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1.0 Einleitung
In seinem Beitrag „Der rechte Weg: Vokabeln statt Grammatik“ beklagt Freudenstein
(1995), dass der Grammatik im Fremdsprachenunterricht zu viel Raum gegeben werde. Die
Kenntnis von Wörtern solle aber wichtiger sein als grammatisches Wissen. Eine Analyse
des Ist-Zustandes ergebe jedoch, dass mehr als die Hälfte der insgesamt zur Verfügung
stehenden Unterrichtszeit der Beschäftigung mit formaler Grammatik gewidmet werde und
zudem in den meisten Fällen in der Muttersprache erfolge, um das Verständnis der
grammatischen Regeln zu sichern.
In einem Vortrag aus dem Jahre 1997 betonte Krashen1 die Bedeutung des Wortschatzes mit
den Worten „When students travel, they don’t carry grammar books, they carry
dictionaries“. Zu einer ähnlichen Einschätzung der Rolle des Wortschatzes kommt auch
Stevick (1990), wenn er sagt „Language consists of grammaticalised lexis, not lexicalised
grammar“.
Ulrich (2007, 3) hebt die Bedeutung der Wortschatzarbeit, allerdings im muttersprachlichen
Deutschunterricht hervor, indem er Wörter als unser „Tor zur Welt“ bezeichnet. Wörter
seien unser Weg zu den Menschen. Sie ermöglichten das Denken und seien die Grundlage
unserer Verständigung untereinander. Ohne Grammatik und ihre Regeln könne man nur
schlecht kommunizieren, ohne Wörter jedoch überhaupt nicht.
Edmondson (1995) verweist auf die Bedeutung des Wortschatzes für die Entwicklung des
grammatischen Wissens im Spracherwerbsprozess indem er betont, dass die Grammatik im
Zuge der Verwendung von Sprache konstruiert werde. Grammatik entwickele sich aus der
Analyse holistisch gespeicherter Phrasen. Spracherwerb sei in diesem Kontext nicht nur als
das allmähliche Synthetisieren von kleineren zu größeren Einheiten zu verstehen, sondern
auch als das Aufbrechen und schrittweise Analysieren komplexer Strukturen.
Zur unterrichtlichen Vermittlung fremdsprachlichen Wortmaterials liefert Doyé (1971)
wertvolle Hinweise. So sei die Präsentation isolierter Wörter einfach wertlos. Lerner
erhielten auf diese Weise keine Informationen über mögliche Aktanten. Zudem seien keine
Vernetzungsmöglichkeiten gegeben. Auch Spörl (1990) weist darauf hin, dass Einzelwörter,
wie sie in Wortgleichungen gelernt werden, in der gelebten Sprache nicht vorkommen.
Wörter träten immer in bestimmten Satzumgebungen und Situationen auf. Spörl (ebd.)
plädiert in diesem Kontext für das Lernen von Kollokationen, das Assoziationen schaffe
und Wortmaterial langfristig im Gedächtnis verfügbar mache.
Stevick (1990) fordert eine Vermittlung neuen Wortmaterials in sinnvollen Kontexten und
das Einüben idiomatischer Wendungen, ein Plädoyer, dem sich auch Bleyhl (1995)
anschließt, der dieses Postulat mit einer Forderung nach größerer Authentizität der
Wortschatzarbeit verbindet, die immer dann eine Investition in die Zukunft darstelle, wenn
Lernende sie mit ihren ureigenen Interessen, Wünschen und Ansprüchen unmittelbar
verbinden könnten. Der Weg müsse wegführen von einem systematischen
„Grammatikpauken“ und hin zu einem persönlich motivierten Wortschatzlernen.
Nach Gnutzmann (1995) hat die für den Fremdsprachenunterricht notwendige
Wortschatzwende bislang nicht stattgefunden. Eine solche Wende sollte neueste
Erkenntnisse aus den Bereichen der Lern- und Kognitionspsychologie berücksichtigen und
einer systematischen Wörterbuchdidaktik den ihr zustehenden Stellenwert einräumen.
Gnutzmann (ebd.) beklagt, dass die Benutzung von Wörterbüchern durch Lernende ohne
Unterweisung im Stillen vorgenommen werde.
1
Vortrag Krashens auf einer Konferenz des British Council in Mailand im Jahre 1997.
2
Scherfer (1990) betont, dass die Sprachverarbeitung und die allgemeine Kognition in enger
Relation zueinander stehen. Sprachliche und nicht-sprachliche Wissenselemente seien
miteinander vernetzt und neue Wissenselemente würden verarbeitet, indem sie mit
vorhandenen Elementen verknüpft würden. Vorhandenes Wissen könne daher auch in der
Wortschatzarbeit keineswegs ausgeblendet, sondern solle direkt aktiviert werden.
Auch Ulrich (2007, 29) betont die enge Interdependenz zwischen Sprachwissen und
enzyklopädischem Wissen. Wer viel wisse, kenne viele Wörter und wer einen großen
Wortschatz besitze, verfüge über ein umfangreiches Wissen. Ein Lexem zu kennen schließe
das Wissen ein, „welchen Raum es einnimmt und welchen nicht, welche unmittelbaren und
welche mittelbaren Nachbarn es hat, sowohl in syntagmatischer wie auch in
paradigmatischer Beziehung“ (Ulrich 2007, 27).
Nach Vogel (1990) liegt dem Verarbeiten und Internalisieren neuen Wortmaterials eine
Reihe von Prozessen zugrunde, bei denen ein Symbol zunächst als neu erkannt und einem
semantischen Feld zugeordnet werde. Danach erfolge das präzise Dekodieren und
Ausdifferenzieren eines neuen Wortes. Hierbei sei auch von Bedeutung, in welchen
Kollokationen und Kontexten ein neues Lexem üblicherweise auftrete. Im Erwerbsprozess
müsse sich ein Wort vom passiven zum aktiven Wortschatz durcharbeiten (incubation
period). Nagy/Hermann (1987) gehen in diesem Zusammenhang davon aus, dass man einem
Wort zwischen 5 - 20-mal begegnet sein müsse, damit es fester Bestandteil der
Sprachkompetenz werde.
Ulrich (2007, 31) betrachtet den Wortschatzerwerb als einen Prozess „zunehmend
differenzierender Konzeptualisierung von Welterfahrung“ und betont ebenfalls die
Notwendigkeit der Kontextualisierung neuen Wortmaterials. Mit Hilfe des Kontextes
könnten unbekannte, noch nicht gespeicherte Lexeme erschlossen werden. Zudem finde
durch den Kontext eine Disambiguierung und Monosemierung der Lexeme statt. Kontexte
seien darüber hinaus geeignet, Sprachbenutzer für Nebenbedeutungen und Konnotationen
zu sensibilisieren, wobei sich die Fähigkeit der Lernenden, Kontextinformationen
aufzunehmen und zu verarbeiten mit zunehmender Sprachreflexion verbessere.
Scherfer (1989) vermutet eine eindeutig behaltenssteigernde Wirkung durch die
Präsentation neuen Wortmaterials in typischen Kontexten.
In einer von Henrici/Kostrzewa/Zöfgen (1991) durchgeführten empirischen Untersuchung
ergab sich eine deutliche Überlegenheit kontextueller gegenüber nicht-kontextuellen
Explikationsverfahren hinsichtlich der Verstehens- und Behaltensleistungen der Lernenden.
Kostrzewa (1993) konnte in einer Untersuchung zur Effektivität kontextueller
Explikationsverfahren die folgenden Parameter als mögliche Variablen des Verstehens und
Behaltens identifizieren:
- Textkonnektoren
- Prämissen
- redundante Kodierung.
Es erwies sich als für das Verstehen und Behalten günstig, wenn die Explikationen eine
ausreichende Länge (12-15 Wörter) aufwiesen, um eine logische Inferenzbildung zu
ermöglichen.
Hinsichtlich der Positionierung eines neu zu vermittelnden Items erwies sich die
Finalposition innerhalb einer Explikation als günstig für Verstehens- und
Behaltensprozesse. Als besonders ungünstig erwies sich hingegen eine mediale
Positionierung. Medial positionierte Items scheinen sowohl proaktiven (von vorangehendem
Wortmaterial) als auch retroaktiven Inhibitionen (von nachfolgendem Wortmaterial)
ausgesetzt zu sein.
Es zeigte sich zudem ein enger Zusammenhang zwischen einer hohen Anzahl an
Textkonnektoren und dem Behalten neuen Wortmaterials. Als sowohl verstehens- und
behaltensfördernd erwies sich eine hohe Anzahl an Prämissen, die sich insbesondere dann
verstehens- und behaltensfördernd auszuwirken scheinen, wenn sie symmetrisch um ein zu
vermittelndes Item herum angeordnet sind.
Ender (2007, 37) geht davon aus, dass Wortschatzstrategien zu den von Lernern am
häufigsten eingesetzten Lernstrategien gehören. In Befragungen könnten Lernende für das
Vokabellernen deutlich mehr Strategien anführen als für jede andere Aufgabe im Bereich
des Sprachenlernens.
Die Strategien des Wortschatzerwerbs lassen sich nach Schmitt (1997) in soziale Strategien
und Determinationsstrategien gliedern, die ihrerseits Teil der sogenannten „discovery
strategies“ seien. Zu den sozialen Strategien gehörten Fragen an die Lehrperson oder an die
Klassenkameraden (appeal for assistance), während zu den Determinationsstrategien das
Analysieren von Affixen und Wurzeln, die Suche nach L1-Kognanten sowie insbesondere
auch das Raten aus dem Kontext gehörten. Clarke und Nation (1980, 212) schlagen einen
aus fünf Punkten bestehenden Strategienkatalog vor, der es Lernenden ermöglichen soll,
Kontextinformationen sinnvoll für einen erfolgreichen Verstehensprozess zu nutzen.2
Carter/Mc Carthy (1988, 105) weisen darauf hin, dass das Erschließen aus dem Kontext
häufig dann erfolglos bleibt, wenn Lerner die Struktur eines Kontextes oder die Form eines
unbekannten Wortes nicht hinreichend verstehen. Durch gezielte Schritte könne der Lerner
jedoch an das Kontextverstehen herangeführt werden. 3
Clarke/Nation (ebd.) gehen davon aus, dass Lerner unter Einsatz von
Worterschließungsstrategien in der Lage sind, mit einem Vokabular von ca. 3000 Wörtern
2
1. Finding the part of speech of the unknown word.
2. Looking at the immediate context of the unknown word and simplifying this context if necessary.
3. Looking at the wider context of theunknown word. This means looking at the relationship between
the clause containing the unknown word and surrounding clauses and sentences.
4. Guessing the meaning of the unknown word.
5. Checking that the guess is correct.
3
1. Use the context to answer the question „What does what?” about the unknown word.
2. Make use of any related phrases or relative clauses.
3. Remove and or or to make two more simpler sentences.
4. Interpret punctuation such as italics, quotation marks, dashes or brackets.
4
60-70 Prozent der unbekannten Wörter eines beliebigen Textes zu verstehen. Durch ein
gezieltes Strategientraining sei eine Steigerung dieser Rate auf bis zu 80 Prozent möglich.
Nach Ender (2007, 39) sollte der Begriff des Kontextes weiter gefasst werden als der rein
textuelle Kontext. Auch Bilder, Symbole etc. könnten wesentliche Hinweise für das
korrekte Dekodieren unbekannter Wörter liefern und den Prozess des sprachlichen
Inferierens vorbereiten und erleichtern. Neben dem Inferieren, das nach Oxford (1990) zu
den kompensatorischen Strategien gerechnet werden kann, gehören zu den zentralen
Wortschatzerwerbsstrategien auch die kognitiven Strategien des Analysierens, Ableitens,
des Transfers sowie des Verwendens von Nachschlagewerken und die Gedächtnisstrategien
des Aufbaus mentaler Verbindungen zu bereits vorhandenem Wissen und des gründlichen
Wiederholens.
Bezüglich der Nutzung von Nachschlagwerken beklagt Nation (2001), dass im
fremdsprachlichen Unterricht bilinguale Wörterbücher nach wie vor deutlich extensiver
eingesetzt würden als monolinguale und viele Lerner sogar ausschließlich bilinguale
Wörterbücher besäßen. Die Nutzung von Wörterbüchern sollte jedoch erst nach dem
Versuch des Erschließens der Wortbedeutung durch den Prozess des Inferierens erfolgen.
Die kontextuellen Informationen zu einem Wort seien zunächst zu extrahieren. Erst in
einem darauf folgenden Schritt sollten der korrekte Wörterbucheintrag ausgewählt und die
gefundene Wortbedeutung mit dem Textkontext verbunden werden.
Bezüglich der Möglichkeiten der Enkodierung gelernten Wortmaterials
(Konsolidierungsstrategien nach Oxford ebd.) verweist Kielhöfer (1994, 213) auf die
Ordnung und Strukturierung von Wörtern im mentalen Lexikon durch die Verortung von
Wörtern in Begriffsfeldern, Wortfeldern, syntagmatischen Feldern, Sachfeldern,
Klangfeldern und Wortfamilien.
Während Wörter in Begriffsfeldern nach begrifflichen Merkmalen geordnet sind (z.B.
maison mit bâtiment und villa: allesamt Gebäude), weisen alle in einem Wortfeld
geordneten Wörter (z.B. habitation, maison, cabane, résidence) dasselbe Archisem auf. Bei
beiden genannten Feldern handelt es sich um paradigmatische Ordnungen des
Wortmaterials.
In syntagmatischen Feldern werden nach Kielhöfer (ebd.) diejenigen Wörter geordnet, die
in der Rede häufig nacheinander vorkommen. Es können entweder Solidaritäten (z.B. der
Hund bellt) oder aber feste Verbindungen bestehen (z.B. célibataire endurci). Zudem
können sich in syntagmatischen Feldern Verben mit ihren typischen Objekten (changer -
argent) sowie Adjektive mit den typischen Nomen (profond - mer) verbinden.
Die Ordnung in Sachfeldern erfolgt nach Kielhöfer (ebd.) unter dem enzyklopädischen
Aspekt der Wortschatzordnung. Wörter wie étudiant, professeur, études etc. gehören
zusammen, weil sie demselben Sachfeld „Studium“ angehören.
Die Ordnung von Wörtern in Klangfeldern ist nach Kielhöfer (1994, 214) weniger
ausgeprägt als die in anderen Feldern, da die Speicherung von Wortmaterial vornehmlich
nach semantischen Gesichtspunkten erfolgt. Lautlich bedingte Speicherungen wie Haus und
Hof sind jedoch ebenfalls beobachtbar.
Wortfamilien schließlich stellen eine Ordnung von Wörtern dar, die sich durch Komposition
oder Ableitung aus anderen Wörtern bilden lassen. Kielhöfer (1994, 214) verweist darauf,
dass ein Wort typischerweise nicht nur in einem Teilnetz zu verorten ist, sondern
Querverbindungen in verschiedene Teilnetze aufweist. So gehöre das Wort Student
zusammen mit den Wörtern Mann und Mensch einem gemeinsamen Begriffsnetz, mit den
Wörtern Universität und studieren einem gemeinsamen Sachnetz, mit den Wörtern
Studentin, Arbeiter und Schüler einem Wortnetz und mit den Wörtern Studentin, Studium
und studieren einer Wortfamilie an, die ihrerseits wiederum Teil eines Sach- und
Klangnetzes sei. Das Sachnetz sei in jedem Fall dominierend gegenüber allen anderen
Netzordnungen.
5
4.0 Zusammenfassung
5.0 Literatur
Bleyhl, Werner: „Wortschatz und Fremdsprachenunterricht oder: Das Problem sind nicht
die Lerner“. In: Bausch, Karl-Richard / Christ, Helmut / Königs, Frank G. / Krumm, Hans-
Jürgen (Hrsg.): Erwerb und Vermittlung von Wortschatz im Fremdsprachenunterricht.
Tübingen 1995, 20-31.
Carter, R./Mc Carthy, M.: Vocabulary and language teaching. Essex 1988.
Clarke, D.F./Nation, I.S.P.: „Guessing the meanings of words from context: strategy and
techniques”. In: System 8 (1980), 211-220.
Freudenstein, Reinhold: „Der rechte Weg: Vokabeln statt Grammatik.“ In: Bausch, Karl-
Richard / Christ, Helmut / Königs, Frank G. / Krumm, Hans-Jürgen (Hrsg.): Erwerb und
Vermittlung von Wortschatz im Fremdsprachenunterricht. Tübingen 1995, 63-72.
Kielhöfer, Bernd: „Wörter lernen, behalten und erinnern“. In: Neusprachliche Mitteilungen
aus Wissenschaft und Praxis 4 (1994), 211-220.
Nagy, W.E. and Herman, P.A.: “Breadth and depth of vocabulary knowledge: Implications
for acquisition and instruction”. In: M. McKeown and M. Curtis (Hrsg.): The Nature of
Vocabulary Acquisition. Hillsdale, N. J. 1987, 19-35.
Oxford, Rebecca: Language Learning Strategies. What every teacher should know.
Boston/Massachusetts 1990.
Spörl, Friedrich, „Wörterlernen, aber wie? Zur Umsetzung von Helga Estors ‚Spracherwerb
statt Wörterkenntnis’ in der Sekundarstufe“. In: Praxis 3/90, 259-263.