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DaF auf den Kopf gestellt

Versuch einer Neustrukturierung des Unterrichts Deutsch


als Fremdsprache an der Universität

Mario Saalbach

1. Sprachlehrveranstaltungen an spani- daß dadurch die Substanz der eigentli-


schen Universitäten – ein Situationsbe- chen Studieninhalte allzu sehr zusam-
richt zur Einleitung menschrumpfen würde. Inwieweit aber
Die Situation von Sprachlehrveranstal- diese Studieninhalte überhaupt sinnvoll
tungen an Universitäten, insbesondere behandelt werden können, solange die
im Rahmen der Fremdsprachenphilolo- Studenten keine ausreichende Kompe-
gien, dürfte in den meisten Fällen weitge- tenz in der Fremdsprache besitzen, ist
hend ähnlich sein. Einerseits betrachtet es dabei eine nicht unerhebliche Frage, die
die Universität nicht als ihre primäre vor allem jene Fremdsprachenphilolo-
Aufgabe, sich quasi wie eine Sprach- gien betrifft, die bei ihren Studienanfän-
schule um die Vermittlung von Fremd- gern nur von geringen oder vielleicht
sprachenkenntnissen zu kümmern, ande- sogar überhaupt keinen Kenntnissen in
rerseits muß sie aber die Tatsache berück- der Fremdsprache ausgehen können.
sichtigen, daß die Fremdsprache für ihre Als Beispiel dafür mag die Situation der
Studenten ein wichtiges Arbeitsinstru- Germanistik in Spanien dienen. Deutsch
ment, in den Fremdsprachenphilologien wird hier als Schulfach erst seit neuestem
das wichtigste überhaupt, darstellt, sie und an noch sehr wenigen Gymnasien
also in gewisser Weise geradezu dazu unterrichtet und war bisher, abgesehen
verpflichtet ist, dieses Instrument bereit- von Ausnahmefällen, nur an den deut-
zustellen bzw. wenigstens dazu beizutra- schen Schulen in einigen größeren Städten
gen, daß ihre Studenten es sich zu eigen vertreten. Außer den Abiturienten dieser
machen können. Das allgegenwärtige Schulen und mitunter auch Kindern aus
Problem des Zeitmangels schlägt auch zurückgekehrten Emigrantenfamilien, die
hier zu Buche: Wo Studiengänge immer das Schulsystem eines deutschsprachigen
weiter verkürzt und in ein reglementie- Landes durchlaufen haben, hat das Gros
rendes Korsett aus knapp bemessener der Studienanfänger in der spanischen
Regelstudienzeit und Höchststudien- Germanistik heute praktisch kaum ir-
dauer gezwängt werden, muß man sich gendwelche verwertbaren Vorkenntnisse
sehr wohl überlegen, wie viele Veranstal- der deutschen Sprache. Aber auch wenn
tungsstunden man der Sprachvermitt- sich das Schulfach Deutsch in absehbarer
lung zur Verfügung stellen kann, ohne Zukunft an den spanischen Gymnasien

Info DaF 26, 4 (1999), 327–347


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einmal als zweite Fremdsprache etabliert dest in der Germanistik und vom Be-
haben wird, wird man nach sechs (oder, je kanntheits- bzw. Unbekanntheitsgrad
nach persönlicher Kombination im Wahl- der zu Grunde liegenden Sprachen her
pflichtbereich, auch nur zwei) Schuljahren vergleichbaren Philologien – ein schier
Deutschunterricht mit vier, in zweispra- aussichtsloses Unterfangen, bei dem ge-
chigen Autonomen Gemeinschaften wie genwärtig kein zufriedenstellendes
dem Baskenland sogar nur drei Wochen- Sprachniveau zu erreichen ist. Die Veran-
stunden kaum davon ausgehen dürfen, staltungen zur Literatur werden dement-
daß die Deutschkenntnisse der Studienan- sprechend, weitgehend unter Verwen-
fänger so gut sind, daß sie ohne weiteres dung von Übersetzungen, auf spanisch
einer Lehrveranstaltung in deutscher abgehalten.
Sprache folgen können. Und das ist der Ein Hauptfachstudium der Germanistik
Anspruch spätestens für die Veranstaltun- gibt es an der UPV/EHU bisher noch
gen des Hauptstudiums. Es gilt also, das nicht. Es existiert allerdings bereits der
bestehende Defizit bis dahin entspre- Studienplan, der im Falle einer Einfüh-
chend auszugleichen. rung des Fachs zugrunde gelegt werden
An den meisten spanischen Universitä- soll. Aber auch hier zeigen die im Grund-
ten beträgt die Regelstudienzeit für das studium zur Verfügung stehenden 360
Hauptfachstudium Germanistik, wie Sprachkursstunden, daß es unter den ge-
auch für die anderen Fremdsprachenphi- nannten Voraussetzungen und bei An-
lologien, vier Jahre (jeweils zwei Jahre wendung der üblichen Lehrkonzeptio-
Grund- und Hauptstudium), in denen nen kaum möglich sein dürfte, die Stu-
rund 300 créditos absolviert werden müs- denten bis zum Beginn des Hauptstudi-
sen, also rund 3000 Veranstaltungsstun- ums sprachlich so weit zu fördern, daß
den. Innerhalb dieses Rahmens muß in sie in der Lage sind, eine Vorlesung auf
aller Regel neben der Sprache der Haupt- deutsch zu verstehen. Darüber hinaus
fachphilologie mindestens eine weitere ergibt sich als weiteres Problem, daß es in
als Nebenfach belegt werden. An der einer Hauptfachgermanistik besonders
Universität des Baskenlands (UPV/ wichtig ist, möglichst früh über eine Le-
EHU), auf deren Situation ich mich im sekompetenz in der Fremdsprache zu
weiteren beziehen werde, sind derzeit verfügen, damit in den Literaturkursen
(WS 1997/98) in diesem Rahmen rund des Grundstudiums wenigstens einzelne
350 Studenten im Fachbereich Deutsch Texte (und wenn vielleicht auch nur aus-
als Fremdsprache immatrikuliert. Nach zugsweise) schon in deutscher Sprache
Maßgabe des Hochschulrahmengesetzes gelesen werden können, statt daß man
bedeutet das für diese Studenten, daß sie auf Übersetzungen zurückgreifen muß.
in einem verbindlichen Minimum von
120 Veranstaltungsstunden Grundkennt- 2. Problemstellung
nisse der deutschen Sprache und Litera- Angesichts einer solchen Ausgangssitua-
tur erwerben sollen. Auch wenn die Uni- tion stellt sich zunächst einmal bezüglich
versitäten dieses Minimum z. T. erheblich des DaF-Unterrichts für die Nebenfach-
erweitert haben (an der Philologischen Germanisten die Frage, inwieweit es
Fakultät der UPV/EHU z. B. auf 120 nicht möglich ist, ein effektiveres Unter-
Sprach- und 60 Literaturkursstunden, die richtskonzept zu entwickeln, das es den
im Wahlpflichtbereich noch um weitere Lernern trotz der eindeutigen institutio-
60 Sprach- und 60 Literaturkursstunden nellen Grenzen erlaubt, nach Absolvie-
ergänzt werden können), ist das – zumin- rung der zur Verfügung stehenden 120–
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180 Veranstaltungsstunden ein zufrie- fach-Germanistik hinaus und zielt ab auf


denstellenderes Sprachniveau zu errei- die Anwendung des in der Entwicklung
chen, als das bisher der Fall ist. Einge- befindlichen Konzepts auch in einer zu-
hende Überlegungen im Fachbereich künftigen Germanistik als Hauptfach, in
Deutsch als Fremdsprache an der UPV/ der dann alle vier Fertigkeitsbereiche be-
EHU haben zu der Überzeugung geführt, rücksichtigt werden müssen. Hier geht
daß zu diesem Zweck einerseits eine die Arbeitshypothese der Forschungs-
deutliche Einschränkung der zu berück- gruppe davon aus, daß der Erwerb der
sichtigenden Fertigkeiten stattfinden Fertigkeiten Hören, Schreiben und Spre-
muß, andererseits diese Beschränkung chen sehr viel effektiver und schneller
aber der späteren Förderung anderer Fer- ablaufen kann, wenn er auf der Grund-
tigkeitsbereiche Rechnung tragen bzw. lage eines schon existenten Leseverste-
sich nicht negativ auf sie auswirken hens aufbaut, weil damit ein umfassen-
sollte. Orientiert man sich an den Bedürf- des sprachliches Bezugssystem zur Ver-
nisprioritäten im universitären Bereich fügung steht, das von vornherein eine
der Philologien, so bietet sich in dem systematische Einordnung der zu akti-
abgesteckten Rahmen die weitgehende vierenden sprachlichen Elemente ermög-
Beschränkung auf die Fertigkeit des Le- licht und damit einen die Sinnbildung
severstehens an. Während es nicht mög- und das Verständnis fördernden Bedeu-
lich ist, in 120–180 Deutschkursstunden tungskontext schafft, der sich bei anderen
alle vier Fertigkeiten (Hören, Lesen, gängigen Sprachlehr- und -lernverfahren
Schreiben, Sprechen) zufriedenstellend erst zeitraubend konstituieren muß.
zu fördern, kann man sehr wohl davon
ausgehen, daß die Studenten in dieser 3. Theoretische Grundlagen
Zeit ein umfassendes Leseverständnis er- In den letzten Jahren hat verstärkt eine
werben können. Das käme auch den an- Auswertung von zum Teil weit zurück-
schließenden Literaturkursen zu Gute, liegenden Forschungsergebnissen statt-
die dann verstärkt auf der Lektüre gefunden hinsichtlich ihrer Konsequen-
deutschsprachiger Originaltexte auf- zen für die Theoriebildung in der
bauen könnten. Spracherwerbs- und in der Sprachlehr-
Zur Überprüfung dieser Hypothesen un- forschung. Paradigmatisch sei hier vor
ter Beachtung der Zielsetzungen wurde allem auf die Veröffentlichungen von
im Sommer 1996 eine Forschungsgruppe Ernst Apeltauer, Gerard J. Westhoff und
ins Leben gerufen.1 Dabei geht die Auf- Henning Wode hingewiesen.2 Ein we-
gabenstellung der Forschungsgruppe al- sentliches Anliegen dieser Autoren ist
lerdings über den Rahmen der Neben- der Versuch festzustellen, inwieweit sich

1 Neben dem Vf. dieses Artikels gehören der Forschungsgruppe Dr. Erich Huber und, seit
Dezember 1997, Waltraud Kirste an, beide wie der Vf. Dozenten im Fachbereich DaF an
der Universität des Baskenlands. Das Projekt wird von der Universität des Baskenlands
seit Dezember 1996 unter den Projektnummern UPV 103.130-HA 099/96 und UPV
103.130-HA 155/97 finanziell gefördert.
2 Apeltauer, Ernst (Hrsg.): Gesteuerter Zweitspracherwerb. Voraussetzungen und Konsequen-
zen für den Unterricht. Ismaning: Hueber, 1987. – Westhoff, Gerard J.: Didaktik des
Leseverstehens. Strategien des voraussagenden Lesens mit Übungsprogrammen. Ismaning:
Hueber, 1987. Wode, Henning: Psycholinguistik: eine Einführung in die Lehr- und Lernbar-
keit von Sprachen; Theorien, Methoden, Ergebnisse. Ismaning: Hueber, 1993 (Erstveröffent-
lichung 1988 unter dem Titel: Einführung in die Psycholinguistik).
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der Erwerb einer Fremdsprache von Der traditionelle Fremdsprachenunter-


dem der Muttersprache und vom natür- richt hingegen läßt den nützlichen Effekt
lichen Zweitsprachenerwerb unterschei- einer affektiv positiven Lernsituation au-
det bzw. welche Gemeinsamkeiten diese ßer Acht, denn dort
verschiedenen Spracherwerbstypen be- »werden Grammatik und formale Aspekte
sitzen. Man kommt aufgrund der vorge- der Sprache vermittelt, indem die Schüler
tragenen Dokumentationen und Argu- angehalten werden, zuzuhören, zu wieder-
mente unschwer zu dem Schluß, daß holen und zu variieren (pattern drill). Was
hier eher die Gemeinsamkeiten überwie- im Unterricht oft als Kommunikation gilt,
gen, diese Tatsache und die sich daraus würde außerhalb des Klassenzimmers
kaum so bezeichnet.« (ebd.)
ergebenden Konsequenzen aber im
Fremdsprachenunterricht bisher weitge- Aus den unzweifelhaften Vorteilen des
hend ignoriert oder einfach zu wenig informellen Lernens leitet Apeltauer die
berücksichtigt werden. Notwendigkeit ab, »informelles Lernen
So führt etwa Wode aus, daß die im auch im Unterricht zu ermöglichen«
Fremdsprachenunterricht traditionell (ebd.).
vorgenommene Trennung zwischen in- Eine Sprache ist eben mehr als nur ein
tuitiver und bewußter Lernweise nicht Katalog von Vokabeln und grammati-
dem Umstand entspricht, daß es sich schen Strukturmodellen. Genauso wich-
hier allem Anschein nach nicht um ge- tig wie das linguistische System sind die
trennte Lernsysteme handelt, sondern kulturellen und gesellschaftlichen Kon-
eher »um ein Kontinuum mit zwei extre- ventionen, die etwa das Zusammenleben
men Ausprägungen« (Wode 1993: 57f.). mit und den Kontakt zu den Mitmen-
Denn – so ebenfalls in diesem Zusam- schen regeln und vor deren Hintergrund
menhang – jenes erst zu seiner vollen Bedeutung
gelangen kann, weil es erst durch sie und
»Vergleiche zwischen Schülern im Fremd-
sprachenunterricht und Lernern, die eine vor ihnen die Abtönungen und Nuancie-
zweite Sprache unter natürlichen Bedin- rungen erfährt, welche die mit seiner
gungen erwerben, zeigen, daß jene Fähig- Hilfe formulierten verbalen Äußerungen
keiten, die Lerner unter natürlichen Bedin- in unterschiedlichen Situationen jeweils
gungen für das Meistern einer Sprache akti- adäquat erscheinen lassen.
vieren, auch im Fremdsprachenunterricht
zur Verfügung stehen und dort auch tat- »Eine Sprache lernen heißt: ein System und
sächlich wirksam werden« (Wode 1993: 16). seine konventionellen Zuordnungen er-
schließen. Spracherwerb ist Strukturer-
Dazu ist es aber äußerst wichtig, daß der werb, und nicht das Auswendiglernen ei-
Spracherwerb in einem für die Lerner ner Liste isolierter Vokabeln oder Satzmu-
bedeutungsrelevanten Kontext stattfin- ster.« (Wode 1993: 37)
det, der auch ihren affektiven Bedürfnis- Die häufig eher einer Dressur als einem
sen entgegenkommt. Diese Vorausset- wirklichen Spracherwerbsprozeß äh-
zungen sieht Apeltauer vor allem in in- nelnden traditionellen Lehrverfahren
formellen Situationen erfüllt: gehen in aller Regel davon aus, daß
»Lernen in informellen Situationen findet Sprachen durch Imitation erlernt wür-
meist in einem durchschaubaren Kontext den, daß also der fremdsprachliche input
statt, der von den Lernern mit positiven mit dem Lerner-output identisch sei.
sozialen Werten assoziiert wird und eng mit
dem Lernermodell (z. B. einem Gleichaltri- Diese Annahme, die in der Tat die bisher
gen, einem Jugendlichen oder Erwachse- üblichen Lehrmethoden mit ihrer Ten-
nen) verbunden ist.« (Apeltauer 1987: 22) denz zum »ganzheitlichen Reproduzie-
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ren vorgegebener Äußerungen« (Wode Lernmodell wird sich folglich sehr viel
1993: 296) weitgehend rechtfertigen stärker, als das bisher der Fall ist, am
würde, hat sich allerdings inzwischen natürlichen Spracherwerb orientieren
als Irrtum erwiesen. Wie Wode überzeu- müssen.
gend argumentiert, ist zwischen input Was hier für die Gesamtheit des Fremd-
und output eine Verarbeitungsphase ge- sprachenerwerbs gefordert wird, gilt na-
schaltet, die dazu führt, daß der input türlich entsprechend für die einzelnen
vom Lerner in mentale Repräsentationen Fertigkeitsbereiche, in die er sich gliedert,
umgearbeitet wird, die dann später zum und damit auch für das Leseverstehen,
Verstehen der Sprache wie auch zur eige- das uns hier besonders interessiert. Die
nen Sprachproduktion abgerufen wer- Erkenntnisse der Rezeptionstheorie, wie
den können. Ausschlaggebend für den sie Wolfgang Iser vor allem in seinem Akt
tatsächlichen output ist dabei nicht etwa des Lesens dargelegt hat1, müssen so auch
der input, sondern der Erfolg des Verar- für das Lesen in der Fremdsprache be-
beitungsprozesses und das Ergebnis, zu rücksichtigt werden. Denn, so das Resü-
dem er geführt hat. mee von Heinz Wilms neuerlichen For-
schungsergebnissen2:
»Die Kreativität des Lerners besteht darin,
aus dem Input auszuwählen und das Aus- »Die Leseprozesse [in der Mutter- und in
gewählte eigenständig zu verknüpfen. D. der Fremdsprache], die wir bis vor kurzem
h., der Lerner verarbeitet die registrierten so penibel getrennt gesehen haben, sind
sprachlichen Signale, ehe sie ihm für die nämlich identisch, auch wenn beim Lesen
eigene Verwendung zur Verfügung stehen. in der Fremdsprache weniger sprachliche
Die entscheidende Einsicht ist, daß hier Vorkenntnisse aus eigenem Besitz zur Ver-
eine Ver- und Aufarbeitung des Input fügung stehen und kulturelle Distanzen
stattfindet, als deren Ergebnis letzten En- hinderlich sein können.«
des eine Speicherung sprachlicher Infor- Daraus ergibt sich die logische Forde-
mation in Form von mentalen Repräsentatio-
nen im Gedächtnis erfolgt. Sie dienen dem rung:
Lerner für das Produzieren und Verstehen »›Der Schüler soll lernen sein Bedürfnis
von Äußerungen in der Zielsprache.« nach Informationen, die in einem fremd-
(Wode 1993: 22) bzw. deutschsprachigen Text enthalten
sind, zu befriedigen‹. […] Jeder soll sich
Entscheidend ist hier letzten Endes die seine Fragen selbst stellen, nicht vorgege-
Erkenntnis, daß nicht Imitation das bene Lehrerfragen beantworten müssen.
Grundprinzip des Sprachenlernens dar- Aufgabe einer Unterrichtung im Lesever-
stellt, sondern daß dieser Prozeß »durch stehen ist es also, Aktivitäten anzuregen
und weiterzuentwickeln, durch die ein Le-
Dekomposition von sprachlichem Input ser/Lerner einen natürlichen Zugang zum
und durch die kreative Rekonstruktion Text findet, schon mit Beginn der Lesepro-
der sprachlichen Strukturen« charakteri- zedur eigene Vermutungen und Fragen
siert und in Gang gehalten wird (Wode zum Inhalt bildet, die im folgenden beant-
1993: 296). Drill-Übungen und das Aus- wortet, bestätigt oder korrigiert werden.«
wendiglernen von Muster-Dialogen etwa Es müssen also einerseits im Unterricht
erscheinen vor einem solchen Hinter- die notwendigen Freiräume geschaffen
grund mehr als fragwürdig. Ein wirklich werden, um den Lernern den kreativen
lernerzentriertes Lehr- und – vor allem – Umgang mit Texten zu ermöglichen und

1 Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München: Fink (UTB),
1976.
2 Im Vorwort zu Westhoff: 1987, 9f.
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diesen gezielt zu fördern. Andererseits »Gib dem Lernenden Gelegenheit, seinen


gilt es, eine Reihe im traditionellen eigenen Lernprozeß zu durchlaufen. Laß
Fremdsprachenunterricht durchaus übli- ihn viel Leseerfahrung machen, hilf ihm,
Indizien im Text zu finden, wenn er sie
cher Handlungsweisen des Lehrers zu selbst übersehen hat, und zeig ihm, wie er
eliminieren, die sich auf das Leseverste- seine Hypothesen prüfen kann, wenn er
hen äußerst negativ auswirken. Westhoff die Möglichkeiten dazu selbst nicht er-
hat die »Twelve easy ways to make kennt.«
learning to read difficult« aus dem gleich- Nach Auswertung der Forschungsergeb-
namigen Artikel von Smith & Goodman nisse von Smith (1971 und 1978) schließt
(1973) in vier (negative) Vorgehensmo- Westhoff für das Leseverstehen, daß
delle zusammengefaßt und folgenderma- beim Erlernen der Muttersprache durch
ßen auf den Punkt gebracht (Westhoff kontinuierliches Erstellen von Hypothe-
1987: 67): sen über die bestehenden Regelmäßig-
1. »Sorge dafür, daß jedes Wort richtig keiten ein komplexes Regelsystem aufge-
gelesen wird.« Denn dadurch wird baut wird, mit dem Zweck, »durch Ver-
das »Wort-für-Wort-Lesen« begün- größerung der Regelzahl die bei folgen-
stigt, das den Blick für die wortüber- den Wahrnehmungen benötigte Menge
greifende Textredundanz verstellt; au- an Information zu verringern«. Versucht
ßerdem wird so das Kurzzeitgedächt- man allerdings, diese Erkenntnis in der
nis überlastet und der »Faden« geht Unterrichtspraxis zu verwerten, stößt
verloren. man auf das Problem, daß es äußerst
2. »Vermeide Raten. Sorge dafür, daß schwierig, wenn nicht gar unmöglich ist,
sehr sorgfältig gelesen wird.« Hier- solche Kenntnisse bzw. Fertigkeiten in
durch wird die Zuhilfenahme von Ei- ausreichendem Umfang bewußt zu über-
genkenntnissen und die Aktivierung mitteln (Westhoff 1987: 66). Ähnliches gilt
von Vorwissen weitgehend ausge- für das Unterrichten von »Heuristiken«
schaltet. und »Denkregeln«, die nicht nur für das
3. »Erwecke bei den Schülern den Ein- Leseverstehen von großer Bedeutung
druck, daß sie Fehler um jeden Preis sind (Westhoff 1987: 68). Weiterhelfen
vermeiden sollen«, wodurch man sie könnte hier der Schluß Wodes hinsicht-
zu einem zu langsamen Lesen verleitet, lich des Erlernens einer Zweit- oder
was die natürlichen Phasen im Lese- Fremdsprache allgemein:
prozeß wie Hypothesenbildung, -über- »Es scheint als leiteten Lerner – unbewußt –
prüfung und -korrektur nicht zuläßt. aus dem, was sie hören, Hypothesen über
die Struktur der Zielsprache ab, als über-
4. »Wenn Fehler gemacht werden, ver- prüften sie diese Annahmen systematisch
bessere sofort.« Auch hierdurch wird und änderten sie schrittweise, bis sie sich
das »Wort-für-Wort-Lesen« begünstigt mit der Struktur der Zielsprache decken.«
und die Bildung, Überprüfung und (Wode 1993: 17)
Korrektur von Hypothesen über den Wenn es nicht möglich ist, für das Lese-
Text verhindert. verstehen wichtige Techniken und Re-
Als Empfehlung, wie diese inadäquaten geln auf bewußtem Wege zu vermitteln,
Handlungsweisen zu vermeiden sind dann muß man eben die schon von der
und im Gegensatz dazu die erwünschte Muttersprache her verfügbaren unbe-
Lesekompetenz der Lerner aufgebaut wußten Mechanismen nützen und akti-
werden kann, macht sich Westhoff die vieren. Das würde sich u. a. mit der Auf-
Worte von Smith & Goodman zu Eigen: fassung von Smith decken, für den
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»der Unterricht für den Schüler Möglichkei- rücksichtigen], die zur Herausbildung
ten schaffen [soll] ›to get the opportunity to der für Sprachenlernen relevanten affek-
acquire a knowledge of redundancy by the tiven Grundlagen führen« (Wode 1993:
only route that is open to him – by experi-
ence in reading‹. Dadurch wird es dem 331), und das ist vor allem auch dort
Lernenden ermöglicht, seinen Besitz an Re- unerläßlich, wo selbständige Lernpro-
geln mittels seiner natürlichen [Kursivie- zesse in Gang gebracht werden wollen.
rung Vf.] Wahrnehmungsstrategien aufzu- U. a. bedeutet das letzten Endes, daß das
bauen und zwar so, daß er die frequente- zu Lernende für den Lerner relevant sein
sten Regelmäßigkeiten als erste lernt. Prak-
tisch heißt das: Konfrontiere den Lernenden muß und der Bezug der Lernsituation zu
mit viel authentischem Sprachmaterial« seiner realen Lebenssituation für ihn
(Westhoff 1987: 66). möglichst klar durchschaubar sein sollte.
Westhoff findet diese Erfordernis in van
Westhoff selbst teilt diese Auffassung,
Parrerens Systemtheorie (1972) bestätigt:
nach der dem unbewußten bzw. intuiti-
ven Lernen im Unterricht erheblicher »Van Parreren sieht als Endergebnis des
Freiraum zugestanden werden sollte. Für Lernprozesses eine Gedächtnisspur. Eine sol-
ihn »lernen die Schüler vor allem da- che Spur beschreibt er als ›eine durch Lernen
erworbene Verhaltenspotenz, eine Möglichkeit
durch, daß sie selber Probleme lösen« also, die sich im Verhalten der Person reali-
(Westhoff 1987: 91). sieren kann, aber sicher nicht in jedem Au-
Es scheint sich so insgesamt abzuzeich- genblick zu realisieren braucht‹. […] Das
nen, daß ein lernerzentriertes Unter- betreffende [Gedächtnisspuren-] System
wird leichter reaktiviert, je deutlicher der
richtsmodell in letzter Konsequenz auf Zusammenhang zwischen der Situation, in
autonomes Lernen hinausläuft, was sich der es gelernt wurde, und der aktuellen
notwendigerweise auf die Funktion des Situation ist. Deshalb ist es wichtig, das
Lehrers auswirkt und ihn zum Umden- erwünschte Verhalten im Rahmen eines
ken zwingt. Wenn durch eigenständiges Verhaltensganzen üben zu lassen, das in
bezug auf seine Handlungsstruktur mög-
Problemlösen gelernt werden soll, dann lichst viel Übereinstimmung mit dem Ver-
ist es haltensganzen, in dem das Gelernte ange-
»die Aufgabe des Lehrers, dafür zu sorgen, wendet werden soll, aufweist.« (Westhoff
daß genügend geeignete Probleme vorhan- 1987: 73f.)
den sind und daß die Voraussetzungen für Wo es sich, wie hier, um Lesen handelt,
selbständige Schülerarbeit erfüllt sind. Es was in einer natürlichen oder informellen
ist also nicht seine Aufgabe, Lösungen an-
zubieten. Anders gesagt: Es ist nicht seine Situation immer nicht nur Fremderfah-
Rolle, Kenntnisse zu übertragen, sondern rung, sondern vor allem Selbsterfahrung
die Fertigkeitsschulung zu organisieren, impliziert, ist es auch in der Lernsituation
d. h. Übungen organisieren, stimulieren, unbedingt notwendig, daß der Aufga-
steuern usw. und nicht erörtern oder dozie- ben- und Übungskatalog es den Lernen-
ren« (Westhoff 1987: 91).
den ermöglicht, über den Text hinauszu-
Kurioserweise ergibt sich daraus für den gehen, damit sie »ihre eigenen Wahrhei-
Lehrer eine fast paradoxe Situation: die ten und Perspektiven schildern« können
Qualität seiner Lehre steht im proportio- (Wicke 1994: 44).
nal umgekehrten Verhältnis zur Notwen- Traditioneller Fremdsprachenunterricht
digkeit seiner Intervention in der Klasse. ist u. a. deshalb so weit entfernt vom
D. h. je besser er ist, um so überflüssiger natürlichen Spracherwerbsprozeß, weil
macht er sich selbst. die Lehrer dort »von vornherein meist
Nach Wode muß die Fremdsprachendi- die zielgerechte Wiedergabe ganzer Sätze
daktik unbedingt »all jene Umstände [be- [verlangen] bzw. dessen, was gerade ge-
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lernt und eingeübt wird« (Wode 1993: und außerdem wichtige Voraussetzungen
45f.). Dabei handelt es sich in aller Regel für sprachliche Interaktionen, weil Äuße-
um unter grammatischen Gesichtspunk- rungen eines Interaktionspartners verstan-
den werden müssen, ehe darauf reagiert
ten konstruierte Dialoge oder jeden reali- werden kann, gleichzeitig aber auch eigene
stischen Kontexts entbehrende Beispiel- Rede mit Hilfe dieser Tätigkeit beständig
sätze. Realitätsbezug und erkennbare Re- kontrolliert und korrigiert werden muß.
levanz für die außerschulische Situation Berücksichtigt man, daß viele Freizeitbe-
sind damit nicht gegeben. Und vor allem schäftigungen, wie z. B. Radio hören und
Filme sehen, Bücher, Zeitschriften und Illu-
entspricht der natürliche Ablauf des strierte lesen, ebenfalls zu dieser Interakti-
Lernprozesses nicht diesem Muster. Wie onsart gehören, so wird deutlich, daß der
bereits erklärt wurde, ist input eben nicht Anteil an einseitiger Kommunikation in in-
gleich output. Ganz im Gegenteil zum formellen Sprachlernsituationen über-
bisher im Fremdsprachenunterricht übli- wiegt.« (Apeltauer 1987: 16)
chen Vorgehen ist der Sprachproduktion Gehen wir davon aus, daß »rezeptive
beim natürlichen Erwerb (etwa der Mut- Fertigkeiten Voraussetzungen für Pro-
tersprache) eine ausgedehnte rezeptive duktionsprozesse sind« (Apeltauer 1987:
Phase vorgeschaltet, die für den Lernpro- 36), so erscheint es folgerichtig, auch für
zeß von essentieller Bedeutung ist. Apel- den Fremdsprachenunterricht zu for-
tauer beschreibt das für den natürlichen dern, daß informelle Sprachlernsituatio-
Zweitspracherwerb folgendermaßen: nen und die in ihnen vorherrschende
einseitige natürliche Kommunikation vor
»Geht man davon aus, daß Kontaktbereit-
schaft bei einem Lerner gegeben ist und allem im Anfängerunterricht gebührend
auch Kontaktmöglichkeiten bestehen, so berücksichtigt werden, und zwar in Form
wird die Entwicklung seiner sprachlichen einer langen rezeptiven Phase, die der
Kompetenz [u. a.] davon abhängen, […] ob Produktion in der Fremdsprache vorge-
er Gelegenheit hat, die kognitiven und af- schaltet wird. Nur so kann schließlich
fektiven Vorteile einseitiger Kommunika- eine bedeutungsrelevante Sprachpro-
tion vor allem in der Anfangsphase zu
nutzen und zunächst sein Hörverstehen zu duktion erzielt werden, die sich nicht in
entwickeln, oder ob er, wie das z. B. in der artifiziellen Konstrukten erschöpft, son-
Schule häufig der Fall ist, bereits früh zum dern zum Akt wirklicher Kommunika-
Sprechen genötigt wird.« (Apeltauer 1987: tion hat reifen können. Für die Ausspra-
17) che führt Wode einige Untersuchungser-
Letzteres erweist sich dabei als Hindernis gebnisse an, die sich unschwer auf die
für die Herausbildung der erwünschten anderen Fertigkeitsbereiche übertragen
fremdsprachlichen Kompetenz. Als »ein- lassen dürften (Wode 1993: 132): Entge-
seitige natürliche Kommunikationssitua- gen der Praxis, »phonetische Reproduk-
tionen« bezeichnet Apeltauer tion vom ersten Unterrichtstag an« ein-
setzen zu lassen, wird in alternativen
»Sprachlernsituationen, in denen der L2-
Lerner nur rezeptiv tätig ist, […] weil der
Versuchen »eine mehrwöchige, rein re-
Lerner in ihnen (einseitig) darauf konzen- zeptive Phase vorgeschaltet, in der die
triert ist, den Sinn von gesprochenen oder Schüler nur zuhören und verstehen sol-
geschriebenen Texten zu erfassen bzw. zu len, aber nicht selbst zu sprechen brau-
rekonstruieren. Längere Zeit wurde ange- chen«. Er verweist z. B. auf die Methoden
nommen, daß Hörverstehen die passive der total physical response von Asher
Seite des Sprachverarbeitungsprozesses
und Sprechen dessen aktiver Part ist. Inzwi- (1965) oder des natural approach von Ter-
schen weiß man jedoch, daß auch Hörver- rell (1977) sowie auf die Ansätze von
stehen und Lesen aktive Tätigkeiten sind Postovsky (1977) und Gary (1975), die
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ihre Lehrverfahren sämtlich damit be- terrichtssituation zu durchschauen und


gründen, »daß Kinder unter natürlichen als relevant zu erkennen. Hierdurch wird
Bedingungen sowohl beim L1- wie beim eine wichtige affektive Grundlage im
L2-Erwerb zunächst ein gutes Maß an fremdsprachlichen Unterricht geschaf-
Dekodierfähigkeit entwickeln, ehe sie an- fen, die sich äußerst positiv auf die Moti-
fangen, selbst zu sprechen«. Erste aus- viertheit der Lerner und damit auf den
wertende Studien kommen bereits zu Lernprozeß auswirkt. Wo es um Lerner-
dem Schluß, »daß die Schüler bei verzö- zentriertheit und die Fertigkeit des Lese-
gertem Sprechbeginn die Aussprache verstehens geht, darf ein modernes Un-
nicht schlechter, z. T. sogar besser als jene terrichtsmodell außerdem nicht die Er-
Kontrollgruppen lernen, die von Anfang kenntnisse der Rezeptionstheorie verges-
an sprechen mußten«. sen: Die Bedeutung literarischer Texte
konstituiert sich erst im Akt des Lesens
4. Konsequenzen für die Praxis des und variiert entsprechend von Leser zu
Fremdsprachenunterrichts Leser; Lesen ist nicht nur ein Prozeß der
Ein moderner methodischer Ansatz für Fremderfahrung (der Erkenntnis der
die Praxis des Fremdsprachenunterrichts vom Text dargestellten Wirklichkeit),
kann nicht umhin, die genannten Ergeb- sondern vor allem der Selbsterfahrung,
nisse der Spracherwerbsforschung ge- insoweit die vom Text dargestellte Wirk-
bührend zu berücksichtigen, wenn er lichkeit vom Leser interpretiert wird und
nicht von vornherein hoffnungslos hinter er ihr gegenüber Stellung bezieht. Daher
der wissenschaftlichen Entwicklung mit ist es notwendig, von der Unterrichtspla-
ihren, wie sich zeigt, gar nicht immer nung her Freiräume für den kreativen
unbedingt so neuen Forschungsergebnis- Umgang mit den Texten zu schaffen und
sen hinterherhinken will. D. h., seine dem lesenden Lerner bzw. lernenden Le-
Neuorientierung muß ganz konkret zwei ser die Möglichkeit zu geben, über den
Aspekte in Betracht ziehen: Text hinauszugehen. Kreativer Umgang
1. die Notwendigkeit eines wirklich ler- mit Texten heißt hier nicht nur literari-
nerzentrierten Unterrichtsverfahrens sche Texte umschreiben, Paralleltexte for-
und mulieren oder unvollständige Texte zu
2. die Konvenienz, das Unterrichtsver- Ende schreiben, sondern einfach auch
fahren so weit wie möglich dem natür- schon über ihren Sinn spekulieren und
lichen Spracherwerbsprozeß anzunä- ausgehend vom Text ein persönliches
hern. und individuelles Bedeutungsganzes
Was die Lernerzentriertheit angeht, be- konstruieren.
deutet das, daß dem Lerner vor allem die Hinsichtlich der Forderung, die Unter-
Möglichkeit geboten werden muß, seinen richtsverfahren im Fremdsprachenunter-
persönlichen Lernprozeß weitgehend richt möglichst nah dem natürlichen
selbst zu bestimmen. In letzter Konse- Spracherwerbsprozeß anzupassen, ist die
quenz führt das zu einer Unterrichtsorga- Berücksichtigung der Erkenntnis, daß in-
nisation, die das autonome Lernen in den put und output nicht identisch sind, von
Vordergrund stellt. Dazu ist es unerläß- grundlegender Bedeutung. Das Grund-
lich, daß die Lerninhalte in einem bedeu- prinzip des Erlernens einer
tungsrelevanten Kontext präsentiert wer- (Fremd-)Sprache ist nicht Imitation, son-
den, der es den Lernern erlaubt, den dern Dekomposition, und die nimmt eine
Bezug des zu Lernenden bzw. Gelernten gewisse Zeit in Anspruch. Angesichts der
zu realen Situationen außerhalb der Un- Tatsache, daß rezeptive Fertigkeiten Vor-
336

aussetzung für die spätere Sprachpro- fach-Germanisten sinnvoll sein und wel-
duktion sind, sollten dieser im Fremd- che Vorteile man sich davon erwarten
sprachenunterricht immer ausgedehnte könnte.
rezeptive Phasen vorgeschaltet werden, Nach Bernd Kast (1994: 5f.) lassen sich in
damit der Lerner über die notwendige der Entwicklung des kommunikativen
Zeit verfügt, den input zu verarbeiten Ansatzes seit 1975 im wesentlichen drei
und die Ergebnisse dieser Verarbeitung Orientierungsschwerpunkte feststellen:
zur Sprachproduktion bereitzustellen. 1. der pragmatisch-funktionale (etwa 1975–
Auch hierdurch wird ein Beitrag zur 1985): Hier handelt es sich um den
Schaffung einer affektiv positiven Unter- klassischen kommunikativen Ansatz
richtssituation geleistet, da man den Ler- mit seiner gezielten Hinwendung zu
ner so nicht dazu nötigt, etwas in die Alltagssituationen und umgangs-
Praxis umzusetzen, was er wahrschein- sprachlichen Dialogen und seiner weit-
lich noch gar nicht richtig durchschaut gehenden Ablehnung expliziter Gram-
hat bzw. noch nicht zu durchschauen matikarbeit;
glaubt. In diesen rezeptiven Phasen bietet 2. der interkulturelle (ab 1985), der davon
es sich an, das natürlichen Spracher- ausgeht, daß unterschiedliche Kultur-
werbssituationen entsprechende infor- kreise unterschiedliche Rezeptionswei-
melle Lernen aufzugreifen und infor- sen bedingen und entsprechend – ne-
melle Lernsituationen für den Unterricht ben der Spracharbeit – »die kulturspe-
zu instrumentalisieren. Denn gerade sie zifischen Erfahrungen und Wahrneh-
sind reich an einseitiger natürlicher Kom- mungen der Lernenden zu berücksich-
munikation, die der intuitiven Seite des tigen« seien. Als Beispiel steht hier das
Lernens entgegenkommt und so dazu Mittelstufenlehrwerk Sichtwechsel, in
beiträgt, die natürlichen aus dem Mutter- dem u. a. auch literarische Texte als
sprachenerwerb vorhandenen Wahrneh- Sprech- und Diskussionsanlässe ver-
mungsstrategien auch für das Erlernen wendet werden;
der Fremdsprache nutzbar zu machen. 3. der entdeckend-literarische (ab 1990), der
in dem »Lernroman« Die Suche umge-
5. Leseverstehen als Einstieg in den setzt wurde. Hier wird der Deutschler-
DaF-Erwerb nende »zum Lesenden mit all den Hal-
Wie schon vorausgeschickt, hat es sich tungen, die konstitutiv für den ›Akt
die DaF-Forschungsgruppe an der UPV/ des Lesens‹ (Iser 1976) und des Hörens
EHU zur Aufgabe gemacht, ein Konzept sind«. Es geht konkret um den »Auf-
zu entwickeln, das es einerseits den Ne- bau von Erwartungshaltungen«, um
benfach-Germanisten trotz der nur gerin- die »Geduld im Umgang mit der Of-
gen zur Verfügung stehenden Zeit er- fenheit des Textes« und um den »Auf-
laubt, wenigstens in einem der Fertig- bau von Erschließungs- und Deutungs-
keitsbereiche umfassende Kenntnisse der techniken«, letzten Endes also um die
deutschen Sprache zu erwerben. Ange- gezielte Berücksichtigung im DaF-Un-
sichts der Prioritäten innerhalb eines Uni- terricht von jenen Elementen bzw. Ab-
versitätsstudiums einer Fremdsprachen- läufen, die auch den natürlichen Lese-
philologie erscheint der Fertigkeitsbe- vorgang charakterisieren.
reich Leseverstehen hier adäquat. Ande- Das von der Fertigkeit des Leseverste-
rerseits soll überprüft werden, inwieweit hens ausgehende Konzept der DaF-For-
der Einstieg in den DaF-Erwerb über das schungsgruppe an der UPV/EHU liegt
Leseverstehen auch für künftige Haupt- also im Trend der neuerlichen Hinwen-
337

dung zum Lesen auch wieder literari- Stunden höher [sei] als jener des Spre-
scher Texte im Fremdsprachenunterricht chens und Schreibens« (Buttaroni;
und greift auch einzelne Aspekte des Knapp 1988: 68).
interkulturellen und des entdeckend-lite- Wo von Anfang an, wie hier, mit authen-
rarischen Ansatzes auf – vor allem dort, tischen schriftlichen Texten ein Lesever-
wo es um Selbsterfahrungsprozesse und ständnis aufgebaut werden soll, ist es nur
die Nutzbarmachung des natürlichen Le- logisch, daß auch der Lesevorgang, in
sevorgangs geht. Es unterscheidet sich dem diese Texte von den Lernern zur
von beiden aber in wesentlichen Punk- Kenntnis genommen werden, möglichst
ten. Denn einerseits geht es hier um einen authentisch sein sollte, also sich mög-
Leseansatz schon für den Anfängerunter- lichst wenig von einem normalen Lesen
richt und nicht erst für die Mittelstufe in einer natürlichen, informellen Lesesi-
(wie er etwa in Sichtwechsel oder Leseland- tuation unterscheiden sollte. Die Schwie-
schaft vorliegt), woraus sich eine grundle- rigkeiten, die ein solches Modell in einem
gend andere Ausgangssituation ergibt,
Anfängerkurs mit Lernern ohne irgend-
und andererseits soll hier das Lesen nicht
welche Vorkenntnisse aufwirft, liegen auf
wie in Die Suche neben dem Hörverstehen
der Hand: Wie kann man einen Null-
und den produktiven Fertigkeiten geübt
Anfänger dazu bringen, einen ganzen
und ausgebildet, sondern als ausge-
Text in der Fremdsprache zu verstehen,
dehnte rezeptive Phase dem Erwerb der
die er doch eigentlich erst lernen will,
anderen Fertigkeiten vorgeschaltet wer-
ohne ihn dabei von vornherein so zu
den.
verprellen, daß er völlig entmutigt und
Das Lehrmodell und die Übungstypolo-
demotiviert das Handtuch wirft, bevor er
gien, von denen der hier behandelte An-
satz ausgeht, wurden bereits Anfang der überhaupt mit dem Lernen angefangen
80er Jahre in Rom von Christopher hat? Einmal ist es dazu natürlich sinnvoll
Humphris und der DILIT-Forschungs- und notwendig, die Lerner von vornher-
gruppe am International House ausgear- ein über die Methode und die sich even-
beitet und dann 1988 von Susanna Butta- tuell aus ihr ergebenden Probleme aufzu-
roni und Alfred Knapp in Wien unter klären, denn man wird mit allergrößter
dem Titel Fremdsprachenwachstum veröf- Wahrscheinlichkeit davon ausgehen kön-
fentlicht. Nach diesem Modell wird der nen, daß keiner von ihnen jemals nach
Fremdsprachenerwerb ausschließlich dieser oder einer ähnlichen Methode eine
unter Verwendung von authentischem Fremdsprache gelernt hat. Solche Ge-
Textmaterial (Hör- und Lesetexte) in die spräche, in denen die Probleme, Ängste,
Wege geleitet, und zwar vor allem auf Frustrationsgefühle der Lerner themati-
der Grundlage von autonomen Lernpro- siert werden, erweisen sich auch im wei-
zessen, bei denen die Lerner induktiv teren Verlauf des Kurses oft als hilfreich,
selbst die Regeln erschließen, die sie zu um dem Lernprozeß hinderliche Barrie-
Textverständnis und -produktion benöti- ren rechtzeitig abzubauen. Des weiteren
gen. Freilich stellt auch Fremdsprachen- müssen am Anfang besonders einfache
wachstum nicht das gleichzeitige Berück- Texte verwendet werden, insbesondere
sichtigen aller vier Fertigkeitsbereiche solche, die geeignet sind, dem Lerner die
(Hören, Lesen, Schreiben, Sprechen) von Erkenntnis zu vermitteln, daß es auch in
Anfang an in Frage, geht allerdings da- Texten in einer ihm fremden Sprache
von aus, daß »der Anteil an Verstehens- Indizien und Informationen geben kann,
aktivitäten innerhalb der ersten 100 die es ihm erlauben, Zugang zum Text zu
338

finden, obwohl ihm die Fremdsprachen- 2. Dem Lerner wird von Anfang an die
kenntnisse dafür eigentlich noch fehlen. Angst vor dem authentischen Text ge-
Zu diesem Zweck geeignete Texte kön- nommen, die er bei anderen Lehr- und
nen etwa der konkreten Poesie entnom- Lernmethoden oft nach mehreren Jah-
men werden. Der erste Text, mit dem sich ren noch nicht überwunden hat.
z. B. die Studenten an der UPV/EHU 3. Dem Lerner wird ein Erfolgserlebnis
konfrontiert sahen, die nach dieser Me- vermittelt, das er zwar vielleicht selbst
thode in einem Pilotprojekt unterrichtet belächelt, weil ihm bewußt ist, wie
wurden, war Ernst Jandls einfach der Text ist. Trotzdem wird ihm
aber bei einem an das Lesen anschlie-
markierung einer wende ßenden Gespräch über das Gedicht
1944 1945 (natürlich in seiner Muttersprache)
krieg krieg durchaus klar, daß er einen deutsch-
krieg krieg sprachigen authentischen Text so weit
krieg krieg verstanden hat, daß er ihm als Anlaß
krieg krieg
krieg mai zu einem relativ ausgedehnten Gedan-
krieg kenaustausch mit anderen zur Verfü-
krieg gung steht.
krieg Wie in Fremdsprachenwachstum vorge-
krieg schlagen, gliedert sich die Arbeit mit den
krieg
krieg Texten im Unterricht in zwei voneinan-
krieg der getrennte Handlungsblöcke: das au-
thentische Lesen und das analytische Le-
Hier sind einmal die Jahreszahlen be- sen. Im ersten dieser Blöcke, dem authen-
kannt bzw. kann ihre Bedeutung relativ tischen Lesen, geht es um das Leseverste-
einfach erschlossen werden, die Bedeu- hen im engeren Sinne. Wie bereits erklärt
tung des Wortes »mai« wird in der Regel wurde und wie es sich allein schon aus
sofort identifiziert. Des weiteren ist ei- der Bezeichnung »authentisches Lesen«
gentlich nur noch die Bedeutung eines ergibt, sollte sich dieser Lesevorgang
einzigen weiteren Wortes (»krieg«) wich- möglichst wenig vom normalen Lesen in
tig, um den Text verstehen zu können, einer informellen Lesesituation unter-
und selbst diese Bedeutung läßt sich rela- scheiden. D. h., die Lerner sollen nach
tiv leicht wiederum aus dem Text ablei- Möglichkeit jene Wahrnehmungsstrate-
ten. Natürlich handelt es sich hier um ein gien aktivieren, die sie auch beim Lesen
vom sprachlichen Niveau her extrem ein- in ihrer Muttersprache anwenden, um
faches Gedicht, aber in seiner Verwen- sich einen Textinhalt zu erschließen, und
dung als Eingangstext erfüllt es im we- unbedingt das vermeiden, wozu sie bei
sentlichen drei Funktionen: als schwierig empfundenen fremdspra-
1. Es zeigt dem Lerner, daß ein Text In- chigen Texten ohnehin schon neigen und
halte nicht nur über die Sprache, son- wozu sie im traditionellen Fremdspra-
dern auch über andere Elemente wie chenunterricht üblicherweise auch noch
Form und Struktur mitteilt bzw. mittei- angehalten werden: nämlich den Text
len kann, was besonders für literari- langsam, Wort für Wort zu lesen und zu
sche Texte von Bedeutung ist, weil sie versuchen, ihn in allen seinen Einzelhei-
gerade aufgrund ihres Kunstcharakters ten zu klären und zu verstehen. Bei letz-
immer wieder auf sich selbst zurück- terem handelt es sich nämlich nicht um
verweisen. Leseverstehen, sondern um das Verste-
339

hen der grammatischen Phänomene und und nicht das Übersetzen einzelner
Vokabeln; der für das Leseverstehen Wörter oder Strukturen. Als angemes-
wichtige Textzusammenhang geht dabei sene Zeitvorgabe dürfen je nach Text-
verloren. länge 2–4 Minuten gelten.
Es bedarf im Unterricht also besonderer 3. Individuelles Lesen: Der Text wird er-
Maßnahmen, um die angestrebte Au- neut durchgelesen unter Verwertung
thentizität des Lesevorgangs zu wahren der vom Partner erhaltenen Informa-
und dadurch das Leseverstehen in der tion. Hier dürfte dieselbe Zeitvorgabe
Fremdsprache zu schulen. Zu diesem angemessen sein, die auch schon in
Zweck wird der Vorgang des authenti- Phase 1 zugrunde gelegt wurde. Da-
schen Lesens im Unterricht in mehrere nach
aufeinander folgende Phasen struktu- 4. Partnerwechsel und Informationsaus-
riert. In Anlehnung an das von Butta- tausch mit neuem Partner: Richtzeit ca.
roni/Knapp (1988: 39ff.) erläuterte Ver- 4 Minuten.
fahren, aber unter Abwandlung einzelner 5. Suche von Schlüsselwörtern: Während ei-
Schritte, hat sich im hier dargestellten ner weiteren Phase individuellen Le-
Projekt folgender Ablauf bewährt: sens sollen die Lerner im Text eine
1. Individuelles Lesen: Die Lerner erhalten begrenzte Anzahl von Wörtern bestim-
einen Text und werden aufgefordert, men, die sie nicht kennen, deren Be-
ihn zu lesen. Um das Wort-für-Wort- deutung sie aber für ein besseres Text-
Lesen bzw. -Übersetzen auszuschlie- verständnis für wichtig erachten. But-
ßen, ist es dabei angebracht, eine ge- taroni/Knapp (1988: 40) gehen hin-
naue Zeitvorgabe zu machen, und au- sichtlich der Zahl der zu unterstrei-
ßerdem darauf hinzuweisen, daß nicht chenden Wörter von 4–5% der Wortan-
das wichtig ist, was die Lerner im Text zahl des gesamten Textes aus. Bei ei-
nicht verstehen, sondern das, was sie nem neuerlichen Informationsaus-
verstehen. Was sie nicht verstehen, sol- tausch versuchen beide Partner, die
len sie zunächst einfach überspringen. Bedeutung der von ihnen ausgewähl-
Für die Zeitvorgabe erweist sich der ten Wörter gemeinsam zu klären, und
Vorschlag von Buttaroni/Knapp (1988: zwar durch Raten und Spekulieren un-
40) als angemessen, man gebe den Ler- ter Berücksichtigung des Kontexts,
nern das Doppelte der Zeit, die man wenn auch der Partner das Wort nicht
selbst (als Muttersprachler) für eine kennt. Gleichzeitig kann die Gelegen-
zweifache Lektüre des Textes braucht. heit dazu genutzt werden, über son-
In diesem Zeitraum (und unter relativ stige Aspekte des Textes zu sprechen.
strikter Einhaltung der Zeitvorgabe) Als Richtzeit mögen hier 5 Minuten
sollen auch die Lerner den Text wenig- dienen, obwohl die Dauer individuell
stens zweimal durchlesen. der Länge und Komplexität des Textes
2. Informationsaustausch: Die Lerner tau- wie auch den Bedürfnissen der Lerner
schen mit ihrem Partner (Sitznachbarn) angepaßt werden muß.
die Informationen aus, die sie dem Text 6. Informationsaustausch in größerer Gruppe:
entnommen haben. Im Anfängerunter- Die Arbeitsgruppen werden zu Dreier-,
richt wird dieser Austausch in der Re- besser Vierergruppen erweitert, in de-
gel in der Muttersprache erfolgen. Es nen der Informationsaustausch weiter-
empfiehlt sich, daß in dieser Phase der geht und versucht wird, die Bedeutung
Text verdeckt wird, damit auch hier das vorher unterstrichener, aber weiterhin
Globalverstehen im Vordergrund steht unbekannter Wörter zu erschließen. Die
340

Lerner werden dann aufgefordert, sich Bei der Organisation dieser gesamten au-
in der Gruppe unter den immer noch thentischen Leseübung ist insbesondere
unverstandenen Wörtern auf 4 oder 5 auf drei Dinge zu achten: Erstens sollen
zu einigen. die verschiedenen Phasen eingehalten
7. Worterklärungsrunden / lebendiges Wör- und genau voneinander abgegrenzt wer-
terbuch: Der Lehrer geht von Gruppe zu den. Natürlich kann man den Ablauf
Gruppe und erklärt jeweils eins der entsprechend den Bedürfnissen in der
gemeinsam festgelegten Wörter, macht konkreten Lehr-/Lernsituation auswei-
also insgesamt vier oder fünf vollstän- ten bzw. verkürzen oder anderweitig an-
dige »Worterklärungsrunden«. Dabei passen. Es sollte aber immer darauf ge-
haben die Lerner immer wieder Zeit achtet werden, daß z. B. die individuellen
und Gelegenheit, den Text individuell Lesephasen auch wirklich zur individu-
zu lesen, sich mit dem Partner und den ellen Auseinandersetzung mit dem Text
anderen Gruppenmitgliedern auszu- genutzt werden und nicht unkontrolliert
tauschen und aus der Gruppe Ver- in eine Fortsetzung der Phasen des Infor-
ständnishilfen zu beziehen. Vor dem mationsaustauschs mit den Partnern um-
Hintergrund jeder neuen Vokabeler- funktioniert werden. Denn gerade das
klärung (und jeder Informationsüber- individuelle Lesen ist für die intuitiven
tragung innerhalb der Gruppe) setzt und unbewußten Lernprozesse wie auch
potentiell auch ein neuer heuristischer für die Aktivierung der natürlichen
Vorgang ein, in dem das bisherige Text- Wahrnehmungsstrategien von großer Be-
verständnis modifiziert und zurechtge- deutung. Des weiteren ist es wichtig, vor
rückt werden kann. Für die Phasen 6 allem bei den Lesephasen die Zeitvorga-
und 7 sind insgesamt 15–25 Minuten ben relativ streng einzuhalten, damit der
zu veranschlagen. häufigen Neigung zum Wort-für-Wort-
Hier kann man auch die Verwendung Lesen bzw. -Übersetzen vorgebeugt wird.
von Wörterbüchern (am besten einspra- Und drittens darf bei einem solchen Ver-
chige, im Anfängerunterricht sinnvol- fahren der äußerst intensiven Auseinan-
lerweise aber auch zweisprachige) in dersetzung mit einem unbekannten
Betracht ziehen. Das sollte innerhalb des fremdsprachigen Text der häufige Part-
Unterrichts allerdings erst in einem fort- nerwechsel nicht vergessen werden.
geschrittenen Lernstadium erfolgen, Denn nur so sorgt man in der Partner-
wenn die Lerner nämlich ihre natürli- und Gruppenarbeit für neue Impulse
chen Lesestrategien so weit aktiviert durch neuen input und verhindert, daß
haben, daß sie nicht mehr das Bedürfnis das Gespräch dadurch ins Stocken
fühlen, möglichst alle Wörter nach- kommt, daß sich die Partner eigentlich
schlagen zu müssen, weil sie glauben, schon alles gesagt haben, was sie über
den Text sonst nicht zu verstehen. den Text wissen und denken. Alles dieses
8. Abschließendes individuelles Lesen: In ei- heißt letzten Endes, daß die Lerner neben
nem abschließenden konzentrierten exakten Übungsanweisungen und Auf-
Lesevorgang soll der Lerner sämtliche gabenstellungen von vornherein mög-
Informationen verwerten, die er in den lichst eingehende Information über die
30–40 Minuten des Arbeitens mit dem Methode und die Bedeutung der einzel-
Text gesammelt hat, um zu (s)einem nen Übungsschritte erhalten sollten, die,
globalen Textverständnis zu gelangen wo nötig, nach und nach mit zusätzlichen
(Zeitmaximum: die in Phase 1 zu- Angaben ergänzt oder aufgefrischt wer-
grunde gelegte Dauer). den kann.
341

Im zweiten Block, dem analytischen Lesen, 2. Informationsaustausch: Austausch der


geht es um die Analyse konkreter gram- erzielten Ergebnisse in Partnerarbeit.
matischer, semantischer und pragmati- 3. Zielgerichtetes Lesen: Erneutes indivi-
scher Phänomene, die sich aus den gelese- duelles Absuchen des Textes.
nen Texten ergeben und in der Regel von 4. Informationsaustausch in Dreier- oder
den Lernern selbst an Hand von geeigne- Vierergruppen.
ten Übungen und mit Hilfe von Gramma- 5. Gemeinsames Klären: Besprechen von
tik und Wörterbuch systematisiert wer- Unklarheiten im Plenum.
den. Die in diesem Projekt zugrunde ge-
Im hier dargestellten Ansatz wurde die-
legte Progression stellt dabei die in gängi-
ser Ablauf insoweit abgewandelt und
gen Lehrwerken übliche Anordnung im
ergänzt, als daß einerseits das Absuchen
großen und ganzen auf den Kopf: Findet
des Textes nach einem bestimmten Phä-
man dort von der Gewichtung her eine
nomen z. T. durch Arbeitsblätter stärker
Abfolge, die im wesentlichen von der Aus-
vorstrukturiert wird und andererseits
sprache ausgeht, um dann über die Mor-
Partnerarbeit und Partnerwechsel auch
phologie gelegentlich zur Syntax zu kom-
hier mehr Berücksichtigung finden. Au-
men und semantische und textlinguisti-
ßerdem sollen die Lerner immer versu-
sche Fragestellungen weitestgehend für
chen, das Thema vor der Phase des ge-
Mittel- und Oberstufe aufzusparen, wer-
meinsamen Klärens selbständig mit Hilfe
den hier, einem Leseansatz angemessen,
von Grammatik und Wörterbuch zu sy-
Fragen der Textstruktur und -organisation
stematisieren. Daraus ergibt sich konkret
relativ früh thematisiert. Entsprechendes
folgendes Schema:
gilt für den Satzbau und die logischen
Strukturen im Satz; die Erörterung der 1. Zielgerichtetes Lesen und Übungen: Die
Thema-Rhema-Struktur wird dann zum Lerner suchen den Text in Partnerarbeit
Bindeglied zwischen Satz- und Textstruk- nach einem vorher klar umrissenen
tur. Erst danach gewinnt die Morphologie grammatischen, semantischen oder
größeres Gewicht. Parallel wird von An- pragmatischen Phänomen ab und ma-
fang an allmählich auch gesprochene chen die entsprechende(n) Übung(en).
Sprache eingeführt: allerdings in erster 2. Partnerwechsel und Informationsaus-
Linie zur Rezeption der Aussprache in tausch: Die Lerner tauschen die Ergeb-
Hinblick auf die spätere Schulung des nisse ihrer bisherigen Arbeit mit einem
Hörverstehens. Hinsichtlich der tatsächli- neuen Partner aus und nehmen ent-
chen Unterrichtsprogression ist hier im sprechende Ergänzungen und Modifi-
Sinne der Lernerzentriertheit allerdings kationen vor.
eine gewisse Flexibilität angesagt; man 3. Erweiterter Informationsaustausch zu
sollte sich immer auch durch die Lerner dritt oder viert: Es wird versucht, noch
leiten lassen, die etwa nach bestimmten bestehende Unstimmigkeiten zu klä-
Strukturen und Wendungen fragen, die sie ren.
gerne erklärt haben möchten. 4. Systematisierung der entnommenen Infor-
Buttaroni/Knapp (1988: 43) stellen zum mation: Die Lerner versuchen in Ein-
analytischen Lesen folgendes Ablauf- zel-, Partner- oder Gruppenarbeit (ent-
schema dar: sprechend ihrem persönlichen Bedürf-
1. Zielgerichtetes Lesen: Individuelles nis) das Thema mittels Grammatik und
Absuchen des Textes nach einem vor- Wörterbuch zu systematisieren (z. B.
her klar umrissenen grammatischen Anfertigen oder Ausfüllen von Sche-
oder pragmatischen Phänomen. mata oder Tabellen).
342

5. Gemeinsames Klären: Die gemeinsame tuation zu lernen bereit ist, weitgehend


Klärung und Überprüfung der Arbeits- selbst bestimmen und seine natürlichen
ergebnisse durch den Lehrer kann im Strategien der Wahrnehmung und des
Plenum erfolgen, aber auch – wie bei Spracherwerbs ins Spiel bringen. Unter
den Worterklärungsrunden beim au- Berücksichtigung der Erkenntnis, daß in-
thentischen Lesen – in den Arbeits- put nicht gleich output ist, handelt es sich
gruppen. Hier kann man je nach Sach- hier um einen wichtigen Freiraum, des-
lage (einfacheres oder komplexeres sen Verfügbarkeit für den individuellen
Thema, Neueinführung oder Wieder- Spracherwerbsprozeß und seinen Erfolg
holung …) variieren. Dabei sollte auch grundlegend ist, insofern erst er dem
das subjektive Sicherheitsbedürfnis der Lerner die Zeit gibt, die er zur Verarbei-
Lerner berücksichtigt werden, das u. U. tung des input zu output-gerechten
durch eine Klärung im Plenum eher Sprachmustern braucht.
befriedigt wird als in den Arbeitsgrup- Andererseits stellt das autonome Lernen
pen. Hier muß man aus der jeweiligen mit seinen Freiräumen, über die sich der
konkreten Unterrichtssituation heraus Lerner sehr viel stärker als bei anderen
individuell entscheiden oder auch die Methoden in die Lernsituation einbrin-
Lerner entscheiden lassen. gen kann, eine bedeutende Annäherung
an Situationen des natürlichen Spracher-
Wir haben oben aus den Ergebnissen der werbs dar. Diese Annäherung wird hier
neueren Spracherwerbs- und Sprachlehr- noch dadurch verstärkt, daß das selb-
forschung eine Reihe von Forderungen ständige Lesen und Verstehen authenti-
hinsichtlich eines modernen methodi- scher Texte im Unterricht weitestgehend
schen Ansatzes für die Praxis des Fremd- dem Lesen in informellen Situationen
sprachenunterrichts abgeleitet, die sich entspricht, es sich also nicht um eine
im wesentlichen an zwei zentralen Punk- fiktive Prozedur handelt, sondern um die
ten orientieren: an der Lernerzentriert- Befriedigung eines wie auch immer ge-
heit und der Nähe zum natürlichen richteten Erkenntnisinteresses. Daran än-
Spracherwerbsprozeß. Der hier darge- dert auch die methodisch wichtige detail-
stellte Leseansatz erfüllt diese Forderun- lierte Strukturierung der vorgeschlage-
gen weitestgehend. Denn einerseits steht nen Lesemodelle in Phasen des Lesens
in diesem Unterrichtskonzept das auto- und des Informationsaustauschs mit im-
nome Lernen im Vordergrund, das als mer wechselnden Partnern nichts, denn
Inbegriff lernerzentrierter Methodik gerade auch dieser Informationsaus-
überhaupt gelten kann. In den verschie- tausch besitzt eher informellen Charak-
denen Phasen des autonomen Arbeitens ter.1 So betrachtet Kast (1994: 8) etwa das
(einzeln, mit dem Partner, in der ungezwungene Gespräch der Lerner un-
Gruppe), sowohl beim authentischen wie tereinander über den Text in einem hand-
auch beim analytischen Lesen, kann der lungsorientierten Unterrichtsmodell als
Lerner wesentliche Belange seines per- unverzichtbar, denn da werde Sprache
sönlichen Lernprozesses, nämlich wie »nicht für pragmatisch funktionale
und wieviel er in der konkreten Lernsi- Zwecke eingesetzt, sondern um etwas

1 Ein Unterschied zum informellen Lesen besteht allerdings weiterhin darin, daß der
Lerner in der informellen Situation in der Regel selbst bestimmt, welche Texte er lesen
und zur Kenntnis nehmen will, während ihm eine solche Entscheidung in der Unter-
richtssituation nur in den seltensten Fällen überlassen wird.
343

Eigenes auszudrücken und um etwas Erwerb der deutschen Sprache über das
darüber zu erfahren, was andere denken Leseverstehen zu vollziehen, trägt deut-
und empfinden«. Es wird also wie bei lich dazu bei. Das Leseverstehen an den
natürlichen Lernsituationen in einem be- Anfang des DaF-Lernens zu stellen und
deutungsrelevanten Kontext gelernt. Au- den Lernern damit einen allgemeinen
ßerdem erfüllt das Gespräch der Lerner (und virtuell vollständigen) Überblick
untereinander noch die Funktion, das über die deutsche Sprache zu ermögli-
Gelernte zu festigen, indem es den ande- chen, bevor sie anfangen, in der Fremd-
ren mitgeteilt wird und gewissermaßen sprache auch zu produzieren, heißt
noch eine Reflexion darüber stattfindet. nichts anderes, als die viel geforderte
Auf die Bedeutsamkeit solcher verbalen ausgedehnte rezeptive Phase (z. B. Wode
Bewußtmachungs- bzw. Reflexionspha- 1993: 45f.; Apeltauer 1987: 17) allem an-
sen im Fremdsprachenunterricht weist deren voranzustellen und dem Lerner
Westhoff (1987: 70ff.) in Anlehnung an die notwendige Zeit zu geben, sich zu-
Gal’perin (1967a/b) und van Parreren nächst einmal in der Fremdsprache zu
(1979) gezielt hin. orientieren und mit ihrer Hilfe Informa-
Auch unter rezeptionstheoretischen Ge- tion aufzunehmen, bevor er sie selbst zur
sichtspunkten nimmt das ungezwungene Weitergabe von Informationen verwen-
und damit informelle Lernergespräch in det.
einem Unterricht, der vor allem auf der Nicht nur bewußte analytische, sondern
Arbeit mit literarischen Texten beruht, auch unbewußte intuitive Lernprozesse
einen unverzichtbaren Platz ein. können so in aller Ruhe stattfinden – und
das ist besonders wichtig, wenn wir be-
»Im normalen Leseprozeß ist es doch so, rücksichtigen, daß bisher längst noch
daß die Leser beim Lesen mehr oder weni-
ger bewußt das Gelesene (z. B. Personen-
nicht bekannt ist, wie Sprachlernprozesse
beschreibungen, Beschreibungen von Or- in allen Einzelheiten ablaufen, mit wel-
ten, Handlungen usw.) in eigene phanta- chen grammatischen Phänomenen die
sievolle Bilder umsetzen. Dieses kreative Lerner beispielsweise vertraut sein müs-
Potential muß der Literaturunterricht aus- sen, bevor sie andere überhaupt verste-
nutzen, indem er den lernenden Lesenden hen können etc. … (siehe Wode 1993:
entsprechende Freiräume schafft.« (Wicke
1994: 42) 288). Voraussichtliche Abweichungen
von einem Lerner zum anderen kompli-
Das Lernergespräch innerhalb des au- zieren das Ganze noch weiter. Die den
thentischen (wie auch des analytischen) gängigen DaF-Lehrwerken zugrunde lie-
Lesens erfüllt diese Forderung, indem es genden Progressionen erscheinen somit
den Lernern die Möglichkeit bietet, ihr weitgehend als Resultate einer Mischung
persönliches Bild vom Text zu entwerfen aus Erfahrungswerten und Spekulation.
und mitzuteilen, ohne daß ihre Interpre- Ob daraus eine Rechtfertigung abzulei-
tation dabei einer immer auch irgendwie ten wäre, auf eine festgelegte grammati-
normierenden Lehrerinterpretation ge- sche Progression überhaupt zu verzich-
genübergestellt würde. ten, soll hier nicht diskutiert werden. Es
Aber es ist nicht nur die lernerzentrierte liegt jedoch auf der Hand, daß progressi-
Form des autonomen Lernens, die eine onsbedingte Unzulänglichkeiten des in-
erhebliche Annäherung an den natürli- tendierten fremdsprachlichen input da-
chen Prozeß des Spracherwerbs begün- durch kompensiert werden können, daß
stigt, sondern allein schon der hier vor- man die Lerner ausschließlich mit au-
geschlagene Ansatz, den Einstieg in den thentischem Textmaterial konfrontiert, in
344

dem potentiell alle verfügbaren Sprach- kompetenz vorliegt. Man darf jedoch
mittel enthalten sind. Das intuitive Ler- nicht vergessen, daß diese Progression
nen kann dann das bewußte Lernen er- der Fertigkeiten nicht in erster Linie
gänzen und ausgleichend wirksam wer- durch den Prozeß des Spracherwerbs be-
den. Was Wode (1993: 76f.) zur Funkti- stimmt wird, sondern vor allem von Rei-
onsweise des Gehirns erklärt, untermau- fegrad und kognitivem Entwicklungs-
ert diese Annahme: stand der Lerner abhängt. Um den hier-
durch mitbedingten Unterschieden beim
»Es ist wichtig zu erkennen, daß das Ge-
dächtnis in starkem Maße selbst aktiv wer- Erlernen einer Fremdsprache gerecht zu
den und Informationen eigenständig verar- werden, unterscheidet Wode (1993) z. B.
beiten kann [… Forschungsergebnisse zei- deutlich zwischen dem Muttersprach-
gen,] daß das Gedächtnis Information un- und dem natürlichen Erwerb einer
bewußt auch so verarbeitet, daß früheres Zweitsprache. Wenn hier die Annähe-
Wissen sowie der situative Kontext deutend
mitberücksichtigt wird.« rung des Fremdsprachenunterrichts an
den natürlichen Spracherwerbsprozeß
Und weiter: gefordert wird, ist mit letzterem der na-
»Behalten wird selektiv, und zwar nur, was türliche Erwerb der Zweitsprache ge-
im jeweiligen Zusammenhang notwendig meint, weil der im Gegensatz zum Mut-
ist. […] Der Vorgang des Behaltens ist weit- terspracherwerb nicht mehr von der all-
gehend unbewußt. Man kann nicht be- gemeinen intellektuellen Entwicklung
schließen, etwas zu behalten und anderes
zu vergessen.« des Kindes abhängt bzw. mitbedingt
wird, sondern entsprechend der Ent-
Man darf davon ausgehen, daß Verstand wicklungsstufe der jeweiligen Lerner
und Gedächtnis sehr wohl in der Lage weitgehend differenziert werden kann
sind, auch unbewußten input zu verar- (cf. Wode 1993: 33f.). Apeltauer (1987:
beiten und zu systematisieren. Letzten 24f.) stellt so bei erwachsenen Lernern im
Endes ist das die Grundlage des Mutter- Gegensatz zu Kindern die Fähigkeit zum
spracherwerbs, und die entsprechenden relativ schnelleren Verstehen und Erfas-
Fähigkeiten stehen dann auch beim Er- sen von semantischen, syntaktischen und
werb einer Fremdsprache zur Verfü- morphologischen Strukturen und Zu-
gung. sammenhängen fest, die auf das stärker
Man mag gegen diesen Ansatz, der sich entwickelte Abstraktionsvermögen der
einerseits in den Dienst einer Annähe- Erwachsenen wie auch auf ihr umfassen-
rung des Fremdsprachenlernens an den deres Weltverständnis zurückzuführen
natürlichen Spracherwerbsprozeß stellt sein dürfte. Das Vorhandensein solcher
und dessen Funktionieren andererseits Fähigkeiten kann und sollte im Sinne
nicht unwesentlich von dem Gelingen einer Effizienzsteigerung natürlich für
dieses Annäherns abhängt, nun einwen- den Fremdsprachenunterricht genutzt
den, was denn wohl Lesen und Lesever- werden.
stehen etwa mit dem Erwerb der Mutter- Entscheidend für die Annäherung an den
sprache zu tun hätten. Ganz offensicht- natürlichen Spracherwerbsprozeß ist, das
lich geht der nämlich im Normalfall vom sei hier noch einmal unterstrichen, daß
Hörverstehen aus, an das dann der Be- der Sprachproduktion eine längere re-
ginn der mündlichen Sprachproduktion zeptive Phase vorgeschaltet wird. Ob es
anschließt; Lesen und Schreiben kommen sich dabei, wie bei der Muttersprache,
meistens erst in der Schule dazu, also um eine auditive oder, wie hier vorge-
wenn bereits eine relativ hohe Sprach- schlagen, um eine Lesephase handelt, ist
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dabei weitgehend unerheblich. Aller- weichender und überraschender Sprach-


dings bietet die Leseorientierung beim formen« beruhe, also darauf, daß literari-
Fremdsprachenunterricht etwa an Uni- sche Sprache sehr stark auf sich selbst
versitäten im anderssprachigen Ausland, verweist und dem Konnotativen gegen-
also dort, wo die Möglichkeit zur fremd- über dem Denotativen einen erheblich
sprachlichen Immersion praktisch nicht größeren Spielraum zugesteht, als das in
gegeben ist, den unübersehbaren Vorteil, nichtliterarischen Textsorten geschieht.
daß authentische Lesetexte unterschiedli- Dieser Punkt ist noch klärungsbedürftig.
cher Schwierigkeitsgrade einerseits eher Des weiteren wäre auch zu klären, wie
zur Verfügung stehen als entsprechende sinnvoll oder unsinnig die Verwendung
Hörtexte und andererseits die Bedeu- von immer relativ komplexen literari-
tungsrelevanz des Leseverstehens in ei- schen Texten im Anfängerunterricht sein
ner Umgebung, in der vor allem die Kon- kann, um den es sich ja handelt. Für die
frontation mit geschriebenem und weni- mündliche Kommunikation stellt Apel-
ger mit gesprochenem Material zu erwar- tauer fest:
ten ist, ungleich höher anzusetzen ist als
die des Hörverstehens, das für die mei- »Gespräche (natürliche Kommunikation),
wie sie zwischen Sprechern einer Sprache zu
sten Lerner ohnehin eher den Charakter beobachten sind, überfordern Lerner einer
der Vorbereitung auf einen Ernstfall be- Zweitsprache, die noch keinen hohen
sitzen dürfte, der dann nur allzu selten Sprachstand haben. Aus der Datenfülle kann
eintritt. aufgrund des Überangebots häufig nur we-
Es gibt jedoch auch noch offene Fragen. nig ausgefiltert werden, so daß ein ›Sprach-
bad‹ unter solchen Voraussetzungen meist
So geht der hier dargestellte Ansatz zwar relativ unwirksam bleibt.« (1987: 15)
nicht ausschließlich, aber doch vorwie-
gend von der Lektüre literarischer Texte Es stellt sich die Frage, ob dasselbe nicht
aus. Die zugrunde liegende Annahme ist, auch für schriftliche Kommunikation zu-
daß literarische Texte einmal einen trifft und der Nutzwert authentischer
Sprachreichtum enthalten, dessen Verste- Texte überhaupt und literarischer Texte
hen eine hervorragende Basis für das im besonderen für den Anfängerunter-
spätere Erarbeiten anderer Textsorten richt in einer Fremdsprache nicht eher
darstellt. Zum anderen sind literarische gering ist. Die Forschungsgruppe neigt
Texte meist redundant und bieten dem hier in Anlehnung an die Auffassung
Leser selbst ausreichende Information Wodes (1993: 22 und 76f.) eher zu der
für ein adäquates Verständnis, ohne daß Ansicht, daß das »Überangebot« an Da-
er dafür unbedingt zusätzliche Daten be- ten durch die gezielte Arbeit mit den
nötigte, wie das etwa bei Zeitungs- und Texten in den verschiedenen Lesephasen
Zeitschriftenartikeln meistens der Fall ist. sehr wohl sinnvoll ausgewertet werden
Westhoff (1987: 83f.) allerdings stellt kann, indem die Lerner sowohl in der
demgegenüber die Brauchbarkeit literari- bewußten Analyse wie auch – und vor
scher Texte zum Lesenlernen eher in allem – in der unbewußten Verarbeitung
Frage. Obwohl er die Verwendung fiktio- das ausfiltern und aufnehmen, was sie
naler Texte nicht generell ausschließt, verstehen wollen und können und was
gibt er doch zu bedenken, sie seien um so sie für ihr Verständnis des Textes brau-
»ungeeigneter, je stärker ihr literarischer chen. Aber auch diese Diskussion ist
Charakter ist«. Er begründet sein Urteil noch nicht abgeschlossen.
mit dem Kunstcharakter literarischer Die Ergebnisse aus der Anwendung des
Sprache, der auf dem »›Mitbedeuten‹ ab- dargestellten Leseansatzes in den DaF-
346

Sprachkursen für Anfänger an der UPV/ Semesterprüfung erzielt wurden und


EHU sind allerdings bisher durchweg auf eine offenbar zu leichte Prüfung
ermutigend und scheinen die Hypothe- hindeuten (20 »sehr gut«, 49 »gut«, 31
sen der Forschungsgruppe zu bestätigen, »bestanden« und nur zwei »nicht be-
insbesondere auch hinsichtlich der über- standen«).
wiegenden Verwendung literarischer – Aufschlußreicher dürfte da die Selbst-
Texte und des Einsatzes authentischen bewertung der Lerner sein, die an-
Textmaterials von Anfang an. Zwar sind onym in der 2. und in der 15. Lernein-
diese ersten Ergebnisse zunächst noch als heit durchgeführt wurde. Jeweils nach
vorläufig zu betrachten und die aus ih- dem ersten authentischen Lesen eines
nen gezogenen Schlüsse bedürfen noch unbekannten Textes wurden die Lerner
weiterer Überprüfung, denn der hier dar- aufgefordert anzugeben, wieviel sie
gestellte Leseansatz wird erst seit Okto- glaubten, von dem Text verstehen zu
ber 1997 in der Praxis erprobt. Aber es müssen, um mit ihrem Textverständnis
zeichnet sich doch schon ab, daß die zufrieden zu sein. Nach dem Abschluß
Methode erfolgversprechend funktio- der 30- bis 40minütigen Arbeit mit dem
niert. Im einzelnen zeigt sich: Text innerhalb der authentischen Lese-
– Nach nur drei Monaten, also ca. 60 phase sollten sie dann beantworten,
Veranstaltungsstunden, sind die Stu- wieviel sie meinten, wirklich verstan-
denten fähig, sich mit Hilfe von Wör- den zu haben:
terbuch und Grammatik relativ kom- Vom Beginn des Semesterkurses bis
plexe Texte selbständig zu erarbeiten. zum Ende stieg der Durchschnittsan-
Die oft beschriebene Angst vor dem spruch der Lerner, wieviel sie gerne
authentischen fremdsprachigen und verstehen würden, um mit ihrem Lern-
vor allem literarischen Text, die Fremd- erfolg zufrieden zu sein, von 55,2% auf
sprachenlerner bei herkömmlichen 68,4%, also um rd. 13 Prozentpunkte
Methoden oft auch nach Jahren des oder 24%. Die durchschnittliche Ein-
Sprachunterrichts noch nicht überwin- schätzung aber, wieviel die Lerner
den (z. B. Kast 1994: 4), haben sie längst nach der Arbeit mit dem Text tatsäch-
verloren. lich verstanden hatten, stieg von 29,3%
– Die Förderung des intuitiven Lernens auf 62,2%, also um über 112%, und
aufgrund der Approximation an den deckt sich mittlerweile weitgehend mit
natürlichen Spracherwerb hat bei vie- den Erwartungen bzw. Ansprüchen.
len Studenten schon in diesem frühen Für den Unterricht Deutsch als Fremd-
Stadium zu einer ansatzweisen Ent- sprache an Nebenfach-Germanisten
wicklung von Sprachgefühl geführt, scheint sich daraus zu ergeben, daß es
das intuitiv Strukturen erfassen hilft, wirklich möglich ist, in der verfügbaren
die sonst oft nach jahrelangem Spra- Zeit eine umfassende Kompetenz des Le-
chenlernen noch nicht beherrscht wer- severstehens aufzubauen. Für die An-
den. Das hat sich bezüglich der Syntax wendung dieses Konzepts auch in einer
und insbesondere der Stellung der Ne- zukünftigen Germanistik als Hauptfach,
gation gezeigt. in der dann alle vier Fertigkeitsbereiche
– Der tatsächliche Spracherwerb war of- berücksichtigt werden müssen, hofft die
fenbar wesentlich größer, als selbst die Forschungsgruppe darüber hinaus bele-
Forschungsgruppe angenommen gen zu können, daß der Erwerb der Fer-
hatte: dafür sprechen die außerge- tigkeiten Hören, Schreiben und Sprechen
wöhnlich guten Resultate, die in der sehr viel effektiver und schneller ablau-
347

fen kann, wenn er auf der Grundlage education. Washington, D. C.: TESOL,
eines schon vorhandenen Leseverstehens 1975, 89–95.
aufbaut. Das aber wird sich erst noch aus Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. Theorie
der Anwendung in der Unterrichtspraxis ästhetischer Wirkung. München: Fink, 1976
(UTB 636).
erweisen müssen. Falls sich diese An- Kast, Bernd: »Literatur im Anfängerunter-
nahme, wie von der Forschungsgruppe richt«, Fremdsprache Deutsch 11 (1994), 4–
erwartet, bestätigen läßt, wäre des weite- 13.
ren zu prüfen, ob sich der Leseansatz Parreren, Carel F. van: Lernprozeß und
nicht generell für den Unterricht Deutsch Lernerfolg. 2. neubearbeitete Aufl. Braun-
als Fremdsprache an Erwachsene und schweig 1972.
Jugendliche auch außerhalb des universi- Parreren, Carel F. van: Het handelingsmodel
in de leerpsychologie. Brussel: Vrije Univer-
tären Bereichs eignet und inwieweit er siteit Brussel, 1979.
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