen auseinan-
fassenden theoretischen Ausbildung, die einer praktischen derzusetzen (s. a. Hofer & Pintrich 2002). Epistemologische
Berufsphase vorgelagert ist, kann indirekt auch aus Studi- Überzeugungen entwickeln sich nicht nur, aber doch in ei-
en der Expertiseforschung abgeleitet werden (vgl. Bromme nem erheblichen Maße durch Erfahrungen in der eigenen
20 2014/1992). Die theoretische Ausbildung zur Lehrkraft bildet Schulzeit. Die unterrichtliche Interaktion im Fachunterricht
somit eine wichtige Grundlage für die Integration von Wis- bietet dazu einen ausgezeichneten Nährboden, da hierüber
sen unterschiedlicher disziplinärer Herkunft mit praktischen implizit oder explizit eine Reihe von Merkmalen des zu ler-
Erfahrungen. Theorie kann dabei helfen, die komplexe prak- nenden (oder zu verstehenden) Stoffes mit vermittelt werden.
tische Realität zu ordnen – gleichzeitig setzen automatisierte So hat schon Schoenfeld (1988) in seinen klassischen Arbei-
praktische Fähigkeiten Ressourcen frei, die für andere Anfor- ten für den Mathematikunterricht zeigen können, dass ge-
derungen professioneller Tätigkeit genutzt werden können. wisse Lehrstile zu dysfunktionalen epistemologischen Über-
Die Frage, wie sich die für die Praxis relevanten Kompe- zeugungen der Lernenden über Mathematik führen. Welche
tenzaspekte entwickeln bzw. wie diese erlernt werden, kann Überzeugungen sind das? Z. B. die Vorstellung, dass Mathe-
jedoch nicht allein auf Basis der institutionell organisierten matik formales Beweisen sei und nichts mit Erfinden oder
Lehrerbildung (erste und zweite Phase) beantwortet werden. Entdecken zu tun habe. Oder aber, dass nur Genies Mathema-
20.4  Berufliche Entwicklung von Lehrkräften – Verlaufsperspektive
409 20
tik gänzlich verstehen können (für naturwissenschaftlichen Gewicht auf die angemessene Qualifikation von Lehrkräften
Unterricht s. a. Bell und Linn 2002). Überzeugungen über gelegt und welche hohe Bedeutung dem professionellen Wis-
das Wesen von Wissen und Lernen haben nicht nur eine Be- sen zugeschrieben wird.
deutung für das eigene Lernen in der Schule, sondern auch Strukturell gesehen wird in der ersten Phase der Leh-
dafür, wie man Inhalte der Lehrerbildung rezipiert und in- rerbildung die theoretische Grundlage für den Start ins Be-
tegriert sowie in gewisser Weise auch dafür, wie man selbst rufsleben gelegt. Brouwer und Korthagen (2005) sprechen
später als Lehrkraft agiert. Die Entwicklung einer persön- in diesem Zusammenhang von einer starting competence. Im
lichen Erkenntnistheorie ist am Ende der Schulzeit sicher Unterschied zur in-service competence, die sich erst im Lau-
nicht abgeschlossen, scheint jedoch hierdurch in besonderer fe der ersten Berufsjahre entwickelt, handelt es sich bei dem
Weise geprägt zu sein. Für den beruflichen Werdegang von mit starting competence bezeichneten Wissen und Können
Lehrkräften bedeutet dies, dass die in der eigenen Schulzeit zunächst nur um die notwendige Grundlage für die profes-
entwickelten Überzeugungen über das Wesen ihres Faches sionelle Berufsausübung. Das an der Universität oder Pä-
ihre weitere Ausbildung wie ein Filter beeinflussen können. dagogischen Hochschule erlangte konzeptuelle, situationale
Viele Lehrerbildnerinnen und Lehrerbildner sehen es daher und prozedurale Wissen stellt somit eine notwendige, jedoch
zu Beginn des Lehramtsstudiums als eine besonders wichtige nicht hinreichende Voraussetzung dafür dar, den Anforde-
Aufgabe an, diese intuitiv vorhandenen Überzeugungen bei rungen des Lehrerberufs in der Praxis langfristig professio-
den Lehramtsstudierenden sichtbar zu machen. nell zu begegnen.
Trotz diverser lokaler Unterschiede ist die Lehrerbildung
1 Zielorientierungen an den Hochschulen fast immer in die Fachwissenschaf-
Zielorientierungen beschreiben – wie in 7 Abschn. 20.3.3 dar- ten, die Fachdidaktiken, die Bildungswissenschaften und die
gestellt – unterschiedliche Tendenzen im Umgang mit Leis- praktischen Studienanteile unterteilt. Über die relative Ge-
tungssituationen (Elliot 1999). Die Forschung hat deutlich wichtung dieser Studienanteile, die curricularen Inhalte, die
gemacht (u. a. Butler 2007; Butler & Shibaz 2008), dass mo- didaktische Ausgestaltung sowie die generelle Struktur des
tivationale Orientierungen von Lehrkräften auch einen Ein- Lehramtsstudiums wird immer wieder kontrovers diskutiert
fluss auf ihr Unterrichtsverhalten ausüben, was sich auch (Terhart 2012). Wir werden im Folgenden kurz auf die einzel-
im Verhalten und den sich herausbildenden motivationalen nen Studienelemente eingehen und einige Punkte benennen,
Orientierungen der Schüler niederschlagen kann. Die Unter- die vor dem Hintergrund des bisher beschriebenen Kompe-
schiede in der Unterrichtsgestaltung und der damit verbun- tenzansatzes relevant erscheinen.
denen Rückmeldekultur von Lehrkräften stellen für Schüle- Die fachwissenschaftlichen Anteile der Lehrerbildung zie-
rinnen und Schüler einen relevanten Kontext dar, vor dessen len auf eine adäquate fachliche Fundierung der späteren Tä-
Hintergrund sie ihre eigenen Leistungen einordnen. Haben tigkeit ab. Dabei sollen Studierende umfassend in die fachli-
sich motivationale Orientierungen einmal herausgebildet, er- chen Grundlagen ihrer Unterrichtsfächer eingeführt werden.
weisen sie sich als relativ stabil. Gleichwohl können sie sich Auch der spezielle Charakter wissenschaftlichen Arbeitens
in Abhängigkeit von Erfahrungen und Kontext noch verän- in dem jeweiligen Fach ist Gegenstand der fachwissenschaft-
dern (Meier et al. 2013). In einer Studie von Janke, Nitsche lichen Ausbildung. In der Regel liegt der Anteil fachwis-
und Dickhäuser (2015) konnte beispielsweise gezeigt werden, senschaftlicher Studien für angehende Gymnasiallehrkräfte
dass die Zielorientierungen von Lehrkräften in Abhängigkeit deutlich höher als für Studierende für andere Schulformen,
von den wahrgenommenen Merkmalen des Schulkontextes was zum Teil auch den Interessen der Studierenden entspricht
variieren, in dem sie tätig sind. Gerade schulische Kontex- (Pohlmann & Möller 2010). Diese scheinbare Selbstverständ-
te, in denen sich Lehrkräfte autonom und kompetent fühlen, lichkeit wird aber in jüngster Zeit durchaus in Frage gestellt
scheinen tendenziell eher mit Lernzielorientierungen (und (z. B. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissen-
weniger mit Leistungszielorientierungen) einherzugehen. schaft, Berlin 2012), da davon auszugehen ist, dass das für das
Als Fazit kann festgehalten werden, dass motivationale Unterrichten – wie oben gezeigt – so wichtige fachdidaktische
Orientierungen schon früh – insbesondere durch die Er- Wissen auf der Grundlage des Fachwissens entsteht (Baumert
fahrungen in der eigenen Schulzeit – geprägt werden und et al. 2010). Unabhängig vom Umfang des benötigten Wissens
Einfluss auf das spätere Handeln als Lehrkraft ausüben. wird für die Fachwissenschaften häufig der fehlende Berufs-
feldbezug bemängelt. Das fachliche Studium findet in den
meisten Fällen gemeinsam mit den Hauptfachstudierenden
statt, und so werden sich heutige Lehrkräfte häufig an diver-
20.4.2 Die erste Phase der Lehrerbildung: Das se fachwissenschaftliche Lehrveranstaltungen erinnern, für
Studium deren Inhalte die Bedeutung für die spätere Berufstätigkeit
kaum ersichtlich war. Damit dieses Wissen allerdings nicht
Die akademische Grundausbildung legt die Basis für die pro- „träge“ bleibt (7 Im Fokus: Träges Wissen) muss es nicht nur
fessionelle Entwicklung von Lehrkräften. Die Tatsache, dass erinnert, sondern aktiv verarbeitet werden.
so gut wie in allen Ländern die Lehrerbildung durch ein Die fachdidaktischen Studienangebote sind organisato-
Studium an Hochschulen beginnt und nicht eine berufsori- risch meist den fachwissenschaftlichen Fakultäten zugeord-
entierte praktische Ausbildung erfolgt, verdeutlicht, welches net – anders als die Fachstudien sind diese exklusiv an Lehr-
410 Kapitel 20  Kompetenzen und berufliche Entwicklung von Lehrkräften

amtsstudierende gerichtet und weisen somit einen stärkeren Im Fokus: Lehrerbildungssysteme


Berufsfeldbezug auf. Die Fachdidaktiken der unterschied-
lichen Fächer werden manchmal dafür kritisiert, dass das Die Lehrerbildungssysteme in verschiedenen Ländern las-
jeweils vermittelte Wissen nicht immer hinreichend empi- sen sich in Bezug auf die Art der Theorie-Praxis-Verbindung
risch belegt ist (Ministerium für Innovation, Wissenschaft, unterscheiden. So ist in den Vereinigten Staaten von
Forschung und Technologie 2007). Amerika und in England ein so genanntes „konsekutives“
Der dritte inhaltliche Teil des Lehramtsstudiums sind die System verbreitet. Dies bedeutet, dass zunächst ein reiner
bildungswissenschaftlichen Studien. Sie umfassen die fach- Fach-Bachelor und erst danach ein Lehramtsstudium (z. B.
unabhängigen Inhalte, die als Grundlage für das Verständ- Master of Education oder spezialisierte Studienabschlüsse)
nis von individuellen Lernprozessen und -bedingungen, von studiert werden. Die beiden Ausbildungsteile haben nichts
Lehr-Lern-Situationen, von Unterricht (Planung, Durchfüh- miteinander zu tun. In Deutschland wird ein „grundstän-
rung und Analyse), Erziehung, Diagnose, Beratung, Konflikt- diges” System der Lehrerbildung praktiziert. Das Studium
lösung sowie für die Weiterentwicklung der Institutionen die- hat von Anfang an lehramtsspezifische Komponenten
nen (KMK 2004). Dieser Studienanteil ist häufig Kritik ausge- (Fachdidaktik, erziehungs- bzw. bildungswissenschaftliche
setzt, da das Lehrangebot der unterschiedlichen involvierten Module) und eine erste Praxisphase. Ein sehr integratives
Disziplinen (Erziehungswissenschaft, Psychologie, Soziolo- System existiert dagegen in der Schweiz, bei dem Lehrkräfte
gie) oft als wenig aufeinander abgestimmt wahrgenommen in spezifischen Studiengängen an Hochschulen ausgebildet
wird (Terhart 2012). Wie Curriculumanalysen zeigen, be- werden – meist an Pädagogischen Hochschulen. Dabei
steht eine große Heterogenität im bildungswissenschaftlichen sind Universitäts- und Praxisphase nicht wie in Deutschland
Studienangebot (Hohenstein et al. 2014; Lohmann, Seidel & getrennt, sondern integriert.
Terhart 2011), und die gleichzeitig vorhandene große Wahl-
freiheit in diesem Studienteil führt dazu, dass Studierende
sehr unterschiedliche Schwerpunkte legen und somit auch
ganz unterschiedliches Wissen in diesem Bereich aufbauen
20.4.3 Die zweite Phase der Lehrerbildung:
(Schulze-Stocker, Holzberger, Kunina-Habernicht, Terhart &
Kunter 2016). Seit der Verabschiedung einheitlicher Stan- Der Vorbereitungsdienst
dards für die Bildungswissenschaften durch die Ständige
Konferenz der Kultusminister der Länder der Bundesrepublik Die zweite Phase der Lehrerbildung – der Vorbereitungs-
Deutschland (2004) wurde jedoch an vielen Universitäten dienst – ist eine Besonderheit des deutschen Lehrerbildungs-
verstärkt darauf gesetzt, das Lehrangebot der Bildungswis- systems, die in dieser Form in kaum einem anderen Land
senschaften zu koordinieren und aufeinander abzustimmen. existiert. Der Vorbereitungsdienst stellt eine Phase des beglei-
Dass fachunabhängiges theoretisches Wissen über Lernen, tenden Berufseinstiegs dar, in der die angehenden Lehrkräfte
Unterrichten oder den Umgang mit unterschiedlichen Ler- Stück für Stück in die Praxis des Unterrichtens eingeführt
nenden eine wichtige Rolle für die spätere Bewältigung beruf- werden. Hierbei stehen ihnen Mentoren an den Schulen
licher Aufgaben einnimmt, ist nicht nur theoretisch plausibel, (Ausbildungslehrkräfte) zur Seite. Zudem wird die praktische
sondern mittlerweile auch durch verschiedene Studien empi- Tätigkeit durch staatliche Studienseminare begleitet.
risch abgesichert (z. B. Voss et al. 2014). Die bisherige Darstellung sollte deutlich gemacht haben,
Praktika können als ko-konstruktive Prozesse zwischen dass es für die Umsetzung des in der ersten Phase erworbenen
den Beteiligten verstanden werden, die die bewusste Entwick- Wissens (unabhängig davon, ob es eher prozeduraler oder
lung von berufsbezogenen Überzeugungen und Haltungen theoretisch-konzeptueller Natur ist) keine einfachen Trans-
ermöglichen. In den Überlegungen zu schulpraktischen Stu- formationsregeln für die Praxis gibt, sondern dass dieses
dien (Terhart 2002) wird diese Hinführung folgendermaßen Wissen über die Erfahrungen in der Praxis angereichert und
beschrieben: (1) Erfahrung der Person im schulischen und transformiert werden muss. Professionelles Wissen kann –
unterrichtlichen Kontext, (2) Reflexion auf die eigene Be- wie weiter oben bereits dargestellt – als theoretisches Wis-
rufswahlentscheidung, (3) Verknüpfung von Studieninhalten sen verstanden werden, das in Erfahrung eingelassen und
und den Erfahrungen während der schulpraktischen Studi- mit einzelnen Fällen und Unterrichtsepisoden verbunden ist.
20 en, (4) Grundformen und -methoden der Lehrerforschung Auch wenn diese Entwicklung hin zu professionellem Wissen
(forschendes Lernen, teacher research) und (5) Einbringen am Ende der zweiten Phase der Lehrerbildung nicht abge-
der Erfahrungen aus schulpraktischen Studien in das weitere schlossen ist, hat sie hierfür durch die intensiven Praxiskon-
Lehramtsstudium. Wie eine neuere Analyse zeigt, variiert die takte und die professionelle Begleitung eine herausragende
Ausgestaltung von Praktika im Lehramtsstudium zwischen Bedeutung.
Universitäten enorm, was Länge, Zeitpunkt und Art der Be- Der Vorbereitungsdienst gilt als eine wichtige Lerngele-
gleitung betrifft – welche Modelle jedoch am erfolgverspre- genheit und wird in der Rückschau von vielen Lehrkräften
chendsten sind, ist bisher empirisch noch nicht ausreichend sehr geschätzt (Czerwenka & Nölle 2011). Doch was wissen
untersucht (Gröschner et al. 2015). wir aus empirischer Sicht über Bedingungen und Effekte die-
20.4  Berufliche Entwicklung von Lehrkräften – Verlaufsperspektive
411 20
ser zweiten Phase der Lehrerbildung? Im Folgenden werden umfasst, wird deutlich, dass die eben beschriebenen Lernge-
einige wesentliche Befunde zusammengefasst. legenheiten der Erstausbildung (Studium und Vorbereitungs-
dienst) nicht einmal ein Viertel dieser Zeit ausmachen. Es
1 Der Vorbereitungsdienst als Ausnahmezeit? liegt somit auf der Hand, dass die professionelle Entwicklung
Anekdotische Berichte lassen den Eindruck entstehen, der von Lehrkräften nicht mit Ende der Ausbildung abgeschlos-
Einstieg in Praxis sei für die meisten angehenden Lehrkräf- sen sein kann: Die Aufgaben und Herausforderungen für
te eine Aufgabe, die nur unter großer psychischer Belastung Lehrkräfte sind einem stetigen Wandel ausgesetzt und die
zu bewältigen ist. Studien zeigen jedoch, dass ein Großteil der dafür notwendigen Kompetenzen können keineswegs alle be-
Lehramtsanwärterinnen und Lehramtsanwärter die Anforde- reits in der Ausbildung aufgebaut werden.
rungen dieser Phase recht gut bewältigt: Auch wenn speziell Professionelle Kompetenzen von Lehrkräften entwickeln
die gegen Ende dieser Phase auftretende große Prüfungsdich- sich im Laufe des Berufslebens in bedeutsamer Weise wei-
te als belastend empfunden wird, scheint das Belastungsni- ter. Intensiv ist diese Entwicklung besonders in den ersten
veau für die meisten angehenden Lehrkräfte kaum kritische Jahren der praktischen Tätigkeit, da die Alltagspraxis be-
Ausmaße aufzuweisen und sich im Gegenteil sogar eine große rufsspezifische Erfahrungen beinhaltet, auf Basis derer sich
Zufriedenheit mit der Berufswahl zu entwickeln (Dicke et al. Handlungsroutinen und bis zu einem gewissen Grad auch Ex-
2015; Klusmann, Kunter, Voss & Baumert 2012). Ein wichti- pertise entwickeln. Die starting competence, die das Wissen
ger zusätzlicher Befund der beiden zitierten Studien stützt die und Können von Lehrkräften am Ende der formalen Ausbil-
oben dargestellte Bedeutung einer theoretischen Grundlage dung kennzeichnet, wird im Lauf der praktischen Erfahrung
für die angemessene praktische Berufsbewältigung: So zei- mehr und mehr in eine in-service competence überführt.
gen diese Längsschnittstudien, dass das Belastungsempfinden Lehrkräfte nutzen viele unterschiedliche Möglichkeiten,
während des Vorbereitungsdienstes durch eine gute theoreti- um zu lernen und sich weiterzubilden (Bakkenes, Vermunt
sche Basis – vor allem im Bereich des pädagogischen Wissens & Wubbels 2010; Dunn & Shriner 1999). Dabei lassen sich
– gemindert wird. formelle und informelle Lerngelegenheiten unterscheiden
(Dunn & Shriner 1999). Formelle Lernmöglichkeiten sind
1 Ausgestaltung des Vorbereitungsdienstes all jene, in denen das Lernen und die Weiterbildung der
Die strukturelle Ausgestaltung des Vorbereitungsdienstes Lehrkraft selbst explizit im Vordergrund steht, wie etwa die
wird genauso wie das Lehramtsstudium immer wieder disku- Teilnahme an Fortbildungen, der zielgerichtete, lernbezoge-
tiert. Die grundsätzliche Struktur mit einer von schulischen ne Austausch mit anderen Kolleginnen und Kollegen oder
Mentoren unterstützten Schulplatzierung und der Beglei- das gezielte Selbststudium mit Büchern. Informelle Lernge-
tung durch die Studienseminare wird dabei weniger in Frage legenheiten können dagegen in allen denkbaren beruflichen
gestellt als die Möglichkeiten der Ausgestaltung dieser bei- Situationen auftreten, in denen die Lehrkraft handelt und
den Lernumwelten. Verschiedene Bundesländer haben dabei durch die gemachten Erfahrungen ihr Wissen oder andere
ganz unterschiedliche Formate entwickelt, die dazu dienen Kompetenzaspekte verändert. Dies können so alltägliche Si-
sollen, die jungen Lehrkräfte in ihrer Kompetenzentwick- tuationen wie die eigene Unterrichtsplanung und -reflexion,
lung noch besser zu unterstützen. Wie eine jüngere Evalua- die Auswertung der Ergebnisse von Klassenarbeiten oder der
tionsstudie zeigt, werden Angebote wie Coaching-Elemente, Austausch mit anderen Lehrkräften sein (Dunn & Shriner
Perspektivgespräche oder Peer-Lerngruppen gerne von den 1999).
Lehramtsanwärterinnen und -anwärtern angenommen und Lernen durch Fortbildung. Anders als die Erstausbildung
können wichtige Angebote für eine professionelle Entwick- ist die Fortbildung für Lehrkräfte nicht einheitlich geregelt.
lung darstellen (Kunter, Linninger, Schulze-Stocker, Kunina- Während beispielsweise in den meisten Staaten der Verei-
Habenicht & Lohse-Bossenz 2013). Noch wichtiger als orga- nigten Staaten von Amerika die staatlichen Lizenzen für
nisatorische Strukturen ist jedoch wie bei der Frage nach dem Lehrkräfte nur bei Nachweis einer bestimmten Menge von
guten Unterricht, wie die jeweiligen Lehr-Lern-Situationen Fortbildungsstunden erneuert werden, haben in Deutschland
gestaltet sind. Die Forschung zeigt, dass ko-konstruktive In- die wenigsten Bundesländer die Fortbildungsaktivitäten ih-
teraktionen mit Mentoren und in den Studienseminaren, in rer Lehrkräfte formal festgelegt. Auch wenn die Teilnahme
denen die Lehramtsanwärterinnen und -anwärter explizit zur an Fortbildungen generell als berufliche Tätigkeit erwartet
Reflektion ihrer praktischen Erfahrungen angeregt werden, wird, gibt es kaum inhaltliche Vorgaben und auch nur we-
mit günstiger Kompetenzentwicklung einhergehen (Decker nig strukturelle Unterstützung für eine systematische Fort-
et al. 2015; Richter et al. 2013). bildungskultur. Wie oft und welche Fortbildung ein Lehrer
oder eine Lehrerin besucht, ist in der Regel der Eigeninitiative
der einzelnen Personen und den schulischen Gegebenheiten
überlassen. So verwundert es nicht, dass die Fortbildungsak-
20.4.4 Lernen im Beruf oder die „Dritte
tivität in der Lehrerschaft sehr unterschiedlich ist. In einer
Phase“ der Lehrerbildung bundesländerübergreifenden Lehrerstichprobe fanden Rich-
ter, Engelbert, Weirich und Pant (2013) sehr unterschiedliche
Führt man sich vor Augen, dass eine typische Lehrerkarriere Fortbildungsprofile, die von Lehrkräften, die innerhalb von
von Studienbeginn bis Ruhestand oft mehr als vierzig Jahre fünf Jahren kaum je eine Fortbildung besucht hatten, bis hin
412 Kapitel 20  Kompetenzen und berufliche Entwicklung von Lehrkräften

zu äußerst aktiven Lehrkräften reichten, die zudem sehr un-


terschiedliche Themen bearbeitet hatten. Inhaltlich-didaktische Faktoren
4 Kombination aus Reflexions- und handlungspraktischen
Im Fokus: Studien zur Wirksamkeit von Lehrerfortbildungen Erprobungsphasen
4 Fachdidaktischer Fokus, der Lernen und Verständnis der
Aus empirischer Sicht gilt es bei der Frage nach den Wir- Schüler thematisiert
kungen von Fortbildungen verschiedene mögliche Effekte 4 Anregung zum Nachdenken über eigene Praxis (z. B.
zu unterscheiden (Lipowsky & Rzejak 2012; s. a. Kirkpatrick durch Videos)
& Kirkpatrick 2006; vgl. 7 Kap. 25). So können auf einer 4 Arbeiten mit Dissonanzen zwischen den Überzeugun-
ersten Ebene die Reaktionen der teilnehmenden Lehr- gen der Lehrkräfte und den tatsächlichen praktischen
kräfte betrachtet werden. Hier zeigen sich meist positive Effekten
Einschätzungen von praxisnahen, unterrichtsbezogenen 4 Anknüpfen an die Kognitionen und Konzepte der
Fortbildungen (im Vergleich zu Fortbildungen mit eher Lehrkräfte und Anregung zu ihrer Weiterentwicklung
unterrichtsfernen Themen), wobei die Forschung jedoch
auch zeigt, dass kaum systematische Zusammenhänge zwi-
schen der Zufriedenheit mit einer Fortbildung und anderen 1 Lernen durch Praxiserfahrung
Wirkungsebenen bestehen. Auf einer zweiten Ebene kann Zahlreiche Befunde verdeutlichen, dass sich erfahrene Lehr-
die Wirkung einer Fortbildung daran gemessen werden, kräfte im Vergleich zu Novizen in einer Reihe von pro-
inwieweit sie tatsächlich Änderungen in den Kognitionen fessionsrelevanten Merkmalen unterscheiden. Lehrexpertin-
und der Motivation der Lehrkräfte – also ihren professionel- nen und -experten planen z. B. zukünftige Unterrichtsstun-
len Kompetenzen – erzielen. Hier zeigt die Forschung recht den besser, komplexer und effektiver als Novizen (Desforges
eindeutig, dass die professionellen Kompetenzen durch 1995). Auch nehmen sie Situationen im Unterrichtsgesche-
Fortbildungen verändert werden können – vorausgesetzt, hen im Klassenraum anders wahr als Berufsanfängerinnen
die Fortbildungen weisen bestimmte Qualitätsmerkmale und -anfänger. Sie interpretieren Situationen eher unter Zu-
auf. Auf einer dritten Ebene lassen sich Veränderungen hilfenahme von Fachbegriffen und nehmen Bewertungen
des Unterrichtsverhaltens von Lehrkräften beobachten. und Interpretationen vor. Expertinnen und Experten verfü-
Auch hier gilt, dass Fortbildungen zu besserer Unterrichts- gen z. B. über Konzepte typischer Unterrichtsereignisse, un-
qualität führen können, typischerweise sind die Effekte terrichtsmethodischer Maßnahmen und dazugehöriger Ar-
jedoch weniger groß und ohne weitere Unterstützung beitsaktivitäten der Schülerinnen und Schüler (Berliner 2001)
nicht immer nachhaltig. Die vierte Ebene fragt schließlich und achten weniger auf äußerliche, für den Aktivitätsfluss
nach den Wirkungen von Lehrerfortbildungen auf die unwesentliche Details. Novizen hingegen geben das Gese-
Entwicklung der unterrichteten Schülerinnen und Schüler. hene zwar im Detail, jedoch weniger vor dem Hintergrund
Über verschiedene Studien hinweg lassen sich mittelgroße instruktionaler Konzepte wieder (Berliner 2001; Bromme
Effekte einer Fortbildungsteilnahme auf die Leistung von 2014/1992). Der Unterschied scheint in der Kategorisierung
Schülerinnen und Schülern identifizieren (Hattie 2009; der Wahrnehmung (Unterrichtsskripts, s. a. Seidel 2003) zu
Timperley et al. 2007; Yoon et al. 2007) – die Teilnahme von bestehen. Bei erfahrenen Lehrpersonen scheinen hierbei an-
Lehrkräften an Fortbildungen kann sich also auch direkt für forderungsorientierte Abstraktionen leitend zu sein (Zeits
die unterrichteten Klassen lohnen. 1997), was sie u. a. beim Umgang mit der Gleichzeitigkeit vie-
Allerdings ist Fortbildung nicht gleich Fortbildung. Genauso ler und zum Teil auch dem Lernziel abträglicher Ereignisse im
wie es bei der Frage nach den Wirkungen von Unterricht auf Unterricht effizienter und erfolgreicher macht.
die Gestaltung der Lehr-Lern-Situationen ankommt, lassen Professionelles fachbezogenes Wissen ist individuell
sich auch für Fortbildungen verschiedene Qualitätsmerk- durchaus unterschiedlich ausgeprägt. Lehrkräfte unterschei-
male festmachen. Fasst man die Ergebnisse verschiedener den sich auch dann, wenn die Ausbildung, das unterrichtete
empirischer Studien zusammen (Lipowsky 2010; Lipowsky Fach und auch die Schulform identisch sind. Die unter-
& Rzejak 2012; Timperley et al. 2007), so gilt es, bei der schiedlichen Ausformungen professionellen Wissens durch
Konzeption von Fortbildungen auf verschiedene Merkmale die bzw. in der Praxis sind unter anderem darauf zu-
20 zu achten: rückzuführen, dass die starting competence im Sinne der
analytisch-konzeptuellen Wissensbestände in den verschie-
Strukturell-organisatorische Faktoren denen professionsbezogenen Wissensbereichen nicht nur in
4 Zeitlicher Rahmen: keine Einmal-Veranstaltungen, der Lehrerausbildung, sondern auch in erheblichem Maße
ausreichend Zeit zur Vor- und Nachbereitung noch im Lauf der beruflichen Karriere durch zunehmende
4 Einbezug externer Expertise Integration mit spezifischen subjektiven Unterrichtser-
4 Einbettung der Fortbildung in das Kollegium und in den fahrungen entsteht. Die in der Ausbildung vermittelten
größeren Schulkontext Didaktiken der Unterrichtsfächer stellen zwar Blaupausen
für die dann zu erfolgende Wissensintegration dar, die Inte-
grationsleistung muss jedoch von jeder Lehrerin und jedem
20.4  Berufliche Entwicklung von Lehrkräften – Verlaufsperspektive
413 20
Lehrer selbst vorgenommen werden. In welchem Maße die-
se als bewusste und reflektierte Weiterentwicklung, oder über Schülerinnen und Schüler sowie Beurteilungsanlässe
aber primär als Prozess der Habitualisierung und damit der und -situationen differenzierter und vermutlich auch realisti-
Gewöhnung an subjektiv bewährte Unterrichtstechniken ge- scher zu sein, als dies zu Beginn der professionellen Karriere
schieht, hängt im erheblichen Maße davon ab, ob Lehrkräfte der Fall ist. Aus Sicht der Forschung ist es wichtig, den
über ihre Praxis reflektieren, Feedback bekommen und sich Prozess der Entwicklung professioneller Kompetenzen als
mit ihrem eigenen professionellen Handeln auseinanderset- Funktion der Erfahrung in und mit der Praxis besser zu ver-
zen. stehen. Insbesondere ist bisher zu wenig verstanden, welche
Bedeutung die in der formalen Ausbildung vermittelten
Im Fokus: Beurteilung von Schülerverhalten Wissenselementefür automatisierte Entscheidungsprozesse
und Handlungsschemata haben.
Der Prozess der Entscheidungsfindung läuft bei erfahrenen
Lehrkräften generell effizienter und qualitativ anders ab als
bei Laien. Dies gilt auch für Entscheidungen im Kontext von 1 Reflektierte Praxis!
Schülerbeurteilungen. Viele implizite Urteile zum Verhalten Im Laufe der praktischen Berufstätigkeit entwickeln sich
einzelner Schülerinnen oder Schüler lassen sich dabei als Handlungsroutinen und Interpretationsschemata. Den wohl
Prozesse heuristischer Urteilsbildung verstehen (vgl. Fiske stärksten Effekt auf die Ausbildung dieser Routinen und
1993; s. a. Artelt 2016). Wie der Name bereits sagt, zeichnet Schemata ist die unmittelbare Erfahrung der eigenen Wirk-
sich dieser Prozess durch die Verwendung von Heuristiken, samkeit als Lehrkraft im Sinne einer sich selbst verstärken-
also Formen gedanklicher Abkürzungen aus. Während viele den erfolgreichen Unterrichtspraxis, die u. a. dazu führt, dass
Heuristiken sehr nützlich sind und gute Entscheidungen kaum andere Vorgehensweisen gewählt werden (hier kommt
sowie Urteile ermöglichen, können durch ihre Verwendung die oben genannte Filterfunktion von Überzeugungen zum
auch systematische Fehler und Irrtümer entstehen. Dies ist Tragen). Das Vorhandensein von Handlungsroutinen allein
besonders dann der Fall, wenn die mentale gedankliche führt jedoch nicht automatisch zu qualitativ besserem Un-
Abkürzung durch Rückgriff auf ein soziales Schema oder terricht. Um zu verstehen, wie sich Lehrkräfte im Laufe des
eine soziale Kategorie erfolgt, die mit prototypischen Berufslebens über die Etablierung von Routinen hinaus pro-
Mustern von Schülerverhalten assoziiert und abgespeichert fessionell weiterentwickeln, ist es notwendig, sich eine Be-
sind. Im Zweifelsfall genügen wenige Hinweisreize, um sonderheit der Profession der Lehrkräfte vor Augen zu füh-
bestimmte Schemata (z. B. „ein Schüler aus schlechtem ren, die sie von anderen Professionen deutlich unterscheidet
Elternhaus“ oder „Klassenprimus“ oder „sehr begabt, aber (im Rahmen der Expertiseforschung z. B. hinlänglich unter-
faul“) und das damit assoziierte typische Schülerverhalten sucht: Musiker, Sportler): Lehrkräfte erhalten in Bezug auf
zu aktivieren und als Folie bei der Interpretation des ihre eigene Tätigkeit vergleichsweise wenige Rückmeldungen
eigentlich zu beurteilenden Schülerverhaltens einfließen über ihre eigene Leistung. Schulklassen scheinen kein ge-
zu lassen. Konkret kann dies bedeuten, dass das von eignetes Rückmeldesystem für Lehrkräfte darzustellen und
einer Lehrkraft beobachtete Schülerverhalten im Lichte das institutionell verankerte Feedback während des Vorbe-
eines aktivierten Schemas (z. B. „Schüler aus schwierigen reitungsdienstes endet nach Abschluss der zweiten Phase der
familiären Verhältnissen“) interpretiert wird, obwohl Ausbildung. In den letzten Jahren hat die Rückmeldekultur
die Implikationen hiervon (z. B. „von Zuhause ist keine insofern zugenommen, als dass die Steuerung des Schulsys-
Unterstützung zu erwarten“) beim konkreten Schüler tems in der Bundesrepublik stärker auf der Basis von Output-
gar nicht zutreffen. Der Vorteil heuristischer Urteilsbildung Standards geschieht (s. a. Artelt & Riecke-Baulecke 2004) und
besteht darin, dass hierbei nur wenig kognitive Anstrengung die Prozesse sowie die damit einhergehenden Maßnahmen
vonnöten ist. Gleichwohl können Urteile falsch sein, da der internen und externen Schulevaluation sowie der Ein-
Besonderheiten des Einzelfalls nicht berücksichtigt werden. führung von Vergleichsarbeiten verstärkt auch Selbst- und
Auch wenn bisher wenig Forschung zu Prozessen der Fremdeinschätzung der professionellen Tätigkeit von Lehr-
Urteilsbildung von Lehrkräften existiert, konnte jedoch kräften implizieren. Eine kontinuierliche Rückmeldung zur
nachgewiesen werden, dass Lehrerurteile tatsächlich durch Güte des eigenen professionellen Handelns als Lehrkraft ist
soziale Kategorien (z. B. Geschlecht, sozioökonomischer jedoch weiterhin nicht angelegt. Ein frühes Verharren in
Status, Migrationshintergrund) und Schemata beeinflusst Routinen kann daher für die einzelne Lehrerin oder den
werden (Robinson-Cimpian, Lubienski, Ganley & Copur- einzelnen Lehrer subjektiv genauso erfolgreich sein wie der
Gencturk 2014). Obwohl Urteile, die auf sozialen Kategorien Gewinn an zusätzlicher Expertise und die damit verbunde-
und anderen Schemata beruhen, anfällig für Fehler sind, ne Verbesserung des pädagogischen Handelns (Weinert &
scheint diese Art des Urteils in vielen Fällen dennoch Helmke 1996). Gleichwohl kann an Schulen etwas getan wer-
zuverlässiger zu sein, als man annehmen könnte. Besonders den, um der Problematik eines fehlenden Rückmeldesystems
nach einer intensiven Phase (reflektierter) Praxiserfahrung entgegenzuwirken. Hierzu gehört z. B. die Implementierung
(s. a. Plessner, Betsch & Betsch 2010) scheinen Schemata von Prozessen kollegialer Beratung, gegenseitigen Hospitie-
rens, wechselseitiger Korrektur von Schülerarbeiten und des
Teamteachings, da diese jeweils Möglichkeiten der Einord-
414 Kapitel 20  Kompetenzen und berufliche Entwicklung von Lehrkräften

nung und Bewertung und damit auch der Verbesserung des


eigenen professionellen Handelns bieten. wendigkeit, diese oft nicht bewussten Überzeugungen
und Orientierungen bei den Lehramtsstudierenden sicht-
bar zu machen und professionell zu reflektieren.
Als vierte Facette professioneller Kompetenzen von
Zusammenfassung
Lehrkräften sind selbstregulative Fähigkeiten zu sehen.
Das Aufgabenspektrum von Lehrkräften ist vielfältig, an-
Stark durch die Forschung zur Lehrergesundheit geprägt,
spruchsvoll und in einigen Bereichen nicht oder nur
werden diese nach den Dimensionen Widerstandsfähig-
schlecht planbar. Neben ihrem Hauptgeschäft, der ad-
keit und Engagement unterschieden.
äquaten Gestaltung des Unterrichts, der den Kompetenz-
Wie wichtig die Berufspraxis für die Etablierung und
erwerb der Schülerinnen und Schüler fördert, müssen
Ausformung professioneller Kompetenzen ist, verdeutli-
sie im professionellen Alltag noch ein reichhaltiges Spek-
chen Befunde, die zeigen, dass sich erfahrene Lehrkräf-
trum weiterer mehr oder weniger unterrichtsbezogener
te im Vergleich zu Novizen in einer Reihe von professi-
Tätigkeiten erfüllen. Dies verlangt von der Lehrkraft spe-
onsrelevanten Merkmalen unterscheiden. Unter anderem
zifisches professionelles Wissen, förderliche motivationa-
planen Lehrexpertinnen und -experten zukünftige Unter-
le Orientierungen und berufliche Überzeugungen sowie
richtsstunden besser, komplexer und effektiver als Novi-
selbstregulative Fähigkeiten. Diese Aspekte professionel-
zen. Auch nehmen sie Situationen des Unterrichtsgesche-
ler Kompetenzen werden zu einem erheblichen Teil in der
hens anders wahr. Bei erfahrenen Lehrkräften scheinen
formalen Ausbildung aufgebaut. Aber auch vor Beginn
anforderungsorientierte Abstraktionen leitend zu sein,
der formalen Ausbildung werden hierfür wichtige Grund-
was sie u. a. beim Umgang mit der Gleichzeitigkeit vieler
lagen gelegt und insbesondere im Rahmen der Berufs-
und zum Teil auch dem Lernziel abträglicher Ereignisse im
praxis, besonders dann, wenn es sich um reflexive Praxis
Unterricht effizienter und erfolgreicher macht.
handelt, bedeutsam weiterentwickelt und ausgeformt.
Die in der Ausbildung vermittelten Wissenselemen-
Als Facetten professionellen Wissens können Fachwis-
te (z. B. Didaktiken der Unterrichtsfächer, Bildungswissen-
sen und fachdidaktisches Wissen als fachbezogene Fa-
schaften), die als starting competence bezeichnet wer-
cette, und auf den Unterricht bezogenes und über den
den können, stellen Blaupausen für eine durch Praxiser-
Unterricht hinausgehendes Wissen als fachunabhängi-
fahrung angereicherte Wissensintegration und Automa-
ge Facetten unterschieden werden. Professionswissen ist
tisierung (in-service competence) dar. In welchem Maße
notwendig, um Praxiserfahrungen angemessen einord-
die professionelle Entwicklung nach Abschluss der ers-
nen und reflektieren zu können. Hierbei ist nicht nur eine
ten und zweiten Phase der Lehrerbildung zu einer er-
fachliche, theoretische Rahmung notwendig, sondern in
folgreichen Wissensintegration führt oder aber primär als
erheblichem Maße auch bildungswissenschaftliches Wis-
Prozess der Habitualisierung und damit der Gewöhnung
sen relevant. Die theoretische Ausbildung zur Lehrkraft
an subjektiv bewährte Unterrichtstechniken geschieht,
bildet damit die Grundlage für die Integration von Wis-
hängt im erheblichen Maße davon ab, ob Lehrkräfte über
sen unterschiedlicher disziplinärer Herkunft mit prakti-
ihre Praxis reflektieren, Feedback bekommen und sich mit
schen Erfahrungen. Professionelles Wissen kann auch als
ihrem eigenen professionellen Handeln auseinanderset-
Ordnungsrahmen fungieren, um die komplexe praktische
zen.
Realität zu ordnen. Zudem ist das Professionswissen er-
Erfahrungen aus der Praxis und aus der Forschung ver-
fahrener Lehrkräfte sehr wahrscheinlich in spezifischer
deutlichen, dass professionelle Kompetenzen von Lehr-
Weise mit praktischen Handlungsanlässen verknüpft und
kräften vielfältig sind und „die gute Lehrkraft“ nicht über
automatisiert.
den Weg der Selektion, der Motivierung oder der Qualifi-
Für professionelles pädagogisches Handeln sind zu-
kation allein gewonnen werden können. Es gibt nicht die
dem berufliche Überzeugungen, motivationale Orien-
angeborenen Talente, nach denen Lehrkräfte ausgewählt
tierungen (wie Selbstwirksamkeitsüberzeugungen, Ziel-
werden können (Selektion) und es ist auch nicht damit
orientierungen) und die Selbstregulationsfähigkeit von
getan, Lehrkräfte – zum Beispiel durch höhere Gehälter
Lehrkräften bedeutsam. Die Entwicklung motivationaler
– „zu motivieren“. Genauso kurz gegriffen ist es, die pro-
20 Orientierungen und beruflicher Überzeugungen beginnt
fessionelle Entwicklung ausschließlich auf die Phase der
schon früh – insbesondere durch die Erfahrungen in der
Ausbildung zu begrenzen und die formale Qualifikation
eigenen Schulzeit. Für den beruflichen Werdegang von
allein als ausreichend für die Entstehung professioneller
Lehrkräften bedeutet dies, dass die in der eigenen Schul-
Kompetenzen zu verstehen. Bei solchen engführenden
zeit entwickelten Orientierungen und Überzeugungen ih-
Argumentationen werden immer nur einzelne Aspekte
re weitere Ausbildung wie ein Filter beeinflussen und sich
professioneller Kompetenzen von Lehrkräften betrach-
in der Ausgestaltung von Unterrichtspraxis implizit nie-
tet (z. B. nur Wissen oder nur Motivation). Bewährt hat
derschlagen. Problematisch sind Überzeugungen dann,
sich jedoch ein mehrdimensionaler Ansatz, der verschie-
wenn sie auf falschen Prämissen beruhen. Viele Lehrer-
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415 20
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20
419 V

Soziale Prozesse in
Schule und Unterricht
Inhaltsverzeichnis

Kapitel 21 Soziale Interaktion und Kommunikation – 421

Kapitel 22 Soziale Strukturen und Prozesse – 439

Kapitel 23 Soziale Einstellungen im Schulkontext – 457


421 21

Soziale Interaktion und


Kommunikation
Ann-Kathrin Schindler, Doris Holzberger, Kathleen Stürmer, Maximilian
Knogler und Tina Seidel

21.1 Einleitung – 422


21.1.1 Die Bedeutung sozialer Interaktionen und Kommunikation im schulischen
Kontext – 422
21.1.2 Grundlagen der Kommunikationspsychologie – 423

21.2 Soziale Interaktionen und Kommunikation im Unterricht – 423


21.2.1 Sicht- und Tiefenstrukturen von Unterricht – 423
21.2.2 Soziale Organisationsformen von Interaktionen – 424
21.2.3 Ausrichtung von Interaktionen an einem Lernziel – 424
21.2.4 Aktive Einbindung in Interaktionen – 424
21.2.5 Qualität von Kommunikation im Rahmen von Interaktionen – 425
21.2.6 Interaktionen im Unterricht schulen und verändern – 428

21.3 Kommunikation in Elterngesprächen – 430


21.3.1 Klärung von Verantwortlichkeiten im Lehrer-Eltern-Gespräch – 431
21.3.2 Qualitätsmerkmale von Lehrer-Eltern-Gesprächen – 431

21.4 Kommunikation im Kollegium – 432


21.4.1 Kollegiale Interaktion in verschiedenen Kooperationsformen – 432
21.4.2 Kollegiale Interaktion als Ko-Konstruktion – 434

Verständnisfragen – 435

Literatur – 435

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019


D. Urhahne, M. Dresel, F. Fischer (Hrsg.), Psychologie für den Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55754-9_21
422 Kapitel 21  Soziale Interaktion und Kommunikation

21.1 Einleitung
Bild zeigt sich in der Forschung, dass Schülerinnen und
21.1.1 Die Bedeutung sozialer Interaktionen Schüler in kleineren Klassen nicht notwendigerweise
bessere Leistungen erzielen (Hanuschek 2002). Hattie
und Kommunikation im schulischen
(2008) berichtet über eine nur kleine Effektstärke von
Kontext d D :21 für den Zusammenhang von Klassengröße und
Lernleistungen.
Sind Sie heute schon mit jemandem in Kontakt getreten Aus Perspektive der Unterrichtsforschung ist eine
und haben kommuniziert? Für eine Lehrkraft erscheint diese mögliche Erklärung, dass trotz kleinerer Klassen das In-
Frage geradezu rhetorisch. Lehrkräfte sind in ihrer tägli- teraktionspotential von Lehrpersonen nicht ausgeschöpft
chen Praxis in unzählige Interaktionen mit Schülerinnen und wird. Videostudien veranschaulichen, dass bei der Lehrkraft
Schülern, Kolleginnen und Kollegen sowie Eltern eingebun- als vermeintlichem Sender von Informationen nach wie
den. Soziale Interaktion und Kommunikation bereichern den vor hohe Redeanteile liegen (DESI-Konsortium 2008). Auch
Lehrberuf, lassen ihn aber auch zur Herausforderung werden. treten Schülerinnen und Schüler nicht notwendigerweise
Um die psychologischen Hintergründe der Alltagspraxis von als gleichwertige Interaktionspartner auf (Jurik, Gröschner
Lehrkräften besser zu verstehen, richtet sich der Blick dieses & Seidel 2013).
Kapitel auf die soziale Interaktion und Kommunikation im Wichtig erscheint jedoch, dass in kleineren Klassen
schulischen Kontext. Zur Klärung der zentralen Begrifflich- mehr Spielraum für innovative Unterrichtsmethoden
keiten sollen folgende Definitionen beitragen. gegeben ist (Hattie 2008). Die DESI-Studie gelangt zu
Soziale Interaktion – Die soziale Interaktion bezeichnet die um- dem Ergebnis, dass für den Englischunterricht eine
fassende, also nicht nur auf sprachlicher Kommunikation beruhende kleine Klassengröße von Vorteil sein kann. In kleineren
Wechselwirkung zwischen zwei oder mehreren Personen mit verhaltens-
Klassen wird weniger Deutsch gesprochen und auch
beeinflussender Wirkung. Um soziale Interaktion handelt es sich also,
wenn zwei oder mehrere Personen ein Gespräch miteinander führen, die Wichtigkeit der Kommunikation von Schülerinnen
aber ebenso, wenn z. B. eine Lehrkraft ihre Schülerinnen und Schüler und Schüler als bedeutsamer beurteilt. Auch sollte nicht
durch Gesten und Mimik zur Mitarbeit auffordert (nach Köck & Ott 2002, unerwähnt bleiben, dass Lehrkräfte in kleineren Klassen
S. 333). sich besser fühlen und das Gefühl haben, besser zu
Kommunikation – „Kommunikation bezeichnet den Austausch
unterrichten (Smith & Glass 1980).
von Informationen zwischen zwei oder mehreren Personen, wobei die
Mitteilung sprachlich (verbal) oder/und nichtsprachlich (nonverbal) Insofern kann festgehalten werden, dass kleinere
erfolgen kann“ (Köck & Ott 2002, S. 213). Klassen durch die Tatsache, dass sich weniger Personen die
Unterrichtszeit teilen müssen, – vor allem in Plenumssi-
„Wer kommuniziert – interagiert gleichzeitig. Wer in- tuationen – ein höheres Potential für Interaktionen bieten.
teragiert – kommuniziert gleichzeitig“ so beschreibt der Dieses Potential muss aber von der Lehrperson erkannt
bekannte Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick und für Schülerinnen und Schüler nutzbar gemacht wer-
treffend, wie eng die beiden Konstrukte miteinander einher- den. Hanuschek (2002) fordert in diesem Zusammenhang
gehen (zit. nach Messingschlager 2012, S. 19). Laut Definition stärker in den Blick zu nehmen, unter welchen Bedingun-
meint Interaktion die Wechselwirkung und das gegenseitige gen und für welche Schülerinnen und Schüler das höhere
Einwirken von Personen aufeinander. Von sozialer Interak- Interaktionspotentialkleinerer Klassen Effekte zeigen kann.
tion ist die Rede, weil mindestens zwei Personen an dem
Austauschprozess beteiligt sind. Kommunikation („commu-
nicare“ D eine Mitteilung machen, mitteilen) dient dem
Senden und Empfangen von Informationen. Die Kommu- Der empirischen Bildungsforschung ist daran gelegen, In-
nikation kann auch einseitig verlaufen, was sie von sozialer teraktionsmuster im Klassenzimmer zu identifizieren und auf
Interaktion unterscheidet. Gleichwohl sind die Begriffe eng ihre Wirkung hin zu überprüfen. Bereits 1968 stellten Dubin
miteinander verbunden. Fragend-entwickelnder Unterricht und Taveggia Untersuchungsdaten zum Vergleich zwischen
kann beispielsweise als Kommunikation im Rahmen sozialer frontalem Lehrervortrag und Diskussionsmethoden aus den
Interaktionen verstanden werden. Lehrkraft und Schülerin- vorangegangenen 40 Jahren vor. In den 1970er-Jahren rückte
nen und Schüler senden und empfangen Informationen und die Interaktionsanalyse im Rahmen direkter Beobachtungen
beeinflussen sich dadurch gegenseitig in ihrem Verhalten. im Klassenzimmer in den Fokus der Aufmerksamkeit und
21 damit häufig auch die Frage, wer mit welcher Qualität an
(verbalen) Interaktionen im Klassenzimmer beteiligt ist (z. B.
Flanders Interaction Analysis Categories, FIAC 1970). Selbst-
Mythos: Kleine Klassen führen zu besseren Lernleis- verständlich ist die direkte Beobachtung von Interaktionen
tungen heute immer noch eine gängige Forschungsmethode.
Vor allem im US-amerikanischen Raum ist es von hohem Technische Errungenschaften wie die Videographie er-
Interesse, Zusammenhänge zwischen Klassengröße und möglichen darüber hinaus, Interaktionen filmisch festzuhal-
Schülerleistungen zu ermitteln. Als recht kohärentes ten, um sie – zumeist mit Hilfe von Software – analytisch aus-
zuwerten. Videostudien wie TIMSS (Hiebert et al. 2003), Py-
21.2  Soziale Interaktionen und Kommunikation im Unterricht
423 21
thagoras (Klieme & Reusser 2003) und die IPN-Videostudie schiedliche Intentionen mit ihrer Nachricht verfolgt haben
(Seidel et al. 2006) haben in den letzten 20 Jahren wesent- könnte, diese andererseits aber auch von der Schülerin un-
lich dazu beigetragen, Informationsaustausche im Klassen- terschiedlich dekodiert werden können. Aufgrund des häufig
zimmer systematischer zu analysieren. Lehrpersonen steht gegebenen Hierarchieverhältnisses in einer Lehrer-Schüler-
die gezielte Beobachtung von Interaktionen, z. B. zwischen Beziehung (7 Kap. 22) wird auch von komplementärer Kom-
Schülerinnen und Schülern, als Diagnoseverfahren von Lern- munikation gesprochen. Im Gegensatz dazu ist die symmetri-
ständen zur Verfügung. Auch kann im Rahmen kollegialer sche Kommunikation durch die Gleichberechtigung der Ge-
Hospitation das eigene Interaktionsverhalten in den Blick sprächspartner gekennzeichnet (Watzlawick, Bavelas & Jack-
genommen werden. Technische Werkzeuge wie die Videogra- son 2011).
phie gewinnen zudem an Bedeutung, um die retroperspektive Die vier Seiten einer Nachricht beziehen sich nicht aus-
Analyse von (eigenen) Interaktionen vorzunehmen (Grösch- schließlich auf das gesprochene oder geschriebene Wort.
ner, Seidel, Kiemer & Pehmer 2015). Vielmehr können sie auch auf non-verbale Kommunikation
Bevor die aktuelle Studienlage weiter aufgezeigt wird, sol- wie Gesten, Mimik, Körperhaltung, Blickkontakt etc. über-
len einige zentrale Grundlagen der Kommunikationspsycho- tragen werden. Was hätte es beispielsweise bedeutet, wenn die
logie vorgestellt werden. Im weiteren Verlauf dieses Kapitels Lehrkraft beim Zurückgeben der Arbeit die Schülerin nicht
ist es uns ein Anliegen, empirische Befunde und Hand- angesehen hätte? Die Bedeutung der non-verbalen Kom-
lungsoptionen für Lehrkräfte mit diesem traditionsbehafte- munikation und die Tatsache, dass Information nicht nur
ten Zweig der Psychologie in Beziehung zu setzen. verbal vermittelt wird, stellte Paul Watzlawick in seinem ers-
ten Axiom über Kommunikation heraus (Watzlawick et al.
2011). „Man kann nicht nicht kommunizieren“ beschreibt,
dass jedes Verhalten (auch der Versuch, bewusst nicht zu
21.1.2 Grundlagen der
kommunizieren bzw. andere zu ignorieren) einen Kommuni-
Kommunikationspsychologie kationsaspekt beinhaltet und Informationen vom Sender zum
Empfänger vermittelt. Non-verbale Kommunikation kann
In der Kommunikationspsychologie gibt es verschiedene Mo- verbale Kommunikation ersetzen, ergänzen, betonen oder
delle, die menschliche Interaktion zu beschreiben versuchen. den Verlauf der Konversation lenken. Schließlich können ver-
Im Sender-Empfänger-Modell von Shannon und Weaver bale und non-verbale Kommunikation auch im Widerspruch
(1949) erfolgt Kommunikation, also der Austausch von In- zueinander stehen, sodass die beiden Kommunikationswe-
formationen, immer zwischen einem Sender (Kodierer) und ge nicht-kongruente Informationen übertragen (vgl. Frindte
einem Empfänger (Dekodierer). Der Sender übersetzt die 2001).
von ihm zu übermittelnde Idee in einen „Code“, der vom Aufbauend auf den hier geschilderten Grundlagen der
Empfänger empfangen, übersetzt (dekodiert) und verarbeitet Kommunikationspsychologie werden im Folgenden Beson-
wird. Die Verwendung eines gemeinsamen Codes von Sender derheiten der Interaktion und Kommunikation im schuli-
und Empfänger ist Voraussetzung für einen unmissverständ- schen Kontext aufgegriffen. Dabei wird sowohl auf die Be-
lichen Informationsaustausch. ziehungsstruktur zwischen Sender und Empfänger einge-
Die zu übertragende Nachricht bzw. Information kann gangen (z. B. Lehrer-Schüler, Schüler-Schüler, Lehrer-Eltern,
dabei unterschiedliche Aussagen transportieren. Schulz von Lehrer-Lehrer), als auch Forschungsbefunde dargestellt,
Thun beschreibt in seinem Vier-Seiten-Modell vier Aspek- wie bestimmte Aspekte der Kommunikation (z. B. Qualität
te, die eine Nachricht aufweisen kann. Demnach kann eine von Lehrerfragen) mit Ergebnisvariablen der Schülerinnen
Nachricht einen Informations- oder Sachaspekt, eine Bezie- und Schülern (z. B. Leistungsvariablen) in Zusammenhang
hungsbotschaft, einen Appell und eine Selbstoffenbarungs- stehen.
botschaft beinhalten (Schulz von Thun, Ruppel & Strat-
mann 2015). Die verschiedenen Aspekte können sowohl vom
Sender unterschiedlich intendiert als auch vom Empfänger 21.2 Soziale Interaktionen und
unterschiedlich aufgenommen werden. Werden die Aspek- Kommunikation im Unterricht
te vom Sender und Empfänger unterschiedlich gewichtet,
können Störungen bzw. Konflikte resultieren. Was „hören“
Sie beispielsweise, wenn eine Lehrkraft einer Schülerin eine 21.2.1 Sicht- und Tiefenstrukturen
schlechte Arbeit mit den Worten zurückgibt: „Leider wie- von Unterricht
der eine Fünf, Stefanie“? Hören Sie, dass die Arbeit mit der
Note fünf bewertet wurde (Inhalt), dass die Lehrerin regis- Unterricht wird im Allgemeinen verstanden als die Gestal-
triert, dass es sich zum wiederholten Male um eine Fünf tung von Lernumgebungen mit dem Ziel, optimale Gele-
handelt (Selbstoffenbarung), dass es sich um eine Bezie- genheiten für die effektive Ausführung von Lernaktivitäten
hung handelt, in der die Lehrkraft mit der Schülerin mitfühlt der Schülerinnen und Schüler bereitzustellen (Seidel & Reiss
(Beziehung) oder hören Sie, dass sich die Schülerin beim 2014, S. 254). Im Rahmen der genannten Definition mag
nächsten Mal mehr anstrengen sollte (Appell)? An diesem zunächst assoziiert werden, dass die Lehrkraft Lernumge-
Beispiel zeigt sich, dass sowohl die Lehrkraft ganz unter- bungen gestaltet, indem sie fachliche Inhalte didaktisch re-
424 Kapitel 21  Soziale Interaktion und Kommunikation

der eigenen Schulzeit oder der gewonnenen Unterrichtspra-


Sichtstrukturen Organisationsform (z. B. Klassenunterricht, Lerngruppen) xis in Phasen der beruflichen Entwicklung – spielen bei der
Planung und Umsetzung von sozialen Organisationsformen
eine Rolle und lassen Präferenzen für bestimmte Lernsettings
Methoden (z. B. direkte Instruktion, kooperatives Lernen)
entstehen.
In diesem Beitrag wollen wir weder für das Plenum noch
Sozialform (z. B. Plenum, Gruppenarbeit) die Gruppe als Organisationsform plädieren, sondern her-
Tiefenstrukturen

ausstellen, dass die Qualität der Interaktionen im Rahmen


beider Organisationsformen entscheidend ist (Webb 2009).
Interaktion und Kommunikation
im Rahmen von Lehr-Lern-Prozessen
Für beide Organisationsformen liegen empirische Befunde
(Lehrer-Schüler, Schüler-Schüler) vor, dass sich positive Zusammenhänge mit den Lernleis-
tungen zeigen, wenn Schülerinnen und Schülern Raum für
Diskussionen und eigene Erklärungen gegeben wird (Furtak
2006; Howe et al. 2007).
. Abb. 21.1 Einbettung von Interaktionen und Kommunikation in den
Unterricht (adaptiert nach Trautwein und Kunter, 2013)
21.2.3 Ausrichtung von Interaktionen
an einem Lernziel
duziert und in Form adäquater Lehr- und Lernmaterialien
aufbereitet. Unabdingbar bildet entsprechendes Material ei-
Eine grundlegende Komponente, die sich sowohl für lehrer-
ne bedeutende Grundlage guten Unterrichts. Jedoch liegt der
als auch schülerzentrierte Interaktionsformen als zentral er-
Fokus dieses Beitrags auf Formen der sozialen Organisation
wiesen hat, ist die Ausrichtung an einem Lernziel (Seidel &
von Gesprächssituationen sowie darin stattfindenden Inter-
Shavelson 2007). Indem die Lehrkraft Lernziele klärt und An-
aktionen zwischen Lehrer und Schülern sowie Schülern un-
forderungen an die Schülerinnen und Schüler expliziert, legt
tereinander. Auf Grundlage des Angebot-Nutzungs-Modells
sie eine wichtige Grundlage, damit Schülerinnen und Schü-
von Unterricht (Klieme & Rakoczy 2008; Seidel & Reiss 2014;
ler an Interaktionen partizipieren und Konversationen im
7 Kap. 18) wollen wir ein Verständnis dafür schaffen, dass das
Unterricht strukturiert werden können (Resnick, Michaels
Lernangebot der Lehrkraft für ihre Schülerinnen und Schü-
& O’Connor 2010). Für den Unterricht in Deutschland hat
ler ganz entscheidend von der Qualität der Kommunikation
sich gezeigt, dass Ziele oftmals nur unzureichend geklärt
und Interaktion abhängt. Entlang des adaptierten Modells
und Schülerinnen und Schüler zu wenig in Kenntnis gesetzt
von Trautwein und Kunter (2013) lassen sich Interaktionen
werden, was gelernt werden soll und was dafür von ihnen
und Kommunikation im Rahmen von Lehr-Lernprozessen
gefordert ist (Seidel et al. 2006). Vor dem Hintergrund von
als Herzstück des Unterrichts erkennen, das von der Orga-
Befunden, die zeigen, dass transparente Ziele sowie die Ko-
nisationsform des Unterrichts sowie der Wahl der Sozialform
härenz des Unterrichts entscheidenden Einfluss auf Variablen
und Methoden gerahmt wird (. Abb. 21.1).
wie die Motivation von Schülerinnen und Schülern haben,
wird deutlich, dass Lehrpersonen in der Aus- und Fortbil-
dung unterstützt werden müssen. Sie müssen lernen, Ziele
21.2.2 Soziale Organisationsformen transparent zu machen, um unterrichtlichen Interaktionen
von Interaktionen einen Orientierungsrahmen zu geben (Seidel, Rimmele &
Prenzel 2005).
Die soziale Organisationsform von Interaktionen im Unter-
richt, häufig auch als Sozialform bezeichnet, ist der Aspekt,
den Lehrpersonen relativ gezielt im Rahmen ihrer Unter- 21.2.4 Aktive Einbindung in Interaktionen
richtsvorbereitung planen können. Mittels Unterrichtsrastern
kann in konkreter zeitlicher Absteckung vorbereitet werden,1 Schülerbeteiligung an Interaktionen
ob Interaktionen in kleinen Gruppen, zwischen Einzelnen Während im Rahmen schülerzentrierter Unterrichtsformen
oder im gesamten Klassenverband stattfinden sollen. Video- wie kooperativem Lernen der gegenseitige Meinungsaus-
21 studien haben für den deutschen Unterricht für verschiedene tausch von vielen Schülerinnen und Schülern möglich ist,
Fächer im Sekundarbereich gezeigt, dass im Rahmen eines liegt vor allem in Plenumssituationen die Herausforderung
fragend-entwickelnden Klassengesprächs vor allem Interak- darin, möglichst viele Lernende in kognitiv anregende Inter-
tionen im Plenum auftreten (Hiebert et al. 2003; Seidel et al. aktionen einzubinden und so das „Herzstück von Unterricht“
2006). Im Physikunterricht entfallen zum Beispiel drei Vier- von hoher Qualität zu gestalten (. Abb. 21.1). Im Rahmen von
tel der Lernzeit auf das Klassengespräch (Seidel 2014). Im Videostudien wurde gezeigt, dass Lehrpersonen das Klassen-
Zusammenhang mit derartigen Ergebnissen wird das Klas- gespräch mit bis zu 80 % Redeanteil dominieren (Hiebert
sengespräch als Lernsetting zur Diskussion gestellt (Mercer et al. 2003; Seidel et al. 2006). Vor der Befundlage, dass vor al-
& Dawes 2014). Auch eigene Erfahrungen – entweder aus lem Erklärungen und Diskussionen positive Effekte auf Schü-
21.2  Soziale Interaktionen und Kommunikation im Unterricht
425 21
lerlernen zeigen (u. a. Howe et al. 2007), steht die Forderung de zeigen die Relevanz der Interaktion von Lehrpersonen
im Raum, Schülerinnen und Schülern mehr Sprechanteile mit Schülerinnen und Schülern unterschiedlicher Lernvor-
einzuräumen und sie damit aktiv als gleichwertige Konver- aussetzungen. Um auch schwächere oder sich unterschätzen-
sationspartner in das Klassengespräch einzubinden (Wells & de Schülerinnen und Schüler zur Teilnahme am Klassenge-
Arauz 2006). Auch stellt im Rahmen des Klassengesprächs spräch zu ermutigen, ist eine positive Fehlerkultur sowie die
meist die Lehrkraft den zentralen Ansprechpartner für die Trennung von Lern- und Leistungssituationen eine wichtige
Schülerinnen und Schüler dar, da z. B. Fragen zumeist von Grundlage. Es sollte klar und deutlich kommuniziert werden,
der Lehrperson gestellt werden (Seidel et al. 2006). Wie in der ob es sich um eine Lern- oder Leistungssituation (7 Kap. 11)
Einleitung beschrieben, handelt es sich nach kommunikati- handelt, Fehler gemacht werden dürfen und falsche Antwor-
onspsychologischer Interpretation also häufig um eine kom- ten zum Anlass für klärenden Diskurs genommen werden.
plementäre statt symmetrische Form der Kommunikation.
1 Schülerbeiträge als Ressource für Interaktionen
1 Die Bedeutung von Beteiligung für das Lernen von Werden viele Schülerinnen und Schüler in das Klassenge-
Schülerinnen und Schülern spräch eingebunden und erhalten dadurch mehr Sprechzeit,
Wie bereits erwähnt, reicht die Forschung zu effektiver Un- ist die Lehrkraft mit vielen verschiedenen Antworten kon-
terrichtskommunikation bis in die erste Hälfte des 20. Jahr- frontiert, die vielleicht nicht immer erwartungskonform aus-
hunderts zurück. Damals und fortgeführt in den 1970er fallen. Walshaw und Anthony (2008) betonen deshalb in einer
Jahren stand bereits die Frage im Raum, ob Lehrervortrag zweiten Aktivität die Bedeutung des „Umgangs mit Schü-
oder Diskussionsmethode – und damit mehr oder weniger lerbeiträgen“. Dabei heben sie vor allem die Unterstützung
Möglichkeiten zur Beteiligung – förderlicher für das Lernen von Schülerdenkweisen als zentral heraus. Genaues Zuhö-
von Schülerinnen und Schülern sind. McKeachie und Ku- ren und Wahrnehmen bildet die Grundbedingung, gefolgt
lik (1975) gelangten zum Ergebnis, dass der Lehrervortrag von (ko-)konstruktiver Unterstützung an Stelle direktiven
bei der Aneignung von Faktenwissen überlegen ist und Dis- Anleitens. Auch sollte das Vor- und Alltagswissen in den
kussionsformate vor allem bedeutsam für Behaltensleistung, Schülerbeiträgen berücksichtigt, im Diskurs gemeinsam er-
selbstständiges Denken, Einstellungen und Motivation sind schlossen und für die Klasse transparent gemacht werden. Als
(Gage & Berliner 1996). Gerade vor dem Hintergrund des konkrete Handlungsmöglichkeit schlagen Walshaw und An-
derzeitigen Wechsels vom Industrie- in das digitale Zeitalter thony (2008) Nach- und Verständnisfragen durch Lehrkraft
(Darling-Hammond 2005), ergibt sich in der Unterrichtsfor- und Mitschüler, das Paraphrasieren von Schülerantworten
schung erneut die Frage nach der aktiven Partizipation an und eine bedarfsgerechte Rückmeldekultur vor. Diese Kom-
Lerngelegenheiten (7 Kap. 18). munikationselemente werden im folgenden Abschnitt noch
In einem umfassenden Überblick analysierten Walshaw genauer diskutiert.
und Anthony (2008) die Aktivitäten von Lehrkräften, um
soziale Kommunikation und Interaktion im Unterricht zu
fördern. „Verantwortung und Regelklarheit“, die erste von 21.2.5 Qualität von Kommunikation im
vier Aktivitäten, verweist auf die Bedeutung der Aktivierung Rahmen von Interaktionen
von Schülerinnen und Schülern zur Partizipation am Klas-
sengespräch. Walshaw und Anthony (2008) betonen darin die1 Das I-R-F/E-Muster
Relevanz von expliziter Verantwortungsklärung, um Teilha- Neben der Frage, wie sich die Schülerbeteiligung auf das
be am Unterrichtsgespräch zu erreichen. Schülerinnen und Lernen auswirkt, war die Identifikation von Mustern und Ver-
Schüler müssen wissen, dass von ihnen erwartet wird, sich haltensweisen im Rahmen von Unterrichtskommunikation
am Gespräch zu beteiligen und während passiver Phasen an- ein zentrales Forschungsanliegen der letzten 50 Jahre (Mercer
deren Sprechenden zuzuhören. & Dawes 2014). Bevor Befundlagen hierzu berichtet werden,
Unterrichtliche Interaktionsanalysen konnten darüber hi- soll das zugehörige Analyseinstrument FIAC aus Zeiten der
naus zeigen, dass Lehrpersonen bevorzugt mit starken Schü- Prozess-Produkt-Forschung genauer vorgestellt werden.
lerinnen und Schülern interagieren, da von ihnen korrekte
Antworten zu erwarten sind und so ein reibungsloser In- Im Fokus: Interaktionsqualität messen
teraktionsverlauf gewährleistet ist (Jurik, Gröschner & Seidel Als ein zentrales, die Interaktionsforschung prägendes Instru-
2013). Doch gibt es in Klassen auch Lernende, die zwar po- ment gilt das FIAC (Flanders Interaction Analysis Categories; Flan-
tenziell leistungsstark sind und über hohe kognitive Fähigkei- ders 1970). Mithilfe des Instruments ordnen geschulte Bewerter
ten verfügen, ihre eigenen Fähigkeiten aber gering einschät- im Drei-Sekunden-Takt Unterrichtsgeschehnisse zehn unter-
zen. Huber, Häusler, Jurik und Seidel (2015) stellen heraus, schiedlichen Kategorien zu. Wie . Tab. 21.1 zu entnehmen ist,
dass solche sich selbst unterschätzenden Schülerinnen und unterscheidet Flanders dabei, welcher Akteur welche Aktion
Schüler durch feedbackreiche Interaktionen in ein starkes vollzieht, ob die Interaktionsart reaktiv oder initiativ ist und in
Profil wechseln können. Das heißt, Rückmeldungen scheinen welcher konkreten Verhaltensweise dies zum Ausdruck kommt.
diese Schülerinnen und Schüler in der Einschätzung ihrer Flanders Ansatz bildet – mit seiner Idee, Sprechereignisse
eigenen Fähigkeit positiv zu unterstützen. Derartige Befun- von Lehrenden und Lernenden zu unterscheiden – auch für ge-
426 Kapitel 21  Soziale Interaktion und Kommunikation

. Tabelle 21.1 FIAC Beobachtungskategorien (Klauer 2006) . Tabelle 21.2 Interaktionsformen nach Mehan (1979)

Akteur und Interak- Verhaltensweise Alltagsinteraktion Unterrichtsinteraktion


Aktion tionsart
Person 1: „Wie spät ist es?“ Lehrkraft: „Wie spät ist es?“
Reaktiv (1) Akzeptiert Gefühle von Schülern Person 2: „12.00 Uhr“ Schüler: „12.00 Uhr“
Lehrer spricht
Person 1: „Danke“ Lehrkraft: „Richtig“
(2) Lobt, ermutigt
Initiativ
(3) Akzeptiert bzw. verwendet
Schülerideen in Interaktionen im täglichen Leben nicht notwendigerwei-
(4) Stellt Fragen
se der Evaluation einer Antwort. Mehan (1979) brachte dies
bereits in den 1980er Jahren durch das Beispiel in . Tab. 21.2
(5) Trägt vor, erklärt zum Ausdruck.
(6) Gibt Anweisungen Das Beispiel zeigt, dass wir im Alltag Informationen von
anderen erfragen, weil wir sie in einer bestimmten Situation
(7) Kritisiert, rechtfertigt seine Autori- benötigen, um wie im genannten Beispiel, vielleicht pünkt-
tät
lich zum Zug zu kommen. In der unterrichtlichen Interaktion
Schüler spricht Reaktiv (8) Antwortet weiß die Lehrkraft bereits vorher die Antwort und evalu-
iert lediglich, ob der Lernende die Uhr richtig ablesen kann.
Initiativ (9) Äußert sich spontan, stellt Frage
Damit das I-R-F-Muster einer „natürlichen“ Konversation
Sonstiges (10) Stille bzw. Konfusion gleicht, ist es zunächst von Bedeutung, die Schülerin oder den
Schüler als gleichwertigen – oder kommunikationspsycholo-
gisch ausgedrückt – symmetrischen Konversationspartner zu
genwärtige Studien eine wesentliche Grundlage (Seidel, Pren- integrieren, das heißt Raum für längere Antworten zu geben
zel, Duit & Lehrke 2003). Aktuelle Auswertungsinstrumente im und diese nicht notwendigerweise zu bewerten. Eine derarti-
Bereich der Unterrichtskommunikation grenzen aber Lehrer- ge Implementation des I-R-F wird als dialogisch bezeichnet
und Schülersprachbeiträgeweniger stark voneinander ab, son- (Mortimer & Machado 2000). Sie zeichnet sich durch offe-
dern betrachten diese eher als kontextuelles Bedingen. Auch ne Fragen aus, die zulassen, dass Schülerinnen und Schüler
werden die vielseitigen Handlungsmöglichkeiten der Schüle- zum Beispiel ihre Ideen äußern, Erklärungen abgeben oder
rinnen und Schüler gegenwärtig noch stärker berücksichtigt, ihr Vorgehen beim Lösen einer Aufgabe darlegen. Außer-
als es bei Flanders mit nur zwei Kategorien der Fall war (u.a. Rez- dem wird im dialogischen I-R-F die Antwort des Schülers
nitskaya, Wilkinson, Oyler, Bourdage-Reninger & Sykes 2016). oder der Schülerin nicht nur mit „Richtig“ oder „Falsch“
evaluiert, sondern Hinweise gegeben, wie der Lernende wei-
Die bisherige Forschung zeigt, dass Unterrichtskommu- terdenken kann oder wie andere Schülerinnen und Schüler
nikation über Ländergrenzen hinweg in ähnlichen Mustern anknüpfen können. Zwei Elemente, welche die Qualität der
verläuft. Mercer und Dawes (2014) konstatieren zusammen- Kommunikation demnach entscheidend beeinflussen, sind
fassend, dass das sogenannten I-R-F/E-Muster heute noch Lehrerfragen und -feedback (Chin 2006).
genauso existent ist wie zu Beginn der Beforschung unter-
richtlicher Interaktionsprozesse in den 1970er-Jahren. Das1 Lehrerfragen
I-R-F/E besteht aus einer Eröffnung (Initiation) durch die Es ist davon auszugehen, dass eine Lehrkraft im Laufe ih-
Lehrkraft, oftmals in Form einer Frage, gefolgt von einer rer Berufslaufbahn weit mehr als eine Million Fragen stellt
Rückantwort (Response) durch den Lernenden, wiederum (Niegemann & Stadler 2001). Das Frageverhalten von Lehr-
gefolgt von einer Nachbereitung (Follow-up), welche häufig kräften ist ein zentrales Element von Unterricht, um welches
einer Bewertung (Evaluation) der Schülerantwort durch die sich die Forschung durch Analyse und Suche nach Verbesse-
Lehrkraft gleichkommt (Cazden 2001; Lemke 1990; Mehan rungsmöglichkeiten seit Langem bemüht (Dillon 1983). Mit
1979). Weitere Befunde zeigen, dass das beschriebene Mus- Blick auf die internationale Literatur fasst Oliveira (2010)
ter oftmals in autoritärer Form – oder kommunikationspsy- zusammen, dass Fragen offen gestellt werden, also mehrere
chologisch ausgedrückt komplementär – und damit eher als Antworten zulassen sollten. Auch sollten Fragen verknüp-
I-R-E im Unterricht implementiert ist, d. h. die Lehrkraft fend und anregend sein. Das Vorwissen der Schülerinnen
21 bringt die Schülerin oder den Schüler durch geschlossene und Schüler sollte durch die Fragen aktiviert und das vor-
Fragen in die Rolle eines Stichwortgebers (Jurik et al. 2013). handene Wissen genutzt werden, um Erklärungen abzuge-
Durch ein evaluatives Feedback, wie zum Beispiel „richtig“ ben und eigene Ideen zu entwickeln. International betonen
oder „falsch“, werden Schülerinnen und Schüler weiter dazu Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen die hohe Bedeu-
angehalten, das eine richtige Stichwort zu finden. Schülerin- tung der Formulierung eigener Argumente und damit der
nen und Schüler entwickeln dadurch die Meinung, es gäbe kritischen Auseinandersetzung mit Lerninhalten, um nach-
immer nur die eine richtige Antwort, welche die Lehrkraft be- haltiges Lernen zu gewährleisten (u. a. Duschl & Osborne
reits weiß und für den Fall, dass das richtige Stichwort nicht 2002). In diesem Zusammenhang konnte gezeigt werden,
gefunden wird, bereitstellt (Oliveira 2010). Auch bedarf es dass die Qualität von Schülerantworten stark von der Quali-
21.2  Soziale Interaktionen und Kommunikation im Unterricht
427 21
tät der Lehrerfragen beeinflusst wird (Wragg & Brown 2001).1 Schülerfragen
Wenn sich durch ein Fortbildungsangebot das Frageverhal- Im Anschluss an Lehrerfragen und -feedback möchten wir
ten von Lehrpersonen positiv mit Blick auf das Anregen von mit Schülerfragen auf ein nur selten betrachtetes Interakti-
Elaboration veränderte, konnten auch die Schülerinnen und onselement eingehen (Seifried & Sembill 2005). Empirische
Schüler – im Sinne des Elaborierens – mehr erklären, ihr Befunde für den deutschen Unterricht zeigen, dass zumeist
Vorwissen einbeziehen und bessere Begründungen für ih- die Lehrkraft Fragen im Unterricht stellt und Schülerfragen
re Antworten finden (Pehmer, Gröschner & Seidel 2015a). weit weniger präsent sind (Seidel et al. 2006). Genauere Un-
Analog verschlechterte sich das Elaborieren von Schülerin- tersuchungen (z. B. Graesser & Person 1994) ermittelten pro
nen und Schülern bei Lehrpersonen mit negativer Änderung Unterrichtsstunde einen Wert von 0,17 Fragen je Schüler. Ei-
des Frageverhaltens. Aktuelle Trainingsansätze zum Frage- ne Klasse mit 30 Schülerinnen und Schülern produziert also
verhalten im Unterricht arbeiten mit Lehrkräften u. a. an der etwa fünf Fragen pro Stunde. Auch Sembill und Gut-Sembill
Möglichkeit – anstatt viele kleinschrittige Fragen zu stellen (2004) erforschten das Frageverhalten von Gymnasial- und
– eine zentrale Frage zum Ausgangspunkt für eine schüler- Berufsschülern. Im lehrerzentrierten Frontalunterricht gab
zentrierte Diskussion zu nehmen (Reznitskaya et al. 2016). die Hälfte der Befragten an, maximal eine Frage pro Unter-
Im Zuge dessen wird die Lehrperson mehr und mehr zum richtsstunde zu stellen, weitere 42 % meinten, es seien zwei
Moderator, der – wie von Walshaw und Anthony (2008) ge- bis drei Fragen. Für schülerzentrierte Gruppenarbeitsphasen
fordert – Schülerideen als Basis für den Diskurs betrachtet. fiel die Wahrnehmung mit mehr als dreimal so viel gestellten
Lehrerfragen erhalten dadurch eher die Funktion eines Nach- Fragen deutlich günstiger aus. Für Plenumssituationen konn-
fragens zur besseren Verständnisgenerierung statt Ausfragens te ein positiver Zusammenhang zwischen dem Klassenklima,
zum Erhalt eines passenden Stichwortes. geringer Ängstlichkeit und der selbstberichteten Fragenakti-
vität ermittelt werden. In Gruppenarbeitsphasen waren diese
1 Lehrerfeedback Zusammenhänge weit weniger ausgeprägt. Im Rahmen einer
Feedback als das Follow-up-Element des I-R-F hat sich als zweiten Studie (Seifried & Sembill 2005) wurden schriftlich
eine der zentralen Komponenten unterrichtlicher Interak- dokumentierte Schüler-Schüler-Interaktionen in projektori-
tionen erwiesen (Hattie 2008). Wie auch bei Lehrerfragen entierten Kleingruppen analysiert. Die Befunde zeigen, dass
ist die Qualität entscheidend. Hattie und Timperley (2007) 15,2 Fragen pro Schüler und Unterrichtseinheit gestellt wur-
unterscheiden in ihrer Überblicksarbeit verschiedene For- den und drei Viertel der im Unterricht gestellten Fragen von
men des Feedbacks im Unterricht. Häufig zu beobachten den Lernenden selbst ausging. Schülerinnen und Schüler, die
sind Rückmeldungen, die dem Lernenden lediglich Auskunft Fragen stellten, die eine längere und wissensverknüpfende
über die Richtigkeit der Antwort geben („richtig“/„falsch“; Antwort des Gegenübers zur Konsequenz hatten, berichteten
„ja“/„nein“). Diese Form kann als Feedback zur Aufgabe zudem über eine höhere intrinsische Lernmotivation. Diese
oder auch korrektives Feedback bezeichnet werden. Eine wei- Befunde machen klar, dass Schülerinnen und Schüler in schü-
tere Form der Rückmeldung ist das persönliche Feedback, lerzentrierten Lernsettings deutlich mehr Fragen stellen und
das sich auf die Schülerin oder den Schüler als Person be- sich die Möglichkeit des Fragenstellens günstig auf das Erle-
zieht („Das hast du clever gelöst“), dabei aber keine Auskunft ben der Unterrichtssituation auswirkt.
über die abgelaufenen Lernprozesse gibt. Beide dargestell-
ten Formen des Feedbacks erwiesen sich in empirischen1 Sprache und Argumentation
Untersuchungen als weniger effektiv als zwei weitere For- Weitere Stellschrauben, um die Qualität der Kommunikation
men der Rückmeldung (Hattie & Timperley 2007). Feedback im Klassenzimmer zu verbessern, sind das Beherrschen einer
zur Selbstregulation meint Rückmeldungen, die der Schü- Fachsprache (7 Kap. 8) und des Argumentierens (7 Kap. 17).
lerin oder dem Schüler helfen, das Lernen zu regulieren Neben der Übernahme von Verantwortung und der Einbrin-
und in Zukunft zu verbessern („Ich weiß, dass du das nor- gung eigener Idee und Vorstellungen befürworten Walshaw
malerweise besser kannst, ich rate dir. . . “). Feedback zum und Anthony (2008) als dritte Aktivität die Entwicklung einer
Lernprozess bezieht sich auf den Vorgang des Lernens, der gemeinsamen Fachsprache. Die Alltagssprache der Schüle-
zum Beispiel während des Lösens einer Aufgabe stattge- rinnen und Schüler soll zum Ausgangspunkt genommen und
funden hat. Gibt eine Schülerin oder ein Schüler eine fast durch die Unterstützung der Lehrkraft in eine korrekte Fach-
richtige Antwort, evaluiert die Lehrkraft in diesem Fall die sprache überführt werden. Fachsprache wiederum bildet die
Antwort nicht mit einem „Nah dran“, sondern weist darauf Grundlage für stichhaltiges Argumentieren (Walshaw & An-
hin, wie weitervorgegangen werden kann, um zur richti- thony 2008). Schülerinnen und Schülern soll in einer vierten
gen Lösung zu gelangen („Das geht schon in die richtige Aktivität die Möglichkeit gegeben werden, ihre Gedanken
Richtung, aber jetzt überleg nochmal, was sagt dir die 2 an auszuführen, zu belegen und zu rechtfertigen, aber auch
dieser Stelle.“). Die letzten beiden Qualitätsebenen von Feed- die Ideen anderer zu kritisieren. In diesem Zusammenhang
back haben sich als wirksamste Formen des Rückmeldens zeigten die Forschungsarbeiten von O’Connor und Michaels
gezeigt und ihr Auftreten ist deshalb ein wichtiges Krite- (1996), dass die Möglichkeit, eine bestimmte Perspektive ein-
rium für die hohe Qualität von Lehrer-Schüler-Interaktio- zunehmen und gegen die Meinung anderer zu verteidigen,
nen. wesentlich für das Entwickeln mathematischer Denkweisen
428 Kapitel 21  Soziale Interaktion und Kommunikation

ist. Die Lehrkraft ist in diesem Zusammenhang geschickter Auch ermöglicht derartiges Detailwissen wertvolle Überle-
Moderator einer schülerzentrierten Diskussion. gungen, wie Interaktionen verändert werden können – anset-
zend an existierenden Strukturen wie dem I-R-F oder durch
Im Fokus: Qualität des Argumentierens im Unterricht messen die Implementation neuer Interaktionsmuster (z. B. Argu-
mentation). Im Folgenden werden verschiedene aktuelle Pro-
Die Qualität der Argumentation als ein Kriterium von Unter- gramme vorgestellt, welche sich dieser Herausforderung in
richt steht derzeit im Interesse mehrerer Forschergruppen der Lehramtsaus- und Lehrerfortbildung annehmen.
(Berson, Borko, Million, Khachatryan & Glennon 2016;
Reznitskaya et al. 2016). Ein – sowohl für Forscher als auch 1 Beispiele in der Lehramtsausbildung
Praktiker – erwähnenswertes Beobachtungsinstrument ist Das Hilfsmittel der Videographie hat sich seit vielen Jahren
das ART (Argumentation Rating Tool), welches im Rahmen als effektiv erwiesen (Borko 2004). Schon in frühen Phasen
eines Fortbildungsprogramms zum Argumentieren über li- der Lehramtsausbildung werden mittlerweile Videos einge-
terarische Texte im Grundschulunterricht entwickelt wurde. setzt, um Studierenden die Möglichkeit zu geben, ihr eigenes
Mithilfe des Instruments wird die Diskussionsqualität der Handeln zu reflektieren (z. B. Biaggi, Krammer & Hugener
mittleren 15 Unterrichtsminuten eingeschätzt. Alle elf in 2013). Dafür werden aufgezeichnete, komplexe Unterrichts-
. Tab. 21.3 dargestellten Beobachtungskategorien werden stunden in kleine Teile zerlegt (Dekomposition), um Studie-
sowohl für die Lehrkraft als auch die Schülerinnen und rende langsam an die Praxis heranzuführen (Grossman et
Schüler bewertet. Neben einem Gesamtwert resultieren al. 2009). Die geschützten Lehr-Lernsituationen bieten neben
damit auch Werte für die einzelnen Akteure. Dies ermöglicht dem Beobachten von Unterrichtssituationen gute Möglich-
Lehrer-Schüler-Verhalten in Relation zueinander zu be- keiten zum Erlernen des richtigen Interaktionsverhaltens.
trachten. Als innovativ und dem aktuellen Forschungsstand
entsprechend (z. B. bedarfsgerechte Rückmeldekultur, 1 M-Teach
Walshaw & Anthony 2008) wird bei der Einschätzung nicht Im Rahmen des M-Teach-Projekts (Seidel, Stürmer, Schäfer
der Philosophie „Mehr ist besser“ gefolgt, sondern der & Jahn 2015) lernen angehende Lehrkräfte auf die Art des
Frage nachgegangen, ob z. B. eine Hilfestellung durch die Fragens und des Feedbacks, welches sie an Lernende richten,
Lehrkraft überhaupt von Nöten gewesen wäre. zu achten. Im Projekt unterrichten Studierende beispielswei-
se vier Kommilitonen, die auf Grundlage einer Rollenbe-
schreibung als starker, schwacher, sich unterschätzender oder
uninteressierter Lernender agieren. Die 20-minütigen Lehr-
einheiten werden auf Video aufgezeichnet, analysiert und
21.2.6 Interaktionen im Unterricht schulen gemeinsam mit den Studierenden besprochen. Projektergeb-
und verändern nisse zeigen, dass es Studierenden zu Beginn des Studiums
noch recht schwerfällt, kognitiv aktivierende Fragen zu stel-
1 Vom I-R-F zu schülerzentrierter Diskussion len und Lernenden mit unterschiedlichen Lernvoraussetzun-
Wie aus den vorangegangenen Abschnitten deutlich wurde, gen ein angemessenes Feedback auf ihre Beiträge zu geben.
beschäftigt sich das Forschungsfeld der sozialen Interakti- Durch eine mobile Eye-Tracking-Brille für die Lehrenden
on und Kommunikation derzeit u. a. mit Fragen, wie das konnten zudem Aspekte der non-verbalen Kommunikation
existierende I-R-F-Muster in seiner Qualität verbessert oder sichtbar gemacht werden. So wurde untersucht, worauf und
eine komplett andere Interaktionskultur (z. B. beim Argu- wie lange die Studierenden vor einer Handlung ihre Auf-
mentieren) in das Klassenzimmer Einzug halten kann. Chinn merksamkeit richteten. Studierende hatten Schwierigkeiten,
und Kollegen (2001) wenden ein, dass es Lehrkräften häu- ihre Aufmerksamkeit entsprechend der Lernvoraussetzungen
fig leichter fällt, existierende Muster stufenweise als radikal der Lernenden zu steuern. So richtete sich die Konzentrati-
zu verändern. Das zeigt auch die Einzelfallanalyse eines Leh- on oft nur auf Einzelne anstatt alle Lernenden regelmäßig in
renden, der mit den Grundlagen des dialogischen Lehrens den Blick zu nehmen (Allgegenwärtigkeit, 7 Kap. 18) (Stür-
und Lernens vertraut gemacht worden war (Billings & Fitz- mer, Seidel, Müller, Häusler & Cortina 2017).
gerald 2002). Die Lehrkraft hatte noch immer einen großen
Redeanteil und weiterhin fanden 92 % der Seminarzeit in1 Beispiele in der Lehrerfortbildung
dem klassischen I-R-F-Muster statt. Gleichwohl hatte sich das Während bei Lehramtsstudierenden die Aufgabe darin liegt,
21 Frageverhalten geöffnet und es fand eine stärker dialogische produktive Interaktionen zu schulen, sollen bei erfahrenen
Interpretation der ersten Phase Initiation statt. Die Autoren Lehrpersonen die Routinen wie das I-R-F-Muster in ihrer
schlussfolgern, dass Lehrende auf unterschiedlichen Positio- Qualität nachhaltig verändert werden. Eigene hohe Redean-
nen eines Kontinuums zwischen autoritärem I-R-F und dia- teile haben sich zum Beispiel über viele Jahre etabliert und
logischer Diskussion verortet seien können. für Lehrpersonen mag es zunächst schwierig sein, sich selbst
Selbstverständlich können derartige Einzelfallanalysen zurücknehmen. Auch ein enges Frageverhalten zu verändern
keine statistisch belastbaren Evidenzen liefern; sie verschaffen und damit ein Stückweit Kontrolle abzugeben, scheint Her-
aber dennoch einen wichtigen Einblick, wie unterschied- ausforderungen mit sich zu bringen (Pehmer et al. 2015a). In-
lich Unterrichtskommunikation interpretiert werden kann. ternational finden deshalb Bemühungen statt, Fortbildungs-
21.2  Soziale Interaktionen und Kommunikation im Unterricht
429 21

. Tabelle 21.3 Beobachtungsinstrument ART (Argumentation Rating Tool) (Reznitskaya et al. 2016)

Argumentation ist.. . Umsetzung

Geteilt („Wir verfolgen verschiedene Betrachtungsweisen gemeinsam“) (1) Aufstellen einer zentralen Frage

(2) Verantwortung klären und teilen

(3) Alternativen teilen

Klar („Wir verwenden eine klare Sprache und Struktur beim (4) Bedeutungen klarmachen
Argumentieren“)
(5) Ideen verknüpfen

(6) Schritte und Teile eines Arguments bezeichnen

(7) Argumentationslinie nachverfolgen

Tragbar („Wir verwenden gut untersuchte und akkurate Begründungen (8) Fakten evaluieren
und Beweise für unser Argument“)
(9) Werte evaluieren

Logisch („Wir verknüpfen unsere Meinung, geben Begründungen“) (10) Gründe artikulieren

(11) Schlussfolgerungen evaluieren

angebote zu schaffen, im Rahmen derer Lehrpersonen Inter- Mathematiktest. Die Effektstärke lag mit d D :68 in einem mitt-
aktionen planen, umsetzen und gemeinsam reflektieren. leren bis hohen Bereich.
Allerdings – und zur Irritation der Forscher – konnte auf in-
1 Accountable Talk dividuellem Schülerniveau nicht festgestellt werden, dass die-
Ein bedeutendes Projekt, welches viele direkt anwendbare jenigen, die mehr aktive Redeanteile hatten, zu einem besseren
Gesprächsstrategien, sogenannte „Talk moves“, mit Lehrper- Ergebnis im schriftlichen Mathematiktest gelangten. Die For-
sonen erarbeitet hat, ist das Programm „Accountable Talk“ schungsfrage, ob eine Schülerin oder ein Schüler mehr von
(Nachvollziehbares Gespräch) (Michaels & O’Connor 2012). einer Diskussion lernt, wenn er oder sie aktiv verbal daran be-
Neben der bereits beschriebenen Relevanz zwischen Orga- teiligt ist, konnte damit nicht positiv beantwortet werden.
nisationsformen von Interaktionen zu wechseln, sowie klare O’Connor und Kollegen erklären die Befundlage wie folgt:
Regeln und Lernziele der Konversation zu etablieren, betont Die Schülerinnen und Schüler, deren Lehrkräfte bereits seit Län-
die Forschergruppe einige grundlegende Ziele, welche Lehr- gerem im Accountable Talk-Programm waren, wurden intensiv
personen in Unterrichtsgesprächen anstreben sollten. Dabei mit dem Element des „Aktiven Zuhörens“ vertraut gemacht.
schlagen sie einige konkrete, in . Tab. 21.4 dargestellte Ge- Auch könnte das Paraphrasieren von Redebeiträgen durch ver-
sprächsstrategien vor, wie diese Ziele erreicht werden können schiedene Mitschülerinnen und -schüler stille, aber aktive Zu-
(Michaels & O’Conner 2012). In vielen Strategien finden sich hörer in ihrem Lernen unterstützt haben. Das heißt nicht, dass
Elemente wieder, welche im Verlauf dieses Kapitels bereits sich die Lernenden im Klassenzimmer vom Diskurs fernhalten
diskutiert wurden. sollten, sondern vielmehr dem aktiven Zuhören eine zentralere
Rolle zugewiesen werden sollte.
Studie: Accountable Talk
In einer aktuellen Studie von O’Connor, Michaels, Chapin und
Harbaugh (2017) konzentrierte sich die Forschergruppe auf 1 DIALOGUE
zwei Lehrkräfte, mit denen sie im Rahmen des Accountable Im deutschen Kontext untersuchten Pehmer et al. (2015a) im
Talk-Programms zusammenarbeitete. Zufällig ordneten sie die Rahmen der Projekts DIALOGUE, inwiefern Lehrpersonen
beiden Lehrkräfte mit ihren sechsten Klassen entweder der durch ein einjähriges videobasiertes Fortbildungsangebot ih-
Bedingung Academically productive talk (APT, wissenschaftlich re Interaktionen im Klassengespräch verändern (Pehmer,
gewinnbringendes Gespräch) oder der Bedingung Direct In- Gröschner & Seidel 2015b). Sechs Lehrpersonen nahmen
struction (DI, gelenkter Unterricht) zu. Die bedingungsgetreue über ein Schuljahr hinweg an zwei Iterationen des Dialogi-
Implementation des Unterrichts wurde mithilfe von Audioauf- schen Videozirkels teil. Er setzte sich jeweils aus einem Unter-
nahmen kontrolliert. richtsplanungsworkshop, einer Videographie der geplanten
Die hypothesenkonformen Befunde der Studie zeigen, dass Unterrichtsstunde sowie zwei Reflexionsworkshops zu den
die Schülerinnen und Schüler in der APT-Bedingung im Unter- ersten beiden Aktivitäten nach Walshaw und Anthony (2008)
richt wesentlich mehr sprachen als Schülerinnen und Schüler zusammen (Gröschner, Seidel, Kiemer & Pehmer 2015).
der DI-Bedingung. Zudem erzielten sie unter Kontrolle der Vor- Analysen von Unterrichtsvideographien offenbaren, dass
leistung auch signifikant bessere Ergebnisse im schriftlichen die Lehrpersonen am Ende des Schuljahres durch die Teil-
430 Kapitel 21  Soziale Interaktion und Kommunikation

. Tabelle 21.4 Gesprächsstrategien („Talk moves“) nach Michaels und O’Connor 2012

Ziel 1: Unterstützung Gesprächsstrategie 1: Zeit zum Nachdenken geben


individueller Schüler im Den Schülern wird zum Beispiel, nachdem eine Frage gestellt wurde, zunächst Zeit zum Nachdenken gegeben.
Teilen, Erweitern und Dies kann durch ausreichendes Abwarten, die Möglichkeit zum Austausch mit dem Sitznachbarn oder das Anferti-
Erklären ihrer Gedanken gen schriftlicher Notizen erreicht werden
und Ideen
Gesprächsstrategie 2: „Sag mehr“
Nach seiner Antwort wird der Schüler gebeten, weiter zu elaborieren z. B. durch Aufforderungen wie „Kannst du
mehr dazu sagen?“, „Was hast du damit genau gemeint?“, „Gib uns ein Beispiel dafür“

Gesprächsstrategie 3: „Du sagst also. . . “


Durch Aussagen wie „Lass mich nochmal schauen, ob ich verstanden habe, was du gesagt hast. Du sagst also. . . “
paraphrasiert die Lehrkraft nochmals die Antwort des Schülers und lässt ihm dabei die Möglichkeit, sich einver-
standen zu erklären, zu widersprechen oder anschließend noch mehr mitzuteilen

Ziel 2: Unterstützung von Gesprächsstrategie 4: „Wer kann nochmal zusammenfassen oder wiederholen?“
Schülern, anderen genau Die Lehrkraft lässt einen Mitschüler paraphrasieren, was ein Schüler gesagt hat. Das Vorkommen von Aufforde-
zuzuhören rungen wie „Wer kann nochmal zusammenfassen, was Maximilian gerade gesagt hat oder es nochmal in seinen
eigenen Worten beschreiben“ veranlasst die Schüler, sich einander zuzuhören, um das Gesagte eines anderen auf-
greifen zu können

Ziel 3: Unterstützung von Gesprächsstrategie 5: Nach Beweis und Begründungen fragen


Schülern, ihre Erklärungen Die Lehrkraft fordert den Schüler auf, Begründungen oder Beweise für seine Antwort zu finden: „Warum denkst du
substantiell und logisch das?“, „Was ist dein Beweis/Beleg dafür?“ „Wie bist du auf diese Lösung gekommen?“
aufzubauen
Gesprächsstrategie 6: Herausfordern und Gegenbeispiel anführen
Anstatt einen Beweis oder eine Begründung zu finden, fordert die Lehrkraft den Schüler mit dieser Gesprächs-
strategie dazu auf, über Grenzen seiner Antwort nachzudenken, die eigene Antwort auf vorherige Antworten oder
auf andere Beispiele zu übertragen: „Funktioniert das immer so?“ „Wie würde deine Idee im Zusammenhang mit
Annikas Beispiel aussehen?“ „Was wäre, wenn es eine andere Funktion gewesen wäre?“

Ziel 4: Unterstützung von Gesprächsstrategie 7: Dafür oder dagegen und warum?


Schülern, an den Eine weitere Möglichkeit, um Schüler dazu anzuhalten, sich gegenseitig zuzuhören, ist die Aufforderung, die Zu-
Erklärungen anderer zu stimmung oder Ablehnung zur Antwort eines Mitschülers begründen zu können: „Bist du einer Meinung? Warum?“
partizipieren „Sagst du das gleiche wie Markus oder etwas Anderes. Und wenn Du anderer Meinung bist: Inwiefern unterschei-
den sich eure Meinungen?“ „Wie denken andere darüber, was Markus gerade gesagt hat?“ „Wer möchte Stellung zu
dieser Antwort nehmen?“

Gesprächsstrategie 8: Ergänze!
Wie in Gesprächsstrategie 4 legt diese Strategie Wert darauf, dass ein Schüler sich auf die Antwort eines Vorredners
bezieht, zum Beispiel durch Aufforderungen wie „Wer kann etwas zu der Idee von Anna ergänzen?“ „Kann jemand
den Vorschlag von Anna aufgreifen und ihn noch weiter ausbauen?“

Gesprächsstrategie 9: Antwort eines Anderen erklären


Auch in dieser Gesprächsstrategie wird der Schüler aufgefordert, die Antwort eines Mitschülers aufzugreifen, in-
dem er erklärt, was der Vorredner gesagt hat: „Wer kann erklären, was Emilia meint, wenn sie das sagt?“ „Wer
glaubt, dass er nochmal in seinen eigenen Worten erklären kann, warum genau diese Antwort von Emilia kam?“
„Warum glaubst du, hat er das gesagt?“

nahme am Dialogischen Videozirkel, im Vergleich zu einer 21.3 Kommunikation in Elterngesprächen


Kontrollgruppe, ein signifikant produktiveres Feedbackver-
halten zeigten (Hattie & Timperley 2007). Sie gaben mehr
Feedback zu den Lernprozessen und zur Selbstregulation, Im dritten Teil dieses Kapitels wollen wir uns dem Interakti-
einhergehend mit einer Reduktion des rein evaluativen Feed- onsraum außerhalb des Klassenzimmers widmen. Auch hier
backs. Entgegen der Annahmen veränderten die Lehrper- stehen Lehrpersonen im Austausch mit zahlreichen weiteren
sonen ihr Frageverhalten nicht und stellten auch durch die Akteuren – ein Aspekt, der bei Lehramtsstudierenden jedoch
21 Teilnahme am Dialogischen Videozirkel nicht mehr Fragen, vergleichsweise noch wenig Beachtung findet. So wurden
die Schülerinnen und Schüler zu Elaborationen anregen wür- im Rahmen einer 2008 an der TU Dresden durchgeführten
den (Pehmer et al. 2015a). Vielleicht hatten die Lehrpersonen Umfrage zu Berufswahlmotiven Lehramtsstudierende dazu
die Befürchtung, dass durch die Veränderung des Fragever- befragt, welche Tätigkeitsbereiche im Lehrberuf auf sie zu-
haltens Kontrolle verlorengeht, da als Konsequenz mit mehr kommen würden (Melzer, Jehne, Pospiech, Fegebank & Schu-
diversen Schülerbeiträgen zu rechnen sei (Mercer 2010). bert 2008). 89 % der Studierende sahen „Unterricht gestalten“
21.3  Kommunikation in Elterngesprächen
431 21
als ihre Hauptaufgabe an, 58 % der Studierenden nannten det; Gesprächssequenzen, welche mit Ärger verbunden sind
„Soziale Beziehungen fördern“ als weiteren wichtigen Aspekt. oder Probleme aufzeigen, dagegen ausgeweitet. Diese Befun-
Lediglich 42 % gab die „Zusammenarbeit mit Eltern und Kol- de sind entlang eines moralischen Diskurses zu interpretie-
legen“ als Anforderung des späteren Lehrberufs an. Zusam- ren, da Eltern die Erwartung haben oder es als soziale Norm
menfassend halten die Autoren fest, dass die Studierenden verstehen, über Probleme des eigenen Kindes zu reden, und
noch unzureichend über die vielseitigen Anforderungen des Eltern und Lehrkraft die Lösung von Problemen als gemein-
Lehrerberufs informiert sind. Empirisches Orientierungswis- same Verantwortung betrachten.
sen kann jedoch dazu beitragen, Studierende bereits in der Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Verantwortlich-
ersten Phase der Lehrerbildung auf die vielfältigen interak- keiten in Lehrer-Eltern-Interaktionen sich von denen in
tiven und kommunikativen Herausforderungen ihres Berufs Lehrer-Schüler-Interaktionen unterscheiden (Keyes 2004). In
aufmerksam zu machen und besser vorzubereiten. Im Fol- Interaktionen mit Schülerinnen und Schülern stellt die Lehr-
genden wird ein Überblick über die Kommunikation zwi- kraft – nicht zuletzt durch die Erwachsenen-Kind-Beziehung
schen Lehrpersonen und Eltern gegeben sowie empirische – die Autoritätsperson dar und gibt in hohem Maße vor,
Befunde und aktuelle Programme vorgestellt, wie Lehrkräf- wie viel und in welcher Qualität Schülerinnen und Schüler
te im Etablieren und Verändern von Interaktionen geschult an Interaktionen teilnehmen können. Verantwortlichkeiten
werden können. sind hier als Regelwerk für die Teilnahme am Interaktions-
prozess zu betrachten (7 Abschn. 21.2). Bei Lehrer-Eltern-
Interaktionen handelt es sich um eine Erwachsenen-Erwach-
senen-Beziehung. Keine der beiden Personen dominiert die
21.3.1 Klärung von Verantwortlichkeiten
Konversation oder gibt das Regelwerk zur Partizipation vor.
im Lehrer-Eltern-Gespräch Vielmehr wird Verantwortlichkeit als gemeinsamer Erzie-
hungsauftrag verstanden, der in einem moralischen Diskurs
Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1972 (Urteil ausgehandelt wird.
vom 06.12.1972, Az 1 BvR 230/70 und 95/71) verweist auf
die Notwendigkeit für „das sinnvolle Zusammenwirken der
beiden Erziehungsträger“ Elternhaus und Schule. Dabei wird
eine partnerschaftliche und vertrauensvolle Beziehung zwi-
21.3.2 Qualitätsmerkmale von
schen den beteiligten Akteuren betont (Bennewitz & Wegner
2015). In der praktischen Umsetzung sehen Eltern ihre Ver- Lehrer-Eltern-Gesprächen
antwortung in der Betreuung von Hausaufgaben, Lehrperso-
nen in der Gestaltung des Unterrichts (Kotthoff 2012). Im Rahmen der Unterrichtsforschung wurden zahlreiche
Im Rahmen von Lehrer-Eltern-Gesprächen handeln Komponenten identifiziert, die für die Qualität von unter-
Lehrpersonen und Eltern Verantwortlichkeiten aus. Im Sin- richtlichen Interaktionen entscheidend sind (7 Kap. 18). Auch
ne eines moralischen Diskurses kann es dabei zu Momenten konnten empirische Befunde dazu generiert werden, wie
der Achtung und Missachtung kommen (Bergmann & Luck- Interaktionen im Unterricht, z. B. im Rahmen eines Klas-
mann 1999). Empirische Befunde zeigen, dass vor allem beim sengesprächs, ablaufen (Mercer & Dawes 2014). Bei Lehrer-
Ansprechen schlechter Schülerleistungen versucht wird, den Eltern-Gesprächen, einem nicht minder herausfordernden
Verantwortlichen zu ermitteln (Bennewitz & Wegner 2015). Interaktionssetting, ist der derzeitige Forschungsstand noch
Ist ein Elternteil beispielsweise davon überzeugt, dass die defizitär. Es finden allerdings Bemühungen statt, eine syste-
Lehrkraft mit ihrem Unterricht für die mangelhaften Leistun- matische Befundlage zu erzeugen. Dabei gilt es zu klären, wie
gen des Kindes verantwortlich ist, wird es probieren, dies im Lehrpersonen in Gesprächen mit Eltern agieren und wie die-
Diskurs deutlich zu machen. ses Wissen genutzt werden kann, um angehende Lehrkräfte
Eltern ist daran gelegen, sich im Gespräch mit der Lehr- bereits in der Ausbildung mit entsprechenden Kompetenzen
person als „gute Eltern“ zu präsentieren und aufzuzeigen, auszustatten (Gartmeier, Gebhardt & Dotger 2016).
dass sie für ihr Kind ein Umfeld geschaffen haben, wel- Gartmeier und Kollegen (2016) untersuchten die selbst
ches ihm maximale Unterstützung bietet. Auch signalisieren eingeschätzten Kompetenzen von Lehrpersonen in Lehrer-
Eltern, dass die häusliche Erziehung im Einklang mit den pä- Eltern-Gesprächen anhand von drei Kriterien eines aktuellen
dagogischen Methoden der Schule steht. Pillet-Shore (2012) Modells zur Kommunikationskompetenz (Gartmeier, Bauer,
zeigte im Rahmen von Gesprächsanalysen, dass sich Eltern Fischer, Karsten & Prenzel 2011):
bei Lob ihres Kindes positiv überrascht zeigen und von den 4 Persönliche Beziehung: Vor dem Hintergrund eines mo-
gelobten Aspekten gerade erst erfahren haben wollen. Wird ralischen Diskurses wird eine positive Beziehung zwi-
hingegen Tadel ausgesprochen, bestätigen Eltern, dass sie das schen Lehrkraft und Eltern als ein wichtiges Kriterium in
Problemverhalten auch schon beobachtet haben und darüber Lehrer-Eltern-Gesprächen angesehen. Lehrpersonen soll-
informiert sind. Damit einhergehend wird im Gespräch mit ten die Einbindung von Eltern als wertvolle Ressource für
der Lehrkraft Lob für das eigene Kind unterdrückt bzw. zöger- die eigene Arbeit schätzen und mit Bedenken und Kritik
lich kundgetan. Von den Eltern werden Gesprächssequenzen, der Eltern konstruktiv umgehen können (Hertel, Bruder,
die Erfolge des eigenen Kindes thematisieren, schneller been- Orwat-Fischer & Laux, 2010).
432 Kapitel 21  Soziale Interaktion und Kommunikation

4 Strukturierung und Orientierung an einem Ziel: Ge- Die Ergebnisse verdeutlichen, dass die Studierenden, die
sprächsstrukturierung und die Orientierung an einem an einem der Trainings teilnahmen, Studierenden der Kontroll-
Ziel sind bei begrenzter Gesprächszeit mit den Eltern ein gruppe in der Kommunikationskompetenz überlegen waren.
weiteres wichtiges Qualitätskriterium. Das Element der Entgegen der Erwartungen erwies sich die kombinierte Trai-
Strukturierung hat sich vor allem in erfolgreichen Arzt- ningssituation nicht als signifikant förderlicher als die Bedin-
Patienten-Gesprächen als zentral erwiesen (z. B. Baile et gungen des E-Learning oder des Rollenspiels. Die Autoren argu-
al. 2000). Die Orientierung an einem Ziel ermöglicht, im mentieren, dass ein Wechsel zwischen E-Learning und Rollen-
Gespräch Probleme möglichst effizient zu lösen. spiel im Rahmen eines kurzen Trainings von nur fünf Stunden
4 Problemlöseorientierung: Ein dritter Aspekt ist die Of- zu einer gewissen kognitiven Überlastung führen kann. Das
fenheit der Konversation in Bezug auf Probleme, den E-Learning wiederum beförderte die Kommunikationskompe-
gemeinsamen Problemlöseprozess und das Treffen von tenz der Studierenden etwas stärker als das Rollenspiel. Die
Vereinbarungen für den weiteren Problemlöseverlauf. Befunde sind ein weiterer Beleg für die Effektivität des Vi-
deoeinsatzes (Borko, Jacobs, Seago & Mangram 2014; Sherin
& van Es 2009). Sie zeigen, dass ein videobasiertes E-Learning-
Basierend auf den Werten von 667 Lehrpersonen ermittel-
Programm eine gute Möglichkeit darstellt, um der Herausfor-
ten Gartmeier et al. (2016) vier, etwa gleich stark in den
derung Lehrer-Eltern-Gespräch effektiver zu begegnen.
Daten vertretene Profile: hohe, mittlere und niedrige Kompe-
tenzeinschätzung sowie Problemlöseorientierung. Während
die ersten drei Profile sich nur im Niveau voneinander un- 21.4 Kommunikation im Kollegium
terschieden, grenzte sich das vierte Profil der Problemlöser
deutlich von den anderen ab. Diese Lehrpersonen stuften ih-
re Problemlösekompetenz als besonders hoch ein, schätzten Über die Qualität der Kommunikation im Klassenzimmer ist
sich in der persönlichen Beziehung zu Eltern aber als we- heutzutage einiges bekannt, doch lässt sich noch recht we-
nig kritikfähig ein. Das Profil des reinen Problemlösers kann nig über die Qualität der Kommunikation im Lehrerzimmer
problematisch werden, wenn solche Lehrpersonen sich ver- sagen. Welche Rolle spielt eigentlich die Qualität der Interak-
anlasst sehen, die Lösung im Gespräch vorwegzunehmen und tionen und Kommunikation der Kolleginnen und Kollegen
Eltern nicht im Rahmen eines ko-konstruktiven Prozesses zu untereinander? Stürmer und Kollegen (2015) konnten bei-
beteiligen. Deshalb ist es nicht nur wichtig, Studien über den spielsweise zeigen, dass sich der Austausch unter Referenda-
aktuellen Zustand zu generieren, sondern auch Programme ren positiv auf deren professionelle Lernprozesse auswirkt.
zu entwickeln, die Lehrpersonen darin unterstützen, Verän- Durch die heutige Forschung ist allerdings kaum geklärt, wie
derungen vorzunehmen. sich der Austausch konkret gestaltet und welche Qualität die
Interaktionen im Rahmen dieses Austauschs aufweisen.
Die Bedeutung von Lehrer-Lehrer-Interaktionen wird
Studie: Lehrer-Eltern-Gespräche schulen bisher unter dem Begriff der Kooperation sehr prominent,
Im Programm PROFKOM wurden Lehramtsstudierende darin aber auch vornehmlich vor dem Hintergrund der Organi-
unterstützt, Kompetenzen zur Bewältigung von Lehrer-Eltern- sationsentwicklung – hier von Schule und Unterricht – be-
Gesprächen zu erwerben. Um herauszufinden, wie ein Training handelt. Auf dieses Verständnis wird zunächst eingegangen
gestaltet sein muss, das die Kommunikationsleistungen der und verschiedene Kooperationsformen vorgestellt, die helfen,
Studierenden verbessert, wurden vier Bedingungen geschaf- unterschiedliche Lehrer-Lehrer-Interaktionen zu differenzie-
fen (Gartmeier et al. 2015): E-Learning mit Video, Rollenspiel, ren. Anschließend wird das Potenzial kollegialer Beziehun-
eine Kombination aus E-Learning und Rollenspiel und eine Kon- gen für den professionellen Kompetenzaufbau von Lehrkräf-
trollgruppe ohne Training. ten beleuchtet und anhand von zwei Projekte verdeutlicht,
In der E-Learning-Bedingung beobachteten die Studieren- wie Interaktion und Kommunikation von Lehrkräften unter-
den mit Schauspielern gedrehte Videos und bearbeiteten ver- einander gefördert werden kann.
schiedene Aufgabenformate, ohne dabei mit anderen Trai-
ningsteilnehmern zu kommunizieren oder Feedback zu erhal-
ten. In der Rollenspiel-Bedingung hatten die Teilnehmer die
21.4.1 Kollegiale Interaktion in
Möglichkeit, ihre Kommilitonen bei Rollenspielen zu beobach-
ten und selbst an Rollenspielen teilzunehmen. In der dritten verschiedenen Kooperationsformen
21 Gruppe wurden beide Trainings miteinander kombiniert. Die
vierte Gruppe war eine Wartekontrollgruppe mit der späteren 1 Lehrerkooperation als Schulqualitätskriterium
Möglichkeit, ein Training zu absolvieren. Wie bereits zu Beginn des dritten Abschnitts gezeigt, haben
Nach der Teilnahme wurden alle 168 Studierenden in ei- Lehramtsstudierende die „Zusammenarbeit mit Eltern und
nem simulierten Eltern- bzw. Patientengespräch mit einem ge- Kollegen“ als Anforderung des späteren Berufsfeldes nicht
schulten Schauspieler videographiert. Die Videos wurden zur notwendigerweise im Blick, obwohl gerade die Kooperati-
Ermittlung der Kommunikationskompetenz anhand von drei on unter Kolleginnen und Kollegen als ein zentrales Element
Dimensionen (Persönliche Beziehung, Strukturierung und Ori- der Professionalisierung von Lehrpersonen angesehen wird
entierung an einem Ziel, Problemlöseorientierung) bewertet. (Fussangel & Gräsel 2012). In der Aufgaben- und Anfor-
21.4  Kommunikation im Kollegium
433 21
derungsbeschreibung der Kultusministerkonferenz für den sam zusammensetzen und ein alternatives Lehrangebot kon-
Lehrberuf wird dies noch einmal besonders deutlich (Kultur- zipieren oder sich gar gegenseitig anbieten, im Unterricht
ministerkonferenz 2014). Im Kompetenzbereich Innovieren zu hospitieren. Anschließend werden sie gemeinsam darü-
wird unter den Kompetenzen 10 („Lehrerinnen und Leh- ber reflektieren, wie sie ihr Unterrichten entsprechend der
rer verstehen ihren Beruf als ständige Lernaufgabe“) und Lernvoraussetzungen des Schülers gestalten können. Wie die-
11 („Lehrerinnen und Lehrer beteiligen sich an der Pla- ses Beispiel verdeutlicht, finden Lehrer-Lehrer-Interaktionen
nung und Umsetzung schulischer Projekte und Vorhaben“) in unterschiedlichen Kooperationsformen mit unterschied-
hervorgehoben, dass Absolventinnen und Absolventen von lichen Kooperationsinhalten statt. In diesen Formen stehen
Lehrerausbildungsprogrammen die Kooperationsstrukturen die beteiligten Lehrkräfte in unterschiedlichen Graden wech-
an Schulen sowie die Bedingungen erfolgreicher Kooperatio- selseitiger Abhängigkeit zueinander, die zum Teil gesteigerte
nen kennen sollen. Anforderungen an die eigenständige Initiative zur Gründung
Kooperationen unter Lehrpersonen werden damit vor von Lehrer-Lehrer-Interaktionen stellen.
allem im Kontext der Organisationsentwicklung und haupt- Judith Warren Little (1990) unterscheidet in ihrem Modell
sächlich im Rahmen der Schuleffektivitäts- und Schulent- vier Kooperationsformen, in denen die im Beispiel genannten
wicklungsforschung untersucht. Lehrerkooperation gilt da- Möglichkeiten noch einmal deutlich werden: der informelle
bei als einer der wichtigsten Prozesse auf Schulebene und Austausch („storytelling and scanning“), die gegenseitige Hilfe
somit als Merkmal der Organisationsqualität, welche Unter- und Unterstützung bei Nachfragen („aid and assistance“), das
richt, Lehr- und Lernkultur sowie die Lernergebnisse von Teilen von Ideen, Methoden und Material („different forms of
Schülerinnen und Schülern verbessern kann (Steinert et al. sharing“) und das gemeinsame Arbeiten („joint work“). Wäh-
2006). Forschungsbefunde zeigen, dass in erfolgreichen Schu- rend die erste Kooperationsform sich inhaltlich wenig auf die
len in Bezug auf die Leistungen der Schülerinnen und Schüler Unterrichtspraxis bezieht, weist die vierte Form den höchsten
mehr kooperiert wird als in weniger erfolgreichen Schulen Schul- und Unterrichtsbezug auf. Sie beschreibt einen hohen
(Fussangel & Gräsel 2012; Steinert et al. 2006; Terhart & Klie- Grad an wechselseitiger Abhängigkeit, indem Lehrkräfte ge-
me 2006). Das heißt jedoch nicht, dass Kooperation unter meinsam Verantwortung für die Gestaltung von Schule und
Lehrkräften per se zu nachhaltigerem Lernen der Schülerin- Unterrichtsprozessen übernehmen. In einer weiteren Kon-
nen und Schüler, zu häufigeren Gelegenheiten zur berufli- zeption, die sich in den letzten Jahren im deutschsprachigen
chen Weiterentwicklung von Lehrkräften sowie schließlich Raum durchgesetzt hat, wird an die Unterscheidung von
zur Schulentwicklung beiträgt. Mehrere Überblicksarbeiten Little (1990) angeknüpft. Nach Sichtung des aktuellen For-
(z. B. Klechtermans 2006; Little 1990) machen deutlich, dass schungsstandes differenzieren Fussangel und Gräsel (2012)
diese Interpretation zu kurz greift und gerade die Interpretati- drei wesentliche Kooperationsformen:
on der Qualität von Lehrerkooperation vor dem Hintergrund 4 Austausch: Hierunter fallen all jene Interaktionsformen
eines Kontinuums der Gelegenheiten von völlig autonomen zwischen Lehrkräften, die zum Ziel haben, Materialien
Lehrerhandeln bis hin zu starken gegenseitigen Abhängig- und Informationen auszutauschen, um alle Lehrkräfte
keiten betrachtet werden muss. Erst mit diesem Verständnis auf den gleichen Stand zu bringen. Sie gewährleisten der
ist es möglich, den Mehrwert von Lehrerkooperation unter einzelnen Lehrkraft ein hohes Maß an Autonomie, sind
Berücksichtigung der Unterscheidung zwischen Form und jedoch nicht an ein spezifisches Ziel mit Bezug auf die Ko-
Inhalt der Kooperation zu bestimmen (Little 1990). operationstätigkeit gebunden.
4 Gemeinsame Arbeitsplanung: Hier verständigen sich
1 Lehrerkooperation in der praktischen Umsetzung Lehrkräfte bereits über eine gemeinsame Zielsetzung und
Doch was versteht man genau unter Lehrerkooperation? Stel- arbeiten in gemeinschaftlicher Absprache auf dieses Ziel
len Sie sich vor, Sie treffen auf dem Schulgang einen Kolle- hin. Die Aufgaben sind so strukturiert, dass eine Ar-
gen, der ebenfalls wie Sie die 8b unterrichtet. Sie kommen beitsaufteilung möglich ist. In arbeitsteiliger Kooperation
über die Klasse ins Gespräch und tauschen sich darüber werden Lehreinheiten erarbeitet oder Lern- und Prü-
aus, dass es sich um eine angenehme und lernwillige Klasse fungsaufgaben vorbereitet.
handelt. Sie kommunizieren mit Ihrem Kollegen. Doch sind 4 Ko-Konstruktion: Lehrkräfte arbeiten intensiv hinsicht-
Sie bereits eine kooperative Lehrer-Lehrer-Interaktion ein- lich bestimmter Inhalte zusammen, um sich zum Beispiel
gegangen, die der Weiterentwicklung von Schule, Unterricht gemeinsam neue Inhalte zu erschließen oder Standards
oder gar Ihrer professionellen Entwicklung dient? Stellen Sie für den Unterricht weiterzuentwickeln. Ihr gemeinsames
sich weiter vor, dass Sie im Gespräch den Austausch über Wissen dient der Ko-Konstruktion von Aufgaben- und
einen Schüler vertiefen, der bei Ihnen beiden sehr leistungs- Problemlösungen.
stark ist, meistens vor den Mitschülern mit den Aufgaben
fertig ist und eventuell durch das Unterrichtsangebot unter- Aus dieser Unterscheidung wird deutlich, dass die dritte Ko-
fordert sein könnte. Stellen Sie sich vor, Sie vereinbaren mit operationsform der Ko-Konstruktion in hohem Maße eines
Ihrem Kollegen gegenseitig Materialien auszutauschen, die reflexiven Anteils eines jeden Beteiligten bedarf. Entspre-
diesem Schüler als Zusatzangebot zur Verfügung gestellt wer- chend liegt ihre Zielsetzung im Vergleich zu den beiden
den können. Wie ist es nun um die Kooperation bestellt? anderen Formen, welche dem gemeinsamen Kenntnisstand
In einem nächsten Schritt werden sie sich vielleicht gemein- sowie der ökonomischen Ressourcennutzung dienen, in der
434 Kapitel 21  Soziale Interaktion und Kommunikation

professionellen Weiterentwicklung der Lehrpersonen sowie ken. Ein zweites Projekt verfolgt den Ansatz, Lehramtsstudie-
der Entwicklung von Unterricht (Fussangel & Gräsel 2012). rende darin zu schulen, ihre Argumentations- und Reflexions-
Während Formen der Lehrerkooperation für die Unterrichts- fähigkeit mit Blick auf unterrichtliches Handeln zu schulen.
entwicklung nun verstärkt mit in den Blick rücken (Fussangel
& Gräsel 2012; Ostermeier 2004), wird die Lehrer-Lehrer-1 E4Teach
Interaktion im Kontext der Professionalisierung bislang je- Im Projekt E4Teach werden Lehramtsstudierende darin un-
doch kaum thematisiert (Steinert et al. 2006). Das Potenzi- terstützt, wissens- und evidenzbasiert ihre Argumentations-
al, dass Lehrer-Lehrer-Interaktionen für die professionellen qualität zu verbessern (Wenglein, Bauer, Heininger & Prenzel,
Lernprozesse der Lehrkräfte haben, bleibt damit weitgehend 2015). Das zentrale Element dieses Trainings stellt eine an-
unberücksichtigt. geleitete kooperative Gruppendiskussion dar. In einer Studie
mit dreißig Lehramtsstudierenden konnte gezeigt werden,
dass Trainingsteilnehmer in einer abschließenden, auf Video
aufgezeichneten Gruppendiskussion ihre Argumente syste-
21.4.2 Kollegiale Interaktion
matischer und besser mit Evidenzen begründen als Studie-
als Ko-Konstruktion rende, die nicht an dem Training teilnahmen.

Wie lernen Sie in Vorbereitung auf ihren späteren Beruf? Si-1 Lesson Analysis Framework
cher lesen Sie die Fachliteratur, besuchen Vorlesungen und Mit dem an der Universität Irvine in Kalifornien entwickel-
Seminare und lernen, was die Dozierenden ihnen vermit- tem „Lesson Analysis Framework“ (Unterrichtsanalyserah-
teln. Vielleicht waren Sie auch schon im Schulpraktikum men) werden Lehramtsstudierende darin geschult, gemein-
und haben Unterricht an der Schule beobachtet. Haben Sie sam videographierte Unterrichtsbeispiele eines bestimmten
sich dabei mit erfahrenen Lehrpersonen über den Unterricht Themengebiets zu analysieren und zu reflektieren. Die Stu-
ausgetauscht? Haben Sie die Erfahrungen mit Ihren Kommi- dierenden identifizieren gemeinschaftlich das Lernziel der
litonen besprochen? beobachteten Stunde, analysieren die Verstehensprozesse der
Auch wenn es augenscheinlich nicht so scheint, lernen Schülerinnen und Schüler, formulieren Hypothesen darüber,
Sie nicht ohne in eine Gruppe verschiedener Akteuren ihres welche Effekte das Unterrichten auf das Schülerlernen hat
professionellen Umfelds eingebettet zu sein. Die Interaktio- und nutzen die Ergebnisse, um Alternativen für den Lehrpro-
nen innerhalb dieser Gruppen haben den gemeinsam ausge- zess zu formulieren (Santagata & Guarino 2011). In mehreren
handelten Wissensaufbau zum Gegenstand. Sie stellen eine Studien konnte gezeigt werden, dass Lehramtsstudierende,
wichtige Ressource für die persönliche Entwicklung, aber die das Programm durchlaufen, ihre Reflexions- und Argu-
auch die Weiterentwicklung des professionellen Feldes dar. mentationsfähigkeit systematisch verbessern.
Dieses Phänomen wird – wie unter der dritten Kooperati-
onsform herausgestellt – als Ko-Konstruktion (Fussangel &
Gräsel 2012), zuweilen auch als Ko-Konstruktion von Wissen
bezeichnet (Fischer 2002). Zusammenfassung
Fischer (2002) beschreibt als ein typisches Szenario für die Die Schule und das Klassenzimmer sind Orte vielfältiger
gemeinsame Wissenskonstruktion, dass Lernende komplexe Kommunikation und Interaktion. Werden die Möglich-
Themen diskutieren, ohne dass die Lehrkraft helfend eingrei- keiten der Kommunikation optimal genutzt, erwachsen
fen muss. Dabei reflektieren sie eigene Erfahrungen im Kon- daraus viele positive Konsequenzen sowohl für Gruppen
text theoretischer Konzepte und versuchen gleichzeitig, die als auch für den Einzelnen. Die in diesem Kapitel darge-
Bedeutung der verwendeten Konzepte zu verstehen. Es wird stellten Befunde der Bildungsforschung zeigen, dass Lehr-
angenommen, dass die Lernenden so mehrperspektivisches kräfte als professionelle Akteure diese Möglichkeiten bis-
oder kritischeres Wissen aufbauen, eine gemeinsam konstru- her oftmals nur unzureichend ausschöpfen. Im Unterricht
ierte, externale Wissensbasis entwickeln und wichtige soziale wird häufig noch in tradierten und wenig produktiven
und gesellschaftliche Handlungskompetenzen wie argumen- Mustern kommuniziert. Die Unterrichtsforschung weist
tative Kompetenzen erwerben. Auch wenn es unterschied- darauf hin, dass Lehrkräfte hier vielfach wirksame Akzen-
liche Erklärungsansätze zum Phänomen der gemeinsamen te setzen können. Werden Lehrziele klar artikuliert, was,
Wissenskonstruktion gibt (s. Fischer 2002), lassen sich doch mit wem und zu welchem Zweck im Rahmen eines Inter-
aktionssettings gelernt werden soll? Wissen Schülerinnen
21 zwei wesentliche Elemente herausarbeiten: das Zusammen-
und Schüler, dass eine Beteiligung von ihnen erwartet,
spiel von argumentativem Diskurs (Kommunikation) und
Kognition (Elaboration und Reflexion). ihnen dafür aber auch die Möglichkeit eingeräumt wird
Zwei Projekte, die an diese Elemente anknüpfen und zum und ihre Ideen und Fragen wesentlich zum Unterrichts-
Ziel haben, Interaktionen zwischen (zukünftigen) Lehrperso- geschehen beitragen? Ist die Erwartung an aktives Zu-
nen zu schulen, möchten wir im Folgenden vorstellen. Ein hören als die Verantwortlichkeit jedes einzelnen geklärt?
erstes Projekt zielt darauf, die Kommunikations- und Ar- Werden Frage- und Feedbackverhalten gezielt eingesetzt
gumentationsfähigkeit als Voraussetzung erfolgreicher Ko- und Voraussetzungen für einen schülerzentrierten Dia-
Konstruktion von Wissen bei Lehramtsstudierenden zu stär-
Literatur
435 21
6. Welche Rolle spielen Schülerfragen im aktuellen
log geschaffen? Diese und andere Fragen sollte sich eine Unterricht und welche Konsequenzen lassen sich
Lehrkraft in der Reflexion des eigenen Unterrichts stellen, daraus ziehen?
um die Qualität von Interaktionen mit ihren Schülerin- 7. Was sind typische Dynamiken in Lehrer-Eltern-
nen und Schülern zu sichern. Auch in Gesprächen mit Gesprächen und wie kann man diesen produktiv
Eltern geht es für Lehrkräfte darum, Kommunikation zu begegnen?
nutzen, nicht nur um die anstehenden Probleme zu ana- 8. Welche unterschiedlichen Formen der Lehrerkoope-
lysieren, sondern genauso, um positive Beziehungen mit ration werden in der Forschung unterschieden und
den Eltern herzustellen. Auf der Basis einer tragfähigen warum sind intensivere Formen in der Praxis selten zu
Beziehung können beide Seiten gemeinsam Verantwor- beobachten?
tung übernehmen und Schülerinnen und Schüler in ih- 9. Welche Hinweise bzw. Studien sprechen dafür,
rer Entwicklung stärken. Nicht zuletzt spielt gelungene dass gelingende, professionelle Kommunikation im
Kommunikation in der Zusammenarbeit der Lehrkräfte Lehrberuf trainierbar ist?
untereinander eine bedeutende Rolle. Diese kommt vor 10. An welcher Trainingsmaßnahme zur professionellen
allem dann zum Tragen, wenn die Zusammenarbeit über Kommunikation würden Sie gerne teilnehmen und
den gelegentlichen Austausch von Unterrichtmaterialen warum?
hinausgeht. Hier kann eine professionelle Kommunika-
tion die treibende Kraft für intensiven kollegialen Aus-
tausch sein, der eine gemeinsame Wissenskonstruktion
und letztlich auch Fortschritte in der Schulentwicklung Literatur
zum Ergebnis hat. Abschließend lautet die gute Nachricht
für alle angesprochenen Ebenen, dass die Kompetenz für Baile, W., Buckman, R., Lenzi, R., Glober, G., Beale, E., & Kudelka, A. (2000).
SPIKES—A Six-Step Protocol for Delivering Bad News: Application to
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sitäten und Fortbildungsinstituten arbeiten erfolgreich Bennewitz, H., & Wegner, L. (2015). „da hast du dich irgendwie gar nicht
mit Videoanalysen und simulierten Szenarien, um schu- gemeldet". Die Aushandlung von Verantwortungsübernahme in El-
lischen Praxissituationen schrittweise näher zu kommen. ternsprechtagsgesprächen. Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und
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?1. Soziale Interaktion und Kommunikation: Wie lassen Borko, H. (2004). Professional Development and Teacher Learning: Map-
sich beide Begriffe in Abgrenzung voneinander und in ping the Terrain. Educational Researcher, 33(8), 3–15.
Zusammenhang miteinander definieren? Können Sie Borko, H., Jacobs, J., Seago, N., & Mangram, C. (2014). Facilitating Video-
das an einem Beispiel verdeutlichen? Based Professional Development: Planing and Orchestrating Produc-
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436 Kapitel 21  Soziale Interaktion und Kommunikation

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439 22

Soziale Strukturen und Prozesse


Gisela Steins, Kristin Behnke und Anna Haep

22.1 Einleitung – 440

22.2 In der Klasse – 440


22.2.1 Strukturen – 441
22.2.2 Prozesse – 445

22.3 Einfluss auf Strukturen und Prozesse – 448


22.3.1 Einflussnahme aus machttheoretischer Sicht – 449
22.3.2 Einflussnahme aus Sicht der Psychologie der Überzeugung – 450

22.4 Außerhalb des Klassenzimmers – 452


22.4.1 Das Kollegium – 452
22.4.2 Die Eltern – 453

22.5 Grundlegende kritische Anmerkungen – 454

Verständnisfragen – 454

Literatur – 454

Kristin Behnke und Anna Haep werden in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019


D. Urhahne, M. Dresel, F. Fischer (Hrsg.), Psychologie für den Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55754-9_22
440 Kapitel 22  Soziale Strukturen und Prozesse

22.1 Einleitung Lektüre des Abschnitts sollte eine Schulklasse gut beschrie-
ben werden können. Die Verhaltensweisen einer Gruppe von
In diesem Kapitel werden Kenntnisse vermittelt, welche für Lernenden kann besser verstanden werden, wenn bekannt
den entwicklungsförderlichen Umgang mit Lernenden wich- ist, wie die Gruppe funktioniert; die hierfür zentralen Pro-
tig sind. Neben der Fähigkeit zum Unterrichten (Fachkennt- zesse werden in 7 Abschn. 22.2.2 eingeführt. Dann kann die
nisse, Instruktionen, Herstellung von Lernarrangements und Gruppe auch besser gesteuert werden. Im Sinne eines funk-
Material, Bewerten, Fachdidaktik und fachwissenschaftliche tionierenden Classroom Managements ist die Steuerung, der
Expertise) und den intrapsychischen Voraussetzungen für konstruktive Umgang mit den Lernenden als Gruppe, wich-
den Lehrberuf nennt Dollase (2012) zwei weitere wichtige tig (Dollase 2012; Steins, Behnke & Haep 2015). Die hierfür
Fähigkeiten von Lehrkräften, die Gegenstand dieses Kapi- relevanten Kenntnisse werden in 7 Abschn. 22.3 erläutert und
tels sein werden: die Fähigkeit zur Gruppenführung und die sind der Forschung zum sozialen Einfluss entnommen.
Fähigkeit zur Beeinflussung anderer Menschen. Beide Fä-
higkeiten bedürfen grundlegender Kenntnisse über Gruppen Von sozialem Einfluss spricht man, wenn ein Individuum
und deren Beeinflussung. Gruppen und Beeinflussung sind seine Meinungen, Einstellungen und sein Verhalten durch
zentrale Themen sozialpsychologischer Forschung, sodass in die Einwirkung anderer Individuen (und Gruppen von
diesem Kapitel Erkenntnisse der sozialpsychologischen For- Individuen) ändert (nach Wirtz 2014, S. 445).
schung und ihrer Anwendungen auf Schule und Unterricht
eingebracht werden.
Der Beitrag endet mit der Beschreibung von gruppendy-
namischen Prozessen im Kollegium und den Einflüssen der
Sozialpsychologie ist eine Disziplin der Psychologie, die
Familie, insbesondere auf die Entwicklung des Selbstkonzep-
sich mit den Ursachen und Wirkungen von Interaktionen
tes von Heranwachsenden. Am Ende des Beitrages sollten
zwischen Menschen beschäftigt (Herkner 2008). Men-
die Lesenden ein Basiswissen davon erworben haben, wie
schen haben aber nicht nur einen Einfluss auf andere
durch gegenseitige Beeinflussung von Individuen in Gruppen
Menschen, wenn diese anwesend sind, sondern mensch-
sich auch die Individuen verändern und Normen entstehen,
liche Einflussnahme formt das Selbstkonzept einer Person
die wahrnehmungsleitend und verhaltensorganisierend sind,
(Allport 1920). So ist Sozialpsychologie „das wissenschaft-
und schließlich, wie dieser Einfluss gesteuert werden kann.
liche Studium der Art und Weise, in der Gedanken, Gefühle
Es sei betont, dass Theorien, die sich mit sozialem Ein-
und Verhalten des Menschen durch die tatsächliche oder
fluss beschäftigen, immer innerhalb eines ethisch vertret-
vorgestellte Anwesenheit anderer beeinflusst werden.
baren Rahmens zu verstehen und anzuwenden sind. Die
Sozialpsychologen sind daran interessiert zu verstehen,
folgenden Erkenntnisse sind innerhalb des Schulkontextes
wie und warum das soziale Umfeld Gedanken, Gefühle
selbstverständlich so zu verwenden, dass sie einem guten Un-
und Verhaltensweisen des Individuums formt“ (Aronson,
terricht dienen, ein entwicklungsunterstützendes Klima her-
Wilson & Akert 2008; S. 22).
stellen und entwicklungsförderliche Bedingungen schaffen,
die es Schülerinnen und Schülern ermöglichen, als mündige
Schule und Unterricht kann als ein Ort gesehen werden, Bürgerinnen und Bürger in der Welt zu handeln.
in dem Gruppen von Lernenden zusammenkommen und ge-
steuert werden. Jede Gruppe, so auch jede Klasse, jede Familie
und jedes Kollegium, ist in vielerlei Hinsicht einzigartig. Alle 22.2 In der Klasse
Gruppen lassen sich aber durch bestimmte Strukturmerkma-
le beschreiben: Gruppen entwickeln eine Struktur, die durch Schulklassen werden meistens aus einer zufälligen Gruppe
Normen, Rollen und Beziehungen beschrieben werden kann von Schülerinnen und Schülern zusammengesetzt. Es kann
(Sherif & Sherif 1956, S. 144). jedoch auch sein, dass einige von ihnen schon untereinander
in Kontakt stehen. Sieht man die Klasse als eine Gruppe, so
stellt man fest, dass es in dieser Gruppe unter den Gruppen-
„Eine Struktur ist der formale Aufbau von Ordnungsver-
mitgliedern unterschiedliche Grade an Kontakt und Intimität
hältnissen in einem Zusammenhang.“ (Kaminski 2014,
gibt. Dies ist charakteristisch für die Dynamik in einer Grup-
S. 1614–1615). Menschliche Äußerungen und Verhaltens-
pe, sowie die Tatsache, dass es mindestens ein Mitglied gibt,
weisen sind keine isolierten Einzelerscheinungen, sondern
das die Gruppe leitet (Forsyth 2010). Zwischen den Schü-
stehen in einem systematischen Zusammenhang, der ihre
lerinnen und Schülern finden Interaktionen statt. Diese In-
Struktur bestimmt. Eine Struktur ist also durch die Rela-
teraktionen können aufgaben- oder beziehungsbezogen sein,
22 tionen zwischen ihren Strukturmerkmalen charakterisiert.
sowie beides gleichzeitig.
Gruppen aus Individuen können daher durch ihre soziale
Das Verhalten der einzelnen Mitglieder innerhalb einer
Struktur beschrieben werden.
Gruppe unterscheidet sich häufig von dem Verhalten, wel-
ches die Mitglieder außerhalb der Gruppe zeigen. Hierbei
In 7 Abschn. 22.2.1 werden die wichtigsten Strukturmerk- spielen die Gruppennormen ein zentrales Thema. Wenn es in
male einer Gruppe anhand einer Schulklasse erläutert. Nach einer Gruppe, wie einer Klasse, keine verbindlichen Normen
22.2  In der Klasse
441 22
und kein hohes Verantwortungsgefühl gegenüber den eige- Erwartungen, Werte, Ansprüche) werden in der gruppendy-
nen individuellen und auch kollektiven Produktivitätsprozes- namischen Forschung als soziale Normen bezeichnet. Nor-
sen gibt, kommt es zu Schwierigkeiten (Gollwitzer & Schmitt men entwickeln sich in einer Gruppe notwendigerweise; des-
2009). Bei einer Klasse ist dies eine besondere Herausfor- wegen ist es wichtig, als Lehrkraft darauf zu achten, dass die
derung, da es sich hierbei um eine große Gruppe handelt. Normen einer Klasse entwicklungsförderlich sind, bestehen-
Ein weiteres Charakteristikum einer Gruppe ist das gemein- de Normen daraufhin zu prüfen und sie gegebenenfalls zu
same Ziel. Eine Klasse hat nicht unbedingt ein solches Ziel: verändern.
Sie bekommt zu Schuljahresende keine Kollektivnote. Jeder
Schüler und jede Schülerin wird individuell benotet und ist Normen sind Regeln, die sich auf Verhalten, Emotionen
hierfür individuell verantwortlich. Als ein gemeinsames Ziel und Kognitionen beziehen und in Gruppen einen
einer Klasse kann die Herstellung einer produktiven Lernat- gewissen Verbindlichkeitsgrad haben. Präskriptive
mosphäre angesehen werden, mit welcher der Schulbesuch Normen beinhalten Vorschriften und Anweisungen,
motivierender wird und ohne die die Schülerinnen und Schü- proskriptive Normen Verbote und Sanktionen (nach Six
ler ihr individuelles Ziel nur schwerlich erreichen können 2014, S. 1177).
(Steins, Behnke & Haep 2015).

Im Fokus: Die Schulklasse als Gruppe Normen sind von Gruppe zu Gruppe unterschiedlich. In
einer Peergruppe gelten in der Regel andere Normen für Be-
Eine Schulklasse ist möglicherweise eine ganz besondere wertungen und Verhalten als in einem Elternhaus oder in
Art von Gruppe, die es außerhalb der Schule nicht gibt: der Lehrerschaft. Individuen verfügen in diesem Sinne also
„Pseudogruppen, in der alle ein individualistisches Ziel über ein Bündel unterschiedlicher Normen, die je nach Situa-
verfolgen und in der es nur ausnahmsweise wie in der tion und den entsprechenden Anforderungen aktiviert wer-
Schule (z. B. bei Projektwochen, Schulaufführungen den und verhaltensleitend sind. Mit der Entwicklung ihrer
und Fußballturnieren) eine echte Gruppe mit positiver Subjektwerdung werden Personen sich dieser kontextgebun-
Abhängigkeit gibt, sind im Berufsleben äußerst selten“ denen Anforderungen zunehmend stärker bewusst und ver-
(Dollase 2014, S. 53). suchen, sich danach auszurichten (Berger & Luckman 1998).
Echte Gruppen haben in der Regel ein Kollektivziel,
welches gemeinsam erreicht werden kann; Pseudogruppen Im Fokus: Selbstaufmerksamkeit
haben kein solches Kollektivziel. Deswegen ist es in der
Schule wichtig, kollektive Ziele zu etablieren: So kann Selbsterkennen, das Erkennen der eigenen Person als
das Klassenklima und der Zusammenhalt der Gruppe Voraussetzung zu dieser Subjektwerdung, entwickelt
verbessert werden. Kooperative Lernformen haben sich hier sich ungefähr um das zweite Lebensjahr (Bischoff-Köhler
als besonders unterstützend erwiesen, sowohl im Vergleich 1989). Selbsterkennen ist die Voraussetzung, sich selbst
zu kompetitiven Lernformen als auch im Vergleich zu von anderen Personen unterscheiden zu können. Zur
individuellen Lernformen (Hattie 2009, S. 214). Schülerinnen Selbsterkenntnis entwickelt sich parallel die Fähigkeit, sich
und Schüler lernen nicht nur mehr, sondern zeigen selbst als Objekt betrachten zu können, d. h. die eigene
auch positiveres soziales Verhalten. Ihre Peers sind die Aufmerksamkeit auf die eigene Person zu lenken (Duval
stärkste und vertrauenswürdigste Quelle von Feedback für & Wicklund 1972; Duval & Silvia 2009). Alle Reize, die
Schülerinnen und Schüler (Nuthall 2007); deswegen nutzen Aspekte der eigenen Person aus einer äußeren Perspektive
transparente Strukturen des Lernens, wie kooperative bewusstmachen, lenken die eigene Aufmerksamkeit auf sich
Lernformen, welche die Schulklasse als Gruppe orientiert, selbst. Wenn beispielsweise ein Schüler von einer Lehrkraft
den Schülerinnen und Schülern bei ihrer Entwicklung. beobachtet wird, dann wird auch Selbstaufmerksamkeit
ausgelöst. Der Schüler sieht sich dann selber durch die
Augen des Lehrers. Der Lehrer muss den Schüler nicht
tatsächlich beobachten. Der Glaube, beobachtet zu werden,
22.2.1 Strukturen reicht aus, um selbstaufmerksam zu werden.
Im Zustand der Selbstaufmerksamkeit wird die in der
In diesem Abschnitt werden nun die wichtigsten Merkmale Situation aktivierte Norm zugänglich.
eingeführt, mit denen die Struktur einer Gruppe beschrie- Es ist wichtig zu verstehen, dass Individuen Bündel von
ben werden kann: Normen, Rollen, Statushierarchien und Normen und Standards internalisiert haben, die sich
Mehrheitsverhältnisse. Zum Ende des Abschnitts wird ein vielfältig widersprechen können. Hinweise aus der im
konkretes Verfahren zur Beschreibung von Gruppenstruktu- Bewusstsein repräsentierten Situation aktivieren einzelne
ren vorgestellt. Normen. Wenn eine Norm aktiviert wurde, wird das eigene
Verhalten mit dieser Norm abgeglichen. Die Diskrepanzen
1 Normen zwischen Realität und Norm werden deutlich. Da Normen in
Wie Individuen sich in Gruppen verhalten, wird durch die der Regel idealistisch formuliert sind, erleben Individuen
Standards dieser Gruppe bestimmt. Diese Standards (auch
442 Kapitel 22  Soziale Strukturen und Prozesse

negativen Charakter, wenn sie mit den schulischen Zielen


häufiger negative Diskrepanzen als positive Diskrepanzen kollidieren.
zwischen dem, wie sie sind, und dem, wie sie sein sollten.
Als Folge davon ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass der Im Fokus: Neuzugang in der Klasse
Selbstwert eines selbstaufmerksamen Individuums sinkt.
Ein sinkender Selbstwert ist in der Regel von Frustration Besonders sensibel ist seitens der Lehrkräfte zu beachten,
oder Angst begleitet. wie Schülerinnen und Schüler mit ihren Rollen umgehen,
Individuen reagieren unterschiedlich auf negative Diskre- wenn sie neu in die Klasse kommen. Diese Situation ist
panzen. Das Ziel ist es in jedem Fall, den Selbstwert zu für viele Schülerinnen und Schüler stressreich (Moreland
steigern und die unangenehmen Emotionen zu reduzie- & Levine 2002). Hierbei ist es hilfreich, wenn folgende
ren (Tesser & Campbell 1982; Tesser 2000). Das kann mit Aspekte mit der Klasse im Vorhinein besprochen werden,
unterschiedlichen Strategien erreicht werden: um eine positive Gruppendynamik aufrechtzuhalten: Neuen
4 Die eigene Leistung kann gesteigert werden, um der Schülerinnen und Schülern werden die Klassenregeln
Norm näher zu kommen. vorgestellt; wichtige Rituale und Abläufe des Schulalltags
4 Die Norm kann verdrängt werden, indem der Zustand werden erklärt (z. B. Arbeitsabläufe, Umgangsweisen) und
der Selbstaufmerksamkeit zerstreut wird. es wird ggf. ein Aufnahmeritual durchgeführt (z. B. ein neues
4 Das Feld kann ganz vermieden werden. Klassenfoto).
Kommt es zu positiven Diskrepanzen, hat also ein Individu- Hierbei ist zu bedenken, dass zum einen die Zeit, welche
um Erfolg, dann bleibt es gerne im Feld des Geschehens, in die Einführung eines neuen Mitglieds investiert wird,
denn der erhöhte Selbstwert fühlt sich gut an; das Indi- nicht verloren, sondern eine hilfreiche Basis für die weitere
viduum ist stolz und bewundert sich selbst. Allerdings Zusammenarbeit ist und zum anderen, eine regelmäßige
besteht die Gefahr, dass das Individuum sich, wie man Wiederholung der genannten Themenbereiche für die
umgangssprachlich sagt, „auf seinen Lorbeeren ausruht“. Schülerinnen und Schüler der Klasse sinnvoll ist und die
Die selbstaufmerksamkeitstheoretischen Überlegungen Bedeutung dieser hervorhebt.
und Befunde zeigen sehr deutlich, dass die aktivierten
Normen bei einem Individuum die Motivation auslösen
können, sich gemäß seiner selbst wahrgenommenen 1 Statushierarchien
Fähigkeiten entsprechend zu verhalten, sodass es seinen Auch ist es wichtig zu beachten, dass Rollen in eine Status-
Selbstwert mindestens erhalten kann. hierarchie eingebettet sind.
Neben der Verteilung von Rollen innerhalb der Klasse hat
auch der Status von Gruppenmitgliedern Einfluss auf die Pro-
Rolle zesse innerhalb des Klassenzimmers. Nur sehr selten haben in
Eine Rolle beinhaltet die Summe der von einem Individu- Gruppen alle Mitglieder einen ähnlich hohen Status (Forsyth
um erwarteten Verhaltensweisen, auf die das Verhalten 2010). Ein anschauliches Beispiel bietet hier der Sportun-
anderer Gruppenmitglieder abgestimmt ist (nach Wirtz terricht: Zwei Schüler sollen Mitspieler für ein Fußballteam
2014, S. 1434). wählen. Es ist nun sehr wahrscheinlich, dass einige Schü-
ler bevorzugt ausgewählt werden und wiederum andere erst
zum Schluss. Ein Kriterium der auswählenden Schüler könn-
In nahezu allen Gruppen übernehmen die Mitglieder be- te die langjährige Vereinsmitgliedschaft einiger Schüler sein.
stimmte Rollen (Forsyth 2010). Unterschieden werden auf- Berger, Cohen und Zelditch (1972) haben die Informatio-
gabenbezogene und sozio-emotionale Rollen. Aufgabenbe- nen bezüglich des Status in zwei Kategorien unterteilt. Das
zogene Rollen sind häufig offiziell zugeteilte Rollen, die mit Beispiel aus dem Sportunterricht würde zu der spezifischen
verschiedenen Funktionen verknüpft sind. Im Rahmen der Statusinformation zugeordnet werden. Die andere Kategorie
Etablierung und Aufrechterhaltung einer positiven Lernat- bilden die diffusen Informationen. Dies sind zentrale Merk-
mosphäre in der Klasse ist es relevant, dass mit den Schüle- male (z. B. Alter, Geschlecht, ethnischer Hintergrund), die
rinnen und Schülern transparent die Ämterübernahme und mit weiteren Zuschreibungen hinsichtlich bestimmter Fä-
die damit verknüpften Erwartungen besprochen werden. Es higkeiten assoziiert werden. Diese diffusen Informationen
ist zu klären, wie die entsprechende Rolle definiert wird beeinflussen die Statuswahrnehmung von Schülerinnen und
und welches Verhalten damit verknüpft ist (z. B. Klassen- Schülern. Beispielsweise kann die Ansicht einer Gruppe, dass
sprecherIn). Dadurch wird versucht, Klarheit zu schaffen Mädchen in Mathematik schlechter sind als Jungen, Einfluss
und zu verhindern, dass es zu unproduktiven Prozessen und auf den Selbstwert und die eigene Rollenwahrnehmung von
22 Abläufen in der gesamten Gruppe kommt (Forsyth 2010). Mädchen haben.
Sozio-emotionale Rollen erfüllen das Bedürfnis einer Grup-
pe nach nicht aufgabenbezogenen Zielen. Der Klassenclown1 Zusammenhalt in Arbeitsgruppen
unterhält die Gruppe, die „Versteherin“ erfüllt das sozio- Ein weiteres strukturelles Merkmal einer Gruppe ist der Zu-
emotionale Bedürfnis nach Intimität, die Anführer setzen die sammenhalt und das damit zusammenhängende Klima, das
Ziele ihrer Cliquen durch, usw. Rollen haben dann einen in einer Arbeitsgruppe herrscht. Beides kann weitreichende
22.2  In der Klasse
443 22
Folgen für das Verhalten der Gruppenmitglieder im Allge- uniformen führte zu unerwünschten Nebeneffekten, insofern
meinen sowie für die Leistung der gesamten Gruppe haben. die Schülerinnen und Schüler subjektiv ihre Sicherheit geringer
Der Grad der Kohäsion beschreibt den Grad des Zusam- einschätzten im Vergleich mit Schülerinnen und Schüler an
menhalts, der in einer Gruppe herrscht. Eine Reihe von Fak- Schulen ohne Uniformpflicht. Darüber hinaus begünstigten
toren determiniert, ob die Kohäsion in einer Gruppe als hoch Schuluniformen in keiner Altersstufe den Lernfortschritt der
oder niedrig bezeichnet werden kann. So ist Kohäsion bei- Schülerinnen und Schülern; in den weiterführenden Stufen kam
spielsweise abhängig von der Attraktivität der Mitglieder der es sogar zu negativen Effekten (Brunsma 2004). Effekte auf das
Gruppe untereinander (Lott & Lott 1965) sowie der Anzie- Sozialverhalten gab es nicht. Die gleichen Ergebnisse wurden
hungskraft, die die Gruppe als Ganzes für ihre Mitglieder hat auch für die Wirkungen von Dresscodes gefunden. Der Zusam-
(Thye, Yoon, & Lawler 2002). Auch die Werte und Normen menhalt einer Gruppe wird wirkungsvoller durch ein gemein-
einer Gruppe werden in der Regel von einem Individuum sames sinnstiftendes Ziel erhöht. Dickhäuser, Lutz, Wenzel und
übernommen, wenn es sich dieser Gruppe zugehörig fühlt Schöne (2004) fanden in Stichproben mit Schülerinnen und
(Bollen & Hoyle 1990). Schülern an deutschen Schulen jedoch auch positive Wirkun-
Ein hoher Zusammenhalt in einer Arbeitsgruppe ist in gen auf das Sozialklima, insbesondere bei älteren Schülerinnen
vielerlei Hinsicht wünschenswert. Stellt man sich beispiels- und Schülern, betonen aber auch, dass diese positiven Wirkun-
weise vor, dass man eine Klasse in Gruppen mit jeweils gen innerhalb eines komplexeren Gefüges zu verstehen sind.
fünf Schülerinnen und Schülern aufteilt und diese Aufteilung
nach der Sympathie der Schülerinnen und Schüler vornimmt1 Mehrheitsverhältnisse
(7 Im Fokus: Einsatz von soziometrischen Methoden). Die Bei Prozessen der Anpassung an Normen stellen die Mehr-
Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass hier der Zusammenhalt heitsverhältnisse einen wichtigen Einflussfaktor dar: Sind die
groß und die Motivation der Schülerinnen und Schüler zur meisten anderen Gruppenmitglieder einer Meinung, die von
gemeinsamen Bearbeitung der Aufgabe dadurch ebenfalls einem Individuum allein nicht vertreten wird, erhöht sich
hoch ist. Ein hoher Zusammenhalt in Gruppen kann posi- der Konformitätsdruck auf das Individuum, denn es steht
tive Folgen für die Gruppenproduktivität haben, wenn eine als Minderheit einer Mehrheit gegenüber. Der Einfluss von
leistungsbejahende Norm internalisiert wurde. Mehrheiten auf Minderheiten ist enorm, da Wenige sich aus
Allerdings kann sich eine hohe Kohäsion auch leistungs- verschiedensten Gründen Mehreren unterlegen fühlen. Der
mindernd auswirken. Das ist dann der Fall, wenn in der Einfluss von Majoritäten (Mehrheiten) begünstigt Prozes-
Gruppe Normen einer Leistungsvermeidung als positiv an- se der Compliance (Folgebereitschaft) bei der abweichenden
gesehen werden (Forsyth 2010). In einer Arbeitsgruppe etwa, Minderheit: Man fügt sich der Mehrheit aufgrund ihrer zah-
in der fünf Schülerinnen ein Langzeitprojekt bearbeiten sol- lenmäßigen Übermacht. Besonders wenn eine Minderheit
len, befinden sich zwei meinungsführende Schülerinnen, die nicht nur eine numerische Minorität darstellt (also zahlen-
die Arbeit verweigern und diese Haltung als besonders „cool“ mäßig unterlegen ist), sondern auch sozial einer statusschwä-
propagieren. Es besteht die Möglichkeit, dass die restlichen cheren Kategorie angehört, kann dies dazu führen, dass sie
drei Schülerinnen in Opposition zu dieser Haltung gehen besonders wahrscheinlich zu Compliance neigt.
und die beiden Schülerinnen doch noch zur Arbeit moti-
vieren. Besteht in der Gruppe jedoch insgesamt eine hohe Compliance (Folgebereitschaft) liegt vor, wenn ein
Kohäsion, so ist davon auszugehen, dass die Norm, Leistungs- Individuum eine Meinung äußert, die der öffentlichen
verweigerung sei „cool“, diejenige Norm überlagert, die für Meinung entspricht, nicht aber seiner eigenen Meinung.
alle Arbeitsgruppen im Kontext Schule gilt. Dies könnte dazu Konversion liegt vor, wenn die eigene wahre Meinung der
führen, dass die drei Schülerinnen sich anpassen, insbeson- öffentlich geäußerten Meinung entspricht.
dere, wenn es ihnen wichtig ist, zu den meinungsführenden
Schülerinnen zu gehören, und sie die Zugehörigkeit als be-
sonders attraktiv erachten. Im Fokus: Konformitätsarten – Compliance und Konversion
Die Beispiele zeigen, dass das Wissen über den Zusam-
menhalt von Gruppen relevant für Lehrkräfte ist, um sich Prozesse der Anpassung beschäftigen die Forschung zur
über die Zusammensetzung von Arbeitsgruppen vorab Ge- Konformität. Mit einem klassischen Experiment sollen
danken zu machen, und auf diese Weise möglicherweise dazu grundlegende Prozesse der Anpassung dargestellt werden.
beitragen zu können, die sozialen Strukturen sowie die Leis- Individuen können sich auch bei physikalisch objektivierba-
tungsbereitschaft beim Arbeiten in Gruppen positiv zu beein- ren Tatsachen dem falschen Urteil der Gruppe anschließen.
flussen. Asch war einer der ersten Forscher, der dieses Phänomen
experimentell nachwies (Asch 1940). In seiner Versuchsan-
Studie: Zusammenhalt durch Schuluniformen? ordnung mussten die Versuchsteilnehmer entscheiden, ob
Gruppenzusammenhalt wird manchmal zu erhöhen versucht, sie sich dem Urteil der Mehrheit der Gruppe anschlossen
indem gemeinsame äußere Merkmale betont werden. Kann oder als numerische Minderheit ein abweichendes Urteil
in der Schule durch das Tragen einer Schuluniform der Zu- äußerten (Asch 1955). Asch sah folgende Aufgabe für die
sammenhalt erhöht werden? Brunsmas Metaanalyse für den Versuchsteilnehmervor: Sie bekamen eine Linie gezeigt und
nordamerikanischen Raum zeigt: Die Einführung von Schul-
444 Kapitel 22  Soziale Strukturen und Prozesse

sollten entscheiden, welche von drei weiteren Linien mit 4 Eine neue Sitzordnung wird erstellt, um eine positive
der zuerst gezeigten Linie identisch war. Es geht hier also Arbeitsatmosphäre zu schaffen.
um die Wahrnehmung einer physikalisch exakt messbaren 4 Eine Lehrkraft möchte sich einen generellen Überblick
Tatsache. über die Strukturen zwischen den Schülerinnen und
Asch konnte zeigen, dass in einer Kontrollgruppe diese Schülern verschaffen, um gegebenenfalls kritische
Einschätzung sicher und stets richtig getroffen werden Rollen (z. B. Isolierte) frühzeitig zu erkennen und
konnte. In seiner Experimentalgruppe jedoch, in der die präventiv arbeiten zu können.
Versuchsteilnehmerzuvor die fingierte falsche Einschätzung Der Einsatz von Soziogrammen ist für Lehrende gut
anderer Personen gehört hatten, schlossen sich viele geeignet, um gruppendynamische Prozesse innerhalb ihrer
Versuchsteilnehmer dem falschen Urteil an. Manche der Klasse zu erkennen. Die Erkenntnisse aus dem Soziogramm
Versuchsteilnehmer gingen sogar soweit, dass sie sich sind seitens der Lehrenden sehr sensibel zu behandeln. Es
selber davon überzeugten, dass ihr Urteil falsch war verbietet sich, die Ergebnisse an die Klasse weiterzugeben,
und sie sich geirrt haben mussten. Sie nahmen also das da dies zu Stigmatisierungen bestimmter Schülerinnen und
Urteil der Gruppe als ihre eigene Überzeugung an; ihre Schüler führen kann (Steins, Behnke & Haep 2015).
wirkliche Einstellung entsprach ihrer öffentlich geäußerten Es ist zu beachten, dass die Ergebnisse eines Soziogramms
Meinung. Diesen Prozess nannte Asch Konversion. Andere nicht als ein feststehendes Modell zu verstehen sind, son-
Versuchsteilnehmer waren sich darüber bewusst, dass dern Gruppen einer Dynamik, also Veränderungsprozessen,
ihre Wahrnehmung korrekt war, sagten aber genau das, unterworfen sind (Forsyth 2010). Der Einsatz von soziome-
was die anderen Gruppenmitglieder gesagt hatten. Ihre trischen Methoden ist als ein Versuch anzusehen, sich der
innere Überzeugung stimmte also mit der nach außen aktuellen Realität anzunähern.
vorgebrachten Meinung nicht überein. Asch nannte diesen Die soziometrische Methode wurde von Jacob Levy
Prozess Compliance. Sowohl Compliance als auch Konversion Moreno (1937) entwickelt. Für eine Klasse wären folgende
sind Prozesse der Konformität. Diese Prozesse gestalten Vorgehensweisen denkbar:
grundlegend die Beziehungen zwischen den Individuen in 1. Befragung: Neben wem möchtest du (nicht) sitzen?
Gruppen. a) Es können beide Fragen gestellt werden oder nur
eine hiervon.
b) Es kann eine Anzahl von Nennungen festgelegt
Doppelminoritäten, sozial und numerisch in der Minder- werden.
heit, haben es in der Regel schwer, eine Mehrheit von ihrer 2. Erstellen eines Soziogramms: Ein Diagramm über die
Meinung zu überzeugen und gehen wahrscheinlicher mit der Beziehungen zwischen den Gruppenmitgliedern wird
Meinung der Mehrheit konform (Maass, Clark & Haberkorn angefertigt. Jedes Mitglied wird als Kreis symbolisiert.
1982). Schaffen es Minderheiten jedoch andere zu überzeu- Über die Verwendung eines Pfeils wird das Gefühl für
gen, dann begünstigen sie wahrscheinlich Konversion. Denn jeden über den anderen dargestellt. Dieses Diagramm
bevor eine Mehrheit sich einer Minderheit anschließt, muss wird in ein Muster übertragen: Kreise mit häufigen
sie von deren Argumenten zutiefst überzeugt sein. Minder- Pfeilen rücken in die Mitte, die mit selteneren Kreisen an
heiten können also eine Überzeugungsänderung herbeifüh- die Peripherie. Personen sind durch Kreise dargestellt.
ren. So können Minderheiten sogar einen stärkeren Einfluss Die Ablehnung oder der Wunsch als Sitznachbar kann
ausüben als Mehrheiten (Moscovici 1985). Zu beachten ist wahlweise durch Pfeile versus Linien dargestellt werden
hier, dass Lehrkräfte eine solche Doppelminorität in Relation oder mit Pfeilen, die mit einem  bzw. C markiert sind.
zu der Schulklasse darstellen. In 7 Abschn. 22.3 wird beschrie- 3. Die Konfiguration der Gruppe wird identifiziert und die
ben, wie dieser Status genutzt werden kann, um Schülerinnen Position jedes Gruppenmitglieds in der Gruppe.
und Schüler zu motivieren. 4. Dieses Ergebnis bleibt anonym; es darf nicht publik
gemacht werden.
Im Fokus: Einsatz von soziometrischen Methoden 5. Die Lehrkraft kann alternativ Schülerinnen und Schüler
in unterschiedlichen Situationen beobachten oder aber
Die Strukturen innerhalb von Gruppen haben Auswirkungen ihre Beobachtungen mit ihrer Befragung kombinieren.
auf den Lehr-/Lernkontext. Eine Möglichkeit zur Identifizie- Anhand des dargestellten Beispiels (. Abb. 22.1) kann
rung von Rollen, Statushierarchien und Zusammenhalt in man sehen, dass man jedem Schüler und jeder Schülerin
einer Klasse ist der Einsatz von soziometrischen Methoden. beispielsweise einen Kreis zuordnet und anhand von Pfeilen
Der Einsatz von Soziogrammen kann unterschiedliche und gegebenenfalls weiteren Symbolen die Beziehung
22 Gründe haben, beispielsweise: unter den Schülerinnen und Schülern darstellen kann. In
4 Eine neue Lehrkraft möchte sich einen Überblick über dem vorliegenden Beispiel kann man erkennen, dass es
die gruppendynamischen Strukturen innerhalb der zwischen einigen Schülerinnen und Schülern wechselseitige
Klasse machen. Interaktionen (Lisa-Samira; Mohammed-Kemal-Simon) und
22.2  In der Klasse
445 22
der Richtigkeit ihrer Meinung unsicher sind, nehmen sie so-
von anderen Schülerinnen und Schülern einseitige Kom- ziale Vergleiche vor. Festinger unterscheidet zwischen der
munikationsansätze gibt (Simon-Lukas; Kemal-Lukas; physikalischen und der sozialen Realität. Aspekte der physi-
Kemal-Samira; Samira-Mohammed). Zu einem Schüler kalischen Realität sind häufig objektivierbar. Den Aspekten
(Tim) gibt es gar keine Pfeile. Des Weiteren sind die Kreise der sozialen Realität hingegen fehlen in der Regel Referenz-
unterschiedlich weit voneinander entfernt. Dies kann dazu kriterien für richtig und falsch. Hier schließt man sich oft
genutzt werden, Nähe unter den Schülerinnen und Schülern der Meinung der Individuen an, die einem ähnlich und wich-
zu verdeutlichen. Auch wurde der Name von einem Schüler tig sind (Frey, Dauenheimer, Parge & Haisch 2001). Festinger
(Kemal) größer geschrieben als die Namen der Mitschüler, konnte beobachten, dass bei Meinungsverschiedenheiten in
um seine besondere Position innerhalb der Gruppe zu einer Gruppe deren Individuen heftig diskutierten. Entwe-
verdeutlichen. der man einigte sich und gelangte zu einem Konsens darüber,
Die Position eines Schülers oder einer Schülerin innerhalb welche Meinung die richtige war. Dies stärkte die Identität
des Beziehungsgefüges hat Wirkung auf die Schullust der Gruppe; die einzelnen Individuen wurden mit Meinungs-
und Leistungsmotivation sowie auf das Verhalten in sicherheit versorgt. Oder aber, konnten die Individuen sich
der Klasse und im schulischen Alltag. Es ist jedoch zu nicht einigen, brach die Gruppe wahrscheinlicher auseinan-
beachten, dass dieses Verfahren nur eine Annäherung der bzw. abweichende Individuen wurden aus der Gruppe
an die Realität ist und den erkannten Rollen nicht mit ausgeschlossen. Diese Prozesse von Anstieg der Diskussion
Vorurteilen gegenüberzutreten ist. beim Ringen um das Finden einer gemeinsamen sozialen
Nach Forsyth (2010) kommen folgende Typen in den Realität und Ausschluss bei Abweichung von einer Meinung
meisten Gruppen vor: sind umso wahrscheinlicher, je zentraler das Thema für die
4 Beliebte/Stars (sehr beliebt; hoher Status): Hier wird Identität der Gruppe ist.
unterschieden zwischen beliebten (netten) und Soziale Vergleichsprozesse können also für die Bezie-
populären Schülerinnen und Schülern (von denen hung zwischen einem Individuum und einer Gruppe soziale
angenommen wird, andere finden sie nett; Dollase Konsequenzen nach sich ziehen, wenn es sich um wichtige
2012) Meinungen für die Gruppe handelt. Individuen, die einer re-
4 Unbeliebte (geringer Status): Ausgestoßene, Zurückge- levanten Gruppenmeinung nicht zustimmen, laufen Gefahr,
wiesene aus der Gruppe ausgeschlossen zu werden. Ist einer Person
4 Isolierte (sehr seltene Auswahl dieser Personen): Sie die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe wichtig, dann kann dieser
werden nicht aktiv zurückgewiesen, sondern nicht Ausschluss als belastend erlebt werden und sie kann versu-
wahrgenommen chen, den Ausschluss durch Anpassung an die Gruppenmei-
4 Positive (wählen viele andere als Freunde aus) nung zu verhindern, also durch Compliance oder Konversion
4 Negative (wählen nur sehr wenige als Freunde aus) (Baumeister & Leary 1995).
4 Paare (wählen sich gegenseitig)
4 Cluster (bilden eine Subgruppe/Clique innerhalb der
großen Gruppe). 1 Soziale Vergleichsprozesse in Arbeitsgruppen
Die mit Hilfe eines Soziogramms herausgestellten Positionen Soziale Vergleichsprozesse, die Prozesse der Compliance und
innerhalb einer Gruppe bilden die Realität nicht immer der Konversion hervorrufen, finden dabei auch in oder zwi-
exakt ab, aber das Wissen kann helfen, Prozesse und schen Arbeitsgruppen innerhalb einer Klassengemeinschaft
Verhaltensweisen innerhalb einer Gruppe nachzuvollziehen. statt.
Um zu vermeiden, dass Compliance in Arbeitsgruppen
entsteht und die Einstellungen einiger meinungsführender
Schülerinnen und Schüler dominieren, ist es daher notwen-
22.2.2 Prozesse dig, immer auch Arbeitsphasen in Gruppenarbeiten einzu-
bauen, in denen Schülerinnen und Schüler die Gelegenheit
Die Strukturmerkmale einer Gruppe hängen mit verschie- haben, Sachverhalte allein zu durchdenken. Dies gilt insbe-
denen Prozessen zusammen, welche charakteristisch für die sondere, da Schülerinnen und Schüler in der Schule dazu
Dynamik in Gruppen sind. angeleitet werden sollen, sich zu kritisch hinterfragenden In-
In Gruppen spielt die Konstruktion einer gemeinsamen dividuen zu entwickeln. Hinsichtlich der Thematik der Com-
sozialen Realität eine entscheidende Rolle für das Verhal- pliance und Konversion empfehlen sich Methoden wie etwa
ten ihrer Individuen (Festinger 1954). Zur sozialen Realität das Think-pair-share, denn hierbei finden immer wieder auch
gehören alle Meinungen und Bewertungen von Aspekten ei- Arbeitsphasen statt, in denen Schülerinnen und Schüler zu-
ner physikalisch nicht messbaren Realität. Die Individuen in nächst ihr Wissen reaktivieren, Argumente für oder gegen
Gruppen diskutieren über Meinungen, die wichtig für die einen bestimmten Sachverhalt sammeln bzw. ihre Position zu
Wertestruktur einer Gruppe sind. Die Aspekte, die für eine einem bestimmten Thema allein und ohne Einfluss der Grup-
Gruppe zentral sind, sind Teil der individuellen und kollek- pe reflektieren. Think-pair-share ist eine kooperative Lern-
tiven Identität (Tajfel & Turner 1986). Festinger formulierte form. Die Begriffe bedeuten hier: Think – zuerst für sich allei-
hierzu eine systematische Theorie: die Theorie der sozialen ne arbeiten, also lesen, Notizen anfertigen, nachschlagen und
Vergleichsprozesse (Festinger 1954). Wenn Menschen sich nachdenken; Pair – dann die eigenen Ergebnisse in Partner-
446 Kapitel 22  Soziale Strukturen und Prozesse

. Abb. 22.1 Soziogramm einer


Gruppe. Hier sind die Wünsche
der Schülerinnen und Schüler als Simon Lukas
Tim
Pfeile dargestellt

Kemal

Mohammed

Lisa

Samira

oder Gruppenarbeit teilen und vertiefen; Share – die Arbeits- 4 Beliebige Aufgaben: Im Falle des beliebigen Aufgaben-
ergebnisse im Plenum vorstellen, vergleichen und vertiefen. typus entscheidet die Gruppe nach eigenen Kriterien,
Besonders relevant ist es, dass Lehrkräfte der Tatsache inwieweit die Beiträge einzelner Individuen in ein Grup-
Beachtung schenken, dass in Gruppen immer Beeinflussung penprodukt einfließen.
stattfindet und dies in der Planung des Unterrichts und der
Aufteilung von Arbeitsgruppen beachtet werden sollte. Ins- Die Aufstellung der Aufgabentypen verdeutlicht, dass nicht
besondere da sich Prozesse des sozialen Vergleichs sowie der nur die Gruppenstruktur selbst eine Rolle bei der Arbeit in
Konversion und Compliance nicht verhindern lassen, sollte Gruppen spielt. Aus den Ausführungen ergibt sich, dass kom-
die Lehrkraft in der Lage sein, diese Gruppendynamiken zu pensatorische und konjunktive Aufgaben am besten für eine
verstehen und zu reflektieren. Auch könnte das Wissen über Gruppenarbeit geeignet sind, weil sie den Gruppenmitglie-
derartige Prozesse explizit im Unterricht thematisiert und so- dern ein gemeinsames Ziel geben. Des Weiteren ist es eben-
mit auch von Schülerinnen und Schülern auf einer Metaebene falls relevant, dass sich Lehrkräfte bei ihrer Planung bewusst
reflektiert werden. machen, um welchen Aufgabentypus es sich bei eingesetzten
Aufgaben handelt und inwieweit dieser für eine erfolgreiche
Gruppenarbeit geeignet ist.
1 Aufgabentypen
Auch unterschiedliche Aufgabentypen spielen in diesem Im Fokus: Selbstaufmerksamkeit in Arbeitsgruppen
Kontext eine Rolle. Wenn Gruppenarbeit in der Schule ein-
gesetzt wird, so lässt sich häufig beobachten, dass nur einige Das Wissen über Prozesse der Selbstaufmerksamkeit im
Aufgaben für Gruppen geeignet sind. Kontext einer gelingenden Zusammenarbeit von und in
Fragen, die sich Lehrkräfte hinsichtlich von Aufgabenty- Arbeitsgruppen ist ein grundlegendes Handwerkszeug von
pen vorab zur Planung einer Gruppenarbeit stellen, sollten Lehrkräften. Ein Beispiel für die negativen Auswirkungen
unter anderem lauten, ob es bei der Bearbeitung der Aufga- von Gruppen, die aufgrund von Selbstaufmerksam-
be eher um Qualität oder Quantität geht, ob die Aufgabe in keitsprozessen und negativen Diskrepanzen nicht gut
kleinere Teile geteilt werden kann und inwieweit der gewählte zusammenarbeiten, ist das Folgende:
Aufgabentypus eine produktive Zusammenarbeit aller Grup- In einer Arbeitsgruppe arbeiten fünf Schüler unterschied-
penmitglieder verlangt (Forsyth 2010). In diesem Kontext licher Leistungsniveaus an einer Aufgabe, die sich jedoch
lassen sich nach Steiner (1972) fünf verschiedene Aufgaben- nur schwer aufteilen lässt. Hier erledigen die beiden besten
typen differenzieren. Schüler fast alles, ohne den weiteren Gruppenmitgliedern
4 Additive Aufgaben: Bei diesem Aufgabentypus erfolgt ei- die Chance zur Mitarbeit zu geben. Diese sind durch die
ne Lösung der Aufgabe durch die Addition der Leistungen bessere Leistung der anderen Schüler demotiviert und
der verschiedenen Gruppenmitglieder. finden keinen Zugang, um sich adäquat an der Aufgaben-
4 Kompensatorische Aufgaben: Diese Art der Aufgabe lösung zu beteiligen. Die Lehrkraft stellt dies fest und weist
kann dadurch gelöst werden, dass alle Meinungen bezie- die Gruppe darauf hin, dass alle sich gleichermaßen in die
hungsweise Einschätzungen zusammengelegt werden. Gruppenarbeit einbringen sollten. Dies aktiviert bei den
22 4 Disjunktive Aufgaben: Bei disjunktiven Aufgaben wird leistungsschwächeren Schülern Selbstaufmerksamkeit und
die Lösung eines Gruppenmitglieds durch die Gruppe eine negative Diskrepanz hinsichtlich der Norm „Ich sollte
ausgewählt. gute Leistungen bringen, um in diesem Fach eine gute Note
4 Konjunktive Aufgaben: Dieser Aufgabentypus kann nur zu erhalten“. Da eine Möglichkeit der Leistungserbringung
dadurch gelöst werden, dass alle Gruppenmitglieder sich unter den herrschenden Umständen nur eingeschränkt
einbringen und zur Lösung beitragen.
22.2  In der Klasse
447 22
Erleichterung erzielten: Bereits erlerntes und gut eingeübtes
gegeben ist, beginnen die Schüler nun, sich von dem un- Verhalten kann in der Gegenwart anderer Menschen leichter
angenehmen Gefühl der negativen Diskrepanz abzulenken, ausgeführt werden, wohingegen Verhalten, welches nicht ein-
indem sie stören und andere Gruppen von ihrer Arbeit geübt, besonders komplex oder gänzlich neu ist, bei Anwesen-
abbringen. heit vieler weiterer Personen weniger gut ausgeführt werden
Das Wissen über Phänomene der Selbstaufmerksamkeit kann; dies wird auch als soziale Beeinträchtigung bezeichnet.
kann von Lehrkräften auch zur Initiierung produktiver Dy- Bei einfachen Aufgaben bietet es sich demnach eher an,
namiken für die Gruppenarbeit genutzt werden. Wie bereits Schülerinnen und Schüler zusammenarbeiten zu lassen. Dies
beschrieben bewirkt Selbstaufmerksamkeit den Abgleich betrifft beispielsweise auch Anwendungsaufgaben, bei denen
zwischen dem eigenen Handeln und einer etablierten, zuvor erarbeitetes Wissen umgesetzt, diskutiert oder trans-
verinnerlichten Norm. Dies bedeutet, dass insbesondere feriert wird. Bei komplexen Aufgaben ist es jedoch basierend
im Kontext von Gruppenarbeit die Notwendigkeit von auf den theoretischen Erkenntnissen sinnvoller, Schülerinnen
Regeln hierfür sowie die gründliche und schrittweise und Schüler zunächst alleine Dinge erarbeiten zu lassen, um
Einführung in diese Arbeitstechniken von hoher Relevanz diese dann in größeren Gruppen zusammenzutragen.
sind. Erst wenn überhaupt Erwartungen an das Arbeits- Auch ist soziale Faulheit zu beachten (Karau & Williams
und Kooperationsverhalten von Schülerinnen und Schülern 1993): Eine Gruppe setzt sich nach eigenem Belieben zwecks
in Gruppenarbeitsphasen bestehen, wird es durch das Bearbeitung einer Aufgabe im Deutschunterricht zusammen.
Herstellen von Selbstaufmerksamkeit auf leichtere Weise Die vier Gruppenmitglieder sind im Fach Deutsch hinsicht-
möglich sein, diese produktiv zu gestalten. lich ihrer Leistungsfähigkeit alle im guten Bereich anzusie-
deln. Insbesondere eine Schülerin interessiert sich für das zu
bearbeitende Thema und ist motiviert, wird daraufhin jedoch
1 Alleine oder in der Gruppe lernen? mit einigen abfälligen Sprüchen sowie einer eher gelangweil-
Insgesamt ist festzustellen, dass es für das Lernen am besten ten Haltung der weiteren Gruppenmitglieder konfrontiert.
ist, wenn es sinnvolle Strukturen für das Arbeiten in Grup- Nachdem diese Reaktionen der anderen Schülerinnen zu
pen gibt. Kooperative Lernformen sind dann kompetitiven Beginn der Arbeit mehrfach aufkommen, nimmt sich die
und individuellen Lernformen überlegen (Slavin 1999; Hattie Schülerin im weiteren Verlauf der Gruppenarbeit ebenfalls
2009). Gleichwohl gibt es schulische Situationen, bei denen es zurück und trägt weniger zur Bearbeitung der Aufgabe bei.
sich anbieten würde, Schülerinnen und Schüler alleine statt in Dies geschieht, um auf diese Art und Weise negative Reaktio-
Gruppen lernen zu lassen. Die Forschung rund um Gruppen- nen hinsichtlich der Arbeitshaltung zu vermeiden und sich
dynamiken und soziale Einflüsse zeigt, dass unterschiedliche hinsichtlich der Arbeitshaltung, Gründlichkeit und Begeiste-
Aufgabentypen auch eine andere Art der Gruppenzusam- rung für die Bearbeitung der Aufgabe dem Level der weiteren
mensetzung erfordern beziehungsweise in einigen Kontexten Schülerinnen anzupassen.
das Arbeiten in der Gruppe unter Umständen eher kontra- Interessanterweise beziehen sich sowohl der Prozess der
produktiv ist. Hinzu kommen hinsichtlich der Bearbeitung sozialen Erleichterung als auch der Prozess des sozialen Fau-
von Aufgaben zwei zentrale Konzepte, die der Beachtung be- lenzens auf das Arbeiten in Gruppen. Es konnten also sowohl
dürfen, zum einen das der sozialen Erleichterung und zum positive als auch negative soziale Einflüsse auf das Arbeiten
anderen das des sozialen Faulenzens. in Gruppen herausgestellt werden. Hinsichtlich der Frage, ob
es lohnender ist, Schülerinnen und Schüler alleine oder in
der Gruppe arbeiten zu lassen, lässt sich festhalten, dass bei-
Soziale Erleichterung (soziale Leistungsaktivierung): de Situationen durchaus Vor- und Nachteile haben können, je
Personen bewältigen einfache und/oder gut gelernte nachdem, wie sie eingesetzt werden. Lehrkräfte sollten daher
Aufgaben in Gruppen erfolgreicher als wenn sie alleine bei der Planung des Einsatzes von Gruppenarbeit die sozialen
sind (Guerin 1993). Einflüsse in ihre Überlegungen mit einbeziehen.

Im Fokus: Brainstorming
Soziales Faulenzen (Trittbrettfahren): Tendenz, in Situatio-
nen der Gruppenarbeit die individuelle Anstrengung zu Brainstorming ist ein gutes Beispiel für Probleme, die auf-
reduzieren tauchen, wenn Gruppen kollektiv eine Aufgabe bewältigen
sollen. Osborn (1957) entwickelte Brainstorming, um Ideen
durch Gruppendiskussionen zu generieren: Jede Idee
Zwar finden sich einige Anhaltspunkte dafür, dass die Prä- soll zum Ausdruck gebracht werden (Expressivität), und
senz anderer Menschen stimulierend ist, jedoch fanden For- zwar ohne sie zu bewerten. Je mehr Regeln ausgedrückt
scherinnen und Forscher nach und nach auch Beweise da- werden, umso besser. Zum Schluss könne die besten Ideen
für, dass sich Gruppen andererseits leistungsmindernd auf ausgesucht und zusammengeführt werden. Diese Vorge-
das Arbeitsverhalten einzelner Individuen auswirken können. hensweise ist allerdings nicht besonders effektiv: Individuen
Zajonc (1965) konnte letztlich klären, warum unterschiedli- schneiden hinsichtlich der Produktivität besser ab als
che Studien verschiedene Ergebnisse hinsichtlich der sozialen
448 Kapitel 22  Soziale Strukturen und Prozesse

Im Fokus: Die Lehrkraft als Doppelminorität


Gruppen, welche mit dieser Methode des Brainstormings
arbeiten (Diehl & Stroebe 1987). Soziale Faulheit, Blockaden Eine Lehrkraft ist eine Doppelminorität innerhalb einer
und das Vergessen von Ideen, während zugehört wird, sind Klasse (7 Abschn. 22.2.1): Sie ist also numerisch in der
Prozesse, welche die Produktivität von Gruppen senken Minderheit und weist einen anderen Status auf als die
können. Die Angst vor Bewertung bei der Anwesenheit Mehrheit der Klasse. Sie muss also besondere Kompetenzen
statushöherer Mitglieder führt gerade bei ängstlichen Per- erwerben, um eine Gruppe von Lernenden überzeugen zu
sonen zu hemmenden Prozessen (Mullen, Johnson & Salas können, z. B. komplexe Schulinhalte nachzuarbeiten.
1991). Soziale Vergleichsprozesse können dazu führen, dass Allerdings müssen einige Bedingungen gegeben sein, damit
Personen sich an das Durchschnittsniveau anpassen (Seta, eine Minderheit eine Mehrheit überzeugen kann:
Seta & Donaldson 1991). Aus diesen Erkenntnissen wurde 4 Die Minderheit, die eine von der Mehrheit abweichen-
geschlussfolgert, dass Brainstorming dann die Produktivität de Meinung vertritt, muss diese konsistent vertreten
einer Gruppe erhöht, wenn folgende Vorsichtsmaßnahmen (Moscovici, 1994). Die Lehrkraft sollte z. B. bei allen kom-
einbezogen werden (nach Forsyth 2010): plexen Inhalten der Meinung sein, dass eine Nacharbeit
1. Alle Mitglieder der Gruppe sollten darin trainiert sein, wichtig ist, nicht nur bei ihren Lieblingsthemen.
die Regeln des Brainstormings befolgen können. Das 4 Gleichzeitig darf sie nicht zu rigide in ihrem Ver-
Einhalten der Regeln wird überwacht und ein Verstoß handlungsstil sein. Flexible Minoritäten, die kleinere
gegen die Regeln wird zurückgemeldet. Es wird z. B. Konzessionen an die Majorität machen, sind einflussrei-
eingeschritten, wenn eine eingebrachte Idee sofort cher als rigide Minoritäten (Pérez & Mungy 1996). Bei
bewertet wird. besonders schwierigen Inhalten könnte die Lehrkraft
2. Ideen werden individuell schriftlich fixiert. z. B. zusammen mit den Schülerinnen und Schülern die
3. Es werden systematische Stillzeiten eingebaut, in denen Inhalte nacharbeiten und sie direkt unterstützen.
jedes Mitglied nachdenken kann. 4 Weiterhin ist es wichtig, dass sie gute Argumente
4. Es muss genug Zeit zur Verfügung stehen. zur Begründung ihrer Meinung haben. Minoritäten,
5. Die Mitglieder der Gruppe erinnern sich gegenseitig die die Position der Majorität angreifen können, sind
an die eigentliche Aufgabe. Anekdoten und Exkurse einflussreicher als solche, die das nicht können (Clark
werden vermieden, ebenso Nebengespräche zu zweit. 1990). Die Lehrkraft sollte gut begründen können,
Es ist sehr wichtig, dass es keine Monopole von Redezeit warum bestimmte Inhalte wichtig sind.
gibt. 4 Minoritäten haben vor allem dann eine Chance eine
6. Eine geschickte Gruppenleitung motiviert zu gegensei- Majorität zu beeinflussen, wenn die Majorität sich ihrer
tigen Korrekturen und hält die Standards hoch. Meinung nicht sicher ist (Witte 1994). Schülerinnen und
Schüler sind aufgrund ihres Alters nicht in der Lage,
beurteilen zu können, warum und wofür bestimmte
Schulinhalte relevant sind.
22.3 Einfluss auf Strukturen und Prozesse 4 Vertreter einer Minorität zeigen sich selbstbewusst
(Nemeth & Wachtler 1974). Eine Lehrkraft sollte eine
Einleitend wurde bereits auf die Relevanz der Fähigkeit ei- gute Präsenz in der Klasse haben.
ner Lehrkraft hingewiesen, andere Menschen beeinflussen zu Individuen können, wenn sie mehrheitlich einer Meinung
können. Diese Fähigkeit erstreckt sich in der Schule auf die nur öffentlich – also im Sinne von Compliance – zustimmen,
Einflussnahme auf einzelne Schülerinnen oder Schüler und sofort umfallen, wenn der Druck zur Zustimmung entfällt.
auf ganze Klassen: Sobald die Urteile in Aschs Paradigma geheim formuliert
„Im Einzel- wie im Klassenunterricht ist es notwendig, wurden, verschwand Konformität im Sinne von Compliance
dass die Lernenden auf die Anregungen, Impulse und Auffor- komplett.
derungen der lehrenden Person eingehen können. Hierzu be- Allerdings kann Compliance bei Unsicherheit auch dazu
darf es eines ganz bestimmten Auftretens und der Fähigkeit, führen, dass daraus eine innere Überzeugung entsteht,
Beziehungen zu gestalten. Man muss mithilfe der ‚persön- besonders wenn es zum Vergleich mit anderen Individuen
lichen Wirkungsmittel‘ das Gegenüber veranlassen können, kommt (Sherif 1936). Solche Urteilsanpassungen können
überzeugen, erziehen, verändern, zur Selbststeuerung anre- sehr lange Zeit andauern; untersucht wurden innerhalb
gen etc. . . . Überzeugen ist nicht nur eine Frage der fachwis- des Untersuchungsparadigmas von Sherif Zeiträume bis zu
senschaftlichen und fachdidaktischen Kompetenz, sondern einem Jahr nach dem letzten Urteil (Rohrer, Baron, Hoffman
zugleich auch eine mitmenschliche Fähigkeit“ (Dollase 2012, & Swander 1954). Die Auseinandersetzung mit der Gruppe
22 S. 13). kann also zur Veränderung von Überzeugungen führen,
Auch wenn man Einflussnahme ablehnt, nimmt man be- aus Compliance kann Konversion werden. Schülerinnen
reits durch bloße Präsenz in einem gemeinsamen sozialen und Schüler können so durchaus motiviert werden ihre
Feld Einfluss. Beeinflussungsprozesse laufen also auch dann Anstrengungsbereitschaft in einem Unterrichtsfach zu
ab, wenn man sich vornimmt, möglichst wenig Einfluss zu steigern.
nehmen und zurückhaltend zu sein.
22.3  Einfluss auf Strukturen und Prozesse
449 22
22.3.1 Einflussnahme aus machttheoretischer
Sicht Referenzmacht (auch Vorbildmacht)
S möchte so sein wie L.

Die machttheoretische Perspektive auf Einflussnahme ist ein


ExpertInnenmacht
Versuch, die Machtgrundlagen zu beschreiben, die bei einer
Das Ausmaß, in dem S L besondere Kenntnisse, Einsichten
Einflussnahme angewendet werden. Vorgestellt wird ein ta-
oder Fertigkeiten in einem Bereich zuschreibt.
xonomischer Ansatz, der von French und Raven (1959) in
Form von sechs Machtgrundlagen formuliert wurde; Eine
Informationsmacht
erweiterte Systematik wird in Anlehnung an Fischer und Wis-
L kann etwas so mitteilen, dass S es in einem neuen Licht
wede (2009) überblicksartig dargestellt (7 Im Fokus). Diese
sieht. Wichtig: Gesprächsführung, Kommunikationsbereit-
taxonomische Perspektive auf das Feld der Einflussnahme
schaft, das Eingehen auf andere, Zuhören können, gute
unter dem Aspekt der Macht erhellt die Vor- und Nachteile
mehrseitige Argumentationen, Perspektivenübernahme.
bestimmter Versuche der Einflussnahme. Deutlich wird, dass
Einflussnahme ein interaktiver Prozess ist: Denn Macht wird
Ökologische Macht
gewährt und nicht einfach nur ausgeübt, insofern Individuen
Wenn durch die Gestaltung der Umwelt zwingend ein
einer Einflussnahme auch Widerstand entgegensetzen kön-
bestimmtes Verhalten herbeigeführt wird (Flade 2011).
nen.
Zieht häufig Investitions- und Aufrechterhaltungskosten
nach sich (Beispiel: Isolation von S durch Einzeltisch).
Macht beinhaltet nach Max Weber die Fähigkeit, Einfluss
auch gegen den Widerstand anderer auszuüben (Fischer Macht durch Emotion
& Wiswede 2009). In der Gruppenforschung bezeichnet Erzeugung und Ausbeutung bestimmter Emotionen. Scham
Macht jede interpersonelle Beziehung, in der einige Indi- und Schuld als moralische Emotionen werden induziert
viduen das Verhalten, die Einstellungen, Überzeugungen (Steins & Welling 2010). Erhöhen der Wahrscheinlichkeit von
oder andere Reaktionen anderer Individuen bestimmen. Compliance.
Synonym mit verschiedenen Aspekten von Macht sind
Begriffe wie Autorität, Einfluss, Kontrolle, Dominanz,
Status, Prestige und Rang (nach Wirtz 2014, S. 1041). Macht wird gewährt und fällt keinem nur aufgrund seines
Status zu. Schülerinnen und Schüler sowie Lehrende können
jeweils Macht ausüben. Voraussetzung ist die Bereitschaft,
Im Fokus: Ein Überblick über Grundlagen der Macht sich beeinflussen zu lassen. Durch den positiven Einsatz von
Macht durch Lehrende haben diese die Möglichkeit, ihre
Die Lehrkraft (L) ist die beeinflussende Person, der Schüler Schülerinnen und Schüler hilfreich in ihrer Entwicklung zu
bzw, die Schülerin (S) ist die Person, die beeinflusst wird. unterstützen und zu fördern. Andererseits kann Macht auch
immer missbraucht werden und so zu Schaden führen. Auch
Belohnungsmacht verfügen Mehrheiten nicht zwangsläufig über mehr Macht als
L kann Belohnungen für andere verteilen. Voraussetzung: L Minderheiten.
wird geschätzt, ist glaubwürdig und gerecht. Gewöhnungs- Lehrende sowie Schülerinnen und Schüler verfügen über
prozesse (Habituation) schwächen diese Machtgrundlage verschiedene Machtgrundlagen. Je älter diese sind, desto
mit der Zeit, d. h. Belohnungen müssen verändert werden ähnlicher sind ihre Machtgrundlagen im Vergleich zu ihren
(Beispiel: Tokensysteme). Lehrenden. Für Lehrkräfte ist es hilfreich, wenn sie Macht-
grundlagen bei sich und ihren Schülerinnen und Schülern
Macht zu zwingen identifizieren können und wissen, wie sie Macht positiv ein-
L kann durch Strafandrohung den Handlungsspielraum setzen können (Steins 2014). Informationsmacht zählt zu-
von S einengen. Gefahr: Bei ungerechtfertigten Strafen sammen mit ExpertenInnenmacht und Belohnungsmacht zu
Widerstand bei S (Dickenberger, Gniech & Grabitz 2001) den Machtgrundlagen, die für den Lehrberuf extrem wich-
und eskalierende Wirkung (Lawler & Yoon 1996). Habitua- tig sind, um gute Arbeit zu leisten (Erchul, Raven & Ray
tion führt zur Steigerung der Strafintensitäten (Beispiel: 2001). Hilfreich beim Einsatz der Informationsmacht für die
Suspension vom Unterricht). Entwicklung der Schülerinnen und Schüler ist es, wenn sei-
tens der Lehrenden die Perspektivübernahme im Fokus steht,
Legitime Macht die als Lernen aus der Sicht der Schülerinnen und Schü-
L hat in den Augen von S die Befugnis, bestimmte Ver- ler zu betrachten bei Hattie (2009) eine entscheidende Rolle
haltensnormen zu überwachen und durchzusetzen. Basis: für erfolgreiches Lernen darstellt. Um Expertenmacht erwer-
Wahlen und Qualifikation. Wahrnehmung von S, dass ben zu können, ist Investment in die eigene Person gefragt.
der Interaktionsstil unterstützend und respektvoll ist, ist Fachwissen kann nicht schnell erworben werden und es ist
relevant. wichtig, das Fachwissen auf einem aktuellen Wissensstand zu
halten. Schülerinnen und Schüler gestehen Lehrenden diese
450 Kapitel 22  Soziale Strukturen und Prozesse

Macht zu, wenn sie das Gefühl haben, etwas lernen zu kön- 4 Realitätsorientierung fördern: Wenn Lehrende ihre Schü-
nen (Steins 2014). Auf die Macht zu zwingen und die Macht lerinnen und Schüler fördern, rationale Diskussionen zu
durch Emotion sollte weitestgehend verzichtet werden. Öko- führen, und sie über Gruppenprozesse aufklären, beugen
logische Macht sollte behutsam und gerechtfertigt eingesetzt sie zu starkem Konformitätsdruck vor. Geheime Abfra-
werden. Sie kann von Lehrenden positiv eingesetzt werden: gen zu Meinungsbildern innerhalb der Klasse erhöhen die
Zum einen können Lehrkräfte ein Klassenzimmer zu ei- Wahrscheinlichkeit, dass die ehrliche Meinung der Schü-
nem Ort machen, der eine lernförderliche Umgebung für die lerinnen abgebildet wird.
Schülerinnen und Schüler darstellt und an dem sich alle wohl 4 Unterrichtsgestaltung: Bei der Vermittlung und Verarbei-
fühlen. Zur ökologischen Macht gehört auch der Umgang tung von Unterrichtsinhalten ist es lernförderlich, wenn
mit dem persönlichen Raum der Schülerinnen und Schü- kein Gruppendruck oder keine Compliance besteht. Es ist
ler. Nähe und Distanz sind hierbei zentrale Themen (Steins, hilfreich, wenn Lehrende die Reaktionen von Schülerin-
Behnke & Haep 2015). Referenzmacht ist nicht nötig für eine nen und Schülern aufeinander beachten und reagieren,
gute Unterrichtsatmosphäre, wenn Informationsmacht, Ex- wenn sie negative Interaktionen wahrnehmen. Ein weite-
pertInnenmacht und Belohnungsmacht gegeben sind. Es ist res Signal für eine lernhinderliche Atmosphäre ist Konfor-
hilfreich, wenn Lehrende Referenzmacht bei Schülerinnen mität: Wenige Diskussionen und wenige konfligierende
und Schülern erkennen können, um deren Einfluss innerhalb Meinungen können hierfür Anzeichen sein.
einer Lerngruppe einschätzen zu können. 4 Glaubwürdig sein als Lehrkraft: Die Lehrkraft als Doppel-
minorität kann nur dann die Majorität beeinflussen, wenn
Im Fokus: Strafen in der Schule ihre Glaubwürdigkeit hoch ist und ihr eine bestimmte
Macht von der Klasse zugesprochen wird. Zur Glaubwür-
Bestrafungsmacht sollte im Umgang mit Heranwach- digkeit einer Lehrkraft zählt, dass sie gute Argumente für
senden mit größter Zurückhaltung eingesetzt werden. das hat, was sie von den Schülerinnen und Schülern ver-
Positive-Behavior-Support-Systeme (d. h. positives Verhalten langt, über Expertise verfügt und sich flexibel verhält.
unterstützende Systeme) stellen die Verstärkung eines
erwünschten Verhaltens in den Fokus und Bestrafungen
werden nicht als Folge von Verhaltensverstößen thema- 22.3.2 Einflussnahme aus Sicht der
tisiert. Im Schulalltag wird häufig die Macht zu strafen
eingesetzt, obwohl Lehrende die niedrige Effektivität
Psychologie der Überzeugung
kennen (Steins & Welling 2010). Dazu gehören auch in-
formelle Strafen wie Kränkungen der Schülerinnen und Cialdinis Psychologie des Überzeugens liefert sehr gute
Schüler. Krumm und Eckstein (2003) berichten auf der Grundlagen für die Gestaltung überzeugender Argumenta-
Basis mehrerer Untersuchungen mit Studierenden und tionen (Cialdini 2013). Aus Cialdinis Modell geht hervor, wel-
Eltern, überwiegend in Österreich durchgeführt, dass nur che Prozesse eine Rolle für die Einflussnahme auf Personen
23 % der Schüler selbst keine Kränkung erfahren haben, spielen und zwar auf die Überzeugungen von Individuen und
alle aber konnten Fälle schildern, in denen ehemalige ihre Verpflichtung, durch ihr Verhalten diesen Überzeugun-
Mitschülerinnen und Mitschüler gekränkt wurden (Krumm gen zu entsprechen. Schülerinnen und Schüler überzeugen zu
& Eckstein 2003). Zu den als pädagogisch inakzeptablen können, ist eine wichtige Fähigkeit im Lehrberuf und wurde
Verhaltensweisen der Lehrerkräfte gehörten Zuschreiben bereits in Zusammenhang mit dem Einfluss von Minoritäten
unerwünschter Eigenschaften, Vorverurteilen, Bloßstellen, erörtert. Im Folgenden werden sieben Prozesse dargestellt,
Vorwürfe Machen vor der Klasse, Ausgrenzen, Einschüch- die wichtig sind um andere Personen zu überzeugen.
tern, Schreien, Beschimpfen, Beleidigen, Lächerlich Machen
oder Beschämen, Ignorieren, Verletzen von Rechten oder 1 Reziprozität
Unterstellen von Fehlhandlungen. Zu diesem Thema gehört Ein wichtiger Prozess des Überzeugens besteht in der Ak-
auch die Macht durch Emotionen: Schuld- und Scham- tivierung von Reziprozität. Jemandem verpflichtet zu sein,
gefühle bei Schülerinnen und Schüler hervorzurufen ist erzeugt den Wunsch nach einer Gegenleistung: eine univer-
kontraproduktiv für eine positive Entwicklung (Steins & selle Regel. In modernen Gesellschaften ist Reziprozität die
Welling 2010). Grundlage für die differenzierte Teilung der Arbeit und Funk-
tionen: Man kann etwas geben, was nicht verloren ist. Eine
nicht erbetene Gefälligkeit als Vorleistung kann die Rezi-
1 Macht und der Umgang mit tonangebenden prozitätsnorm in Gang setzen. Gibt man nicht zurück, was
Mehrheiten man schuldig zu sein scheint, entsteht ein Zustand inneren
22 Neben dem Wissen über den positiven Einsatz von Macht Missbehagens: Man steht nicht nur in einer Schuld, son-
sind Überlegungen und Befunde zu den Einflüssen von Mi- dern könnte auch für einen Schnorrer gehalten werden. Dass
norität und Majorität für den Umgang mit Schulklassen wich- sein Gegenüber zur Gegenleistung verpflichtet ist, ermög-
tig. Zentral ist das Wissen, dass Mehrheiten eher zur Konfor- licht es einem Individuum als erstes ein Zugeständnis zu
mität und Minderheiten eher zur Konversion auffordern. Was machen und damit einen förderlichen Austauschprozess in
bedeutet das für den Umgang mit einer Klasse? Gang zu setzen. Auch Schülerinnen und Schüler verhalten
22.3  Einfluss auf Strukturen und Prozesse
451 22
sich nach der Regel der Reziprozität: Wenn sie motiviert wer- ders bei Schwächen, auf die das Gegenüber vielleicht nicht
den (z. B. durch Experten- und Informationsmacht), dann von alleine gekommen wäre und wenn diese Schwächen
werden sie wahrscheinlich auch mehr Anstrengung in das untergeordneter Natur gegenüber den Stärken sind. Glaub-
fachliche Lernen investieren. Wenn sie respektvoll behan- würdigkeit wird ebenfalls durch gute Argumente hergestellt
delt werden, werden sie sich sehr wahrscheinlich ebenfalls (siehe Konversionstheorie 7 Abschn. 22.2.1). Ein schwieriger
respektvoll verhalten. Inhalt sollte bspw. auch als schwierig bezeichnet werden,
gleichzeitig jedoch so gut strukturiert dargeboten werden,
1 Autorität dass die Schülerinnen und Schüler ihn bewältigen können.
Autorität kann hergestellt werden durch Kompetenz (Exper-
tenInnenmacht, Informationsmacht) und wird über Zertifi-1 Soziale Bewährtheit
kate und Titel (Legitime Macht), Kleidung, Luxus und andere Soziale Bewährtheit als Prinzip im Überzeugungsprozess
äußere Symbole demonstriert. Es reicht auf Dauer aber nicht lehnt sehr stark an die dargestellten gruppendynamischen
aus, Autorität nur durch äußere Symbole zur Schau zu stellen. Erkenntnisse zur Konformität und Konversion an: Ähnliche
Sie wirkt nur dann, wenn sie auch inhaltlich begründet ist. andere erhöhen die Wahrnehmung von Sozialer Bewährtheit.
Es ist zum Beispiel sehr überzeugend für Schülerinnen und
1 Konsistenz Schüler, sich bei einer Sache anzustrengen, wenn sie beobach-
Konsistenz bedeutet, dass Menschen dazu neigen, sich ent- ten können, dass bei ihren Peers solche Anstrengungen mit
sprechend eines Ziels zu verhalten, sobald sie begonnen haben Erfolg verbunden sind.
sich ihm anzunähern und sich verpflichtet fühlen. Individuen
halten sich mit größerer Wahrscheinlichkeit an längerfristig1 Wahrnehmungseffekte
angelegte Ziele, wenn sie Anhaltspunkte dafür haben, dass Cialdini lässt auch sozialpsychologisch untersuchte Wahr-
sie auf dem Weg zum Ziel bereits erste Fortschritte gemacht nehmungseffekte nicht als Gegenstand seiner Forschung zur
haben. Häufig reicht es, zunächst nur kleine Schritte in die Überzeugungsentstehung aus. Fluency soll hier als Beispiel
erwünschte Richtung zu gehen. Auch kann im Sinne der Kon- dienen. Fluency bezeichnet den Grad, als wie leicht oder
sistenz durch Fragen nach dem Vorsatz, auf die mit einem schwer ein Prozess empfunden wird. Ist die Form eines Ver-
„ja“ geantwortet werden kann, Commitment (Selbstverpflich- fahrens zum Beispiel zu schwierig (man stelle sich einen zu
tung) erhöht werden. Je aktiver ein Individuum sich einem komplizierten Aufbau eines Experimentes im Physikunter-
Handlungsziel verpflichtet, desto mehr fühlt es sich daran ge- richt vor), ist auch der Inhalt weniger überzeugend. Auch
bunden. Wichtig ist, dass die Handlungsziele erreichbar sein Müdigkeit und Stimmung beeinflussen Überzeugungsent-
müssen. Wichtig sind auch zeitnahe Feedbackprozesse, die er- stehung; Personen sollten aufnahmebereit sein und nicht
mutigend wirken und Fortschritte aufzeigen (Behnke 2015). emotional aufgewühlt (siehe auch hier Steins 2014). Und
Feedback wird insbesondere dann akzeptiert, wenn Experten- vor allem ist es wichtig, komplexe Sachverhalte so einzufüh-
und Informationsmacht vorhanden sind, d. h. gute Argumen- ren, dass die Schüler/innen ihren eigenen Fortschritt fühlen
te vorhanden sind, die überzeugend dargelegt werden. können.

1 Knappheit Im Fokus: Steuerung der Effektivität von Gruppenarbeit


Knappheit stellt einen weiteren beeinflussenden Faktor in
Überzeugungsprozessen dar. Ein zu großer Entscheidungs- Um die Effektivität von Gruppenarbeiten zu steigern, lassen
raum wird von den meisten Individuen als qualvoll empfun- sich einige Strategien anwenden. Unter anderem ist es
den, jedenfalls, wenn man vorher nicht weiß, was man will. relevant, die persönliche Involviertheit aller Individuen
Hierbei ist vor allem eine Tendenz zu starker Verlustaver- zu steigern. Dies kann einerseits über die Relevanz der
sion zu beobachten: Individuen reagieren empfindlicher auf Aufgaben und den enthaltenen Lebensweltbezug ge-
mögliche Verluste als auf mögliche Zugewinne. Wenn zum schehen. Auch die Möglichkeit des Einbringens eigener
Beispiel über das Ziel eines Ausflugs entschieden werden soll, Themenvorschläge kann die Motivation deutlich erhöhen.
ist es besser nicht zu viele Optionen zur Auswahl zu geben, Insbesondere bei der Arbeit in Gruppen besteht häufig die
sondern bereits zuvor eine rational nachvollziehbare Auswahl Möglichkeit, Vorschläge von Schülerinnen und Schülern
zu treffen. zu berücksichtigen und den Unterricht auf diese Weise zu
individualisieren. Des Weiteren sollte bei Gruppenarbeiten
1 Attraktivität darauf geachtet werden, dass im besten Falle eine positive
Attraktivität ist ein relevanter Beeinflussungsfaktor. In Cial- Abhängigkeit zwischen den einzelnen Gruppenmitgliedern
dinis Forschung ist dieser Faktor nicht immer von Glaub- besteht. Es sollten Strategien angewandt werden, mit Hilfe
würdigkeit zu trennen. Attraktivität wird hergestellt durch derer Trittbrettfahren beziehungsweise soziales Faulenzen
Ähnlichkeit, Komplimente, Vertrautheit, Kontakt und Ko- minimiert werden. Dies kann unter anderem dadurch
operation, Konditionierung und Assoziation mit positiven erreicht werden, dass die Präsentation von Ergebnissen der
Aspekten. Glaubwürdigkeit entsteht z. B. dadurch, dass eine Gruppe durch alle Schülerinnen und Schüler erfolgen muss.
Person die Nachteile eines Produkts offen erwähnt: Sie wird Relevant ist hier auch die Beachtung der Aufgabentypen.
dann als ehrlich und vertrauenswürdig empfunden, beson-
452 Kapitel 22  Soziale Strukturen und Prozesse

Im Fokus: Gruppendenken
Lehrkräfte sollten außerdem darauf achten, dass Gruppen-
ziele hinsichtlich der Arbeitsweise wie auch hinsichtlich Eine Form der Gruppendynamik kann weiterhin in Form von
inhaltlicher Ergebnisse vorab geklärt werden. Dies erhöht Gruppendenken auftreten (Janis & Mann 1977). Gruppen,
die Wahrscheinlichkeit, dass die Normen zur Mitarbeit klar welche in ihrer Entscheidungsfindung und dem Einnehmen
gesetzt sind und Selbstaufmerksamkeitsprozesse positiv von Positionen hinsichtlich eines Sachverhaltes dem Grup-
genutzt werden können. pendenken verfallen, verschließen sich in der Regel neuen
Des Weiteren empfiehlt es sich, hohe Standards und Informationen, verhalten sich in ihrer Entscheidungsfindung
Erwartungen zu haben, da Individuen und auch Gruppen konform, üben auf weitere Gruppenmitglieder Konformi-
grundsätzlich eher dazu tendieren, unter den jeweils an sie tätsdruck aus und neigen außerdem dazu, die Gruppe zu
gestellten Anforderungen zu bleiben. Die Einhaltung von überschätzen.
gesetzten Normen sowie Standards sollte freundlich und Ein Beispiel ist in diesem Kontext der Umgang mit Schul-
unterstützend jedoch konsequent eingefordert werden, um entwicklungsmaßnahmen durch Lehrerkollegien, in diesem
die Schülerinnen und Schüler bestmöglich bei produktiver Falle der Umgang mit Schulinspektionen. Forschungsergeb-
Arbeit in den Gruppen zu unterstützen. nisse zur Qualitätsanalyse in Nordrhein-Westfalen haben
gezeigt, dass Lehrkräfte diesen Maßnahmen gegenüber
häufig eher kritisch eingestellt sind. Besonders kritisch
werden u. a. die Unterrichtsbesuche sowie die Relation von
22.4 Außerhalb des Klassenzimmers Arbeitsaufwand und letztendlichem Nutzen der Ergebnisse
für die Arbeit einer Lehrkraft betrachtet (Behnke 2015;
Bitan, Haep & Steins 2015). Die Ablehnung einer Maßnahme
22.4.1 Das Kollegium
wie der externen Evaluation von Schulen kann sich jedoch
negativ auf die Möglichkeit einer Schule auswirken, eigene
Alle oben thematisierten Aspekte sind auch für die soziale In- Schwächen zu entdecken und konstruktiv an ihnen zu
teraktion und Zusammenarbeit im Kollegium relevant, wel- arbeiten. Soziale Einflüsse im Sinne der Herstellung von
che wiederum entsprechende Auswirkungen auf das Schul- Compliance und Konversion können dazu führen, dass ganze
klima insgesamt haben. Denn Lehrkräfte sind relevante Mo- Kollegien Schulentwicklungsmaßnahmen ablehnen und
delle für ihre Schülerinnen und Schüler und prägen dem- Schulen damit Möglichkeiten der Verbesserung verwehrt
entsprechend durch ihr Arbeits- und Kooperationsverhalten, bleiben.
ihre Teamfähigkeit und ihren Umgang mit Macht und Kon- Das angeführte Beispiel verdeutlicht die Relevanz der
flikten auch die Sozialkompetenz ihrer Schülerinnen und Prävention von Gruppendenken und von offen geführten
Schüler. Diskussionen in Gruppen wie dem Kollegium. Hinsichtlich
des Beispiels Schulinspektion wäre es relevant, die aus-
1 Zusammenhalt und Beeinflussung durch Normen führenden Lehrkräfte in die Planung und Gestaltung von
Einerseits ist ein guter Zusammenhalt zwischen den Lehr- Schulentwicklung und somit auch der Vorbereitung der
kräften eines Kollegiums wünschenswert für deren Koopera- Schulinspektion einzubeziehen. Dies kann im besten Falle
tion zum Wohle der Schülerinnen und Schülern. Häufig exis- dazu führen, ein Verantwortungsgefühl für das Themen-
tieren innerhalb von großen Schulen auch Jahrgangsteams, gebiet Schulentwicklung zu schaffen und Widerstände zu
welche eng zusammenarbeiten und miteinander kooperieren minimieren (Behnke & Steins 2015). Um zu verhindern, dass
müssen. Sowohl für diese kleineren Untergruppen als auch ein Kollegium auf Grund von Gruppendenken eine Maßnah-
für Fachgruppen und weitere Subgruppen innerhalb des Kol- me wie die Schulinspektion grundlegend ablehnt, empfiehlt
legiums gilt: Ein hoher Zusammenhalt kann sich einerseits es sich, präventiv Zeit zu investieren, um alle relevanten
positiv auf das Klima innerhalb eines Kollegiums auswirken. Informationen hinsichtlich des Instruments einzuholen.
Aber auch hier kommt es auf den Standard an. Individuen sollten darum bemüht sein, ihre Meinung nicht
Andererseits kann ein hoher Zusammenhalt jedoch auch zu früh zu bilden, und Schulleitungen könnten darauf
bewirken, dass die Aktivitäten einzelner, besonders enga- bestehen, dass alle Mitglieder des Kollegiums sich bei der
gierter Lehrender unterbunden werden, wenn Normen der Diskussion über Schulentwicklungsinstrumente sowie ihre
Leistungserbringung dementsprechend ausgelegt sind. Vorteile und Nachteile und die bestmögliche Umsetzung
Auch umgekehrt muss die Etablierung einer Norm der der Maßnahmen in der eigenen Schule einbringen. Auch
übermäßigen Leistungserbringung nicht unbedingt positiv könnten Expertinnen und Experten einbezogen und diese
sein: Ein Kollegium, in welchem es zur Regel gemacht wird, Maßnahmen aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet
22 dass die meisten Lehrkräfte sehr häufig bis spät abends noch und diskutiert werden.
in der Schule arbeiten und in dem jede Lehrkraft ein negati- Es lohnt sich, den Blick dafür zu schärfen, dass Gruppenpro-
ves Ansehen genießt, die dies nicht ebenfalls auf diese Weise zesse einen starken sozialen Einfluss generieren
handhabt, übt Druck auf die weiteren Lehrkräfte aus.
22.4  Außerhalb des Klassenzimmers
453 22

. Tabelle 22.1 Erziehungsstile (nach Schmidtchen 1997)


und insbesondere Gruppen, die für eine längere Zeit zu-
sammenbleiben, wie etwa ein Kollegium, anfällig für diese Zuwendung, Aufmerksam-
Prozesse sind. Das Wissen über Möglichkeiten und der keit, Unterstützung, Wärme
Einsatz von Techniken zur Prävention von Gruppendenken
Niedrig Hoch
können helfen, diesem vorzubeugen, Diskussionen anzu-
regen und durch den Austausch von Informationen und Standards, Niedrig Gleichgültig Naiv
Anforderungen,
kritischen Argumenten zu einer echten Weiterentwicklung Mittel bis Paradox Reif
Erwartungen,
zu gelangen. Kontrolle hoch

Geringe Ausprägungen von Wärme sind robuste Prädiktoren von


Verhaltensproblemen Heranwachsender. Bei der Dimension Er-
wartungen ist zu unterscheiden zwischen klaren Erwartungen
22.4.2 Die Eltern und restriktiver Kontrolle; deswegen sind die Befunde hier inkon-
sistent (Burt, Klahr, Neale & Klump 2013). Schon Maccoby und
Martin (1983) hatten darauf hingewiesen, dass Wärme und Stan-
Auch die Familie als Gruppe kann als System gegenseitiger dards synergetisch miteinander interagieren.
Beeinflussung gesehen werden. Für den schulischen Erfolg
eines Kindes spielt sein Selbstkonzept eine zentrale Rolle
(Hattie 2009). Wie wird es im Elternhaus beeinflusst? Sozia-
Selbstverantwortung: Heranwachsende brauchen liebevolle
ler Einfluss durch Eltern und das damit verbundene soziale
Anleitung, denn emotionale und soziale Kompetenzen sind
Geflecht (Verwandte, Freunde der Eltern, Familientraditio-
ein Produkt des Miteinanders und entwickeln sich nicht von
nen) erfolgt prinzipiell über die gleichen Prozesse wie in
alleine (Hamre & Pianta 2001; 2005). Modern ist aktuell ein
7 Abschn. 22.1 beschrieben.
Erziehungsstil, der Heranwachsenden zwar uneingeschränk-
Elterliche Erziehung kann als Beeinflussungsprozess be-
te Zuwendung gibt, die Anforderungen der Eltern an ihre
trachtet werden. Elterlicher Einfluss wird in der Fachliteratur
Kinder sind jedoch nicht immer altersangemessen bzw. wer-
häufig durch sogenannte Erziehungsstile beschrieben. In ih-
den nicht konsequent genug umgesetzt. Dieser von Schmidt-
nen spiegeln sich unterschiedliche Techniken der Beeinflus-
chen als naiv bezeichnete Erziehungsstil (1997; siehe auch
sung wider. In diesem Abschnitt werden zwei Dimensionen
Dweck 1999) kann zu einer hohen Anspruchshaltung führen.
elterlichen Verhaltens beschrieben, die eine zentrale Rolle für
Selbst wenn naiv erzogene Heranwachsende ihrer Verant-
den elterlichen Einfluss auf ihre Kinder spielen und somit ei-
wortung nicht gerecht werden, erwarten sie Privilegien. Sie
ne häufig verwendete Grundlage für Erziehungsstilmodelle
lernen nur eine geringe Selbstverantwortlichkeit für ihr eige-
sind.
nes Verhalten und verspüren eine gewisse Angst, selbst etwas
tun zu müssen. Eine geringe Frustrationstoleranz hält sie da-
Erziehungsstile bezeichnen eine Konstellation aus von ab, Dinge selbstverantwortlich zu regeln. Ein sogenann-
elterlichen Einstellungen, Verhaltensmustern und Aus- ter paradoxer Erziehungsstil, wenig emotionale Zuwendung
drucksformen gegenüber dem Kind, die das Klima der bei gleichzeitig hohem Anforderungsprofil, führt dazu, dass
Eltern-Kind-Interaktionbestimmt (nach Wirtz 2014, S. 523). man ein Kind nicht davon überzeugen kann, dass man es
mag. Im Fall negativer emotionaler Rückmeldung entwickeln
Kinder hochwahrscheinlich ein negatives Selbstkonzept. Die
1 Erziehungsstile Kombination von liebloser Interaktion und geringem An-
Zwei grundlegende Verhaltensdimensionen in der Erzie- forderungsprofil, bezeichnet als gleichgültiger Erziehungsstil,
hungsstilforschung tangieren zum einen die elterliche Hal- fordert Kinder dazu auf, das zu tun, was sie wollen. Da ih-
tung dazu, was sie von ihrem Kind erwarten, was sie fordern nen die Sympathie der Bezugsperson nicht wichtig sein kann,
und konsequent durchsetzen, und zum anderen die Stär- denn sie ist in jedem Fall lieblos, gibt es keine Möglichkeit, ih-
ke der elterlichen Fürsorge, emotionalen Zuwendung und nen Grenzen zu setzen.
Unterstützung, die sie dem Kind entgegenbringen (Knaus Kinder sind grundsätzlich fähig, sich kontextgebunden
1979; Schneewind 2012). Am besten ist es für Kinder, wenn zu verhalten (siehe die selbstaufmerksamkeitstheoretischen
Eltern es schaffen, sinnvolle Anforderungen zu stellen, die Überlegungen), d. h. der familiäre Einfluss wirkt sich zwar auf
einem Kind Orientierung geben, ihm Kompetenzzuwachs das Selbstkonzept eines Kindes aus und dieses tritt so in das
und Selbstwirksamkeit vermitteln. Der Stil sollte konsequent schulische Umfeld ein. Jedoch: Schule kann als eine zum Zu-
umgesetzt werden, bei gleichzeitiger positiver emotionaler hause differente Umwelt entwicklungsfördernd unterstützen.
Zuwendung und Unterstützung. Lamborn, Mounts, Stein- Gerade Kinder mit großen Problemen aufgrund ihres famili-
berg und Dornbusch (1991) erwähnen hier den autoritativen är gebildeten ungünstigen Selbstkonzeptes profitieren in der
Erziehungsstil; Schmidtchen (1997) nennt diesen Stil einen Schule am allermeisten von einer Kombination aus freundli-
reifen Erziehungsstil (. Tab. 22.1); Schneewind spricht von cher Zuwendung und Unterstützung und angemessen hohen
Freiheit in Grenzen (Schneewind 2012). Ein reifer Erzie- Erwartungen (Steins, Behnke & Haep 2015; Steins, Haep &
hungsstil fördert die Selbstakzeptanz der Kinder und deren Wittrock 2015; Steins & Behravan 2017).
454 Kapitel 22  Soziale Strukturen und Prozesse

22.5 Grundlegende kritische Anmerkungen


und das Erwartungsniveau spielen auch im Elternhaus
Eine grundlegend noch ungelöste konzeptuelle Frage betrifft eine große Rolle insofern sie die Entwicklung der Selbst-
das Verhältnis zwischen Individuum und Gruppe bzw. Ge- konzeptionen Heranwachsender beeinflussen.
sellschaft. Ein Blick in Original- und Sekundärliteratur ver-
deutlicht, dass es widersprechende, implizite Vorstellungen
darüber gibt, in welchem Verhältnis Individuum und Grup-
pe stehen. Es lassen sich merkwürdige Trennungen zwischen Verständnisfragen
Individuum und Gesellschaft ausmachen. Nach der Argu-
mentation von Elias kann ein Individuum nicht von der
Gesellschaft, damit von der Gruppe getrennt sein, in der es ?1. „Welche Partei wählen Sie bei der nächsten Bundes-
lebt und eine Gesellschaft bzw. Gruppe nicht von ihren Indi- tagswahl?“ Behandelt diese Frage einen Aspekt der
viduen (Elias 2003). Die heute oft auszumachende Herange- physikalischen oder sozialen Realität und was ist die
hensweise an den Menschen als Individuum impliziert diese Begründung?
Trennung. Allerdings sind Individuum und Gesellschaft bzw. 2. Was passiert, wenn ein Individuum in einem zentralen
Gruppe unauflöslich miteinander verflochten (Steins 2014; Punkt von der Gruppenmeinung abweicht?
Steins, Behnke & Haep 2015). Deswegen ist zu wünschen, 3. Sie stimmen über das Ziel der nächsten Klassenfahrt
dass die weitere Forschung zu dem hier behandelten Thema ab: Wie verhindern Sie Komplizenschaft?
sehr viel stärker diese Verflechtungen offenlegen wird. Um 4. Wie beeinflussen Mehrheiten und wie Minderheiten
Verhaltensmuster in der Schule besser zu verstehen, ist noch die Meinung eines Individuums? Versuchen Sie ein
einige Forschung notwendig, welche die Interaktionsmuster schulisch relevantes Beispiel zu konstruieren.
zwischen den Beteiligten besser beschreiben kann. Insbeson- 5. Welche Machtgrundlagen sind für den Lehrberuf
dere sollte die Eigentümlichkeit einer Schulklasse stärker in relevant?
die Forschung einbezogen werden. 6. Welche Überlappungen gibt es zwischen Cialdinis
Einflussfaktoren auf Überzeugung und Commitment
und den Machtgrundlagen nach French und Raven
bzw. Fischer und Wiswede?
Zusammenfassung
7. Was wären ethisch bedenkliche Anwendungen der hier
Wenn Menschen zusammenkommen, gestalten sie durch
vorgestellten Theorien?
gegenseitige Einflussnahme ihre Beziehungen. Diese Be-
8. Warum ist eine Schulklasse eine besondere Form einer
ziehungsgestaltung kann durch Strukturen beschrieben
Gruppe?
werden, welche aufdecken, wie Macht und Einflussnah-
9. Welche Erkenntnisse können mit einer soziometrischen
me verteilt sind. Es gibt keinen menschlichen Bereich, der
Methode gewonnen werden?
frei von beeinflussenden Strukturen wäre. Es gibt aus den
10. Welche Auswirkungen hat soziale Erleichterung,
verschiedenen theoretischen Perspektiven einige zentra-
welche soziale Beeinträchtigung?
le Erkenntnisse. Erstens ist es wichtig zu verstehen, dass
11. Wie kann Gruppendenken vorgebeugt werden?
Individuen in einer Gruppe sich Normen nur verpflichtet
12. Welche Überlappungen sehen Sie zwischen den
fühlen, wenn sie von ihrem Wert überzeugt sind. Ohne gu-
vorgestellten Erziehungsstilen und den theoretischen
te Argumente, ExpertenInnen-, Informations- und Beloh-
Modellen aus 7 Abschn. 21.2?
nungsmacht ist es schwierig, Individuen in einer Gruppe
davon zu überzeugen etwas zu tun, was ihnen Anstren-
gung abverlangt.
Eine Schulklasse kann als eine Gruppe angesehen
werden, die sich gegenseitig beeinflusst. Schulklassen Literatur
sind eine Form einer Gruppe, die es so nur in Schulen gibt.
Allport, F. H. (1920). The influence of the groups upon association and
Das gemeinsame Ziel, welches charakteristisch für eine
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22 bei. Für eine gute Gestaltung sind soziale Vergleichs-
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22
457 23

Soziale Einstellungen
im Schulkontext
Lars-Eric Petersen

23.1 Einleitung – 458

23.2 Der Einfluss von sozialen Einstellungen auf Wahrnehmungs- und


Beurteilungsprozesse – 458
23.2.1 Bildung und Erhalt von Stereotypen und Vorurteilen – 458
23.2.2 Automatische Aktivierung von Stereotypen und Vorurteilen – 459
23.2.3 Leistungsverschlechterungen durch aktivierte Stereotype – 460

23.3 Die Änderung von sozialen Einstellungen im Schulkontext – 461


23.3.1 Beeinträchtigungen durch Stereotype und Vorurteile im Schulkontext – 461
23.3.2 Reduzierung von Vorurteilen durch Intergruppenkontakt – 462
23.3.3 Eine Anwendung der Kontakthypothese in der Schule: Das
Gruppenpuzzle – 463
23.3.4 Erweiterter und vorgestellter Kontakt – 464

23.4 Fazit – 465

Verständnisfragen – 466

Literatur – 466

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019


D. Urhahne, M. Dresel, F. Fischer (Hrsg.), Psychologie für den Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55754-9_23
458 Kapitel 23  Soziale Einstellungen im Schulkontext

23.1 Einleitung samkeit und Förderung“. Dagegen würde ein Vorurteil in


Bezug auf diese Schülergruppe ablehnende und abwertende
Komponenten enthalten, z. B. „Diese Schüler haben bei uns
Soziale Einstellungen in Form von Stereotypen und Vorurtei-
nichts verloren“ und „Hier ist jede Mühe letztlich vergebens“.
len sind im Schulkontext von großer Bedeutung. Zum einen
Stereotyp – Kognitive Struktur oder mentale Repräsentation, die
können ungünstige Einstellungen von Lehrpersonen gegen- unser Wissen und unsere Überzeugungen über eine soziale Gruppe von
über bestimmten Gruppen von Schülerinnen und Schülern Menschen enthält.
das Selbstbild, die Motivation und den Lernerfolg der betrof- Vorurteil – Ablehnende oder feindselige Haltung gegenüber einer
fenen Schülerinnen und Schüler negativ beeinflussen. Dies ist Person, die zu einer Gruppe gehört und deswegen dieselben zu bean-
von besonderer Bedeutung, da in den Schulen immer mehr standenden Eigenschaften haben soll, die man der Gruppe zuschreibt.
Diskriminierung – Einer Person werden allein wegen ihrer Zugehö-
Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund anzu-
rigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe negative Dinge angetan
treffen sind und negative Einstellungen gegenüber bestim- oder positive Dinge vorenthalten.
men ethnischen Gruppen weit verbreitet sind. Daneben sind
besonders Vorurteile in Bezug auf Unterschiede in der Leis-
Bei der Entstehung von Stereotypen und Vorurteilen besteht
tungsfähigkeit in Abhängigkeit vom Geschlecht (z. B. „Mäd-
ein zentraler Mechanismus in der generellen Bereitschaft von
chen können kein Mathe“) und dem sozioökonomischen
Personen zur sozialen Kategorisierung (Klauer 2008). Hier-
Status („Das Gymnasium ist nichts für Arbeiterkinder“) von
bei werden Personen, die ein oder mehrere Merkmale ge-
Bedeutung. Zum anderen können Stereotype und Vorur-
meinsam haben, in Gruppen kategorisiert. Damit wird eine
teile in den sozialen Interaktionen der Schülerinnen und
ökonomische Verarbeitung von Informationen im Alltag er-
Schüler untereinander dazu führen, dass sich Schülerinnen
möglicht. Die Gruppierung kann sich dabei auf sehr breite
und Schüler bestimmter Gruppen ausgegrenzt und diskri-
Merkmalskategorien (z. B. Nationalität, Geschlecht, sozio-
miniert fühlen. Dies kann negative Effekte auf die physische
ökonomische Schicht) oder auch kleinere soziale Kategorien
und psychische Gesundheit der betroffenen Schülerinnen
(z. B. Präferenzen für bestimmte Musikstile, Kleidung, po-
und Schüler haben, infolge dessen ebenfalls die schulische
litische Überzeugungen) beziehen. Personen unterscheiden
Leistungsfähigkeit sinken kann. Das vorliegende Kapitel be-
dabei ferner zwischen Gruppen, denen sie sich selbst ent-
schreibt zuerst die Bildung, den Erhalt und die automatische
weder zugehörig oder nicht zugehörig fühlen, sog. Eigen-
Aktivierung von Stereotypen und Vorurteilen in alltäglichen
und Fremdgruppen. Soziale Kategorisierung geht auch mit
Situationen. Anschließend werden mögliche Folgen für die
der Zuschreibung bestimmter Eigenschaften und Fähigkei-
von den Stereotypen und Vorurteilen betroffenen Schülerin-
ten einher, die für diese Gruppen bzw. ihre Mitglieder als
nen und Schüler aufgezeigt, z. B. durch selbsterfüllende Pro-
charakteristisch betrachtet werden. Vorstellungen über die
phezeiungen und die erlebte Bedrohung durch Stereotype.
Eigengruppe fallen dabei bezüglich ihrer Inhalte in der Re-
Schließlich werden theoriegeleitete und praxisrelevante Inter-
gel positiver aus als die Vorstellungen über die Fremdgruppe.
ventionsvorschläge zur Veränderung von negativen sozialen
Darüber hinaus werden Mitglieder der Fremdgruppe insge-
Einstellungen und zur Förderung einer positiven Lernkultur
samt als sehr ähnlich in Bezug auf die unterstellten Merkmale
im Schulkontext unterbreitet.
angesehen (Fremdgruppenhomogenitätseffekt), während bei
Mitgliedern der eigenen Gruppe eine höhere Unterschied-
lichkeit in den bedeutsamen Eigenschaften betont wird (Ei-
23.2 Der Einfluss von sozialen Einstellungen gengruppenheterogenitätseffekt) (Linville, Fischer & Salovey
auf Wahrnehmungs- und 1989; Park & Rothbart 1982). Negative Überzeugungen in Be-
Beurteilungsprozesse zug auf die Fremdgruppe basieren häufig auch auf sozialem
Lernen (z. B. übernehmen Kinder die Vorurteile ihrer Eltern)
oder haben ihren Ursprung in einzelnen unerfreulichen Kon-
23.2.1 Bildung und Erhalt von Stereotypen takten mit Fremdgruppenmitgliedern, wobei die negativen
und Vorurteilen Eigenschaften der Personen, mit denen man Kontakt hatte,
dann fälschlicherweise auf die gesamte Gruppe übertragen
Soziale Einstellungen umfassen Stereotype und Vorurteile. werden (Problem der Übergeneralisierung).
Stereotype enthalten Vorstellungen über positive und negati- Haben sich Stereotype und Vorurteile erst einmal entwi-
ve Eigenschaften von Menschen einer Gruppe und beziehen ckelt, sorgen verschiedene Prozesse für ihren Erhalt. So tra-
sich auf die kognitive Ebene, während Vorurteile negative gen z. B. Attributionsprozesse (Zuschreibung von Ursachen;
Wertungen über Personen einer Gruppe darstellen und da- 7 Kap. 10) dazu bei, dass Personen zu positiven Wertungen
mit auf der affektiven Ebene angesiedelt sind (Petersen & Six über die Eigengruppe und negativen Annahmen in Bezug
2008). Ein Stereotyp einer Lehrperson über Schülerinnen und auf die Fremdgruppe gelangen und diese bewahren. Diesbe-
Schüler, deren Eltern einer ökonomisch niedrigen Schicht an- züglich wird z. B. positives Verhalten der Eigengruppe und
23 gehören, könnte Elemente umfassen wie „ist mit Büchern und negatives Verhalten der Fremdgruppe eher Personenmerk-
schulischen Aktivitäten wenig vertraut“, „erhält keine Unter- malen zugeschrieben, negatives Verhalten der Eigengruppe
stützung im Elternhaus“, „kann aber trotzdem begabt und und positives Verhalten der Fremdgruppe hingegen eher auf
motiviert sein“ und „bedarf meiner besonderen Aufmerk- Situationsmerkmale attribuiert. Pettigrew (1979) nennt dies
23.2  Der Einfluss von sozialen Einstellungen auf Wahrnehmungs- und Beurteilungsprozesse
459 23
den ultimativen Attributionsfehler. Personen unterliegen fer- hohe Erwartungen niedrige Erwartungen
5
ner systematischen Verzerrungen bei der Verwendung von
4,5
Sprache, ein Phänomen, das Maass, Salvi, Arcuri und Semin
4
(1989) als linguistische Intergruppenverzerrung bezeichnet
haben. Hiernach wird positives Verhalten eines Eigengrup- 3,5
penmitglieds in abstrakten Begriffen beschrieben, das gleiche 3
Verhalten bei Fremdgruppenmitgliedern hingegen in kon- 2,5
kreten Begriffen (z. B. „Der Mitschüler meiner Klasse ist hilfs- 2
bereit.“, aber „Der Schüler der Parallelklasse hält jemandem Einschätzung nach Information Einschätzung nach Performance
die Tür auf.“). Bei der Attribuierung von negativem Verhal-
ten zeigt sich dann das umgekehrte Muster, d. h. negatives . Abb. 23.1 Beurteilung des akademischen Potenzials der Schülerin
Verhalten der Eigengruppe wird konkret beschrieben, wäh- Hannah nach der Aktivierung von Erwartungen
rend bei Fremdgruppenmitgliedern zu dessen Beschreibung
abstrakte Begriffe verwendet werden (z. B. „Der Mitschüler
lichen Tendenz zur Folge hatte (vgl. . Abb. 23.1). Die Beurteiler
meiner Klasse versetzt jemandem einen Schlag“, aber „Der
sahen also in der Leistung genau das, was sie sehen wollten.
Schüler der Parallelklasse ist aggressiv“). Darüber hinaus wer-
den Personen erwartungskonsistenten Sachverhalten auch
mehr Aufmerksamkeit schenken, diese leichter abspeichern
23.2.2 Automatische Aktivierung von
und langfristig besser erinnern als erwartungsinkonsistente
Informationen (Quinn, Macrae & Bodenhausen 2003). Fer- Stereotypen und Vorurteilen
ner führen Stereotype und Vorurteile dazu, dass Personen
selektiv solche Informationen suchen und als besonders be- Stereotype können im Alltag spontan und automatisch ak-
deutsam einschätzen, die ihren Vorannahmen entsprechen tiviert werden. Wenn eine Lehrperson z. B. zum ersten Mal
(confirmation bias; Frost, Casey, Griffin, Raymundo, Farrell auf die Schülerinnen und Schüler ihrer neuen Klasse trifft,
& Carrigan 2015). Ambivalente Informationen werden leicht können Geschlecht, Kleidung, Haarschnitt und sogar die
so interpretiert, dass sie mit dem eigenen Stereotyp oder Platzwahl der Schülerinnen und Schüler bei der Lehrperson
Vorurteil konform erscheinen und die Überzeugung in die Stereotype aktivieren, die zu einem ersten Eindruck über die
Richtigkeit der ursprünglichen Annahme noch erhöhen (pri- Schülerinnen und Schüler führen und auch bereits positive
or belief effect). und negative Gefühle beinhalten können. Schülerinnen und
Schülern wird es beim ersten Aufeinandertreffen mit neuen
Studie: Prior-belief-Effekt bei der Einschätzung von Schü- Klassenkameraden und neuen Lehrpersonen ebenso gehen.
lern und Schülerinnen Diese spontan aktivierten Stereotype beeinflussen nun die
Darley und Gross (1983) forderten vier Beurteilungsgruppen Wahrnehmung und das Verhalten – und zwar ohne, dass die
auf, das akademische Potenzial der neunjährigen Schülerin Personen sich darüber bewusst sind.
Hannah zu bewerten. Bei den Beurteilungsgruppen 1 und 2 Dieser Sachverhalt wurde zuerst von Patricia Devine
wurden entweder hohe Erwartungen (Wohnort in guter Ge- (1989) in einer Reihe von Studien nachgewiesen. Dazu teilte
gend, Eltern beide Akademiker) oder niedrige Erwartungen sie ihre US-amerikanischen Probanden in zwei Gruppen ein
(Wohnort in schlechter Gegend, Eltern einfache Arbeiter) er- und aktivierte bei der einen Gruppe das Stereotyp „Schwar-
zeugt. Anschließend sollten diese beiden Gruppen Hannahs ze“ durch eine kurze Präsentation von Wörtern, die Teil des
Potenzial allein aufgrund dieser Informationen über die sozio- Stereotyps über Schwarze waren (z. B. Jazz, Harlem), wäh-
ökonomische Schichtzugehörigkeit der Eltern einstufen. Wie rend der anderen Gruppe neutrale Wörter gezeigt wurden.
erwartet führten die hohen Erwartungen dazu, dass das Po- Nachfolgend beurteilten alle Probanden das Verhalten einer
tenzial von Hannah höher eingeschätzt wurde als wenn zuvor neutralen, weißen Zielperson, die sich mehrdeutig verhielt.
negative Erwartungen geweckt worden waren. Einer dritten Die Probanden, bei denen zuvor das Stereotyp „Schwarze“
und vierten Gruppe von Beurteilern wurde nun nach dem In- aktiviert worden war, beurteilten die Zielperson feindseliger
duzieren von positiven oder negativen Erwartungen (wie bei als Personen, denen neutrale Wörter vorgegeben worden wa-
den beiden ersten Gruppen) zusätzlich ein Video von Hannah ren. Das unterschwellig aktivierte Stereotyp „Schwarze“, das
vorgespielt, in der sie mittelmäßige Leistungen zeigte. Bei ratio- bei US-Amerikanern als wesentliche Komponenten Aggres-
naler Informationsverarbeitung sollte man erwarten, dass die sivität und Feindseligkeit enthält, hatte also die Bewertung
Beurteiler mit hohen Erwartungen aufgrund der nur mittelmä- der neutralen Zielperson beeinflusst, ohne dass dies von der
ßigen Leistung von Hannah ihre Erwartungen und damit ihre wahrnehmenden und beurteilenden Person bemerkt wurde.
Beurteilung von Hannah etwas nach unten relativieren soll- Inzwischen gibt es viele Studien, die den Einfluss von au-
ten, während die Beurteiler mit negativen Erwartungen ihre tomatisch aktivierten Stereotypen nicht nur auf die Wahrneh-
Einschätzung etwas nach oben korrigieren sollten. Tatsächlich mung, sondern auch auf spontanes Verhalten, wie z. B. Re-
aber zeigt sich, dass eine mittelmäßige Leistung nicht zur Revi- aktionen auf wahrgenommene Bedrohungen, zeigen konn-
sion der anfänglich niedrigen bzw. hohen Erwartungen führte, ten (z. B. Correll, Park, Judd & Wittenbrink 2002). Jedoch
sondern eine extremere Beurteilung in Richtung der ursprüng- führen automatisch aktivierte Stereotype nicht immer zu ste-
460 Kapitel 23  Soziale Einstellungen im Schulkontext

reotyper Wahrnehmung oder vom Stereotyp beeinflussten manipulierten sie die an die Lehrpersonen gegebenen Rück-
Verhalten. Der automatischen Aktivierung von Stereotypen meldungen bezüglich der Intelligenz der Schülerinnen und
wird im Alltag häufig noch ein zweiter Prozess nachgeschaltet Schüler, indem sie einige Schülerinnen und Schüler zufällig
sein: die sog. kontrollierte Informationsverarbeitung. Die- als „Überflieger“ einstuften. Dieses ausschließlich den Lehr-
se Informationsverarbeitung kann die Effekte der automati- personen bekannte Urteil über die intellektuelle Leistung der
schen Informationsverarbeitung aufheben oder modifizieren. Schülerinnen und Schüler beeinflusste die intellektuelle Fä-
Dem Kontinuum-Modell der Eindrucksbildung von Fiske higkeit sowie die Schulnoten der betroffenen Schülerinnen
und Neuberg (1990) zufolge ist eine wesentliche Vorausset- und Schüler in positiver Weise: Am Ende des Schuljahres wie-
zung dafür, dass die Wahrnehmung, die Beurteilung oder sen die „Überflieger“ einen bedeutsam stärkeren Zuwachs in
das Verhalten für die wahrnehmende bzw. agierende Person ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit auf als die anderen Schü-
wichtig sein muss. Dies kann z. B. dann der Fall sein, wenn lerinnen und Schüler, die einer Kontrollgruppe zugewiesen
die wahrnehmende oder agierende Person wichtige soziale wurden. Für diesen positiven interpersonalen Erwartungsef-
Interaktionen mit der Zielperson unterhält (Neuberg & Fiske fekt im Schulunterricht etablierte sich der Begriff Pygmalion-
1987). Ferner kann auch das Gefühl der Verantwortlichkeit Effekt. In Folgestudien widmete man sich insbesondere den
der wahrnehmenden oder agierenden Person für ihre Ein- Ursachen für diesen Effekt. Dabei stellte sich heraus, dass die
drücke oder Handlungen dazu führen, dass die kontrollierte Lehrpersonen ihr Verhalten gegenüber den als „Überflieger“
Informationsverarbeitung die automatische stereotype Infor- klassifizierten Schülerinnen und Schülern verändert haben.
mationsverarbeitung ersetzt. Von daher ist es wahrschein- So sorgten die Lehrpersonen für ein positiveres sozioemo-
lich, dass Lehrpersonen, die sich für ihre Schülerinnen und tionales Klima gegenüber diesen Schülerinnen und Schülern,
Schüler verantwortlich fühlen und danach streben, faire und gaben diesen Schülerinnen und Schülern häufiger Rückmel-
gerechte Beurteilungen vorzunehmen, auch motiviert sein dung für ihre Leistungen und betrauten sie auch mit an-
werden, die automatische Informationsverarbeitung durch spruchsvolleren Aufgaben. Dieses veränderte Verhalten der
eine kontrollierte Informationsverarbeitung zu ersetzen. Fer- Lehrpersonen führt auf Seiten der Schülerinnen und Schüler
ner führt auch der häufige und im Schulkontext sich bisweilen zu der Wahrnehmung, dass sie von den Lehrpersonen mehr
auf mehrere Jahre erstreckende Kontakt zwischen Lehrperso- gemocht werden, dass die Lehrperson ihre Leistung positiv
nen sowie Schülerinnen und Schülern dazu, dass stereotype bewertet oder geht mit einer positiveren Bewertung der Lehr-
Informationen gegenüber individuellen, im täglichen Kon- person einher. Die Schülerinnen und Schüler selbst veränder-
takt vermittelten Informationen an Bedeutung verlieren. ten ihr Selbstkonzept, nahmen sich als leistungsorientierter
wahr und arbeiteten in der Folge auch härter (Jussim, Ro-
bustelli & Cain 2009). Spätere Studien konnten dann auch
23.2.3 Leistungsverschlechterungen zeigen, dass negative Erwartungen zu Leistungsverschlech-
durch aktivierte Stereotype terungen führen. Dieser Sachverhalt wird als Golem-Effekt
bezeichnet (Davidson & Eden 2000). Das Ausmaß des Er-
wartungseffektes hängt auch vom Alter der Schülerinnen und
Stereotype beeinflussen jedoch nicht nur die wahrnehmen- Schüler ab: Jüngere Schülerinnen und Schüler sind emp-
den Personen, sondern haben auch nachhaltigen Einfluss auf fänglicher für Beeinflussungen als ältere Schülerinnen und
die Personen, auf die Stereotype gerichtet sind. So kann die Schüler (Kuklinski & Weinstein 2001).
Aktivierung von Stereotypen in sozialen Interaktionen dazu Ein weiterer Mechanismus, der ebenfalls stereotypkon-
führen, dass sich Mitglieder einer stereotypisierten Gruppe formes Verhalten hervorbringen kann, wird als stereotype
den stereotypen Erwartungen ihrer Interaktionspartner an- threat (Steele 1997) bezeichnet. Stereotype threat beschreibt
passen. Dieses Phänomen wurde vom Soziologen Merton das Phänomen, dass Angehörige stereotypisierter Gruppen,
(1948) selbsterfüllende Prophezeiung genannt. die sich der ihnen entgegengebrachten Stereotype bewusst
sind, Angst haben, die Stereotype zu bestätigen.
Selbsterfüllende Prophezeiung: Wenn eine ursprünglich
unbegründete Erwartung zu ihrer eigenen Bestätigung Stereotype threat: Die Befürchtung von Mitgliedern einer
führt. Die zu Beginn unrichtigen Erwartungen eines Be- Gruppe, ihr Verhalten in stereotyprelevanten Situationen
trachters über eine Zielperson und die den Erwartungen könne negative Stereotype über ihre Gruppe bestätigen.
entsprechenden Verhaltensweisen des Betrachters gegen-
über der Zielperson bewirken, dass sich die Zielperson so
verhält, dass die Erwartungen des Betrachters bestätigt Wenn Mädchen z. B. komplizierte Matheaufgaben lösen
werden. sollen, könnten sie Angst haben, dem weitverbreiteten Ste-
reotyp zu entsprechen, dass Mädchen in Mathe schlechter
seien als Jungen. Oder wenn übergewichtige Jungen im Sport-
23 Das Phänomen der selbsterfüllenden Prophezeiungen er- unterricht am Reck vorturnen sollen, könnten sie in Sorge
langte v. a. durch eine von Rosenthal und Jacobson (1968) sein, dem Stereotyp des unsportlichen Übergewichtigen zu
mit Lehrpersonen und Schülerinnen und Schülern durch- entsprechen. Die durch die wahrgenommene Bedrohung aus-
geführte Untersuchung Interesse. Nach einem Intelligenztest gelöste zusätzliche kognitive und emotionale Aktivität kann
23.3  Die Änderung von sozialen Einstellungen im Schulkontext
461 23
Aktivierung des Geschlechtsstereotyps Schüler demotivieren, ihre Fähigkeitskonzept beeinträchti-
keine Aktivierung des Stereotyps gen (Good & Brophy 2007) und mittels einer selbsterfüllen-
15
den Prophezeiung die erwarteten negativen Leistungen der
14
Schülerinnen und Schüler erst verursachen. Auch stereotype
13 threat kann zur Verminderung der Leistung bei den vom
12 Stereotyp betroffenen Schülerinnen und Schüler führen. Die
11 Forschung konnte hier Faktoren auf kognitiver, affektiver und
10 motivationaler Ebene identifizieren. Auf kognitiver Ebene ist
9
von besonderer Bedeutung, dass es durch die Stereotypakti-
Mädchen Jungen vierung zu einer verminderten Verfügbarkeit der Kapazität
des Arbeitsgedächtnisses kommen kann (Schmader & Johns
. Abb. 23.2 Mathematikleistung bei Jungen und Mädchen als Funktion 2003), negative Gedanken auftreten können (Cadinu, Maass,
der Beschreibung des Tests Rosabianca & Kiesner 2005) und die Ausführung von Lö-
sungsstrategien gestört wird (Quinn & Spencer 2001). Auf
affektiver Ebene konnte gezeigt werden, dass die Stereotypak-
in der Folge zu Leistungseinbußen oder stereotypkonformem
tivierung die physiologische Erregung (Blascovich, Spencer,
Sozialverhalten führen. Derartige Folgen sind auch in einer
Quinn & Steele 2001) und die Angst vor dem Versagen (Bos-
Vielzahl von Experimenten nachgewiesen wurden (Inzlicht
son, Haymovitz & Pinel 2004) erhöht. Auf motivationaler
& Schmader 2012; Keller 2008). Exemplarisch werden hierzu
Ebene ist schließlich festzustellen, dass von der Stereotyp-
nachfolgend das Vorgehen und die Ergebnisse der Schüler-
aktivierung betroffene Personen ihre Leistungserwartungen
studie von Keller und Dauenheimer (2003) dargestellt.
(Cadinu, Maass, Frigerio, Impagliazzo & Latinotti 2003) und
Studie: Stereotype threat im Klassenzimmer Zielsetzungen (Kray, Galinsky & Thompson 2002) absenken
Keller und Dauenheimer (2003) gaben in einem Feldexperi- und infolge dessen die Aufgaben womöglich schon weniger
ment Schülern und Schülerinnen der zehnten Klasse einer ambitioniert bearbeiten.
Realschule einen Mathematiktest vor. In der Stereotype-threat- Zum anderen können auch Stereotype und Vorurteile bei
Bedingung lasen die Schülerinnen und Schüler vor der Bear- den Schülerinnen und Schülern selbst dazu führen, dass in
beitung der Mathematikaufgaben Informationen, die den Test sozialen Interaktionen betroffene Schülerinnen und Schü-
als eine Zusammenstellung von Aufgaben beschrieben, bei ler ausgegrenzt werden und Diskriminierung erleben. Die
denen sich in vorherigen Studien Geschlechtsunterschiede ge- Zugehörigkeit zu Gruppen und positive Erlebnisse in Grup-
zeigt hätten. Diese Manipulation sollte das Stereotyp „Mädchen pensituationen sind für Kinder und Jugendliche von zentraler
können kein Mathe“ aktivieren. In der Kontrollbedingung wur- Bedeutung für die Entwicklung (Wigfield, Eccles & Pintrich
de der Test ohne eine derartige Instruktion vorgegeben und 1996). Ausgrenzung und Diskriminierung durch Mitschü-
damit also kein Stereotyp aktiviert. In . Abb. 23.2 sind die Leis- ler und Gleichaltrige kann zur Ausbildung eines niedrigen
tungsergebnisse in den unterschiedlichen Experimentalbedin- Selbstwertgefühls und Identitätsproblemen führen (Wentzel
gungen dargestellt. Die Studie erbrachte, dass Mädchen unter & Asher 1995; Wong, Eccles & Sameroff 2003). Außerdem
der Stereotype-threat-Bedingung deutlich schlechtere Ergeb- können auch emotionale Probleme auftreten wie Einsam-
nisse zeigten als Jungen, während sich ihre Leistungen in der keit und depressive Verstimmung (Brody, Chen, Murry, Ge,
Kontrollbedingung nicht von denen der Jungen unterschieden. Simons, Gibbons, Gerrad & Cutrona 2006). Schülerinnen
und Schüler, die dauerhaft ausgegrenzt werden, können sich
generell von der Institution Schule abwenden; dies kann
sich in einer geringen Erfolgserwartung in Bezug auf schu-
23.3 Die Änderung von sozialen lische Tätigkeiten und niedriger akademischer Motivation
Einstellungen im Schulkontext ausdrücken, in schlechten Schulleistungen und der Etablie-
rung von Freundschaften mit anderen Schülerinnen und
Schülern, die negative Einstellungen gegenüber der Schu-
23.3.1 Beeinträchtigungen durch Stereotype le aufweisen (Cokley 2002, Mickelson 1991; Taylor, Casten,
und Vorurteile im Schulkontext Flickinger, Roberts & Fulmore 1994). Insgesamt resultiert
aus diesen Faktoren eine geringere Wahrscheinlichkeit, ei-
In den letzten Abschnitten wurde dargestellt, dass die Aktivie- ne höhere Bildungslaufbahn zu beginnen und erfolgreich zu
rung von Stereotypen und Vorurteilen zu schlechteren Leis- absolvieren. Daher sind Interventionen erforderlich, die zur
tungen bei den betroffenen Schülerinnen und Schülern füh- Reduzierung von Stereotypen und Vorurteilen beitragen und
ren kann. Dies kann zum einen durch Wahrnehmungs- und die eine Lernumgebung schaffen, in denen die Schülerinnen
Beurteilungsprozesse der Lehrpersonen geschehen, die ge- und Schüler unabhängig von ihrer Gruppenzugehörigkeit ihr
genüber Schülerinnen und Schülern, die bestimmten Grup- akademisches Potenzial ausschöpfen können. Nachfolgend
pen angehören, Vorurteile und Stereotype aufweisen. Lehr- werden solche Interventionsmöglichkeiten vorgestellt, die auf
personen, die von Schülerinnen und Schülern bestimmter grundlegenden sozialpsychologischen Theorien und Befun-
Gruppen wenig erwarten, können diese Schülerinnen und den basieren.
462 Kapitel 23  Soziale Einstellungen im Schulkontext

23.3.2 Reduzierung von Vorurteilen Verlernen bzw. eine Korrektur bestehender Vorurteile zu er-
durch Intergruppenkontakt möglichen. Günstig zum Abbau von Vorurteilen ist ferner,
wenn die Mitglieder der unterschiedlichen Gruppen mit-
einander kooperieren müssen, um übergeordnete Ziele zu
Die Idee, dass direkter Kontakt von Angesicht zu Angesicht
erreichen. Gemeinsame Ziele sind dabei solche, die von bei-
zwischen Mitgliedern unterschiedlicher ethnischer, religiöser
den Gruppen gewünscht und geschätzt werden, aber nicht
oder anderweitig definierter Gruppen eine effektive Metho-
von einer Gruppe allein, sondern nur in Kooperation mit
de zum Abbau von Vorurteilen sein kann, wurde von Allport
Mitgliedern der anderen Gruppe erreicht werden können.
(1954) unter dem Begriff „Kontakthypothese“ in die Psycho-
Derartige gemeinsame Anstrengungen ermöglichen direkte
logie eingebracht. Allport (1954, S. 281; Übersetzung von
Erfahrungen mit Mitgliedern der Fremdgruppe und geben
Stürmer 2008) fasste diese Idee folgendermaßen zusammen:
Anlass zu einer positiven Neubewertung der Fremdgruppe;
„Vorurteile können (wenn sie nicht tief in der Persönlich-
insbesondere bei erfolgreichem Ausgang der Kooperation.
keit des Einzelnen verwurzelt sind) durch gleichberechtigten
Schließlich wird der Abbau von Vorurteilen auch noch da-
Kontakt zwischen Majorität und Minorität beim Verfolgen
durch unterstützt, wenn Autoritäten zum Intergruppenkon-
gemeinsamer Ziele verringert werden. Die Wirksamkeit ist
takt ausdrücklich ermutigen und dabei Normen oder Regeln
sehr viel größer, wenn der Kontakt durch institutionelle Un-
etablieren, die den gleichberechtigten Umgang zwischen Mit-
terstützung sanktioniert wird (z. B. durch Gesetz, Sitten und
gliedern unterschiedlicher Gruppen fördern.
die örtliche Atmosphäre) und so beschaffen ist, dass er zur
Möchten Lehrpersonen den Intergruppenkontakt för-
Entdeckung gemeinsamer Interessen und der gemeinsamen
dern, so sollten sie in einer initialen Phase erst einmal da-
Menschlichkeit beider Gruppen führt.“ In dieser frühen Aus-
mit beginnen, die Bereitschaft der Schülerinnen und Schüler
formulierung der Kontakthypothese wird bereits deutlich,
der unterschiedlichen Gruppen zu fördern, miteinander in
dass es nicht einfach damit getan ist, Menschen unterschied-
Kontakt zu treten. Dies kann geschehen, indem man Kon-
licher Gruppen miteinander in Kontakt zu bringen, son-
takte auf der Basis gemeinsamer individueller Eigenschaften
dern dass verschiedene Randbedingungen erfüllt sein sollten,
und Bedürfnisse der beteiligten Schülerinnen und Schüler
wenn man den gewünschten Effekt, den Abbau von gegensei-
(z. B. Hobbys oder Sportarten) initiiert. Die Gruppenzuge-
tigen Vorurteilen, erzielen möchte.
hörigkeit sollte dabei in den Hintergrund treten (Dekate-
gorisierung) und die beteiligten Schülerinnen und Schüler
Im Fokus: Intergruppenkontakt sollten die Möglichkeit haben, Mitglieder der anderen Grup-
pe kennenzulernen, neues Wissen über diese Personen zu
Günstige Randbedingungen für den Intergruppenkontakt erwerben und den ursprünglichen Vorurteilen und Vorbehal-
nach Allport (1954) und Pettigrew (1998) ten widersprechende Verhaltensweisen zu zeigen. In diesen
1. Kontakte, die eine echte Bekanntschaft, bestenfalls für alle Schülerinnen und Schüler befriedigenden Aktivitä-
Freundschaft, ermöglichen ten können sich „Intergruppenangst“ (Nervosität, Angst oder
2. gleicher Status zwischen den Gruppen Unsicherheit im Umgang mit Schülerinnen und Schülern
3. intergruppale Kooperation fremder Gruppen) abbauen und die Basis für freundschaft-
4. gemeinsame Ziele liche Beziehungen geschaffen werden. Hat sich ein positiver
5. Unterstützung des Kontakts durch Autoritäten, Normen Kontakt etabliert, ist es wichtig, die Gruppenmitgliedschaften
und Gesetze vorübergehend wieder zu betonen, damit der befriedigende
Kontakt mit einzelnen Mitgliedern der Fremdgruppe nicht
nur zu einer positiven Bewertung dieser konkreten Interak-
Entsprechend der dargestellten optimalen Randbedin- tionspartner, sondern zu einer Neubewertung der gesamten
gungen für den Intergruppenkontakt (7 Im Fokus) sollte Fremdgruppe führt. Im besten Fall kommt es zu einer Verän-
Häufigkeit, Dauer und Enge des Intergruppenkontaktes hin- derung der bislang vorgenommenen Einteilung in Eigen- und
reichend groß sein, um echte Bekanntschaft und im Idealfall Fremdgruppe (Rekategorisierung) und die Vorstellung einer
sogar Freundschaften zwischen den Mitgliedern der unter- übergeordneten gemeinsamen Eigengruppe entsteht (wir C
schiedlichen Gruppen zu ermöglichen. Einmalige Kontak- sie D wir). Allerdings ist eine Überwindung der intergruppa-
te bzw. sogenannte Good-will-Kontakte bilden keine ausrei- len Differenzierung nicht immer realistisch. Einige Kategori-
chende Grundlage für den Abbau von Vorurteilen. In den en sind chronisch salient, wie z. B. Geschlecht und ethnische
Kontaktsituationen sollten die Mitglieder der unterschied- Zugehörigkeit. Hier kann Kontakt allerdings zu einer wech-
lichen Gruppen den gleichen Status (z. B. hinsichtlich Bil- selseitigen Differenzierung der Annahmen über Eigengruppe
dung, Beruf) haben. Insbesondere sollte vermieden werden, und Fremdgruppe führen (Otten & Matschke 2008). Die
dass die Mitglieder der Minoritätsgruppe einen niedrigeren Schülerinnen und Schüler können zu der Einsicht gelangen,
Status haben als die Mitglieder der Majoritätsgruppe. In ei- dass es neben der von der eigenen Gruppe bevorzugten Ein-
23 nem solchen Fall könnten die Vorurteile der Mitglieder der stellungen und Verhaltensweisen auch noch andere gibt und
Majorität gegenüber den Minoritätsmitgliedern beim Inter- dass man Gruppen, die solche abweichenden Überzeugungen
gruppenkontakt allzu leicht auch noch Bestätigung erfahren. und Verhaltensweisen zeigen, offen und respektvoll begegnen
Ein Kontakt auf Augenhöhe ist also erforderlich, um ein sollte („Deprovinzialisierung“, Pettigrew 1998).
23.3  Die Änderung von sozialen Einstellungen im Schulkontext
463 23
23.3.3 Eine Anwendung der seiner Wirksamkeit eine Zeitspanne von mehr als 40 Jahren
Kontakthypothese in der Schule: (Aronson & Pattnoe 1997). In den Untersuchungen wur-
Das Gruppenpuzzle den in traditioneller Weise unterrichtete Schülerinnen und
Schüler mit Schülerinnen und Schülern verglichen, in de-
ren Klassen die Gruppenpuzzleübung angewendet wurde. Es
Ein spezielles Verfahren, das aufbauend auf den Prinzipien zeigte sich, dass Schülerinnen und Schüler, die mit der Grup-
der Kontakthypothese entwickelt wurde, ist das Gruppen- penpuzzleübung lernten, nicht nur weniger Stereotype und
puzzle (Aronson 1978). Dabei teilen die Lehrpersonen die Vorurteile gegenüber Mitgliedern von Fremdgruppen zeig-
Schülerinnen und Schüler ihrer Klasse in kleinere, aufga- ten, sondern auch ein höheres Selbstwertgefühl aufwiesen,
benbezogene Gruppen von üblicherweise sechs Schülerinnen lieber zur Schule gingen und bessere Lernerfolge verbuch-
und Schüler ein. Bei dieser Einteilung legen die Lehrperso- ten (Borsch 2015). Der Erfolg dieser Methode ist zum einen
nen den Fokus darauf, Schülerinnen und Schüler bestehender darauf zurückzuführen, dass die von der Kontakthypothe-
Gruppen, z. B. unterschiedlicher Geschlechtsgruppen, ethni- se postulierten optimalen Bedingungen für eine Interaktion
scher Gruppen oder sonstiger Kategorien (z. B. Behinderung) realisiert werden: So arbeiten die Schülerinnen und Schüler
in den neuen, aufgabenbezogenen Gruppen zu mischen. Eine kooperativ in Richtung auf ein gemeinsames Ziel hin, jede
Unterrichtseinheit wird dann in sechs Unteraufgaben un- Schülerin und jeder Schüler hat in ihrer bzw. seiner Grup-
terteilt, die den einzelnen Schülerinnen und Schülern der pe den gleichen Status und ist aufgrund ihres bzw. seines
aufgabenbezogenen Gruppe zugewiesen werden. Dabei ist Expertenwissens gleichermaßen bedeutsam, um das gemein-
darauf zu achten, dass diese Unteraufgaben alle gleich wichtig same Ziel zu erreichen. Auch wird die Kontaktsituation durch
und alle Beiträge zum Erzielen des gemeinsamen Lernerfol- Autoritäten in Form von Lehrpersonen oder der Schule ge-
ges notwendig sind, so dass jede Schülerin und jeder Schüler fördert und unterstützt. Zum anderen wird in den Klassen, in
einen bedeutsamen Teil des Gesamtprojekts bearbeitet. In denen das Gruppenpuzzle Anwendung findet, dadurch, dass
der ursprünglichen Version des Gruppenpuzzles beschäftig- jede Schülerin und jeder Schüler ihren bzw. seinen Gruppen-
ten sich die Schülerinnen und Schüler allein mit den Un- mitgliedern Aufmerksamkeit und Verständnis zukommen
teraufgaben und brachten dann später ihre Erkenntnisse in lassen muss, auch die Entwicklung der Empathie bei den
die Gesamtgruppe ein. In einer neueren Version des Grup- Schülerinnen und Schülern gefördert (Bridgemann 1981).
penpuzzles kommen die Mitglieder der unterschiedlichen
aufgabenbezogenen Gruppen, die dieselbe Unteraufgabe be-
Studie: Intergruppenfreundschaften in der Klasse durch
arbeiten, in einer Expertengruppe zusammen und erarbeiten
kooperatives Lernen
ihre Aufgabenlösung dort gemeinsam (Slavin 1995). Dies
Ziegler (1981) überprüfte die Effekte kooperativen Lernens auf
soll sicherstellen, dass alle Schülerinnen und Schüler für ih-
die Bildung interethnischer Freundschaften in Schulklassen. In
re Unteraufgabe auch eine elaborierte und korrekte Lösung
den Klassen, die nach der Methode des Gruppenpuzzles un-
besitzen, die sie dann in ihrer aufgabenbezogenen Gruppe
terrichtet wurden, bearbeiteten Gruppen von Kindern unter-
(Stammgruppe) einbringen können. Geschaffen wird so ei-
schiedlicher ethnischer Zugehörigkeit für etwa 80 Minuten pro
ne kooperative Lernsituation, in der jede Schülerin und jeder
Woche gemeinsam Aufgaben. Regelmäßig durchgeführte Wis-
Schüler ihr bzw. sein Expertenwissen den anderen Schülerin-
senstests berücksichtigten bei der Notengebung sowohl die
nen und Schülern erfolgreich vermitteln muss und gleichzei-
Leistung der einzelnen Schülerinnen und Schüler als auch die
tig darauf angewiesen ist, dass auch die anderen Schülerinnen
des Teams. Gemessen wurden die Anzahl der von den Schü-
und Schüler ihr Wissen mit ihr bzw. ihm teilen. Auf diese
lerinnen und Schüler genannten interethnischen Freundschaf-
Art und Weise werden Schülerinnen und Schüler, die sonst
ten vor und nach der Interventionsphase. Verglichen wurde
womöglich wenig oder gar nicht miteinander interagieren,
die Entwicklung der interethnischen Freundschaftsbeziehun-
dazu gebracht, miteinander zu kommunizieren, einander zu
vertrauen und sich Wertschätzung entgegenzubringen. Am
Ende erfolgt dann ein Lerntest, in dem die Schülerinnen und Kontrollklassen Gruppenpuzzle-Klassen
3
Schüler sowohl für ihre individuelle Leistung als auch für die
Leistung ihrer Gruppenmitglieder bewertet werden. 2,5
2
1,5
Gruppenpuzzle: Eine Form kooperativen Lernens, die dem
Zweck dient, Vorurteile abzubauen und den Lernerfolg 1
der Schülerinnen und Schüler zu steigern, indem man 0,5
sie in kleine Gruppen einteilt, deren Mitglieder nur in 0
Abhängigkeit voneinander den Lehrstoff umfassend Vor der Intervention Nach der Intervention
lernen und erfolgreich sein können.
. Abb. 23.3 Anzahl genannter Freunde in der Klasse aus einer
ethnischen Fremdgruppe vor der Intervention (links) und zehn Wochen
Das Gruppenpuzzle wurde von Aronson bereits 1971 ent- nach Abschluss der Intervention (rechts) für die Kontrollklassen und die
Klassen, in denen kooperatives Lernen praktiziert wurde
wickelt und mittlerweile umfassen Forschungsarbeiten zu
464 Kapitel 23  Soziale Einstellungen im Schulkontext

gen in den Interventionsklassen mit Kontrollklassen, in denen hatten (Cameron, Rutland, Hossain & Petley 2011). Effekte
die Lehrpersonen komplett auf Gruppenarbeit verzichteten. älterer Studien, in denen Kindern Ausschnitte aus Fernseh-
Die Ergebnisse der Studie zeigen (vgl. . Abb. 23.3), dass so- sendungen gezeigt wurden, können auch über die Hypothese
wohl in den Kontrollklassen als auch in den Interventionsklas-des erweiterten Kontaktes interpretiert werden. In diesen Stu-
sen die Anzahl der interethnischen Freundschaften im Verlaufe dien wurde u. a. gezeigt, dass US-amerikanische Kinder nach
des Schuljahres zunahmen. Bei Einsatz des Gruppenpuzzles dem Betrachten von ausgewählten Sendungen der Sesamstra-
nahmen die Anzahl der interethnischen Freundschaften in der ße, in denen Weiße, Schwarze und Latinos freundschaftlich
Klasse aber deutlich stärker zu. miteinander agierten, Kinder der Minderheiten ein positi-
veres Selbstkonzept aufwiesen und weiße Kinder positivere
Einstellungen gegenüber Schwarzen und Latinos berichteten
23.3.4 Erweiterter und vorgestellter Kontakt (Fisch, Truglio & Cole 1999; Lovelace & Scheiner 1994). Die-
se Effekte verstärken sich noch, wenn Erziehungsberechtigte
nach dem Betrachten der Fernsehsendungen mit den Kin-
In den letzten Abschnitten wurde gezeigt, dass nach den Prin-
dern über die Inhalte reden (Vittrup & Holden 2011). Die
zipien der Kontakthypothese gestaltete Intergruppenkontakte
Effekte des erweiterten Kontaktes sind dabei insbesondere
und die darauf aufbauende Methode des Gruppenpuzzles zur
darauf zurückzuführen, dass bei den Kindern die Angst vor
Reduzierung von negativen Einstellungen gegenüber Fremd-
Intergruppenkontakten abgebaut wird und sie erkennen, dass
gruppenmitgliedern und zu besseren Intergruppenbeziehun-
Intergruppenkontakte sowohl in der Eigengruppe als auch in
gen führen können. Allerdings sind direkte Gruppenkontakte
der Fremdgruppe gewünscht werden und positive Wertschät-
mitunter organisatorisch aufwendig und bergen zudem die
zung erhalten (Cameron, Rutland, Hossain & Petley 2011).
Gefahr, dass sich bei ungünstigem Verlauf des Kontaktes
Stereotype und Vorurteile auch verfestigen können. Daher
versuchen neuere Ansätze die Vorteile der Kontaktsituation Die Hypothese des vorgestellten Kontaktes: Die Hypo-
zu erzielen, ohne die Risiken einzugehen. Prominent sind hier these postuliert, dass die mentale Simulation, also die
die Hypothese des erweiterten Kontaktes (extendet contact Imagination von positiven sozialen Kontakten mit Fremd-
hypothesis, Wright, Aron, McLaughlin-Volpe & Ropp 1997) gruppenmitgliedernbereits zu verbesserten Einstellungen
und die Methode des vorgestellten Kontaktes (imagined con- gegenüber der Fremdgruppe und zum erhöhten Wunsch
tact, Crisp & Turner 2009; Turner, Crisp & Lambert 2007). nach Intergruppenkontakt führen kann.

Die Hypothese des erweiterten Kontaktes: Die Hypothese Bei der Methode des vorgestellten Kontaktes sollen sich
postuliert, dass allein das Wissen, dass ein Mitglied der die Teilnehmer üblicherweise zunächst vorstellen, dass sie
eigenen Gruppe freundschaftliche Beziehungen zu einem ein Mitglied einer Fremdgruppe neu kennenlernen und mit
Fremdgruppenmitglied unterhält, Vorurteile abbauen und dieser Person interagieren. Der soziale Kontakt soll dabei in
positivere Einstellungen gegenüber der Fremdgruppe entspannter, angenehmer Atmosphäre verlaufen (z. B. eine
bewirken kann. Geburtstagsparty) und positive Elemente (z. B. ein gemein-
samer Verzehr einer Geburtstagstorte) enthalten. Nachdem
sich die Teilnehmer diese Situation einige Minuten vorge-
Die Hypothese des erweiterten Kontaktes erfuhr bezüg- stellt haben, werden sie dann häufig noch aufgefordert, ihre
lich junger Erwachsener (Liebkind & McAllister 1999; Tur- Vorstellungen in einem kurzen Text niederzuschreiben. Die-
ner, Hewstone, Voci & Vonofakou 2008) und erwachsener se Aufgabe kann die Elaboration der Vorstellungen von der
Personen (Paolini, Hewstone, Cairns & Voci 2004) umfang- sozialen Situation erhöhen (Husnu & Crisp 2010). Die Idee
reiche Bestätigung. In jüngerer Zeit wurde auch überprüft, ist dabei, dass bei der Vorstellung und Verschriftlichung ei-
ob positive Effekte des erweiterten Kontaktes ebenso bei nes positiven Kontaktes mit einem Fremdgruppenmitglied
Kindern festgestellt werden können. In diesen Studien hör- vergleichbar vorteilhafte Gedanken und Gefühle aktiviert
ten oder lasen Schulkinder Geschichten, in denen von Ei- werden wie bei einer realen positiven Kontaktsituation. Ei-
gengruppenmitgliedern berichtet wurde, die Freundschaften ne Reihe von empirischen Studien konnte zeigen, dass mit
mit Fremdgruppenmitgliedern pflegten (Cameron, Rutland, dieser Methode explizite Einstellungen (Harwood, Paolini,
Brown & Douch 2006; Cameron, Rutland & Brown 2007). In Joyce, Rubin & Arroyo 2011; West, Holmes & Hewstone
einigen Studien wurden zusätzlich Gruppendiskussionen, das 2011), implizite Einstellungen (Turner & Crisp 2010; Vezzali,
Verfassen eigener Geschichten oder Cartoons genutzt (Lieb- Capozza, Giovannini & Stathi 2012) als auch Verhaltensin-
kind, Mähönen, Solares, Solheim & Jasinskaja-Lahti 2014). Es tentionen (Turner, West & Christie 2013) positiv beeinflusst
zeigte sich, dass diese Interventionen bei den Kindern zur Ab- werden können. Der Einsatz der Methode des vorgestellten
nahme von Vorurteilen und zu positiveren Einstellungen ge- Kontaktes verstärkte dabei die Positivität der Einstellungen
23 genüber zukünftigen Kontakten mit Mitgliedern der Fremd- zur Fremdgruppe und die wahrgenommene Heterogenität
gruppe führen. Positive Effekte zeigten sich insbesondere bei ihrer Mitglieder (Turner, Crisp & Lambert 2007), die der
jüngeren Kindern und Kindern, die in ihrem bisherigen Le- Fremdgruppe zugeschriebenen positiven Eigenschaften (Sta-
ben wenig direkten Kontakt zu Mitgliedern der Fremdgruppe thi & Crisp 2008), die Selbstwirksamkeitsüberzeugungen für
23.4  Fazit
465 23
Kontaktsituationen (Stathi, Crisp & Hogg 2011) sowie das Kontrollbedingung Interventionsbedingung
5
Vertrauen in die Fremdgruppe (Pagotto, Visintin, De Iorio
& Voci 2013; Vezzali, Capozza, Stathi & Giovannini 2012) 4
und reduzierte Intergruppenangst (Turner, Crisp & Lambert 3
2007) sowie negative Stereotypisierungen der Fremdgrup-
2
penmitglieder (Brambilla, Ravenna & Hewstone 2012; Stathi,
Tsantila & Crisp 2012). Eine aktuelle Meta-Analyse von Miles 1
und Crisp (2014) konnte bei Einbezug von 70 Einzelstu- 0
dien zeigen, dass der Effekt von vorgestelltem Kontakt auf Positivität der Einstellung Wunsch nach Kontakt
die erhobenen abhängigen Variablen robust ausfällt, aller-
dings nur eine moderate Höhe aufweist. Insgesamt lässt sich . Abb. 23.4 Positivität der Einstellung gegenüber dem Kind der
sagen, dass die Methode des vorgestellten Kontaktes einige Fremdgruppe (Einstufung auf 10 Eigenschaftsdimensionen) und der
Wunsch nach Kontakt mit einem Kind der Fremdgruppe (konkret:
bedeutsame Vorteile hat: Sie kann eingesetzt werden, wo ech-
Das Kind im Park zu treffen und mit ihm zu spielen) bei Kindern der
ter Kontakt oder erweiterter Kontakt schwer zu realisieren Kontrollgruppe und der Interventionsgruppe mit vorgestelltem Kontakt
ist (z. B. an Orten, wo Mitglieder bestimmter Fremdgrup-
pen nicht sehr zahlreich sind). Außerdem ist die Methode
einfach und kostengünstig zu implementieren. Nachteilig ist, Kontakt zu haben. Es zeigten sich signifikante Effekte zuguns-
dass die in den Studien gefundenen Effekte nicht sehr groß ten der Interventionsgruppe (vgl. . Abb. 23.4).
und vermutlich auch nicht von langer Dauer sind (Bigler &
Hughes 2010). Aus diesen Gründen sollte die Methode des
vorgestellten Kontaktes auch nicht als ein Ersatz von direk- 23.4 Fazit
ten Intergruppenkontakten aufgefasst werden, sondern als
ein erster einfacher Schritt in einer Reihe von Maßnahmen, Negative Einstellungen und Vorurteile sind in der Lage, den
die zur Etablierung besserer Einstellungen gegenüber Fremd- Bildungserfolg von davon betroffenen Schülern ungünstig
gruppen beitragen können. zu beeinflussen. Lehrpersonen, die Vorurteile gegenüber be-
stimmten Schülerinnen und Schülern haben, können bei die-
sen Schülerinnen und Schülern das Selbstbild, die Lernmoti-
Studie: Vorgestellter Kontakt im Klassenzimmer vation und das Fähigkeitskonzept verschlechtern. Dies kann
Stathi, Cameron, Hartley und Bradford (2014) untersuchten bei durch vielfältige Prozesse in der Schüler-Lehrer-Interaktion
129 weißen, US-amerikanischen Schulkindern zwischen 7 und und in der Bewertung der Schülerinnen und Schüler durch
9 Jahren den Einfluss von vorgestelltem Kontakt auf deren die Lehrperson geschehen, wie z. B. den Prior-belief -Effekt,
Einstellungen gegenüber Fremdgruppenmitgliedern (Asiaten) selbsterfüllende Prophezeiungen und stereotype threat. Vor-
und auf den Wunsch nach Intergruppenkontakt. Die Studien- urteile, die Schülerinnen und Schüler untereinander hegen
teilnehmer wurden zufällig einer Kontrollgruppe oder der In- und die sich im Schulalltag in diskriminierenden Verhaltens-
terventionsgruppe mit vorgestelltem Kontakt zugewiesen. Den weisen äußern können, beeinträchtigen ebenfalls den Bil-
Kindern der Interventionsgruppe wurden in drei Sitzungen gro- dungserfolg betroffener Schülerinnen und Schüler. Vermit-
ße Bilder von sozialen Situationen vorgegeben (Treffen im Park, telt wird dies über emotionale Probleme wie Ängstlichkeit,
eine Geburtstagsparty, Treffen am Strand) und mehrere kleine Einsamkeit, depressive Verstimmung sowie Selbstwert- und
Bilder mit dazugehörigen Objekten (ein Hund, eine Geburts- Identitätsprobleme. Daher sind Interventionen wünschens-
tagstorte, eine Sandburg etc.). Ferner erhielten die Kinder ein wert, die die angeführten negativen Effekte zu verhindern
Bild von sich selbst und einem asiatischen Kind (passend zum helfen und die allen Schülerinnen und Schülern eine Lern-
eigenen Geschlecht), verbunden mit einigen persönlichen In- umgebung verschaffen, in der sie ihr persönliches und aka-
formationen über das fremde Kind (persönliche Vorlieben, Stär- demisches Potenzial realisieren können. Die psychologische
ken etc.). Die Bilder der asiatischen Kinder variierten, um eine Forschung stellt hier eine Reihe an Möglichkeiten zur Verfü-
Generalisierung der erwünschten Effekte auf die Gruppe der gung: Kontakthypothese, Dekategorisierung, Rekategorisie-
Asiaten insgesamt zu fördern. Die Kinder wurden dann aufge- rung, wechselseitige Differenzierung, erweiterter und vor-
fordert, anhand der Bilder und der erhaltenen Informationen gestellter Kontakt. Einige Interventionsmöglichkeiten lassen
eine Geschichte zu erfinden. Konkret sollten sie sich z. B. vor- sich leicht in den Unterrichtsalltag integrieren. So können
stellen, mit Suneeta oder Aaron einen Nachmittag im Park, am z. B. die zentralen Ideen der Kontakthypothese über die Me-
Strand oder auf einer Geburtstagsparty zu verbringen. Dabei thode des Gruppenpuzzles in allen Schulfächern und bei den
sollten sie insbesondere berichten, welche Dinge ihnen mit ih- meisten Unterrichtsgegenständen gewinnbringend und ohne
rem neuen Freund bzw. ihrer neuen Freundin Spaß gemacht großen Extraaufwand eingesetzt werden. Andere Interventi-
und was sie Neues gelernt haben. Nach Abschluss der Inter- onsansätze müssten dagegen außerhalb des Unterrichtscurri-
ventionsphase wurde den Kindern der Kontroll- und der Inter- culums und damit zusätzlich zum eigentlich zu vermittelnden
ventionsgruppe Bilder von weißen und asiatischen Kindern vor- Unterrichtsstoff realisiert werden. Hier ist zu konstatieren,
gelegt und die Einstellung der Studienteilnehmer gegenüber dass in deutschen Schulen derzeit nur wenig Raum für so-
diesen Kindern sowie ihr Wunsch erfasst, mit diesen Kindern ziale Bildungsmaßnahmen vorgesehen ist. Damit bleibt es
466 Kapitel 23  Soziale Einstellungen im Schulkontext

vorerst dem pädagogischen Geschick und der Kreativität der


Lehrkräfte überlassen, Interventionsmöglichkeiten wie z. B. Moderne Varianten der Kontakthypothese sind der erwei-
die Methode des erweiterten oder des vorgestellten Kontaktes terte und der vorgestellte Kontakt. Bei diesen Verfahren
in ihren Unterricht zu integrieren. Für die Schule der Zukunft wird auf die Realisierung eines tatsächlichen Kontaktes
ist eine umfangreichere Bereitstellung von Unterrichtszeit für verzichtet: Allein das Wissen, dass ein Eigengruppenmit-
soziale Bildungsmaßnahmen ein erstrebenswertes Ziel. glied zu Fremdgruppenmitgliedern Kontakte unterhält
oder aber die mentale Simulation von eigenen befrie-
digenden Interaktionen mit Fremdgruppenmitgliedern,
sollen Vorurteile abbauen und positivere Einstellungen
Zusammenfassung
gegenüber der Fremdgruppe sowie den Wunsch nach In-
Soziale Einstellungen umfassen Stereotype und Vorurtei-
tergruppenkontakten bewirken.
le. Stereotype stellen eine kognitive Struktur dar, die das
Wissen, die Überzeugungen und die Erwartungen über
eine soziale Gruppe von Menschen bündelt. Vorurteile
drücken eine ablehnende oder feindselige Haltung ge-
genüber bestimmten sozialen Gruppen oder ihren Mit- Verständnisfragen
gliedern aus. Ein zentraler Mechanismus bei der Bildung
von Stereotypen und Vorurteilen besteht in der gene-
rellen Bereitschaft von Personen zur sozialen Kategori-
?1. Warum sind soziale Einstellungen in Form von
Stereotypen und Vorurteilen im Schulkontext von
sierung. Unterschieden wird dabei zwischen Eigengrup- großer Bedeutung?
pen (Gruppen, denen man angehört) und Fremdgrup- 2. Welche Stereotype und Vorurteile können Lehrperso-
pen (Gruppen, denen man nicht angehört). Mitglieder der nen über Schülerinnen und Schüler besitzen?
Fremdgruppe werden insgesamt als sehr ähnlich in Bezug 3. Welche psychologischen Prozesse tragen zur Bildung
auf die ihnen unterstellten Merkmale angesehen (Fremd- und Erhalt von Stereotypen und Vorurteilen bei?
gruppenhomogenitätseffekt), während bei den Mitglie- 4. Wie kann sich der Prior-belief -Effekt bei der Beurteilung
dern der eigenen Gruppe eine größere Varianz in den zu- von Schülerinnen und Schülern durch Lehrpersonen
geschriebenen Eigenschaften gesehen wird (Eigengrup- auswirken?
penheterogenitätseffekt). 5. Wie können positive Erwartungen von Lehrpersonen
Automatisch aktivierte Stereotype können Wahrneh- die Leistungen davon betroffener Schülerinnen und
mung und Verhalten beeinflussen. Kontrollierte Informa- Schüler steigern?
tionsverarbeitung kann diese Effekte modifizieren oder 6. Welche Probleme könnten Schülerinnen und Schüler
ersetzen, wenn Wahrnehmung oder Verhalten von ho- bekommen, denen bewusst ist, dass sie einer Gruppe
her persönlicher Relevanz sind. Die Aktivierung von Ste- angehören über die negative Stereotype bestehen?
reotypen in der Schüler-Lehrer-Interaktion kann dazu 7. Worauf sollten Lehrpersonen bei der Anwendung der
führen, dass Lehrpersonen die Schülerinnen und Schü- Kontakthypothese achten?
ler orientiert an ihren ursprünglichen Erwartungen be- 8. Warum kann die Unterrichtsmethode des Gruppen-
urteilen (Prior-belief -Effekt), dass sich Schülerinnen und puzzles zum Abbau von Stereotypen und Vorurteilen
Schüler den stereotypen Erwartungen der Lehrpersonen beitragen?
anpassen (selbsterfüllende Prophezeiung) oder dass sie 9. Welche Vorteile haben die Methoden des erweiterten
Leistungseinbußen erleiden (stereotype threat). Stereoty- und vorgestellten Kontaktes gegenüber echten
pe, Vorurteile und ausgrenzendes Verhalten in Schüler- Intergruppenkontakten?
Schüler-Interaktionen können, vermittelt über emotiona- 10. Kann die Methode des vorgestellten Kontaktes direkte
le Probleme und Selbstkonzeptbeeinträchtigungen bei Intergruppenkontakte ersetzen?
den betroffenen Schülerinnen und Schülern, ebenso zu
Einbußen im Bildungserfolg führen.
Zur Verhinderung negativer Folgen durch Stereotype
und Vorurteile und zur Schaffung einer Lernumgebung, Literatur
in der alle Schülerinnen und Schüler ihr persönliches und
akademisches Potenzial verwirklichen können, stehen ei- Allport, G. W. (1954). The nature of prejudice. Reading, MA: Addison-Wesley.
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23
469 VI

Diagnostik,
Evaluation und
Forschungsmethoden
Inhaltsverzeichnis

Kapitel 24 Grundlagen und Kriterien der Diagnostik – 471

Kapitel 25 Messen und Bewerten von Lernergebnissen – 493

Kapitel 26 Evaluation und Qualitätssicherung – 517

Kapitel 27 Forschungsmethoden – 533


471 24

Grundlagen und Kriterien


der Diagnostik
Matthias Schwaighofer, Moritz Heene und Markus Bühner

24.1 Einleitung – 472

24.2 Definition der psychologischen Diagnostik – 472

24.3 Der diagnostische Prozess – 473


24.3.1 Planungsphase – 473
24.3.2 Durchführungsphase – 473
24.3.3 Integrationsphase – 473

24.4 Diagnostische Strategien – 474


24.4.1 Status- vs. Prozessdiagnostik – 474
24.4.2 Selektions- vs. Modifikationsdiagnostik – 474
24.4.3 Kriteriums-, normorientierte und intraindividuelle Diagnostik – 475

24.5 Gütekriterien diagnostischer Verfahren – 476


24.5.1 Objektivität – 476
24.5.2 Reliabilität – 477
24.5.3 Validität – 478
24.5.4 Zusammenhänge zwischen Objektivität, Reliabilität und Validität – 480
24.5.5 Nebengütekriterien – 480

24.6 Diagnostische Verfahren – 482


24.6.1 Tests – 482
24.6.2 Interviews – 485
24.6.3 Verhaltensbeobachtung und -beurteilung – 486

24.7 Bewertung diagnostischer Entscheidungen – 488


24.7.1 Entscheidungsfehler – 488
24.7.2 Sensitivität und Spezifität – 488
24.7.3 Positiver und negativer Prädiktionswert – 489

Verständnisfragen – 490

Literatur – 490
Matthias Schwaighofer ist in der Entstehungsphase des Buches leider bei einem tragischen Unfall ums Leben
gekommen.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019


D. Urhahne, M. Dresel, F. Fischer (Hrsg.), Psychologie für den Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55754-9_24
472 Kapitel 24  Grundlagen und Kriterien der Diagnostik

24.1 Einleitung tiger Bestandteil der Diagnosekompetenz von Lehrpersonen


angesehen werden.
Die Diagnosekompetenz von Lehrpersonen und Lehr-
Lehrpersonen werden in ihrem Berufsalltag mit einer Viel- amtsstudierenden soll durch die Ausführungen in diesem
zahl an Aufgabenstellungen konfrontiert, die die Erstellung Kapitel gefördert werden. Nach einer Definition psycholo-
von Diagnosen und diagnostische Kenntnisse erfordern. Im gischer Diagnostik wird der diagnostische Prozess knapp
Fokus der Diagnostik durch Lehrpersonen stehen Lernvor- umrissen, um den Leserinnen und Lesern einen Überblick
aussetzungen, Lernprozesse und Lernergebnisse von Schü- über den Ablauf diagnostischer Entscheidungen zu geben.
lerinnen und Schülern (Schrader 2013; 7 Kap. 25), die mit Diese Entscheidungen sind mit vielfältigen Zielen und Stra-
unterschiedlichen Verfahren gemessen werden. Neben Ver- tegien zur Zielerreichung verbunden. Diagnostische Strate-
fahren zur Lernergebnismessung kann auch der Einsatz öf- gien und damit verbundene Ziele stehen daher im Fokus der
fentlich verfügbarer oder selbst konstruierter Fragebögen für Betrachtungen des sich anschließenden Abschnitts. Die diag-
die Erfassung schulbezogener Einstellungen (z. B. gegenüber nostischen Strategien sind verbunden mit unterschiedlichen
dem unterrichteten Fach oder den eingesetzten Unterrichts- Verfahren zur Klärung diagnostischer Fragestellungen. Als
methoden) relevant sein. Welche Informationen mittels dia- Grundlage für die kritische Betrachtung diagnostischer Ver-
gnostischer Methoden gesammelt werden sollen, richtet sich fahren werden zunächst deren Gütekriterien erläutert. Nach-
nach den konkreten Fragestellungen. Die Beantwortung die- folgend werden die gängigen diagnostischen Verfahren Test
ser Fragestellungen ist oftmals mit wichtigen pädagogischen (inkl. psychometrischer Fragebogen), Interview und Ver-
Entscheidungen verbunden (z. B. Empfehlung für eine be- haltensbeobachtung beschrieben. Durch die Beschreibungen
stimmte Schulart). Die Erfassung nicht geeigneter Informa- sollen Lehrpersonen ein Verständnis für das Zustandekom-
tionen und/oder methodisch schlecht erfasste Informatio- men der Ergebnisse eines diagnostischen Prozesses bekom-
nen erschweren pädagogische Entscheidungen (van Ophuy- men. Bei diagnostischen Entscheidungen handelt es sich stets
sen & Behrmann 2015). Um fundierte pädagogische Ent- um potenziell fehlerbehaftete Urteile. Daher werden am Ende
scheidungen mit Hilfe einer sachgemäßen Diagnostik treffen des Kapitels Entscheidungsfehler sowie wichtige Kennwerte
zu können, benötigen Lehrpersonen bestimmte Fähigkeiten zur Bewertung diagnostischer Entscheidungen thematisiert.
und Fertigkeiten. Die Kompetenz von Lehrpersonen zur er-
folgreichen Bewältigung diagnostischer Aufgabenstellungen
wird als diagnostische Kompetenz bezeichnet. Sie schließt die 24.2 Definition der psychologischen
Qualität der erbrachten Diagnosestellungen mit ein (Schra- Diagnostik
der 2011). Helmke (2009, S. 122) nennt einige wichtige
Voraussetzungen für die Diagnosekompetenz von Lehrper-
sonen. Hierzu gehören u. a. Kenntnisse über grundlegende Lehrpersonen stehen in der Regel heterogenen Klassen ge-
Begriffe der pädagogischen Diagnose, Gütekriterien diagnos- genüber, in denen sehr unterschiedliche Lernvoraussetzun-
tischer Leistungen, ausgewählte Diagnoseinstrumente, Tests gen bestehen und sich oftmals auch Schülerinnen und Schü-
und Fragebogenverfahren. Weitere entscheidende Merkmale ler mit diagnostizierten Lern- und Verhaltensauffälligkei-
der Diagnosekompetenz von Lehrpersonen sind nach Helm- ten wie ADHS oder Lese-Rechtschreib-Störung (LRS) finden
ke (2009, S. 122) Fähigkeiten zur geeigneten Auswahl von (7 Kap. 28). Neben der Diagnose bestimmter Lernvoraus-
Diagnoseverfahren für einen gegebenen Anlass, die Bildung setzungen (z. B. Vorwissen zu einem Themengebiet) fallen
einer zusammenfassenden Beurteilung auf Basis erhaltener in den Bereich diagnostischer Tätigkeiten von Lehrperso-
Informationen, die Ableitung von Hypothesen und Progno- nen auch die Feststellung der Qualität von Lernprozessen
sen über die zukünftige Entwicklung aus einer Diagnose und und Lernergebnissen sowie weiterer Faktoren wie soziale In-
die verständliche und konstruktive Vermittlung von Diagno- teraktionen und familiäre Umstände von Schülerinnen und
seergebnissen an Schülerinnen, Schüler und Eltern. Schülern. Diagnostischen Tätigkeiten liegt ein Verständnis
Vergleicht man diese Aspekte der Diagnosekompetenz psychologischer Diagnostik als Teildisziplin der Psychologie
bei Lehrpersonen mit den notwendigen Kenntnissen, Fähig- zugrunde, das mehrere Aspekte umfasst.
und Fertigkeiten praktisch arbeitender Psychologinnen und
Psychologen oder Psychiaterinnen und Psychiater, sind ei-
nige Parallelen erkennbar. Darüber hinaus kann für Lehr- „Psychologische Diagnostik . . . dient der Beantwortung
personen ein grundlegendes Verständnis des Prozesses der von Fragestellungen, die sich auf die Beschreibung,
Diagnosestellung durch psychologische Psychotherapeutin- Klassifikation, Erklärung oder Vorhersage menschlichen
nen und Psychotherapeuten (Psychologinnen und Psycho- Verhaltens und Erlebens beziehen. Sie schließt die gezielte
logen mit zusätzlicher Therapieausbildung) oder Psych- Erhebung von Informationen über das Verhalten und Erle-
iaterinnen und Psychiater hilfreich sein, um psychologi- ben eines oder mehrerer Menschen sowie deren relevante
sche Diagnosestellungen wie eine Aufmerksamkeitsdefizit-/ Bedingungen ein. Die erhobenen Informationen werden
Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei Schülerinnen oder Schü- für die Beantwortung der Fragestellung interpretiert.
Das diagnostische Handeln wird von psychologischem
24 lern nachvollziehen zu können. Somit kann fundiertes Wis-
Wissen geleitet. Zur Erhebung von Informationen werden
sen über psychologische Diagnostik als integraler und wich-
24.3  Der diagnostische Prozess
473 24
Methoden verwendet, die wissenschaftlichen Standards Die Fragestellung sollte präzise, ethisch vertretbar und psy-
genügen“ (Schmidt-Atzert & Amelang 2012, S. 4). chodiagnostisch beantwortbar sein.
Nach der Formulierung einer übergeordneten Fragestel-
lung muss diese in Teilfragen und Hypothesen herunterge-
Zentrales Definitionsmerkmal der psychologischen Dia- brochen werden. Nachfolgend müssen (auf Basis fundierten
gnostik ist deren Einsatz zur Beantwortung konkreter Frage- diagnostischen Wissens) Indikatoren für die Beantwortung
stellungen mit diagnostischen Verfahren. Diese Fragestellun- der Teilfragestellungen und Prüfung der Hypothesen aus-
gen beziehen sich auf Beschreibung, Klassifikation, Erklärung gewählt werden (z. B. Tests). Im Beispiel der Abklärung ei-
und Vorhersage menschlichen Verhaltens und Erlebens. Im ner LRS könnten mögliche Teilfragestellungen lauten: „Ent-
Rahmen psychologischer Diagnostik kann je nach Anwen- spricht die durch ein standardisiertes Testverfahren erfasste
dungsbereich spezifisches Wissen aus unterschiedlichen Teil- Lese-Rechtschreib-Leistung im Vergleich zur betreffenden
disziplinen notwendig sein. Für Lehrpersonen ist insbeson- Normgruppe einem Prozentrang von mindestens 10 oder
dere Wissen über die Bedingungen von Lehr-Lernprozessen liegt sie darunter?“, „Liegt eine Intelligenzminderung (IQ <
und Schulleistungen, Lernschwierigkeiten (z. B. aufgrund der 70) vor, die die Diagnose einer LRS ausschließt?“ (Warnke
Anwendung ungünstiger Lernstrategien) und soziale Interak- & Baier 2013). Hier wird deutlich, dass genaue Entschei-
tionen im schulischen und familiären Kontext erforderlich. dungskriterien und eine gezielte Auswahl diagnostischer Ver-
Beispielsweise kann auf Basis der Feststellung und Erklärung fahren für eine präzise Diagnostik notwendig sind. Zu den
von Lernschwierigkeiten ein Lernstrategietraining durchge- diagnostischen Verfahren können je nach Fragestellung und
führt werden. Die Diagnose eines schlechten Klassenkli- Hypothese Tests, Interviews oder Verhaltensbeobachtungen
mas (z. B. mittels eines Fragebogens) kann Anhaltspunkte gehören (7 Abschn. 24.6). Um die Auswahl eines Verfah-
für die Verbesserung der Beziehung zwischen Lehrperso- rens aus einer Vielzahl verfügbarer Verfahren zu erleich-
nen und Schülerinnen und Schülern als Komponente die- tern, ist eine Beurteilung anhand von Gütekriterien hilfreich
ses Klimas liefern. Darüber hinaus ist störungsspezifisches (7 Abschn. 24.5).
Wissen über Ursachen, Auftretenswahrscheinlichkeiten, Be-
gleiterkrankungen, Verlauf, spezifische diagnostische Verfah-
ren und Interventionen (Petermann 2013) hilfreich, wenn 24.3.2 Durchführungsphase
weitreichende diagnostische Entscheidungen getroffen wer-
den sollen. Die Rechenstörung (Dyskalkulie) eines Schülers
In der Durchführungsphase erfolgt die eigentliche Untersu-
kann beispielweise zusammen mit weiteren Störungen wie ei-
chung mittels der vorher ausgewählten Verfahren. Hierzu ist
ner LRS und Aufmerksamkeitsstörungen auftreten (für eine
die Erstellung eines Untersuchungsplans sinnvoll, in dem u. a.
Übersicht siehe Jacobs, Petermann & Tischler 2013). Letztlich
die Reihenfolge der eingesetzten Verfahren, Testzeiten, Test-
sind fundierte Kenntnisse in den Bereichen Methodenlehre,
leiterinnen und Testleiter sowie mögliche Rückmeldungen an
Statistik und Urteilsbildung wichtig für eine qualitativ hoch-
die getesteten Personen festgehalten werden.
wertige psychologische Diagnostik.
Die eingesetzten Verfahren werden ausgewertet und ihre
Ergebnisse werden bewertet. Im Beispiel der Diagnostik ei-
ner LRS werden auf Basis der Leistungen des Kindes in einem
24.3 Der diagnostische Prozess
Lese-Rechtschreib-Test und einem Intelligenztest die Werte
in diesen Verfahren nach einer Verrechnungsvorschrift (z. B.
Im diagnostischen Prozess werden in unterschiedlichen Pha- Summenwert über alle Aufgaben) gebildet und in Normwer-
sen Informationen gesammelt und integriert, die der Beant- te transformiert (7 Abschn. 24.5.5). Der Normwert informiert
wortung vorab formulierter Fragestellungen dienen. Kennt- über die relative Ausprägung eines Merkmals in Bezug zu ei-
nisse über diese Phasen des diagnostischen Prozesses sollen ner Vergleichsgruppe (z. B. zu Schülerinnen und Schüler der
es ermöglichen, den Ablauf der Bearbeitung diagnostischer 2. Klasse).
Fragestellungen nachvollziehen und verstehen zu können.
Die nachfolgenden Darstellungen orientierten sich an den
Ausführungen von Ziegler und Bühner (2012). 24.3.3 Integrationsphase

Nachdem die Ergebnisse für die eingesetzten Verfahren er-


24.3.1 Planungsphase mittelt wurden, erfolgt in der Integrationsphase eine Annah-
me (genauer gesagt: Nicht-Verwerfung) oder Verwerfung der
Zu Beginn der Planungsphase steht die Vereinbarung einer Hypothese(n) auf Basis vorher aufgestellter Entscheidungs-
übergeordneten Fragestellung sowie möglicherweise damit kriterien.
verbundener Teilfragestellungen zwischen Auftraggeber und Falls mehrere Verfahren für die Prüfung einer Hypothese
Diagnostiker. Beispielweise könnten Eltern als Auftraggeber verwendet wurden, können sich widersprechende Ergebnisse
an eine Psychologin oder einen Psychologen mit der Bitte her- ergeben. Bestimmten Verfahren kann dann ein höheres Ge-
antreten, das Vorliegen einer LRS bei ihrem Kind abzuklären. wicht beigemessen oder es kann eine erneute diagnostische
474 Kapitel 24  Grundlagen und Kriterien der Diagnostik

Prüfung mit anderen Verfahren durchgeführt werden. Bei- Im Gegensatz zur Statusdiagnostik steht bei der Pro-
spielsweise ist dem Ergebnis in einem standardisierten Lese- zessdiagnostik die Erfassung von Veränderungen im Vor-
Rechtschreib-Test ein höheres Gewicht beizumessen als den dergrund. Ein Beispiel hierfür ist die Erfassung von Schul-
Auskünften der Eltern hinsichtlich der Lese-Rechtschreib- leistungen mittels Schulleistungstests über einen festgelegten
Leistung ihres Kindes. Derartige Entscheidungsregeln müs- Zeitraum. Diese Erfassung erscheint vor allem dann sinnvoll,
sen jedoch vor der Untersuchung festgehalten werden. wenn z. B. aufgrund einer Intervention wie einem Lernstra-
Auch die abschließende Beantwortung der übergeordne- tegietraining von Änderungen in den Schulleistungen ausge-
ten Fragestellung greift auf vorher festgelegte Kriterien zu- gangen wird. In diesem Fall ist die Prozessdiagnostik eng mit
rück, wie aus angenommenen und/oder abgelehnten Hypo- der Modifikationsdiagnostik verbunden, welche der Selekti-
thesen ein abschließendes Urteil gewonnen werden kann. Im onsdiagnostik gegenübergestellt wird.
Falle psychischer Störungen liefern das Kapitel V der inter-
nationalen, statistischen Klassifikation der Krankheiten und
verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10; Dilling, Mom- 24.4.2 Selektions- vs.
bour & Schmidt 2015) sowie das diagnostische und statisti- Modifikationsdiagnostik
sche Manual psychischer Störungen in der 5. Auflage (DSM-
5; Falkai & Wittchen 2014) eindeutige Anhaltspunkte, welche
Kriterien für das Vorliegen einer psychischen Störung erfüllt Bei der Selektionsdiagnostik geht es im diagnostischen Pro-
sein müssen. Den Kriterien können Hypothesen zugeordnet zess um die Auswahl von Personen oder Bedingungen. Bei-
werden, deren Verwerfung oder Nicht-Verwerfung zur Be- spiele hierfür sind die Auswahl von Schülerinnen und Schü-
antwortung einer Fragestellung beitragen. lern für eine bestimmte Schulform oder umgekehrt die Se-
Ist eine Beantwortung der übergeordneten Fragestellung lektion einer bestimmten Schulform für eine Schülerin oder
nicht möglich (wenn sich z. B. kein eindeutiges Befundmuster einen Schüler (Leutner 2010). In letzterem Fall spricht man
ergibt), müssen unter Berücksichtigung finanzieller und zeit- auch von Platzierung (Ziegler & Bühner 2012).
licher Ressourcen oftmals neue Hypothesen generiert und im Demgegenüber hat Modifikationsdiagnostik zum Ziel, In-
diagnostischen Prozess überprüft werden. formationen über notwendige Veränderungen einzuholen. So
Die dargestellten Phasen des diagnostischen Prozesses könnte der Ausgangspunkt für ein Lernstrategietraining der
stellen ein allgemeines Schema bei der Beantwortung di- Gebrauch ungeeigneter Lernstrategien bei Schülerinnen und
agnostischer Fragestellungen dar. In der Regel lassen sich Schülern sein. Die mittels Modifikationsdiagnostik eingehol-
diese Fragestellungen übergeordneten Zielen zuordnen, die ten Informationen über den Gebrauch von Lernstrategien
mit bestimmten diagnostischen Strategien verbunden sind. könnten folglich als Anhaltspunkt für Veränderungen durch
Diagnostische Strategien stehen im Fokus des nächsten Ab- das Strategietraining dienen, die wiederum mittels Prozess-
schnitts. diagnostik festgestellt werden können. In diesem Beispiel
steht die Modifikation von Verhalten im Vordergrund. Al-
lerdings kann Modifikationsdiagnostik auch auf die Verän-
24.4 Diagnostische Strategien derung von Bedingungen abzielen, beispielsweise wenn eine
Lehrmethode für bestimmte Schülerinnen und Schüler nicht
geeignet ist. Die Modifikationsdiagnostik bildet dann die
Für die Klassifizierung von Strategien zur Erreichung be-
Grundlage für eine Bedingungsselektion (z. B. Auswahl von
stimmter Ziele eignen sich die häufig zitierten Unterschei-
Lehrmethoden differenziert nach Schülergruppen).
dungen von Pawlik (1982) zwischen Status- und Prozessdia-
Selektions- und Modifikationsdiagnostik können auch
gnostik, zwischen Selektions- und Modifikationsdiagnostik
gleichzeitig zur Anwendung kommen. Ein Beispiel hierfür ist
sowie zwischen kriteriums- und normorientierter Diagnostik
die Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs.
(die letzte Unterscheidung wird sinnvollerweise um die in-
traindividuelle Diagnostik erweitert). Teilweise ergänzen sich
Im Fokus: Diagnostik sonderpädagogischen Förderbedarfs
die unterschiedlichen diagnostischen Strategien.
Im deutschen Bildungssystem gewann in den letzten
Jahren zunehmend eine inklusive Pädagogik an Bedeutung.
24.4.1 Status- vs. Prozessdiagnostik Inklusion wird im schulischen Kontext verstanden als
gleichberechtigter Zugang zu Bildung und als Feststellung
Ziel der Statusdiagnostik ist eine Zustandsbeschreibung be- sowie Überwindung von diesbezüglichen Hindernis-
züglich eines für eine Fragestellung relevanten Merkmals. Der sen. Die Ausweitung inklusiver Bildungsangebote ist für
Statusdiagnostik liegt die Annahme der relativen Stabilität sonderpädagogisches Handeln zentral. Im Hinblick auf
des Zustands einer Person hinsichtlich bestimmter Aspek- sonderpädagogischen Förderbedarf wurden in allen Bun-
te des Erlebens und Verhaltens zugrunde (Leutner 2010). desländern Verfahren für dessen diagnostische Feststellung
Im Rahmen einer Statusdiagnostik können beispielsweise das entwickelt (Kultusministerkonferenz 2011). Diese Verfah-
24 Vorliegen von Entwicklungsstörungen wie einer LRS festge- ren orientieren sich an einheitlichen Empfehlungen der
stellt oder bestimmte Persönlichkeitsmerkmale wie Extraver- Kultusministerkonferenz (KMK).
sion erfasst werden.
24.4  Diagnostische Strategien
475 24
Bei einer kriteriumsorientierten Diagnostik wird die Aus-
prägung eines Merkmals in Bezug zu einem Kriterium ge-
» „Sonderpädagogischer Förderbedarf ist bei Kindern
setzt. Beispielsweise könnte ein bestimmtes Niveau mathe-
und Jugendlichen gegeben, die in ihrer Lern- und
matischer Fertigkeiten durch das Erreichen einer festgelegten
Leistungsentwicklung so erheblichen Beeinträchti-
Punktzahl in einem Schulleistungstest (Kriterium) definiert
gungen unterliegen, dass sie auch mit zusätzlichen
sein. Auch den im Rahmen der PISA-Erhebungen verwen-
Lernhilfen der allgemeinen Schulen nicht ihren Mög-
deten Aufgaben für 15-jährige Schülerinnen und Schüler
lichkeiten entsprechend gefördert werden können.
liegt die Logik einer kriteriumsorientierten Diagnostik zu-
Sie benötigen sonderpädagogische Unterstützung,
grunde. Kriterien sind insbesondere die Kompetenzen zum
um unter den gegebenen Voraussetzungen eine
flexiblen Anwenden von Wissen und Lösen von Problemen
bestmögliche Förderung zu erfahren und eine
in den Domänen Mathematik, Naturwissenschaften und Le-
entsprechende Bildung zu erwerben“ (KMK 1999,
sen (Prenzel, Sälzer, Klieme & Köller 2013). Da Kriterium
S. 4f.).
bzw. Norm bei einer kriteriumsorientierten Diagnostik in
der Sache selbst begründet sind, wird auch von einer sach-
Für die Aufnahme in eine Förderschule im Sinne einer Se-
lichen oder kriterialen Bezugsnorm gesprochen (Rheinberg
lektionsdiagnostik ist die Erstellung eines Gutachtens durch
2008; 7 Kap. 25). Wird eine Merkmalsausprägung dagegen in
eine sonderpädagogisch qualifizierte Lehrkraft notwendig.
Bezug zu einer Vergleichsgruppe gesetzt, spricht man von
In dem Gutachten sind die Ergebnisse eines umfangreichen
normorientierter Diagnostik oder der Anwendung einer so-
diagnostischen Prozesses enthalten, der alle Beteiligten
zialen Bezugsnorm (Rheinberg 2008). Zu beachten ist, dass
mit einbezieht. Dazu kann auch eine medizinische und
Bezugsnormen im Allgemeinen sozial (Vergleich mit einer
psychologische Diagnostik gehören. Neben der Feststellung
Vergleichsgruppe), sachlich/kriterial (Vergleich mit einem
von Entwicklungsverlauf und aktuellem Entwicklungsstand
sachlichen Kriterium) oder individuell (Vergleich mit frühe-
in Bereichen wie Kognition, Motorik, Sprache und Kom-
ren Ergebnissen einer Person) sein können (Rheinberg 2008)
munikation gehört zum diagnostischen Prozess auch das
– dahingegen bezieht sich der Begriff der normorientierten
Aufzeigen der Wirkungen und Veränderungsmöglichkeiten
Diagnostik nur auf die soziale Bezugsnorm. Beispielsweise
des schulischen und sozialen Umfelds (KMK 1999). Folglich
sind IQ-Werte normierte Werte (7 Abschn. 24.5.4), d. h. sie
kann in Abhängigkeit der spezifischen Fragestellung(en)
entstehen durch den Vergleich individueller Testwerte mit de-
und Hypothese(n) eine Vielzahl diagnostischer Verfahren
nen einer Vergleichsgruppe (z. B. Jugendliche im Alter von
bei der Feststellung des sonderpädagogischen Förderbe-
15;1 bis 16;0 Jahren, d. h. 15 Jahren und 1 Monat bis 16 Jah-
darfs zur Anwendung kommen. Neben psychologischen
ren und 0 Monaten). Folglich hängt die Höhe eines IQ-Wertes
Tests (z. B. Intelligenztests, Fragebögen) können auch
von der jeweiligen Vergleichsgruppe ab. Verbessern sich kog-
diagnostische Gespräche und Interviews sowie Verhal-
nitive Fertigkeiten bei einer Schülerin im Laufe der Zeit,
tensbeobachtungen wertvolle Informationen liefern (für
kann sich der IQ-Wert der Schülerin dennoch verschlechtern,
einen Überblick zu Verfahren der Förderdiagnostik siehe
wenn eine Vergleichsgruppe mit noch fähigeren Schülerin-
z. B. Heimlich, Lutz & Wilfert de Icaza 2013). Das Gutachten
nen und Schülern gewählt wird.
für die Aufnahme in eine Förderschule enthält neben der
Empfehlung für einen Förderort auch Informationen über
notwendige Fördermaßnahmen (KMK 1999). Somit han-
delt es sich bei der Diagnostik des sonderpädagogischen Mythos:
Förderbedarfs nicht nur um Selektions- sondern auch um IQ-Werte und die geistige Leistungsfähigkeit
Modifikationsdiagnostik. Schülerinnen und Schüler mit son- Eine verbreitete Auffassung von IQ-Werten besteht darin,
derpädagogischem Förderbedarf können in Förderschulen dass diese mit der geistigen Leistungsfähigkeit einer
oder Förderzentren unterstützt werden. Förderschulen oder Person (z. B. Schülerin oder Schüler) gleichgesetzt werden
Förderzentren kooperieren mit allgemeinbildenden und können. Oftmals wird ein niedriger IQ dann mit geringer
berufsbildenden Schulen, um im Sinne einer inklusiven geistiger Leistungsfähigkeit gleichgesetzt. Einige Aspekte
Bildung Entwicklungen zur Rückschulung oder Ausbildung gilt es jedoch bei einer derartigen Interpretation zu be-
zu unterstützen (KMK 2011). rücksichtigen. Neben der bereits erwähnten Abhängigkeit
normierter Testwerte von der betrachteten Vergleichsgrup-
pe ist zu konstatieren, dass es eine Vielzahl an Theorien
über Intelligenz gibt, die teilweise sehr unterschiedliche
24.4.3 Kriteriums-, normorientierte Definitionen von intelligentem Verhalten haben und
und intraindividuelle Diagnostik Intelligenz in unterschiedliche Teilbereiche wie Verarbei-
tungskapazität und Sprachverständnis unterteilen (für
Neben den bereits genannten Unterscheidungen ist von Be- Übersichten siehe z. B. Gruber & Stamouli 2015; 7 Kap. 9).
deutung, ob die gemessenen Merkmale in Bezug zu einem Die einem Intelligenztest und folglich auch einem IQ-Wert
Kriterium oder einer sozialen Norm gesetzt werden oder ein zugrundeliegende Theorie gilt es bei der Ergebnisinter-
intraindividueller Bezugsrahmen verwendet wird.
476 Kapitel 24  Grundlagen und Kriterien der Diagnostik

Die Anwendung von Normen ist für die Interpretation der


pretation zu berücksichtigen. Des Weiteren ist bei der Ergebnisse diagnostischer Verfahren unabdingbar. Bevor ver-
Interpretation von Testergebnissen grundsätzlich von schiedene Arten diagnostischer Verfahren thematisiert wer-
Relevanz, dass Messwerte von Tests messfehlerbehaftet den, wird auf Gütekriterien diagnostischer Verfahren näher
sind. Infolgedessen darf ein IQ-Wert nicht ohne Angabe eingegangen. Damit soll eine kritische Beurteilung verschie-
des Konfidenzintervalls interpretiert werden, also dem dener diagnostischer Verfahren ermöglicht werden.
messfehlerbedingt oft relativ breiten Intervall um den Test-
wert, in dem der wahre Wert einer Person tatsächlich liegen
kann. Der Messfehler und die Breite des Konfidenzinter- 24.5 Gütekriterien diagnostischer Verfahren
valls hängen von der Reliabilität, d. h. der Messgenauigkeit,
eines diagnostischen Verfahrens ab (7 Abschn. 24.5.2). Zu den Gütekriterien psychologisch-diagnostischer Verfah-
Neben dem Einfluss von Messfehlern auf IQ-Werte gilt ren ist eine Fülle vertiefender Fachliteratur vorhanden (z. B.
es auch, das Zustandekommen der Leistung in einem Bühner 2011; Döring & Bortz 2016; Eid & Schmidt 2014;
IQ-Test zu beachten: War die getestete Schülerin unter Moosbrugger & Kelava 2012). Basierend darauf wird hier nä-
Umständen unmotiviert, den IQ-Test zu bearbeiten? Fand her auf die Hauptgütekriterien Objektivität, Reliabilität und
die Testung zu einem ungünstigen Zeitpunkt statt (z. B. Validität sowie wichtige Nebengütekriterien eingegangen.
direkt im Anschluss an einen anstrengenden Schultag)?
Diese und weitere potenzielle Fehlerquellen können die
Testergebnisse verfälschen. Insgesamt dürfen IQ-Werte 24.5.1 Objektivität
also nicht ohne Weiteres mit der tatsächlichen geistigen
Leistungsfähigkeit einer Person gleichgesetzt, sondern
nur als mehr oder weniger fehlerbehafteter Schätzwert Objektivität bezieht sich auf das Ausmaß, in dem die Durch-
dafür betrachtet werden. Allerdings sollte die Aussagekraft führung, Auswertung und Interpretation der Ergebnisse ei-
von IQ- wie auch Testergebnissen generell nicht gering nes diagnostischen Verfahrens unabhängig von den Personen
gewichtet werden, wenn die Tests störungsfrei durchge- sind, die diese Schritte durchführen (z. B. Testleiterinnen und
führt wurden und eine hohe Messgenauigkeit aufweisen. Testleiter, Lehrpersonen). Konsequenterweise wird zwischen
So ist Intelligenz eine wichtige Voraussetzung für Schul-, Durchführungs-, Auswertungs- und Interpretationsobjekti-
Ausbildungs- und Berufserfolg und Intelligenztestergeb- vität unterschieden.
nisse sind bei idealer Messbedingungen die stärksten
Prädiktoren für deren Prognose (für einen Überblick siehe 1 Durchführungsobjektivität
z. B. Stern & Neubauer 2016) Eine hohe Durchführungsobjektivität zeichnet sich dadurch
aus, dass die Durchführung eines diagnostischen Verfahrens
nicht zwischen verschiedenen Anwendungen des Verfahrens
variiert. Hierfür sollte das Verfahren standardisiert sein, d. h.
Zu beachten ist, dass eine Interpretation der gleichen die Durchführungsbedingungen (Materialien, Instruktionen,
Leistung sowohl normorientiert als auch kriteriumsorientiert Reaktionen auf Fragen etc.) sollten konstant sein. Schriftliche
erfolgen kann (Krohne & Hock 2007, S. 80). Dies lässt sich am Anweisungen für die getesteten Personen sind mündlichen
Beispiel der Diagnose einer Intelligenzminderung bei einem Instruktionen vorzuziehen. Ein Beispiel ist die Durchführung
IQ < 70 illustrieren: Hier wird der IQ-Wert zunächst auf Ba- eines Tests zur Überprüfung des mathematischen Grundwis-
sis einer Normstichprobe gebildet und anschließend wird das sens durch mehrere Lehrpersonen in den jeweils von ihnen
Kriterium von 70 festgelegt (Grenzwert für verringerte allge- unterrichteten Klassen. Geben die unterschiedlichen Lehr-
meine geistige Leistungsfähigkeit). personen dabei unterschiedliche mündliche Hilfestellungen,
Auch früheres Verhalten der betreffenden Person kann ist die Durchführungsobjektivität verringert.
als Referenz zur Einordnung einer Merkmalsausprägung die-
nen. Man spricht dann von intraindividueller Diagnostik, für1 Auswertungsobjektivität
die die individuelle Bezugsnorm (Rheinberg 2008) zentral Eine hohe Auswertungsobjektivität ist gegeben, wenn die
ist. So könnte der Wissenszuwachs einzelner Schülerinnen Ermittlung der (numerischen) Messwerte für eine Proban-
und Schülern im Anschluss an eine Unterrichtseinheit inter- din oder einen Probanden unabhängig von der auswerten-
essieren (Krohne & Hock 2007, S. 81). Der Wissenszuwachs den Person ist. Diese sollten also bei der Quantifizierung
einer Schülerin oder eines Schülers kann zusätzlich auch in identischer Antworten zu identischen numerischen Werten
Bezug zu einem Kriterium (z. B. mindestens 20 % Wissenszu- kommen. Für eine hohe Objektivität sind genaue Auswer-
wachs werden als bedeutsame Verbesserung angesehen) und tungsregeln notwendig. Bei Aufgaben oder Fragen mit vor-
im Sinne einer normorientierten Diagnostik in Bezug zum gegebenen Antwortkategorien ist eine hohe Auswertungs-
Wissenszuwachs anderer Schülerinnen oder Schüler gesetzt objektivität durch Verwendung von Schablonen oder Aus-
werden. Es können also auch alle drei Arten von Diagnostik wertungsblättern zu erreichen. Wenn beispielsweise ein Fra-
24 bzw. Bezugssystemen oder -normen (7 Kap. 25) gleichzeitig gebogen Items (Fragen oder Aufgaben) zu Einstellungen
Anwendung finden. gegenüber verschiedenen Schulfächern enthält, könnte ein
24.5  Gütekriterien diagnostischer Verfahren
477 24
Auswertungsblatt Auskunft darüber geben, welche Items zu lich oft wiederholt. Der wahre Wert entspräche dann dem
welcher Skala (z. B. Skala „Einstellung gegenüber dem Fach Mittelwert der beobachteten Testwerte. Da psychologische
Deutsch“) verrechnet werden sollen. Bei offenen Aufgaben Messungen praktisch nie messfehlerfrei sind, gehen die Wer-
und Fragen ohne Antwortkategorien können Verständnis- te von Personen in diagnostischen Verfahren stets zu einem
schwierigkeiten eine Rolle spielen. Selbst wenn mit einem Ko- gewissen Anteil auf Messfehler zurück. Der Messfehler ist
dierschema festgelegt ist, wie bestimmte Antworten zu wer- die Abweichung eines Messwertes vom wahren Wert einer
ten sind, können die Antworten von den auswertenden Perso- Person im betrachteten Merkmal. Je nach zu erfassendem
nen unterschiedlich verstanden werden. Besteht die Gefahr, Merkmal und diagnostischem Kontext (z. B. Individualdia-
dass Verständnisschwierigkeiten die Auswertungsobjektivität gnose vs. Forschungskontext; 7 Kap. 27) akzeptiert man un-
vermindern, sollte diese grundsätzlich empirisch überprüft terschiedlich hohe Messfehler. So toleriert man bei der in-
werden. Die empirische Überprüfung der Übereinstimmung dividualdiagnostischen Erfassung von Leistungsmerkmalen
zwischen mehreren Auswerterinnen und Auswertern kann in wie Intelligenz und Konzentration nur geringe Messfehler.
Abhängigkeit der Daten mit unterschiedlichen Koeffizienten Hier sollte die Reliabilität größer als :90 ausfallen. Um den
erfolgen (vgl. Wirtz & Caspar 2002). Messfehler bzw. die Ungenauigkeit hinsichtlich des wahren
Werts einer Person in einem bestimmten Merkmal aufgrund
1 Interpretationsobjektivität von Messfehlern statistisch zu berücksichtigen, werden zu-
Die Objektivität der Interpretation liegt vor, wenn jede aus- sätzlich zu den einzelnen Messwerten die bereits erwähnten
wertende Person die Ergebnisse eines diagnostischen Verfah- Konfidenzintervalle angegeben (7 Mythos: IQ-Werte und die
rens gleich interpretiert bzw. zu gleichen Schlussfolgerungen geistige Leistungsfähigkeit). Die Ungenauigkeit ist umso grö-
gelangt. Normtabellen mit den Ergebnissen einer Vergleichs- ßer und damit das Konfidenzintervall umso breiter, je größer
stichprobe erleichtern die Interpretation von Resultaten ein- der Messfehler bzw. je geringer die Reliabilität eines diagnos-
zelner Personen. Beispielsweise könnten zwei Lehrerinnen tischen Verfahrens ist. Konfidenz- bzw. Vertrauensintervalle
die Leistung eines Schülers in einem Physiktest dann über- müssen in der Praxis berichtet werden (Bühner 2011, S. 197),
einstimmend als überdurchschnittlich bewerten, wenn sie die um Punktwerte in einem Verfahren unter Berücksichtigung
Werte einer Vergleichsstichprobe als Bezugssystem zur Ver- der Messgenauigkeit des Verfahrens besser interpretieren zu
fügung haben. können. Wurde beispielsweise die Intelligenz einer Schülerin
mittels eines Tests mit geringer Reliabilität gemessen, ist das
Ergebnis stark messfehlerbehaftet und der Punktwert nicht
24.5.2 Reliabilität hinreichend genau zu interpretieren.
Um die Reliabilität schätzen zu können, stehen verschie-
Mit Reliabilität ist die Messgenauigkeit eines diagnostischen dene Methoden zur Verfügung. Diese Methoden sind an
Verfahrens gemeint. Die Messgenauigkeit ist unabhängig da- bestimmte Voraussetzungen (z. B. Art der Messung) gebun-
von, ob das Verfahren das misst, was es an sich messen soll. So den, auf die hier nicht vertiefend eingegangen werden kann
könnte ein von einer Lehrperson konstruierter Mathematik- (für eine detaillierte Beschreibung der Voraussetzungen sie-
Test mit Textaufgaben zwar bei wiederholter Anwendung he z. B. Bühner 2011).
sehr ähnliche Ergebnisse liefern und damit messgenau sein,
aber sehr anspruchsvolle verbale Aufgabenformulierungen1 Retestmethode
verwenden. Daher könnte der Test stärker das Leseverständ- Bei der Retestmethode wird ein Merkmal zu zwei Messzeit-
nis als die mathematischen Fertigkeiten der Schülerinnen punkten gemessen und die Korrelation der Messwerte als
und Schüler erfassen – folglich wäre der Test zwar reliabel, Schätzung für die Reliabilität genutzt. Diese Form der Reliabi-
aber nicht valide (d. h. er misst nicht das, was er messen soll; litätsbestimmung gibt Auskunft über die Stabilität der Tester-
7 Abschn. 24.5.3). gebnisse über die Zeit hinweg. Hohe Korrelationen zwischen
Formal ist die Reliabilität  t t definiert als Anteil der Va- den Testergebnissen von Personen zwischen zwei Messzeit-
rianz der wahren Werte von Personen in einem bestimmten punkten deuten auf eine hohe Genauigkeit bzw. Reliabilität
Merkmal an der Gesamtvarianz der beobachteten Werte (Va- hin, da die Rangreihe der Testergebnisse zeitlich stabil ist. Vo-
rianz der wahren Werte plus Messfehlervarianz) und hat raussetzung für die Anwendung der Retestmethode ist, dass
einen Wertebereich zwischen 0 und 1: das zu messende Merkmal innerhalb der Probanden relativ
stabil ist, d. h. nicht bedeutsam zwischen den Zeitpunkten in-
T2 T2 nerhalb der Probanden variiert. Unter der Beobachtung, dass
t t D 2 D 2
T C E 2
X es sich bei der Intelligenz um ein relativ stabiles Merkmal
handelt, sollten sich beispielsweise die Intelligenztestwerte ei-
Dabei ist: T2 D Varianz der wahren Werte; X2 D Varianz der nes jungen Erwachsenen innerhalb von etwa vier Wochen
beobachteten Werte; E2 D Fehlervarianz. nicht merklich unterscheiden. Anders liegt der Fall bei der
Der wahre Wert einer Person in einem Merkmal ent- Stimmung, einem zeitlich recht variablen Merkmal. Da en-
spricht dem Wert, den man ohne den Einfluss von Mess- ge Zusammenhänge über die Zeit hier nicht zu erwarten
fehlern erwarten würde. Der Einfluss von Messfehlern sollte sind, kann die Retestmethode bei Verfahren, die Stimmun-
sich ausmitteln, wenn man einen Test theoretisch unend- gen erfassen, nicht sinnvoll angewendet werden. Die Wahl
478 Kapitel 24  Grundlagen und Kriterien der Diagnostik

der Größe des Zeitintervalls ist kontextabhängig und kann tereinander. Folglich ist die interne Konsistenz gering und zur
sich auf die Schätzungen der Reliabilität auswirken. Beispiels- Schätzung der Reliabilität ungeeignet. Besser wäre in diesem
weise kann es bei einer zweimaligen Durchführung eines Fall die Anwendung der Retestmethode.
computerbasierten Wissenstests mit Feedback über die rich-
tigen Antworten zu Übungseffekten kommen, die bei kurzem1 Testhalbierungsmethode
Zeitabstand zwischen den Messungen wahrscheinlicher sind Ein Spezialfall der Konsistenzmethode ist die Testhalbie-
als bei langem Zeitabstand. rungs- oder Split-Half-Methode. Hierbei wird zunächst ein
Test auf bestimmte Art in zwei Teile aufgeteilt. Beispielswei-
1 Paralleltestmethode se gelangen bei der Odd-Even-Aufteilung Items mit gerader
Bei der Paralleltestmethode werden zwei Parallelformen ei- Reihungsnummer in eine Hälfte und Items mit ungerader
nes diagnostischen Verfahrens (z. B. eines Tests) zu einem Reihungsnummer in die andere. Im Anschluss an die Test-
Messzeitpunkt bei denselben Personen durchgeführt und die aufteilung in zwei Hälften wird die Korrelation zwischen den
Korrelation zwischen den Gesamttestwerten der beiden For- Testhälften berechnet. Diese Korrelation wird daraufhin mit
men wird berechnet. Bei Parallelformen eines Verfahrens einer Korrekturformel aufgewertet, um zu berücksichtigen,
unterscheiden sich die Items z. B. nur durch andere Formu- dass die Testteile nur halb so lang sind wie der Gesamttest. Die
lierungen, nicht jedoch hinsichtlich des zu messenden Merk- Anwendung der Testhalbierungsmethode setzt in der Regel
mals. Beispielsweise können Parallelformen eines Wissens- voraus, dass die Items eines Tests wie bei der Konsistenz-
tests Aufgaben mit gleicher Schwierigkeit und gleichem zu methode homogen sind (d. h. dasselbe messen) und darüber
testendem Wissen enthalten, der Aufgabenkontext kann sich hinaus die Testhälften gleiche Varianz aufweisen. Ein Vor-
jedoch zwischen den Parallelformen unterscheiden. Die An- teil der Testhalbierungsmethode liegt darin, dass Übungs-
wendung der Paralleltestmethode ist an das Vorhandensein und Ermüdungseffekte gleichmäßig auf beide Testteile ver-
von Parallelformen eines Verfahrens gebunden. Des Weiteren teilt sind (Tent & Stelzl 1993).
sind Übungseffekte möglich, d. h. die vorherige Durchfüh-
rung eines Verfahrens kann zu Verbesserungen der Leistun-
gen in der Parallelform des Verfahrens führen. Beispielsweise
sind Übungseffekte bei der zweimaligen Durchführung ei- 24.5.3 Validität
nes Deutschtests aufgrund der erhöhten Vertrautheit mit dem
Testmaterial denkbar. Die Validität (Gültigkeit) eines diagnostischen Verfahrens in-
formiert über das Ausmaß, in dem das Verfahren das misst,
1 Konsistenzmethode was es beansprucht zu messen. So sollte eine Verhaltens-
Bei der Konsistenzmethode werden die Zusammenhänge beurteilung eines Schülers hinsichtlich dessen Fähigkeit zur
(Kovarianzen oder Korrelationen) zwischen allen einzelnen Kooperation mit Mitschülern auf das Kooperationsverhal-
Items zu einem Messzeitpunkt betrachtet. Diese Zusammen- ten fokussieren und nicht etwa auf anderes Verhalten, das
hänge fließen zur Schätzung der internen Konsistenz in die nicht als Indikator für die Kooperationsfähigkeit gesehen
Berechnung bestimmter Koeffizienten ein – einer der be- wird (z. B. störendes Verhalten). In der Literatur werden viele
kanntesten ist Cronbachs Alpha. Dieser Koeffizient ist umso verschiedene Arten von Validität genannt, die sich nicht nur
höher, je stärker die Items miteinander korrelieren und je auf Messinstrumente beziehen. Nachfolgend soll jedoch nur
mehr Items man verwendet. Die Reliabilität wird also sehr gut auf die für die Beurteilung diagnostischer Verfahren wichti-
sein, wenn viele Items verwendet werden, die sich lediglich gen Arten eingegangen werden.
in der Formulierung unterscheiden. Beispiele für derartige
Items wären zwei (Teil-)Fragen zur Erfassung des Interes-1 Inhaltsvalidität
ses an ausgewählten schulischen Inhalten: „Ich würde mich Ein diagnostisches Verfahren weist eine hohe Inhaltsvalidität
auch in meiner Freizeit mit diesen Inhalten beschäftigen“, auf, wenn die einzelnen Items das zu erfassende Konstrukt
„Auch außerhalb der Schule würde ich mich mit diesen In- inhaltlich hinreichend gut repräsentieren. Inwiefern ein dia-
halten auseinandersetzen“. Diese Fragen unterscheiden sich gnostisches Verfahren das zu erfassende Konstrukt inhaltlich
nur in der Formulierung, nicht aber im Inhalt. Folglich wird hinreichend abbildet, lässt sich kaum mit einem numeri-
eine hohe Reliabilität begünstigt – da damit u. U. nur ein schen Kennwert ausdrücken. Der Grund hierfür ist, dass
schmaler Ausschnitt des Merkmals erfasst wird, kann die ein diagnostisches Verfahren aus einer für das zu erfassen-
Inhaltsvalidität jedoch eingeschränkt sein (7 Abschn. 24.5.3). de Merkmal repräsentativen Itemmenge bestehen sollte und
Die Berechnung der Reliabilität mit der Konsistenzmethode diese Repräsentativität schwer zu bestimmen ist. Hilfreich
ist sinnvoll, wenn relativ ähnliche Merkmalsbereiche erfasst können jedoch Arbeitsdefinitionen, die genaue Charakteri-
werden (z. B. verschiedene Facetten von Gewissenhaftigkeit). sierung eines Merkmals und Expertenurteile sein. Letztere
Die interne Konsistenz stellt dann eine sinnvolle Schätzung wurden beispielsweise bei der Konzeption von Mathematik-
der Genauigkeit dar, mit der das Merkmal gemessen wird. aufgaben bei PISA herangezogen. Dabei wurden u. a. fach-
Erfassen die Items dagegen stark heterogene Merkmalsberei- liche Richtigkeit, Bezüge zum Lehrplan und Relevanz für
24 che (z. B. Wissen über bestimmte geschichtliche Ereignisse), die Lebenswelt Fünfzehnjähriger eingeschätzt (Prenzel et al.
korrelieren die Items tendenziell nur gering oder gar nicht un- 2013). Diese Aufgabencharakteristiken stellen die Anforde-
24.5  Gütekriterien diagnostischer Verfahren
479 24
rungen an Kompetenzen (Merkmale) und deren Teilaspekte die dasselbe Merkmal erfassen sollen. Beispielsweise hat ein
dar. Auf Basis der Teilaspekte und Definitionselemente eines neu entwickelter Lesetest eine hohe konvergente Validität,
Merkmals wird dann versucht, Items zu generieren. Stim- wenn er stark positiv mit einem bereits etablierten Lesetest
men die Item- bzw. Testinhalte mit einem Lehrplan überein, korreliert.
spricht man auch von curricularer Validität. Die Beurtei- Der konvergenten Validität entgegengesetzt ist die dis-
lung der curricularen Validität kann durch Expertinnen und kriminante (divergente) Validität. Die diskriminante Validi-
Experten (z. B. Personen mit fachdidaktischer Expertise) er- tät gibt das Ausmaß (quantitativ) an, in dem ein Verfah-
folgen. Beurteilen nicht Expertinnen und Experten sondern ren zur Messung eines Konstrukts von Verfahren zur Mes-
Laien die Validität eines Verfahrens, wird oft der Begriff Au- sung anderer Konstrukte abgegrenzt werden kann. Eine hohe
genscheinvalidität anstatt Inhaltsvalidität verwendet. Diese diskriminante Validität äußert sich in einem geringen Zu-
gibt an, inwieweit der Zusammenhang zwischen den Auf- sammenhang eines Verfahrens mit einem Verfahren, das
gaben eines Verfahrens und dem gemessenen Merkmal für ein anderes Merkmal misst. Beispielsweise sollte ein Test
Laien ersichtlich ist. zur Erfassung mengenbezogenen Vorwissens gering mit ei-
nem Leseverständnistest korrelieren. Zur Gewährleistung der
1 Konstruktvalidität diskriminanten Validität reicht es nicht aus, Korrelationen
Eine hohe Konstruktvalidität bedeutet, dass die Ergebnis- mit beliebigen Verfahren zur Messung offensichtlich ande-
se einer Person in einem diagnostischen Verfahren in enger rer Konstrukte zu betrachten. Beispielsweise ist die divergente
Beziehung zum Merkmal (Konstrukt) stehen, das mit dem Validierung von IQ-Tests mit Persönlichkeitsfragebögen we-
Verfahren gemessen werden soll. Mit der Konstruktvalidität nig aufschlussreich. Man muss vielmehr eine Abgrenzung
soll quantifiziert werden, inwiefern ein Verfahren das misst, zu Konstrukten aus demselben Geltungsbereich nachwei-
was es intendiert zu messen. Hinsichtlich der Art der Quan- sen. Die diskriminante Validierung eines IQ-Tests mit einem
tifizierung kann zwischen faktorieller, konvergenter und dis- weiteren Leistungstest (d. h. aus demselben Geltungsbereich)
kriminanter Validität differenziert werden. wie etwa einem Konzentrationstest macht in diesem Beispiel
Faktorielle Validität liegt vor, wenn sich die inhaltlich zumehr Sinn. Korreliert ein Verfahren zur Messung eines Kon-
einem Konstrukt oder einer seiner Subdimensionen gehören- strukts nicht zu hoch mit einem Verfahren zur Erfassung
den Items bei einer statistischen Analyse der Korrelationen eines anderen, ähnlichen Konstrukts, kann dies als Nach-
zwischen allen Items dem Konstrukt bzw. seinen Subdimen- weis für eine hohe diskriminante Validität gesehen werden.
sionen zuordnen lassen. Beispielhaft soll hier der Persön- Ab wann die diskriminante Validität als angemessen beurteilt
lichkeitsfragebogen NEO-FFI (Borkenau & Ostendorf 2008) werden kann, ist jedoch vom Kontext und den betrachteten
betrachtet werden. Der NEO-FFI dient der Erfassung der fünf Merkmalen abhängig. Bei stark überlappenden Konstrukten
globalen Persönlichkeitsfaktoren (Big Five) Neurotizismus, ist es unter Umständen auch schon zufriedenstellend, wenn
Extraversion, Offenheit, Verträglichkeit und Gewissenhaftig- sich nicht allzu hohe Korrelationen zeigen (d. h. eine rela-
keit bei Jugendlichen und Erwachsenen. Faktorielle Validität tiv geringe diskriminante Validität gegeben ist). Ein Beispiel
läge dann vor, wenn sich die jeweils inhaltlich zu den fünf hierfür ist die Fähigkeit zur Lösung komplexer Probleme,
Persönlichkeitsfaktoren gehöhrenden Items empirisch diesen die in PISA 2012 und 2015 bei Schülerinnen und Schü-
Persönlichkeitsfaktoren zuordnen lassen. Generell kann die lern erhoben wurde. Komplexes Problemlösen weist einen
faktorielle Validität explorativ (strukturfindend) oder kon- großen Überlappungsbereich mit allgemeiner Intelligenz auf
firmatorisch (strukturprüfend) untersucht werden. Mit einer (7 Kap. 9). Daher können auch geringe, spezifische Varianz-
explorativen Faktorenanalyse werden strukturfindend Items anteile im komplexen Problemlösen als Indiz für eine diskri-
mit homogenen Inhalten Faktoren zugeordnet. Diese Fak- minante Validität angesehen werden (Kretzschmar, Neubert,
toren können dann inhaltlich als Facetten eines Konstrukts Wüstenberg & Greiff 2016)
angesehen werden. Während die Facetten (Faktoren) eines
Konstrukts bzw. Testverfahrens bei einer exploratorischen1 Kriteriumsvalidität
Faktorenanalyse erst gesucht werden, werden sie bei einer Unter Kriteriumsvalidität wird verstanden, wie eng die Er-
konfirmatorischen Faktorenanalyse strukturprüfend vorge- gebnisse eines diagnostischen Verfahrens in Zusammenhang
geben. Voraussetzung dafür ist eine Theorie über die dimen- mit einem wichtigen externen Merkmal (Kriteriumsmerk-
sionale Struktur des Konstrukts. Diese dimensionale Struktur mal) stehen bzw. dieses vorhersagen können. Je nachdem
kann auch zunächst mittels einer explorativen Faktorenanaly- wann das Kriteriumsmerkmal erfasst wird, unterscheidet
se identifiziert und anschließend mittels einer konfirmatori- man zwischen retrospektiver, konkurrenter und prädiktiver
schen Faktorenanalyse anhand einer neuen Stichprobe bestä- Validität.
tigt werden. Im Zuge der Konstruktvalidierung des NEO-FFI Bei der retrospektiven Validität wird der Zusammenhang
wurden mehrere explorative und konfirmatorische Faktoren- zwischen den Ergebnissen in dem zu validierenden Verfah-
analysen durchgeführt, um zu einer Struktur mit fünf Fak- ren und einem Kriteriumsmerkmal berechnet, das zeitlich
toren zu gelangen bzw. diese zu bestätigen (vgl. Borkenau & zuvor erhoben wurde. Ein Beispiel ist die Korrelation zwi-
Ostendorf 2008). schen den Ergebnissen eines in der 8. Klasse durchgeführten
Konvergente Validität bezieht sich auf die Zusammenhän- Intelligenztests und der letzten Zeugnisnote in einem Schul-
ge eines diagnostischen Verfahrens mit anderen Verfahren, fach (Kriterium) in der Grundschule.
480 Kapitel 24  Grundlagen und Kriterien der Diagnostik

Werden zu validierendes Verfahren und Kriterium in en- daher die Korrelationen zwischen zwei Paralleltests und den
gem zeitlichen Zusammenhang erhoben, spricht man von Messwerten zu zwei Messzeitpunkten vermindert sein. Ana-
konkurrenter oder Übereinstimmungsvalidität. Beispielswei- log zur Durchführungsobjektivität wirkt sich auch die Objek-
se könnte vor einer Schulaufgabe die Prüfungsangst erhoben tivität der Auswertung auf die Parallel- und Retestreliabilität
und mit der Note in der Schulaufgabe (Kriterium) korreliert und darüber hinaus auf die interne Konsistenz aus. Unter-
werden. schiede in der Auswertung (z. B. unterschiedliche Punktver-
Die prädiktive Validität meint schließlich, dass das Krite-gabe in einer Klausur) führen zu verzerrten Messwerten und
rium zeitlich später erhoben wird. Ein Beispiel ist der Zusam- können in der Folge zu einer Reduzierung von Parallel- und
menhang zwischen der Leistung in einem Rechentest in der Retestreliabilität sowie interner Konsistenz führen.
Grundschule und der Abiturnote in Mathematik (Kriterium). Durchführungs- und Auswertungsobjektivität können
Unabhängig von diesen drei Formen in Abhängigkeit der vermittelt über ihre Auswirkungen auf die Reliabilität auch
zeitlichen Ordnung ist die inkrementelle Validität als eine die Validität beeinflussen. Speziell die Interpretationsobjek-
Form der Kriteriumsvalidität zu nennen. Hier wird der in- tivität hat einen direkten Einfluss auf die Validität. Fehlen
krementelle (spezifische) Beitrag eines diagnostischen Ver- Normen bzw. ein Bezugssystem zu einem Verfahren, können
fahrens zur Vorhersage eines Kriteriums über den Beitrag sich leicht Unterschiede in der Interpretation von Leistun-
anderer Verfahren hinaus betrachtet. In der Forschung zur gen ergeben. Beispielsweise könnte die gleiche Leistung einer
Lösung komplexer Probleme ist man beispielsweise daran Schülerin in einem Mathematikleistungstest von einer Leh-
interessiert, in welchem Ausmaß die Fähigkeit zur Lösung rerin als durchschnittlich und von einer anderen Lehrerin
derartiger Probleme über die allgemeine Intelligenz hinaus als überdurchschnittlich interpretiert werden. Somit hängt
einen spezifischen Beitrag zur Vorhersage von Schulleistung die Beurteilung der Schülerin nicht nur von ihrer Mathe-
leistet (Kretzschmar et al. 2016). matikleistung ab, sondern auch vom Beurteilungsmaßstab
der Lehrerinnen (7 Kap. 25). Die Beurteilung erfasst hier al-
so nicht nur das, was sie erfassen soll, und ist somit weniger
valide als bei Verwendung von Normen.
24.5.4 Zusammenhänge zwischen
Für die Validität eines Verfahrens ist die Reliabilität eine
Objektivität, Reliabilität und Validität notwendige, wenn auch nicht hinreichende Voraussetzung.
Ist die Reliabilität eines Verfahrens sehr gering, sind die Mess-
. Abb. 24.1 verdeutlicht abschließend die Zusammenhänge werte stark fehlerbehaftet und können damit keine validen
zwischen den Hauptgütekriterien. Indikatoren für ein Konstrukt mehr darstellen.
Objektivität ist eine Voraussetzung für Reliabilität und
Validität. Die Validität hängt zudem von der Reliabilität ab.
Im Detail wirkt sich die Objektivität der Durchführung
24.5.5 Nebengütekriterien
auf die mittels Parallel- und Retestmethode bestimmte Re-
liabilität aus. Werden beispielsweise Parallel- und Retest von
zwei Versuchsleiterinnen oder -leitern auf unterschiedliche Neben den Hauptgütekriterien existieren auch Qualitätskri-
Art und Weise durchgeführt, kann dies zu einer Verminde- terien für Messverfahren, die sich eher mit der Praktikabilität
rung der Reliabilität führen. Der Grund hierfür ist, dass sich der Messung beschäftigen. Diese Nebengütekriterien sind,
unterschiedliches Versuchsleiterverhalten unterschiedlich wenn Objektivität, Reliabilität und Validität gegeben sind,
auf die Messwerte von Personen in diagnostischen Verfahren ebenfalls wichtig, da ein bestimmtes Messverfahren nur dann
auswirken kann. Folglich können die Messwerte verzerrt und sinnvoll anwendbar ist, wenn die Rahmenbedingungen dies
zulassen und die Messung beispielsweise in sinnvollem zeit-
lichem Rahmen durchzuführen und auszuwerten ist.
Objektivität
1 Normierung
Interpretations- Durchführungs- Auswertungs- Das Nebengütekriterium Normierung kann der normorien-
objektivität objektivität objektivität tien Diagnostik und der Anwendung einer sozialen Bezugs-
norm zugeordnet werden (7 Abschn. 24.4.3). Normierung
meint die Erstellung eines Vergleichssystems mittels einer
Reliabilität
Normstichprobe (z. B. repräsentative Stichprobe an Gleichalt-
Interne Konsistenz rigen), um die Werte einzelner Personen in diagnostischen
Verfahren in Bezug zu den Werten anderer Personen set-
Paralleltest- und Retestreliabilltät zen zu können. Gleiche Rohwerte (untransformierte Werte
eines diagnostischen Verfahrens, z. B. Punktwerte in einem
Wissenstest) können in Abhängigkeit der verwendeten Norm
Validität zu unterschiedlichen Normwerten führen. So sollten für die
24 Beurteilung der Rechtschreibleistung eines Grundschülers ei-
. Abb. 24.1 Zusammenhänge zwischen den Hauptgütekriterien ner 1. Klasse Schülerinnen und Schüler der 1. Jahrgangsstufe
24.5  Gütekriterien diagnostischer Verfahren
481 24
Unterdurchschnittlich Durchschnittlich Überdurchschnittlich

34,1 % 34,1 %

13,6 % 13,6 %

2,2 % 2,2 %
0,1 % 0,1 %

–3s –2s –1s M 1s 2s 3s Rohwerte

–3 –2 –1 0 1 2 3 z-Werte

20 30 40 50 60 70 80 T-Werte

55 70 85 100 115 130 145 IQ-Werte

0,1 2,3 15,9 50 84,1 97,7 99,9 Prozentränge

. Abb. 24.2 Wichtige Normwertsysteme (s D Standardabweichung, M D Mittelwert in Normstichprobe)

als Normgruppe Verwendung finden und nicht Schülerin-


nen und Schüler der 2. Jahrgangsstufe, die im Schnitt bereits Skalierungsfaktor) und Addierung einer Konstante linear in
bessere Rechtschreibleistungen zeigen. Neben der Wahl der das gewünschte Normwertsystem transformiert werden.
Normgruppen ist auch das verwendete Normwertsystem von Durch die Transformation in ein Normwertsystem ändern
Bedeutung. sich die Relationen bzw. Unterschiede zwischen den Werten
von Personen nicht. . Abb. 24.2 zeigt wichtige Normwert-
Im Fokus: Unterschiedliche Normwertsysteme systeme. Beispielsweise wird bei T-Werten die Konstante 50
zu den mit 10 multiplizierten z-Werten addiert. Normwerte
Für die Transformation von Rohwerten von Personen erleichtern die Beurteilung der Werte von Personen in
in einem Verfahren (z. B. Summenwert aller Items in diagnostischen Verfahren. Erreicht beispielsweise eine
einem Fragebogen zur Erfassung des mathematischen Schülerin in einem Lesetest einen T-Wert von 72 (bei einem
Selbstkonzepts) in Normwerte müssen diese Rohwerte Mittelwert von 50 und einer Standardabweichung von 10
normalverteilt sein. Nach Prüfung dieser Voraussetzung (z. B. in der Normstichprobe), kann ihr Ergebnis als überdurch-
durch grafische Inspektion der Verteilung der Rohwerte) schnittlich (über zwei Standardabweichungen besser als der
werden die Rohwerte standardisiert, d. h. in z-Werte Mittelwert) bewertet werden. Eine weitere Erleichterung bei
transformiert: der Interpretation von Normwerten bietet die Angabe von
xM Prozenträngen. Prozentränge informieren darüber, wie viele
zD Personen einer Normstichprobe einen niedrigeren oder
s
maximal den gleichen Wert haben. Ein Prozentrang von 90
Dabei gilt: x D Rohwert einer Person; M D Mittelwert der bedeutet beispielsweise, dass 90 Prozent aller Personen der
Rohwerte in der Normierungsstichprobe; s D Standard- Normstichprobe einen niedrigeren oder gleichen und 10
abweichung der Rohwerte (Grad der Streuung der Werte; Prozent einen höheren Wert haben.
entspricht der Wurzel aus der Varianz der Rohwerte in der
Normierungsstichprobe).
Man drückt durch diese Transformation also die ursprüng- 1 Vergleichbarkeit
lichen Rohwerte als Abweichungsmaße vom Mittelwert Das Gütekriterium der Vergleichbarkeit ist erfüllt, wenn es zu
in Einheiten von Standardabweichungen aus. Somit steht einem Verfahren eine oder mehrere Parallelversionen oder
beispielsweise ein z-Wert von 1,5 für einen Testwert, der 1,5 Messinstrumente gibt, die Ähnliches messen. Von Relevanz
Standardabweichungen über dem Gruppenmittelwert liegt. kann dieses Gütekriterium beispielsweise sein, wenn eine
z-Werte können durch Multiplikation mit einer Zahl (sog. Lehrperson eine Gruppentestung durchführen möchte. Die
Gefahr des Abschreibens kann bei Verwendung paralleler
482 Kapitel 24  Grundlagen und Kriterien der Diagnostik

Testversionen reduziert werden, da sich die Formulierungen bestimmte Richtung verfälschen oder verzerren kann. Per-
der Items leicht unterscheiden können. sonen können die Ergebnisse einer Testung jedoch in der
Regel willentlich beeinflussen. Insbesondere in Fragebögen,
1 Ökonomie Interviews oder Beobachtungen können Personen die Ergeb-
Die Beurteilung der Ökonomie eines diagnostischen Verfah- nisse z. B. durch sozial erwünschte Antworten oder sozial
rens bezieht sich auf die Durchführungszeit, den Materialver- erwünschtes Verhalten verzerren. Soziale Erwünschtheit be-
brauch, die Einfachheit der Handhabung und die Möglichkeit zeichnet die Tendenz, auf Selbstberichtsfragen eher konform
der Gruppentestung. Welchen dieser Aspekte welche Bedeu- mit sozialen Normen und Erwartungen als authentisch zum
tung zukommt und ob immer eine Minimierung der Kosten tatsächlichen eigenen Erleben und Verhalten zu antworten
angestrebt werden sollte, hängt von mehreren Faktoren ab. (bzw. sich in Beobachtungssituationen entsprechend zu ver-
Hierzu gehören beispielweise der Zweck und die Wichtigkeit halten). In einem Fragebogen zur Erfassung des Interesses an
der Untersuchung und die Verfügbarkeit anderer Verfah- einem bestimmten Schulfach könnte eine Schülerin beispiels-
ren. Soll beispielsweise ein Kind auf Hochbegabung getestet weise dazu tendieren, die Items sozial erwünscht im Sinne
werden, ist die Verwendung eines Kurzverfahrens zur Fest- hohen Interesses anzukreuzen. Für die Interpretation der
stellung der geistigen Leistungsfähigkeit nicht angebracht. Werte eines diagnostischen Verfahrens ist es hilfreich, wenn
Die Verwendung alternativer Verfahren ist jedoch auch mit im Manual der Grad der möglichen Verfälschbarkeit (sowohl
Unterschieden in anderen Gütekriterien wie Reliabilität und nach unten als auch nach oben) angegeben wird. Wünschens-
Objektivität verbunden. Folglich sollten ökonomische Abwä- wert sind zudem zusätzliche Informationen darüber, ob und
gungen nicht isoliert erfolgen. wie eine mögliche Verfälschung aufgedeckt werden kann.

1 Nützlichkeit
Ein diagnostisches Verfahren kann als nützlich angesehen 24.6 Diagnostische Verfahren
werden, wenn die Untersuchung des dadurch erfassten Merk-
mals oder der dadurch erfassten Verhaltensweise von prakti-
Dieser Abschnitt widmet sich den gängigen diagnostischen
scher Relevanz ist. Da es bereits eine Vielzahl diagnostischer
Verfahren Test, Interview und Verhaltensbeobachtung. Auf-
Verfahren zur Erfassung bestimmter Merkmale gibt, kann
grund der Fülle an Verfahren, die sich diesen drei Kategorien
die Nützlichkeit eines neuen Verfahrens insbesondere durch
zuordnen lassen, kann hier nur eine Einführung gegeben
einen Vergleich mit bereits vorhandenen Messinstrumenten
werden (7 Kap. 27). Für eine vertiefende Auseinandersetzung
erfolgen. Beispielsweise kann sich ein neu entwickelter Intel-
mit dem Thema sei auf einschlägige Literatur zur psycholo-
ligenztest verglichen mit bereits vorhandenen Intelligenztests
gischen Diagnostik verwiesen (z. B. Krohne & Hock 2007;
als nützlich erweisen, wenn er besser zur Vorhersage des
Schmidt-Atzert & Amelang 2012).
Schulerfolgs geeignet ist (also eine höhere Kriteriumsvalidi-
tät aufweist).

1 Zumutbarkeit 24.6.1 Tests


Das Gütekriterium der Zumutbarkeit ist gegeben, wenn die
getestete Person durch das diagnostische Verfahren nicht un- Tests können grob in Leistungstests, psychometrische Per-
nötig in zeitlicher, körperlicher oder psychischer Hinsicht sönlichkeitstests und Persönlichkeitsentfaltungsverfahren
belastet wird. Werden beispielsweise in einer Untersuchung eingeteilt werden (Brähler, Holling, Leutner & Petermann
mehrere geistig anspruchsvolle Untertests eines Verfahrens 2002, S. 11ff.; . Abb. 24.3). Diese können noch in weitere Ar-
mit einer hohen Gesamtdauer durchgeführt, kann die Vertei- ten von Tests differenziert werden. Die folgende Darstellung
lung der Untertests auf mehrere Testtermine sinnvoll sein. orientiert sich an dieser Taxonomie.

1 Fairness 1 Leistungstests
Ein diagnostisches Verfahren gilt als fair, wenn die aus einem Von den in . Abb. 24.3 dargestellten Leistungstests sind für
Verfahren gewonnenen Messwerte nicht systematisch zur den schulischen Bereich neben Entwicklungstests insbeson-
Benachteiligung bestimmter Gruppen führen. Beispielsweise dere Intelligenztests, allgemeine Leistungstests und Schultests
würde die Durchführung eines sprachabhängigen, deutschen (Brähler et al. 2002, S. 14) von Bedeutung.
Schulfähigkeitstests die Gruppe der Nicht-Muttersprachler Mit Entwicklungstests kann der Entwicklungsstand des
systematisch benachteiligen. Umgekehrt bedeuten aber vor- Verhaltensspektrums global oder hinsichtlich einzelner
handene Gruppenunterschiede nicht notwendigerweise Un- Funktionsbereiche wie Sprache oder Motorik erfasst wer-
fairness eines Verfahrens, da sie auch tatsächlich bestehende den.
Unterschiede zwischen den Gruppen widerspiegeln können. Intelligenztests bilden eine weitere Kategorie von Leis-
tungstests. In Abhängigkeit der zugrundeliegenden Defini-
1 Nicht-Verfälschbarkeit tion bzw. Konzeptionalisierung von Intelligenz (. Abb. 24.3)
24 Nicht-Verfälschbarkeit meint, dass die zu testende Person die können die verwendeten Aufgaben von Intelligenztests und
Ergebnisse in einem diagnostischen Verfahren nicht in eine die damit angesprochenen geistigen Fähig- und Fertigkeiten
24.6  Diagnostische Verfahren
483 24
Leistungstests Psychometrische Persönlichkeitstests Persönlichkeitsentfaltungsverfahren

- Entwicklungstests - Persönlichkeitsstrukturtests - Formdeuteverfahren


- Intelligenztests - Einstellungstests - Verbal-thematische Verfahren
- Allgemeine Leistungstests - Interessentests - Zeichnerische und Gestaltungs-
- Schultests - Klinische Tests verfahren
- Spezielle Funktionsprüfungs-
und Eignungstests

. Abb. 24.3 Arten von Tests (nach Brähler et al., 2002, S. 11ff.)

II II II I I II I II I I II
p d d d d d p d p d d d p p d d d
II II I I I II II II I II I II

. Abb. 24.4 Ausschnitt der ersten von 14 Zeilen des d2-R (nach
Brickenkamp et al. 2010)

stark variieren. Beispielsweise liegt der Wechsler Intelligence


Scale for Children (WISC-IV, Petermann & Petermann 2011)
für Kinder von 6 bis 16 Jahren ein sehr differenziertes In-
telligenzmodell mit mehreren Subfacetten zugrunde. Erfasst
werden sollen damit Sprachverständnis, wahrnehmungsge- 1 2 3 4
bundenes logisches Denken, Arbeitsgedächtnis und Verar-
beitungsgeschwindigkeit sowie die globale Intelligenz. Im Ge-
gensatz dazu hat der Raven Matrizentest (Raven 2003) den
Anspruch, vornehmlich die Fähigkeit zum schlussfolgernden
Denken zu messen. 5 6 7 8
Von Intelligenztests abgegrenzt werden allgemeine Leis-
tungstests, die generelle Voraussetzungen der Leistungsfä-
higkeit messen sollen. Zu diesen Voraussetzungen gehören
Konstrukte wie Konzentration und Aufmerksamkeit.
Vor allem für allgemeine Leistungstests und Intelligenz- . Abb. 24.5 Beispielitem aus den Standard Progressive Matrices (nach
tests ist eine weitere Differenzierung in Geschwindigkeits- Raven 2003)
(Speed-) und Niveautests (Powertests) sinnvoll (Schmidt-
Atzert & Amelang 2012, S. 117f.). Bei Speedtests ist eine Lö-
sung aller Aufgaben theoretisch möglich, würde unbegrenzte vorliegt. Bei diesem Test müssen matrizenartige Muster, bei
Bearbeitungszeit gewährt, da die Aufgaben durchgehend sehr denen die dritte Form in der dritten Zeile fehlt, durch Aus-
leicht sind. Die Bearbeitungszeit wird aber bewusst begrenzt, wahl einer von acht verfügbaren Alternativen ergänzt werden
so dass sich Unterschiede in den Leistungen zwischen den (. Abb. 24.5).
Testteilnehmerinnen und -teilnehmern aus dieser Zeitbe- Schließlich gehören der Gruppe der Leistungstests auch
grenzung ergeben. Eine bekannte Art von Speedtests stellen Schultests an. Wie der Name bereits andeutet, sind diese
Konzentrationstests wie der d2-R (Brickenkamp, Schmidt- Verfahren durch einen direkten Bezug zu Schule und Ausbil-
Atzert & Liepmann 2010) dar. Beim d2-R müssen in Reihen dung gekennzeichnet. Zu den Schultests gehören Verfahren
mit den Buchstaben d oder p, über und/oder unter denen sich zur Diagnostik von Schulfähigkeit und des schulischen Leis-
1 bis 4 Striche befinden, in begrenzter Zeit die mit 2 Strichen tungsstands. Besonders zu erwähnen sind hier Verfahren zur
markierten ds durchgestrichen werden (. Abb. 24.4). Diagnose der Lese- und Rechtschreib- sowie Mathematikleis-
Powertests sind im Gegensatz zu Speedtests dadurch ge- tungen, da diese auch bei der Diagnose von LRS und Dys-
kennzeichnet, dass auch bei unbegrenzter Bearbeitungszeit kalkulie benötigt werden (7 Kap. 28). Ein Beispiel für ein von
nicht alle Aufgaben gelöst werden können, da sich die Auf- Psychiaterinnen und Psychiatern oder Therapeutinnen und
gaben in ihrer Schwierigkeit stark unterscheiden und neben Therapeuten anwendbares, computergestütztes Verfahren zur
leichten Aufgaben auch sehr schwere enthalten sind. Zumeist Diagnose von Dyskalkulie vom Ende des ersten bis zum Be-
sind die Items von Powertests in aufsteigender Schwierigkeit ginn des vierten Schuljahres ist der Test zur Diagnose von
geordnet. Ein Beispiel für einen häufig eingesetzten Power- Dyskalkulie (TeDDy-PC, Schröders & Schneider 2008). In
test ist der oben genannte Raven-Matrizentest zur Erfassung Abhängigkeit der Jahrgangsstufe kommen unterschiedliche
von Intelligenz (Raven 2003), der in unterschiedlichen For- Aufgabentypen (z. B. Beherrschung von Grundrechenarten,
men für Personen mit unterschiedlicher Leistungsfähigkeit Erkennen geometrischer Figuren) zur Anwendung. Mathe-
484 Kapitel 24  Grundlagen und Kriterien der Diagnostik

matische Kompetenzen können mit TeDDy-PC global und Auf ähnliche Art werden auch die Summen- bzw. Ska-
spezifisch auf Untertestebene (Ebene der Merkmalssubdi- lenwerte in einer Vielzahl weiterer psychometrischer Per-
mensionen) analysiert werden. Zudem ist eine automatische sönlichkeitstests gebildet, die für den schulischen Kontext
Gutachtenerstellung möglich. von Relevanz sind. So ermöglichen die Skalen zur Erfas-
Die Anwendung ausgewählter Leistungstests kann durch sung der Lern- und Leistungsmotivation (SELLMO; Spinath,
Lehrpersonen nach entsprechender Einarbeitung erfolgen. Stiensmeier-Pelster, Schöne & Dickhäuser 2012) die Erfas-
Hierzu gehören insbesondere Schulleistungstests (z. B. Lese- sung unterschiedlicher Zielorientierungen von Schülerinnen
und Rechtschreibtests sowie Rechentests), die Lehrkräfte und Schülern der 3. bis 10. Klasse in kurzer Zeit (8–15 Minu-
auch beziehen dürften. Der Einsatz von Intelligenz- und Per- ten) mittels Einzel- oder Gruppentestung. Die Skalen erfas-
sönlichkeitstests liegt jedoch außerhalb des pädagogischen sen vier voneinander abgrenzbare Zielorientierungen, näm-
Auftrags von Lehrpersonen und erfordert zudem eine ent- lich Lernziele, Annäherungs-Leistungsziele, Vermeidungs-
sprechende fachliche Qualifizierung. Diese fachliche Quali- Leistungsziele und Arbeitsvermeidung (7 Kap. 11). Die Roh-
fizierung besitzen in der Regel neben Psychologinnen und werte für diese Zielorientierungen werden wiederum durch
Psychologen auch Schulpsychologinnen und Schulpsycholo- Summenwertbildung der den Skalen zugeordneten Items er-
gen sowie Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen (für rechnet und anschließend anhand von Normwerttabellen in
einen Überblick rechtlicher Grundlagen siehe Zier 2002). Normwerte transformiert (bei den SELLMO: Prozentränge
Die Diagnostizierung psychischer Störungen wie Dyskalkulie und T-Werte). Normwerte ermöglichen dann einen Vergleich
oder LRS ist allerdings nach § 35a SGB VIII nur bestimmten der Ausprägungen der Zielorientierungen von Schülerin-
Personengruppen vorbehalten. Zu diesen Personengruppen nen oder Schülern innerhalb bestimmter Klassenstufen. Die
gehören Ärztinnen und Ärzte für Kinder- und Jugendpsychi- Kennwerte der SELLMO weisen Zusammenhänge mit Schul-
atrie und -psychotherapie, Kinder- und Jugendpsychothera- noten auf und können Anhaltspunkte über motivationale
peutinnen und -therapeuten sowie Ärztinnen und Ärzte oder Stärken oder Schwächen geben. Motivationale Stärken oder
psychologische Psychotherapeutinnen und -therapeuten, die Schwächen können wiederum als Basis für die individuelle
über besondere Erfahrungen auf dem Gebiet psychischer Stö- Beratung herangezogen werden. Somit bieten die SELLMO
rungen bei Kindern und Jugendlichen verfügen. Neuerdings ein ökonomisches Verfahren zur Erfassung motivationsrele-
ist es in Bayern auch Schulpsychologinnen und Schulpsy- vanter Zielorientierungen.
chologen erlaubt, durch eine Stellungnahme eine LRS nach-
zuweisen (§ 36 Abs. 2 BaySchO). Abgesehen von Schultests1 Persönlichkeitsentfaltungsverfahren
(insbesondere Schulleistungstests) sollten Lehrpersonen die Bei Persönlichkeitsentfaltungsverfahren (auch als projektive
Anwendung von Leistungstests damit in der Regel Personen Verfahren bezeichnet) wird davon ausgegangen, dass Perso-
mit spezieller fachlicher Qualifizierung überlassen. nen in Abhängigkeit von Persönlichkeitsmerkmalen mehr-
deutiges Material unterschiedlich interpretieren (Schmidt-
1 Psychometrische Persönlichkeitstests Atzert & Amelang 2012). Oftmals sind die zumeist langen
Bei psychometrischen Persönlichkeitstests (auch psychome- Antworten der getesteten Personen wörtlich zu protokol-
trische Fragebögen genannt) handelt es sich zumeist um Fra- lieren und müssen im Anschluss daran nach einem kom-
gebögen mit einer größeren Anzahl an Items (z. B. Fragen plexen Verfahren inhaltlich ausgewertet werden. Eines der
oder Aussagen, die auf ihr Zutreffen hin zu beurteilen sind), weltweit am häufigsten eingesetzten projektiven Verfahren
die zu einer oder mehreren Skalen zusammengefasst wer- ist der bereits 1921 publizierte Rorschach-Test (Rorschach
den. Die Skalen repräsentieren dann oftmals bestimmte, rela- 1949), der ein Formdeuteverfahren ist. Bei diesem Verfahren
tiv stabile Persönlichkeitsmerkmale (z. B. Gewissenhaftigkeit, werden der zu testenden Person nacheinander 10 Klecksbil-
Extraversion). Allerdings können auch zeitlich stärker fluk- der vorgelegt, bei denen immer auf die Frage „Was könnte
tuierende Merkmale wie Emotionen erfasst werden. Aus der das sein?“ geantwortet werden muss. Nach der Protokollie-
großen Menge der verfügbaren Verfahren sind viele überwie- rung der Antworten werden diese in der klassischen Variante
gend für praktische Fragestellungen geeignet, beispielsweise nach vier Gesichtspunkten beurteilt, nämlich Erfassungsmo-
für klinische Fragestellungen oder schulische Beratungen. dus (Deutung im Ganzen oder im Detail), Determinanten
Andere Verfahren werden hauptsächlich zu Forschungszwe- (z. B. Form oder Farbe), Inhalt (z. B. Tier oder Mensch) und
cken eingesetzt. Grad der Originalität. Zudem können weitere Indikatoren
Sowohl für Forschungszwecke als auch klinische und eig- wie Reaktionszeiten herangezogen werden (Schmidt-Atzert
nungsdiagnostische Fragestellungen geeignet ist der bereits & Amelang 2012, S. 301ff.). Ein wesentlicher Nachteil der
genannte NEO-FFI (Borkenau & Ostendorf 2008). Die insge- projektiven Verfahren besteht darin, dass die Gütekriteri-
samt 60 Items zur Erfassung der fünf Persönlichkeitsfaktoren en diagnostischer Verfahren in der Regel unzureichend er-
(12 Items pro Persönlichkeitsfaktor bzw. Skala) haben jeweils füllt sind. Daher eignen sich Persönlichkeitsentfaltungsver-
5 Antwortkategorien (starke Ablehnung, Ablehnung, neutral, fahren allenfalls als Explorationshilfen im klinischen Bereich
Zustimmung, starke Zustimmung), denen die Punkte 0 bis 4 (Moosbrugger & Kelava 2012; Schmidt-Atzert & Amelang
zugeordnet werden. Der Skalenwert einer Person auf einem 2012). Abschließend bleibt festzuhalten, dass die Ergebnis-
24 Persönlichkeitsfaktor ergibt sich durch das Aufsummieren se projektiver Verfahren mit Vorsicht interpretiert werden
der Antworten der diesem Faktor zugeordneten Items. sollten.
24.6  Diagnostische Verfahren
485 24
1 Formelle und informelle Tests Standardisierung der Inhalte der Fragen vorgesehen, aber kei-
Neben der hier dargestellten Taxonomie von Tests erscheint ne exakten Wortlaute und Abfolgen der Fragen intendiert
die Unterscheidung zwischen formellen und informellen oder möglich, spricht man von einem halbstandardisierten
Tests hilfreich. Formelle Tests zeichnen sich hinsichtlich Interview (7 Kap. 27).
Durchführung, Auswertung und Interpretation durch ein ho- Neben dem Begriff der Standardisierung wird oftmals der
hes Maß an Standardisierung aus, um die Gütekriterien für Begriff der Strukturierung verwendet. Der Grad der Struk-
diagnostische Verfahren zu erfüllen. Formelle Tests sind oft- turierung meint, in welchem Ausmaß festgelegt ist, wann
mals normiert, was für informelle Tests nicht zutrifft (Leutner bestimmte Fragen gestellt werden. Interviews können aus un-
2010). Letztere können aufgrund spezifischer Anliegen (z. B. systematisch angeordneten Fragen bestehen, deren Abfolge
der Unterrichtsvorbereitung auf Basis des festgestellten Wis- und Wortlaute aber gleich sind. Man spricht in diesem Fall
sensniveaus der Schülerinnen und Schülern) von Lehrper- von unstrukturierten, aber standardisierten Interviews. Un-
sonen selbst konstruiert werden. Die Erstellung informeller abhängig vom Grad der Standardisierung hinsichtlich der
Tests orientiert sich an der Konstruktion formeller Tests, Durchführung eines Interviews oder Tests kann die Auswer-
weshalb informelle Tests häufig ebenfalls den Testgütekriteri- tung standardisiert erfolgen oder nicht (Schmidt-Atzert &
en genügen. Zu informellen Tests gehören lehrzielorientierte Amelang 2012, S. 324f.). Das Ausmaß, in dem Interviews
Tests, die das Erreichen eines Lehrziels (also eines Kriteri- standardisiert sind, hat Auswirkungen auf ihre Messgüte, ins-
ums) messen sollen (Krohne & Hock 2007). Da die Messung besondere ihre Objektivität. Je höher der Grad der Standardi-
und Bewertung von Lernerfolg als ein wesentliches Lehrziel sierung, desto höher ist die Objektivität des Interviewverfah-
im Zentrum von 7 Kap. 25 steht, wurde hier in erster Linie auf rens (was wiederum Voraussetzung für eine gute Reliabilität
formelle Tests eingegangen. und Validität ist).
Die unterschiedlichen Typen von Interviews können als
Anhaltspunkt für die Bewertung bereits verfügbarer Inter-
views dienen. Als Beispielinterview für Kinder und Lehr-
24.6.2 Interviews personen kann der Bullying- und Viktimisierungsfragebogen
(von Marées & Petermann 2010) aufgeführt werden. Die-
Ähnlich wie projektive Verfahren können auch Interviews ex- ses Interview ist standardisiert und erfasst relativ reliabel das
plorativ eingesetzt werden, erlauben allerdings in Abhängig- Ausmaß, in dem Vier- bis Zehnjährige von Bullying (Schika-
keit von der Art des Interviews eine spezifischere Sammlung nierung) betroffen sind. Ein Beispielitem der Opferskala bei
von Informationen (z. B. im Hinblick auf eine diagnostische Kindern lautet „Wie oft sagen andere Kinder gemeine Din-
Fragestellung). ge zu Dir?“ (S. 103). Oftmals müssen jedoch für spezifische
Nach alltäglichem Verständnis dienen Interviews der Fragestellungen eigens Interviews konstruiert werden. So wie
mündlichen Informationsgewinnung mittels Gesprächen. Lehrpersonen für die Überprüfung des gelernten Wissens
Der hier verwendete Begriff bezieht sich auf diagnostische einer oder mehrerer Schulstunden spezifische Prüfungen ent-
Interviews. Damit soll verdeutlicht werden, dass diese Inter- wickeln müssen, ist auch eine Konstruktion von Interviews
views der mündlichen Gewinnung diagnostisch relevanter oder Teilen davon in Abhängigkeit von der Fragestellung er-
Informationen dienen. Je nach Verwendungszweck kann es forderlich. Beispielweise könnte sich eine Lehrperson an den
sich bei Interviews beispielsweise um Anamnesen (Samm- Gründen für die seit Kurzem wiederkehrenden Disziplin-
lung von Informationen über eine Erkrankung oder Stö- schwierigkeiten eines sonst ruhigen Schülers mittels eines
rung) sowie Einstellungs- oder Auswahlgespräche handeln Interviews erkundigen wollen. Für die Konstruktion von In-
(Schmidt-Atzert & Amelang 2012). Anamnesen und Einstel- terviews geben Schmidt-Atzert und Amelang (2012, S. 336ff.)
lungsinterviews lassen sich zwei großen Gruppen von In- Empfehlungen: Zentral ist die Erstellung eines Leitfadens be-
terviews zuordnen: Klinische Interviews und Interviews in ginnend mit einem Grobaufbau hin zu Fragengenerierung
Organisationen (Krohne & Hock 2007). Diese Einteilung re- und Detailausarbeitungen. Diesem Vorgehen entsprechend
feriert primär auf das Einsatzgebiet von Interviews und kann werden zunächst Themenblöcke und anschließend Fragen (in
erweitert werden. Betrachtet man Schulen als Organisatio- Stichworten oder ausformuliert) präzisiert. Für die richtige
nen, so sind vielfältige Einsatzmöglichkeiten von Interviews Formulierung von Fragen geben Westhoff und Kluck (2014,
denkbar. Hierzu gehören beispielsweise Interviews mit Schü- S. 96f.) Hinweise, die auch für die Konstruktion von Items
lerinnen und Schülern zu ihrem Arbeitsverhalten und Inter- in Fragebögen verwendet werden können. So sollten Fragen
views mit Lehrpersonen zu ihrer Arbeitsbelastung. u. a. auf konkretes Verhalten referieren, nur einen Aspekt an-
Interviews können nicht nur nach inhaltlichen Gesichts- sprechen und möglichst kurz und treffend formuliert sein.
punkten, sondern auch nach dem Grad der Standardisierung Die Verwendung von Fachbegriffen und Fremdwörtern sollte
eingeteilt werden. Bei völlig unstandardisierten Interviews vermieden werden. Allerdings können in bestimmten Fäl-
steht lediglich der Zweck des Interviews fest und die Fragen len auch Ausnahmen von diesen Regeln sinnvoll sein. So
ergeben sich im Laufe des Gesprächs. Sind die Fragen dage- ist die Verwendung von Fremdwörtern und Fachbegriffen
gen im Vorfeld festgelegt und müssen im gleichen Wortlaut bei interviewten Personen mit Hochschulstudium angemes-
vorgetragen werden, spricht man von völlig standardisierten sen, um den Eindruck zu vermeiden, dass ihr Bildungsniveau
Interviews. Dazwischen sind Abstufungen möglich: Ist eine unterschätzt wird (Schmidt-Atzert & Amelang 2012). Ne-
486 Kapitel 24  Grundlagen und Kriterien der Diagnostik

ben Empfehlungen zur Konstruktion von Interviews sind für (Vorgabe, was zu beobachten ist und wie das Beobachtete fest-
die effektive Durchführung von Interviews Techniken der zuhalten ist), direkter oder indirekter (Beobachtung durch
Gesprächsführung hilfreich. Dazu gehören das Stellen zweck- Videoaufzeichnung) sowie Feld- (Beobachtung in realen Si-
angemessener Fragen und aktives Zuhören (z. B. indem die tuationen) oder laborähnlicher Verhaltensbeobachtung. Bei
Interviewerin oder der Interviewer die Aussagen der befrag- der direkten Beobachtung kann der Fokus der Beobachtung
ten Person in eigenen Worten wiederholt, um Verständnis im Gegensatz zu einer fixierten und ausschnittartigen Auf-
auszudrücken; Schmidt-Atzert & Amelang 2012, S. 339ff.) zeichnung von Verhalten mittels einer Kamera flexibel auf
interessierende Verhaltensweisen gelegt werden. Die video-
basierte Aufzeichnung von Verhalten ermöglicht dagegen die
24.6.3 Verhaltensbeobachtung Trennung von Beobachtung und Protokollierung des Ver-
haltens (auch durch die Möglichkeit, das Video anzuhalten).
und -beurteilung Feldbeobachtungen haben den Vorteil, dass der Einfluss von
Kontextbedingungen (z. B. Geschehen im Klassenzimmer)
Verhaltensbeobachtungen und -beurteilungen gehören zum mitberücksichtigt werden kann. Dagegen ermöglichen labor-
Alltag von Lehrpersonen und werden auch in der psycholo- ähnliche Beobachtungen eine Standardisierung der Beobach-
gischen Diagnostik für die Beantwortung von Fragestellun- tungssituation und daher den Ausschluss möglicher Störfak-
gen angewandt. Verhaltensbeobachtungen können fließend toren (z. B. Geräuschpegel im Klassenzimmer). Vergleiche
in Verhaltensbeurteilungen übergehen. Daher werden Ver- innerhalb einer Person (über mehrere Messzeitpunkte hin-
haltensbeurteilungen hier nicht strikt von Verhaltensbeob- weg) und zwischen Personen sind folglich unbeeinflusst von
achtungen getrennt (und nur der Begriff der Verhaltensbe- Störfaktoren. Zusätzlich zu den genannten Unterscheidungs-
obachtung verwendet). Die folgenden Ausführungen geben merkmalen können Beobachterin oder Beobachter sicht-
darüber einen Überblick, der sich an weiterführender Litera- bar sein (offene Beobachtung) oder nicht (verdeckte Beob-
tur orientiert (Döring & Bortz 2016; Krohne & Hock 2007; achtung). Offene Beobachtungen können nicht-teilnehmend
Schmidt-Atzert & Amelang 2012; Seidel & Prenzel 2010; oder teilnehmend sein. Beobachtungen von Schülerinnen
Westhoff & Kluck 2014). oder Schülern durch gerade unterrichtende Lehrpersonen
können als teilnehmend klassifiziert werden. Eine nicht-
1 Beobachtungsstichproben teilnehmende Verhaltensbeobachtung ist die oben genannte
Vor der Verhaltensbeobachtung sollte festgelegt werden, in Unterrichtshospitation.
welchen Einheiten (Beobachtungsstichproben) das beobach- Im Hinblick auf die Beantwortung einer konkreten diag-
tete Verhalten analysiert werden soll. Es kann zwischen time nostischen Fragestellung und die Erfüllung der Gütekriterien
sampling (Zeitstichproben) und event sampling (Ereignis- diagnostischer Verfahren (7 Abschn. 24.5) sind systematische
stichproben) unterschieden werden. Beim time sampling wer- Verhaltensbeobachtungen eindeutig zu bevorzugen. Dabei
den spezifische Verhaltensweisen in festgelegten Zeitinterval- stehen ausgewählte Teilaspekte des Verhaltens im Fokus der
len (z. B. 5-Sekunden-Intervalle) beobachtet. Innerhalb die- Beobachtung (wie die leichte Ablenkbarkeit eines Schülers als
ser Zeitintervalle kann im Anschluss an die Beobachtung eine Indikator für das Vorliegen einer Aufmerksamkeitsdefizit-/
Häufigkeitsregistrierung und Interpretation des beobachte- Hyperaktivitätsstörung). Weiterhin ist genau festgelegt, wie
ten Verhaltens erfolgen. Beobachtet man dagegen nur, wenn diese Teilaspekte des Verhaltens registriert und interpretiert
ein bestimmtes Verhalten gezeigt wird, spricht man von event werden sollen. Für die Registrierung und Interpretation von
sampling. Hierbei kann verglichen mit dem time sampling Verhaltensweisen können niedrig- oder hoch-inferente Be-
zusätzlich zum Zeitpunkt die Dauer eines Verhaltens exakt obachtungsmethoden angewandt werden.
bestimmt werden (beim time sampling wäre hierzu eine sehr
genaue Einteilung der Zeitintervalle notwendig). Das event1 Niedrig-inferente Beobachtungsmethoden
sampling bietet sich insbesondere dann an, wenn zu beobach- Niedrig-inferente Beobachtungsmethoden sind dadurch ge-
tende Verhaltensweisen selten sind (z. B. die aktive Mitarbeit kennzeichnet, dass die beobachtende Person für die Regis-
einer normalerweise zurückhaltenden Schülerin). trierung und die Interpretation von Verhaltensweisen nur we-
nige Schlussfolgerungen (Inferenzen) ziehen müssen. Häufig
1 Arten der Verhaltensbeobachtung verwendete niedrig-inferente Beobachtungsmethoden sind
Grundsätzlich lässt sich die Fremdbeobachtung von der Zeichen- und Kategoriensysteme.
Selbstbeobachtung abgrenzen. Beispielweise kann eine Leh- Mit Zeichensystemen werden nur das Auftreten oder
rerin ihr Verhalten gegenüber Unterrichtsstörungen regel- Nicht-Auftreten einer oder mehrerer Verhaltensweisen quan-
mäßig selbst beobachten und in einem Tagebuch festhal- tifiziert und ggf. die Dauer des Verhaltens festgehalten (z. B.
ten (Selbstbeobachtung) oder im Rahmen einer Hospitation kann Nicht-Auftreten einer Verhaltensweise mit „0“ und Auf-
von einer Kollegin oder einem Kollegen beobachtet werden treten mit „1“ codiert werden). Beispielsweise kann erfasst
(Fremdbeobachtung). Eine Fremdbeobachtung kann in die- werden, ob eine Lehrkraft eine Schülerin oder einen Schü-
sem Fall Verhaltensweisen aufdecken, die der beobachteten ler lobt. Nicht interessierende Verhaltensweisen werden bei
24 Lehrerin nicht bewusst waren. Weiterhin kann unterschieden Verwendung von Zeichensystemen nicht codiert. Will man
werden zwischen freier (ungebundener) und systematischer dagegen gezeigtes Verhalten differenzierter erfassen, eignen
24.6  Diagnostische Verfahren
487 24
sich Kategoriensysteme. So könnten die Verhaltensweisen ei-
nes Schülers den Kategorien “Aktive Mitarbeit“ (Code „1“) könnte eine Lehrerin implizit annehmen, dass ungepflegt
oder „Stören des Unterrichts“ (Code „2“) zugeordnet werden aussehende Personen faul sind und in der Folge das Ar-
(Nichtauftreten einer der genannten Kategorien kann bei- beitsverhalten eines bestimmten ungepflegt aussehenden
spielsweise durch den Code „0“ quantifiziert werden). Schülers schlechter als es tatsächlich ist einschätzen.
Weiterhin kann der erste oder der letzte Eindruck einen be-
1 Hoch-inferente Beobachtungsmethoden sonders bedeutsamen Effekt auf die Verhaltensbeurteilung
Im Gegensatz zu Zeichen- und Kategoriensystemen ist das haben. Man spricht dann von Primacy- und Recency-Effekt.
Ausmaß an zu ziehenden Schlussfolgerungen bei hoch- Ein Primacy-Effekt kommt oft dadurch zustande, dass
inferenten Beobachtungsmethoden hoch. Ein höherer Grad versucht wird, die frühe Bildung eines Gesamteindrucks zu
an notwendigen Schlussfolgerungen ergibt sich, wenn ei- bestätigen. Insofern könnte der logische Fehler im Beispiel
ne von mehreren schwer zu trennenden Verhaltensweisen des ungepflegt aussehenden Schülers am Anfang eines
codiert werden muss, z. B. authentisches versus sozial er- Schuljahres bei der Lehrerin zur frühen Bildung eines nega-
wünschtes Lächeln einer Schülerin. Häufig verwendete hoch- tiven Gesamteindrucks führen. Ergeben die Beobachtungen
inferente Beobachtungsmethoden stellen Ratingskalen dar. dagegen über längere Zeit ein unklares Bild, kann es zu
Bei Anwendung von Ratingskalen müssen Beobachterinnen einem Recency-Effekt kommen. Zuletzt beobachtete Verhal-
und Beobachter wie bei der Verwendung von Zeichen- und tensweisen erhalten dann ein besonders hohes Gewicht bei
Kategoriensystemen das Auftreten einer oder mehrerer Ver- der Beurteilung. Ein Beispiel hierfür ist die Beurteilung eines
haltensweisen erfassen. Darüber hinaus muss das beobachte- Schülers bei einem Fußballspiel im Sportunterricht. Schießt
te Verhalten jedoch auch anhand von abgestuften Antwort- der Schüler gegen Ende des Spiels das entscheidende Tor,
skalen beurteilt werden. hat dies möglicherweise einen stark positiven Effekt auf
Eine Lehrerin könnte beispielsweise darum gebeten wer- seine Beurteilung.
den, das Ausmaß der erlebten Freude eines Schülers während Ein weiterer Fehler ist der Beobachterdrift. Dieser Fehler
des Unterrichts auf einer fünfstufigen Skala zu beurteilen meint eine Zu- oder Abnahme der Beobachtungsgenauig-
(1 D „sehr gering“, 2 D „gering“, 3 D „mittel“, 4 D keit über die Beobachtungsphase hinweg. Insbesondere
„hoch“, 5 D „sehr hoch“). Problematisch bei der Verwen- über einen längeren Zeitraum können Ermüdung und
dung von Ratingskalen ist deren subjektiver Charakter. Was Motivationsverluste zu einer ungenaueren Protokollierung
beispielsweise unter „sehr hoch“ zu verstehen ist, kann inter- führen. Allerdings ist auch eine Erhöhung der Genauigkeit
individuell stark variieren. Um Unterschiede zwischen Perso- denkbar, wenn Beobachterinnen und Beobachter unge-
nen aufgrund von Verständnisschwierigkeiten der Fragen zu nügend geschult wurden und im Laufe der Beobachtung
minimieren, können die einzelnen Kategorien oder eine Aus- immer besser protokollieren können.
wahl davon (z. B. die Extrempole) der Skala durch typische Darüber hinaus kann bei teilnehmenden Beobachtungen
Verhaltensweisen ergänzend beschrieben werden. die Beobachterin oder der Beobachter durch unange-
Unabhängig vom Grad der nötigen Schlussfolgerungen messenes Auftreten oder sogar bloße Anwesenheit die
und der Art des verwendeten Beobachtungssystems kann es beobachteten Personen beeinflussen. Dies wird als Reakti-
zu Beobachtungs- und Beurteilungsfehlern kommen, die bei vität bezeichnet. Ein Beispiel ist die Unterrichtshospitation
der Verhaltensbeobachtung generell zu beachten sind. durch einen Schulleiter, der im Anzug, mit ernstem Blick und
teilweise kopfschüttelnd das Verhalten der unterrichtenden
Im Fokus: Beobachtungs- und Beurteilungsfehler Person beobachtet. Die Lehrperson ändert ihr Verhalten in
dieser Situation wohl eher verglichen mit einer neutralen
Beobachtungs- und Beurteilungsfehler können die Validität Beobachtung durch den Schulleiter.
von Verhaltensbeobachtungen dadurch vermindern, Einige weitere Fehler sind durch Antworttendenzen be-
dass sie die gemessene Ausprägung des zu erfassenden dingt. So können die beobachtenden Personen generell
Verhaltens oder Merkmals verzerren. Im Folgenden wird zu schlechteren oder besseren Urteilen tendieren, was
eine Auswahl typischer Fehler vorgestellt. als Strenge- und Mildefehler bezeichnet wird. Neben
Einer der bekanntesten Beobachtungs- und Beurteilungs- diesen Tendenzen zur Extrembeurteilung ist aber auch
fehler ist der Halo- oder Hofeffekt. Dieser Effekt entsteht die Bevorzugung von mittleren Kategorien bei der Ver-
dadurch, dass eine herausragende Verhaltensweise oder haltensbeurteilung denkbar (Tendenz zur Mitte). Diese
ein hervorstechendes Merkmal die Beurteilung anderer Antworttendenzen können statistisch durch eine Analyse
Merkmale überstrahlt, also stark beeinflusst. Die auffälligen der Antwortverteilungen von mehreren Beobachterinnen
Unterrichtsstörungen eines Schülers könnten beispiel- und Beobachtern erkannt werden.
weise dessen gute Mitarbeit bei der Beurteilung seiner
mündlichen Leistungen überstrahlen.
Beim logischen Fehler wirken sich oft unzutreffende Angesichts der Vielzahl an möglichen Beobachtungs- und
Annahmen über Zusammenhänge zwischen bestimmten Beurteilungsfehlern stellt sich die Frage, wie diesen Fehlern
Merkmalen auf die Einschätzung aus. Beispielsweise begegnet werden kann. Zunächst ist dazu bereits ein Bewusst-
sein für diese Fehler nützlich. Für eine systematische Ver-
488 Kapitel 24  Grundlagen und Kriterien der Diagnostik

haltensbeobachtung mit hinreichender Gewährleistung der 24.7.2 Sensitivität und Spezifität


Objektivität ist ein Manual mit Erläuterungen zum Beob-
achtungsinstrument (z. B. Kategorien) und zu Durchführung
In unmittelbarer Beziehung zu den Entscheidungsfehlern ste-
und Auswertung (z. B. Codierschema) hilfreich. Darüber hi-
hen Sensitivität und Spezifität. Sie sind wichtig für die Be-
naus ist in der Regel eine Schulung mit Anwendungsübungen
urteilung diagnostischer Entscheidungen, insbesondere bei
notwendig. Speziell dem Primacy- und dem Recency-Effekt
Klassifikationen, wie sie im klinischen Kontext häufig vor-
kann durch eine kontinuierliche Registrierung des Verhaltens
kommen (z. B. Feststellung des Vorhandenseins/Nichtvor-
entgegengewirkt werden. Allerdings ist dabei darauf zu ach-
handenseins einer Krankheit oder psychischen Störung).
ten, dass ein Beobachterdrift vermieden wird. Das Bewusst-
Unter Sensitivität versteht man die Wahrscheinlichkeit,
sein dafür kann wiederum durch eine Schulung gesteigert
mit der das tatsächliche Vorliegen eines (im statistischen
werden.
Sinne) positiven Zustands (z. B. Störung wie LRS, Hochbe-
gabung) durch die Anwendung eines diagnostischen Verfah-
rens erkannt wird. Die Sensitivität kann somit als Gegen-
24.7 Bewertung diagnostischer wahrscheinlichkeit des “-Fehlers angesehen werden, wenn
Entscheidungen das Vorliegen eines positiven Zustands unter der Alterna-
tivhypothese postuliert wird. Beispielsweise kann ein Lese-
7 Abschn. 24.6 widmete sich diagnostischen Verfahren, deren Rechtschreib-Test mit einer Sensitivität von 90 % das Vorlie-
Ergebnisse für die Beantwortung einer Fragestellung heran- gen einer LRS in 90 von 100 Fällen erkennen und liefert in 10
gezogen werden und als Grundlage diagnostischer Entschei- von 100 Fällen eine falsch negative Entscheidung. Die Sensiti-
dungen dienen können. Bei diesen Entscheidungen besteht vität eines Tests ist umso höher, je größer die Korrelation des
grundsätzlich ein mehr oder weniger großes Risiko, einen Tests mit einem für die Beurteilung der Diagnose relevanten
Fehler zu begehen. Insbesondere bei der Selektionsdiagnostik Kriterium ist (Kriteriumsvalidität 7 Abschn. 24.5.3). Im Falle
spielt es eine Rolle, mit welcher Wahrscheinlichkeit positive der Diagnose einer LRS könnten dieses Kriterium beispiels-
oder negative Zustände richtig erkannt werden und ob attes- weise die Note im Diktat oder andere Indikatoren für eine
tierte Zustände tatsächlich vorliegen. LRS sein.
Die Spezifität gibt die Wahrscheinlichkeit an, mit der ein
tastsächlich (im statistischen Sinne) negativer Zustand (z. B.
keine LRS, keine Hochbegabung) durch die Anwendung ei-
24.7.1 Entscheidungsfehler
nes diagnostischen Verfahrens erkannt wird. Daher kann die
Spezifität als Gegenwahrscheinlichkeit des ’-Fehlers angese-
In der Integrationsphase des diagnostischen Prozesses hen werden, wenn das Vorliegen eines negativen Zustands
(7 Abschn. 24.3.3) werden vorher aufgestellte Hypothesen unter der Nullhypothese postuliert wird (. Tab. 24.1). Hat ein
verworfen oder beibehalten. Die mit der Verwerfung oder Lese-Rechtschreib-Test eine Spezifität von 90 %, erkennt er
Beibehaltung von Hypothesen verbundenen Entscheidun- das Nicht-Vorliegen einer LRS in 90 von 100 Fällen und attes-
gen zu diagnostischen Fragestellungen können fehlerbehaftet tiert fälschlicherweise eine LRS in 10 von 100 Fällen (falsch
sein. Wird die sogenannte Nullhypothese (z. B. dass keine positive Entscheidung).
LRS vorliegt) zu Unrecht verworfen, spricht man von ei- Bei vielen Problemstellungen stellt sich die Frage, nach
ner falsch positiven Entscheidung oder einem Fehler 1. Art welchem Grenzwert (cut off ) in einem diagnostischen Ver-
(auch ’-Fehler genannt). Denkbar ist jedoch auch, dass die fahren einer Person ein negativer oder positiver Zustand hin-
Nullhypothese zu Unrecht beibehalten und die sogenannte sichtlich eines Kriteriums (z. B. Schulfähigkeit) zugeschrie-
Alternativhypothese (z. B. eine LRS liegt vor) fälschlicher- ben werden soll. Die Wahl des Cut-Off -Wertes (z. B. IQ >
weise verworfen wird. In diesem Fall spricht man von einer 130 als Cut-Off für Hochbegabung) beeinflusst Sensitivität
falsch negativen Entscheidung oder einem Fehler 2. Art und Spezifität. Beispielsweise ist das Risiko des fälschlichen
(“-Fehler). . Tab. 24.1 illustriert diese Fälle. Diagnostizierens einer Hochbegabung bei höheren Cut-Off -
Werten kleiner (’-Fehler), damit steigt jedoch das Risiko, dass
die Hochbegabung übersehen wird (“-Fehler). Oftmals muss
. Tabelle 24.1 Diagnostische Entscheidungsfehler, Sensitivität in Abhängigkeit von der diagnostischen Zielstellung ent-
und Spezifität schieden werden, ob Sensitivität und Spezifität durch Wahl
eines spezifischen Cut-Off -Wertes optimiert werden sollen
Tatsächlich zutreffende Diagnostische Entscheidung für
(möglichst hohe Sensitivität und möglichst hohe Spezifität)
Hypothese oder ob eine Größe als wichtiger angesehen wird als die an-
Nullhypothese Alternativhypothese
Nullhypothese 1–’ ’-Fehler
dere.
Spezifität Sensitivität und Spezifität sollten auf Basis der oft un-
terschiedlichen Kosten festgelegt werden, die falsch positive
Alternativhypothese “-Fehler 1–“
und falsch negative Entscheidungen haben. Beispielsweise
24 Sensitivität
können die Kosten von Versetzung oder Nicht-Versetzung
24.7  Bewertung diagnostischer Entscheidungen
489 24
(Sitzenbleiben) von Schülerinnen und Schülern in die nächste se) positiv diagnostizierten Zustand an allen Personen wieder
Jahrgangsstufe betrachtet werden. Bisherige Forschungsbe- (z. B. der Gesamtanteil der in eine Hochbegabtenklasse aufge-
funde deuten darauf hin, dass das Sitzenbleiben insgesamt nommenen Schülerinnen und Schülern).
mit hohen Kosten verbunden ist und keine Verbesserungen Ein Beispiel aus Schmidt-Atzert und Amelang (2012,
oder womöglich sogar Verschlechterungen hinsichtlich schu- S. 487) soll die Zusammenhänge zwischen den genannten
lischer Leistungen bewirken kann (Bright 2011; Klemm 2009; Größen anhand der Ergebnisse in einem Schulfähigkeits-
Roßbach & Titze 2010). Folglich kann die Nicht-Versetzung test und dem Kriterium Schulfähigkeit veranschaulichen (vgl.
von Schülerinnen und Schülern trotz ausreichendem Kom- Kammermeyer 2010). Für Schulfähigkeitstests fanden La
petenzzuwachs (falsch positive Entscheidung) für die Schü- Paro und Pianta (2000) in ihrer Metaanalyse als prospektive
lerinnen und Schüler und das Bildungssystem mit hohen (Kriteriums-)Validität hinsichtlich der Vorhersage der Schul-
Kosten verbunden sein. Dagegen ist die Versetzung von Schü- leistungen in der 1. oder 2. Klasse durch kognitive Tests vor
lerinnen und Schülern trotz unzureichendem Kompetenz- der Einschulung eine Korrelation von r D :51. Nach Roß-
zuwachs (falsch negative Entscheidung) mutmaßlich mit ge- bach und Tietze (2010) beträgt der Anteil der Sitzenbleiber
ringen Kosten für die Schülerinnen und Schülern sowie das im Primarschulbereich 1,2 % bzw. der Anteil der Erfolgrei-
Bildungssystem verbunden. chen 98,8 % (Basisrate). Wählt man den Standardwert von
IQ D 70 in Schulfähigkeitstests als Cut-Off, ergibt sich ei-
ne Selektionsquote von 97,7 %. Demnach würden 2,3 % der
Schülerinnen und Schüler wegen eines zu niedrigen Wer-
24.7.3 Positiver und negativer tes in einem Schulfähigkeitstest zurückgestellt. Die Hit-Rate
Prädiktionswert (Anteil richtigerweise Versetzter an der Gesamtanzahl Ver-
setzter) berechnet sich zu 99,0 %. Mit Hilfe von Schulfähig-
Sensitivität und Spezifität psychologisch-diagnostischer Ver- keitstests würde sich also der Anteil an Sitzenbleibern von
fahren thematisieren die Wahrscheinlichkeiten, einen tat- 1,2 % auf 1,0 % verringern. Allerdings müssten dann 2,3 %
sächlich vorliegenden positiven oder negativen Zustand zu zurückgestellt werden. Das bedeutet, dass von 721.800 Schul-
erkennen. Umgekehrt kann aber auch von Interesse sein, anfängerinnen und Schulanfängern im Schuljahr 2016/2017
mit welcher Wahrscheinlichkeit ein durch ein diagnostisches (Statistisches Bundesamt, Aktualisierung der Pressemittei-
Verfahren attestierter positiver oder negativer Zustand tat- lung vom 9. November 2016 – 396/16 am 14. November 2016)
sächlich zutreffend ist. Man spricht dann von positivem und zwar 1.444 aufgrund des Testergebnisses richtigerweise nicht
negativem Prädiktionswert. vom Schulbesuch zurückgestellt werden würden. Um diese
Mit positivem Prädiktionswert ist die Wahrscheinlichkeit Verbesserung gegenüber der Basisrate zu erreichen, müssen
gemeint, mit der ein (im statistischen Sinn) positiv diagnosti- allerdings insgesamt 16.601 Kinder (2,3 % von 721.800) auf-
zierter Zustand tatsächlich vorliegt. Eine alternative Bezeich- grund der Anwendung des Schulfähigkeitstests und dem Cut-
nung für den positiven Prädiktionswert ist hit rate. Damit Off -Wert zurückgestellt werden. Dieses Beispiel verdeutlicht,
wird der Anteil von Personen mit einem tatsächlich vor- dass die praktische Relevanz eines diagnostischen Verfah-
liegenden positiven Zustand an allen Personen bezeichnet, rens trotz relativ hoher Kriteriumsvalidität bei einer hohen
bei denen ein positiver Zustand (richtigerweise und fälsch- Basisrate eingeschränkt sein kann. Bei einer geringen Krite-
licherweise) diagnostiziert wurde. Ein Beispiel ist der Anteil riumsvalidität von r D :15 und einer Basisrate von 60 % ist
der tatsächlich Hochbegabten an allen (richtigerweise und eine Zufallsauswahl von Personen sogar der Auswahl auf Ba-
fälschlicherweise) in eine Hochbegabtenklasse aufgenomme- sis von Testergebnissen überlegen.
nen Schülerinnen und Schülern. Insgesamt sind für die Bewertung des praktischen Nut-
Im Gegensatz zum positiven Prädiktionswert bezeichnet zens eines diagnostischen Verfahrens nicht nur der Zusam-
der negative Prädiktionswert die Wahrscheinlichkeit, mit der menhang des Verfahrens mit einem Kriterium (Kriteriums-
ein (im statistischen Sinn) negativ diagnostizierter Zustand validität) von Bedeutung, sondern auch Basisrate, Selektions-
tatsächlich vorliegt. Gemeint ist also der Anteil von Personen quote und die mit dem Einsatz des diagnostischen Verfahrens
mit einem tatsächlich vorliegenden negativen Zustand an al- verbundenen Kosten (Schönemann & Heene 2009).
len Personen, bei denen ein negativer Zustand (richtigerweise
und fälschlicherweise) diagnostiziert wurde. Im obigen Bei-
spiel wäre dies der Anteil der Nicht-Hochbegabten an den
nicht in die Hochbegabtenklasse aufgenommenen Schülerin- Zusammenfassung
nen und Schüler. Psychologische Diagnostik dient der Beantwortung psy-
Positiver und negativer Prädiktionswert hängen nicht nur chologischer Fragestellungen mittels diagnostischer Ver-
von der Sensitivität und Spezifität eines diagnostischen Ver- fahren. Der zu ihrer Beantwortung notwendige diagnos-
fahrens ab, sondern auch von der Basisrate und der Selekti- tische Prozess kann in Planungs-, Durchführungs- und
onsquote. Die Basisrate meint dabei den Anteil von Personen Integrationsphase eingeteilt werden. Im Rahmen des di-
einer Population mit positivem Zustand (z. B. der tatsächliche agnostischen Prozesses können je nach Zielstellung un-
Anteil an Hochbegabten). Die Selektionsquote gibt den Anteil terschiedliche diagnostische Strategien verfolgt werden.
an Personen mit einem (richtigerweise und fälschlicherwei-
490 Kapitel 24  Grundlagen und Kriterien der Diagnostik

11. Bei einer Schülerin wird fälschlicherweise das Vorhan-


Hier kann differenziert werden zwischen Status- und densein einer Hochbegabung durch Anwendung eines
Prozessdiagnostik, Selektions- und Modifikationsdiagnos- diagnostischen Verfahrens abgelehnt. Um welche
tik sowie kriteriumsorientierter, normorientierter und in- Art von Entscheidungsfehler handelt es sich? Wie
traindividueller Diagnostik. Diese diagnostischen Strate- bezeichnet man die Gegenwahrscheinlichkeit dieses
gien können auch kombiniert werden. Für die Gewin- Fehlers?
nung von Informationen steht eine Reihe von diagnos-
tischen Verfahren zur Verfügung, deren Qualität mittels
Haupt- und Nebengütekriterien beurteilt werden kann.
Die Hauptgütekriterien sind Objektivität, Reliabilität und Literatur
Validität. Eine hohe Objektivität ist die Voraussetzung
für eine hohe Reliabilität, die wiederum eine Bedingung Bayerische Schulordnung (BaySchO) in der Fassung vom 1. Juli 2016 (GVBl.
S. 164, 241, BayRS 2230-1-1-1-K).
für hohe Validität psychologisch-diagnostischer Verfah-
Borkenau, P., & Ostendorf, F. (2008). NEO-FFI: NEO-Fünf-Faktoren-Inventar
ren darstellt. Die in diesem Kapitel behandelten diagnos- nach Costa und McCrae (2. Aufl.). Göttingen: Hogrefe.
tischen Verfahren sind Tests (Leistungstests, psychometri- Brähler, E., Holling, H., Leutner, D., & Petermann, F. (2002). Brickenkamp
sche Persönlichkeitstests und Persönlichkeitsentfaltungs- Handbuch psychologischer und pädagogischer Tests (3. Aufl.). Göttin-
verfahren), Interviews sowie Verhaltensbeobachtungund gen: Hogrefe.
Brickenkamp, R., Schmidt-Atzert, L., & Liepmann, D. (2010). d2-R. Test d2 –
-beurteilung. Die Ergebnisse in diesen Verfahren bilden
Revision. Aufmerksamkeits- und Konzentrationstest. Göttingen: Hogre-
die Grundlage für diagnostische Entscheidungen, für de- fe.
ren Bewertung eine Berücksichtigung möglicher Fehler Bright, A. D. (2011). A meta –analysis of the effects of grade retention of K-6
wichtig ist. Insbesondere im Kontext von Selektionsent- students on student achievement, 1990-2010. Doctoral dissertation. Tus-
scheidungen sind Basisrate und Selektionsquote neben caloosa, AL: The University of Alabama.
Bühner, M. (2011). Einführung in die Test- und Fragebogenkonstruktion. Bd.
der Kriteriumsvalidität wichtige Faktoren bei der Beurtei-
3. München: Pearson Studium.
lung des praktischen Nutzens eines Verfahrens. Dilling, H., Mombour, W., & Schmidt, M. H. (2015). Internationale Klassifika-
tion psychischer Störungen: ICD-10 Kapitel V (F) klinisch-diagnostische
Leitlinien (10. Aufl.). Bern: Hogrefe.
Döring, N., & Bortz, J. (2016). Forschungsmethoden und Evaluation in
Verständnisfragen den Sozial- und Humanwissenschaften. Berlin & Heidelberg: Springer-
Verlag.
Eid, M., & Schmidt, K. (2014). Testtheorie und Testkonstruktion. Göttingen:
?1. Nennen Sie die zentralen Definitionsmerkmale Hogrefe.
psychologischer Diagnostik. Falkai, P., & Wittchen, H.-U. (2014). Diagnostisches und statistisches Manual
2. In welche Phasen kann der diagnostische Prozess unter- psychischer Störungen DSM-5. Göttingen: Hogrefe.
teilt werden? Wie können diese Phasen charakterisiert Gruber, H., & Stamouli, E. (2015). Intelligenz und Vorwissen. In E. Wild &
J. Möller (Hrsg.), Pädagogische Psychologie (2. Aufl. S. 25–44). Berlin &
werden?
Heidelberg: Springer.
3. Unterscheiden Sie Status- und Prozessdiagnostik. Ge- Heimlich, U., Lutz, S., & Wilfert de Icaza, K. (2013). Ratgeber Förderdiagnostik
ben Sie ein selbst formuliertes Beispiel wie Prozess- und Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs im Förderschwer-
Modifikationsdagnostik gleichzeitig zur Anwendung punkt Lernen (1. bis 9. Klasse). Hamburg: Persen Verlag.
kommen können. Helmke, A. (2009). Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität (2.. Aufl.).
Seelze-Velber, Germany: Klett.
4. Warum kann ein hoher IQ-Wert in einem Intelli-
Jacobs, C., Petermann, F., & Tischler, L. (2013). Rechenstörung. In F. Pe-
genztest nicht zwingend mit einer hohen geistigen termann (Hrsg.), Lehrbuch der Klinischen Kinderpsychologie (7. Aufl.
Leistungsfähigkeit gleichgesetzt werden? S. 181–205). Göttingen: Hogrefe.
5. Inwiefern wirkt sich die Durchführungsobjektivität auf Kammermeyer, G. (2010). Schulreife und Schulfähigkeit. In D. H. Rost
die Reliabilität aus? (Hrsg.), Handwörterbuch Pädagogische Psychologie (4. Aufl. S. 718–
728). Weinheim: Beltz.
6. Was versteht man unter interner Konsistenz? Welche
Klemm, K. (2009). Klassenwiederholungen – teuer und unwirksam. Güters-
Problematik kann sich für einen Fragebogen zum loh: Bertelsmann Stiftung.
Selbstkonzept von Schülerinnen und Schülern Kretzschmar, A., Neubert, J. C., Wüstenberg, S., & Greiff, S. (2016). Construct
ergeben, der viele inhaltsähnliche Items enthält? validity of complex problem solving: A comprehensive view on diffe-
7. Was bedeutet es, wenn ein Lehrer einen reliablen Test rent facets of intelligence and school grades. Intelligence, 54, 55–69.
Krohne, H. W., & Hock, M. (2007). Psychologische Diagnostik: Grundlagen
entwickelt hat, der jedoch eine geringe curriculare
und Anwendungsfelder. Stuttgart: Kohlhammer.
Validität aufweist? Kultusministerkonferenz – KMK (1999). Empfehlungen zum Förder-
8. Welche Arten von Tests lassen sich nach Brähler, schwerpunkt Lernen. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom
Holling, Leutner und Petermann (2002) unterscheiden? 01.10.1999. http://www.kmk.org/fileadmin/pdf/PresseUndAktuelles/
9. Erläutern Sie den Nutzen von Persönlichkeitsentfal- 2000/sopale.pdf.
tungsverfahren in der psychologischen Diagnostik. Kultusministerkonferenz – KMK (2011). Inklusive Bildung von Kindern
und Jugendlichen mit Behinderungen in Schulen. Beschluss der
10. Nennen und erläutern Sie drei Beobachtungs-/ Kultusministerkonferenz vom 20.10.2011. http://www.kmk.org/
24 Beurteilungsfehler. Welche Maßnahmen zur Vermei- fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2011/2011_
dung dieser Fehler können getroffen werden? 10_20-Inklusive-Bildung.pdf.
Literatur
491 24
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Statistik, Methoden und Evaluation (S. 139–152). Göttingen: Hogrefe.
493 25

Messen und Bewerten von


Lernergebnissen
Marc Worbach, Barbara Drechsel und Claus H. Carstensen

25.1 Einleitung – 494

25.2 Lernergebnisse messen – 494


25.2.1 Die Konstruktion von Messverfahren in vier Schritten – 495
25.2.2 Verfahren zur Erfassung von Lernergebnissen in der Schule – 499

25.3 Lernen und Gelerntem Bedeutungen verleihen: Bewerten – 506


25.3.1 Benotungsmodelle – 507
25.3.2 Beurteilungsformen I: Zensuren und Ziffernzeugnisse – 509
25.3.3 Beurteilungsformen II: Wort-und Berichtszeugnisse; Kompetenzraster – 510

Verständnisfragen – 514

Literatur – 514

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019


D. Urhahne, M. Dresel, F. Fischer (Hrsg.), Psychologie für den Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55754-9_25
494 Kapitel 25  Messen und Bewerten von Lernergebnissen

25.1 Einleitung gegriffen, wie gemessene Lernergebnisse mit Hilfe von Ver-
25 gleichen mit verschiedenen Bezugsnormen bewertet und be-
urteilt werden können, was die Grundlage dafür liefert, Ent-
Bestimmt erinnern Sie sich noch an Situationen in der eige- scheidungen über weitere lernbegleitende und -optimierende
nen Schulzeit, in denen Lernergebnisse beurteilt wurden. Die Maßnahmen zu treffen.
Mathearbeit wird benotet zurückgegeben und Emily ist vol-
ler Erwartung. Die mündliche Note in Geschichte, die Moritz
bekommen hat, war ungerecht; in der Pause wird darüber 25.2 Lernergebnisse messen
heiß diskutiert. Die Lehrerin verschiebt den geplanten Test
in Englisch und schiebt noch eine Übungs- und Fragestun- Lehrerinnen und Lehrer sammeln Informationen aus vielen
de ein. Ein Lehrer lobt Annes Wissen und regt an, ob sie sich Quellen (Prüfungen, Beobachtungen im Unterricht etc.), um
nicht vorstellen könne, Biologie zu studieren. Luis bekommt zu einer möglichst genauen Einschätzung von Lernvorausset-
in Deutsch eine Rückmeldung zu seiner Erörterung und ver- zungen und Lernergebnissen zu kommen. Diese Informatio-
steht nun auf einmal, wie er es hätte besser machen können. nen werden möglichst objektiv, reliabel und valide erhoben
Diese Beispiele umreißen das Messen und Bewerten von (7 Kap. 24), quantifiziert (in Zahlenwerten ausgedrückt) und
Lernergebnissen in der Schule, eine der zentralen Aufgaben bewertet. Die interessierenden Merkmale sind dabei nur sel-
von Lehrkräften. Durch pädagogisch-psychologische Diag- ten direkt erfassbar, sondern müssen aus den Erhebungen
nostik werden Voraussetzungen von Lehr- und Lernprozes- erschlossen werden. Es handelt sich bei Merkmalen wie Kom-
sen ermittelt oder Lernergebnisse festgestellt, um individu- petenz, Schulleistung, Lernergebnis, Angst oder Einstellung
elles Lernen zu optimieren (Ingenkamp & Lissmann, 2008). zur Schule jeweils um „latente“ oder „hypothetische“ Kon-
Auch in den Standards für die Lehrerbildung (Sekretariat strukte, also um einen „nicht unmittelbar fassbaren Begriff,
der Ständigen Konferenz der Kultusminister [KMK], 2004a) der sich auf nicht direkt beobachtbare Entitäten oder Eigen-
offenbart sich über die Beurteilungsaufgabe hinaus ein mo- schaften bezieht“ (Wirtz, 2013, S. 871; 7 Kap. 27). Ein Kon-
dernes Verständnis des Messens und Bewertens von Lerner- strukt wird anhand „manifester“ Indikatoren wie Testergeb-
folgen, indem es in einem Atemzug mit Fördern und Beraten nisse, Ergebnisse von Verhaltensbeobachtungen oder Frage-
genannt wird. Das eine ist ohne das andere im heutigen bogenantworten erfasst. Den Prozess, ein latentes Konstrukt
professionellen Verständnis von Diagnostik nicht denkbar. in messbare Indikatoren zu überführen, nennt man Opera-
Im diagnostischen Prozess ist die systematische Sammlung tionalisierung („Messbarmachung“). Aus der Beobachtung
von Informationen also immer funktional mit dem Ziel ver- dieser Indikatoren können Messwerte für die interessieren-
knüpft, Lernen zu optimieren. den Merkmale erzeugt werden. Diese Messwerte bilden die
Zu einer kompetenten, gerechten und verantwortungs- Grundlage der Beurteilung.
bewussten Diagnostik gehören v. a. zwei Dinge: Zum einen
Wissen über individuelle Lernvoraussetzungen, wie sie wir-
Der Vorgang des Messens in der pädagogisch-
ken, wie sie erhoben werden können und wie dieses Wissen
psychologischen Diagnostik besteht darin, beobachteten
für einen optimierten, an Lernvoraussetzungen angepassten
Verhaltensweisen oder Äußerungen Messwerte derart
Unterricht genutzt werden kann. Zum anderen Wissen um
zuzuordnen, dass die Beziehungen zwischen den Be-
„unterschiedliche Formen, Funktionen und Bezugssysteme
obachtungen durch die Beziehungen zwischen den
der Leistungsbeurteilung“ (Jürgens & Lissmann, 2015, S. 14).
Messwerten abgebildet werden. Um dies sicherzustellen
Eine Lehrperson sammelt Informationen also einerseits zu
erfolgt die Zuordnung der Messwerte zu den Beobach-
Lernvoraussetzungen – wie beispielsweise Vorwissen, Moti-
tungen nach bestimmten Regeln. Messen bedeutet also,
vation oder Klassenklima – durch Fragebögen, Tests, Beob-
Beobachtungen in Zahlen zu fassen, die im diagnostischen
achtung etc., um mit diesen Daten ihren Unterricht anzupas-
Prozess die Grundlage für Beurteilungen bilden.
sen. Sie erhebt andererseits Informationen zu Lernprozessen
und Lernergebnissen – beispielsweise mit einer schriftlichen
oder mündlichen Abfrage, mit einer Klausur oder über Beob- Einer Person, die beispielsweise besser rechnet als eine
achtung –, um den Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler andere, sollte bei der Erfassung dieser Eigenschaft auch ein
während und am Ende einer Lerneinheit überprüfen und Un- höherer Messwert zugeordnet werden als einer weniger re-
terricht optimieren zu können. chenkompetenten Person. Zur Erfassung vieler Merkmale
Das vorliegende Kapitel geht hauptsächlich auf den zwei- oder Konstrukte stehen etablierte Messverfahren zur Verfü-
ten Aspekt ein – es vermittelt Grundlagen zum Messen und gung (wie beispielsweise Intelligenztests, Fragebögen zu Prü-
Bewerten von Lernergebnissen. 7 Abschn. 25.2 gibt einen fungsangst oder Schulleistungstests). Im schulischen Kontext
Überblick darüber, was unter Messen verstanden wird, und sind jedoch Lehrerinnen und Lehrer häufig mit der Aufgabe
unterscheidet verschiedene Verfahren und Methoden der konfrontiert, ihre Verfahren zum Messen von Lernvoraus-
Informationserhebung im Schul- und Unterrichtskontext, setzungen und Lernergebnissen unterrichtsbezogen selbst zu
klärt deren Zweck und benennt ihre Vor- und Nachteile. entwickeln. Idealerweise genügen diese Verfahren möglichst
7 Abschn. 25.2. hilft damit die Frage zu beantworten, wie eine gut den in 7 Kap. 24 vorgestellten Gütekriterien (Hauptgüte-
Lehrperson was misst. In 7 Abschn. 25.3. wird die Frage auf- kriterien: Objektivität, Reliabilität, Validität).
25.2  Lernergebnisse messen
495 25
Im Fokus: Messen in Aktion ler Fragen darstellen, mit denen das zu erfassende Merkmal
erhoben werden könnte. Beim Konstruieren eines eigenen
Die Definition von Messen kann neben der konkreten Messverfahrens ist die Validität das zentrale Kriterium. Darü-
Zuordnung von Messwerten zu Ausprägungen der ge- ber hinaus werden Überlegungen angestellt, wie Objektivität
messenen Variablen (Punkte auf einer IQ-Skala, Noten für und Reliabilität erhöht werden können. Dieser Grundidee
ein Fach oder eine Leistung) auch die Konstruktion des folgt der Ansatz, der im Folgenden vorgestellt wird.
Messverfahrens einschließen. Wie gut Schülerinnen und
Schüler einer Klasse etwa das Einmaleins können, lässt
sich messen, indem entsprechende Aufgaben vorgegeben 25.2.1 Die Konstruktion von Messverfahren
werden und anschließend die Zahl der richtigen Lösungen in vier Schritten
zusammengezählt und Noten zugeordnet werden. Gemes-
sen wird, indem die Zahl der richtig gelösten Aufgaben
erfasst wird; die Konstruktion des Messinstruments besteht Wenn mehrere Aufgaben oder Fragen (Items) zur Messung
in der Auswahl der geeigneten Aufgaben. Nachdem die eines Merkmals gemeinsam präsentiert werden, wird
jeweilige Anzahl richtiger Lösungen bestimmt ist, werden von einem Messinstrument oder auch Messverfahren
die Messwerte weiterverarbeitet und Notenwerten zuge- gesprochen. Im schulischen Kontext sind Messverfahren
ordnet. Im Beispiel könnten die Messwerte hinsichtlich ihrer beispielsweise eine Schulaufgabe, ein Vokabeltest, ein
Häufigkeit ausgezählt werden. Es könnten aber auch weitere Referat, eine mündliche Prüfung, ein standardisierter
mathematische „Verarbeitungen“ der Messwerte in Betracht Schulleistungstest.
kommen, wie die Mittelwerte, Standardabweichungen etc.
der Messwerte zu berechnen.
Zu beachten ist, dass je nach Skalenniveau der Messwerte Der Ansatz von Wilson (2005) zur Konstruktion von
(7 Kap. 27) nur bestimmte Rechenoperationen sinnvoll Messverfahren wie einer Klausur, einer mündlichen Prüfung
sind. Auf einer Nominalskala können nur Qualitäten unter- oder einer Referatsbewertung gliedert den Prozess der Kon-
schieden werden (zum Beispiel Hausnummern, oder eine struktion von Messverfahren zur Erfassung von Lernergeb-
Schülerin „rechnet lieber“, „schreibt lieber“ oder „spielt nissen in vier Schritte:
lieber Fußball“). Auf einer Ordinalskala lassen sich geordnete 1. Schritt I – das Konstrukt: Die Personen, die das Ver-
Qualitäten unterscheiden, wie etwa die Ausprägungen „sehr fahren entwickeln, also Testentwickler oder Lehrkräfte,
gut“ vs. „gut“ vs. „befriedigend“ einer Variable „Schulnote“). präzisieren ihre Ideen und Vorstellungen von den zu mes-
Auf einer Intervallskala können zusätzlich Differenzen senden Lernergebnissen. Beispielsweise wird Frau Meier,
unterschieden werden wie etwa: Der Unterschied zwischen eine Mathematiklehrerin, die das Lernergebnis „Beherr-
dem PISA-Mittelwert in Naturwissenschaften zwischen schung der vier Grundrechenarten“ messen möchte, zu-
Deutschland (509 Punkte) und Norwegen (498 Punkte) ist nächst ihre auf den Standards des Faches basierenden
halb so groß wie der Unterschied zwischen Deutschland und Vorstellungen davon präzisieren (z. B. „Was bedeutet und
Russland (487 Punkte). Angesichts dieser Restriktionen folgt, wie zeigt sich eine Beherrschung von Grundrechenarten?
dass je nach Skalenniveau nur bestimmte Vergleiche sinnvoll Worin zeigen sich Leistungsunterschiede zwischen Schü-
interpretiert werden können: Nominalskala – nur Auszählen lerinnen und Schülern?“).
(kein Ordnen, keine Mittelwertbildung); Ordinalskala – Aus- 2. Schritt II – die Aufgaben: Dieser Schritt dient dazu, unter-
zählen und Ordnen (keine Mittelwertbildung); Intervallskala schiedliche Ausprägungen im Konstrukt zu beschreiben
– Auszählen und Ordnen und Differenzen/Summen bilden und damit zu klären, mit welchen Fragen oder Aufgaben
(Mittelwertbildung). (D Items) diese unterschiedlichen Ausprägungen erfasst
werden können. Frau Meier überlegt sich, mit welchen
Aufgaben die Beherrschung von Grundrechenarten er-
Auch wenn es in der Schule nicht immer möglich sein fasst werden kann.
mag, Messungen streng nach den Gütekriterien zu gestal- 3. Schritt III – mögliche Antworten: Es folgt die Entschei-
ten, so sind diese dennoch sehr wichtig, um als Lehrperson dung, wie viele Punkte für Antworten oder Teile von
Verfahren hinsichtlich ihrer Qualität beurteilen und verbes- Antworten vergeben werden (Zuordnen von Zahlen). Da-
sern zu können (z. B. beim Überarbeiten einer Klausur aus zu müssen die unterschiedlichen Antworten Kategorien
dem Vorjahr). Durch Standardisierungsmaßnahmen kann zugeordnet werden können. Frau Meier legt nun fest, wie
die Objektivität eines „Messvorgangs“ erhöht werden. Um die viele Punkte es für richtige Lösungen in den Aufgaben zu
Reliabilität (Messgenauigkeit) zu verbessern, kann die Zahl den Grundrechenarten gibt.
der Fragen erhöht oder auf eine stärkere Homogenität der 4. Schritt IV – das Messmodell: Schließlich ist zu prüfen,
Fragen geachtet werden. Bei hoher Homogenität erfassen die ob und wie mit den vergebenen Punkten das Konstrukt
Items eines Messverfahrens ähnliche Informationen (Bortz & erfolgreich messbar geworden ist. Frau Meier überprüft,
Döring, 2005). Schließlich steigt die Validität in dem Maße, ob und wie gut mit dem Test die Fähigkeiten zu den vier
in dem die Fragen eine gute und repräsentative Auswahl al- Grundrechenarten erfasst werden können.
496 Kapitel 25  Messen und Bewerten von Lernergebnissen

. Tabelle 25.1 Lernzieltaxonomie von kognitiven Prozessen hinsichtlich unterschiedlicher Wissensdimensionen (nach Anderson et al., 2001,
25 S. 28)

Arten von Wissen Arten kognitiver Prozesse

Erinnern Verstehen Anwenden Analysieren Bewerten Erschaffen

Aus dem Lang- Bedeutung Vorgehens- In Bestandteile Kriterien- Bestandteile


zeitgedächtnis konstruieren weisen nutzen aufschlüsseln bezogen zusammen-
abrufen und sie aufein- beurteilen fügen oder
ander beziehen reorganisieren

Faktenwissen Wissensgrund-
elemente

Konzeptuelles Beziehungen
Wissen zwischen den
Fakten

Prozedurales Handlungs-
Wissen und Methoden-
wissen

Metakogniti- Allgemeines
ves Wissen und selbstbe-
zogenes Wissen
über kognitive
Informations-
verarbeitung

Diese vier Schritte bilden die Grundlage für eine theorie- Je nach kognitivem Prozess wird eine bestimmte Lernzielebe-
basierte Umsetzung eines hypothetischen Konstrukts in ein ne angesprochen. So wäre ein Wissen-Item im Geographie-
Messverfahren. Die Mathematiklehrerin Frau Meier kann ihr unterricht: „Erstelle eine Zeitlinie, die zeigt, wie die Europäer
so entwickeltes Verfahren nutzen, um Grundrechenfähig- Afrika in Kolonien aufgeteilt haben“. Ein Analyse-Item wäre
keiten adäquat zu erfassen. Auf dieser Basis kann sie die hingegen: „Stelle die Ziele und Methoden unterschiedlicher
Fähigkeiten ihrer Schülerinnen und Schüler bewerten und europäischer Länder bei der Kolonialisierung Afrikas gegen-
ihnen Rückmeldung dazu geben, wie weit sie noch davon über“. Ein Synthese-Item wiederum könnte lauten: „Schreibe
entfernt sind, ihr jeweiliges Lernziel zu erreichen. Die so ge- einen Aufsatz über die europäische Kolonialisierung Afrikas
wonnene Information ist für zwei grundlegende Aspekte der aus der Sicht eines bantuischen Häuptlings“ (Slavin, 2014,
Diagnostik bedeutsam: zum einen für die Optimierung des S. 433).
individuellen Lernens, da die Schülerinnen und Schüler er- Ein Beispiel für eine erweiterte Taxonomie von Wissens-
fahren können, ob, wie viel und was sie noch tun müssen, um formen, die neben den unterschiedlichen Arten kognitiver
das Lernziel zu erreichen; zum anderen für die Optimierung Prozessen auch unterschiedliche Arten von Wissen (7 Kap. 2)
des pädagogischen Handelns, wenn die Lehrkraft die Ergeb- unterscheidet, ist in . Tab. 25.1 abgebildet (Anderson et al.,
nisse ihrer Diagnostik auch als eine Rückmeldung über den 2001).
eigenen Unterricht auffasst und dazu nutzt, ihren Unterricht Diese Taxonomie unterstützt Lehrende bei der Unter-
zu verbessern. richtsplanung und der systematischen Festlegung von Lern-
zielen und ihrer Überprüfung. Als zweidimensionale Matrix
1 Schritt I – Präzisierung des Konstrukts aufgebaut, unterscheidet sie eine Prozessdimension (horizon-
Jeder Messung liegt eine Idee dazu zu Grunde, was gemessen tal) und eine Wissensdimension, die vier Wissensarten unter-
werden soll. Schulleistungen oder Lernergebnisse sind Bei- scheidet. Die Prozessdimension beschreibt kognitive Aktivi-
spiele für solche zu erfassenden Konstrukte. Sie werden mit täten, die zur Überprüfung entsprechender Lernziele dienen.
Items einer Beobachtung zugänglich gemacht. Eine Lehrkraft Die Komplexität der kognitiven Aktivitäten steigt von links
sollte daher eine möglichst genaue Vorstellung davon haben, nach rechts an. Beispielsweise beinhaltet die vierte Stufe des
was die zu messende Zieldimension inhaltlich umfasst und Analysierens das Zerlegen von Inhalten in deren konstituie-
wie sich hohe, mittlere und niedrige Ausprägungsgrade un- rende Einzelteile und das Bestimmen der Beziehung dieser
terscheiden lassen. Eine wichtige Hilfestellung bei der Kon- Teile untereinander und zum Ganzen. Eine Schülerin wird
struktpräzisierung bieten Lernzieltaxonomien (z. B. Ander- etwa im Kunstunterricht aufgefordert, die stilbestimmenden
son et al., 2001; Bloom, Englehart, Furst, Hill & Krathwohl, Elemente eines Gemäldes zu eruieren und einer spezifischen
1956; Slavin, 2014). Diese Taxonomien dienen dazu, Ergeb- kunstgeschichtlichen Epoche zuzuordnen.
nisse unterschiedlicher kognitiver Prozesse zu differenzieren. Die Wissensdimension unterteilt Inhalte in vier Wissens-
Bloom et al. (1956) unterscheiden dazu zwischen Wissen, arten: Faktenwissen ist eine notwendige Voraussetzung für
Verständnis, Anwendung, Analyse, Synthese und Evaluation. Lernende, sich mit einem Fachgebiet vertraut zu machen. In
25.2  Lernergebnisse messen
497 25

. Tabelle 25.2 Unterschiedliche Itemformate (nach Wilson, 2005, S. 51)

Itemformat Ziel Items Itemantworten Antwortqualifizierung


Wann erfolgt die Festle- Wann erfolgt die Festle- Wann erfolgt die Wann erfolgt die Qualifi-
gung der (Mess-)Ziele? gung des Konstrukts und Festlegung der Antwort- zierung von Antworten als
der einzelnen Items? kategorien? richtig/falsch?

Teilnehmend- Vorher oder danach Danach Danach Danach


beobachtend

Leitfadengeführt Vorher Vorher Danach Danach

Offen Vorher Vorher Vorher Danach

Gebunden Vorher Vorher Vorher Vorher

diese Kategorie fällt Fachsprache oder isoliertes Detailwissen. Antworten erst danach festgelegt werden. Die Fragen („Wie
Konzeptionelles Wissen umfasst die Beziehungen einzelner ist Europa organisiert?“ „Welchen Nutzen haben die Mit-
Elemente innerhalb einer größeren Struktur, die das Zusam- gliedsländer von der EU?“ o. ä.) stehen also fest, noch nicht
menwirken der Teile ermöglichen. Diese Wissensart umfasst geklärt ist hingegen, wie die Lehrkraft Antworten bewerten
Klassifizierungen, Prinzipien und Modelle, beispielsweise zur wird. (3) Das offene Format verlangt über (1) und (2) hi-
Struktur des politischen Systems eines Staates. Prozedurales naus auch die Präspezifikation der Auswertungsregeln. Die
Wissen bezieht sich auf fachspezifische Abläufe, beispiels- Lehrperson legt bei diesem Format vorab fest, welche Ant-
weise zu naturwissenschaftlichen Arbeitsweisen oder den worten genannt werden müssen, und kann so Antworten der
Arbeitsschritten beim Erstellen einer Erörterung im Fach Schülerin bzw. des Schülers einordnen. Zur Frage „Welchen
Deutsch. Beim metakognitiven Wissen handelt es sich um Nutzen haben die Mitgliedsländer?“ hat die Lehrperson nun
Wissen über Erkenntnisprozesse, etwa zu Lernstrategien und die zu erwartenden Antworten vorab festgelegt und sie als
den eigenen kognitiven Fähigkeiten. Diese Wissensart hat mehr oder weniger zutreffend klassifiziert. (4) Das gebundene
einen Sonderstatus, weil sie auf einer Metaebene Wissen über Itemformat weist den höchsten Grad an Präspezifikation auf,
Wissenserwerb umfasst. Zu dessen Erfassung sind z. B. Fra- hier sind Ziel, Antworten und Antwortqualifizierung bereits
gen zur Qualität verschiedener Bearbeitungsstrategien zum vor der Messung festgelegt. Die antwortende Person muss –
Thema denkbar. häufig durch Ankreuzen – eine Auswahl aus vorgegebenen
Antwortalternativen treffen. In der Abfragesituation stellt die
1 Schritt II – Formulierung der Items Lehrperson Fragen wie „Hat die Europäische Union mehr
Nachdem das zu messende Konstrukt beschrieben ist, werden als 20 Mitgliedsstaaten – ja oder nein?“ „Welche der fünf
Items (d. h. Fragen oder Aufgaben) konstruiert, anhand de- Länder an der Tafel liegen in Europa, gehören jedoch nicht
rer die unterschiedlichen Ausprägungsgrade des Konstrukts zur Europäischen Union?“. Analog zur hier beispielhaften
beobachtbar werden. „Den Satz des Pythagoras anwenden“ mündlichen Prüfungssituation können die unterschiedlichen
kann beispielsweise über eine Textaufgabe erfasst werden, de- Itemformate auch in anderen Formen der Leistungsmessung
ren Lösung Unterschiede zwischen Schülerinnen und Schü- (schriftliche Prüfung, Referatsbewertung, Portfoliobeurtei-
ler in dieser mathematischen Kompetenz erfasst. Soll erfasst lung) verwendet werden.
werden, ob sich Schülerinnen und Schüler auf Englisch un- Die in . Tab. 25.2 dargestellten Eigenschaften der Item-
terhalten können, kann es zielführend sein, ein Rollenspiel zu formate sind eine Orientierungshilfe bei der Entwicklung ei-
verwenden. gener Items und Verfahren: Im teilnehmend-beobachtenden
Wilson (2005) unterscheidet Itemformate durch unter- Itemformat plant die Lehrperson „das, was im Unterricht zu
schiedliche Grade ihrer „Präspezifikation“. Präspezifikation Europa dran war“, zu messen, hat aber weder Itemkompo-
bedeutet, inwieweit vorab festgelegt wird, was eine richtige nenten („Zu welchen Inhalten möchte ich von den Schü-
Antwort ist (. Tab. 25.2). (1) Beim teilnehmend-beobach- lerinnen und Schülern Informationen?“), noch spezifische
tenden Itemformat sind die Bewertungskategorien vor der Items („Was möchte ich genau von den Schülerinnen und
Messung am wenigsten festgelegt. Ein Beispiel ist eine un- Schülern?“), noch die erwünschten Antworten im Voraus
strukturierte mündliche Abfrage, etwa wenn die Lehrperson festgelegt. Mit dem leitfadengeführten Itemformat klärt die
„Erzähle mir doch ’mal etwas zu Europa“ sagt und ergeb- Lehrperson vorab die Itemkomponenten (z. B. Informatio-
nisoffen die mündlichen Reaktionen darauf beobachtet. Hier nen zu den Ländern und deren Sehenswürdigkeiten). Im
liegt nur eine sehr vage bis keine Konstruktfestlegung („Was offenen Format bereitet sie bereits spezifische Items für die
soll eigentlich gemessen werden?“) vor. Mögliche Antwort- Messung vor (z. B. Bevölkerungscharakteristika und Regie-
möglichkeiten und Kriterien dafür, wann eine Frage als gelöst rungsformen von drei europäischen Ländern), aber erst im
zu beurteilen ist, wurden nicht im Vorfeld ausgearbeitet. (2) gebundenen Format wird sie auch noch die erwünschte Ant-
Das leitfadengeführte Itemformat sieht vor, dass die Fragen wort vorab spezifizieren und sie direkt in das Item integrie-
vor der Anwendung ausgesucht, die als korrekt erachteten ren („Welches dieser drei Länder hat eine parlamentarische
498 Kapitel 25  Messen und Bewerten von Lernergebnissen

Erbmonarchie? Kreuze an!“). Damit nimmt parallel zum Prä- werden, dass sie dasselbe Merkmal erfassen, und zum ande-
25 spezifikationsgrad der Konstruktionsaufwand zwar vor der ren so, dass sie gemeinsam alle relevanten Aspekte des zu
Erhebung zu, der Auswertungsaufwand nach der Erhebung messenden Merkmals umfassen. Dazu ist es nötig, alle zu
jedoch ab. prüfenden Themenbereiche vorab festzulegen (Schritt II). Die
Ein höherer Grad an Vorabfestlegung erlaubt den Leh- Fragen eines Tests zur Geometrie könnten sich etwa über die
renden die Anforderungen klarer mitzuteilen. Schülerinnen Themenbereiche „Geometrische Sätze“ und „Konstruktion
von Winkeln“ verteilen, bezogen auf eine gerade absolvierte
und Schüler können sich auf Tests besser vorbereiten, je klarer
die Anforderungen im Voraus festgelegt sind und kommuni- Unterrichtseinheit. Ein weiteres Kriterium wäre, zu jedem der
ziert werden (Beispiel: Transparenzpapiere zur Klausurvor- inhaltlichen Bereiche sowohl leichte, mittlere als auch schwe-
bereitung). Ein Messverfahren kann prinzipiell aus Items des re Aufgaben zu verwenden, um gut zwischen verschiedenen
gleichen Formats (z. B. nur offene Fragen) oder aus Items un- Abstufungen des Konstrukts differenzieren zu können.
terschiedlicher Formate (z. B. offene und gebundene Fragen) Eine wichtige Voraussetzung für die Eindimensionalität
bestehen. eines Tests ist seine inhaltliche Ausgewogenheit, die sich vor
allem aus der Verteilung von Items über die Inhaltsbereiche –
1 Schritt III – Kategorisierung möglicher Antworten beispielsweise die Zellen in . Tab. 25.1 – ergibt. Die Vergabe
Wenn der Inhalt der zu erfassenden Lernergebnisse festge- von Punkten für jede Aufgabe in Schritt III sollte so angelegt
legt ist (Schritt I) und die passenden Items formuliert sind sein, dass die Zahl der möglichen Punkte für die Inhaltsbe-
(Schritt II), müssen die beobachteten Antworten Kategorien reiche ausgewogen ist. Mit mehrdimensionalen Tests können
zugeordnet werden, um Punkte vergeben zu können. Diese verschiedene Teilaspekte einer Kompetenz getrennt erfasst
Kategorisierung muss mindestens zwei Kategorien enthalten, werden. Zur Konstruktion mehrdimensionaler Tests werden
nämlich „richtig“ und „falsch“. Sollen Teillösungen unter- separat für alle Teilaspekte eindimensionale Tests konstruiert.
schieden, unterschiedliche Arten von Fehlern berücksichtigt
oder mehrere Ausprägungsgrade vorgesehen werden, bieten
sich mehr als zwei Kategorien an. Auf dieser Basis erfolgt die Mythos: Punktevergabe & Testfairness
Zuweisung von Messwerten zu den Antwortkategorien, etwa Ein gelegentlich anzutreffender Irrtum besteht darin,
der Werte 1 zu richtigen und 0 zu falschen Antworten oder für schwere Aufgaben mehr Punkte zu vergeben als für
2 Punkte für eine richtige Antwort, 1 Punkt für eine teilwei- leichtere Aufgaben. Die Punktvergabe wirkt sich aber
se richtige Antwort und 0 Punkte für eine komplett falsche auf die inhaltliche Ausgewogenheit des Tests aus: Für
Antwort. schwerere Aufgaben mehr Punkte zu vergeben würde
die Inhalte, zu denen schwere Fragen gestellt werden,
1 Schritt IV – Überprüfung des Messmodells stärker gewichten und damit einen zusätzlichen Vorteil für
Um Messergebnisse miteinander vergleichen zu können, be- stärkere Schülerinnen und Schüler bedeuten und auf diese
darf es einer gemeinsamen Skala für diese Ergebnisse. Ein Weise die Fairness eines Tests beeinträchtigen.
Messmodell formuliert Annahmen, die die Voraussetzung
dafür sind, dass die in Schritt III vergebenen Punktwerte tat-
sächlich Messwerte für das gesuchte Merkmal sind, beispiels- Zur empirischen Analyse der verwendeten Aufgaben
weise das Wissen zu einem bestimmten Inhaltsbereich. Zu (Itemanalyse) können die Aufgabenmerkmale Itemschwie-
den zentralen Annahmen zählen die Aufgabenhomogenität rigkeit und Trennschärfe herangezogen werden. Die Schwie-
und Personenhomogenität, wonach alle Aufgaben bei allen rigkeit einer Aufgabe entspricht dem Prozentanteil an richti-
Personen dieselbe Eigenschaft erfassen. Weiterhin wird häu- gen Lösungen, den man beobachtet hat oder erwarten kann.
fig die lokale stochastische Unabhängigkeit angenommen, Die Trennschärfe eines Items gibt an, wie hoch die Itemant-
wonach die Reihenfolge und Auswahl der Aufgabenbearbei- worten mit dem Gesamttestwert korrelieren. Im Allgemeinen
tung keine Rolle spielt. Die Annahme der Eindimensionalität sind hohe Trennschärfen anzustreben. Soweit kein psycho-
besagt schließlich, dass alle Items dasselbe Merkmal erfassen. metrisches Messmodell zur Berücksichtigung unterschiedli-
Das Messergebnis ergibt sich als Summe der Punkte auf die cher Trennschärfen verwendet wird, sollten alle Aufgaben
einzelnen Aufgaben. Wären sie nicht eindimensional, so wä- ähnlich hohe Trennschärfen aufweisen. Ein bekanntes Test-
ren die Punktwerte aus den verschiedenen Aufgaben nicht modell, das Rasch-Modell (Rasch, 1966; vgl. auch Strobl,
miteinander vergleichbar. Die Frage, ob sich die beobach- 2015), nimmt explizit an, dass die Trennschärfen aller Items
teten Antworten von mehreren Schülerinnen und Schülern gleich sind.
als Messung desselben Konstrukts auffassen lassen, kann mit
dem statistischen Mittel der Faktorenanalyse (7 Kap. 24) oder Im Fokus: Bildungsstandards
mit Modellgeltungstests überprüft werden (Eid & Schmidt,
2014; Kelava & Moosbrugger, 2007; Rost, 2004). Bildungsstandards als Beispiel für den Weg vom
In der Schulpraxis stehen diese Methoden zur Überprü- Konstrukt zu Testaufgaben
fung der genannten Annahmen meist nicht zur Verfügung. Als ein Element der Strategie zum Bildungsmonitoring der
Um dennoch inhaltlich umfassende und präzise Messinstru- KMK wurde mit den Bildungsstandards in Deutschland ein
mente zu konstruieren, ist die Auswahl der Items (Schritt neues Instrument der Qualitätssicherung im Bildungswesen
II) besonders wichtig. Items müssen einerseits so ausgewählt eingeführt (KMK, 2005). Die wenig befriedigenden Ergeb-
25.2  Lernergebnisse messen
499 25

nisse aus internationalen Vergleichsstudien zu Beginn der Aufgaben zur Überprüfung von Bildungsstandards können
2000er Jahre führten dazu, dass seit dem Jahr 2003 in den inzwischen für viele Fächer eingesehen werden. Sie
wichtigen Kernfächern die erwarteten Leistungen anhand zeigen einerseits anschaulich, wie man sich ein adäquates
allgemeingültiger Maßstäbe festgelegt und überprüft fachliches Niveau zum Zeitpunkt des jeweiligen Zeitpunkts
werden. Betrachtet man den Prozess von der Formulierung in der Bildungsbiographie vorstellen kann. Andererseits
von Bildungsstandards zur Konstruktion von Aufgaben machen sie deutlich, wie eine abstrakte Anforderung in
zu deren Überprüfung, so finden sich viele der oben Aufgaben umgesetzt werden kann, wie ein Konstrukt
beschriebenen Schritte zur Entwicklung von Messverfahren präzisiert, Aufgaben formuliert und bewertet (kategorisiert)
wieder. Seine Betrachtung ist deshalb aufschlussreich und und schließlich ein Messmodell angepasst wird. Eine Reihe
wird im Folgenden am Beispiel der Bildungsstandards für die von Publikationen hilft darüber hinaus mit konkreten Tipps
erste Fremdsprache (Englisch/Französisch) für den Mittleren und Anregungen für den Unterricht sowie das Konstruieren
Schulabschluss (KMK, 2004b) und deren Entwicklung am von eigenen Aufgaben (siehe beispielsweise Tesch, Leupold
Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) & Köller, 2012).
erläutert.
„Bildungsstandards benennen die Kompetenzen, welche die
Schule ihren Schülerinnen und Schülern vermitteln muss,
damit bestimmte zentrale Bildungsziele erreicht werden.
25.2.2 Verfahren zur Erfassung von
Die Bildungsstandards legen fest, welche Kompetenzen
die Kinder oder Jugendlichen bis zu einer bestimmten
Lernergebnissen in der Schule
Jahrgangsstufe erworben haben sollen. Die Kompetenzen
werden so konkret beschrieben, dass sie in Aufgabenstellun- Im Folgenden werden verschiedene Verfahren („Formen
gen umgesetzt und prinzipiell mit Hilfe von Testverfahren der Leistungsbeurteilung“) vorgestellt. Wie diese konstruiert
erfasst werden können“ (Klieme et al., 2003, S.19). Die zu werden, ist bei allen Verfahren prinzipiell gleich und folgt
messenden Kompetenzen werden in unserem Beispiel den in 7 Abschn. 25.2.1 dargestellten vier Schritten: Zuerst
präzisiert, indem der „Beitrag der ersten Fremdsprache zur wird das zu messende Konstrukt präzisiert, dann erfolgt die
Bildung“ dargestellt wird und die Kompetenzbereiche fest- Formulierung von Items, die das Konstrukt erfassen. An-
gelegt werden: Funktionale kommunikative Kompetenzen schließend werden die Itemantworten Kategorien zugeordnet
(z. B. kommunikative Fertigkeiten wie Hörverstehen oder und schließlich bepunktet.
Schreiben) und das Verfügen über sprachliche Mittel (z. B.
Wortschatz und Grammatik), interkulturelle Kompetenzen Fokus: Übergreifende Qualitätsmerkmale von Messverfahren
(z. B. verständnisvoller Umgang mit kultureller Differenz)
und methodische Kompetenzen (z. B. Textrezeption, In- Oft finden sich in Lehrbüchern Unterscheidungen zwischen
teraktion oder Textproduktion). Jeder Bereich wird weiter „subjektiven“ und „objektiven“ Verfahren (Klauer, 1978)
ausdifferenziert, zu den funktionalen kommunikativen oder schriftlichen Prüfungen und Schulleistungstests (z. B.
Kompetenzen gehört beispielsweise, dass Schülerinnen Lukesch, 1998). Alle Messverfahren lassen sich anhand
und Schüler „ihre Kenntnisse in der Fremdsprache für ihrer Messgüte verorten (Wilson, 2005; 7 Abschn. 25.2).
ihren weiteren Bildungsweg nutzen, z. B. Sachtexte lesen Betrachtet man Verfahren auf den Dimensionen subjektiv–
und nach Informationen für ihr Sachinteresse auswerten objektiv, unreliabel–reliabel, invalide–valide, steht im
und Ergebnisse der eigenen Arbeit präsentieren“ (für eine Vordergrund, wo sich ein bestimmtes Verfahren zur
umfassende Darstellung vgl. KMK, 2004b, S. 9). Messung einer Schulleistung auf jeder dieser Dimensionen
Die darauffolgende Festlegung der Standards erfolgt in verorten lässt und was getan werden kann, damit das
enger Anlehnung an die Niveaustufen des Gemeinsamen Verfahren objektiver, reliabler und valider wird, also die
europäischen Referenzrahmens (GeR), die das sprachliche Güte der Messung verbessert werden kann. Somit ist nicht
Niveau beschreiben, das die Schülerinnen und Schüler bis die Form des Verfahrens (mündliche Prüfung, schriftliche
zum Erwerb des Mittleren Schulabschlusses erreichen sollen. Prüfung, Schulleistungstest, Darbietungsmessung etc.)
Aufgaben zu entwickeln, die diese Standards widerspiegeln, ausschlaggebend für die Qualität der Messung, sondern das
ist anspruchsvoll und aufwendig. Erfahrene Lehrkräfte Ausmaß, in dem das Verfahren die drei Kriterien Objektivität,
entwickeln die Aufgaben anhand der Standards, die von Reliabilität und Validität erfüllt.
fachdidaktischen und fachwissenschaftlichen Expertinnen
und Experten entwickelt wurden. Anschließend werden
die Entwürfe der Testaufgaben von Mitgliedern der IQB- 1 Mündliche Verfahren
Arbeitsgruppe auf fachliche Passung und Verständlichkeit Mündliche Verfahren lassen sich unter der Validitätsperspek-
geprüft. Anhand von Pilotierungsstudien wird im nächsten tive in zwei Arten unterteilen: Zum einen in Verfahren zur
Schritt empirisch überprüft, inwieweit die Aufgaben die Erfassung kognitiver Lernergebnisse, zum anderen in Verfah-
betreffenden Konstrukte abbilden können. ren zum Feststellen von Sprachverhalten. Im ersten Fall einer
mündlichen Prüfung, Abfrage etc. fragt eine Lehrperson et-
500 Kapitel 25  Messen und Bewerten von Lernergebnissen

was curricular-inhaltliches und Schülerinnen und Schüler & Lissmann, 2015; Lukesch, 1998). So konnten Birkel und
25 antworten mündlich. Im zweiten Fall ist die mündliche Äu- Pritz (1980) zeigen, dass die von der Kompetenz unabhängi-
ßerung selbst Messgegenstand, beispielsweise wird überprüft, ge Sprechgeschwindigkeit des Prüflings, die sie in ihrer Studie
wie flüssig, elaboriert und fehlerfrei man sich auf Englisch experimentell manipulierten, einen sachfremden Effekt auf
unterhalten kann. Im Folgenden beziehen wir uns auf das die Leistungseinschätzung hat – bei schnellerem Sprechen
Messen mündlich mitgeteilter kognitiver Lernergebnisse. Das resultierte eine bessere Kompetenzeinschätzung. Einige Au-
Messen von Sprachverhalten ist weiter unten beschrieben, als toren argumentieren, dass eine sinnvolle Einsatzmöglichkeit
eine Variante der Messung von Darbietungen. von mündlichen Prüfungen hauptsächlich darin bestehen
Mündliche Prüfungen haben die „Form zielgerichteter sollte, sprachabhängige Leistungen zu messen (z. B. Lukesch,
Kommunikation zwischen einem oder mehreren Prüfern und 1998). Weitere Kritikpunkte betreffen validitätsbeeinträchti-
Prüflingen, bei der auf die Schriftform verzichtet wird“ (In- gende Urteilsfehler (Kleber, 1978; Pendry, 2014), beispiels-
genkamp & Lissmann, 2008, S. 137). In der Schule sind sie weise können Reihenfolgeeffekte (Primacy-, Recency-Effekte)
Teil des Unterrichtsgesprächs, z. B. in Form von mündli- oder Zusammenhangsfehler (Halo-Effekt, logische Fehler)
chen Hausaufgabenkontrollen oder Abfragen, oder werden auftreten (7 Kap. 24).
als formellere mündliche Prüfung genutzt (z. B. Kolloquium Es gibt einige Möglichkeiten, um die Messgüte münd-
im Abitur). Als Messverfahren kann eine mündliche Prüfung licher Prüfungen zu erhöhen. Unter inhaltlichen Gesichts-
prinzipiell alle vier in . Tab. 25.2 angeführten Itemformate punkten erhöhen präzise Konstruktvorstellungen und darauf
enthalten. bezogene repräsentative Items mit höherem Präspezifikati-
Ein Vorteil der mündlichen Prüfungssituation liegt in ih- onsgrad die Validität. Die Reliabilität kann über eine größere
rem interaktiven und adaptiven Charakter. In mündlichen Menge an Items und eine stärkere Homogenität der Items er-
Prüfungen können Prüfende alternative Aufgabenstellungen höht werden. Die Objektivität lässt sich steigern, indem die
verwenden, sich dem Leistungsniveau der Prüflinge anpassen unterschiedlichen Prüfenden die mündliche Prüfung stan-
oder einen Einstieg in die Beantwortung einer Frage erleich- dardisieren, also auf die gleiche Art und Weise durchführen,
tern. So könnten Prüferinnen und Prüfer leichtere Aufga- auswerten und beurteilen.
ben bei kompetenten Schülerinnen weglassen, während sie Zur Verbesserung der Güte von mündlichen Prüfungen
bei weniger leistungsstarken Schülern schwerere Aufgaben tragen folgende Maßnahmen bei:
nicht stellen. Von Prüfungsangst betroffene Prüflinge könn-
ten in einer spezifisch angepassten Situation begleitet werden.1 Validität (vor der Prüfung)
Diese Aspekte tragen wohl dazu bei, dass viele Lehrkräfte
(aber auch Prüflinge) mündliche Prüfungen als Werkzeug der 4 Lernziele in Zellen der Lernzieltaxonomie (. Tab. 25.1)
pädagogisch-psychologischen Diagnostik schätzen (Jürgens verorten
& Lissmann, 2015). 4 Mehrere Items pro Zelle formulieren (Aufgabengruppen)
Dennoch sind etliche Aspekte der mündlichen Prüfung 4 Mögliche Antworten in Abhängigkeit des Präspezifikati-
kritisch zu betrachten. Der interaktive Charakter und die onsgrads der Items vorabklären
Unmittelbarkeit der Situation machen es im Vergleich zur 4 Regeln zur Zuordnung von Antworten zu Punkten und
Schriftform schwer, objektiv, also zwischen unterschiedli- zur Gewinnung des (Summen-)Werts der Prüfung auf-
chen Lehrpersonen übereinstimmend, zu messen, weil häufig stellen
nicht geklärt ist, welche Aspekte in eine mündliche Leistung 4 Items verständlich formulieren und Bearbeitungszeiten
einbezogen werden. Zudem können sich soziale und sach- abschätzen
liche Aspekte gegenseitig beeinflussen, etwa wenn persönli- 4 Benotungsmodell definieren („Welche Punktebereiche
che Sympathie oder eine persönliche Abneigung gegen einen werden welchen Noten zugewiesen?“)
bestimmten Dialekt Einfluss auf die Leistungseinschätzung
1 Reliabilität (vor der Prüfung)
nehmen. Zudem ist ein Nachteil, dass Prüfungssituationen als
soziale Situationen aufgrund des Machtgefälles von Prüferin 4 Größere Anzahl an Items (unter Berücksichtigung der
oder Prüfer zu Prüfling unterschiedlich interpretiert werden Aufgabengruppen) verwenden
können und sich Missverständnisse auf den weiteren Verlauf 4 Schwierigkeitsgrade der Items abschätzen
der Prüfung auswirken können. So kann ein Prüfling verun- 4 Bei einer mündlichen Prüfung die gleiche Anzahl an
sichert werden oder die prüfende Person falsch oder unge- Items für jeden Prüfling verwenden
schickt auf Äußerungen des Prüflings reagieren. Außerdem
ist es angesichts der Vielzahl der sozial-kommunikativen An-1 Objektivität (während und nach der Prüfung):
forderungen in der mündlichen Prüfungssituation schwierig
im Blick zu behalten, welches kognitive Anforderungsniveau 4 Durchführung: Standardisierte Bedingungen (Dauer, Set-
in der Prüfung verfolgt wird. ting, Anzahl der Items, zufällige Itemreihenfolge)
Zahlreiche Studien zeigen unter messtheoretischer Pers- 4 Auswertung: Standardisierte Zuweisung der Antworten
pektive, dass mündliche Prüfungen von Prüfenden oft kaum zu Auswertungskategorien und standardisiertes Zusam-
objektiv, reliabel und valide konzipiert und durchgeführt wer- menzählen der Punkte (sowohl von Erstprüfenden als
den (Birkel, 1978; Ingenkamp & Lissmann, 2008; Jürgens auch – wenn vorgesehen – von Zweitprüfenden)
25.2  Lernergebnisse messen
501 25

. Tabelle 25.3 Checklisten zur Formulierung von Vervollständigungs- und Kurzantwortitems (nach McMillan, 2014, S. 212–215)

Checkliste zum Verfassen von Vervollständigungsitems Checkliste zum Verfassen von Kurzantwortitems
Wird Wortwörtliches aus dem Lehrmaterial vermieden? Ist nur eine Antwort richtig?

Wird Wissen valide erhoben? Werden Fragen aus Lehrbuchtexten vermieden?

Ist eine einzige, kurze Antwort erfordert? Ist es klar, dass die Antwort kurz ist?

Steht die Leerzeile am Ende des Satzes? Ist die Präzision einer numerischen Antwort angegeben?

Ist die Länge jeder Leerzeile die gleiche? Ist das Item so prägnant wie möglich formuliert?

Ist die Präzision einer numerischen Antwort angegeben? Passt der Platz für die Antworten zur geforderten Antwortlänge?

Werden Hinweise zur richtigen Antwort vermieden? Sind die in der Frage benutzten Wörter zu schwierig?

4 Interpretation: Standardisierte Zuweisung von Punkten fassen vielschichtiger zusammengesetztes Denken, indem sie
zu Noten (oder anderen Bewertungskategorien) mit Hilfe Schülerinnen und Schüler dazu veranlassen, Wissen zu orga-
des Benotungsmodells nisieren, zu integrieren und zu interpretieren, zu argumen-
tieren, Erklärungen zu geben oder Ideen zu evaluieren (siehe
1 Schriftliche Verfahren Arten kognitiver Prozesse . Tab. 25.1).
Ähnlich wie mündliche Verfahren lassen sich auch schriftli- Die Verwendung von Beurteilungsrastern (engl. rubric)
che Verfahren danach unterscheiden, ob sie Wissen zu einem hilft bei schriftlichen Prüfungen wie Aufsätzen, Messwerte
Thema (z. B. Klausur in Biologie) oder eine schriftsprachlich- aus mehreren inhaltlichen Dimensionen zu gewinnen und zu
darstellende Leistung (z. B. „Essay“ in Englisch) erfassen sol- integrieren. Ein Beurteilungsraster wird anhand der Themen-
len, also das Geschriebene selbst Gegenstand der Messung stellung vor der Messung entwickelt. Bewertungsrelevante
und Bewertung ist. Letztere sind Varianten von Darbietungs- Kriterien („Konstrukte“) werden in beobachtbares Verhal-
messungen und weiter unten dargestellt. Zunächst wird die ten übersetzt („operationalisiert“) und zwischen den Polen
Messung von schriftlichen Lernergebnissen erörtert, indem „nicht vorhanden“ und „vorhanden“ abgestuft. Beim Korri-
zwei Verfahren genauer charakterisiert werden: die schriftli- gieren wird geprüft, inwieweit der Aufsatztest den Operatio-
che Prüfung und der Schulleistungstest. nalisierungen genügt. Ist z. B. bewertungsrelevant, inwieweit
politische Verhältnisse in der Weimarer Republik mit aktu-
2Schriftliche Prüfung ellen Verhältnissen in der BRD verglichen werden können
In schriftlichen Prüfungen werden kognitive Lernergebnis- („Verstehen“ . Tab. 25.1), ist zu klären, was „vergleichen“ hier
se mit Hilfe von geschlossenen oder offenen Itemforma- bedeutet und wie sich ein inhaltlich gelungener Vergleich im
ten erfasst. Sie können prinzipiell alle vier oben darge- Text konkret zeigen könnte, um dann Abstufungen zu de-
stellten Itemformate – auch in Kombination – beinhalten. finieren (z. B. „Vergleich umfassend und in allen Aspekten
Zu den geschlossenen Itemformaten zählen single-choice- korrekt“ D 4 Punkte, „Vergleich umfassend, aber nicht alle
(eine aus x ist korrekt), multiple-choice- (mehrere aus x Aspekte werden berücksichtigt“ D 3 Punkte etc.). Die In-
sind korrekt) und multiple-true-false-Items (mehrere ja/nein- halte des Aufsatztextes werden dann auf einer dieser Stufen
Ankreuzfragen sind in einem Item organisiert). Offene Fra- verortet und ergeben den Messwert. Betrachtet man mehrere
gen unterscheidet man in Freitextaufgaben (Aufsätze und Dimensionen (z. B. Qualität der Gliederung, Sprachgebrauch,
Aufgaben, deren Bearbeitung mehrere zusammenhängende Klarheit der Argumentation), werden die einzelnen Mess-
Sätze verlangen) und in Items mit Kurzantworten (verlan- werte aufsummiert (möglicherweise gewichtet). Die Kriteri-
gen als Lösung wenige Wörter bis maximal zwei Sätze). Auch en eines Beurteilungsrasters können den Schülerinnen und
Lückentexte und Fragen, die ein Wort, eine Zahl oder eine Schülern bereits vor der Prüfung zur Verfügung gestellt wer-
Formel als Antwort verlangen, zählen zu den offenen Fragen. den, um die Vorbereitung zu erleichtern (Hattie & Timperley,
Je nach kognitiver Anforderung an die Lernenden eignen 2007), beispielweise bei Probeaufsätzen.
sich bestimmte Formate besser als andere dazu, bestimm- Zahlreiche Studien zeigen jedoch auch für schriftliche
te kognitive Lernergebnisse zu erfassen. Mit Vervollständi- Prüfungen, dass sie häufig wenig objektiv, reliabel und va-
gungsaufgaben (Lückentexten) kann etwa das Faktenwissen lide sind (Gräber, 1997; Birkel 2003, 2005; Birkel & Birkel,
von Schülerinnen und Schülern gut beurteilt werden. Kurz- 2002; Ingenkamp & Lissmann, 2008). Beispielsweise zeigte
antwortaufgaben können gut zur Erfassung des konzeptu- Birkel (2003) in einer Studie mit N D 89 Lehrpersonen,
ellen Wissens eingesetzt werden. Bei McMillan (2014; siehe dass die Benotung der inhaltlichen Qualität von Aufsätzen
auch Popham, 2014) finden sich zwei Checklisten zur Formu- durch die Rechtschreibleistung der Prüflinge beeinflusst wird,
lierung dieser zwei Itemtypen (. Tab. 25.3). und dass zwischen Lehrpersonen nach wie vor große Beurtei-
Die Punktvergabe bei diesen beiden Aufgabentypen er- lungsunterschiede vorliegen, vor allem bei mittleren bis guten
folgt durch einfaches Auszählen der erwartungskonformen Leistungen. Birkel (2003) erklärt dies durch subjektive Bewer-
Antworten. Aufsätze als Form der schriftlichen Prüfung er- tungsunsicherheiten, die bei Ergebnissen im mittleren Leis-
502 Kapitel 25  Messen und Bewerten von Lernergebnissen

tungsspektrum auftreten. Hierbei suchen Lehrpersonen nach sie Bedingungen, Verläufe und Ergebnisse geplanter und an
25 beurteilungserleichternden, aber sachfremden Anhaltspunk- Curricula orientierter Lernvorgänge objektiv, reliabel und va-
ten und es passieren Beurteilungsfehler (z. B. Halo-Effekt: lide erfassen und für pädagogisches Handeln nutzbar machen
„Wer wenig Fehler macht, ist auch der bessere Aufsatzschrei- (Roick, 2008). Damit unterscheiden sich Schulleistungstests
ber“; implizite Theorien: „Mädchen können bessere Aufsätze von anderen Verfahren durch die sehr starke Standardisie-
schreiben als Jungen, weil sie sprachlich gewandter sind“). rung in Durchführung, Auswertung und Interpretation und
Auch bei Mathematikarbeiten offenbaren sich Bewertungs- durch die Berücksichtigung wissenschaftlicher Prinzipien bei
unterschiede, wie Birkel (2005) zeigen konnte: In dieser Stu- der Testkonstruktion. Im Gegensatz zu den meisten anderen
die mit N D 131 Lehrerinnen und Lehrern fanden sich psychologischen Testverfahren dürfen standardisierte Schul-
Urteilsdifferenzen von bis zu 2,75 Notenstufen, „die fast die leistungstests von Lehrpersonen eingesetzt, ausgewertet und
Größenordnung erreichen, wie sie von Untersuchungen zur interpretiert werden.
Aufsatzbeurteilung her bekannt sind“ (Birkel, 2005, S. 45). Typische Beispiele sind die Deutschen Mathematiktests,
Möglichkeiten, die Qualität von schriftlichen Prüfungen die für viele Jahrgangsstufen verfügbar sind (DEMAT-Reihe,
schon bei der Konstruktion zu erhöhen, folgen den gleichen z. B. Götz, Lingel & Schneider, 2013), Leseverständnistests
Prinzipien wie bei mündlichen Prüfungen: Auch hier leiten (bspw. ELFE II; Lenhard, Lenhard & Schneider, 2017) oder
die Überlegungen und Festlegungen zur Validität die Aus- der Hamburger Schulleistungstest für vierte und fünfte Klas-
wahl der Items. Die für mündliche Prüfungen genannten sen (HST 4/5, Mietzel & Willenberg, 2000). Als Beispiel ist
Maßnahmen zur Standardisierung der Durchführung, der der DEMAT 9 im folgenden Fokus näher beschrieben.
Auswertung und der Interpretation gelten auch für schriftli-
che Prüfungen, ergänzt um folgende Punkte: Die Validität of- Im Fokus: DEMAT 9
fener Items bzw. Aufsätze wird vor allem durch die Ausgestal-
tung eines Beurteilungsrasters („Kriterienkatalog“) verbes- DEMAT 9 als Beispiel eines standardisierten Schulleis-
sert, in dem geregelt ist, wie den Ausprägungen Punkte und tungstests
der (Summen-)Wert zugeordnet werden. Wenn anonymisiert Der Deutsche Mathematiktest für neunte Klassen (DEMAT
korrigiert wird, die korrigierende Person also nicht weiß, wes- 9; Schmidt, Ennemoser & Krajewski, 2013) ist ein standar-
sen Aufgabenbearbeitung sie vor sich hat, sinkt der Einfluss disierter sozialnormorientierter Schulleistungstest und
sachfremder Faktoren, womit die Validität steigt. Eine zweite erfasst Mathematikleistungen zum Ende der 9. Klasse,
unabhängige Korrektur und die Klärung von Diskrepanzen wobei die Lehrpläne aller deutschen Bundesländer und
bei abweichenden Bewertungen tragen zur Objektivität des die Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz (KMK)
Verfahrens bei. Um Reihenfolgeeffekte wie den Primacy- und zugrunde liegen. Die Testentwicklerinnen und -entwickler
den Recency-Effekt (7 Kap. 24) sowie Kontrasteffekte aufein- haben nach Analyse der Lehrpläne der Schulformen Haupt-,
anderfolgender Korrekturen (Beispiel: eine mittlere Leistung Realschule und Gymnasium aller 16 Bundesländer und der
wird nach vorangehender schlechter Leistung besser bewertet Extraktion relevanter Inhaltsbereiche (funktionaler Zusam-
als nach einer guten Leistung) zu reduzieren, können schrift- menhang, Messen/Raum und Form, Daten und Zufall) mit
liche Prüfungen aufgaben- oder kategorienweise korrigiert deren einschlägigen Aufgabentypen einen Aufgabenpool
und nach jeder Teilkorrektur die Reihenfolge der Prüflin- mit 189 Items zusammengestellt. Mit Hilfe dreier Vorun-
ge variiert werden („Stapel mischen“). Schließlich trägt ein tersuchungen an 359 Neuntklässlerinnen und -klässlern
grundsätzliches Bewusstsein für individuelle Urteilsfehler da- wurden 43 Items identifiziert, die in hohem Maße curricular
zu bei, diese zu minimieren. valide waren, ausreichende Trennschärfen aufwiesen und
Je mehr diese Prinzipien zur Verbesserung der Güte ei- günstige Schwierigkeitsverteilungen hatten (Beispielitem
ner schriftlichen Prüfung berücksichtigt werden, je syste- . Abb. 25.1).
matischer also der Prozess der Erstellung einer schriftlichen Der so zusammengestellte Test wurde anschließend an
Prüfung, ihrer Durchführung und Bewertung abläuft, umso einer repräsentativen Stichprobe von 1.230 Schülerinnen
mehr nähert sie sich einem „teacher-made test“ an, wie er un- und Schülern aus 14 Bundesländern normiert („geeicht“),
ten beschrieben wird (7 Im Fokus: Einen „teacher-made test“ so dass bundesweite, nach Schulformen getrennte und
erstellen und revidieren; s. a. Ingenkamp & Lissmann, 2008). schulformübergreifende Normen vorliegen. Zudem wur-
den an dieser Stichprobe die Itemkennwerte für den Test
2Tests zur Messung von Schulleistungen berechnet. Abschließend wurde das Testmanual verfasst,
Standardisierte Schulleistungstests sind pädagogisch- das testanwendende Personen über Zielsetzungen, kon-
psychologische Erhebungsverfahren, die von Expertinnen zeptionelle Grundlagen und Testkonstruktion, Aufbau des
und Experten derart konstruiert werden, dass sie in sehr Testverfahrens, Durchführung, Auswertung und Interpre-
hohem Maße den Gütekriterien diagnostischer Verfahren tation der Testwerte, über die Normierung, Itemkennwerte
genügen (7 Kap. 24). Sie bestehen in der Regel aus mehreren und die Testgütekriterien informiert. Dieses Manual findet
Testaufgaben sowie festgelegten Regeln zu deren Anwen-
dung und Auswertung. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass
25.2  Lernergebnisse messen
503 25
. Abb. 25.1 Beispielitem aus In Gizeh steht die größte Pyramide der Welt, die Cheops-Pyramide.
dem DEMAT 9 (nach Schmidt, Sie hat eine Grundseite von a = 230 m und eine Höhe von h = 147,45 m.
Ennemoser & Krajewski, 2013)

h = 147,45 m
Formel: V = 1/3 a2h

a
a = 230 m

Wie groß ist das Volumen der Pyramide?

Antwort: Das Volumen der Pyramide beträgt m3

schema (von Lehrpersonen oder externen Kodiererinnen


sich zusammen mit Testheften, Auswertungsbogen und und Kodierern) zu bewerten sind (Drechsel, Prenzel & Sei-
-schablonen sowie einem standardisierten Instruktionstext del, 2014).
als „DEMAT 9“ veröffentlicht. Klassifiziert werden Schulleistungstests auf zwei Dimen-
In der schulischen Praxis kann dieser Schulleistungstest sionen. Die eine Dimension beschreibt den Normbezug
beispielsweise dann eingesetzt werden, wenn eine Lehr- (7 Kap. 24) der ermittelten Messwerte. Die Messwerte können
person den Leistungsstand ihrer 9. Klasse in Mathematik entweder mit den Werten einer Normstichprobe verglichen
gegen Ende des Schuljahres einem überregionalen, sozialen werden (sozialnormorientiert) oder mit Werten verglichen
Vergleich unterziehen möchte: Sie führt den DEMAT gemäß werden, die vorab nach inhaltlichen Gesichtspunkten fest-
der Vorgaben im Manual in ihrer Klasse durch, wertet die gelegt werden (kriteriumsorientiert). Die andere Dimension
Tests standardisiert aus, errechnet für jede Schülerin und beschreibt den Standardisierungsgrad des Tests zwischen den
jeden Schüler einen Rohwert (Summe richtiger Lösungen) Polen „formell“ und „informell“. Anhand dieser Dimension
und liest schließlich aus dem Manual die zu den Rohwerten lassen sich Tests danach einordnen, inwieweit schon bei der
gehörenden Normwerte ab. Diese Normwerte informieren Konstruktion wissenschaftliche Kriterien erfüllt wurden und
sie, wie die Leistungen ihrer Schülerinnen und Schüler im sie den Gütekriterien genügen. Für standardisierte Tests (z. B.
Vergleich zum bundesweiten Durchschnitt zu beurteilen DEMAT) oder Vergleichsarbeiten gilt dies in hohem Maße,
sind. Darüber hinaus kann sie mit diesen Testdaten bei- während teacher-made tests (in der Literatur auch als in-
spielsweise prüfen, inwieweit ihre eigenen schriftlichen formelle Schulleistungstests bezeichnet) methodisch weniger
Prüfungen valide sind. Hierzu korreliert sie die DEMAT-Werte aufwendig konstruiert sind als formelle Tests und insbeson-
ihrer Schülerinnen und Schüler beispielsweise mit deren dere keine Normierung der Testwerte aufweisen (die für eine
aktuellen Mathematiknoten. Je höher die Korrelation, desto Standardisierung der Interpretation nötig wäre). Trotzdem
mehr hat die Lehrerin das gemessen, was auch der DEMAT können bei Berücksichtigung der genannten Möglichkeiten
misst; je niedriger die Korrelation, desto weniger valide sind zur Verbesserung der Gütekriterien auch teacher-made tests
die von der Lehrkraft vorgenommenen Bewertungen. hohe Objektivität, Reliabilität und Validität erreichen (siehe
Fokus).

Schulleistungstests nutzen vornehmlich gebundene Item- Im Fokus: Einen „teacher-made test“ erstellen und revidieren
formate und sind anhand im Testmanual vorgegebener Lö-
sungsschlüssel objektiv auswertbar. Vergleichsarbeiten wie Frau Schmitt hat ihre Schülerinnen und Schüler eine kri-
VERA, Aufgaben zur Überprüfung der Bildungsstandards teriumsorientierte schriftliche Prüfung im Fach Chemie
und die Testkomponenten nationaler und internationaler bearbeiten lassen, die sie selber konstruiert hat. Schul-
Vergleichsstudien wie PIRLS, PISA oder DESI werden eben- leistungstests, die von Lehrkräften erstellt werden, werden
falls anhand testtheoretischer Kriterien konstruiert und ver- teacher-made tests, z. T. auch „informeller Schulleistungstest“
wenden eine Mischung aus gebundenen, halbgebundenen genannt. Bei der Konstruktion ihrer Prüfung ist Frau Schmitt
und offenen Formaten, die mit einem festgelegten Kodier-
504 Kapitel 25  Messen und Bewerten von Lernergebnissen

Bei einem kriteriumsorientierten Schulleistungstest wird


25 so vorgegangen: Zuerst hat sie mit Hilfe der Lernzieltaxono- im Rahmen der Konstruktion inhaltlich definiert, ab wel-
mie ihr Konstrukt – das zu Messende – präzisiert: Es sollen chem Punktwert oder in welchem Punktbereich eine be-
in der letzten Unterrichtseinheit erworbene Kompetenzen stimmte Ausprägung (z. B. „Mindeststandard erreicht“) vor-
zum Thema „Moleküle“ gemessen werden, die sich als Erin- handen ist. Dadurch bekommt der Messwert seine „krite-
nern, Verstehen und Anwenden von Faktenwissen zeigen riale“ Bedeutung: Liegt er zum Beispiel innerhalb eines be-
(zu den restlichen Taxonomiekategorien bzw. -zellen hat stimmten Bereichs, der einer bestimmten Kompetenzstufe
Frau Schmitt nichts gelehrt und kann hierzu nichts messen). entspricht (z. B. „kann Gleichungen umformen und kommt
Für jede der drei Taxonomiezellen sieht sie vier Fragen auch bei unbekannten Rechenbeispielen mit Klammern und
vor, so dass sie potenziell 12 Fragen in der Prüfung hat, negativen Zahlen zu korrekten Lösungen“)?
welche sie als single choice-Items mit jeweils vier Antwort- Auch die Konstruktion von Schulleistungstests erfolgt
möglichkeiten vorgibt. Hierbei ergibt die richtige Lösung entlang den vier unter 7 Abschn. 25.2.1 dargestellten Schrit-
einen Punkt, das Ankreuzen einer falschen Lösung gibt null ten, allerdings beschäftigen sich professionelle Testentwick-
Punkte. Damit hat Frau Schmitt die Schritte I bis III vollzogen. lerteams intensiver und systematischer mit den Analysen der
Sie hat nun die Ergebnisse von 25 Schülerinnen und Schüler Inhaltsbereiche eines Tests. Meist werden deutlich mehr Auf-
vorliegen – damit macht sie sich an die Auswertung und gaben erstellt, als im Test gebraucht werden – sie werden
die empirische Aufgabenanalyse (Schritt IV): Hierzu gibt sie im Laufe von Vortestungen mit empirischen Aufgabenana-
die Testergebnisse in ein Tabellenkalkulationsprogramm lysen (Schritt IV) reduziert, so dass nur die am besten ge-
ein (25 Personen in Zeilen, 12 Items in Spalten) und erstellt eigneten Aufgaben übrigbleiben. Die Standardisierung der
eine weitere Spalte, in der die Punktesumme für jede Person Durchführung, Auswertung und Testwerteinterpretation ist
errechnet wird („Rohwertsumme“ D Messwert des Tests). ebenfalls umfassender und wird v. a. bei formellen Tests in
Diese Summenwerte vergleicht sie mit vorher von ihr sach- einer Handanweisung dokumentiert. Roick (2008) fasst den
logisch begründeten Kriterien (z. B. „Mindestkompetenz D Konstruktionsprozess formeller Tests in vier zentralen Schrit-
vier Punkte“) und weist den jeweiligen Punktesummen ten zusammen (siehe auch Slavin 2014):
ihre Beurteilung zu (z. B. „bestanden“ vs. „nicht bestan- 1. Curriculare Analyse (Schritt I): Inhaltliche Festlegung
den“). Darüber hinaus lässt sie vom Programm die (hier und Übertragung in eine Lernzielmatrix (. Tab. 25.1), wo-
12) Korrelationen zwischen den einzelnen Items und der bei jede Zelle eine Aufgabenklasse darstellt.
Punktesumme (Trennschärfen) und für jedes Item den 2. Konstruktion der Testaufgaben (Schritte II und III): Fest-
Prozentanteil korrekter Antworten (Itemschwierigkeiten) legung von Itemformaten und Formulierung einer für den
errechnen. Damit kann Frau Schmitt Items identifizieren, die Lehrplan repräsentativen Aufgabenauswahl.
zu leicht oder zu schwer sind und/oder einen zu geringen 3. Empirische Aufgabenanalyse (Schritt IV): Erprobung
Zusammenhang mit dem Gesamtwert aufweisen (d. h. eine der Items an mindestens einer Stichprobe und Bestim-
zu geringe Trennschärfe haben), und deshalb revidiert mung von Itemgütemaßen (Schwierigkeiten, Trennschär-
werden müssen. Nach Revision der Items liegt Frau Schmitt fen, Verständlichkeit) sowie darauffolgende Itemrevision.
ein optimierter teacher-made test vor, der im nächsten 4. Normierung: Einordnung individueller Testleistungen in
Schuljahr wieder zum Einsatz kommen kann (und dann ein Bezugssystem.
abermals einer empirischen Aufgabenanalyse unterzogen
werden sollte). Obwohl Schulleistungstests die Testgütekriterien insgesamt
sehr gut erfüllen, kann ihre Güte variieren. Zur Beurteilung
der Güte von Schulleistungstests schlägt Roick (2008) folgen-
Sozialnormorientierte Schulleistungstests (oft auch etwas de Prüffragen vor:
verkürzt als „normorientierte Schulleistungstests“ bezeich- 4 Objektivität: Liegt zur Testdurchführung eine Instruktion
net) weisen im Vergleich zu den anderen Tests die Besonder- vor? Liegen zur Auswertung Schablonen oder Computer-
heit auf, dass Normwerte (auch Eichwerte genannt) ermittelt programme vor? Gibt es Hinweise zur inhaltlichen Inter-
werden, anhand derer Leistungen eingeordnet und bewertet pretation der Testergebnisse?
werden können. Diese Normwerte werden auf der Basis re- 4 Reliabilität und Messfehler: Ist der Test zuverlässig genug?
präsentativer Stichproben – oft getrennt nach Alters- oder Wird der Merkmalsbereich mit einer ausreichenden An-
Jahrgangsstufe, Schulart oder Geschlecht – bestimmt und zahl an Aufgaben erfasst? Wie präzise ist ein individueller
in Tabellen dokumentiert. Wird nun der Test durchgeführt, Testwert?
ergibt sich pro Person ein Summenwert der richtigen Lösun- 4 Validität: Überprüft der Test das, was im Unterricht
gen (Rohwert). Diesem Wert wird mit Hilfe der Tabellen ein durchgenommen wurde? Wird das zu messende Verhal-
Normwert zugeordnet. Damit kann eingeordnet werden, ob tensmerkmal angemessen beschrieben? Ist die Testgültig-
das Testergebnis im Durchschnittsbereich (z. B. der entspre- keit für das Verhaltensmerkmal inhaltlich und empirisch
chenden Altersstufe) liegt oder davon abweicht und unter- belegt?
oder überdurchschnittlich ist. Dies wird z. B. anhand des Pro- 4 Normierung: Welche Bezugsnormen sind für den Test
zentrangs ausgedrückt, also dem Prozentsatz der Eichstich- vorgesehen? Ist die Bezugsgruppe repräsentativ? Wie alt
probe mit schlechteren Leistungen (Normwerte 7 Kap. 24). sind die Testnormen?
25.2  Lernergebnisse messen
505 25
4 Ökonomie und Vergleichbarkeit: Kann der Test in Grup-
pen durchgeführt werden? Passt sich der Testzeitbedarf an wird umso kleiner, je reliabler das Messverfahren ist. Das
die Stundenplanung an? Sind Paralleltests verfügbar? in der psychologischen Diagnostik übliche Verfahren, bei
4 Fairness, Zumutbarkeit und Nützlichkeit: Kommt der Test der Interpretation von Messwerten die Messfehler zu be-
zu fairen Urteilen? Ist der Test für die Schülerinnen und rücksichtigen, ist die Bestimmung von Konfidenzintervallen
Schüler angemessen? Ist der Test eine Entscheidungshilfe (7 Kap. 24). Diese geben den Bereich um den Messwert an,
zur Optimierung pädagogischen Handelns? innerhalb dessen der „wahre“ Wert mit hoher Wahrschein-
lichkeit liegt (meist 95 %). Bei der Interpretation ist dann das
Diese Prüffragen helfen bei der Beurteilung sowohl von stan- Konfidenzintervall mit zu berücksichtigen. Beispielsweise
dardisierten Schulleistungstests (z. B. vor deren Einsatz im kann erst dann davon gesprochen werden, dass eine Min-
eigenen Unterricht oder zur Einordnung landesweiter Lern- destkompetenz mit hoher Sicherheit nicht vorliegt, wenn
standserhebungen wie den VERA-Tests) als auch selbst er- nicht nur der Messwert selbst, sondern auch das komplette
stellter teacher-made tests. Für teacher-made tests sind die Konfidenzintervall unterhalb des Mindestkompetenzwerts
Prüfaspekte in der Praxis jedoch oft weit weniger erfüllt oder liegt. Dies bedeutet „behutsame Interpretation“ nach
überhaupt beurteilbar als für standardisierte Tests – was gera- Gronlund und Brookhart (2009).
de die noch bessere diagnostische Güte der standardisierten
Schulleistungstests begründet.
Lehrkräfte können vom Einsatz standardisierter Schul-1 Verfahren zur Messung von Darbietungen
leistungstests für ihren Unterricht und für die Förderung Ergebnisse von Lernprozessen zeigen sich auch in Darbie-
ihrer Schülerinnen und Schüler profitieren. Der Vergleich der tungen oder „Produkten“ von Schülerinnen und Schülern.
Leistungen der eigenen Klasse mit landes- oder bundesweiten Die entsprechenden Verfahren erfassen Lernergebnisse in
Standards (bei kriteriumsorientierten Tests) oder repräsen- Form von Referaten, Präsentationen musikalischer, künst-
tativen Vergleichsgruppen (bei sozialnormorientierten Tests) lerischer, multimedialer Art oder in Portfolios, Interviews,
liefert hilfreiche Informationen zur Steuerung von Unterricht Projektarbeiten, Ausstellungen etc. (McMillan, 2014; Slavin,
und Individualförderung. Gerade wenn eine Lehrkraft eine 2014). Auch mündliche und schriftliche Prüfungen, in denen
Klasse neu übernommen hat, hilft der Einsatz von Schul- Sprachproduktionen der Gegenstand der Messung sind, sind
leistungstests zu klären, welches Leistungsprofil die Schüle- hierunter zu fassen.
rinnen und Schüler haben. Die Frage, wie sich die relative Solche Lernergebnisse können über Verhaltensbeobach-
Position der eigenen Klasse im Vergleich zu anderen Klassen tungen 7 Kap. 24) oder „Produktbetrachtungen“ mit Hilfe
darstellt, ist angesichts der Tendenz von Lehrpersonen, die ei- eines Beurteilungsrasters (engl. rubric) erfasst werden (Kel-
gene Klasse als alleiniges Bezugssystem für Leistungen anzu- ler, 2011; Slavin 2014). Ein Beurteilungsraster zur Erfassung
sehen, eine wichtige objektivierende Maßnahme (7 Studie). von Lernergebnissen weist folgende drei Merkmale auf:
Ob sich die Leistungen in der Klasse heterogen oder homogen 1. Bewertungskriterien: Es hat mehrere Bewertungsdimen-
verteilen, ist für die Differenzierung und Förderung der Ler- sionen, die inhaltlich-sachlogischen Teilkriterien entspre-
nenden ebenso wichtig wie die Frage, ob einzelne Schülerin- chen und anhand derer die Qualität des Lernergebnisses
nen und Schüler Extremwerte erreichen. Wichtig zu wissen bestimmt wird (vgl. oben Schritte I und II).
ist für Lehrpersonen aber auch, wie gut ihre eigenen diagnos- 2. Beschreibung qualitativer Unterschiede: Jede Bewer-
tischen Kompetenzen ausgeprägt sind – der Vergleich regulä- tungsdimension beschreibt qualitative Abstufungen, so
rer Leistungsbeurteilungen mit den Ergebnissen aus standar- dass unterschiedliche Lernergebnisse eingeordnet werden
disierten Schulleistungstests hilft hierbei (Schrader, 2013). können (Schritt II).
Allerdings darf nicht übersehen werden, dass derzeit nicht 3. Angabe dazu, ob eine holistische oder analytische Be-
für alle Fächer und Jahrgangsstufen standardisierte Schulleis- wertung vorgesehen ist: Alle Bewertungskriterien können
tungstests existieren (siehe 7 www.testzentrale.de) und dass entweder – ggf. gewichtet – in ein Gesamturteil einfließen
der Anspruch an eine überregionale Gültigkeit von Tests mit- (holistisch) oder einzeln (analytisch) ausgewertet werden
unter mit einer Vernachlässigung regionaler Standards ein- (Popham, 2014; Schritt III).
hergehen kann.
Ein analytisches Beurteilungsraster ermöglicht ein differen-
Im Fokus: Warum präzise Messwerte wichtig sind ziertes Feedback zu Lernergebnissen und Verbesserungs-
möglichkeiten entlang der einzelnen Bewertungsdimensio-
Instrumente sollen so reliabel wie möglich sein aber trotz- nen.
dem behutsam interpretiert und beurteilt werden. Damit Ein Beispiel: Im Unterricht steht die Aufgabe an, einen
meinen Gronlund und Brookhart (2009), dass die Messung Brief zu schreiben. Bewertungsdimensionen im Beurtei-
zwar möglichst präzise sein sollte, jedoch auch bei hoher lungsraster sind „Rechtschreibung“, „Ideen im Brief“, „Brief-
Reliabilität um den Messwert ein Unsicherheitsbereich länge“ und „Briefumschlag“ (. Tab. 25.4). Für jede Dimen-
sowohl in positiver als auch negativer Richtung liegt, weil sion sind qualitative Abstufungen definiert, denen Punkt-
der Messfehler niemals völlig reduziert wird. Der Messfehler werte zugeordnet sind. Bei analytischer Bewertung erhalten
die Schülerinnen und Schüler eine Rückmeldung zu ihrer
506 Kapitel 25  Messen und Bewerten von Lernergebnissen

. Tabelle 25.4 Beispiel für ein Beurteilungsraster mit vier Bewertungsdimensionen


25
Dimension/ 1 Punkt 2 Punkte 3 Punkte 4 Punkte
Qualität

Rechtschreibung Mehr als 4 Rechtschreibfehler 3–4 Rechtschreibfehler 1–2 Rechtschreibfehler Keine Rechtschreibfehler

Ideen im Brief Der Brief scheint eine Ideen werden nicht sehr Ideen werden in ziemlich Ideen werden klar und orga-
Sammlung unzusammen- klar ausgedrückt. Es braucht klarer Art ausgedrückt, die nisiert ausgedrückt. Es fällt
hängender Sätze zu sein. Es mehr als einen Durchgang, Organisation hätte besser leicht zu erschließen, wozu
ist schwer zu erschließen, um sich den Zweck zu er- sein können. der Brief dient.
wozu der Brief dient. schließen.

Brieflänge Der Brief hat weniger als 5 Der Brief umfasst 5–7 Sätze. Der Brief umfasst 8–9 Sätze. Der Brief umfasst 10 oder
Sätze. mehr Sätze.

Briefumschlag Adressen sind unvollständig 1–2 Fehler in den Adressen. Komplette und akkurate Komplette, akkurate
und/oder nicht akkurat. Empfangs- und Absender- und richtig positionierte
adresse; Positionierung ist Empfangs- und Absender-
ein wenig außerhalb. adresse.

Rechtschreibung, zu den im Brief verarbeiteten inhaltlichen


Ideen, zur Brieflänge und zur Gestaltung des Umschlags. Eine nicht-kognitiven Lernergebnisse messen können: Verhal-
holistische Rückmeldung wäre ein Gesamtpunktwert „Brief tensbeobachtungen durch die Lehrperson, Selbstberichte
schreiben“ (vgl. rubistar.4teachers.org für weitere Beispiele; von Schülerinnen und Schülern, Selbstevaluation durch die
Keller, 2011; Slavin, 2014). Schülerinnen und Schüler sowie gegenseitige Einschätzun-
Auch bei der Erfassung von Lernergebnissen mit Beur- gen der Schülerinnen und Schüler (peer ratings).
teilungsrastern ist die Güte der Messung fundamental. Ob-
jektivitätssteigernd ist eine standardisierte Verfahrensdurch-
führung. Diese lässt sich erreichen durch eine Verständigung
auf feste Bewertungskriterien bzw. -dimensionen im Kollegi- 25.3 Lernen und Gelerntem Bedeutungen
um, Trainings zur korrekten und vergleichbaren Verwendung
verleihen: Bewerten
des Beurteilungsrasters (z. B. mit Hilfe einer „Referenzar-
beit“) sowie einer Einigung darüber, welche Punkte welcher
Note entsprechen (Benotungsmodell). Um die Validität ei- 7 Abschn. 25.2 hat gezeigt, wie Lehrpersonen mit unterschied-
nes Beurteilungsrasters zu erhöhen ist es wichtig, dass die lichen Messverfahren Lernergebnisse erheben können. In
Kompetenzen angemessen und sachlogisch begründet in Be- diesem Abschnitt wird nun beschrieben, wie Gemessenes
wertungsdimensionen und diese in direkt beobachtbare Indi- bewertet werden kann. Zensuren, Zeugnisse, Lernentwick-
katoren übersetzt werden. lungsgespräche, aber auch einfache Aussagen und Urteile von
Lehrpersonen („gut gemacht!“, „sehr gut!“), sind Ergebnis-
Im Fokus: Nicht-kognitive Lernergebnisse se von Bewertungsprozessen auf der Grundlage der beim
Messen gesammelten und zu einem Messwert verdichteten
Neben kognitiven Lernergebnissen (Erwerb von Wissen, Informationen (Jürgens & Lissmann, 2015; McMillan, 2014;
Verständnis etc.) soll Unterricht auch „nicht-kognitive“, ins- Sacher, 2014).
besondere motivational-affektive Lernergebnisse bewirken
(7 Kap. 11). Solche erwünschten Lernergebnisse äußern sich 1 Funktionen von Bewertungen und Schulnoten
beispielsweise in Einstellungen, Interessen, einem positiven Schulische Beurteilungen haben grundlegend zwei Funktio-
Selbstkonzept, Werten, Meinungen, moralischen Urteilen nen, die nicht selten miteinander in Konkurrenz stehen: Eine
oder auch in einem positiven Klassenklima (McMillan, pädagogische Funktion, die auf den Lernprozess, Lernerfolg
2014; siehe auch Krathwohl, Bloom & Masia, 1968). Sie und deren Optimierung gerichtet ist, sowie eine gesellschaft-
stehen in engem Zusammenhang mit kognitiven Lerner- liche Funktion, die mit der Zuordnung von Schülerinnen-
gebnissen (Frenzel, Götz & Pekrun, 2015): Schülerinnen und und Schülerleistungen zu bestimmten Leistungsniveaus zu
Schüler verarbeiten Informationen beispielsweise tiefer tun hat. Bewertungen und Noten als pädagogische Maßnah-
und elaborieren mehr, wenn sie selbstbestimmt handeln men dienen verschiedenen Zwecken:
und ihre Motivation damit von hoher Qualität ist (Seidel 1. Feedbackfunktion: Noten und Bewertungen dienen dazu,
& Shavelson, 2007). Für Lehrende ist es deshalb wichtig, Feedback zum aktuellen Stand und zu noch bestehenden
motivational-affektive Merkmale ihrer Schülerinnen und Diskrepanzen zum Lernziel zu geben. Diese Rückmelde-
Schüler einschätzen zu können. McMillan (2014) nennt funktion besteht sowohl für Schülerinnen und Schüler
hierfür vier Methoden, mit denen Lehrpersonen solche als auch für Lehrpersonen: Für die Lernenden ist die
Bewertungsrückmeldung wichtig zur Einschätzung ihrer
25.3  Lernen und Gelerntem Bedeutungen verleihen: Bewerten
507 25
bisherigen Lernbemühungen und für das weitere Lernen. noten diskutieren (Jürgens & Lissmann, 2015). Neben Zif-
Lehrenden geben Bewertungen und Noten auch Rück- fernzeugnissen existieren auch Zeugnisformen, die verbale
meldung zur Effektivität und Lernwirksamkeit des eige- Beurteilungen und Ziffernnoten kombinieren oder ganz ohne
nen Unterrichts (Hattie & Timperley, 2007). Ziffernnoten auskommen. Dazu zählen die Verbalbeurteilun-
2. Informationsfunktion: Über das Feedback an die Lernen- gen und die Lernentwicklungsgespräche im Grundschulbe-
den und Lehrenden hinaus ermöglichen Bewertungen reich (z. B. Bonanati, 2014). Daneben sind Kompetenzraster
und Noten verschiedenen Akteuren im Schulsystem eine und andere Verfahren zu nennen, bei denen die Orientierung
kompakte, wertende Information und den Vergleich von an inhaltlichen Kriterien sowie das Feedback zum Weiterler-
Schulleistungen anhand verschiedener Maßstäbe. Eltern, nen im Mittelpunkt stehen.
Entscheidungstragende im Schulwesen oder potenzielle
Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber können sich anhand
von Noten über Lernprozesse und Lernergebnisse infor-
mieren und diese als Grundlage für pädagogische Ent-
25.3.1 Benotungsmodelle
scheidungen (z. B. Schulwechsel, Annahme als Auszubil-
dende) heranziehen. Benotungsmodelle sind Regelsysteme, die Lernergebnissen
3. Belohnungsfunktion: Bewertungen und Noten wirken Bewertungen zuweisen. Diese Zuweisungen müssen eindeu-
sich auch auf die Motivation von Schülerinnen und Schü- tig sein, d. h. auf dieselben Leistungen müssen dieselben
lern aus. Gute Noten wirken oft motivierend und regen Noten vergeben werden. Sie geben an, inwieweit die inhalt-
dazu an, sich weiter intensiv mit einem Thema zu befas- lichen Anforderungen eines Tests oder einer Prüfung erfüllt
sen oder weitere Leistungserhebungen gut vorzubereiten. sind. Nach der Entscheidung über die Mindestanforderungen
Insbesondere schlechte Noten üben aber auch Druck aus erfolgt die Abstufung der restlichen Notenskala. Benotungs-
und sind dazu geeignet, Schülerinnen und Schüler zu modellen liegt die Idee zu Grunde, dass ein Messwert für sich
disziplinieren, indem sie ihnen deutlich machen, dass alleine genommen keine Bedeutung hat und nicht inhaltlich
die erbrachten Leistungen ein bestimmtes Niveau unter- interpretiert werden kann. Um aus Messwerten Aussagen in
schreiten. Bezug auf die zu messenden Eigenschaften ableiten zu kön-
nen, benötigt man einen Vergleichsmaßstab. Die Aussage,
Die gesellschaftliche Funktion von Noten und Bewertungen Clara habe im Diktat acht Fehler, ist also so lang bedeutungs-
wird häufig unter Stichworten wie Selektions-, Zuteilungs-, los, bis dieser Messwert auf eine Norm bezogen wird und
rechtliche oder Klassifizierungsfunktion diskutiert. Noten damit eine Aussage zur Einschätzung dieses Lernergebnis-
werden vergeben, um auf der Grundlage von Beurteilungen ses möglich wird. Dabei kommt es darauf an, welche von
und Zeugnissen den Zugang zu weiterführenden Bildungs- mehreren möglichen Perspektiven – Bezugsnormen – einge-
angeboten oder bestimmten beruflichen Möglichkeiten zu nommen wird (7 Kap. 24).
gewähren oder zu verweigern. Hierbei ist das Ziel nicht das
Fördern oder die Modifikation von individuellen Merkma-1 Bezugsnormen
len wie Kompetenzen, sondern die Selektion von Personen. Drei Arten von Bezugsnormen lassen sich unterscheiden: Die
Wichtig ist, dass es hier im Sinne Pawliks (1976) darum geht, kriteriale (sachliche), die soziale und die individuelle Bezugs-
die Passung einer Person zu ihrer Lernumwelt dadurch her- norm (Rheinberg, 2006). Bewertungen von Lernergebnissen
zustellen, dass die geeignete Lernumwelt ausgewählt wird informieren in Abhängigkeit der gewählten Bezugsnorm da-
(also z. B. eine Klasse wiederholt wird) und nicht dadurch, rüber, ob ein Messwert einer Schülerin oder eines Schülers ei-
dass die Lernumwelt angepasst wird (z. B. zusätzliche Förde- nem vorher bestimmten inhaltlichen Kriterium genügt (kri-
rung bei spezifischen Leistungsproblemen). teriale Bezugsnorm), wie der Messwert im Vergleich zu einer
Die beiden Hauptfunktionen verdeutlichen den hohen Bezugsgruppe verortet ist (soziale Bezugsnorm) oder wie sich
Stellenwert von Noten in einer leistungsorientierten Gesell- der Messwert im Vergleich zu früheren Messungen verän-
schaft. Schulische Beurteilung hat also häufig eine Doppel- dert hat (individuelle Bezugsnorm). Hätte die Lehrerin von
rolle zu erfüllen, die zu Konflikten führen kann. Clara aufgrund der inhaltlichen Anforderungen des Diktats
Bei der Beurteilung von Lernergebnissen haben in un- „höchstens sechs Fehler“ als Kriterium für eine ausreichen-
serem Schulsystem nach wie vor Zensuren die höchste Be- de Rechtschreibbeherrschung definiert, hätte Clara mit acht
deutung. Hierbei werden den Messwerten Bewertungen (z. B. Fehlern unter Anwendung der kriterialen Bezugsnorm kei-
„ausreichend“ oder „gut“) zugeordnet, die oft auch eine ne ausreichende Leistung erbracht. Wenn der Klassendurch-
Rangfolge zum Ausdruck bringen sollen (Sacher, 2014). Auch schnitt bei elf Fehlern läge, hätte sie unter Anwendung der
Zensuren müssen häufig mehrere Funktionen gleichzeitig sozialen Bezugsnorm eine überdurchschnittliche Leistung er-
erfüllen und eine Schwierigkeit beim Bewerten entsteht da- zielt. Hätte Clara schließlich im vorangehenden Diktat, das
durch, dass man Noten nicht unmittelbar ansieht, welcher ähnliche inhaltliche Anforderungen stellte, noch zwölf Feh-
Funktion sie jeweils dienen. Oft sind sie die Grundlage von ler gehabt, so hätte sie unter Anwendung der individuellen
Ziffernzeugnissen, die das schulische Beurteilungswesen do- Bezugsnorm einen Erfolg erzielt, da sie sich verbessert hat.
minieren – trotz umfangreicher Forschungen, die aus un- Die Wahl der Bezugsnorm hat unterschiedliche Konse-
terschiedlichen Perspektiven die Fragwürdigkeit von Ziffern- quenzen. Bei kriterialer Bezugsnorm wird dieselbe Leistung
508 Kapitel 25  Messen und Bewerten von Lernergebnissen

als besser oder schlechter bewertet, je nachdem wie streng das angepasst werden, indem beispielsweise das Intervall für die
25 inhaltliche Kriterium definiert ist. Wenn der geforderte Min- Note 1 verbreitert wird.
deststandard „sicheres Beherrschen des kleinen Einmaleins“
verlangt, dass Schülerinnen und Schülern dabei kein Fehler
unterläuft, werden Schüler mit drei falschen aus 15 Aufga- Mythos: Die 50 %-Regel
ben im Test nicht die Bewertung „sehr gut“ erhalten. Wird Oftmals kommt in der Praxis die „50 %-Regel“ zum Ein-
dagegen an der sozialen Bezugsnorm orientiert beurteilt und satz. Nach dieser Regel wird der Hälfte der maximal zu
ist die Klasse weit von der Erfüllung des Mindeststandards erreichenden Punkte die Note 4 zugewiesen (und der
entfernt, so kann es durchaus sein, dass die vergleichsweise verbleibende Punktebereich gleichabständig auf die
besten Schülerinnen und Schüler mit drei Fehlern im Test die Notenwerte 1 bis 4 verteilt). Dies erfolgt, obwohl „weder
Note „sehr gut“ erhalten. Die drei Bezugsnormen haben auch in irgendeinem wissenschaftlichen Lehrbuch noch in
motivationale Auswirkungen, die empirisch gut belegt sind irgendeiner Verwaltungsvorschrift dieser Wert genannt,
(Rheinberg, 2006; 7 Kap. 11). begründet oder gar empfohlen wird“ (Jürgens & Sacher,
2000, S. 26). Eine Bestehensgrenze von 50 % pauschal
2Bewerten anhand der kriterialen Bezugsnorm auszuweisen widerspricht einer kriteriumsorientierten
Beim kriteriumsorientierten Bewerten werden den inhaltli- Bewertungsstrategie (nur wenn das inhaltlich definierte
chen Ausprägungen, die vorab anhand von Erwägungen zum Bestehenskriterium „zufällig“ bei genau 50 % der er-
Lernstoff festgelegt und in Punktzahlen ausgedrückt wer- reichbaren Punktzahl liegt, sollte die Bestehensgrenze
den, Notenstufen zugeordnet. Die erste Herausforderung bei so definiert werden). Sie ist aber auch unter sozialer und
dieser Art des Bewertens ist es, inhaltlich genau zu defi- individueller Bezugsnorm wenig sinnvoll. Aus statistischer
nieren, was der Mindest- bzw. Maximalstandard ist. Es ist Sicht sind zudem die Wahrscheinlichkeiten, Antworten zu
festzulegen, welche Inhalte und Fähigkeiten als unerlässlich erraten zu beachten.
angesehen werden (z. B. wie viele Fehler im Diktat lassen auf
eine ausreichende Beherrschung der Rechtschreibung schlie-
ßen, die mit der Note 4 bewertet wird) und was maximal von
2Bewerten anhand der sozialen Bezugsnorm
Schülerinnen und Schülern erwartet werden kann (in einem
Das sozialnormorientierte Bewerten und Benoten orientiert
Diktat mit vielen unbekannten und Fremdwörtern wird das
sich in der Regel am Mittelwert einer Gruppe (z. B. der Klasse)
Kriterium für eine sehr gute Note nicht notwendigerweise bei
und hat zum Ziel, die Ergebnisse der Gruppenmitglieder un-
null Fehlern liegen). Danach werden die Antworten abgestuft,
tereinander vergleichbar zu machen. Alle Schülerinnen und
d. h. es erfolgt beispielsweise eine gleichabständige Verteilung
Schüler können auf dieser Basis in Bezug auf den Grup-
der Fehlerzahlen auf die Notenwerte (Sacher, 2014; 7 Mythos:
penmittelwert eingeordnet werden. Eine leider noch häufig
Schulnoten und die soziale Bezugsnorm).
vorzufindende, wenig hilfreiche und formell nicht zulässige
Ist beispielsweise das Verfassen eines Briefes zu bewerten
Praxis, Noten in einer Klasse an einer gegebenen Verteilung
und zu benoten, so könnte ein Beurteilungsraster mit den je-
(beispielsweise einer Normalverteilung) zu orientieren, ist im
weils vierstufigen (4 D maximale Ausprägung, 1 D minimale
folgenden Mythos beschrieben.
Ausprägung) Bewertungsdimensionen „Formale Kriterien“
und „Ideen im Brief“ maximal 8 Punkte messen. Begrün-
det die Lehrperson 4 Punkte inhaltlich als Unterschreitung
der Mindestanforderung, so würden 4 Punkten die Note 5, Mythos: Schulnoten und die soziale Bezugsnorm
5 Punkten die Note 4, 6 Punkten die Note 3, 7 Punkten Aus der eigenen Schulerfahrung kennen viele folgende
die Note 2 und 8 Punkten die Note 1 zugewiesen. So ein- Bewertungspraxis von Lehrkräften und Schulen: Dem
fach und plausibel dieses Vorgehen erscheint, so schwierig ist Klassenmittelwert wird ein mittlerer Notenwert (z. B.
es, diese Mindestanforderung für jedes Verfahren inhaltlich- Note 3) zugeordnet, wodurch viele in der Klasse mittlere
lernzielbezogen zu definieren. Noten erhalten, während wenige sehr gute oder sehr
Ein weiteres Problem ist, dass bei Prüfungsaufgaben und schlechte Noten bekommen. Die Leistungen werden
Tests, die Lehrkräfte selbst erstellen und nicht vorher er- also anhand der sozialen Bezugsnorm benotet. Dies ist
proben können, gelegentlich die Bewertungsskala geändert erstaunlich, da es weder eine wissenschaftlich plausible,
werden muss. Das bedeutet, dass eine situationale Korrek- noch eine rechtliche Grundlage für eine solche Praxis gibt.
tur des rein kriterialen „das sollten meine Schülerinnen und Orientiert man sich an Beschlüssen und Verordnungen
Schüler können“ sinnvoll sein kann. Beispielsweise stellt sich der Kultusbehörden zu diesem Thema, so ist eindeutig:
heraus, dass kein Schüler die Kriterien erfüllt, um die Note Die Notenvergabe muss an der kriterialen Norm orientiert
„sehr gut“ zu erreichen. Die Lehrkraft findet beim Korrigie- erfolgen. Diesen Anspruch machen auch die Wortattribute
ren heraus, dass der Test insgesamt zu schwer war (z. B. dass der Noten deutlich, die in Deutschland gelten: Die
sie noch unbekannte Wörter in eine Englischprüfung ein- Note 1 D „sehr gut“ soll z. B. erteilt werden, wenn die
bezogen hat oder die missverständliche Formulierung einer Leistung den Anforderungen im besonderen Maße
Frage zu systematischen Verzerrungen führt). Dann können entspricht, 4 D „ausreichend“ soll erteilt werden, wenn
kriterial gewonnene Noten anhand des sozialen Kontextes
25.3  Lernen und Gelerntem Bedeutungen verleihen: Bewerten
509 25
Für Selektionszwecke ist eine ausschließliche Bewertung
die Leistung zwar Mängel aufweist, aber im Ganzen den nach der individuellen Bezugsnorm wenig adäquat. Vieles
Anforderungen noch entspricht. Gemessen wird also nicht spricht jedoch dafür, von solchen Möglichkeiten für ande-
anhand des Leistungsniveaus in der Klasse (dann würden re als ausschließlich summative Bewertungszwecke Gebrauch
Verbalnoten wie 3 D „durchschnittlich“ erteilt), sondern zu machen: Schülerinnen und Schüler können von der Kom-
anhand der inhaltlichen Anforderungen (Kriterien). Aus bination aus kriterialer und individueller Bezugsnorm so-
pädagogischer Sicht (z. B. aus motivationalen Gründen) wohl in motivationaler Hinsicht als auch in Bezug auf die
ist es manchmal sinnvoll, eine Korrektur auf der Basis Steuerung ihres Lernverhaltens profitieren. Wichtig ist es als
der Durchschnittsnoten hin zu einer milderen Benotung Lehrkraft jeweils zu wissen, welche Funktionen eine Bewer-
vorzunehmen. Eine solche (Teil-)Benotung auf der tung erfüllen soll, und diese mit Bedacht einzusetzen.
Basis der sozialen Bezugsnorm sieht eine professionelle In der schulischen Praxis besteht häufig die Anforderung,
pädagogisch-psychologische Notenvergabepraxis im Ideal gleichzeitig unterschiedlichen Bezugsnormen zu genügen.
jedoch nicht vor und ist eher eine korrigierende Reaktion Aus diagnostischer Sicht ist die Orientierung der Noten-
auf inadäquat (z. B. zu schwierig) gestellte Aufgaben. gebung an inhaltlichen Kriterien am besten dazu geeignet,
Rückmeldungen gerecht und gleichzeitig lernwirksam zu ge-
stalten. Lernziele als kriteriale Orientierungen gut und ab-
gestuft zu definieren ist eine komplexe Aufgabe, die eng mit
Es liegt in der Natur der sozialnormorientierten Beno- der Unterrichtsplanung zusammenhängt (7 Kap. 18). Trans-
tung, dass damit die Feedback- und Motivationsfunktion nur parent gemachte Ziele, ein wichtiger Aspekt der Unterrichts-
in seltenen Fällen erfüllt werden kann (Rheinberg, 2006; Sa- qualität, erleichtern es Schülerinnen und Schülern, sich auf
cher, 2014). Ein sozialnormorientiertes Bewertungsmodell Lernzielkontrollen vorzubereiten.
bezieht sich ausschließlich auf Messwertunterschiede inner-
halb einer Bezugsgruppe, oft unter Annahme einer Normal-
verteilung der Messwerte. Bei der Beurteilung einer indivi-
duellen Leistung spielen also nicht nur die Ergebnisse des 25.3.2 Beurteilungsformen I: Zensuren
betreffenden Lernenden eine Rolle, sondern auch die Leis- und Ziffernzeugnisse
tungen von Mitschülerinnen und Mitschülern in der Klasse,
wie z. B. Ingenkamp (1969) zeigte (Studie). Diese Art der Be- Messergebnisse, die aus dem Prozess des Messens von Lern-
wertung ignoriert inhaltliche Gegebenheiten, d. h. inwieweit ergebnissen (vgl. 7 Abschn. 25.2) entstehen, münden nicht
und wann Lernziele erreicht sind. unmittelbar in Noten: Eine Note ist immer eine Einordnung
Dennoch gibt es eine sinnvolle Anwendung der sozialen des Messwertes. So ist z. B. eine Diktatnote eine Einordnung
Bezugsnorm. Aus dem gelegentlichen Einsatz standardisier- der Fehleranzahl auf der Notenskala und die Note „sehr gut“
ter sozialnormorientierter Schulleistungstests können Lehr- wird von einer Lehrperson im Fach Kunst dann vergeben,
kräfte wichtige Information beziehen (7 Abschn. 25.2.2). wenn sie die Kompetenzen, die sich im hergestellten Kunst-
objekt zeigen und sie anhand von Kriterien eingeschätzt hat,
2Bewerten anhand der individuellen Bezugsnorm als ausgezeichnet beurteilt.
Um aus Messwerten Bewertungen und Noten zu gewinnen, Auf der sechsstufigen Notenskala (oder der 15-stufigen
ist hauptsächlich die kriteriale Bezugsnorm anzulegen, die Punkteskala in der gymnasialen Oberstufe) werden also
so oft wie möglich um individuelle Beurteilungsperspekti- Messergebnisse verortet, es werden Rangplätze vergeben.
ven ergänzt werden sollte. In der Praxis werden natürlich Grundsätzlich bemühen sich Lehrkräfte um ein qualitätvolles
auch Mischformen verwendet, die sowohl die Selektions-, als und unverzerrtes Notenurteil. Die Qualität ihrer Zensuren-
auch die Feedbackfunktion erfüllen sollen, wobei letztere do- gebung ist jedoch abhängig von ihren diagnostischen Kom-
minieren sollte. Von großer praktischer Bedeutung ist die petenzen – d. h. es bestehen Unterschiede zwischen Lehr-
wiederholte Messung derselben Leistung mit Bewertung und kräften z. B. in der Akkuratheit der vergebenen Urteile in
Rückmeldung anhand des gleichen inhaltlichen Kriteriums. Relation zu den tatsächlichen Ausprägungen der zu beurtei-
Im Deutschunterricht ist es z. B. mancherorts üblich, dass vor lenden Schülerleistungen (7 Kap. 20; Südkamp & Praetorius,
einem zeugnisrelevanten Aufsatz ein Probeaufsatz mit ana- 2017). Zudem gilt: Bei der Vergabe von Ziffernnoten wird
loger kriterialer Bewertung geschrieben wird. Zusätzlich zur immer Information reduziert, Wissenswertes geht dabei fast
kriterial orientierten Bewertung der zweiten Leistung erhal- zwangsläufig verloren. Der Lernkontext, die Lernsituation,
ten die Schülerinnen und Schüler mit dem zweiten Aufsatz die Prüfungssituation und das Messverfahren sind sehr be-
eine Rückmeldung nach der individuellen Bezugsnorm. Je- deutsam für die Qualität einer Messung und damit für die
de Bewertung nach kriterialer Bezugsnorm kann mit einer Qualität dessen, was in der Note als Lernergebnis eines Schü-
individuellen Rückmeldung ergänzt werden, die den persön- lers oder einer Schülerin beurteilt wird. Für Nutzerinnen und
lichen Fortschritt würdigt (beispielsweise in einer Bemerkung Nutzer der Noteninformation (z. B. Eltern, andere Lehrkräf-
unter einer Klassenarbeit, die eine nur knapp ausreichende te, Ausbilderinnen und Ausbilder, Universitäten) sind diese
Leistung anhand eines individuellen Bezugsmaßstabs relati- Aspekte nicht mehr nachvollziehbar – sie sind darauf ange-
viert). wiesen, dass die Note möglichst adäquat einen tatsächlichen
510 Kapitel 25  Messen und Bewerten von Lernergebnissen

Lernstand widerspiegelt. Noten beinhalten Information, die len im Test, es gab also einen engen Zusammenhang zwischen
25 auf ein gut handhabbares Format verdichtet wurde. der Zensur und dem Ergebnis im schulexternen Test. Über die
Dieser klare Vorteil der Praktikabilität und Kommuni- Klassen hinweg gehörten aber zu denselben Noten sehr unter-
zierbarkeit von Noten, der ihre große Akzeptanz begründet, schiedliche Mittelwerte im Test. In einigen Klassen entsprach
ist aber durch eine Reihe von Nachteilen erkauft: Noten die Note 2 einem Mittelwert von ca. 50 Punkten, in anderen
sind wegen der zu ihnen führenden Messverfahren bezüg- Klassen hatten die Schülerinnen und Schüler mit der Note 2
lich ihrer Messgüte (Objektivität, Reliabilität, Validität) zu Mittelwerte um 32 Punkte. In einigen Klassen war es offenbar
hinterfragen. In verschiedenen Studien konnte z. B. gezeigt ungleich schwieriger, eine gute Note zu erzielen als in ande-
werden, dass in unterschiedlichen Fächern unterschiedlich ren Klassen. Lehrkräfte sind nach diesen Befunden gut darin,
streng bewertet und zensiert wird (Ingenkamp, 1971). Darü- die Rangreihe der Leistungen innerhalb von Klassen zu dia-
ber hinaus kommt es zu lerngruppenspezifischen Benachtei- gnostizieren, nicht aber das Leistungsniveau der Klasse. „Dieses
ligungen. Beispielsweise erhalten Mädchen im Durchschnitt Ergebnis bedeutet, dass es weniger vom tatsächlichen Leis-
bessere Noten als Jungen (Hannover & Kessels, 2011) und tungsniveau, sondern stärker von der zufälligen Zugehörigkeit
Kinder mit Migrationshintergrund erhalten schlechtere No- zu einer bestimmten Schulklasse abhängig ist, welche Zensur
ten als Schülerinnen und Schülern ohne Migrationshinter- ein Schüler erreicht“ (Ingenkamp & Lissmann, 2008, S. 147).
grund – auch bei identischen Kompetenzen, die z. B. durch
standardisierte Schulleistungstests kontrolliert wurden (Ar- All diesen Einwänden zum Trotz wird von Schulnoten
nold, Bos, Richert & Stubbe, 2007; McKown & Weinstein, wohl auf absehbare Zeit nicht abgerückt. Auch Schülerinnen
2002). Urteilsverzerrungen liegen in der Natur der sozia- und Schüler, Eltern und Lehrkräfte möchten Studien zufolge
len Informationsverarbeitung. So wirken sich Erwartungen mehrheitlich nicht auf Noten verzichten (z. B. Beutel, Lütgert,
von Lehrkräften und Stereotype auf die Notengebung aus Tillmann & Vollstädt, 2000; Vollstädt, 2013). Auch wenn die
(Jussim & Harber, 2005; 7 Kap. 23), so dass sich beispiels- Zensurengebung aus pädagogischer Sicht und aus Gerechtig-
weise Vorurteile über die unterschiedliche Leistungsfähigkeit keitsgründen oft fragwürdig ist, besteht die Notwendigkeit,
von Jungen und Mädchen in der Beurteilung niederschla- diese möglichst professionell zu praktizieren – also Fragen-
gen können. Noten enthalten also häufig Informationen, die formate gut zu durchdenken und vorzubereiten, sich Bewer-
mit der eigentlichen Leistung allenfalls indirekt zu tun haben tungssysteme und Kriterien bewusst zu machen, Bezugsnor-
und damit ihre Validität einschränken (Jürgens & Lissmann, men und Größen sinnvoll zu verwenden, vorrangig inhaltli-
2015; Jürgens & Sacher, 2000; Ziegenspeck, 1978). Zudem che und nicht formale Entscheidungen über Anforderungen
informiert die Rückmeldung in Notenform oft nicht spe- zu treffen, ein angemessenes Benotungsmodell zu verwenden
zifisch genug über individuelle Stärken und Schwächen in und Beurteilungsfehler zu minimieren (7 Kap. 24).
unterschiedlichen Bereichen. Ansatzpunkte für passgenaue
Förderung lassen sich so kaum ableiten. Da auch oft sachwid-
rige Bezugsnormen angewendet werden (insbesondere die
25.3.3 Beurteilungsformen II: Wort-und
soziale statt der kriterialen Bezugsnorm), gaukeln Noten eine
Scheinobjektivität vor: Entgegen der scheinbaren Präzision, Berichtszeugnisse; Kompetenzraster
die mit Notendurchschnitten mit mehreren Nachkommastel-
len impliziert wird, ist das Zustandekommen von Noten meist Seit langer Zeit wird – v. a. in Grundschulen – immer wieder
weniger messgenau und nachvollziehbar: „Noten geben sich nach Alternativen zur Ziffernbenotung gesucht (z. B. Win-
als Ergebnisse exakter Messvorgänge, während sie in Wahr- ter, 2004). Reformpädagogische Schulen sind hierbei häufig
heit Werturteile darstellen, die nur Aussagekraft haben, wenn Vorreiter und viele der im Folgenden vorgestellten Varianten
man den normativen Standpunkt des Wertenden kennt, und stammen ursprünglich aus diesem Kontext. Selbstverständ-
Gültigkeit, wenn man diesen teilt“ (Sacher, 2009, S. 86). lich hat auch das Regelschulsystem die Entwicklung von an-
wendungsbezogenem Wissen, Kompetenzen, Problemlösefä-
Studie: Zensuren und Leistungsniveau higkeiten in bestimmten Domänen und adäquatem Handeln
Bereits Ingenkamp (1969) konnte zeigen, dass eine Note, die für in realen Situationen zum Ziel. Daher liegt für alle Schularten
eine Leistung erteilt wird, nicht nur von deren Qualität abhängt, die Frage nahe, welche Erhebungen und Beurteilungen diese
sondern auch von der Klasse, als deren Mitglied man beur- Lernergebnisse angemessen erfassen.
teilt wird, sowie von der Lehrkraft, die die Benotung vornimmt. Eine Variante der schriftlichen Beurteilung von Leistun-
In der sechsten Jahrgangsstufe der Grundschule wurden 37 gen, die über das Zuordnen von Ziffernnoten hinaus geht und
Schulklassen nach den gleichen Lehrplänen unterrichtet und sie teilweise ersetzt, ist das Verfassen von Berichtszeugnis-
daraufhin in Deutsch, Mathematik und Englisch mit den glei- sen (Wortzeugnissen, Lernberichte). Berichtszeugnisse nut-
chen curricular validen und standardisierten Tests getestet, de- zen bestimmte wertende Begriffe und Umschreibungen, die
ren Messwerte dann von den jeweiligen Lehrkräften benotet Lernergebnisse dokumentieren. Sie fassen in unterschiedli-
wurden. Für jede Klasse wurde berechnet, welche Mittelwerte chen Kategorien – bei Döpp, Groeben und Thurn (2002)
die Schülerinnen und Schüler mit den Noten 2, 3 und 4 hat- beispielsweise soziale Prozesse, Inhalte und Lernziele der Er-
ten. Mit einer Ausnahme entsprach innerhalb aller Klassen die fahrungsbereiche sowie Lernentwicklung – den Lernstand
Rangreihe bei der Notenvergabe der Reihung der Punktezah- und die Fortschritte des Schülers oder der Schülerin zusam-
25.3  Lernen und Gelerntem Bedeutungen verleihen: Bewerten
511 25
men. Lehrkräfte beurteilen die einzelnen Aspekte und ziehen

Gesicherte Kenntnisse
aus den abgegebenen Beurteilungen Schlussfolgerungen für

Vertiefte Kenntnisse
Förder- und Unterstützungsmaßnahmen. Rückmeldungen

Basiskenntnisse
über die Lern- und Leistungsentwicklung können dadurch
sehr detailliert gegeben werden. Auch Kontextinformation zu

Anfänge
den Bedingungen, unter denen Leistungen erzielt wurden,
und Tendenzen in der Entwicklung werden kommuniziert. Richtig schreiben
Vor allem in der Schuleingangsphase erhalten Schülerinnen Geläufige Wörter richtig schreiben
und Schüler in den Ländern Deutschlands jeweils am Ende
Regeln der Rechtschreibung kennen
des Schuljahres Berichtszeugnisse. In Bayern findet ab Mitte
der zweiten Klassenstufe eine Kombination aus Ziffern- und Regeln der Zeichensetzung kennen
Berichtszeugnissen Verwendung. Rechtschreibbesonderheiten kennen
Die vorgestellten Bewertungsformate sind auch Beispiele Fehler erkennen und verbessern
dafür, wie Beurteilen anhand der individuellen Bezugsnorm Mit dem Wörterbuch arbeiten
funktionieren kann – sie sind dazu geeignet, auch individuelle
Lernfortschritte zu dokumentieren, da über die Ziffernnote . Abb. 25.2 Ein Ausschnitt aus IzEL (© nach Montessori Landesverband
hinaus Raum für die Einordnung unter einer individuellen Bayern e. V., 2010)
Betrachtungsperspektive ist.
Seit einiger Zeit können Berichtszeugnisse in bayerischen
Grund- und z. T. auch in Mittelschulen durch Lernentwick- von Ziffernzeugnissen unterscheiden (z. B. Lissmann, 2008).
lungsgespräche ersetzt werden, in denen Lehrkräfte den Kin- Eine Reihe neuerer Studien bescheinigt jedoch Verbalbeur-
dern (unter Anwesenheit der Eltern) in Relation zu deren teilungen in Form differenzierter Lernberichte, dass sie eine
Selbsteinschätzung Rückmeldung zum Lernerfolg in ver- qualitätvolle Form der Rückmeldung von Lernergebnissen
schiedenen Dimensionen führen (Lern- und Arbeits-, sowie sind (Bos, Beutel, Berkemeyer & Schenk, 2010; Döpp et al.,
Sozialverhalten, Lernergebnisse etc.); das Lernentwicklungs- 2002; Weiland, 1994).
gespräch endet häufig mit der Vereinbarung individueller Angesichts der Frage, wie anwendbares Wissen und do-
Ziele (Bonanati, 2014). mänenspezifische Problemlösefähigkeiten gefördert werden
Ein weiteres Beispiel für eine alternative Zeugnisform ist können, werden nicht nur Unterrichtsinhalte und -methoden
IzEL, die „Informationen zum Entwicklungs- und Lernpro- überdacht, sondern auch Beurteilungsformen weiterentwi-
zess“(. Abb. 25.2). IzEL funktioniert nach folgendem Prin- ckelt. Hier spielen Kompetenzraster eine wichtige Rolle, die
zip: „Die Leistung jedes einzelnen Kindes wird nicht an eine Form der in 7 Abschn. 25.2.2 beschriebenen Beurtei-
anderen Kindern oder einer festgesetzten Klassennorm ge- lungsraster sind. Dieser Ansatz ist bislang noch wenig empi-
messen, sondern in erster Linie am Kind selbst. Bewertet risch beforscht, stellt aber einen vielversprechenden Versuch
werden die persönliche Anstrengung und der individuelle dar, kompetenzorientiert zu beurteilen (7 Kap. 18). Kompe-
Lernfortschritt. Leistung ist immer Teil eines Prozesses und tenzraster sind kriterial orientiert und können statt einer
nicht ausschließlich ergebnisorientiert“ (Montessori Landes- Benotung eingesetzt werden oder in Ergänzung dazu.
verband Bayern e. V., 2010). IzEL enthält in den relevanten Kompetenzraster dienen dazu, schulische Inhalte und die
Fächern verschiedene Kategorien und gibt die Möglichkeit, dazugehörigen Anforderungen zu strukturieren, zu systema-
Abstufungen in der Beherrschung anzugeben. So wird zu vor- tisieren und abzustufen. Auf dieser Basis können Lernergeb-
ab festgelegten Zeitpunkten der Lernstand dokumentiert. In nisse nicht nur als Kompetenzen erfasst werden; das Instru-
verschiedenen Farben wird der Lernstand über die Schul- ment kann zudem zur ständigen Rückmeldung an Schülerin-
jahre eingetragen. Jede Schülerin bzw. jeder Schüler erhält nen und Schüler sowie ihrer Lehrkräfte dienen. Kompetenz-
so eine kriteriumsbezogene und eine individuelle Rückmel- raster enthalten Formulierungen, die den Entwicklungshori-
dung über die eigenen Fortschritte. Bei solchen Beurteilungs- zont anhand von „Ich-kann“-Aussagen oder „Schülerinnen-
und Zeugnisformen steht die Einschätzung von Schülerin- und-Schüler-können“-Aussagen abstecken. So bekommen
nen und Schülern in Bezug auf spezifische Lerninhalte im Lernende ein Bild dessen, was man können könnte und soll-
Vordergrund. Sie gleichen in ihrer Struktur den im folgen- te (7 Kap. 18). Sie können ihren aktuellen Lernstand ablesen
den Abschnitt vorgestellten Kompetenzrastern, haben aber und erkennen, was nächste Schritte sind, die sich wiederum
als Zeugnis neben dem formativen Aspekt die Funktion, zu in Form von Zielen beschreiben lassen. Andererseits sind
einem bestimmten Zeitpunkt summativen Aufschluss über Kompetenzraster klar an Lehrplänen und Bildungsstandards
den Lernstand und die verbleibende Distanz zu bestehenden angelehnt – wodurch gut zu erkennen ist, wie der Lernstand
Lernzielen zu geben. mit Blick auf bestimmte Lernziele ist. . Abb. 25.3 stellt ein
Gleichwohl muss auch bei Berichtszeugnissen gefragt Beispiel für ein Kompetenzraster im Fach Deutsch dar.
werden, wie gut ihre diagnostische Qualität im Sinne der Ein Beispiel für Kompetenzabstufungen und wie sie for-
Objektivität, Reliabilität und Validität der darin getroffenen muliert sein können geben auch die Kompetenzstufenbe-
Wertungen ist. Für frühe Formen von Berichtszeugnissen schreibungen bei PISA, die über ein iterierendes empirisch-
wurde häufig argumentiert, dass sie sich in ihrer Güte nicht theoriebasiertes Verfahren gewonnen werden (7 Im Fokus).
DEUTSCH
A1 A2 B1 B2 C1
Ich kann verstehen, um was es geht, Ich kann einfachen Alltagsgesprä- Ich kann in längeren Beiträgen die Ich kann anspruchsvolle mündliche Ich kann längeren und kom-
wenn mir jemand langsam, deutlich chen folgen und Durchsagen oder Hauptaussagen erkennen und Zu- Beiträge verstehen und auch kom- plexen Redebeiträgen folgen,
Hören

und in einfachen, kurzen Sätzen Mitteilungen verstehen, wenn man sammenhänge verstehen, wenn ei- plexeren Argumentationen folgen, auch wenn diese nicht klar
etwas mitteilt. klar und deutlich in Standardspra- ne einfache Sprache gesprochen wenn mir das Thema einigermaßen strukturiert sind und wenn
VERSTEHEN

che spricht. wird und es um vertraute Dinge vertraut ist und Standardsprache Zusammenhänge nicht expli-
geht. verwendet wird. zit ausgedrückt sind.
Ich kann vertraute Wörter und ein- Ich kann einfachere Texte, in denen Ich kann die wichtigsten Informati- Ich kann unterschiedliche Arten von Ich kann längere, inhaltlich und
fache Sätze verstehen, wenn ich sie es um Alltagsthemen geht, verste- onen aus Texten entnehmen, wenn Texten verstehen, auch wenn ich ab sprachlich anspruchsvoll gestal-
Lesen

bewusst und mehrmals lese. hen und die wichtigsten Dinge her- sie klar gegliedert sind und ich und zu ein Hilfsmittel brauche. Und tete Texte sowohl in ihren Ein-
ausschälen. schon etwas über das Thema weiß. ich kann die Hauptbotschaften zelheiten als auch in ihren sach-
„zwischen den Zeilen“ erkennen. lichen und emotionalen Zu-
sammenhängen verstehen.

. Abb. 25.3 Beispiel-Kompetenzraster für das Fach Deutsch (© Institut Beatenberg, 2018)
Ich kann mich auf einfache Art ver- Ich kann mich an Alltagsgesprächen Ich kann mich in den meisten Situa- Ich kann mich aktiv an längeren Ge- Ich kann mich in Gesprächen
ständigen, wenn mir jemand dabei beteiligen, wenn es um bekannte tionen ohne Vorbereitung an Ge- sprächen über eine Vielzahl von fließend und kompetent aus-
Gespräche

hilft. Themen geht und ich eine einfache sprächen über vertraute Themen Themen beteiligen. Ich kann das, drücken. Dabei kann ich eine
Sprache verwenden kann. aus dem Alltag beteiligen. was andere sagen, verstehen und differenzierte Argumentation
einordnen und ich kann meine ei- aufbauen. Sprachliche Mittel
genen Ansichten plausibel begrün- wie Fragen oder Pausen kann
SPRECHEN

den. wirksam und flexibel einset-


zen.
Kapitel 25  Messen und Bewerten von Lernergebnissen

Ich kann mich in konkreten und ver- Ich kann in einer einfachen Sprache Ich kann mich zu vertrauten The- Ich kann mich mit unterschiedlichen Ich kann komplexe Sachverhal-
Vortragen

trauten Situationen mit einfachen vertraute Themen und persönliche men in einfachen Sätzen fließend, Themen vertraut machen und sie te in differenzierter Weise zur
Wendungen verständlich machen. Interessensgebiete vorstellen. klar und verständlich äußern. Dabei differenziert darstellen. Dabei kann Darstellung bringen. Dabei
kann ich frei sprechen und die ge- ich mich in den sprachlichen Struk- kann ich besondere Akzente
bräuchlichen sprachlichen Formen turen weitgehend korrekt bewegen setzen und mich durch eine
korrekt verwenden. und mich selbst verbessern. elaborierte Sprachanwendung
auszeichnen.
Ich kann kurze, einfache Angaben Ich kann mich kurz und in einfacher Ich kann Themen von allgemeiner Ich kann mit einem umfangreichen Ich kann mich zu komplexen
SCHREIBEN

zur Person und zu ganz alltäglichen Sprache zu vertrauten Themen und Bedeutung sprachlich strukturieren, Wortschatz und in verschiedenen Themen STARK ausdrücken –
STARK

und vertrauten Dingen schreiben. persönlichen Interessensgebieten sie in einen logisch aufgebauten sprachlichen Varianten anspruchs- in einer elaborierten Sprache,
schriftlich ausdrücken. STARKen Text fassen und Haupt- volle Themen STARK beschreiben. klar, stilsicher und gut struktu-
punkte hervorheben. Unterschiedliche Standpunkte kann riert. Dabei kann ich auch den
ich dabei darlegen. Adressatenbezug herstellen.
Ich kann Sätze richtig abschließen Ich kenne die elementaren Regeln Ich kenne die gebräuchlichsten Re- Ich kann die Grundregeln der Ich kann die gebräuchlichsten
TUREN VERSTEHEN

und beginnen. Ich kann in meinem der Trennung und der Groß- geln der Zeichensetzung und der Rechtschreibung mit Beispielen er- Regeln der Rechtschreibung
UND ANWENDEN
SPRACHSTRUK-

Wortschatz Dehnungen, Schärfun- und Kleinschreibung und ich kann Rechtschreibung und ich kann sie klären und ich kann sie mit meinem und der Grammatik differen-
gen und Umlaute erkennen und ich sie richtig anwenden. Die wichtig- in meinen Texten anwenden. Die sprachlichen Ausdruck in Überein- ziert erklären und sie in allen
weiß, wie sie geschrieben werden. sten Wortarten sind mir deshalb Wortarten und ihre Anwendung stimmung bringen. Die wichtigsten meinen Texten sicher und
vertraut. (z. B. Steigerung, Fälle, Zeitformen) Elemente der Satzlehre sind mir ge- korrekt anwenden. Ich kann
sind mir vertraut. läufig. die wichtigsten sprachlichen
Stilformen mit Beispielen
512

benennen.

25
25.3  Lernen und Gelerntem Bedeutungen verleihen: Bewerten
513 25
Aufgrund des Aufwands stellen sie zwar kein Vorbild für
alltägliche schulische Beurteilungen dar, machen aber den- Aufgaben scheitern. Die Fähigkeit von Schülerinnen und
noch die Beschreibung von Anforderungen auf der Ebene von Schülern werden dadurch beschrieben, welche Aufgaben
Kompetenzen deutlich. sie mit hoher Wahrscheinlichkeit lösen (und welche nicht).
Durch die Beschreibung der besonderen Anforderungen
Im Fokus: Kompetenzstufen am Beispiel PISA dieser Aufgaben werden bei PISA Kompetenzstufen
gebildet. Jede Kompetenzstufe wird durch eine inhaltliche
Eine Form der Beschreibung von Kompetenzen, die ohne Beschreibung der Anforderungen charakterisiert, die
Noten oder Wortgutachten auskommt, ist die Beschreibung bei den Aufgaben (der entsprechenden Schwierigkeit)
von erreichten Lernergebnissen in Form von Kompetenzstu- bewältigt werden müssen (. Abb. 25.4). Formal sind
fen. Kompetenzstufen können als heuristisches Hilfsmittel die Kompetenzstufen so definiert, dass die Aufgaben,
verstanden werden, die die abstrakte Skala „zum Sprechen die einer bestimmten Stufe zugeordnet sind, mit einer
bringen“ können. Die inhaltliche Definition der bei PISA un- Wahrscheinlichkeit von 62 % von den Jugendlichen, deren
tersuchten Kompetenzen ist in den Rahmenkonzeptionen Kompetenzniveau auf der entsprechenden Stufe liegt, gelöst
zur mathematischen, naturwissenschaftlichen und Lese- werden. Aufgaben, die auf einer höheren Kompetenzstufe
kompetenz festgelegt. Aus dieser theoretischen Perspektive liegen, werden mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit
werden Abstufungen der jeweiligen Kompetenz inhaltlich richtig gelöst (Drechsel & Prenzel, 2008).
beschrieben und auf die Aufgaben und ihre Schwierig-
keitskennwerte bezogen. So werden die Anforderungen
beschrieben, die jede einzelne Aufgabe stellt. Das in PISA
Ein entscheidender Vorteil der (ergänzenden) Verwen-
eingesetzte probabilistische Testmodell ermöglicht es,
dung von Kompetenzrastern ist, dass mit ihrer Hilfe die
dass für einen Kompetenzbereich die Personenfähigkeiten
pädagogische und die gesellschaftliche Funktion von Leis-
und Aufgabenschwierigkeiten auf der gleichen Skala ver-
tungsbeurteilungen getrennt erfüllt werden kann. Im Kompe-
ortet werden können. Fünfzehnjährige eines bestimmten
tenzraster kann die individuelle Lernentwicklung durch den
Ausschnitts auf der Skala zeichnen sich dadurch aus, dass
Lernenden ebenso wie durch andere nachvollzogen werden
sie Aufgaben einer bestimmten Schwierigkeit mit hoher
– der bereits absolvierte Lernweg wird dokumentiert und die
Wahrscheinlichkeit lösen können, aber an noch schwereren
nachfolgenden Lernziele werden fortgeschrieben. Dies sorgt
für Transparenz über die weiteren Schritte im Lernprozess.

Kompetenz- Wozu die Schülerinnen und Schüler auf der jeweiligen Kompetenzstufe im Allgemeinen
stufe in der Lage sind

VI Jugendliche auf dieser Stufe können Schlussfolgerungen, Vergleiche und Gegenüberstellungen detailgenau
und präzise anstellen. Dabei entwickeln sie ein volles und detailliertes Verständnis eines oder mehrerer Tex-
te und verbinden dabei unter Umständen gedanklich Informationen aus mehreren Texten miteinander. Hier-
bei kann auch die Auseinandersetzung mit ungewohnten Ideen gefordert sein, genauso wie der kompetente
Umgang mit konkurrierenden Informationen und abstrakten Interpretationskategorien sowie hohe Präzision im
Umgang mit zum Teil unauffälligen Textdetails.

V Jugendliche auf dieser Stufe können sowohl mehrere tief eingebettete Informationen finden, ordnen und her-
ausfinden, welche davon jeweils relevant sind, als auch ausgehend von Fachwissen eine kritische Beurteilung
oder Hypothese anstellen. Die Aufgaben dieser Stufe setzen in der Regel ein volles und detailliertes Verständ-
nis von Texten voraus, deren Inhalt oder Form ungewohnt ist. Zudem muss mit Konzepten umgegangen wer-
den können, die im Gegensatz zum Erwarteten stehen.
... ...

Ia Aufgaben dieser Kompetenzstufe erfordern vom Leser/von der Leserin, in einem Text zu einem vertrauten
Thema eine oder mehrere unabhängige, explizit ausgedrückte Informationen zu lokalisieren, das Hauptthema
oder die Absicht des Autors zu erkennen oder einen einfachen Zusammenhang zwischen den im Text enthal-
tenen Informationen und allgemeinem Alltagswissen herzustellen. Die erforderlichen Informationen sind in der
Regel leicht sichtbar, und es sind nur wenige beziehungsweise keine konkurrierenden Informationen vorhan-
den. Der Leser wird explizit auf die entscheidenden Elemente in der Aufgabe und im Text hingewiesen.

Ib Jugendliche auf dieser Stufe können in einem kurzen, syntaktisch einfachen Text aus einem gewohnten Kon-
text, dessen Form vertraut ist (z.B. in einer einfachen Liste oder Erzählung), eine einzige, explizit ausgedrückte
Information lokalisieren, die leicht sichtbar ist. Der Text enthält in der Regel Hilfestellungen für den Leser, wie
Wiederholungen, Bilder oder bekannte Symbole. Es gibt kaum konkurrierende Informationen. Bei anderen Auf-
gaben müssen einfache Zusammenhänge zwischen benachbarten Informationsteilen hergestellt werden.

. Abb. 25.4 Ausgewählte Stufen der Lesekompetenz in PISA 2009 (© Naumann, Artelt, Schneider & Stanat, 2010)
514 Kapitel 25  Messen und Bewerten von Lernergebnissen

Eine kriteriale und eine individuelle Bewertung der Leistung 4. Was machen Sie, um Ihre mündliche Prüfung hinsicht-
25 sind gleichzeitig möglich. lich deren Güte zu optimieren?
Angesichts der Eigenschaften von Kompetenzrastern als 5. Wie stellt sich die Befundlage zur Güte von schriftlichen
kriterial orientierte und auf den Erwerb und die adäquate Prüfungen dar?
Erfassung von Kompetenzen ausgerichtete Beurteilungsme- 6. Erläutern Sie, welche Vorteile es für Lehrkräfte
thode ist es überraschend, dass es zur diagnostischen Qualität hat, in ausgewählten Situationen standardisierte
dieser Methode unseres Wissens nach bisher keine empiri- Schulleistungstests einzusetzen, und wie eine Lehrkraft
sche Forschung gibt – dies wäre ein dringendes Desiderat in solch einen Test einsetzt!
der schulbezogenen diagnostischen Forschung. 7. Im Physikunterricht fertigen Ihre Schülerinnen und
Schüler Berichte zu durchgeführten Experimenten an.
Wie messen Sie hier die Lernergebnisse?
8. Funktionen von Bewertungen und Schulnoten: „Eine
Zusammenfassung Schwierigkeit beim Bewerten entsteht dadurch, dass
Für Lehrkräfte bedeutet Lernergebnisse zu messen, Mess- man Noten nicht unmittelbar ansieht, welcher Funktion
verfahren zu konstruieren, die diese möglichst objektiv, sie jeweils dienen.“ Welche Eigenschaften von Noten
reliabel und valide erfassen können. Mit diesen Verfahren geraten hier in Konflikt miteinander?
erhobene Lernergebnisse werden mit Hilfe unterschiedli- 9. Welche Vorteile haben Probeklausuren aus diagnosti-
cher Bezugsnormen in Beurteilungen überführt. Die Ent- scher Sicht für Lehrende und Lernende?
wicklung von Verfahren erfolgt in vier Schritten: Zuerst ist 10. Lernentwicklungsgespräche sind für die Grundschule
das zu messende Konstrukt zu präzisieren. Anschließend eine feine Sache: Warum könnten solche Gespräche
werden die Items konstruiert, mit denen das Konstrukt gerade auch für ältere Schülerinnen und Schüler
beobachtbar werden soll. Nach der Entwicklung von Ant- sinnvoll sein?
wortkategorien und dem Kategorisieren der Antworten 11. Kompetenzorientiert prüfen: Was muss beachtet
erfolgt die Zuordnung von Punkten zu diesen Kategorien. werden?
Dies ist der eigentliche Messvorgang, also die Zuweisung
von Messwerten zu beobachteten Antworten. Im vierten
Schritt wird überprüft, wie gut Schülerinnen und Schüler
anhand der gewonnenen Messwerte hinsichtlich des zu Literatur
messenden Konstrukts unterschieden werden können. In-
haltlich lassen sich bei teacher-made Verfahren mündliche Anderson, L. W., Krathwohl, D. R., Airasian, P. W., Cruikshank, K. A., Mayer,
und schriftliche Verfahren unterscheiden sowie solche, R. E., Pintrich, P., et al. (Hrsg.). (2001). A taxonomy for learning, teaching,
and assessing. New York: Longman.
bei denen Darbietungen oder „Produkte“ Gegenstand der
Arnold, K.-H., Bos, W., Richert, P., & Stubbe, T. C. (2007). Schullaufbahnprä-
Messung sind. Die durch diese Verfahren gewonnenen ferenzen am Ende der vierten Klassenstufe. In W. Bos, S. Hornberg,
Messwerte bilden die Grundlage für Bewertungen, die da- K.-H. Arnold, G. Faust, L. Fried & E.-M. Lankes, et al. (Hrsg.), IGLU 2006:
zu dienen können, lernzielbezogene Rückmeldungen zu Lesekompetenzen von Grundschulkindern in Deutschland im internatio-
geben, über Lernprozesse und -ergebnisse zu informie- nalen Vergleich (S. 271–297). Münster: Waxmann.
Beutel, S., Lütgert, W., Tillmann, K.-J., & Vollstädt, W. (2000). Ermittlung und
ren und zu motivieren. Dem Benoten von Lernergebnis-
Bewertung schulischer Leistungen. Expertisen zum Entwicklungs- und
sen dienen Benotungsmodelle, die auf die gewonnenen Forschungsstand. Hamburg: Behörde für Schule, Jugend und Berufs-
Messwerte angewandt werden. Während in Ziffernzeug- bildung.
nissen Lernergebnisse als abstrakte, hoch verdichtete In- Birkel, P. (1978). Mündliche Prüfungen. In K. J. Klauer (Hrsg.), Handbuch der
formation kommuniziert werden, bieten Berichtszeugnis- Pädagogischen Diagnostik (S. 633–645). Düsseldorf: Pädagogischer
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Birkel, P. (2003). Aufsatzbeurteilung – Ein altes Problem neu untersucht.
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und deren Übereinstimmung mit pädagogisch oder fach- Birkel, P. (2005). Beurteilungsübereinstimmung bei Mathematikarbeiten?
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2. Stellen Sie die vier Schritte zur Konstruktion Ihres Bonanati, M. (2014). Lernentwicklungsgespräche – Gespräche über indi-
viduelle Lernprozesse? In B. Kopp, S. Martschinke, M. Munser-Kiefer,
Messverfahrens in der Schule dar. M. Haider, E.-M. Kirschhock, G. Ranger & G. Renner (Hrsg.), Individuel-
3. Was meint „Messen“ und wie verhalten sich die Begriffe le Förderung und Lernen in der Gemeinschaft (S. 138–141). Heidelberg:
„Messen“ und „Beurteilen“ zueinander? Springer.
Literatur
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516 Kapitel 25  Messen und Bewerten von Lernergebnissen

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517 26

Evaluation und
Qualitätssicherung
Marko Lüftenegger, Barbara Schober und Christiane Spiel

26.1 Einführung – 518

26.2 Grundlagen der wissenschaftlichen Evaluation – 518


26.2.1 Grundbegriffe der Evaluation – 518
26.2.2 Einteilung von Evaluationen – 522

26.3 Bildungsmonitoring als Spezialform von Evaluation – 525

26.4 Evaluation aus praktischer Perspektive – 527


26.4.1 Eine evaluative Grundhaltung einnehmen – 527
26.4.2 Beispiel: Verringert sich aggressives Verhalten durch ein
Anti-Aggressionstraining im Unterricht? – 528
26.4.3 Zielexplikation oder „Was genau soll eigentlich gemacht werden“ – 528

Verständnisfragen – 530

Literatur – 531

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019


D. Urhahne, M. Dresel, F. Fischer (Hrsg.), Psychologie für den Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55754-9_26
518 Kapitel 26  Evaluation und Qualitätssicherung

26.1 Einführung In diesem Kapitel werden zunächst die Besonder-


heiten der Evaluationsforschung herausgearbeitet und
zentrale Evaluationsbegriffe (Objekte, Standards, Kriteri-
26 „As not everything can be done, there must be a basis for deci-en, Anspruchsgruppen, Funktionen, Nutzung) eingeführt
ding which things are worth doing. Enter evaluation“ (Patton (7 Abschn. 26.2.1). Anschließend stellen wir Typen von
2008, S. 16). Dieser pragmatischen Überlegung folgend lassen Evaluationen vor (7 Abschn. 26.2.2), gehen auf Evalua-
sich die Ursprünge der Evaluation, wie wir sie heute kennen, tionsmodelle ein (7 Abschn. 26.2.2) und beschreiben
in die USA der 1930er-Jahre zurückverfolgen. Als Startpunkt Bildungsmonitoring als besondere Form der Evaluation im
moderner Evaluationen gilt dabei die Überprüfung der Effek- Bildungskontext (7 Abschn. 26.3). Danach wenden wir uns
tivität der Reformprogramme zur Bekämpfung der Arbeitslo- der Evaluation aus praktischer Perspektive zu und legen
sigkeit, die im Rahmen des „New Deal“ durchgeführt wurden. dar, inwiefern Evaluation eine bestimmte Grundhaltung in
In den 1960er-Jahren erlebte die Evaluationsforschung in den der Schule braucht, um zu Qualitätsverbesserung führen zu
USA einen regelrechten Boom, der mit einer gewissen Ver- können (7 Abschn. 26.4.1). Abschließend zeigen wir anhand
zögerung auch Europa erreichte. Unabhängig von der öko- eines Beispiels aus unserer eigenen Forschungs- und Ent-
nomischen Notwendigkeit der Bewertung von bestimmten wicklungsarbeit, wie ein Evaluationsprojekt in der Schule
Maßnahmen gab es aus psychologischer Sicht wichtige Vor- konkret gestaltet werden kann (7 Abschn. 26.4.2). Verweise
bedingungen, die eine systematische Bewertungskultur erst auf weiterführende Literatur runden das Kapitel ab.
ermöglichten. Dazu gehörte die Einsicht und Bewusstheit,
dass soziale Lebensumstände verändert und gesellschaftlich
relevantes Handeln unter dem Aspekt der Optimierung auch 26.2 Grundlagen der wissenschaftlichen
selbst rational gestaltet werden können. Diese Form von ziel- Evaluation
orientiertem und bewusstem Handeln ist auch heute noch in
keiner Weise selbstverständlich.
Eingang in den deutschen Wortschatz hat die Evaluation 26.2.1 Grundbegriffe der Evaluation
spätestens seit der starken medialen Präsenz des „Programme
for International Student Assessment“ (PISA) Anfang des neu- In diesem Abschnitt wird zunächst eine Bestimmung des Eva-
en Jahrtausends gefunden. Die Bildungssysteme in Deutsch- luationsbegriffs sowie eine Abgrenzung von Alltagskonzep-
land und Österreich standen durch die Teilnahme an der- ten und verwandten Ansätzen vorgenommen. Anschließend
artigen internationalen Vergleichsstudien (neben PISA sind werden Merkmale wissenschaftlicher Evaluationen erläutert.
hier insbesondere die „Trends in International Mathematics
and Science Study“, TIMSS, sowie die „Progress in Interna-1 Bestimmung des Evaluationsbegriffs
tional Reading Literacy Study“, PIRLS, zu erwähnen) unter „To say that there are as many definitions as there are evalua-
Beobachtung und die „Bewertung“ durch PISA fiel für beide tors is not too far from accurate” (Franklin & Trasher 1976, S.
Länder nicht zufriedenstellend aus („PISA-Schock“). Mittler- 20). Diese bereits vier Jahrzehnte alte, sehr pointierte Bemer-
weile ist Evaluation zu einem Modewort geworden. Positiv ist kung zu der Vielzahl an Definitionen für Evaluation ist nach
daran, dass vermehrt ein Bewusstsein für die Notwendigkeit wie vor aktuell. Was für fast alle Begriffe im Bereich der So-
der Qualitätskontrolle von Programmen, Maßnahmen und zialwissenschaften gilt, trifft auch auf Evaluationsforschung
Organisationen entsteht. Problematisch ist jedoch, dass un- zu: Es gibt nicht eine einzige Definition, auf welche sich die
ter dem Begriff Evaluation häufig alles subsumiert wird, das Wissenschaft geeinigt hat. Die Begriffe Evaluation und Eva-
in irgendeiner Form mit Bewertung zu tun hat (Scriven 1991), luationsforschung sind gekennzeichnet durch eine Vielzahl
wie beispielsweise Rezensionen von Kinofilmen. Die gerade- an Definitionen in der Fachliteratur, die jedoch einen gemein-
zu inflationäre Verwendung des Begriffs in der Alltagssprache samen Kern haben (Mittag & Hager 2000). Ausgehend von
macht umso stärker eine Abgrenzung zur wissenschaftlichen der wörtlichen Übersetzung im Sinne von „Bewertung“ lässt
Evaluation mit ihren spezifischen Konzepten, Modellen und sich unter Evaluation ganz allgemein jegliche Art der Festset-
Standards notwendig. zung des Wertes einer Sache verstehen (Scriven 1991). Diese
Die im Bildungskontext durchgeführten Evaluationen sehr kurze Beschreibung lässt aber offen, was (Evaluationsge-
sollen dazu beitragen, die Qualität von pädagogischen Maß- genstand oder Evaluationsobjekt) und wie (Verwendung von
nahmen, Bildungsinstitutionen oder auch ganzen Bildungs- Techniken oder Methoden) evaluiert werden soll. Im Hand-
systemen zu erfassen, zu bewerten und im Idealfall ent- buch der Standards für Evaluationen des Joint Committee on
sprechende Handlungen zur Sicherung oder Optimierung Standards for Educational Evaluation (JCSEE 1994, S. 3) wird
zu initiieren. Damit Evaluationen auch zu einer Qualitäts- Evaluation präziser als “the systematic investigation of the
verbesserung führen können, braucht es in den Bildungs- worth or merit of an object” definiert. Impliziert wird hier
institutionen und insbesondere der Schule eine evaluative die Verwendung von systematischen, auf wissenschaftlichen
Grundhaltung sowie das Wissen darüber, wie Evaluations- Gütekriterien basierenden Forschungsmethoden zur Unter-
projekte in der Schule konkret gestaltet werden und welchen suchung von bestimmten Evaluationsobjekten. Es ist eine
Stellenwert Monitoring-Ergebnisse für Lehrkräfte und ihren Gemeinsamkeit der großen Mehrheit neuerer Definitionen,
Unterricht haben können. dass nur dann von Evaluationsforschung oder wissenschaft-
26.2  Grundlagen der wissenschaftlichen Evaluation
519 26
licher Evaluation gesprochen wird, wenn die Bewertung ei- der Evaluationsforschung im Speziellen sind fließend. Al-
nes Gegenstandes systematisch und unter Verwendung wis- le drei verwenden den gleichen Kanon sozialwissenschaft-
senschaftlicher – primär psychologischer und sozialwissen- licher Forschungsmethoden und sind denselben Prinzipien
schaftlicher – Methoden erfolgt. Dementsprechend verstehen der Wissenschaftlichkeit verpflichtet.
Mittag und Hager (2000, S. 103) „Evaluationsforschung als Einen anderen Ursprung als die sozialwissenschaftliche
. . . wissenschaftlich fundierte, empirische und hypothesen- Evaluationsforschung, aber oft ähnliche Zielsetzungen haben
orientierte Forschung unter systematischer Anwendung sozi- das betriebswirtschaftliche Controlling oder das betriebliche
alwissenschaftlicher Forschungsmethoden“. Unerwähnt blei- Qualitätsmanagement. Ein weiterer verwandter Ansatz ist
ben hier allerdings die Evaluationskriterien (z. B. Effektivität, das Monitoring, das auf die regelmäßige Überwachung und
Akzeptanz, Nachhaltigkeit, Bedarf, Effizienz), deren Auswahl Begleitung der Durchführung einer Maßnahme oder eines
und Festlegung maßgeblich das spätere Evaluationsergeb- Prozesses abzielt. Beispielsweise könnte die Umsetzung einer
nis mitbestimmen. Eine relativ einfache Beschreibung des Reform der Lehramtsausbildung (in der z. B. das Bologna-
Begriffs, die versucht unterschiedliche Aspekte unter einen Konzept mit Bachelor, Master und PhD konsequent umge-
gemeinsamen Nenner zu bringen, gibt Spiel (2003, S. 883): setzt ist) durch ein Monitoring des zuständigen Ministeriums
begleitet werden. Qualitätskontrolle durch Monitoring ist
häufig in ein Qualitätsmanagementsystem eingebettet. Con-
Evaluationsforschung untersucht wissenschaftsgestützt trolling, Qualitätsmanagement und Monitoring unterschei-
unter Berücksichtigung geltender Standards (Zielex- den sich von Evaluationsforschung dadurch, dass sie konti-
plikation und Standards der Evaluationsforschung) die nuierliche Aktivitäten erfordern und der wissenschaftlichen
Effektivität (Ausmaß der Zielerreichung) und Effizienz Fundierung keine so zentrale Rolle zukommt. Sie fokussie-
(Verhältnis von Aufwand und Nutzen) von Gegenständen. ren auch zumeist quantitative Indikatoren (z. B. Anzahl von
Lehrveranstaltungen mit Praxisbezug in den verschiedenen
Phasen des Studiums). Wissenschaftliche Evaluationen wer-
1 Abgrenzungen und verwandte Ansätze den dagegen eher punktuell eingesetzt (Westermann 2002)
Im Folgenden verwenden wir den Begriff Evaluationsfor- mit dem Ziel differenzierte (auch qualitative) Aussagen zu
schung synonym mit wissenschaftlicher Evaluation (kurz treffen (z. B. Wissenserwerb der Studierenden in den Lehr-
Evaluation). Wir betonen damit, dass es sich um Bewertun- veranstaltungen mit hohem Praxisbezug).
gen handelt, die durch eine systematische, wissenschaftliche
Herangehensweise zustande gekommen sind und von quali-1 Evaluationsobjekte
fizierten Evaluationsfachleuten vorgenommen wurden. Bei- Die Definitionen von wissenschaftlicher Evaluation unter-
des sind wichtige Voraussetzungen für die Gültigkeit und scheiden sich unter anderem darin, ob und welche Spezifi-
die Aussagekraft von Bewertungen. Somit unterscheidet sich zierungen sie für Evaluationsobjekte treffen. Laut Cook und
Evaluationsforschung von Bewertungen wie z. B. Restaurant- Matt (1990) lässt sich aber prinzipiell alles evaluieren. Al-
empfehlungen oder Buchrezensionen. lein im Bildungsbereich zeigt die folgende Auswahl das brei-
Aufgrund des systematischen Einsatzes sozialwissen- te Spektrum an potentiellen Evaluationsobjekten (Döring &
schaftlicher Forschungsmethoden ist Evaluationsforschung Bortz 2016; Westermann 2002; Wottawa & Thierau 2003):
letztlich ein Teilgebiet der angewandten (Sozial-)Forschung. Forschungsergebnisse (z. B. Bewertung der Forschungsleis-
Dies ist vor allem dann der Fall, wenn die Ziele der Evalu- tung unterschiedlicher Universitäten), Gesetze (z. B. Aus-
ation von den Forscherinnen und Forschern bzw. den Eva- wirkungen eines neuen Lehrerdienstrechts), Institutionen
luatorinnen und Evaluatoren selbst gesetzt werden. Zumeist und öffentliche Einrichtungen (z. B. Vergleich von öffentli-
werden jedoch die Ziele von Evaluationen von externen Auf- chen und privaten Schulen), Interventionsmaßnahmen (z. B.
traggebern festgelegt (häufig von der öffentlichen Hand, wie Wirkung von verschiedenen Lernstrategietrainings für lern-
Ministerien, EU-Kommission). Da die Auftraggeber nicht schwache Schülerinnen und Schüler), Methoden/Techniken
nur die Evaluation, sondern häufig auch den Gegenstand der (z. B. Vergleich der Tauglichkeit verschiedener Methoden
Evaluation finanzieren, spielen die Kosten der Evaluation oft zur Förderung von Kreativität bei Schulkindern), Personen
eine zentrale Rolle. Die Diskrepanz zwischen methodisch- (z. B. Evaluation von Lehrkräften in der Schule), Produk-
wissenschaftlichen Ansprüchen an eine Evaluation und dem te (z. B. Usability von E-Learning Plattformen), Programme
vorgegebenen Kostenrahmen stellt in der Praxis oft eine Her- (z. B. Evaluation von Maßnahmen zur Gleichstellung von
ausforderung für die Evaluierenden dar. Im Zweifelsfall kann Männern und Frauen in Führungspositionen), Projekte (z. B.
eine Evaluation, die den wissenschaftlichen Standards ent- Bewertung der Effektivität eines schulischen Anti-Bullying
spricht, nicht realisiert werden. Trainings), Strategien (z. B. Zukunftsfähigkeit des Schulpro-
Während in der Grundlagenforschung nur Anforderun- fils), Systeme/Strukturen (z. B. Bewertung nationaler Schul-
gen an die Theorie gestellt werden, muss Evaluationsfor- systeme durch Monitoringstudien wie PISA), Unterricht und
schung als Teilgebiet der angewandten Forschung den An- akademische Lehre (z. B. Evaluation von neuen Unterrichts-
sprüchen von Theorie und Praxis genügen (Moosbrugger & konzepten) oder Evaluationsprojekte (Bewertung der Quali-
Schweizer 2002; Patry & Perrez 2000). Die Übergänge zwi- tät einer Evaluationsstudie). Da Maßnahmen, Interventionen
schen Grundlagenforschung, angewandter Forschung und und Programme als Evaluationsgegenstände in der Praxis
520 Kapitel 26  Evaluation und Qualitätssicherung

sehr wichtig sind, wird oft auch direkt von Programmeva-


luation (Spiel, Schober & Bergsmann, 2015) gesprochen. Im In deutschen und österreichischen Schulen werden
Folgenden wird für die ähnlichen Begriffe Programm, Inter- umfassende standardisierte Testungen, unabhängig von
internationalen Schulleistungsstudien wie PISA erst seit
26 vention und Training nur mehr der Oberbegriff Maßnahme
einigen Jahren durchgeführt. Dazu gehören beispielsweise
verwendet.
die standardisierten Vergleichsarbeiten in den deutschen
Bundesländern, die deutschen Ländervergleiche im Rahmen
Als Evaluationsgegenstand oder Evaluationsobjekt
der „IQB-Bildungstrends“ (www.iqb.hu-berlin.de/bt) oder
bezeichnet man den Untersuchungsgegenstand, auf
die Überprüfung der nationalen Bildungsstandards in
den sich eine wissenschaftliche Evaluation bezieht.
Deutschland (siehe 7 www.iqb.hu-berlin.de/bista) und
Ein besonders typischer Evaluationsgegenstand sind
Österreich (7 www.bifie.at/bildungsstandards). Anders als
einzelne Interventionsmaßnahmen bzw. größer angelegte
in den USA sind diese standardisierten Tests im deutschen
Programme, die auf bestimmte individuelle und kollektive
Sprachraum aber keine High Stakes Testungen im klassischen
Veränderungen abzielen (Döring & Bortz 2016, S. 980).
Sinne, da die Ergebnisse (bislang) keine weitreichenden
Konsequenzen für Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte,
1 Anspruchsgruppen Schulleitung oder Schulen haben.
Im Kontext von wissenschaftlichen Evaluationen ist es wich-
tig, alle relevanten Anspruchsgruppen („Stakeholder“) zu
identifizieren und ihre Anliegen und Sichtweisen zu berück-1 Evaluationskriterien
sichtigen. Nur so ist es möglich, ein umfassendes Verständ- Die Evaluationskriterien geben vor auf welcher Basis der Eva-
nis des Evaluationsgegenstands zu erhalten und sicherzustel- luationsgegenstand bewertet werden soll. Die Auswahl und
len, dass Evaluationsergebnisse später auch genutzt werden. Festlegung der konkreten Evaluationskriterien bestimmen
Unter Stakeholder werden alle direkt und indirekt von der somit in hohem Maße das spätere inhaltliche Evaluationser-
Wirkung des Evaluationsgegenstandes Betroffenen (z. B. Teil- gebnis. Die Auswahl sollte anhand der konkreten Ziele der
nehmende und deren Angehörige/Freunde) sowie alle an der Maßnahme, unter Berücksichtigung aller relevanten Stake-
Entwicklung, Umsetzung und Optimierung des Evaluations- holder und auf Basis von Fachexpertise (z. B. Fachliteratur,
gegenstandes Beteiligten (z. B. Maßnahmenentwickler, Auf- Expertenbefragungen, Beobachtung) erfolgen. Folgende Kri-
traggeber, Verantwortliche, Entscheidungsträger) verstanden terien sind von großer praktischer Bedeutung und sollten bei
(Döring & Bortz 2016). Das Ausmaß der Partizipation der der zielorientierten Bewertung einer Maßnahme betrachtet
verschiedenen Stakeholder im Evaluationsprozess ist unter- werden:
schiedlich. Sie kann von Beratung im Sinne von Beisteuerung 1. Akzeptanz (z. B. „Wie zufrieden sind die Schülerinnen
von Expertise bis zu gleichberechtigter Kooperation reichen. und Schüler mit der verbalen Leistungsbeurteilung?“),
2. Effektivität (z. B. „Ist die neue Maßnahme zur Verbesse-
Im Fokus: High Stakes Testing rung der sozialen Kompetenz wirksam?“),
3. Effizienz (z. B. „Wie hoch ist der Nutzen von verschie-
Ein Beispiel für Evaluationen im Bildungskontext mit meh- denen im Unterricht eingesetzten Motivationsfördermaß-
reren Anspruchsgruppen ist das High-Stakes Testing in den nahmen?“),
USA. Dort wird auf nationaler Ebene sowie auf Ebene der 4. Nachhaltigkeit (z. B. „Verringert sich durch die neue
Bundesstaaten mittels standardisierter Tests überprüft, ob Anti-Bullying-Maßnahme die Gewaltbereitschaft nach-
Schülerinnen und Schüler gewisse Bildungsstandards (z.B. haltig?“),
die Common Core State Standards; 7 www.corestandards. 5. Transfererfolg (z. B. „Können Schülerinnen und Schüler
org) erfüllen. Diese Tests werden High-Stakes-Tests genannt, die Inhalte des Physikunterrichts so verwenden, dass sie
weil das Resultat folgenreiche Konsequenzen für die getes- auch außerhalb der Schule bestimmte Alltagsprobleme
teten Kinder, aber auch für die Schulen, die Schulleitung damit lösen können?“)
oder die Lehrkräfte nach sich ziehen kann. Für Schülerinnen
und Schüler ist das Ergebnis meist entscheidend für den 1 Evaluationsstandards
nächsten Schritt in ihrer Bildungskarriere (z. B. Aufsteigen in Die ständig wachsende Zahl an Evaluationen und die hohe
die nächste Schulstufe, Abschluss der High School, Besuch Bedeutung politischer Entscheidungen, die auf Evaluations-
einer Universität). Auf Schulebene gibt es für gute oder ergebnissen basieren, haben in den 1970er-Jahren in den USA
verbesserte Leistungen finanzielle Belohnungen, schlechte einen Diskursprozess zur Entwicklung von Leitlinien für die
Ergebnisse hingegen sind mit Bestrafungen (u. a. Verset- Evaluationspraxis in Gang gesetzt. Ziel war es, einen Wild-
zungen, Veröffentlichung der Ergebnisse in Zeitungen) wuchs an unqualifizierten Evaluationen zu verhindern und
verknüpft. Für Lehrkräfte stellen die Testleistungen der zu sichern, dass Evaluationsprojekte national und interna-
Schülerinnen und Schüler eine Bewertung ihres Unterrichts tional auf vergleichbarem Niveau durchgeführt werden. Das
dar, welche direkte Auswirkungen auf ihr Gehalt oder eine JCSEE hat diesen Prozess in Kooperation mit mehreren Insti-
mögliche Festanstellung haben kann. tutionen und zahlreichen anerkannten Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftlern organisiert und die erarbeiteten Eva-
26.2  Grundlagen der wissenschaftlichen Evaluation
521 26
luationsstandards publiziert. Sie sind in die Bereiche Utility neun Standards zur Genauigkeit (z. B. G7 Analyse qualitati-
(Nutzen), Feasability (Machbarkeit oder Durchführbarkeit), ver und quantitativer Informationen). Die Anwendung und
Propriety (Fairness und ethisches Vorgehen) und Accuracy Umsetzung der Standards kann zweifellos nicht schematisch
(Genauigkeit) gegliedert (JCSEE 1994) und wurden später erfolgen; sie müssen an das jeweilige Handlungsfeld, an die
um Evaluation Accountability (Verantwortlichkeit) erweitert jeweilige Evaluation angepasst werden. Nicht in allen Evalua-
(JCSEE 2011). Unter einem Standard wird dabei „a princi- tionen lassen sich auch alle Einzelstandards anwenden.
ple mutually agreed to by people engaged in a professional In Ergänzung zu den Standards für Evaluation hat die
practice, that, if met, will enhance the quality and fairness of DeGEval Empfehlungen zur Anwendung der Standards für
that professional practice, for example, evaluation” verstan- Evaluation im Handlungsfeld der Selbstevaluation herausge-
den (JCSEE 1994, S. 2). geben (DeGEval 2004). Gründe dafür waren einerseits, dass
In der Folge wurden von einer Reihe nationaler Evalua- es eine Reihe von Praxisfeldern wie die Schule gibt, in denen
tionsgesellschaften, die nach und nach gegründet wurden, Evaluation zumeist als Selbstevaluation durchgeführt wird.
ebenfalls Leitlinien zur Qualitätssicherung von Evaluationen Andererseits werden Selbstevaluationen zu einem Großteil
publiziert, die im Wesentlichen alle auf den Standards des JC- von Personen durchgeführt, die kaum oder wenig in der
SEE (1994, 2011) basieren. Theorie und Methodik von Evaluation ausgebildet sind. Die-
Im Folgenden werden beispielhaft die Standards für Eva- se ergänzenden Empfehlungen zu den Standards verfolgen
luation beschrieben, die 2002 erstmals von der DeGEval – das Ziel, auch im Feld der Selbstevaluation hohe Qualität zu
Gesellschaft für Evaluation herausgegeben wurden. Die Stan- sichern. Gleichzeitig sollen sie den Selbstevaluations-Teams
dards verstehen sich als ein Dialoginstrument für einen Aus- verbindliche Rahmenbedingungen liefern, um ihrer doppel-
tausch über die Qualität von professionellen Evaluationen. ten Rollenanforderung – Akteure und Bewertende – gerecht
Sie sollen Orientierung bei der Planung und Durchführung zu werden. Sie leisten damit auch einen Beitrag zur Akzeptanz
von Evaluationen geben sowie Transparenz über Evaluatio- der Ergebnisse von Selbstevaluationen. Sowohl die Standards
nen schaffen (DeGEval 2008). für Evaluation als auch die Empfehlungen zu deren Anwen-
dung im Handlungsfeld der Selbstevaluation können, ebenso
Im Fokus: Standards für Evaluation wie weitere Empfehlungen, von der Homepage der DeGEval
(7 www.degeval.de) heruntergeladen werden.
Evaluationen sollen vier grundlegende Eigenschaften
erfüllen (DeGEval 2008, S. 10ff.): 1 Funktionen und Nutzung von Evaluationen
4 Nützlichkeit (utility): Die Nützlichkeitsstandards sollen Die im Rahmen einer Evaluation durchgeführte Bewertung
sicherstellen, dass sich die Evaluation an den geklärten dient in der Praxis unterschiedlichen übergeordneten Funk-
Evaluationszwecken sowie am Informationsbedarf der tionen und Zielen. In der einschlägigen Literatur (Döring &
vorgesehenen Nutzer und Nutzerinnen ausrichtet. Dabei Bortz 2016, S. 987; Stockmann 2002, S. 3ff.; Widmer & De
sind die Interessen und Bedürfnisse der Stakeholder zu Rocchi 2012, S. 27f.) werden immer wieder folgende fünf eng
berücksichtigen. Die agierenden Evaluatorinnen und miteinander zusammenhängende Evaluationsfunktionen un-
Evaluatoren sollten vertrauenswürdig und einschlägig terschieden:
qualifiziert sein. 1. Erkenntnisfunktion: Evaluationen sollen Erkenntnisse
4 Durchführbarkeit (feasability): Die Durchführbarkeits- liefern, die den Auftraggebern der Evaluation und den
standards sollen sicherstellen, dass eine Evaluation Zielgruppen der Maßnahme nutzen.
realistisch, gut durchdacht, diplomatisch und kostenbe- 2. Lern- und Dialogfunktion: Im Laufe der Evaluation voll-
wusst geplant und ausgeführt wird. ziehen die Beteiligten Lernprozesse und verschiedene
4 Fairness (propriety): Die Fairnessstandards sollen Stakeholder treten miteinander in Dialog. Wichtig sind
sicherstellen, dass in einer Evaluation respektvoll dabei der Einbezug aller Stakeholdergruppen und die Ver-
und fair mit den betroffenen Personen und Gruppen mittlung zwischen diesen bei divergierenden Positionen.
umgegangen wird. 3. Optimierungsfunktion: Häufig sollen Evaluationen
4 Genauigkeit (accuracy): Die Genauigkeitsstandards Grundlagen zur Optimierung von Maßnahmen liefern.
sollen sicherstellen, dass eine Evaluation gültige Da im Vorfeld derartiger Evaluationen zumeist weder
Informationen und Ergebnisse zu dem jeweiligen sämtliche Aspekte noch die vorhandenen Gestaltungs-
Evaluationsgegenstand und den Evaluationsfragestel- möglichkeiten bekannt sind, kommt hier in der Regel
lungen hervorbringt und vermittelt. eine formative Evaluation (7 Abschn. 26.2.2) zum Einsatz.
In enger Kooperation mit den verschiedenen Stakeholder-
gruppen werden (vor allem qualitative) Daten erhoben,
Den vier Qualitätsdimensionen sind insgesamt 25 Ein- die Informationen über Problembereiche sowie Optimie-
zelstandards zugeordnet. Acht Standards zur Nützlichkeit rungsmöglichkeiten liefern.
von Evaluationen (z. B. N3 Glaubwürdigkeit und Kompe- 4. Entscheidungsfunktion: Evaluationsergebnisse bilden
tenz der Evaluierenden), drei Standards zur Durchführbar- sehr oft die Grundlage für Entscheidungen (z. B. „Welche
keit (z. B. D1 Angemessene Verfahren), fünf Standards zur von drei unterschiedlichen präventiven Maßnahmen bei
Fairness (z. B. F3 Vollständige und faire Überprüfung) und jugendlichen Straftätern sollen flächendeckend umgesetzt
522 Kapitel 26  Evaluation und Qualitätssicherung

werden?“). Aus den Evaluationsergebnissen abgeleitete licher Maßnahmen in der Bundesverfassung verankert und
Praxisempfehlungen können als Entscheidungshilfe die- nimmt damit eine Vorreiterrolle im deutschen Sprachraum
nen. ein.
26 5. Legitimationsfunktion: Sowohl die Durchführung von
Evaluationen als auch ihre Befunde dienen zur Legitimie-
rung einer Maßnahme vor Anderen (z. B. das Bildungs- 26.2.2 Einteilung von Evaluationen
ministerium verlangt vor der weiteren Finanzierung von
Fortbildungen für Lehrkräfte einen Beleg ihrer Wirksam- Die Einteilung von Evaluationen kann anhand von zwei
keit). Dimensionen erfolgen: einerseits nach ihren Zielen (Base-
line Evaluation, Prospektive Evaluation, Formative Evaluation,
In vielen Fällen kommen in einer Evaluation mehrere dieser Summative Evaluation, Impact Evaluation) und andererseits
Funktionen zum Tragen. nach der Rolle der Evaluierenden (Selbst, Fremd, Intern, Ex-
Eine Evaluation wird hingegen zur Pseudoevaluation tern).
(Stufflebeam & Shinkfiled 2007), wenn sie für vordefinierte
Zwecke strategisch missbraucht wird. Dabei ist der Bewer-1 Einteilung nach Zielen
tungsprozess nicht mehr ergebnisoffen, sondern das Ergebnis Hinsichtlich der Funktion, der Zielsetzungen und der Rea-
wird strategisch beeinflusst, manipuliert oder komplett igno- lisierungsmöglichkeiten werden verschiedene Evaluations-
riert. Dies kann sowohl durch die Auftraggeber als auch typen unterschieden. Die wohl prominenteste, auf Scriven
durch unprofessionelle Evaluierende erfolgen. Dabei wird die (1991) zurückgehende Differenzierung ist zwischen „sum-
Evaluation als Durchsetzungshilfe für eine bestimmte (po- mativer“ und „formativer“ Evaluation. Ein in diesem Kontext
sitive) Entscheidung (z. B. damit Entscheidungsträgerinnen oft verwendetes Beispiel, das dem Evaluationsforscher Robert
und Entscheidungsträger mehr Geld zur Verfügung stellen), Stake zugeschrieben wird, erläutert eingängig den Unter-
als Umsetzungshilfe für eine wenig akzeptierte Entscheidung schied der beiden Evaluationstypen: „When the cook tastes
(z. B. für Umstrukturierung von Fakultäten an einer Universi- the soup, that’s formative; when the guests tastes the soup,
tät) oder zur Verantwortungsdelegation für eine negative Ent- that’s summative” (Scriven 1991, S. 169).
scheidung (z. B. Schließung eines Studienganges) verwendet. Formative Evaluationen werden während der Entwick-
Ein Evaluationsprozess kann auch als strategisches Instru- lungsphase, der Erprobung und der Ausführung einer Maß-
ment eingesetzt werden, um die Motivation und Leistung von nahme durchgeführt. Eine wesentliche Funktion dieser pro-
Stakeholdern zu erhöhen (u. a. durch das Bewusstsein wahr- jektbegleitenden Evaluation ist die laufende Optimierung
genommen zu werden). Eine symbolische oder ritualisierte der Maßnahmenbestandteile. Dies geschieht in Hinsicht auf
Funktion bekommt eine Evaluation, wenn die Durchführung die Zielsetzung und Effektivität der Maßnahme, wobei eher
nur zur Erfüllung gesetzlicher Vorschriften (z. B. „die Maß- Schwachstellen identifiziert als Stärken aufgezeigt werden sol-
nahme ist durch eine Evaluation zu prüfen“) oder Vorgaben len. Formative Evaluationen sind meist analytisch angelegt,
von Geldgebern bzw. Entscheidungsträgern dient. wobei einzelne Komponenten einer Maßnahme detailliert un-
Unter Evaluationsnutzung wird die sachgerechte Verwen- tersucht werden. Zielgruppe von formativen Evaluationen
dung der Evaluationsergebnisse durch verantwortliche Per- sind grundsätzlich Programmentwickler und -durchführen-
sonen in der Praxis verstanden (Döring & Bortz 2016). Da- de. Diese Art der Evaluation erfordert Vertrautheit mit dem
mit das Ergebnis der Evaluation im Sinne der festgelegten Evaluationsobjekt, ist in vielen Fällen informell und bedient
Evaluationsfunktionen (z. B. Optimierung eines neuen Un- sich insbesondere auch des Kanons der qualitativen sozialwis-
terrichtskonzepts) genutzt werden kann, sollte die Nutzung senschaftlichen Untersuchungsmethoden (z. B. offene Befra-
von Anfang an mitgeplant und aktiv unterstützt werden. Da- gung, Leitfadeninterviews, Fokusgruppen oder Tagebücher).
zu gehören u. a. konkrete Praxisempfehlungen. Neben einem So bekommen Lehrkräfte durch eine formative Evaluation ih-
Abschlussbericht, der sich an alle Stakeholder richten soll, ge- res Unterrichts datenbasiertes Feedback zu ihrem Unterrich-
hören zur Förderung der Evaluationsnutzung auch weitere ten und dessen Einfluss auf das Lernen ihrer Schülerinnen
Aktivitäten wie Beratung, Coaching, Workshops oder Wei- und Schüler. Dieses Feedback kann von den Lernenden bei-
terbildungskurse, bei denen die Bedeutung und Konsequen- spielsweise direkt über mündliches oder schriftliches Beant-
zen der Evaluation gezielt mit verschiedenen Stakeholdern worten von Fragen zum Unterricht oder indirekt über Beob-
besprochen und Umsetzungsprozesse festgelegt werden. Auf- achtung von Lernaktivitäten geschehen. Idealerweise bewer-
grund der Gefahr der Instrumentalisierung von Evaluationen tet die Lehrperson auf dieser Datenbasis ihren eigenen Unter-
(Missbrauch für strategische Zwecke) sollten bereits im Vor- richt und entwickelt ihn systematisch weiter.
feld der Auftragsvergabe die Funktionen der Evaluation sowie
die Nutzung der Ergebnisse geklärt werden. Obwohl sich die Im Fokus: Die „One-Minute-Paper-Methode“
Evaluationsforschung in den letzten Jahren auch im deut-
schen Sprachraum in so gut wie allen Politikfeldern etabliert Die One-Minute-Paper-Methode lässt sich gut als formatives
hat, gibt es beträchtliche Unterschiede hinsichtlich Einsatz Erhebungsinstrument im Unterricht einsetzen. Dabei
und insbesondere der Ergebnisnutzung (Spiel & Bergsmann schreibt die Lehrperson zum Ende einer Schulstunde
2009). Beispielsweise hat die Schweiz die Evaluation staat-
26.2  Grundlagen der wissenschaftlichen Evaluation
523 26
Evaluation der Programmeffizienz – Bewertung der Ökonomie der
zwei bis drei Fragen an die Tafel, die die Schülerinnen und Maßnahme (Kosten-Nutzen-Relation).
Schüler kurz (eine Minute pro Frage) auf einem Blatt Papier Impact-Evaluation – Bewertung der nachhaltigen Wirkungen von
Maßnahmen, die über deren direkte Ziele hinausgehen.
schriftlich beantworten sollen. Fragen könnten z.B. „Was war
das Wichtigste, was du in der letzten Stunde gelernt hast?“
oder „Was hast du noch nicht verstanden?“ sein. Alternativ Studie: Feedbackkultur an Schulen
kann dies natürlich auch zu Stundenbeginn mit Bezug Die verschiedenen Evaluationstypen lassen sich gut am Bei-
auf die letzte Stunde durchgeführt werden. Mit der One- spiel der Einführung einer neuen Feedbackkultur an Schulen
Minute-Paper-Methode kann die Lehrperson schnell und illustrieren. Angestrebt wird dabei ein regelmäßiges und kon-
gezielt den aktuellen Wissensstand und das Verständnis der sequentes Geben von selbstwert- und motivationsförderlichen
Schülerinnen und Schüler zu bestimmten Inhalten erfassen Rückmeldungen im Rahmen der Leistungsbeurteilung. Ziel ei-
und überprüfen, wie sich eine neu eingesetzte Lehrmethode ner solchen Feedbackkultur ist die Erhöhung der Motivation
bisher bewährt hat. Basierend auf diesem Feedback kann und Leistungen der Schülerinnen und Schüler. Eine Baseline-
die Lehrperson die Lehrmethode entsprechend anpassen. Evaluation liefert Information darüber, ob und wie bisher Rück-
meldungen gegeben wurden. Die Prospektive Evaluation zeigt
u. a. auf, ob die Rahmenbedingungen für die neue Feedback-
kultur entsprechend vorhanden sind, z. B. ob Lehrkräfte bereit
Summative Evaluationen werden hauptsächlich nach sind, Änderungen in ihrem Unterricht durchzuführen. Die For-
der Fertigstellung von Maßnahmen durchgeführt. Die Pro- mative Evaluation begleitet die Implementierung der neuen
gramme liegen meist schon als Ganzes vor und sollen ein- Feedbackkultur und liefert Informationen zum Gegensteuern,
gesetzt werden bzw. sind schon implementiert. Diese Eva- sofern Probleme identifiziert werden (wenn z. B. Feedbackre-
luationsart hat die Aufgabe, Fragen über die Effektivität, die geln missverstanden werden). Die Evaluation der Programmef-
Qualität und den Einfluss von Programmen zu beantworten. fizienz zeigt Kosten und Nutzen der neuen Feedbackkultur (in
Die Ergebnisse und Auswertungen erfüllen oft eine Legitima- Relation zur bisherigen Situation) auf, wobei nicht nur öko-
tionsfunktion und dienen als wesentliche Grundlage für ei- nomische Maße (Kosten), sondern auch immaterielle Aspekte
ne Entscheidungsfindung. Dabei stellen sich häufig folgende (Aufwand der Lehrenden zur Umsetzung) herangezogen wer-
Fragen: Sollte das Programm in größeren Rahmen eingesetzt den. Die Summative Evaluation prüft die Zielerreichung; hier
werden? Oder sollte es zukünftig – z. B. aufgrund gerin- sollte u. a. ein Vergleich mit der Baseline-Erhebung durchge-
ger oder mangelnder Effektivität – nicht durchgeführt wer- führt werden. Die Impact-Evaluation könnte u. a. prüfen, ob
den? Aufgrund ihrer Legitimations- und Entscheidungsfunk- durch die neue Feedbackkultur die Schülerinnen und Schüler
tion sollten summative Evaluationen durch externe Personen auch im späteren Studium oder Berufsleben mehr Motivation
durchgeführt werden. Im Gegensatz zur formativen Evalua- zeigen und bessere Leistungen erzielen. Analog könnten auch
tion spielen bei der summativen Evaluation quantitative so- ganze Curricula evaluiert werden (siehe dazu z. B. die Evalua-
zialwissenschaftliche Forschungsmethoden (z. B. schriftliche tion des Medizincurriculums durch Spiel, Schober & Reimann
geschlossen Fragen, strukturiertes Interview) eine zentrale 2006).
Rolle. Die Planung summativer Evaluationen sollte gleichzei-
tig mit der Planung der Maßnahme erfolgen und ihre Ziele
1 Einteilung nach den Rollen im Evaluationsprozess
sollten entsprechend den Zielen der Maßnahme formuliert
Evaluierende können in Abhängigkeit von der Art der Evalu-
werden.
ation und den Ansprüchen der Auftraggebenden sehr unter-
Die verschiedenen Ziele der Evaluation legen auch ver-
schiedliche Rollen einnehmen (Patton 2008). Die gebräuch-
schiedene Zeitpunkte nahe, zu denen die Evaluation einge-
lichste Differenzierung erfolgt hinsichtlich interner und ex-
setzt wird (z. B. Mittag & Hager 2000; Rossi & Freeman 1993;
terner Evaluation bzw. zwischen Selbst- und Fremdevaluati-
Spiel 2005). Im Folgenden wird eine in der Psychologie ge-
on. Häufig werden diese Begriffe auch synonym (intern als
bräuchliche Einteilung vorgestellt.
selbst, extern als fremd) verwendet. Westermann (2002) fol-
1 Einteilung von wissenschaftlichen Evaluationen nach gend, schlagen wir eine präzisere Differenzierung vor:
Zielen
Baseline-Evaluation – Ist-Zustand-Analyse zur Beschreibung der Aus-1 Einteilung von wissenschaftlichen Evaluationen nach
gangsituation. Diese Basis ist wichtig für den Vergleich mit der Situation den Rollen im Evaluationsprozess
nach der Implementation der Maßnahme. Selbstevaluation – Mitglieder einer Institution/Organisation bewer-
Prospektive Evaluation – Bewertung der Maßnahmenkonzeption ten sich oder ihre Maßnahmen selbst
zur Abschätzung der Realisierbarkeit der Maßnahme sowie möglicher Fremdevaluation – Bewertung findet durch Dritte statt (d. h. durch
Nebeneffekte. Personen, die nicht direkt an der Maßnahme beteiligt sind)
Formative Evaluation – Beschreibung und Bewertung der Im- Interne Evaluation –
plementation der Maßnahme, dazu wie gut Zielsetzungen und Selbstevaluationen sowie Fremdevaluationen, bei denen die Evaluieren-
Umsetzungen zusammenpassen. Gezielte Rückmeldungen zur Pro- den aus der gleichen Einrichtung kommen, jedoch nicht direkt an der
grammoptimierung werden gegeben. Maßnahme beteiligt sind
Summative Evaluation – Prüfung der Wirksamkeit/Effekte der Maß- Externe Evaluation – Bewertung durch unabhängige Expertinnen
nahme in Bezug auf die gesetzten Ziele unmittelbar nach Abschluss und Experten, die in keiner Beziehung zu der Einrichtung und der Maß-
(Vergleich mit Ist-Zustand-Analyse). nahme stehen
524 Kapitel 26  Evaluation und Qualitätssicherung

. Tabelle 26.1 Vier Ebenen nach Kirkpatrick und Kirkpatrick (2010)

Ebene Beschreibung Beispiel


26 Reaktion Auf der ersten Ebene wird untersucht, wie die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf Lehrkräfte werden nach einer Fortbildung
die Maßnahme reagieren; es geht also um Interesse, Motivation, Zufriedenheit und Ak- zum Thema „Geben von motivati-
zeptanz. Eine positive Reaktion ist aber noch keine Garantie für einen tatsächlichen onsförderlichen Feedback“ zu ihrer
Lernerfolg seitens der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, jedoch eine wesentliche Vor- Zufriedenheit mit dem Training und der
aussetzung dafür. Die Akzeptanz der Teilnehmerinnen und Teilnehmer beeinflusst ihre Trainerin oder dem Trainer mittels Frage-
Offenheit gegenüber der Maßnahme, ihre Motivation, daraus zu lernen, und ihre Bereit- bogen schriftlich befragt
schaft langfristig aktiv teilzunehmen.

Lernen Lernen bezeichnet das Ausmaß, in welchem die Teilnehmerinnen und Teilnehmer als Mittels eines Wissenstests wird überprüft,
direkte Folge der Teilnahme an einer Maßnahme ihre Einstellungen verändern, ihr Wissen was die Lehrkräfte in der Fortbildung über
erweitern und/oder ihre Fähigkeiten steigern. Im Vorfeld der Evaluation ist zu klären, was motivationsförderliches Feedback gelernt
genau gelernt und evaluiert werden soll. haben. Mit der standardisierten Beobach-
tung eines Rollenspiels werden zusätzlich
ihre Feedbackfähigkeiten bewertet

Verhalten Die meisten Maßnahmen zielen im Grunde auf eine Verhaltensänderung ab, das heißt Mittels teilnehmender Beobachtung wird
auf den Transfer des im Programm Gelernten auf Alltagssituationen. Die Erfassung die- überprüft, ob die Lehrkräfte im Unterricht
ser Transferleistung bildet den Kern der dritten Evaluationsebene. Diese Transferleistung ihre Rückmeldungen an die Schülerinnen
hat eine Reihe von Voraussetzungen. Dazu gehören der Wunsch, das eigene Verhalten und Schüler entsprechend dem in der
zu ändern, und Wissen darüber, was geändert werden soll und wie dies zu bewerkstel- Fortbildung Gelernten gestalten
ligen ist. Diese beiden Voraussetzungen werden auf der ersten und zweiten Ebene erst
geschaffen. Auch wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, ist Transfer nicht selbstver-
ständlich. Eingefahrene Verhaltensweisen zu ändern, ist ziemlich schwierig.

Ergebnisse Diese Ebene bezieht sich auf jene Veränderungen, die auf einer „höheren“ Ebene (der Or- Es wird überprüft, ob die Umsetzung der
ganisation bzw. des Systems) durch die Maßnahme erzielt werden. Die Erfassung dieser neuen Feedbacktechnik die Feedbackkul-
vierten Ebene stellt die größte Herausforderung für Evaluierende dar; ohne eine einge- tur in der ganzen Schule verändert und
hende Analyse der drei vorangegangenen Ebenen ist dies nicht möglich. In Abhängigkeit auch einen Effekt auf den Lernerfolg der
vom Maßnahmenbereich können diese Veränderungen sehr unterschiedlich sein und Schülerinnen und Schüler hat (indirekter
sind meist erst mittel- bis längerfristig beobachtbar. Insbesondere ist es schwierig, den Effekt der Fortbildung)
direkten Bezug zur Maßnahme nachzuweisen.

Interne Evaluationen können somit sowohl Selbstevalua- Praxis zu realisieren ist. Sie unterscheiden sich dabei aber
tionen als auch Fremdevaluationen sein, je nachdem ob die teilweise stark in ihren Zielsetzungen, ihrem Evaluationsver-
Evaluierenden direkt an der Maßnahme beteiligt sind oder ständnis und ihrem Methodenkanon (Miller 2010). Bisher
wurden zwar einige Versuche zur Bündelung von verschiede-
nicht. Die Vorteile der internen Evaluation sind gleichzeitig
die Nachteile der externen Evaluation und umgekehrt (z. B. nen Modellen zu übergeordneten Evaluationsansätzen unter-
Buschor 2002). So haben interne Evaluationen den Vorteil, nommen (z. B. Alkin & Christie 2004; Soellner 2010; Stuffle-
dass die Evaluierenden mit dem Gegenstand gut vertraut beam & Shinkfield 2007; Widmer & De Rocchi 2012), diese
sind, wodurch die Evaluation ökonomisch ist und im All- haben aber bisher nicht zu einer einheitlichen Klassifizierung
gemeinen auch hohes Commitment vorliegt. Nachteilig sind geführt. So unterscheidet der Evaluationstheoriebaum nach
Alkin und Christie (2004) beispielsweise drei Evaluations-
die Gefahr der Parteilichkeit und Urteilsverfälschung, sowie
die häufig fehlende methodische Expertise. Aus diesen Grün- ansätze (nutzenorientierte, bewertungsorientierte und me-
den wird häufig eine Kombination von interner und externer thodenorientierte Ansätze), denen 29 verschiedene Evaluati-
Evaluation vorgenommen. onsmodelle zugeordnet sind. Die Wahl eines konkreten Eva-
Eine weitere Differenzierung kann hinsichtlich der Ver- luationsmodells sollte sich primär an den Evaluationsfragen
und damit an den Evaluationskriterien ausrichten. Zur Er-
antwortlichkeit für die Zielsetzung der Evaluation vorgenom-
men werden. Bei intern konzipierter Evaluation setzt sich leichterung und Professionalisierung der praktischen Arbeit
mit bestimmten Evaluationsmodellen wurden an der Wes-
die Institution/Organisation selbst Evaluationsziele, bei ex-
tern Michigan University (2016) umfassende Evaluations-
tern konzipierter Evaluation werden die Evaluationsziele oft
von einer übergeordneten Einrichtung formuliert (z. B. er- checklisten entwickelt (7 https://www.wmich.edu/evaluation/
folgt die Evaluation universitärer Lehre gemäß rechtlicher checklists). Diese bieten eine gute Orientierung bei der Ent-
Bestimmungen der Wissenschaftsministerien). scheidung für Evaluationsmodelle und ihrer konkreten prak-
tischen Umsetzung.
1 Evaluationsmodelle Im Folgenden gehen wir auf das Vier-Ebenen-Modell nä-
Seit den Anfängen der Evaluationsforschung lässt sich ei- her ein (Kirkpatrick & Kirkpatrick 2010), ein für die Praxis
ne stetige Zunahme an Evaluationsansätzen und -modellen bedeutendes Evaluationsmodell mit einem nutzenorientier-
feststellen. Diese theoretischen Ansätze geben methodolo- ten Evaluationsansatz (. Tab. 26.1). Nutzenmodelle stellen
gisch und inhaltlich vor, wie eine Evaluationsstudie in der die praktische Verwertbarkeit der Evaluationsergebnisse für
26.3  Bildungsmonitoring als Spezialform von Evaluation
525 26
die Stakeholder in den Vordergrund. Im Vier-Ebenen-Modell können. Dieses Ideal lässt sich aber in der Evaluationspraxis,
werden die Ziele von Evaluationen in Form von Fragen prä- insbesondere im Schulkontext, aufgrund der hohen metho-
zisiert, die durch die Evaluation beantwortet werden sollen dischen Anforderungen nur selten realisieren (Wottawa &
und auf vier Ebenen angesiedelt sind. Die Ebenen sind hier- Thierau 2003).
archisch zu verstehen, d. h. Fragen zu einer höheren Ebene
setzen sinnvollerweise die Beantwortung von Fragen auf dar-
unterliegenden Ebenen voraus. Es ist aber durchaus legitim 26.3 Bildungsmonitoring als Spezialform
– z. B. aufgrund eingeschränkter Ressourcen – nur die unte- von Evaluation
ren Ebenen zu untersuchen, was in der Praxis auch häufig der
Fall ist, da der Aufwand und die Komplexität von Evaluatio- Unter Bildungsmonitoring wird „die systematische und regel-
nen mit der Höhe der Ebenen ansteigen. mäßige Erfassung von Indikatoren für die Qualität von Bil-
Subjektive Bewertungen über Zufriedenheit und Nutzen dungssystemen oder dessen Teilsystemen verstanden“ (Pren-
der Maßnahme (Ebene 1: Akzeptanz) werden meist in Form zel & Seidel 2010, S. 330). Diese systematische Beobachtung
von standardisierten schriftlichen Fragen mit offenem oder von Bildungsergebnissen geschieht dabei durch die Bildungs-
geschlossenem Antwortformat erhoben. Oft kommen dabei politik und die Bildungsverwaltung mit dem Ziel Stärken,
auch nur sogenannte happiness sheets (Smilies) zum Ein- Schwächen und Probleme im Bildungssystem zu identifizie-
satz. Untersuchungsmethoden zur Erhebung von Daten auf ren. Insbesondere Befunde über die erreichten Bildungser-
der nächsten Ebene (Ebene 2: Lernen), die den Lernerfolg gebnisse geben Hinweise über die Qualität eines Bildungs-
durch die Maßnahme adressieren, sind Einstellungsskalen, systems und können auch Nachsteuerungsbedarf anzeigen.
Wissenstests oder auch Selbsteinschätzungen des Lernfort- Die aus dem Bildungsmonitoring gewonnenen Informatio-
schritts. Die darauffolgende Ebene (Ebene 3: Verhalten) be- nen sollen als Steuerungswissen dienen und zu einer evidenz-
zieht sich auf die Übertragung des Gelernten auf andere basierten Qualitätssicherung im Bildungswesen beitragen.
Situationen oder Inhaltsbereiche (Transfer). Gefragt wird, ob Prominente Beispiele für Bildungsmonitoring sind interna-
die Lerninhalte im Alltag umgesetzt werden. Die valide Mes- tionale Schulleistungsstudien wie TIMSS oder PISA, aber
sung von Verhaltensänderung im Alltag ist zeitintensiv und auch das Überprüfen des Erreichens von nationalen Bil-
oft mit hohem Aufwand verbunden. Hier eignet sich be- dungsstandards. Seit der regelmäßigen Durchführung von
sonders ein Multi-Informant-Multi-Method-Ansatz (mehrere Schulleistungsstudien in Deutschland und Österreich wur-
Gruppen wie Schülerinnen und Schüler, Eltern, Lehrkräfte de auch der Schwerpunkt weg von einer input-orientierten
und Schulleitung werden mit mehreren Erhebungsmetho- und hin zu einer output-orientierten Steuerung der Bildungs-
den wie mündliche Befragung und Beobachtung untersucht). systeme gelegt. Lag der Fokus in der Qualitätssicherung frü-
Die vierte und am schwierigsten nachweisbare Ebene bezieht her noch fast ausschließlich auf Elementen wie Lehrplänen
sich auf die Ergebnisse auf der Organisationsebene (Ebene 4: und Ausbildungsbestimmungen für Lehrkräfte (Input), wird
Ergebnisse). Im Schulkontext könnte die Frage gestellt wer- heute überprüft, ob Schülerinnen und Schüler fachspezi-
den, ob sich durch eine Fortbildung für Lehrkräfte und der fische Kompetenzen (z. B. Lesekompetenz, Textverständnis
damit verbundenen erfolgreichen Umsetzung des Gelernten oder mathematisches Problemlösen) und fächerübergreifen-
in der Unterrichtspraxis auch Vorteile für die Schülerinnen de Kompetenzen (insbesondere nicht-kognitive Aspekte wie
und Schüler (z. B. verbessertes Fachinteresse) sowie die Schu- motivationale Einstellungen, Interessen oder Lernstrategien,
le als Ganzes (z. B. positiveres Schulklima) ergeben. Analog die zentral für Lebenslanges Lernen sind) als Bildungsergeb-
zur dritten Ebene empfiehlt sich auch für die Erfassung der nisse erworben haben (Output).
vierten Ebene ein Multi-Informant-Multi-Method-Ansatz.
Abschließend lässt sich festhalten, dass es zur Durch- Studie: PISA
führung von Evaluationen kein singuläres Rezept gibt und Bei PISA (Programme for International Student Assessment) wer-
auch keines geben kann. Funktionen, Kriterien, Ziele und den weltweit Leistungen von Schülerinnen und Schülern er-
Anspruchsgruppen sind zu unterschiedlich, um ihnen mit fasst und international miteinander verglichen. Die Studie wird
dem einen Rezept begegnen zu können (Giel 2013). Dies im Auftrag der OECD (Organization for Economic Cooperation
zeigt sich auch bei den unterschiedlichen Erfassungsmetho- and Development) durch nationale Bildungsinstitute durchge-
den und Evaluationsdesigns, die zur Anwendung kommen. führt. PISA befasst sich mit der Frage, inwieweit 15- und 16-
Klassische Erfassungsmethoden sind u. a. Fragebögen, Tests, jährige Schülerinnen und Schüler grundlegende Kompetenzen
Beobachtungen und Interviews, die sowohl quantitativ als in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaft erworben haben.
auch qualitativ eingesetzt werden können (für ausführliche- PISA erfasst, in welchem Ausmaß Jugendliche das Wissen, das
re Einblicke in sozialwissenschaftliche Erfassungsmethoden sie im Laufe der Pflichtschulzeit erworben haben, in realitätsna-
7 Kap. 24, 27). Bei den Evaluationsdesigns lassen sich expe- hen Situationen einsetzen und anwenden können. Die Haupt-
rimentelle, quasi-experimentelle oder nicht-experimentelle ziele von PISA sind Daten zur Qualität und Effektivität verschie-
Ansätze mit jeweils einem oder mehreren Messzeitpunkten dener Schulsysteme in den Mitgliedsstaaten zu gewinnen so-
unterscheiden (7 Kap. 27). Dabei stellt auch bei der Evaluation wie durch internationale Vergleiche Stärken und Schwächen zu
der experimentelle Zugang den Königsweg dar um mögli- identifizieren. Erhoben werden neben Leistungen auch nicht-
che Störquellen ausschalten und kausale Schlüsse ziehen zu kognitive Aspekte (z. B. Lernmotivation, verwendete Lernstra-
526 Kapitel 26  Evaluation und Qualitätssicherung

tegien), Kontextfaktoren (Merkmale der Bildungseinrichtungen


wie Schulart, Unterrichtsqualität, soziales Klima in der Klasse) nordische Staaten in internationalen Schulleistungsun-
sowie demografische, sozial-ökonomische, familiäre und indivi- tersuchungen (PISA) erzielen, den Mythos gerechter und
26 duelle Faktoren (z. B. Einkommen, Bildung und Beruf der Eltern, leistungsstarker nordischer Bildungssysteme rechtferti-
Migrationshintergrund).Begleitend werden internationale und gen. Gelingt es diesen Staaten tatsächlich, einer großen
nationale Zusatzbefragungen mit spezifischen Schwerpunkten Zahl ihrer Schülerinnen und Schüler die Kompetenzen
(z. B. Gewalt in Schulen) durchgeführt. zu vermitteln, die sie für das Leben und Weiterlernen in
Die Erhebungen finden seit 2000 in einem dreijährigen Ab- einer Wissensgesellschaft benötigen? Um diese Frage zu
stand statt. Die Gesamtzahl der teilnehmenden Schülerinnen beantworten, wurden Befunde aus drei PISA Runden (2000,
und Schüler steigt stetig, da immer mehr Staaten an PISA teil- 2003, 2006) miteinander verglichen. Es zeigte sich, dass nur
nehmen (PISA 2012: 510 000 Jugendliche aus 65 Staaten). Die Finnland ausnahmslos herausragende Leistungen über alle
Anzahl an Schulen und Schülerinnen und Schüler pro Land drei Domänen (Lesen, Mathematik, Naturwissenschaften)
bleibt aber aufgrund der definierten Verfahren zur Gewinnung erreichte. Alle anderen nordischen Länder (Dänemark,
der repräsentativen Stichproben relativ konstant (PISA 2012; Island, Norwegen, Schweden) lagen größtenteils im
Deutschland: 230 Schulen/5001 Kinder; Österreich: 201 Schu- OECD-Durchschnitt und erreichten nur in einzelnen
len/5448 Kinder). Im Jahr 2015 fand der insgesamt sechste Domänen überdurchschnittliche Ergebnisse. Dement-
Durchgang von PISA statt, wobei die Naturwissenschaftskom- sprechend kann allenfalls von einem „Mythos Finnland“
petenz im Fokus stand. Dies ist auch der erste Durchgang bei gesprochen werden. Trotz der ähnlichen Bildungssysteme
dem die Schülerinnen und Schüler die Tests und Fragebögen in den fünf Staaten erzielte Finnland deutlich bessere
am Computer bearbeiteten. Bildungsergebnisse in den betrachteten PISA-Runden.
Besonders erfolgreich sind hingegen alle nordischen
Um die Bildungsergebnisse angemessen beurteilen und
Länder im Hinblick auf die Entkoppelung des Zusammen-
interpretieren zu können, müssen aber auch weitere Merk-
hangs zwischen sozialer Herkunft und den Kompetenzen
male von Bildungssystemen erfasst werden wie der Kon-
der Schülerinnen und Schüler. Dies ist insbesondere inter-
text (Demografie, Bildungsstand der Elterngeneration, wirt-
essant, betrachtet man zusätzliche Bedingungsfaktoren
schaftlicher Rahmen, Bildungsetat), Inputs (personelle und
von Schule (Unterrichtszeit) und Klasse (Klassengröße),
finanzielle Ressourcen, die im Einflussbereich der Akteure
die nur geringfügig vom OECD-Durchschnitt abwei-
im Bildungssystem liegen) oder Prozessfaktoren (Schulein-
chen. Auch finden sich kaum Geschlechtsunterschiede in
tritt, Lernumgebung und -organisation, Schullaufbahnent-
Mathematik und den Naturwissenschaften. In Deutsch-
scheidungen, Schulklima, Benotung, Schulerfolg, Klassen-
land und Österreich ist der Zusammenhang zwischen
wiederholung).
sozialer Herkunft und den erreichten Kompetenzen
Ein weiteres Ziel ist der Vergleich mit anderen Ländern,
der Jugendlichen hingegen viel größer, wobei sich
um zu lernen wie in anderen Ländern vorgegangen wird und
nur für Deutschland ein positiver Trend hin zu mehr
auf welche Weise dort bestimmte Probleme gelöst werden.
Chancengerechtigkeit zeigt. Zusammenfassend lässt
Diese normativen Vergleiche bergen aber auch Gefahren, wie
sich auf Basis der PISA-Ergebnisse aber eine idealisierte
der Mythos über die leistungsstarken nordischen Bildungs-
Betrachtung aller nordischen Bildungssysteme nicht
systeme zeigt.
rechtfertigen.

Mythos: Leistungsstarke nordische Bildungssysteme


Um die Jahrtausendwende erschütterte die deutsche Ein wesentliches Erfolgskriterium für die Durchführung
Bildungspolitik das nur mittelmäßige Abschneiden ihrer und Qualität von Bildungsmonitoring ist die Akzeptanz
Jugendlichen in den internationalen Schulleistungsstudien durch die beteiligten Personen (Lehrkräfte, Schulleitung,
(TIMMS und PISA). Als Folge des „TIMMS-Schock“ und der Schülerinnen und Schüler, Eltern). Eine ausschlaggebende
„PISA-Katastrophe“ wurden in den letzten 15 Jahren durch Rolle spielen dabei Informationspolitik, Transparenz und ge-
Journalisten, Bildungspolitiker und Fachleute für Schule eignete Rückmeldungsinstrumente für die Praxis (z. B. Schul-
die nordischen Bildungssysteme stark gepriesen. Dies rückmeldungen der Ergebnisse). Unabdingbar ist auch die
ging so weit, dass sich die Darstellungen der nordischen Bereitschaft der Verantwortlichen aus den gewonnen Infor-
Bildungssysteme und ihrer Erfolge, sowohl in Deutschland mationen zu lernen (7 Abschn. 26.2.1).
als auch in Österreich zu einer Idealvorstellung eines Ein weiteres Ziel von Bildungsmonitoring ist es, die brei-
vorbildlichen Bildungssystems auf allen Ebenen verfestigt te Öffentlichkeit über Bildungsergebnisse zu informieren. Die
haben. Bei Überlegungen zur Weiterentwicklung des Bil- Ergebnisse des Bildungsmonitorings auf internationaler und
dungssystems werden dementsprechend die nordischen nationaler Ebene werden seit einigen Jahren in den deutsch-
Länder häufig als Vorbild gesehen. sprachigen Ländern in sogenannten Nationalen Bildungsbe-
Kobarg und Prenzel (2009) gingen in ihrem Überblicks- richten zusammengefasst (z. B. Bruneforth & Lassnig 2012;
artikel der Frage nach, ob die Bildungsergebnisse, die Herzog-Punzenberger 2012; Konsortium Bildungsberichter-
stattung 2014), wobei zumeist die Analysen auf Basis quanti-
26.4  Evaluation aus praktischer Perspektive
527 26
tativer Indikatoren durch differenzierte qualitative Analysen umgesetzte Ergebnisorientierung weitreichende Folgen für
ergänzt werden. den Unterricht haben kann und sich daraus auch große Ver-
Bildungsmonitoring generiert auch wichtige Basisdaten änderungen für die unmittelbare Arbeit der Lehrkräfte erge-
für die empirische Bildungsforschung. Allerdings lassen sich ben können (z. B. wenn Evaluationsergebnisse aufzeigen, dass
dessen hauptsächlich deskriptiven Befunde ohne Evidenz zentrale Unterrichtsziele bisher nicht erreicht werden). Gene-
aus empirischen Forschungsstudien nur unzureichend inter- rell lösen Veränderungen oft Bedrohungsgefühle aus (Wot-
pretieren. So können Ursachen und Erklärungsansätze für tawa 2001) und können nur unter bestimmten persönlichen
die Ergebnisse sowie Hinweise zu Interventionsmöglichkei- wie umgebungsbezogenen Bedingungen als Chance gesehen
ten aus PISA und ähnlichen Studien nicht direkt abgeleitet werden. Dazu zählen das Vertrauen in die eigenen Fähig-
werden. Um mögliche Ursachen von Lernergebnissen be- keiten, diese Veränderungen auch erfolgreich bewältigen zu
stimmen zu können und Maßnahmen zum Umgang mit den können, und ein Organisationssystem, das die Veränderun-
identifizierten Schwächen zu entwickeln, ist es notwendig gen unterstützt.
Lehr-Lern-Prozesse und deren Effekte im konkreten Unter- Damit das Ziel des Kompetenzerwerbs bei den Schüle-
richt zu untersuchen. rinnen und Schülern erreicht werden kann, sollten alle orga-
nisationalen, strukturellen und pädagogischen Maßnahmen
der Lehrkräfte auf dieses Ziel gerichtet sein. Grundlegend da-
26.4 Evaluation aus praktischer Perspektive für sind eine Ergebnisverantwortlichkeit (im Sinne einer Be-
reitschaft zur Verantwortungsübernahme für das Erreichen
In diesem Abschnitt wird aufgezeigt, welche Grundhaltung in gemeinsam getragener Ziele) sowie eine evaluative Grund-
Bildungsinstitutionen (Schulen) erforderlich ist, damit Eva- haltung (vgl. Atria, Reimann & Spiel 2006; Haider, Eder,
luationen zu Qualitätsverbesserungen führen können, und Specht & Spiel 2003; Hattie 2012). Demgemäß sollte es die
wie ein Evaluationsprojekt in der Schule konkret gestaltet handlungsleitende Maxime einer Lehrkraft sein sich expli-
werden kann. zit zu fragen, (1) welche Lernziele sie aktuell verfolgt, (2) ob
diese erreicht werden, (3) warum und wie bzw. warum nicht
und (4) was verändert werden sollte, um sie zu erreichen. Da-
zu zählt auch die Grundhaltung, möglichen Veränderungen
26.4.1 Eine evaluative Grundhaltung nicht per se negativ gegenüberzustehen (vgl. „Offenheit für
einnehmen Erfahrungen“, wie sie im Persönlichkeitsmodell der Big Five
spezifiziert wird, Asendorpf 2007). Auf der Ebene der ein-
Als ein Element der Qualitätssicherung im Schulsystem ist er- zelnen Personen (Lehrkräfte, Schulleiterinnen und Schullei-
gebnisorientierte Steuerung schon seit Mitte der 1990er-Jahre ter) sind dafür spezifische Qualifikationen und Kompetenzen
ein zentrales Thema der Bildungspolitik – international eben- erforderlich. Diese Kompetenzen ergebnisorientierter Qua-
so wie in Deutschland und Österreich. Ergebnis-, Output- litätsentwicklung von Schule (KoEQS; Schober et al. 2012)
oder Kompetenzorientierte Qualitätsentwicklung der Schu- werden wie folgt spezifiziert (7 Im Fokus).
le (Neuweg 2011; Schott & Azizi Ghanbari 2009) meint die
Optimierung von Schule als Ganzem durch eine Ausrich- Im Fokus: Kompetenzen für ergebnisorientierte Entwicklung
tung des Unterrichts und der gesamten schulischen Arbeit
an den Lernergebnissen der Schülerinnen und Schüler (z. B. Kompetenzbereiche, die sich auf ergebnisorientiertes
an ihren Kompetenzen). Deren Umsetzung ist nicht zuletzt Unterrichten und dessen Entwicklung beziehen:
Folge der ernüchternden Resultate des Bildungsmonitorings 4 (Lern-)Ziele definieren können
(insbesondere TIMSS und PISA), das die Effektivität der in- 4 Maßnahmen zur Zielerreichung umsetzen können
putorientierten Steuerung (u. a. durch detaillierte Vorgaben 4 Messen und Überprüfen können, ob und inwieweit
zu Lehrplänen und Unterrichtsinhalten) in Frage stellt. Schon diese Zielerreichung erfolgt ist
seit einigen Jahren gibt es daher verschiedene Initiativen für 4 Maßnahmen als Konsequenzen daraus ableiten können
neue Steuerungsmodelle (z. B. über Bildungsstandards, die Kompetenzbereiche, die sich auf explizite Prozesse der
Einführung eines Zentralabiturs in Deutschland und einer Evaluation beziehen:
Zentralmatura in Österreich, kompetenzorientierte Lehrplä- 4 Interne Evaluationen (d. h. Wirksamkeitsanalysen)
ne; vgl. Klieme 2004). Die Haltungen von Lehrkräften dazu einleiten und durchführen können
sind allerdings heterogen und keineswegs vorwiegend positiv. 4 Mit Ergebnissen externer Evaluationen umgehen und
So herrscht z. B. Skepsis über die Nützlichkeit der Feedbacks diese verwerten können
für den Unterricht oder die neuen Steuerungsformen werden
als Zunahme von Kontrolle, als Gängelung, erlebt (Schober,
Klug, Finsterwald, Wagner & Spiel 2012). Diese skeptische Die ersten vier der genannten Kompetenzbereiche fokus-
Haltung von Lehrkräften hat eine Reihe nachvollziehbarer sieren spezifisch und unmittelbar ergebnisorientiertes Un-
Gründe. Dazu zählt der nur schwer führbare Nachweis einer terrichten und dessen Entwicklung. Die Kompetenzbereiche
per se höheren Effektivität der output-orientierten Steuerung fünf und sechs betreffen dagegen grundlegend den Umgang
(Fend 2011). Daneben spielt auch eine Rolle, dass konsequent mit expliziten Prozessen der Evaluation (intern wie extern).
528 Kapitel 26  Evaluation und Qualitätssicherung

Eine evaluative Grundhaltung setzt grundsätzlich voraus, Maßnahmen werden beispielsweise ohne klare Zielsetzun-
dass Personen überhaupt bereit sind, Verantwortung zu über- gen durchgeführt, die Ziele sind unpräzise formuliert, Ziele
nehmen, sich den Zielen ihrer Schule verbunden fühlen und und Maßnahmen korrespondieren nicht etc. Als Konsequenz
26 auch überzeugt sind, diese erreichen zu können (Selbstwirk- kommt der Zielexplikation im Rahmen von Evaluationspro-
samkeit; Bandura 1997; 7 Kap. 11). jekten ein hoher Stellenwert zu. Sie sollte daher integraler
Bestandteil jeder Evaluation sein und vor dem empirischen
Zugriff durchgeführt werden.
26.4.2 Beispiel: Verringert sich aggressives Voraussetzung für eine fundierte Zielexplikation ist die
Klärung der Funktion und der Anspruchsgruppen der Evalu-
Verhalten durch ein ation (Atria, Reimann & Spiel 2006). Die Funktion bestimmt
Anti-Aggressionstraining das Vorgehen bei der Zielexplikation sowie die weiteren
im Unterricht? Schritte der Evaluation. Dabei ist auszuloten, ob ernsthaftes
Interesse an der Evaluation besteht oder nur eine Pseudo-
Im Folgenden wird ein konkretes Beispiel einer Realisierung evaluation erwartet wird. Im WiSK-Beispiel waren sowohl
von Evaluation in Schule und Unterricht gegeben. Stellen Sie eine Erkenntnisfunktion (Wirkung der Maßnahme in die-
sich dazu folgende Ausgangssituation vor. ser Schule) als auch eine Entscheidungsfunktion (möglicher
In einem Gymnasium in Wien wurde für zwei Klassen Einsatz auch in anderen Klassen) bedeutsam. Gemeinsam
der 6. Jahrgangsstufe über 12 Wochen hinweg das Anti- mit den Auftraggebenden sollte eine erste Bestimmung der
Aggressionstraining WiSK (Wiener Soziales Kompetenztrai- Anspruchsgruppen für die Evaluation erfolgen. Auftragge-
ning; Strohmeier, Hoffmann, Schiller, Stefanek & Spiel 2012; bende sehen die potentiellen Stakeholder häufig sehr ein-
Strohmeier & Spiel 2016) durchgeführt. Die Hauptziele des geschränkt (Wottawa & Thierau 2003), d. h. auf die un-
WiSK sind die Reduktion von aggressivem Verhalten und die mittelbar Betroffenen beschränkt. Umgelegt auf unser Bei-
Verbesserung des sozial kompetenten Verhaltens. Als ganz- spiel könnte man neben den Schülerinnen und Schülern,
heitliches Schulkonzept zielt es auf die Einbindung einer die am WiSK-Programm als direkt Betroffene teilnehmen,
möglichst großen Gruppe von Personen ab (Schulleitung, auch noch Schulleitung, Lehrkräfte und Eltern als weitere
Lehrkräfte, Eltern, Schülerinnen und Schüler). Das Training Anspruchsgruppen hinzufügen. Für eine Erweiterung der
wird von einer Lehrerin aus der Schule durchgeführt, die Anspruchsgruppen und den damit einhergehenden Mehr-
gleichzeitig zertifizierte WiSK-Trainerin ist, aber in keiner der aufwand (z. B. zusätzliche Erhebungsinstrumente, Datener-
beiden Klassen unterrichtet. Die Schulleitung möchte wis- hebung, Datenauswertung) spielen allerdings die Ressourcen,
sen, ob sich das aggressive Verhalten der Schülerinnen und die für die Evaluation zur Verfügung stehen, eine wesentliche
Schüler durch das Training verringert hat. Die Wirksamkeit Rolle.
des Trainings soll nun im Rahmen einer internen Evaluation Die konkrete Zielexplikation sollte idealerweise im Rah-
durch nicht an der Maßnahme beteiligte Lehrkräfte beurteilt men eines oder mehrerer Workshops durchgeführt werden,
werden. an denen Vertreterinnen und Vertreter der Auftraggebenden
Wie würden Sie aufgrund der vorliegenden Informatio- sowie sämtlicher Anspruchsgruppen teilnehmen. In unserem
nen eine Evaluation anlegen? . Tab. 26.2 zeigt eine mögliche Beispiel würden an diesen Workshops die Schulleitung als
Umsetzung unter Berücksichtigung der zuvor eingeführten Auftraggeber sowie Vertreterinnen und Vertreter von Schü-
Evaluationsbegriffe und Evaluationstypen sowie dem Vier- lerinnen und Schülern, Lehrkräften und Eltern teilnehmen.
Ebenen-Evaluationsmodell von Kirkpatrick und Kirkpartick Die Workshops zur Zielexplikation sind systematisch auf-
(2010). gebaut und werden unter Einsatz verschiedener Moderati-
onstechniken durchgeführt (z. B. Szenariotechnik, Brainstor-
ming, Delphi-Methode; siehe dazu Wottawa & Thierau 2003).
26.4.3 Zielexplikation oder „Was genau soll
Im Fokus: Zielexplikation von Maßnahmen
eigentlich gemacht werden“
Fragen, die bei der Zielexplikation von Maßnahmen
In vielen wissenschaftlichen Evaluationen geht es um die beantwortet werden sollen
Bewertung der Zielerreichung von Maßnahmen. Ausgangs- 1. Welche Ziele sollen mit der Maßnahme/dem Programm
punkt und Voraussetzung für jede seriöse Evaluation ist daher erreicht werden?
eine fundierte Klärung von Zielen, die sog. Zielexplikation. 2. Wie sollen diese Ziele erreicht werden?
Dabei sind zwei Arten von Zielen zu unterscheiden: Ers- 3. Woran erkennt man die Zielerreichung?
tens die Ziele der Maßnahme (z. B. „Was soll WiSK bei den
Schülerinnen und Schülern erreichen?“) und zweitens die
Ziele der Evaluation („Was soll durch die Evaluation bewertet Idealerweise werden Evaluierende bereits in die Bestim-
werden?“). Die Evaluationsziele sollten aus den Maßnah- mung der Maßnahmenziele eingebunden (erste Frage der
menzielen abgeleitet werden. In der Praxis wird dies aller- Zielexplikation). Häufig sind diese im Vorfeld der Zielex-
dings häufig nicht oder nur eingeschränkt berücksichtigt. plikation nur vage formuliert und divergieren zwischen den
26.4  Evaluation aus praktischer Perspektive
529 26

. Tabelle 26.2 Eckpunkte einer möglichen Wirksamkeitsüberprüfung des Wiener Sozialen Kompetenztrainings (WiSK) an einer Schule

Evaluationsaspekte Fallbeispiel Wirksamkeit WiSK

Evaluationsobjekt Anti-Aggressionstraining (WiSK)

Anspruchsgruppen Lehrkräfte;
Schülerinnen und Schüler;
Eltern;
Schulleitung

Evaluationskriterien Akzeptanz;
unmittelbare und dauerhafte Wirksamkeit des Trainings

Evaluationsstandards Abhängig von den Ressourcen der Schule sollten möglichst viele der 25 Einzelstandards berücksichtig werden (vgl.
7 Abschn. 26.2.1).

Evaluationsfunktion Erkenntnisfunktion (Wirkung des Trainings in dieser Schule);


Entscheidungsfunktion (möglicher Einsatz auch in anderen Klassen)

Evaluationsnutzung Informationsveranstaltung über die Wirksamkeit des Trainings;


Ausbildung von zusätzlichen WiSK-Trainerinnen und -Trainern aus dem Kollegium (Multiplikator-Effekt)

Erfassungsmethodik Fragebogenstudie: Wissensfragen zu den Inhalten des Trainings für Schülerinnen und Schüler;
Selbsteinschätzung der Schülerinnen und Schüler zum Vorkommen von aggressiven und sozial kompetenten
Verhaltensweisen;
Fremdeinschätzung durch Lehrkräfte und Eltern zum Vorkommen von aggressiven und sozial kompetenten Verhal-
tensweisen;
Einschätzung zur Veränderung des Schulklimas durch Lehrkräfte und Schulleitung

Evaluationsdesign Trainingsgruppen-Kontrollgruppen-Versuchsplan (z. B. Vergleich von Klassen: 2 Trainingsklassen, die am WiSK-


Klassenprojekt teilnahmen, werden mit 2 Kontrollklassen aus derselben Schule verglichen, die das Training nicht
durchlaufen haben);
Vorher-Nachher-Testung (vor und nach dem Training) mit möglicher Follow-up-Testung nach 3 Monaten (zur Prü-
fung der Nachhaltigkeit);
Durch das Training kann es auch zu einer Sensibilisierung kommen. Durch das Wissen, was unter Aggression ver-
standen werden kann (z. B. „böse Dinge über andere sagen“), ist es möglich, dass nach dem Training von mehr
Gewalthandlungen berichtet wird als vorher. Daher sollte explizit erfragt werden, ob es mehr Gewalthandlungen
gibt oder ob diese nur differenzierter wahrgenommen werden.

Summative Elemente Einschätzung über das Auftreten von aggressiven Verhaltensweisen;


Einschätzung über den Anstieg von sozial kompetenten Verhaltensweisen (jeweils Vergleich von Trainingsgruppe
mit Kontrollgruppe)

Formative Elemente Zufriedenheit der Schülerinnen und Schülern während des Trainings (laufend erfasst);
Probleme bei der Implementierung (Lehrkraftberichte zu „Stolpersteinen“ bei der Umsetzung)

Evaluationsebenen nach Akzeptanz: Zufriedenheit mit dem Training;


Kirkpatrick und Kirkpatrick Lernen: erworbenes Wissen;
(2010) Verhalten: Reduktion von aggressiven, Verbesserung sozial-kompetenter Verhaltensweisen;
Ergebnis: Veränderung des Schulklimas

verschiedenen Anspruchsgruppen. Im Beispiel der Evalua- maß vorhanden sind. Wichtig ist es, den Auftraggebenden zu
tion des WiSK als bereits etablierten Programms sind die vermitteln, dass es dabei nicht nur um materielle, sondern
Ziele bereits vorgegeben. auch um immaterielle Ressourcen geht (wie z. B. die ausrei-
Die zweite Frage der Zielexplikation zielt auf die Über- chende Bereitschaft an der Durchführung und Teilnahme am
einstimmung zwischen Zielen und Maßnahme ab, welche in WiSK).
der Praxis häufig gering ist. Auch hier liefern Evaluierende, Die Beantwortung der dritten Frage der Zielexplikation
sofern sie rechtzeitig eingebunden werden (d. h. bevor die ist für Auftraggebende zumeist am schwierigsten. Aus wis-
Maßnahme „fertig“ konzipiert ist), einen wesentlichen Bei- senschaftlicher Perspektive geht es hier um die Identifikation
trag zu ihrer Optimierung. Häufig werden unrealistisch hohe geeigneter messbarer Indikatoren, d. h. um die Operationa-
Ziele gesetzt, die weit über das hinausgehen, was die Maßnah- lisierung (Spiel, Lüftenegger, Gradinger & Reimann 2010).
me leisten kann. Hier sollte über das „Wirkmodell“ reflektiert Damit geht es auch darum, von Maßnahmenzielen zu Eva-
werden, d. h. die Annahmen darüber, ob und wie die ge- luationszielen zu kommen. Wichtig ist, dass hier möglichst
setzten Maßnahmen zu den intendierten Ergebnissen führen. konkrete Angaben gemacht werden, da die erarbeiteten Indi-
Zusätzlich sollte geklärt werden, ob die zur Realisierung der katoren die Basis für die Auswahl bzw. die Entwicklung von
Maßnahme erforderlichen Ressourcen im notwendigen Aus- Evaluationsinstrumenten darstellen. Für jeden der erarbeite-
530 Kapitel 26  Evaluation und Qualitätssicherung

. Tabelle 26.3 Zielexplikation im Beispiel der WiSK-Evaluation

Ziel Indikatoren Erfolgskriterium


26 Zufriedenheit mit dem Training Einschätzung durch beteiligte Schülerinnen Positive Bewertung bei Mehrheit der Schülerin-
und Schüler nen und Schüler
(1 oder 2 auf Schulnotenskala)

Wissen über Aggression (Vergleich Trai- Erreichte Punkte im Wissenstest für teilneh- Mehr Wissen als vor dem Training
ningsgruppe mit Kontrollgruppe) mende Kinder

Reduktion von Aggression (Vergleich Trai- Nominierung von Tätern und Opfern durch Weniger Täter und Opfer als vor dem Training
ningsgruppe mit Kontrollgruppe) Peers; Weniger berichtetes aggressives Verhalten
Selbsteinschätzung der Häufigkeit von erlebter
und selbstausgeübter Aggression

Schulklima Subjektive Einschätzung durch Lehrkräfte Schulklima gleich oder besser wie vor dem
Training

ten Indikatoren sollten, sofern möglich, auch Erfolgskriterien


benannt werden (Atria et al. 2006). . Tab. 26.3 illustriert dies Erkenntnisse daraus werden in nationalen und internatio-
für das WiSK-Beispiel. nalen Bildungsberichten festgehalten.
Qualifiziert durchgeführte Evaluationen haben im
Rahmen der Qualitätssicherung ein immenses Potential,
dem jedoch immer noch das Image von Evaluation als
Zusammenfassung
bedrohendem Kontroll- und Benotungsinstrument ent-
Der Begriff „Evaluation“ ist mittlerweile ein Modewort
gegensteht. Insbesondere im Schulkontext herrscht noch
und umfasst alltagssprachlich alle möglichen Formen und
eine große Skepsis über den Nutzen von Evaluationen vor.
Arten von Bewertungen. In Abgrenzung dazu versteht
Voraussetzung zur Aktivierung des Potentials von Evalua-
man unter wissenschaftlicher Evaluation oder Evaluati-
tionen ist deshalb eine evaluative Grundhaltung – also
onsforschung eine wissenschaftsgestützte Untersuchung
die Einstellung, dass Evaluation ein sinnvolles Element
von Gegenständen (z. B. Maßnahmen, Programme) un-
im Qualitätsmanagement ist und zu stetigen Anpassun-
ter Berücksichtigung geltender Standards. Diese systema-
gen und Verbesserungen der eigenen Tätigkeiten führen
tische Bewertung eines Evaluationsgegenstands erfolgt
kann.
anhand bestimmter Evaluationskriterien (z. B. Akzeptanz,
Wirksamkeit, Nachhaltigkeit) und berücksichtigt relevan-
te Anspruchsgruppen. Die durch die Evaluation gefunde-
nen Ergebnisse können dabei in der Praxis verschiedene
Evaluationsfunktionen erfüllen (z. B. Entscheidungs- oder
Verständnisfragen
Optimierungsfunktion). Die Evaluationsnutzung im Sinne
des aktiven Aufgreifens der Ergebnisse sollte dabei durch ?1. Welche Evaluationsobjekte im schulischen Kontext
konkrete Maßnahmen der Evaluierenden (z. B. Abschluss- fallen Ihnen ein?
bericht, Beratung, Workshops, Empfehlungen) unterstützt 2. Ein Schulprojekt zur politischen Bildung der Schü-
werden. lerinnen und Schüler wird evaluiert. Wer könnte
Verschiedene Evaluationstypen können einerseits abgesehen von den Schülerinnen und Schülern noch
unterschieden werden nach ihren Zielen (Baseline- eine Anspruchsgruppe (Stakeholder) darstellen?
Evaluation, Prospektive Evaluation, Formative Evaluation, 3. Welche Evaluationskriterien kommen zum Tragen,
Summative Evaluation, Impact-Evaluation), andererseits wenn man eine zusätzliche Messung (Follow-Up-
nach der Rolle der Evaluierenden (Selbst, Fremd, Intern, Messung) nach 6 Monaten durchführt, um die Wirkung
Extern). Einen für die (pädagogische) Praxis sehr hilfrei- einer Intervention zu erfassen?
chen Ansatz stellt das Vier-Ebenen-Modell (Kirkpatrick 4. Welche Standards für Evaluationen kennen Sie?
& Kirkpatrick 2010) dar, anhand dessen die Erreichung 5. Welche Funktionen hat das Bildungsmonitoring durch
der Evaluationsziele auf vier Ebenen (Reaktion, Lernen, PISA?
Verhalten, Ergebnisse) beurteilt wird. 6. In einer Schule wird eine Intervention zur Verbesse-
Eine Spezialform von Evaluation stellt das Bildungs- rung von mathematischen Problemlösefähigkeiten
monitoring und die dazu gehörenden Schulleistungsstu- durchgeführt. Warum ist hier eine Baseline-Evaluation
dien (z. B. PISA) dar. Diese treffen anhand von bestimm- wichtig?
ten Indikatoren (wie empirischen Leistungsvergleichen) 7. Wie unterscheidet sich die formative Evaluation von
Aussagen über Bildungssysteme oder Teile davon. Die der summativen Evaluation?
Literatur
531 26
8. Kann eine interne Evaluation gleichzeitig eine Fremd- JCSEE – Joint Committee on Standards for Educational Evaluation (2011).
evaluation sein? Warum? The program evaluation standards (3. Aufl.). Thousand Oaks, CA: SAGE.
9. An einer Schule wird eine Intervention zur Ver- Kirkpatrick, D. L., & Kirkpatrick, J. D. (2010). Evaluating training programs:
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533 27

Forschungsmethoden
Tobias Engelschalk, Martin Daumiller, Marion Reindl und Markus Dresel

27.1 Macht Kaugummikauen schlau? – 534

27.2 Wie entsteht empirisch gesichertes Wissen? – 534


27.2.1 Wechselwirkungen zwischen Praxis, Theorie und Empirie – 534
27.2.2 Hypothesen und Variablen – 535
27.2.3 Wichtige Schritte im Forschungsprozess – 536

27.3 Erhebungsmethoden – 537


27.3.1 Konstrukte und die Schwierigkeiten ihrer Messung – 537
27.3.2 Messansätze in der Psychologie – 538
27.3.3 Überblick über Erhebungsmethoden – 539
27.3.4 Skalenniveaus – 543

27.4 Untersuchungsdesigns – 544


27.4.1 Experiment und Quasiexperiment – 545
27.4.2 Querschnittuntersuchung – 546
27.4.3 Längsschnittuntersuchung – 547
27.4.4 Metaanalyse – 547
27.4.5 Generalisierbarkeit von Untersuchungsergebnissen – 548

27.5 Analysemethoden – 550


27.5.1 Deskriptive Statistik – 550
27.5.2 Inferenzstatistik – 553

27.6 Finden, Lesen und Bewerten von psychologischen


Forschungsstudien – 554
27.6.1 Wie finde ich belastbare Forschungsergebnisse zu einem praktischen
Phänomen? – 554
27.6.2 Wie lese ich einen psychologischen Originalartikel? – 555

Verständnisfragen – 559

Literatur – 560

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019


D. Urhahne, M. Dresel, F. Fischer (Hrsg.), Psychologie für den Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55754-9_27
534 Kapitel 27  Forschungsmethoden

27.1 Macht Kaugummikauen schlau? die den Mythos zur leistungsförderlichen Wirkung des Kau-
gummikauens entkräftet, illustriert 7 Abschn. 27.6 schließlich
die sachgemäße und gewinnbringende Nutzung publizierter
Steigert Kaugummikauen wirklich die Leistungsfähigkeit von Forschungsergebnisse.
Schülerinnen und Schülern? Sollte ich im Unterricht lieber
keine Witze machen und wenn doch, welche? Wie können
27 die Möglichkeiten digitaler Medien im Unterricht lerneffektiv 27.2 Wie entsteht empirisch gesichertes
genutzt werden? Wie entstehen Disziplinschwierigkeiten und Wissen?
wodurch kann ihnen vorgebeugt werden? Was kennzeichnet
effektives selbstgesteuertes Lernen und wie kann dieses geför-
27.2.1 Wechselwirkungen zwischen Praxis,
dert werden?
Vor diesen und ähnlichen Fragen stehen Lehrkräfte tag- Theorie und Empirie
täglich in ihrer Arbeit. Zu vielen schulrelevanten Themen
gibt es Alltagsannahmen und Alltagstheorien, die manchmal Ein häufig bemühtes Vorurteil besagt, Wissenschaftlerinnen
sogar zutreffen. In den meisten Fällen sind diese im Lichte und Wissenschaftler würden ihren Elfenbeinturm kaum ver-
wissenschaftlicher Forschung aber zu undifferenziert, wie et- lassen, Praktikerinnen und Praktiker würden sich dagegen oft
wa die Alltagstheorie, dass Humor im Unterricht keinen Platz den Erkenntnissen der Wissenschaft verschließen. Gerade die
hat (vgl. Bieg, Grassinger & Dresel 2017). Viele Fragen, mit bildungswissenschaftliche Forschung ist aber stark von prak-
denen Lehrkräfte konfrontiert sind, resultieren aus aktuel- tischen Fragestellungen inspiriert (7 Kap. 18). Umgekehrt ist
len gesellschaftlichen Herausforderungen wie der fortschrei- professionelles Unterrichten ohne fundiertes Theoriewissen
tenden Digitalisierung. Hier versucht die Forschung schnell undenkbar und profitiert von den Ergebnissen der empiri-
tragfähige Erkenntnisse zu liefern (7 Kap. 19). Zu anderen schen Forschung.
Fragen, wie zu Disziplinschwierigkeiten oder selbstregulier- Besondere Bedeutung im Verhältnis zwischen Praxis und
tem Lernen, existiert dagegen bereits ein umfassender Korpus Theorie kommt der Empirie zu. Damit wird die systematische
belastbarer und differenzierter Antworten aus einer Vielzahl Sammlung von Informationen bezeichnet, die auf metho-
von Forschungsstudien (7 Kap. 4, 18). disch kontrollierten Datenquellen basiert (Döring & Bortz
Die Ergebnisse der schulbezogenen Psychologie und der 2016). Empirisches Arbeiten hat zum Ziel, praktische Phä-
empirischen Bildungsforschung bieten Lehrkräften einen rei- nomene zu beschreiben, zu ordnen und zu quantifizieren.
chen Fundus praxistauglichen Wissens, um professionelle Auf diese Weise lassen sich übergeordnete Regeln und Muster
Kompetenzen und Lehrtätigkeit kontinuierlich zu entwi- finden, die es ermöglichen, Beobachtetes mit bestehendem
ckeln. Dazu passend legen die Standards für die Lehrerbil- Wissen zu verknüpfen und Beziehungen zwischen Phäno-
dung fest, dass Lehrerinnen und Lehrer Forschungsergebnis- menen zu verstehen. So entwickeln sich wissenschaftliche
se rezipieren, bewerten und für die eigene Tätigkeit nutzen Theorien.
können sollen – ganz im Sinne der Auffassung ihres Berufs Eine Theorie ist ein „allgemeines Prinzip, das aufgestellt
als ständige Lernaufgabe (KMK 2004). Um diesen Anfor- wurde, um eine Gruppe von Beziehungen zwischen Ereignis-
derungen mit Sachverstand, Selbstvertrauen und gesunder sen zu klären. Etwas ausführlicher gesagt: Eine Theorie ver-
Skepsis begegnen zu können, ist es notwendig, die Aussa- knüpft induktiv (vom Speziellen auf das Allgemeine schlie-
gekraft empirischer Studien selbst beurteilen und sich eine ßend) oder deduktiv (vom Allgemeinen auf das Spezielle
eigene Meinung bilden zu können. Zentrales Anliegen die- schließend) gewonnene Erkenntnisse eines Wissensbereichs
ses Kapitels ist es, genau solche Kompetenzen für den Bereich systematisch miteinander, wodurch Einzelphänomene regel-
der empirischen, d. h. auf systematischer Erfahrung beruhen- haft erklärt werden“ (Rost 2013, S. 17). Eine Theorie ist also
den Forschung zu vermitteln. Dazu werden grundlegende alles andere als ohne Bezug zum realen Leben. Vielmehr er-
forschungsmethodische Begriffe und Vorgehensweisen vor- möglichen wissenschaftliche Theorien einen klareren Blick
gestellt, die Verständnis und Interpretation empirischer Ar- auf die häufig komplexen Vorgänge und Entscheidungsop-
beiten ermöglichen. Nebenbei soll auch die Lust am Forschen tionen in der Praxis. Wichtige Aspekte können so leichter
geweckt und zur Durchführung eigener Untersuchungen er- identifiziert werden, während sich die Bedeutungen ande-
mutigt werden. rer im Lichte theoretischer Überlegungen möglicherweise
Im folgenden 7 Abschn. 27.2 werden dazu Begriffe und relativieren. Fragt sich beispielsweise eine Lehrkraft, ob ihr
Konzepte eingeführt, die für ein Verständnis des Forschungs- Unterrichtsstil motivierend sei, könnte sie zur Klärung die
prozesses notwendig sind. In 7 Abschn. 27.3 geht es darum, Selbstbestimmungstheorie der Motivation von Deci und Ry-
wie nicht beobachtbare, psychische Merkmale erfasst werden an (1993) heranziehen (7 Kap. 11). Mit dieser theoretischen
können. In 7 Abschn. 27.4 werden die wichtigsten Gestal- Sichtweise würde sie vielleicht feststellen, dass sie zwei we-
tungsmöglichkeiten (Forschungsdesigns) empirischer Studi- sentliche Aspekte, die Unterstützung des Kompetenzerlebens
en besprochen. Der darauf folgende 7 Abschn. 27.5 gibt eine und der sozialen Eingebundenheit bereits gut realisiert, zu-
Einführung in grundlegende statistische Methoden, die zur künftig aber noch stärker auf den Aspekt der Autonomieun-
Auswertung gewonnener Daten nötig sind. Am Beispiel ei- terstützung achten sollte. Durch die Theorie kann die Lehr-
ner konkreten Studie (Rost, Wirthwein, Frey & Becker 2010), kraft ihren Unterricht über ein differenziertes Raster relevan-
27.2  Wie entsteht empirisch gesichertes Wissen?
535 27

Daten und deren


oder Vermutung über Beziehungen zwischen bestimmten
Interpretation Gegebenheiten, wobei gesichertes Wissen oft noch unvoll-
ständig ist (Hussy, Schreier & Echterhoff 2010). Wissenschaft-
liche Hypothesen müssen einigen Anforderungen genügen
Empirische Prüfung
(siehe Im Fokus), die den Unterschied zur alltagssprachli-
Praxis Theorie chen Verwendung im Sinne einer persönlichen Vermutung
der Hypothese
oder Meinung markieren. Je nach Forschungsanliegen lassen
sich verschiedene Arten wissenschaftlicher Hypothesen un-
terschieden.
Überprüfbare
Hypothese
Im Fokus: Wissenschaftliche Hypothesen

. Abb. 27.1 Zusammenspiel von Praxis, Theorie und Empirie


Wissenschaftliche Hypothesen weisen drei Merkmale auf
(Hussy et al. 2010):
ter Merkmale bewerten. Dieses Beispiel veranschaulicht die 1. Sie beziehen sich auf reale, theoretisch begründbare
Bedeutung der wissenschaftlichen Theorie für typische Frage- und empirisch zugängliche Sachverhalte.
stellungen der Praxis. Ist keine gesicherte Theorie vorhanden, 2. Sie stellen eine allgemeingültige, über den Einzelfall
wird fehlendes Wissen nicht selten durch Alltagstheorien er- oder ein einmaliges Ereignis hinausgehende Behaup-
setzt. tung dar.
Im Fokus: Alltagstheorien
3. Ihre Aussagen müssen falsifizierbar sein, d. h. auch
widersprechende Ereignisse müssen grundsätzlich
Alltagstheorien sind Annahmen, die sich auf Basis persön- denkbar und überprüfbar sein.
licher Erfahrungen herausgebildet haben (Wirtz 2017). Oft Einige wichtige Arten von Hypothesen mit Beispielen:
scheinen sie auch deshalb plausibel, weil sie von anderen 4 Zusammenhangshypothese: Je mehr Interesse Schü-
Personen geteilt werden. In Abgrenzung zu wissenschaft- lerinnen und Schüler für ein bestimmtes Fach haben,
lichen Theorien sind Alltagstheorien meist abseits einer umso mehr Lernstrategien setzen sie in diesem Fach ein.
systematischen Sammlung von Daten entstanden, enthal- 4 Unterschiedshypothese: Jungen und Mädchen unter-
ten oft subjektive, kaum überprüfbare Einschätzungen und scheiden sich im Ausmaß der von ihnen eingesetzten
beinhalten häufig unzulässige Verallgemeinerungen oder Lernstrategien.
gar Vorurteile. Alltagstheorien müssen nicht stets falsch 4 Veränderungshypothese: Die Qualität eingesetzter
sein – sie sind jedoch nicht für wissenschaftliche Aussagen Lernstrategien nimmt im Verlauf der Schulzeit zu.
nutzbar und zudem ungeeignet, pädagogisches Handeln zu
begründen.
Angenommen eine Hypothese besagt, dass Trainings zum
selbstregulierten Lernen im Unterricht zu einer verbesserten
Wissenschaftliche Theorien repräsentieren niemals end- Selbstregulation führen. Um diese bewusst allgemeingültig
gültiges oder abgeschlossenes Wissen. Vielmehr sind Theori- formulierte Hypothese testen zu können, muss sie so kon-
en immer nur Momentaufnahmen in einem stetigen Erkennt- kretisiert (operationalisiert) werden, dass eine Prüfung in der
nisprozess, der sich aus dem Zusammenspiel von Praxis, realen Welt möglich wird (Für welchen Personenkreis wird
Theorie und Empirie ergibt (. Abb. 27.1). die Hypothese getestet? In welcher Form wird selbstregulier-
Der Kreislauf soll verdeutlichen, dass Praxis und Theorie tes Lernen trainiert? Wie wird die Selbstregulationsfähigkeit
in Wechselwirkung zueinanderstehen: Beobachtungen in der gemessen? etc.). Dies taten beispielsweise Labuhn, Bögeholz
Praxis stoßen die (Weiter-)Entwicklung von wissenschaftli- und Hasselhorn (2008) in einer Studie zur Wirkung von ge-
chen Theorien an. Aus diesen ergeben sich konkrete Aussagen zielten Anregungen zum selbstregulierten Lernen während
oder Vorhersagen (Hypothesen), die in der Praxis empirisch des Unterrichts zum Thema Ernährung. Eine Gruppe von
überprüft werden können. Die so gewonnenen Daten las- Gesamtschülerinnen und -schülern erhielt zusätzliche An-
sen sich dann mit Blick auf die zugrunde gelegte Theorie regungen zum selbstregulierten Lernen, eine andere keine.
interpretieren. Nicht selten führen die Ergebnisse empiri- Mit einem Fragebogen wurde das selbstregulierte Lernen vor
scher Studien dazu, dass die Gültigkeit von Theorien in Frage und nach der Teilnahme an den Unterrichtseinheiten festge-
gestellt oder sie entsprechend neuer Erkenntnisse angepasst stellt. Es zeigte sich, dass nur bei der Interventionsgruppe eine
werden müssen. Verbesserung im selbstregulierten Lernen festzustellen war.
Somit konnte die in der Hypothese geäußerte Vermutung bei-
behalten werden.
27.2.2 Hypothesen und Variablen Variablen sind veränderliche Größen, die Objekte an-
hand von Eigenschaften oder Merkmalen beschreiben (Eid,
Eine wissenschaftliche Hypothese ist eine auf der Basis bis- Gollwitzer & Schmitt 2015). In der Psychologie sind dies häu-
herigen (theoretischen) Wissens gut begründbare Aussage fig Merkmale von Personen wie beispielsweise die Variablen
536 Kapitel 27  Forschungsmethoden

„Geschlecht“ oder „Intelligenz“. Variablen fungieren also als Im Folgenden werden die aufgeführten Schritte genauer
Platzhalter, die während der Durchführung einer Untersu- erläutert.
chung für jede Person mit konkreten Werten gefüllt werden 1. Empirische Forschung beginnt immer mit einer For-
(z. B. weiblich, IQ-Wert 107). In gleicher Weise werden Varia- schungsfrage. Die Quellen einer solchen Frage können
blen genutzt, um die Bedingungen der Untersuchungssitua- vielfältig sein. Sie können aus theoretischen Überlegun-
tion zu beschreiben. So könnte in einer Variablen vermerkt gen, einer Beobachtung von Ungereimtheiten in der Pra-
27 sein, ob das betreffende Kind eine Unterrichtseinheit mit oder xis, dem Ziel ein Forschungsergebnis nachprüfen zu wol-
ohne Anregung zur Selbstregulation besucht hat. Abhängig len oder auch aus einem spezifischen Forschungsauftrag
von der jeweiligen Hypothese einer Studie kann einzelnen Va- resultieren. Beispielsweise wird die Förderung des selbst-
riablen eine spezielle Bedeutung zukommen (7 Im Fokus). regulierten Lernens als explizites und wichtiges Bildungs-
ziel angesehen. Entsprechend werden Untersuchungen,
die sich mit Fragestellungen zum selbstgesteuerten Ler-
Im Fokus: Wichtige Arten von Variablen
nen bei Schülerinnen und Schülern beschäftigen, gezielt
gefördert.
Eine unabhängige Variable (UV) ist eine frei veränderliche
2. Nachdem ein Erkenntnisinteresse entstanden ist, beginnt
Einflussgröße, von der angenommen wird, dass sie andere
die Suche nach dazu passenden Informationen. Wissen-
Variablen der Untersuchung beeinflusst, selbst jedoch von
schaftlerinnen und Wissenschaftler sammeln zunächst,
diesen unabhängig ist. In der Studie von Labuhn et al. (2008)
was bereits über das zu erklärende Phänomen bekannt ist
ist die unabhängige Variable der Sachverhalt, dass ein Kind
und welche theoretischen Überlegungen und Modelle für
die Unterrichtseinheiten mit oder eben ohne das Training
die Fragestellung relevant sind. Ebenfalls bedeutsam sind
zur Selbstregulation besucht hat.
empirische Studien, die dazu vorliegen. Mit Hilfe von Li-
Als abhängige Variable (AV) wird diejenige Variable
teraturdatenbanken lassen sich Artikel in Fachzeitschrif-
bezeichnet, auf die sich die unabhängige Variable auswirken
ten und Büchern recherchieren. So führen Labuhn et al.
soll. Im Beispiel wäre dies die per Fragebogen erfasste
(2008) beispielsweise aus, dass bereits in früheren Studien
Selbstregulation des Lernens.
die Wirkung von Trainingsmaßnahmen zum selbstregu-
Eine Mediatorvariable (auch: intervenierende Variable)
lierten Lernen nachgewiesen werden konnte, die durch-
ist ein Merkmal, das die Wirkung einer anderen Variablen
geführten Trainings allerdings meist außerhalb des Unter-
zumindest teilweise vermittelt. So könnte die Wirkung
richts stattgefunden hatten. Aus einer groben, interessant
eines Trainings zum selbstregulierten Lernen nicht direkt zu
erscheinenden Forschungsidee resultiert schließlich eine
verbesserter Selbstregulation führen, sondern zunächst die
präzise formulierte Fragestellung für eine empirische Un-
Motivation zum Einsatz von Lernstrategien erhöhen. Führt
tersuchung, die den aktuellen Forschungsstand aufgreift
letztlich die erhöhte Motivation zu einem verstärkten Einsatz
und den Anspruch hat, diesen sinnvoll zu erweitern.
von Selbstregulationsstrategien, wäre die Motivation eine
3. Auf Basis des theoretischen Wissens und der Forschungs-
Mediatorvariable, die die Wirkung des Trainings auf die
frage werden nun eine oder mehrere wissenschaftliche
Selbstregulationsfähigkeit mediiert.
Hypothesen formuliert. Bei Labuhn et al. (2008) war dies
Eine Moderatorvariable beeinflusst die Stärke der Wir-
u.a. eine Hypothese, die sinngemäß lautete: Anregungen
kung einer unabhängigen Variablen auf eine abhängige
zum selbstregulierten Lernen im Unterricht führen zu ei-
Variable. Würden beispielsweise Mädchen stärker von dem
ner Verbesserung der Selbstregulation.
Selbstregulationstraining profitieren als Jungen, wäre das
4. Um eine Hypothese in der realen Welt zu testen, bedarf es
Geschlecht eine Moderatorvariable, die den Trainingseffekt
einer Konkretisierung ihrer Bestandteile in empirisch zu-
auf die Selbstregulation moderiert.
gängliche Aussagen. Anschaulich gesprochen geht es um
die „Messbarmachung“ der Hypothese, was auch als Ope-
rationalisierung bezeichnet wird. So operationalisierten
Labuhn et al. (2008) ihre abhängige Variable (Selbstre-
gulation) als Mittelwert der Antworten auf insgesamt 85
27.2.3 Wichtige Schritte im
Fragen zum selbstregulierten Lernen, die den Schülerin-
Forschungsprozess nen und Schülern vorgelegt worden waren.
5. Im nächsten Schritt wird die gesamte Planung der Un-
In aller Regel vollzieht sich empirische Forschung in einer tersuchung in den Blick genommen. Je nach Hypothese,
Reihe typischer Schritte. Sie zu kennen ermöglicht es, das in Ressourcen und praktischen Gegebenheiten werden Un-
Forschungsarbeiten beschriebene Vorgehen besser zu verste- tersuchungsdesign und Stichprobe gewählt. Außerdem ist
hen und einzuordnen. Dies ist eine wichtige Voraussetzung in dieser Phase zu entscheiden, welche Messinstrumente
dafür, die Qualität und Aussagekraft einer empirischen Studie eingesetzt werden sollen.
beurteilen zu können. . Tab. 27.1 liefert eine Übersicht über 6. Der darauf folgende Schritt der Umsetzung beinhaltet die
die Schritte im Forschungsprozess. Daran wird ebenso das Erstellung der Untersuchungsmaterialien, die Konstrukti-
besprochene Zusammenspiel zwischen Praxis, Empirie und on von Erhebungsverfahren, die Rekrutierung der Stich-
Theorie deutlich. probe sowie die Datenerhebung selbst. Während dieses
27.3  Erhebungsmethoden
537 27

. Tabelle 27.1 Schritte im Forschungsprozess

Schritt Beschreibung
1. Forschungsfrage Beobachtungen in der Praxis (induktiv) oder Ableitungen aus einer Theorie (deduktiv) führen zu einer Frage-
stellung, die empirisch geklärt werden soll

2. Suche nach Informationen Theoretisches Wissen und bisherige Studien werden gesichtet, was auch der Präzisierung der Forschungsfra-
ge dient

3. Aufstellen von Hypothesen Die Forschungsfrage wird so formuliert, dass allgemeingültige und falsifizierbare Aussagen (Hypothesen)
entstehen

4. Operationalisierung Die Aussagen der Hypothesen werden so transformiert, dass alle enthaltenen Aspekte einer Messung zugäng-
lich werden

5. Planung der Untersuchung Stichprobe, Anlage der Untersuchung und Erhebungsmethoden werden festgelegt und begründet

6. Umsetzung Untersuchungsmaterialien werden erstellt, teilnehmende Personen rekrutiert. Die eigentliche Untersuchung
wird durchgeführt

7. Datenauswertung Die erhobenen Daten werden aufbereitet und mit Bezug zu den Hypothesen analysiert

8. Beantwortung der Fragestellung Die Ergebnisse der Datenauswertung entscheiden über Annahme oder Ablehnung der Hypothesen und wer-
den im Hinblick auf die Forschungsfragen interpretiert

9. Publikation Die Studie wird der (Fach-)Öffentlichkeit zugänglich gemacht

Prozesses ist eine sorgfältige Protokollierung wichtig, so- Nora beim Lesen eines Lerntextes spontan Zeichnungen zu
dass im Nachhinein etwaige Probleme analysiert werden den Textinhalten generiert, während des Lesens wiederholt
können und die Untersuchung für andere Forscherinnen darüber nachdenkt, ob sie den Inhalt versteht, und zudem
und Forscher nachvollziehbar wird. ihr Smartphone ausschaltet, lässt dies auf eine angemesse-
7. In der Phase der Auswertung werden die erhobenen Da- ne Selbstregulation ihres Lernprozesses schließen (7 Kap. 4;
ten zunächst in ein geeignetes Format gebracht. Meist Schwamborn, Mayer, Thillmann, Leopold & Leutner 2010).
geschieht dies durch numerische Kodierung in Zahlen In ähnlicher Weise lassen sich auch andere Merkmale von
und Erstellung einer Datenmatrix. Mit Verfahren der be- Personen (z. B. Prüfungsangst, Intelligenz und Wissen von
schreibenden und der schließenden Statistik werden die Schülerinnen und Schülern oder professionelle Kompetenzen
Daten analysiert. und Unterrichtsqualität von Lehrkräften) oder Gruppen (z. B.
8. Auf Basis der Ergebnisse wird entschieden, ob die Hy- Klassenklima) ausschließlich indirekt über bestimmte, genau
pothese angenommen werden kann oder abzulehnen ist. zu definierende Indikatoren erschließen.
Damit kann die ursprüngliche Forschungsfrage differen-
ziert beantwortet und diskutiert werden.
9. Im letzten Schritt erfolgt die Veröffentlichung. Damit wer- Ein Konstrukt (auch: hypothetisches Konstrukt) ist ein
den die Ergebnisse der Untersuchung der Öffentlichkeit Begriff, der sich auf ein nicht direkt messbares Merkmal von
mitgeteilt, sei es durch die Präsentation auf einer Tagung Personen oder Gruppen bezieht (Wirtz 2017). Konstrukte
oder durch die Veröffentlichung in einem Fachartikel. sind keine frei erfundenen Gedankengebäude, sondern
werden aus theoretischen Zusammenhängen heraus
erschlossen – sie sind Bestandteile von theoretischen
27.3 Erhebungsmethoden Aussagen. Die Ausprägung eines Konstrukts kann nur
indirekt aus messbaren Indikatoren erschlossen werden.
Als Operationalisierung wird die Messbarmachung
27.3.1 Konstrukte und die Schwierigkeiten eines Konstrukts mittels empirisch fassbarer und quantifi-
ihrer Messung zierbarer Größen bezeichnet (Eid et al. 2015).
Unter Messen wird die Zuordnung von Zahlen
In psychologischen Untersuchungen spielt die Erfassung der zu Objekten (z. B. Ausprägungen von Merkmalen)
Merkmale, über die Aussagen zu treffen sind, eine zentrale verstanden; dabei sollen sich in den zugeordneten Zahlen
Rolle. Dies ist keine triviale Angelegenheit (7 Kap. 24). Im die Relationen, die zwischen den Objekten bestehen,
Unterschied zu vielen physikalischen Größen (z. B. Größe, widerspiegeln (Wirtz 2017).
Masse, Geschwindigkeit), die zumindest im Alltag mit großer
Präzision direkt gemessen werden können, sind psychische
Merkmale häufig nicht direkt beobachtbar. So lässt sich etwa Viele Merkmale, mit denen sich die Psychologie be-
selbstreguliertes Lernens nicht direkt beobachten, sondern schäftigt, umfassen mehrere Facetten oder Komponenten –
nur aus äußeren Indikatoren erschließen. Wenn die Schülerin sind also mehrdimensional. Im Beispiel des selbstregulier-
538 Kapitel 27  Forschungsmethoden

Konstrukt Nutzung kognitiver Lernstrategien = wahrer Wert

Fehler Theoretische Präzisierung des zu messenden Konstrukts

27 Dimensionen Memorierungs- Elaborations- Organisations-


des Konstrukts strategien strategien strategien

Schluss-
folgerung
Fehler Mögliche Operationalisierungen
auf wahren
Wert
Globale Verhaltensspuren Situational
Messbare
Selbstberichts- Lerntagebücher des Strategie- Judgement Tests ( ... )
Indikatoren
fragebögen einsatzes (Strategiewissen)

Fehler Datenerhebung und ggf. Datengewichtung

Messergebnis Messwert

. Abb. 27.2 Konstrukte und deren Messung durch beobachtbare Indikatoren (modifiziert nach Hesse & Latzko 2017)

ten Lernens lassen sich etwa die Nutzung von kognitiven 4 Reliabilität: Das Messinstrument erfasst das Konstrukt
Lernstrategien, metakognitiven Kontrollstrategien und Stra- möglichst messgenau (präzise).
tegien des Ressourcenmanagements voneinander abgrenzen. 4 Validität: Das Messinstrument misst möglichst das, was
Innerhalb der kognitiven Lernstrategien lassen sich noch- es zu messen vorgibt – d. h. es erfasst das Konstrukt in
mals Memorierungs-, Elaborations- und Organisationsstra- Übereinstimmung mit dessen Inhalt, Struktur und Bezie-
tegien unterscheiden (Boekaerts 1999; Pintrich & Garcia hungen zu anderen Merkmalen.
1994; Weinstein & Hume 1998). An dem Beispiel lässt sich
erkennen, dass die Dimensionierung von Konstrukten auch Neben den drei Hauptgütekriterien, die ein Messinstrument
hierarchisch sein kann. Solche theoretischen Dimensionie- notwendigerweise in hinreichendem Maße erfüllen muss, um
rungen sind nützlich, z. B. um die mit einem Phänomen belastbare Schlussfolgerungen zu ermöglichen, gibt es eine
im Zusammenhang stehenden Konsequenzen besser vorher- Reihe von Nebengütekriterien, die die Qualität eines Mess-
sagen und daraus praktische Fördermöglichkeiten ableiten instruments verbessern (z. B. Normierung, Ökonomie, Fair-
zu können. Hier kann die Theorie über die Struktur von ness, Zumutbarkeit, Unverfälschbarkeit). Einige von ihnen
Lernstrategien zur Unterstützung des Wissenserwerbs ge- sind im Forschungsprozess weniger wichtig als in der Indivi-
nutzt werden: Klar förderliche Effekte haben Elaborations- dualdiagnostik – dies gilt insbesondere für die Normierung,
und Organisationsstrategien (vor allem, wenn sie metakogni- die für die Interpretation der Ergebnisse einzelner Personen
tiv überwacht und kontrolliert werden), während Memorie- essentiell, in der Forschung mit größeren Gruppen aber meist
rungsstrategien oftmals weniger effektiv sind – erstere sollten nicht nötig sind. Deshalb existieren in der psychologischen
dementsprechend vorrangig gefördert werden (Artelt 1999). Forschung weit mehr Erhebungsansätze und -verfahren als
Der praktische Nutzen ist umso größer, je angemessener die für individualdiagnostische Zwecke zur Verfügung stehen.
theoretische Präzisierung und Dimensionierung des Kon-
strukts ist (. Abb. 27.2).
Die tatsächliche Operationalisierung der auf diese Weise
präzisierten Konstrukte erfolgt anhand von messbaren Indi- 27.3.2 Messansätze in der Psychologie
katoren, die eine ausreichende Messgüte aufweisen müssen.
Darunter sind Messinstrumente zu verstehen, die die betref- Typischerweise lassen sich bei der Operationalisierung eines
fenden Konstruktdimensionen erfassen und dabei die Güte- bestimmten Konstrukts verschiedene Messinstrumente nut-
kriterien psychologisch-diagnostischer Verfahren möglichst zen, die auf unterschiedlichen Indikatoren und Messansätzen
gut erfüllen – je mehr, desto besser. Die drei Hauptgütekrite- beruhen (. Abb. 27.2). So könnte die Nutzung von Elabora-
rien sind (7 Kap. 24): tionsstrategien durch globale Selbstberichtsfragebögen (z. B.
4 Objektivität: Das Messinstrument erbringt Messungen, Baumert, Heyn & Köller 1992), standardisierte Lerntagebü-
die möglichst unabhängig von den Personen sind, die die cher (Schmitz & Wiese 2006), die Analyse von Verhaltens-
Messung durchführen (z. B. Beobachterinnen und Beob- spuren wie die spontane Generierung von Visualisierungen
achter). (Schwamborn et al. 2010), psychologische Tests zur Erfassung
27.3  Erhebungsmethoden
539 27
Art der Protokollierung variieren (unvermittelte vs. videoba-
des Wissens über kognitive Lernstrategien (z. B. Schlagmüller
& Schneider 2007) oder durch weitere Messansätze opera- sierte Beobachtung; letztere liefert gute Möglichkeiten gerade
tionalisiert werden. Jedes Messinstrument hat dabei sowohl für die Unterrichtsbeobachtung). Das zu beobachtende Ver-
spezifische Stärken als auch blinde Flecken – keines wird dashalten kann in verschiedenen Einheiten analysiert werden
Konstrukt vollständig erfassen. Deshalb sollte nach Möglich-(Zeit- oder Ereignisstichproben) und es können verschiede-
keit ein multimethodales Vorgehen gewählt werden, bei dem ne Arten von Beobachtungs- bzw. Protokollsystemen zum
Konstrukte mit verschiedenen Erhebungsmethoden opera- Einsatz kommen (Zeichen-, Kategorien- und Ratingsysteme;
tionalisiert werden (Eid et al. 2015). 7 Kap. 24).
Aufgrund der konzeptuellen Fehler bei der theoretischen Im Forschungsprozess sollte möglichst auf etablierte Be-
Präzisierung des Konstrukts, der systematischen und unsys- obachtungsinstrumente zurückgegriffen werden. Ein Beispiel
tematischen Messfehler sowie der Fehler, die auch bei der ist das „Beobachtungssystem zur Analyse aggressiven Verhal-
Erfassung und Weiterverarbeitung der Daten auftreten kön- tens im schulischen Setting“ (BASYS; Wettstein 2008), mit
nen und sich allesamt niemals vollständig vermeiden lassen, dem verschiedene Formen aggressiven Verhaltens differen-
ist jeder Messwert grundsätzlich fehlerbehaftet. Wichtig ist,
ziert beobachtet werden können. Ein weiteres Beispiel ist
ein Bewusstsein dafür zu entwickeln. Ein wichtiges Ziel bei das Unterrichtsbeobachtungssystem „Einblicknahme in die
der Entwicklung von Messinstrumenten und der Planung von Lehr- und Lernsituation“ (ELL; Helmke 2010). Damit lassen
Untersuchungen ist es aber, die genannten Fehler so klein sich auf der Sichtebene des Unterrichts u. a. die Sozialform,
wie irgend möglich zu halten. Nur wenn dies nachweislich der Einsatz neuer Medien sowie die Realisierung offener Un-
gelungen ist und die Mindestanforderungen an Objektivität, terrichtsformen mit Hilfe von Kategorien registrieren. Auf
Reliabilität und Validität erfüllt sind, sind belastbare Aussa-
der Tiefenebene können verschiedene Dimensionen der Un-
gen möglich (7 Kap. 24). Werden aus Untersuchungen mit terrichtsqualität anhand von Schätzskalen beobachtet werden
Messinstrumenten, die diese Mindestanforderungen nicht er- (7 Kap. 18). Müssen Beobachtungsinstrumente neu konstru-
füllen, dennoch Aussagen abgeleitet, kann dies zu schwer- iert werden, erfordert dies einen aufwändigen Prozess (Seidel
wiegenden Problemen für Theorie und pädagogische Praxis & Prenzel 2010).
führen (z. B. unzutreffendes Verständnis praktischer Phäno- Ob etabliertes oder neu-konstruiertes Instrument: In je-
mene, Behandlung von Schülerinnen und Schülern mit un- dem Fall ist die Übereinstimmung der Beobachtungen über
wirksamen oder gar schädlichen Mitteln). mehrere beobachtende Personen hinweg zu prüfen, da die Si-
cherstellung von Objektivität und Reliabilität anspruchsvoll
ist. Neben der präzisen und konkreten Definition von Be-
obachtungskategorien ist dazu auch ein ausführliches Beob-
27.3.3 Überblick über Erhebungsmethoden
achtertraining, der Einsatz von mehreren Beobachterinnen
und Beobachtern sowie die Beobachtung von nicht zu kurzen
Die psychologische Forschung nutzt eine große Zahl ver- Zeiträumen nötig (z. B. Praetorius, Lenske & Helmke 2012;
schiedener Methoden, um Erleben, Kognition und Verhalten Praetorius, Pauli, Reusser, Rakoczy & Klieme 2014). Der hohe
zu erfassen. Im Folgenden wird ein Überblick über die wich- Aufwand wird durch die Vorteile von Beobachtungsverfahren
tigsten Erhebungsmethoden der auf die Schule bezogenen aufgewogen: Sie sind weniger anfällig für Selbstdarstellungs-
Psychologie gegeben (ausführlichere Erläuterungen zu vielen tendenzen und unabhängig davon, ob Probandinnen und
Methoden 7 Kap. 24, 25). Probanden Auskunft geben können oder wollen.

1 Verhaltens- und Unterrichtsbeobachtung 1 Fragebögen


Eine Beobachtung ist oftmals das Erhebungsverfahren der Fragebögen können zur Erfassung einer Vielzahl psychischer
Wahl, wenn Verhalten im engeren Sinne erfasst werden soll Merkmale eingesetzt werden. Motivationale Konstrukte wie
– also z. B. Lern- oder Sozialverhalten von Schülerinnen und Interesse, das Erleben von Emotionen, Einstellungen, Per-
Schülern oder Lehrverhalten von Lehrpersonen. Meist ist sönlichkeitseigenschaften, aber auch selbstberichtetes Lern-
eine systematische Beobachtung angebracht, die theoriegelei- verhalten sind typische Beispiele. Daneben lassen sich mit
tet einen engen Ausschnitt des Verhaltensstroms fokussiert ihnen Fremdbeurteilungen sowie Umwelt- und Situations-
und dazu bestimmte Beobachtungsinstrumente und Proto- wahrnehmungen erfassen (z. B. Schülerwahrnehmungen des
kollsysteme nutzt. Eine unsystematische Beobachtung, die Lehrerverhaltens, Unterrichts- oder Klassenklimas).
den gesamten Verhaltensstrom einbezieht, ist durch subjekti- In der Psychologie versteht man unter Fragebögen schrift-
ve Wahrnehmungen und Beobachtungsfehler dominiert – sie liche Befragungen, die hoch strukturiert und standardisiert
kann keine hinreichende Testgüte erzielen, entspricht weitge- sind: Fragen werden in vorab festgelegter Reihenfolge vor-
hend der Alltagsbeobachtung und ist allenfalls zur Explorati- gegeben und die Antwortmöglichkeiten sind ebenfalls voll-
on sinnvoll. ständig oder weitgehend festgelegt (Eid et al. 2015). Wenn sie
Die Beobachtung kann u. a. nach der Beteiligung der be- für individualdiagnostische Zwecke entwickelt und normiert
obachtenden Personen (teilnehmende vs. nicht-teilnehmen- werden, werden sie auch als psychometrische Persönlich-
de Beobachtung), dem Grad der Standardisierung des Be- keitstests bezeichnet (im Gegensatz zu Leistungstests gibt es
obachtungssettings (Labor- vs. Feldbeobachtung) sowie der keine richtigen oder falschen Antworten; 7 Kap. 24).
540 Kapitel 27  Forschungsmethoden

Vorteile von Fragebogenverfahren sind ihre Ökonomie rere Items einer Skala thematisieren das Konstrukt in all
(Möglichkeiten zur Gruppentestung und computer-/inter- seinen Facetten. Durch die unterschiedlichen Formulierun-
netgestützten Durchführung, geringer Schulungsaufwand für gen werden itemspezifische Fehlereinflüsse „herausgemittelt“
Testleiterinnen und Testleiter), ihre hochgradige Objektivität, und eine hohe Reliabilität gewährleistet. Beispiele sind die
die durch den hohen Standardisierungsgrad erreicht wird, ih- Skalen 5 und 6, die mit 6 bzw. 5 Items jeweils einen einzigen
re durch bestimmte Konstruktionsprinzipien relativ einfach Faktor erfassen.
27 erzielbare Reliabilität und Validität sowie die gute Vergleich-
barkeit der Messungen über verschiedene Messzeitpunkte, Si-1 Interview
tuationen und Personengruppen hinweg („Messinvarianz“). Interviews sind mündliche Befragungen, die in unterschied-
Fragebogenverfahren setzen voraus, dass die Befragten zu- lichen Strukturierungs- und Standardisierungsgraden reali-
treffend Auskunft geben können und wollen – hier liegen siert werden können. Gering strukturierte und standardi-
potenzielle Grenzen und Nachteile dieser Erhebungsmetho- sierte Interviews machen wenige Vorgaben zu Durchführung
de: Psychische Merkmale, die der Introspektion nicht gut und Auswertung und ermöglichen dadurch eine größere Fle-
zugänglich sind, können nicht valide erfasst werden (z. B. Ar- xibilität und thematische Offenheit als etwa schriftliche Fra-
beitsgedächtniskapazität). Zudem bergen Selbstdarstellungs- gebogenverfahren. Dies ist sinnvoll zur Exploration neuer
tendenzen wie sozial erwünschtes Antwortverhalten und an- Forschungsfragen, aber nicht für das Testen von Hypothesen,
dere Antwortstile, wie die Tendenz zu mittleren Urteilen, da hier in der Regel keine ausreichend hohe Testgüte gege-
Gefahren für die Validität, denen aber durch eine sorgfäl- ben ist. Stärker strukturierte und standardisierte Interviews
tige Fragebogenkonstruktion entgegnet werden kann (z. B. geben mit Hilfe eines Leitfadens genau vor, welche Fragen in
Zusicherung von Anonymität, geeignete Instruktionen, Ein- welcher Reihenfolge gestellt werden (7 Kap. 24). Zudem kann
satz von Kontrollskalen, Wahl geeigneter Antwortkategori- auch eine begrenzte Anzahl an Antwortmöglichkeiten vor-
en). Schließlich sind die geringe Flexibilität und thematische gegeben werden; falls nicht, sind die offenen Antworten mit
Offenheit von Fragebogenverfahren als Nachteile anzufüh- Hilfe von Kategoriensystemen zu kodieren. Interviewleitfä-
ren. den erhöhen die Objektivität (die durch eine hinreichende
In Fragebögen können unterschiedliche Varianten von Beurteilerübereinstimmung nachgewiesen werden muss), re-
sog. Items (Fragen oder Aussagen, auf die geantwortet wer- duzieren aber den Vorteil der thematischen Offenheit. Da
den soll) sowie unterschiedliche Antwortformate zum Ein- Interviews im Vergleich zu Fragebogenverfahren eine gerin-
satz kommen. . Abb. 27.3 illustriert einige typische Varianten, gere Ökonomie aufweisen (oft nur Einzeltestung möglich,
die einen Eindruck vom Spektrum, aber auch des hohen Interviewerschulung nötig), ist genau abzuwägen, wann ihr
Aufwands seriös konstruierter Fragebögen geben sollen (für Einsatz sinnvoll ist.
umfassende Darstellungen zur Fragebogenkonstruktion vgl. Beispielsweise nutzten Engelschalk, Steuer und Dresel
Döring & Bortz 2016; Moosbrugger & Kelava 2011; Mum- (2015) Leitfadeninterviews mit anschließender Kategorisie-
mendey & Grau 2014). rung der Antworten, um zu erfassen, welche Strategien Ler-
Items können als Fragen (Skalen 3 und 4 in . Abb. 27.3) nende zur Regulation ihrer Motivation bei sechs unterschied-
oder als Aussagen (Skalen 5 und 6) formuliert sein. Häufig lichen Motivationsproblemen einsetzen. Die Wahl fiel hier
werden sie in einen Itemstamm, der für alle Items identisch ist auch deshalb auf die Methode der Leitfadeninterviews, da die
und möglichst kurze Itemendungen aufgeteilt (Skala 5). Items Probandinnen und Probanden wiederholt ausführliche Ant-
können positiv oder negativ im Sinne des zu erfassenden worten geben sollten – was mit schriftlichen Fragenbögen nur
Konstrukts formuliert sein (z. B. Skala 6: Items 1, 3 und 5 vs. schwer sichergestellt werden kann.
Items 2 und 4). Antwortformate können offen (Item 1) oder
geschlossen sein (alle anderen Items). Geschlossene Antwort-1 Leistungstests
formate können entweder zwei Antwortalternativen wie ja/ Leistungstests sind standardisierte Verfahren, bei denen ei-
nein vorsehen (Item 2) oder mehrere Optionen vorgeben; im ne größere Menge an Aufgaben zu bearbeiten ist, für die es
ersten Fall spricht man von dichotomen, im zweiten Fall von richtige und falsche Antworten gibt – bei den meisten an-
polytomen Items. Die Antwortoptionen können sich qualita- deren Arten an Erhebungsverfahren ist dies nicht der Fall.
tiv voneinander unterscheiden („kategoriale Variablen“, Item Leistungstests erfassen damit, wie gut eine Person etwas tut
2, Skalen 3 und 4) und dabei geordnet sein (z. B. Skala 4) oder tun kann, während die bisher besprochenen Verfahren
oder nicht (Item 2, Skala 3). Sehr häufig kommen abgestufte, erfassen, was eine Person tatsächlich tut, warum sie dies tut
mehrstufige Antwortskalen zum Einsatz, die eine differen- und was sie dabei erlebt (Eid et al. 2015, S. 64). Leistungstests
zierte Erfassung von kontinuierlich ausgeprägten Merkmalen existieren für verschiedene Leistungsbereiche (ausführliche
ermöglichen. Sie werden als Likert-Skalen bezeichnet (Skalen Erläuterungen 7 Kap. 24):
5 und 6). Gelegentlich werden auch bipolare Antwortskalen 4 Allgemeine Leistungstests erfassen Konzentration und
genutzt, bei denen zwei verschiedene, gegensätzliche Merk- Aufmerksamkeit als allgemeine Leistungsvoraussetzun-
male an den Enden der Antwortskalen dargeboten werden gen.
(Skala 7). 4 Intelligenztests erfassen je nach zugrundeliegender theo-
Die Erfassung psychologischer Konstrukte erfolgt typi- retischer Konzeption die allgemeine Intelligenz oder be-
scherweise nach dem Prinzip der Messwiederholung: Meh- stimmte Intelligenzkomponenten (7 Kap. 8) und sind da-
27.3  Erhebungsmethoden
541 27

1) Dein Alter: ________ Jahre 6) Wie ist das bei dir?


Im Fach Deutsch werde ich in Zukunft bestimmt gute Leistungen
2) Dein Geschlecht: weiblich männlich bringen.

3) In welchem Land wurdest du geboren? In welchem Land wurden stimmt stimmt stimmt stimmt stimmt stimmt
deine Eltern geboren? gar nicht nicht eher nicht eher völlig

Du Mutter Vater Ich werde im Fach Deutsch in Zukunft bestimmt schlechter abschneiden
in Deutschland als die meisten anderen.
in Griechenland
stimmt stimmt stimmt stimmt stimmt stimmt
in Italien gar nicht nicht eher nicht eher völlig
im ehemaligen Jugoslawien
(Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Bestimmt werde ich im Fach Deutsch in Zukunft viele neue Dinge
Mazedonien, Montenegro, Serbien lernen.
und Slowenien)
stimmt stimmt stimmt stimmt stimmt stimmt
in Polen gar nicht nicht eher nicht eher völlig
in Russland, Kasachstan oder einer
anderen ehemaligen Sowjetrepublik Bestimmt werde ich im Fach Deutsch in Zukunft schlechte Noten be-
in der Türkei kommen.
in einem anderen Land
stimmt stimmt stimmt stimmt stimmt stimmt
gar nicht nicht eher nicht eher völlig
4) Welches ist der höchste Schulabschluss deiner Eltern? Im Fach Deutsch werde ich in Zukunft bestimmt immer mehr können.
Mutter Vater
Abitur stimmt stimmt stimmt stimmt stimmt stimmt
gar nicht nicht eher nicht eher völlig
Realschulabschluss
Hauptschulabschluss
Kein Schulabschluss 7) Für den Unterricht im Fach Deutsch halte ich die Unterschiedlich-
keit der Schülerinnen und Schüler in Bezug auf ihren Migrations-
5) Denke bitte an deine Deutschlehrerin/deinen Deutschlehrer. hintergrund für:

Unsere Deutschlehrerin/ Unser schlecht gut


gele- sehr
Deutschlehrer ... nie selten gentlich oft oft unangenehm angenehm
... verwendet Humor im Zusammen- förderlich für hinderlich für
hang des Unterrichtsstoffs. das Lernen der das Lernen der
... verwendet witzige Dinge zur Ver- Schüler(innen) Schüler(innen)
anschaulichung oder als Beispiel.
nicht belastend belastend
... erzählt uns Witze, die sich auf den für die Lehrkraft für die Lehrkraft
Unterrichtsinhalt beziehen.
... erzählt uns witzige Geschichten,
die zum Unterricht passen .
... bringt uns den Stoff auf humor-
volle Art bei.
... verwendet lustige Beispiele im
Unterricht.

. Abb. 27.3 Einige Varianten von Item- und Antwortformaten in Frage- 5 misst Schülerwahrnehmungen des Lehrkrafthumors (Faktor „Lern-
bögen. Item 1 und Item 2 leisten eine einfache Erfassung von Lebensalter gegenstandsbezogener Humor“, der mit sechs Items erfasst wird; Bieg
und biologischem Geschlecht. Skala 3 ist eine typische Operationalisie- & Dresel 2016). Skala 6 erfasst die Erfolgserwartung von Schülerinnen
rung des Migrationshintergrunds von Schülerinnen und Schülern (z. B. und Schülern (5-Item-Skala von Dresel, Schober & Ziegler 2005). Skala
Kunter et al. 2003). Skala 4 illustriert, stark vereinfacht, die Erfassung 7 bildet Beispielitems von Skalen zur Erfassung der Einstellungen von
der Schul- und Berufsbildung der Eltern (vgl. Kunter et al. 2003). Skala Lehrpersonen gegenüber Heterogenität ab (Lehmann-Grube et al. 2017)

mit erklärungsstarke Prädiktoren für gelingende Lernpro- men (7 Kap. 25). Ihnen kommt eine tragende Rolle in
zesse sowie für Schul-, Ausbildungs- und Berufserfolg der schulbezogenen Forschung zu. Steht konzeptuelles
insgesamt. Wissen im Fokus, werden diese Tests häufig Wissenstests
4 Entwicklungstests erfassen den Entwicklungsstand von genannt; werden stattdessen Fertigkeiten und die Umset-
Kindern und Jugendlichen übergreifend oder in Be- zung erworbenen Wissens in bestimmten Anwendungs-
zug auf einzelne Funktionsbereiche (z. B. Psychomotorik, oder Problemlösesituationen erfasst, werden sie oft als
Sprache, Kognition, Motivation). Kompetenztests bezeichnet. Nicht selten sind in For-
4 Standardisierte Schulleistungstests dienen dazu, Erträge schungsstudien standardisierte Schulleistungstests nicht
von Lehr-Lernprozessen zu erfassen – z. B. in Abhängig- verfügbar und es finden Zensuren, also Lehrkraftbewer-
keit von bestimmten Unterrichts- oder Fördermaßnah- tungen von Schülerleistungen Verwendung. Aufgrund
542 Kapitel 27  Forschungsmethoden

der oftmals nicht befriedigenden Testgüte von Zensuren (Dollase & Koch 2010). Meist werden dazu positive Wahl-
(7 Kap. 25) hat dies jedoch in den meisten Fällen deutli- präferenzen erfragt (z. B. „Neben wem möchtest Du sitzen?“,
che Einschränkungen in der Aussagekraft dieser Studien „Mit wem möchtest Du in einer Lerngruppe sein?“). Um un-
zur Folge. terscheiden zu können, ob ein Gruppenmitglied abgelehnt
4 Schulfähigkeitstests und Tests zur Erfassung von Vorläu- oder ignoriert wird, wenn es bei Positivwahlen nicht genannt
ferfähigkeiten (z. B. phonologische Bewusstheit als Vor- wird, werden daneben häufig auch negative Wahlen erfragt
27 läuferfähigkeit des Schriftspracherwerbs; Jansen, Mann- (z. B. „Neben wem möchtest Du nicht sitzen?“). Die Wahlen
haupt, Marx & Skowronek 2002) können im Kontext der liefern zunächst Daten auf Ebene der einzelnen Gruppen-
Einschulung genutzt werden. mitglieder, insbesondere den positiven und negativen Status
(z. B. relative Häufigkeit von An- und Abwahlen), sowie die
Die für individualdiagnostische Zwecke entwickelten Leis- Mitgliedschaft in Statusgruppen (z. B. „Stars“, „Außenseiter“,
tungstests finden häufig auch in Forschungsstudien Verwen- „Abgelehnte“). Diese Daten sind weniger anfällig für Selbst-
dung – insbesondere auch aufgrund ihrer nachweislich hohen darstellungstendenzen als Selbstberichte der eigenen Beliebt-
Testgüte und Ökonomie (oft sind Gruppentestungen mög- heit. Darüber hinaus können Freundschaftsbeziehungen und
lich). Oft werden Leistungstests für empirische Studien aber Cliquen innerhalb der Gruppe identifiziert und Daten auf
auch eigens entwickelt. Da die Verfügbarkeit von Normwer- Ebene der gesamten Gruppe generiert werden (z. B. Kohä-
ten im Forschungsprozess weniger von Bedeutung ist, wird sion, Ablehnungsbereitschaft). Soziometrische Daten sind –
hierbei meist auf eine aufwändige Normierung verzichtet. trotz ihrer relativ einfachen Gewinnbarkeit – sehr sensibel
Weil es nicht einfach ist, einen Test von hinreichender Testgü-und sollten mit großer Sorgfalt genutzt werden. Beispiels-
te zu konstruieren, sollte der Nachweis geführt werden, dass weise sollten die Ergebnisse keinesfalls auf Gruppenebene
Reliabilität und Validität gegeben sind. Aufgrund der voll- zurückgemeldet werden (7 Kap. 22).
ständigen Standardisierung von Durchführung, Auswertung
und Interpretation kann meist perfekte Objektivität ange-1 Psychophysiologische Verfahren
nommen werden. Psychophysiologische Verfahren machen sich zu Nutze, dass
psychische Prozesse oft mit biologischen Vorgängen einher-
1 Ambulantes Assessment gehen. So lassen Aktivitätsmuster in bestimmten Gehirn-
Viele Erhebungsverfahren erfassen psychologische Daten arealen, die mittels Elektroenzephalogramm (EEG) oder bild-
punktuell und in unnatürlichen Erhebungssituationen. Am- gebenden Verfahren wie der funktionellen Magnetresonanz-
bulantes Assessment versucht dies zu überwinden und tomografie (fMRT) erfasst werden können, u. a. auf die emo-
den kontinuierlichen Strom von Erleben und Verhalten in tionale Bedeutung von Reizen schließen oder ermöglichen,
authentischen Alltagssituationen zu erfassen – etwa um die beim Lernen beteiligten anatomischen Strukturen zu re-
Lern- und Entwicklungsprozesse ökologisch valide abzubil- konstruieren (7 Kap. 5).
den (Fahrenberg 2010). Dies wird oft mit technischer Un- Neben diesen relativ aufwändigen Verfahren lassen sich
terstützung realisiert, z. B. mit internetbasierten Erhebungs- einfacher zu erfassende Indikatoren wie die Herzschlagrate,
systemen oder Smartphones. Ein wichtiger Ansatz des am- die Hautleitfähigkeit, die Spannungsmuster bestimmter Mus-
bulanten Assessments ist die Experience-Sampling-Methode. keln oder die Konzentration bestimmter Hormone (z. B. Cor-
Probandinnen und Probanden werden hier zu vielen, zufällig tisol, Adrenalin, Oxytocin) nutzen, um psychische Zustände
ausgewählten Zeitpunkten durch einen Signalgeber aufgefor- wie Stress oder spezifisches emotionales Erleben zu erfassen.
dert, Auskunft über ihr momentanes Erleben oder Verhalten Beispielsweise untersuchten Tulis und Dresel (2018) emotio-
zu geben. Beispielsweise haben Nett, Götz und Hall (2011) so nale Reaktionen nach Fehlern bei einer Lernaufgabe. Sie ana-
untersucht, wie Schülerinnen und Schüler die zeitlich variable lysierten dazu in 3-Sekunden-Intervallen nach einer Fehler-
Emotion Langeweile im Unterricht regulieren. Ein weiterer rückmeldung die elektrische Aktivität zweier Gesichtsmus-
Ansatz ist die Tagebuchbuchmethode, bei der Individuen ge- keln (über den Augenbrauen als Indikator negativer Emotio-
beten werden, regelmäßig zu festen Zeitpunkten (z. B. täglich nen und entlang der Wangen als Indikator positiver Emotio-
abends über einen Zeitraum von zwei Wochen) ihr Erle- nen) sowie Herzschlagrate und Hautleitfähigkeit (als Indika-
ben und Verhalten zu berichten. Zum Beispiel untersuchten toren für aktivierende versus desaktivierende Emotionen).
Schmitz und Wiese (2006) damit selbstreguliertes Lernen Ein weiteres Verfahren, das zunehmend Bedeutung in
über fünf Wochen hinweg und wiesen Trainingseffekte auf der Lehr-Lernforschung erlangt, ist die Analyse von Blickbe-
der Prozessebene nach. wegungen, Pupillenweite und Lidschlagrate (Eye-Tracking).
Nachteilig am ambulanten Assessment sind ein oft hoher Damit kann die spezifische Aufmerksamkeit auf bestimmte
Aufwand für die Versuchspersonen und damit einhergehende Informationen sowie die dabei entstehende kognitive Be-
Selbstselektionseffekte sowie mögliche Urteilsverzerrungen, lastung erfasst werden. Beispielsweise untersuchte Tobisch
die durch eine erhöhte Selbstaufmerksamkeit entstehen kön- (2017) mit Hilfe dieser Verfahren kognitive Prozesse bei der
nen. Leistungsbeurteilung von Schülerinnen und Schülern unter-
schiedlicher Herkunft (vgl. Tobisch & Dresel 2017).
1 Soziometrie Vorteile psychophysiologischer Verfahren liegen u. a. in
Soziometrische Verfahren dienen dazu, interpersonelle Be- ihrem hohen zeitlichen Auflösungsgrad, der feinmaschige
ziehungen in Schulklassen und anderen Gruppen zu erfassen Verlaufsanalysen ermöglicht, und in ihrer geringen Ver-
27.3  Erhebungsmethoden
543 27
fälschbarkeit. Andererseits sind sie vergleichsweise aufwän- im Forschungsprozess allenfalls eine hypothesengenerierende
dig und die Untersuchungssituation ist oftmals recht künst- Funktion im Sinne von Explorationshilfen ein – ihre Ergebnis-
lich, was die Validität einschränken kann. se sollten jedenfalls mit Vorsicht interpretiert werden.
Neben den genannten Erhebungsmethoden, die messme-
1 Reaktionszeitgestützte Verfahren thodische Grundtypen der Psychologie reflektieren, existiert
Reaktionszeitgestützte Verfahren können genutzt werden, noch eine größere Anzahl weiterer Messverfahren (Döring &
um insbesondere Einstellungen, Stereotype und Persönlich- Bortz 2016; Petermann & Eid 2006). Dazu zählen u. a.
keitsmerkmale implizit zu erfassen – d. h. ohne dass voraus- 4 Analyse von Verhaltensspuren (z. B. Notizen, sponta-
gesetzt wird, dass die Probandinnen und Probanden darüber ne Zeichnungen oder Markierungen von Textstellen als
zutreffend Auskunft geben können oder wollen. Sie können Verhaltensspuren des selbstregulierten Lernens; Hadwin,
den Zweck der Messungen nicht leicht durchschauen und Nesbit, Jamieson-Noel, Code & Winne 2007),
entsprechend weniger leicht verfälschen. 4 Methode des lauten Denkens zur Erfassung kognitiver
Ein typisches Beispiel ist der Implizite Assoziationstest Prozesse (Ericsson & Simon 1993),
(IAT; Greenwald, McGhee & Schwartz 1998), mit dem z. B. 4 Verfahren zur Analyse un- oder halbstrukturiert erfass-
implizite Stereotype als Stärke der Assoziation von Objekten ter Texte (z. B. Essays, Chat-Protokolle) auf quantitativer
(z. B. Ethnien, Geschlechter) und Attributen (z. B. Wertig- oder qualitativer Ebene (Mayring 2010; Mehl 2006),
keit, Eigenschaften) erfasst werden können – beispielsweise 4 apparative Verfahren (z. B. zur Erfassung psychomoto-
bei Lehrpersonen (z. B. Glock & Kleen 2017). Er umfasst eine rischer Leistungen oder des kognitiven Entwicklungs-
Reihe von computerbasierten Diskriminationsaufgaben, bei stands) und
der möglichst schnell entschieden werden soll, welcher von 4 Auswertung von Archivdaten (z. B. archivierte Zensuren).
zwei Antwortkategorien (z. B. deutscher vs. türkischer Name;
positives vs. negatives Attribut) ein Wort zugeordnet werden
kann. Dabei ist die zentrale Annahme, dass implizite Asso-
ziationen (z. B. positive Assoziationen zu türkischen Namen) 27.3.4 Skalenniveaus
eine schnelle und fehlerfreie Bearbeitung begünstigen.
Psychologische Erhebungsverfahren liefern Daten mit un-
1 Projektive Verfahren terschiedlichen Eigenschaften, was Konsequenzen für ihre
Projektive Verfahren, die auch als Persönlichkeitsentfaltungs- Analyse und Interpretation hat. Beispielsweise weisen Anga-
verfahren bezeichnet werden (7 Kap. 23), wurden zur Erfas- ben dazu, (a) welche der drei angebotenen Wahlkurse von
sung unbewusster, verdrängter oder latenter Eigenschaften wie vielen Schülerinnen und Schülern einer Schulklasse be-
entwickelt. Sie basieren auf der Annahme, dass innere Emp- legt werden, (b) wie viele von ihnen bei einem sportlichen
findungen der Außenwelt zugeschrieben werden können – Wettbewerb eine Ehrenurkunde, eine Siegerurkunde oder
insbesondere wenn es sich um unerwünschte oder selbst- eine Teilnahmeurkunde erhielten und (c) wie viele Recht-
bedrohliche Empfindungen handelt, die aus tiefenpsycholo- schreibfehler sie in einem Deutschdiktat gemacht haben, je-
gischer Perspektive dadurch unbewusst abgewehrt werden weils andere Eigenschaften auf. Im ersten Fall sind die Daten
(Konzept der Projektion; Freud 1936). Viele projektive Ver- nicht geordnet; hier kommt ausschließlich eine Analyse der
fahren präsentieren Szenen, die von anderen Personen han- Häufigkeiten in Betracht. Im zweiten Fall weisen die Daten
deln und uneindeutig oder offen im Ergebnisausgang sind. bereits eine sinnvolle Ordnung auf; hier werden Analysen
Die Versuchspersonen sollen sich in diese Personen hinein- von Ranginformationen möglich (z. B. „56 % der Schülerin-
versetzen und beschreiben, was in ihnen vorgeht oder wie nen und Schüler erhielten mindestens eine Siegerurkunde“).
sie handeln werden. Ein Beispiel ist der Rosenzweig Picture Im dritten Fall sind die Abstände zwischen den einzelnen
Frustration Test (deutsche Version von Rauchfleisch, Battegay Ausprägungen definiert und konstant; erst hier macht die Be-
& Rosenzweig 1979), der insgesamt 24 gezeichnete Szenen rechnung des arithmetischen Mittels Sinn.
enthält, bei denen eine Person durch eine verbale Äußerung Die gewonnenen Daten eröffnen also aufgrund der Eigen-
eine andere Person frustriert. Erfragt wird die Antwort der schaften der zugrundeliegenden Skalen mehr oder weniger
frustrierten Person, die den Probandinnen und Probanden Möglichkeiten zur Datenanalyse und damit den Weg zu un-
spontan einfällt. terschiedlichen Aussagen. Dies wird in sog. Skalenniveaus
Die großen Erwartungen, die in projektive Verfahren ge- zusammengefasst, die stufenweise mehr Eigenschaften erfül-
setzt wurden, erfüllten diese letztlich nicht (Rauchfleisch len und mehr Möglichkeiten der Analyse verfügbar machen.
2006). Die meisten Verfahren entziehen sich aufgrund ihrer Unterschieden werden insbesondere drei Skalenniveaus:
nicht-quantitativen Testkonzeption einer Überprüfung ihrer
Testgüte. Eine Ausnahme ist das genannte Beispiel, das eine1 Nominalskalierte Variablen
befriedigende Testgüte erzielt; daneben lässt sich auf semi- Eine nominalskalierte Variable bildet lediglich die Gleich-
projektive Verfahren wie das Multi-Motiv-Gitter (Schmalt, heit (bzw. Äquivalenz) und Ungleichheit der Ausprägun-
Sokolowski & Langens 2000) verweisen, die szenische Stimuli gen von Merkmalen ab: „Eine Nominalskala ordnet den
mit gebundenen Antwortformaten kombinieren. Abgesehen Objekten eines empirischen Relativs Zahlen zu, die so ge-
von diesen Ausnahmen nehmen projektive Verfahren deshalb artet sind, dass Objekte mit gleicher Merkmalsausprägung
544 Kapitel 27  Forschungsmethoden

. Tabelle 27.2 Wichtige Untersuchungsdesigns

Untersuchungsdesign Herangehensweise und Potential


Experiment Systematische Beeinflussung einer oder mehrerer unabhängiger Variablen (UV) in kontrolliert (mittels zufälliger Zu-
weisung) zusammengesetzten Untersuchungsgruppen. Untersucht werden die Auswirkungen der UV auf eine oder
mehrere abhängige Variablen (AV) unter maximaler Kontrolle weiterer Einflussfaktoren. Ermöglicht den Nachweis
27 kausaler Zusammenhänge

Quasiexperiment Systematische Beeinflussung einer oder mehrerer UV in natürlich vorgefundener Untersuchungsgruppen (z. B. Schul-
klassen), bei denen keine Zufallsaufteilung möglich ist. Wie beim Experiment werden die Auswirkungen der UV auf
eine oder mehrere AV untersucht. Bestehende Unterschiedlichkeiten zwischen den Gruppen werden berücksichtigt
und kontrolliert. Ermöglicht den Nachweis starker, aber nicht zweifelsfreier Aussagen über kausale Zusammenhänge

Querschnittuntersuchung Einmalige Messung von Merkmalen ohne systematische Beeinflussung von Variablen. Ermöglicht den Nachweis von
Zusammenhängen zwischen Merkmalen

Längsschnittuntersuchung Wiederholte Messung von Merkmalen ohne systematische Beeinflussung von Variablen. Ermöglicht den Nachweis
von Veränderungen der Merkmale über die Zeit

Metaanalyse Zusammenführung der Ergebnisse mehrerer bereits vorliegender Studien zu einem Forschungsthema. Zielt auf die
zusammenfassende Einschätzung von Effekten ab

gleiche Zahlen und Objekte mit verschiedener Merkmals- einen absoluten Nullpunkt besitzen, z. B. Zeit, Fehlerzahl) de-
ausprägung verschiedene Zahlen erhalten“ (Döring & Bortz finiert. Da sich für viele psychische Merkmale ein Nullpunkt
2016, S. 238). Nominalskalierte Variablen sind beispielswei- nur schwer definieren lässt, spielt sie keine entscheidende
se Themen-, Kurs- und Fachwahlen, biologisches Geschlecht Rolle. Intervall- und verhältnisskalierte Variablen werden
und Migrationshintergrund. In . Abb. 27.3 sind Item 2 und deshalb oft als metrische oder kardinalskalierte Variablen zu-
Skala 3 auf Nominalskalenniveau. sammengefasst. Welches Skalenniveau bei einem bestimmten
Erhebungsverfahren erreicht wird, hängt von dem zu mes-
1 Ordinalskalierte Variablen senden Merkmal sowie dem eingesetzten Messverfahren ab.
Gegenüber nominalskalierten bilden ordinalskalierte Varia- Für eine gute Datenqualität sollte das für ein gegebenes Merk-
blen zusätzlich die Ordnung der Merkmalsausprägungen ab mal höchstmögliche Skalenniveau realisiert werden.
– etwa nach deren Intensität, Wertigkeit oder Güte: „Eine Or-
dinalskala ordnet den Objekten eines empirischen Relativs
Zahlen (Rangzahlen) zu, die so geartet sind, dass von jeweils
27.4 Untersuchungsdesigns
zwei Objekten das dominierende Objekt die größere Zahl er-
hält. Bei Äquivalenz sind die Zahlen identisch“ (Döring &
Bortz 2016, S. 240). Typische ordinalskalierte Variablen sind Um eine Forschungsfrage unter gegebenen Rahmenbedin-
Auszeichnungen verschiedenen Grades, Schul- oder Berufs- gungen möglichst eindeutig beantworten zu können, muss
abschlüsse, der sozioökonomische Status und Schulnoten. In ein geeignetes Vorgehen gewählt werden. Häufig anzutreffen-
. Abb. 27.3 ist Skala 4 auf Ordinalskalenniveau. de Grundmuster der psychologischen Forschung, sogenannte
Forschungs- oder Untersuchungsdesigns, sind in . Tab. 27.2
1 Intervallskalierte Variablen zusammengestellt.
Die Intervallskala bildet zusätzlich die Distanzen zwischen Die einzelnen Untersuchungsdesigns stehen für sehr un-
den Merkmalsausprägungen ab – damit reflektiert sie anders terschiedliche Herangehensweisen. Mit der Wahl eines De-
als die Ordinalskala die Größe der Unterschiede zwischen signs sind auch Festlegungen verbunden, welche Aussagen
ihnen: „Eine Intervallskala ordnet den Objekten eines em- die Ergebnisse einer Studie letztlich erlauben. Beispielsweise
pirischen Relativs Zahlen zu, die so geartet sind, dass die ermöglicht es das Experiment, Kausalhypothesen zu testen,
Rangordnung der Zahlendifferenzen zwischen je zwei Objek- was in der Querschnittuntersuchung nicht möglich ist. Wel-
ten der Rangordnung der Merkmalsunterschiede zwischen ches Untersuchungsdesign zu wählen ist, hängt somit wesent-
je zwei Objekten entspricht. Die Intervallskala zeichnet sich lich von der Hypothese ab, die geprüft werden soll. Soll un-
durch Äquidistanz bzw. Gleichabständigkeit der Messwerte tersucht werden, ob ursächliche Wirkungen einer Variablen
aus“ (Döring & Bortz 2016, S. 244). Die meisten psychischen (z. B. bestimmtes Lehrerhandeln) auf eine andere Variable
Merkmale können und sollten mindestens per Intervallska- (z. B. Schülerverhalten) bestehen, so wäre es naheliegend, ein
la gemessen werden. In Befragungsverfahren und Beobach- Experiment oder Quasiexperiment zu realisieren. Zielen die
tungssystemen bieten sich dazu die erwähnten Likert-Skalen Forschungshypothesen in erster Linie auf die Aufklärung von
an. In . Abb. 27.3 sind die Skalen 5 bis 7 auf Intervallskalen- Zusammenhängen zwischen einzelnen Merkmalen ab, sind
niveau. Korrelationsstudien das Vorgehen der Wahl. Dazu zählen
Über die drei genannten Skalenniveaus hinaus wer- Querschnitt- und Längsschnittuntersuchungen, wobei letz-
den häufig noch verhältnisskalierte Variablen (die zusätzlich tere den Faktor Zeit systematisch einbeziehen und dadurch
27.4  Untersuchungsdesigns
545 27
für die Untersuchung von Veränderungshypothesen geeignet Interne Validität, die meint, dass ein Untersuchungser-
sind und durchaus Hinweise zur Kausalität liefern können. gebnis eindeutig erklärbar ist, sollte nicht mit dem Begriff der
Werden zur Prüfung einer Forschungsfrage keine eigenen Validität als Gütekriterium von Erhebungsinstrumenten ver-
Daten erhoben, sondern eine größere Zahl bereits vorliegen- wechselt werden (7 Abschn. 27.3).
der Studienergebnisse zusammengetragen und integrierend Störeinflüsse bzw. Alternativerklärungen können die in-
analysiert, handelt es sich um eine Metaanalyse. Im Folgen- terne Validität von Untersuchungen gefährden. Damit sind
den werden die Untersuchungsdesigns ausführlich erläutert. alle Einflüsse gemeint, die systematisch auf die abhängige
Variable einwirken (Eid et al. 2015): Solche können sich direkt
aus der Untersuchungssituation heraus ergeben. Im fiktiven
27.4.1 Experiment und Quasiexperiment Experiment wäre beispielsweise denkbar, dass den Schülerin-
nen und Schülern die unterschiedliche Behandlung auffällt.
Um Hypothesen zu kausalen Wirkungen oder zur Wirksam- Dann wäre zu befürchten, dass sich die Gruppe ohne Sticker
keit von Maßnahmen prüfen zu können, werden experimen- benachteiligt und allein aus diesem Grund weniger moti-
telle Forschungsdesigns benötigt. Dazu zählen Experiment viert fühlt. Störeinflüsse können aber auch ungewollt mit der
und Quasiexperiment. Variation der Experimentalbedingungen einhergehen. Dies
Nach Klauer (2006) ist ein Experiment ein „planmäßig wäre beispielsweise der Fall, wenn die Lehrkraft durch das
ausgelöster und wiederholbarer Vorgang, bei dem beobachtet Anbringen des Stickers dazu verleitet wird, unwissentlich
wird, in welcher Weise sich unter Konstanthaltung ande- ein stärker motivierendes schriftliches Feedback zu geben.
rer Bedingungen mindestens eine abhängige Variable ändert, Schließlich könnten sich Störeinflüsse auch aus den Eigen-
nachdem mindestens eine unabhängige Variable geändert heiten der untersuchten Personen ergeben, wie es der Fall bei
worden ist“ (S. 77). Die Änderung der unabhängigen Va- einer ungleichen Verteilung besonders motivierter Kinder in
riablen erfolgt gezielt, was als experimentelle Manipulation den unterschiedenen Untersuchungsgruppen wäre.
bezeichnet wird. Die Zuweisung der teilnehmenden Perso- Im Experiment können – im Vergleich zu anderen Un-
nen zu den verschiedenen Stufen der unabhängigen Varia- tersuchungsdesigns – solche Störeinflüsse weitestgehend aus-
blen erfolgt randomisiert, d. h. zufällig. Soll beispielswei- geschlossen bzw. kontrolliert werden. Störvariablen, die sich
se untersucht werden, ob Ergänzungen des herkömmlichen aus der Zusammensetzung der Untersuchungsgruppen erge-
schriftlichen Feedbacks auf Hefteinträge mit bunten Stickern ben, werden in einem Experiment dadurch eliminiert, dass
ursächlich zu höherer Lernmotivation am Ende des ersten per Zufall entschieden wird, welcher Untersuchungsgruppe
Grundschuljahres führt, wäre folgendes fiktive Experiment die einzelnen Personen zugeteilt werden. Diese Randomisie-
das ideale Design: Zwei Untersuchungsgruppen würden sich rung führt bei ausreichend großen Stichproben dazu, dass
ausschließlich darin unterscheiden, dass die unabhängige sich etwaige Unterschiede zwischen den Untersuchungsgrup-
Variable (Feedback mit oder ohne Sticker) variiert. Welches pen von selbst ausgleichen.
Kind in welche Gruppe kommt, würde per Zufall entschie- Von einem Quasiexperiment wird gesprochen, wenn na-
den. Am Ende des Schuljahres ließe sich mit Hilfe eines Mo- türlich vorgefundene Gruppen genutzt werden, um die un-
tivationsfragebogens prüfen, ob die experimentelle Manipu- abhängige Variable zu variieren. Ein solches Vorgehen bietet
lation der unabhängigen Variablen mit Unterschieden in der sich an, wenn eine randomisierte Zuteilung der einzelnen
abhängigen Variablen (Lernmotivation) zwischen den beiden Versuchspersonen zu Untersuchungsgruppen nicht möglich
Untersuchungsgruppen einhergeht. Ist dies der Fall, sind zwei oder nicht sinnvoll ist. So wäre es wenig praktikabel, Kinder
Voraussetzungen einer Ursache-Wirkungs-Beziehung bereits per Zufall neuen Klassen zuzuteilen. Um auch im Quasiex-
erfüllt: Die vermutete Ursache geht der angenommenen Wir- periment eine möglichst gute interne Validität zu erreichen,
kung zeitlich voraus und mit der Veränderung der unabhän- werden etwaige Unterschiede zwischen den Untersuchungs-
gigen Variable geht auch eine Veränderung der abhängigen gruppen in Bezug auf die abhängigen Variablen (z. B. Lern-
Variable einher. Von einem Kausalzusammenhang kann al- motivation) und weitere relevante Variablen (z. B. Intelligenz)
lerdings erst dann ausgegangen werden, wenn zusätzlich als noch vor der experimentellen Manipulation erfasst und bei
sicher gelten kann, dass allein die Manipulation der unabhän- der späteren Datenanalyse berücksichtigt (statistisch kon-
gigen Variablen zu den beobachteten Ergebnissen geführt hat trolliert). Abhängige Variablen werden also nicht nur nach,
(Eid et al. 2015). Lassen sich alternative Erklärungen für den sondern auch bereits vor der experimentellen Manipulation
gefundenen Effekt ausschließen, wird die Untersuchung als gemessen. . Abb. 27.4 veranschaulicht das quasiexperimen-
intern valide bezeichnet (7 Definition). telle Vorgehen in einer einfachen Variante. Je nach Frage-
stellung können auch mehr als zwei Versuchsbedingungen,
Mit interner Validität ist die Eindeutigkeit gemeint, mit wie beispielsweise weitere Treatmentgruppen und eine Pla-
der die kausale Wirkung einer unabhängigen Variable cebogruppe (zur Kontrolle von etwaigen Zuwendungseffek-
auf eine abhängige Variable belegt werden kann (Döring ten) vorgesehen werden. Auch weitere Messzeitpunkte sind
& Bortz 2016). Je weniger Alternativerklärungen für ein denkbar, insbesondere ein zusätzlicher Follow-up zur Über-
Untersuchungsergebnis denkbar sind, desto intern valider prüfung von Langzeiteffekten.
ist eine Untersuchung. Trotz der aufwendigeren Datenerfassung und -analyse so-
wie den gewissen Abstrichen in der internen Validität, die
546 Kapitel 27  Forschungsmethoden

. Abb. 27.4 Einfache Varian-


te eines quasiexperimentellen Messzeitpunkt 1 Versuchsbedingung 1 Messzeitpunkt 2
(Prätest) (z. B. Kontrollgruppe) (Posttest)
Designs
Kontroll- Manipulation (oder Belassen) der Abhängige
variablen: unabhängigen Variable: x = 1 Variablen:

y1, y2, ... y1, y2, ...


27 Versuchsbedingung 2
z1 , z2, ... (z. B. Treatmentgruppe)

Manipulation der
unabhängigen Variable: x = 2

Zeit

gegenüber dem klassischen Experiment in Kauf genommen pold und Leutner (2002) in einer Querschnittuntersuchung
werden müssen, bietet das quasiexperimentelle Design einen von Schülerinnen und Schülern positive Zusammenhänge
sinnvollen, effektiven und praktikablen Weg, Fragestellungen zwischen der Nutzung von Elaborationsstrategien und den
zu Wirkungen von Maßnahmen und kausalen Beziehungen Leistungen in einem Wortschatztest. Kinder, die Elaborati-
zwischen Merkmalen im Bildungsbereich zu untersuchen. onsstrategien seltener nutzen, schnitten also auch beim Wort-
Wenn in der pädagogischen Praxis ein klassisches Experi- schatztest mit höherer Wahrscheinlichkeit schlechter ab. Bei
ment mit vollständiger Randomisierung aufgrund der vor- korrelativen Ergebnissen ist es wichtig, nicht der (mensch-
gefundenen Gegebenheiten (insb. bestehende Lerngruppen lichen) Versuchung zu erliegen, diese in einer bestimmten
und Schulklassen) nicht realisierbar ist, bietet ein Quasiex- Kausalrichtung zu interpretieren. So gibt es stets mehrere
periment die beste interne Validität und belastbarsten Ergeb- theoretisch mögliche Kausalmechanismen, die einem gefun-
nisse. Das Quasiexperiment ist deshalb beispielsweise in der denen korrelativen Zusammenhang zugrunde liegen können
Unterrichtsforschung das Untersuchungsdesign der Wahl. (. Abb. 27.5). Auch aus den Ergebnissen von Leopold und
Leutner (2002) kann nicht geschlossen werden, welcher dies
ist: Es bleibt unklar, ob der geringe Einsatz von Elabora-
tionsstrategien zu einem geringeren Wortschatz führt oder
27.4.2 Querschnittuntersuchung ob andersherum geringere verbale Fähigkeiten dazu führen,
dass Kinder beim Lernen seltener Elaborationsstrategien an-
Das Prinzip einer Querschnittstudie besteht im Gegensatz wenden. Weiterhin könnte auch eine wechselseitige (rezipro-
zu experimentellen Designs darin, an den natürlicherweise ke) Abhängigkeit vorliegen. Möglicherweise liegt sogar eine
bestehenden Ausprägungen von Merkmalen von Personen Scheinkorrelation vor, die sich aus dem Einfluss einer unbe-
anzusetzen und zu untersuchen, wie diese mit anderen Varia- rücksichtigten oder gar unbekannten Drittvariablen ergibt.
blen in Zusammenhang stehen. Alle Untersuchungsvariablen Die jeder korrelativen Studie innewohnende Mehrdeutig-
werden bei einer querschnittlichen Studie gleichzeitig er- keit im Hinblick auf Wirkrichtungen und die damit verbun-
fasst. Deshalb ist die Unterscheidung zwischen unabhängigen denen Einschränkungen der internen Validität stellen den
und abhängigen Variablen hier in gewisser Weise artifiziell Nutzen von Querschnittuntersuchungen keineswegs kom-
und auch umkehrbar. Stärke und Richtung der gefundenen plett in Frage. So kann in der pädagogischen Praxis das bloße
Zusammenhänge werden typischerweise mit Korrelationen Wissen um einen bestehenden Zusammenhang bereits hilf-
quantifiziert (7 Abschn. 27.5.1). Beispielsweise fanden Leo- reich sein, selbst wenn die jeweilige Ursache-Wirkungs-Be-

. Abb. 27.5 Auswahl denkbarer


Wirkrichtung Kausalmodell Beispiel
Zusammenhänge der Variablen x
und y mit fiktiven Beispielen
x y x beeinflusst y. Der Einsatz von Elaborations-
strategien fördert den Wortschatz.

x y y beeinflusst x. Ein großer Wortschatz begünstigt


den Einsatz von Elaborationsstrategien.

x y x und y beeinflussen Der Einsatz von Elaborationsstrategien


sich wechselseitig. und der Umfang des Wortschatzes
bedingen sich gegenseitig.

x y x und y werden von Intelligente Eltern befördern sowohl die


einer weiteren Lemstrategieentwicklung als auch den
z Variable z beeinflusst. Wortschatz ihrer Kinder.
27.4  Untersuchungsdesigns
547 27
ziehung (noch) nicht vollständig aufgeklärt ist. Beispielsweise Einflüsse von Drittvariablen zu berücksichtigen: So könn-
mag es in der Elternberatung durchaus sinnvoll sein, warnend te etwa die elterliche Förderung sowohl für hohe Werte in
auf den belegten Zusammenhang zwischen übermäßigem der phonologischen Bewusstheit im Alter von 5 Jahren als
Medienkonsum und geringeren Schulleistungen (z. B. Pfeif- auch für die positive Entwicklung der Leseleistung ursäch-
fer, Mößle, Kleimann & Rehbein 2008) hinzuweisen, obwohl lich sein. Längsschnittliche Untersuchungsdesigns sind somit
zu den möglichen Wirkungszusammenhängen noch viele nicht nur unverzichtbar, um Veränderungen über die Zeit un-
Fragen offen sind. Besondere Vorteile von Querschnittunter- tersuchen zu können, sondern liefern auch Indizien zu den
suchungen ergeben sich aus ihrer Praktikabilität und Effizi- kausalen Bedingungen von Veränderungen.
enz, weshalb sie trotz ihrer Einschränkungen häufig ein erster
Schritt sind, dem intern validere Untersuchungen folgen.
27.4.4 Metaanalyse

27.4.3 Längsschnittuntersuchung Metaanalysen zeichnen sich dadurch aus, dass keine eigenen
Daten erhoben, sondern die Ergebnisse bereits vorliegen-
Auch Längsschnittuntersuchungen zählen zu den korrela- der Studien systematisch gesichtet, bewertet und mit Hilfe
tiven Ansätzen, bei denen Merkmale in ihren natürlichen statistischer Methoden integriert werden (Rost 2013). An-
Ausprägungen untersucht werden, ohne sie gezielt zu beein- genommen eine Grundschullehrerin stellt sich die Frage, ob
flussen. In Längsschnittuntersuchungen werden die interes- sie den Lernerfolg ihrer Schülerinnen und Schüler durch ein
sierenden Merkmale bei denselben Personen zu mindestens in den Unterricht integriertes Training von kognitiven Lern-
zwei unterschiedlichen Zeitpunkten erhoben. Ein solches strategien fördern kann. Bei der Suche nach entsprechenden
Vorgehen wird gewählt, wenn Entwicklungen über definierte empirischen Studien, würde unsere Lehrerin schnell feststel-
Zeitspannen hinweg untersucht werden sollen. Diese kön- len, dass zur Frage nach den Effekten von Maßnahmen zur
nen von wenigen Tagen bis hin zu vielen Jahren reichen. Förderung des selbstregulierten Lernens bereits Dutzende
Da der Beschreibung und Erklärung von Veränderungen ge- von Untersuchungen durchgeführt wurden. Was den Plan,
rade in Bildungskontexten besondere Bedeutung zukommt, sich einen raschen Überblick zu verschaffen zusätzlich er-
sind längsschnittliche Designs in diesem Feld trotz ihres schwert, ist die Tatsache, dass sich die einzelnen Arbeiten
hohen Aufwands häufig angezeigt. Eine prototypische For- teils deutlich in den konkreten Trainingsmaßnahmen und
schungsfrage könnte lauten, ob sich die Lesefähigkeit in den den untersuchten Merkmalen unterscheiden. Da die Lehrerin
vier Grundschuljahren kontinuierlich aufbaut, oder ob die kaum die Zeit aufbringen kann, die Vielzahl an Forschungs-
Entwicklung eher durch Leistungssprünge charakterisiert ist arbeiten zu sichten und zu bewerten, wäre ihr zu raten, eine
(7 Kap. 12). Diese Frage lässt sich nur mit einem längsschnitt- Metaanalyse heranzuziehen. Zur Frage nach den Effekten
lichen Forschungsdesign klären: Über die gesamte Grund- des selbstregulierten Lernens existieren bereits mehrere sol-
schulzeit hinweg würden in regelmäßigen Abständen Lese- che Studien (7 Kap. 4). Beispielsweise integrierten Dignath
tests mit den Kindern durchgeführt. Aus den Verläufen der und Büttner (2008) 74 Studien, in denen die Wirkung unter-
Leistungen ließen sich die gewünschten Aussagen zur Ent- schiedlicher Interventionen zum Gebrauch von Lernstrategi-
wicklung der Lesefähigkeit ableiten. en untersucht worden ist. Sie gelangten zu der übergreifenden
Neben der reinen Beschreibung von Entwicklungen Aussage, dass die Förderung von kognitiven, metakognitiven
und Veränderungen ermöglichen Längsschnittuntersuchun- und motivationalen Strategien im Durchschnitt einen positi-
gen auch Aussagen dazu, welche Faktoren mit den beobach- ven Effekt auf die akademische Leistung zeitigt. Maßnahmen
teten Entwicklungen und Veränderungen in Zusammenhang zur Stärkung von Selbstlernkompetenzen wirken also. Aber
stehen oder gar als ursächlich dafür in Frage kommen. So ist diese Wirkung auch stark genug, um praktische Rele-
ließe sich – um im obigen Beispiel zu bleiben – untersu- vanz im Schulalltag beanspruchen zu können? Um neben
chen, ob die phonologische Bewusstheit im Alter von 5 Jah- einer statistischen Absicherung gegenüber zufälligen Effek-
ren die Entwicklung der Leseleistung der Grundschulkinder ten (7 Abschn. 27.5.2) auch Aussagen zur Stärke von Effekten
vorhersagen kann (7 Kap. 28). Würde sich zeigen, dass die machen zu können, arbeiten Metaanalysen meist mit Hilfe
Testergebnisse aus dem Vorschulalter mit dem über die ver- sogenannter Effektstärken (7 Im Fokus).
schiedenen Messzeitpunkte festgestellten Anstieg der Lese-
leistung in Zusammenhang stehen, würde sich schließen las- Im Fokus: Maße der Effektstärke
sen, dass Kinder mit einer guten phonologischen Bewusstheit
ihre Lesekompetenzen schneller entwickeln und am Ende der Als Effektstärken werden statistische Maße bezeichnet,
Grundschulzeit höhere Niveaus erreichen. Hier legt die zeit- die Aussagen über die Größe und damit die inhaltliche
liche Ordnung der Messungen nahe, dass tatsächlich die im Bedeutsamkeit von Effekten (z. B. Unterschieden, Zusam-
Vorschulalter erfassten Vorläuferfähigkeiten die spätere Leis- menhängen) erlauben. Geht es um die Bedeutsamkeit
tung beeinflusst haben. Insbesondere kann – im Gegensatz zu von Unterschieden zwischen Gruppen, wird häufig das
querschnittlichen Designs – die gegenläufige Wirkrichtung Effektstärkemaß d herangezogen (Cohen 1988). Dieses
ausgeschlossen werden. Allerdings sind auch hier mögliche
548 Kapitel 27  Forschungsmethoden

zelnen der integrierten Primärstudien verknüpft ist. Ferner


ergibt sich aus der Differenz der Mittelwerte der vergli- hängt sie von den Kriterien ab, die zur Auswahl der Studi-
chenen Gruppen, die an der vorgefundenen Streuung en geführt haben, von der Art und Weise der Verrechnung
der Messwerte innerhalb der Gruppen relativiert wurde. und Gewichtung der Einzelergebnisse und vom Umgang mit
Ein wichtiges Effektstärkemaß zur Beurteilung der Enge der Problematik, dass Studien, die keine Effekte nachweisen
eines Zusammenhangs zwischen zwei Merkmalen ist konnten, oft nicht veröffentlicht werden.
27 der Korrelationskoeffizient r (zu statistischen Begriffen Neben den behandelten quantitativen Forschungsansät-
7 Abschn. 27.5.1). zen sei auch auf die Vielfalt qualitativer Ansätze wie z. B.
Effektstärken werden so berechnet, dass sie unabhängig von Fallstudien oder die beschreibende Feldforschung verwiesen.
der Einheit (Skala) der gemessenen Konstrukte interpretiert Eine ausführliche Darstellung qualitativer Forschungsansätze
werden können. Wenn etwa das Durchschnittsergebnis findet sich bei Hussy et al. (2010).
einer Treatmentgruppe mit Selbstregulationstraining im
Deutschtest fünf Punkte über jenem der Kontrollgruppe
liegt, bleibt die Frage offen, ob dieser Abstand als klein,
mittel oder groß zu bewerten ist. Hingegen ergeben
27.4.5 Generalisierbarkeit von
sich beispielsweise aus der Angabe einer Effektstärke Untersuchungsergebnissen
von d D 0:40 maßstabsunabhängige und damit klare
Anhaltspunkte für die Bedeutsamkeit des gefundenen Mit dem Begriff der Generalisierbarkeit ist die Frage ange-
Gruppenunterschieds: Nach . Tab. 27.3, die gängige sprochen, inwieweit Untersuchungsbefunde tatsächlich auf
Konventionen zur Interpretation von Effekten auflistet, die (oft facettenreiche) Lebenswirklichkeit, beispielsweise
lässt sich von einem mittleren Effekt sprechen. Dies ist von Lehrenden und Lernenden, übertragbar sind. Zwar gilt
gleichbedeutend damit, dass ein durchschnittlich leistendes unabhängig vom gewählten Forschungsdesign: Je besser die
Kind aus der Treatmentgruppe im Deutschtest besser Kontrolle von Störeinflüssen und der Ausschluss von Al-
abschneidet als 66 % der Kinder aus der Kontrollgruppe. ternativerklärungen für gefundene Ergebnisse gelingt, desto
Angenommen beide Gruppen bestünden aus je 25 Kindern, höher ist die interne Validität der Untersuchung und damit
so würde das durchschnittlich leistende Kind aus der die Eindeutigkeit der Schlussfolgerungen. Hierin liegen auch
Treatmentgruppe (Rangplatz 13) in der Kontrollgruppe die Vorteile experimenteller Ansätze mit einem hohen Maß
schon den Rangplatz 9 einnehmen. an Kontrolle gegenüber korrelativen Ansätzen mit natürlicher
Variation der Variablen. Allerdings birgt eine starke Kon-
trolle von möglichen Einflussfaktoren die Gefahr, dass die
Was unsere Grundschullehrerin betrifft, würde sie in der Versuchsbedingungen die Realität nur noch eingeschränkt
Metaanalyse von Dignath und Büttner (2008) lesen, dass über abbilden können, wie es zum Beispiel beim Nachstellen von
alle Studien hinweg bei Trainings des selbstregulierten Ler- Lehr- und Lernsituationen im Labor mitunter der Fall sein
nens eine Effektstärke von d D 0:69 über verschiedene ab- kann. Der Begriff der externen Validität dient dazu, Studien
hängige Variablen (z. B. Strategieeinsatz, Leistung) gefunden in dieser Hinsicht beurteilen zu können.
wurde. Auf Basis der Interpretationshilfe in . Tab. 27.3 könn-
te die Lehrerin also durchaus auf mittlere bis große Effekte
hoffen, wenn sie ein Training von Lernstrategien in ihren Un- Eine Untersuchung ist extern valide, wenn ihr Ergebnis
terricht integriert. Zudem könnte sie aus den Befunden von über die besonderen Bedingungen der Untersu-
Dignath und Büttner (2008) Bedingungen ableiten, die ei- chungssituation und über die untersuchten Personen
ne besonders große Wirksamkeit des Trainings begünstigen. hinausgehend generalisierbar ist. Die externe Validität
So zeigten sich beispielsweise Moderatoreffekte dahingehend, sinkt mit wachsender Unnatürlichkeit der Untersuchungs-
dass bei Einbezug metakognitiver Reflexion beim Einsatz von bedingungen bzw. mit abnehmender Repräsentativität
Lernstrategien stärkere Effekte bestanden als bei Trainings der untersuchten Stichproben (Bortz & Schuster 2010).
ohne Fokus auf die metakognitive Ebene.
Um die praktische Bedeutung von Effektstärken noch
besser einschätzen zu können, ist es hilfreich, typische Ef- Externe Validität bezieht sich also darauf, inwieweit die
fekte von unterschiedlichen pädagogischen Maßnahmen zu Ergebnisse einer Studie auf reale zukünftige Gegebenheiten
kennen. Einen großen Fundus hierzu bietet die Zusammen- übertragbar sind und auch für solche Personen, Kontexte und
stellung von Hattie (2009). Diese stellt eine übergreifende Sachverhalte Gültigkeit beanspruchen können, die in der Un-
Metaanalyse dar, die viele auf einzelne Maßnahmen gerich- tersuchung nicht direkt abgedeckt waren. In 7 Abschn. 27.2.2
tete Metaanalysen integriert. wurde über die quasiexperimentelle Interventionsstudie von
Metaanalysen ermöglichen zwar einen schnellen Über- Labuhn et al. (2008) berichtet, bei der Siebtklässlerinnen
blick über eine Vielzahl von Befunden und können damit sehr und Siebtklässler einer nordrhein-westfälischen Gesamt-
unterschiedliche und große Stichproben einbeziehen. Jedoch schule untersucht wurden. Was die externe Validität dieser
darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die Aussagekraft Studie betrifft, wäre beispielsweise zu fragen, ob der Befund,
einer Metaanalyse untrennbar mit der Qualität jeder ein- dass Anregungen zum selbstregulierten Lernen zu Vorteilen
27.4  Untersuchungsdesigns
549 27

. Tabelle 27.3 Interpretation von Effektstärken (nach Coe 2002)

Klassifi- Effektstärke d Prozentanteil an Personen der Kontrollgruppe mit Rang einer Person in der Kontrollgruppe von 25
kation der Werten unterhalb des Werts einer „Durchschnitts- Personen, die der „Durchschnittsperson“ in der
Effektstärke person“ in der Treatmentgruppe Treatmentgruppe entspricht
0.0 50 % 13

0.1 54 % 12

klein 0.2 58 % 11

0.3 62 % 10

0.4 66 % 9

mittel 0.5 69 % 8

0.6 73 % 7

0.7 76 % 6

groß 0.8 79 % 6

0.9 82 % 5

1.0 84 % 4

1.2 88 % 3

beim Lernerfolg führen, auch für Kinder anderer Schular-


ten oder Jahrgangsstufen Gültigkeit beanspruchen kann. Für Eine Zufallsstichprobe entsteht durch zufällige Auswahl
die externe Validität der Studie spricht unter anderem, dass von Personen der Grundgesamtheit, die jeweils identische
die Anregungen zum selbstregulierten Lernen in den rea- Chancen auf Aufnahme haben. Dies ist die beste und
len naturwissenschaftlichen Fachunterricht integriert waren einfachste Methode, um repräsentative Stichproben zu
und von Lehrkräften dargeboten wurden. Ob die Befunde al- gewinnen, lässt sich in der Forschungspraxisjedoch oft nicht
lerdings auch für Kinder in der Grundschule gelten, bleibt realisieren. Ist eine Zufallsstichprobe ausreichend groß, kann
fraglich, da nur Kinder der siebten Klassen an der Unter- angenommen werden, dass die Untersuchungsergebnisse
suchung teilgenommen hatten. Wie das Beispiel zeigt, sind in jeder Hinsicht auch für die Grundgesamtheit gelten.
Informationen zur Auswahl der Teilnehmenden an einer Stu- Eine Quotenstichprobe wird bewusst so zusammenge-
die, also zur Zusammensetzung der Stichprobe, ein wichtiges setzt, dass als besonders wichtig erachtete Merkmale (z. B.
Kriterium, um beurteilen zu können, wie generalisierbar die sozioökonomischer Status) in einem ähnlichen Verhältnis
jeweiligen Befunde sind. vorkommen wie aus der Grundgesamtheit bekannt. Bereits
bei diesem Vorgehen ist mit Einschränkungen der Genera-
lisierbarkeit zu rechnen, da niemals alle Personenmerkmale
Im Fokus: Grundgesamtheit und Stichprobe kontrolliert werden können.
Gelegenheitsstichproben sind solche, die ohne weitere Vor-
Als Grundgesamtheit oder Population werden all jene kehrungen zur Sicherung der Repräsentativität gewonnen
Personen bezeichnet, denen ein umschriebenes Erkennt- werden; beispielsweise wenn Schülerinnen und Schüler
nisinteresse gilt und für die etwaige Befunde gelten sollen. untersucht werden, die in Schulen vor Ort und damit gut
Geht es etwa um die Bedingungen der Wahl verschiedener erreichbar sind. In diesem Fall muss die Frage, inwieweit die
Ausbildungsberufe, könnten alle Schülerinnen und Schüler Befunde generalisierbar sind, besonders genau beleuchtet
in Deutschland, die nach der Schule eine Berufsausbildung werden.
aufnehmen, die Grundgesamtheit darstellen. Der Stichprobenfehler (oder Standardfehler) bezeichnet
Die Stichprobe ist die für eine Untersuchung ausgewählte die zufällige Abweichung der Gegebenheiten in der
Teilmenge der Grundgesamtheit, welche diese möglichst Stichprobe von denen in der Grundgesamtheit. Der
gut repräsentieren sollte. Stichprobenfehler ist umso kleiner, je größer die Stichprobe
Mit dem Begriff der Repräsentativität einer Stichprobe ist – weshalb größere Stichproben das Potential für präzisere
ist gemeint, dass alle für die Fragestellung relevanten Aussagen und den Nachweis bereits kleiner Effekte haben.
Merkmale der ausgewählten Personen ähnlich wie in der Er ist entscheidend für die statistische Beurteilung der
Grundgesamtheit verteilt sind. Repräsentativ oder nicht ist Frage, ob aus einem in einer Stichprobe gewonnenen
eine Stichprobe also in Bezug auf bestimmte Merkmale, Befund gefolgert werden kann, dass dieser auch in der
weshalb diese auch angegeben sein sollten. Grundgesamtheit gilt (Inferenzstatistik, 7 Abschn. 27.5.2).
550 Kapitel 27  Forschungsmethoden

27.5 Analysemethoden 10
Mo = 2
8
Bei der Analyse quantitativer Daten lassen sich zwei Vor-
Md = 3
gehensweisen unterscheiden: Die deskriptive Statistik (be-

Häufigkeit
6
schreibende Statistik) stellt Werkzeuge und Maße zur Ver-
27 fügung, die ein zusammenfassendes Bild der Daten in der 4
Stichprobe vermitteln. Bei der Inferenzstatistik (schließende
Statistik) geht es um die Frage, ob aus den Befunden der un- 2
tersuchten Stichprobe mit hinreichend kleiner Irrtumswahr-
0
scheinlichkeit auf die Verhältnisse in der Grundgesamtheit 1 2 3 4 5 6 7
geschlossen werden kann. M = 2.84
Ergebnis im Kompetenztest

27.5.1 Deskriptive Statistik . Abb. 27.6 Säulendiagramm der Häufigkeitsverteilung des Merkmals
„Selbstregulationskompetenz“ in einer fiktiven Stichprobe von 25
Kindern. Eingezeichnet sind Mittelwert (M), Median (Md) und Modus (Mo)
Um eine erste Übersicht über die gewonnenen Daten zu be-
kommen, sind einfache Tabellen oder Diagramme geeignet.
und Schüler aufsummiert und durch deren Anzahl n geteilt:
1 Häufigkeitsverteilung
Sehr anschaulich lässt sich die Häufigkeitsverteilung eines .x1 C x2 C : : :/
Mx D
Merkmals mit Hilfe eines Säulendiagramms darstellen. Die n
Säulen auf der x-Achse stehen dabei für die einzelnen Merk- Im Beispiel liegt der mittlere Kompetenzwert bei 2.84.
malsausprägungen, während die Höhe einer Säule (y-Achse)
anzeigt, wie oft das jeweilige Merkmal in der Stichprobe be- Median
obachtet wurde (Kasten). Der Median ist derjenige tatsächlich beobachtete
Wert, der eine Verteilung in zwei gleich große Hälften
1 Lagemaße teilt. Bei den 25 Beobachtungen des obigen Beispiels
Lagemaße dienen dazu, die Tendenz der Verteilung eines (1,1,1,1,2,2,2,2,2,2,2,2,3,3,3,3,3,3,4,4,4,4,5,5,7) ist dies der
Merkmals in einer Stichprobe mit Hilfe von Kennzahlen zu- Wert von Md D 3.
sammenfassend zu charakterisieren. Solche Größen werden
entsprechend auch als Maße der zentralen Tendenz bezeich- Modus
net. Im Kasten findet sich ein Säulendiagramm für eine fiktive Als Modus (Modalwert) wird der am häufigsten beobachtete
Verteilung von Werten in einem Kompetenztest. An diesem Wert einer Verteilung bezeichnet. Im Beispiel ist dies der
Beispiel werden die wichtigsten Lagemaße erklärt. Wert von Mo D 2, den acht Personen erreichten.

Im Fokus: Häufigkeitsverteilung mit Lagemaßen


1 Streuungsmaße
Angenommen eine Stichprobe von 25 Schülerinnen und Wenn es darum geht, Unterschiede zwischen Personen und
Schülern hat an einem Kompetenztest zum selbstregulierten Gruppen angemessen zu beschreiben und zu quantifizieren,
Lernen teilgenommen. Der Test soll intervallskalierte sind Streuungsmaße hilfreich. Aus diesen geht hervor, wie
Kompetenzwerte zwischen 1 (keine Kompetenz) und stark die beobachteten Werte voneinander abweichen. Die ge-
7 (maximale Kompetenz) liefern. Die Verteilung des bräuchlichsten Streuungsmaße werden im Kasten erklärt.
Merkmals „Selbstregulationskompetenz“ zeigt sich in einem
Histogramm (. Abb. 27.6). Auf der x-Achse finden sich
Im Fokus: Streuungsmaße
die sieben möglichen Ausprägungen des Testergebnisses.
Die Höhe eines Balkens repräsentiert die Häufigkeit des Angenommen eine Lehrerin hat zu Beginn des Schuljahres
jeweiligen Ergebnisses – also die Anzahl der Personen, die ihren beiden achten Klassen einen Kompetenztest zum
dieses Ergebnis erreicht haben. selbstregulierten Lernen vorgelegt, der intervallskalierte
Testwerte liefert. Bei Klasse 8a hat sie einen Mittelwert von
Mittelwert M D 3:96 errechnet, für Klasse 8b den sehr ähnlichen
Um die Durchschnittsleistung M im Kompetenztest zu Wert von M D 3:88. Wie die Darstellungen der beiden
berechnen, werden die Kompetenzwerte der Schülerinnen Häufigkeitsverteilungen zeigen (. Abb. 27.7), muss sie
27.5  Analysemethoden
551 27
10 10

8 8
Häufigkeit

Häufigkeit
6 6

4 4

2 2

0 0
1 2 3 4 5 6 7 1 2 3 4 5 6 7
Kompetenztest Klasse 8a Kompetenztest Klasse 8b

. Abb. 27.7 Häufigkeitsverteilungen des Merkmals „Selbstregulationskompetenz“ in den Klassen 8a und 8b

M = Md = Mo
sich trotzdem auf sehr unterschiedliche Vorbedingungen
in den beiden Klassen einstellen. So hätte sie in Klasse
8b mit einigen Kindern zu tun, die bereits über sehr gute
Kompetenzen verfügen, während gleichzeitig auch viele SD SD
Häufigkeit
Kinder zu fördern sind – hier besteht also eine große
Heterogenität hinsichtlich der Lernvoraussetzungen der
Schülerinnen und Schüler. In Klasse 8a hingegen streuen die
beobachteten Kompetenzwerte deutlich weniger um den
Mittelwert.

M – 2SD M – SD M M + SD M + 2SD
Streuungsbreite
Der Abstand zwischen der geringsten und der größten . Abb. 27.8 Normalverteilungskurve mit Mittelwert (M ) und Standard-
Ausprägung des betrachteten Merkmals ist die Streuungs- abweichung (SD)
breite (Spannweite). Diese liegt bei Klasse 8a bei dem Wert
4, bei Klasse 8b bei dem Wert 6. Zu beachten ist, dass die
Streuungsbreite stark von Extremwerten beeinflusst ist und
erst ab Ordinalskalenniveau zur Anwendung kommen kann. Standardabweichung
Häufig wird statt der Varianz die Standardabweichung
Perzentile angegeben, um die in einer Stichprobe beobachtete Streu-
Der Median wird auch als 50. Perzentil bezeichnet, da 50 % ung eines Merkmals zu quantifizieren. Diese ergibt sich als
der Stichprobe gleiche oder geringere Merkmalsausprä- Quadratwurzel der Varianz, wodurch ein Streuungsmaß in
gungen haben. Nach derselben Logik lassen sich weitere der ursprünglichen Metrik resultiert, das gut interpretierbar
Perzentile angeben. So entspräche in der Klasse 8b der ist:
Kompetenzwert von 2 dem 20. Perzentil, da 20 % der Kinder p
SDx D Varx
(fünf von insgesamt 25) einen Testwert von 2 oder geringer
erzielten. Die Standardabweichungen der Kompetenzwerte ergeben
sich zu SD D 1:00 für Klasse 8a und zu SD D 1:61 für Klasse
Varianz 8b.
Um die Variabilität in einer Stichprobe zu quantifizieren,
eignet sich die Varianz, deren Berechnung Intervallskalen-
niveau voraussetzt. Dafür wird für jeden Wert die Differenz
Die Verteilungen vieler psychischer Merkmale sind nähe-
zum Mittelwert berechnet. Damit sich positive und negative
rungsweise normalverteilt. . Abb. 27.8 zeigt eine Normalver-
Abweichungen vom Mittelwert nicht gegenseitig aufheben
teilungskurve, die sich ergeben könnte, wenn eine große Zahl
und größere Abweichungen stärker gewichtet werden,
von Kindern beispielsweise einem Selbstregulationstest un-
werden diese Differenzen quadriert. Der Durchschnitt dieser
terzogen würde. Analog zu Säulendiagrammen repräsentiert
quadratischen Abweichungen ist die Varianz:
die Abszisse die Merkmalsausprägung und die Ordinate die
h i
Varx D .Mx  x1 /2 C .Mx  x2 /2 C : : : =n Häufigkeit, mit der die jeweiligen Werte auftreten.
Anhand der Normalverteilungskurve soll die Bedeutung
Die Varianz in Klasse 8a ergibt sich damit zu Var D 1:00. Für von Lage- und Streuungsmaßen nochmals illustriert wer-
Klasse 8b fällt die Varianz mit Var D 2:59 deutlich höher aus. den: Ist ein Merkmal normalverteilt, sind Mittelwert, Median
und Modus deckungsgleich (bei schiefen Verteilungen wie
552 Kapitel 27  Forschungsmethoden

. Abb. 27.9 Zusammenhang Noten- 6


des Merkmals „Selbstregulations- durch-
kompetenz“ mit dem Merkmal schnitt 5
„Schulleistung“ in einer fiktiven
4
Stichprobe von 20 Kindern
M = 2.9 3
27 2 –1.3
+1.64
1
Justus (5; 1.6)
0
0 1 2 3 4 5 6 7
M = 3.4
Ergebnis im Kompetenztest

in . Abb. 27.6 ist dies nicht der Fall). Die Standardabwei-


chung spiegelt sich in der Breite der Verteilungskurve wider. bestimmt und diese beiden Abweichungen dann mit-
Bei gegebener Normalverteilung werden Merkmalsausprä- einander multipliziert werden. Für den Schüler Justus
gungen von einer Standardabweichung unter dem Mittelwert in . Abb. 27.9 ergibt sich dieses Produkt der einzelnen
(M SD) bis hin zu einer Standardabweichung über dem Mit- Abweichungen zu 1:30  C1:60 D 2:08. Das negative Vor-
telwert (M C SD) bei 68.3 % der untersuchten Personen be- zeichen verrät, dass bei Justus eine gegenläufige Beziehung
obachtet. Im Intervall von zwei Standardabweichungen vom von Notendurchschnitt und Selbstregulationskompetenz
Mittelwert finden sich 95.5 % aller Personen. besteht. Die Stärke des Zusammenhangs findet im Abso-
lutbetrag des Produkts der beiden Abweichungen ihren
1 Zusammenhangsmaße Niederschlag. Der Mittelwert dieser Abweichungsprodukte
Um zu analysieren, ob und wie stark zwei oder auch meh- ist die Kovarianz zwischen den beiden Variablen x und y:
rere Merkmale miteinander zusammenhängen, steht eine   
große Zahl teils sehr fortgeschrittener Verfahren zur Verfü- Cov .x; y/ D .Mx  x1 /  My  y1
  
gung (z. B. Regressionsanalysen, Strukturgleichungsmodelle; C .Mx  x2 /  My  y2 C : : : =n
Übersicht bei Eid et al. 2015). Im Folgenden wird die Be-
rechnung der für alle Verfahren grundlegenden Korrelation Die Kovarianz hat den Nachteil, dass sie von der zugrun-
besprochen. Dabei handelt es sich um ein Maß, das die ge- deliegenden Skala abhängt und deshalb schlecht über
meinsame Variation zweier Merkmalen quantifiziert. Dieses verschiedene Variablen hinweg zu vergleichen ist. Benötigt
wird auch als Korrelationskoeffizient r bezeichnet und dient wird deshalb eine Standardisierung.
dazu, über Stärke und Richtung von Zusammenhängen zwi- Die Korrelation r ist nun nichts anderes als die standardisier-
schen zwei Variablen Auskunft zu geben. Anhand eines Bei- te Kovarianz. Die Standardisierung wird erreicht, indem die
spiels ist im Kasten dargestellt, wie der Korrelationskoeffizient Kovarianz an den Standardabweichungen beider Merkmale
gebildet wird. relativiert wird:

Cov .x; y/
Im Fokus: Korrelation r .x; y/ D
SDx  SDx

Angenommen, in einer Stichprobe von 20 Kindern soll der In unserem Beispiel beträgt die Korrelation r D :27. Sie
Zusammenhang zwischen den Ergebnissen eines Tests bedeutet, dass mit höherer Selbstregulationskompetenz
zur Selbstregulationskompetenz und Zeugnisschnitten tendenziell niedrige Notenschnitte verbunden sind.
untersucht werden. . Abb. 27.9 zeigt 20 Datenpunkte, die
entstehen, wenn für jedes Kind das Ergebnis im Kompe-
tenztest auf der Abszisse und der Notendurchschnitt auf Mit der Korrelation steht eine Maßzahl zur Verfügung,
der Ordinate abgetragen werden. Bei genauer Betrachtung die es erlaubt, den Zusammenhang zweier Merkmale in einer
zeigt sich, dass Kinder mit geringen Kompetenzwerten Stichprobe unabhängig von Skalenmaßstäben zu quantifi-
tendenziell schlechtere Schulleistungen erzielt haben, als zieren. Der Korrelationskoeffizient kann theoretisch Werte
solche mit höheren Werten. zwischen C1:00 und 1:00 annehmen. Bei r D C1:00 wird
Um den Zusammenhang von zwei Variablen zu quantifi- von einem perfekt positiven, r D 1:00 von einem perfekt
zieren wird zunächst die Kovarianz bestimmt. Diese drückt negativen Zusammenhang gesprochen. Ist r D 0, besteht
Ausmaß und Richtung der gemeinsamen Variation („Ko- kein Zusammenhang. In . Abb. 27.10 sind Punktewolken für
Variation“) zweier Merkmale als Zahlenwert aus. Sie wird eine hohe negative, eine hohe positive und eine nicht vorhan-
bestimmt, indem zunächst pro Person für jeden der beiden dene Korrelation der Merkmale x und y dargestellt.
Messwerte die Abweichung vom jeweiligen Mittelwert In 7 Abschn. 27.4.4 wurde die Effektgröße d zur Beurtei-
lung von Mittelwertsunterschieden besprochen. Analog da-
27.5  Analysemethoden
553 27
Merkmal y

Merkmal y

Merkmal y
a Merkmal x b Merkmal x c Merkmal x

. Abb. 27.10 Datenpunkte mit Ausprägungen von zwei Merkmalen x und y. a hohe negative Korrelation. b hohe positive Korrelation.
c Nullkorrelation

zu bietet der Zahlenwert des Korrelationskoeffizienten einen Im Fokus: Nullhypothese und Alternativhypothese
guten Anhaltspunkt, um die Bedeutsamkeit und praktische
Relevanz von Zusammenhängen zwischen Merkmalen ein- Zunächst wird eine Nullhypothese H0 formuliert, die
schätzen zu können. Zurückgehend auf Cohen (1988) wird keinen Zusammenhang, Unterschied oder Effekt annimmt.
meist bei r D ˙:10 von einem schwachen Zusammenhang Komplementär dazu wird eine Alternativhypothese H1
gesprochen, bei r D ˙:30 von einem mittleren und bei formuliert, die das gegenteilige Ergebnis postuliert. Sie ist in
r D ˙:50 von einem starken Zusammenhang. Hilfreich der Regel identisch mit der zu prüfenden Aussage.
für die Interpretation von Korrelationen ist es außerdem, re- In unserem Beispiel:
gelmäßig gefundene Werte für typische Zusammenhänge zu H0 : Bei Schülerinnen und Schülern existiert kein Zusam-
kennen. Sehr robust ist beispielsweise die Korrelation um menhang zwischen Selbstregulationskompetenz und
r D :50 zwischen Intelligenz und Schulleistung (Maltby, Day Schulleistung.
& Macaskill 2011). H1 : Bei Schülerinnen und Schülern hängen Selbstregulati-
onskompetenz und Schulleistung zusammen.

27.5.2 Inferenzstatistik Ausgangspunkt inferenzstatistischer Hypothesentestun-


gen ist die Vermutung der Gültigkeit der Nullhypothese in
Das Ziel der Inferenzstatistik ist es, zur Überprüfung von der Grundgesamtheit. Nur wenn die Daten der Stichprobe
Forschungshypothesen von den in einer Stichprobe vorge- hinreichend Anlass geben, die Nullhypothese anzuzweifeln,
fundenen Bedingungen auf die Gegebenheiten in der Grund- wird sie zugunsten der Alternativhypothese verworfen. Ob
gesamtheit zu schließen. Entsprechend wird dieses Vorge- dies gerechtfertigt ist, wird mit Hilfe eines statistischen Tests
hen auch als schließende oder hypothesenprüfende Statistik entschieden, der auch als Nullhypothesen-Signifikanztest be-
bezeichnet. Angenommen, die obige Fragestellung hätte ge- zeichnet wird. Dabei wird ermittelt, wie groß die Wahr-
lautet, ob in der Stichprobe von 20 Kindern die Werte des scheinlichkeit ist, das nachgewiesene Datenmuster in einer
Kompetenztests mit der Durchschnittsnote zusammenhän- Stichprobe zu finden, obwohl die Nullhypothese zutrifft. Nur
gen: Die Antwort wäre ein klares „Ja“ gewesen, denn schließ- wenn diese Wahrscheinlichkeit sehr gering ist und unterhalb
lich wurde eine Korrelation von r D :27 ermittelt. Der einer zuvor festgelegten Grenze liegt, gehen Forscherinnen
Anspruch wissenschaftlicher Hypothesen liegt aber gerade und Forscher vom Vorliegen desselben Musters auch in der
darin, möglichst allgemeingültige Aussagen zu treffen, die Grundgesamtheit aus. Übertragen auf unser Beispiel wäre al-
über den untersuchten Personenkreis hinausgehen. Es stellt so zu berechnen, wie groß in einer 20-köpfigen Stichprobe
sich also die Frage, ob aus der Korrelation in der Stichpro- die Wahrscheinlichkeit ist, einen Zusammenhang zwischen
be geschlossen werden kann, dass ein Zusammenhang auch Kompetenzwerten und Noten von r D :27 oder enger
in der Grundgesamtheit besteht. Schließlich könnten Kinder zu finden, obwohl Selbstregulationskompetenz und Schul-
mit sowohl guten Kompetenzwerten als auch guten Schulleis- leistung in der Grundgesamtheit nicht zusammenhängen,
tungen allein durch eine Laune des Zufalls in die Stichprobe also die Nullhypothese gilt. Diese sogenannte Irrtumswahr-
geraten sein (Stichprobenfehler, 7 Abschn. 27.4.5). Im Fol- scheinlichkeit wird auch als Signifikanzwert p bezeichnet und
genden wird skizziert, wie eine Beantwortung dieser Frage lässt sich in Tabellen nachschlagen oder direkt von der ver-
möglich wird (ausführlich in Döring & Bortz 2016). wendeten Statistiksoftware ausgeben. Sie beträgt in unserem
In einem ersten Schritt wird zur prüfenden Forschungs- Beispiel p D :23, also 23 %. Statistisch gesehen wären so-
hypothese eine Nullhypothese und eine Alternativhypothese mit unter 100 gezogenen Stichproben immerhin 23, die rein
formuliert (7 Im Fokus). zufällig einen Zusammenhang von r D :27 oder enger auf-
554 Kapitel 27  Forschungsmethoden

weisen. Forscherinnen und Forschern wäre dieses Risiko zu Unabhängig von den Möglichkeiten der Inferenzstatis-
groß und sie würden die Nullhypothese beibehalten. tik, mit statistischen Unabwägbarkeiten umzugehen, ist es
Bereits vor der Untersuchung ist festzulegen, welche Irr- unabdingbar, Fehlerquellen im Forschungsprozess so klein
tumswahrscheinlichkeit als gerade noch ausreichend gering wie möglich zu halten, um am Ende verlässliche Aussagen
gelten soll, um die Alternativhypothese anzunehmen. Die- treffen zu können. Dies reicht von einer ausreichend gro-
se Höchstgrenze wird als Signifikanzniveau oder auch als ßen Stichprobe, die mit angemessenem Auswahlverfahren
27 ’-Niveau bezeichnet. Typischerweise werden Signifikanzni- gewonnen wird, über ein geeignetes Untersuchungsdesign bis
veaus von p < :05 (5 %-Niveau), p < :01 (1 %-Niveau) oder hin zur Wahl passender Messinstrumente, die den Gütekrite-
p < :001 (0.1 %-Niveau) angesetzt. Liegt der ermittelte rien möglichst gut entsprechen.
Signifikanzwert unter dem festgelegten Niveau werden die
Befunde als „signifikant“ bezeichnet; tut er es nicht, wird von
rein zufälligen Effekten ausgegangen, die keine inhaltliche 27.6 Finden, Lesen und Bewerten von
Bedeutung haben und nicht interpretiert werden können. psychologischen Forschungsstudien
Angemerkt sei noch, dass im Beispiel mit einer „zweisei-
tigen“ Hypothese gearbeitet wurde. Das heißt, die Alternativ-
hypothese enthielt keine Annahme zur Richtung des Zusam- Die bisherigen Abschnitte dienten dazu, grundlegendes for-
menhangs der thematisierten Variablen. Behauptet wurde le- schungsmethodisches Wissen zu vermitteln, um empirische
diglich ein von Null verschiedener Zusammenhang. Denkbar Forschungsergebnisse verstehen und bewerten zu kön-
wäre auch gewesen, die Hypothese „einseitig“ als Vermutung nen. Die zentralen Bausteine (Hypothesen, Schritte im
eines positiven Zusammenhangs zwischen Selbstregulations- Forschungsprozess, Erhebungsmethoden, Untersuchungsde-
kompetenz und Schulleistung zu formulieren. Tatsächlich signs und Analysemethoden) werden nun in diesem abschlie-
werden Alternativhypothesen in der Forschungspraxis häu- ßenden Abschnitt zusammengeführt. Dies soll zur Klärung
fig im Hinblick auf die erwartete Richtung formuliert. Ein zweier praktischer Fragen beitragen, die sich bei der Nutzung
solches Vorgehen ist jedoch nur zu rechtfertigen, wenn der des reichhaltigen Fundus an praxistauglichen Forschungser-
gegenläufige Zusammenhang aufgrund solider theoretischer gebnissen stellen, den die Pädagogische Psychologie bereit-
Überlegungen und empirischer Befunde aus früheren Un- stellt: (1) Wie finde ich belastbare Forschungsergebnisse zu
tersuchungen sicher ausgeschlossen werden kann (vgl. Rost einem praktischen Phänomen? (2) Wie lese ich einen psycho-
2013). logischen Originalartikel?
Insgesamt ermöglicht es die Inferenzstatistik, Aussagen
zu großen Gruppen zu treffen, obwohl nur ein Teil davon
tatsächlich untersucht wurde. Der Preis dafür ist die Mög- 27.6.1 Wie finde ich belastbare
lichkeit sich zu irren, die jedoch durch Berechnung des Si-
Forschungsergebnisse zu einem
gnifikanzwerts kalkulierbar wird. Im Kasten werden die zwei
grundlegenden Arten von Fehlern näher beschrieben, die praktischen Phänomen?
mit der inferenzstatistischen Hypothesentestung einherge-
hen können. Die erste Wahl für die Veröffentlichung und Suche hochwer-
tiger Forschungsergebnisse der Psychologie sind Publikatio-
Im Fokus: Mögliche Fehlentscheidungen bei der Testung nen in Fachzeitschriften – im Gegensatz zu manch anderen
Fächern, in denen Forschungsergebnisse vorrangig in Mo-
Als Fehler 1. Art oder auch als ’-Fehler wird der Fall nographien oder Herausgeberwerken veröffentlicht werden.
bezeichnet, dass die Alternativhypothese angenommen Gründe für diese Präferenz für Fachzeitschriften liegen darin,
wird, obwohl die Nullhypothese zutrifft. Komplementär zum dass sich empirische Studien gut im Format eines Facharti-
Fehler 1. Art bezeichnet der Fehler 2. Art, der auch “-Fehler kels darstellen lassen, diese sehr einfach (elektronisch) einer
genannt wird, den Fall, dass die Nullhypothese trotz gültiger breiten Leserschaft verfügbar gemacht werden können und
Alternativhypothese beibehalten wird. Fachzeitschriften eine strenge Qualitätskontrolle vornehmen.
Während der höchstens zu akzeptierende ’-Fehler mit dem Eine solche Qualitätssicherung ist notwendig, um zu ge-
Signifikanzniveau schon vor der Untersuchung festgelegt währleisten, dass nur Studien veröffentlicht werden, die einen
wird, ist die Wahrscheinlichkeit für den “-Fehler von innovativen Beitrag zum Forschungsstand liefern und me-
vielfältigen Faktoren wie beispielsweise Stichprobengröße thodische Standards erfüllen (z. B. Güte der verwendeten
und Qualitätsmerkmalen der Studie abhängig (Rost 2013). Messinstrumente, statistische Absicherung von Schlussfol-
Zudem sind die beiden Fehlerarten miteinander verknüpft. gerungen). Ganz besonders ist dies bei einer anspruchsvol-
So sinkt mit der Wahl eines sehr strengen Signifikanzniveaus len methodischen Anlage nötig, weil dann Leserinnen und
zwar das Risiko, die Alternativhypothese fälschlicherweise Leser oft gar nicht in der Lage sind, die Methodik nach-
anzunehmen. Damit wird es aber auch wahrscheinlicher, vollziehen zu können. Die Qualitätskontrolle wird in erster
den Fehler 2. Art zu begehen und so einen tatsächlich Linie durch strenge und doppelblinde Begutachtungsverfah-
vorhandenen Effekt zu übersehen (7 Kap. 24). ren erreicht. Dabei werden Forschungsarbeiten von mehre-
ren Expertinnen und Experten aus dem gleichen Fachge-
27.6  Finden, Lesen und Bewerten von psychologischen Forschungsstudien
555 27

. Tabelle 27.4 Wichtige Fachzeitschriften aus dem Bereich der schulbezogenen Psychologie

Deutschsprachige Fachzeitschriften Englischsprachige Fachzeitschriften


Kindheit und Entwicklung American Educational Research Journal
Psychologie in Erziehung und Unterricht British Journal of Educational Psychology
Unterrichtswissenschaft Contemporary Educational Psychology
Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie Educational Psychologist*
Zeitschrift für Erziehungswissenschaft Educational Psychology
Zeitschrift für Pädagogische Psychologie Educational Psychology Review*
European Journal of Psychology of Education
International Journal of Educational Research
Journal of Educational Psychology
Journal of Educational Research
Journal of Experimental Education
Journal of School Psychology
Journal of the Learning Sciences
Learning and Individual Differences
Learning and Instruction
Metacognition and Learning
Review of Educational Research*
Teaching and Teacher Education

Mit * gekennzeichnete Zeitschriften veröffentlichen vorrangig systematische Überblicksdarstellungen („Reviews“) und Metaanalysen.

biet beurteilt, wobei sowohl die Autorinnen und Autoren (EZB) der Universitätsbibliotheken, aber auch über einschlä-
als auch die Gutachterinnen und Gutachter anonym bleiben. gige Internet-Suchmaschinen abgerufen werden.
. Tab. 27.4 listet wichtige deutschsprachige und internatio-
nale Fachzeitschriften auf, die eine solche Qualitätskontrolle
realisieren. 27.6.2 Wie lese ich einen psychologischen
Die einzelnen Fachartikel sind nicht in den OPAC- Originalartikel?
Systemen (Online Public Access Catalogue) der Bibliothe-
ken verzeichnet. Eine bessere Suchstrategie ist die Recher-
che in einer psychologischen Literaturdatenbank, die über So leicht es klingt, so schwer fällt es vielen (nicht nur Stu-
die Datenbanken-Informationssysteme (DBIS) der Univer- dierenden), psychologische Fachartikel zu lesen – und dabei
sitätsbibliotheken aufgerufen werden kann. Zu nennen sind die zentralen Aussagen zu verstehen sowie die Belastbarkeit
insbesondere die Datenbanken PSYNDEX (die psychologi- der empirischen Ergebnisse zu beurteilen (von der Mühlen,
sche Forschungsarbeiten aus den deutschsprachigen Län- Richter, Schmid, Schmidt & Berthold 2016). Originalarbei-
dern katalogisiert und mehr als eine viertel Million Pub- ten – also Fachartikel, die neue („originäre“) Erkenntnisse
likationen, Tests, audiovisuelle Medien und Interventions- präsentieren – sind grundsätzlich schwieriger zu lesen als
programme enthält) sowie PsycINFO (internationale Da- Lehrbuchtexte und andere Überblicksarbeiten.
tenbank, die mehr als vier Millionen Einträge umfasst). In Um Sie bei der Lektüre psychologischer Originalarbeiten
diesen Datenbanken ist eine gezielte Suche nach Begriffen zu unterstützen, finden Sie auf den folgenden Seiten eine Le-
in Titeln, Zusammenfassungen, Schlagwörtern und anderen sehilfe (. Abb. 27.11). Diese soll Sie Schritt für Schritt durch
Feldern möglich. Daneben können auch Quellenhinweise in die Lektüre leiten, auf wichtige Punkte aufmerksam ma-
Lehrbüchern und Inhaltsverzeichnisse von Fachzeitschriften chen und Ihnen helfen, etwaige Verständnisschwierigkeiten
brauchbare Ergebnisse liefern. zu überwinden (die oft im forschungsmethodischen Bereich
Wenn es das Ziel ist, sich einen systematischen Überblick liegen). Die Originalstudie, anhand derer diese Lesehilfe ge-
über ein Forschungsthema zu verschaffen, kann gezielt nach staltet ist, befasst sich mit dem bereits erwähnten populären
Überblicksdarstellungen („Reviews“) und Metaanalysen re- Mythos, dass Kaugummikauen das kognitive Leistungsver-
cherchiert werden (z. B. in den in . Tab. 27.4 gekennzeichne- mögen steigern könne (Rost et al. 2010). Es ist empfehlens-
ten Zeitschriften).1 wert, den Artikel parallel zur Lektüre dieses Abschnitts zu
Sind passende Fachartikel identifiziert, können die Voll- lesen.2
texte meist über die Elektronische Zeitschriftenbibliothek Ausführlichere Hinweise zur Interpretation und Bewer-
tung psychologischer Studien finden sich bei Rost (2013).

1
Das Ziel, Forschungsergebnisse zu einzelnen Themengebieten zu-
2
sammenzutragen und aufzubereiten, verfolgt auch das „Clearing Der Artikel lässt sich kostenfrei aus den Netzwerken der meisten
House Unterricht“, das sich als Vermittler zwischen Forschung und Universitäten abrufen (z. B. unter https://doi.org/10.1024/1010-0652/
schulischer Praxis versteht (7 https://www.clearinghouse.edu.tum.de/). a000003).
556 Kapitel 27  Forschungsmethoden

Titel der Fachzeitschrift


Renommierte Fachzeitschriften mit Peerreview haben
die strengste Qualitätskontrolle und sind daher erste
Wahl bei der Suche nach Forschungsergebnissen. Da-
her sollte beachtet werden, in welcher Form und wo
eine Arbeit erschienen ist (vgl. Tab. 27.4).

27 Titel des Artikels


Der Titel sagt in verdichteter Form, um was es geht;
ihn mehrfach genau zu lesen empfiehlt sich.
Bei dieser Arbeit lässt sich z. B. bereits dem Titel ent-
nehmen, dass die Fragestellung mit einem experi-
mentellen (also intern sehr validen) Untersuchungs-
design geklärt wurde.

Zusammenfassung (auch „Abstract“)


Dieser Textteil enthält – sehr verdichtet – die wichtig-
sten Informationen über die vorliegende Studie. Dazu
zählen Fragestellung, Stichprobe, Untersuchungs-
design, erfasste Konstrukte und Ergebnisse. Da diese
Textstelle sehr komprimiert die wesentlichen Aspekte
zusammenfasst, ist sie nicht ganz einfach zu verstehen.
Sie sollten sie sehr genau (evtl. mehrfach) lesen, da Sie
daraus bereits wesentliche Informationen gewinnen
können.
Der Zusammenfassung dieser Arbeit lässt sich z. B. be-
reits das zentrale Ergebnis entnehmen, nämlich dass
Kaugummikauen – entgegen dem populären Mythos –
keine nachweisbaren Vorteile für Konzentrations- und
Gedächtnisleistungen brachte.
Liegen mehrere Studien zu einem Thema vor, ist die
Lektüre ihrer Zusammenfassungen eine effektive
Strategie, sich einen Überblick über ein Forschungs-
gebiet zu verschaffen.

Theoretischer Teil (auch „Einleitung“,


„Theoretischer Hintergrund“, „Ausgangslage“)
Bevor eine Studie in Angriff genommen werden kann,
muss das zu untersuchende Phänomen theoretisch
präzisiert und die dazu bereits publizierte Forschungs-
literatur (der „Forschungsstand“) aufgearbeitet wer-
den. Von großer Bedeutung für die Qualität der Arbeit
ist, dass präzise theoretische Überlegungen zu dem
untersuchten Phänomen angestellt und daraus genaue
Hypothesen abgeleitet werden. Alle wichtigen Argu-
mente sollten dabei durch Quellen belegt werden.
Dies erfolgt im ersten großen Textteil (meist mehrere
Seiten). Hier stößt man oft auf unbekannte Begriffe,
deren Bedeutung nicht auf Anhieb verstanden wird.
Davon sollten Sie sich nicht entmutigen lassen, Sie wer-
den die Studie in aller Regel trotzdem verstehen.
Die Autorinnen und Autoren dieser Studie haben über
den Zusammenhang von Kaugummikauen und kogni-
tiven Leistungen recherchiert. Sie vergleichen und be-
werten die Studien dazu. Damit dokumentieren sie den
Stand der Forschung. Durch die sorgfältige Einschät-
zung der Forschungssituation werden offene For-
schungsfragen deutlich („Forschungsdesiderata“). Die-
sen kann sich nun eine eigene Untersuchung widmen.

. Abb. 27.11 Wie liest man einen psychologischen Originalartikel? Eine Lesehilfe
27.6  Finden, Lesen und Bewerten von psychologischen Forschungsstudien
557 27
Methodenteil
Im Methodenteil finden sich Informationen zu Stich-
probe, erfassten Variablen, Untersuchungsdesign (Ver-
suchsplan) und Datenauswertung. Ein Qualitätsmerk-
mal ist die detaillierte Beschreibung des methodischen
Vorgehens samt der eingesetzten Materialien. Nur so
kann die Studie problemlos nachvollzogen und hin-
sichtlich interner und externer Validität sowie der Güte
der Messinstrumente beurteilt werden.
Stichprobenbeschreibung
Anhand von Größe und Zusammensetzung der
Stichprobe lässt sich beurteilen, wie spezifisch die
Ergebnisse für die untersuchte Gruppe sind und wie
gut sie sich auf andere Gruppen generalisieren lassen.

Messinstrumente
In dieser Studie werden die genutzten Erhebungsin-
strumente unter der Überschrift „Variablen“ vorge-
stellt. Die Entscheidung fiel hier auf etablierte Ver-
fahren, was weniger Fragen zur Messgüte aufwirft als
ad-hoc konstruierte Instrumente.
Ergebnisteil
Im dritten großen Teil werden die empirischen
Ergebnisse referiert. Um sie zu verstehen ist es nicht
zentral, dass Sie jedes statistische Verfahren kennen.
Hilfreich ist hier eine gewisse „Unempfindlichkeit“, die
es ermöglicht, zunächst die zentralen Aussagen
nachvollziehen zu können. Offene Fragen können dann
im Anschluss nachgeschlagen werden.
In dieser Studie werden zunächst Maße für die Relia-
bilität der Messverfahren berichtet, anschließend wird
auf deskriptive statistische Kennwerte verwiesen.

Fragestellung/Hypothesen (oft am Ende des theoreti-


schen Teils)
Dreh- und Angelpunkt jeder empirischen Studie ist die
Fragestellung mit den zu testenden Hypothesen. Die
Anlage der Untersuchung – d. h. ihr Design, die unter-
suchten Konstrukte sowie deren Operationalisierung –
muss darauf abgestimmt sein.
In Experiment 1 dieser Arbeit ist die Hypothese so weit
präzisiert, dass sie empirisch überprüft werden kann.

Untersuchungsdesign
Rost et al. (2010) haben sich für ein experimentelles
Design entschieden, da die kausale Wirkung des
Kaugummikauens (unabhängige Variable) auf die
kognitive Leistungsfähigkeit (abhängige Variable)
untersucht werden sollte.

Analysemethodik
Oft schließt der Methodenteil mit der Beschreibung
der Datenauswertung ab (häufig ist dies auch in die
Ergebnisdarstellung integriert). Um diesen Teil der
Studie kritisch überprüfen zu können, ist wohl sehr
umfangreiches statistisches Wissen nötig – hier z. B.
über Varianzanalysen (ANOVA = Analysis of Variance,
MANOVA = multivariate ANOVA). Zum Verständnis der
Ergebnisse einer Studie ist dies jedoch nicht zwingend
erforderlich.

. Abb. 27.11 (Fortsetzung)


558 Kapitel 27  Forschungsmethoden

Statistische Symbole
27 Die Ergebnisse werden deutlich leichter verständlich,
wenn man die Symbole der wichtigsten statistischen
Kennwerte kennt. Dies sind:
- Mittelwert: M
- Standardabweichung: s, S oder SD
- Korrelationskoeffizienten: r oder ρ
- Größen von (Teil-)Stichproben: N oder n
- Statistische Signifikanz: p
- Häufigkeit: f
- Stichprobenkennwerte: t, F, χ2, z
- Effektstärken: standardisierte Mittelwertdifferenz d,
Varianzaufklärung η2
- Reliabilitätskoeffizienten: interne Konsistenz α

Diskussion
Im letzten (vierten) Hauptteil eines Fachartikels wer-
den die Ergebnisse diskutiert und interpretiert. Eine
solche Diskussion beginnt meist mit einer nochmaligen
Kurzbeschreibung des zu untersuchenden Phänomens
und der Forschungsfrage, gefolgt von einer verdichte-
ten Beschreibung der Befunde. Ergebnisse zu disku-
tieren heißt, ihre Bedeutung und Schlussfolgerungen
im Hinblick auf die formulierte Fragestellung festzu-
halten, sie mit den Befunden anderer Untersuchungen
zu vergleichen und daraus Implikationen für Theorie
und Praxis abzuleiten.
Da in der Diskussion alle Stränge der Arbeit zusammen-
geführt werden, kann es eine gute Strategie zur ersten
Orientierung über einen Fachartikel sein, nach der
Lektüre der Zusammenfassung zunächst die Diskussion
zu lesen.

Nach der Lektüre


Am Ende der Lektüre eines Fachartikels lohnt es sich,
noch einmal die gesamte Forschungsarbeit in den Blick
zu nehmen – und über ihre methodische Qualität
sowie ihre Bedeutung für die schulische Praxis
nachzudenken.

. Abb. 27.11 (Fortsetzung)


27.6  Finden, Lesen und Bewerten von psychologischen Forschungsstudien
559 27

Zusammenfassung Um im Lehramtsstudium oder als Lehrkraft belastbare


Viele für den Schulalltag relevante Fragestellungen lassen Informationen zu einem praktischen Phänomen zu erhal-
sich nur empirisch beantworten, d. h. mittels einer syste- ten, bietet sich die Lektüre von entsprechenden Facharti-
matischen und methodisch kontrollierten Sammlung und keln an. Diese lassen sich mit Hilfe von Literaturdatenban-
Bewertung von Daten. Um als Lehrkraft von den vielfälti- ken auffinden. Die Kenntnis des typischen Aufbaus von
gen und stets im Wandel befindlichen Erkenntnissen der Fachartikeln sowie ein strategisches Vorgehen beim Lesen
Forschung im Bereich Schule profitieren zu können, sind ermöglicht ein leichteres Verständnis der Inhalte.
grundlegende forschungsmethodische Kompetenzen er-
forderlich.
Empirische Forschung ist ein Prozess mit mehre-
ren Schritten. Ausgehend von Praxisbeobachtungen oder
theoretischen Überlegungen werden Hypothesen formu-
liert und überprüft. Dazu ist es nötig, auch Merkmale Verständnisfragen
messbar zu machen, die sich nicht direkt beobachten las-
sen – dies wird möglich, indem Indikatoren des jeweili-
gen Konstrukts mit geeigneten Erhebungsverfahren er- ?1. In welchem Verhältnis stehen Praxis, Theorie und
fasst werden. In der Psychologie stehen dazu eine Vielzahl Empirie zueinander und wo liegt der jeweilige Beitrag
an Verfahren zur Verfügung, wie systematische Verhal- zur Weiterentwicklung von Wissen?
tensbeobachtung, Interviewverfahren, Fragebögen oder 2. Welche Alltagstheorien rund um das Thema Lernen
Tests. Die Qualität von Erhebungsverfahren lässt sich an- und Lehren kennen Sie? Greifen Sie eine heraus und
hand von Gütekriterien beurteilen (insb. Objektivität, Re- überlegen Sie, worin sich diese von einer wissenschaft-
liabilität, Validität). lichen Theorie unterscheidet.
Für die Ableitung von Schlussfolgerungen stehen 3. Angenommen, Sie wollen das hypothetische Konstrukt
unterschiedliche Untersuchungsdesigns zur Verfügung. „Prüfungsangst“ messen. Wie genau würden Sie
Experimentelle Forschungsdesigns zielen darauf ab, vorgehen und welche Indikatoren würden Sie zur
Ursache-Wirkungszusammenhänge aufzuklären. Bei Messung heranziehen?
Querschnittuntersuchungen geht es um die Analyse 4. Messinstrumente, wie sie in der psychologischen
von Zusammenhängen zwischen Merkmalen, die alle Forschung typischerweise eingesetzt werden, sind
zum gleichen Zeitpunkt erfasst werden. Dies ist unauf- mehr oder weniger fehlerbehaftet. Überlegen Sie,
wendig, erlaubt jedoch keine kausalen Aussagen. Um wie solche Fehler zustande kommen und wie damit
Veränderungen und deren Bedingungen analysieren zu umzugehen ist.
können, sind Längsschnittuntersuchungen nötig, bei 5. Welche Erhebungsmethoden kennen Sie, um Erleben,
denen die im Fokus stehenden Merkmale wiederholt Kognition und Verhalten von Schülerinnen und
gemessen werden. In Metaanalysen werden die Ergeb- Schülern, Eltern und Lehrkräften zu erfassen?
nisse mehrerer, bereits vorliegender Studien zu einem 6. Inwiefern hängt die Fragestellung einer empirischen
Forschungsthema systematisch zusammengeführt. Studie mit der Wahl des Forschungsdesigns zusam-
Gewonnene Daten werden mit statistischen Metho- men?
den analysiert. Mit den Methoden der deskriptiven Sta- 7. Warum wird das Experiment oft als „starkes“ For-
tistik lassen sich die in einer Stichprobe erhobenen Daten schungsdesign bezeichnet?
übersichtlich und komprimiert darstellen. Lagemaße (z. B. 8. Was ist unter interner Validität, was unter externer
Mittelwert) eignen sich zur Beschreibung der zentralen Validität zu verstehen?
Tendenz der Daten. Streuungsmaße (z. B. Standardabwei- 9. In einer empirischen Studie lesen Sie, dass bei Lernen-
chung) geben Auskunft darüber, wie sich das gemessene den die Häufigkeit, mit der Belohnungsstrategien zur
Merkmal in der Stichprobe verteilt. Mit Hilfe der Inferenz- Selbstmotivierung eingesetzt werden zu r D :21
statistik lässt sich abschätzen, ob ein in der Stichprobe mit der Neigung korreliert, wichtige Lernaktivitäten
beobachteter Effekt zufällig auftritt oder die Bedingungen aufzuschieben. Was drückt die Korrelation aus und als
in der Grundgesamtheit reflektiert. Ist die Irrtumswahr- wie bedeutsam würden Sie den Befund einschätzen?
scheinlichkeit, dass die Nullhypothese gilt, obwohl die 10. Reflektieren Sie die Grundidee der Inferenzstatistik.
Ergebnisse in der Stichprobe mit der Alternativhypothese Was genau ist in diesem Zusammenhang mit dem
in Einklang stehen (statistische Signifikanz), hinreichend Begriff der Signifikanz gemeint?
gering (meist kleiner als 5 % oder 1 %), wird ein Befund als 11. Wie würden Sie vorgehen, um belastbare Forschungs-
signifikant bezeichnet. Mit Hilfe von Effektstärkemaßen ergebnisse zur Bedeutung von Humor im Unterricht zu
lässt sich die praktische Relevanz von Befunden abschät- finden?
zen. 12. Macht Kaugummikauen wirklich schlau? Lesen Sie
den in 7 Abschn. 27.6 kommentierten Artikel von
Rost et al. (2010) im Original (. Abb. 27.11). In
560 Kapitel 27  Forschungsmethoden

welche Hauptabschnitte ist die Darstellung gegliedert Hadwin, A. F., Nesbit, J. D., Jamieson-Noel, D., Code, J., & Winne, P. H. (2007).
und welche grundlegenden Informationen zur Examining trace data to explore self-regulated learning. Metacogniti-
beschriebenen Studie finden sich in den jeweiligen on and Learning, 2, 107–124.
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563 VII

Lern- und
Verhaltensauffälligkeiten
Inhaltsverzeichnis

Kapitel 28 Lern- und Verhaltensstörungen – 565

Kapitel 29 Auffälligkeiten im Erleben und im Sozialverhalten – 587

Kapitel 30 Pädagogische Prävention und Intervention bei psychischen


Auffälligkeiten im Schulalter – 603
565 28

Lern- und Verhaltensstörungen


Wolfgang Schneider, Wolfgang Lenhard und Peter Marx

28.1 Einleitung – 566

28.2 Rechenstörung – 566


28.2.1 Definition, Symptome, Erscheinungsformen und Verlauf – 566
28.2.2 Prävalenz, Erfassung und Komorbidität – 567
28.2.3 Ätiologie – 569
28.2.4 Verlauf, Folgen, Sekundärsymptomatik – 570
28.2.5 Fördermaßnahmen – 571

28.3 Lese-Rechtschreibstörung – 572


28.3.1 Symptome und Erscheinungsformen; Definitionsproblematik – 572
28.3.2 Prävalenz, Erfassung und Komorbidität – 573
28.3.3 Ätiologie – 574
28.3.4 Verlauf, Folgen, Sekundärsymptomatik – 575
28.3.5 Maßnahmen – 575

28.4 Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung – 576


28.4.1 Symptome und Erscheinungsformen – 577
28.4.2 Prävalenz, Erfassung und Komorbidität – 577
28.4.3 Ätiologie – 579
28.4.4 Verlauf und Folgen – 580
28.4.5 Maßnahmen – 580

Verständnisfragen – 583

Literatur – 583

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019


D. Urhahne, M. Dresel, F. Fischer (Hrsg.), Psychologie für den Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55754-9_28
566 Kapitel 28  Lern- und Verhaltensstörungen

28.1 Einleitung 28.2 Rechenstörung

Von Schulbeginn an unterscheiden sich Lernende erheblich 28.2.1 Definition, Symptome,


im Erfolg ihrer Lernbemühungen. Während einige Schüle- Erscheinungsformen und Verlauf
rinnen und Schüler keinerlei Probleme zeigen, verzeichnen
andere häufig Misserfolge. Von Lernschwächen bzw. Lernstö-
rungen wird allgemein dann gesprochen, wenn es zu einem Rechenstörungen sind bei Kindern relativ weitverbreitet, und
bedeutsamen und auch zeitlich überdauernden Leistungs- dies nicht nur im deutschsprachigen Raum (vgl. etwa Geary
28 versagen kommt. Der Begriff der Lernschwierigkeiten wird 1993; Krajewski & Schneider 2007). Rechenschwache Kinder
meist etwas weiter gefasst und beinhaltet auch zeitlich be- sind dadurch charakterisiert, dass sie trotz teilweise intensiver
grenzte Leistungsprobleme (vgl. Gold 2018; Hasselhorn & Unterstützung kein grundlegendes Verständnis von Zahlen
Gold 2017). Minderleistungen im Lesen, Rechtschreiben und und Mengen und deren gegenseitigen Bezügen aufbauen,
Rechnen werden dann als „erwartungswidrig“ bezeichnet, und dies auch bei sonst normal entwickelter Intelligenz. Ein
wenn es sich um umschriebene, also auf einen spezifischen grundlegendes Problem der einschlägigen Forschungsarbei-
Leistungsbereich beschränkte Probleme handelt und die In- ten zur Rechenschwäche besteht darin, dass keine allgemein
telligenz der Kinder im durchaus normalen Bereich liegt. anerkannte Definition des Konzepts existiert (vgl. Lambert
Allgemein lernschwache Schülerinnen und Schüler weisen 2015; Schneider, Küspert & Krajewski 2016). In Abhängig-
demgegenüber Probleme in fast allen schulrelevanten Leis- keit von dem jeweils bevorzugten Diagnosekriterium lassen
tungsbereichen auf, was häufig mit unterdurchschnittlicher sich etwa 5 bis 10 % der Grundschulkinder als rechenschwach
Intelligenz einhergeht. klassifizieren (vgl. Badian 1983; Geary & Hoard 2005; Hassel-
Im vorliegenden Kapitel werden Lern- und Leistungsstö- horn & Schuchardt 2006). Die Unterschiede in der Kriterien-
rungen in den zentralen Bereichen Schriftsprache und Ma- setzung sind dabei beträchtlich und variieren zwischen einem
thematik in ihrer Entstehung, ihren Symptomen, ihrem Ver- Prozentrang von kleiner als 10 bis zu einem Prozentrang von
lauf und ihren Behandlungsmöglichkeiten genauer beschrie- 35 in einem gängigen Rechentest. Dies besagt, dass in Unter-
ben. Zusätzlich wird auf die besondere Rolle von Verhaltens- suchungen mit einem sehr strengen Auswahlkriterium ledig-
störungen eingegangen, die sowohl als Auslöser, Verstärker lich solche rechenschwache Kinder berücksichtigt werden,
und Konsequenzen von Lern- und Leistungsstörungen ein- die zu den leistungsschwächsten 10 % ihrer Altersgruppe ge-
zustufen sind, also eng mit der Entwicklung von Lernschwie- hören, während bei einem eher „weichen“ Auswahlkriterium
rigkeiten verknüpft sein können. das unterste Leistungsdrittel einbezogen wird. Es steht au-
Bei allen Schwierigkeiten im Leistungsbereich und auch ßer Frage, dass Vergleiche über verschiedene Studien hinweg
bei Verhaltensauffälligkeiten sind zwei unterschiedliche Per- aufgrund dieser Unterschiede in der Kriteriensetzung nicht
spektiven möglich: eine kategoriale und eine dimensionale immer leichtfallen, und sich je nach Stichprobenzusammen-
Betrachtungsweise. Im Alltagsverständnis herrscht zwar oft setzung auch unterschiedliche Störungsschwerpunkte erge-
eine kategoriale Sichtweise vor. Jemand hat Legasthenie, Dys- ben können. Erschwerend kommt hinzu, dass die Ergeb-
kalkulie, ADHS oder eben nicht. In Anbetracht der kontinu- nisse in Abhängigkeit von dem verwendeten Mathematik-
ierlich verteilten Leistungen im Lesen und Rechtschreiben, test variieren können, es also durchaus einen Unterschied
im Rechnen und im Bereich der Aufmerksamkeit sollte je- machen kann, ob man ein lehrplangültiges Verfahren oder
doch einer dimensionalen Betrachtungsweise der Vorzug ge- einen Test verwendet, der wenig Bezug zum Curriculum auf-
geben werden. Jemand kann mehr oder weniger gut lesen, hat weist.
mehr oder weniger große Schwierigkeiten im Rechnen. Geht Probleme bei der Einordnung von Rechenschwierigkeiten
es allerdings darum festzulegen, für wen eine außerschulische sind weiterhin dadurch begründet, dass sich in der einschlä-
Förderung finanziert wird oder auch ein Nachteilsausgleich gigen Literatur unterschiedliche Begriffe wie „Rechenschwä-
und Notenschutz gewährt wird, ist eine kategoriale Diagnose che“, „Rechenstörung“ oder „Dyskalkulie“ finden, die von
vorgesehen. In diesen Fällen muss willkürlich eine Gren- einigen Autoren synonym verwendet werden, von anderen
ze festgelegt werden, ab der von einer Störung gesprochen dagegen mit unterschiedlicher Bedeutung. International ist
wird. Alle Angaben zu Prävalenzen (Auftretenshäufigkeiten) das Konzept der Lernstörungen im Bereich Mathematik weit-
beruhen auf einer solchen Grenzsetzung. Ändert sich die verbreitet. Der Begriff der „Rechenstörung“ wird von der
Grenzsetzung, ergeben sich veränderte Prävalenzraten. Im Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Rahmen ihrer In-
Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM- ternationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10;
5; American Psychiatric Association 2013) ist die Einfüh- Dilling, Mombour & Schmidt 2014) im Sinne beeinträchtig-
rung von Schweregraden ein erster Schritt in Richtung einer ter mathematischer Kompetenzen gewertet und den Entwick-
dimensionalen Betrachtungsweise von Lernstörungen oder lungsstörungen zugerechnet:
auch ganz allgemein von psychischen Auffälligkeiten.
28.2  Rechenstörung
567 28
F 81.2 „Rechenstörung“ nach ICD-10 vierten Grundschulklasse identifiziert und dann auch zu För-
„Diese Störung beinhaltet eine umschriebene Beeinträch- dermaßnahmen in Beratungsstellen und Kinderambulanzen
tigung von Rechenfertigkeiten, die nicht allein durch eine angemeldet (Jacobs & Petermann 2007). Es scheint so, dass
allgemeine Intelligenzminderung oder eine eindeutig die Diagnose eng mit Veränderungen in den Anforderungen
unangemessene Beschulung erklärbar ist. Das Defizit be- des Rechenunterrichts zusammenhängt. So wird etwa die Er-
trifft die Beherrschung grundlegender Rechenfertigkeiten weiterung des Zahlenraums über 100 hinaus nach Ende der
wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division, zweiten Klassenstufe für Kinder mit Rechenstörung zu einer
weniger die höheren mathematischen Fertigkeiten, die für großen Herausforderung.
Algebra, Trigonometrie, Geometrie und Differential- sowie Nicht leicht nachvollziehbar scheint das Postulat der ICD-
Integralrechnung benötigt werden . . . Die Rechenschwie- 10-Definition, dass höhere mathematische Fertigkeiten, die
rigkeiten dürfen nicht . . . direkt auf Defizite im Sehen, für den Mathematikstoff der Sekundarstufe gebraucht wer-
Hören oder auf neurologische Störungen zurückzufüh- den, weniger stark von der Störung und von Problemen in
ren sein. Ebenso dürfen sie nicht als Folge irgendeiner basalen Mengen-Zahlen-Kompetenzen betroffen sind. Uns
neurologischen, psychiatrischen oder anderen Krankheit ist kein empirischer Beleg für diese These bekannt, und wir
können uns auch schlecht vorstellen, dass höhere mathema-
erworben worden sein. . . . “ (Dilling & Freyberger 2008, S.
290f.). tische Fertigkeiten dann funktionieren sollen, wenn basale
numerische Kompetenzen fehlen. Zumindest Algebra und
Differenzial- wie Integralrechnung bauen auf grundlegen-
Schwache Mathematikleistungen sind dieser Klassifika- den rechnerischen Fähigkeiten auf und dürften ohne sichere
tion zufolge nicht auf organische und neurologische Defi- Kenntnisse der Grundrechenarten kaum zu bewältigen sein.
zite und auch nicht auf eine ungenügende Unterrichtung
zurückzuführen, sondern treten infolge einer Entwicklungs-
verzögerung auf. Die typische Symptomatik von Kindern mit 28.2.2 Prävalenz, Erfassung
Schwierigkeiten in Mathematik ist durch eine Vielfalt von und Komorbidität
„Anfängerfehlern“ beim Rechnen charakterisiert. Die betrof-
fenen Kinder zeigen beispielsweise Beeinträchtigungen bei
der Reihenbildung von Zahlworten, in der Zuordnung von
Mengen zu Zahlen, in der Abstraktion von Mengen auf Kor- Komorbidität: Gleichzeitiges Auftreten unterschiedlicher
relate (Punkte, Striche), im Erlernen der Ziffern des Dezimal- psychischer Störungen bei einer Person. Die verschiedenen
systems und bei der Durchführung von Operationen (Ad- Störungen können miteinander in Zusammenhang stehen
dition, Subtraktion) in der bloßen Vorstellung (Remschmidt oder sich gegenseitig bedingen, müssen dies aber nicht.
2000). Vor allem ist es die Quantität, also die Vielzahl von
„Anfängerfehlern“, die ins Auge fällt. Die Ursache für das
fehlende Verständnis arithmetischer Operationen bei Kin- Die geschätzten Prävalenzraten unterscheiden sich in Ab-
dern mit schwerwiegenden Rechenstörungen kann in der hängigkeit von den Definitionskriterien. Im deutschspra-
Regel darin gesehen werden, dass ihnen der Aufbau ab- chigen Bereich wird der Begriff „Rechenschwäche“ häufig
strakter Zahlenraum- oder Zahlenstrahlvorstellungen nicht dazu verwendet, um deutlich unterdurchschnittliche ma-
gelingt (von Aster 2003). Insgesamt findet sich in der Lite- thematische Leistungen zu kennzeichnen, und dies unab-
ratur eine Vielzahl unterschiedlicher Einzelsymptome, die es hängig von der Intelligenz. Demgegenüber wird mit dem
eher schwer macht, „typische“ Fehlerschwerpunkte zu identi- Etikett „Dyskalkulie“ eine Untergruppe schwacher Rechner
fizieren. Stattdessen scheinen es eher die oben beschriebenen bezeichnet, nämlich solche Schülerinnen und Schüler, die
„Anfängerfehler“ zu sein, die spätere Schwierigkeiten mit Rechenschwäche bei normaler bis überdurchschnittlicher In-
dem Rechnen kennzeichnen und ein tieferes mathematisches telligenz zeigen und damit der oben aufgeführten ICD-10-
Verständnis von vornherein behindern (vgl. auch Krajew- Definition entsprechen. In Analogie zum Legastheniekonzept
ski & Schneider 2005). Übereinstimmung besteht jedoch in (7 Abschn. 28.3.1) wird bei Dyskalkulie also eine Diskrepanz
der Erkenntnis, dass Defizite in den numerischen Basiskom- zwischen mathematischen und allgemeinen intellektuellen
petenzen über die Grundschulzeit hinweg persistieren und Kompetenzen angenommen, die in der Regel zwischen 1-2
deshalb sehr ernst zu nehmen sind (vgl. Grube 2006; Krajew- Standardabweichungen liegt (7 Kap. 24, 27). Es wird hier auf
ski 2003). eine umschriebene Störung abgehoben und unterstellt, dass
Wenn auch mittlerweile in mehreren Studien Vorläufer- bei den betroffenen Schülerinnen und Schülern in anderen
probleme von Rechenschwäche im Kindergarten identifiziert schulischen Leistungsbereichen kein Defizit feststellbar ist.
werden konnten (vgl. Krajewski 2003; von Aster, Schweiter & Die Prävalenzschätzungen für Dyskalkulie bewegen sich im
Weinhold Zulauf 2007), so ist dennoch über die vorschulische deutschsprachigen Raum zwischen 5 und 7 %, liegen dabei
Entwicklung von betroffenen Kindern immer noch wenig be- deutlich unter denen von allgemeiner Rechenschwäche (vgl.
kannt. Nach wie vor gilt, dass Rechenstörungen in der Regel Fritz & Ricken 2008; Jacobs & Petermann 2007).
erst in der Grundschule zuverlässig erkannt werden. Kin- In der Praxis wird die hier vorgenommene Differenzie-
der mit Rechenstörungen werden gehäuft in der dritten und rung insofern bedeutsam, als therapeutische Maßnahmen
568 Kapitel 28  Lern- und Verhaltensstörungen

häufig lediglich bei Vorliegen von Dyskalkulie staatlich finan- Rechen- und Schriftsprachproblemen erschien bedenklich,
ziert werden. Aufgrund der Vorgaben des Sozialgesetzbuches dass ihre Leistungen im Rechnen, Lesen und Rechtschreiben
VIII, § 35, kann für diese Kinder und Jugendlichen eine Ein- deutlich unterhalb der beiden Gruppen mit umschriebenen
gliederungshilfe beantragt werden, deren Kosten für die För- Lernstörungen lagen. Da sich in dieser Gruppe etwa 10 %
derung in dyskalkulie-therapeutischen Einrichtungen vom der insgesamt untersuchten Kinder befanden, kann wirklich
Jugendamt getragen werden sollen. Die Verwaltungspraxis nicht von einer Restkategorie ausgegangen werden. Es wurde
verlangt in diesen Fällen in der Regel bestimmte Differen- schon oben darauf verwiesen, dass Kinder mit Lernstörungen
zen zwischen Intelligenztest- und Mathematiktestergebnis- auch Verhaltensauffälligkeiten (ADHS) aufweisen können,
28 sen. Wie Lorenz (2005) hervorhebt, zeigt sich die Willkür der wobei hier allerdings Angaben zur Häufigkeit der Komorbi-
Festlegung darin, dass die geforderte Differenz zwischen bei- dität von Rechenstörungen und ADHS sehr stark variieren
den Testmaßen je nach Finanzlage der öffentlichen Kassen (Lambert 2015).
schwanken kann. Diese Willkür bei der praktischen Festle- In der einschlägigen Literatur wird häufig die Frage
gung der Diskrepanz zwischen Testergebnissen im Bereich diskutiert, ob es sich bei umschriebenen Rechenstörungen
der Intelligenz und der mathematischen Fertigkeiten hat dazu und kombinierten Rechen- und Lese-Rechtschreibstörungen
geführt, dass die Diskrepanzdefinition der Dyskalkulie nicht (LRS) um unterschiedliche Störungsbilder handelt. Eine
unumstritten geblieben ist und wiederholt kritisiert wurde theoretische Position geht davon aus, dass es sich bei Re-
(vgl. Fritz & Ricken 2008; Landerl & Kaufmann 2008). In chenstörungen, LRS und der Kombination beider Lernstö-
diesem Zusammenhang scheint auch interessant, dass in der rungen um unterschiedliche Störungsbilder handelt, wobei
neuesten Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of phonologische Defizite sowohl eine LRS als auch damit zu-
Mental Disorders (DSM-5; American Psychiatric Association sammenhängend eine zusätzliche Rechenschwäche bedin-
2013) das Diskrepanzkriterium aufgeweicht wurde. Wenn gen können. Demgegenüber nimmt eine zweite Position an,
auch nach DSM-5 weiterhin die Bestimmung des IQs verlangt dass es sich bei einer kombinierten Beeinträchtigung der
wird, so doch nur noch im Sinne eines Ausschlusskriteriums: Schriftsprache und der Rechenfertigkeit um zwei unabhän-
Liegt der IQ unter dem Wert von 70, ist von einer allgemei- gige Störungsformen handelt, die separate Ursachen haben
nen Lernbehinderung und nicht mehr von einer spezifischen und lediglich gemeinsam auftreten. Diese Annahme impli-
Lernschwäche auszugehen (vgl. Lambert 2015). ziert, dass sich die Defizite lediglich addieren, ohne dass eine
Die eindeutige Bestimmung eines Störungsbildes wird da- „neue“ Störungsform entsteht (vgl. Lambert 2015; Landerl &
durch erschwert, dass neben dem in der ICD-10-Definition Kaufmann 2008). Die empirische Evidenz scheint eher für
aufgeführten Typus einer umschriebenen Beeinträchtigung die zweite Position zu sprechen. Wenn Kinder mit nur ei-
weitere Fälle existieren, bei denen neben einer Störung der ner Störungsform (entweder Rechenschwäche oder LRS) mit
Leistungen im mathematischen Bereich auch eine Beein- Kindern verglichen wurden, die in beiden Bereichen Defizi-
trächtigung im Lesen und Schreiben registriert wird. In die- te aufwiesen, traten bei Kindern mit kombinierten Störungen
sen Fällen ist von der Komorbidität (s. o.) zweier Störungsfor- größere und schwerwiegendere Defizite auf als bei Kindern,
men auszugehen. Die ICD-10-Klassifikation berücksichtigt die nur von einer Lernstörung betroffen waren (vgl. Landerl,
diese Gruppe insofern, als sie eine Kategorie der „kombi- Fussenegger, Moll & Willburger 2009; Schwenck, Dummert,
nierten Störung schulischer Fertigkeiten“ in ihr System inte- Endlich & Schneider 2015). In der Längsschnittstudie von
griert. Letztere wird von den ICD-10-Autoren jedoch selbst Schwenck et al. (2015) ließ sich nachweisen, dass Probleme
als schlecht definierte und noch unzureichend konzeptuali- im Schriftsprachbereich meist mit phonologischen Defiziten
sierte Restkategorie eingestuft. Mehrere deutschsprachige wie verknüpft waren, während bei Rechenschwäche Gedächtnis-
auch internationale Studien (z. B. Jordan, Hanich & Kaplan und Aufmerksamkeitsprobleme besonders auffällig waren.
2003; Krajewski 2003; Schwenck & Schneider 2003) konn- Bei Kindern mit kombinierten Rechen- und LRS-Störungen
ten belegen, dass die Anzahl von Kindern mit kombinier- addierten sich die Probleme im phonologischen und im Auf-
ten Defiziten im mathematischen und Schriftsprachbereich merksamkeitsbereich.
rein quantitativ betrachtet über eine solche „Restkategorie“ Es zeigte sich weiterhin in einigen Studien, dass sich
hinausgeht und sich auch qualitativ (etwa im Hinblick auf Schwierigkeiten beim Lesen nachteilig auf den Kompetenz-
Funktionen des Arbeitsgedächtnisses) von der Gruppe „rein“ erwerb im mathematischen Bereich auswirken, während dies
rechenschwacher Kinder unterscheidet. In der Studie von umgekehrt nicht der Fall zu sein scheint. Jordan, Hanich
Schwenck und Schneider (2003) mit mehr als 100 Erstkläss- und Kaplan (2002) konnten in ihrer Längsschnittstudie nach-
lern konnte beispielsweise anhand einer statistischen Clus- weisen, dass es zu Beginn der Schulzeit bei Kindern mit
teranalyse gezeigt werden, dass sich Subtypen von Kindern umschriebenen Rechenstörungen und solchen mit kombi-
mit spezifischen Defiziten in Schriftsprachleistungen oder nierten Rechen- und LRS-Problemen vergleichbare Defizite
Rechenleistungen sowie Kinder mit kombinierten Störungs- im mathematischen Bereich gab. Zwei Jahre später zeigte sich
mustern zuverlässig trennen ließen. Bei der Gruppe „rein“ insofern ein anderes Bild, als nun die Kinder mit der kom-
rechenschwacher Kinder waren insgesamt doppelt so viele binierten Störung in ihrem Leistungsniveau noch unterhalb
Mädchen wie Jungen betroffen, während sich bei der Gruppe des Niveaus der Kinder mit isolierter Rechenschwäche la-
mit kombinierten Störungen keine Geschlechtsunterschie- gen. Demgegenüber unterschied sich der Leistungszuwachs
de ergaben. Im Hinblick auf die Gruppe mit kombinierten im Lesen bei rechenschwachen und nicht rechenschwachen
28.2  Rechenstörung
569 28
Kindern nicht. Die Autoren folgerten aus diesen Ergebnissen, Ursachen Ungünstige Einflüsse
dass sich Rechenstörungen auch aufgrund von Leseproble- Genetische Lehrer-Kind-
men entwickeln könnten, während schwache Rechenleistun- Faktoren Interaktion
gen meist keinen Einfluss auf die Entwicklung der Lesekom-
petenz haben. Hirnreifungs-
störungen Eltern-Kind-
Angesichts der komplexen Problematik scheint es unab- Interaktion
dingbar, die Art und den Schwerpunkt der Rechenstörung Psychologische
Dyskalkulie
sehr differenziert zu erfassen. Waren um die Jahrtausendwen- Faktoren
de noch relativ wenige reliable und valide standardisierte Re- Erfahrungen mit
Psychosoziale Gleichaltrigen
chentests verfügbar (vgl. Hemminger, Roth, Schneck, Jans & Faktoren
Warnke 2000), so hat sich die Zahl zuverlässiger Diagnosever-
fahren zur Feststellung von Rechenfertigkeiten deutlich er- Didaktische Psychische Störungen
höht. Gerade die neueren bildungspolitischen Diskussionen Faktoren des Kindes
um das schlechte Abschneiden deutscher Schülerinnen und
. Abb. 28.1 Multikausales Erklärungsmodell (Quelle: leicht modifiziert
Schüler in internationalen Vergleichsstudien und die damit
nach Jacobs & Petermann 2007)
verbundene Suche nach frühen Ursachen haben gezeigt, dass
im mathematischen Bereich ein erheblicher Bedarf an objek-
tiver Leistungsfeststellung besteht. In der Folge sind vielfach
Aktivitäten entwickelt worden, um die gestiegene Nachfrage Faktoren wie etwa psychosoziale Probleme (z. B. Prüfungs-
nach Testverfahren zur Diagnose mathematischer Kompe- angst) oder ungünstige Interaktionen zwischen Eltern und
tenzen und Leistungen zu befriedigen. So wurden etwa in den Kind wie auch Lehrkräften und Kind thematisiert. Eine Auf-
beiden letzten Jahrzehnten zahlreiche lehrplangültige Test- listung dieser Faktoren findet sich bei Jacobs und Petermann
verfahren für unterschiedliche Klassenstufen entwickelt (vgl. (2007; . Abb. 28.1).
die Übersichten bei Hasselhorn, Marx & Schneider 2005; Auch mathematikdidaktische Ansätze verweisen auf die
Hasselhorn, Heinze, Schneider & Trautwein 2013; Lambert Relevanz kindzentrierter und umweltbedingter Faktoren. So
2015; Schneider et al. 2016). Einige Tests lassen sich schon führt etwa Schulz (1995) die Schwierigkeiten von Kindern
im Vorschulbereich einsetzen, um basale Zähl- und Men- beim Lernen im Mathematikunterricht auf deren Entwick-
genkompetenzen zu überprüfen. Die absolute Mehrzahl der lungsverzögerung zurück, die dann zu mangelnder Passung
Verfahren wurde jedoch für die Grundschulphase und die Se- zwischen Lernangebot und Entwicklungsstand führt. Ein be-
kundarstufe konstruiert. Wie aus der Übersicht bei Lambert sonderes Problem des Mathematikunterrichts in der Grund-
(2015, S. 122ff.) abzulesen ist, sind etwa 20 neuere Testver- schule kann etwa darin gesehen werden, dass in einem Schü-
fahren für den Einsatz bei Verdacht auf Rechenschwäche ver- lerjahrgang Entwicklungsunterschiede von bis zu vier Jahren
fügbar, wobei die Mehrzahl den Grundschulbereich betrifft. beobachtet werden können. Als bedeutsame Lernermerkma-
Die meisten Verfahren sind als Gruppentests im Unterricht le für Erfolg wie auch Misserfolg im Bereich Mathematik
einsetzbar und können insofern als ökonomisch bezeichnet werden kognitive Funktionen wie Abstraktions- und Vorstel-
werden, als sie innerhalb einer Schulstunde durchführbar lungsvermögen sowie Konzentrations- und Gedächtnisfähig-
sind. Einige wenige Verfahren wurden dabei speziell für die keit genannt. Sie spielen bei der mathematischen Informa-
Dyskalkulie-Diagnose entwickelt. tionsverarbeitung und -speicherung eine wesentliche Rolle
(7 Kap. 2).
Während ältere neuropsychologische Arbeiten Störun-
gen kognitiver Komponenten, also etwa Störungen in der
28.2.3 Ätiologie visuellen und auditiven Wahrnehmung und im Bereich des
Gedächtnisses, als Risikofaktoren hervorhoben, gehen neue-
Die Frage nach möglichen Ursachen von Rechenschwäche re neuropsychologische Betrachtungen demgegenüber von
und Dyskalkulie ist immer noch nicht hinreichend geklärt Modellvorstellungen aus, in denen unterstellt wird, dass je
(vgl. etwa Schuchardt, Mähler & Hasselhorn 2008). In ver- nach Art der Rechenoperation unterschiedliche Hirnberei-
schiedenen wissenschaftlichen Disziplinen wie etwa der Kin- che involviert sind. Diese Modellvorstellungen erfreuen sich
der- und Jugendpsychiatrie, der Psychologie, der Mathema- derzeit größerer Popularität. Das inzwischen klassische Mo-
tikdidaktik und der Sonderpädagogik finden sich durchaus dell der drei Repräsentationsebenen („Triple-Code“-Modell;
unterschiedliche Einschätzungen hinsichtlich der Rolle we- Dehaene 1992) beschreibt drei unterschiedliche numerische
sentlicher Verursachungsfaktoren und geeigneter Therapie- Bereiche (Module), in denen Zahlen während des Rechnens
ansätze. Eine Gemeinsamkeit kann darin gesehen werden, repräsentiert und verarbeitet werden. Das erste Modul, der
dass Rechenschwäche mehrheitlich nicht als Krankheit auf- „auditiv-verbale Wortrahmen“, enthält Fertigkeiten wie das
gefasst wird, sondern als Phänomen mit vielfältigen Ursa- Zählen und das Aufsuchen arithmetischer Fakten (etwa das
chen. Neben primären Faktoren wie etwa genetischen Vor- „kleine Einmaleins“), die auf allgemeinen sprachlichen In-
aussetzungen, neuropsychologischen Faktoren (etwa räum- formationsverarbeitungsprozessen basieren. Die Zahlenfolge
lich-visuelle Vorstellungsschwächen) werden auch sekundäre wird dabei wie jede andere Sprachsequenz gelernt, so dass für
570 Kapitel 28  Lern- und Verhaltensstörungen

den Abruf dieser numerischen Kompetenzen keine anderen lern durchgeführten Studie wurde herausgestellt, dass Pro-
Repräsentationsformen erforderlich sind. Das zweite Mo- bleme im Bereich arithmetischer Operationen mit Stärken
dul, auch „visuell-arabische Zahlform“ genannt, bezieht sich im sprachlichen Bereich und Schwächen im Bereich der Auf-
auf numerische Vorgänge innerhalb unserer Zahldarstellung, merksamkeit und der Informationsverarbeitungsgeschwin-
also des Dezimalsystems, die ausschließlich visuell repräsen- digkeit korrespondierten. Demgegenüber waren grundlegen-
tiert sind und keine weitere sprachliche Kodierung benötigen. de Schwierigkeiten bei der Lösung von Sachaufgaben mit
Ein Beispiel wäre hier das schriftliche Addieren mehrstel- sprachlichen Defiziten sowie der Zugehörigkeit zu benachtei-
liger Zahlen. Schließlich bezieht sich das dritte Modul, die ligten sozialen Schichten assoziiert. Die Autoren folgerten aus
28 „analoge Größenrepräsentation“ auf die Fähigkeit, Mengen ihren Ergebnissen, dass man diese beiden Komponenten ma-
oder Anzahlen zu vergleichen und abzuschätzen. Hier fun- thematischer Kompetenz in der Praxis separat erfassen und
gieren Zahlen als näherungsweise Vorstellung, und es ist eine dafür auch unterschiedliche Interventionsmethoden entwi-
ungenaue Mengenvorstellung ausreichend, wenn etwa Über- ckeln sollte.
schlagsrechnungen, Mengenvergleiche oder die Schätzung Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Forschungslage
von Anzahlen auf einen Blick (“subitizing“) gefordert werden. unterschiedliche Verursachungsfaktoren für die Entwicklung
Wichtig scheint, dass die beschriebenen Module relativ unab- einer Rechenstörung nahelegt. Es scheinen jedoch noch wei-
hängig voneinander arbeiten und auch in unterschiedlichen tere Untersuchungen erforderlich, um die oben dargestellten
Hirnarealen verankert sein dürften. Subtypen der Störung zweifelsfrei zu bestätigen.
Wenn dem so ist, kann auch davon ausgegangen werden,
dass die Rechenschwäche auf unterschiedlichen Ursachen
(etwa Defiziten in einem oder mehreren der genannten Mo-
28.2.4 Verlauf, Folgen,
dule nach Dehaene) basieren kann. Von daher scheint es auch
folgerichtig, unterschiedliche Störungstypen anzunehmen. Sekundärsymptomatik
Rourke und seine Mitarbeiter (vgl. etwa Brandys & Rourke
1991) haben in den letzten drei Jahrzehnten Untersuchun- Es ist sicherlich so, dass sich Rechenschwäche sehr unter-
gen durchgeführt, die verschiedene Typen von Lernschwie- schiedlich manifestieren kann. Schulz (1995) konstatierte
rigkeiten nahelegen. Im Hinblick auf mathematikbezogene beispielsweise ein äußerst vielfältiges und uneinheitliches
Probleme werden zwei Gruppen unterschieden: Die Gruppe Erscheinungsbild. Dennoch lassen sich bestimmte Gemein-
RS (Rechtschreibstörung) definiert sich durch unterdurch- samkeiten ausmachen, die sich auch als Verzögerungen in
schnittliche Fähigkeiten in Mathematik und noch geringere der von Krajewski (2008) beschriebenen Entwicklung von
schriftsprachliche Leistungen. Demgegenüber ist die Grup- Mengen-Zahlen-Kompetenzen interpretieren lassen. So sind
pe A (Arithmetik) dadurch charakterisiert, dass sich in ihr rechenschwache Kinder etwa häufig dadurch charakterisiert,
Kinder mit deutlich unterdurchschnittlichen Fähigkeiten in dass sie bereits ab dem Kindergartenalter Beeinträchtigungen
Mathematik, jedoch zumindest durchschnittlichen Leistun- in numerischen Basisfertigkeiten zeigen, weshalb sie Defi-
gen im Lesen und Rechtschreiben befinden. Die Schwächen zite im Umgang mit Zahlworten aufweisen und ihnen das
der Kinder der RS-Gruppe werden dabei Störungen der lin- Benennen arabischer Zahlen lange Zeit sehr schwerfällt. Ih-
ken Hirnhälfte, diejenigen der A-Gruppe Störungen der rech- re Kenntnis von Zahlenfolgen und Ziffern erscheint dabei
ten Hirnhälfte zugeordnet. eingeschränkt. Kinder mit Rechenschwierigkeiten machen
Geary (1994) kam zu ähnlichen Befunden und unter- zudem im Vergleich zu normalen Rechnern der jeweiligen
schied insgesamt drei Gruppen von Kindern mit Rechen- Klassenstufe wesentlich mehr Fehler beim Benennen von
schwäche: (a) Kinder mit visuell-räumlichen Defiziten ohne Vorgängern und Nachfolgern von Zahlen und zeigen Schwie-
Einschränkung im schriftsprachlichen Bereich; (b) Kinder rigkeiten beim Rückwärtszählen und beim Zählen in grö-
mit unzureichend entwickeltem Verständnis von Rechenstra- ßeren Schritten. Insbesondere aber können rechenschwache
tegien und Rechenalgorithmen, und (c) Kinder mit Defiziten Kinder in den ersten Schuljahren Defizite in den Mengen-
in basalen Rechenkompetenzen und gleichzeitigen Defiziten Zahlen-Kompetenzen nicht überwinden. Sie fallen dadurch
im Lesen und Rechtschreiben sowie der akustischen Wahr- auf, dass sie keine angemessenen Mengenschätzungen vor-
nehmung und dem akustischen Gedächtnis. Letzteres spielt nehmen können und kein Verständnis für die Verknüpfung
auch in Form des Arbeitsgedächtnisses (Baddeley & Hitch von Zahlen mit Mengen besitzen. Fehlt aber dieses Kon-
1974) insofern eine Rolle, als gerade Kinder der Kategorie (c) zept, ist ein Verständnis numerischer Rechenoperationen
nach Geary, die sowohl im Rechnen als auch im Lesen und nicht möglich; Additions- und Subtraktionsaufgaben kön-
Schreiben Defizite aufweisen, über ein unterdurchschnittlich nen in diesem Fall allenfalls über Auswendiglernen erworben
entwickeltes Arbeitsgedächtnis verfügen. werden und spiegeln dann kein arithmetisches Verständ-
In einer Arbeit von Fuchs et al. (2008) wurde ein wei- nis wider. Wie Krajewski und Schneider (2009) am Beispiel
terer interessanter Aspekt, nämlich die Frage thematisiert, von rechenschwachen Viertklässlern zeigen konnten, dürfte
ob Schwierigkeiten im Bereich arithmetischer Operationen der Erwerb basaler Mengen-Zahlen-Kompetenzen im Vor-
(computation) und im Bereich von Sachaufgaben (problem schulalter als entscheidender Entwicklungsschritt anzusehen
solving) mit unterschiedlichen kognitiven Fähigkeiten ein- sein, den es im Sinne einer Prävention von Rechenschwäche
hergehen. Als wesentlicher Befund der mit 924 Drittkläss- wesentlich später zu erreichen gilt.
28.2  Rechenstörung
571 28
Ein wesentliches Problem rechenschwacher Kinder wird etwa Anzeichen von ADHS (Jacobs & Petermann 2007; Lan-
darin gesehen, dass ihnen einfache Additionen und Subtrak- derl & Kaufmann 2008).
tionen nicht gelingen und sie sehr lange versuchen, Rechen-
aufgaben zählend zu lösen, die von den Klassenkameraden
mit normaler Rechenfähigkeit über nicht zählende Rechen-
verfahren (etwa über automatisierten Abruf aus dem Lang- 28.2.5 Fördermaßnahmen
zeitgedächtnis) bewältigt werden. Im Vergleich mit den in
dieser Hinsicht normal entwickelten Altersgenossen fällt wei- Obwohl bislang nur wenige Befunde zum langfristigen Ver-
terhin auf, dass sich rechenschwache Kinder sehr spät von lauf von Rechenschwäche und Dyskalkulie vorliegen und
unreifen Techniken wie etwa der Strategie des Fingerrech- insbesondere längsschnittliche Untersuchungen nach wie vor
nens lösen und damit in Situationen, die qualitativ anspruchs- rar sind, scheint die Stabilität rechnerischer Defizite zu Be-
vollere Strategien erfordern, unangemessen vorgehen. In der ginn der Schulzeit noch begrenzt. Andererseits gibt es zahl-
Folge wird auch der Aufbau von Faktenwissen (etwa das reiche Hinweise darauf, dass im Verlauf der Schulzeit die
kleine Einmaleins) nur unzureichend vorangetrieben. Der Persistenz des Defizits steigt, also rechenschwache Kinder ih-
Übergang vom zählenden Rechnen zum direkten Abruf arith- ren Rückstand gegenüber normalen Rechnern nicht mehr
metischer Fakten aus dem Gedächtnis gelingt rechenschwa- aufholen (vgl. Landerl & Kaufmann 2008; Schneider et al.
chen Kindern auch nach längerer Beschulung nicht (Landerl 2016). Die Problematik scheint bei Kindern mit kombinierter
& Kaufmann 2008). In späteren Phasen zeigen sich massive Rechen- und Schriftsprachstörung insgesamt stärker ausge-
Schwierigkeiten im Anwenden mathematischer Erkenntnis- prägt zu sein als bei Kindern mit isolierter Rechenschwäche.
se in praktischen Situationen, im sachgemäßen Umgang mit In jedem Fall scheint es angezeigt, Interventionsmaßnah-
mathematischen Symbolen, im Erfassen quantitativer und men möglichst früh einzuleiten, da spätere Förderversuche
qualitativer Beziehungen sowie im Verständnis und der Dar- meist ungünstigere Ergebnisse erbringen. Da im Hinblick
stellung geometrischer Sachverhalte. Wenn man davon aus- auf die Verursachung spezifischer Störungsmuster jedoch im-
geht, dass konzeptuelles Wissen, Strategien und Faktenwissen mer noch viele Fragen offen sind, verwundert es wenig, dass
zentrale Komponenten in der Entwicklung mathematischer auch die Interventionsforschung nicht so weit fortgeschrit-
Kompetenz darstellen, so kann man sich leicht ausmalen, dass ten ist, wie es eigentlich wünschenswert wäre. Zudem genügt
der Rückstand der rechenschwachen Kinder im Verlauf der die Qualität einiger Evaluationsstudien zu bestehenden För-
Schuljahre zunehmend größer wird. Die Annahme, dass sich derprogrammen nicht den üblichen wissenschaftlichen Stan-
die Defizite auch ohne Zusatzförderung zu einem späteren dards (Lambert 2015).
Zeitpunkt ausgleichen lassen und dass akzeptable Leistungs- Während es für Präventionsprogramme im Kindergarten
niveaus auch für anfänglich rechenschwache Schüler möglich mehrfach Hinweise darauf gibt, dass auch Risikokinder von
sind, wird durch die einschlägige Forschung nicht gestützt. den Maßnahmen profitieren (vgl. Schneider et al. 2016), ist
Es ist vielmehr anzunehmen, dass die rechenschwachen Kin- die Situation im Hinblick auf die schulische Förderung re-
der ohne gezielte zusätzliche Förderung das Leistungsniveau chenschwacher Kinder nicht ähnlich klar. Insgesamt positive
normaler Rechner nicht erreichen werden und auch im Er- Befunde wurden in einer Übersichtsarbeit von Kroesbergen
wachsenenalter einen großen Rückstand im mathematischen und van Luit (2003) berichtet, in der Daten von mehr als
Kompetenzbereich aufweisen. 2500 Kindern mit Lernschwierigkeiten im Bereich Mathe-
Gerade rechenschwachen Kindern mit normaler bis über- matik ausgewertet wurden. Es zeigte sich dabei, dass Pro-
durchschnittlicher Intelligenz fällt es in der Regel sehr schwer, gramme, die basale Rechenfertigkeiten trainierten, insgesamt
sich ihr Leistungsversagen im Bereich Mathematik zu erklä- erfolgreicher abschnitten als solche, die den Schwerpunkt auf
ren. Es kommt hier vielfach zu Folgeerscheinungen, die un- die Vermittlung von Problemlösefähigkeiten legten. Weiter-
ter dem Begriff der Sekundärsymptomatik zusammengefasst hin erwies sich die Einzelförderung der Gruppenförderung
werden. So lassen sich bei rechenschwachen Kindern häufig gegenüber als überlegen. Im Hinblick auf die Unterrichtsme-
Prüfungsangst, negative Veränderungen im schulbezogenen thode fanden sich für die „direkte Instruktion“, bei der die
Selbstkonzept und in den Ursachenzuschreibungen für Erfolg Lehrkraft das Lernziel bestimmt und Materialien wie auch
und Misserfolg (Kausalattributionen) ausmachen, wobei die das Vorgehen auswählt, im Vergleich mit anderen Methoden
Ursachen für schlechte Leistungen hauptsächlich in der ei- insgesamt die besten Ergebnisse. Dieser Befund wurde auch
genen Person gesucht werden. In schwereren Fällen kann es in einer Übersicht zu deutschsprachigen Studien (Ise, Dolle,
zu „gelernter Hilflosigkeit“ kommen: Die Schülerinnen und Pixner & Schulte-Körne 2012) bestätigt. Auch die Analysen
Schüler nehmen nicht mehr aktiv am Mathematikunterricht von Ise et al. (2012) legen den Schluss nahe, dass sich Ein-
teil, da sie von vornherein keine Chancen für sich sehen, zelförderung im Vergleich zur Gruppenförderung als effekti-
den dargebotenen Lernstoff zu verstehen. Während es bei be- ver erweist. Weiterhin ergaben sich hier auch Anhaltspunkte
troffenen Mädchen in der Folge häufig zu internalisierenden dafür, dass länger andauernde Förderprogramme besser ab-
Störungen (Niedergeschlagenheit und depressiven Stimmun- schneiden.
gen) kommen kann, finden sich bei rechenschwachen Jungen Als Beispiel für ein erfolgreiches Interventionsverfahren
Tendenzen zu externalisierenden Verhaltensstörungen, also kann das von Dowker (2007) für den anglo-amerikanischen
572 Kapitel 28  Lern- und Verhaltensstörungen

Sprachraum entwickelte „Numeracy Recovery“-Programm gebots besteht jedoch das Problem, geeignete Institutionen
gelten (7 Im Fokus; für eine detaillierte Übersicht vgl. Landerl zu identifizieren und gezielt auszuwählen, zumal die Behand-
& Kaufmann 2008, S. 205f.). lungskosten meist beträchtlich sind. Daher sollte zunächst
möglichst auf schulische Förderangebote zurückgegriffen
Im Fokus: „Numeracy Recovery“ werden, die auftragsgemäß als zentraler Ort für die Förde-
rung bei Rechenschwäche und Dyskalkulie zu gelten haben
Das „Numeracy Recovery“-Programm sieht eine 30-wöchige (vgl. auch Lorenz 2005). Angesichts der zunehmend positiven
Förderung mit jeweils einer halben Stunde pro Woche vor. Erfahrungen mit schulbasierten Förderverfahren besteht die
28 Es werden insgesamt neun Komponenten verschiedener Hoffnung, dass in Zukunft vielen – wenn auch nicht allen –
Schwierigkeitsstufen angeboten, die auf spezifische Fer- rechenschwachen Kindern effektiver geholfen werden kann.
tigkeiten abzielen: (1) die Festigung der Zählprozeduren; Im Hinblick auf die beschriebene Sekundärsymptomatik
(2) die Vermittlung von Zählprinzipien (z. B. Irrelevanz ist eine Behandlung erforderlich, die auch im sozialen Um-
der Abfolge beim Zählen) und deren Anwendungen; (3) feld des Kindes eingreift und einen Abbau des meist durch
Transkodieren (Lesen und Schreiben arabischer Zahlen); (4) die Eltern verursachten Leistungsdrucks im Bereich des Fachs
die Vermittlung des Stellenwertsystems (Unterscheidung Mathematik zum Ziel hat. Eltern und Lehrpersonen sollten
von „Zehner“ und „Einer“ in verschiedenen Darstellungs- über die Zusammenhänge der psychischen und Verhaltens-
formen); (5) die Bearbeitung einfacher Textaufgaben und störungen des Kindes mit der Rechenstörung aufgeklärt und
deren Übersetzung in mathematische Symbole; (6) die über die Lernmöglichkeiten des rechenschwachen Kindes in-
Transformation von Rechenaufgaben in unterschiedliche formiert werden. Das Ziel dieser Bemühungen sollte darin
Formate (z. B. das „Übersetzen“ einer vorgegebenen Re- bestehen, dem Kind Erfolgserlebnisse zu verschaffen und
chenaufgabe in Anschauungsmittel wie Klötzchen); (7) dafür zu sorgen, dass es sich der Herausforderung des ma-
die Ableitung von arithmetischem Faktenwissen von be- thematischen Kompetenzerwerbs erneut zu stellen versucht.
kanntem Faktenwissen, z. B. die Möglichkeit, zu addierende
Zahlen in der Reihenfolge zu vertauschen (Kommutativge-
setz); (8) das Schätzen von Mengen und (9) schließlich der 28.3 Lese-Rechtschreibstörung
Abruf von Fakten, z. B. bestimmte Rechenergebnisse. Das
Übungsmaterial ist umfangreich und bezieht neben reinen Lesen und Rechtschreiben gelten ebenso wie das Rechnen
Wiederholungsaufgaben auch spielerische Angebote mit als zentrale Kulturtechniken, deren Erwerb zweifellos zu den
ein, beispielsweise ein Zahlendomino. Auf die sinnvolle wichtigsten Aufgaben im Laufe der Schulzeit gehört. Treten
Verwendung konkreten Materials wird ebenfalls Wert beim Erwerb Probleme auf, kann das gravierende Folgen für
gelegt. die Schullaufbahn und darüber hinaus haben. Probleme im
Rechtschreiben fallen im Schulalltag schnell auf, Probleme im
Lesen können leichter verborgen werden. Dabei ist das Lesen
Bisherige Interventionsstudien weisen darauf hin, dass deutlich bedeutsamer, wenn man berücksichtigt, in wie vie-
das Programm gewinnbringend zur Förderung rechenschwa- len Anforderungsbereichen im Alltag, in der Ausbildung, im
cher Grundschulkinder eingesetzt werden kann. Das Verfah- Beruf und in der schulischen und akademischen Laufbahn
ren wurde auch erfolgreich in den deutschen Sprachraum Leseverständnis notwendig und hohe Lesegeschwindigkeit
übertragen (Kaufmann, Handl & Thöny 2003). Allerdings von großem Vorteil ist. Die Bedeutung der Rechtschreibung
ist für eine umfassende Beurteilung sicherlich eine weiter- rührt dagegen zum Teil auch daher, dass ihr durch die leichte
führende Überprüfung mit größeren Stichproben notwendig. „Sichtbarkeit“ größere Beachtung geschenkt wird. Kompen-
Insgesamt erfreulich scheint die Tendenz, dass mittlerweile sationsmöglichkeiten sind hier sicherlich eher vorhanden als
eine Reihe neuerer Trainingsprogramme mit positiven För- beim Lesen, insbesondere durch elektronische Hilfen.
dereffekten verfügbar ist (vgl. die Übersichten bei Lambert
2015; Landerl & Kaufmann 2008; Schneider et al. 2016),
die auch im Kontext der Schule einsetzbar sind. Da wie
28.3.1 Symptome und Erscheinungsformen;
erwähnt die Probleme von rechenschwachen Kindern auf
unterschiedlichen Ursachen beruhen können, sollte der in- Definitionsproblematik
dividuelle Problemschwerpunkt in jedem Fall genauer ab-
geklärt werden (Schneider, Krajewski & Schwenck 2010). Verschiedene Begriffe kennzeichnen Schwierigkeiten im Le-
Es erscheint aufgrund der oben dargestellten Befunde nicht sen und Rechtschreiben. Weitgehend synonym verwendet
sinnvoll, alle rechenschwachen Kinder mit den gleichen nor- werden „Legasthenie“, „Dyslexie“ (engl. dyslexia) und „Le-
mierten Trainingsverfahren zu behandeln, wie dies in einigen se-Rechtschreibstörung“. In der Regel soll hiermit eine auf
außerschulischen Instituten offenbar geschieht. An dieser das Lesen und Rechtschreiben beschränkte, also isolierte Pro-
Stelle soll betont werden, dass außerschulische Nachhilfean- blematik gekennzeichnet werden, die durch im Kind liegen-
gebote nicht generell zu problematisieren sind und es sicher- de („internale“) Faktoren verursacht ist. Weniger einheitlich
lich qualitativ fundierte private Institute oder Praxen gibt. wird der Begriff „Lese-Rechtschreibschwäche“ verwendet,
Angesichts des riesigen und kaum noch überschaubaren An- beispielsweise als „vorübergehende Lese-Rechtschreibschwä-
28.3  Lese-Rechtschreibstörung
573 28
che“ im bis 2016 gültigen bayerischen Legasthenie-Erlass Rechtschreibstörung zugrunde gelegt werden. Ein weiterer
oder als „allgemeine Lese-Rechtschreibschwäche“. Letzteres bedeutsamer Unterschied zwischen den beiden Klassifikati-
soll auf interne Ursachen hinweisen, jedoch eher unspezi- onssystemen besteht in den Definitionskriterien hinsichtlich
fischer Natur, sodass hier auch weitere schulische Schwie- der Intelligenz. Im ICD-10 existiert noch die umstrittene
rigkeiten erwartet werden. Der neutrale Begriff der „Lese- Diskrepanzdefinition, nach der die Lese- bzw. Rechtschreib-
Rechtschreibschwierigkeiten“ lässt sowohl die Ursache als leistungen deutlich unterhalb der Intelligenztestleistung
auch die Isoliertheit bzw. den Umfang der Problematik offen, liegen müssen. Im DSM-5 genügt der Ausschluss einer Intel-
was für den schulischen Bereich am sinnvollsten erscheint. ligenzminderung. Der Wegfall des Intelligenz-Diskrepanz-
Schwierigkeiten im Lesen betreffen zu Beginn der Schul- Kriteriums steht im Einklang mit Studien zum Vergleich
zeit die Lesegenauigkeit und die Lesegeschwindigkeit, in der von unterschiedlich intelligenten Kindern mit Lese-Recht-
Folge aber auch das Leseverständnis. Während die Lesege- schreibschwierigkeiten, die in großer Übereinstimmung
nauigkeit auch bei schwächeren Leserinnen und Lesern etwa keine Evidenz für die Sinnhaftigkeit des Kriteriums liefern
ab der dritten Jahrgangsstufe nur noch selten problematisch konnten (Stanovich 1994). Beispielweise zeigten sich bei We-
erscheint, besteht eine geringe Lesegeschwindigkeit auch in ber, Marx und Schneider (2002) keine Unterschiede in der
höheren Jahrgangsstufen fort. Eine langsame Lesegeschwin- Wirkung eines Rechtschreibtrainings bei einem Vergleich IQ-
digkeit kann dann auch das Leseverständnis negativ beein- diskrepanter und unterdurchschnittlich intelligenter Viert-
flussen. Aber auch Defizite in allgemeinen Sprachkompeten- klässler mit Rechtschreibschwierigkeiten an Regelschulen.
zen (Wortschatz, Grammatik, Sprachverständnis) können Le- Unterschiedliche Fehlerschwerpunkte im Rechtschreiben
severständnisprobleme verursachen (Ennemoser, Marx, We- und verschiedenste Ausprägungen in den Teilkomponen-
ber & Schneider 2012). Schwierigkeiten im Rechtschreiben ten des Lesens zeigen die vielfältigen Erscheinungsbilder von
äußern sich durch die erhöhte Anzahl an Rechtschreibfeh- Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten. Das führte auch zum
lern. Die vor einigen Jahrzehnten gängige Annahme typischer Versuch, Subtypen zu identifizieren. Die gängigste Aufteilung
„Legasthenikerfehler“ ließ sich nicht bestätigen. unterscheidet einen phonologischen Subtyp mit besonde-
Unterschiedliche Erscheinungsformen können erst ein- ren Problemen beim Lesen von Pseudowörtern und einer
mal darin gesehen werden, dass Lese- oder Rechtschreib- Häufung von Verstößen gegen die Lauttreue beim Recht-
schwierigkeiten auftreten. Zwischen Lesen und Rechtschrei- schreiben von einem „Oberflächentyp“ mit Problemen beim
ben besteht ein relativ enger Zusammenhang, sodass erwar- Aufbau des Sichtwortschatzes. Bezieht man das auf Entwick-
tungsgemäß Schwierigkeiten im Lesen oft auch mit Schwie- lungsmodelle des Schriftspracherwerbs (Frith 1985), kann
rigkeiten im Rechtschreiben einhergehen. Doch gibt es auch man dem phonologischen Typ Schwierigkeiten bei der An-
Kinder, die vor allem Rechtschreibschwierigkeiten aufweisen, eignung der alphabetischen Strategie, dem Oberflächentyp
im Lesen aber im Durchschnittsbereich liegen. Zwangsläufig dagegen bei der orthografischen Strategie attestieren. Im
muss es somit auch den umgekehrten Fall geben. Im Klassifi- deutschen Sprachraum findet bereits zu Beginn der Schulzeit
kationssystem ICD-10 (Dilling et al. 2014) findet sich neben der Übergang von der logografischen Strategie, bei der Wör-
der Lese-Rechtschreibstörung jedoch nur die isolierte Recht- ter als Ganzes aufgrund hervorstechender Merkmale erraten
schreibstörung. werden, zur alphabetischen Strategie statt, bei der die Wörter
F 81.0 „Lese- und Rechtschreibstörung“ – „Das Hauptmerkmal ist Buchstabe für Buchstabe gelesen werden, die einzelnen Buch-
eine umschriebene und bedeutsame Beeinträchtigung in der Entwick- staben in Laute übersetzt werden und aufgrund der Lautfolge
lung der Lesefertigkeiten, die nicht allein durch das Entwicklungsalter, das Wort erkannt wird. Einen fließenden Übergang gibt es in
Visusprobleme oder unangemessene Beschulung erklärbar ist. Das
Leseverständnis, die Fähigkeit, gelesene Worte wieder zu erkennen,
der Grundschulzeit zur immer stärkeren Nutzung der ortho-
vorzulesen und Leistungen, für welche Lesefähigkeit nötig ist, können grafischen Strategie, indem zunehmend Rechtschreibregeln
sämtlich betroffen sein. Bei umschriebenen Lesestörungen sind Recht- beachtet werden und ein Sichtwortschatz aufgebaut wird.
schreibstörungen häufig . . . “ Relativ große Einigkeit besteht darin, dass für einige Kinder
F81.1 „Isolierte Rechtschreibstörung“ – „Es handelt sich um eine der Erwerb der alphabetischen Strategie die entscheidende
Störung, deren Hauptmerkmal in einer umschriebenen und bedeutsa-
men Beeinträchtigung der Entwicklung von Rechtschreibfertigkeiten
Hürde im Schriftspracherwerb darstellt. Diese können dem
besteht, ohne Vorgeschichte einer Lesestörung. Sie ist nicht allein durch phonologischen Typ zugerechnet werden. Inwieweit es sich
ein zu niedriges Intelligenzalter, durch Visusprobleme oder unangemes- beim Oberflächentyp um eine eigenständige Problematik
sene Beschulung erklärbar. Die Fähigkeiten, mündlich zu buchstabieren beim Erwerb der orthografischen Strategie oder eher um
und Wörter korrekt zu schreiben, sind beide betroffen.“ eine Spätfolge früher Schwierigkeiten im Bereich der alpha-
betischen Strategie handelt (siehe z. B. Stanovich & Siegel
Im DSM-5 (American Psychiatric Association 2013) wird 1994), scheint derzeit noch offen.
dagegen eine spezifische Lernstörung genauer gekennzeich-
net durch Probleme im Lesen (Genauigkeit, Geschwindigkeit,
Verständnis) und im schriftlichen Ausdruck (Rechtschrei- 28.3.2 Prävalenz, Erfassung
ben, Grammatik und Zeichensetzung, Klarheit und Struk- und Komorbidität
tur). Mit den letztgenannten Aspekten im Bereich des schrift-
lichen Ausdrucks geht das DSM-5 über die Bereiche hinaus, Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben lassen sich
die üblicherweise und auch in diesem Kapitel einer Lese- durch Lese- und Rechtschreibtests feststellen. Hier kann die
574 Kapitel 28  Lern- und Verhaltensstörungen

Leistung mit einer repräsentativen Normstichprobe vergli- Aber auch die Wahrscheinlichkeit einer Aufmerksamkeits-
chen werden. Als unterdurchschnittlich gelten in der Re- störung und einer Rechenstörung ist bei Vorliegen von Lese-
gel Leistungen, die zu den schwächsten 15 % der jeweiligen Rechtschreibschwierigkeiten erhöht (Fischbach et al. 2013;
Jahrgangsstufe gehören, also unter Prozentrang 15 liegen. Schuchardt, Fischbach, Balke-Melcher & Mähler 2015).
Rechtschreibschwierigkeiten werden Lehrkräften auch ohne
standardisierte Tests durch besonders viele Rechtschreibfeh-
ler auffallen. Die Feststellung von Leseschwierigkeiten, vor 28.3.3 Ätiologie
allem Schwierigkeiten beim Leseverständnis wird dagegen
28 nicht so leicht gelingen. Hier könnten standardisierte Test- Bei der Suche nach den Ursachen von Lese- und Recht-
verfahren auch für Lehrkräfte im Schulalltag eine Hilfe sein. schreibschwierigkeiten lässt sich zwischen internalen und
Rechtschreibtests können sowohl Informationen dazu lie- externalen Faktoren sowie zwischen für den Schriftsprach-
fern, wie stark die Schwierigkeiten im überregionalen Ver- erwerb eher spezifischen und eher unspezifischen Faktoren
gleich ausfallen, als auch Hinweise darauf, inwieweit einzelne unterscheiden. Zu den externalen Faktoren zählen beispiels-
Aspekte der Rechtschreibung bereits weitgehend beherrscht weise der Unterricht und die außerschulische Unterstützung.
werden und andere Bereiche besondere Probleme bereiten. Als unspezifische internale Faktoren kann man unter an-
In einigen Rechtschreibtests ist eine qualitative Auswertung derem die Intelligenz und die Konzentrationsfähigkeit ein-
der Rechtschreibfehler vorgesehen und detailliert beschrie- ordnen. Diese Faktoren sollen bei einer Lese-Rechtschreib-
ben. Generell ist eine grobe Einteilung in Verstöße gegen die störung als Ursachen ausgeschlossen sein. Da jedoch auch
Lauttreue („Schul“ statt „Schule“ oder „Hot“ statt „Hut“), Re- bei einer „echten“ Lese-Rechtschreibstörung gleichzeitig ei-
gelfehler („Hunt“ statt „Hund“ oder „Schpiel“ statt „Spiel“) ne geringe Intelligenz oder geringe Konzentrationsfähigkeit
und Speicherfehler („Statt“ statt „Stadt“) als Basis denkbar, vorliegen können, kann das dazu führen, dass die Lese-Recht-
wobei dann auch je nach Anwendungsziel eine differenzier- schreibstörung dann fälschlicherweise nicht als solche dia-
te Analyse erfolgen kann. Für die Bestimmung geeigneter gnostiziert wird.
Maßnahmen kann es zudem von Interesse sein, unterschied- Betrachtet man die eher spezifischen internalen Faktoren,
liche Aspekte des Lesens (Genauigkeit, Geschwindigkeit, Ver- rückt der sprachliche Bereich in den Mittelpunkt. Wichtige
ständnis, evtl. auch Lesen von Pseudowörtern) zu erfassen. Voraussetzungen sind die Aufnahme, die Verarbeitung, die
Mit Ausnahme von Tests zur Erfassung des lauten Lesens Speicherung und der Abruf phonologischer Informationen.
lassen sich Lese- und Rechtschreibtests meist als Gruppen- Der Bereich der phonologischen Informationsverarbeitung
tests einsetzen und innerhalb einer Schulstunde durchführen. wird oft in die drei Teilkomponenten der phonologischen Be-
Während diese Informationen durch Lehrkräfte erhoben und wusstheit, des phonologischen Arbeitsgedächtnisses und des
für Unterrichts- oder spezifische Fördermaßnahmen genutzt Abrufs aus dem Langzeitgedächtnis unterteilt. Unter pho-
werden können, bleibt die Diagnose einer Störung Fachkräf- nologischer Bewusstheit versteht man die Einsicht in die
ten der Kinder- und Jugendpsychiatrie und teilweise auch der Lautstruktur der gesprochenen Sprache. Die phonologische
Schulpsychologie vorbehalten. Für die Diagnose einer Stö- Bewusstheit und das phonologische Arbeitsgedächtnis sind
rung oder Schwäche sind neben der Erfassung der Lese- und für das Rechtschreiben besonders wichtig, die Geschwin-
Rechtschreibleistungen weitere Schritte nötig, insbesondere digkeit des Zugriffs auf das Langzeitgedächtnis für die Le-
um sogenannte Ausschlusskriterien zu erfassen. Die mul- segeschwindigkeit. Die Zugriffsgeschwindigkeit wird häufig
tiaxiale Diagnostik nach ICD-10 verlangt u. a. die Erfassung über das schnelle Benennen von Objekten erfasst. Für das
der Intelligenz, möglicher Krankheiten und der psychosozia- Leseverständnis sind weitere sprachliche Komponenten wie
len Situation. Wortschatz und Grammatik relevant (Ennemoser et al. 2012),
Die Prävalenz hängt natürlich von den verwendeten Kri- da mit zunehmender Lesefertigkeit das Leseverständnis im-
terien ab (siehe auch Gold 2015). Legt man beispielsweise die mer stärker vom Verständnis gesprochener Sprache abhängt.
Grenze für Rechtschreibschwierigkeiten auf einen Prozent- Im Sinne des „Simple View of Reading“ können Lesever-
rang von 15, so ist die Prävalenz von Rechtschreibschwierig- ständnisdefizite auf Defiziten der basalen Lesefertigkeit und/
keiten auf 15 % festgelegt. Die Prävalenz einer Rechtschreib- oder des Sprachverständnisses basieren. Die hier genannten
schwäche oder auch Rechtschreibstörung reduziert sich von sprachlichen Faktoren sind zwar eher spezifisch, jedoch in
diesem Ausgangswert je nach verwendeten Ausschlusskriteri- gewissem Ausmaß jeweils auch für andere Bereiche als nur
en. Gängige Angaben schwanken zwischen 4 und 10 %. Dabei den Schriftspracherwerb von Bedeutung. Insbesondere das
sind Jungen etwa doppelt so häufig betroffen wie Mädchen. phonologische Arbeitsgedächtnis ist ein wichtiger Faktor für
Gleichzeitig mit Lese-Rechtschreibstörungen können unterschiedliche Fähigkeiten und beispielsweise auch für den
weitere Probleme auftreten (Komorbiditäten). Dabei kön- Spracherwerb von großer Relevanz, was die hohe Überlap-
nen die Probleme unabhängig voneinander auftreten, vom pung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten mit Sprachent-
gleichen Faktor verursacht sein oder sich gegenseitig verur- wicklungsstörungen teilweise erklären kann. Offensichtlich
sachen. Am häufigsten ist sicherlich die Kombination mit erklären aber auch die allgemeineren sprachlichen Kompe-
einer Sprachentwicklungsstörung. Über verschiedene Stu- tenzen wie Wortschatz und Grammatik eine Verbindung
dien hinweg deutet sich eine Überlappung von etwa 50 % zwischen Sprachentwicklungsstörungen und Leseverständ-
an (McArthur, Hogben, Edwards, Heath & Mengler 2000). nisproblemen.
28.3  Lese-Rechtschreibstörung
575 28
Unter den genannten Faktoren wurde der phonologischen lesen wird, was langfristig wiederum der Rechtschreibung
Bewusstheit in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten am meis- hilft.
ten Beachtung geschenkt. Phonologische Bewusstheit stellte Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten beeinträchtigen
sich einerseits als guter vorschulischer Prädiktor des (frühen) die schulischen Leistungen direkt, da in vielen Fächern Tex-
schulischen Schriftspracherwerbs heraus (Pfost 2015). An- te zu lesen sind und Texte produziert werden müssen, aber
dererseits ist sie aber vor allem im Kindergarten schon gut auch indirekt, da sich die Schwierigkeiten in diesem zentralen
trainierbar ist (Schneider, Roth & Ennemoser 2000). Die Trai- Leistungsbereich auf motivationale und emotionale Varia-
ningserfolge münden auch in einen Transfer, indem die Start- blen ungünstig auswirken können (z. B. Gasteiger-Klicpera,
chancen für den Schriftspracherwerb verbessert werden (Bus Klicpera & Schabmann 2006). Die direkten Folgen kommen
& van IJzendoorn 1999). Die Vorhersagekraft der phono- beispielsweise durch ein verlangsamtes Lesen von Lernmate-
logischen Bewusstheit für und der Transfer entsprechender rial, aber auch von Prüfungsaufgaben zustande. Insbesondere
Trainings auf die späteren Lese- und Rechtschreibleistungen ein unzureichendes Leseverständnis stellt eine Hürde für die
sind jedoch keineswegs so groß, dass man sich nur auf die- Aneignung von Wissen dar und kann zudem durch Schwie-
sen Faktor konzentrieren sollte (Fischer & Pfost 2015; Wolf, rigkeiten beim Lesen von Textaufgaben in Mathematik und
Schroeders & Kriegbaum 2016). Instruktionen in Prüfungen auch hier die Leistungen di-
Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten sind multikausal rekt beeinträchtigen. Die Rechtschreibschwierigkeiten kön-
bedingt, weshalb eine Fokussierung auf einen Faktor oder nen durch das bewusste oder unbewusste Einfließen in die
auch allgemein auf den sprachlichen Bereich dem Einzelfall Bewertung von Prüfungen auch dann zu schlechteren Noten
oft nicht gerecht werden wird. Für eine große Mehrheit der führen, wenn Rechtschreibung eigentlich gar nicht Gegen-
Betroffenen dürften Defizite im Bereich der visuellen Infor- stand der Prüfung ist. Das beeinträchtigt dann zwar die Vali-
mationsverarbeitung jedoch nicht die entscheidende Hürde dität der Prüfung, ist aber im Schulalltag immer noch häufig
für das Lesenlernen darstellen (z. B. Vellutino 1979). vorzufinden. Wenn durch die Rechtschreibschwierigkeiten
Wenn nun einige mögliche Ursachen angeführt wurden, die Produktion von Texten vermieden wird, kann sich das
lässt sich weitergehend fragen, wodurch diese Defizite wie- auch ganz allgemein negativ auf den schriftlichen Ausdruck
derum verursacht sein könnten. Gut belegt ist der genetische auswirken, was als indirekte Folge gesehen werden könn-
Einfluss, der sich jedoch nicht auf die Frage beschränkt, ob te. Auch über die sozial-emotionale Sekundärsymptomatik
Schwierigkeiten bestehen oder nicht, sondern für die kom- können sich wiederum ungünstige Rückwirkungen auf schu-
plette Leistungsverteilung im Lesen von Bedeutung ist, also lische Leistungen ergeben. Sinkt durch häufige Misserfolgs-
auch für die Frage, ob jemand gut lesen kann oder sehr gut erlebnisse und negative Rückmeldungen das Selbstkonzept,
(Boada et al., 2002; Gilger, Borecki, DeFries & Pennington, sind über eine fehlende Selbstwirksamkeitserwartung und
1994). Die Gene wiederum dürften Einfluss auf neurobiolo- „erlernte Hilflosigkeit“ sogar Folgen für das gesamte schuli-
gische Voraussetzungen für den Schriftspracherwerb haben, sche Lernverhalten möglich. Die genannten negativen Fol-
die sich dann beispielsweise über die Fähigkeiten zur Sprach- gen auf schulische Leistungen außerhalb des Schriftsprach-
wahrnehmung auf die phonologische Informationsverarbei- erwerbs und auch die Sekundärsymptomatik sollen durch
tung auswirken. frühzeitige Förderung, aber auch durch Maßnahmen zum
Notenschutz und zum Nachteilsausgleich vermieden oder re-
duziert werden.
28.3.4 Verlauf, Folgen,
Sekundärsymptomatik
28.3.5 Maßnahmen
Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben gelten als re-
lativ stabil, zumindest ab dem Ende der zweiten Jahrgangs- Bereits vor Schuleintritt kann versucht werden, späteren
stufe (Klicpera & Gasteiger-Klicpera 1993), während inner- Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb präventiv entge-
halb der ersten beiden Schuljahre noch viel Bewegung mög- genzuwirken. Durch das Training sogenannter Vorläuferfer-
lich ist (Hippmann, Jambor-Fahlen & Becker-Mrotzek 2016). tigkeiten sollen die Startchancen für das Erlernen des Lesens
Dabei muss unbedingt beachtet werden, dass die Stabili- und Schreibens verbessert werden. Sowohl unmittelbare Trai-
tät der Schwierigkeiten keinen Stillstand im Schriftsprach- ningseffekte als auch ein Transfer auf die Leistungen im Lesen
erwerb der betroffenen Kinder bedeutet, sondern sich ihre und Rechtschreiben in der Grundschulzeit sind gut belegt,
Leistungen in der Regel durchaus verbessern. Sie schaffen wobei für den Transfer eher kleine bis mittlere Effektstär-
es nur nicht, sich so stark zu steigern, dass sie eine größe- ken gefunden werden (Schneider et al. 2000; Fischer & Pfost
re Anzahl ihrer Altersgenossen überholen und dadurch in 2015; Wolf et al. 2016). Etablierte Programme zur Präven-
den Durchschnittsbereich gelangen würden. Im Vergleich zu tion von Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten sind „Hö-
kombinierten Schwierigkeiten sind die Chancen auf deutliche ren, lauschen, lernen“ (Küspert & Schneider 2018) und das
Leistungssteigerungen bei isolierten Rechtschreibschwierig- Buchstabe-Laut-Training „Hören, lauschen, lernen 2“ (Plu-
keiten höher (Klicpera & Gasteiger-Klicpera 1993), vermut- me & Schneider 2004). In täglichen Übungen in den letzten
lich da durch die relativ guten Lesefähigkeiten mehr ge- Monaten der Kindergartenzeit wird bei der Kombination der
576 Kapitel 28  Lern- und Verhaltensstörungen

beiden Programme sowohl die phonologische Bewusstheit des Nachteilsausgleichs können Zeitzuschläge bei Prüfungen
gefördert als auch einzelne Buchstaben und deren Beziehun- sein, in denen ansonsten durch geringere Lese- oder Schreib-
gen zu Lauten vermittelt. Eine solche Prävention kann nur ein geschwindigkeit das eigentliche Leistungsvermögen nicht ge-
Baustein auf dem Weg zu besseren Schriftsprachleistungen zeigt werden könnte, oder Vorlesen der Instruktionen und
sein und wird spätere Interventionsmaßnahmen nicht über- technische Hilfen bei der Bearbeitung von Aufgaben.
flüssig machen. Ein Ansatz der die Diagnostik und die Förderung eng
Erfolgversprechende Maßnahmen zur Intervention bei verzahnt und dadurch auch die eingangs erwähnten Pro-
bestehenden Schwierigkeiten setzen direkt am Lesen und bleme einer kategorialen Diagnose teilweise vermeidet, ist
28 Rechtschreiben an und erfordern einen längerfristigen Ein- der „Response-to-Intervention“-Ansatz (RTI; Balke-Melcher,
satz (Ise, Engel & Schulte-Körne 2012). Größte Skepsis ist so- Schuchardt, Wolpers & Mähler 2016). Dabei handelt es sich
wohl bei den Förderprogrammen geboten, die schnelle Erfol- um ein mehrstufiges Verfahren, wobei durch systematische
ge versprechen, als auch bei denen, die auf Wahrnehmungs- Diagnostik entschieden wird, ob die Förderung im regulä-
training oder andere unspezifische Maßnahmen setzen. ren Unterricht ausreicht, ob und wie lange darüber hinaus
Die gängigen Trainingsprogramme unterscheiden sich Förderung in Kleingruppen und möglicherweise auch im
vor allem darin, Einzelsetting notwendig erscheint. Im Prinzip werden also
4 inwieweit sie eher am Rechtschreiben oder am Lesen an- zunächst alle gefördert und diese Förderung dann schrittwei-
setzen, se bei denjenigen intensiviert, die nicht ausreichend von den
4 ob sie im regulären Unterricht genutzt werden können, bisherigen Maßnahmen profitieren.
4 ob sie modular aufgebaut sind oder als Ganzes durchge-
führt werden sollten,
4 ob sie eher an der alphabetischen oder der orthografi- 28.4 Aufmerksamkeitsdefizit-
schen Strategie ansetzen,
4 wie das verwendete Wortmaterial ausgewählt ist (nur laut-
Hyperaktivitätsstörung
treu? nach Schwierigkeitsstufen angeordnet?),
4 für welche Jahrgangsstufen und Schularten sie konzipiert Probleme mit Aufmerksamkeit, motorischer Unruhe und im-
sind, pulsivem Verhalten bei Kindern und Jugendlichen sind Phä-
4 ob sie nur, auch oder gar nicht am PC durchgeführt wer- nomene, die bereits lange bekannt sind und die weltweit
den und beschrieben wurden. Heinrich Hoffmann skizzierte beispiels-
4 ob und wie erfolgreich sie evaluiert wurden. weise 1845 in seinem Kinderbuch „Der Struwwelpeter“ den
„Zappel-Philipp“ und den „Hanns Guck-in-die-Luft“ – bei-
Auch wenn der Wirksamkeitsnachweis als wichtigstes Kri- des Beschreibungen, die man aus heutiger Sicht als Fälle
terium gelten könnte, dürfte es für Lehrkräfte nicht einfach mit Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsproblemen werten
sein, anhand der meist von den Autorinnen und Autoren könnte. Die erste wissenschaftliche Publikation stammt aus
der Programme selbst durchgeführten und berichteten Eva- dem Jahr 1902 vom englischen Arzt G. Still, der das Erschei-
luationen die Effektivität einzuschätzen. Die Entscheidung nungsbild als „moralischen Defekt“ bezeichnete: „Another
für die passende Maßnahme wird sich auch auf die Passung boy, aged 6 years, with marked moral defect was unable to
zum Unterricht und insbesondere bei Einzelförderung auf die keep his attention even to a game for more than a very short
differenzierte Diagnostik und die Rechtschreibfehleranalyse time, and as might be expected, the failure of attention was ve-
stützen. Eine außerschulische Therapie kann bei „drohender ry noticeable at school, with the result that in some cases the
seelischer Behinderung“ wie bei der Dyskalkulie in bestimm- child was backward in school attainments, although in manner
ten Fällen vom Jugendamt finanziert werden. and ordinary conversation he appeared as bright and intelli-
Beim Vorliegen von Hinweisen auf Lese-Rechtschreib- gent as any child could be” (Still 1902, Lecture 3). Auch wenn
schwierigkeiten sollte die Lehrkraft mit den Eltern und dem Still eine andere Sprache nutzte als wir heute, so charakteri-
betroffenen Kind Fördermaßnahmen besprechen, aber auch sierte er die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung
auf mögliche Maßnahmen zum Notenschutz und zum Nach- (ADHS) bereits sehr treffend. Nach Döpfner und Banaschew-
teilsausgleich hinweisen. Übergreifend sind von der Kultus- ski (2013) ist dieses Phänomen zusammen mit aggressivem
ministerkonferenz im deutschen Schulsystem Maßnahmen Verhalten (7 Kap. 29) der häufigste Anlass für die Inanspruch-
vorgesehen, die in jedem Bundesland spezifisch festgelegt nahme von Beratungsangeboten im Kindes- und Jugendbe-
sind. Unter den Notenschutz fällt der Verzicht auf die Beno- reich und es stellt eine wesentliche Einschränkung für den
tung der Rechtschreibung, aber auch ein größeres Gewicht schulischen Werdegang dar. Es betrifft allerdings meist nicht
auf mündliche im Vergleich zu schriftlichen Leistungen. Ins- nur kognitive Prozesse, sondern umfasst viele Probleme si-
besondere der Verzicht auf die Bewertung der Rechtschreib- tuationsangemessener Verhaltensregulation bis hin zu massi-
leistung in Prüfungen, die nicht die Rechtschreibung selbst ven Auffälligkeiten im Sozialverhalten. Ob es sich dabei um
zum Gegenstand haben (z. B. in Mathematik, Erdkunde oder eine einheitliche Störung mit verschiedenen Facetten handelt
Biologie), sollte unabhängig vom Vorliegen eines Attests und (das DSM-5 bezeichnet dies als „presentations“) oder ob da-
vom Schweregrad der Schwierigkeiten im Sinne der Validität runter völlig unterschiedliche Phänomene zusammengefasst
der Prüfungen generell berücksichtigt werden! Maßnahmen werden, ist bis heute nicht hinreichend geklärt.
28.4  Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung
577 28
. Abb. 28.2 DSM-V und ICD- Einfache Aufmerksamkeits-
10 betrachten Hyperaktivität, und Hyperaktivitätsstörung Überwiegend
Impulsivität und Aufmerksam- Aufmerk- unaufmerksamer
keitsprobleme als Kernsymptome samkeits- Typus
einer ADHS. Das DSM unterschei- probleme
det zwei Präsentationen, einen
eher unaufmerksamen und einen
Mischtypus
eher impulsiv-hyperaktiven Typus
Hyper- lmpul-
sowie eine Mischform. Die ICD-10
aktivität sivität
macht keine solche Unterschei-
Überwiegend
dung, sieht aber die Diagnose
hyperaktiv-
des erweiterten Störungsbildes
Störung des impulsiver
„Hyperaktive Störung des Sozial- Hyperkinetische Störung Sozialverhaltens Typus
verhaltens“ vor, bei dem zusätzlich des Sozialverhaltens
zur Kernsymptomatik Probleme
im sozialen Bereich auftreten Subgruppen nach ICD-10 „Präsentationen" nach DSM-V

28.4.1 Symptome und Erscheinungsformen 4 Unaufmerksamkeit: Die Kinder haben Schwierigkeiten,


ihre Aufmerksamkeit auf den Lerngegenstand zu fokus-
sieren oder die Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten. Sie
Die Diagnosemanuale ICD-10 der WHO (Dilling et al. 2014)
brechen Tätigkeiten vorzeitig ab und bringen diese nicht
und das DSM-5 (American Psychiatric Association 2013,
zu Ende. In der Folge sind schulische Aufgaben unvoll-
S. 66–74) kennzeichnen motorische Unruhe, Impulsivität
ständig gelöst, die Kinder brauchen zur Bearbeitung viel
und mangelnde Konzentration als wesentliche Aspekte von
mehr Zeit oder sie lösen Aufgaben oberflächlich und ma-
ADHS. Sie unterscheiden sich jedoch in Details bezüglich der
chen dabei viele Fehler.
Diagnosestellung (. Abb. 28.2). So spezifiziert das DSM-5 im
Wesentlichen zwei verschiedene Störungsbilder (vorwiegend
Nach ICD-10 müssen sich die Probleme bereits vor dem
unaufmerksam versus vorwiegend hyperaktiv-impulsiv) so-
sechsten Lebensjahr manifestieren, wobei die eigentliche Dia-
wie die Mischform aus beiden. Die Probleme müssen vor
gnosestellung i. d. R. erst nach Schuleintritt erfolgen kann.
dem 12. Lebensjahr in Erscheinung getreten sein. Das ICD-
Beide Diagnosemanuale stimmen darin überein, dass die
10 trennt dagegen nicht in verschiedene Subtypen, sondern
Probleme in verschiedenen Situationen (also nicht aus-
beschreibt als Kernsymptome einer ADHS die bereits ge-
schließlich im Elternhaus oder ausschließlich in der Schule)
nannten Probleme Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Hy-
auftreten und über einen langen Zeitraum anhalten müssen.
peraktivität. Zudem spezifiziert die WHO eine erweiterte
Diagnose, die hyperaktive Störung des Sozialverhaltens. Da-
mit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass bei sehr vie-
len Kindern mit ADHS zusätzlich problematisches Verhalten 28.4.2 Prävalenz, Erfassung
im sozialen Bereich auftritt (Abschn. 4.2). Die Kernsympto- und Komorbidität
me der ADHS nach ICD-10 äußern sich folgendermaßen:
4 Impulsivität: Ablenkende Reize und Verhaltensimpulse Diskussionen über eine vermeintliche Zunahme an ADHS-
können nur schwer unterdrückt, dominante oder gera- Diagnosestellungen oder eine Zunahme der Auftretenshäu-
de durchgeführte Handlungen nur schwer abgebrochen figkeit dieser Verhaltensstörung kommen in der deutschspra-
werden. Es fällt den Kindern schwer, Belohnungen ab- chigen Öffentlichkeit sehr häufig vor, was zuweilen in der
zuwarten und Tätigkeiten aufzuschieben, beispielsweise überspitzten Vermutung resultiert, ADHS sei eine Modedia-
um zunächst den Ablauf und die Lösungsschritte einer gnose (s. Schwenck 2016). Und in der Tat erhöhte sich die
Aufgabe zu durchdenken. Im Unterricht äußert sich dies Anzahl an Diagnosen gemäß dem Arztreport der Barmer
beispielsweise auch dadurch, dass Kinder Ideen und Ein- GEK (Grobe, Bitzer & Schwartz 2013) im Zeitraum zwi-
fälle nach einer Frage der Lehrkraft ins Klassenzimmer schen 2006 und 2013 stark – ein Phänomen, das nicht nur in
rufen und es ihnen schwer fällt abzuwarten, bis sie auf- Deutschland, sondern in sehr vielen Ländern zu finden war
gerufen werden. Betroffene Kinder haben eine geringe (Polanczyk, Willcutt, Salum, Kieling & Rohde 2014). Meta-
Frustrationstoleranz. analysen der internationalen Forschungsliteratur (Polanczyk,
4 Hyperaktivität: Die Kinder sind motorisch sehr unru- de Lima, Horta, Biederman & Rohde 2007; Polanczyk et al.
hig und weisen ein hohes Maß ungerichteter motorischer 2014) zeichnen dagegen ein sehr statisches Bild, wenn man
Aktivität auf, z. B. unvermitteltes Aufstehen und Umher- der Diagnosestellung standardisierte Kriterien zugrunde legt:
gehen im Klassenzimmer, Zappeln auf dem Stuhl, Her- Über die letzten Jahrzehnte hinweg lag der Anteil betroffener
umspringen und sich hinfallen lassen im Sportunterricht Kinder bei ca. 5 %, es lassen sich weder signifikante Ände-
oder das Anrempeln anderer Schülerinnen und Schüler. rungen in der Prävalenz zeigen, noch scheint es nachweisbare
Sie können ihr Verhalten unzureichend kontrollieren und Unterschiede zwischen verschiedenen Kontinenten zu geben.
steuern. Einen starken Einfluss hat dagegen die verwendete Diagno-
578 Kapitel 28  Lern- und Verhaltensstörungen

sestrategie auf die Anzahl tatsächlich diagnostizierter Fälle, Auswirkung, aber bei den Fällen 2 bis 4 wurde bei einem Jun-
wodurch sich die Änderung der Diagnosehäufigkeit zumin- gennamen doppelt so häufig eine ADHS festgestellt wie bei
dest teilweise erklären lässt. Da der Ausprägungsgrad von einem Mädchennamen. Während weibliche Therapeuten vor-
Verhaltensweisen kontinuierlich verteilt ist, ergibt sich wie sichtiger diagnostizierten und mehr falsch-negative Diagno-
bei den anderen Lernstörungen auch hier das Problem der sen aufwiesen, gab es bei den Männern hauptsächlich falsch-
Grenzziehung. In der Folge variiert die Anzahl an Diagnosen, positive Einstufungen.
je nachdem wie hoch die Toleranz gegenüber abweichendem
Verhalten ist. Gegenwärtig liegt in Deutschland der Anteil an Die Diagnostik einer ADHS ist nach wie vor mit gro-
28 ADHS-Diagnosen unter Kindern und Jugendlichen bei ca. ßen Unsicherheiten behaftet, da sich die Diagnosestellung
4 % (Schwenck 2016), sodass nicht von einer übermäßigen vorwiegend auf subjektive Einstufungen stützt. Betrachtet
Diagnosehäufigkeit auszugehen ist. Allerdings ist es durch- man beispielsweise die Diagnoserichtlinien aus dem DSM-5
aus möglich, dass die Diagnosen nicht hinreichend treffsicher (American Psychiatric Association 2013, S. 59f.), so finden
erfolgen und eine Reihe an Kindern fälschlicherweise eine sich häufig Aussagen wie „Kann oft die Aufmerksamkeit
ADHS-Diagnose erhalten, wohingegen andere Fälle unbe- nicht aufrechterhalten“ oder „Steht häufig auf “, wobei letzt-
merkt bleiben. lich Begriffe wie „oft“ oder „häufig“ nicht scharf definiert
Bei Zugrundelegung der DSM-5-Kriterien scheinen Pro- werden können. Gleiches gilt für weitverbreitete Einschät-
bleme der Aufmerksamkeit unter den Subtypen etwa doppelt zungsverfahren wie die Connors-Skalen (deutsche Fassung
so häufig vorzukommen wie hyperaktiv-impulsive Proble- Lidzba, Christiansen & Drechsler 2013), mit denen Eltern,
me oder der Mischtypus (Graetz, Sawyer, Hazell, Arney & Lehrkräfte und die Kinder selbst befragt werden. Zum jetzi-
Baghurst 2001). Unter allen Subtypen sind Jungen häufiger gen Zeitpunkt existiert leider auch keine belastbare, objektive
betroffen als Mädchen: ADHS wird bei Jungen etwa dreimal Leistungsdiagnostik (s. auch Schmiedeler & Schneider 2014).
häufiger diagnostiziert. Der Unterschied ist beim unaufmerk- Zwar unterscheiden sich Kinder mit und ohne ADHS in sog.
samen Subtypus und dem hyperaktiv-impulsiven Subtypus zentral-exekutiven Maßen (s. auch „Ätiologie“) sehr stark
mit einem Geschlechtsverhältnis von etwa 2 W 1 (Jungen zu (z. B. Holmes et al. 2010), jedoch ist dieser Unterschied wie-
Mädchen) etwas schwächer, beim kombinierten Subtypus mit derum nicht so groß, dass betroffene und nicht betroffene
etwa 5 W 1 dagegen am stärksten ausgeprägt. Während also Kinder klar voneinander abgegrenzt werden könnten. Aus
Jungen stärker betroffen sind als Mädchen, gilt das beson- diesem Grund ist die umfassende Betrachtung verschiedener
ders deutlich für den Bereich einer umfangreich ausgeprägten Lebensbereiche notwendig, also eine Befragung des Kindes,
Problematik mit allen Kernsymptomen. Im Umkehrschluss der Eltern, Erziehenden und Lehrkräfte. Im Rahmen der
bedeutet dies, dass im am häufigsten vorkommenden Subty- Diagnostik wird die aktuelle Problemlage in verschiedenen
pus von Kindern mit primären Aufmerksamkeitsproblemen Lebenssituationen erfasst und auch die Störungsgeschichte
darauf geachtet werden muss, Mädchen nicht zu übersehen. ermittelt, Rahmenbedingungen der Verhaltensprobleme ab-
Aufgrund der Erwartung, dass ADHS v. a. bei Jungen auf- geklärt, Verhaltensbeobachtungen vorgenommen sowie eine
tritt, besteht die Gefahr einer Überdiagnostik bei Jungen und standardisierte Leistungsdiagnostik durchgeführt. Zusätzlich
einem Übersehen betroffener Mädchen (7 Studie). Dement- müssen potenzielle medizinische Probleme ausgeschlossen
sprechend werden auch deutlich mehr Jungen behandelt, als werden. Eine Diagnostik erfolgt aus diesem Grund in der
dies der Auftretenshäufigkeit entsprechend zu erwarten wäre. Regel in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und der Schul-
Dort beträgt das Geschlechtsverhältnis 6 W 1 bis 9 W 1 (Jungen psychologie.
zu Mädchen, s. Bruchmüller, Margraf & Schneider 2012). Zusätzlich zur Diagnosestellung ist es notwendig, weitere
psychische Störungen bei betroffenen Kindern zu ermitteln
Studie: Wird ADHS überdiagnostiziert? Welche Merkmale (sog. Komorbiditäten). Diese haben zum einen erheblichen
beeinflussen die Genauigkeit von Diagnosen? Einfluss darauf, wie mit der Problemsituation umgegangen
Bruchmüller et al. (2012) gingen der Frage nach, ob ADHS über- werden kann und welcher Entwicklungsverlauf wahrschein-
diagnostiziert werde und sie befragten hierzu 473 Psycholo- lich ist. Zum anderen ist eine isolierte ADHS eher die Aus-
gen, Kinder- und Jugendpsychiater und Sozialarbeiter. Sie leg- nahme als die Regel. 87 % der Kinder weisen mindestens eine
ten den Befragten vier Fallbeispiele vor, von denen nur das erste weitere psychische Störung auf, 67 % zwei oder mehr weitere
einen eindeutigen Fall von ADHS (entsprechend den Diagno- Störungen (Kadesjo & Gillberg 2001). Nach Spencer (2006)
serichtlinien des DSM-5) darstellte. Beispiel 2, 3 und 4 wiesen in gehören dazu v. a. affektive Störungen wie Depressionen
unterschiedlichem Umfang ebenfalls einige ADHS-Symptome (15 % bis 75 %), Angststörungen (ca. 25 %), oppositionelles
auf, erfüllten aber die Diagnoserichtlinien eindeutig nicht. Zu- Verhalten und Probleme im Sozialverhalten (30 % bis 50 %)
sätzlich wurde im beschriebenen Fall der Name des Kindes bis hin zur Entwicklung einer antisozialen Persönlichkeits-
variiert („Leon“ versus „Lea“). Ergebnis: Ein Sechstel der Fälle 2 störung, Lernstörungen (10 % bis 92 %), Entwicklungsstö-
bis 4 wurde fälschlicherweise als ADHS diagnostiziert (16,7 % rungen, Tic-Störungen und Substanzmissbrauch. Während
falsch-positive Diagnosen), wohingegen beim ersten Fallbei- die Schätzungen z. T. sehr variabel sind, zeigt sich bei all
spiel 78,9 % der Therapeuten eine korrekte Einstufung vornah- diesen Störungsbildern eine deutliche Erhöhung der Auftre-
men und somit 21,1 % der Fälle übersahen (falsch-negative tenswahrscheinlichkeit bei Kindern mit ADHS. Die Richtung
Diagnosen). Die Variation des Namens hatte bei Fall 1 keine des Zusammenhangs ist dabei jedoch unklar. Einerseits ist es
28.4  Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung
579 28
denkbar, dass bereits vorhandene psychische Störungen ein geschrieben; sog. Stroop-Aufgabe). Die Aufgabe besteht
Kind anfällig für die Entwicklung einer ADHS machen. Zum in diesem Fall darin, ausschließlich auf die Schriftfarbe
anderen ist es aber auch denkbar, dass ADHS Folgeprobleme zu reagieren und mit einem entsprechenden Tastendruck
nach sich zieht. Bei Lernproblemen ist dies unmittelbar nach- zu reagieren, unabhängig davon, welches Farbwort darge-
vollziehbar: Mangelnde Konzentrationsfähigkeit schränkt die stellt war. Kindern mit ADHS fällt es erheblich schwerer,
Lernfähigkeit ein, was zu immer größeren Wissensdefiziten den Inhalt des Wortes unbeachtet zu lassen. Dieses Defizit
führt. Auch bei anderen Störungen kann es im individuel- bei inhibitorischen Prozessen betrifft die Bereiche Hem-
len Fall ähnlich gelagert sein: Durch die vielen negativen und mung ineffektiver Handlungsimpulse, Inhibition laufen-
strafenden Interaktionen und die seltenere Verstärkung der der Handlungen und Kontrolle interferierender Reize. In
Kinder fällt es ihnen schwerer, soziale Kompetenzen aufzu- der Schule gibt es viele Anlässe, in denen sich das Problem
bauen. Sie müssen mehr Angst vor den Reaktionen des sozia- äußern kann, da ebenfalls Handlungsimpulse unterdrückt
len Umfelds haben und sind in ihrer Stimmung gedrückter. werden müssen. Beispielsweise dürfen richtige Lösungen
nicht einfach ausgerufen werden, sondern Kinder müssen
darauf warten, bis sie an die Reihe kommen. Wenn vor
dem Fenster etwas passiert, dann darf nicht einfach aufge-
28.4.3 Ätiologie standen werden, um nachzusehen, was gerade geschehen
ist. Wenn andere Kinder miteinander tuscheln, dann muss
Es wird davon ausgegangen, dass es eine starke neurobiolo- dieser Störreiz ausgeblendet werden. Einschränkend ist
gische Grundlage für die Entstehung von ADHS gibt, wobei anzumerken, dass Barkleys Modell nicht alle Subtypen
insbesondere der Neurotransmitter Dopamin im Zentrum von ADHS gleichermaßen gut erklärt. Die Schwierigkei-
der Diskussion steht. Dopamin spielt eine große Rolle in ten primär unaufmerksamer Kinder werden dadurch nur
Hirnarealen, die für Verstärkungsprozesse, motorische Steue- unzureichend abgebildet (Schwenck et al. 2009) und nicht
rung und Unterdrückung von Verhaltensimpulsen relevant bei allen Kindern mit ADHS treten Probleme exekutiver
sind. Neben der reduzierten Verfügbarkeit von Dopamin Funktionen auf. Das Modell von Barkley ist deshalb zwar
(sog. Dopaminmangelhypothese) werden zudem Verände- sehr bedeutsam, es kann aber das Störungsbild allein nicht
rungen an den Dopamin- und Serotoninrezeptoren des Ge- hinreichend explizieren.
hirns diskutiert. Es ist eine Reihe an entsprechenden Gen-
varianten dokumentiert, die mit einer Erhöhung der Auftre- Zentrale Exekutive: Bestandteil des Arbeitsgedächt-
tenswahrscheinlichkeit von ADHS in Zusammenhang stehen nisses, in welchem eine Vielzahl kognitiver Prozesse
(Thapar, Cooper, Eyre & Langley 2013). Diese Vermutung mit Bezug zu Handlungsregulation und Aufmerk-
findet Unterstützung durch Untersuchungen zur Heritabili- samkeitsprozessen zusammengefasst wird. Hierzu
tät (Erblichkeit) von ADHS, die anhand von Zwillingsstudien gehören:
auf 60 bis 90 % geschätzt wird (Faraone et al. 2005) und so- 4 Inhibition: Unterdrückung irrelevanter Reize und
mit höher liegt als bei jeder anderen psychischen Störung. Handlungsimpulse
Frühere Annahmen minimaler Schädigungen des Gehirns 4 Task Switching: Situationsabhängiges „Umschal-
(sog. minimale zerebrale Dysfunktion, MCD), Nahrungsun- ten“ zwischen verschiedenen Aufgabenstellungen
verträglichkeiten und Allergien konnten dagegen bis heute 4 Transformation: Zugriff auf Inhalte der Kurz-
nicht hinreichend bestätigt werden. zeitspeicher und Organisation der Inhalte
Auf psychologischer Ebene werden im Moment v. a. zwei 4 Go/No-Go: Reagieren bei komplexen Reizkonstel-
Theorien zur Erklärung des Störungsbildes herangezogen, die lationen
sich beide komplettieren und gut mit der neurobiologischen Für strukturiertes Lernen sind Leistungen der zentralen
Ebene in Einklang zu bringen sind. Hierzu gehören zum Exekutive wichtig, da andernfalls ein systematisches
einen die Theorie nach Barkley (1997), die Defizite in der Ver- Vorgehen nur schwer möglich ist.
haltensorganisation über Defizite des Arbeitsgedächtnisses
erklärt und die sog. Dual-Pathways-Theorie nach Sonuga-
Barke (2002, 2003), die zusätzlich motivationale Probleme 2. Sonuga-Barke (2002, 2003) beschreibt neben dem kog-
thematisiert: nitiven Defizit einen weiteren Zugangsweg im motiva-
1. Barkley (1997) lokalisiert die Ursache der Störung in der tionalen Bereich, nämlich Defizite im Kontingenzlernen.
sog. zentralen Exekutive, die einen Teil des Arbeitsge- Betroffene Kinder haben motivationale Probleme, die sich
dächtnisses darstellt und eine Vielzahl an basalen kog- in einer Verzögerungsaversion äußern, also in der Un-
nitiven Prozessen umfasst, welche mit Handlungssteue- fähigkeit, auf Belohnungen zu warten und Frustrationen
rung in Zusammenhang stehen. Die zentrale Exekutive zu ertragen. Es fällt folglich schwerer, härter daran zu
hat einen starken Bezug zum Frontalkortex, wodurch sich arbeiten ein Ziel zu erreichen, da hierbei zumindest für
auch auf physiologischer Ebene die Querverbindung zum einige Zeit eine Durststrecke überwunden werden muss,
Dopaminmangel ergibt. In Laborexperimenten zeigt sich bis man die Früchte der eigenen Arbeit ernten kann. Die
dieser Umstand z. B. bei der Reaktion auf farbig geschrie- Effekte von Verstärkungen, z. B. Belohnungen und Erfol-
bene Farbwörter (z. B. das Wort „grün“ in roter Farbe ge, wirken subjektiv weniger intensiv und dauern kürzer
580 Kapitel 28  Lern- und Verhaltensstörungen

an. Unangenehme Tätigkeiten werden kürzer aufrechter- (Schmiedeler & Schneider 2014). Diese Kinder weisen
halten. Andererseits führen unangenehme Konsequenzen auch ein erhöhtes Aggressionsniveau und eine negative
seltener dazu, dass Verhalten unterdrückt wird. Bestra- Interaktion mit den Eltern auf.
fungen wirken also ebenfalls schwächer. Auch für diesen 4 Grundschulalter: Der Eintritt in die Schule bringt An-
Aspekt an Symptomen lässt sich eine neurobiologische forderungen mit sich, die für unaufmerksame und sehr
Grundlage finden. Diese liegt im mesolimbischen System aktive Kinder schwierig zu bewältigen sind. Die struktu-
– unserem Verstärkungszentrum, das ebenfalls deutliche rierten Lernsettings erfordern die Aufrechterhaltung von
Bezüge zum Botenstoff Dopamin aufweist. Auch dieser Aufmerksamkeit und die Kontrolle motorischer Unruhe.
28 Zugangsweg kann nur einen Teil der Schwierigkeiten von Die Kinder zeigen oppositionelles Verhalten gegenüber
Kindern mit ADHS erklären, aber beide Bahnen, also Pro- der Lehrkraft und geraten mit gleichaltrigen Kindern in
bleme der zentralen Exekutive und Schwierigkeiten beim Konflikt. Die Störung stabilisiert sich, es zeigen sich nega-
Verstärkerlernen, decken zusammen ein weites Spektrum tive Auswirkungen auf die Leistungen und auf das Selbst-
des Störungsbildes ab. wertgefühl der Kinder.
4 Jugendalter: Die motorische Unruhe geht zurück, je-
Neben den biologischen und neuropsychologischen Erklä- doch bleiben Aufmerksamkeitsprobleme unverändert be-
rungsmodellen spielt auch die Interaktion mit den Eltern und stehen.
Lehrkräften eine große Rolle: Durch ihr unangepasstes Ver- 4 Erwachsenenalter: Die Problematik bleibt sehr häufig be-
halten erfahren Kinder und Jugendliche mit ADHS häufig Be- stehen und es zeigt sich ein Risiko für eine Reihe an
strafungen und seltener positive Verstärkung. Da der Aufbau komorbiden Störungen.
von Verhaltensmustern wesentlich auf positive Verstärkung
Eine ADHS ist sehr stabil, auch wenn mit der Zeit und dem
angewiesen ist, haben diese Kinder viel weniger Möglichkei-
Übergang zum Erwachsenenalter die Intensität der Probleme
ten, soziale Fähigkeiten, Arbeitstechniken und Strategien zur
zurückgehen kann. Biederman, Petty, Evans, Small und Fa-
Handlungsregulation zu erwerben, was die anfänglichen Pro-
raone (2010) berichten in ihrer Längsschnittstudie über die
bleme noch weiter verstärkt. Bei Kindern, die später ADHS
Veränderungen in einem Zeitraum von 10 Jahren. Von den
entwickeln, findet sich häufig bereits im frühen Kindesal-
anfänglich 140 Kindern und Jugendlichen mit ADHS (Alter
ter irritables und hyperaktives Verhalten und die Interaktion
6 bis 15 Jahre) konnten nach 10 Jahren noch 110 Personen
mit Eltern fällt deutlich negativer aus als bei gleichaltrigen
nachbefragt werden. Bei 35 % bestand die Symptomatik wei-
Kindern (Campbell, Shaw & Gilliom, 2000). Auf diese Weise
ter im Vollbild und bei 22 % etwas abgeschwächt fort. 15 %
entsteht ein Bedingungsgefüge sich gegenseitig stabilisieren-
wiesen weiterhin Leistungsbeeinträchtigungen auf. 6 % ge-
der negativer Einflussfaktoren mit ungünstigen Auswirkun-
lang es, mithilfe von Medikamenten symptomfrei zu sein.
gen auf die langfristige Entwicklung des Kindes. Aus diesem
78 % der von ADHS Betroffenen haben also auch nach langer
Grund ist es besonders wichtig, in der Schule jedes adäqua-
Zeit noch unterschiedlich deutliche Einschränkungen oder
te Verhalten möglichst zeitnah, konsequent und systematisch
befinden sich in Behandlung. Begleitet wurde diese Entwick-
zu verstärken (7 Kap. 1) und nicht ausschließlich auf Störver-
lung von zahlreichen anderen negativen Bedingungen. Zum
halten zu fokussieren.
Zeitpunkt der Nachbefragung war die Hälfte substanzabhän-
gig und 40 % hatten Probleme im Sozialverhalten. Psychische
Probleme gab es auch bei nahen Verwandten, darunter et-
28.4.4 Verlauf und Folgen wa 60 % Personen mit Angststörungen und ein ebenso hoher
Anteil an Alkoholabhängigkeit. Im Vergleich zu einer eben-
Nach Döpfner, Schürmann und Frölich (2007, S. 22 ff.) ist die falls befragten Kontrollgruppe gleicher Größe hatten die Per-
Entwicklung der Verhaltensprobleme folgendermaßen ge- sonen mit ADHS im Zeitraum der Längsschnittstudie erheb-
kennzeichnet: lich häufiger schulische Disziplinarmaßnahmen, Förderbe-
4 Frühes Kindesalter: Die Kleinkinder weisen ein ho- schulung, Verkehrsunfälle und Gefängnisstrafen durchlebt.
hes Aktivitätsniveau und ein insgesamt unausgeglichenes
Temperament auf. Von besonderer Bedeutung für die
Entstehung einer ADHS ist, ob es in diesem Altersbereich 28.4.5 Maßnahmen
der primären Bezugsperson gelingt, die durch das schwie-
rige Verhalten entstehenden Belastungen zu bewältigen. Beim Vorliegen einer ADHS besteht häufig zum Zeitpunkt
Motorische Unruhe in diesem Alter ist jedoch keineswegs der Diagnosestellung ein hoher Leidensdruck aufseiten der
spezifisch für die Entstehung von ADHS. Viele überaktive Eltern, Lehrkräfte und Kinder, sodass Möglichkeiten gefun-
Kinder entwickeln sich später normal. den werden müssen, die möglichst schnell zu einer Verbesse-
4 Kindergarten und Vorschule: Am deutlichsten tritt bei rung der Situation führen. Viele Kinder profitieren von einer
den Kindern motorische Unruhe zutage. Etwa die Hälfte Medikamentengabe und die Wirkung stellt sich zudem sehr
der im Alter von 3 Jahren als sehr aktiv gekennzeichneten schnell ein. Auf der anderen Seite zeigen die längsschnittli-
Kinder ist mit 6 Jahren hyperaktiv. Generell ist die Stabili- chen Ergebnisse, wie wichtig der Aufbau von sozialen Kom-
tät von ADHS-Symptomen in diesem Alter eher niedrig petenzen und Strategien zur Handlungsregulation ist, um
28.4  Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung
581 28

. Tabelle 28.1 Maßnahmen zum Umgang mit einer ADHS-Problematik, zum Abbau von Störverhalten und Aufbau von sozialen Kompetenzen
und Handlungsregulation

A. Gestaltung der Lernumwelt B. Verbesserung von Selbstregulation C. Einbezug des sozialen Umfelds,
und Handlungskompetenz Elterntraining

Strukturierung Gestaltung der Aufbau von Selbstregula- Förderung basaler Eltern als Mediatoren Förderung in der
von Interaktionen Arbeitsumgebung tionskompetenzen kognitiver Fähig- Schule/Kindergar-
und Abläufen keiten ten
– Klare Anweisun- – Wenig äußere – Ziele, Lösungs-, – Schulung visueller – Wissensvermittlung – Erkennen von
gen Ablenkung Ausgangs- und Problemele- Mustererkennung über Ursachen und kleinen Lernfort-
– Vereinbarungen – Räumliche Ge- mente vergegenwärtigen (auf Details achten, Auswirkungen von schritten und deren
und Absprachen staltung des – Regulation durch Selbst- genau hinsehen ADHS Belohnung durch
klar formulieren Arbeitsplatzes (z. B. instruktion (s. auch Lauth & und analysieren, – Schulung in die Lehrkraft
– Einführung von Schreibtisch) Schlottke 2009: „Ich fange systematisches schwierigen Erziehungs- – Strukturierte
Routinen und – Klare inhaltli- jetzt an!“, „Ich mache mir Beschreiben) situationen mit dem Ziel Maßnahmen (z. B.
Ritualen che und optische einen Plan!“) – Kognitives Model- günstiger Reaktionen Tagesablauf)
– Regelmäßige Gestaltung von – Entwicklung von Selbst- lieren (Trainer(-in) („steuern statt bestra- – Klar formulierte
Pausenzeiten Materialien anweisung und Strategien spricht seine/ihre fen“) Regeln und konse-
für den Umgang mit Ab- Gedankenschritte – Verstärkungspro- quentes Verhalten
lenkung, Fehlern und zum konstruktiven gramme nutzen lernen bei Be- oder Miss-
Frustration Lösungsverhalten (Reaktionen zeitnah, achten
– Verbesserung der laut aus, Kinder häufig, konsistent und
Selbstbeobachtung und machen es nach) prägnant), z. B. auch
Selbstverstärkung Einsatz von Token-
Systemen

langfristig negativen Entwicklungen und Chronifizierungen erarbeitet, wie Aufforderungen klarer formuliert und konsis-
vorzubeugen. Eine einseitige Fokussierung auf die Verschrei- tenter eingefordert werden können. Es werden Arbeitsregeln
bung von Medikamenten wäre aus diesem Grund sicher der erarbeitet und eine systematische Aufgabenbearbeitung mit-
falsche Weg. Die Maßnahmen im schulischen und häusli- tels Selbstinstruktionstraining eingeübt.
chen Bereich sollten koordiniert und umfänglich sein. Das
konsistente Verhalten der Bezugspersonen und eine klare
Strukturierung des Lernumfelds sind dabei von besonderer
Bedeutung (. Tab. 28.1). Mythos: Häufige Fehlkonzepte
Im deutschen Sprachraum steht eine Reihe an etablierten Auf dem Gebiet ADHS gibt es viele Missverständnisse und
Programmen zur Verfügung, die in der Therapie von Kindern Fehlkonzepte, insbesondere auch unter Lehrkräften und
mit ADHS eingesetzt werden. Das vermutlich bekannteste Eltern. Hierzu gehören (angelehnt an Schmiedeler 2013):
davon ist das Therapieprogramm für Kinder mit hyperki-
netischem und oppositionellem Problemverhalten (THOP; „Etwa 15 % der Kinder sind von ADHS betroffen und es
Döpfner et al. 2007), das sehr umfassend an verschiedens- sind v. a. Jungen.“
ten Lebensbereichen ansetzt. Es beinhaltet nicht nur ver- In der Tat gehört ADHS zu den häufigsten Störungen im
haltenstherapeutisch fundierte Maßnahmen auf Ebene des Kindes- und Jugendalter, jedoch liegt die Auftretenshäu-
Kindes (Spieltraining, Selbstinstruktion, Selbstmanagement figkeit bei 5 % und darunter. In Bezug auf Impulsivität
und Aufklärung), sondern richtet sich auch an die Familie und Hyperaktivität sind Jungen häufiger betroffen, jedoch
(Eltern-Kind-Training, Aufklärung und Beratung) und be- ist dieser Unterschied bei Aufmerksamkeitsproblemen
inhaltet Hilfen zum Umgang mit der Störung im schulischen geringer ausgeprägt.
Umfeld. Die Vorschläge von THOP für die Schule beziehen
sich auf Maßnahmen zur Umgestaltung der Lernsituation „ADHS wird durch Nahrungsmittelergänzungen,
und zur Verbesserung der Interaktion mit dem Kind. Zur Rohzucker und phosphatreiche Nahrung verursacht
Reduzierung der Ablenkungsmöglichkeiten sollte das Kind oder verstärkt. Reduktion dieser Substanzen und die
beispielsweise möglichst weit vorne sitzen und in der Nä- Gabe von Vitaminen reduzieren die Probleme.“
he von Kindern, die als positive Modelle fungieren können. Psychotrop wirkende Substanzen können massiv das
Es ist i. d. R. notwendig, die Kontrolle zu erhöhen und die Verhalten verändern. Beispielsweise verändert die Stimu-
Materialien der Kinder täglich zu überprüfen. Von beson- lanzie Methylphenidat das Aktivitätsniveau vieler Kinder
derer Bedeutung sind die Förderung positiver Interaktionen mit ADHS. Bis heute gibt es jedoch keine belastbaren
und die häufige Gabe von Rückmeldungen, insbesondere von Nachweise, dass Nahrungsmittelunverträglichkeiten, zu
Lob für adäquates Verhalten. Token-Systeme können dabei viel Zucker und Phosphat ADHS bedingen. Dennoch sollte
helfen, Verstärkung stärker zu systematisieren. Zudem wird
582 Kapitel 28  Lern- und Verhaltensstörungen

selbstverständlich auf eine ausgewogene, gesunde und führen aber nicht zu einer Abhängigkeit. Auch scheinen
vitaminreiche Ernährung geachtet werden. Hierdurch sich die Vermutungen nicht zu bestätigen, dass durch die
reduzieren sich die Verhaltensprobleme jedoch nicht. Behandlung das Wachstum verzögert würde und als Folge
im Erwachsenenalter eine kleinere Körpergröße erreicht
„ADHS wird durch mediale Reizüberflutung oder das wird (Harstad et al. 2014). Kritisch ist anzumerken, dass
Erziehungsverhalten der Eltern verursacht.“ etwa ein Drittel der Kinder nicht auf eine medikamentöse
Ungünstige Erziehungspraktiken (v. a. vorwiegend stra- Behandlung anspricht, häufig Nebenwirkungen auftreten
28 fende und inkonsistente Erziehung) und ein suboptimales und die Wirkung innerhalb einiger Stunden wieder
häusliches Lernumfeld wirken sich auf die schulische zurückgeht (außer bei Depotgabe). Es kommt also
Entwicklung und das Verhalten von Kindern und Jugend- nicht zu einer langfristigen Verhaltensänderung, aber
lichen ungünstig aus. Sie können auch eine bestehende unter Umständen hilft es dabei, im schulischen Kontext
Problematik ungünstig beeinflussen. Sie sind aber nicht überhaupt erst das erforderliche Aufmerksamkeitsniveau
Auslöser einer ADHS, sondern verstärken vermutlich eher herzustellen.
die Probleme.

„Im Laufe der Pubertät wächst sich ADHS aus.“


Nur 22 % der betroffenen Personen sind nach 10 Jahren
Zusammenfassung
symptomfrei (Biederman et al. 2010). Bei ca. 35 % besteht
Aus dem Überblick über zentrale Lernschwierigkeiten und
die Symptomatik unverändert im Vollbild fort. Bei den
Verhaltensstörungen lassen sich folgende Schlussfolge-
restlichen 43 % gibt es unterschiedlich starke Einschrän-
rungen ziehen:
kungen. Bei Erwachsenen mit ADHS besteht insbesondere
Das Phänomen der Rechenschwäche bzw. der Re-
eine hohe Unfallgefahr (2- bis 4-mal mehr Autounfälle;
chenstörung ist in neuerer Zeit verstärkt untersucht wor-
ca. 50 % mehr Fahrradunfälle), häufigeres delinquentes
den. Es finden sich Hinweise darauf, dass Probleme im ma-
Verhalten und die Personen erreichen durchschnittlich
thematischen Kompetenzbereich schon im Vorschulalter
ein niedrigeres berufliches Qualifikationsniveau als der
identifiziert und über Präventionsprogramme gezielt an-
Bevölkerungsdurchschnitt.
gegangen werden können. Meist findet sich bei Vorschul-
Risikokindern auch noch kurz vor Schulbeginn ein unzu-
„Mit einer ADHS-Diagnose gehen automatisch Hilfsleis-
reichendes Verständnis der Relation zwischen Zahlen und
tungen oder schulische Nachteilsausgleiche einher.“
Mengen, und Schwierigkeiten im Anfangsunterricht der
Eine ADHS berechtigt nicht automatisch zum Erwerb
Grundschule basieren vielfach auf mangelhaften Strate-
eines Schwerbehindertenausweises, sondern es kommt
gien im Umgang mit grundlegenden Zahlenoperationen.
auf den Grad der Einschränkung an, wobei insbeson-
Da keine Automatisierung der basalen Rechenvorgänge
dere soziale Probleme ausschlaggebend sind. Gleiches
stattfindet, wird der Abstand zu normalen Rechnern im
gilt für die Beantragung von Mitteln der Kinder- und
Verlauf der Grundschulzeit immer größer. Neben einer
Jugendhilfe. Im schulischen Bereich wird ADHS bei der
umschriebenen Rechenschwäche finden sich häufig Ko-
Mehrheit der Bundesländer in den Schulgesetzen nicht
morbiditäten, also etwa die Kombination einer Rechen-
berücksichtigt. Manche Länder wie z. B. Thüringen sehen
und einer Lese-Rechtschreibstörung. Es hat den Anschein,
Sonderregelungen vor, in Hessen gibt es Möglichkeiten zur
dass beide Subtypen durch unterschiedliche Probleme
Gewährung von Nachteilsausgleichen. Insgesamt bleibt
verursacht werden und somit auch unterschiedliche The-
ein großer Raum für weitere Unterstützung und gesetzliche
rapiemaßnahmen für unterschiedliche Problemschwer-
Regelungen.
punkte benötigt werden. Obwohl es mittlerweile zahlrei-
che Nachhilfeinstitute gibt, ist die Anzahl nachweislich
„Eine medikamentöse Behandlung mit Methylphenidat
bewährter Fördermaßnahmen immer noch relativ über-
(z. B. Ritalin) macht abhängig, kann Parkinson auslösen
schaubar.
und die betroffenen Kinder und Jugendlichen wachsen
Lese- und Rechtschreibfähigkeiten werden in vielen
langsamer.“
Situationen benötigt, weshalb Schwierigkeiten gravieren-
Medikamentöse Behandlungen von Verhaltensproblemen
de Folgen während der Schulzeit und darüber hinaus
sollten gründlich abgewogen werden. Zumindest was
haben können. Da die Grenze zu durchschnittlichen Leis-
die skizzierten negativen Konsequenzen angeht, gibt es
tungen fließend ist, haben Angaben zur Häufigkeit der
bis heute keine belastbaren Ergebnisse (vgl. Mannuzza
Lese- Rechtschreibstörung begrenzte Aussagekraft. Ziem-
et al. 2008). Eine Stimulanzienbehandlung führt nicht
lich sicher kann man sich als Lehrkraft aber sein, dass in
dazu, dass das Gehirn weniger Dopamin bildet, was
fast jeder Klasse Betroffene zu finden sein werden, dar-
zu parkinson-ähnlichen Symptomen führen würde. Die
unter deutlich häufiger Jungen. Die Erscheinungsformen
Medikamente haben zwar häufig Nebenwirkungen, sie
und auch die Ursachen sind vielfältig. Für einen Großteil
Literatur
583 28
6. Warum können Leseschwierigkeiten gegenüber
der Schwierigkeiten sind Defizite im sprachlichen Bereich Rechtschreibschwierigkeiten als problematischer
die wichtigste Ursache. Auf der Basis einer sorgfältigen Di- angesehen werden?
agnostik kann Förderung geplant werden, die direkt am 7. Wie kommt die phonologische Bewusstheit zu einer
Lesen und Rechtschreiben ansetzen sollte. Begleitende besonders prominenten Stellung unter den für das
Maßnahmen wie ein Notenschutz zielen auf die Vermei- Lesen und Rechtschreiben bedeutsamen Faktoren?
dung von negativen Auswirkungen auf andere Schulfä- 8. Welche Folgerungen lassen sich bei Max und Moritz für
cher sowie auf Lernfreude und Leistungsmotivation im Fördermaßnahmen ziehen?
Sinne einer Sekundärsymptomatik. Max: 3. Klasse, Prozentrang (PR) 8 im Rechtschreib-
ADHS ist ein Phänomen, das sich sehr stark auf aka- test, darunter viele Verstöße gegen die Lauttreue,
demische Leistungen und die Zukunftsperspektiven von PR 12 im Lesen von Pseudowörtern, PR 26 in der
Kindern auswirkt. Es ist gekennzeichnet durch Impulsi- Lesegeschwindigkeit.
vität, Unaufmerksamkeit und motorische Unruhe. Etwa Moritz: 4. Klasse, PR 11 im Rechtschreiben (Feh-
5 % der Kinder sind davon betroffen, mit einem häufige- lerschwerpunkte: Groß- und Kleinschreibung, „e“
ren Auftreten bei Jungen. Ursachen sind im neurobiolo- statt „ä“, Schreibweise von Q/q), PR 32 im Lesen von
gischen Bereich (Neurotransmittersysteme mit Bezug zu Pseudowörtern, PR 10 bei der Lesegeschwindigkeit.
Dopamin), der Verhaltensregulation (insbesondere Frus- 9. In Nachrichtenmagazinen wird häufig von ADHS als
trationstoleranz und zentral exekutive Leistungen) und einer Modeerkrankung gesprochen, da die Diagnose-
der Interaktion mit Eltern und Gleichaltrigen zu sehen, zahlen seit 2000 deutlich gestiegen sind. Wie kam es
bei einer starken neurobiologischen Störungsgrundlage. zu diesem Anstieg? Handelt es sich tatsächlich um eine
Als Folge ist der schulische Wissenserwerb eingeschränkt Modediagnose?
und es besteht ein Risiko für zahlreiche psychische Folge- 10. Jungen werden viel häufiger als Mädchen wegen einer
probleme. Das Störungsbild ist sehr stabil. Pädagogisch- ADHS behandelt. Spiegeln die Behandlungszahlen die
psychologische Maßnahmen zielen auf die Gestaltung tatsächliche Geschlechterverteilung korrekt wider?
der Lernumwelt, die Verbesserung von Selbstregulation 11. Therapeutische Ansätze bei ADHS greifen auf unter-
und Handlungskompetenz und den Einbezug des sozia- schiedlichen Ebenen. Welche Maßnahmen sind in der
len Umfelds sowie die Durchführung von Elterntrainings. Schule besonders relevant?

Literatur
Verständnisfragen
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?1. Kann davon ausgegangen werden, dass Kinder mit
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angeboten werden, bleibt vielfach unklar, ob sie reading ability. Reading and Writing, 15, 683–707.
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587 29

Auffälligkeiten im Erleben und


im Sozialverhalten
Beate Schuster

29.1 Einleitung – 588

29.2 Internalisierende Störungen – 588


29.2.1 Angststörungen – 588
29.2.2 Depression – 592
29.2.3 Sozialer Rückzug – 592
29.2.4 Viktimisierung durch Mobbing – 595

29.3 Externalisierende Störungen – 596


29.3.1 Störungen des Sozialverhaltens – 596
29.3.2 Disziplin- und Erziehungsschwierigkeiten – 597
29.3.3 Prävention und Intervention durch Pädagogische Verhaltensmodifikation und
Klassenführung – 598

Verständnisfragen – 599

Literatur – 599

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019


D. Urhahne, M. Dresel, F. Fischer (Hrsg.), Psychologie für den Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55754-9_29
588 Kapitel 29  Auffälligkeiten im Erleben und im Sozialverhalten

29.1 Einleitung Ebene den Disziplin- und Erziehungsschwierigkeiten in der


Klasse, die nicht nur effektiven Unterricht erschweren, son-
dern auch das Klima in der Gruppe beeinträchtigen.
Wie im „richtigen Leben“ ist auch in Schulklassen „keiner wie
der andere“ – so der Titel eines Klassikers der Persönlichkeits-
psychologie (Asendorpf 1988). Um professionell handeln zu 29.2 Internalisierende Störungen
können, ist es hilfreich, wenn Lehrkräfte auf diese Indivi-
dualität ihrer Schülerinnen und Schüler eingehen. Dies gilt Angststörungen, Depression und sozialer Rückzug gelten als
für die Art der Wissensvermittlung (7 Kap. 17 zu Differen- internalisierende Störungen, da sie nach innen gerichtet sind
zierung und Individualisierung), aber auch für den Umgang (vgl. etwa Martel 2013). Obwohl sie nach außen wenig stö-
29 mit Unterschieden im Verhalten und Erleben. Insbesondere rend sind, wäre es nicht nur aus Humanität erforderlich,
diejenigen Schülerinnen und Schüler, die als auffällig wahrge- diese Schwierigkeiten wahrzunehmen, sondern auch, da die
nommen werden bzw. bei denen eine Störung vorliegt, wie et- schulische Leistungsfähigkeit massiv in Mitleidenschaft ge-
wa die sogenannten internalisierenden Störungen Depression zogen wird (s. z. B. bei Angst: Liew, Lench, Kao Yeh &
und Angst oder die sogenannten externalisierenden Störun- Kwok 2014, bei Depression: Quiroga, Janosz, Bisset & Mo-
gen oppositionelles, aufsässiges oder aggressives Verhalten (s. rin 2013). Außerdem können Folgeprobleme (bei Depression
z. B. Martel 2013), benötigen besondere Aufmerksamkeit. etwa Schulabbruch, Quiroga et al. 2013) bzw. komorbide,
Auffälligkeiten oder Störungen findet man in beträchtli- also mit der Grunderkrankung einhergehende weitere pro-
chem Umfang bei Kindern und Jugendlichen – so identifizier- blematische Auffälligkeiten auftreten wie selbstverletzendes
te z. B. eine vom Robert-Koch-Institut durchgeführte Studie Verhalten (Schuster 2017), oder gar solche, die tatsächlich
zur gesundheitlichen Lage der Kinder und Jugendlichen in lebensgefährlich werden können. So erhöht Depression bei-
Deutschland ca. 20 % Betroffene (Hölling, Schlack, Peter- spielsweise das Risiko für Suizidalität (Avenevoli, Swendsen,
mann, Ravens-Sieberer, Mauz & die KIGGS Study Group He, Burstein & Merikangas 2015), oder auch Essstörungen
2014). Dies entspricht relativ genau dem Ergebnis einer re- (7 Kap. 30; Herpertz-Dahlmann & Scharte 2009; Schuster
präsentativen Untersuchung, die vor einigen Jahren in New 2017), die ihrerseits hohe Mortalitätsraten (Huas et al. 2011)
Haven in USA durchgeführt wurde (Carter, Wagmiller, Gray, aufweisen.
McCarthy, Horwitz & Briggs-Gowan 2010): Hier wurden
21,6 % der Kinder als auffällig diagnostiziert.
Allein schon auf diese Kinder und Jugendlichen einzuge- 29.2.1 Angststörungen
hen, bei denen entsprechend der weit verbreitet eingesetzten
Klassifikationsinstrumente – wie dem von der WHO heraus-
gegebenen ICD-10 (International Classification of Diseases; Angst ist ein emotionaler Zustand, der durch innere An-
Dilling, Mombour & Schmidt 2013; Dilling & Freyberger spannung, Besorgtheit, Nervosität, Unruhe und Furcht vor
2015) oder dem vom Verband amerikanischer Psychiater zukünftigen Ereignissen charakterisiert ist. Wenn Ängs-
entwickelten DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of te ohne echte Gefahr oder überaus heftig bei nur ge-
Mental Disorders; APA 2013) – Störungen vorliegen, ist für ringer Bedrohung auftreten, werden sie als Angststörung
Lehrkräfte herausfordernd. Hinzu kommt, dass sich auch im bezeichnet (Wirtz 2017). In Bezug auf Angst(-störungen)
subklinischen Bereich Auffälligkeiten zeigen und sich ganze muss man zwischen der klinisch-psychologischen und der
Schulklassen durch Disziplin- und Erziehungsschwierigkei- pädagogisch-psychologischen Literatur unterscheiden. In
ten auszeichnen (vgl. Schuster 2013, in Vorb.). klinisch-psychologischen Arbeiten wird u. a. die generalisier-
Für das Verständnis von und den Umgang mit solchen te Angststörung (generalized anxiety disorder, GAD) sowie
Problemen hat die Psychologie mittlerweile eine Vielzahl re- die soziale Angst (social anxiety disorder, SAD) beschrieben
levanter Überlegungen ausgearbeitet und systematisiert. Es (DSM-5; APA 2013); in pädagogisch-psychologischen dage-
lassen sich ganz konkrete Implikationen und Maßnahmen gen die Prüfungsangst (z. B. Liew et al. 2014).1
ableiten, die in der Praxis ausgesprochen hilfreich sind und Verschiedene Studien zeigen, dass Angststörungen gene-
relativ einfach in der Umsetzung – bei potentiell weitrei- rell und Prüfungsangst im Speziellen zugenommen haben.
chender Wirkung. Deren Berücksichtigung kommt nicht nur So wurde etwa ein Anstieg von Angst ganz allgemein be-
Kindern, bei denen die ein oder andere Störung diagnosti- reits für den Zeitraum von den 50er- zu den 80er-Jahren
ziert wurde, zugute, sondern ist im Kern für eine gedeihliche dokumentiert – diesen Studien zufolge zeigten in den 80er-
Entwicklung aller Kinder relevant. Jahren durchschnittliche Personengruppen genau so hohe
Im vorliegenden Kapitel beginne ich zuerst mit Störun- Angstwerte wie in den 50er-Jahren Kinder, die psychiatrisch
gen, die auf den ersten Blick mehr für die betroffenen Kinder behandelt wurden (Twenge 2000). Im Zeitraum von 1980 bis
selbst problematisch sind und die den Unterricht wenig stö- 2010 zeigten dann Szafranski, Barrera und Norton (2012)
ren – und deshalb häufig übersehen werden: Angststörungen, einen Anstieg von Prüfungsangst bei Verwendung desselben
Depression, sozialer Rückzug und Viktimisierung durch Mit-
schülerinnen und Mitschüler. Anschließend wende ich mich 1
Die folgende Darstellung überlappt sich zum Teil mit Ausführungen
den Störungen des Sozialverhaltens zu bzw. auf subklinischer zu einzelnen Störungen in Schuster (2017).
29.2  Internalisierende Störungen
589 29
Instruments bei Studierenden einer texanischen Universi- relativer Entspanntheit, um dann schrittweise das Schwierig-
tät. Ähnlich verzeichneten Holm-Hadulla et al. (2009; zit. in keitsniveau zu erhöhen (s. in Schuster 2017). Ferner kann
Suhr-Dachs & Döpfner 2015) bei Studentenberatungsstellen man mit den Kindern genau über den eben berichteten Sach-
an deutschen Universitäten einen Anstieg des Anteils an Prü- verhalt sprechen, und ihnen das Konzept der aufgabenirre-
fungsängsten als Beratungsanlass von knapp 40 % hin zu über levanten Kognitionen explizit erläutern. Wenn sie verstehen,
50 %. Und Suhr-Dachs und Döpfner (2015) berichten von dass sie durch ihre Sorgengedanken Kapazität von der Auf-
eigenen Daten, denen zufolge ca. jedes fünfte Kind von Prü- gabenbearbeitung abziehen, ist manchmal Einsicht der erste
fungsangst, bei ihnen Leistungsangst genannt, betroffen ist. Schritt zur Besserung.
Erklärt wird dieser Anstieg an Prüfungsangst u. a. mit gestie- Neben solchen Adaptationen von therapeutischen Über-
genem Leistungsdruck und zunehmender Häufigkeit sowie legungen für die pädagogische Arbeit können zum ande-
größerer Wichtigkeit von Prüfungen (Liew et al. 2014). ren im alltäglichen Schulbetrieb genau diejenigen Variablen
Entsprechend und auch weil sich empirisch enge Zusam- (anders) gestaltet werden, von denen bekannt ist, dass sie
menhänge zwischen Prüfungsangst und Leistung gezeigt ha- hinsichtlich des Ausmaßes an erlebter Angst eine zentra-
ben, ist in der wissenschaftlichen Psychologie das Interesse an le Rolle spielen. So gibt es beispielsweise in der Literatur
Prüfungsangstforschung nach einer Phase abflauenden Inter- zu Prüfungsangst weitreichende Überlappungen zu den in
esses seit Ende der 90er erneut gewachsen (Liew et al. 2014). der Motivationspsychologie behandelten Theorien (7 Kap. 11;
Wie bereits in den klassischen Arbeiten der 50er- bzw. 70er- Schuster 2017); entsprechend dienen Änderungen im Un-
Jahren (Mandler & Sarason 1952; Liebert & Morris 1967) terrichtsgeschehen, die die Motivation steigern helfen sollen
wird auch heute noch (Suhr-Dachs & Döpfner 2015) auf die (Lin-Siegler, Dweck & Cohen, 2016), auch der Reduktion von
Unterscheidung zwischen affektiv-physiologischer Kompo- Prüfungsangst.
nente (emotionality) und der kognitiven Sorgenkomponente An dieser Stelle möchte ich auf einige für jede Lehrkraft
(worry) Bezug genommen. Es ist insbesondere letztere, die für sofort und ganz einfach umzusetzende, kleine Maßnahmen
die Leistungsbeeinträchtigung verantwortlich gemacht wird hinweisen: Ein erstes Schlüsselkonzept im Zusammenhang
(Goetz, Preckel, Zeidner & Schleyer, 2008) – und zwar des- mit Prüfungsangst ist wahrgenommene Kontrolle. Je weni-
halb, weil diese Sorgengedanken kognitive Kapazität von der ger Schüler wahrnehmen, solche ausüben zu können, desto
Aufgabenbearbeitung abziehen. größer wird die Angst (z. B. Pekrun & Götz 2006). Kontrolle
Wiewohl für diese Tendenz sich Sorgen zu machen auch umfasst u. a. die beiden Komponenten Beeinflussbarkeit und
eine starke genetische Komponente identifiziert wurde (Bre- Vorhersehbarkeit (Frey & Jonas 2009).
demeier, Beevers & McGeary, 2014), kann ihr sowohl thera- Im deutschen (insb. im bayerischen) Schulsystem gibt
peutisch (z. B. Suhr-Dachs & Döpfner 2015) als auch pädago- es aber eine prototypische Situation, die weder vorherseh-
gisch begegnet werden. Die pädagogische Arbeit von Lehr- bar noch beeinflussbar ist: die sogenannte „Ausfrage“, d. h.
kräften kann sich einerseits an therapeutischen Überlegun- eine kleine mündliche Prüfung zu Beginn der Schulstunde
gen wie z. B. denen zu kognitiver Umstrukturierung oder vor der ganzen Klasse. Im Rahmen einer von mir betreu-
zu systematischer Desensibilisierung anlehnen und sie für ten Abschlussarbeit untersuchten Frau Dyckhoff, Frau Reiser
den Schulkontext adaptieren (Schuster 2017): Kognitive Um- und Frau Trischberger genau diese Situation. Die Ergebnis-
strukturierung beinhaltet etwa Reattributionstrainings, z. B. se zeigten zum einen, dass für über die Hälfte der Schüler
vermehrte Ursachenzuschreibungen auf falsche Lernstrategi- (52,8 %) dieses Ausfragen schlimmer ist als eine schriftliche
en statt auf mangelnde Intelligenz – eine solche Modifikation Prüfung – und das, obwohl sie objektiv weniger zur Note
kann etwa durch gezielte Formulierungen der Lehrkräfte ge- beiträgt als die schriftliche Prüfung. Die Auswertung der qua-
fördert werden (Försterling 1986; Rosentritt-Brunn & Dre- litativen Antworten durch Dyckhoff (2016) illustriert dies auf
sel 2015). Klassisch verhaltenstherapeutisch kann ferner die erschütternde Weise: „Ein sehr bedrückendes Gefühl, plötz-
Lehrkraft spontan richtige Verbalisationen verstärken (z. B. lich seinen Namen zu hören und vor zu gehen. Der Puls
durch zugewandtes Lächeln). Darüber hinaus kann sie auch geht auf gefühlte 380 und man ist aufgeregter als bei einer
bei als dysfunktional wahrgenommenen Erklärungen expli- Schulaufgabe, die viel mehr zählt“ (S. 35). Wie schlimm die
zit sagen, dass sie dies anders sieht und beispielsweise eher Ausfrage für die Kinder ist, zeigen u. a. folgende Statements:
falsche Herangehensweise beim Lernen als ursächlich für die „Meine Stimme hat . . . gezittert . . . Ich hatte . . . Kopfschmer-
Schwierigkeiten betrachtet (Försterling 1986). In ähnlicher zen vor Aufregung“ oder „Ich habe sehr gezittert . . . Mir
Weise kann die Lehrkraft Einfluss auf die Formulierungen wurde im Wechsel kalt und heiß“ oder „Mein Bauch hat sich
von Zielen nehmen und fördern, dass die Schüler von ri- zusammengezogen, mir wurde richtig heiß, und ich glau-
gidem, alternativlosem „Muss“-Denken hin zu flexibleren be, dass ich ganz rot wurde“ oder „Ich hatte Herzrasen und
„Möchte“-Denken gelangen (vgl. Ellis & Dryden 1997). wusste überhaupt nichts mehr. . . . ich hatte das Gefühl, nicht
Die Anwendungen der Überlegung zu systematischem g’scheit (bayrisch für richtig) atmen zu können“ (S. 42). Ver-
Desensibilisieren würde eine Beobachtung der Angsthier- schiedene Korrelationen mit dem Prüfungsangstfragebogen
archie des Kindes sowie der Bedingungen erfordern, unter zeigten ferner, dass für hoch-prüfungsängstliche Schüler die-
denen das Kind vergleichsweise entspannt ist, um dann ge- se Situation noch schrecklicher ist als ohnehin für fast alle.
zielt zunächst Aufgaben vorzugeben, die mit dem geringsten Konsistent damit konnte auch Khanna (2015) empirisch
Ausmaß an Angst behaftet sind – und zwar in Situationen zeigen, dass Studierende unangekündigte Tests deutlich aver-
590 Kapitel 29  Auffälligkeiten im Erleben und im Sozialverhalten

siver fanden als angekündigte. Auch dieser Aspekt spiegelt mögen manche schneller Zeitdruck wahrnehmen als andere
sich sehr schön in den von Dyckhoff ausgewerteten State- – wichtig wäre deshalb, eine ruhige Atmosphäre zu schaffen
ments der Teilnehmer: „Es kam für mich total unerwartet und den Eindruck zu vermitteln, dass alle die Zeit bekom-
und [ich] war deshalb auch sehr aufgeregt“ (Dyckhoff 2016, men, die sie benötigen.
S. 35). Und über drei Viertel (75,7 %) stimmten der Aussa- Weitere Maßnahmen, die eine Lehrkraft ergreifen kann,
ge zu: „Wenn ich weiß, dass ich am nächsten Tag ausgefragt um Prüfungsangst zu reduzieren, sind etwas subtiler bzw. be-
werde, fühle ich mich besser, als wenn ich es nicht weiß“. ziehen sich auf zentrale Korrelate bzw. Ursachen der Angst.
Die praktischen Implikationen solcher Befunde sind äu- So machte etwa Twenge (2000) für den Anstieg an Angst
ßerst einfach umzusetzen: Leistungserhebungen in Schul- zwischen den 50er und 80er Jahren u. a. einen Rückgang an
klassen sollten rechtzeitig und zuverlässig angekündigt wer- sozialer Eingebundenheit verantwortlich. Konsistent damit
29 den. Lehrkräfte mögen einwenden, dass unangekündigte zeigt sich auch in der Motivationspsychologie, dass Kinder,
Tests notwendig seien, um Schülerinnen und Schüler zum re- die sich in der Klasse weniger „ohne Vorbedingungen ange-
gelmäßigen Lernen anzuhalten. Allerdings zeigt u. a. auch die nommen“ wahrnahmen – also etwa von der Lehrkraft nicht
Studie von Khanna (2015), dass die Leistung in der eigent- geschätzt oder von ihren Mitschülern abgelehnt fühlen – nach
lichen (Abschluss-)Prüfung am schlechtesten war, wenn auf Misserfolgen mehr Scham erlebten und nach Erfolgen we-
dem Weg dahin unangekündigte, benotete Tests zum Einsatz niger Stolz (Stoeber, Kempe & Keough 2008). Auch hierfür
kamen. Darüber hinaus gibt es deutlich bessere Alternativen, finden sich in den von Dyckhoff (2016, S. 58) ausgewerte-
um Kinder zu motivieren bzw. zum effektiven Lernen anzu- ten qualitativen Daten eindrückliche Zeugnisse: „Es war mir
leiten (s. ausführliche Darstellung in Schuster 2017). etwas peinlich . . . Alle haben mich angeschaut und ich wur-
Dass Kontrolle im Sinne von Beeinflussbarkeit eine große de noch verlegener. Manche schauten mich höhnisch an und
Rolle bei Prüfungsangst spielt, konnte bereits in den 60er Jah- ein oder zwei Personen lachten auch. Ich bin eine von denen,
ren gezeigt werden. Stotland und Blumenthal (1964) brachten der nicht eingesagt (bayrisch für vorgesagt) wird. . . . Ich wur-
Versuchspersonen dazu zu glauben, dass sie im nachfolgen- de schüchterner.“ Auf das Gefühl, angenommen und ohne
den Test die Reihenfolge der Bearbeitung selbst festlegen Vorbedingungen wertgeschätzt zu werden, können Lehrkräf-
könnten, während der anderen Hälfte gesagt wurde, die Rei- te deutlich massiver Einfluss nehmen als ihnen selbst bewusst
henfolge sei vorgegeben. Selbst eine solch minimale Variation ist (Schuster 2013, in Vorb., 2017).
zeigte Effekte insofern, als bei denjenigen, die wahrnahmen, Wie oben schon ausgeführt, ist ferner die in der Klini-
keine Wahl zu haben, die Angst anstieg (nachweisbar auf schen Psychologie beschriebene generalisierte Angststörung
physiologischer Ebene über das Schwitzen der Finger). Auch (GAD) und die soziale Angst (SAD) besonders relevant. Der
das können Lehrkräfte sehr leicht berücksichtigen: Schon im für das Schulleben relevante Unterschied zwischen Kindern
Vorfeld einer schriftlichen Prüfung können sie Schülerinnen mit generalisierter Angststörung und sozialer Angststörung
und Schüler darauf hinweisen, dass es sinnvoll ist, erst alle ist die Art bzw. der Umfang an Beziehungen zu Mitschü-
Aufgaben zu überfliegen und sie dann in einer selbstgewähl- lern sowie welche Komponenten von Angst im Vordergrund
ten Reihenfolge abzuarbeiten – sodass etwa Aufgaben, von stehen (DSM-5; APA 2013): Bei der generalisierten Angst-
denen man glaubt, sie schnell bzw. leicht bearbeiten zu kön- störung stehen die Sorgengedanken im Vordergrund, bei der
nen, zu Beginn gemacht werden. Ein entsprechender Hinweis sozialen Phobie dagegen die Bewertungsangst, die sich vor
könnte auch schriftlich am Anfang des Aufgabenblattes ste- allem in sozialen Situationen zeigt, in der sich die betreffen-
hen. de Person als den prüfenden Blicken durch andere ausgesetzt
Kontrolle im Sinn von Vorhersehbarkeit und Beeinfluss- wahrnimmt, womit es hier konzeptuelle Überlappungen mit
barkeit kann man auch im Unterricht selbst umsetzen, indem Prüfungsangst gibt.
z. B. zu Anfang eines Schuljahres ein Überblick darüber gege- Bei der sozialen Angst, von der laut DSM-5 (APA 2013)
ben wird, was die Schüler im ganzen Jahr erwartet, wie der ca. 2 % der Kinder betroffen sind, steht ferner explizit die
Stoff aufgeteilt sein wird (Vorhersehbarkeit). Und selbst zu Beziehung zu Peers im Zentrum – es wird betont, dass die
Anfang einer Stunde reduziert eine Ankündigung dessen, was Angst in Kontexten auftreten muss, in denen der Austausch
heute gemacht werden soll, die Angst vor unvorhersehbaren mit Gleichaltrigen im Vordergrund steht. Außerdem wird
„Katastrophen“. Beeinflussbarkeit kann man etwa umsetzen, sie häufig erst im Rahmen von Ausgrenzungsprozessen er-
indem die Schüler eine bestimmte Anzahl Joker bekommen, worben: Ranta, Kaltiala-Heino, Fröjd und Marttunen (2013)
die sie einsetzen können, um genau heute nicht getestet zu konnten in einer Längsschnittstudie nachweisen, dass soge-
werden, oder eine Streichmöglichkeit für die schlechteste nannte relationale Aggression bei Mädchen soziale Phobie
Leistung im Jahr. vorhersagte, aber nicht umgekehrt. Bei dieser Art von Mob-
Relevant ist ferner der bereits in den frühesten Arbeiten bing werden die sozialen Beziehungen des Opfers manipu-
zu Prüfungsangst gefundene Zusammenhang mit Zeitdruck liert. Dies kann z. B. geschehen, indem jemand schnell das
(Sarason, Mandler & Craighill 1952): Da unter solchem nur Thema wechselt, wenn dieses Kind zur Gruppe stößt, damit
die Leistung derjenigen Kinder einbricht, die von Prüfungs- es nichts von dem Schwimmbadbesuch am Nachmittag er-
angst betroffen sind, erscheint es nicht fair, einen solchen in fährt. Oder das Kind wird nicht in die WhatsApp-Gruppe
schriftlichen Tests zu erzeugen. Auch in Situationen, in de- der Klasse aufgenommen. Auch die Beziehung zur Lehrkraft
nen ein Kind vor den anderen etwas mündlich erklären soll, kann manipuliert werden: wenn alle beispielsweise anfangen
29.2  Internalisierende Störungen
591 29
zu reden, wenn das Kind aufgerufen wird, oder das Kind leichter, ihrerseits aus dem „Schwarzer Peter“-Spiel auszustei-
nicht ernst nehmen, wenn es beispielsweise Geld einsammeln gen und weniger wahrzunehmen, die Schule beschädige ihr
soll, kann dies wiederum dazu führen, dass die Lehrkraft Kind absichtlich, aus Unbedarftheit, aus Überforderung, aus
(unbewusst) im Dienste eines reibungslosen Ablaufes dieses Gleichgültigkeit etc. Schon alltagspsychologisch ist unstrit-
Kind seltener aufruft oder ihm seltener Verantwortung über- tig, dass der Aufbau einer vertrauensvollen Zusammenarbeit
trägt. zwischen Eltern und Lehrkräften solchen Kindern mehr hilft
Gegen Mobbing vorzugehen ist demnach eine wichtige als gegenseitige Vorwurfshaltung, und die internalisierenden
Form von Prophylaxe auch für diese Unterform von Angst Kinder sind mehr als andere auf solch vernünftig agieren-
– und diese Verantwortung kann nicht von Lehrkräften auf de Erwachsene angewiesen. Neben der Beziehungsgestaltung
die Eltern abgeschoben werden: weder sollten die Ursachen Eltern–Lehrkräfte ist die Beziehungsgestaltung innerhalb der
für die Schwierigkeiten bei den Eltern gesucht werden, da laut Klasse zentral, also die Arbeit an einem guten Klassenklima
DSM-5 (APA 2013) keine Hinweise auf frühere (also etwa fa- (7 Kap. 17; Schuster 2013, in Vorb., 2017) und an einer Re-
miliäre) psychosoziale Beeinträchtigungen bei den Mädchen duktion von Mobbing.
vorliegen, die diese Form von Angststörungen entwickeln. Über die Alltagspsychologie hinaus ist ferner eine Analyse
Noch sollten Lehrkräfte die Verantwortung für die Lösung auf der Grundlage genuin psychologischen Wissens relevant:
des Problems bei den Eltern sehen. Da die Dynamik häufig ih- Ganz zentral für die Aufrechterhaltung von Angststörun-
ren Ursprung im Schulkontext selbst hat und im Schulkontext gen ist der Sachverhalt, dass Angst typischerweise Vermei-
selbst darauf eingewirkt werden muss, können zuständige dungsverhalten auslöst, und nach der Flucht (als eine der
Lehrkräfte deutlich besser agieren als die außerhalb des Sys- drei Reaktionen fight, flight, freeze in Stresssituationen) aus
tems stehenden Eltern. der Situation typischerweise Entspannung einsetzt – was ein
Die laut DSM-5 (APA 2013) ca. 1 % von generalisier- sehr wirkmächtiger Verstärker ist. In der Verhaltensthera-
ter Angststörung (GAD) betroffenen Kinder werden dagegen pie wird deshalb versucht, diese Vermeidungsreaktion bzw.
typischerweise gemocht (Scharfstein & Beidel 2015), haben Flucht zu unterbinden und Klientinnen und Klienten genau
allerdings etwas weniger Freunde als durchschnittliche Kin- der angstbesetzten Situation auszusetzen. Diese – Reizüber-
der (Scharfstein, Alfano, Beidel & Wong 2011). Schließlich flutung oder im Englischen „flooding“ genannte – Technik
gelten von GAD Betroffene als besonders angepasst, gewis- soll die Lernerfahrung ermöglichen, dass die befürchtete Ka-
senhaft und perfektionistisch und für sie ist eine übergroße tastrophe nicht eintritt (Schuster 2017). Wichtig ist demnach,
Sorge um Pünktlichkeit charakteristisch – ein weiteres Merk- dass die Lehrkraft nicht aus falsch verstandener Empathie mit
mal, das wahrscheinlich macht, dass sich Lehrkräfte genau den betroffenen Kindern diesen erspart, sich der angstaus-
um sie keine Sorgen machen werden. Das ist u. a. deshalb lösenden Situation auszusetzen, sondern im Gegenteil ihnen
problematisch, da bei ihnen häufig komorbid eine Depres- genau solche schafft, ihnen dann aber auch beim Aushalten
sion (7 Abschn. 29.2.2) vorliegt, wobei diese dann bei Kindern und Bewältigen der Situation beisteht.
von alleinerziehenden Eltern nochmal stärker ausgeprägt ist Kinder, die aus sozialer Angst in den sozialen Rückzug
(McLaughlin & King 2015). (7 Abschn. 29.2.3) gehen, müssten demnach in Gruppenakti-
Auch bei den Verhaltensweisen, die einem als externem vitäten gebracht werden – etwa durch häufige Projekte, die
Beobachter an den Eltern bzw. Elternteilen dieser allgemein in von der Lehrkraft gezielt zusammengestellten Gruppen
ängstlichen Kinder unangenehm auffallen mögen, gilt wie erledigt werden müssen. Auch Teilgruppen im Sportunter-
oben bei der SAD, dass Eltern für die Störung vermutlich richt sollten nicht einfach die vorhandenen Cliquen wider-
nicht ursächlich sind: Nelemans et al. (2014) konnten empi- spiegeln, sondern gezielt neu gemischt werden. In ähnlicher
risch in einer über sechs Jahre dauernden Längsschnittstudie Weise sollten Zimmereinteilungen im Schullandheim nicht
zeigen, dass die kritische Haltung der Eltern mehr Folge der von den Kindern selbst vorgenommen werden, und auch die
andauernden Angststörung war, als dass sie bereits zu Be- Gestaltung der Sitzordnung sollte gezielter durch die Lehr-
ginn vorhanden war. Dies kann man leicht nachvollziehen – kraft erfolgen (Schuster 2013, in Vorb.). Ferner darf das Kind
wenn man den Eindruck hat, das Kind steht sich mit seiner mit GAD nicht auf das mündliche Referat verzichten, aber
Störung selbst im Weg, mag man versucht sein, zunehmend man kann ihm in Anlehnung an die auf dem klassischen
verzweifelter Einfluss auf das Kind zu nehmen – was von Konditionieren basierende Technik der systematischen De-
diesem aber als Kritik wahrgenommen wird (vgl. auch Ru- sensibilisierung (s. in Schuster 2017; s. auch Schuster & Fahle
bin, Coplan & Bowker 2009, zu zunehmender Überbehütung 2019) ermöglichen, mit der für ihn subjektiv einfachsten Auf-
von Eltern bei sozial zurückgezogenen Kindern). Nötig wäre gabe zu beginnen, wie etwa einem kurzen Text, oder zu einem
demnach Unterstützung von außen – möglicherweise pro- Thema, mit dem sich das Kind ausgesprochen gut auskennt.
fessionelle Therapie, aber sicher auch im zentralen Umfeld Ferner kann sich eine engagierte Lehrkraft auch indivi-
Schule durch die Lehrkraft. duell in der „Kindersprechstunde“ (Schuster 2013) mit dem
Was aber kann eine Lehrkraft tun? Der allererste Schritt Kind zusammensetzen und die Gedanken besprechen, die
wäre demnach, mit dem beliebten „Schwarzer Peter“-Spiel das Kind in Bezug auf typische angstauslösende Situationen
aufzuhören und die Verantwortung von der Schule auf das hat – dies wäre eine Vorstufe der auch professionell mögli-
Elternhaus abzuschieben. Geht hier die Lehrkraft professio- chen kognitiven Therapie (s. in Schuster 2017; s. auch Schus-
nell voran, gelingt es umgekehrt vermutlich auch den Eltern ter & Fahle 2019).
592 Kapitel 29  Auffälligkeiten im Erleben und im Sozialverhalten

29.2.2 Depression vorragend eingeschätzt wurde (Seifert, Hoffnung & Hoffnung


2000). Wenn in der eigenen Schule also viele Fehltage we-
Wie bereits ausgeführt, findet man komorbid zu Angststö- gen Krankschreibungen vorliegen, sollte dies vielleicht mehr
rungen auch Depression – die beiden Erkrankungen treten Anlass zu Ursachenanalyse sein als lapidarem Feststellen im
also häufig gemeinsam auf (Martel 2013). Alltagspsycholo- Rahmen eines Verwaltungsaktes. Vor allem aber äußert sich
gisch ist erst mal überraschend, dass schon bei 3-Jährigen Depression bei Kindern und Jugendlichen häufig weniger
Depression festgestellt wurde (Bufferd et al. 2014). Für Lehr- in der klischeehaften Traurigkeit als in Gereiztheit (DSM-
kräfte wichtiger: Bei den 7- bis 10-Jährigen wurden schon 5; APA 2013). Dies ist deshalb für die betroffenen Kinder
um die 5 % diagnostiziert (Bettge, Wille, Barkmann, Schulte- verheerend, da es Ärger statt Mitgefühl und deshalb auch re-
Markwort, Ravens-Sieberer & BELLA group 2008) und bei duzierte Bereitschaft zu Hilfe nach sich zieht (Weiner 1980).
29 Jugendlichen sind unterschiedlichen Studien zufolge bis zu Ähnlich wie ADHS (7 Kap. 28; Schuster 2017) gilt auch
30 % (Balázs et al. 2013) betroffen. Bei der Einschätzung der Depression als überdeterminierte Erkrankung, bei der viele
Prävalenzen gilt aber zu beachten, dass die Varianz zwischen verschiedene Ursachenfaktoren eine Rolle spielen. Ein Faktor
Studien enorm ist und stark von der genauen Operationali- liegt aber fast immer vor und dieser ist Stress, bevorzugt in
sierung abhängig. So berichten z. B. Avenevoli, Swendsen, He, der interpersonalen Domäne (Hyde et al. 2008) – entspre-
Burstein & Merikangas (2015) eine Lebenszeitprävalenz von chend geht z. B. Mobbing laut einer großen Zahl empirischer
11 %, wenn standardmäßig nach DSM-IV erhoben wurde; Studien mit Depression einher (Jantzer, Haffner, Partzer &
wurde aber berücksichtigt, ob die Depression die Lebensfüh- Resch 2012).
rung belastete, lagen nur bei 3 % Depression mit ernsthafter Was Lehrkräfte also tun können? Zunächst einmal, wie
Beeinträchtigung vor; bei 8 % lagen moderate Beeinträchti- immer wieder im Zusammenhang mit Auffälligkeiten bei
gungen vor. Kindern und Jugendlichen, gegen Mobbing als zentralen be-
Die typischen Geschlechtseffekte sind erst nach der Pu- teiligten Faktor vorgehen (7 Abschn. 29.2.4) bzw. ganz generell
bertät zu finden, weil bei ursprünglich nahezu gleicher Aus- gegen jedwede Art von Stress. Beides liegt deutlich mehr in
gangslage die Depression insbesondere bei Mädchen mit der ihrer Kontrolle als die vielen Verweise auf Systemvorgaben
Pubertät ansteigt (Bettge et al. 2008). Diese alterskorrelierten nahelegen: bessere Organisation, bessere Arbeit am Mitein-
Geschlechtseffekte werden von Hyde, Mezulis und Abram- ander, bessere Beziehung zu der Lehrkraft selbst – all dies
son (2008) u. a. mit hormonellen Veränderungen erklärt, aber kann die Lehrkraft selbst beeinflussen (konkrete Maßnahmen
auch mit Veränderungen im Körperbewusstsein, und hier im LMU – Leitfaden für Miteinander im Unterricht, Schuster
gibt es wiederum enge Zusammenhänge mit dem Klima in 2013, in Vorb., 2017).
der Klasse (s. in Schuster 2017). Darüber hinaus kann man auch individuell am Kind
Selbst wenn die Prävalenzraten nicht ganz so erschre- selbst ansetzen und etwa verstärken, wenn die gegenteilige
ckend hoch sein sollten wie durch manche Studien nahegelegt Reaktion als sozialer Rückzug gezeigt wurde. Oder man kann
– sie sind doch sehr wahrscheinlich höher als die Alltags- anstreben, bestimmte Gedanken zu verändern. So zeigte z. B.
psychologie wahrnimmt. 3 % ernsthaft mit schweren Beein- bereits eine frühe Arbeit zu Mobbing (Prinstein & Aikins
trächtigungen erkrankte Kinder bedeuten, dass mindestens 2004; zit. in Hyde et al. 2008), dass Mobbing bei Jugendli-
ein Schüler oder eine Schülerin pro Jahrgang an einer schwe- chen nur dann zu Depression führte, wenn ein bestimmter
ren Depression erkrankt ist, und ca. jede(r) Zehnte in klinisch Attributionsstil gegeben war. Mitzuhelfen, den abgelehnten
relevantem Ausmaß. Dies muss man als Lehrkraft deshalb Kindern den Eindruck zu vermitteln, dass nicht sie selbst,
wissen, da die kindliche Depression aus mehreren Gründen sondern möglicherweise doch mehr die Umstände bzw. die
häufig nicht wahrgenommen wird: Ein Merkmal ist etwa aus- Mitschüler oder die mangelnde Klassenführung durch eine
bleibendes Wachstum bzw. ausbleibende Gewichtszunahme Lehrkraft für ihr Schicksal verantwortlich zu machen sind, ist
(DSM-5; APA 2013) – dies kann von Lehrkräften, die täg- demnach Depressionsprophylaxe. Darüber hinaus wäre das
lich in der Klasse sind, leicht übersehen werden. Allerdings auch Prophylaxe von schwerwiegenden Symptomen wie z. B.
könnte etwa eine Vertrauenslehrkraft das bewusster beach- selbstverletzendem Verhalten, die häufig Ausdruck des Ge-
ten – wenn man Kinder länger nicht gesehen hat, ist man fühls sind, verlassen zu sein – niemand interessiere sich für
manchmal sensibler für Veränderungen, oder eben auch für oder unterstütze einen, keinen kümmere es, wie es einem geht
ausbleibende. Natürlich gilt auch bei diesem Phänomen, dass – auch die Lehrkraft nicht (Schuster 2017). Helfen kann dem-
man nicht verabsolutieren darf und nicht bei jedem kleinge- nach eine Lehrkraft alleine schon dadurch, dass sie dem Kind
wachseneren Kind eine Depression unterstellen sollte. glaubwürdig das Gefühl vermittelt, für es da zu sein und es zu
Noch zentraler ist, dass sich kindliche Depression an- unterstützen.
ders äußert als die von Erwachsenen: Bei jüngeren Kindern
dominieren noch häufige Bauch- und Kopfschmerzen (s. in
Petermann 2013). Häufige Krankmeldungen oder Rückzug 29.2.3 Sozialer Rückzug
ins Krankenzimmer der Schule sollten Lehrkräften auffallen.
Insbesondere deshalb, da die Gesundheit der Kinder genau in Sozialer Rückzug wird nicht als eigene klinische Störung auf-
dieser Lebensphase – zumindest noch Stand 2000 – als her- gefasst, sondern als ein Symptom, welches als eines von meh-
29.2  Internalisierende Störungen
593 29
gorisierte, zeichneten sich durch erhöhte Aggressivität aus.
. Tabelle 29.1 Typologie sozialen Rückzugs (nach Asendorpf
1990) Die als ungesellig bezeichneten hatten eine niedrige Annähe-
rungsmotivation und nicht notwendig gleichzeitig eine hohe
Annäherungstendenz Vermeidungsmotivation; sie ignorierten ganz einfach andere.
 C Klassisch schüchterne Kinder schließlich sind laut Asen-
dorpf durch einen Konflikt zwischen Annäherung und Ver-
Vermeidungs-  Ungesellige Kinder Kontaktfreudige Kinder
tendenz (ignorierendes (Annäherungs-
meidung charakterisiert – mit der Folge, dass sie ambivalentes
Verhalten) verhalten) Verhalten zeigen, welches einen Kompromiss darstellt, wie et-
wa paralleles Spielen: Sie gehen nicht weg bzw. stellen sich
C Vermeidende Kinder Schüchterne Kinder dazu, aber sie machen auch nicht mit. Die von ihnen gezeig-
(aggressives (ambivalentes Kompro-
Verhalten) missverhalten)
te Verhaltenshemmung (inhibition) zeigt große konzeptuelle
Überlappungen mit sozialer Angst (Asendorpf, Denissen &
van Aken 2008; Rubin et al. 2009).
Diese Parallelen zu Angststörungen zeigen sich auch in ei-
reren anderen im Rahmen mehrerer klinischer Störungen ner Facette, die dringend pädagogisches Handeln erfordert:
auftritt – neben Depression und Angst etwa auch bei Per- Wie alle Angststörungen ist die Auffälligkeit unbehandelt
sönlichkeitsstörungen oder Schizophrenie (Rubin et al. 2009). deshalb stabil, da Rückzug die Angst reduziert und die nach
Aus entwicklungs- und pädagogisch-psychologischer Pers- Flucht (Ausweichen) einsetzende Entspannung als mächti-
pektive wird ferner betont, dass die von sozialem Rückzug ger Verstärker fungiert (7 Abschn. 29.2.1). Dies ist auch der
betroffene Gruppe sehr heterogen ist – es gibt also verschie- Grund, warum überprotektives Erziehungsverhalten durch
dene Untergruppen von zurückgezogenen Kindern. Hinzu Eltern (u. a. als Reaktion auf die Probleme der Kinder) dys-
kommt, dass man nicht immer leicht unterscheiden kann, funktional wirken kann (Rubin et al. 2009). Analog kann es zu
ob die Kinder nun zurückgezogen sind oder von den Peers falsch verstandenem Schutz durch Lehrkräfte kommen, die
zurückgewiesen (abgelehnt) werden und dass sich Rückzug den Kindern den Rückzug erlauben statt ihnen beizustehen,
und Zurückweisung gegenseitig aufschaukeln können (Rubin die angstauslösende Situation bewältigen zu können. Deshalb
et al. 2009). muss dringend von außen interveniert werden, um den Teu-
Was die Untergruppen der Zurückgezogenen anbelangt, felskreis zu durchbrechen. Diese spezielle Form der sozialen
hat Asendorpf bereits in den 80er Jahren (Asendorpf 1990; Angst hat nämlich Kosten, wie etwa mangelnde Lerngelegen-
Rubin et al. 2009) darauf hingewiesen, dass hinter sozia- heiten. Im Längsschnitt zeigt sich als eine Folge beispielswei-
lem Rückzug ganz verschiedene Dynamiken stehen können se, dass insbesondere bei Jungen romantische Beziehungen
(. Tab. 29.1). So identifizierte Asendorpf bei Kindern eine erst zu einem späteren Zeitpunkt als bei Gleichaltrigen üblich
Gruppe, die Zeit schlicht konstruktiv in solitärem Spiel ver- eingegangen werden. Ebenso ist der Beginn der ersten beruf-
brachte. Diese Art des Zeitvertreibs ging nicht mit mangeln- lichen Tätigkeit verzögert (Asendorpf et al. 2008).
der sozialer Kompetenz einher, dafür aber etwa mit größe- Obwohl bei diesen vier Untergruppen distinkte Prozes-
rem physikalischem Wissen. In ähnlicher Weise wurde auch se zu beobachten sind und entsprechend in der Intervention
bei Erwachsenen die Fähigkeit, sich allein beschäftigen zu auf die verschiedenen Dynamiken eingegangen werden soll-
können (Rubin et al. 2009), als Indikator für psychisches te, ist es in der Praxis nicht immer leicht, diese Untergruppen
Wohlergehen gesehen. Da ferner eine Untergruppe von Kin- zu unterscheiden. So ging etwa bei Bowker, Markovic, Cogs-
dern, die bei Asendorpf (1990) dadurch aufgefallen waren, well und Raja (2012) das Ausmaß an Schüchternheit, aber
dass sie häufig solitäres Spiel zeigten, in anderen Situationen ebenso das an Ungeselligkeit als auch das an Vermeidung
aber auch soziales Spiel an den Tag legten, sollte man also in jeweils vergleichbarem Umfang mit sozialem Ausschluss
Zurückgezogenheit nicht per se problematisieren, sondern einher. Nach der Beschreibung von Asendorpf würden aber
die zugrundeliegende Motivation bzw. die zugrundeliegen- bei allen drei Untergruppen zwar z. T. die gleichen, z. T. aber
den Prozesse genauer betrachten. zusätzlich gänzlich andere, für die Untergruppen spezifische
Auf Grundlage der zugrundeliegenden Motivation unter- Interventionsmaßnahmen folgen müssen: So fanden z. B.
schied Asendorpf (1990) dann sogenannte schüchterne (shy) Bowker et al. (2012), dass bei Schüchternen ein erhöhtes Aus-
Kinder von solchen, die vermeidend (peer avoidant) oder un- maß an Aggressivität protektiv gegen Peer-Viktimisierung
gesellig (unsociable) sind (. Tab. 29.1). Für seine Taxonomie wirkte. Schüchterne Kinder (insbesondere Mädchen) müss-
griff Asendorpf auf eine Unterscheidung zurück, die in der ten demnach angeleitet werden, assertiver, also selbstbehaup-
Motivationspsychologie eine jahrzehntelange Tradition hat tender, aufzutreten, wenn Viktimisierung vermieden werden
(Miller 1944; Atkinson 1957) und gerade aktuell wieder sehr soll, und nicht weiter in ihrem sozial erwünschten extrem
viel Aufmerksamkeit erhält, nämlich Annäherung (approach) unaggressiven Verhalten verstärkt werden (7 Abschn. 29.2.4).
vs. Vermeidung (avoidance) (s. in Schuster 2017). Asendorpf Umgekehrt sieht die Strategie dagegen bei den Vermeiden-
kategorisierte unter „approach“ Kinder mit hoher Annähe- den aus, die bei Asendorpf (1990) als aggressiver beschrieben
rung und niedriger Vermeidung – diese erwiesen sich als wurden. Wie unterschiedlich in ihrem zugrundeliegenden
kontaktfreudig. Kinder mit hoher Vermeidung und niedriger Verhaltensmuster Untergruppen sein können und welche
Annäherung, die Asendorpf (1990) unter „avoidance“ kate- Kompetenzen man ihnen beibringen bzw. in welchem Ver-
594 Kapitel 29  Auffälligkeiten im Erleben und im Sozialverhalten

halten man sie verstärken sollte, zeigt eine von mir in den erhöhter Aggressivität) eher weniger aggressive, mehr proso-
90er-Jahren durchgeführte Studie mithilfe des sogenannten ziale, also insgesamt kooperativere Reaktionen.
Gefangenendilemmas (Schuster 1999). Eine weitere hoch relevante Differenzierung haben Ru-
bin et al. (2009) ausgeführt. Sie zeigen auf, dass Rückzug, der
Studie: Zu brav oder zu böse? Mobbing-Opfer, Abgelehn- mit einer Angststörung im Zusammenhang steht, ganz an-
te und normale Kinder im sogenannten Gefangenendi- dere interpersonale Konsequenzen hat als ein Rückzug, der
lemma im Zusammenhang mit Depression steht. Beim ersteren sind
In dem klassischen spieltheoretischen Paradigma „Gefange- Mitleid und soziale Angebote durch die Peers wahrschein-
nendilemma“ haben die Kooperationspartner die Wahl zwi- licher, während im Fall von sozialem Rückzug im Zusam-
schen einer kooperativen oder kompetitiven Option. Im Pa- menhang mit Depression sogar offene Ablehnung eher vor-
29 radigma hängt das Ergebnis des einzelnen von der Wahl des kommt. Die Gründe für diese sozialen Reaktionen sind nicht
anderen ab – eine Entsprechung hat das Paradigma im rea- klar: Rubin et al. (2009) spekulieren, dass das Zusammensein
len Leben beispielsweise im Schwimmbad: Man hat bei einem mit Depressiven weniger angenehm oder erfreulich ist bzw.
entgegenkommenden Schwimmer die Wahl, stur weiter zu dass ihnen für ihre Schwierigkeiten höhere eigene Kontrolle
schwimmen (kompetitiv) oder etwas auszuweichen und sich zu zugeschrieben wird als bei den Angstgetriebenen (vgl. Ge-
koordinieren (kooperativ). reiztheit bei Depression 7 Abschn. 29.2.2). Hierzu passt, dass
In der vorliegenden Studie (Schuster 1999) wurden mithil- bei Ladd, Kochenderfer-Ladd, Egum, Kochel und McConnell
fe eines Szenarios, das ein Spiel mit auszuzahlenden Beträgen (2011) sowohl die ungeselligen als auch die ängstlich-zurück-
vorgab, die kooperativen und kompetitiven Wahlen von Kin- gezogenen Kinder weniger akzeptiert waren als die durch-
dern verglichen, die (1) viktimisiert und abgelehnt waren oder schnittlichen Vergleichskinder. Allerdings hatten Ängstlich-
(2) nur abgelehnt, aber nicht viktimisiert, oder (3) weder vikti- Zurückgezogene im Vergleich zu den ungeselligen, die laut
misiert noch abgelehnt. Asendorpf schlicht keine große soziale Annäherungsmotiva-
Während die Viktimisierten durchgängig kooperativ waren tion, aber keine Angst haben, weniger Freundschaften.
(„zu brav“), waren die Nicht-Viktimisierten, aber Abgelehnten Vor dem Hintergrund solcher sozialen Reaktionen (Ab-
durchgängig zu kompetitiv („zu böse“). Die Gruppe der Kinder, lehnung bei Depression) wird es eine Aufgabe der Lehrkraft,
die weder abgelehnt noch viktimisiert waren, zeigten situati- hier modifizierend einzugreifen – nicht nur aus Humani-
onsabhängig mal das eine, mal das andere Verhalten. tät, sondern auch aus Professionalität, da Persönlichkeits-
entwicklung explizite Aufgabe der Schule ist. Was kann sie
Diese in der Studie mit dem Gefangenendilemma gefun- tun? Zunächst einmal kann sie am Klima der Klasse arbei-
denen Strategien und ihre Folgen kann man sich sehr gut ten (7 Kap. 18; Schuster 2013). Die zentrale Bedeutung dieses
in der Schwimmbad-Analogie veranschaulichen. Die Koope- Konzepts gerade für die „Schwächeren“ zeigte z. B. Gazelle
rativen weichen zuverlässig den Entgegenkommenden aus – (2006) in einer Beobachtungsstudie. Als Indikatoren für po-
mit der Zeit merken dies die anderen und sehen ihrerseits sitives Klima dienten etwa liebenswürdige bzw. umgängliche
keinerlei Anlass mehr, auszuweichen. Das Nachsehen haben Unterhaltungen, Lachen, aus dem Häuschen sein, angeregter
also die kooperativen Schwimmerinnen und Schwimmer. Die und positiver Ausdruck der Lehrkraft gegenüber den Kin-
Kompetitiven dagegen ziehen stur ihre Bahn. Damit errei- dern. Negatives Klima war durch feindselige und bestrafende
chen sie, dass alle anderen ihnen ausweichen – sie aber nicht Atmosphäre charakterisiert – die Lehrkraft zeigte beispiels-
mögen. Durchschnittliche Personen, die nicht durch sozia- weise Ärger oder schrie herum. Ein weiterer Indikator war
le Probleme auffallen, zeigen dagegen flexibleres Verhalten, ineffiziente Klassenführung. Die Analysen erbrachten eine
indem sie mal kooperativ, mal kompetitiv sind, u. a. in Reak- zentrale Interaktion: Ängstliche Kinder hatten in einer Klas-
tion auf das Verhalten der anderen. Nahelegen müsste man se mit schlechtem Klima ein signifikant höheres Risiko für
demnach die Strategie, die im Englischen „tit-for-tat-plus- Ablehnung im Vergleich zu einer Klasse mit gutem Klima,
one“ und auf Deutsch: „Wie du mir, so ich dir – plus eins“ während bei nicht-ängstlichen Kindern das Risiko nicht vom
genannt wird (Schuster 1999). Mit „plus eins“ ist gemeint, zu- Klima abhing. Demnach kann die Lehrkraft an allererster
erst eine kooperative Vorgabe machen, dann aber „tit-for-tat“ Stelle an ihrem eigenen professionellen Verhalten ansetzen:
– „Wie du mir, so ich dir“ weitermachen: Weicht der andere Wärme statt Feindseligkeit zeigen, Überkontrolle ist genau-
nicht aus, beantwortet er oder sie also die kooperative Vorga- so zu vermeiden wie zu wenig Kontrolle (Schuster 2013, in
be kompetitiv, muss einmal eine kompetitive Reaktion, also Vorb., für praxisnahe Analysen und Vorschläge).
nicht ausweichen, erfolgen, um zu zeigen, dass man auch an- Darüber hinaus kann sich die Lehrkraft, wie im Zusam-
ders kann. Um die Kriegslogik zu durchbrechen, muss nach menhang mit der Darstellung der Arbeiten zu Depression aus-
diesem kompetitiven Zug dann wieder – plus eins – eine ko- geführt, genau diesen Kindern zuwenden, da sie stärker zu-
operative Vorgabe gemacht werden (Schuster 1999). rückgewiesen werden als die aus Angst sozial-zurückgezoge-
Demnach müsste man bei den Kindern, bei denen man nen Schülerinnen und Schüler. Für alle Mitglieder der Klasse
sozialen Rückzug beobachtet, unterschiedliche Reaktionen hilfreich, aber für diese spezielle Gruppe von Kindern beson-
nahelegen: den Schüchternen eher aggressiveres Auftreten, ders relevant ist, dass sich die Lehrkraft bemühen kann, be-
da dies protektiv ist, wobei assertiv das treffendere Wort wä- wusst auf den Stresspegel Einfluss zu nehmen – G8, Lehrplan-
re, und den Vermeidenden (laut Asendorpf diejenigen mit vorgaben oder andere Barrieren hin oder her. Tang, Beaton,
29.2  Internalisierende Störungen
595 29
Schulkin, Hall und Schmidt (2014) zeigten, dass bei schüch- 4 In Schädigungsabsicht
ternen Kindern der Cortisolspiegel – ein Hormon, das unter 4 Mit Stärkeungleichgewicht – Opfer kann sich gegen-
Stress ausgeschüttet wird – vorhersagte, ob sie in den sozialen über Mächtigeren nicht wehren
Rückzug gehen oder nicht. Fängt eine Lehrkraft erst einmal 4 In verschiedenen Formen: verbal, körperlich, relational;
an, sich zu fragen, wo ihre eigene Unklarheit bzw. mangeln- Cybermobbing
de Organisiertheit und fehlende Verlässlichkeit Stress produ- 4 Empirisch zeigt sich ferner: Mobbing konzentriert sich
ziert, findet sie Ansatzpunkte zur Stressreduktion. typischerweise auf ein bis zwei Opfer
In der neueren Literatur wird ferner eine weitere Gruppe
beschrieben, bei der der soziale Rückzug besonders extre-
me Formen angenommen hat und die sowohl für sich allein Wie schon verschiedentlich erwähnt, besteht der ers-
genommen auftritt als auch im Zusammenhang mit ande- te Schritt der Mobbingprophylaxe bzw. Intervention gegen
ren im DSM-5 (APA 2013) aufgenommenen Störungen (etwa Mobbing in dem eigenen professionellen Lehrkraftverhalten.
Computerspiel- und Internetabhängigkeit): Unter dem japa- Beispiele wären Vermeidung von feindseligem Ton oder auto-
nischen Begriff „hikikomori“ wird das Phänomen beschrie- ritativer Erziehungs-/Führungsstil statt Arbeit auf Machtba-
ben, dass nicht nur Sozialkontakte eingeschränkt werden, sis, also Lenkung mit Wärme und Respekt vor der Autonomie
sondern auch Schulbesuch oder Anwesenheit am Arbeits- der Kinder verbinden. Dies wirkt einerseits als Modell für den
platz (Li & Wong 2015). Wie Li und Wong (2015b) weiter im Klassenzimmer gewünschten Umgang miteinander und
ausführen, ist dieses Phänomen nicht auf asiatische Län- trägt zu einem freundlicheren Klima bei.
der beschränkt, aber interessanterweise gibt es dort deutlich Zum anderen reduziert ein solcher Führungsstil Diszi-
mehr aktuelle Forschung zu diesem Phänomen. Bislang wird plinprobleme. Es liegen überzeugende empirische Befunde
es wohl noch zu wenig als die Aufgabe von Schulen gesehen, vor, die nahelegen, dass solche Probleme einen Nährboden
dass es in ihrer Verantwortung liegt, sich um solche Schüle- für Mobbing darstellen. Neben Aufmerksamkeit für sein ei-
rinnen und Schülern auch zu kümmern und zu analysieren, genes Modellverhalten besteht der zweite Schritt in der Inter-
was sie selbst beitragen können, um solch unheilvolle Ent- vention bei sozialem Fehlverhalten entsprechend der Pädago-
wicklungen zu verhindern. gischen Verhaltensmodifikation (7 Abschn. 29.3.3).
Schließlich haben verschiedene Autoren wie etwa Ladd Im dritten Schritt sollte die soziale Situation der Klas-
(2006) Zusammenhänge zwischen Rückzug und Viktimi- se gezielt gestaltet werden: Die informelle Macht darf nicht
sierung, also Mobbing, gezeigt (Ladd, Kochenderfer-Ladd, ungleich verteilt werden. Alle müssen gleichermaßen Raum,
Eggum, Kochel & McConnell 2011). In ähnlicher Weise do- Sichtbarkeit und Einflussmöglichkeiten bekommen. Errei-
kumentierten Scott, Shell und Gazelle (2015), dass sozial chen kann man dies u. a. dadurch, dass man alle Schülerinnen
ängstliche Kinder mehr „Peer-Stress“ erleben. Eine Implika- und Schüler annähernd gleich häufig aufruft und dann war-
tion wäre deshalb, im Interesse dieser Kinder, aber auch in tet. Mit der Zeit lernen sie diese Situation zu bewältigen und
dem aller anderen, nachdrücklicher gegen Mobbing vorzuge- können zügiger und kenntnisreicher antworten; detailliertere
hen. Der nächste Abschnitt fasst deshalb zentrale Einsichten Ausführungen hierzu s. in Schuster (2013). Auch sollte ihnen
zu Mobbing zusammen und referiert ausgewählte Möglich- annähernd gleich häufig Verantwortung für Aufgaben gege-
keiten, die der Lehrkraft selbst zur Verfügung stehen, um das ben werden. Das Zusammenfinden von Konstellationen sollte
Ausmaß an Mobbing in ihrer Klasse zu reduzieren. entweder selbst gestaltet oder durch solche Prozesse wie etwa
per Los zustande kommen, die verhindern, dass immer einige
wenige, besonders Machtmotivierte Einfluss darauf nehmen
29.2.4 Viktimisierung durch Mobbing können, wer mit wem zusammenarbeitet, oder die Sitzord-
nung sollte bewusst gestaltet bzw. geändert werden.
Wirklich hilfreich ist auch mit den Kindern individuell zu
An anderer Stelle (Schuster 2013, in Vorb., 2017) habe ich
reden und zu versuchen, von ihnen selbst zu erfahren, was
ausführlich Analysen und vor allem sehr praktische Interven-
ihnen aus ihrer eigenen Sicht guttun würde. Die Kinder selbst
tionsmöglichkeiten zu Mobbing vorgestellt (LMU – Leitfaden
wissen nur zu häufig, welch gut gemeinte Intervention für sie
für Miteinander im Unterricht). Um zu diesem Text nicht zu
selbst hohe Kosten mit sich bringen bzw. umgekehrt, welch
redundant zu werden, werden hier zunächst nur einige der
kleine Maßnahme ihnen großen Nutzen bringen würde.
wichtigsten Überlegungen und Maßnahmen zusammenge-
Neben Ernstnehmen und Befragen der betroffenen Kin-
fasst, ohne jeweils auf die Quelle zu verweisen. Im Anschluss
der, jedoch nicht vor der Gruppe, hilft es ferner, sich mehr
werden noch einige ergänzende, weiterführende Überlegun-
darum zu bemühen, selbst ein Verständnis der Dynamik zu
gen vorgestellt. Vorab aber kurz die gängigen Kriterien, die
entwickeln und unter die Oberfläche zu schauen. So betont
Mobbing konstituieren:
etwa die aktuelle Forschung zunehmend die dunkle Seite der
Peer-Popularität und greift einen eigentlich schon früh in
Kriterien für Mobbing (Schuster 2013): der Mobbing-Forschung thematisierten Gedanken auf, näm-
4 Negative Handlungen lich, dass nur Peers, die einen gewissen Status haben, die
4 Systematisch, d. h. wiederholt über einen längeren Gruppe so manipulieren können, dass die anderen beim Aus-
Zeitraum schluss mitmachen bzw. sich nicht mehr trauen, mit dem
596 Kapitel 29  Auffälligkeiten im Erleben und im Sozialverhalten

ausgeschlossenen Kind etwas zu tun zu haben. Ferner gibt mit der sogenannten Conduct Disorder (CD; oft etwas un-
es Schulkulturen, in denen die Kinder stärker um ihren Sta- scharf als Verhaltensstörung übersetzt) findet man häufig,
tus in der Gruppe kämpfen als in anderen, da mit dem Status dass bei ihnen früher im Kindesalter ODD vorgelegen hatte
in manchen Kulturen mehr Vorteile einhergehen als in an- (DSM-5; APA 2013) – allerdings nicht bei allen. Rechtzeitige
deren. Wenn etwa Lehrkräfte selbst sich an den „Coolen“ Interventionen können die Abwärtsspirale bremsen – ohne
orientieren, wird der Kampf um den Status verstärkt. Neue- Intervention dagegen ist die Prognose verheerend (Fairchild,
re Forschung zeigt, dass in der Tat solche Schülerinnen und van Goozen, Calder & Goodyer 2013). Auf der Basis eines Li-
Schüler, denen der Status besonders wichtig ist, bereit sind, teraturüberblicks schließen die Autoren, dass Verhaltensstö-
dafür akademische Nachteile auf sich zu nehmen. So bevor- rungen im Jugendalter sehr schlechte Prognosen aufweisen.
zugten etwa Schülerinnen und Schüler, die in den Konflikt Dies ist von zentraler Bedeutung, da eine Conduct Disorder
29 gebracht worden waren, Mitschüler in die eigene Gruppe zu kriminelles Verhalten wie Zerstörung von Eigentum, Dieb-
wählen, die helfen könnten, Status in der Gruppe zu gewin- stahl und Betrug sowie Aggression gegenüber Menschen und
nen, über diejenigen, die inhaltlich mithelfen könnten (s. in Tieren einschließt, was im Stadium des ODD noch nicht ge-
Schuster 2017). Mobbing-Prophylaxe dient demnach nicht geben war (DSM-5; APA 2013).
nur dem Interesse, zunehmend extremere Ausgrenzung zu Das DSM-5 beschreibt Kinder mit ODD-Störung als häu-
verhindern, sondern auch dem Ziel, Schülerinnen und Schü- fig bzw. persistierend reizbar, wütend, nachtragend, streit-
lern sachorientiertes Arbeiten beizubringen. und rachsüchtig. Die Kinder geraten leicht in Streit mit Au-
Hierzu darf man die Gruppendynamik nicht manchen toritäten, verweigern die an sie herangetragenen Bitten bzw.
Kindern und deren Eigeninteressen verfolgenden Eltern al- Aufgaben, verärgern andere und machen dann diese für Feh-
lein überlassen, sondern muss sie selbst als professionelle ler bzw. Fehlverhalten verantwortlich, wobei das Verhalten
Lehrkraft gestalten. Bereits Mead hat in den 30er-Jahren da- nur in einem einzigen Kontext, etwa nur zuhause oder nur in
rauf hingewiesen, dass für eine gesunde Persönlichkeitsent- der Schule, auftreten kann, oder auch in mehreren. Je mehr
wicklung die Teilnahme an organisierter, gemeinschaftlicher Kontexte es sind, etwa auch im Sportverein und mit den
Aktivität mit Peers erforderlich sei (Rubin et al. 2009). Lehr- Nachbarskindern, desto schwerwiegender wird die Störung
kräfte sollten demnach das Zusammensein aktiv gestalten eingestuft. Von als normal empfundenem oppositionellem
und es nicht dem Zufall oder der vorhandenen Dynamik Verhalten wird die Störung u. a. durch die Häufigkeit ab-
überlassen (Schuster 2013, in Vorb.). gegrenzt, mit der solches Verhalten auftritt, und durch die
fehlende Einsicht: Sie nehmen ihr Verhalten als Reaktion
auf unangemessenes Verhalten bzw. Anliegen anderer ihnen
29.3 Externalisierende Störungen gegenüber wahr. Das DSM-5 weist diesbezüglich allerdings
explizit darauf hin, dass der Realitätsgehalt dieser Wahrneh-
mung von außen erst mal schwer zu beurteilen ist, da diese
29.3.1 Störungen des Sozialverhaltens Kinder entsprechende Erfahrungen, etwa mit harschem elter-
lichen Erziehungsverhalten (hostile parenting; möglicherwei-
Während im vorherigen Abschnitt Beispiele für sogenann- se analog auch hostile teaching) gemacht haben können.
te internalisierende Störungen ausgearbeitet wurden, werden So wenig sympathisch solche Kinder erscheinen mögen
nun externalisierende Störungen behandelt, die den Unter- – drei weitere Informationen sollten vielleicht genügen, doch
richt und das Miteinander sehr viel offensichtlicher beein- Empathie für sie zu entwickeln und gleichzeitig den Wunsch,
trächtigen und deshalb auch eher von Lehrkräften wahr- ihnen gegenüber professionell zu agieren: (1) ODD tritt eher
genommen und adressiert werden. Was im Rahmen von in als zerrüttet charakterisierten Familien mit wechselnden
Erziehungs- und Disziplinschwierigkeiten als Verhaltenswei- Bezugspersonen und inkonsistentem, harschem oder ver-
sen von vielen Schülerinnen und Schülern in Klassen mit nachlässigenden Erziehungsverhalten auf und (2) geht mit
suboptimaler Klassenführung zu beobachten ist, wird auch in erhöhter Suizidalität einher (DSM-5; APA 2013). Schließlich
den beiden großen klinisch-psychologischen Klassifikations- (3) sollte auch der Hinweis auf ein höheres Risiko für Sub-
systemen psychischer Störungen als bei manchen Individuen stanzmissbrauch Anlass zu Hilfebemühungen geben bzw. wie
besonders ausgeprägt beschrieben. oben bereits ausgeführt, rutschen sie, wenn ihnen niemand
Das in Europa häufig eingesetzte Klassifikationssystem hilft, zunehmend in die Kriminalität ab.
der WHO, das ICD-10, unterscheidet zwischen verschiede- Was kann man als Lehrkraft tun? Herangehensweisen, die
nen Störungen des Sozialverhaltens, wobei schulisch relevant auf verhaltenstherapeutischen Überlegungen basieren, zeigen
die Unterkategorie Störung des Sozialverhaltens mit opposi- einer Metaanalyse zufolge die größten Effekte und sollten des-
tionellem, aufsässigem Verhalten ist. Im DSM-5 wird diese halb als erstes versucht werden (first-line treatment; Comer,
Störung Oppositional Defiant Disorder (ODD) genannt, wo- Chow, Chan, Cooper-Vince & Wilson 2013). Wie eine solche
bei defiant als aufsässig oder auch trotzig, ungehorsam über- verhaltenstherapeutische Herangehensweise konkret ausse-
setzt werden kann. Diese Art von Verhaltensweisen finden hen kann, wird bei Disziplinschwierigkeiten in allgemeiner
sich häufig komorbid mit ADHS (DSM-5; APA 2013), aber Form dargestellt.
eben auch als eigenständige Störung insbesondere bei jünge- Dabei darf im verhaltenstherapeutischen Ansatz nicht
ren Kindern (ICD-10; Dilling et al. 2013); bei Jugendlichen zu schematisch mit Belohnungen und Bestrafungen gearbei-
29.3  Externalisierende Störungen
597 29
tet werden. Vielmehr kommt der Beziehungsgestaltung eine auch ihren Mitschülern. Martella und Marchand-Martella
zentrale Rolle zu, ob die Vergabe von Verstärkern etwas be- (2015) haben Studien zusammengetragen, die zeigen, dass
wirkt. Kazdin und Durbin (2012) konnten zeigen, dass der es eine positive Korrelation zwischen Verhaltensproblemen
Therapieerfolg mittels kognitiver Verhaltenstherapie in Kom- und niedriger akademischer Leistung gibt bzw. dass in Klas-
bination mit Psychoedukation bei den Eltern bei solchen sen mit hoher Leistung weniger Verhaltensprobleme zu ver-
Kindern eng mit der Beziehung zwischen Therapeut und Kli- zeichnen sind. Ihnen zufolge entstehen häufig Teufelskreise:
ent zusammenhängt. Erfasst wurde die Beziehung sowohl Schülerinnen und Schüler erleben mit zunehmenden Misser-
aus der Perspektive des Kindes als auch der der Therapeu- folgen zunehmend negativere Emotionen, die wiederum zu
ten, ebenso wie Therapieerfolg sowohl aus den Augen der mehr unerwünschtem Verhalten führen. „Die Schüler kom-
Therapeuten, Eltern, aber auch des Kindes selbst. Je besser men nicht in die Schule, um dort zu hassen. Wenn die Schüler
die Beziehungsqualität, z. B. je stärker das Kind wahrnahm, mehr Versagen als Erfolg erfahren, lernen sie vielfach, die
im Therapeuten einen Verbündeten zu haben, der auf der Schule zu hassen. . . . Je mehr die Schüler das Klassenzimmer
Seite des Kindes ist und der es mag, Zeit mit dem Kind als aversiv empfinden, desto wahrscheinlicher werden sie un-
zu verbringen, desto ausgeprägter war die therapieinduzier- erwünschte Verhaltensweisen zeigen.“ (Übers. von Martella
te Veränderung. & Marchand-Martella 2015, S. 242).
Wie verschiedentlich betont, muss deshalb die Lehrkraft Es liegt demnach im Interesse aller, solche Dynamiken
dringend an der Qualität der Beziehung zu ihren (Problem-) zu unterbrechen. Aufgrund dieser zentralen Bedeutung sind
Schülerinnen und (Problem-)Schülern arbeiten, wenn ihre in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Interventions-
verhaltenstherapeutischen Bemühungen Früchte tragen sol- Programmen entstanden, die sich bemühen, an Schulen die
len. Das heißt nicht, dass nicht auch kindliche Merkmale für solche Erziehungsprobleme notwendigen Kompetenzen
beeinflussen, wie gut die Beziehung wird (Kazdin & Durbin zu vermitteln (Dufrene, Lestremau & Zoder-Martell 2014;
2012). Im professionellen Kontext sollten allerdings mög- Martella & Marchand-Martella 2015; McDaniel & Flower
lichst auch diejenigen Kinder, bei denen der Lehrkraft ein 2015).
solches Beziehungsangebot schwerer fällt, dennoch eines er- Ein solches Programm ist etwa das von Sugai und Hor-
halten. Das Kind sollte wahrnehmen, dass die Lehrkraft eine ner (2006) entwickelte School-Wide Positive Behavioral In-
Verbündete des Kindes ist, die das Kind mag. Nicht nur hu- terventions and Supports-Programm (SWPBIS; 7 www.pbis.
manitäre, sondern auch rein professionelle Gründe legen das org), welches in den USA bereits in vielen Schulen implemen-
nahe: Wie oben bereits angesprochen, ist das Risiko für ein tiert wurde. Bradshaw, Waasdorp und Leaf (2012) zeigten
Abrutschen in die Kriminalität bei solchen Verhaltensauffäl- zunächst, dass mit diesem Programm über vier Jahre hinweg
ligkeiten erhöht – und die aus Steuergeld bezahlte Lehrkraft in der Wahrnehmung der Lehrkräfte in der Tat Verhaltens-
hat hier die Möglichkeit, zur Prävention von Gewalt und Kri- und Konzentrationsprobleme reduziert und prosoziales Ver-
minalität in der Gesellschaft beizutragen. halten gesteigert werden konnte.
Hilfreich im Umgang mit oppositionellem Verhalten sind Darüber hinaus zeigten dieselben Autoren, dass es beson-
meines Erachtens auch die Brehm’schen Überlegungen zur ders im Interesse der schwächeren Kinder liegt, solche Pro-
Entwicklung von Reaktanz (umgangssprachlich Trotz; Schus- gramme einzuführen (Bradshaw, Waasdorp & Leaf 2015). Im
ter 2013, in Vorb.): Man kann auf die eigene Sprache achten Vergleich zu äquivalenten Schulen, in denen das Programm
und etwa das Wort „muss“ seltener verwenden. Man kann noch nicht umgesetzt worden war, profitierte die Gruppe der
Ziele weniger als einschränkend darstellen statt als Erweite- Kinder, die wegen ihrer überdurchschnittlichen Werte bei
rung des bislang nur begrenzten Verhaltensrepertoires um Konzentrations- und Verhaltensproblemen und unterdurch-
zusätzliche Optionen. Sollten Einschränkungen nicht zu ver- schnittlichen Werte bei prosozialem Verhalten und Emoti-
meiden sein, dann sollte die Legitimität dieser Einschränkung onsregulation entweder als gefährdet (23,3 %) eingestuft wor-
deutlich werden. den waren oder gar gleich als Hoch-Risiko-Gruppe (6,6 %)
am meisten, z. B. in Bezug auf das Risiko, in Sonderklassen
(special education) verwiesen zu werden, oder die Klasse wie-
29.3.2 Disziplin- und derholen zu müssen.
Es gibt einige abstrakte Leitgedanken bzw. Prinzipien, die
Erziehungsschwierigkeiten jede Lehrkraft ohne großes Training für sich selbst einfach
berücksichtigen und umsetzen kann, um Erziehungs- und
Seit Jahren wird in der Öffentlichkeit thematisiert, dass an Disziplinschwierigkeiten zu vermeiden oder zu reduzieren
den Schulen Disziplin- und Erziehungsschwierigkeiten zu (Schuster 2013, in Vorb.). Sie gewinnen ganz besondere Be-
breiten Raum einnehmen und effektives Lernen erschwe- deutung im Umgang mit auffälligen Schülerinnen und Schü-
ren. Schüler kommen zu spät, erledigen ihre Hausaufgaben lern, wie eben denen mit Störungen des Sozialverhaltens, aber
nicht, platzen mit Zwischenrufen in den Unterricht, schwät- auch denjenigen, bei denen solche Verhaltensweisen noch auf
zen mit den Nachbarn und schicken mit den Handys Nach- subklinischem Niveau auftreten. Auf der abstraktesten Ebene
richten statt sich zu konzentrieren. Die Liste an Klagen ließe gilt es, die beiden durch die Erziehungsstilforschung iden-
sich schier endlos fortsetzen. Diese Verhaltensweisen scha- tifizierten Dimensionen Lenkung und Wärme umzusetzen
den nicht nur den Schülerinnen und Schülern selbst, sondern (Baumrind 2013; Boer & Tranent 2013).
598 Kapitel 29  Auffälligkeiten im Erleben und im Sozialverhalten

In Bezug auf die Lenkungskomponente unterscheidet die am Anfang allerdings sollten solche Anerkennungen unmit-
Erziehungsstilforscherin Diana Baumrind (2012) zwischen telbar und kontinuierlich erfolgen (Schuster 2013, in Vorb.,
Lenkung, die als zwangsausübend, kontrollierend, willkür- 2017).
lich, dominant und den eigenen Status betonend wahrge- Manchmal reicht aber allein die Sensibilität für richtiges
nommen wird, und Lenkung im Rahmen des autoritativen Verhalten nicht, da noch zu viel Fehlverhalten auftritt. Soll-
(partnerschaftlichen) Erziehungsstils, der auf Vernunft und te dies der Fall sein, z. B. dass die Schülerinnen und Schüler
Verhandlung basiert und ergebnisorientiert ist. Nur die ers- laut werden und schwätzen, sollte die Störung doch insofern
te, die zwangsausübende und kontrollierende, statusbezoge- Vorrang haben, als sofort reagiert werden muss. Allerdings
ne („Ich bin hier die Lehrkraft!“) Form von Lenkung hat sollte in einer Weise reagiert werden, die nicht wieder eine
dysfunktionale Effekte wie Beeinträchtigungen des Selbst- versteckte Belohnung darstellt – indem etwa der Unterricht
29 wertgefühls. Die auf Vernunft und Verhandlung basieren- zum Zwecke einer Zurechtweisung bzw. Bestrafung unterbro-
de, ergebnisorientierte Lenkung dagegen versucht, im best- chen wird. Nötig wäre, nach dem (3) Prinzip der geringsten
verstandenen Interesse des Kindes selbst Verhalten zu mo- Intervention vorzugehen. Ähnlich wie dies Kounin (1970) in
difizieren und nicht das Kind zu kontrollieren (Baumrind seinem Klassiker der Klassenführung ausgeführt hat (Kap.
2012). 17), besteht die Kunst darin, ganz kleine, eigentlich kaum
merkbare Reaktionen parallel zum Fortfahren des Unter-
richtens zu zeigen. So ist etwa extrem wirkungsvoll (auch
29.3.3 Prävention und Intervention durch in Vorlesungen mit erwachsenen Studierenden), kurz lang-
samer und/oder leiser zu reden. Da dies unerwartet und
Pädagogische Verhaltensmodifikation
überraschend ist, löst es eine Orientierungsreaktion aus – die
und Klassenführung Schülerinnen und Schüler schauen irritiert nach vorne. Dies
ist aber nun genau die gewünschte, angemessene Reaktion,
Der letztgenannte Gedanke kommt in dem Prinzip „Verhal- und die muss belohnt werden (s. Prinzip 2): mit einem Lä-
ten, nicht Person bestrafen“ prägnant zum Ausdruck. Dieses cheln und freundlichen Fortfahren im Unterricht. Gelächelt
Prinzip ist eines der wesentlichen Prinzipien der Pädago- werden darf erst nach dem Blick nach vorne. Lächelt die Lehr-
gischen Verhaltensmodifikation (Schuster 2013, in Vorb.; s. kraft die ganze Zeit, strahlt sie Unsicherheit aus. Bleibt sie bis
auch Schuster & Fahle 2019), die Überlegungen der Verhal- zur Orientierungsreaktion ernst, lächelt dann aber in die sie
tenstherapie und der klientenzentrierten Gesprächstherapie nun anschauenden Gesichter, belohnt sie präzise das richtige
bündelt. Pädagogische Verhaltensmodifikation basiert inso- Verhalten.
fern auf den Lerntheorien bzw. der Verhaltenstherapie, als die Manchmal reicht selbstverständlich auch diese Reaktion
Grundannahme darin besteht, dass Verhalten generell und nicht aus, sondern das Fehlverhalten ist so gravierend, etwa
damit auch Fehlverhalten speziell, in der Regel gelernt ist und weil es eine andere Person schädigt, dass Strafen sein müs-
ebenso wieder verlernt werden kann. sen. In diesem Fall greift das schon angesprochene Prinzip (4)
Gelernt bzw. verlernt wird durch die Konsequenzen, die „Verhalten und nicht Person bestrafen“. Die Kinder müssen
dem Verhalten folgen. Bei Fehlverhalten wie undisziplinier- spüren, dass man sanktioniert, weil man ihnen helfen möchte,
tem oder unmotiviertem bzw. störendem Verhalten in der das richtige Verhalten zu lernen, und nicht, weil man sich an
Schulklasse sollte dem Konzept zufolge demnach an erster ihnen „rächen“ möchte, dass sie einen mit ihrem Fehlverhal-
Stelle (1) die „versteckte Verstärker“-Analyse stehen. Man ten behelligt haben. Strafe ist in dieser Konzeption gar nicht
sollte als Lehrkraft versuchen herauszufinden, inwiefern bzw. mehr das richtige Wort – Sanktion oder noch neutraler Re-
wann man manchmal unabsichtlich belohnt hatte, was man aktion würde den Geist besser treffen.
eigentlich bestrafen wollte, oder umgekehrt. Wenn man bei- Schließlich findet man in vielen Klassenzimmern, dass
spielsweise ein unaufmerksames Kind zur Strafe der Klasse aus dem scharfen Schwert Pädagogische Verhaltensmodifika-
verweist, belohnt man es möglicherweise aus dessen indi- tion ein stumpfes geworden ist, da es zu oft und zu undiffe-
vidueller Perspektive, etwa weil es nun am Unterricht nicht renziert eingesetzt wird. Die ganze Schulklasse wird unter das
mehr teilnehmen muss (s. in Schuster 2013, in Vorb.). Regiment eines in der Fachsprache „token economy“ genann-
Hat man nun realisiert, dass man bislang häufig verse- ten Systems gesetzt (7 Kap. 1) – obwohl nur zwei Lernende
hentlich die falschen Verstärker eingesetzt hat, gilt es im nennenswerte Problemverhaltensweisen zeigen; schlimmer
zweiten Schritt gezielt die richtigen zu verwenden, und da- noch, es werden gleich Kollektivstrafen eingesetzt (Schuster
bei weitere Prinzipien zu beachten: (2) Lob ist besser als 2013). Wie viele Studien gezeigt haben, kann es unter solchen
Strafe. Diese Form von Lenkung bewirkt bei den Kindern Bedingungen zu Korrumpierungseffekten von Belohnungen
weniger Abwehr. Ferner ist sie präziser, zielführender, da auf- kommen, indem die intrinsische Motivation unterminiert
gezeigt wird, was genau man denn nun tatsächlich machen wird (Eisenberger & Cameron 1996; Hennecke & Brand-
soll, statt nur, was nicht erlaubt ist. Dieses Prinzip soll da- stätter 2016). Wichtig ist demnach, nur bei denjenigen mit
für sensibilisieren, achtsamer dafür zu werden, wenn zufällig angekündigten Belohnungen bzw. Bestrafungen zu arbeiten,
spontan das gewünschte Verhalten auftritt und dieses dann bei denen keinerlei intrinsische Motivation vorhanden ist, bei
sofort auch zu würdigen. Mit der Zeit kann man dann zuneh- den anderen müsste spontan belohnt bzw. bestraft werden
mend in einen intervenierenden Verstärkerplan wechseln, (Schuster 2013, in Vorb.).
Literatur
599 29
Bei der Umsetzung dieser Prinzipien ist wichtig, dass Verständnisfragen
sie nie ins Technische abgleiten dürfen. Die Kinder müssen
verstehen, dass die Reaktionen aus Wertschätzung ihnen ge-
genüber erfolgen. Die Schüler und deren Fortkommen sind ?1. Nennen Sie die zentralen Komponenten von Prü-
einem so wichtig, dass man sich diese pädagogische Arbeit fungsangst und erklären Sie, inwiefern diese für
macht, auf die genannten Prinzipien zu achten und damit Leistungseinbrüche entscheidend sind.
Disziplin- und Erziehungsschwierigkeiten nachhaltig zu re- 2. Nennen Sie eine Gemeinsamkeit und zentrale Un-
duzieren (Schuster 2013, in Vorb.; s. auch Schuster & Fahle terschiede von generalisierter (GAD) und sozialer
2019). Angststörung (SAD).
3. Beschreiben Sie zwei mögliche Interventionen
gegen Angst auf der Grundlage psychologischer
Theorien und gehen Sie besonders auf Technik sowie
Zusammenfassung Wirkmechanismus ein.
In vorliegendem Kapitel wurden sowohl internalisierende 4. Inwiefern zeigt sich Depression bei Kindern und
als auch externalisierende, sowohl klinisch-psychologisch Jugendlichen anders als bei Erwachsenen?
als Erkrankung wahrgenommene als auch „subklinische“ 5. Wie sollten Lehrkräfte bei Kindern und Jugendlichen
Auffälligkeiten und Störungen beschrieben. mit Depression handeln?
Gemeinsam ist allen, dass Beziehungsangebot, Wär- 6. Nennen und erläutern Sie die verschiedenen Unter-
me und Unterstützung durch die Lehrkraft zentrale Säu- gruppen des sozialen Rückzugs nach Asendorpf (1990),
len der Prävention und Intervention darstellen. Gemein- Schuster (1999) und Rubin et al. (2009).
sam ist auch allen, dass die Wahrnehmung der betroffe- 7. Wie sollten Lehrkräfte bei Schülerinnen und Schülern
nen Jugendlichen, von der Gesamtgruppe wertgeschätzt handeln, die sozialen Rückzug zeigen? Welche Inter-
zu werden, zentral gefährdet ist und im Blick behalten ventionen sind bei den verschiedenen Untergruppen
bzw. adressiert werden muss. Dies kann die Lehrkraft und welche in jedem Falle angezeigt?
durch aktive Gestaltung der Situation erreichen. Die Lehr- 8. Wie können Lehrkräfte situationale Faktoren gestalten,
kraft sollte sich bemühen, jedem Einzelnen Raum, Sicht- um Mobbing an Schulen zu verhindern?
barkeit und Einfluss zu verschaffen. Sie sollte Nähe und 9. Was ist mit der „dunklen Seite von Peer-Popularität“
Austausch zwischen allen und nicht nur innerhalb schon gemeint?
bestehender Cliquen herstellen. 10. Beschreiben Sie das Verhalten von Schülerinnen und
Gemeinsam ist ferner allen Auffälligkeiten, dass so- Schülern mit Oppositional Defiant Disorder (ODD).
wohl angelehnt an Überlegungen zu Verhaltenstherapie 11. Erläutern Sie die theoretische Grundannahme der
als auch kognitiver Therapie gearbeitet werden kann, wo- Pädagogischen Verhaltensmodifikation und führen Sie
bei sich die speziellen Inhalte der Kognitionen in Ab- ihre fünf wesentlichen Prinzipien aus.
hängigkeit von der spezifischen Störung unterscheiden,
ebenso wie das konkrete Verhalten, welches verstärkt
werden müsste. Literatur
Spezifisch bei Angst ist ferner wahrgenommene Kon-
trolle zentral, bei der sozialen Angst das Gefühl, ange- APA (2013). Diagnostic and statistical manual of mental disorders (5. Aufl.).
nommen zu sein; bei der generalisierten Angststörung Washington: APA.
dagegen sollte man die Überangepasstheit der Kinder Asendorpf, J. B. (1988). Keiner wie der andere: Wie Persönlichkeitsunterschie-
nicht auch noch verstärken. Bei allen Angststörungen hilft de entstehen. München: Piper.
man den Kindern nicht, indem man ihnen die Vermeidung Asendorpf, J. B. (1990). Development of inhibition during childhood: Evi-
dence for situational specificity and a two-factor model. Developmen-
erlaubt, sondern müsste sie eher in kritische Situationen tal Psychology, 26, 721–730.
bringen, in diesen ihnen aber beistehen. Bei Depression Asendorpf, J. B., Denissen, J. A., & van Aken, M. A. G. (2008). Inhibited and
ist ferner spezifisch zu beachten, dass sie sich im Kindes- aggressive preschool children at 23 years of age: Personality and
und Jugendalter noch anders äußert, und dass hier inter- social transitions into adulthood. Developmental Psychology, 44, 997–
personalem Stress eine Schlüsselrolle zukommt. Bei Stö- 1011.
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rungen des Sozialverhaltens schließlich ist ganz zentral, Psychological Review, 64, 359–372.
dass sich die Kinder nicht als Person kritisiert sehen, dass Avenevoli, S., Swendsen, J., He, J. P., Burstein, M., & Merikangas, K. R. (2015).
aber ihr Verhalten nach allen Regeln der Verhaltensthe- Major depression in the national comorbidity survey – Adolescent
rapie zu modifizieren versucht wird, indem man sensibler supplement: prevalence, correlates, and treatment. Journal of the
für angemessenes Verhalten wird und dies dann auch so- American Academy of Child & Adolescent Psychiatry, 54, 37–44.
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603 30

Pädagogische Prävention und


Intervention bei psychischen
Auffälligkeiten im Schulalter
Armin Castello

30.1 Psychische Auffälligkeiten im Schulalter – 604

30.2 Soziale Ängstlichkeit – 604


30.2.1 Merkmale, Prävalenzen und Verlauf – 604
30.2.2 Entstehungsbedingungen, Risiko- und Schutzfaktoren – 605
30.2.3 Ausgewählte Methoden pädagogischer Prävention und Intervention – 605

30.3 Depressivität – 606


30.3.1 Merkmale, Prävalenzen und Verlauf – 606
30.3.2 Entstehungsbedingungen, Risiko- und Schutzfaktoren – 607
30.3.3 Ausgewählte Methoden pädagogischer Prävention und Intervention – 607

30.4 Selbstverletzendes Verhalten – 608


30.4.1 Merkmale, Prävalenzen und Verlauf – 608
30.4.2 Entstehungsbedingungen, Risiko- und Schutzfaktoren – 608
30.4.3 Ausgewählte Methoden pädagogischer Prävention und Intervention – 609

30.5 Posttraumatische Belastungsreaktion – 610


30.5.1 Merkmale, Prävalenzen und Verlauf – 610
30.5.2 Entstehungsbedingungen, Risiko- und Schutzfaktoren – 610
30.5.3 Ausgewählte Methoden pädagogischer Prävention und Intervention – 611

30.6 Schlafauffälligkeiten – 611


30.6.1 Merkmale, Prävalenzen und Verlauf – 611
30.6.2 Entstehungsbedingungen, Risiko- und Schutzfaktoren – 612
30.6.3 Ausgewählte Methoden pädagogischer Prävention und Intervention – 612

Verständnisfragen – 614

Literatur – 614

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019


D. Urhahne, M. Dresel, F. Fischer (Hrsg.), Psychologie für den Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55754-9_30
604 Kapitel 30  Pädagogische Prävention und Intervention bei psychischen Auffälligkeiten im Schulalter

30.1 Psychische Auffälligkeiten im Schulalter 30.2 Soziale Ängstlichkeit

Psychische Auffälligkeiten bei Schülerinnen und Schülern


können deren Entwicklung auf verschiedenen Ebenen beein- 30.2.1 Merkmale, Prävalenzen und Verlauf
trächtigen, die soziale Integration erschweren und die schu-
lischen Leistungen erheblich beeinträchtigen (vgl. Ravens- Schülerinnen und Schüler, die von sozialen Ängsten betrof-
Sieberer, Ellert & Erhart 2007, S. 816). Die repräsentative fen sind, neigen zu besonders sensibler Wahrnehmung und
KiGGS-Basiserhebung (Hölling et al. 2007) des Robert-Koch- subjektiver Bedrohung hinsichtlich sozialer Aufmerksamkeit
Instituts klassifizierte 11,5 % der im Rahmen dieser Studie und versuchen diese daher zu vermeiden. Soziale Ängstlich-
untersuchten Mädchen und 17,8 % der Jungen als auffällig keit kann sich gerade in Unterrichts- oder Pausensituationen
bzw. grenzwertig auffällig, wobei Schülerinnen und Schü- zeigen, die aufgrund der hohen sozialen Aufmerksamkeit als
ler auf niedrigerem sozioökonomischem Niveau und solche aversiv erlebt werden. Betroffene Schülerinnen und Schüler
30 mit Migrationshintergrund erheblich häufiger betroffen wa- verhalten sich dabei unsicherer, vermeiden diese Situationen
ren. Diese Befundlage ist angesichts der seit Jahren bekannten durch Abbruch des Blickkontakts oder zeigen Fluchtverhal-
psychotherapeutischen Unterversorgung von behandlungs- ten (vgl. Helbig & Petermann 2008).
bedürftigen Schülerinnen und Schülern in der Bundesrepu- Ihre Gedanken tendieren zu übertriebenen Befürchtun-
blik unbefriedigend. Da die Persistenz psychischer Auffällig- gen, etwas falsch zu machen und möglichen nachfolgenden
keiten bei ca. 50 % liegt (vgl. Lenz 2014, S. 20), und ein früher negativen Bewertungen durch Mitschülerinnen und -schüler
Beginn bei vielen Störungen als Prädiktor chronifizierender oder Lehrkräfte. Diese negativen Kognitionen kreisen um ei-
Probleme gilt, kommt präventiven Maßnahmen eine beson- ne Bedrohung, die von bevorstehenden sozialen Situationen
ders wichtige Rolle zu. ausgeht bzw. um eine Aufarbeitung erlebter Situationen. Ihre
Kompetenz, soziale Situationen zu bewältigen, bewerten sie
systematisch geringer und beurteilen ihr Verhalten rückbli-
Psychische Auffälligkeiten können sich im emotionalen ckend eher negativ. Die Konsequenzen einer vermeintlichen
Erleben, im Denken, somatisch und auf der Verhaltens- sozialen Abwertung stufen sie weitaus dramatischer ein als
ebene manifestieren. Sie umfassen internalisierende (nach andere Schülerinnen und Schüler. Gerade Jugendliche be-
innen gerichtete) und externalisierende Problemberei- schäftigen sich intensiv mit sozialer Anerkennung und ihrem
che. Psychische Störungen werden in der ICD-10, einem eigenen Wert (Melfsen 2002, S. 265). Körperliche Reaktio-
Klassifikationssystem der WHO, aufgelistet und definiert. nen, die dabei regelmäßig auftreten, bestehen in Herzklopfen,
Psychische Auffälligkeiten umfassen sowohl psychische „weichen“ Knien, Zittern oder Reaktionen wie Weinen oder
Störungen als auch subklinische Phänomene, für die noch Schweigen. Wenngleich der tägliche Unterrichtsablauf durch
keine klinische Diagnose gemäß ICD-Kriterien vorliegt. das Störungsbild nur selten beeinträchtigt wird (Büch, Döpf-
ner & Petermann 2015, S. 44), kann die Unterrichtsteilnahme
für Betroffene sehr belastend wirken. Die Schülerinnen und
Lehrkräfte sind in der Unterrichtspraxis häufiger in der Schüler treten seltener selbstbewusst für ihre eigenen Interes-
Situation, ihr pädagogisches Handeln auf die Bedürfnisse sen ein, sind insgesamt weniger in Freundschaften engagiert
von Schülerinnen und Schülern mit psychischen Auffällig- und stärker gefährdet, eine Selbstmedikation mit Hilfe von
keiten abzustimmen (vgl. Keller 2011). Explizit benennt vor legalen oder illegalen Drogen zu beginnen (Petermann &
diesem Hintergrund die Expertenkommission Lehrerbildung Suhr-Dachs 2008).
der Senatsverwaltung Berlin (2012), dass Lehrkräfte über spe- Schulische Situationen, in denen Angstreaktionen auftre-
zifische Kompetenzen zu den „Grundlagen der klinischen ten, finden sich besonders bei Kontakten mit Gleichaltrigen
Entwicklungspsychologie“ und „Kenntnisse zu psychischen oder Erwachsenen, wenn bspw. eine Antwort zu geben ist,
Auffälligkeiten“ verfügen sollten (S. 38). Da eine frühzeitige wenn Schülerinnen und Schüler sich exponieren oder auch
Identifikation den Verlauf einer problematischen Entwick- jemanden ansprechen sollen. Auch bei potentiellen oder rea-
lung mildern kann, sind gerade Kenntnisse zur Entstehung, len Konfliktsituationen, wenn bspw. jemandem eine Bitte
Prävention und zu pädagogischer Intervention bei psychi- abgeschlagen werden muss, eigene Wünsche geäußert wer-
schen Auffälligkeiten ein wichtiges Handwerkszeug für Lehr- den sollen oder die Notwendigkeit besteht, sich zu wehren,
kräfte. Sie sollten die Grundlage fachlich fundierten Handelns werden soziale Ängste spürbar (Büch et al. 2015).
in Unterricht und pädagogischer Beratung sein, können ein Während die Prävalenz bei Kindern zwischen 1 und 2 %
qualifiziertes psychotherapeutisches Angebot aber nicht er- liegt, steigt sie im Jugend- und frühen Erwachsenenalter auf
setzen. 5 bis 10 % an (Blanz, Remschmidt, Schmidt & Warnke 2006).
Nachfolgend werden zu wichtigen psychischen Auffällig- Essau, Conradt und Petermann (1999a) beschreiben eine ge-
keiten, die im Unterrichtsalltag und im Kontext von Eltern- nerelle Zunahme sozialer Ängste. Weibliche Jugendliche sind
beratung von Bedeutung sein können, Störungsmerkmale, deutlich häufiger von sozialen Ängsten betroffen.
Entstehungsbedingungen und Verlauf sowie pädagogische Der Verlauf sozial ängstlichen Verhaltens ist nicht sel-
Handlungsoptionen dargestellt. ten chronisch (Blanz et al. 2006), sodass einer frühzeitigen
30.2  Soziale Ängstlichkeit
605 30
Identifizierung, pädagogischer Prävention und ggf. psycho- Ziele und der Aufrechterhaltung einer positiven Beziehung
logischer Therapie eine wesentliche Rolle zukommt. zu anderen zu realisieren. Dennoch profitieren viele davon,
Strategien im Umgang mit belastenden sozialen Situationen
zu erwerben (Beelmann, Pfingsten & Lösel 1994); dies sollte
möglichst individualisiert erfolgen (Melfsen et al. 2006).
30.2.2 Entstehungsbedingungen, Risiko-
Evidenzbasierte Programme zur Förderung sozialer
und Schutzfaktoren Kompetenzen, die sich in den schulischen Alltag integrie-
ren lassen, liegen zahlreich vor (Ryan & Warner 2012). Meist
Eine genetisch mitbedingte Verhaltenshemmung zeigt sich werden im Rahmen dieser pädagogischen Interventionen
bspw. in der Disposition zu zurückhaltendem Verhalten und Kompetenzen zur Kontaktaufnahme, Strategien zum Wahr-
leichter Irritierbarkeit in Situationen mit hoher sozialer Auf- nehmen der eigenen Interessen oder zum Etablieren von
merksamkeit (Kagan, Snidman, Kahn & Towsley 2007). Um Freundschaften vermittelt.
die Quelle ihrer Angst zu kontrollieren, schenken Betroffe- Das Trainingsprogramm „Mutig werden mit Til Tiger“
ne ihr ein vergleichsweise hohes Maß an Aufmerksamkeit (Ahrens-Eipper, Leplow & Nelius 2009) ist u. a. für sozial
(Heinrichs & Reinhold 2010). Dies führt im Alltag zu einer unsichere Kinder konzipiert. Dabei werden innerhalb von
zusätzlichen Ablenkung von schulischen Themen. zwei Einzel- und neun Gruppenstunden einmal wöchentlich
Die dargestellten dysfunktionalen Gedanken zu Situatio- die sozialen Kenntnisse erweitert, dysfunktionale Einstellun-
nen mit hoher sozialer Aufmerksamkeit entstehen aus frü- gen thematisiert und Anwendungsübungen umgesetzt. Für
heren Erfahrungen (Clark & Wells 1995). Eltern sind hierbei die Aufnahme eines Kontakts wird Wissen darüber vermit-
wichtige soziale Modelle z. B. in der Aufnahme sozialer Kon- telt, was in diesen Situationen zu beachten ist. Es finden
takte, in der Bewertung sozialer Situationen, im Erwerb so- Übungen statt, bei denen andere Kinder aktiv angesprochen
zialer Kompetenzen und in der Bewältigung sozialer Anfor- werden sollen. Gleichzeitig zielt das Programm auf eine Ver-
derungen. Ungünstiges Elternverhalten besteht insbesondere änderung der oft vorliegenden ungünstigen Gedanken zu
in einer Dramatisierung sozialer Erfahrungen und in einer Kontaktinitiativen ab. Die Teilnehmenden erwerben weiter-
Unterstützung von kindlichem Vermeidungsverhalten (vgl. hin Wissen darüber, wie man etwas vor einer Gruppe macht.
Petermann & Suhr-Dachs 2008). Sie üben u. a. eine Rede zu halten und bearbeiten mögliche
Bei eher schüchternem Temperament und weniger aus- negative Gedanken, die sich im Kontext dieser öffentlichen
geprägten sozialen Kompetenzen steigt die Wahrscheinlich- Auftritte bei ihnen zeigen. Schließlich wird das „Nein“-Sagen
keit ungünstiger sozialer Rückmeldungen. Sie verstärken das thematisiert – zunächst, indem Bedenken aufgegriffen wer-
Bedürfnis zusätzlich, soziale Situationen zu vermeiden mit den, was geschehen könnte, wenn man anderen gegenüber
der Konsequenz, dass sich die Gelegenheiten zur Verfeine- seine Interessen derart klar artikuliert. Im weiteren Verlauf
rung vorhandener sozialer Fertigkeiten reduzieren und ei- finden Übungen statt, bei denen das Verhalten praktisch trai-
ne Schleife negativer Rückkopplungen (Teufelskreis) entsteht niert wird. Eine Untersuchung zur Wirksamkeit von Til Tiger
(. Abb. 30.1). (Ahrens-Eipper 2003) zeigte, dass aus der Gruppe der Teil-
nehmerinnen und Teilnehmer des Programms (N D 20), im
Rahmen eines 1,5-Jahres-Follow-ups 85 % Werte im funktio-
30.2.3 Ausgewählte Methoden nalen Bereich hinsichtlich sozialer Ängste hatten, was für eine
pädagogischer Prävention nachhaltige Wirksamkeit der Intervention spricht.
und Intervention Im Fokus: Kognitiv-behaviorale Methoden

Keineswegs fehlen Schülerinnen und Schülern mit sozialen Kognitiv-behaviorale Methoden haben sich bei vielen
Ängsten immer die nötigen sozialen Kompetenzen, die darin psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter
bestehen, ein Gleichgewicht zwischen dem Erreichen eigener empirisch bewährt. Sie erreichen mittlere bis starke Effekte
(zwischen d D .76 und d D .91), wie eine Metaanalyse von
Weisz und Jensen (1999) belegt.
Ungünstiges In der Anwendung kognitiv-behavioraler Methoden werden
lnteraktionsverhalten z. B. Glaubenssätze, Einstellungen und Bewertungen von
Menschen betrachtet, da diese nachfolgend emotionale
und physiologische Reaktionen mitbedingen. Nicht die
Weniger „Übung“ Negative
sozialer Kompetenzen Rückmeldungen
Realität, sondern dysfunktionale Gedanken über die Realität
sind demnach in vielen Fällen die Ursachen psychischer
Probleme. Kognitiv-behaviorale Methoden versuchen diese
Vermeiden sozialer Kognitionen ins Bewusstsein zu rücken und setzen sie auf
Situationen verschiedenen Wegen einer Prüfung auf Adäquatheit aus,

. Abb. 30.1 Soziale Vermeidung und Kompetenzverlust


606 Kapitel 30  Pädagogische Prävention und Intervention bei psychischen Auffälligkeiten im Schulalter

4 Positive verbale und non-verbale Signale an andere zu


um hierdurch ihre Veränderung zu erreichen und die senden
neuen Erkenntnisse in den Alltag und das Alltagshandeln
umzusetzen. Gleichaltrige können für ein Revidieren ungünstiger kogni-
tiver Verzerrungen zusätzlich unterstützend wirken, wenn
gemeinsam soziale Situationen diskutiert und die individuell
Im Präventionsprogramm FREUNDE für Kinder (Essau meist sehr unterschiedlichen Bewertungen gegenübergestellt
& Conradt 2003) werden Kompetenzen gefördert, die die Be- und verglichen werden.
wältigung belastender sozialer Situationen erleichtern und In der Entstehung und Aufrechterhaltung sozial ängstli-
Strategien für eine Zunahme der emotionalen Belastbarkeit chen Verhaltens spielen familiäre Einflüsse eine nicht unwe-
vermittelt. Das FREUNDE-Programm kann von Lehrkräf- sentliche Rolle. Psychoedukative Information mit dem Ziel
ten mit Hilfe eines Trainingsmanuals und eines Arbeitsbuchs einer Kooperation der Eltern ist daher unabdingbar, wenn
umgesetzt werden. Es richtet sich sprachlich und inhaltlich bspw. Vermeidungsverhalten reduziert und mit Unterstüt-
30 an Schülerinnen und Schüler zwischen 7 und 12 Jahren in zung sukzessiv soziale Anforderungssituationen bewältigt
Gruppen von maximal 12 Kindern. FREUNDE umfasst zehn werden sollen. Dabei ist eine kontextübergreifende Interven-
Sitzungen mit einer Dauer zwischen 45–60 Minuten und tion (Schule und Familie) nötig, um damit Muster zur Ver-
einer Option zur Durchführung von Elternabenden. Grund- meidung beängstigender Situationen zu durchbrechen und
lage des Trainings sind die Prinzipien und Wirkfaktoren der eine konsistente Unterstützung zu gewährleisten. Wenn El-
– wie dargestellt – bewährten kognitiv-behavioralen Psycho- tern aufgrund der eigenen biografischen Belastung Schwie-
therapie bei Angststörungen. Dabei werden dysfunktionale rigkeiten haben, ihr Kind adäquat zu unterstützen, sollte ggf.
Bewertungen von sozialen Situationen, persönlichen Eigen- eine externe Erziehungsberatung empfohlen werden.
schaften etc. als eigentliche Ursache sozialer Ängstlichkeit
aufgegriffen. Erst durch negative Gedanken entstehen dem-
nach negative Emotionen, was im Rahmen von FREUNDE 30.3 Depressivität
kindgerecht psychoedukativ vermittelt wird. Das Arbeitsbuch
für Kinder enthält einschlägige Geschichten, Übungen für 30.3.1 Merkmale, Prävalenzen und Verlauf
die Gruppensitzungen und Hausaufgaben. Für Eltern werden
neben einer strukturierten Psychoedukation zu den Ursa-
chen sozialer Angst wichtige Informationen zum adäquaten Die häufigste Form einer Depression wird im Klassifikations-
Belohnen, positiven Rückmeldungen etc. zur Verfügung ge- system der WHO, der ICD-10 (Dilling, Mombour & Schmidt
stellt. Teilnehmerinnen und Teilnehmer (N D 60) einer Eva- 2016), „depressive Episode“ genannt. Die Prävalenz depressi-
luationsstudie eines vergleichbaren englischsprachigen Pro- ver Episoden bei Kindern und Jugendlichen liegt nach Co-
gramms mit einer klinisch relevanten Angststörung erfüllten stello, Erkanli und Angold (2006) bei 5,6 %. Bei Kindern
nach Abschluss zu ca. zwei Dritteln (64,8 %) nicht mehr die liegen in der Häufigkeit noch keine Geschlechtsunterschie-
Kriterien einer Angstdiagnose. de vor, ab dem Jugendalter sind Schülerinnen häufiger von
Die massive Konfrontation (flooding) eines Kindes mit Depressionen betroffen. Die erstmalige Erfahrung einer de-
sozialer Aufmerksamkeit ist ebenso dysfunktional wie ein pressiven Phase findet meist ab dem 14. Lebensjahr statt
Schonraum für Betroffene. Eine überfordernde Konfrontati- (Essau 2007). Ein früher Beginn führt oft zu einem ungüns-
on birgt das Risiko einer Verstärkung von Vermeidungsver- tigeren langfristigen Verlauf, einer hohen Rückfallquote und
halten, das „Überbehüten“ behindert die Entwicklung ange- einer nachhaltigeren Belastung der schulischen und berufli-
messener Bewältigungsstrategien und sozialer Kompetenzen. chen Entwicklung.
Ein grundlegendes Prinzip pädagogischer Arbeit für sozial
ängstliche Schülerinnen und Schüler an Schulen sollte daher Eine depressive Episode ist durch das Auftreten mehrerer
sein, entwicklungsangemessene Unterstützung bei altersad- Kernsymptome über einen Zeitraum von zwei Wochen
äquaten sozialen Anforderungssituationen zu geben. Eine gekennzeichnet (Groen & Petermann 2012, S.23). Hierzu
Überforderung soll aber vermieden werden, da sonst die Ge- gehört eine starke Niedergeschlagenheit, die aber nicht
fahr der Verstärkung von spontanen Vermeidungstendenzen durch eine konkret benennbare Belastung ausgelöst
besteht (vgl. Leeves & Banerjee 2014). Vorschläge für An- wurde. Häufig tritt ein Gefühl innerer Leere auf, oft mit
forderungen an soziales Verhalten im Unterricht legen Büch, einem Verlust des Interesses an Dingen, die vorher als
Döpfner und Petermann (2015, S. 30) vor, die in Gesprächen attraktiv erlebt wurden.
mit der Schülerin bzw. dem Schüler und ggf. den Eltern vor-
bereitet werden können:
4 Sich am Gespräch zu beteiligen Die teilweise bei Kindern mit Depressionen beobacht-
4 Beiträge verständlich und in angemessener Lautstärke zu baren aggressiven Verhaltensweisen führen häufiger auch
äußern zu kinderärztlichen Fehldiagnosen (Huss 2012, S.40). Es
4 Den Blickkontakt bewusst zu suchen können sich aufgrund der erhöhten Reizbarkeit zusätzlich
4 Ein Gefühl für die eigene Körpersprache zu entwickeln Probleme mit Gleichaltrigen entwickeln, möglich sind auch
30.3  Depressivität
607 30

. Tabelle 30.1 Kognitive Verzerrungen bei Schülerinnen und Schülern mit Depressionen (Quelle: Castello, 2017)

Denkmuster Beispielsituation Gedanke


Katastrophisieren Schüler(in) schreibt eine Klausur und befürch- „Wenn das passiert, ist alles aus.“
tet eine schlechte Bewertung.

Positives ausschließen oder abwerten Eine gute schulische Leistung wird erbracht. „Das ist doch nichts Besonderes.“

Alles-oder-Nichts-Denken Im Sportunterricht misslingt eine schwierige „Ich bin nun völlig gescheitert, weil es nicht
Übung. geklappt hat.“

Sicher und möglich als synonym betrachten In der Vorbereitung auf eine Prüfung treten „So wird das sicher nie gelingen.“
Fehler auf.

Personalisierung Der gesamte Klassenverband wird von einer „Es liegt wieder mal an mir - ich bin schuldig.“
Lehrkraft gerügt.

Gedankenlesen Trotz Wortmeldung wird eine Schülerin/ein „Er denkt, ich weiß die Antwort sowieso nicht.“
Schüler nicht aufgerufen.

Unzulässiges Verallgemeinern Eine schlechtere Bewertung durch eine neue „Daran sieht man, wie viel ich eigentlich wirk-
Lehrkraft. lich kann.“

somatische Symptome, wie z. B. Schlafstörungen oder Ver- Ereignis kann so bei vorbelasteten Jugendlichen eine depres-
dauungsschwierigkeiten (Groen & Petermann 2012). Das sive Episode auslösen.
Denken Betroffener ist oft eingeengt und auf negative Inhalte Depressiven Entwicklungen geht vielfach eine Tendenz
fokussiert . Tab. 30.1). Kognitionen, die die eigene vermeint- voraus, Erfolge nicht der eigenen Anstrengung oder Kompe-
liche Wertlosigkeit betreffen, Zukunftspessimismus und eine tenz zuzuschreiben, sondern diese external zu attribuieren.
Reihe typischer negativ gefärbter Denkmuster kennzeichnen Als Ursache ungünstiger Ergebnisse hingegen wird häufiger
Depressionen. die eigene Person gesehen (Robertson 2000). Die Folge dieser
Verschiedene kognitive Leistungsbereiche wie Konzen- dysfunktionalen Bewertungsverzerrung ist eine sich entwi-
tration, Merkfähigkeit und Ausdauer sind zudem beein- ckelnde negative Sicht der eigenen Kompetenzen und eine
trächtigt, nicht selten mit Auswirkungen auf die gesamten Abnahme der schulischen Leistungsmotivation.
schulischen Leistungen. Es können Symptome einer psycho-
motorischen Verlangsamung oder starker Unruhe auftreten.
Typischerweise zeigen sich Depressionen auch in einer ab- 30.3.3 Ausgewählte Methoden
geflachten Mimik und Gestik oder einem traurigen sozialen pädagogischer Prävention
Rückzug. Manchmal versuchen Schülerinnen und Schüler
diese Symptome durch problematisches Suchtverhalten zu re-
und Intervention
duzieren, in einigen Fällen treten auch Suizidgedanken auf
und es besteht die Gefahr von Suizidversuchen. Alltagsnahe Prävention kann – zunächst fächerübergreifend
– darin bestehen, ein positives pädagogisches Verständnis
von „Fehlern“ zu etablieren. Um Feedbacks als Impuls zur
Verstärkung der eigenen Anstrengung zu verstehen, die kei-
nen negativen Einfluss auf den Wert eines Individuums dar-
30.3.2 Entstehungsbedingungen, Risiko- stellen, ist es nötig, diese konsistent, d. h. lehrkraftübergrei-
und Schutzfaktoren fend und im familiären Umfeld, entsprechend zu konno-
tieren. Lehrkräfte und Gleichaltrige können hier als soziale
In der Entwicklung von Depressionen wirkt neben ge- Modelle für das konstruktive Nutzen von Feedbacks wirken.
netischen Faktoren auch die Qualität der Eltern-Kind- Unterrichtsnahe Prävention von Depressionen kann
Interaktion langfristig als sozialer Schutz- oder Risikofaktor. zudem erfolgreich mit kognitiv-verhaltenstherapeutisch
Die altersadäquate Sensitivität (Feinfühligkeit) für die Be- fundierten Programmen auf der Grundlage der rational-
dürfnisse von Kindern und Jugendlichen und die Fähigkeit emotiven Erziehung (REE) (Ellis & Hoellen 2004) durchge-
der Eltern, angemessen zu reagieren (Responsivität) (Ihle, führt werden. Für Schülerinnen und Schüler zwischen 12
Groen, Walter, Esser & Petermann 2012, S. 16), gelten als we- und 16 Jahren wurden von Merkel (2011) Unterrichtsein-
sentlicher Faktor psychischer Gesundheit insgesamt. heiten zur Förderung des rationalen Denkens entwickelt.
Insbesondere das Jugendalter mit den unterschiedlichen Das Programm umfasst 12 Sitzungen innerhalb derer vor-
Entwicklungsaufgaben gilt als Risikofaktor zur Entstehung strukturierte Einheiten didaktisch variationsreich umgesetzt
von Depressionen. Oft fanden aber bereits früher kritische werden, wobei folgende zentrale Inhalte vermittelt werden:
Lebensereignisse statt, durch die die psychische Belastbarkeit 1. Es gibt viele verschiedene Gefühle.
geschwächt wurde (Groen & Petermann 2012). Ein konkretes 2. Gefühle entstehen (in erster Linie) durch Gedanken.
608 Kapitel 30  Pädagogische Prävention und Intervention bei psychischen Auffälligkeiten im Schulalter

3. „Übertreibt“ man mit seinen Gedanken, dann „über- chenzuschreibungen hinsichtlich schulischer Erfolge und
treibt“ man auch mit seinen Gefühlen. Misserfolge (7 Kap. 10). Im Rahmen einer vorbereitenden
4. „Angemessen“ zu denken – und damit „angemessen“ zu diagnostischen Phase wird zunächst auf individuelle Äuße-
fühlen – ist lernbar. rungen zu Ursachenzuschreibungen geachtet. Im nächsten
5. Die Inhalte des Programms sind unmittelbar auf die Un- Schritt werden verschiedene Methoden angewandt, um den
terrichtssituation übertragbar, und können von Lehrkräf- Anstoß für eine Revision von dysfunktionalen Attributionen
ten im Schulumfeld durchgeführt werden. zu geben, so z. B. schriftliche Kommentare oder mündliche
Anmerkungen. Die Wirksamkeit von Attributionstrainings
Die Effektivität REE-basierter Konzepte wurde in verschie- zur Veränderung ungünstiger Ursachenzuschreibungen ist
denen Untersuchungen für unterschiedliche Zielgruppen ge- empirisch gut belegt (vgl. Dresel 2000).
zeigt (vgl. Hajzler & Bernard 1991). Grünke (2000) stellte die
Befunde zur Wirksamkeit von rational-emotiver Erziehung
zusammen, wobei explizit die Symptombereiche von Depres- 30.4 Selbstverletzendes Verhalten
30 sionen eine erhebliche Linderung bei den Trainingsgruppen
zeigte; er betont die Anwendbarkeit der REE auch für Schü- 30.4.1 Merkmale, Prävalenzen und Verlauf
lerinnen und Schüler mit Lernschwierigkeiten.
Manifestieren sich im Schulumfeld Hinweise auf die Ent-
wicklung einer depressiven Episode, so sollte in jedem Fall
eine Dokumentation in Form einer schriftlichen Darstellung Selbstverletzendes Verhalten umfasst sozial nicht ak-
zum beobachteten Verhalten, Zeitpunkt und Kontext umge- zeptierte körperliche Selbstverletzungen, die bestimmte
setzt werden. Nach einem zeitnahen Abgleich im Kollegium Funktionen erfüllen (vgl. Nitkowski, Hristova, Wünsch-
muss unmittelbar ein Elterngespräch und ein offensives Ge- Leiteritz, Braks & Petermann 2015), alle Körperteile
sprächsangebot an betroffene Schülerinnen und Schüler fol- umfassen können (Favazza 1992), aber zumeist als
gen. Die Eltern müssen hierbei auf der Basis der erfolgten Schnittverletzung an den Gliedmaßen erfolgen. Die dabei
Dokumentation informiert werden und eine Vereinbarung entstehenden Wunden werden teilweise im Heilungs-
zur fachlichen Abklärung muss erfolgen. prozess wieder geöffnet und in aller Regel durch die
Eltern sollten zudem darüber informiert werden, dass un- Betroffenen verheimlicht.
abhängig von einer möglichen psychotherapeutischen Inter-
vention die Familie durch positive gemeinsame Aktivitäten
Selbstverletzungen können individuell sehr unterschied-
wirksam werden kann. Sie können im familiären Alltag zu-
liche Funktionen einnehmen, wobei in vielen Fällen ein aus-
dem auf mögliche dysfunktionale Äußerungen des Kindes
geprägt negativer psychischer Spannungszustand als Ursache
achten und ein positives soziales Modell für konstruktive, be-
gilt, der durch die Selbstverletzung kontrolliert oder beendet
wältigungsorientierte Kognitionen sein. Eine entsprechende
werden kann (vgl. Brunner & Schmahl 2012). Der Vorgang
Psychoedukation durch Lehrkräfte kann anregen, den famili-
einer Selbstverletzung hat insofern eine negativ verstärkende
ären Anteil in der Entstehung dysfunktionaler Gedanken zu
Wirkung. Die bei Selbstverletzungen entstehenden körperei-
überdenken.
genen Opiate können aufgrund ihrer als angenehm empfun-
Lehrkräfte können Schülerinnen und Schülern kurzfristig
denen Effekte zusätzlich positiv verstärkend wirken.
Entlastung in der täglichen Arbeit schaffen, indem im Kolle-
Andere Funktionen können in einem emotionsbezoge-
gium eine Reduktion der schulischen Anforderungen erwo-
nen Ausdruck oder im nachfolgenden Verhalten der so-
gen wird. Dies kann ergänzt werden durch eine Anleitung für
zialen Umwelt liegen. Möglicherweise liegt auch das Be-
die aktive Planung und Strukturierung des Schultags und der
dürfnis nach sozialer Zugehörigkeit zugrunde oder, beson-
Lernarbeit zu Hause. Um die kognitiven und motivationalen
ders in Zusammenhang mit der Diagnose einer emotional
Auswirkungen zu kompensieren, können hierzu verschiede-
instabilen Persönlichkeitsstörung (Borderline-Syndrom), die
ne Maßnahmen eingesetzt werden (vgl. Wilbert 2014):
Beendigung eines distanzierten Wahrnehmens der Umwelt
4 Instruktionen für Arbeiten zu Hause oder im Schulumfeld
(Klonsky 2007).
4 Nutzung von Hausaufgabenheft und Kalender
Die Lebenszeitprävalenz Selbstverletzenden Verhaltens
4 Strukturierung des Unterrichts, z. B. Advance Organizer
liegt bei ca. 4 % bei Mädchen und jungen Frauen und ca. 2 %
4 Zusätzliche Vermittlung von Lernstrategien
bei Jungen bzw. jungen Männer (Vonderlin, Haffner, Beh-
4 Gezieltes Anknüpfen an vorhandenes Vorwissen
rend, Brunner & Resch 2011).
4 Angemessenes Anforderungsniveau auswählen, d. h. we-
der Über- noch Unterforderung.

Die ungünstigen Ursachenzuschreibungen (Attributionen) 30.4.2 Entstehungsbedingungen, Risiko-


können im Unterricht durch Attributionstrainings (Zieg- und Schutzfaktoren
ler & Schober 1997) thematisiert werden, um motivational
günstigere Erklärungen für Erfolg und Misserfolg zu ent- Kinder entwickeln bereits im Säuglings- und Kleinkindal-
wickeln. Attributionstrainings vermitteln realistische Ursa- ter grundlegende Kompetenzen zur emotionalen Regulation
30.4  Selbstverletzendes Verhalten
609 30
(Williford, Whittaker, Vick, Vitiello & Downer 2013, S. 162). besteht aus zwei Modulen, wobei jeweils eines für Lehrkräf-
Manche Kinder benötigen aufgrund ihrer genetisch mitbe- te an Schulen bzw. für Schülerinnen und Schüler konzi-
dingten Temperamentsmerkmale besondere Unterstützung piert wurden. Lehrkräfte bekommen, neben psychoedukati-
durch die Eltern-Kind-Interaktion, um langfristig diese Kom- ven Informationen auch konkrete Handlungsstrategien an die
petenzen zur Emotionsregulation zu erlernen. Frühe primäre Hand, wie zu verfahren ist, wenn Selbstverletzungen entdeckt
Bezugspersonen legen dabei die Basis emotionaler Selbstre- werden. Schülerinnen und Schülern werden im Rahmen von
gulation (Petermann & Wiedebusch 2003). SOSI Kenntnisse zu Selbstverletzendem Verhalten vermittelt,
Als familiärer Faktor wirken weiterhin erworbene Mus- wie z. B. zu den Symptomen und zu Strategien, wie man als
ter zur Bewältigung von Emotionen. Das Unterdrücken oder Mitschülerin oder -schüler handeln kann. Die Evaluation des
Ablehnen vorhandener Affekte in der Familie verhindert den Programms bezog sich auf dessen positive Wirkung hinsicht-
Erwerb von Kompetenzen zum Empfinden, zum Ausdruck lich einer Vermittlung handlungsrelevanten Wissens und der
und zum Verarbeiten von Emotionen. Die Entwicklung von Bereitschaft der Teilnehmer aktiv zu werden, wenn Mitschü-
Selbstverletzendem Verhalten geht oft einher mit weniger lerinnen und -schüler sich selbst verletzen. Eine mit 274
positiven elterlichen Emotionen, die dem Kind entgegenge- Jugendlichen durchgeführte Studie (Muehlenkamp, Walsh &
bracht werden. McDade 2009) zeigte zunächst, dass kein Ansteckungsef-
fekt bei Schülerinnen und Schülern durch die Beschäftigung
mit Selbstverletzung entstand. Es wurde ein Zuwachs an ad-
Mythos: Selbstverletzungen sind der verzweifelte äquatem einschlägigem Wissen und Bereitschaft zur aktiven
Versuch, Aufmerksamkeit zu erlangen Unterstützung von auffälligen Gleichaltrigen erreicht. Die
Selbstverletzungen sind nicht primär ein „Schrei nach Auf- Autorinnen der Studie bescheinigen dem Programm eine gu-
merksamkeit“, wie häufig alltagspsychologisch unterstellt te Durchführbarkeit im Schulumfeld und hohe Akzeptanz bei
wird. Kinder und Jugendliche, die sich selbst verletzen, ver- den Teilnehmenden.
suchen, im Gegenteil, ihre Wunden möglichst zu verbergen Im Schulalltag gilt zunächst, dass das Erkennen von Selbst-
und schämen sich häufig für ihr Verhalten. Selbstverlet- verletzungen bei Schülerinnen und Schüler durch Lehrkräfte
zendes Verhalten ist in den meisten Fällen der Versuch, sorgfältig dokumentiert werden muss. Art und Ort der Verlet-
einen kaum erträglichen emotionalen Spannungszustand zung, sowie Zeitpunkt und mögliche Kontextinformationen
zu beenden. zu notieren, hilft in späteren Beratungssituationen und macht
das nachfolgende pädagogische Handeln transparenter.
Eine Handlungsorientierung für Lehrkräfte bei Gesprä-
Als konkrete Auslöser von Selbstverletzungen können un- chen mit Betroffenen geben Plener, Kaess, Blauer und Spröber
terschiedliche Belastungen in Frage kommen, die familiär, (2012). Dort wird betont, dass Schülerinnen und Schülern ge-
schulisch oder auch im Kontakt mit Gleichaltrigen entste- genüber unaufgeregt und empathisch gehandelt werden soll.
hen können. Sie wirken auslösend aufgrund der geringeren Dabei sollte deutlich werden, dass sich die Lehrkraft Gedan-
Fähigkeiten zur emotionalen Verarbeitung des Ereignisses ken macht, nicht urteilt und dass Betroffene als Person wert-
und leichterer emotionaler Irritierbarkeit. Selbstverletzungen geschätzt werden, das Verhalten aber nicht akzeptiert wird.
sind vielfach ein Hinweis darauf, dass die aktuellen Ereignis- Ein Bewusstsein dafür, dass Selbstverletzung als Lösungs-
se emotional nicht anders verarbeitet werden können (Sou- versuch für eine emotionale Belastung zu verstehen ist, un-
rander, Elonheimo, Niemela, Nuutila & Helenius 2006) und terstützt kompetentes Handeln in einem solchen Gespräch.
sind insofern auch als Lösungsversuch zu verstehen. Abzuraten ist von impulsivem Agieren wie z. B. Moralisieren,
Panik oder Aktionismus. Es sollte zudem klar kommuniziert
werden, dass in den allermeisten Fällen die Eltern informiert
oder mit einbezogen werden müssen.
30.4.3 Ausgewählte Methoden
Da konkrete Auslöser Selbstverletzenden Verhaltens bzw.
pädagogischer Prävention „Trigger“ z. B. auch eine schulische Belastung oder das Han-
und Intervention deln von Mitschülerinnen und -schülern sein können, sollten
im Gespräch Situationen erfragt werden, die Betroffene in
Selbstverletzendes Verhalten kann aufgrund der durch Schü- einen Spannungszustand versetzen, um hier ggf. proaktiv
lerinnen und Schüler als positiv erlebten Wirkungen in Schul- handeln zu können. In der Gestaltung des Schulalltags kön-
klassen „ansteckend“ wirken. Diese Ansteckungsgefahr be- nen dauerhaft einige präventiv wirksame Schritte umgesetzt
steht immer dann, wenn, vergleichbar mit dem Missbrauch werden:
von Substanzen, neben den Risiken auch die positiven Aus- 4 Das Artikulieren von negativen und positiven Emotionen
wirkungen bekannt werden. Dies muss im Kontakt mit Be- durch Schülerinnen und Schüler und Lehrer als kompe-
troffenen thematisiert werden, um das Zeigen von Wunden tentes Verhalten zu würdigen, ist ein Prinzip, das hand-
und Kommunizieren über bspw. das „Ritzen“ zu beenden. lungsleitend in verschiedenen pädagogischen Situationen
Zur Durchführung an Schulen wurde das nachfolgend an Schulen sein sollte.
skizzierte Präventionsprogramm entwickelt. „The Signs of 4 Das Initiieren gemeinsam verbrachter Freizeit bspw. in
Self-Injury (SOSI)“ (Jacobs, Walsh, McDade & Pigeon 2009) schulischen Projekten und auch innerhalb des Unter-
610 Kapitel 30  Pädagogische Prävention und Intervention bei psychischen Auffälligkeiten im Schulalter

richts, denn Selbstverletzungen finden zumeist im Zu- gedanklichen Wahrnehmungen. Diese können zwischen
stand sozialer Isolation statt. vagen Ahnungen und Flashbacks variieren, die intensi-
4 Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit zur Klassengemein- ves Erleben, insbesondere der mit der Traumatisierung
schaft kann durch sehr unterschiedliche Maßnahmen, empfundenen Angst, beinhalten. Eine Verbalisierung fällt
u. a. im Rahmen von Schullandheimaufenthalten, befrie- dabei oft schwer, die Erzählungen sind nicht selten desor-
digt werden. ganisiert (Ruf et al. 2007).
4 Vermeidungsverhalten, das auf sehr unterschiedlichen
In Gesprächen sollte Eltern psychoedukative Informationen Ebenen gezeigt werden kann: gedanklich (Vergessen, Ta-
zugänglich gemacht werden, da nicht selten unvollständiges buisieren), emotional (ein „Nicht-Fühlen“ oder emotio-
oder fehlerhaftes Vorwissen über das Störungsbild dominiert nales distanziert Sein) oder motorisch (Flucht aus Um-
(vgl. Chibbaro 2007). Dass mittels Selbstverletzungen Auf- weltsituationen, die an das Trauma erinnern; Vermeiden
merksamkeit erzwungen oder Verhalten manipuliert werden von Reizen, die dem Trauma ähneln). Die mit der Er-
soll, sind nur zwei von vielerlei Theorien, die nicht die tat- innerung verbundenen Ängste lassen durch das Vermei-
30 sächlichen biopsychosozialen Entstehungsbedingungen des dungsverhalten nach, sodass sich dieses Verhaltensmuster
Problemverhaltens widerspiegeln. Allgemein gilt Eltern ge- aufgrund der erfolgenden negativen Verstärkung häufig
genüber eine Entlastung von der Verantwortung für die Ent- stabilisiert und zu sekundären Problemen führen kann.
wicklung der Selbstverletzungen auszusprechen, denn nicht 4 Permanenter Erregungszustand (Alarmzustand) als sub-
selten setzen elterliche Schuldgefühle Betroffene noch mehr jektives vorbereitet Sein auf eine Wiederholung der trau-
unter Druck. Vielmehr sollte der häufig auslösend wirken- matisierenden Erfahrung. Hinzu kommen oft Schlaf-
de Wunsch nach einer Reduktion der inneren emotiona- schwierigkeiten, Schreckhaftigkeit und Probleme, sich auf
len Anspannung „elterngerecht“ erklärt werden. Chibbaro schulische Inhalte zu konzentrieren.
(2007) empfiehlt darauf hinzuweisen, dass man nieman-
den zur Beendigung Selbstverletzenden Verhaltens zwingen
kann, schon gar nicht mit Bestrafung. Diese führe, im Gegen- 30.5.2 Entstehungsbedingungen, Risiko-
teil, zu einer Verstärkung emotionalen Drucks und potentiell und Schutzfaktoren
auch des Problemverhaltens (7 Kap. 1). Ebenso sollten Ul-
timaten, exzessive Kontrolle und Überbehütung vermieden Die Wahrscheinlichkeit, Opfer einer Traumatisierung zu wer-
werden. Petermann und Winkel (2009) empfehlen offen über den, ist verbunden mit soziodemographischen Faktoren wie
Selbstverletzungen zu sprechen und betonen, dass Eltern prä- Geschlecht, Zugehörigkeit zu einer Minorität, sozioökonomi-
sent sein sollten. Es ist außerdem förderlich, wenn Eltern die schem Status und der Zusammensetzung der eigenen Familie
Belastung ihres Kindes explizit anerkennen und das Verhal- (Kultalahti & Rosner 2008).
ten als Versuch begreifen, mit überwältigenden Emotionen Die bei stark belastenden Ereignissen häufig beeinträch-
umzugehen. tigte Informationsverarbeitung führt schließlich dazu, dass in
der Erinnerung die notwendigen Kontextinformationen feh-
len. So entsteht in einer Aktivierung der Erinnerung durch
30.5 Posttraumatische Belastungsreaktion bestimmte Trigger der Eindruck, die Dinge würden gerade
eben erst passieren.
30.5.1 Merkmale, Prävalenzen und Verlauf Einige Faktoren führen dazu, dass das Risiko zur Ent-
wicklung einer Posttraumatischen Belastungsstörung steigt
Die Erfahrung körperlicher oder psychischer Bedrohung bei (Kultalahti & Rosner 2008). Die Stärke und Häufigkeit des
einem kurzfristig und unerwartet auftretenden traumatisie- Traumas ist hierbei ein wesentlicher Punkt. Wenn die Trau-
renden Ereignis (Typ 1-Traumatisierungen) oder dauerhaften matisierung unmittelbar durch Menschen erfolgt, wirkt dies
Ereignis (Typ 2-Traumatisierungen) gefährdet die psychische zusätzlich belastend (Tagay et al. 2013). Die Verstärkung
Entwicklung von Kindern (vgl. Nelson & Carver 1998). Die der Symptome wird weiterhin befördert durch eine intensiv
Prävalenz Posttraumatischer Belastungsstörungen aufgrund wahrgenommene Lebensgefahr, durch den Verlust wichtiger
traumatischer Erfahrungen liegt bei Kindern und Jugend- Ressourcen, den Tod von Freunden oder Verwandten und
lichen in der Bundesrepublik bei 1,6 % (Essau, Conradt & durch die Beeinträchtigung oder den Verlust der eigenen Ge-
Petermann 1999b). Menschen aus Krisenregionen sind er- sundheit bzw. durch eine nachhaltige körperliche Beeinträch-
heblich häufiger betroffen, wobei eine psychotherapeutische tigung. Kinder oder Jugendliche, die sich, wie dies häufig der
Behandlung nur selten erfolgt (vgl. Ruf, Schauer & Elbert Fall ist, selbst eine Mitverantwortung für das erlebte Ereignis
2010, S. 158). geben, erleben zudem eine stärkere subjektive Belastung (Si-
mons & Herpertz-Dahlmann 2008).
1 Posttraumatische Belastungsreaktionen werden in drei Zwei wichtige Faktoren wirken der Entwicklung der Sym-
Symptombereichen sichtbar (Falkai & Wittchen 2014) ptomatik entgegen: stabile soziale Unterstützung und eine
positive emotionale Bewältigung des Ereignisses, wobei beide
4 Die Betroffenen berichten über häufiges Wiedererleben Faktoren in einem Wechselwirkungszusammenhang stehen
in Form von optischen, akustischen, olfaktorischen oder (Hofman, Hahn, Tirabassi & Gaher 2016).
30.6  Schlafauffälligkeiten
611 30
30.5.3 Ausgewählte Methoden können weiterhin sensibilisiert werden, dysfunktionale Ge-
pädagogischer Prävention danken ihres Kindes über sich selbst oder zu den Ursachen
und Intervention der Traumatisierung aktiv aufzugreifen und diese anhand der
realen Ereignisse zu entkräften. In der Konfrontation mit Rei-
zen, die als Trigger für ein Wiedererleben wirken, sollten auch
Schülerinnen und Schüler mit traumatisierenden Erfahrun-
Eltern ebenso den Unterschied zwischen dem Erlebten und
gen oder Biographien profitieren sehr von den Routinen des
der aktuellen Situation darstellen, wobei wieder besonders
schulischen Alltags. Verlässlichkeit im Kontakt und die Ver-
die erlebte Sicherheit des Kindes wichtig ist. Dem wiederhol-
mittlung von Sicherheit und Stabilität im Kontext Schule sind
ten Grübeln des Kindes können Aktivitäten und ein positiver
für diese Gruppe eine wichtige Voraussetzung für schulischen
Ausblick entgegengesetzt werden. Eltern sollten keine For-
Erfolg. Kinder oder Jugendliche mit Traumatisierungserfah-
cierung des Erinnerns anstreben. Sie werden vielfach im Fall
rungen, die erwachsene Ansprechpartner als belastet oder
einer psychotherapeutischen Behandlung miteinbezogen.
befangen erleben, neigen hingegen dazu, diese zu schützen
Im Rahmen einer Psychotherapie bei Posttraumatischen
und nicht mit den eigenen Emotionen zu behelligen.
Belastungsstörungen haben sich kognitiv-behaviorale Kon-
Wenn Schülerinnen und Schüler allerdings im Gespräch
zepte bewährt, die eine sukzessive und unterstützte Erinne-
traumatisierende Erlebnisse berichten, diese verschriftlichen
rung (gedankliche Konfrontation) als Ziel und als zentralen
oder künstlerisch verarbeiten, so ist dies ein Hinweis auf eine
Wirkfaktor umfassen. In der so genannten traumafokus-
Integration und Bewältigung des Erlebten, die nicht unter-
sierten kognitiven Verhaltenstherapie (Cohen, Mannarino &
bunden, sondern unterstützt werden soll. Diese Unterstüt-
Deblinger 2009) werden zudem explizit die Fertigkeiten der
zung kann bspw. darin bestehen, dem Ausdruck hinreichend
Eltern in einem konstruktiven Umgang mit den Symptomen
Zeit und Aufmerksamkeit zu widmen. Unterstützend wirkt
gefördert.
zudem bspw. in einer spontan nachgespielten Situation den
positiven Ausgang einer Narration zu entwickeln.
Reagiert eine Person intensiv auf einen auslösenden Trig- Studie: Verschwinden Posttraumatische Belastungsstö-
ger, der sich in der sozialen oder sächlichen Umwelt befindet, rungen nach einer Zeit wieder?
sollte in dieser akuten Situation der Unterschied zwischen Die Bedeutung einer therapeutischen Intervention bei Vorlie-
der erlebten Traumatisierung und der aktuellen Situation klar gen einer Posttraumatischen Belastungsstörung wird deutlich,
herausgestellt werden. Dabei gilt es, insbesondere den Aspekt wenn man sich mit der Nachhaltigkeit der Symptomatik be-
der real vorhandenen Sicherheit zu betonen. schäftigt.
Hilfreich sind die von Kataoka, Langley, Wong, Bawe- Teegen und Cizmic (2003) untersuchten 37 Seniorinnen
ja und Stein (2012, S. 6) zusammengestellten Standards für und Senioren mit einem mittleren Alter von 81 Jahren hinsicht-
pädagogisches Handeln an Schulen, die eine Orientierung lich einer posttraumatischen Belastung in Zusammenhang mit
im Umgang mit betroffenen Schülerinnen und Schülern sein erlebten Traumatisierungen aus dem Zweiten Weltkrieg. 43 %
sollten. Dort wird deutlich, dass das aufmerksame Zuhören, der Untersuchten litten unter einer voll oder teilweise aus-
Zeigen von Interesse und Empathie, sowie echte Verfügbar- geprägten klinischen Symptomatik, 65 % zeigten Symptome
keit wesentlich ist. Vermieden werden soll persistierendes des Wiedererlebens. Eine klinische Symptomatik hatte in die-
Nachfragen. Ungünstig ist es ebenso, Details zu erfragen ser Studie zusätzlich begleitende Beschwerden zur Folge wie
oder Bewertungen abzugeben. Im Vordergrund steht insge- z. B. Depressionen und geringere emotionale Kompetenz.
samt die Sicherheit und Berechenbarkeit dessen, was passiert.
Das Anbahnen sozialer Verbundenheit durch entsprechende
Lernsettings, Gemeinschaftsaktionen und Freizeitangebote 30.6 Schlafauffälligkeiten
können den wichtigen emotionalen Austausch erleichtern.
Im Kontakt zu Eltern sind bereits präventive psychoedu-
kative Informationen zu den Ursachen und Symptomen 30.6.1 Merkmale, Prävalenzen und Verlauf
Posttraumatischer Belastungsreaktionen deskriptiv bspw. im
Rahmen eines Elternabends vermittelbar. Auffälligkeiten und Störungen des Schlafs können weitrei-
Die Qualität familiärer Beziehungen und insbesondere chende Folgen nach sich ziehen, die auch schulisch relevant
die Rolle der Eltern erhält in der Bewältigung einer trau- sind. Reduzierte Schlafqualität bei Schülerinnen und Schü-
matischen Erfahrung besonderes Gewicht (vgl. Kultalahti & lern führt vermehrt zu einer Einschränkung der kognitiven
Rosner 2008, S. 215). Betroffene Familien sollten in der Regel Leistungsfähigkeit. Weiterhin werden in Zusammenhang mit
dahingehend bestärkt und unterstützt werden, psychothera- Schlafproblemen häufiger aggressive Verhaltensweisen be-
peutische Hilfe in Anspruch zu nehmen und insbesondere El- richtet (Schlarb, Milicevic, Schwerdtle & Nuerk 2012) und
tern gegenüber sollte die Relevanz ihrer Rolle bei der Bewälti- verstärkt auch Schwierigkeiten in Sozialkontakten. Qualität
gung der Traumatisierung ihres Kindes verdeutlicht werden. und Quantität des Schlafs sind wichtige Voraussetzungen für
Hierzu gehört bspw. ein traumatisierendes Ereignis nicht zu aufmerksames und konzentriertes Lernen.
tabuisieren, sondern die Initiativen zur Verarbeitung, die Insgesamt werden Schlafstörungen, trotz ihrer Häufung,
ihr Kind verbal oder spielerisch zeigt, aufzunehmen. Eltern sehr oft übersehen und pädagogisch wichtiges Präventions-
612 Kapitel 30  Pädagogische Prävention und Intervention bei psychischen Auffälligkeiten im Schulalter

wissen, insbesondere zu Schlafhygieneregeln, ist leider oft Schlafprobleme bei Kindern und Jugendlichen sind jedoch
nicht bekannt oder wird nicht hinreichend genutzt. häufiger mit späteren psychischen Störungen verbunden.

Im Fokus: In der Schule über Schlafen reden


30.6.2 Entstehungsbedingungen, Risiko-
Sollten sich Lehrkräfte und Lernende zu dem sehr privaten und Schutzfaktoren
Thema „Schlaf“ austauschen? Ist es angemessen, mit Eltern
über die familiären Schlafgewohnheiten zu sprechen – sei
Psychische Belastungen und Störungen, wie z. B. Ängste,
es im Elterngespräch oder bei Elternabenden?
Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörungen so-
Bei Schülerinnen und Schülern werden wesentliche Vor-
wie Depressionen können verstärkt mit Schlafschwierigkei-
aussetzungen für schulische Leistungen, wie Konzentration
ten einhergehen. Einige Schlafstörungen treten begleitend zu
und Ausdauer beeinträchtigt, wenn Quantität oder Qualität
chronischen Erkrankungen, wie Asthma oder Neurodermi-
des Schlafs nicht ausreichen (Sadeh, Gruber & Raviv 2003).
30 Er ist daher eine wichtige Voraussetzung für aufmerksames
tis auf, deren Symptome besonders nachts eine Verstärkung
erfahren, mit der Folge vermehrter Ein- oder Durchschlaf-
und konzentriertes Lernen. Für die Wissenskonsolidierung,
probleme.
d. h. dem Ordnen neu erlernter Inhalte und für die Verbin-
Die Befunde der Kölner Kinderschlafstudie (Kraenz et al.
dung zwischen vorhandenen Wissensbeständen und neu
2004) legen nahe, dass Ein- und Durchschlafstörungen und
Gelerntem, spielt erholsamer Schlaf eine zentrale Rolle.
Tagesmüdigkeit oft von Umgebungsfaktoren abhängen. So
Wenn sich also Hinweise ergeben, dass die Voraussetzungen
können Lärm, Licht, zu hohe oder niedrige Temperatur oder
für erfolgreiches Lernen aufgrund von Schlafproblemen
schlafbeeinträchtigende Medikamente umgebungsbezogene
nicht erfüllt werden, sollte die eingangs gestellte Frage
Risikofaktoren sein.
positiv beantwortet werden.
Als positiv wirksame elterliche Faktoren gelten fundier-
te Kenntnisse um Verhaltensweisen, die den Schlafrhythmus
beeinflussen bzw. Wissen über angemessene Schlafhygiene,
Häufige Schlafprobleme sind Ein- oder Durchschlafstö-
sowie die elterliche Einstellung zu diesen Regeln, praktizier-
rungen (Fricke-Oerkermann, Frölich, Lehmkuhl & Wiater
te Schlafgewohnheiten und kulturelle Faktoren (vgl. Fricke-
2007a). Erstere bestehen in Schwierigkeiten, in den Schlaf zu
Oerkermann 2008).
finden, wobei das Hinauszögern des Zubettgehens oft durch
Jugendliche entwickeln typischerweise Interessen, die mit
sehr unterschiedliche Verhaltensweisen erreicht wird wie z. B.
Aktivitäten in den Abendstunden und einer allmählichen
durch das späte Nutzen des Smartphones, durch Lesen oder
Verschiebung des Schlaf-Wach-Rhythmus einhergehen. In
wiederholtes Aufstehen etc. Bei Durchschlafstörungen fällt
Folge können zunehmende Schwierigkeiten entstehen, zu ei-
bei insgesamt vermehrt auftretendem nächtlichem Aufwa-
ner Zeit ins Bett zu gehen, die sich an den täglichen Anforde-
chen das erneute Einschlafen besonders schwer.
rungen orientiert (vgl. Pitzer & Schmidt 2011). Eltern haben
Tagsüber werden bei Ein- oder Durchschlafstörungen
auf diesen Prozess vielfach keinen Einfluss mehr (vgl. Blanz
nicht notwendigerweise die zu erwartenden Müdigkeitser-
et al. 2006).
scheinungen sichtbar und die Kinder fühlen sich nicht be-
sonders erschöpft. Es ist vielmehr ein aufgedrehtes oder sogar
hyperaktives Verhalten, das Probleme bereitet. Bei Jugendli-
30.6.3 Ausgewählte Methoden
chen zeigen sich in einem stärkeren Ausmaß Passivität und
ein Gefühl des Unausgeschlafen-Seins. pädagogischer Prävention
Im Rahmen der Kölner Kinderschlafstudie (Kraenz et al. und Intervention
2004) wurden zahlreiche Eltern zum kindlichen Schlafverhal-
ten befragt. Bei ca. 18 % aller Befragten wurden dort Ein- und Die Vermittlung von Wissen über gesundes Schlafen kann
Durchschlafprobleme beklagt, ca. 23 % aller Kinder erwachen unmittelbar im Unterricht umgesetzt werden. Fricke-Oer-
demnach in der Nacht, 14 % hatten in den zurückliegen- kermann, Frölich, Lehmkuhl und Wiater (2007b) betonen
den drei Monaten Alpträume mit einer sehr hohen Quote die Bedeutung einer allgemeinen Schlafedukation. Merkmale
langfristiger Ein- und Durchschlafstörungen. Zu bedenken der individuellen Schlafsituation, die eine Entspannung er-
ist zusätzlich, dass Schlafstörungen der Kinder jenseits des schweren (schulische Belastung, Streit, elektronische Medien,
Grundschulalters durch die Eltern weniger häufig bemerkt Ängste) können ebenso im Unterricht thematisiert werden
werden (Fricke-Oerkermann & Lehmkuhl 2008). (s. u.). Die individuellen Schlafsituationen können verglichen
Die Störung des Schlaf-Wach-Rhythmus mit nachfolgen- und die Wirksamkeit initiierter Veränderungen besprochen
der Tagschläfrigkeit, ist ein häufig im Jugendalter auftreten- werden. Schlafprotokolle, die die individuelle Einschlafzeit,
des Phänomen. Etwa 5 bis 10 % der Jugendlichen leiden an nächtliches Aufwachen, Mittagsschlaf und Aufwachzeiten
Wochentagen unter einem Schlafdefizit, wobei am Wochen- erheben, können im Klassenverband verglichen werden. Da-
ende lange Ausschlafperioden folgen. bei besteht die Möglichkeit das tägliche Wohlbefinden und
Die Prognose bei Schlafstörungen im Kindes- und Ju- das Einhalten von Regeln der Schlafhygiene in Beziehung zu
gendalter ist insgesamt eher günstig. Anhaltende und schwere setzen.
30.6  Schlafauffälligkeiten
613 30
In themenspezifischen Gruppensettings ist auch Peer-
Unterstützung beim Umgang mit Schlafproblemen realisier- Zusammenfassung
bar. Dabei kann ein Austausch über die individuell ange- Mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskon-
wandten Strategien bei schlafbezogenen Schwierigkeiten an- vention hat sich die Bundesrepublik Deutschland der
gestoßen werden. schulischen Inklusion verpflichtet. Hierdurch soll allen
Bei Ängstlichkeit in der Einschlafsituation sind Entspan- Schülerinnen und Schülern der Besuch der allgemeinen
nungsübungen ein probates Mittel, die bspw. Eltern empfoh- Schule und gleichzeitig eine individuelle Förderung er-
len, und/oder im Rahmen von außerschulischen oder schuli- möglicht werden. Psychische Auffälligkeiten sollten da-
schen Angeboten erlernt werden können. Es geht dabei um her aufgrund ihrer hohen Prävalenz, ihrer weitreichenden
den Erwerb von Kompetenzen zur gezielten Entspannung, Ausstrahlung auch in schulrelevante Bereiche wie z. B.
die wiederum eine Voraussetzung für eine gelingende Ein- die Schulleistungen und das soziale Verhalten und an-
schlafsituation ist. gesichts einer bis dato ungenügenden psychotherapeuti-
Eltern von Kindern im Grundschulalter gegenüber kann schen Versorgungssituation in der Lehrkräftebildung eine
im Rahmen von Elternabenden oder im persönlichen Kon- erheblich größere Aufmerksamkeit erfahren.
takt zusätzlich auf die Bedeutung von Schlafhygiene hinge- Psychologisches Wissen und pädagogische Kompe-
wiesen werden (Fricke-Oerkermann et al. 2007b). Das Ein- tenzen hinsichtlich psychischer Auffälligkeiten sind daher
halten dieser Regeln ist eine relativ einfache Maßnahme, um ein wichtiges Handwerkszeug für die pädagogische Ar-
das Schlafverhalten und die entstandenen Schlafgewohnhei- beit an Schulen. Hierzu gehören Kenntnisse zu den Merk-
ten positiv zu beeinflussen: malen psychischer Auffälligkeiten, ihren Entstehungsbe-
4 Eltern können zunächst anhand eines Schlafprotokolls dingungen, wirksamen Risiko- und Schutzfaktoren, so-
den tatsächlich benötigten Schlaf des Kindes herausfin- wie Kompetenzen in der Anwendung von pädagogischen
den. Präventions- und Interventionsmethoden. Eine Auswahl
4 Ein Mittagsschlaf, wenn vorhanden, sollte vor 15 Uhr lie- hierzu wurde in diesem Kapitel zu den Themen Sozia-
gen. le Ängstlichkeit, Depressivität, Selbstverletzendes Verhal-
4 Angemessene Atmosphäre im Schlafraum ohne störende ten, Posttraumatische Belastungsreaktionen und Schlaf-
Licht- und Lärmquellen sowie weder eine zu kalte noch auffälligkeiten zusammengefasst dargestellt. Eine Reihe
eine überheizte Schlafsituation. evidenzbasierter Präventionsprogramme zu psychischen
4 Mögliche Schlafrituale sollten maximal eine halbe Stunde Auffälligkeiten, deren Umsetzung den Verlauf abmildern
in Anspruch nehmen. kann, liegen mittlerweile in einer „schulkompatiblen“
4 Auf zeitlichen Abstand zwischen Abendbrot und Zubett- Form vor – einige davon wurden hier kurz skizziert. Wich-
gehen sollte geachtet werden. tig sind aber auch praxisnahe Kompetenzen in der Mo-
4 Aufputschende Substanzen am Nachmittag (Cola, Ener- difikation des Unterrichts vor dem Hintergrund psychi-
gydrinks, Kaffee etc.) sollten vermieden werden. scher Belastungen von Lernenden, in Form von zusätzli-
4 Beruhigende und entspannende Aktivitäten vor dem Ein- chen Hilfen in der Bewältigung der sozialen, emotionalen
schlafen sind sehr hilfreich. Anstrengung, Streit oder Pro- und kognitiven Anforderungen des schulischen Alltags.
blemgespräche, Krimis, Actionfilme, aufregende Video- Vielfach erweist sich die frühe pädagogische Unterstüt-
clips oder -spiele hingegen nicht. zung z. B. im Umgang mit dysfunktionalen Gedanken, Pro-
4 Kein helles Licht am Abend (d. h. keine Nutzung eines blemen in der Emotionsregulation oder bei bereits vor-
Smartphones oder Fernsehers). Am Morgen hingegen ist handenem Vermeidungsverhalten von Schülerinnen oder
helles Licht hilfreich, um wach zu werden. Schülern als Chance für die Stärkung der psychischen Ge-
4 Ein altersadäquates Maß an Bewegung und Sport ist wich- sundheit.
tig, um am Abend erschöpft und entspannt zu sein. Der Arbeit mit betroffenen Familien kommt eine be-
4 Die Regelmäßigkeit der Essens- und Schlafzeiten sollte sondere Bedeutung zu; gerade die professionelle Psy-
eingehalten werden. choedukation von Eltern ist eine wirksame Unterstützung
4 Schlaf sollte durch die Eltern nicht als Bestrafung einge- in der Bewältigung schulischer Krisensituationen, fördert
setzt oder konnotiert werden. die Bereitschaft zur Inanspruchnahme externer psycho-
therapeutischer Hilfe oder schafft Erleichterung im fami-
Bei Ängstlichkeit rund um die Schlafsituation kann den El- liären Alltag.
tern empfohlen werden, sich aktiv mit diesen Ängsten zu
beschäftigen. Zudem ist das elterliche Aufgreifen schlafbe-
zogener Angstgedanken (tagsüber), eine Prüfung gemeinsam
mit dem Kind, ob abends eine reale Bedrohung vorliegt und
eine schrittweise Konfrontation eine wirkungsvolle Herange-
hensweise.
614 Kapitel 30  Pädagogische Prävention und Intervention bei psychischen Auffälligkeiten im Schulalter

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Serviceteil
Glossar – 618

Sachverzeichnis – 628

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019


D. Urhahne, M. Dresel, F. Fischer (Hrsg.), Psychologie für den Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55754-9
618 Glossar

Glossar
Abruf Verfügbarmachen von gespeicherter Information, um diese Begabung Leistungsvermögen insgesamt bzw. der jeweils individuelle
wiederzugeben oder innerhalb eines Systems weiterzuverarbeiten; Entwicklungsstand der leistungsbezogenen Möglichkeiten; 7 Kap. 3, 9
7 Kap. 2
Begriff/Konzept Grundbaustein der Wissensstrukturen im deklarativen
Aktivationsausbreitung Aktivierung von weiteren Begriffen in einem Langzeitgedächtnis; 7 Kap. 14
semantischen Netzwerk, die eine semantische Ähnlichkeit mit einem
bestimmten Begriff aufweisen; 7 Kap. 7 Behaviorismus Einflussreiche psychologische Theorieschule, die innere
Vorgänge im Menschen als Blackbox definiert und sich auf objektiv
Amygdala Teil des 7 limbischen Systems, der wesentlich für die beobachtbares sowie messbares Verhalten beschränkt. Behavioristische
Wahrnehmung von 7 Emotionen ist, die insbesondere Bedrohungen wie Theorien erklären 7 Lernen auf der Grundlage von Reizen und
Angst oder Wut signalisieren. Zudem spielt sie eine zentrale Rolle bei der Reaktionen; 7 Kap. 1
Speicherung von emotionalen Inhalten im 7 Gedächtnis. Sie ist also
damit beschäftigt, Informationen emotional zu bewerten, und hilft Beobachtungslernen Sozial-kognitive Lerntheorie, bei der neues
damit, Entscheidungen zu treffen, welche Informationen überhaupt Verhalten durch Beobachtung und Verinnerlichung des Verhaltens eines
langfristig gespeichert werden sollen; 7 Kap. 5 Modells erlernt wird; 7 Kap. 1

Angststörung Sammelbegriff psychischer Störungen, bei denen Ängste Bezugsnorm Standard, mit dem ein gemessener Wert verglichen wird.
ohne echte Gefahr oder überaus heftig bei nur geringer Bedrohung Man unterscheidet grundsätzlich zwischen sozialen (Vergleich mit einer
auftreten; 7 Kap. 29 Vergleichsgruppe), sachlichen bzw. kriterialen (Vergleich mit einem
sachlichen Kriterium) oder individuellen Bezugsnormen (Vergleich mit
Anlage-Umwelt-Debatte (Nature-Nurture Debate) Diskussion um früheren Ergebnissen einer Person); 7 Kap. 24
relative Bedeutsamkeit von (Erb-)Anlagen und Umweltfaktoren für die
Entwicklung eines Menschen; 7 Kap. 12, (9) Bildungsinhalte informellen Lernens Themen, die nicht oder nur am
Rande in Lehrplänen enthalten, aber für das Kompetenzprofil
Arbeitsgedächtnis Speicher mit begrenzter Kapazität, der eingehende Erwachsener von grundlegender Bedeutung sind. Neben dem
Informationen aus dem 7 sensorischen Gedächtnis für wenige kognitiven Kompetenzerwerb sind damit etwa personale oder soziale
Sekunden halten und darüber hinaus mit neu eingehender Information Kompetenzen, wie z. B. Verantwortungsbewusstsein, Selbständigkeit
als auch mit bereits im 7 Langzeitgedächtnis abgespeicherten Inhalten oder auch Kooperationsfähigkeit gemeint; 7 Kap. 7
vergleichen kann; 7 Kap. 2
Bildungsmodalitäten informellen Lernens Sehr weit gefächerte
Argumentationsdiagramm Grafische Darstellung einer Aspekte des Lernprozesses, welche die vielfältigen Wege der
Argumentationsstruktur. In der Regel werden dazu Baumgraphen Kompetenzaneignung umfassen, die nicht im Rahmen herkömmlicher
verwendet, in denen Kästen o. Ä. einzelne Aussagen in einer extern strukturierter Lehr-Lern-Prozesse stattfinden. 7 Informelles
Argumentation darstellen und Verbindungslinien o. Ä. zwischen den Lernen erfolgt explizit oder implizit, intendiert oder nicht intendiert,
Kästen die argumentativen Beziehungen (z. B. „spricht für“, „steht im geplant oder zufällig, direkt oder indirekt, von außen angeregt oder
Widerspruch zu“) zwischen diesen Aussagen; 7 Kap. 19 intrinsisch motiviert, bewusst gestaltet oder in den Handlungsvollzug
unter Realbedingungen alltäglicher Anforderungs- oder
Asynchrone Kommunikation 7 Kommunikation, bei der es zwischen Problemsituationen integriert; 7 Kap. 7
der Erstellung (Produktion) bzw. dem Senden einer Nachricht und dem
Empfangen bzw. der Aufnahme (Rezeption) der Antwort darauf zu einer Bildungsorte informellen Lernens Merkmale der Lernumgebung, die all
merklichen zeitlichen Verzögerung kommt; 7 Kap. 19 jene vielfältigen Lernorte wie z. B. Museen, zoologische Gärten,
Schülerlabore oder Science Center umfassen, in denen zwar
Attribution Ursache, die Individuen zur Erklärung von Ereignissen, unzweifelhaft gelernt wird, die jedoch in der Beschreibung der
Handlungen und Erlebnissen (genereller: Effekten) in verschiedenen Gesamtheit des Bildungssystems häufig nicht explizit berücksichtigt
Lebensbereichen heranziehen; 7 Kap. 11 werden; 7 Kap. 7

Auswertungsobjektivität Teilkriterium der 7 Objektivität, nach dem die Bindung Affektives Band zwischen zwei Personen, eine stabile Neigung,
Ermittlung der (numerischen) Messwerte für eine Probandin oder einen Nähe zu suchen. Ihr Ursprung wird phylogenetisch durch die biologische
Probanden unabhängig von der auswertenden Person sein sollte. Diese Schutzfunktion erklärt (Gefahren und Möglichkeiten zum Lernen),
sollten also bei der Quantifizierung identischer Antworten zu ontogenetisch liegt ihre Funktion in der emotionalen Regulation;
identischen numerischen Werten kommen. Für eine hohe Objektivität 7 Kap. 15
sind genaue Auswertungsregeln notwendig; 7 Kap. 24
Classroom Management Herstellung von Rahmenbedingungen, die den
Axon Fortsatz des 7 Neurons, das die elektrischen Signale vom Schülerinnen und Schülern ein konzentriertes Arbeiten ermöglichen. Sie
7 Zellkörper weg zu anderen Neuronen weiterleitet. Dabei variieren die ist Grundlage für effektives Unterrichten; 7 Kap. 17, 18, (29). Siehe auch
Axone in ihrer Länge, die zwischen wenigen Mikrometern bis hin zu 7 Klassenführung
mehr als einem Meter betragen kann; 7 Kap. 5
Cognitive Apprenticeship 7 Unterrichtsmethode, bei der Schülerinnen
Baseline-Evaluation Form der 7 wissenschaftlichen Evaluation, bei der und Schüler während des Lernprozesses eine ähnliche Position haben
eine Ist-Zustand-Analyse zur Beschreibung der Ausgangsituation wie Lehrlinge in der traditionellen Handwerkslehre. Sie befassen sich
vorgenommen wird. Diese Basis ist wichtig für den Vergleich mit der also mit authentischen Problemstellungen, die eine steigende
Situation nach Implementation einer Maßnahme; 7 Kap. 26
619
Glossar

Komplexität und Diversität aufweisen, und werden in ihrem Domäne Themenbereich, der Gegenstand einer inhaltlichen
Problemlöseprozess von der Lehrkraft angeleitet; 7 Kap. 17 Spezialisierung ist; 7 Kap. 3

Cognitive-Load-Theorie Konkretisierung der Rolle von Durchführungsobjektivität Teilkriterium der 7 Objektivität, nach dem
Arbeitsgedächtnisprozessen beim Wissenserwerb, wonach die die Durchführung eines diagnostischen Verfahrens nicht zwischen
Ressourcen des 7 Arbeitsgedächtnisses begrenzt sind und diese durch verschiedenen Anwendungen des Verfahrens variieren sollte. Hierfür
unterschiedliche Aspekte im Lernmaterial und durch den Lernprozess sollte das Verfahren standardisiert sein, d. h. die
belastet bzw. überlastet werden können. Die Theorie erlaubt Durchführungsbedingungen (Materialien, Instruktionen, Reaktionen auf
Erklärungen und Vorhersagen, inwiefern Lernprozesse zu einer Fragen etc.) sollten konstant sein; 7 Kap. 24
erfolgreichen Wissensrepräsentation führen können; 7 Kap. 2
Effektstärke Statistisches Maß, das Aussagen über die Größe und damit
Compliance Konformitätsprozess, der sich zeigt, wenn ein Individuum die inhaltliche Bedeutsamkeit von Effekten (z. B. Unterschiede oder
eine Meinung äußert, die nicht seiner eigenen, aber der öffentlich Zusammenhänge) erlaubt; 7 Kap. 27
geäußerten Meinung entspricht; 7 Kap. 22
Eigengruppenheterogenitätseffekt Ergebnis sozialer Kategorisierung,
Computervermittelte Kommunikation 7 Kommunikation, die bei der die höhere Unterschiedlichkeit von Mitgliedern der eigenen
ausschließlich durch digitale Übertragung von Text, Ton und Bild Gruppe in bedeutsamen Eigenschaften betont wird; 7 Kap. 23
zustande kommt; 7 Kap. 19
Einspeichermodell Annahme über den Aufbau des menschlichen
Conduct Disorder Psychische Störung des Sozialverhaltens im Kindes- Gedächtnisses, nach der nur eine Art von Gedächtnis vorhanden ist, das
und Jugendalter, die im Gegensatz zur 7 Oppositional Defiant Disorder aber über verschiedene Speicher- und Verarbeitungsprozesse für kurz-
kriminelles Verhalten wie Zerstörung von Eigentum, Diebstahl und und längerfristige Speicherung genutzt werden kann; 7 Kap. 2
Betrug sowie Aggression gegenüber Menschen und Tieren einschließt;
7 Kap. 29 Emotion Reaktion auf die Bewertung eines äußerlichen oder innerlichen
Reizereignisses mit Bedeutung für die zentralen Bedürfnisse und Ziele
Deduktives Denken Logischer Schluss wird auf Grundlage gegebener eines Menschen, die sich in einer Episode zeitlicher Synchronisation aller
Voraussetzungen (Prämissen) gezogen; 7 Kap. 14 bedeutenden Subsysteme (Gefühl, Motivation, physiologische
Regulation, motorischer Ausdruck, Kognition) manifestiert; 7 Kap. 10
Deklaratives (explizites) Gedächtnis/Wissen
Gedächtnis-/Wissensrepräsentationen, auf die explizit, d. h. bewusst und Emotionale Eindrucksfähigkeit Fähigkeit, sich in seinem emotionalem
intentional, unter Kontrolle des Individuums zugegriffen wird: Umfasst Erleben von den Ausdruckszeichen anderer Personen beeindrucken zu
semantisches Wissen (begriffliches Wissen über Gegenstände und lassen; 7 Kap. 15
Relationen) und episodisches Wissen (autobiographische Erfahrungen);
7 Kap. 14 Empathie Mitfühlen und Verstehen des emotionalen Zustandes einer
anderen Person, wobei man sich klar darüber ist, dass die andere Person
Deliberate Practice Gezielte selbstinitiierte Übungen, um konkrete der primäre Träger der 7 Emotion ist; 7 Kap. 13
Verbesserungen in einem bestimmten Leistungsbereichereich zu
erzielen; 7 Kap. 3 Encodierung Prozess, durch den Informationen (z. B. Sinnesreize) so
transformiert werden, dass sie von einem System (z. B. dem
Dendrit Weitverzweigter Ausläufer von Fasern, die vom 7 Zellkörper des menschlichen 7 Gedächtnis) aufgenommen und verarbeitet werden
7 Neurons ausgehen. Über die Dendriten werden die von anderen können; 7 Kap. 2
Zellen einlaufenden elektrischen Signale an den Zellkörper des Neurons
weitergeleitet; 7 Kap. 5 Entdeckendes Lernen Lernszenario, in dem die Lernenden Wissen über
Gesetzmäßigkeiten erwerben sollen, indem sie selbst 7 Experimente zu
Depression Psychische Störung, die durch ausgeprägte und anhaltende den Phänomenen, von denen diese Gesetzmäßigkeiten handeln,
Niedergeschlagenheit und Antriebslosigkeit gekennzeichnet ist. Bei durchführen und daran die Gültigkeit von Vermutungen über diese
Kindern und Jugendlichen ist außerdem vor allem auf Gereiztheit sowie Gesetzmäßigkeiten überprüfen; 7 Kap. 19
Bauch- und Kopfschmerzen zu achten; 7 Kap. 29
Entwicklung Längerfristige Veränderungen oder Stabilitäten im Erleben
Depressive Episode Form der 7 Depression, gekennzeichnet durch das und Verhalten, die während der individuellen Entwicklung (Ontogenese)
Auftreten mehrerer Kernsymptome über einen Zeitraum von zwei – also über die Lebenszeit – in gesetzmäßiger Weise aufeinanderfolgen
Wochen, z. B. starke Niedergeschlagenheit, die nicht durch eine konkret bzw. miteinander zusammenhängen; 7 Kap. 12
benennbare Belastung ausgelöst wurde. Häufig tritt ein Gefühl innerer
Leere auf, oft mit einem Verlust des Interesses an Dingen, die vorher als Entwicklungsnorm Normativer Standard, der die Merkmalsausprägung
attraktiv erlebt wurden; 7 Kap. 30 eines Individuums (Entwicklungsstand) einschätzen und damit auch
interindividuelle Unterschiede etwa zu Gleichaltrigen beschreiben lässt;
Direkte Instruktion 7 Unterrichtsmethode, bei der die Lehrperson im 7 Kap. 12
Zentrum des Geschehens steht und in hohem Maße bestimmt, was
gelernt wird, in welche Phasen sich der Unterricht gliedert und welche Entwicklungstheorie Geschlossene Sammlung an formulierten
Aktivitäten die Schülerinnen und Schüler dabei zeigen sollen; 7 Kap. 17 Aussagen über allgemeine Entwicklungsannahmen, die Phänomene
beschreiben, erklären und vorhersagen; 7 Kap. 12
Diskriminierung Verhalten, bei dem einer Person allein wegen ihrer
Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe negative Dinge Erfolgserwartung Subjektive Einschätzung von Personen darüber, mit
angetan oder positive Dinge vorenthalten werden; 7 Kap. 23 welcher Wahrscheinlichkeit Erfolg bei der Bearbeitung einer Aufgabe
eintritt; 7 Kap. 11
620 Glossar

Erziehungsstil Konstellation aus elterlichen Einstellungen, Fachsprache Fachspezifische Sprach- und Kommunikationsmuster,
Verhaltensmustern und Ausdrucksformen gegenüber dem Kind, die das deren Erlernen ein wesentlicher Teil des 7 fachlichen Lernens darstellt,
Klima der Eltern-Kind-Interaktion bestimmt; 7 Kap. 22 indem den Lernenden ein tieferer Blick in das Fach ermöglicht wird;
7 Kap. 8
Evaluation der Programmeffizienz Form der 7 wissenschaftlichen
Evaluation, bei der die Ökonomie einer Maßnahme bewertet wird Familie Durch verwandtschaftliche, soziale und/oder juristisch definierte
(Kosten-Nutzen-Relation); 7 Kap. 26 Beziehungen, welche sich sowohl durch Zusammengehörigkeit,
Zusammenleben und Kooperation auszeichnen als auch auf intimer,
Evaluationsgegenstand (Evaluationsobjekt) emotionaler sowie auf Nähe und Liebe gründender Basis aufbauen. Sie
Untersuchungsgegenstand, auf den sich eine 7 wissenschaftliche besteht aus mindestens zwei Personen, die aufeinander bezogen sind
Evaluation bezieht, z. B. einzelne Interventionsmaßnahmen oder größer und unterschiedlichen Generationen angehören; 7 Kap. 7
angelegte Programme, die auf bestimmte individuelle und kollektive
Veränderungen abzielen; 7 Kap. 26 Fehlerkultur Rahmenbedingungen, die Lernende im Rahmen offener
Aufgaben, der Planung eigener Experimente und bei der Beantwortung
Exekutive Funktionen Selbstregulatorische Prozesse, die bei der offener Fragen zur Partizipation ermutigen. Entscheidend ist neben der
Verhaltenssteuerung notwendig sind, um auf ein Ziel zu fokussieren und Explizierung die Trennung von Lern- und Leistungssituationen, sodass
die Zielerfüllung gegen konkurrierende Handlungsalternativen die Schülerinnen und Schüler wissen, wann es gilt, Fehler zu vermeiden,
abzuschirmen. Sie sind kognitive Fähigkeiten, die beim zielgerichteten und wann Fehler erlaubt sind und eine wichtige Lernressource bilden;
und reflexiven (selbstregulierten) Lernen, dem Problemlösen und der 7 Kap. 18
konzentrierten Aufgabenbearbeitung eingesetzt werden. Sie
überwachen das Denken und Handeln, helfen bei der Fehleranalyse und Feinfühligkeit Fähigkeit einer Bezugsperson, kindliche Signale
-korrektur und ermöglichen eine flexible Anpassung an neue, komplexe wahrzunehmen und richtig zu interpretieren und prompt und
Aufgabensituationen; 7 Kap. 15 angemessen darauf zu reagieren. Sie beinhaltet also Aufmerksamkeits-
und Bewertungsprozesse wie auch konkretes Fürsorgeverhalten
Experiment Forschungsdesign, das durch systematische Beeinflussung gegenüber dem Kind; 7 Kap. 15
einer oder mehrerer unabhängiger Variablen in kontrolliert (mittels
zufälliger Zuweisung) zusammengesetzten Untersuchungsgruppen die Formative Evaluation Form der 7 wissenschaftlichen Evaluation, die die
Auswirkungen auf eine oder mehrere abhängige Variablen unter Implementation einer Maßnahme dazu, wie gut Zielsetzungen und
maximaler Kontrolle weiterer Einflussfaktoren untersucht. Das Umsetzungen zusammenpassen, beschreibt und bewertet. Fortlaufende
ermöglicht den Nachweis kausaler Zusammenhänge; 7 Kap. 27 Rückmeldungen zur Programmoptimierung werden gegeben; 7 Kap. 26

Expertise Dauerhafte Leistungsexzellenz von Individuen innerhalb einer Forschendes Lernen 7 Unterrichtsmethode, bei der als Ausgangspunkt
bestimmten 7 Domäne; 7 Kap. 3 für das Lernen ein wissenschaftliches Problem dient, das die
Schülerinnen und Schüler lösen bzw. für das sie eine Erklärung
Expertise Reversal Effect Effekt, bei dem Instruktionsansätze oder erarbeiten sollen; 7 Kap. 17
-maßnahmen, die bei Novizen zu positiven Effekten auf den
Wissenserwerb führen, mit steigender Expertise an Effektivität verlieren Four-Components-/Instructional-Design-Ansatz (4C/ID-Ansatz)
und sich im Extremfall sogar hinderlich auf den Wissenserwerb 7 Unterrichtsmethode, bei der die Lernenden beim Aufbau von
auswirken; 7 Kap. 17 komplexen Fertigkeiten unterstützt werden, die Lehrperson aber eher
nicht im Zentrum steht; 7 Kap. 17
Explizites Lernen Informationsverarbeitungsprozesse, die bewusst sind,
unter Kontrolle des Individuums stehen und leicht sprachlich dargestellt Fremdevaluation Bewertung findet durch Dritte statt (d. h. durch
werden können; 7 Kap. 14 Personen, die nicht direkt an einer Maßnahme beteiligt sind); 7 Kap. 26

Externe Evaluation Bewertung durch unabhängige Expertinnen und Fremdgruppenhomogenitätseffekt Ergebnis sozialer Kategorisierung,
Experten, die in keiner Beziehung zu der zu evaluierenden Einrichtung bei der die Mitglieder einer Fremdgruppe insgesamt als sehr ähnlich in
und Maßnahme stehen; 7 Kap. 26 Bezug auf die unterstellten Merkmale angesehen werden; 7 Kap. 23

Externe Validität Generalisierbarkeit von Untersuchungsergebnissen Gedächtnis Aktives, dynamisches und veränderbares
über die besonderen Bedingungen der Untersuchungssituation und Informationsverarbeitungssystem, das Informationen aufnimmt
über die untersuchten Personen hinaus. Sie sinkt mit wachsender (7 Encodierung), speichert (7 Speicherung) und abruft (7 Abruf). Man
Unnatürlichkeit der Untersuchungsbedingungen bzw. mit abnehmender unterscheidet zwischen 7 Einspeichermodellen und
Repräsentativität der untersuchten Stichproben; 7 Kap. 27 7 Mehrspeichermodellen; 7 Kap. 2

Extrinsische Motivation 7 Motivation, die sich aus den antizipierten Gliazelle Oberbegriff für Zellen im Nervengewebe, die sich von
Konsequenzen einer Handlung speist; 7 Kap. 11 7 Neuronen unterscheiden. Zu ihren Aufgaben zählt die mechanische
Stabilisierung der Neuronen durch die Bildung von Bindegewebe, die
Face-to-Face-Kommunikation 7 Kommunikation, die nicht durch ein Beteiligung am Zellstoffwechsel und der Informationsweiterleitung, die
digitales Medium vermittelt wird, sondern unter persönlich Anwesenden Beeinflussung der Bildung von 7 Synapsen sowie besonders die Bildung
direkt stattfindet; 7 Kap. 19 des Myelins (7 Myelinisierung); 7 Kap. 5

Fachliches Lernen Erwerb spezifischer Fähigkeiten, Fertigkeiten und Großhirn Größter Teil des Gehirns, der aus der linken und rechten
Kenntnisse, um Aufgaben und Probleme in einem Wissensgebiet schnell, 7 Hemisphäre besteht. Die beiden Gehirnhälften arbeiten nicht getrennt
sicher, flexibel und adaptiv lösen zu können; 7 Kap. 8 voneinander, sondern interagieren bei ihren vielfältigen Aufgaben. Der
Informationsaustausch zwischen beiden Hemisphären erfolgt über
621
Glossar

einen gewaltigen Strang aus Nervenfasern, das Corpus callosum Hypothese des erweiterten Kontaktes Hypothese, dass allein das
(Balken); 7 Kap. 5 Wissen, dass ein Mitglied der eigenen Gruppe freundschaftliche
Beziehungen zu einem Fremdgruppenmitglied unterhält, Vorurteile
Großhirnrinde (Zerebraler Kortex) Teil des Gehirns, der als äußerste abbauen und positivere Einstellungen gegenüber der Fremdgruppe
Schicht des 7 Großhirns die linke und rechte 7 Hemisphäre umgibt. Er bewirken kann; 7 Kap. 23
dient höheren psychischen Funktionen und spielt eine wesentliche Rolle
bei allem, was menschliches Erleben und Verhalten so einzigartig macht, Hypothese des vorgestellten Kontaktes Hypothese, dass die mentale
etwa der Verarbeitung von Sinneswahrnehmungen, bei Simulation, also die Imagination von positiven sozialen Kontakten mit
Willkürbewegungen, bei komplexem Denken und Planen, bei der Fremdgruppenmitgliedern, bereits zu verbesserten Einstellungen
Sprache, dem Gefühlserleben sowie bei Bewusstsein und Persönlichkeit; gegenüber der Fremdgruppe und zum erhöhten Wunsch nach
7 Kap. 5 Intergruppenkontakt führen kann; 7 Kap. 23

Group-Awareness-Tool Software-Tool, das Informationen über Aspekte Identität Gesamtheit dessen, was die eigene Individualität ausmacht,
einer Gruppe oder der übrigen Gruppenmitglieder bereitstellt, die für und das Erleben von Gleichheit und Kontinuität der eigenen Person über
7 kooperatives Lernen relevant sind; 7 Kap. 19 die Zeit; 7 Kap. 16

Gruppenbewusstsein Informationen, die Gruppenmitglieder über Impact-Evaluation Form der 7 wissenschaftlichen Evaluation, bei der
Aspekte einer Gruppe oder der übrigen Gruppenmitglieder haben, z. B. die nachhaltigen Wirkungen von Maßnahmen, die über deren direkte
deren Aufenthaltsort, Aktivitäten, Emotionen, Interessen oder Wissen; Ziele hinausgehen, bewertet werden; 7 Kap. 26
7 Kap. 19
Implizites Lernen Informationsverarbeitungsprozesse, die unbewusst
Gruppenpuzzle Form 7 kooperativen Lernens, die dem Zweck dient, ablaufen (z. B. „Priming“, prozedurales Wissen, klassische und operante
7 Vorurteile abzubauen und den Lernerfolg der Schülerinnen und Konditionierung) und nur schwer sprachlich dargestellt werden können;
Schüler zu steigern, indem sie in kleine Gruppen eingeteilt werden, 7 Kap. 14
deren Mitglieder nur in Abhängigkeit voneinander den Lehrstoff
umfassend lernen und erfolgreich sein können; 7 Kap. 23 Induktives Denken Schluss vom Konkreten auf das Allgemeine;
7 Kap. 14
Hemisphäre Linke bzw. rechte Hirnhälfte, die nicht getrennt
voneinander arbeiten, sondern bei ihren vielfältigen Aufgaben Informelles Lernen Lebenslanger Prozess, der durch tägliche
interagieren; 7 Kap. 5 Erfahrungen und Lernanregungen im persönlichen Umfeld dazu
beiträgt, Wissen, Fähigkeiten und Haltungen und damit Kompetenzen zu
Heteronormativität Einstellung, nach der heterosexuelle erwerben bzw. zu akkumulieren; 7 Kap. 7
Verhaltensweisen als implizite oder gar explizite soziale Norm angesehen
werden, das biologische Geschlecht in eineindeutige Beziehung zur Inhaltsvalidität Teilkriterium der 7 Validität, nach dem die einzelnen
Geschlechtsidentität gesetzt und eine klare Einteilung in richtiges und Items das zu erfassende 7 Konstrukt inhaltlich hinreichend gut
falsches sexuelles Empfinden und Verhalten vorgenommen wird. repräsentieren sollten; 7 Kap. 24
Abweichungen davon können als problematisch, verurteilenswert oder
krankhaft und behandlungsbedürftig bewertet werden; 7 Kap. 13 Inneres Arbeitsmodell von Bindung Vorstellungen und Wissen des
Kindes über 7 Bindung und Bindungsstrategien sowie Erwartungen
Hippocampus Teil des 7 limbischen Systems, der beim Erwerb bezüglich der Verfügbarkeit und des Verhaltens der Bezugsperson,
deklarativer Gedächtnisinhalte eine wichtige Rolle spielt. Er ist mit dafür andererseits aber auch Vorstellungen, Selbstwert- und
verantwortlich, wie Fakten über die Welt und autobiografische Ereignisse Kompetenzeinschätzungen über die eigene Person; 7 Kap. 15
längerfristig im 7 Gedächtnis gespeichert werden; 7 Kap. 5
Intelligenz Allgemeine Fähigkeit oder auch bereichsspezifische
Hirnstamm Evolutionär ältester Teil des 7 Gehirns, der aus Fähigkeiten, die es einer Person ermöglichen, unterschiedliche, vor allem
verschiedenen Strukturen besteht, die die internen Prozesse des Körpers auch komplexe Aufgabenstellungen zu durchdenken und Probleme zu
steuern; 7 Kap. 5, (10) lösen in Situationen, die für das Individuum neuartig, d. h. nicht durch
Lernerfahrungen vertraut sind, sodass keine automatisierten
Hochbegabung Weit überdurchschnittliche Ausprägung von Handlungsroutinen zur Problemlösung eingesetzt werden können;
7 Intelligenz. Ihre Entfaltung in Leistung wird durch verschiedene 7 Kap. 9
Faktoren der Lernenden und ihrer Umwelt moderiert. Als hochbegabt
gilt üblicherweise, wessen Intelligenztestleistung mindestens zwei Intelligenzquotient (IQ) Messergebnis eines Intelligenztests, der angibt,
Standardabweichungen über dem Mittelwert von 100 liegt und damit wie stark die intellektuelle Leistungsfähigkeit einer Person vom
einem IQ von 130 oder mehr Punkten entspricht; 7 Kap. 9 Durchschnitt der Vergleichsgruppe bzw. Altersstufe abweicht; 7 Kap. 9

Hypothalamus Teil des 7 limbischen Systems, das zahlreiche Interesse Relativ stabile Präferenz, Einstellung oder Orientierung in
physiologische Prozesse motivierten Verhaltens steuert, z. B. Bezug auf bestimmte Themenfelder, Lerngegenstände oder
Nahrungshaushalt, Temperaturregulation und sexuelle Erregung; Tätigkeitsformen. Sie besteht in dem Erleben von positiven emotionalen
7 Kap. 5 Zuständen während der Beschäftigung mit dem Interessengegenstand,
einer hohen subjektiven Wertschätzung dieses Gegenstands sowie dem
Hypothese Aussage darüber, ob und ggf. wie sich eine variierbare Größe ausgeprägten 7 Ziel, das Wissen über den Gegenstand zu erweitern;
entweder unabhängig von den Werten der übrigen variierbaren Größen 7 Kap. 11, 15
oder bei bestimmten Konstellationen von Werten der übrigen
variierbaren Größen auswirkt; 7 Kap. 19, 27
622 Glossar

Interferenz Überlagerung verschiedener Gedächtnisspuren, die zu Kleinhirn (Zerebellum) Zweitgrößter Teil des Gehirns an der Hinterseite
Vergessen führen. Zerfall von Information tritt demnach durch das des 7 Hirnstamms, der wichtige Aufgaben bei der Steuerung der
7 Lernen zusätzlicher Informationen auf; 7 Kap. 2 Motorik sowie vor allem beim Erlernen von Bewegungsabläufen und
deren Automatisierung übernimmt. Das Kleinhirn spielt zudem eine
Interkulturelle Kompetenz Fähigkeit, kulturelle Bedingungen und zentrale Rolle bei der Bildung und Speicherung impliziter
Einflussfaktoren im Wahrnehmen, Urteilen, Empfinden und Handeln bei Gedächtnisinhalte infolge von 7 klassischer Konditionierung und ist bei
sich selbst und bei anderen Personen zu erfassen, zu respektieren, zu der Abschätzung von Zeit, der Unterscheidung von Tönen und Mustern
würdigen und produktiv zu nutzen im Sinne einer wechselseitigen sowie der Regulation von 7 Emotionen beteiligt; 7 Kap. 5
Anpassung; 7 Kap. 6
Knowledge Building 7 Unterrichtsmethode, die Schülerinnen und
Interkulturelle Öffnung Bewusst gestalteter Prozess, der Schülern sehr große Spielräume zur Gestaltung ihres eigenen
(selbst-)reflexive Lern- und Veränderungsprozesse von und zwischen Lernprozesses einräumt. Aus den Schülerinnen und Schülern einer
unterschiedlichen Menschen, Lebensweisen und Organisationsformen Klasse soll eine echte „Lerngemeinschaft“ geformt werden, in der alle
ermöglicht, wodurch Zugangsbarrieren und Abgrenzungsmechanismen Mitglieder gefordert sind, eigene Ideen zu Lerninhalten zu formulieren,
in den zu öffnenden Organisationen abgebaut werden und zu äußern und auf den Ideen anderer Lernender aufzubauen, um das
Anerkennung möglich wird; 7 Kap. 6 „gemeinschaftliche Wissen“ kontinuierlich zu erweitern; 7 Kap. 17

Interkulturelles Lernen Psychische Veränderungen aufgrund von Kognitive Aktivierung Basisdimension der Unterrichtsqualität, die
Erfahrungen kultureller Differenz, die sich auf eine veränderte Maßnahmen umfasst, welche die Lehrperson unternimmt, um die
Wahrnehmung von und einen veränderten Umgang mit kultureller Schülerinnen und Schüler zur aktiven und tiefer gehenden
Differenz beziehen; 7 Kap. 6 Auseinandersetzung mit Lernmaterialien anzuregen; 7 Kap. 18

Interne Evaluation 7 Selbstevaluation oder 7 Fremdevaluation, bei der Kognitive Unterstützung Basisdimension der Unterrichtsqualität, die
die Evaluierenden aus der gleichen Einrichtung kommen, jedoch nicht beschreibt, inwiefern Strukturen im Klassenzimmer implementiert sind,
direkt an der zu evaluierenden Maßnahme beteiligt sind; 7 Kap. 26 welche Schülerinnen und Schülern für ihr 7 Lernen Hinweise, Begleitung
und Hilfestellungen geben; 7 Kap. 18
Interne Validität Eindeutigkeit, mit der die kausale Wirkung einer
unabhängigen Variable auf eine abhängige Variable belegt werden Kommunikation Austausch von Informationen zwischen zwei oder
kann. Je weniger Alternativerklärungen für ein Untersuchungsergebnis mehreren Personen, wobei die Mitteilung sprachlich (verbal) und/oder
denkbar sind, desto intern valider ist eine Untersuchung; 7 Kap. 27 nichtsprachlich (nonverbal) erfolgen kann; 7 Kap. 19, 21

Interpretationsobjektivität Teilkriterium der 7 Objektivität, nach dem Komorbidität Gleichzeitiges Auftreten unterschiedlicher psychischer
jede auswertende Person die Ergebnisse eines diagnostischen Störungen bei einer Person. Die verschiedenen Störungen können
Verfahrens gleich interpretieren bzw. zu gleichen Schlussfolgerungen miteinander in Zusammenhang stehen oder sich gegenseitig bedingen,
gelangen sollte. Hierfür können Normtabellen mit den Ergebnissen einer müssen dies aber nicht; 7 Kap. 28
Vergleichsstichprobe genutzt werden, die die Interpretation von
Resultaten einzelner Personen erleichtern; 7 Kap. 24 Kompetenz Persönliche Voraussetzung für die erfolgreiche Bewältigung
spezifischer Anforderungen. Sie wird in der Regel als kontextspezifisch
Intraindividuelle Diagnostik Diagnostische Strategie, bei der früheres (z. B. fachbezogen) verstanden. Kompetent sein bedeutet dabei nicht
Verhalten der betreffenden Person als Referenz zur Einordnung einer nur, dass Personen über relevantes Wissen verfügen oder entsprechende
Merkmalsausprägung dient. Zentral ist also eine individuelle Techniken beherrschen, sondern auch, dass sie in Bezug auf die
Bezugsnorm, z. B. der Wissenszuwachs einzelner Schülerinnen und Anforderungen motiviert sind und ihr eigenes Handeln zieladäquat
Schülern im Anschluss an eine Unterrichtseinheit; 7 Kap. 24 regulieren können; 7 Kap. 20, (8)

Intrinsische Motivation 7 Motivation, die auf der Antizipation einer als Konstrukt (hypothetisches Konstrukt) Begriff, der sich auf ein nicht
befriedigend oder positiv erlebten Ausführung einer Handlung beruht; direkt messbares Merkmal von Personen oder Gruppen bezieht.
7 Kap. 11 Konstrukte werden aus theoretischen Zusammenhängen heraus
erschlossen und sind somit Bestandteile von theoretischen Aussagen.
Intuitive Theorie In Theorien organisiertes frühes (angeborenes) Wissen Die Ausprägung eines Konstrukts kann nur indirekt aus messbaren
in wichtigen Domänen des Weltwissens; 7 Kap. 14 Indikatoren erschlossen werden; 7 Kap. 27

Isolierte Rechtschreibstörung Bedeutsame Beeinträchtigung der Konstruktvalidität Teilkriterium der 7 Validität, nach dem die Ergebnisse
Entwicklung von Rechtschreibfertigkeiten ohne vorherige Lesestörung, einer Person in einem diagnostischen Verfahren in enger Beziehung zum
die die Fähigkeiten betrifft, mündlich zu buchstabieren und Wörter Merkmal (7 Konstrukt) stehen sollten, das mit dem Verfahren gemessen
korrekt zu schreiben; 7 Kap. 28 werden soll. Mit der Konstruktvalidität soll quantifiziert werden,
inwiefern ein Verfahren das misst, was es intendiert zu messen; 7 Kap. 24
Klassenführung Basisdimension der Unterrichtsqualität, die beschreibt,
inwiefern die Lehrperson für einen strukturierten, klaren und Konversion Konformitätsprozess, der sich zeigt, wenn ein Individuum die
störungspräventiven Unterricht sorgt, um maximal mögliche eigene Meinung der öffentlich geäußerten Meinung anpasst; 7 Kap. 22
Unterrichtszeit zur Auseinandersetzung mit Lerninhalten zu
gewährleisten; 7 Kap. 18. Siehe auch 7 Classroom Management Konzeptuelles Wissen (semantisches Wissen) Wissen über Fakten als
auch über Begriffe und Prinzipien; 7 Kap. 20
Klassische Konditionierung Behavioristische Lernform, deren
Wirkmechanismus auf der wiederholten, kombinierten Darbietung von Kooperation Arbeitsteilige Erstellung eines Gruppenprodukts im Sinne
unkonditioniertem und neutralem Reiz beruht; 7 Kap. 1 des Resultats der gemeinsamen Informationsverarbeitung; 7 Kap. 19
623
Glossar

Kooperationsskript Konfiguration textlich oder grafisch repräsentierter Lese- und Rechtschreibstörung Bedeutsame Beeinträchtigung in der
Hilfestellungen, die Lernende in Gruppen bei ihren Entwicklung aller Lese- und Rechtschreibfertigkeiten, die nicht allein
Kooperationsaktivitäten anleiten sollen; 7 Kap. 19 durch das Entwicklungsalter, Visusprobleme oder unangemessene
Beschulung erklärbar ist; 7 Kap. 28
Kooperatives Lernen 7 Unterrichtsmethode, bei der Kleingruppen
(üblicherweise zwei bis sechs Schülerinnen und Schüler) versuchen, ihr Limbisches System Ringförmiger Teil des Gehirns, der aus verschiedenen
7 Wissen bzw. ihre Fertigkeiten zu einem bestimmten Thema auf Basis Gehirngebieten besteht, die überwiegend zwischen motiviertem
der Interaktionen innerhalb der Kleingruppe zu erweitern; 7 Kap. 17 Verhalten, 7 Emotionen und Gedächtnisprozessen vermitteln. Zentrale
Strukturen des limbischen Systems sind der 7 Hypothalamus, der
Kriteriumsorientierte Diagnostik Diagnostische Strategie, bei der eine 7 Hippocampus und die 7 Amygdala; 7 Kap. 5, (10)
Merkmalsausprägung in Bezug zu einem Kriterium gesetzt wird.
Beispielsweise könnte ein bestimmtes Niveau mathematischer Macht Fähigkeit, Einfluss auch gegen den Widerstand anderer
Fertigkeiten durch das Erreichen einer festgelegten Punktzahl in einem auszuüben. In der Gruppenforschung bezeichnet Macht jede
Schulleistungstest (Kriterium) definiert sein; 7 Kap. 24 interpersonelle Beziehung, in der einige Individuen das Verhalten, die
Einstellungen, Überzeugungen oder andere Reaktionen anderer
Kriteriumsvalidität Teilkriterium der 7 Validität, nach dem die Individuen bestimmen; 7 Kap. 22
Ergebnisse eines diagnostischen Verfahrens in Zusammenhang mit
einem wichtigen externen Merkmal (Kriteriumsmerkmal) stehen bzw. Mehrspeichermodell Annahme über den Aufbau des Gedächtnisses,
dieses vorhersagen können sollten; 7 Kap. 24 nach der dieses in Abhängigkeit von der Behaltensdauer in mehrere
Speicher aufgeteilt werden kann. Häufig unterscheidet man hierbei
Kultur Historisch gewordene Ganzheit aus aufeinander verweisenden, zwischen einem 7 sensorischen Gedächtnis, dem 7 Kurzzeitgedächtnis
kollektiv bedeutsamen Regeln, Normen, Werten, Zielen und oder 7 Arbeitsgedächtnis und dem 7 Langzeitgedächtnis; 7 Kap. 2
Deutungsmustern, Symbolen und Geschichten. Sie richtet explizit und
implizit das Handeln, Wollen, Fühlen und Denken derjenigen Menschen Mentales Modell Form der Wissensrepräsentation im
aus, die ihr angehören. Kultur stellt somit einen Rahmen oder ein 7 Langzeitgedächtnis, bei der subjektive Repräsentationen von
Orientierungssystem für das Handeln und Erleben von Menschen dar, relevanten Faktoren und ihrem Zusammenwirken in der konkreten Welt
zugleich wird Kultur durch das Handeln und Erleben von Menschen im 7 Arbeitsgedächtnis verarbeitet und im 7 Langzeitgedächtnis
verändert, ist also nicht allein Struktur, sondern ebenso Prozess; 7 Kap. 6 abgelegt werden. Es wird wie ein 7 Schema oder 7 Skript
erfahrungsbasiert generiert, stellt aber Modellvorstellungen über das
Kurzzeitgedächtnis Speicher mit begrenzter Kapazität, der eingehende dynamische Zusammenwirken von Zuständen, Bedingungen für diese
Informationen aus dem 7 sensorischen Speicher für wenige Sekunden Zustände und Funktionen in komplexen Systemen dar; 7 Kap. 2;
halten kann; 7 Kap. 2 7 Kap. 14

Längsschnittuntersuchung Forschungsdesign, bei dem Merkmale ohne Messung Zuordnung von Messwerten zu beobachteten
systematische Beeinflussung von Variablen wiederholt gemessen Verhaltensweisen oder Äußerungen derart, dass die Beziehungen
werden. Sie ermöglicht den Nachweis von Veränderungen der Merkmale zwischen den Beobachtungen durch die Beziehungen zwischen den
über die Zeit; 7 Kap. 27 Messwerten abgebildet werden. Um dies sicherzustellen, erfolgt die
Zuordnung der Messwerte zu den Beobachtungen nach bestimmten
Langzeitgedächtnis Speicher mit unbegrenzter Kapazität, der Regeln; 7 Kap. 25, 27
eingehende Informationen theoretisch unbegrenzt behält. Man
unterscheidet dabei zwischen einem deklarativen und einem Messverfahren (Messinstrument) Gemeinsame Präsentation mehrerer
nichtdeklarativen impliziten Gedächtnis; 7 Kap. 2 Aufgaben oder Fragen (Items) zur 7 Messung eines Merkmals. Im
schulischen Kontext sind Messverfahren beispielsweise eine
Lernen Prozess, der zu relativ dauerhaften Veränderungen von Verhalten Schulaufgabe, ein Vokabeltest, ein Referat, eine mündliche Prüfung oder
ein standardisierter Schulleistungstest; 7 Kap. 25
oder Verhaltenspotenzialen aufgrund von Erfahrungen führt; 7 Kap. 1

Lernstil In Praxis und Wissenschaft verbreitete, allgemeine Annahme, Metaanalyse Forschungsdesign, bei dem die Ergebnisse mehrerer
dass sich Lernende darin unterscheiden, welche Form von Instruktion, bereits vorliegender Studien zu einem Forschungsthema
z. B. auch in Form von Lernmaterialien, sie bevorzugen. Während die zusammengefasst werden. Sie zielt auf die zusammenfassende
Grundannahme, dass individuellen Bedingungen und Voraussetzungen Einschätzung von Effekten ab; 7 Kap. 27
der Lernenden beim 7 Lernen Rechnung getragen werden sollte,
unumstritten ist, kann die Annahme, dass bestimmte Materialien nur für Metakognition Wissen über verschiedene kognitive Zustände und
ausschließlich einen bestimmten Typ von Lernenden optimal sind, nicht Prozesse sowie die Fähigkeit, die eigenen Kognitionen überwachen und
empirisch gestützt werden, weshalb Lehrerinnen und Lehrer ein regulieren zu können. Man unterscheidet zwischen deklarativem
möglichst breites Spektrum an 7 Lernstrategien und deren effektiver metakognitiven Wissen und prozeduralen metakognitiven Strategien;
Anwendung vermitteln sollten; 7 Kap. 4 7 Kap. 14

Lernstrategie Bündel an Kognitionen und Verhaltensweisen, die von Metakognitives Wissen Form der Wissensrepräsentation im
Lernenden gezielt eingesetzt werden können, um den Lernprozess zu 7 Langzeitgedächtnis, die übergeordnete Prozesse der Kognition meint
initiieren, aufrechtzuerhalten und zu verbessern; 7 Kap. 4 und damit das 7 Wissen einer Person über kognitive Zustände und
Prozesse umfasst. Man unterscheidet zwischen deklarativem
metakognitiven Wissen und prozeduralem metakognitiven Wissen;
Lerntechnik Konkrete Handlung, die die Lehrperson mit dem Ziel
anwendet, die Auseinandersetzung der Schülerinnen und Schüler mit 7 Kap. 2
dem Lerngegenstand zu steuern und zu unterstützen; 7 Kap. 17
Minderleistung (Underachievement) Feststellung, dass die Leistungen
einer Person dauerhaft und deutlich unter dem Niveau liegen, das
624 Glossar

aufgrund ihrer intellektuellen Fähigkeiten zu erwarten wäre. Sie wird Objektivität Hauptgütekriterium psychologisch-diagnostischer
meist im Kontext von 7 Hochbegabung thematisiert; 7 Kap. 9 Verfahren, das erfordert, dass das Messinstrument 7 Messungen
erbringt, die möglichst unabhängig von den Personen sind, die die
Mobbing Negative Handlungen, die systematisch (d. h. wiederholt über Messung durchführen (z. B. Beobachterinnen und Beobachter);
einen längeren Zeitraum) und in Schädigungsabsicht bei 7 Kap. 24, 27
Stärkeungleichgewicht vorgenommen werden. Mobbing kann in
verschiedenen Formen auftreten (verbal, körperlich, relational, Operante Konditionierung Behavioristisches Modell des Lernens, bei
Cybermobbing) und bezieht sich typischerweise auf ein oder zwei Opfer; dem die Auftretenswahrscheinlichkeit von Verhalten aufgrund seiner
7 Kap. 29 Konsequenzen erhöht oder gemindert wird; 7 Kap. 1

Modifikationsdiagnostik Diagnostische Strategie, bei der Informationen Operationalisierung Messbarmachung eines 7 Konstrukts mittels
über notwendige Veränderungen eingeholt werden, z. B. könnte der empirisch fassbarer und quantifizierbarer Größen; 7 Kap. 27
Ausgangspunkt für ein Lernstrategietraining der Gebrauch ungeeigneter
7 Lernstrategien bei Schülerinnen und Schülern sein; 7 Kap. 24 Oppositional Defiant Disorder Psychische Störung des Sozialverhaltens
im Kindes- und Jugendalter, die durch häufiges bzw. persistierendes
Moralisches Denken oder Urteilen Vorstellungen über Gut und Böse, reizbares, wütendes, nachtragendes, streit- und rachsüchtiges Auftreten
Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, und über Gründe, Gutes oder gekennzeichnet ist; 7 Kap. 29
Schlechtes zu tun; 7 Kap. 16
Peers (Peer Group) Gleichaltrigengruppe, die durch eine über einen
Motiv Zeitlich überdauernde Präferenz für bestimmte Anreizklassen. Sie längeren Zeitraum stattfindende (alltägliche) direkte Interaktion und das
beschreibt, wie wichtig Personen eine bestimmte Art von Anreizklasse, Bilden eines sozialen Beziehungsgefüges gekennzeichnet ist. Der Begriff
wie Lern- und Leistungssituationen oder soziale Situationen, sind. Es umfasst unterschiedliche soziale Konstellationen, wie Beziehungen,
werden implizite und explizite Motive unterschieden; 7 Kap. 11 Freundschaften und Cliquen, die sich in ihrer Nähe und Verbindlichkeit
deutlich unterscheiden können. Die Beziehungen sind durch
Motivation Psychischer Prozess, der die Initiierung, Ausrichtung und Gleichaltrigkeit und ausgewogene Machtverhältnisse, d. h. durch
Aufrechterhaltung, aber auch die Steuerung, Qualität und Bewertung Gleichrangigkeit, gekennzeichnet; 7 Kap. 7
zielgerichteten Handelns beeinflusst; 7 Kap. 11
Persönlichkeit Merkmale des Erlebens und Verhaltens, welche über
Multimediales Lernen 7 Lernen aus Text und Bildern; 7 Kap. 19 verschiedene Situationen hinweg konsistent und mittelfristig stabil sind
und in denen sich Menschen voneinander unterscheiden; 7 Kap. 16
Myelinisierung Teilprozess der Gehirnentwicklung, bei dem bestimmte
7 Axone fetthaltig ummantelt werden, wodurch die Geschwindigkeit Posttraumatische Belastungsreaktion Reaktion auf die Erfahrung
und Effizienz der Signalübertragung entscheidend erhöht wird. Die körperlicher oder psychischer Bedrohung bei einem kurzfristig und
Myelinisierung beginnt schon vor der Geburt, erfolgt im Kortex mit unerwartet auftretenden oder dauerhaften Ereignis, die die psychische
deutlich unterschiedlichem Tempo und erstreckt sich bis in das hohe Entwicklung von Kindern gefährdet. Typische Symptome umfassen das
Erwachsenenalter; 7 Kap. 5 häufige Wiedererleben der Ereignisse, Vermeidungsverhalten und
Übererregung; 7 Kap. 30
Neugier Grundlegendes Motiv, sich neuen, überraschenden und
reizvollen Ereignissen oder Gegenständen zuzuwenden. Sie gilt als (Semantisches) Priming Verkürzung der Reaktionszeit bei einem Begriff
wesentliche Basis für Explorationsverhalten und 7 Lernen und kann durch die vorherige Aktivierung eines semantisch ähnlichen Begriffs;
durch eine stimulierende Situation hervorgerufen werden; 7 Kap. 15 7 Kap. 14

Neurogenese Teilprozess der Gehirnentwicklung, bei dem 7 Neuronen Prior-belief-Effekt Interpretation ambivalenter Informationen derart,
durch Zellteilung gebildet werden. Sie ist etwa im fünften dass sie mit dem eigenen 7 Stereotyp oder 7 Vorurteil konform
Schwangerschaftsmonat weitgehend abgeschlossen; 7 Kap. 5 erscheinen und die Überzeugung in die Richtigkeit der ursprünglichen
Annahme noch erhöhen; 7 Kap. 23
Neuron (Nervenzelle) Spezialisierte Zelle, die für das Empfangen,
Verarbeiten und Senden von Informationen durch Übertragung Problemlösen Die durch bewusste Denkprozesse und intelligentes
elektrischer Signale zuständig ist. Sie besteht aus dem 7 Zellkörper, den Handeln geleitete – dabei Hindernisse überwindende – Überführung
7 Dendriten sowie dem 7 Axon; 7 Kap. 5 eines Ist-Zustands in einen Soll-Zustand; 7 Kap. 3

Neurotransmitter Chemische Substanz, welche die Kommunikation der Problemorientiertes Lernen 7 Unterrichtsmethode, bei der Lernende
7 Neuronen untereinander moduliert; 7 Kap. 5 mit authentischen Problemstellungen konfrontiert werden und diese
unter Anleitung, aber zu großen Teilen selbstständig bearbeiten;
7 Kap. 17
Norm Regel, die sich auf Verhalten, 7 Emotionen und Kognitionen
bezieht und in Gruppen einen gewissen Verbindlichkeitsgrad hat.
Präskriptive Normen beinhalten Vorschriften und Anweisungen, Professionelle Überzeugung Schul- und unterrichtsbezogene
proskriptive Normen Verbote und Sanktionen; 7 Kap. 22 Vorstellung und Annahme, die eine bewertende Komponente
beinhaltet. Der übergeordnete Begriff der Überzeugungen (Beliefs)
Normorientierte Diagnostik Diagnostische Strategie, bei der eine beinhaltet auch Einstellungen und Werthaltungen, die sich auf Schule
Merkmalsausprägung in Bezug zu einer Vergleichsgruppe gesetzt wird. und Unterricht beziehen; 7 Kap. 20
Beispielsweise sind IQ-Werte (7 Intelligenzquotient) normierte Werte,
die durch den Vergleich individueller Testwerte mit denen einer Propositionales Netzwerk Verknüpfung von Aussagen zu komplexen
Vergleichsgruppe entstehen: folglich hängt die Höhe eines IQ-Wertes Systemen; 7 Kap. 14
von der jeweiligen Vergleichsgruppe ab; 7 Kap. 24
625
Glossar

Propositionale Repräsentation Modell der Wissensrepräsentation im gespeichert und beruht auf vorausgegangenen Erfahrungen; 7 Kap. 2,
7 Langzeitgedächtnis, bei demsNetzwerke aus logisch 14
zusammenhängenden Aussagen gebildet werden, die entweder als
wahr oder falsch beurteilt werden können; 7 Kap. 2 Selbsterfüllende Prophezeiung Phänomen, bei dem eine ursprünglich
unbegründete Erwartung zu ihrer eigenen Bestätigung führt. Die zu
Prospektive Evaluation Form der 7 wissenschaftlichen Evaluation, bei Beginn unrichtigen Erwartungen eines Betrachters über eine Zielperson
der die Bewertung der Maßnahmenkonzeption zur Abschätzung der und die den Erwartungen entsprechenden Verhaltensweisen des
Realisierbarkeit einer Maßnahme sowie möglicher Nebeneffekte Betrachters gegenüber der Zielperson bewirken, dass sich die Zielperson
herangezogen wird; 7 Kap. 26 so verhält, dass die Erwartungen des Betrachters bestätigt werden;
7 Kap. 23
Prozedurales Wissen Gedächtnis-/Wissensrepräsentationen als Basis der
Ausführung von motorischen und kognitiven Fertigkeiten, die dem Selbstevaluation Mitglieder einer Institution bzw. Organisation
bewussten Zugriff nur schwer zugänglich sind. Abweichend von dieser bewerten sich oder ihre Maßnahmen selbst; 7 Kap. 26
ursprünglichen Verwendung in der Psychologie wird der Begriff
insbesondere in der fachdidaktischen Literatur auch im Sinne des Selbstkonzept Wissen, Überzeugungen und Bewertungen, die sich auf
Wissens über Vorgehensweisen und Abläufe verstanden: Prozedurales die eigene Person beziehen. Es kann auch als Einstellung zu sich selbst
Wissen bezieht sich dann auf das „Wie“ des Unterrichtens und beinhaltet definiert werden, die aus einer kognitiven, affektiven und
einerseits Wissen über die für die Erreichung eines bestimmten Ziels handlungssteuernden Komponente besteht; 7 Kap. 11, 16
geeigneten Methoden und andererseits das (z. T. automatisierte) Wissen
über die Umsetzung dieser Methoden, was stärker den Charakter von Selbstregulation Adaptive Prozesse, die einem Individuum die
„Können“ hat. 7 Kap. 7, 7 Kap. 14 Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung eines optimalen
emotionalen, motivationalen und kognitiven Erregungszustandes
Prozessdiagnostik Diagnostische Strategie, bei der Veränderungen ermöglichen. Man unterscheidet zwischen vorwiegend bewusst und
erfasst werden. Diese Erfassung erscheint vor allem dann sinnvoll, wenn reflexiv ablaufenden 7 exekutiven Funktionen (Top-down-Regulation)
z. B. aufgrund einer Intervention von Änderungen in den sowie den implizit und prozeduralisiert ablaufenden emotions- und
Schulleistungen ausgegangen wird; 7 Kap. 24 motivationsbezogenen Regulationsprozessen (Bottom-up-Regulation);
7 Kap. 15
Psychische Auffälligkeit Manifestiert sich im 7 emotionalen Erleben, im
Denken, im somatischen Bereich bzw. auf der Verhaltensebene. Sie Selbstregulative Fähigkeiten von Lehrkräften Fähigkeiten, um im
umfasst internalisierende und externalisierende Problembereiche. beruflichen Kontext effektiv mit den eigenen Ressourcen haushalten zu
Psychische Auffälligkeiten umfassen sowohl psychische Störungen als können. Eine adaptive Selbstregulation wird dabei als Kombination aus
auch subklinische Phänomene, für die noch keine klinische Diagnose hohem beruflichen Engagement und hoher beruflicher
gemäß WHO-Kriterien (ICD-10) vorliegen; 7 Kap. 30 Widerstandsfähigkeit gesehen; 7 Kap. 20

Quasiexperiment Forschungsdesign, das durch systematische Selbstreguliertes Lernen Form des Erwerbs von 7 Wissen und
Beeinflussung einer oder mehrerer unabhängigen Variablen in natürlich 7 Kompetenzen, bei der Lerner sich selbstständig und eigenmotiviert
vorgefundenen Untersuchungsgruppen (z. B. Schulklassen), bei denen Ziele setzen sowie eigenständig Strategien auswählen, die zur
keine Zufallsaufteilung möglich ist, die Auswirkungen auf eine oder Erreichung dieser Ziele führen. Durch die Bewertung von Erfolgen
mehrere abhängige Variablen untersucht. Bestehende bezüglich der Reduzierung der Ist-Soll-Differenz werden Ziele und
Unterschiedlichkeiten zwischen den Gruppen werden berücksichtigt Aktivitäten im Hinblick auf eine Erreichung des Soll-Zustands
und kontrolliert. Das ermöglicht den Nachweis starker, aber nicht prozessbegleitend modifiziert und optimiert; 7 Kap. 4
zweifelsfreier Aussagen über kausale Zusammenhänge; 7 Kap. 27
Selbstverletzendes Verhalten Sozial nicht akzeptierte körperliche
Querschnittsuntersuchung Forschungsdesign, bei dem Merkmale ohne Selbstverletzungen, die nicht suizidal intendiert sind, alle Körperteile
systematische Beeinflussung von Variablen einmalig gemessen werden. umfassen können, aber zumeist an den Gliedmaßen erfolgen. Die dabei
Sie ermöglicht den Nachweis von Zusammenhängen zwischen entstehenden Wunden werden teilweise im Heilungsprozess wieder
Merkmalen; 7 Kap. 27 geöffnet und in aller Regel durch die Betroffenen verheimlicht.
Jugendliche mit psychischen Störungen oder Problemen haben ein
Rechenstörung Beeinträchtigung von Rechenfertigkeiten wie Addition, besonders hohes Risiko, selbstverletzendes Verhalten zu entwickeln;
Subtraktion, Multiplikation und Division, die nicht allein durch eine 7 Kap. 30
allgemeine Intelligenzminderung oder eine eindeutig unangemessene
Beschulung erklärbar ist; 7 Kap. 28 Selektionsdiagnostik Diagnostische Strategie, bei der Personen oder
Bedingungen ausgewählt werden, etwa bei der Auswahl von
Reifung Ausbildung physiologischer, motorischer oder psychischer Schülerinnen und Schülern für eine bestimmte Schulform oder
Strukturen, wobei weder Erfahrung noch Übung als Ursache der umgekehrt die Selektion einer bestimmten Schulform für eine Schülerin
Veränderungen anzunehmen sind; 7 Kap. 12 oder einen Schüler; 7 Kap. 24

Reliabilität Hauptgütekriterium psychologisch-diagnostischer Semantisches Netzwerk Form der Wissensrepräsentation im


Verfahren, das erfordert, dass das Messinstrument das 7 Konstrukt 7 Langzeitgedächtnis, bei der Informationen nach ihrer kategorialen
möglichst messgenau (präzise) erfasst; 7 Kap. 24, 27 Zugehörigkeit gespeichert und repräsentiert werden, indem
hervorstechende Merkmale von Objekten einer Kategorie erfasst und im
Schema Form der Wissensrepräsentation im 7 Langzeitgedächtnis, bei Sinne eines mentalen, prototypischen Vorstellungsbildes gesammelt
der kategoriale Informationen über spezifische, häufig auftretende werden; 7 Kap. 2, 14
Situationen in abstrahierter Weise gespeichert werden. Information über
ein bestimmtes Objekt oder Konzept ist in abstrakter, allgemeiner Form Sensible Phase (Kritische Phase) Definiertes Zeitfenster, in dem
spezifische Erfahrungen gemacht werden müssen, da es ansonsten zu
626 Glossar

Abweichungen von der normalen Entwicklung (7 Entwicklungsstand) Soziales Faulenzen (Social Loafing, Free Rider Effect) Tendenz, in
kommen kann; 7 Kap. 12 Situationen der Gruppenarbeit die individuelle Anstrengung zu
reduzieren; 7 Kap. 19, 21
Sensorisches Gedächtnis (Ultrakurzzeitgedächtnis; Sensorische
Register) Speicher mit quasi unbegrenzter Kapazität, bei dem neu Soziometrie Sammlung von Methoden, mit deren Hilfe versucht wird,
eingehende Informationen sehr kurz gehalten werden, bevor relevante die Beziehungen zwischen Mitgliedern einer Gruppe durch visuelle
Informationen an das 7 Kurzzeit- bzw. Arbeitsgedächtnis weitergeleitet Darstellungen und/oder Kennzahlen zu analysieren; 7 Kap. 13
werden; 7 Kap. 2
Speicherung Mehr oder weniger dauerhaftes Halten einer Information
Sicht- und Tiefenstruktur des Unterrichts Unterscheidung zur in einem System, um sie entweder aktuell oder zu einem späteren
Beschreibung und Planung von Unterricht. Während Sichtstrukturen Zeitpunkt abzurufen, weiterzuverarbeiten oder längerfristig zu
(Oberflächenstrukturen) „direkt“ durch das Betrachten der bewahren; 7 Kap. 2
Unterrichtssituation erkannt werden können (z. B. Sozialform,
Medieneinsatz, Redeanteile), ist es zur Identifikation der Tiefenstrukturen Statusdiagnostik Diagnostische Strategie, bei der der Zustand eines für
notwendig, das Unterrichtsgeschehen stärker zu interpretieren (z. B. eine Fragestellung relevanten Merkmals beschrieben wird. Ihr liegt die
Vorliegen einer Fehlervermeidungskultur, allgemeine Wertschätzung); Annahme der relativen Stabilität des Zustands einer Person hinsichtlich
7 Kap. 18 bestimmter Aspekte des Erlebens und Verhaltens zugrunde. So können
beispielsweise das Vorliegen von Entwicklungsstörungen festgestellt
Situationales Wissen Wissen über Anforderungen und Merkmale von oder bestimmte Persönlichkeitsmerkmale erfasst werden; 7 Kap. 24
Problemen, die in bestimmten Inhaltsbereichen und Domänen
typischerweise auftauchen und dabei helfen, die Aufmerksamkeit auf Stereotyp Kognitive Struktur oder mentale Repräsentation, die Wissen
relevante Aspekte der Problemlösung zu lenken; 7 Kap. 20 und Überzeugungen über eine soziale Gruppe von Menschen enthält;
7 Kap. 23
Skalenniveau Aussage über die Eigenschaften von Skalen.
Unterschieden wird vor allem zwischen Nominal-, Ordinal-, und Stereotype Threat Befürchtung von Mitgliedern einer Gruppe, ihr
Intervallskalen, die stufenweise mehr Eigenschaften erfüllen und mehr Verhalten in stereotyprelevanten Situationen könne negative
Möglichkeiten der Analyse verfügbar machen; 7 Kap. 27 7 Stereotype über ihre Gruppe bestätigen; 7 Kap. 23

Skript Form der Wissensrepräsentation im 7 Langzeitgedächtnis, bei der Summative Evaluation Form der 7 wissenschaftlichen Evaluation, bei
Informationen zum typischen Ablauf von Handlungen und Ereignissen der die Wirksamkeit bzw. die Effekte einer Maßnahme in Bezug auf die
als prototypische Ereignisfolgen und verallgemeinerbare gesetzten Ziele unmittelbar nach Abschluss geprüft werden (Vergleich
Handlungsschemata individuell repräsentiert werden. Ein Skript mit Ist-Zustand-Analyse); 7 Kap. 26
beeinflusst in gleicher Weise wie ein 7 Schema die Encodierung und das
Speichern von ereignisbezogenen Informationen. Fehlende Synapse Mikroskopisch schmaler Spalt zwischen dem 7 Axonende des
Informationen werden ergänzt und Erwartungen über die nächste
sendenden 7 Neurons (präsynaptische Endigung) und den 7 Dendriten
Teilhandlung werden abgeleitet; 7 Kap. 2, 14 oder dem 7 Zellkörper des empfangenden Neurons (postsynaptische
Endigung). An seinem Ende besitzt das Axon eine Verzweigung von
Soziale Angst Häufiger Auslöser bei Schülerinnen und Schülern für sogenannten Endknöpfchen, über die ein Neuron Synapsen mit
besonders sensible Wahrnehmung. Betroffene Schülerinnen und Schüler Abertausenden von anderen Neuronen bilden kann; 7 Kap. 5
fühlen sich bedroht, verhalten sich unsicher, vermeiden soziale
Aufmerksamkeit durch Abbruch des Blickkontakts oder zeigen Synaptogenese Teilprozess der Gehirnentwicklung, bei dem jedes
Fluchtverhalten. Regelmäßig auftretende körperliche Reaktionen sind
7 Neuron 7 Synapsen mit Tausenden von anderen Neuronen bildet. Sie
Herzklopfen, „weiche“ Knie, Zittern, Weinen oder Schweigen; 7 Kap. 30 erfolgt etwa ab der zwanzigsten Schwangerschaftswoche, verläuft in
unterschiedlichen Gehirnregionen unterschiedlich schnell und hält im
Soziale Erleichterung Phänomen, dass Personen einfache bzw. gut Grunde lebenslang an; 7 Kap. 5
gelernte Aufgaben in Gruppen erfolgreicher bearbeiten als alleine;
7 Kap. 22 Synchrone Kommunikation 7 Kommunikation, bei der es zu keiner
nennenswerten zeitlichen Verzögerung zwischen der Erstellung
Soziale Interaktion Umfassende, also nicht nur auf sprachlicher (Produktion) bzw. dem Senden einer Nachricht und dem Empfangen
7 Kommunikation beruhende Wechselwirkung zwischen zwei oder bzw. der Aufnahme (Rezeption) der Antwort darauf kommt; 7 Kap. 19
mehreren Personen mit verhaltensbeeinflussender Wirkung; 7 Kap. 21
Thalamus Teil des Gehirns, der als Umschaltstation für sensorische
Soziale Kognition Informationsaufnahme- und -verarbeitungsprozesse, Signale im Gehirn Informationen von den Sinnessystemen empfängt
welche sich auf die soziale Welt des Individuums beziehen; 7 Kap. 13 und diese zu den sensorischen Arealen im Kortex übermittelt. Er
empfängt ebenso Informationen von höheren Zentren und leitet diese
Soziale Struktur Systematischer Zusammenhang, der zwischen den zurück an Medulla und 7 Kleinhirn; 7 Kap. 5
menschlichen Äußerungen und Verhaltensweisen einer Gruppe besteht;
7 Kap. 22 Theory of Mind Verständnis, dass jemand ein anderes Wissen über die
Welt haben kann als man selbst. Getestet wird das Verstehen der
Sozialer Einfluss Änderung von Meinungen, Einstellungen und des mentalen Zustände anderer Personen häufig mit Aufgaben zum
Verhaltens eines Individuums durch die Einwirkung anderer Individuen Verständnis falscher Überzeugungen (False Belief Tasks); 7 Kap. 13
und Gruppen von Individuen; 7 Kap. 22
Unterricht Gestaltung von Lernumgebungen mit dem Ziel, optimale
Gelegenheiten für die effektive Ausführung von Lernaktivitäten der
Schülerinnen und Schüler bereitzustellen; 7 Kap. 18
627
Glossar

Unterrichtsmethode Instruktionaler Ansatz, auf dessen Grundlage Wissenschaftliche Evaluation (Evaluationsforschung)


umfassendere Unterrichtsabläufe geplant und durchgeführt werden Wissenschaftsgestützte Untersuchung von Effektivität (Ausmaß der
können; 7 Kap. 17 Zielerreichung) und Effizienz (Verhältnis von Aufwand und Nutzen) von
Gegenständen unter Berücksichtigung geltender Standards
Validität Hauptgütekriterium psychologisch-diagnostischer Verfahren, (Zielexplikation und Standards der Evaluationsforschung); 7 Kap. 26
das erfordert, dass das Messinstrument möglichst das misst, was es zu
messen vorgibt – d. h. es erfasst das 7 Konstrukt in Übereinstimmung Zellkörper Teil des 7 Neurons, der neben dem Zellkern alle notwendigen
mit dessen Inhalt, Struktur und Beziehungen zu anderen Merkmalen; Zellorganellen enthält, die eine Zelle am Leben erhalten. Eine weitere
7 Kap. 24, 27 wichtige Funktion ist die Bereitstellung der 7 Neurotransmitter; 7 Kap. 5

Versuch Festlegung eines bestimmten Wertes für jede einzelne frei Zentrale Exekutive Bestandteil des 7 Arbeitsgedächtnisses, in welchem
variierbare Größe sowie das Ziel, die davon abhängige interessierende eine Vielzahl kognitiver Prozesse mit Bezug zu Handlungsregulation und
Größe zu beobachten; 7 Kap. 19 Aufmerksamkeitsprozessen zusammengefasst sind und der für
strukturiertes Lernen wichtig ist; 7 Kap. 28
Vorurteil Ablehnende oder feindselige Haltung gegenüber einer Person,
die zu einer Gruppe gehört und deswegen dieselben zu Ziel Vorwegnahme von Handlungsfolgen, die mehr oder weniger
beanstandenden Eigenschaften haben soll, die man der Gruppe bewusst zustande kommt. Sie bezieht sich auf zukünftige, angestrebte
zuschreibt; 7 Kap. 23 Handlungsergebnisse und beinhaltet zugleich auch eine kognitive
Repräsentation dieser Handlungsfolgen; 7 Kap. 11
Vorwissen 7 Wissen, das vor der Verarbeitung und Speicherung von
neuem Wissen im 7 Langzeitgedächtnis bereits zur Verfügung steht und Zielorientierung Individuelle motivationale Tendenz, die immer dann
die Bearbeitung des neuen Wissens bzw. gegebener Aufgaben die Ausbildung eines konkreten 7 Ziels wahrscheinlich macht, wenn die
beeinflusst; 7 Kap. 14 Situation das Verfolgen des Ziels erlaubt; 7 Kap. 11

Wissen Alle im 7 Langzeitgedächtnis in Form von


Wissensrepräsentationen festgehaltenen Inhalte
(kognitionspsychologische Perspektive); 7 Kap. 14
628 Sachverzeichnis

Sachverzeichnis

4C-ID-Ansatz siehe Four Components/In- – Attributionsdimensionen 220 – informelle 137


structional Design-Ansatz – dispositionale 112 – materiale 144
50 %-Regel 508 – isomorphe 110 Bildungsinhalt 129
– ultimativer Attributionsfehler 459 Bildungsmodalität 129
Attributionsdreieck 112 Bildungsmonitoring 525
A Attributionstraining 608 Bildungsort 129
Audience-Response-Systeme 374 Bildungssprache 276
Abruf 25
Aufgabenformate 363, 364 Bildungsstandards 498
– Abrufübung 41
Aufgabenhomogenität 498 Bindung 265, 306
– Strategien 29
Aufgabentypen 446 – Bindungsdesorganisation 307
Abwechslung 362
Aufmerksamkeit 17 – Bindungsqualität 307
Abweichungshypothese 254
Aufmerksamkeitsteilungsprinzip 380 – inneres Arbeitsmodell 308
Accountable Talk 429
Auszeit 15 Bindungstheorie 306
ACT-R-Theorie 25, 48
Autonomieerleben 300 Binnendifferenzierung siehe innere Differen-
Adaptation 241, 297
Autonomiephase 300 zierung
Adaptive Control of Thought siehe ACT-R-
Autorität 451 Black Box 4
Theorie
autoritativer Erziehungsstil 595 Borderline-Syndrom siehe emotional-
ADHS 577
Axon 87 instabile Persönlichkeitsstörung
– Hyperaktivität 577
Brainstorming 447
– Impulsivität 577
Broca-Areal 92
– Unaufmerksamkeit 577
Adoptionsstudien 237
B
Affekt 188
Aggression 266
Basisemotion 190
Basisrate 10, 489
C
Akkommodation 297 Begabtenförderung 177 Chaining siehe Verhaltensverkettung
Aktionspotential 87 – Akzeleration 177 chronologisches Alter siehe Lebensalter
Akzeleration 254 – Differenzierung 177 Chunk 27
Allgegenwärtigkeit 361 – Enrichment 177 Chunking-Theorie 57
allgemeine Lernbehinderung 568 – Separierung 177 Chunks 280
allgemeine Lese-Rechtschreibschwäche 573 Begabung 167 classroom management siehe Klassenfüh-
allgemeine Sprachkompetenz 573 – Begabungsprofil 167 rung
’-Niveau siehe Signifikanzniveau Bekräftigung 7 Clicker siehe Learner-Response-System;
Alpha-Position 264 Belohnung 215 Audience-Response-Systeme
ambulantes Assessment 542 Belohnungsaufschub 80, 302 Clique 263
– Experience-Sampling-Methode 542 Benotungsmodelle 507 CLT siehe Cognitive-Load-Theory
Amygdala siehe Mandelkern Beobachterdrift 487 Clustern 29
anale Phase 242 Beobachtungs- und Beurteilungsfehler 487 COACTIV-Studie 401
Analogiebildung 287 Beobachtungslernen 16, 243 Cognitive Apprenticeship 341
Angebot-Nutzungs-Modell 357 Beobachtungsstichproben 486 Cognitive-Experiental Self-Theory 118
Angststörung 588 Beobachtungsverfahren 79 – Domino-Effekt 119
– generalisierte Angststörung 588 Berichtszeugnisse 510 – Mosaik-Effekt 119
– Prüfungsangst 588 Berliner Intelligenzstrukturmodell 169 – Nice-to-have-Effekt 119
– soziale Angst 588 Berufsinteressenhexagon 299 – Wendepunkteffekt 119
A-nicht-B-Fehler 303 Bestrafung siehe Strafe Cognitive-Load-Theorie 43, 44, 47, 377
Anlage-Umwelt-Debatte 235 Beta-Position 264 – extraneous load 43
Anlage-Umwelt-Kontroverse 173 Beurteilungsraster 501, 505 – germane load 43
Anlauttabelle siehe Schreiben nach Gehör Bewerten 506 – intrinsic load 43
Annäherungssystem 189 Bewertung 73 – overload 43
Anti-Bias 115 – qualitative 73 Coming-out 256
antisoziales Verhalten 266 – quantitative 73 Compliance 443
Appraisal 191 – subjektive 73 computerbasierte Simulationen 382
Aptitude-Treatment-Interaction siehe ATI- Bewertungsemotion 191 computer-supported collaborative
Forschung – Kontrollierbarkeit 191 learning siehe computerunterstütztes
Äquilibration 241, 297 – Wert 191 kooperatives Lernen
Arbeitsgedächtnis 26 Bezugsnorm 507 Computertomografie 97
Argumentation Rating Tool 428 – individuelle 475, 507, 509 computerunterstütztes kooperatives
Argumentationsdiagramm 389 – kriteriale 475, 507 Lernen 386
Argumentieren 338 – soziale 475, 507, 508 Conceptual Change 146
Assimilation 297 Big Five siehe Fünffaktorenmodell Conceptual-Change-Ansatz 35
Assoziationen 32 Big-Fish-Little-Pond Effekt 213 confirmation bias 459
ATI-Forschung 397 Bilder 376 Cortisol 595
Attributionen 112, 211, 219, 221 Bildung Criticial Incident Technique 109
– attributionales Feedback 222 – formale 144 Cronbachs Alpha 478
629
Sachverzeichnis

CT siehe Computertomographie Dopaminmangelhypothese 579 – Entwicklung sexueller Orientierung 257


Cue 37, 40 Drei-Instanzen-Modell 242 – Entwicklung von Beziehungen 256
Culture Assimilator siehe Intercultural Sensi- Drei-Phasen-Modell des – exekutive Funktionen 303
tizer Fertigkeitserwerbs 55 – Gedächtnisentwicklung 244
curiosity-driven 135 Dreischichtenmodell 71 – Identität 323
Drei-Schichten-Modell der Intelligenz 169 – Interessen 298
DSM-5 siehe Diagnostic and Statistical Ma- – kognitive Entwicklung 240
D nual of Mental Disorders – kontinuierliche Entwicklung 235
DTI siehe Diffusion Tensor Imaging – körperliche Entwicklung 254
Darstellungsmittel 376
Dual-Pathways-Theorie 579 – moralische 324, 325
deduktiv 534
– Verzögerungsaversion 579 – Motivation und Interesse 296
Dekategorisierung 462
Dyskalkulie 567 – psychosoziale Entwicklung 242
Deliberate Practice 54
– Selbstkonzept 319
– Modell 59
– Selbstregulation 303
deliberate practice-Ansatz 48
DEMAT 9 502
E – soziale Entwicklung 258
– sprachliche 274
Dendrit 87 E4Teach 434
Entwicklungsaufgaben 242
– Dendritenbaum 94 early-timing-hypothesis siehe Frühreifungs-
Entwicklungsdyspraxie siehe Entwicklungs-
Denken hypothese
koordinationsstörungen
– deduktives 287 echoisches Gedächtnis 27
Entwicklungsgebiet 79
– divergentes 180 EEG siehe Elektroenzephalographie
Entwicklungskoordinationsstörungen 254
– induktives 286 Effektstärke 547
Entwicklungspsychologie 232, 274
– kausales 288 Egozentrismus 240, 259 Entwicklungsstand 234
– konvergentes 180 – jugendlicher Egozentrismus 260 Entwicklungstests 482
– moralisches 324 eigene Schulzeit 408 Entwicklungstheorien 239
– problemlösendes 286 – epistemologische Überzeugungen 408 Epigenetik 236
– wissenschaftliches 289 – Zielorientierungen 409 Erblichkeit siehe Heritabilität
– wissenschaftlich-kausales 288 Eigengruppe 458 ereigniskorrelierte Potenziale 96
depressive Episode 606 – Heterogenitätseffekt 458 Erklären 337
Deprovinzialisierung 462 Einspeichermodell 25 Erwartungs-Wert-Modell 209
deviance-hypothesis siehe Abweichungshy- Einstellungen – Erfolgserwartung 211, 212
pothese – soziale 458 – Erwartungskomponente 209, 211, 213
Diagnosekompetenz 472 EKP siehe ereigniskorrelierte Potenziale – Wertkomponente 209, 218
Diagnostic and Statistical Manual of Mental Elaboration 26 Erwartungs-Wert-Theorien 300
Disorders 568 Elaborationsstrategien 283 erweitertes kognitives
Diagnostik Elektrode 95 Motivationsmodell 211
– diagnostischer Prozess 473 Elektroenzephalografie 95 Erziehungsstile 453
– Gütekriterien 476 Elimination 94 Es 242
– intraindividuelle 476 Eltern-Kind-Beziehung 265 ESNaS-Modell 151
– kriteriumsorientierte 475 Emotion 188 Evaluation siehe Evaluationsforschung
– Modifikationsdiagnostik 474 – epistemische 197 – externe Evaluation 523
– Prozessdiagnostik 474 – selbstwertbezogene 192 – Fremdevaluation 523
– psychologische 472 – soziale 198 – interne Evaluation 523
– Selektionsdiagnostik 474 emotional instabile – Selbstevaluation 523
– Statusdiagnostik 474 Persönlichkeitsstörung 608 Evaluationsforschung 519
– Strategien 474 emotionale Eindrucksfähigkeit 305 Evaluationsfunktion 521
diagnostische Urteile 402 Emotionen 304 – Entscheidungsfunktion 521
DIALOGUE 429 – primäre 304 – Erkenntnisfunktion 521
Differenzierung 368 – sekundäre 304 – Legitimationsfunktion 522
– äußere 368 – Vorläuferemotionen 304 – Lern-und Dialogfunktion 521
– innere 368 Empathie 267 – Optimierungsfunktion 521
Diffusion Tensor Imaging 97 Empirie 534 – Pseudoevaluation 522
digital divide siehe Wissenskluft empirische Unterrichtsforschung 354 – symbolische 522
digital inequality 133 Enkodierung 25 Evaluationsgegenstand 520
digitale Schulbücher 381 – Enkodierhilfe 46 Evaluationskriterium 520
direkte Instruktion 339 – Enkodierspezifität 37 – Akzeptanz 520
Disäquilibrium 297 – Enkodierungsstärke 39 – Effektivität 520
Disharmoniehypothese 176 – Strategien 29 – Effizienz 520
Disjunktions-Constraint 275 Entscheidungsfehler 488 – Nachhaltigkeit 520
Diskrepanzkriterium 568 Entspannungsübung 613 – Transfererfolg 520
Diskrimination 7, 14 Entwicklung 232–234 Evaluationsnutzung 522
Diskriminierung 458 – Beziehung kognitive & sprachliche 290 Evaluationsobjekt siehe Evaluationsgegen-
Diskussion – Bindung 306 stand
– schülerzentrierte 428 – diskontinuierliche Entwicklung 235 Evaluationsstandard 521
Disziplinierungsmaßnahmen 362 – Emotionsqualitäten 304 – Durchführbarkeit 521
Dokumentenanalyse 79 – Emotionsregulation 306 – Fairness 521
Domäne 54 – Entwicklung als Lernen 233 – Genauigkeit 521
– Domänenspezifität 56 – Entwicklung als Sozialistion 234 – Nützlichkeit 521
630 Sachverzeichnis

Evaluationsziel 522 Fragebogen 77 – Meinungsverschiedenheiten 445


– Baseline-Evaluation 523 Fragenstellen 338 – Normen 441
– Evaluation der Programmeffizienz 523 Frame 34 – Prozesse 445
– formative Evaluation 523 free rider effect siehe soziales Faulenzen – Rollen 442
– Impact-Evaluation 523 free-choice-learning 135 – Statushierarchien 442
– prospektive Evaluation 523 fremde Situation 307 – Zusammenhalt 442
– summative Evaluation 523 Fremdgruppe 458 Gruppenarbeit
evolutionäre Sozialisationstheorie 243 – Homogenitätseffekt 458 – Effektivität 451
exekutive Funktionen 92, 280, 302 Freundschaft 262 Gruppenmobilisierung 362
Exotic becomes erotic-Theorie 258 Frontallappen 90 Gruppenpuzzle 337, 463
Experience Sampling 78 Frühreifungshypothese 254 Gruppenrallye 337
Experiment 364, 382, 545 Fünffaktorenmodell 316 Gütekriterien
Experimentraum 382 Fünfphasenmodell 59 – Zusammenhänge 480
expert teacher 62 funktionelle Gütemaßstab 196
Expertenhandeln 56 Magnetresonanztomographie 97 – individueller 196
Experten-Novizen-Experiment 279 Funktionskonzept 147 – kriterialer 196
Expertenparadigma 60, 356 – sozialer 196
Expertise 54, 56, 60
– adaptive 59 G H
– Expertiseerwerb 58 game-based learning 385
– Expertisegrad 56 Gamification 385 Halo-Effekt 487
– generisch 59 Ganzheits-Constraint 275 Handlungskontrolltheorie 219
– Routine- 59 Gatekeeper-Funktion 130 Harmoniehypothese 176
– spezifisch 59 – allgemeine 131 Hauptgütekriterium 538
expertise reversal principle 381 – differentielle 131 – Objektivität 538
Expertise-Ansatz 279 Gedächtnis 24 – Reliabilität 538
Expertise-Reversal-Effekt 340 Gedächtnismodell 26, 244 – Validität 538
externe Validität 548 – Kurzzeitgedächtnis 27 Heinz-Dilemma 324
– Langzeitgedächtnis 30 Hemisphäre 90
Hemmungsprozess 41
F – sensorisches Gedächntis 27
Gedächtnisstrategien 282 Herausforderung 362
fachliches Kommunizieren 153 Gefangenendilemma 594 Heritabilität 236
Fachsprache 427 Gefühl 188 – Heritabilitätskoeffizient 236
Fading 341, 346 geistige Leistungsfähigkeit 475 Heterogenität 368
Fading-Theory 39 Generalfaktorentheorie der Intelligenz 168 Heteronormativität 256
Faktorenanalyse Generalisierbarkeit 548 HEXACO-Modell 316
– explorativ 479 generalisierte Angststörung 590 Highlighting 69
– konfirmatorisch 479 Generalisierung 7, 14 High-Stakes-Test 520
Familie 130 Generalizability-Theory 359 Hinweisreize 14
Feedback 346, 366 Generic Learning Outcome 136 Hippocampus 90
– evaluatives 347 Genetik 236 Hirnstamm 88
– Feed-Back 346 genitale Phase 242 Hochbegabung 172, 175
– Feed-Forward 346 Genom 236 Hofeffekt siehe Halo-Effekt
– Feed-Up 346 Genom-Umwelt-Korrelation 238 hostile parenting 596
– Formen 366 Genotyp siehe Genom hostile teaching 596
– hinweisgebendes 347 Gerechtigkeit 268 Hypothese 383, 535
– konstruktives 366 geschlechtliche Identität 256 – Alternativhypothese 553
– personales 347 Geschlechtskonstanz 255 – einseitig 554
– zur Selbstregulation 347 Geschlechtsstabilität 255 – Nullhypothese 553
Fehlerkultur 365 Gesetz der Wirkung 9 – zweiseitig 554
Feinfühligkeit 308 Gesprächsstrategien 430 Hypothesen-Befund-Beziehungen 289
FIAC siehe Flanders Interaction Analysis Ca- Gesundheitstyp 407 Hypothesenraum 383
tegories geteilter Aufmerksamkeitseffekt siehe split Hypothesentestung
Filter 72 attention effect – Fehler 1. Art 554
– Automatic 72 Gewalt 266 – Fehler 2. Art 554
– Ressourcen 72 giftedness 167
Fischteicheffekt 320
Flanders Interaction Analysis Categories 425
Gliazelle 87
goal orientations siehe Zielorientierungen I
flooding siehe Reizüberflutung Golem-Effekt 460 I/E-Modell siehe Internal/External Frame of
Fluency 451 Großhirnrinde siehe zerebraler Kortex Reference Model
Flynn-Effekt 172 Group-Awareness 389 ICAP-Modell 335
fMRT 97, siehe funktionelle Magnetreso- Group-Awareness-Tool 389 ICD-10 siehe International Classification of
nanztomographie Grouping 28 Diseases
Fördermodell selbstregulierten Lernens 81 Grundgesamtheit 549 Ich 242
formal-operationales Stadium 241 Gruppe 440, 441 Identität 322
forschendes Lernen 341 – Gruppendenken 452 – berufliche 322
Forschungszyklus 383 – Mehrheitsverhältnisse 443 – diffuse 322, 323
631
Sachverzeichnis

– erarbeitete 322, 323 Irrtumswahrscheinlichkeit 553 – synchron 387


– politische/ideologische 322 Isolierte Rechtschreibstörung 573 Kommunikationspsychologie 423
– vorweggenommene 323 Item 540 Komorbidität 567
ikonisches Gedächtnis 27 – dichotomes 540 kompetentes Handeln 369
Individualentwicklung 234 – polytomes 540 Kompetenzbegriff 61
Individualisierung 368 Itemanalyse 498 – Kompetenzorientierung 61
induktiv 534 Itemformate 497 Kompetenzen 73, 150, 398
information literacy 130 Itemschwierigkeit 498 – Kompetenzraster 511
Informationsverarbeitung IzEL 511 – Kompetenzstufen 513
– soziale Informationsverarbeitung 260 – soziale 198
Informationsverarbeitungsperspektive 42 – volitionale 73
– aktive Informationsverarbeitung 42 J Kompetenzerwerb 153
– fokussierte Informationsverarbeitung 42 juicy question 135 Konditionierung 6
Informationsverarbeitungssystem 24 – höherer Ordnung 7
inhibitorische Kontrolle 302 – klassische 5
Inklusion 474
Input-Prozess-Ergebnis-Modell 385
K – operante 9
– umwertende 8
Intelligenz 166 Kardinalzahlkonzept 279 Konfidenzintervall 505
– allgemeine 168 Kausalattribution 80 Konformität 443
– fluide 169 Klassenführung 359, 360 Konfundierung 248
– interpersonale 170 – Schlüsselfunktionen 360 konkret-operationales Stadium 241
– intrapersonale 170 – Techniken 361 Konsistenz 451
– körperlich-kinästhetische 170 Klassengröße 422 Konsolidierung 39
– kristalline 169 Klassenklima – Konsolidierungsprinzip 39
– logisch-mathematische 169 – lernförderliches 361 Konstrukt 537
– musikalische 170 Klassenzielstruktur 218 konstruktive Unterstützung 359, 365
– räumliche 170 – Lernzielstruktur 218, 222 konstruktivistische Lernumgebungen 342
– sprachliche 169 – Performanzzielstruktur 218 konstruktivistische Perspektive 42
Intelligenzquotient 172 Kleinhirn 88 Kontakthypothese 113, 462
Intelligenztests 482 klinische Methode 247 – erweiterter Kontakt 464
Interaktion 366 Knowledge-Building-Ansatz 344 – vorgestellter Kontakt 464, 465
– kollegiale 432 Kodalität 376 Kontextualisierung 134
Interaktionsmuster 422 kognitiv-behaviorale Methode 605
Kontiguitätsprinzip 380
Intercultural Anchored Inquiry 118 kognitive Aktivierung 359, 363
– räumliches 380
Intercultural Sensitizer 110 kognitive Aktivität 359
– zeitliches 380
Interesse 217, 297, 298 kognitive Belastung 377
Kontingenz 13
– individuelles 297 kognitive Entwicklungspsychologie 274
Konversion 443
– personales Interesse 217 kognitive Flexibilität 281, 302
Konzept des transaktiven Gedächtnisses 60
– situationales 297, 298 kognitive Konflikte 297
Konzeptwechselforschung 148
– situatives Interesse 215 kognitive Prozesse
– Fragmentierungsansatz 148
Interferenz 28, 40 – Arten 496
– Rahmentheorieansatz 148
– proaktiv 28 kognitive Umstrukturierung 589
Kooperation 387
– retroakiv 28 – Reattributionstraining 589
Kooperationsskript 337, 390
Intergruppenkontakt 462 kognitive Verzerrung 607
kooperatives Lernen 336
interkulturelle Kompetenz 109 – Alles-oder-Nichts-Denken 607
Korrumpierungseffekt 598
– affektive 109 – Gedankenlesen 607
kritische Phase 234
– kognitive 109 – Katastrophisieren 607
Kultur 108
– verhaltensbezogene 109 – Personalisierung 607
Kulturalisierung 113
interkulturelle Öffnung 121 – Positives ausschließen oder abwerten 607
Kurzzeitgedächtnis 26
interkulturelles Lernen 109 – unzulässiges Verallgemeinern 607
– Assimilation 117 kognitive Wende 25
– Divergenz 117
– Dominanz 117
Kognitives Modellieren 581
Kohärenzbildung 44
L
– Synthese 117 – globale 44 Label 58
interkulturelles Training 119 – lokale 44 Lagemaß 550
– erfahrungsorientiertes 119 Kohärenzprinzip 380 – Median 550
– informationsorientierte 119 Kohäsion 443 – Mittelwert 550
intermediate 57 Kohorte 248 – Modus 550
Internal/External Frame of Reference- Ko-Konstruktion 434 Längsschnittuntersuchung 248
Modell 212, 319 Kollegium 452 Langzeitgedächtnis 30
International Classification of Diseases 588 kombinierte Störung schulischer – deklaratives Gedächntis 30
Interneuron 87 Fertigkeiten 568 – episodisches Gedächtnis 30
Intervallplan 13 Kommunikation 387, 422 – implizites Gedächtnis siehe nicht-
Intervallskala 495 – asynchron 388 deklaratives Gedächtnis
Interview 78, 485 – computervermittelt 387 – nicht-deklaratives Gedächtnis 30
iPEGE 167 – face-to-face 387 – prozedurales Gedächtnis 31
IQ-Werte 475 – komplementäre 423 – semantisches Gedächtnis 30
I-R-F/E-Muster 426 – symmetrische 423 Latenzphase 242
632 Sachverzeichnis

Lateralfurche 90 – simulationsbasiertes entdeckendes 382 mentale Modelle 35


Lautes Denken 78 – spielbasiertes 385 mentale Repräsentation 44, 45
law of effect siehe Gesetz der Wirkung Lernen durch Modelle 47 mentale Reversibilität 240
Learner-Response-System 15 Lernentwicklungsgespräche 511 Messen 494, 537
learning talk 135 Lernplattformen 374 Messfehler 171, 505
Lebensalter 234 Lernprogramm 14 Messgüte 499
Lehramtsstudium 409 Lernprozesse 335 Messinvarianz 540
Lehrberuf Lernstil 69 Messmodell 498
– Anforderungen 396 – Accomodator 69 Messverfahren 495
Lehrerbildung – Assimilator 69 – Qualitätsmerkmale 499
– dritte Phase 411 – Converger 69 Metaanalyse 74, 547
– erste Phase 409 – Diverger 69 Metagedächtnis 245, 284
– zweite Phase 410 Lernstilhypothese 378 – deklaratives 284
Lehrerbildungssysteme 410 Lernstrategien 69 – prozedurales 284
Lehrer-Eltern-Gespräche 431 Lerntagebücher 46, 78 Metakognition siehe Metagedächtnis
– Qualitätsmerkmale 431 Lerntheorien metakognitive Strategie 71
Lehrerfeedback 427 – sozial-kognitive Lerntheorie 243 – Monitoring 71
Lehrerfortbildung 412 Lerntypen 378 – Planung 71
Lehrerfragen 364, 426 Lernzeit – Regulation 71
Lehrerkooperation 432 – Management 360 meta-sprachliche Fähigkeiten 275
Lehrer-Lehrer-Interaktionen 432 Lernzieltaxonomien 496 Mildefehler 487
Lehrkraft Lernzyklus 146 mind set
– berufliche Entwicklung 407 – Explorationsphase 146 – fixed mind set 301
– Doppelminorität 448 – Konzeptanwendung 146 – growth mind set 301
– Einflussnahme 448 – Konzeptfindungsphase 146 minimale zerebrale Dysfunktion 579
– Kompetenzmodelle 398 Lese- und Rechtschreibstörung 573 Mitleid 267
– selbstregulative Fähigkeiten 406 Lese-Rechtschreibschwierigkeiten 573 Mobbing 595
– Vorstellungen 397 – Oberflächentyp 573 mobile learning 374
Lehr-Lernprozesse 334 – phonologischer Subtyp 573 Modalitätsprinzip 380
– Rahmenmodell 334 Lesson Analysis Framework 434 Modell der didaktischen Rekonstruktion 146
Lehrpläne „PLUS“ 369 Lexikon 275 Modell der drei Repräsentationsebenen 569
Lehrstrategie 145 LGBT-Jugendliche 256, 257 – analoge Größenrepräsentation 570
– Anknüpfen 146 Life-Span-Development-Ansatz 233 – auditiv-verbaler Wortrahmen 569
– Brückenbauen 146 Likert-Skala 540 – visuell-arabische Zahlform 570
– Kontrastieren 146 limbisches System 89, 187 Modell der Enkapsulierung 59
– Perspektivenwechsel 146 linguistische Intergruppenverzerrung 459 Modell des Arbeitsgedächtnisses 28
Lehrtechniken 339, 344 literacy-Konzept 62 – episodischer Puffer 29
Leistungsbeurteilung 499 Lob 11 – phonologische Schleife 28
– mündliche Verfahren 499 Logfile 79 – visuell-räumlicher Notizblock 28
– schriftliche Verfahren 501 logischer Fehler 487 – zentrale Exekutive 29
Leistungsemotion 196 Löschung 6, 10 Modell multiaxialen Copings 117
– aktivitätsbezogene 197 Lösungsbeispiele 337 Modellierungskreislauf 152
– ergebnisbezogene 196 – mathematisches Modell 152
Leistungsmotiv 192 – mentales Situationsmodell 152
Leistungsmotivation 300
Leistungstest 540
M Monitoring 36, 519
moralisches Urteilen 324
– allgemeiner 540 Macht 449 Moratorium 323
– Entwicklungstest 541 – Grundlagen 449 Morphologie 275
– Intelligenztest 540 Magnetenzephalografie 96 Motivation 208
– Schulfähigkeitstest 542 Magnetresonanztomographie 96 – aktuelle Motivation 211
– standardisierter Schulleistungstest 541 Makroposition 44 – Amotivation 214
Leistungstests 482 Mandelkern 90 – extrinsische Motivation 214
Lernaktivitäten 335 Marshmallow-Experiment 302 – intrinsische Motivation 214
– konstruktiv-interaktive 336 massive Konfrontation 606 – Leistungsmotivation 300
Lernaufgabe 155 mastery motivation siehe Wirksamkeitsmoti- – Wirksamkeitsmotivation 300
Lerneinheit 72 vation motivationale Orientierungen 404
Lernen 4, 24, 42 Mastery-Learning 15 – Selbstwirksamkeit 405
– am Modell siehe Beobachtungslernen maturity gap 266 – Zielorientierungen 404
– entdeckendes 382 Mediationsdefizit 283 Motivationstraining 222
– fachliches 144 Medien 374 Motive 217
– formales 128 – Funktionen 374 – Anschlussmotiv 217
– implizites 128 Mediengewalt 19 – explizite Motive 217
– informelles 127, 128 Medienkompetenz 134 – implizite Motive 217
– intentional 24 MEG siehe Magnetenzephalographie – Leistungsmotiv 217, 300
– inzidentelles 24, 128 Mehrspeichermodell 25 – Machtmotiv 217
– kumulatives 148 – kurzzeitiges Arbeitsgedächtnis 25 MRT siehe Magnetresonanztomographie
– multimediales 376, 377 – Langzeitgedächtnis 25 M-Teach 428
– non-formales 128 – sensorisches Gedächtnis 25 Multi-Informant-Multi-Method-Ansatz 525
633
Sachverzeichnis

Multimedia-Prinzip 378 Persönlichkeitspsychologie 316 – kognitive Sorgenkomponente 589


Münchner dynamische Begabungs- Perspektivenübernahme 259 Prüfungsaufgabe 155
Leistungsmodell 178 PET 97, siehe Positronen-Emissions- psychische Auffälligkeit 604
Münchner Hochbegabungsmodell 175 Tomographie psychometrische Persönlichkeitstests 484
Myelinisierung 94, 99 phallische Phase 242 Pygmalion-Effekt 213, 460
Myelinscheide 87 Phänotyp 236
Phasenmodelle der Entwicklung siehe Stu-
fenmodelle der Entwicklung Q
N Phobie 8
Phonologie 275
quasi-experimentelle Studie 74
Nahinfrarotspektroskopie 97 Querschnittuntersuchung 248
phonologische Bewusstheit 276
nature-nurture-debate siehe Anlage- Quotenplan 13
phonologische Informationsverarbeitung
Umwelt-Debatte
– phonologische Bewusstheit 574
Nebengütekriterien 480, 538
Neocortex 188
– phonologisches Arbeitsgedächtnis 574
phonologische Rekodierung 29
R
NEO-FFI 479 Rasse 113
PISA 513
Neugier 296, 297 rational-emotive Erziehung 607
PISA-Studien 354
– epistemische 296 Population siehe Grundgesamtheit Reaktanz 597
– perzeptive 296 Positive-Behavior-Support-Systeme 450 Reaktion siehe Reiz und Reaktion
Neurogenese 93 Positronen-Emissions-Tomographie 97 Reaktivität 193, 487
Neuron 87 postsynaptische Endigung 87 Reattributionstraining 222
neuronale Plastizität 98 Posttraumatische Belastungsreaktion 610 Recall 36
Neurotransmitter 87 Powertests 483 – cued 37
NIRS siehe Nahinfrarotspektroskopie Prädiktionswert – free 37
Nominalskala 495 – negativ 489 – serial 37
Noten 509 – positiv 489 Recency-Effekt 38, 487
novelty effect 375 Pragmatik 275 Rechenstörung 567
Numeracy Recovery 572 präoperationales Stadium 240 Rechtschreibfehler 574
Nutzungsineffizienz 283 Präspezifikation 497 – Regelfehler 574
präsynaptische Endigung 87 – Speicherfehler 574
Praxiserfahrung 412 – Verstoß gegen die Lauttreue 574
O Praxisschock 396 Reciprocal Teaching 341
Objektivität 476 Premack-Prinzip 12 Redundanzprinzip 380
– Auswertung 476 Primacy-Effekt 38, 487 reflektierte Praxis 413
– Durchführung 476 prinzipienbasiertes Verständnis 47 Regeln 360
– Interpretation 477 prior belief effect 459 Registertheorie 153
Objektpermanenz 240, 303 Problemkäfig 4 – Alltagssprache 153
Okzipitallappen 90 Problemlöseaufgaben 286 – Bildungssprache 153
Omega-Position 264 Problemlösen 54, 168 – Fachsprache 153
one-trial-learning 195 – kreatives 168 Rehearsal 27, 29, 38
Ontogenese siehe Individualentwicklung problemorientiertes Lernen 343 Reibungslosigkeit 362
open science lab 135 Produktbetrachtungen 505 Reifung 233
Operationalisierung 494, 529, 537 Produktionsdefizit 283 Reiz siehe Reiz und Reaktion
Optimalklassenansatz 356 professionelle Überzeugungen 403 Reiz und Reaktion 5
orale Phase 242 professionelle Reizgeneralisierung 195
Ordinalskala 495 Unterrichtswahrnehmung 344 Reizüberflutung 591
Organisationsformen 365 Professionsansatz 60 Rekategorisierung 462
– soziale 424 Professionswissen 399 Rekognition 36
Organisationsstrategien 282 – fachdidaktisches Wissen 401 Rekognizierungsphase 37
– fachunabhängiges Wissen 401 Reliabilität 171, 477
Orientierungsreaktion 598
– Fachwissen 401 – Konsistenzmethode 478
– pädagogisches Wissen 402 – Paralleltestmethode 478
P – über den Unterricht hinausgehendes
Wissen 402
– Retestmethode 477
– Testhalbierungsmethode 478
Parietallappen 90 – unterrichtsbezogenes Wissen 401 Represser 194
Pattern Recognition-Theorie 57 projektive Verfahren 543 Response-to-Intervention-Ansatz 576
Peer-Feedback 338 Prompt 46 Responsivität 607
Peers 129, 261 propositionale Netzwerke 32 retarded 167
– Kausalhypothese 262 Prosodie 275 Retardierung 254
– peer education 137 prosoziales Verhalten 267 Reversibilität 241
– Peergroup 131 Prozessmodell der Selbstregulation 72 Reziprozität 450
– Selektionshypothese 262 – aktionale Phase 72 Risikotyp A 407
Persistenz 376 – postaktionale Phase 72 Risikotyp B 406
Personenhomogenität 498 – präaktionale Phase 72 Rorschach-Test 484
Persönlichkeit 316 Prozessmodell der Verarbeitungstiefe 25 Rouge-Test 319
– Kernmerkmale 316 Prozess-Produkt-Paradigma 356 Rubikon-Modell der Handlungsphasen 208
Persönlichkeitsentfaltungsverfahren 484 Prüfungsangst – aktionale Phase 208
Persönlichkeitsparadigma 356 – affektiv-physiologische Komponente 589 – postaktionale Phase 209
634 Sachverzeichnis

– präaktionale Phase 208 sensorisches Register siehe sensorisches Stereotyp 458


– prädezisionale Phase 208 Gedächtnis – Aktivierung 459
rubric siehe Beurteilungsraster sensumotorisches Stadium 240 – stereotype threat 460
Sequenzplan 248 Stichprobe 549
sexuelle Orientierung 256 – Gelegenheitsstichproben 549
S Shaping siehe Verhaltensformung – Quotenstichprobe 549
Signalling 345 – Repräsentativität 549
Satzsemantik 275
Signalübertragung 87 – Stichprobenfehler 549
Scaffolding 341, 345
– exzitatorische 87 – Zufallsstichprobe 549
Scaffolds 338
– inhibitorische 87 Stimmung 189
Scheinkorrelation 546
signifikant 554 Stimulus siehe Reiz
Schema 33
Signifikanzniveau 554 Störung
– Defaultwerte 33
Signifikanzwert siehe Irrtumswahrscheinlich- – externalisierende 596
– Standardwert 33
keit – internalisierende 588
Schlafproblem 612
Signs of Self-Injury 609 Störung des Sozialverhaltens 596
– Durchschlafstörung 612
Sinnesmodalität 27, 376 – Conduct Disorder 596
– Einschlafstörung 612
– gustatorisch 27 – Oppositional Defiant Disorder 596
Schontyp 407
– haptisch 27 Strafe 11, 12, 450
Schreiben nach Gehör 9
– olfaktorisch 27 Strenge-Fehler 487
schriftsprachliche Fähigkeiten 277 Situationsmodell 44 Streuungsmaß 550
Schülerbeiträge 425 situiertes Lernen 343 – Perzentil 551
Schülerbeteiligung 424 Skalenniveau 543 – Standardabweichung 551
Schülerbeurteilung 413 – Intervallskala 544 – Streuungsbreite 551
Schülerfragen 427 – Nominalskala 543 – Varianz 551
Schulfähigkeit siehe Schulreife – Ordinalskala 544 Stroop-Aufgabe 579
Schulklasse 440, 441 – Verhältnisskala 544 Stroop-Test 303
– Neuzugang 442 skill development 212 Struktur 440
Schulleistungstests 502 Skilled Memory-Theorie 57 Strukturiertheit 363
Schulnoten Skript 34 Strukturierungsmaßnahmen 363
– Funktionen 506 Slot 33 Strukturmodell der Intelligenz 170
Schulreife 233 sonderpädagogischer Förderbedarf 474 Stufenfolge interkulturellen Lernens 110
Schultests 483 soziale Angst 604, siehe soziale Phobie – ethnorelative Stadien 110
Schuluniformen 443 soziale Bewährtheit 451 – ethnozentrische Stadien 110
Schwung 362 soziale Erleichterung 447 Stufenmodelle der Entwicklung 235
Scientific Discovery as Dual Search 382 soziale Interaktion 422 sub-emotional 187
Selbstaufmerksamkeit 441, 446 soziale Kategorisierung 458 subkognitiv 187
Selbstbestimmungstheorie der soziale Kognition 258 Suchheurismen 31
Motivation 214, 217, 221, 298 soziale Phobie 590 Syllogismen 288
– Autonomie 217 soziale Realität 445 Synapse 87
– Kompetenzerleben 217 soziale Vergleichsprozesse 445 synaptischer Spalt 87
– soziale Eingebundenheit 217 sozialer Einfluss 440 Synaptogenese 94
Selbstbilder siehe mind sets – Eltern 453 Syntax 275
selbsterfüllende Prophezeiung 460 sozialer Rückzug 592 systematische Desensibilisierung 589
Selbstkontrollkapazität 219 – approach 593
Selbstkonzept 318 – avoidance 593
– allgemeines 212, 318
– emotionales 318
– shy 593
– unsociable 593
T
– Fähigkeitsselbstkonzept 212 soziales Faulenzen 388, 447 tacit knowledge 128
– körperliches 318 Sozialform 424 Talent 167
– schulisches 318 Sozialisationseffekt 217 Target 36
– soziales 318 Sozialpsychologie 440 Taxonomie-Constraint 275
Selbstregulation 303 Soziogramm 444, 446 teacher-made test 503
selbstreguliertes Lernen 68 Soziometrie 263, 542 Technologien 374
selbstverletzendes Verhalten 608 – soziometrischer Status 263 Temperament 193, 316
Selbstwertgefühl 212 soziometrische Methoden 444 Temporallappen 90
Selbstwirksamkeit 80 Speedtests 483 Tendenz zur Mitte 487
Selektionsquote 489 Speicherung 25 Testfairness 172, 498
selektive Aufmerksamkeit 281 Spezifität 488 Tests 482
self enhancement 213 split attention effect 43 – formelle 485
Self-Explanation-Reading-Training 45 split-attention principle siehe Aufmerksam- – informelle 485
Self-Regulation Empowerment Program 76 keitsverteilungsprinzip Thalamus 88
SELLMO 484 Spontanerholung 7, 10 Theorie 534
semantisches Netzwerk 32 Sprachkomponenten 275 Theorie nach Barkley 579
Sender-Empfänger-Modell 423 Spurenzerfall siehe Fading-Theory Theory of Mind 259
sensible Phase siehe kritische Phase Stakeholder 520 Think-Pair-Share 445
Sensitivität 488, 607 Statistik time on task siehe Lernzeit
Sensitizer 194 – deskriptive 550 Token-Programme 15
sensorisches Gedächtnis 26 – Inferenzstatistik 550 totale Kapazität 30
635
Sachverzeichnis

– operating space 30 – curriculare 479 – Arten 496


– storage space 30 – Inhalt 478 – bereichsspezifisches 278
traditioneller Unterricht 342 – interne 545 – deklaratives 31, 148
Transienzprinzip 380 – Konstrukt 479 – deklaratives metakognitives 35
Transsexualität 256 – Kriterium 479 – konzeptuelles 148, 399
Traumatisierung 610 Variable 535 – Merkmale 400
– Typ 1 610 – abhängige 536 – metakognitives 148
– Typ 2 610 – Mediatorvariable 536 – nicht-deklaratives 31
Trennschärfe 498 – Moderatorvariable 536 – prozedurales 148, 399
Trigger 609 – unabhängige 536 – prozedurales metakognitives 35
Trittbrettfahren siehe soziales Faulenzen Variablenkontrolle 383, 384 – situationales 400
Turm-von-Hanoi-Aufgabe 286 Verarbeitung – träges 407
– automatische 200 Wissenserwerb 42, 199
– reflexive 200 Wissenskluft 133
U – reizgetriebene 201
– wissensgetriebene 201
Wissenskonsolidierung 612
Wissensrepräsentation 31
Üben 48 Verführungstheorie 257 – Begriffe 31
– im Kontext des Ganzen 48 Vergleichsarbeiten 503 – Relationen 31
– reflektierte Übung 48 Verhaltensbeobachtung 486 Wortschatzspurt 275
– Überlernen 48 – Arten 486 Wortsemantik 275
– verteilte Übung 48 Verhaltensformung 14
Übergeneralisierung 458 Verhaltensgenetik 236
Über-Ich 242
Überlappung 361
Verhaltenstendenz 187 Z
Verhaltensverkettung 14 Zellkörper 87
Überzeugung 450 Verlustaversion 451
Ultrakurzzeitgedächtnis siehe sensorisches Zensuren 507, 509
Vermeidungssystem 189 Zentrale Exekutive 579
Gedächtnis Verstärker 18
Ultrakurzzeitspeicher siehe sensorisches – Go/No-Go 579
Verstärkerplan 13 – Inhibition 579
Gedächtnis Verstärkung 10, 17
Underachievement 176 – Task Switching 579
– intermittierende 13 – Transformation 579
Unterricht 354 – kontinuierliche 13
– effektiver 355 Zentralfurche 90
– primäre 12 Zerebellum siehe Kleinhirn
– guter 355, 396 – sekundäre 12
– kompetenzorientierter 369 zerebraler Kortex 88, 90
– stellvertretende 18
– Multikriterialität 355 Ziele 215
versteckte Verstärker-Analyse 598
– Sichtstrukturen 358 – Annäherungsziele 216
Versuch und Irrtum 9
– Arbeitsvermeidungsziele 216
– Tiefenstrukturen 358, 423 Videographie 428
– Leistungsziele 301
Unterrichten 334, 354 Vier-Ebenen-Modell 524
– Lernziele 216, 301
Unterrichtsmethoden 338 Vier-Seiten-Modell 423
– Performanzziele 216
Unterrichtsqualität 355 Volition 218
– SMART 222
– Basisdimensionen 358 – volitionale Prozesse 221
– Vermeidungsziele 216
Unterstützungsmaßnahmen siehe Scaffolds – volitionale Strategien 218
Zielexplikation 528
Untersuchungsdesign 544 Vorbereitungsdienst 410
Zielorientierungen 217
– Experiment 544 Vorurteil 458
– motivationale 301
– Längsschnittuntersuchung 544 – Reduzierung 462
Zone der proximalen Entwicklung 246
– Metaanalyse 544
Zusammenhangsmaß 552
– Quasiexperiment 544
– Querschnittsuntersuchung 544 W – Korrelation 552
– Kovarianz 552
Wellen-Effekt 18 zustandsabhängiges Lernens 37
V Wernicke-Areal 93
Wiederholungsstrategien 282
Zwei-Faktoren-Theorie der Intelligenz siehe
Generalfaktorentheorie der Intelligenz
Valenz 296 Wiki 388 Zweikomponentenmodell der
Validität 171, 478 Wirkmodell 529 Intelligenz 169
– Augenscheinvalidität 479 Wissen 31, 278, 399 Zwillingsstudien 236
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A14445 | Image: Tashatuvango/iStock

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