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Hans-Josef Wagner

Rekonstruktive Methodologie
Qualitative Sozialforschung

Herausgegeben von

Ralf Bohnsack
Christian Lüders
J 0 Reichertz

Band 2
Hans-Josef Wagner

Rekonstruktive
Methodologie
George Herbert Mead
und die qualitative Sozialforschung

Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 1999


Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Wagner, Hans-Joser:
Rekonstruktive Methodologie: George Herbert Mead und die
qualitative Sozialforschung/Hans-Josef Wagner.

(Qualitative Sozialforschung; 2)
ISBN 978-3-8100-2189-2 ISBN 978-3-663-11292-1 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-663-11292-1
Gedruckt auf säurefreiem und alters beständigem Papier.

© 1999 Springer Fachmedien Wiesbaden


Ursprünglich erschienen bei Leske + Budrich, Opladen 1999

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Inhalt

1. Einleitung ...................................................................................... . 7

2. KonstitutionstheorielMethodologie (G. H. Mead) ........................ .. 9


2.1 Naturgeschichtliche Prämissen humaner Kommunikation ............ . 9
2.2 Sozialer Akt und Sinnstrukturen ................................................... .. 14
2.3 Zeittheorie und Rekonstruktion .................................................... .. 16
2.4 Subjektivität - Identität - Biographie ............................................. 23
2.5 Konsequenzen für die Grundlegung einer rekonstruktiven
Sozialforschung ............................................................................. . 27

3. Forschungspraxis ........................................................................... . 31
3.1 Symbolischer Interaktionismus I (H. Blumer) .............................. .. 31
3.1.1 Darstellung .................................................................................... . 31
3.1.2 Kritik ............................................................................................. . 36
Symbolischer Interaktionismus 11 (B.G. glaser/A.L. Strauss) ........ . 38
3.1.3 Darstellung .................................................................................... . 38
3.1.4 Kritik ............................................................................................. . 42
3.2 Objektive Hermeneutik (U. Oevermann) .................................... .. 43
3.2.1 Darstellung .................................................................................... . 43
3.2.2 Fallbeispiel (Bildungsforschung) .................................................. . 51
3.2.3 Kritik ............................................................................................. . 60
3.3 Dokumentarische Methode (R. Bohnsack) .................................... . 61
3.3.1 Darstellung ....... '" .......................................................................... . 61
3.3.2 Fallbeispiel (Bildungsforschung) .................................................. . 67
3.3.3 Kritik ............................................................................................. . 85

4. Perspektiven einer rekonstruktiven Sozialforschung .................... .. 89


4.1 Methodologie ................................................................................ . 89
4.2 Methode ........................................................................................ . 91

5. Literaturverzeichnis ....................................................................... . 94

5
1. Einleitung

In der folgenden Studie geht es um Methodologie, Forschungspraxis und


Perspektiven qualitativer Sozialforschung. Dabei wird zunächst das metho-
dologische Begründungspotential des pragmatistisch-naturalistischen Ansatzes
George Herbert Meads für die qualitative Sozialforschung zur Explikation
gebracht. Daß dieser Ansatz für die qualitative Sozialforschung von grundle-
gender Bedeutung ist, zeigt sich schon daran, daß diese es in ihrer Forschungs-
praxis mit zentralen Kategorien Meads wie Sozialität, Sinn, Zeit, Rekon-
struktion, Subjektivität und Identität zu tun hat. Aus der Forschungspraxis
selbst ergibt sich die Notwendigkeit der Grundlegung und Ausdifferenzie-
rung der o. g. Kategorien. Gefordert ist daher u.a. eine strukturale Rekon-
struktion der Meadschen Konzeption, die von vornherein schon forschungs-
praktisch informiert ist. Neben dieser methodologischen Grundlegung stehen
die Forschungspraxis sowie methodologische und methodische Perspektiven
rekonstruktiver Sozialforschung im Vordergrund der Arbeit.
Blicken wir zunächst kurz auf die Mead-Rezeption zurück. Dabei zeigt
sich, daß das im Meadschen Werk enthaltene methodologische Begründungs-
potential rekonstruktiver Sozialforschung auch nicht annähernd ausgeschöpft
wurde. L. Krappmann spricht in diesem Zusammenhang mit Recht davon,
daß Meads "Aussagen weithin verharmlost werden".l Dies gilt beispiels-
weise für die Mead-Interpretation H. Blumers, dem Begründer des Symboli-
schen Interaktionismus. Da wir diesen Ansatz explizit im 3. Kapitel unserer
Arbeit behandeln, sei hier nur darauf verwiesen, daß dieser auf der Ebene des
common-sense verbleibt und in die Reihe der harmlosen und oberflächlichen
Mead-Rezeptionen einzureihen ist.
In diesem Kontext der Chicagoer Schule der Soziologie sind denn auch
die Werke von u.a. Ellsworth Farris, William Isaac Thomas, Robert E. Park,
William James, Charles Horton Cooley, Florian Znanieckie, James Mark
Baldwin und Everett Hughes zu nennen. Wir können hier nicht auf diese
Studien im einzelnen eingehen. Trotz zum Teil beeindruckender empirischer
Forschungen gilt jedoch auch für diese das Fehlen einer expliziten methodo-

Krappmann, L. (1985): Mead und die Sozialisationsforschung. In: Joas, H. (Hg.): Prakti-
sche Intersubjektivität. Frankfurt a. M., S. 156

7
logischen Grundlage. Als Varianten des Symbolischen Interaktionismus sind
die IOWA-Schule um M. Kuhn und die Werke E. Goffmans zu nennen. Der
Mead-Rezeption in der IOWA-Schule um M. Kuhn kommt schon deswegen
keine Bedeutung für die rekonstruktive Sozialforschung zu, weil sie die
Normen des Neopositivismus auf den Meadschen Ansatz anwendet und die-
sen um entscheidende Dimensionen verkürzt. 2 Goffmans Ansatz indes und
sein Zusammenhang mit dem Meadschen Denken bedürfte erst einer extensi-
ven Analyse, die in einer eigenen Arbeit zu leisten wäre. Die phänomenolo-
gische Rezeption des Meadschen Werkes, angeregt durch A. Schütz und ex-
emplarisch durchgeführt von M. Natanson, litt von Anfang an darunter, daß
der Meadsche Ansatz nicht immanent rekonstruiert, sondern im Lichte der
Husserlschen und Schützsehen Phänomenologie interpretiert wurde. Auch
die Veröffentlichungen des Mead-Schülers Ch. Morris sowie die von Israel
Scheffler haften zu sehr an der behavioristischen Denkungsart und sind
schon insofern in unserem Kontext irrelevant. Positiv sei auf die Arbeiten
von Gary Allan Cook, J. David Lewis und Richard Smith verwiesen, die
Aufklärendes zur Mead-Interpretation beitragen. Im deutschsprachigen Raum
sind u.a. die Mead-Rezeptionen von H. Joas und J. Habermas zu nennen.
Beide weisen jedoch nicht explizit die methodologische Bedeutung der
Meadschen Konzeption für die qualitative Sozialforschung auf.
In unserer Arbeit beginnen wir mit dem Versuch einer extensiven struk-
turalen Rekonstruktion zentraler Kategorien des Meadschen Ansatzes. Da-
durch soll gleichsam ein methodologischer Eckpfeiler rekonstruktiver Sozial-
forschung geschaffen werden. Zu behandeln sind die Kategorien sozialer
Akt, Sinn, Zeit, Rekonstruktion, Subjektivität, Identität und Biographie. Zum
Abschluß dieses methodologischen Teils der Arbeit sind die Konsequenzen
dieser Rekonstruktion für die Grundlegung einer rekonstruktiven Sozialfor-
schung aufzuzeigen.
Im dritten Kapitel geht es um die Forschungspraxis rekonstruktiver So-
zialforschung. Hierbei soll untersucht werden, inwieweit bereits existierende
Ansätze rekonstruktiver Sozialforschung methodologisch fundiert sind, legt
man die Einsichten Meads zugrunde. In diesem Teil der Arbeit wird beson-
derer Wert darauf gelegt, das konkrete forschungspraktische Vorgehen der
einzelnen Verfahren darzustellen. Dies geschieht u.a. durch Fallbeispiele aus
dem Bereich der Bildungsforschung. Ausgewählt wurden die Verfahren des
symbolischen Interaktionismus (H. Blumer; B. G. Glaser/A. L. Strauss), der
objektiven Hermeneutik (U. Oevermann) und der dokumentarischen Metho-
de (R. Bohnsack).
Im letzten Kapitel schließlich werden auf dem Hintergrund unserer
Analyse methodologische und methodische bzw. forschungspraktische Per-
spektiven und Probleme einer rekonstruktiven Sozialforschung angesprochen.

2 Siehe zu diesen Kritiken und zu dem folgenden Kapitel II auch: Wagner, H.-J.: Strukturen
des Subjekts. Eine Studie im Anschluß an George Herbert Mead. Opladen 1993

8
2. Konstitutionstheorie/Methodologie (G. H. Mead)

Wenden wir uns zunächst der Meadschen Konzeption zu. Unter der Perspek-
tive einer konstitutionstheoretischen bzw. methodologischen Grundlegung
rekonstruktiver Sozialforschung sind dabei folgende Aspekte zu behandeln:
Naturgeschichtliche Prämissen humaner Kommunikation, sozialer Akt, Sinn,
Zeit, Rekonstruktion, Subjektivität, Identität und Biographie.

2.1 Naturgeschichtliche Prämissen humaner Kommunikation

Als zentral unter der naturgeschichtlichen und der spezifisch humanen gat-
tungsgeschichtlichen Perspektive fungiert in Meads Ansatz die Kategorie der
sozialen Kooperation. Mead geht von existentiell grundlegenden Impulsen
aus, deren Befriedigung nur zustande kommt, wenn die Lebewesen der je-
weiligen Gattung miteinander kooperieren bzw. interagieren. Diese Koope-
rations- bzw. Interaktionsprozesse, die Mead als soziale Akte (social acts)
bezeichnet, sind nicht einfach aus Teilen zusammengesetzt vorzustellen; sie
sind vielmehr im Sinne von Ganzheit oder Totalität Bedingungen der Mög-
lichkeit der Produktion und Reproduktion der jeweiligen Gattungen. Mead
hat dies am Beispiel fundamentaler Lebensprozesse wie denen der Fortpflan-
zung und Ernährung zu verdeutlichen versucht. "Das Verhalten aller leben-
den Organismen weist einen grundlegenden gesellschaftlichen Aspekt auf:
Die fundamentalen biologischen oder physiologischen Impulse und Bedürf-
nisse, die auf der Basis aller dieser Verhaltensformen liegen - insbesondere
Hunger und Sexualtrieb, also die mit der Ernährung und Vermehrung ver-
bundenen Bedürfnisse -, sind im weitesten Sinne gesellschaftlichen Charak-
ters oder haben gesellschaftliche Implikationen, da sie gesellschaftliche Si-
tuationen und Beziehungen für ihre Befriedigung durch den jeweiligen Orga-
nismus voraussetzen. ,,3 Mead geht in seinem kommunikationstheoretischen
Ansatz, mit dem er ja letztlich die humane Sprach- und Handlungsfähigkeit

3 MSS, S. 227 (GIG, S. 273f.) Zu diesen und den folgenden Abkürzungen siehe die aufge-
führten Schriften G. H. Meads im Literaturverzeichnis.

9
erklären will, von grundlegenden biologisch verwurzelten und zur Existenz-
sicherung unabdingbaren Kooperations- bzw. Interaktionsprozessen aus.
Betrachten wir nun diese Kategorie der sozialen Kooperation oder des
sozialen Aktes näher. Dabei spielt zunächst die Gebärde eine wichtige Rolle.
Gebärden stehen am Anfang des sozialen Aktes; sie sind Stimuli, die be-
stimmte Reaktionen bei anderen Individuen hervorrufen. Beispiele solcher
Gebärden sind die Anfangsstadien des Kampfes, der Werbung, der elterli-
chen Fürsorge etc.; sie werden angezeigt durch die Bereitschaft zum Sprung
oder zur Flucht, durch verbale Expressionen wie Brüllen, Schreien oder Blö-
ken etc. 4 Im Laufe des Evolutionsprozesses müssen die Individuen für diese
Anfänge des Verhaltens eine besondere Sensibilität entwickeln, denn sie sind
Voraussetzung für das Zustandekommen und Funktionieren der sozialen
Beziehungen innerhalb einer Gattung. Gebärden sind Reste ursprünglich voll
ablaufender Akte, die durch Hemmung dieser zustande kommen und deren
evolutionsgeschichtlicher Vorteil in der Anpassung des Verhaltens der Le-
bewesen aneinander liegt. Insofern kann Mead denn auch von einer Gebärde
als einem "abgeschnittenen, synkopierten Akt, einem Torso, der den emotio-
nalen Gehalt eines Aktes anzeigt", reden. 5 Diese synkopierten Akte machen
jedoch "nur einen kleinen Teil des gesamten Gebietes der Gebärden" aus, das
alle im Kontext relevanten Stimuli, die eine Reaktion bei anderen artgleichen
Lebewesen hervorrufen, impliziert. 6 Die Funktion der Gebärden besteht in
der Herstellung und Sicherung der Sozialität einer je spezifischen Gattung.
Die Funktion der Gebärde wird erst verständlich, wenn man sie als Teil
des sozialen Aktes, in dem ihr als Stimulus für die Reaktion anderer artglei-
cher Lebewesen eine wichtige Rolle zukommt, betrachtet. Am Beispiel des
Kampfes zweier Hunde versucht Mead zu verdeutlichen, wie sich aus der
Gebärde des ersten Hundes und der Reaktion des zweiten Hundes auf diese
Gebärde ein Dialog von Gebärden (conversation of gestures) entwickelt.
"Der Akt jedes der beiden Hunde wird zum Reiz, der die Reaktion des ande-
ren beeinflußt. Es besteht also eine Beziehung zwischen den beiden; und da
der andere Hund auf den Akt reagiert, wird dieser wiederum verändert. Eben
die Tatsache, daß der Hund zum Angriff auf einen anderen bereit ist, wird
nun zu einem Reiz für diesen anderen, seine eigene Position oder seine eige-
ne Haltung zu ändern. Kaum tritt dies ein, löst die veränderte Haltung des
zweiten Hundes beim ersten wiederum eine veränderte Haltung aus. ,,7 Sche-
matisch kann die Kommunikation von Gebärden in einem sozialen Akt, an
dem die Individuen A und B beteiligt sind, wie folgt beschrieben werden:
Der Stimulus eines Individuums A löst eine spezifische Reaktion bei einem
artgleichen Individuum B aus, wobei die Reaktion von Individuum B ihrer-

4 SW, S. 123f.; (GAI, S. 210f.)


5 SW, S. 102; (GAI, S. 207)
6 SW, S. 136; (GAI, S. 234).
7 MSS, S. 42f.; (GIG, S. 81f.)

10
seits als ein Stimulus auf Individuum A wirkt und dieses zu einer entspre-
chenden Reaktion veranlaßt usw .. Dieser Austausch von Gebärden in einem
sozialen Akt bezieht sich auf die subhumane Ebene der Interaktion, die mit
keinerlei mentalen Repräsentanzen und mit keinerlei Intentionen in Verbin-
dung zu bringen ist. Die Interaktionsprozesse sind hier vermittelt über in-
stinktiv festgelegte Verhaltensformen.
Mead versucht nun zu zeigen, wie sich aus dieser einfachen tierischen
Gebärden- bzw. Gestenkommunikation, deren Kennzeichen Nicht-Intentio-
nalität und instinktive Determiniertheit sind, durch evolutive Strukturtrans-
formationsprozesse die symbolisch vermittelte Interaktion der humanen
Gattung konstituiert. Voraussetzung dazu ist zunächst die Durchbrechung der
relativ starr festgelegten instinktiven Verhaltensformen im Übergang von der
subhumanen zur humanen Stufe im Evolutionsprozeß. Mead versucht dies
durch die Differenzierung von Instinkt und Impuls zu verdeutlichen. Wäh-
rend das instinktiv programmierte Verhalten "so starr organisiert ist, daß eine
Hemmung an einem beliebigen Punkt das ganze Unternehmen stört", gilt für
das impulsive Verhalten des Menschen, daß es aufgrund seiner Modifikabi-
lität und Variabilität durch Hemmungen oder Konflikte nicht zusammen-
bricht, sondern Rekonstruktionen der einzelnen Teile des Verhaltensablaufes
ermöglicht, die zum Erfolg der jeweiligen Handlung führen. 8
Eine weitere wichtige Rolle spielt in diesem Kontext die evolutive Her-
ausbildung der Hand des Menschen, die ihn dazu befähigt, Kontakterfahrun-
gen mit den ihn umgebenden Objekten zu machen, die in ihrer Variabilität,
Vielfältigkeit und Differenziertheit die der nicht-humanen Wirbeltiere bei
weitem übersteigen. Der Rückgriff auf diese Erfahrungen angesichts der
Hemmung eines Aktes ermöglicht eine Vielzahl von Kombinationsmöglich-
keiten und Handlungsalternativen, die den nicht-menschlichen Lebewesen
nicht zur Verfügung stehen. Mead sieht die evolutions geschichtliche Bedeu-
tung der Hände des Menschen darin, daß sie "dazu gedient haben, fixierte
Instinkte aufzubrechen, indem sie ihn einer Welt mit einer Vielzahl von Ob-
jekten gegenüberstellten".9 Physiologisch-anatomische Voraussetzungen für
die Entwicklung der menschlichen Sprache und Handlungsfähigkeit ist die
phylogenetische Entwicklung des Zentralnervensystems mit seinen Teilen
des Gehirns und des Rückenmarks. Die Zunahme der Anzahl der Neuronen
und die Ausbildung der Großhirnrinde ermöglichen ein hohes Ausmaß an
Kombinations- und Kontrollmöglichkeiten seines Verhaltens.
Die Durchbrechung der instinktiven Festgelegtheit des Verhaltens, die
gleichsam eine systematische Hemmung des HandeIns impliziert, die Ausbil-
dung des Zentralnervensystems mit der Großhirnrinde und die Entwicklung
der Hand sind biologisch-physiologische Voraussetzungen, die Mead mit-
denken muß, wenn er von der einfachen tierischen Gebärdensprache aus ge-

8 MSS, S. 362; (GIG, S. 412).


9 MSS, S. 363, (GIG, S. 414)

11
hend die Entwicklung der menschlichen Sprache erklären will. Doch führen
diese phylogenetischen in Richtung der humanen Gattung laufenden Ent-
wicklungen noch nicht zur Konstitution der menschlichen Sprache; der zentrale
evolutionsgeschichtliche Faktor ist noch nicht benannt; er besteht Mead zufolge
in der Lautgebärde (vocal gesture). Im breiten Spektrum der Gebärden entdeckt
Mead eine spezifische Gebärde, deren Charakteristikum darin besteht, daß sie
vokaler Art ist und Sender wie Empfänger gleichermaßen beeinflußt. Die Ge-
nesis der vokalen Geste sieht Mead in tierischen Lauten, die aus Veränderungen
im Atemrhythmus und Blutkreislauf resultieren. Das Tier wird durch seine ei-
genen Laute dazu veraniaßt, in sich tendenziell die gleiche Reaktion auszulösen
wie im anderen. Jedoch spielt diese Tendenz in Tiersozietäten nur eine nen-
nenswerte Rolle, wo das einzelne Lebewesen aufgrund seiner physiologisch-
anatomischen Ausstattung zu differenzierten Vokalisationsprozessen fähig ist.
So ist beispielsweise die Balz der Vögel durch die vokale Geste vermittelt; da-
bei "löst der Reiz eindeutig eine bestimmte Reaktion aus, wodurch der singende
Vogel durch den von ihm ausgelösten Reiz zu einer Reaktion veranlaßt wird,
die der im anderen Vogel ausgelösten Reaktion gleicht".10 Dabei ist die moti-
vierende Kraft der eigenen Artikulation auf das Lebewesen hervorzuheben;
diese äußert sich darin, daß es auf das von ihm Artikulierte stärker und öfter
reagiert als auf das von anderen Artikulierte. Das Funktionieren der Mecha-
nismen der vokalen Geste setzt zum einen voraus, daß der vom Sender arti-
kulierte Laut auf dessen Ohr genauso wirkt wie auf das des Empfängers, und
zum anderen, daß der durch den Laut ausgelöste Impuls bei Sender und
Empfänger "funktional die gleiche Rolle" spielt. lI Der Sender muß demnach
das von ihm Artikulierte ebenso hören können wie der Empfänger, und er
muß dazu tendieren, ebenso zu reagieren wie der Empfänger. Die vokale
Geste ist ein Medium, das dazu geeignet ist, die Handlungen der Individuen
zu koordinieren. Wir können hier auch - bezogen auf subhumane Gattungen
- von einer biogrammatischen Gesetzlichkeit reden, denn, so Oevermann in
seiner Mead-Interpretation: "Die Meadsche Lösung ... besteht nun darin, in
der vokalen Geste eine sequenzierte, gemusterte Handlung zu sehen, die re-
gelhaft erfolgt, so wie eine Melodie, die in immer gleicher Weise abgespielt
wird. Und dieses Muster ist gewissermaßen das Vorbild eines Biogramms,
einer biogrammatischen Gesetzlichkeit. Es ist gewissermaßen ein Gattungs-
programm, von dem wir alle geprägt sind und von dem auch Tiere geprägt
sind. Und wenn ein Ton eines Musters angeschlagen ist, dann kann jedes Ex-
emplar einer Tiergattung, weil es über diese Verdrahtung verfügt, die Ergän-
zung wie selbstverständlich vornehmen. Das ist der entscheidende Punkt da-
für, daß wir es genauso wahrnehmen wie der andere, an den wir es richten.
Es findet also durch die vokale Geste eine Steigerung, so könnten wir sagen,
der Wechselseitigkeit statt. Der vokalen Geste wohnt eine Wechselseitigkeit

10 MSS, s. 64, (GIG, S. 103)


11 MSS, S. 364; (GIG, S. 414 sowie SW, S. 268f., (PS, S. 92f.)

12
an sich inne, weil die vokale Geste das ist, was uns als gemeinsames Gat-
tungsprogramm verbindet. ,,12
Mead versucht nun zu zeigen, wie die vokale Geste zu einem signifikan-
ten Symbol wird und die humanspezifische Form der Kommunikation, d.i.
die symbolisch vermittelte Interaktion ermöglicht. "Die vokale Geste wird zu
einem signifikanten Symbol, wenn sie auf das sie ausführende Individuum
die gleiche Wirkung ausübt wie auf das Individuum, an das sie gerichtet ist
••• ,,13 Versuchen wir, diese Aussage Meads durch Heranziehung eines ande-
ren Zitats zu verdeutlichen: "Wenn in irgend einem sozialen Akt oder einer
Situation ein Individuum durch eine Gebärde einem anderen Individuum
aufzeigt, was es zu tun hat, so ist sich das erstere Individuum der Bedeutung
seiner eigenen Gebärde bewußt - oder die Bedeutung seiner Gebärde scheint
in 'seiner eigenen Erfahrung auf -, insoweit es die Einstellung des zweiten
Individuums zu dieser Gebärde einnimmt und dazu tendiert, implizit ebenso
zu reagieren, wie das zweite Individuum es explizit tut. Gebärden werden zu
signifikanten Symbolen, wenn sie im Gebärden setzenden Wesen die glei-
chen Reaktionen implizit auslösen, die sie explizit bei anderen Individuen
auslösen oder auslösen sollen - bei jenen Wesen, an die sie gerichtet sind.,,14
Wir gehen hier nicht näher auf die Schwierigkeiten dieses Erklärungsver-
suchs des Übergangs von den Gebärden zu den signifikanten Symbolen und
damit von tierischen zu menschlichen Kommunikationsformen ein. 15 Es sei
hier nur die Lösung, die wir unter Rekurs auf die Ansätze von K. Lorenz und
N. Chomsky in einem anderen Zusammenhang zur Explikation gebracht ha-
ben, angedeutet. Dabei spielt die Chomskysche Universalgrammatik eine be-
sondere Rolle. Denn erst auf deren Folie wird evident, wie sich durch vokale
Gebärden im sozialen Akt ein Identisches für die Interaktanten bilden kann:
Der vom Sender artikulierte Laut trifft beim Empfänger wie auch bei ihm
selbst auf ein gleiches biologisch verankertes materiales Apriori, das - auf
Sprache im Sinne von Grammatikalität bezogen - ein identisches universal-
grammatisches Regelsystem beider Interaktionsteilnehmer involviert. Die Fra-
ge, wie vokale Gebärden zu signifikanten Symbolen werden, läßt sich nun be-
antworten: Das vom Sender Artikulierte kann in diesem implizit die gleiche
Reaktion auslösen, die es explizit im Empfänger auslöst, weil von beiden Inter-
aktionsteilnehmern das Artikulierte in seiner syntaktischen, phonologischen
und semantischen Dimension auf der Folie universalgrammatischer Regeln in-
terpretiert werden kann. Damit haben wir die naturgeschichtlichen Prämissen
kurz nachgezeichnet, die unabdingbar sind, damit die humanspezifische Form

12 Oevennann, U. (1990): Vorlesung zur Professionalisierungstheorie. Frankfurt/M.; Trans-


kript, S. 71
13 MSS, S. 46, (GIG, S. 85)
14 MSS, S. 47, (GIG, S. 86)
15 Siehe dazu und zur möglichen Behebung dieses Problems: Wagner, H.-J.: Strukturen des
Subjekts, aaO, S. 35 ff.

13
der sozialen Kooperation bzw. des sozialen Aktes ablaufen kann. Wir gehen
nun zum Zusammenhang von Handlung und Sinn über.

2.2 Sozialer Akt und Sinnstrukturen

Versuchen wir nun die Entstehung von Sinn in der sozialen Kooperation
bzw. im sozialen Akt im pragmatistisch-naturalistischen Meadschen Ansatz
zu rekonstruieren. In dem Kapitel ,,sinn" in der Vorlesungsnachschrift
"Geist, Identität und Gesellschaft" heißt es: "Sinn ist daher die Entwicklung
einer objektiv gegebenen Relation zwischen bestimmten Phasen des sozialen
Aktes; er ist nicht ein psychisches Anhängsel zu diesem Akt und keine ,Idee'
im traditionellen Sinne. Die Geste eines Organismus, die Resultante des so-
zialen Aktes, in der die Geste eine frühe Phase darstellt, und die Reaktion ei-
nes anderen Organismus auf sie, das sind die relevanten Faktoren in einer
dreifachen oder dreiseitigen Relation zwischen Geste und erstem Organis-
mus, Geste und zweitem Organismus sowie Geste und anschließenden Pha-
sen des jeweiligen sozialen Aktes; diese dreiseitige Relation ist die Grund-
substanz von Sinn oder zumindest die Substanz, aus der sich Sinn entwickelt.
Die Geste steht für eine bestimmte Resultante des sozialen Aktes, eine Resul-
tante, auf die es eine definitive Reaktion seitens der betreffenden Individuen
gibt; Sinn leitet sich somit aus der Reaktion ab.,,16 Sinn entsteht also im ob-
jektiv entäußerten Ablauf, der durch vorgegebene gattungsspezifische Aus-
stattungen gewissen Präformationen unterliegt. Die Geste, die den sozialen
Akt eröffnet, steht dabei für die Resultante, d.h. die Geste als sichtbarer Teil
des Aktes impliziert den Akt als Plan. Die dreiseitige Relation, die Sinn erst
begründet, kann am Beispiel eines sozialen Aktes, in den die Individuen A
und B involviert sind, wie folgt verdeutlicht werden. Die von Individuum A
gesetzte Geste ruft eine Reaktion von Individuum B hervor; mit der Reaktion
von Individuum B auf die Geste von Individuum A erhält diese erst ihren
Sinn; gleichzeitig ist mit dieser Reaktion ein sozialer Akt komplettiert. Die
Komplettierung des sozialen Aktes aber läßt eine Struktur C emergieren, die
weder auf die Geste von Individuum A noch auf die Reaktion von Indivi-
duum B reduzierbar ist. Die dyadische Relation von Individuum A und Indi-
viduum B wird durch den komplettierten Akt zu einer triadischen Relation,
indem zu Geste und Reaktion eine resultierende Struktur hinzukommt. Die
von Individuum A gesetzte Geste ruft eine Reaktion von Individuum B her-
vor, die dann ihrerseits eine Struktur C emergieren läßt. Die Produktion der
Struktur C durch die Reaktion von Individuum B auf die von Individuum A
gesetzte Geste hat keinen Einfluß auf die durch das Individuum A hervorge-
rufene Reaktion von Individuum B. Indirekt läßt sich daraus ableiten, daß die

16 MSS, S. 76; (GIG, S. 115f.)

14
Struktur C in dem zwischen den Individuen A und B ablaufenden Akt ein
emergierendes Ereignis ist, das die Geste von A und die Reaktion von B
transzendiert: Es ist die objektive Sinnstruktur dieses sozialen Aktes.
Es ist nun nach diesen formalen Ausführungen, um Mißverständnissen
vorzubeugen, die Konstitution von Sinn in subhumanen Gattungen und in der
humanen Gattung zu unterscheiden. Auf der evolutiven Stufe subhumaner
Gattungen entsteht Sinn durch eine triadische Relation auf der Folie angebo-
rener gattungsspezifischer Ausstattungen. Durch die Reaktion eines Lebewe-
sens B auf die von einem Lebewesen A gesetzte Geste emergiert eine objek-
tive Sinn struktur; dieser Prozeß läuft auf der Folie biologischer Programmie-
rungen ab. Eine subjektiv intentionale Repräsentanz dieser objektiven Sinn-
struktur ist auf den sub humanen Stufen schon aus physiologischen Gründen
niCht möglich. Die Konstitution von Sinn in der humanen Gattung nun er-
folgt auf der Folie von Handlungsschemata bzw. Haltungen (attitudes), die
angeeignet werden müssen, und die sich dadurch auszeichnen, daß ihre resi-
duale biologische Basis - bestehend aus phylogenetischen Restbeständen der
instinktiv festgelegten Gestenkonversation bzw. Gestenkommunikation -
durch symbolisch vermittelte supra-individuelle Regelsysteme überformt
sind. Sinn konstituiert sich hier ähnlich wie in den subhumanen Gattungen
durch eine triadische Relation, wobei gilt, daß die von Individuum A gesetzte
Geste eine Reaktion von Individuum B hervorruft, woraus wiederum eine
Struktur C resultiert, die weder auf die Geste von Individuum A noch auf die
Reaktion von Individuum B reduzierbar ist. Im Gegensatz zu subhumanen
Interaktionsprozessen, die auf der Folie angeborener Handlungsschemata ab-
laufen, basieren humane Interaktionsprozesse auf einer von den jeweiligen
Gattungsmitgliedern geteilten signifikanten Symbolorganisation. Dies führt
zu einer evolutionär neuen, höher strukturierten Form der Interaktion, d.i. der
symbolisch vermittelten Interaktion. In dieser werden objektive Sinnstruktu-
ren erzeugt, die konstitutionslogisch betrachtet den mentalen Repräsentanzen
der Interaktionsteilnehmer vorgelagert sind. Zwar sind für die Initiierung hu-
maner Interaktionsprozesse subjektive Antizipationen (Dispositionen, Erwar-
tungen) auf seiten der - in unserem Beispiel - interagierenden Individuen A
und B unabdingbar, doch läßt deren Interaktion eine Struktur C emergieren,
die die subjektiv intentionalen Repräsentanzen von A und B transzendiert. 17
Sinn konstituiert sich - obgleich subjektive Antizipationen zum Zustande-
kommen der symbolisch vermittelten Interaktion auf der evolutiven Stufe der
humanen Gattung notwendig sind - hinter dem Rücken der Initiatoren des
Sinns; er liegt zeitlich und logisch in einer objektiven Sinnstruktur vor, bevor
er auf der Folie signifikanter Symbole identifiziert und subjektiv intentional
repräsentiert werden kann. Dazu nimmt Mead unmißverständlich Stellung,

17 Siehe dazu: Oevennann, U. (1977):Beobachtungen zur Struktur der sozialisatorischen In-


teraktion. In: Auwärter, M. u.a. (Hg.): Seminar: Kommunikation, Interaktion, Identität.
FrankfurtlM.; S. 384f.

15
wenn er formuliert: "Das Ergebnis des jeweiligen sozialen Aktes ist von der
darauf hinweisenden Geste eindeutig getrennt durch die Reaktion eines ande-
ren Organismus auf sie, eine Reaktion, die auf das Ergebnis dieses Aktes hin-
weist, so wie es diese Geste anzeigt. Diese Situation ist allein auf der nicht-
geistigen, nicht-bewußten Ebene gegeben, bevor sie auf der geistigen oder
bewußten Ebene analysiert wird. ,,18 Mead zieht eine klare Trennungslinie
zwischen der Ebene des Objektiven und der des Subjektiven, zwischen dem,
was objektiver und dem, was subjektiver (intentional repräsentierter) Sinn ist.
Insofern läßt sich auch sagen: Subjektive Antizipationen fallen nicht mit der in
der triadischen Relation des sozialen Aktes sich konstituierenden objektiven
Sinnstruktur zusammen; im voraus ist dieser Sinn nur partiell zu fassen.
Die objektive Sinnstruktur ist eine außerhalb der sie in die Welt setzen-
den Interaktanten emergierende und sich manifestierende objektive Realitäts-
ebene, die sie erst in sich hereinholen müssen, bevor sie sie begreifen können.

2.3 Zeittheorie und Rekonstruktion

Im Kontext der Grundlegung einer rekonstruktiven Sozialforschung ist neben


Handlungs- und Sinntheorie eine fundierte Zeittheorie unerläßlich. Denn erst
von dieser her läßt sich die Kategorie der Rekonstruktion begründen. Wir
behandeln deshalb hier mit Bezug auf die rekonstruktive Sozialforschung
einige Grundzüge der Meadschen Zeittheorie. Gehen wir von dem Begriff
der Gegenwart (present) aus. Mead trifft in seiner Zeittheorie die fundamen-
tale Unterscheidung zwischen einer aktuellen Gegenwart (specious present)
und einer funktionalen Gegenwart. Die aktuelle Gegenwart verweist nach
Mead auf die Welt des Unmittelbaren und Unproblematischen; es ist die
Welt, die gegeben, die einfach da ist (world that is there).19 Diese Welt ist ei-
ne Welt des kontinuierlichen Vergehens, die "ständig aufhört zu sein, sobald
sie in die Welt des folgenden Augenblicks übergeht".20 Entscheidendes Cha-
rakteristikum der aktuellen Gegenwart ist deren Ablauf (passage), d.i. das
ständige Übergehen von einer Gegenwart in eine andere im Sinne eines
Überlappungsprozesses. Doch bringt dieses kontinuierliche Überlappen von
einer Gegenwart in eine andere "nicht selbst (schon) eine zeitliche Ordnung"
mit sich, "obgleich es Wechsel involviert".21 Ohne zeitliche Erfahrungen aber
sind die Erfahrungen der aktuellen Gegenwart keine Erfahrungen im empha-
tischen Sinn; sie verbleiben auf der Ebene einer nicht vermittelten Unmittel-
barkeit. Zwar involviert die aktuelle Gegenwart eine dauerhafte Spanne, doch

18 MSS, S. 79; (GIG, S. 119).


19 PA, S. 65; (GA2, S. 53)
20 PA, S. 65; (GA2, S. 53)
21 PA, S. 638

16
ist diese Spanne wegen des gleitenden Übergangs von einer Gegenwart in ei-
ne andere Gegenwart "ungewiß".22 Die aktuelle Gegenwart wird in einem
"undifferenzierten Jetzt" erlebt; praktisches Handeln in der aktuellen Gegen-
wart ist habitualisiertes, spontan ablaufendes Handeln. 23 Erst durch die Hem-
mung der Handlung wird eine Differenzierung des Jetzt möglich. Es läßt sich
daher sagen: Die im unmittelbaren gegenwärtigen praktischen Handeln auf-
tretenden Probleme sind Bedingungen der Möglichkeit zeitlich strukturierter
Erfahrungen, denn die reine Kontinuität bedarf eines Bruchs, damit sie als
Kontinuität überhaupt erfahrbar wird. "Reine Kontinuität wäre nicht erfahr-
bar. ,,24 Der Bruch in der Kontinuität macht Erfahrung erst möglich; Kontinui-
tät verweist demnach unabdingbar auf Diskontinuität. Erst das Diskontinuier-
liche, der Bruch in der Kontinuität, läßt eine Gegenwart entstehen, die sich
von der aktuellen Gegenwart als einem reinen Ablauf unterscheidet. In ihr
erst spielen die Dimensionen der Vergangenheit und der Zukunft eine Rolle.
Mead operiert in seiner Zeittheorie nun wesentlich mit dem Begriff der
Emergenz. Dieser meint - im Bezugsrahmen des Diskontinuierlichen - die
Entstehung eines Neuen, das per definitionem nicht in dem aufgeht, aus dem
es entstand. Es ist eine "Form von Reorganisation", etwas, das in dem Alten,
aus dem es hervorging, nicht schon enthalten war; es ist das Neue des Alten.
Das Spezifische der Emergenz von Neuem auf der Ebene der humanen Gat-
tung liegt im Kontext der Zeittheorie in der Strukturierung eines zeitlichen
Ablaufs, in der Konstitution von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Mead schreibt die Inhibition, den Bruch des kontinuierlichen Ablaufs, dem
neuentstehenden Ereignis zu; dieses konstituiert erst Gegenwart: "Eine Ge-
genwart ist also - im Gegensatz zu der Abstraktion des reinen Ablaufs - kein
irgendwo herausgeschnittenes Stück der zeitlichen Dimension einer einför-
mig ablaufenden Realität. Ihr wesentlicher Bezugspunkt ist das neuentste-
hende Ereignis (emergent event), d.h. das Auftreten von etwas, das mehr ist
als die Prozesse, die zu seinem Auftreten geführt haben, und was aufgrund
seiner Veränderung, seines Andauerns oder seines Verschwindens späteren
(Ereignis-)Abläufen einen Inhalt zufügt, den diese sonst nicht besäßen. ,,25
Bedingung der Möglichkeit zeitlich strukturierter Erfahrung ist also die
Emergenz eines Neuen, ist ein neuentstehendes Ereignis, das das kontinuier-
lich sich Durchhaltende durchbricht und die Dialektik von Kontinuität und
Diskontinuiät in Gang setzt. Macht aber die Emergenz von Neuem Konti-
nuität erst erfahrbar, so ist folgerichtig die Gegenwart und nicht die Vergan-
genheit oder die Zukunft der Ort der Realität. Meads Theorie der Zeit ist
demnach eine Philosophie der Gegenwart (Philosophy of the Present), die in
der zentralen These kulminiert, "daß Realität in einer Gegenwart existiert".26

22 PA, S. 65; (GA2, S. 54)


23 MSS, S. 351; (GIG, S. 401)
24 SW, S. 350; (GA2, S. 342)
25 PP, S. 23; (PS, S. 252)
26 PP, S. 1; (PS, S. 229)

17
Zwar involviert die Gegenwart eine Vergangenheit und eine Zukunft, doch
existieren beide nicht; sie sind ihrem Wesen nach repräsentation al.
Gehen wir im folgenden kurz auf die Vergangenheit und die Zukunft ein.
Die Vergangenheit steht in einer ganz bestimmten Beziehung zum emergie-
renden Ereignis. "Die Vergangenheit, die mit der Gegenwart ... auftritt, ist
die Relation des neuentstehenden Ereignisses zu der Situation, aus der es ent-
stand, und es ist das Ereignis, welches diese Situation definiert. ,,27 Das Auf-
treten der Vergangenheit ist nicht ohne das emergierende Ereignis, gleichsam
in einem reinen Ablauf gegeben; sie ist an die Emergenz des Neuen in einer
Gegenwart gebunden. Die Vergangenheit existiert demzufolge nicht an sich,
d.h. unabhängig von der Gegenwart. Der durch das gegenwärtige emergie-
rende Ereignis hervorgerufene Bruch in der Kontinuität konstituiert eine Ge-
schichte, die auf die Einzigartigkeit jenes Ereignisses bezogen ist. Entschei-
dendes Merkmal der Vergangenheit ist das "Zurückdrängen (pushing back)
der bedingenden Kontinuitäten der Gegenwart".28 Die Erfahrung der Ver-
gangenheit in der Gegenwart ist repräsentational; sie wird ermöglicht auf-
grund der Verbindungen zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem durch
"Erinnerungsvorstellungen" (memory images), "historische Dokumente",
"fossile Überbleibsel" etc. 29 Die Verbindungen zwischen Gegenwärtigem
und Vergangenem verweisen auf die den Objekten innewohnende Geschich-
te. Zentrale Aufgabe der Wissenschaft ist es nach Mead, die sedimentierte
Geschichte des Objekts aufzuschlüsseln, denn: "Diese in der Gegenwart exi-
stierende Vergangenheit zu enträtseln und auf dieser Basis die Zukunft vor-
auszusagen, ist das Ziel der Wissenschaft.,,30 Enträtselung der sedimentierten
Geschichte des Objekts auf der Folie der spezifischen Verbindungen, die
zwischen Gegenwärtigem und Vergangenem hergestellt werden, bedeutet re-
konstruktive Erkenntnis. In der unmittelbar emergierenden Gegenwart kann
es nach Maßgabe der Meadschen zeittheoretischen Implikationen keine Er-
kenntnis geben; erst die durch die Gegenwart definierte Vergangenheit ge-
stattet eine Rekonstruktion. Diese Auffassung koinzidiert mit der pragmati-
stischen Peirceschen Konzeption, nach der es in der "unmittelbaren Gegen-
wart keinen Gedanken gibt", weil - so Peirce - "alles, über das man nach-
denkt, vergangen ist".3! Rekonstruierende Erkenntnis kommt nicht in der Un-
mittelbarkeit der Gegenwart zustande; sie erfordert Zeit, denn: "Daß das
Denken nicht in einem Zeitpunkt zustande kommen kann, sondern eine Zeit
verlangt, heißt daher nur, daß jeder Gedanke durch einen anderen interpre-
tiert werden muß oder daß alles Denken in Zeichen geschieht. ,,32

27 PP, S. 23; (PS, S. 253)


28 SW, S. 349; (GA2, S. 341)
29 PP, S. 25; (PS, S. 255)
30 PP, S. 33; (PS, S. 264)
31 Peirce, eh. S. (1976): Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus. FrankfrutIM.; S. 31
(Paragraph 5.253)
32 Ebd.

18
Was folgt aus diesen zeittheoretischen Überlegungen für die empirische
Sozialforschung? Doch zunächst einmal, daß diese nicht betrieben werden
kann in der unmittelbar emergierenden Gegenwart und d.h. in der Unmittel-
barkeit der Lebenspraxis. Insofern verfährt empirische Sozialforschung aus
unhintergehbaren zeittheoretischen Gründen rekonstruktiv. Die Kategorie der
Rekonstruktion in der empirisch-hermeneutischen Sozialforschung erfährt
eine fundierte Begründung durch die Meadsche Zeittheorie.
Fahren wir in unserer Analyse der Kategorie der Rekonstruktion fort.
Rekonstruktive Erkenntnis verweist auf das Widerrufbare des Vergangenen,
auf die notwendig werdende Umschreibung der Vergangenheit im Lichte der
Emergenz des Neuen in der Gegenwart. Andererseits besitzt Vergangenheit
jedoch die Eigenschaft der Unwiderrufbarkeit insofern, als das vergangene
Ereignis tatsächlich stattgefunden hat. Während die Unwiderrufbarkeit eines
Ereignisses sich auf die reale Faktizität seines Geschehens in der Vergangen-
heit bezieht, meint Widerrufbarkeit eines vergangenen Ereignisses das "Was
es war" (what it was), d.i. den Sinn des Ereignisses, der mit jeder neuen ge-
genwärtigen Erfahrung umgeschrieben werden muß. 33 Mead beschreibt die
Widerrufbarkeit vergangener Ereignisse wie folgt: "Jede Generation schreibt
ihre Geschichte neu - und ihre Geschichte ist die einzige, die sie von der
Welt hat. ,,34 Insofern wird auch einsichtig, daß die jeweilige Rekonstruktion
einer Vergangenheit stets hypothetischer Art ist; die Änderung der raumzeit-
lichen Perspektivität, die das neuentstehende Ereignis involviert, bringt eine
veränderte Sichtweise des Vergangenen mit sich. Ebenso bedingt das neu-
entstehende Ereignis, daß immer nur ein bestimmter auf dieses Ereignis be-
zogener Aspekt der Vergangenheit von Relevanz sein kann. Eine vollständi-
ge Darstellung dessen, was real geschehen ist, ist nach Mead nicht das, nach
dem wir suchen. Ginge man von der Präsupposition aus, es gäbe eine solche
Darstellung etwa in Form einer Schriftrolle, und wir wären dazu in der Lage,
das vergangene Ereignis in seiner Totalität zu rekonstruieren, so wäre diese
für unser Erkenntnisinteresse, das von dem gegenwärtig emergierenden Er-
eignis bestimmt wird, ohne Nutzen. "Wir hätten dann jene Gegenwart und
gerade nicht das, was wir mit der Vergangenheit suchen, nämlich die Kon-
struktion der konditionierenden Eigenart des jetzt gegenwärtigen (Ereignis-)Ab-
laufs, die uns zu interpretieren erlaubt, was in der zu dieser Gegenwart gehö-
renden Zukunft entsteht.,,35 Am Beispiel der Biographie eines Individuums
läßt sich das Gemeinte verdeutlichen. Die Erinnerung an ein bestimmtes Er-
eignis in der eigenen Kindheit ändert sich mit jeder neuen auf dieses Ereignis
bezogenen Erfahrung. Diese Tatsache ist letztlich auf die Rekonstruktionen,
auf die notwendig werdenden Umschreibungen, die die Emergenz des Neuen
in der Gegenwart mit sich bringt, zurückzuführen. Rekonstruktionen führen

33 PP, S. 2f.; (PS, s. 230f.)


34 SW, S. 351; (GA2, S. 344)
. 35 PP, S. 30; (PS, S. 260)

19
zur Erweiterung der Sinninterpretationskapazität des Subjekts und dadurch
zu sich im Laufe des Sozialisationsprozesses ändernden Sichtweisen der ver-
gangenen Ereignisse. Selbst wenn das Subjekt die Ereignisse der Kindheit in
der Totalität des damaligen realen Ablaufs reproduzieren könnte, könnte es
das Reproduzierte "doch nicht verwenden; denn das hieße ja, daß man sich in
der Gegenwart befände, in der man sie allein verwenden könnte".36 Eine
vollständige Reproduktion des vergangenen tatsächlichen Ereignisses im
Sinne einer objektiven Beschreibung - vorausgesetzt, diese sei überhaupt
möglich -, ist, da sie die akkumulierte zeitliche Erfahrung und die sich mit
der Emergenz jeder neuen Erfahrung ändernde Perspektivität des Subjekts im
Verhältnis von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem nicht zur
Kenntnis nimmt, wertlos. "In dem Moment, in dem wir diese früheren Ge-
genwarten als Existenzen auffassen, unabhängig von der Vergegenwärtigung
(presentation) dieser früheren Gegenwarten als Vergangenheiten, hören sie
auf, irgendeinen Sinn für uns zu haben, und verlieren jeden Wert, den sie für
die Interpretation unserer eigenen Gegenwart und für die Bestimmung unse-
rer Zukunft haben könnten ...37
Es zeigt sich hier eine weitere wichtige Implikation der Meadschen
Zeittheorie für die qualitative Sozialforschung. Rekonstruktionen in der So-
zialforschung sind zeittheoretisch betrachtet hypothetischer Art; mit der Än-
derung der raum-zeitlichen Perspektivität und der Emergenz neuer Ereignisse
ergibt sich auch eine veränderte Sichtweise des bereits rekonstruierten Ver-
gangenen. Rekonstruktionen führen zur Erweiterung der Sinninterpretations-
kapazität des Sozialforschers und damit zur veränderten Sichtweise auf den
Gegenstand.
Für die Zukunft nun gilt ebenso wie für die Vergangenheit, da beide
durch die Emergenz des Neuen in der Gegenwart konstituiert werden, der
Charakter des Hypothetischen und des Repräsentationalen. Sie ist in Antizi-
pationen und Vorhersagen repräsentational gegenwärtig; eine Existenz an
sich, unabhängig von der Gegenwart, kann ihr ebenso wenig zugeschrieben
werden wie der Vergangenheit. Die Emergenz des Neuen macht es unmög-
lich, die Zukunft als prädeterminiert anzusehen, denn "jedes Zukünftige
emergiert".38
Nach Mead enthält die materielle Umwelt Objekte der Zukunft, und der
Bezug auf diese Objekte ist immer ungewiß. "Was geschehen wird, unter-
scheidet sich immer in gewisser Hinsicht von dem, was geschehen ist, und
die Art dieser Abweichung ist etwas Unvorhersehbares.,,39 Das, was tatsäch-
lich eintritt, ist immer (etwas) verschieden von dem, was in unserer Antizi-
pation repräsentiert ist. Die Emergenz von Neuem bedeutet Unvorhersehbar-

36 PP, S. 30; (PS, S. 261)


37 PP, S. 9; (PS, S. 238)
38 SW, S. 335; (PS, S. 56)
39 PA, S. 413; (GA2, S. 148)

20
keit und Zukunfts offenheit. So unterscheidet sich beispielsweise "der Druck,
den wir empfangen werden, wenn unsere Füße neuen Boden berühren, wenn
unsere Hände Dinge in unserer Umwelt ergreifen ... nur ... geringfügig von
dem Druck, den wir empfinden", aber er verweist auf die Differenz von Ge-
genwärtigem und Zukünftigem. 40 Der Unterschied zwischen dem rational
Antizipierten und dem tatsächlichen Resultat der Handlung kann "von fast
vollständiger Unmerklichkeit bis hin zu äußerster Fremdheit reichen".41 Die
Zukunft ist nicht immer schon entschieden; nicht nur der wissenschaftliche
Erkenntnisfortschritt, auch einfachste Alltagserfahrungen verweisen darauf,
daß sie als prinzipiell offen zu denken ist.
Das Prinzip der Zukunftsoffenheit verweist noch einmal auf die Bedeu-
tung der Kategorie der Rekonstruktion in der empirisch-hermeneutischen
Sozialforschung. Nicht in der Unmittelbarkeit von Lebenspraxis, in der Zu-
künftiges emergiert, kann Wissenschaft betrieben werden. Die empirisch-her-
meneutische Sozialforschung kann das in der unmittelbaren, gegenwärtigen
Praxis emergierende Neue nicht erreichen. Insofern hat sie keinen direkten
Zugriff zur Wirklichkeit; erst wenn diese in Form eines Protokolls vorliegt,
lassen sich Rekonstruktionen vornehmen und Prognosen erstellen. Bezüglich
der Rekonstruktion und Prognostik in der Sozialforschung sei auf das fol-
gende Diktum H.-G. Soeffners verwiesen: "Die Hermeneutik des Fixierten,
der fixierten Erzeugnisse, ist zugleich Rekonstruktion der Produkte und ihrer
Entstehungsbedingungen wie auch die Simulation ihrer Erzeugung. Sie ent-
hält damit neben den Verfahren der analytischen Rekonstruktion von Hand-
lungen auch Elemente der Prognostik, die generell in der Simulation von Er-
zeugungsvorgängen für ,neue' Produkte eingesetzt werden können ... Die
hermeneutische Prognostik wissenschaftlicher Analyse besteht demgegen-
über sowohl in der Simulation der Erzeugung eines ,zukünftigen' Produktes
als auch in der Erarbeitung des Reaktions-lBedeutungspotentials, das mit die-
sem Erzeugnis verbunden ist. Dabei vollzieht sich die extensive Erarbeitung
des Reaktions-lBedeutungspotentials unabhängig von der Wahrscheinlichkeit
des tatsächlichen Auftretens einer bestimmten Reaktion oder Bedeutung.
Entscheidend ist vielmehr, daß eine prognostizierte Reaktion oder Bedeutung
möglich, d.h. nachvollziehbar ist. ,,42
Kommen wir auf die zeittheoretisch zentralen Kategorien von Emergenz
und Determination in der Meadschen Zeittheorie zu sprechen. Die Emergenz
von Neuem in der Gegenwart führt zu einem Bruch innerhalb der Kontinui-
tät, und es ist dieser Bruch des kontinuierlichen Ablaufs, der zur Strukturie-
rung von Zeit und zur Möglichkeit von Erfahrung führt. Die Konstitution
von Erfahrung kann dann auf der Folie von Kontinuität und Diskontinuität,

40 PA, S. 416; (GA2, S. 151)


41 PA, S. 420; (GA2, S. 155)
42 Soeffner, H.-G. (1989): Alltagsverstand und Wissenschaft. Anmerkungen zu einem all-
täglichen Verständnis von Wissenschaft. In: Ders.: Auslegung des Alltags - Der Alltag
der Auslegung. FrankfurtlM.; S. 31

21
von Determination und Emergenz, die durch jenen Bruch erst ermöglicht
werden, beschrieben werden. Dabei ist zu beachten, daß das Emergente in
seiner Unmittelbarkeit nicht auf das Determinierte reduzierbar ist; es ist ein
von diesem sich qualitativ Unterscheidendes. Gleichwohl muß das Emergen-
te, um rational begriffen werden zu können, in das Determinierte überführt
werden. Der Transformationsprozeß von Emergenz in Determination erfolgt
im Medium rekonstruierender Erkenntnis. Das Emergente ist in seiner unent-
falteten Unmittelbarkeit ein Unbekanntes, das erst durch Einreihung in Deter-
mination zu einem Bekannten wird. Das Emergente tritt nach Mead "nicht
eher in Erscheinung ... , als bis wir uns daran machen, es rational in den Griff
zu bekommen, d.h. nicht eher, als wir zu zeigen versuchen, daß es - oder
zumindest die Bedingungen, die sein Auftreten determinieren - in der Ver-
gangenheit zu finden ist, die hinter ihm liegt. Damit werden die früheren
Vergangenheiten, aus denen das Neue entstand, als etwas, das das Neue nicht
enthielt, in eine umfassendere Vergangenheit aufgehoben, welche auf das
Neue hinführt.,,43 Im Prozeß der Rekonstruktion wird Emergenz in Determi-
nation, Unbekanntes in Bekanntes überführt, so daß das Vergangene in ei-
nem tieferen Sinne begriffen und das Zukünftige in einem erweiterten Sinne
rational antizipiert werden kann.
Der durch das Emergente motivierte Rekonstruktions- bzw. Erkennt-
nisprozeß ist nie endgültig abgeschlossen; die Emergenz des Neuen erfordert
die permanente und nie endende Transformation des Neuen ins Alte; damit
ändert sich die Perspektive auf das Vergangene und Zukünftige. Mead äußert
sich in diesem Zusammenhang wie folgt: "Und jede vergangene Vergangen-
heit erweist sich insofern als unrichtig, als sie rekonstruiert wird. Unsere Me-
thode scheint zu implizieren, daß wir uns - wenn auch im Unendlichen - ei-
ner Grenz-Darstellung nähern, die alle Lücken ausfüllen und alle Irrtümer
korrigieren würde. Wenn wir jedoch Korrekturen vornehmen, so muß es al-
lem Anschein nach eine Beschreibung geben, die korrekt ist; und selbst wenn
wir uns eine unendliche Zukunft wissenschaftlicher Forschung vorstellen, die
sich diesem Unternehmen verschreibt, werden wir dieser Implikation niemals
entgehen. ,,44 Die Dialektik von Emergenz und Determination weist für die
qualitative Sozialforschung mindestens zweierlei auf. Zum einen liefert sie
eine zeittheoretisch fundierte Begründung der Kategorie der Rekonstruktion,
und zum anderen zeigt sie, daß Erkenntnisfortschritt in der rekonstruktiven
Sozialforschung genau darin beteht, Emergenz in Determination so zu über-
führen, daß das fixierte Vergangene in einem tieferen Sinne begriffen wird
und die Prognostik des Zukünftigen an Schärfe gewinnt.

43 PP, S. 14 f; (PS, S. 243f.)


44 PP, S. 7; (PS, S. 236).

22
2.4 Subjektivität - Identität - Biographie

Es kann hier nicht darum gehen, die Meadsche Subjektivitäts- und Identi-
tätstheorie extensiv nachzuzeichnen. Uns kommt es vielmehr darauf an, den
Zusammenhang und die Bedeutung jener Theorie für die rekonstruktive So-
zialforschung aufzuweisen. 45 Subjektivität und Identität als die wesentlichen
Elemente des Bildungsprozesses des Subjekts fallen nach Mead nicht zusam-
men. Insofern ist eine Differenzierung zwischen beiden Kategorien unab-
dingbar. Die Nicht-Differenzierung von Subjektivität und Identität führt in
Sackgassen, in die sich beispielsweise Bewußtseinsphilosophie, Behaviorismus
und subjektiv konzipierte Handlungstheorien verstrickt haben. In allen diesen
Paradigmen wird Subjektivität von vornherein unter Begriffe des sozial
konstituierten Allgemeinen subsumiert. Dies hat zur Folge, daß es zu keiner
positiven Bestimmung von Subjektivität kommt. Die Kategorie der Subjek-
tivität erfährt in diesen Paradigmen allenfalls eine negative Bestimmung.

Subjektivität

Im pragmatistisch-naturalistischen Ansatz Meads finden wir den Versuch, ei-


nen unverkürzten Subjektivitätsbegriff zu gewinnen. Theoriestrategisch ist
dabei die Wende vom Ausgang des Bewußtseins zu dem von der Handlung
von entscheidender Bedeutung. Subjektivität wird der Sphäre des Bewußt-
seins zunächst einmal radikal entzogen und im lebenspraktischen Handeln
verankert. Sie wird als eine Phase innerhalb der Einheit der praktischen
Handlung verortet. Gemäß den Implikationen des Meadschen Pragmatismus
zeigt sich, daß Subjektivität nicht bei einem glatten Handlungsablauf, son-
dern erst angesichts eines Handlungsproblems manifest in Erscheinung tritt.
Bei Auftreten eines Handlungsproblems haben wir es mit unmittelbaren Er-
fahrungen, präziser mit Krisenerfahrungen zu tun. Mead trennt die Phase der
Unmittelbarkeit im Handlungsakt ab von der Phase, in der Vermittlungen in
Begriffen des Allgemeinen durch das Subjekt selbst stattfinden. Erst diese
Aufteilung des Handlungsaktes in Phasen gestattet es, einen Subjektivitätsbe-
griff zu gewinnen, der dem Besonderen von Subjektivität gerecht wird.
Was ist nun das Besondere von Subjektivität? Dazu zählen die Erfahrung
des Problems selbst, die kreative Schaffung von Neuem und der praktische
Handlungsvollzug. Die Erfahrung des Problems tritt dann ein, wenn das Sub-
jekt plötzlich nicht mehr weiss, was es tun soll. Diese Erfahrungen sind un-
mittelbar. Sie kommen dem Individuum als Individuum zu, sind ihm selbst
eigen. Dazu zählen Gefühle und Empfindungen. Diese Zustände der Emotio-
nalität, die durch ein Handlungsproblem erst manifest geworden und an den
Zeitmodus der Gegenwart gebunden sind, sind zugleich auf die Zukunft, d.h.

45 Insofern wird auch die Kenntnis der Grundzüge jener Theorie hier vorausgesetzt.

23
auf die Lösung des Problems gerichtet. Aus diesen unmittelbaren Empfindun-
gen erwachsen die kreativen Anstrengungen des Subjekts zur Lösung des Pro-
blems und zur Fortsetzung der unterbrochenen, die Lebenspraxis des Subjekts
hemmenden Handlung. Emotionalität und Kreativität sind an die je konkrete
Handlungskrise gebunden. Zwischen den emotionalen Erfahrungen der Krise
selbst und den kreativen Lösungsversuchen des Subjekts bestehen fließende
Übergänge. Wie nun die Problemlösung konkret vonstatten geht, kann in un-
serem Zusammenhang nicht gezeigt, sondern nur angedeutet werden.46 Mead
sichert in dieser Phase der Problemlösung innerhalb des Handlungsaktes der
Subjektivität einen eigenen Bereich, in dem Spontaneität und Kreativität eine
prominente Rolle spielen. Zeittheoretisch betrachtet ist die Gegenwart der
Ort, an dem das Subjekt das Problem unmittelbar erfährt. Die unmittelbare,
gegenwärtige Erfahrung des Problems durch das Subjekt ist einem Punkt
vergleichbar, der durch ein Vorher und ein Nachher, durch Zukunft und Ver-
gangenheit vermittelt ist. Diese zeittheoretische Reflexion verweist schon auf
eine zentrale Eigenschaft der Subjektivität in dieser Handlungsphase: sie ist
Bewegung. Mead sah denn auch in der Bewegung das Wesentliche der Sub-
jektivität: "Diese Freiheit der Bewegung, durch die alle Tätigkeiten und
Handlungsbestrebungen, welche durch eine fest umrissene Theorie gefesselt
waren, ohne Widerspruch ineinander spielen, scheint mir das Wesen der
Subjektivität zu sein.,,47 Was Bewegung der Subjektivität in dieser Phase
heißt, läßt sich verdeutlichen, wenn man das Modell der Dialektik von De-
termination und Emergenz zur Anwendung bringt.48 Bewegung konstituiert
sich diesem zufolge dadurch, daß die Spontaneitätsinstanz des "I" in der Ge-
genwart durch das konkrete Problem kanalisierte und spezifizierte innere Bil-
der (images) emergieren läßt, die dann als objektiv vorliegende Gebilde re-
konstruiert und in Determination überführt werden können, was erneut zur In-
gangsetzung dieser Dialektik führt, bis sich schließlich das Bild zum Prädikat
stabilisiert hat. Die Problemlösung weist eine Bewegungsgesetzlichkeit auf,
die über die Krisenerfahrung, das Entwerfen des Neuen, die reflexive Re-
konstruktion dieses Neuen und den praktischen Handlungsvollzug verläuft.
Subjektivität als Bewegung ist also auf die Problemphase des Handlungsak-
tes bezogen; sie ist gegenwärtige, unmittelbare Erfahrung, die gleichwohl im
repräsentationalen Sinne mit Vergangenem und Zukünftigem verbunden ist.
Die Problemphase des Handlungsaktes wird abgeschlossen durch die
spontane Reaktion des Subjekts, durch den praktischen Handlungsvollzug.
Hier tritt die Spontaneitätsinstanz des "I" in ihrer zweiten Funktion in Er-
scheinung. Bestand die Aufgabe der Spontaneitätsinstanz des "I" zunächst im
Entwerfen möglicher neuer Lösungshypothesen, so fällt ihr nun die Funktion

46 Siehe dazu: Wagner, H.-J.: Henneneutische Erfahrungswissenschaft (im Druck)


47 SW, S. 19; (GA I, S 74)
48 Zur Bestimmung der Kategorien Determination und Emergenz und ihrem Zusammenhang
mit denen von ..I" und "me" siehe Wagner, H.-J.: Strukturen des Subjekts, aaO

24
zu, die Handlung praktisch zu vollziehen. Damit ist der unterbrochene Hand-
lungskreis wieder geschlossen. Die Spontaneitätsinstanz des ,,1" stiftet so
gleichsam Lebenspraxis. Denn: "Nur das Handeln kann alle Daten verwen-
den, die die Reflexion zur Verfügung stellt, aber es verwendet sie nur als die
Bedingungen einer neuen Welt, die aus ihnen unmöglich vorherzusagen
ist. ,,49 Dies verweist zugleich auf die prinzipielle Zukunftsoffenheit des durch
die spontane Reaktion des ,,1" motivierten praktischen Handeins.
Die Kategorie der Subjektivität haben wir in der Problemphase des Hand-
lungsaktes verortet. Betrachten wir nun das Verhältnis von Subjektivität und
Identität. Mead bestimmt Subjektivität "als Punkt der Unmittelbarkeit, der in
einem vermittelten Prozeß existieren muß".50 Wenn Subjektität in einem
vermittelten Prozeß nur existieren kann, dann bedeutet dies von dem phasen-
haften Aufbau des Handlungsaktes her betrachtet, daß sie von zwei Seiten her
von Begriffen des sozial konstituierten Allgemeinen umrahmt wird, lind zwar
vom Vergangenen, vom Determinierten einerseits und von der Rekonstruktion
des Neuen andererseits. Sobald ein Handlungsproblem auftaucht, wird - ideal-
typisch betrachtet und auf das je konkrete Problem bezogen - die alte Identität
brüchig; sie gerät in die Phase der Desintegration. Während die nicht in die
Krise geratenen Bestandteile der alten Identität mitsamt den epistemischen
Gattungsausstattungen des Subjekts als Bedingungen zur Lösung des Problems
bereitstehen, tritt Subjektivität auf den Plan mit dem Ziel, neue Möglichkeiten
zu entwerfen, die der Beendigung des unterbrochenen Handlungskreises die-
nen. Subjektivität ist hier zuständig für die kreative Schaffung des Neuen und
den praktischen Handlungsvollzug. Sie ist als Unmittelbarkeit zu bestimmen,
die Vermittlungen im Medium von Begriffen des Allgemeinen zwar vor sich
und nach sich hat, die aber gleichwohl Eigenständigkeit und Autonomie besitzt.
Das Verhältnis von Subjektivität und Identität läßt sich dann in einer er-
sten Annäherung wie folgt bestimmten. Subjektivität ist als eigenständige
und autonome Phase zwischen alter und neuer Identität zu verorten. Identität
ist demgegenüber der umfassendere Prozeß, in dem Subjektivität letztlich nur
existieren kann. Eine neue Identität konstituiert sich - nach diesem idealtypi-
schen Modell - in dem Maße, in dem die qua Subjektivität in die Welt ge-
setzte mit neuen Bedeutungsstrukturen versehene Handlung rekonstruktiv auf
der Folie des Alten begriffen wird.
Aus der Präzisierung des Verhältnisses von Subjektivität und Identität
ergeben sich Folgerungen für die Bestimmung der Kategorie der Biographie.
Um diesen Sachverhalt zu verdeutlichen, ist eine Ebenendifferenzierung vor-
zunehmen, die das Zueinander von Subjektivität, Identität und Biographie
betrifft.
Wir unterscheiden dabei 4 Ebenen.

49 SW, S. 54; (GA1, S. 142)


50 SW, S. 53f.; (GA1, S. 74)

25
Ebene 1 meint das epistemische Subjekt. Diese repräsentiert die Gesamt-
heit von Regeln, die im Sinne eines Algorithmus eine unendliche Anzahl von
Handlungsmöglichkeiten bzw. Optionen zu erzeugen imstande sind.
Ebene 2 bezieht sich auf die ganze Breite von Subjektivität, d.i. den Zu-
stand der Krise, den Versuch ihrer Lösung durch die kreative Schaffung von
Neuem und den praktischen Handlungsvollzug bzw. die Entscheidung.
Ebene 3 verweist auf die objektive Identität, die Resultat der immerglei-
chen Auswahl des Individuums aus einer Vielzahl von offenstehenden Op-
tionen ist. Auf dieser Ebene ist denn auch die Lebensgesetzlichkeit eines je
konkreten Individuums zu verorten. Lebensgesetzlichkeit meint die Gesetz-
mäßigkeit, mit der ein Individuum die immergleiche Auswahl aus einer Viel-
zahl von offenstehenden Optionen im Laufe seiner Lebensgeschichte trifft.
Lebensgesetzlichkeit ist demzufolge eine objektive Strukturierungsgesetz-
lichkeit, die im Medium der Dialektik von Reproduktion und Transformation
funktioniert. Das heißt unter anderem, daß sie als eine in die Zukunft hinein
offene Transformationsgesetzlichkeit zu verstehen ist. Mit der individuellen
Lebensgesetzlichkeit ist u. E. auch schon die zentrale Kategorie der Biogra-
phieforschung benannt. Je nach Erkenntnisinteresse kann sich die individuel-
le Lebensgesetzlichkeit auf Teile der Biographie oder auf die Gesamtbiogra-
phie beziehen.
Ebene 4 bezieht sich auf die subjektive Identität des Individuums. Hier
ist thematisch, was das je konkrete Subjekt durch seine Rekonstruktionsan-
strengungen von der objektiven Identität, d.i. von seiner Lebensgesetzlichkeit
begriffen hat. Auf dieser Ebene stellt sich die Frage, inwieweit das Indi-
viduum auf dem Hintergrund seiner Reflexionen seine Lebensgeschichte in
ihrer objektiven Strukturiertheit sich subjektiv intentional vergegenwärtigt
hat. Das Erkenntnisinteresse richtet sich hier darauf, in welchem Maß das
Individuum "zu sich selbst kommt und die begründbare Gestalt eines Selbst-
bildes, einer biographischen Organisation, einer rekonstruierten, verfügten
Lebensgeschichte annimmt".51
Für die rekonstruktive Sozialforschung stellt sich nun die Frage: Inwie-
weit sind ihr Subjektivität, Identität und Biographie zugänglich? Es wird so-
fort evident, daß sich die Frage in dieser Differenziertheit nur stellen läßt,
wenn man zuvor Subjektivität und Identität kategorial unterschieden hat. Zu-
nächst läßt sich sagen, daß der rekonstruktiven Sozialforschung Subjektivität
in ihrer Unmittelbarkeit nicht zugänglich ist. Die Unmittelbarbeit von Lebens-
praxis scheidet daher als Erkenntnisgegenstand einer methodisch nach ex-
pliziten Standards der Geltung verfahrenden rekonstruktiven Sozialforschung
aus. Subjektivität - hier im Anschluß an Mead als Krisenerfahrung, Entwer-
fen des Neuen und spontane Entscheidung gefaßt - existiert einzig in der

51 Oevennann, U. (1993): Die objektive Henneneutik als unverzichtbare methodologische


Grundlage für die Analyse von Subjektivität. In: Th. Jung u. St. Müller Doohm (Hg.):
Wirklichkeit im Deutungsprozeß. Frankfurt a. M.; S. 184

26
unmittelbaren Erfahrung des Subjekts; sie ist der hermeneutisch verfah-
renden Sozialforschung nicht direkt zugänglich. Dies bedeutet jedoch nicht,
daß sie der rekonstruktiven Sozialforschung prinzipiell verschlossen wäre.
Sie ist genau insoweit rekonstruierbar, wie Phasen dieser subjektiven Dimen-
sionen fixiert bzw. protokolliert worden sind. Dies gilt dann erst recht für die
Kategorien der Identität und Biographie. Der rekonstruktiven Sozialfor-
schung ist es demzufolge nicht möglich - und dies wurde ja auch schon zeit-
theoretisch begründet -, direkten Zugang zur unmittelbaren, gegenwärtigen
Praxis zu gewinnen. Nur über Protokolle sind ihr Subjektivität, Identität und
Biographie zugänglich. Die Form des Protokolls ist unabdingbare Voraus-
setzung einer wissenschaftlichen Rekonstruktion.

2.5 Konsequenzen für die Grundlegung einer rekonstruktiven


Sozialforschung

Im folgenden werden die Konsequenzen des Meadschen Ansatzes für die


Grundlegung einer rekonstruktiven Sozialforschung noch einmal systema-
tisch aufgezeigt.

a) Handlungs- und Sinntheorie


Für die Konstitution einer rekonstruktiven Sozialforschung sind die Katego-
rien des sozialen Aktes (social act) und der objektiven Sinnstruktur funda-
mental. Erst im sozialen Akt werden konstitutionslogisch betrachtet objektive
Sinnstrukturen erzeugt. Rekonstruktive Sozialforschung hat zu ihrem Er-
kenntnisgegenstand diese objektiven Sinnstrukturen, die sie mit ihren Metho-
den rekonstruktiv zu dechiffrieren versucht. Erst auf dem Hintergrund der
Rekonstruktion objektiver Sinnstrukturen ist dann der subjektiv gemeinte
Sinn offenzulegen. Rekonstruktive Sozialforschung setzt also gerade nicht
beim subjektiv gemeinten Sinn, der als Derivat des im sozialen Akt bzw. in
der Interaktion emergierenden objektiven Sinns anzusehen ist, an. Anders
formuliert: Für die rekonstruktive Sozialforschung ist primär die Ebene ob-
jektiver Rationalität und sekundär die Ebene subjektiver Rationalität. Da die
objektive Sinnstruktur erst in der Interaktion emergiert und damit immer
auch neue, nicht vorhersehbare Elemente enthält und eine Realitätsebene sui
generis, gleichsam ein Drittes konstituiert, kommt ihr die Eigenschaft des
Latenten zu. Wir können daher formulieren: Rekonstruktive Sozialforschung
hat zu ihrer zentralen Aufgabe die Dechiffrierung von objektiven latenten
Sinnstrukturen sozialer Akte bzw. Interaktionen.
Auf der Grundlage der Meadschen Konzeption sind nun die Ebene der
objektiven Sinnstruktur und die Kategorie der Latenz weiter auszudifferen-
zieren. Es geht darum, die Architektonik objektiver Sinnstrukturen differen-
ziert nachzuzeichnen und auf dieser Grundlage Stufen der Latenz zu unter-

27
scheiden. Im abschließenden Teil der Studie werden wir darauf zurückkom-
men.

b) Zeittheorie und Rekonstruktion


Die Grundlegung einer rekonstruktiven Sozialforschung erfordert neben
handlungs- und sinn theoretischen zeittheoretische Reflexionen. Dies läßt sich
schon daran ablesen, daß die Kategorie der Rekonstruktion sich nur auf der
Folie einer Zeittheorie aufklären läßt. Diese Zeittheorie indes muß auf soziale
Zeitlichkeit und den sozialen Akt bezogen sein. Nicht die physikalische, son-
dern die soziale Zeitlichkeit steht also in unserem Kontext der methodo-
logischen Begründung einer rekonstruktiven Sozialforschung im Vorder-
grund.
Zunächst einmal ist festzuhalten, daß nicht reine Kontinuität, sondern
erst der Bruch in der Kontinuität, dj. Diskontinuität Erfahrung möglich
macht. Erst der Bruch in der Kontinuität, hervorgerufen durch ein neuentste-
hendes Ereignis (emergent event), läßt eine Gegenwart entstehen, der die
Dimensionen Vergangenheit und Zukunft zugeordnet werden können. Dabei
ist nachdrücklich zu betonen, daß die unmittelbare Gegenwart, die konkrete
Lebenspraxis im Hier und Jetzt, der rekonstruktiven Sozialforschung nicht
zugänglich ist. In der Unmittelbarkeit der Gegenwart kann es keine metho-
disch gesicherte Erkenntnis geben. Erst wenn das gegenwärtige Ereignis ver-
gangen ist, läßt es sich nach methodischen Standards der Geltung aufklären.
Insofern kann Sozialforschung gar nicht anders als rekonstruktiv verfahren.
Und dies wiederum kann sie nur, wenn ein Protokoll bzw. Text des voraus-
gegangenen Ereignisses vorliegt. Durch die Rekonstruktion des Vergangenen
eröffnet sich dann auch die Möglichkeit einer Prognostik des Zukünftigen.
Auf der Folie des Kategorienpaares Emergenz und Determination können wir
nun auch folgende Definition des Erkenntnisfortschritts formulieren: Erkennt-
nisfortschritt in der rekonstruktiven Sozialforschung besteht darin, auf der
Grundlage von Protokollen bzw. Texten Emergenz so in Determination zu
überführen, daß das Vergangene in einem tieferen Sinne begriffen und das Zu-
künftige in einem erweiterten Sinne rational antizipiert werden kann. Darin ist
impliziert, daß der Erkenntnisprozeß nie endgültig abgeschlossen ist.

c) Subjektivität - Identität - Biographie


Inwieweit ist der rekonstruktiven Sozialforschung Subjektivität, Identität und
Biographisches zugänglich? Um diese Frage zu beantworten, haben wir zu-
nächst zwischen den Kategorien Subjektivität und Identität unterschieden.
Subjektivität wurde als unmittelbare Erfahrung (Unmittelbarkeit) und Identi-
tät als vermittelte Erfahrung (Vermitteltheit) bestimmt. Wir haben dann eine
Ebenendifferenzierung vorgenommen und sind zu folgenden Resultaten ge-
langt. Subjektivität in ihrer Unmittelbarkeit ist der methodisch verfahrenden
rekonstruktiven Sozialforschung nicht zugänglich. Nur wenn die Dimensio-
nen von Subjektivität fixiert worden sind, sind sie möglicher Erkenntnisge-

28
genstand rekonstruktiver Sozialforschung. Dieses Postulat der Fixation gilt
dann auch für die Kategorien der Identität und Biographie. Zentraler Er-
kenntnisstand der qualitativ orientierten Biographieforschung ist nach Maß-
gabe unserer Konstitutionstheorie und Methodologie die Lebensgesetzlich-
keit eines konkreten Individuums. Unter Lebensgesetzlichkeit verstehen wir
die Gesetzmäßigkeit, mit der ein Individuum die immergleiche Auswahl aus
einer Vielzahl von offen stehenden Handlungsmöglichkeiten in seiner Le-
bensgeschichte trifft. Es handelt sich dabei um eine objektive Strukturie-
rungsgesetzlichkeit, die als eine in die Zukunft hinein offene Transforma-
tionsgesetzlichkeit zu verstehen ist. Die Dechiffrierung dieser objektiven
Strukturierungsgesetzlichkeit ist überhaupt erst Voraussetzung der Rekon-
struktion dessen, was das Subjekt von seiner Lebensgeschichte begriffen hat.

29
3. Forschungspraxis

In diesem Kapitel geht es zum einen darum, zu überprüfen, inwieweit be-


reits existierende Verfahren der rekonstruktiven Sozialforschung den von
uns zur Explikation gebrachten methodologischen Grundlagen gerecht
werden bzw. an diese anschlußfähig sind; zum anderen soll das konkrete
forschungspraktische Vorgehen der ausgewählten Verfahren an Fallbei-
spielen verdeutlicht und nachvollziehbar gemacht werden. Thematisch sind
also Methodologie und Forschungspraxis. Ausgewählt wurden zu diesem
Zweck der symbolische Interaktionismus (H. Blumer; B. G. Glaser u.a. L.
Strauss), die objektive Hermeneutik (D. Oevermann) und die dokumentari-
sche Methode (R. Bohnsack).

3.1 Symbolischer Interaktionismus I (H. Blumer)

3.1.1 Darstellung

Herbert Blumer hat insbesondere auf der Grundlage des Ansatzes von Ge-
orge Herbert Mead versucht, den methodologischen Standort des symboli-
schen Interaktionismus zu bestimmen. Resultat dieses Bemühens ist jedoch
eine eigenständige Methodologie. "Im wesentlichen" - so Blumer in seiner
Studie "Der methodologische Standort des symbolischen Interaktionis-
mus", an der wir uns im folgenden orientieren - "beziehe ich mich auf die
Gedanken von George Herbert Mead, der, mehr als alle anderen, die
Grundlagen des symbolisch-interaktionistischen Ansatzes gelegt hat; in-
dem ich mich allerdings mit zahlreichen entscheidenden Fragen ausführ-
lich auseinandersetzte, die im Denken von Mead und anderen nur implizit
enthalten waren bzw. mit denen sie sich gar nicht beschäftigt hatten, war
ich gezwungen, eine eigenständige Fassung auszuarbeiten. Aus diesem
Grunde muß ich zum größten Teil die volle Verantwortung für die hier
vorgelegten Ansichten und Analysen übernehmen. Dies trifft insbesondere
auf meine Ausführungen zur Methodologie zu: die Beiträge zu diesem

31
Punkt stammen ausschließlich von mir."s2 Zu den Autoren, auf die sich H.
Blumer in seinem Entwurf neben Mead bezieht, zählen: John Dewey, W. 1.
Thomas, Robert E. Park, William James, Charles Horton Cooley, Florian
Znaniecki, James Mark Baldwin, Robert Redfield und Louis Wirth. 53
Rekonstruieren wir zunächst kurz die Grundsätze des von H. Blumer
entworfenen symbolisch-interaktionistischen Ansatzes. Der symbolische In-
teraktionismus basiert auf drei Prämissen, die wie folgt bestimmt werden. 54
a) "Die erste Prämisse besagt, daß Menschen ,Dingen' gegenüber auf der
Grundlage der Bedeutungen handeln, die diese Dinge für sie besitzen."
b) "Die zweite Prämisse besagt, daß die Bedeutung solcher Dinge aus der
sozialen Interaktion, die man mit seinen Mitmenschen eingeht, abgeleitet
ist oder aus ihr entsteht."
c) "Die dritte Prämisse besagt, daß diese Bedeutungen in einem interpretati-
ven Prozeß, den die Person in ihrer Auseinandersetzung mit den ihr be-
gegnenden Dingen benutzt, gehandhabt und abgeändert werden kann."
Blumer versucht nun, nachdem er die drei Prämissen erläutert und gegenüber
konkurrierenden psychologischen und soziologischen Ansätzen abgegrenzt
hat, zentrale Kategorien des symbolischen Interaktionismus zur Explikation
zu bringen. Dazu zählen etwa soziale Interaktion und Gesellschaft. Aus-
gangspunkt zum Verständnis des Funktionierens menschlicher Gesellschaf-
ten ist dabei die Handlung. "Ein Grundprinzip des symbolischen Interaktio-
nismus lautet, daß jeglicher empirisch orientierte Entwurf einer menschlichen
Gesellschaft, wie er auch immer abgeleitet wurde, vom Beginn bis zum Ende
die Tatsache berücksichtigen muß, daß menschliche Gesellschaft aus Perso-
nen besteht, die sich an Handlungen beteiligen. ,,55 Die Kategorie Handlung
wird im Sinne von sozialer Interaktion verstanden. Soziale Interaktion ist
nicht, wie in verschiedenen soziologischen und psychologischen Konzeptio-
nen suggeriert, etwas Sekundäres, gleichsam eine "Durchgangsstufe" zur
Hervorbringung humanen Verhaltens; sie ist konstitutionslogisch betrachtet
das Primäre, von dem allererst ausgegangen werden muß. 56
Blumer orientiert sich zur Explikation der Kategorie der sozialen Inter-
aktion an Meads triadischer Relation, die die Konstitution von Bedeutung be-
schreibt. "Aus dieser kurzen Darstellung kann ersehen werden, daß sich die
Bedeutung einer Geste an drei Linien entlang bewegt (Meads triadischer
Charakter der Bedeutung): sie zeigt an, was die Person, an die sie gerichtet
ist, tun soll; sie zeigt an, was die Person, die sie setzt, zu tun beabsichtigt;

52 Blumer, Ho (1973): Der methodologische Standort des symbolischen Interaktionismuso In:


Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen - Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche
Wirklichkeit. Reinbek bei Hamburg, So 80
53 Ebdo
54 Blumer, Ho, aaO, S. 81
55 Blumer, Ho, aaO, S. 86
56 Blumer, Ho, aao; S. 87

32
und sie zeigt die gemeinsame Handlung an, die aus der Verbindung der
Handlungen beider hervorgehen soll. ,,57 Zum Zustandekommen sozialer In-
teraktionen ist die Perspektivenübernahmefähigkeit auf seiten der an den In-
teraktionen Beteiligten unabdingbar. Das Funktionieren von Institutionen
erklärt Blumer nun wie folgt: "Ein Netzwerk oder eine Institution funktio-
niert nicht automatisch aufgrund irgendeiner inneren Dynamik oder aufgrund
von Systemerfordernissen; sie funktionieren, weil Personen in verschiedenen
Positionen etwas tun - und zwar ist das, was sie tun, ein Ergebnis der Art und
Weise, in der sie die Situation definieren, in der sie handeln müssen".58
Nach diesen einleitenden Bemerkungen zur Konzeptualisierung des
symbolischen Interaktionismus ist auf dessen Methodologie einzugehen.
Blumer versteht seinen Ansatz nicht im Sinne einer "philosophischen Lehr-
meinung", sondern siedelt diesen im Bereich der Erfahrungswissenschaften,
genauer der "empirischen Sozialwissenschaft" an. 59 Der symbolische Interak-
tionismus ist demzufolge "ein Ansatz, der dazu bestimmt ist, nachprüfbares
Wissen über das menschliche Zusammenleben und Verhalten zu erbrin-
gen."60 Nach Blumer sind die folgenden drei Aspekte für die Methodologie
des symbolischen Interaktionismus konstitutiv. Erstens: "Methodologie um-
faßt das gesamte wissenschaftliche Forschen und nicht nur ein Aspekt jenes
Forschens." Zweitens: "Jeder Teil des wissenschaftlichen Forschens muß,
ebenso wie das gesamte wissenschaftliche Handeln selbst, dem eigensinnigen
Charakter der untersuchten empirischen Welt entsprechen; daher sind die
Forschungsmethoden jener Welt untergeordnet und sollten einer Prüfung an
dieser Welt unterzogen werden." Drittens "liefert die zu untersuchende empi-
rische Welt und nicht irgendein Modell wissenschaftlicher Forschung die
letzte und entscheidende Antwort auf die Überprüfung".61

zu 1: Methodologie darf nicht mit den quantitativen Vorgehensweisen


gleichgesetzt werden. Einzubeziehen ist der gesamte "Umfang wissenschaft-
lichen Handelns".62 Zu diesem zählen etwa der Entwurf eines Bildes des
Untersuchungsgegenstandes, das "Stellen von Fragen über die empirische
Welt und die Umwandlung der Fragen in Probleme", die "Bestimmung der zu
suchenden Daten", die "Bestimmung der Beziehungen zwischen den Daten",
die "Interpretation der Ergebnisse" und der "Gebrauch von Konzepten".63
zu 2: Die Prämissen, Probleme, Daten, Beziehungen, Interpretationen und
Konzepte müssen an der Empirie überprüft werden. Es wird die Angemes-
senheit von Methode und Gegenstand emphatisch betont. Insofern erfahren

57 Blumer, H., aaO, S. 88


58 Blumer, H., aaO, S. 100
59 Blumer, H., aaO, S. 10lf
60 Blumer, H.; aaO, S. 102
61 Blumer, H., aaO, S. 104
62 B1umer, H., aaO, S. 105
63 B1umer, H., aaO, S. lOSff.

33
auch alle die Methoden in der Psychologie und Sozialwissenschaft eine
scharfe Kritik, die ihr Methodenarsenal subsumtionslogisch auf die empiri-
sche Welt anwenden. Die Adäquatheit zwischen Methode und Gegenstand
läßt sich nur erreichen, indem man "direkt in die empirische soziale Welt"
geht; "man muß sorgfältig prüfen, ob seine Prämissen oder Kernvorstellung
von ihr, seine Fragen und die aufgeworfenen Probleme, die aus ihr ausge-
wählten Daten, die Konzeptionen, durch die man sie betrachtet und analy-
siert, und die auf sie bezogenen Interpretationen tatsächlich von ihr gestützt
werden".64

zu 3: Kritisiert wird in diesem Kontext, daß in weiten Bereichen der sozial-


wissenschaftlichen und psychologischen Forschung nicht von der Empirie,
von der Sache selbst, sondern von vorab festgelegten theoretischen Kon-
struktionen ausgegangen wird, die dann subsumtionslogisch auf die empiri-
sche Welt angewandt werden. Dies gilt auch für jene endlose Reihe von For-
schungsprojekten, die aus nichts mehr als der Anwendung eines bereits ent-
wickelten Instruments, wie zum Beispiel einer Skala oder eines Tests, auf ei-
nen neuen Bereich des "Zusammenlebens bestehen".6s Blumer fordert von
dem Forscher "Vertrautheit mit dem, was tatsächlich in dem zu untersuchen-
den Lebensbereich vor sich geht".66 Wie aber kann sich der Forscher mit dem
Ausschnitt der empirischen Welt, den er untersuchen will, vetraut machen?
Es sind wesentlich zwei Elemente, die hier namhaft gemacht werden, und
zwar "Exploration" und "Inspektion".67 Exploration wird definiert als "eine
flexible Vorgehensweise, in der der Wissenschaftler von einer zu einer ande-
ren Untersuchungsmethodik wechselt, im Verlauf seiner Studie neue Beob-
achtungspositionen einnimmt, in der er sich in neue Richtungen bewegt, an
die er früher nicht dachte, und in der er seine Meinung darüber, was wichtige
Daten sind, ändert, wenn er mehr und ein besseres Verständis erworben
hat".68 Exploratorische Forschung zielt darauf, durch ein konstellatives, offe-
nes und die soziologische Phantasie zur Geltung bringendes Vorgehen die
Sache selbst zum Sprechen zu bringen. Dazu ist der Ausgang von Fakten und
nicht von Spekulationen gefordert. Inspektion meint "eine intensive, konzen-
trierte Prüfung des empirischen Gehalts aller beliebigen analytischen Ele-
mente, die zum Zwecke der Analyse benutzt werden, wie auch eine entspre-
chende Prüfung der empirischen Beschaffenheit der Beziehung zwischen sol-
chen Elementen".69 Die Inspektion zeichnet sich dadurch aus, daß sie "flexi-

64 Blumer, H., aaO, S. 114


65 Blumer, H., aaO, S. 115
66 Blumer, H., aaO, S. 121
67 Blumer, H, aaO, S. 122
68 Blumer, H., aaO, S. 122
69 Blumer, H., aaO, S. 126

34
bel", "phantasievoll" und "schöpferisch" ist. 70 Exploration und Inspektion
sind wesentliche Bestandteile einer naturalistischen Forschung.
Blumer verweist nachdrücklich auf die methodologischen Implikationen
der grundlegenden Prämissen des symbolischen Interaktionismus. Demzu-
folge ist es für den Wissenschaftler, "will er das Handeln von Menschen ver-
stehen, unumgänglich, ihre Objekte so zu sehen, wie sie sie selbst sehen".71
Dazu ist die Übernahme der Perspektive der Anderen, die Untersuchungs-
gegenstand sind, notwendig. Außerdem muß eine "Sammlung bedeutsamer
Beobachtungen" erstellt werden. Blumer denkt hier an "beschreibende Dar-
stellungen" der Sichtweise der Handelnden auf ihre Objekte. Diese müssen
intersubjektiv überprüft werden.
Bezog sich diese erste Prämisse auf das Handeln von Individuen gegen-
über Objekten, so nimmt die zweite Prämisse Bezug auf die Kategorie der
sozialen Interaktion selbst. Der sozialen Interaktion wird eine fundamentale
Rolle zugeschrieben. "Es ist notwendig, den jeweiligen zu untersuchenden
Lebensbereich als einen dynamischen Prozeß zu betrachten, in dem die Teil-
nehmer die Handlungen der jeweils anderen definieren und interpretieren. Es
ist wichtig zu erkennen, wie dieser Prozeß der Bestimmung und Interpreta-
tion die Arten, in denen Teilnehmer ihre Handlungslinien aufeinander ab-
stimmen, stützt, aushöhlt, neu ausrichtet und umformt. ,,72 Wichtig ist in die-
sem Kontext, zu bestimmen, mit welcher Form von Interaktion man es auf
dem Hintergrund der Vielfalt von Interaktionsformen zu tun hat. "Die Auf-
gabe des Forschers, der einen beliebigen Bereich des sozialen Lebens unter-
sucht, ist es, sich zu vergewissern, welche Form der Interaktion vorliegt, an-
statt jenem Bereich eine vorgefertigte Interaktionsform aufzuzwängen. Die
Bestimmung der hier vorliegenden Interaktionsart wird nicht erreicht - es sei
denn durch Zufall - wenn die Studie selbst eine bestimmte Art der Interak-
tion voraussetzt.,,73
Die dritte Prämisse bezieht sich auf den Aufbau der sozialen Interaktio-
nen. Nach Blumer werden diese "in einem Prozeß aufgebaut, in dem die
Handelnden die ihnen begegnenden Situationen wahrnehmen, interpretieren
und einschätzen".74 Methodologisch folgt daraus, daß man den Prozeß des
Aufbaus der sozialen Handlung präzise beobachten muß. Dazu ist wiederum
die Perspektivenübernahme unverzichtbar. "Das bedeutet, er (der Forscher,
H.-I. W.) muß die Situation so sehen, wie sie vom Handelnden gesehen wird,
er muß beobachten, was der Handelnde berücksichtigt, er muß die alternati-
ven Handlungsarten wahrnehmen, die dieser im voraus entwirft, und er muß
versuchen, der Interpretation zu folgen, die zu der Auswahl und der Ausfüh-

70 Blumer, H., aaO, S. 127


71 Blumer, H., aaO, S. 133
72 Blumer, H., aaO, S. 136
73 Blumer, H., aaO, S. 137
74 Blumer, H., aaO, S. 133

35
rung einer dieser vorentworfenen Handlungen führte.,,75 Ein solcher Aufbau
findet im empirischen sozialen Leben selbst statt. Es ist von daher erforder-
lich, die Einheit der Handlung zu rekonstruieren.
Kommen wir zum Abschluß der Darstellung auf die vierte Prämisse zu
sprechen. Diese bezieht sich auf höher aggregierte Einheiten sozialer Inter-
aktionen wie Gruppen, Institutionen, Klassen, Schichten und die Gesamtge-
sellschaft. Der symbolische Interaktionismus betrachtet diese Aggregations-
einheiten als Verkettung der Handlungen von Personen, die im wesentlichen
gemäß den methodologischen Prinzipien von Exploration und Inspektion zu
rekonstruieren sind.

3.1.2 Kritik

Kommen wir nach dieser kurzen Darstellung des symbolischen Interaktio-


nismus von H. Blumer auf dessen kritische Einschätzung zu sprechen. Die
zentrale Frage dabei ist: Inwieweit schöpft Blumer das methodologische Be-
gründungspotential des pragmatistisch-naturalistischen Ansatzes Meads zur
Konstitution einer rekonstruktiven Sozialforschung aus, und wo liegen seine
Schwächen?
Gehen wir zunächst auf das Positive des Blumerschen Ansatzes ein. Die
Prämissen des symbolischen Interaktionismus werden auf der Folie des
Meadschen Ansatzes entworfen. Daß Menschen Dingen gegenüber auf der
Grundlage der Bedeutungen handeln, die diese Dinge für sie besitzen, und
daß die Bedeutungen solcher Dinge aus der sozialen Interaktion abgeleitet
sind, leuchtet auf der Folie der Meadschen Konzeption ein. Betont wird die
konstitutionslogische Vorgängigkeit des kommunikativen Handeins vor dem
instrumentellen Handeln, der Subjekt-Subjekt- vor der Subjekt-Objekt-Rela-
tion. Auch wählt Blumer den Begriff der Handlung im Sinne sozialer Inter-
aktion als Grundbegriff der Gesellschaftstheorie. In Abgrenzung von Beha-
viorismus und strukturell-funktioneller Theorie wird die Kategorie der so-
zialen Interaktion als das konstitutionslogisch Primäre angesehen und die
Konstitution von Bedeutung in der triadischen Relation des sozialen Aktes
nachgezeichnet. Auf dem Hintergrund dieser grundlagentheoretischen Über-
legungen gelangt Blumer dann auch zu einer empirischen Sozialwissenschaft
und Sozialforschung, die sich gegen philosophische Begriffsbastelei und die
traditionelle empirische Sozialforschung richtet. Ihm geht es um die metho-
dologische Begründung einer qualitativen, rekonstruktiv verfahrenden Sozi-
alforschung. Diese verfährt, um nur einige Prinzipien zu nennen, offen, flexi-
bel, konstellativ, schöpferisch und intersubjektiv. Sie geht nicht von vorab
festgelegten theoretischen Konstruktionen aus, sondern versucht, von der

75 Blumer, H., aaO, S. 140

36
Empirie her die Sache selbst zum Sprechen zu bringen. Auf dem Hintergrund
dieser Leistungen und in Anbetracht der von dem symbolischen Interaktio-
nismus motivierten empirischen Analysen etwa über abweichendes Verhal-
ten, Kriminalität, Drogengebrauch bei Jugendlichen, Biographieverläufen
etc. kommt Blumer denn auch ein Verdienst um die rekonstruktive Sozialfor-
schung zu.
Betrachten wir die Blumersche Konzeption jedoch unter der strukturalen
Perspektive und auf dem Hintergrund des Gesamtwerks von Mead, so zeigt
sich, daß diese nicht schon eine Grundlage rekonstruktiver Sozialforschung
abgibt. Dies liegt vor allem an dem strukturtheoretischen Defizit dieses An-
satzes. Einmal abgesehen davon, daß Blumer nicht die evolutionstheoreti-
schen Prämissen und auch nicht den Zusammenhang von sozialem und in-
strumentalem Handeln zur Explikation bringe6 , bezieht sich das strukturtheo-
retische Defizit im Kontext empirisch-qualitativer Sozialforschung in erster
Linie auf den Sinnbegriff. Dieser wird nicht konsequent herausgearbeitet. Er
bleibt der Ebene interpretatorischer Bewußtseinsleistungen der Subjekte ver-
haftet. Das heißt, daß die triadische Relation des sozialen Aktes in ihrer ob-
jektiven Strukturiertheit und ihren Implikationen nicht erfaßt wird. Wie ge-
zeigt, konstituiert sich in dieser eine objektive latente Sinnstruktur, die vom
subjektiv gemeinten Sinn strikt zu unterscheiden ist. Und es ist gerade diese
objektive latente Sinnstruktur, die u. E. zentraler Gegenstand der rekonstruk-
tiven Sozialforschung ist. Blumers Sinnkonzeption steht dagegen in Gefahr,
auf der Ebene des subjektiv gemeinten Sinns stehenzubleiben, mit subjekti-
ver Intentionalität vorlieb zu nehmen.
Ebenso ist die zeittheoretische Konzeption Meads nicht oder allenfalls
am Rande von Blumer berücksichtigt worden. Denn allein von dieser her
hätte er die eminente Bedeutung der Kategorie der objektiven latenten Sinn-
struktur erkennen müssen. Desgleichen ist zu kritisieren, daß sich ohne die
konsequente Berücksichtigung der Zeittheorie die Einheit des sozialen
Handlungsaktes nicht angemessen nachzeichnen läßt. Kurz: Das Kategorien-
geflecht von Emergenz, Determination und Rekonstruktion wird nicht zur
Explikation gebracht und damit ist ein wichtiges Begründungspotential re-
konstruktiver Sozialforschung verschenkt worden.
Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß der symbolische Interaktio-
nismus Blumers der Methodologie der empirisch-statistisch verfahrenden
Sozialforschung eine qualitative, rekonstruktive Sozialforschung entgegen-
setzt, die mit zentralen Kategorien des Meadschen Ansatzes wie soziale In-
teraktion, Bedeutung und Interpretation operiert, diese jedoch struktural nicht
angemessen zur Explikation bringt, was u.a. zur Folge hat, daß die für die re-
konstruktive Sozialforschung entscheidende Ebene objektiver Sinnstrukturen
nicht oder zu wenig ins Blickfeld gerät. Der symbolische Interaktionismus

76 Siehe zu dieser Kritik: Joas, H.: George Herbert Mead. In: D. Käsler (Hg.) (1978): Klassi-
ker des soziologischen Denkens. Bd. 2. S. 7-39

37
Blumers bleibt vielmehr der Ebene des common sense verhaftet und stellt ei-
ne oberflächliche Deutung des Meadschen Ansatzes dar. Als methodologische
Grundlage rekonstruktiver Sozialforschung ist er daher ungeeignet.

Symbolischer Interaktionismus 11 (B. G. GlaserlA. L. Strauss)

3.1.3 Darstellung

In den Arbeiten von Glaser und Strauss sind u. E. genuine Elemente des In-
teraktionismus enthalten. Diese eher implizit enthaltenen Elemente gilt es im
Lichte unseres Erkenntnisinteresses ein Stück weit explizit zu machen.
Glaser und Strauss haben auf dem Hintergrund eigener Forschungspro-
jekte Arbeitsschritte für die qualitative Sozialforschung herausgearbeitet. Die
Arbeitsschritte eines qualitativen Forschungsablaufs sind demnach die fol-
genden:
,,1. Herausarbeitung der Anfangsfragestellung und thematische Fokussie-
rung;
2. Theoretisch angeleitete selektive Datensammlung und ihre sequenzielle
Aufzeichnung;
3. Kodierung des Primärdatenmaterials, d.h. seine strukturelle Beschreibung
und die analytische Abstraktion allgemeiner Prozeßmerkmale aus ihm;
4. Herausarbeitung von theoretischen Kernkategorien, welche wichtige
analytische Aspekte zentral fokussieren und die Merkmale anderer Kate-
gorien als von ihnen abhängig erscheinen lassen;
5. Weitere, auf den bereits entfalteten Kernkategorien und den ihnen inne-
wohnenden Aspekten und Vergleichsgesichtspunkten fußende theoreti-
sche Auswahlen sowohl von neuen Erhebungsbereichen, in denen dann
neue Datensammlungen und -produktionen erfolgen, als auch von bereits
erhobenen Daten und bereits gebildeten analytischen Kategorien zur
weiteren Theoriegenerierung;
6. Fortlaufender kontrastiver Vergleich zwischen den Datenbeständen bzw.
ihren jeweiligen Kodierungen bzw. den jeweils bereits aus ihnen gebil-
deten theoretischen Kategorien;
7. Weiterführung der kontrastiven Vergleiche bis zur theoretischen Sätti-
gung der analytischen Kategorien und ihrer Relationen untereinander,
d.h. bis zu dem Zeitpunkt, zu dem sich keine neuen Theoriegenerie-
rungsaspekte im Gegenstandsfeld und in seinem faktischen und poten-
tiell noch zusätzlich erhebbaren Datenmaterial mehr abzeichnen;
8. Explikation der analytischen Implikationen von Kategorien und der Re-
lationengeflechte zwischen ihnen zu Theoriestücken, die in Bausteinskiz-
zen ("theoretical memos") niedergeschrieben werden;

38
9. Theoretische Sortierungen dieser Theoriebausteine unter dem Gesichts-
punkt der Entdeckung eines oder mehrerer zugrundeliegender theoreti-
scher Ordnungsmuster;
10. Integration solcher Ordnungsmuster zu einem systematischen, dicht in
den Kategorienrelationen verflochtenen theoretischen Modell. ,,77
Diese Arbeitsschritte bedeuten eine erhebliche Differenzierung, wenn es um
die wichtige Frage geht, wie denn aus der Sache selbst, d.h. von der Empirie
her sich Theorien konstituieren. Nicht durch die subsumtionslogische An-
wendung formaler Theorien auf die Empirie, sondern umgekehrt durch den
Ansatz bei der Empirie und der kreativen Herausarbeitung von objektiven
Sinnzusammenhängen bzw. Strukturgesetzlichkeiten, die dieser selbst inne-
wohnen, gelangen wir zu fruchtbaren Theorien. Dabei spielt der Prozeß der
Abduktion, der allein zu Strukturgeneralisierungen führt, eine entscheidende
Rolle. Glaser und Strauss sind radikale Vertreter einer qualitativen Sozialfor-
schung insofern, als sie der kreativen Interpretation der Sache selbst im Kon-
text der Theoriekonstitution die Prärogative vor dem logisch-deduktiven
Theorientypus einräumen. "Die Formulierung einer fruchtbaren gegenstands-
bezogenen Theorie durch sorgfältige Erforschung eines bestimmten Bereichs
der gesellschaftlichen Realität - im Gegensatz zur Konstruktion einer forma-
len Theorie über einen kategorial konzipierten Gegenstandsbereich (wie bei-
spielsweise Devianz, Statuskongruenz, Bezugsgruppen oder Hierarchie) - ist
eine wesentliche Aufgabe der Soziologie. Eine gegenstandsbezogene Theo-
rie, die sich eng auf Empirie bezieht, kann nach unsrer Überzeugung nicht
dadurch formuliert werden, daß lediglich eine allgemeine formale Theorie
auf einen bestimmten Bereich angewandt wird. Zunächst muß eine bereichs-
spezifische Theorie formuliert werden, um entscheiden zu können, welche
der verschiedenen formalen Theorien möglicherweise anwendbar sind, um

77 Siehe dazu: Schütze, F. (1987): Symbolischer Interaktionismus. In: U. Ammon u.a. (Hg.)
(1987): Soziolinguistik. Berlin, New York, S. 542f. - Glaser, B. G.lStrauss, AL (1968): Ti-
me for dying. Chicago. - Dies. (1972): The patsy and the subcontractor. A study of the ex-
pert-layman relationship. Mill Valley. - Dies. (1974): Interaktion mit Sterbenden. Göttingen.
- Dies. (1978): Theoretical sensitivity. Advances in the methodology of grounded theory.
Mill Valley. - Dies. (1973): The discovery of grounded theory. Strategies for qualitative rese-
arch. Chicago. - Fagerhaugh, S. Y.lStrauss A. L. (1977): Politics of Pain Management: Staff-
Patient Interaction. MenIo Park. - Strauss, A..L. (1968): Spiegel und Masken. Die Suche nach
Identität. Frankfurt. - Ders. (1978): Negotiations. Varieties, Contexts, Processes and Social
Order. San Francisco. - Ders.: Qualitative Analysis in Social Research: Grounded Theory
Methodology. Studienmaterial der Fernuniversität Hagen. Hagen. - Ders. (1978): A social
world perspective. In: Denzin, N. K., ed., Studies in symbolic interaction, Vol. 1, Greenwich,
Conn., S. 119-128. - Ders (1982): Social worlds and legitimation processes. In: Denzin, N.
K., ed., Studies in symbolic interaction, Vol. 4, Greenwich, Conn., S. 171-190. - Ders.
(1984): Social worlds and their segmentation. In: Denzin, N. K., ed., Studies in symbolic in-
teraction, Vol. 5, Greenwich, Conn., S. 123-139. - Strauss, A. L. u.a. (1985): Social organi-
sation of medical work. Chicago/London. - Strauss, A. L. u.a. (1981): Psychiatrie ideologies
and institutions. New Brunswick, N. J./London.

39
eine gegenstandsbezogene Theorie weiterzuentwickeln. Eine gegenstands-
bezogene Theorie kann dann ihrerseits hilfreich sein bei der Formulierung
und Umformulierung der formalen Theorie. Damit wird eine gegenstandsbe-
zogene Theorie zum strategischen Bindeglied zwischen der Formulierung
und Entwicklung einer auf Daten basierenden formalen Theorie. Diese letzte-
re haben wir ,in der Empirie verankerte' (grounded) formale Theorie ge-
nannt, um sie von jenen formalen Theorien abzusetzen, die auf logischer
Spekulation beruhen. ,,78
Der Forscher soll sich nach Maßgabe der Forschungslogik von Gla-
ser/Strauss dem Forschungsgegenstand ohne vorgefertigte Theorien annä-
hern, um ihn so gleichsam zum Sprechen zu bringen. Dabei kristallisieren
sich jedoch relativ rasch theoretische Konzepte heraus, die dann zu differen-
zieren und zu überprüfen sind. In unserem Kontext ist von Interesse, daß in
diesem Prozeß das abduktive Schließen eine entscheidende Rolle spielt.
Auch F. Schütze hat auf die eminente Bedeutung des Schlußmodus der Ab-
duktion im Forschungsansatz von Glaser/Strauss hingewiesen: "Nach Glaser
und Strauss dient der gesamte Arbeitszusammenhang eines qualitativen For-
schungsprojekts der abduktiven Herausarbeitung (Peirce) von sozialen All-
gemeinheiten, die in den Primärmaterialien des untersuchten Interaktionsfel-
des in Gestalt der intentionalen oder auch ungewußten Aufzeigeaktivitäten
der Akteure in Erscheinung treten und die aus den Primärmaterialien vom
Forscher durch fortlaufende Kodierung (bzw. sequenzielle strukturelle Be-
schreibung und analytische Abstraktion) explizit herausgearbeitet und der
weitergehenden theoretischen Analyse zugeführt werden. ,,79
Die Abduktion hat nicht nur eine, sondern mehrere Implikationen. Sie
dient der kreativen Dechiffrierung des jeweiligen Forschungsgegenstandes
und hat selbst Rückwirkung auf die Identität des Forschers. "Die Arbeit der
abduktiven Theorieschöpfung ist ein kreativer Interaktionsprozeß, der nicht
nur die Sinnwelt, die Forschungssicht des Forschers, sondern auch seine
Selbstidentität allmählich verändert. Die Interaktion des Forschers vollzieht
sich sowohl mit den Akteuren und Gegenständen innerhalb des empirischen
Primärmaterials als auch mit den Mitforschern, die in ihrer Kooperation
fortlaufend aufeinander zu kommunikative Interaktionstechniken der Mate-
rialanalyse und Theoriegenerierung anwenden: sie erzählen und beschreiben
einander in den Sitzungen der Forschungsteams die von ihnen selbst beob-
achteten bzw. in Erfahrung gebrachten Vorgänge des untersuchten Inter-
aktionsfeldes ... ,,80 Insofern sind denn auch die Straussschen Rekonstruktio-

78 Glaser, B. G.lStrauss, A.L.: Die Entdeckung gegenstandsbezogener Theorie: Eine Grund-


strategie qualitativer Sozialforschung. In: G. HopflE. Weingarten (Hg.): Qualitative Sozi-
a1forschung. 3. Aufl, Stuttgart 1993, S. 107f. (Orig.: Dies.: Discovery of substantive theo-
ry: a basic strategy underlying qualitative research. In: The American Behavioral Scien-
tist, Bd. 8 (1965), S. 5-12)
79 F. Schütze, aaO, S. 543
80 Ebd.

40
nen der "Gruppenarbeit im Forschungsteam und in der interaktiven Lehre der
Einübung von Forschungskompetenz, die im Rahmen einer Forschungswerk-
statt (,research dass') stattfindet", von besonderem Interesse. BI Glaser/
Strauss favorisieren ganz im Sinne der Peirceschen und Meadschen Tradition
das abduktive bzw. kreative Erschließen von objektiven Strukturzusammen-
hängen aus der Sache selbst. Sowohl an das Peircesche Konzept der Abduk-
tion als auch an die Meadsche Kategorie des ,,1", insofern dieser (auch) eine
kreative Funktion im Kontext der Problemläsung zukommt, ist der Ansatz
von Glaser/Strauss anschlußfähig.
Eine weitere Kategorie, die im qualitativen Forschungsansatz von Gla-
ser/Strauss von Relevanz ist, ist die der Emergenz. Die Kategorie der Emer-
genz spielt in dem o. g. Forschungsansatz eine zentrale Rolle. Primär ist nach
Glaser/Strauss, daß die Soziologie bzw. die Sozialwissenschaften es ständig
mit der Emergenz von Neuem, kurz mit emergierenden Strukturen in ihrem
Forschungsprozeß zu tun haben. Auf diesem Hintergrund stellt sich dann die
methodische Frage: Wie läßt sich die Emergenz von Neuem entdecken und
das Emergente als Emergentes festhalten? "Ältere Strukturen nehmen sehr
häufig neue Eigenschaften an, noch bevor im strengen Sinne exakte For-
schungsvorhaben durchgeführt worden sind. Die Veränderung sozialer Struk-
turen bedeutet für die Soziologie, daß ihre erste Aufgabe in der Erforschung
- und sogar in der buchstäblichen Entdeckung - von entstehenden Strukturen
besteht. "H2 Glaser/Strauss richten ihr Erkenntnisinteresse wesentlich auf die
Entdeckung emergierender Strukturen, auf Strukturen als Transformationsge-
setzlichkeiten. Bedenkt man nun, welch zentrale Bedeutung die Kategorie
der Emergenz in der Meadschen Zeittheorie und Handlungskonzeption hat,
so wird deutlich, daß in dem Ansatz von Glaser/Strauss auch hier Genuines
aus der Tradition Meadschen Denkens enthalten ist. Erinnert sei wiederum an
die Instanz des ,,1", die ja in Meads Konzeption eine zweifache Funktion, d.i.
eine kreativ-spontane und eine reaktiv-spontane hat. Als Einheit gedacht ist
sie die Quelle der Emergenz von Neuem. Das das ,,1" immer nur in dialekti-
scher Beziehung zum Determinierten, zu den alten Sinnstrukturen zu denken
ist, ist evident, daß es gerade das I ist, das zu Strukturtransformationen führt.
Auch hier zeigt sich die Anschlußfähigkeit der Konzeption von Glaserl
Strauss an die Tradition Meadschen Denkens.
In unserem Kontext ist des weiteren das Konzept des "trajectory", das
Strauss wesentlich zuzuschreiben ist, von Interesse. In der Theorie des sym-
bolischen Interaktionismus sind damit Verlaufskurven ("trajectories") des Er-
leidens (chronische Krankheiten, psychiatrische Karrieren, permanentes
Schulversagen etc.) gemeint. Gerade an diesem Konzept läßt sich Wesentli-
ches über den Handlungs- und Sinnbegriff ablesen. Handlung wird dabei
konstitutionslogisch betrachet im Sinne einer sozialen Kooperation bzw. ei-

81 Ebd.
82 Glaser/Strauss: Die Entdeckung gegenstandsbezogener Theorie, a.a.O., S. 107

41
nes sozialen Kooperationszusammenhangs und Sinn wird begriffen als ob-
jektiver latenter. Nicht wird umgekehrt von der individuellen Handlung eines
einsamen Akteurs und dessen subjektiv-intentionaler Sinnrepräsentanz aus-
gegangen. H.-G. Soeffner hat dieses Forschungskonzept von Strauss wie
folgt zutreffend umrissen. "Es beschreibt und analysiert die Einbettung und
Formierung individuellen Handeins und individueller Handlungsplanung sowie
die Formation und Veränderung begrenzter Interaktionsparzellen und -netze
in größere, weder von den Individuen noch von den Gruppen durchschaute
Kooperations- und Organisationszusammenhänge. Es arbeitet mit einem
Sinnkonzept, das die Praktiken, Inhalte und Veränderungen begrenzter, inter-
subjektiver Sinnzumessung innerhalb eines implizit unterstellen oder gewuß-
ten umgreifenden Kooperationszusammenhangs veranschaulicht und inter-
pretiert; und es analysiert zugleich - ganz in der Tradition Meadschen Den-
kens - die Veränderung eines umgreifenden Kooperationszusammenhanges
und der in ihm wirksamen Ideologien durch die nur partiell mit ihm verbun-
denen Individuen oder Gruppen. Das Konzept des "trajectory" bezieht sich
somit analytisch auf unterschiedliche Handlungs-, Wissens- und "Sinn"-Ebe-
nen. Auf der Ebene individuellen Handeins bezieht es sich auf die Relation
zwischen Plan und Deutungs- bzw. Verhaltensmuster, auf der Ebene gruppaler
Kooperation auf die Relationen zwischen Projekten und Arbeitsroutinen, auf
der Ebene kollektiver Mentalität schließlich auf die Relationen zwischen for-
mulierbaren Handlungsnormen und latent geteiltem Wissen. Für eine ganze
Reihe pragmatisch begrenzter Fragestellungen bietet sich durch dieses Konzept
eine praktikable Methodologie an, die in der qualitativen Sozialforschung die
Analyse des Falles oder Feldes mit der kontrollierten Beschreibung des metho-
dischen Vorgehens verbindet. ,,83 Das Strausssche Konzept des "trajectory" ist
im Sinne des Meadschen Handlungs- und Sinnbegriffs konzipiert.

3.1.4 Kritik

Zunächst einmal ist die explizite Herausarbeitung von Arbeitsschritten des


Forschungsablaufs durch GlaserlStrauss insofern positiv zu bewerten, als da-
durch die Methodologie und Methode des symbolischen Interaktionismus
wichtige Präzisierungen erfährt. Erinnert sei nur an die Arbeitsschritte der
Kodierung der Primärmaterialien und der Gewinnung von analytischen Kate-
gorien aus diesen sowie an den kontrastiven Vergleich. In unserem Zusam-
menhang sind nun die Kategorien Abduktion, Emergenz, Sinn und Handlung
von besonderer Relevanz. Eine Nachprüfung der Applikation dieser Katego-
rien in methodologischer und forschungspraktischer Hinsicht ergibt, daß die-

83 Soeffner, H.-G.: Anmerkungen zu gemeinsamen Standards standardisierter und nicht-


standardisierter Verfahren in der Sozialforschung. In: Ders.: Auslegung des Alltags - Der
Alltag der Auslegung, a.a.O., S. 63

42
se im Sinne von Mead (und, was die Abduktion betrifft, auch von Peirce)
verwendet werden. Insofern ist in diesem Ansatz mehr Genuines des pragma-
tistisch-naturalistischen Denkens Meads enthalten, als dies zum Ausdruck
kommt. Die Kritik, daß der Ansatz von Glaser/Strauss wegen des Konzeptes
formaler Theorien "den· Denktraditionen der neo-positivistischen Wissen-
schaftslehre relativ nahe" steht, übersieht, daß in diesem Ansatz genuine in-
teraktionistische und kreative Elemente enthalten sind, die als Begrün-
dungspotential für eine rekonstruktive Sozialforschung wichtig sind.!14 Zu
kritisieren ist jedoch aus unserer Perspektive, daß die methodologischen Be-
gründungen im Ansatz von Glaser/Strauss unzureichend bleiben.

3.2 Objektive Hermeneutik (U. Oevermann)

3.2.1 Darstellung

Versuchen wir das Konzept der objektiven Hermeneutik von U. Oevermann


kurz nachzuzeichnen. Dies kann hier nur auf unser Erkenntnisinteresse bezo-
gen geschehen.
Innerhalb der objektiven Hermeneutik ist zu unterscheiden zwischen der
Methodologie bzw. Konstitutionstheorie und der Methode bzw. Kunstlehre.
Um die Methode bzw. Kunstlehre anzuwenden, bedarf es nicht notwendiger-
weise der Kenntnis der Methodologie bzw. Konstitutionstheorie. Die Konsti-
tutionstheorie bzw. Methodologie der objektiven Hermeneutik basiert auf der
Folie verschiedener Konzeptionen, die selbst einer spezifischen strukturalen
Rekonstruktion unterzogen wurden und werden. Zu diesen gehören der
pragmatistisch-naturalistische Ansatz George Herbert Meads, der interaktive
Konstruktivismus J. Piagets, der Pragmatismus von Ch. S. Peirce, die Psy-
choanalyse S. Freuds, der Strukturalismus Cl. Levi-Strauss', die Falsifikations-
und Drei-Welten-Theorie K. R. Poppers, die Grarnmatiktheorie N. Chomskys
und die Sprechakttheorie J. R. Searles und J. Austins. Eine durchaus nicht
ephemere Rolle spielen auch dialektisch-hermeneutische Denkfiguren Tb. W.
Adornos in der Oevermannschen Konzeption. Sowohl die Rekonstruktion als
auch die Integration der verschiedenen Ansätze ist bisher nur partiell geleistet
und wird auch noch, nicht zuletzt wegen der Komplexität des Vorhabens,
einige Zeit in Anspruch nehmen. Gleichwohl zeigen sich erhebliche Ausdif-
ferenzierungen seit den Anfängen der objektiven Hermeneutik, die ja zu-
rückzudatieren sind auf Forschungen in den 70er Jahren im Berliner Max-
Planck-Institut für Bildungsforschung, an denen neben U. Oevermann L.
Krappmann und K. Kreppner beteiligt waren. Diese Ausdifferenzierungen
betreffen sowohl die strukturale Rekonstruktion von Grundlagentheorien als

84 Siehe dazu: Hopf, G./Weingarten, E.: Qualitative Sozialforschung, a.a.O., S. 32

43
auch Ansätze zur Synthese dieser Theorien. Als Ziel der Integration der ver-
schiedenen Grundlagentheorien wird eine Konstitutionstheorie als Einheit
von Strukturalismus, Dialektik und Fallibilismus angestrebt. 85
Ausdifferenzierungen gibt es auch im Bereich der Methode bzw. Kunst-
lehre der objektiven Hermeneutik. Verwiesen sei nur auf die ausgearbeitete
Feinanalyse der Interpretation, die Verfeinerung des Sequentialitätsprinzips
qua Differenzierung von Parametern und die verstärkten Bemühungen, Ernst
zu machen mit dem Falsifikationsprinzip durch ständige Widerlegungsversu-
che. Insofern scheint es nun auch angemessener zu sein, nicht mehr nur von
einem Projekt, sondern von Grundzügen eines Paradigmas zu sprechen.

- KonstitutionstheorielMethodologie

Zentraler Gegenstand der objektiven Hermeneutik sind objektive Sinnstruk-


turen sozialen Handeins. Objektive Hermeneutik ist an deren Genese, Struk-
tur und Rekonstruktion interessiert. Insofern verfährt sie diachronisch, syn-
chronisch und rekonstruktionslogisch. Genese und Struktur der objektiven
Sinnstrukturen sind nur zu begreifen, wenn man Natur- und Gattungsge-
schichte und den Übergang von Natur zu Kultur angemessen zur Explikation
bringt; dies kann hier nicht geleistet, sondern nur kurz angedeutet werden. Im
Übergang von Natur zu Kultur ist die Substitution einer instinktregulierten
durch eine mit signifikanten Symbolen aufgeladenen Kommunikation, einer
Biogrammatik durch eine Soziogrammatik von entscheidender Bedetuung.
Deshalb ist auch für die Konstitutionstheorie der objektiven Hermeneutik die
Frage wichtig, wo im Übergang von Natur zu Kultur erstmals Regeln auftau-
chen. Es sei nur darauf verwiesen, daß dies dort der Fall ist, wo die Verhält-
nisse zwischen den Geschlechtern nicht mehr durch natürliche Paarung, son-
dern durch Heiratsregeln geregelt werden müssen (Inzesttabu): Es sind die im
Übergang von Natur zu Kultur sich konstituierenden Regeln, die hier von be-
sonderem Interesse sind, wobei die Heiratsregeln nur einen Typ innerhalb ei-
nes Spektrums emergierender Regeltypen darstellen. Es sind u.a. diese Regel-
typen, die hinter der Konstitution objektiver Sinnstrukturen stehen. Auch hier
kann nicht explizit auf die verschiedenen Regeln, die zum Teil universal und
invariant und andererseits historisch und variabel sind, eingegangen werden.
Hervorgehoben seien nur zwei Aspekte. Objektive Hermeneutik sieht die
Grundregel der Sozialität in der Gestalt der zweckfrei sich reproduzierenden
Reziprozität. In Anlehnung an M. Mauss, Cl. Levi-Strauss und G. H. Mead
wird von der Regel als Regel bzw. der Grundregel von Sozialität geredet. Da-

85 Siehe dazu etwa: Zehentreiter,f. (1990): Technokratisierung der Identitätsfonnation und


Resistenz der Lebenspraxis - die Methode der strukturalen Henneneutik als Paradigma
soziologischer Analyse der Gegenwartskultur. Diss. FB Gesellschaftswissenschaften. Jo-
hann Wolfgang Goethe-Universität, FrankfurtlM. Im folgenden beziehe ich mich u.a. auf
meine Studie "Eine Theorie pädagogischer Professionalität. Weinheim 1989".

44
mit hat die objektive Hermeneutik eine fundamental-anthropologische Ebene
betreten. Ausgehend von der Grundregel der Sozialität als zweckfrei sich re-
produzierender Reziprozität ist von einem ganzen Geflecht von die objektive
Sinnstruktur generierenden Regeltypen auszugehen. Zu diesen zählen u.a. die
universellen Regeln der Grammatik, Pragmatik, Logik und Moral, die uni-
versellen Normen der Ethik, historisch-gesellschaftlich und lebensweltlich
spezifische Normen. Es handelt sich um eine hierarchisch geordnete Archi-
tektonik von relativ autonomen und dialektisch sich einander bedingenden
Strukturierungsebenen.
Wir haben nun die Prämissen zusammen, um zu zeigen, wie sich in einer
aktuellen Interaktion objektive Sinnstrukturen konstituieren. Oevermann
stützt sich in diesem Kontext wesentlich auf den Meadschen Sinnbegriff.
Demzufolge entsteht Sinn im sozialen Akt (social act). Er ist objektiv be-
stimmt und nicht subjektiv. "Sinn ist daher die Entwicklung einer objektiv
gegebenen Relation zwischen bestimmten Phasen des sozialen Aktes; er ist
nicht ein psychisches Anhängsel zu diesem Akt und keine ,Idee' im traditio-
nellen Sinne. Die Geste eines Organismus, die Resultante des sozialen Aktes,
in der die Geste eine frühe Phase darstellt, und die Reaktion eines anderen
Organismus auf sie, das sind die relevanten Faktoren in einer dreifachen oder
dreiseitigen Relation zwischen Geste und erstem Organismus, Geste und
zweitem Organismus sowie Geste und anschließender Phase des jeweiligen
sozialen Aktes; diese dreiseitige Relation ist die Grundsubstanz von Sinn
oder zumindest die Substanz, aus der sich Sinn entwickelt. Die Geste steht
für eine bestimmte Resultante des sozialen Aktes, eine Resultante, auf die es
eine definitive Reaktion seitens der betroffenen Individuen gibt; Sinn leitet
sich somit aus der Reaktion ab."s6
Die Kategorie der objektiven latenten Sinnstruktur läßt sich dann wie
folgt verdeutlichen. Stellen wir uns eine Kommunikation von zwei Indivi-
duen A und B mittels signifikanter Symbole vor, so können wir bezüglich der
Konstitution einer objektiven Sinnstruktur im sozialen Akt folgendermaßen
argumentieren. Die von Individuum A gesetzte Geste führt zu einer Reaktion
von Individuum B auf diese. Damit kommt zunächst einmal eine dyadische
Beziehung zustande. Aus der dyadischen Relation emergiert aber gleichsam
ein Drittes, d.i. die objektive latente Sinnstruktur. Struktural betrachtet er-
folgt die Konstitution von Sinn in der triadischen Relation des sozialen Ak-
tes. Diese objektive Sinnstruktur ist immer schon, da auf der Folie generati-
ver Regeln und versprachlichter Interaktion erzeugt, mit objektiver Rationali-
tät versehen. Da diese objektive Sinnstruktur in der unmittelbaren Gegenwart
erzeugt wird, ist sie latent, d.h. die Individuen A und B können in der aktuel-
len Gegenwart noch gar nicht über dieses ihr interaktives Produkt mental ver-
fügen. Dies ist erst möglich, wenn die Gegenwart zur Vergangenheit gewor-
den ist, d.i. in der Rekonstruktion. Für die Oevermannsche Kategorie des

86 MSS, S. 76; (GIG, S. 115f.)

45
Sinns sind also Objektivität und Latenz konstitutiv. Insofern kann er denn
auch von einer objektiven, latenten Sinnstruktur oder präziser von einer in-
teraktiv emergenten, objektiv latenten Sinnstruktur reden.
Mit diesen Ausführungen wird erst die folgende Bestimmung verständ-
lich: "Vielmehr gehen wir in einer spezifischen Auslegung der Bedeutungs-
theorie von Mead von einem Begriff der Bedeutung als interaktiv emergen-
ter, objektiver sozialer Struktur aus, die ihrerseits als Voraussetzung für die
Konstitution von Intentionalität gelten muß. ,,87
Damit sind wir an der fundamentalen kategorialen Differenz zwischen
objektiv latentem Sinn und subjektiv gemeintem Sinn angelangt. Konsti-
tutionslogisch betrachtet ist die in der triadischen Relation des sozialen Aktes
erzeugte objektive Sinnstruktur Präsupposition für die Konstitution von In-
tentionalität und damit für den subjektiv gemeinten Sinn. Oder anders formu-
liert: Daß es subjektiven Sinn gibt, setzt immer schon die Existenz objektiven
Sinns voraus. Diese konstitutionslogische ist nun um die dynamische Be-
trachtungsweise zu ergänzen. Dynamisch betrachtet sind für die Ingangset-
zung einer Interaktion zwar subjektive Intentionen, Motive, Dispositionen
und Erwartungen anzusetzen, doch läßt die einmal inganggesetzte Interaktion
in ihrem Bewegungsablauf eine eigenständige Realitätsebene, d.i. eine objek-
tiv latente Sinnstruktur, emergieren, die sich nicht auf das Intendierte und Er-
wartete reduzieren läßt. Oevermann argumentiert dabei wie folgt: "Die Moti-
ve und Erwartungen der Handelnden stellen keine vollständige innere Vor-
wegnahme und Antizipation des so motivierten Handeins dar. Sie sind zwar
dynamisch für das Ingangsetzen der Interaktionsstrukturen notwendige Be-
dingungen, und sie sind dynamisch gesehen an der Selektivität eines Interak-
tionssystems beteiligt, aber diese Selektivität läßt eine Struktur emergieren,
die ihrerseits sich ... verselbständigt und reproduziert. ,,88
Die primäre Realitätsebene der objektiven Hermeneutik ist die der ob-
jektiven latenten Sinnstruktur; die sekundäre Realitätsebene ist die des sub-
jektiv gemeinten Sinns. Sekundär ist diese Realitätsebene genau deshalb,
weil sie wesentlich durch Rekonstruktion der objektiven latenten Sinnstruk-
tur entsteht. Gibt es nun eine Zusammenführung dieser beiden divergieren-
den Realitätsebenen, oder haben wir es mit einer unautbebbaren Differenz zu
tun? "Die vollständige Koinzidenz der intentionalen Repräsentanz mit der
latenten Sinnstruktur ist prinzipiell möglich, aber sie stellt den idealen Grenz-
fall der vollständig aufgeklärten Kommunikation in der Einstellung der
Selbstreflexion dar: Die handelnden Subjekte haben sich durch begleitende
Rekonstruktion ihrer eigenen Interaktionstexte des vollständigen Sinns ihrer
Handlungen vergewissert. ,,89

87 Oevennann, U. u.a. (1979): Die Methodologie einer ,objektiven Henneneutik' und ihre
allgemeine forschungslogische Bedeutung in den Sozialwissenschaften. In: H.-G. Soeffner
(Hg.); InterpretativeVerfahren in den Sozial- und Textwissenschaften, Stuttgart; S. 380
88 Oevennann, U., Die Methodologie einer objektiven Henneneutik, a.a.O., S. 424
89 Oevennann, U., a.a.O. S. 380

46
Wir gehen nun noch kurz auf den Textbegriff der objektiven Hermeneu-
tik ein, bevor die Methode behandelt wird. Text ist in diesem Konzept nicht
identisch mit Text im alltagssprachlichen oder im geisteswissenschaftlichen
bzw. literaturwissenschaftlichen Sinn. Ein Film, ein Denkmal, eine Land-
schaft oder eine konkrete soziale Interaktion sind nach Maßgabe dieses Kon-
zepts als eine je textförmige soziale Wirklichkeit aufzufassen. Der Begriff
des Textes wird gegenüber dem herkömmlichen Gebrauch erheblich ausge-
weitet. Alles, was in der menschlichen Lebenswelt Sinn generiert, kann als
Text betrachtet werden. Insofern wird denn auch von der Textförmigkeit der
sozialen Wirklichkeit geredet. "Materiales Substrat oder materialer Träger
latenter Sinnstrukturen sind die Texte, die wir jeweils als Protokolle konkre-
ter sozialer Abläufe zur Verfügung haben und gelten lassen können. ,,90 Die
textförmige soziale Wirklichkeit ist also zu protokollieren, soll sie Gegen-
stand von Wissenschaft werden. Die unmittelbare Praxis selbst ist nur qua
Protokolle methodisch kontrolliert zu erfassen. Insofern gilt denn auch in der
objektiven Hermeneutik das folgende Diktum: "Konkreter Gegenstand der
Verfahren der ,objektiven Hermeneutik' sind Protokolle von realen, symbo-
lisch vermittelten sozialen Handlungen oder Interaktionen, seien es ver-
schriftete, akustische, visuelle, in verschiedenen Medien kombinierte oder
anders archivierbare Fixierungen.,,91 Auf die Form der technischen Fixierung
kommt es nicht an. Schriftliche, akustische, visuelle oder andere Fixierungen
realer sozialer Handlungen bzw. Interaktionen sind allesamt zugelassen. Mit
diesen Darstellungen sind wir schon übergegangen in den Bereich der Me-
thode bzw. Kunstlehre der objektiven Hermeneutik.

-Methode

Wir beschränken uns auf die Darstellung einiger wichtiger Grundzüge der
objektiv hermeneutischen Methode. Diese richtet sich primär darauf, die ob-
jektive latente Sinnstruktur sozialer Handlungen zu dechiffrieren. Dabei ver-
fährt sie nicht subsumtions-, sondern rekonstruktionslogisch. Das heißt, sie
trägt nicht von außen Begriffe und Schemata an die zu untersuchende Sache
heran, sondern versucht diese gleichsam rekonstruktiv hermeneutisch aufzu-
schließen. Sie beginnt daher mit der Frage nach dem Sinn eines in welcher
Form auch immer bereits vorliegenden Objekts bzw. Interaktionstextes.
Damit ist das Verstehen des objektiven Sinns bzw. der objektiven Sinnstruk-
tur eines Interaktionstextes gemeint. Wie vollzieht sich nun dieses Verstehen
konkret? Oevermann hat ein Verfahren der Feinanalyse ausgearbeitet, das
sich auf 9 Interpretationsebenen bezieht. Dieses Verfahren soll dem Interpre-
ten helfen, zur entscheidenden Ebene des objektiven Sinns und zur Fallstruk-

90 Oevennann, U., Kontroversen über sinnverstehende Soziologie. In: St. Aufenanger/M.


Lenssen (Hg.), Handlung und Sinnstruktur. München 1986, S. 45
91 Oevermann, U., Die Methodologie einer objektiven Henneneutik, a.a.O., S. 378

47
turgesetzlichkeit vorzustoßen. Wir gehen hier nicht darauf ein, sondern ver-
suchen die bei den elementaren Schritte im objektiv hermeneutischen Verste-
hensprozeß deutlich zu machen. In einem ersten Schritt versucht die objektiv
hermeneutisch verfahrende Kunstlehre zu verstehen, welche Bedeutung oder
welcher Sinn dem von ihr zu analysierenden Phänomen zukommt. Dazu
werden intuitiv Geschichten entworfen, die verdeutlichen, in welchen Situa-
tionen die zu untersuchende Handlung hätte sinnvoll sein können. Unter Aus-
blendung des konkret vorliegenden Kontextwissens über den Fall sind mög-
lichst viele, gerade auch und besonders die unwahrscheinlichen Lesarten zu
explizieren. Dieser extensiven Konstruktion von Kontextbedingungen, die
den vorliegenden Interaktionstext pragmatisch sinnvoll erscheinen lassen,
folgt der zweite Schritt, der im Vergleich jener intuitiv gedankenexperimen-
tell gewonnenen Lesarten mit dem tatsächlich vorliegenden Kontext in der
konkreten Situation besteht; d.h. es wird geprüft, ob für die konkrete Hand-
lung eine dieser möglichen Kontextbedingungen zutrifft. Es kann dann suk-
zessive eine Selektion von zuvor entworfenen Lesarten vorgenommen und
qua Abduktion eine erste Fallstrukturhypothese aufgestellt werden, die Falsi-
fikationsversuchen ausgesetzt wird und bei Bestätigung (vorerst) beibehalten
bzw. bei Widerlegung verworfen wird.
Die Frage nach Objektivität, Reliabilität und Validität ist als gesondertes
und abgetrenntes Problem, wie etwa im Begründungszusammenhang quanti-
tativer Sozialforschung, in der objektiven Hermeneutik nicht mehr ausfindig
zu machen. Die Gültigkeit läßt sich nach dem Selbstverständnis objektiver
Hermeneutik "immer nur konkret an den Interaktionstexten selbst beantwor-
ten, indem man die Plausibilität der Interpretationen an den Belegstellen
nachweist oder widerlegt.,,92 Die Überprüfung der Gültigkeit der jeweiligen
Interpretation erfolgt in der Sprache des Falles. Das Problem der Gültigkeit
taucht in der objektiven Hermeneutik unter forschungslogischem Aspekt also
nicht mehr wie in der klassischen empirischen Sozialforschung auf: Es ist in
dieser, in der Sprache des Falles und in der Konkretion des Interaktions-
textes, gebunden an die Inanspruchnahme des intuitiven Regelwissens. Da
wir das uns zur Verfügung stehende Regelwissen immer schon intuitiv zur
Eruierung von möglichen Lesarten eines Interaktionstextes einsetzen, und
dieses nicht durch die theoretische Explikation von Kompetenztheorien etc.
abgesichert zu werden braucht, sind lediglich Vorkehrungen zur Vermeidung
der Verzerrung der objektiv latenten Sinnstruktur zu treffen. Durch solche
Vorkehrungen sind beispielsweise Kinder, Neurotiker und Psychotiker als
auch Interpreten, die "mit der Lebenswelt", die sie untersuchen sollen, nicht
genügend "vertraut" sind, ausgeschlossen. 93
Die Zufälligkeit der Deutungen der Interpreten versucht die objektiv
hermeneutisch verfahrende Wissenschaft durch das Postulat der Interpreten-

92 Oevennann, U., a.a.O., S. 392


93 Ebd.

48
gemeinschaft zu korrigieren: Gemäß diesem müssen sämtliche Deutungen
"in einer Gruppe ständig kontrolliert werden", wobei die einzelnen Interpre-
ten der Maxime unterstehen, ihre Interpretationen "geradezu streitsüchtig ...
möglichst lange mit Argumenten gegen Einwände aufrechtzuerhalten, damit
sie, wenn sie scheitern, möglichst informationsreich scheitern".94
Erwähnt sei noch die zentrale Bedeutung des Sequentialitätsprinzips.
Dieses meint eine lineare Vorgehensweise beim Interpretieren, nach der "In-
terakt für Interakt" die Struktur des Falles zu rekonstruieren ist, wobei die
strikte Einhaltung der Maxime gilt, "daß keine Information aus und Beob"
achtungen an späteren Interakten zur Interpretation eines vorausgehenden In-
terakts benutzt werden" darf. 95 Die zu Beginn einer Interaktionssequenz ex-
plizierten Möglichkeiten werden im weiteren Vorgehen qua intuitivem Ange-
messenheitsurteil mit den Erfüllungsbedingungen des Interakts verglichen
und je nach Ausgang des Vergleichs eliminiert oder beibehalten: "In dieser
sequentiell in Erscheinung tretenden Selektivität des Falles, die seine Struk-
tur indiziert, werden Lesarten, die am Anfang aufgrund des äußeren Kontex-
tes für einen Interakt noch gelten konnten, nachträglich ausgeschlossen, die
ohne die bis dahin manifest gewordene Selektivität noch zuerkannt werden
müßten.,,96 Die Reproduktion der Struktur eines Falles erfolgt durch das suk-
zessive Ausschließen von zu Beginn der Interaktionssequenz noch objektiv
gegebenen Bedeutungsmöglichkeiten. Im linearen Fortschreiten des Interpre-
tationsprozesses von Interakt zu Interakt konstituiert sich der "innere Kon-
text", der im Unterschied zu den "äußeren Kontextbedingungen", dem Fall-
spezifischen, als "Resultat der Interpretation des Textes der Szene" anzu-
sehen und auch nur von diesem her "nachweisbar" ist. 97

- Zeittheorie

Im Rahmen der Methodologie der objektiven Hermeneutik nimmt die Mead-


sche Zeittheorie eine besondere Stellung ein. Im Vordergrund steht dabei das
zeittheoretische Modell der Dialektik von Emergenz und Determination im
Handlungsakt. Was ist mit diesem Modell gemeint? Wie kann es kurz, ohne auf
die weitreichenden Prämissen und Implikationen einzugehen, verdeutlicht
werden?
Bezeichnen wir das immer schon Bekannte als Determination und das
aus der je konkreten Interaktion resultierende Unbekannte als Emergenz und
beziehen beide Kategorien auf den zeitlichen Ablauf einer Handlung, d.i. auf
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, dann können wir sagen: In der un-

94 Oevennann, U., a.a.O., S. 393. Siehe zum Problem der Objektivität auch die folgende
Studie, auf die ich mich hier u.a. stütze: Wagner, H.-J. (1994): Wissenschaft und Lebens-
praxis, Frankfurt/M.; S. 63 ff.
95 Oevennann, U., a.a.O., S. 414
96 Oevennann, U., a.a.O., S. 421
97 Oevennann, U., a.a.O., S. 422

49
mittelbaren, gegenwärtigen Interaktion emergiert Neues, Unvorhergesehenes,
das erst im nachhinein erkannt werden kann. Erst wenn die Handlung abge-
schlossen ist, ist eine Rekonstruktion möglich. Objektive Hermeneutik ver-
sucht daher gleichsam in einem Akt rekonstruierender Erkenntnis Emergenz
in Determination zu überführen. In dem Maße, in dem es gelingt, Emergenz
in Determination zu überführen, wird das Vergangene in einem tieferen Sin-
ne begriffen und das Zukünftige in einem erweiterten Sinne rational anti-
zipierbar. "Das Neue ist vielmehr jenes Emergente, dessen Rekonstruktion
zugleich ... ein Umschreiben der bisherigen Vergangenheitsrekonstruktion
notwendig macht; in jener Hinsicht nämlich, in der die bisher bekannte Fall-
strukturgesetzlichkeit sich faktisch verändert hat oder verändert verstanden
werden muß, was beides gleichermaßen über die bis dahin verstandene und
angeeignete Motiviertheit einer Praxis hinausgeht. Jede Emergenz von Neu-
em macht also, soll sie als Neues festgehalten werden, notwendig ein Um-
schreiben der Vergangenheit erforderlich .... ".98 U. Oevermann ist aus-
führlich auf diese Dialektik von Emergenz und Determination im Anschluß
an George Herbert Mead eingegangen. Eine der wichtigsten Implikationen
dieses Modells - neben der Verknüpfung von Handlungs-, Sinn- und Zeit-
theorie - besteht in dem Festhalten des Neuen als Neues. "Das erste Problem
wird nun immer sein, das Emergente als Emergentes überhaupt zu identifi-
zieren und zu explizieren. Genau dafür liefert die objektive Hermeneutik mit
ihrer Sequenzanalyse ein wirksames methodisches Instrumentarium. Sie re-
konstruiert die Emergenz als sequentialisierten Prozeß und identifiziert sie als
Produktion des Neuen, indem eine Veränderung gegenüber einer zuvor re-
konstruierten Reproduktionsgesetzlichkeit festgestellt wird. ,,99

- Subjektivität und Identität

Werfen wir einen Blick auf die Konzeptualisierung von Subjektivität und
Identität in der objektiven Hermeneutik. Auch hier nimmt diese ihren Aus-
gang von einer Interpretation der Meadschen Kategorie der Spontaneitätsin-
stanz des "I" und setzt sie zur Dialektik von Emergenz und Determination im
Handlungsakt in Beziehung. "Im Grunde geht es Mead darum, einen ange-
messenen Begriff für Subjektivität zu entwickeln, die für ihn von vornherein
nicht mit der Kategorie des Selbst oder von Identität in eins fallen kann. ,,100
Und weiter: "Subjektivität wird so grundbegrifflich gewonnen gerade nicht
innerhalb der Reflexion des Bewußtseins auf sich selbst, sondern als funktio-
nales Moment innerhalb der objektiven Gegebenheit sinnstrukturierten Han-

98 Oevennann, U. (1991): Genetischer Strukturalismus und das sozialwissenschaftliche Pro-


blem der Erklärung der Entstehung des Neuen. In: SI. MülIer-Doohm (Hg.), Jenseits der
Utopie. FrankfurtlM. ; S. 300f.
99 Oevennann, U., a.a.O., S. 274
100 Oevennann, U., a.a.O., S. 308

50
delns. Meads ganze Argumentation ist eine einzige Abrechnung mit dem
Empirismus, dem Behaviorismus, der subsumtionslogischen Methodologie
und der subjektivistischen Binnenperspektivität von Handlungstheorien. ,,101
Subjektivität wird von Oevermann im Anschluß an Mead als unmittel-
bare Erfahrung bestimmt, die methodisch nur qua Protokolle erreichbar ist.
Präzise werden die verschiedenen Dimensionen der Unmittelbarkeit von Er-
fahrung unterschieden, und zwar die Erfahrung des Problems selbst, die krea-
tiv-spontane Produktion von Neuem und der praktische Handlungsvollzug
bzw. die autonome Entscheidung. Ebenso wird der Zusammenhang von Subc
jektivität und Zeit herausgearbeitet. Subjektivität und Identität werden analy-
tisch voneinander geschieden. Identität ist Ergebnis von Rekonstruktionen
unmittelbarer, nicht-identischer Erfahrungen. Oevermann gelangt denn auch
auf der Folie der Meadschen Konzeption zu dem folgenden Modell: "Diese
Überlegungen führen zu einem Modell, in dem, bevor man zur Realität der je
subjektiv intendierten Bildungen, der Selbstbilder und intentional repräsen-
tierten Handlungspläne vorstößt, zwei objektive Realitäten als konstitutions-
theoretisch vorgelagert anzunehmen sind: einerseits die generativen Regeln,
die im Sinne algorithmischer Prozeduren die Möglichkeiten und Optionen
entwerfen, unter denen andererseits im Sinne einer rekonstruierbaren Fall-
strukturgesetzlichkeit wie selbstverständlich die als Regelmäßigkeit oder Ge-
setzmäßigkeit angebbaren immergleichen Auswahlen getroffen werden, die
die unverwechselbare Identität eines je konkreten Falles objektiv ausmachen.
Diese Fallstrukturiertheit ist ihrerseits Gegenstand einer subjektiven, prakti-
schen Rekonstruktion, deren Ergebnis dann der subjektive Identitätsentwurf
ist, wovon das Selbstbild eine entscheidende Dimension darstellt.,,102 Unter-
schieden wird Subjektivität von objektiver Identität und subjektiver Identität.

3.2.2 Fallbeispiel

Im folgenden soll am Beispiel der Interpretation einer kurzen Sequenz das


methodische Vorgehen der objektiven Hermeneutik exemplarisch dargestellt
werden. Da die Darstellungsproblematik bis heute nicht gelöst ist und etliche
Beispiele eher verwirren als einen Nachvollzug des konkreten Verfahrens er-
lauben, greifen wir hier auf die Studie von G. Burkhart zurück, die u. E. am
ehesten zur Verdeutlichung dienen kann.
Bei dieser Arbeit aus dem Bereich der Bildungsforschung handelt es sich
um eine von U. Oevermann betreute Dissertation mit dem Titel: "Struktur-

101 Oevennann, U., a.a.O., S. 310


102 Oevennann, U. (1993): Die objektive Henneneutik als unverzichtbare methodologische
Grundlage für die Analyse von Subjektivität. In: Th. Jung u. St. Müller-Doohm (Hg.),
Wirklichkeit im Deutungsprozeß. FrankfurtlM.; S. 183

51
probleme universitärer Sozialisation - Eine Fallrekonstruktion am Beispiel
des Medizinstudiums".103 Der Autor interpretiert auf den folgenden Ebenen.

Ebene 0: Explikation des aktueIIen Zustandes des Interaktionssystems unmittelbar


vor dem zu interpretierenden Interakt.
Ebene 1: Vermutete Intention des Sprechers durch Paraphrasierung seiner Äuße-
rung und durch Explikation von Präsuppositionen.
Ebene 2: Bedeutungsmöglichkeiten, objektive Motivierungen, Explikation mögli-
cher Sinnstrukturen, objektive Konsequenzen, mögliche Kontextuierun-
gen.
Ebene 3: Erscheint die vorliegende Äußerung im tatsächlich vorliegenden Kontext
als normal, oder überrascht uns dieser Kontext, weil er auf der Ebene in
der Liste erwartbarer Kontexte gar nicht aufgetaucht ist? Mit Hilfe des
Kontextwissens können nun einige der vorher aufgezählten Be-
deutungsmöglichkeiten eliminiert werden, d.h. die fal1spezifische Struk-
tur kann eingegrenzt werden.
Ebene 4: Nun sol1 unter Einbeziehung der bereits interpretierten Interakte eine re-
sümierende Charakterisierung der Grundstruktur erfolgen, jetzt unter
Einbeziehung al1er dem Interpreten zur Verfügung stehenden Informatio-
nen über den Fal1. Hier zeichnen sich Strukturen ab, die den FaII als Gan-
zes charakterisieren.
Ebene 5: Generalisierung des bislang Interpretierten zu expliziten theoretischen
Annahmen.

Im folgendem wird an zwei Interakten aus einem chirurgischen Praktikum im


dritten Semester des Medizinstudiums das konkrete Vorgehen erläutert. 104
"Zum Zeitpunkt des Beginns des Textausschnitts - kurz nach Beginn der
Vorlesung - ist der kleine Hörsaal noch nicht gefüllt; immer wieder geht die
Tür auf, kommen einzelne Studenten oder ganze Gruppen herein, bis schließ-
lich etwa 50 Teilnehmer anwesend sind. Der Dozent steht frei im Raum vor
den Studenten, trägt einen weißen Kittel, hält ein Buch in der Hand. Andere
Requisiten (Vorlesungsmanuskript, Schautafeln, Demonstrationsobjekte etc.)
hat er nicht bei sich." Es folgen nun die folgenden Äußerungen des Dozen-
ten:
1. " ... dann steht hier drin: sekundäre Komplikationen bei -
2. für die, die später gekommen sind:"
,,1. Interakt 10 1: " ... dann steht hier drin: sekundäre Komplikationen bei -
(0) Da der vorhergegangene Teil der Rede (der Anfang der Rede; ca. 1-2
min.) nicht mehr verfügbar ist, muß man rückwärts schließen: was
könnte er bis jetzt gesagt haben? Die Vermutung darüber ändert sich mit

103 Burkhart, G. (1980): Strukturprobleme universitärer Sozialisation - Eine FaIIrekonstrukti-


on am Beispiel des Medizinstudiums. Diss. FE GeseIIschaftswisenschaften. Johann Wolf-
gang Goethe-Universität. Frankfurt a. M.; S. 172 ff.
104 Siehe dazu: Burkhart, a.a.O., S. 178 ff. Wir übernehmen im folgenden die Interpretation
der ersten Interakte.

52
jeder angenommenen Bedeutungsmöglichkeit für (101). Umgekehrt kann
man von jeder unterstellten Möglichkeit des Redebeginns auf die mögli-
che Fortsetzung der Rede - an Stelle von (101) - schließen, bzw. be-
stimmte Möglichkeiten ausschließen. Von unendlich vielen möglichen
Redeanfängen sollen hier drei in Betracht gezogen werden, die ein gro-
ßes Maß an Plausibilität beanspruchen können.

a) Er könnte gesagt haben: "Wir wollen heute über das Thema P sprechen.
Ich habe hier diesen Text Q mitgebracht. Da steht hier unter Abschnitt R
zunächst der Satz S. Dann steht hier drin: sekundäre Komplikationen bei
-" (Aufzählung)
b) Er könnte auch zuerst den mitgebrachten Text erwähnt und dann über ein
Thema gesprochen haben, um das es in der Stunde gehen soll. Er hat also
z. B. den Text in der Hand, ohne sich aber bei seiner Rede unmittelbar
vor (101) darauf zu beziehen. Er könnte z. B. am Anfang ein Stichwort
aus dem Text zitiert und darüber jetzt frei gesprochen haben. Nun wirft
er den Blick wieder auf den Text, kommt darauf zurück und sagt: " ... dann
steht hier drin ... "
c) Er könnte dasselbe Thema, zu dem er den Text heranzieht, von einer an-
deren Quelle her (anderer Text, persönliche Erfahrungen) etwas sagen
und zur Kontrastierung dann auf den Text vor sich verweisen, weil dort
dieses Thema vielleicht anders dargestellt ist. Er könnte dann etwa ge-
sagt haben: "Wir wissen aus unserer klinischen Erfahrung, daß XY der
Fall ist. Wenn wir nun diesen Text hier betrachten, so finden wir eine
andere Darstellung. Wenn man also weiß, daß XY der Fall ist und man
greift zu diesem Text und dann steht hier drin ... "

(1) Doz. setzt seine wie auch immer an gefangene Rede fort, indem er eine
Ankündigung macht, bei der er sich auf etwas bezieht, worauf er sichtbar und
eindeutig ("hier drin") verweist (dessen Identität allerdings noch nicht be-
kannt sein muß). Er kündigt ein Zitat oder eine Paraphrase aus diesem Be-
zugsobjekt (offenbar einem Text) an und beginnt zu zitieren bzw. zu para-
phrasieren. Er bricht den dabei an gefangenen Satz mit einer Präposition ab,
so daß er unvollständig, als Satz grammatisch inkorrekt bleibt.

(2) "dann" ist zunächst ein Indikator für eine Verklammerung von Sinnein-
heiten; das, was jetzt kommt, muß in irgendeinem sinnvollen Bezug zum
vorher Gesagten stehen. Es kann eine Folgebeziehung sein: wenn - dann.
Oder eine Aufzählung: zuerst das, dann jenes, dann dies. "Dann" zeigt also
an, daß vorher schon etwas gesagt worden ist, was zum Thema gehört. Dies
muß aber nicht unmittelbar davor gesagt worden sein. Es ist möglich, daß das
"dann" ein erneutes Zurückgreifen auf ein Thema oder ein anderes Bezugs-
objekt bedeutet, das unmittelbar zuvor verlassen worden war. Der Doz. greift
jetzt wieder zum Text und kündigt mit dem eröffnenden "dann" eine neue

53
Sequenz an, die sich nur lose an das Vorhergegangene anschließen muß (Fall
b der Optionen auf Ebene 0). Falls das vorher Gesagte dem Fall a) zuzuord-
nen ist, wäre "dann" ein Indikator für eine Art Aufzählung. Allerdings wäre
dann an der Stelle (101) eher zu erwarten: " ... dann steht hier weiter ... " oder
"außerdem". Daß er "hier drin" anschließt spricht eher dafür, daß er jetzt auf
den Text zurückkommt oder sogar zum erstenmal daraus zitieren will.
Nimmt man die Option c) an, so könnte "dann" eine Ironisierung oder Di-
stanzierung des zitierten Bezugsobjekts anzeigen. Dies ließe sich aber erst
durch die nachfolgenden Rede-Sequenzen belegen.
"Hier drin" ist zunächst einmal der Hinweis, daß jeder Hörer wissen
kann, worauf sich der Sprecher bezieht, zumindest im physikalischen Sinn:
ein Sprecher wird nur "hier drin" ohne weitere Erläuterungen sagen, wenn er
sicher sein kann, daß jeder Hörer sieht oder weiß, worauf sich diese deikti-
schen Morpheme beziehen. Diese pragmatische Verständnissicherung kann
er auf verschiedene Weise erreichen (Blick, Fingerzeig, Hochheben des Be-
zugsobjekts etc.). Es kann auch sein, daß in vorausgegangenen Redesequen-
zen dieses Bezugsobjekt bereits eindeutig benannt wurde, so daß er sich jetzt
auf seine eigene Rede bezieht (anaphorische Deixis).
Weiterhin kann man schließen, auch ohne daß man etwas über die Re-
quisiten und die räumliche Anordnung weiß, daß "hier drin" sich auf irgend-
einen Text beziehen muß, den der Redner entweder in der Hand hält oder
sichtbar vor sich haben muß. Die Hörer müssen den Text entweder auch se-
hen können oder der Sprecher muß bereits gesagt haben, daß er einen Text
bei sich hat, auf den er sich beziehen will. Es ist auch anzunehmen, daß die
Hörer - die Studenten - bereits die Identität des Textes kennen, es sei denn,
der Professor verfolgte die didaktische Strategie, zunächst einmal ein Zitat
vorzustellen, die Quelle aber geheimzuhalten, um den Studenten Gelegenheit
zu geben, ihren Spürsinn zu beweisen. Es ist weiterhin anzunehmen, daß es
sich bei dem Text nicht um ein Vorlesungsmanuskript des Professors han-
delt, es sei denn, er wollte sich in ironischer Absicht selbst zitieren (auch in
diesem Fall könnte er die Identität des Textes bisher geheimgehalten haben).
"Dann steht hier drin" könnte einfach auch eine begleitende Verbalisie-
rung zu einer gerade vollzogenen Handlung sein, z. B. er blättert in dem Text
herum und sagt dies, während er noch nach einer bestimmten Stelle sucht.
(Dies wäre aber wahrscheinlich deutlich an der Intonation zu erkennen; man
würde dann eine gedehnte oder verlangsamte oder auch murmelnde Sprech-
weise erwarten. Die Intonation zeigt jedoch keine solchen Auffälligkeiten.)
"Hier drin" kann auch eine distanzierte Isolierung der Relevanz dessen,
was er vorzulesen beabsichtigt, indizieren. Dafür spricht, daß im universitä-
ren Kontext, wo sonst eher hochformalisiert gesprochen wird, hier eine stark
umgangssprachlich geprägte Formulierung verwendet wird. Es müßte sich
dann allerdings zeigen, daß dieser Professor nur in diesem Fall eine um-
gangssprachliche Formulierung gebraucht und ansonsten eher stark elaboriert
spricht. Wenn diese Interpretation richtig sein soll ist außerdem anzunehmen,

54
daß er sich formalisierter ausdrücken würde, wenn er sich auf etwas bezöge,
wozu er keine Distanz herstellt. Vielleicht würde er dann sagen: "Dann steht
hier auf Seite 5 ... " oder "Dann schreibt der Autor hier ... ".
"Hier drin" sagt ein Professor in einer Vorlesung normalerweise nicht,
wenn er sich auf eine literarische Autorität bezieht. Es klänge merkwürdig,
wenn ein Soziologe das "Kapital" von Marx in der Hand hielte und sagte:
"Dann steht hier drin ... " Es sei denn, er hielte nicht allzu viel von Marx.

(3) Der Professor beginnt seine Vorlesung mit Bezug auf einen Text, den er
bei sich hat. Es kann sich dabei wie o.a. nicht um ein Vorlesungsmanuskript
handeln, es sei denn, er wollte sich selbst ironisch zitieren, was nicht sehr
wahrscheinlich (aber möglich) ist. Es hat auch nicht den Anschein, daß der
Professor eine Fallgeschichte vorträgt. Diese würde ein Kliniker in der Regel
nicht aus einem von ihm nicht selbst verfaßten Text vorlesen, sondern eher
aus der Erinnerung vortragen. Oder er hätte eine Karteikarte oder ein Kran-
kenblatt und würde sagen: "Dann steht hier darauf ... ". Es handelt sich also
wahrscheinlich um einen Text, den der Dozent nicht selbst verfaßt hat und
der am Beginn der klinischen Vorlesung des chirurgischen Praktikums als
Bezugspunkt dieser Vorlesung dient. Der Dozent zitiert diesen Text, wobei
auffällt, daß die Zitation unvollständig bleibt. Es kann noch nicht gesagt
werden, welche Bedeutung diesem Text zukommt. Entweder dient er nur als
Ausgangspunkt für die Vorlesung, als Stichwortlieferant ("sekundäre Kom-
plikation") für einen ansonsten freien, vom Bezugstext unabhängigen Vor-
trag. Oder er dient als Strukturierungsinstanz, als Leitfaden der Vorlesung.
Schließlich kann der Text auch zum Zweck der Kritik zitiert werden.

(4) Am Anfang einer klinischen Vorlesung bezieht sich der Dozent also auf
einen bestimmten Text, wahrscheinlich ein Buch, dessen Autor er nicht selbst
ist, dem eine bestimmte Bedeutung innerhalb der sozialisatorischen Interak-
tion zukommt. Zunächst bleibt offen, ob dieses Buch eine starke Vorgabe für
den Verlauf der Vorlesung darstellt, der Professor es also als Strukturie-
rungsmedium für seinen Vortrag benutzt oder ob er es eher in kritischer Ab-
sicht zitiert hat.

(0) Auf dem Hintergrund der sprachlichen Regel, daß dieser abgebrochene Satz
(101) keine akzeptable sprachliche Äußerung ist, stellt sich die Frage nach der
Motivierung dieser Unterbrechung. Diese Motivierung muß auch für die Hörer
verstehbar sein, d.h. die Unterbrechung muß legitimiert sein. Das muß nicht
heißen, daß der Dozent seine Unterbrechung explizit begründen muß; diese Be-
gründung kann auch implizit bleiben oder durch außersprachliche Ereignisse
gegeben sein. Man muß also fragen: warum wird das Zitieren (bzw. Paraphra-
sieren) überhaupt abgebrochen? Warum gerade an dieser Stelle? Im Anschluß
daran stellt sich die Frage: Welche Möglichkeiten hat der Dozent, seine Rede
nach Beendigung der Unterbrechungspause fortzusetzen?

55
Zur ersten Frage: Es könnte sein, daß der Dozent lediglich seine Rede
neu organisieren will, daß er, während er spricht, seine Satzplanung ändert.
(Diese Möglichkeit wird durch die Äußerung (102) eindeutig eliminiert.)
Weiterhin kann es einen äußeren oder inneren Anlaß zum Abbrechen des an-
gefangenen Satzes geben, Ereignisse, die sich als Störfaktor für die Fort-
setzung der Rede auswirken. Äußere Störereignisse dieser Art sind beliebig
viele denkbar; aus der Darstellung des äußeren Kontextes wissen wir, daß
während der ersten Minuten des Vortrags ständig die Tür auf und zu geht,
weil viele Studenten zu spät kommen. Irgendwann könnte der Punkt erreicht
sein, wo sich der Dozent dadurch zu stark gestört fühlt und deshalb den Vor-
trag abbricht, um zu warten, bis sich der Saal gefüllt und die Studenten sich
beruhigt haben. Es könnte auch sein, daß der Dozent jetzt bemerkt, daß viele
Studenten den Anfang seiner Rede nicht hören konnten und er jetzt deshalb
abbricht. Innere Ereignisse sind ebenfalls auf vielfältigste Art denkbar, brau-
chen uns hier aber nicht weiter zu interessieren (dem Dozenten könnte so-
eben ein Einfall gekommen sein, der seine ganze Satzplanung über den Hau-
fen wirft.)
Warum bricht er gerade an dieser Stelle ab? Möglicherweise kommt ge-
rade jetzt eine besonders große oder besonders viel Unruhe stiftende Gruppe
von Nachzüglern herein, oder es kommt gerade jemand herein, den der Do-
zent gut kennt, was seine Motivation, seine Rede neu zu organisieren, erhö-
hen könnte. Es könnte auch sein, daß das, was er als Nächstes sagen wollte,
ihm so wichtig erscheint, daß er es unbedingt allen zugänglich machen will
und ihm deshalb gerade jetzt auffällt, daß ständig noch Studenten hereinge-
kommen sind, während er bereits angefangen hatte. Es könnte umgekehrt
auch sein, daß ihm die geplante Äußerung nach (101) so unwichtig erscheint,
daß er jetzt plötzlich darauf verzichten möchte. Die Unterbrechung hätte
dann nichts mit den später Hereinkommenden zu tun, sondern bezöge sich
allein auf den Inhalt der Rede. Es wäre ihm dann nur auf die Nennung des
Begriffs "sekundäre Komplikation" angekommen, und entweder hätte er das
"bei" noch versehentlich mit vorgelesen, oder es sollte eine Leerstelle be-
zeichnen, deren Ausfüllung jetzt aber nicht interessiert. Oder er handelte in
didaktischer Absicht, um von den Studenten eine Ausfüllung dieser Leer-
stelle nach "sekundäre Komplikation bei" hervorzulocken.
Welche Möglichkeiten der Fortsetzung der Rede nach der Unterbrechungs-
pause sind denkbar? Wenn eine äußere Störung (oder ein physisches Ereig-
nis) Anlaß der Unterbrechung war, könnte es sein, daß der Dozent einfach
den unterbrochenen Satz vervollständigt. Wenn er seine Rede neu organisie-
ren will (Änderung der Satzplanung), könnte er vielerlei sagen, z. B.: "Ich
beziehe mich hier auf Abschnitt xy", oder: "Wenn Sie nachschlagen wollen:
das steht auf Seite 9". Wenn es ihm nur auf die Nennung des Begriffs "se-
kundäre Komplikation" angekommen wäre, könnte er sagen: " ... nun, bei
was, das ist jetzt nicht so wichtig." Oder er könnte fragen: " ... können Sie
sich denken, wo sekundäre Komplikationen besonders häufig sind?" Es ist

56
möglich, daß er in irgendeiner Weise Bezug auf dieses Störereignis nimmt; z.
B.: "He, Sie da hinten, das ist für Sie sicher auch interessant, nicht?"
Wenn das Störereignis das Hereinkommen von Nachzüglern ist, dann hat
er u.a. folgende Alternativen: Er kann einfach warten, bis relative Ruhe ein-
gekehrt ist, und dann seinen an gefangenen Satz komplettieren. Dies kann er
mit völlig neutraler Mimik tun, er kann aber auch durch Gestik und Mimik
zum Ausdruck bringen, daß er diese Störung mißbilligt.
Weiterhin könnte er einer solchen möglichen Mißbilligung verbal Aus-
druck verleihen und sagen: "Ich bitte doch darum, daß Sie sich um etwas
mehr Pünktlichkeit bemühen sollten." Oder schwächer: "Ich glaube, ich muß
noch einmal von vorne beginnen, denn es sind jetzt eine ganze Reihe von
Kommilitonen zu spät gekommen." Damit hätte er gleichzeitig auch seine
Absicht bekundet, für die Nachzügler noch einmal von vorne zu beginnen
oder zumindest das Wichtigste zu wiederholen. Es ist aber auch vorstellbar,
daß er das Zu-spät-Kommen thematisiert, ohne noch einmal von vorne zu be-
ginnen. Weiterhin könnte er die Notwendigkeit einer Wiederholung für die
Nachzügler bekunden und gleichzeitig sich bei den pünktlich Gekommenen
dafür entschuldigen, usw. Schließlich könnte er einfach sagen, daß er für die
später Gekommenen noch einmal etwas wiederholen will. Für diese letzte
Möglichkeit "entscheidet er sich":

102 für die, die später gekommen sind:

(1) Der Professor füllt also die Unterbrechungsstelle mit der Erläuterung aus,
daß er für die, die später gekommen sind, etwas sagen möchte. Er kündigt für
die später Gekommenen einen Nachtrag, einen Sonderservice an. Er will ih-
nen etwas mitteilen, was die anderen schon wissen.
(2) Diese Äußerung ist an eine Subgruppe im Publikum adressiert. Sie hat
mehrere Implikationen:
a) Sie enthält eine implizite Begründung für den Abbruch des zuvor ange-
fangenen Zitats.
b) Es ist die Ankündigung einer Wiederholung (denn es ist unwahrschein-
lich, daß er sich implizit an die Nachzügler wendet, um dann etwas zu
sagen, was die anderen auch noch nicht wissen).
c) Damit ist für die anderen auch der implizite Hinweis enthalten: "Ihr
braucht jetzt nicht aufzupassen."
d) Es ist eine metakommunikative Äußerung: Der Dozent kommentiert jetzt
seine Redeorganisation, er sagt, daß er jetzt eine eingeschobene Bemer-
kung machen wird, die den normalen Fortgang seines Vortrages unter-
bricht.
e) Möglich ist auch die Implikation: "Für die, die später gekommen sind,
muß ich nochmals wiederholen ... , sonst verstehen Sie das Folgende
nicht zureichend."

57
Diese Äußerung wird typischerweise in leicht modifizierter Form in Funk
und Fernsehen bei Direktübertragungen von Ereignissen verwendet, wo er-
stens niemand zur Teilnahme von Anfang an verpflichtet ist, und wo nicht
unterstellt werden kann, daß diejenigen, ..die sich später zugeschaltet haben",
den Ablauf der weiteren Ereignisse adäquat verstehen können, ohne be-
stimmte Informationen erhalten zu haben (z. B. Informationen über den
Spielstand bei Fußballspielen oder über den Stand der Bundestagsdebatte: ha-
ben Schmidt und Strauß schon zur Sache gesprochen?). Diese kontextuelle Af-
finität zu Fernsehübertragungen - allgemeiner: zu Ereignissen, wo keine Teil-
nahme von Beginn an vorgeschrieben ist, wo aber zum Verständnis des Ablaufs
Informationen über Ereignisse, die zu Beginn stattgefunden haben, notwendig
sind - deutet darauf hin, daß es keinen Grund gibt, die später Gekommenen zu
tadeln und zu sanktionieren, sondern die notwendigen Informationen für die
später Gekommenen nachzutragen, mit dem impliziten Hinweis für die pünkt-
lich Erschienenen, daß das, was jetzt gesagt wird, nicht für sie gilt (..Entschul-
digen Sie, meine Damen und Herren", sagt in solchen Fällen der Sportreporter,
..daß ich den Spielstand so oft wiederhole, aber wir wissen, daß sich jetzt stän-
dig neue Zuschauer einschalten, weil sie gerade von der Arbeit kommen. ")
Man kann umgekehrt auch Kontexte konstruieren, wo diese Äußerung in
dieser Form geradezu undenkbar ware. Dies ist ein Hinweis darauf, daß dort
eine Verpflichtung zur Teilnahme von Anfang an besteht und eine der Sank-
tionsformen für Zuspätkommen ist, daß der Ablauf der fortlaufenden Ereig-
nisse nicht mehr für Nachzügler unterbrochen wird. Wer zu spät in die Kir-
che kommt, muß sich selbst orientieren, welche Sequenz der Liturgie gerade
abläuft. Es wäre grotesk, wenn der Pfarrer seine Predigt mit der Bemerkung
unterbrechen würde: ..Für die, die später gekommen sind, wiederholen wir
jetzt noch einmal das Vater unser".
Ein anderer Kontext dieser Art ist die Schule, wo allerdings die Sankti-
onsformen für Zuspätkommen eher noch schärfer sein können. Nimmt man
den Kontext der klassischen Vorlesung an der Universität, dann stellt man
fest, daß dort normalerweise keine Unterbrechung für die Nachzügler erfolgt,
daß es dort eher so ist wie in der Kirche: ebenso wie der Pfarrer ohne Rück-
sicht auf später Kommende die Liturgie abspult, fährt der Professor in der
klassischen Vorlesung unbeirrt in seinem Vortrag fort, wenn neue Zuhörer
später hereinkommen.
Ferner ist diese Äußerung typisch für Kontexte, wo einzelne Teilnehmer
später kommen, und wo eine Mitteilung über einen Sachverhalt zu machen
ist, den alle Teilnehmer wissen müssen (z. B. eine organisatorische Ände-
rung), der aber nicht inhaltlich zum gerade verhandelten Thema gehört, und
deshalb vom Dozenten leicht vergessen werden kann, wenn er ihn nicht zu
Beginn der Veranstaltung mitteilt, vor dem Einstieg in das eigentliche The-
ma. Dies deutet darauf hin, daß der jetzt eingeschobene Hinweis zwar für alle
Teilnehmer wichtig zu wissen ist, jedoch eher den Status einer Information
über Rahmenbedingungen hat.

58
Es kann zunächst nicht völlig ausgeschlossen werden, daß die Äußerung
nicht doch tadelnden Charakter hat, ein Tadel, der allerdings in sehr subtiler
und dezenter Form angedeutet wäre.
(3) Hier handelt es sich um ein klinisches Pflichtpraktikum. Dabei existiert
Anwesenheitspflicht und auch eine gewisse Verpflichtung zur Pünktlichkeit.
Man könnte daher erwarten, daß der Dozent das Zuspätkommen einiger Stu-
denten sanktioniert. Dies tut er aber nicht. Er definiert das Ereignis nicht einmal
als Zuspätkommen, sondern spricht von "später" Gekommenen. Das kann be-
deuten, daß er entweder diese Verpflichtung der Studenten nicht ernst nimmt,
oder daß er die Verletzung dieser Verhaltensregeln nicht für sanktionswürdig
hält: Das Späterkommen wird hier also weder übergangen - wie in der klassi-
schen universitären Vorlesung - noch kritisch thematisiert - wie in der Schule -
sondern der Vortrag wird ohne Umschweife, sogar mitten im Satz, unterbro-
chen. Die Sache hat Vorrang: möglichst viele sollen diese Information erhal-
ten. Alle anderen Aspekte, etwa Tadel des Zuspätkommens, oder Begrün-
dung der Wiederholung, Entschuldigung für diejenigen, die pünktlich ge-
kommen sind und den Sachverhalt schon kennen, sind überflüssig.
Im Gegensatz zur Schule, wo die Erziehungsverpflichtung des Lehrers
noch ernst genommen wird und er deshalb die Schüler sanktioniert, wenn sie
zu spät kommen, sie also noch wie Kinder behandelt, werden die Studenten
hier wie Erwachsene behandelt, die selbst entscheiden können, in welchem
Ausmaß Verhaltensregeln beachtet werden müssen. Es zeigt sich hier, daß
trotz starker "Verschulungs"tendenzen der Universität, gerade im Medizin-
studium, dennoch sich Prinzipien der alten Universität, hier das Prinzip, Stu-
denten als autonome Individuen, als Erwachsene, die selbst bestimmen kön-
nen, zu betrachten, in der Mikrostruktur der universitären Interaktion zwi-
schen Professor und Studenten durchsetzen können.
Obwohl hier formal Anwesenheitspflicht besteht und pünktliches Er-
scheinen erwartet wird, man deshalb erwarten könnte, daß Zuspätkommen
sanktioniert wird, findet hier das Gegenteil des Erwarteten statt: man nimmt
auf die Späterkommenden in der Weise Rücksicht, daß man für sie noch
einmal von vorne beginnt. Ihr Späterkommen wird weder übersehen noch
kritisiert - man mutet statt dessen den pünktlich Erschienenen ohne weitere
Erklärung eine Wiederholung des eben Gehörten zu.
Es bietet sich an, dies im Zusammenhang mit der Zeitökonomie des Kli-
nikbetriebes, einschließlich des klinischen Studiums, zu verstehen: alles
steht hier unter Zeitdruck. Die lehrenden Ärzte sind vor und nach der Vorle-
sung meist mit ihren Patienten, mit Forschungs- oder Verwaltungsaufgaben
beschäftigt. Das Studium selbst ist ohne größere zeitliche Spielräume organi-
siert, damit stehen auch die Studenten unter ständigem Zeitdruck. Man unter-
stellt den Späterkommenden im konkreten Fall nicht, daß sie getrödelt hätten
oder absichtlich später kommen wollten, sondern ungeprüft gilt, daß sie
wahrscheinlich gerade in einem vorausgegangenen Kurs ein paar Minuten
länger bleiben mußten, oder daß sie in aller Eile schnell noch einige Häpp-

59
chen zu sich genommen haben, um nicht während der folgenden drei Stun-
den vor Hunger umzufallen.
(4) Statt pädagogisierend das Späterkommen einiger Studenten aufzugreifen,
gibt der Dozent der Sache den Vorrang und trägt eine wichtige Information
ohne Umschweife, sich selber im thematischen Vortrag unterbrechend, nach.

(0) In (102) hat der Dozent für die, die später gekommen sind, etwas ange-
kündigt. Nun könnte er diese Änderung seiner Redeorganisation begründen,
für die bereits Anwesenden legitimieren. Er könnte fragen, ob noch mehr
Studenten erwartet werden. Zweifellos der unproblematischste Fall wäre
aber, wenn er jetzt einfach seinen angekündigten Nachtrag direkt bringt. Er
könnte auch jetzt noch das Zuspätkommen tadeln.

Durch die Darstellung dieser objektiv hermeneutischen Interpretation zweier


Interakte haben wir einerseits die konkrete Vorgehensweise nachvollziehbar
zu machen versucht und andererseits haben wir dadurch einen ausreichenden
Einblick in dieses Verfahren, um es kritisch einschätzen zu können

3.2.3 Kritik

Prüfen wir das Konzept der objektiven Hermeneutik auf den Hintergrund des
pragmatistisch-naturalistischen Ansatzes George Herbert Meads, so läßt sich
folgendes konstatieren.
Auf der Ebene der Konstitutionstheorie bzw. Methodologie der objekti-
ven Hermeneutik zeigt sich, daß sowohl der Begriff der sozialen Interaktion
als auch der des Sinns auf der Folie der Meadschen Konzeption adäquat be-
stimmt werden. Soziale Interaktion gilt als kleinste analytische Einheit der
Handlung und Sinn wird auf der Folie der triadischen Relation des sozialen
Aktes als objektiv latenter bestimmt. Dies verrät eine konsequent strukturale
Ausdeutung des Meadschen Interaktions- und Sinnbegriffs. Der objektive
latente Sinn wird als die primäre Ebene von dem subjektiv gemeinten Sinn
als sekundäre Ebene unterschieden.
Ebenso werden die zeittheoretischen Implikationen des Meadschen An-
satzes konstitutiv berücksichtigt. Entscheidend scheint dabei die Ausformu-
lierung des Modells der Dialektik von Emergenz und Determination im
Handlungsakt. Auf diesem Hintergrund gelingt denn auch eine überzeugende
Begründung der Kategorie der Rekonstruktion.
Die differenzierte Betrachtung von Subjektivität und Identität im Mead-
schen Werk führt Oevermann schließlich zu einem Modell, in dem Subjekti-
vität als Unmittelbarkeit von den Vermittlungskategorien der objektiven
Identität und der subjektiven Identität unterschieden wird. Methodisch ist ein
Verfahren entwickelt worden, in dessen Zentrum die Differenzierung von

60
objektiver latenter Sinnstruktur und subjektiv gemeintem Sinn steht. Die Me-
thode löst gleichsam das zentrale Postulat der Methodologie ein. Dafür sind
entscheidend die Ebenen, die sich zum einen auf die Paraphrasierung der ver-
muteten Intention des Sprechers und zum anderen auf die Explikation mögli-
cher objektiver Sinnstrukturen beziehen (in unserem Beispiel sind dies Ebene
1 und Ebene 2). Auf der Ebene 3 können dann Lesarten eliminiert und auf
Ebene 4 eine Fallstrukturhypothese aufgestellt werden.
Ulrich Oevermanns objektive Hermeneutik basiert auf einer fundierten
strukturalen Rekonstruktion des Meadschen Ansatzes. Dabei ist von beson-
derem Interesse, daß sie in der Forschungspraxis selbst auf Kategorien stößt,
die bei Mead zentralthematisch sind und in dessen Theorie erst zur Explika-
tion gebracht werden. Wir haben hier ein Beispiel der immer wieder gefor-
derten, doch selten eingelösten engen Beziehung von Methodologie und For-
schungspraxis vor uns. Insofern ist sowohl in methodologischer als auch in
methodischer Hinsicht die objektive Hermeneutik wohl das fundierteste und
avancierteste Verfahren rekonstruktiver Sozialforschung, das derzeit in Um-
lauf ist. Der symbolische Interaktionismus Blumers erscheint demgegenüber
als ein geradezu naives und oberflächliches Verfahren.
Zu kritisieren ist an der objektiven Hermeneutik, daß deren Methodolo-
gie noch nicht genügend zur Explikation gebracht wurde. Ferner ist das Dar-
stellungsproblem des Interpretierten nach wie vor ungelöst. Allzuoft werden
Darstellungen präsentiert, die bezüglich der entscheidenden Ebenendifferen-
zierungen nicht mehr nachvollziehbar sind und folglich auch dem Leser die
Chance der Falsifikation vorenthalten. Auch sind verschiedene Varianten der
Forschungspraxis der objektiven Hermeneutik im Umlauf, die nun - trotz
weiterer notwendiger methodischer Ausdifferenzierungen - in ein einheitli-
ches Konzept zu überführen wären. So unterscheidet Reichertz 5 Varianten
der Forschungspraxis der objektiven Hermeneutik seit ihrem Entstehen. lOs
Dies führt solange zu Unsicherheiten, bis ein einheitliches Interpretations-
konzept auf dem neuesten Stand entwickelt wurde.

3.3 Dokumentarische Methode ( R. Bohnsack)

3.3.1 Darstellung

Im folgenden soll die von Ralf Bohnsack entwickelte Methode der dokumen-
tarischen Interpretation, insbesondere unter unserem spezifischen Erkennt-
nisinteresse, kurz dargestellt werden. Die dokumentarische Methode der In-
terpretation verdankt ihre konstitutionstheoretische Begründung der Wis-

105 Reiehertz, J.: Objektive Henneneutik. In: R. Hitzier u.a. Honer (Hg)., Sozialwissensehaft-
liehe Henneneutik, Opladen 1997, S. 38f.

61
senssoziologie Karl Mannheims. Des weiteren sind als wichtige Bezugs-
punkte des Ansatzes von Bohnsack die phänomenologische Soziologie (A.
Schütz), die Ethnomethodologie (H. Garfinkel) und die Soziologie der Chica-
goer Schule zu nennen. Beginnen wir mit der Analyse der Kategorie der Re-
konstruktion in der dokumentarischen Methode. Unterschieden wird in dieser
zwischen zwei Bedeutungen von Rekonstruktion. Zum einen meint diese,
daß erst im Verlaufe des Forschungsprozesses die konkreten "Arbeits-
schritte" erarbeitet und im nachhinein in eine systematische Form überführt
werden. Es erfolgt also gerade keine Ableitung von vorab konstruierten
Theorien und Methodologien. Methodologie wird aus dem Forschungsprozeß
selbst reflexiv entwickelt. Für deren Explikation wird vor allem auf die Wis-
senssoziologie K. Mannheims und die anderen oben genannten Konzeptionen
zurückgegriffen. Zum anderen impliziert der Terminus "rekonstruktiv", daß
der jeweilige Forschungsgegenstand erst in objektivierter Form vorliegen
muß, um entschlüsselt zu werden. Er muß "schöpferisch" nachgezeichnet
werden. "In den neueren Verfahren der Textinterpretation vollzieht sich In-
terpretation in der sequentiell verfahrenden Rekonstruktion von Erzähl-, In-
teraktions- und Diskursverläufen. ,,106
Der dokumentarischen Methode geht es nun im Anschluß an K. Mann-
heims Wissenssoziologie darum, "einen adäquaten Zugang zu finden zur In-
dexikalität fremder Erfahrungsräume".107 Von besonderer Bedeutung ist da-
bei die Differenzierung von Verstehen und Interpretieren sowie konjunktiver
und kommunikativer Erfahrung. Verstehen und Interpretieren werden von
Mannheim unterschieden. Verstehen von Handlungen ist an die Präsupposi-
tion der Vertrautheit mit der Alltagspraxis gebunden, in die diese Handlun-
gen gehören. In der Alltagspraxis erfolgt unmittelbares Verstehen, ohne daß
eine Interpretation notwendig wäre. "Diejenigen, die durch gemeinsame Er-
lebniszusammenhänge miteinander verbunden sind, die zu einem bestimmten
,Erfahrungsraum ' gehören, verstehen einander unmittelbar. Sie müssen ein-
ander nicht erst interpretieren. Damit verbunden sind zwei fundamental un-
terschiedliche Modi der Erfahrung bzw. der Sozialität: die auf unmittelbarem
Verstehen basierende ,konjunktive' Erfahrung und die in wechselseitiger In-
terpretation sich vollziehende ,kommunikative' Beziehung. ,,108 Zwei Arten
von Erfahrung sind auseinanderzuhalten: Die ,konjunktive' Erfahrung, die
der Sphäre unmittelbaren Verstehens und die ,kommunikative' Erfahrung,
die der Sphäre der Interpretation zugeordnet wird. Verstehen entwickelt sich
aus der lebendigen Handlungspraxis selbst; es erfolgt intuitiv, a-theoretisch.
Interpretieren dagegen erfordert eine begriffliche Explikation, eine geneti-
sche Interpretation des zu untersuchenden Phänomens. Die genetische Inter-

106 Bohnsack, R. (1993): Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in Methodologie und


Praxis qualitativer Forschung. Opladen; S.35.
107 Bohnsack, R. (1997): Dokumentarische Methode. In: R. Hitzier u.a. Honer (Hg.), Sozi-
alwissenschaftIiche Hermeneutik, Opladen, S. 194.
108 Bohnsack, R., Dokumentarische Methode, a.a.O., S. 195

62
pretation entspricht einer sequenzanalytischen Vorgehensweise. Verstehen
und genetische Interpretation werden durch die immanente Interpretation er-
gänzt. Bohnsack versucht diese Kategorie wie folgt zu erläutern: "Die imma-
nente Interpretation (des objektiven Sinngehaltes) zielt auf den zweckrationa-
len Handlungszusammenhang: Ich knüpfe einen Knoten, um ein Abschlepp-
seil zu reparieren, konstruiere also eine zweckrationale Handlungsabsicht
bzw. eine kommunikative Absicht im Sinne der Um-zu-Motive bei Alfred
Schütz. ,,109
Gehen wir auf die Kategorie des "konjunktiven Erfahrungsraumes" ein.
Dieser wird von Mannheim wie folgt gefaßt: "Das menschliche Denken kon-
stituiert sich nicht freischwebend im sozial freien Raume, sondern ist im Ge-
genteil stets an einem bestimmten Ort in diesem verwurzelt. Diese Ver-
wurzelung wird aber keineswegs als eine Fehlerquelle betrachtet werden dür-
fen. Genau so wie der Mensch, der zu gewissen anderen Menschen oder zu
deren Verhältnissen eine vitale Beziehung hat, die Chance besitzt, diese auch
wissensmäßig genauer durchdringen zu können, so wird die soziale Gebun-
denheit einer Sicht, einer Kategorialapparatur gerade durch diese vitale Bin-
dung eine größere Chance für die zugreifende Kraft dieser Denkweise in
bestimmten Seinskategorien bedeuten."l1o Die "konjunktive Erfahrung" ist
bei Mannheim zentralthematisch. Sie bezieht sich auf Sozialität sui generis,
einer Sozialität, die immer schon vor dem Individuellen existiert. Sie ist das
konstitutionslogisch Primäre, das auf einen Sinnzusammenhang verweist, der
mehrere Individuen immer schon umschließt und erst das Forum individuel-
ler Aktionen abgibt. Mannheim verdeutlicht dies am folgenden Beispiel: "Ein
jeder Kult, eine jede Zeremonie, ein jeder Dialog ist ein Sinnzusammenhang,
eine Totalität, in der der einzelne seine Funktion und Rolle hat, das ganze
aber etwas ist, das in seiner Aktualisierbarkeit auf eine Mehrzahl von Indivi-
duen angewiesen ist und in diesem Sinne über die Einzelpsyche hinausragt.
Ein Individuum kann sich die ganze Zeremonie denken, aber als Kollektiv-
vorstellung ist diese ja zunächst nicht etwas zu Denkendes, sondern ein durch
verschiedene Individuen in ihrem Zusammenspiel zu Vollziehendes."ll1
Der konjunktive Erfahrungsraum meint eine sinnstrukturierte Totalität,
die durch das interaktive Zusammenspiel verschiedener Individuen zustande-
kommt. Der einzelne agiert in seinen Einzelhandlungen immer schon auf der
Folie eines ihn umfassenden Ganzen bzw. Kollektiven. Damit ist zugleich ei-
ne wichtige sinntheoretische Implikation verbunden, die darin besteht, daß
die subjektive Intention der Handelnden nicht Ausgangspunkt des dokumen-
tarischen Ansatzes sein kann. "Wollen wir dem im Zusammenspiel der Be-
teiligten sich entfaltenden Bedeutungsmuster in unserer Interpretation ge-

109 Bohnsack, R, Dokumentarische Methode, a.a.O., S. 195f.


110 Mannheim, K. (1952): Ideologie und Utopoie, Frankfurt/M.; S. 73
111 Mannheim, K. (1980): Strukturen des Denkens. Frankfurt a. M. (ursprünglich 1922-1925;
unveröffentl. Manuskript), S. 232

63
recht werden, so können wir nicht so verfahren, als ließe sich dieses Muster
von den Intentionen eines dahinterstehenden Produzenten her verstehen: wir
können es nicht nach Art des ,intentionalen Ausdruckssinns' interpretieren -
um den Begriff von Mannheim zu verwenden. Vielmehr vollzieht sich die In-
terpretation in der Rekonstruktion des sich aufschichtenden Interaktionspro-
zesses, durch die ich jene für die Gruppe charakteristische Selektivität in der
Behandlung des Themas herausarbeiten kann.,,112 Ausgangspunkt ist demzu-
folge in der dokumentarischen Methode nicht ein sekundär sich erst Konsti-
tuierendes, sondern die sich im gemeinsamen Interaktionsprozeß primär
konstituierenden Sinnschichten. Beleuchten wir den Sinnbegriff der doku-
mentarischen Methode näher. Grundlegend ist dabei die Mannheimsehe Wis-
senssoziologie. In dieser heißt es: "So gewinnt man denn schließlich den Ein-
druck als erfasse man an grundverschiedenen objektiven und ausdrucks-
mäßigen Momenten stets ein Identisches, nämlich das gleiche Dokumentari-
sche. Dieses Gerichtetsein auf Dokumentarisches, dieses Erfassen des Ho-
mologen an den verschiedenen Sinnzusammenhängen ist etwas Eigentümli-
ches, das weder mit Addition noch mit Synthese, auch nicht mit bloßer Ab-
straktion gemeinsamer Merkmale verwechselt werden darf; es ist etwas Ei-
gentümliches, weil das Ineinandersein Verschiedener sowie das Vorhanden-
sein eines einzigen in der Verschiedenheit, Verhältnisse sind, die der geistig-
sinnmäßigen Welt eigentümlich sind und von den Gleichnissen, die minde-
stens zum Teil einer räumlich-dinglichen Phantasie ihr Leben verdanken,
freigehalten werden sollen. ,,113
Sinn bezieht sich primär auf etwas Objektives und etwas Identisches in
einem Nicht-Identischen (grundverschiedene Momente). Er ist demnach nicht
nach Maßgabe von Additions-, Synthese- oder Abstraktionsmodellen zu kon-
zipieren. Vielmehr bezieht er sich auf eine Einheit in der Vielheit, auf Identi-
sches im Nicht-Identischen, auf Allgemeines im Besonderen. Es geht Mann-
heim um die Rekonstruktion der objektiven inneren Sinnzusammenhänge der
zu analysierenden sozialen Phänomene. Die Rekonstruktion muß sich dem-
zufolge zunächst auf die objektive Sinnstrukturiertheit der Phänomene und
nicht bloß auf den subjektiv intentionalen Sinn selbst richten. Ziehen wir ein
weiteres Zitat zur Aufklärung des Mannheimsehen Sinnbegriffs heran:
"Wenn wir dieses Modell auf den Herstellungsprozeß geistiger Gebilde zu
übertragen versuchen, so führt uns die Rekonstruktion des Herstellungs-
prozesses, des gesellschaftlichen, des interaktiven Prozesses, in dem der Han-
delnde zum Zeitpunkt des Handeins aufgeht, in ihm lebt, zum Erfassen jener
Funktionalität, die dem Gebilde, der Handlung, der Äußerung, dem Begriff
innerhalb dieses Handlungs- und Interaktionszusammenhanges zukommt und
als dessen ,Resultat' ihre Bedeutung letztlich erscheint. D.h. die Rekonstruk-
tion zielt somit auf die ,funktionelle Verankertheit der Begriffe und des Den-

112 Bohnsack, R., Rekonstruktive Sozialforschung, a.a.O., S. 46f.


113 Mannheim, K. (I 964a), Wissenssoziologie, a.a.O., S. 121

64
kens in der existentiellen Ebene'. ,,114 Sinn ist Resultat konkreter sozialer In-
teraktionen. Durch Rekonstruktion wird seine Genese und Verankerung in
der existentiellen Ebene sozialer Interaktionen offengelegt. Diese sog. "gene-
tische Interpretation" macht sich die dokumentarische Methode zu eigen. Da-
bei wird versucht, an konkreten Fällen mehrere, sich überlagernde Sinn- bzw.
Bedeutungsschichten aufzuschlüsseln. "Demgegenüber ist die soziogeneti-
sche Interpretation, die auf der Rekonstruktion der ,Erfahrungsräume ' derje-
nigen aufbaut, die Gegenstand der Forschung sind, genötigt, auf der Grund-
lage von Fallanalysen zu arbeiten und erfaßt damit den Fall nicht lediglich in
einer Bedeutungsschicht oder -dimension und d.h. in bezug auf eine Typik,
sondern zugleich unterschiedliche Dimensionen oder ,Erfahrungsräume' des
Falles, so daß unterschiedliche Typiken in ihrer Überlagerung, Verschrän-
kung ineinander und wechselseitigen Modifikation sichtbar werden. ,,115
Zentral für die dokumentarische Methode ist die methodologische Diffe-
renz von immanentem und dokumentarischem Sinn gehalt; insofern muß die
Interpretation von Sinn auf verschiedenen Ebenen, und zwar der der "Formu-
lierenden Interpretation" und der der "Reflektierenden Interpretation" erfol-
gen. "Die methodologische Leitdifferenz von immanentem und dokumentari-
schem Sinngehalt schlägt sich forschungspraktisch in zwei klar voneinander
abgrenzbaren Schritten der Textinterpretation nieder: ,Formulierende Inter-
pretation' und ,Reflektierende Interpretation'. Im ersten Schritt geht es dar-
um, den immanenten Sinngehalt insoweit zu erfassen, als der ,wörtliche' Ge-
halt des Mitgeteilten zusammenfassend formuliert wird. Dies ist eine Lei-
stung der Reflexivität. Die Grundstruktur der Formulierenden Interpretation
ist die thematische Gliederung, die Thematisierung von Themen, die Ent-
schlüsselung der weitgehend impliziten thematischen Struktur. Erst im näch-
sten Schritt, demjenigen der eigentlichen dokumentarischen Interpretation,
wird auf den erlebnismäßigen und diskursiven Herstellungsprozeß von Wirk-
lichkeit reflektiert - vor dem Hintergrund von Vergleichshorizonten. Grund-
gerüst der Reflektierenden Interpretation ist die bereits erwähnte Rekon-
struktion der Formalstruktur der Diskurse. ,,116 Wir werden auf die einzelnen
Arbeitsschritte der dokumentarischen Methode später gesondert eingehen. Es
kommt uns hier vor allem darauf an, auf die Differenzierung verschiedener
Sinnebenen hinzuweisen.
In unserem Kontext ist nun der dokumentarische Sinn entscheidend, und
es wird zu prüfen sein, inwieweit er mit der Meadschen Kategorie des objek-
tiven Sinns übereinstimmt. Interessant ist bereits an dieser Stelle, daß der
subjektiv-intentionale Sinn vom dokumentarischen Sinn und vom immanen-
ten Sinn abgegrenzt wird. "Der intendierte Ausdruckssinn unterscheidet sich
vom Dokumentsinn durch die kommunikative Absicht, vom immanenten

114 Mannheim, K., Wissenssoziologie, a.a.O., S. 220


115 Bohnsack, R., a.a.O. S. 159
116 Bohnsack, R., Dokumentarische Methode, a.a.O., S. 202f.

65
Sinn gehalt dadurch, daß die kommunikative Absicht nicht explizit oder the-
matisch, sondern gestalterisch, metaphorisch oder ,stilistisch' zum Ausdruck
gebracht wird.,,117 Dokumentarischer Sinn, immanenter Sinn und intendierter
Sinn stellen Differenzierungen innerhalb des Sinnbegriffs der dokumentari-
schen Methode dar, denen verschiedene Arbeitsschritte zum Zwecke der De-
chiffrierung sozialer Phänomene zugeordnet werden. Der dokumentarische
Sinn kann dabei als grundlegend gelten; seine Interpretation ist Prä-
supposition der anderen Sinnebenen.
Im folgenden wird kurz das Analyseverfahren der dokumentarischen
Methode vorgestellt.

- Analyseverfahren

Das Analyseverfahren der dokumentarischen Methode umfaßt die folgenden


vier Stufen der Rekonstruktion:
1. Formulierende Intepretation
2. Reflektierende Interpretation
3. Diskursbeschreibung
4. Typenbildung. 118

zu 1. Formulierende Interpretation
Auf dieser Stufe geht es darum, sich eine "Übersicht über den Text" zu ver-
schaffen. Dabei werden einzelne Phasen unterschieden, die wie folgt kurz
umrissen werden können:
Vergegenwärtigung der angesprochenen Themen im jeweiligen Text,
wobei nach Ober- und Unterthemen gegliedert wird.
Auswahl der Passagen, die für uns Erkenntnisinteresse haben und auf die
sich die "Reflektierende Interpretation" später richtet.
Selektion jener Passage, die "unserem ersten und später dann zu überprü-
fenden Eindruck nach, sich durch besondere interaktive und metaphori-
sche Dichte auszeichnet".
Herausarbeitung einer thematischen Feingliederung.

zu 2. Reflektierende Interpretation
In dieser Phase geht es um die Rekonstruktion und Explikation des Rahmens
der Themenbearbeitung. Eine besondere Bedeutung hat dabei der Aufweis
von negativen und positiven Gegenhorizonten. Ein positiver Gegenhorizont
ist dann gegeben, wenn der Interviewte Aussagen trifft, denen er zustimmt;
ein negativer ist bei Aussagen, die von ihm abgelehnt werden, gegeben. "Ne-
gative und positive Gegenhorizonte sowie deren Enaktierungspotentiale sind

117 Bohnsack, R., Dokumentarische Methode, a.a.O., S. 206.


118 Bohnsack, R., Rekonstruktive Sozialforschung, a.a.O., S.132 ff.

66
wesentliche Komponenten des Erfahrungraums einer Gruppe. Sie konstituie-
ren den Rahmen dieses Erfahrungsraumes. Zwischen diesen Komponenten
bzw. innerhalb dieses Rahmens ist die von diesem Erfahrungsraum getragene
Orientierungsfigur gleichsam aufgespannt." Eine besondere Rolle spielt in
diesem Zusammenhang die "komparative Analyse". Komparative Analyse
meint vergleichende Analyse in dem Sinne, daß die jeweilige konkrete Ana-
lyse eines Falles auf der Folie des Vergleichs mit anderen empirischen Fall-
analysen erfolgt. Auf diesem Hintergrund läßt sich denn auch der Reflexions-
begriff der dokumentarischen Methode bestimmen. "Reflexion setzt Gegen-
oder Vergleichshorizonte voraus. Und eine Reflexionsleistung, die empi-
risch-methodisch kontrolliert vollzogen werden soll, muß sich auf empirisch
fundierte und nachvollziehbare Gegenhorizonte stützen. Mit Bezug auf den
hier zugrundeliegenden Reflexionsbegriff haben wir den zweiten Schritt ,Re-
flektierende Interpretation' ... genannt. ,,119

zu 3. Fallbeschreibung
Auf dieser Ebene geht es um die Zusammenfassung der Strukturgestalt (Ge-
samtgestalt) des Falles. "Die Fallbeschreibung hat primär die Aufgabe der
vermittelnden Darstellung, Zusammenfassung und Verdichtung der Ergeb-
nisse im Zuge ihrer Veröffentlichung. ,,120

zu 4. Typenbildung
Auf dieser Ebene werden Typen generiert. "Im Zuge der Typenbildung, der
Generierung einer Typik werden Bezüge herausgearbeitet zwischen spezifi-
schen Orientierungen einerseits und dem Erlebnishintergrund oder existenti-
ellem Hintergrund, in dem die Genese der Orientierungen zu suchen ist, an-
dererseits. ,,121 Unterschiede werden auf der Folie von Gemeinsamkeiten
sichtbar gemacht. "Der Kontrast in der Gemeinsamkeit ist fundamentales
Prinzip der Generierung einzelner Typiken und ist zugleich die Klammer, die
eine ganze Typologie zusammenhält. ,,122

3.3.2 Fallbeispiel (Bildungsforschung)

An einem Fallbeispiel aus der Bildungsforschung soll im folgenden die For-


schungspraxis der dokumentarischen Methode verdeutlicht werden. Das For-
schungsbeispiel entstammt einer Dissertation über das professionelle Selbst-

119 Bohnsack, R., a.a.O., S. 41


120 Bohnsack, R., a.a.O., S. 139
121 Bohnsack, R., a.a.O., S. 141
122 Bohnsack, R., a.a.O., S. 144

67
bild und das Bild vom Kind sowie die Erfahrungen der "Wende" bei Krip-
penerzieherinnen aus den neuen Bundesländern. 123

Exemplarische Auswertung einer Gruppendiskussionspassage

Transkript
Gruppe: Marienkäfer
Gruppendiskussion vom: 24.8.1992
Zahl der Teilnehmerinnen: VIer
Passage: Arbeit nach PlanlLeitung

A: jetzt mußte eben das Kind äh das und das zu 001


dem und dem Zeitpunkt machen also war man immer 002
irgend wie als Erzieherin son bissei (.) naja in ner 003
Buhmann-Rolle gewesen; das mußte das eben bei der 004
Erzieherin lernen und (.) naja am Ende sollte es zwar 005
nicht abgerechnet werden aber es wurde doch geschaut 006
(.) was hat se denn nun erreicht die Erzieherin mit den 007
Kindern; 008
B: hmm, irgendwie wurde die Arbeit der Erzieherin 009
daran jemessen wie weit sind denn die Kinder nu in der 010
Gruppe (.) könnse schon des und des und des also so 011
ungefähr dann is det nich positiv für die Erzieherin da 012
hat set ja noch nich jelernt (.) aber im andern Sinne 013
war se vielleicht viellieber zu der Er- zu den Kindern 014
jewesen in dem Sinne oder hat se mal aufn Schoß 015
jenommen und hat ebendjedacht na schiet wat is mir 016
ejal ob der ne Brücke bauen kann oder nen Turm (.) ick 017
nehm se ebend lieber mal aufn Schoß oder ick mach ebend 018
dies undjenet mit dem Kind; 019
I: hmm 020
B: det kann man ebend 021
jetzt selber entscheiden (.) oder wie wie die Stimmung 022
och der Kinder is det merken wir also wir arbeiten 025
unten bei den Kleineren deshalb sprechen wir jetzt 026

123 Nentwig-Gesemann, I. (1999): Professionelles Selbstbild und Bild vom Kind bei Krippen-
erzieherinnen aus den neuen Bundesländern (vorläufiger Titel), Opladen (erscheint). Für
weitere ausführliche forschungspraktische Darstellungen der Arbeitsschritte siehe u.a.:
Bohnsack R., P. Loos, B. Schäffer, K. Städtler u. B. Wild (1995): Die Suche nach Ge-
meinsamkeit und die Gewalt der Gruppe, Opladen, S. 447-457; sowie Bohnsack, R.
(1989): Generation, Milieu und Geschlecht - Ergebnisse aus Gruppendiskussionen mit
Jugendlichen, Opladen; sowie: Loos, P. (1999): Zwischen pragmatischer und moralischer
Ordnung. - Der männliche Blick auf das Geschlechterverhältnis im Milieuvergleich,
Opladen. Für die Schritte der Fallbeschreibung und Typenbildung siehe auch: Schäffer, B.
(1996): Die Band, Opladen (Teil II)

68
hauptsächlich für diese Altersgruppe; Montags sind se 027
ebend sehr müde und und abgespannt die Kinder ja dann 028
kann man auch nicht soviel von ihnen fordern denn denkt 029
man eben läßte se heute (.) machste eben morgen was de 030
dir vorgenommen hast oder (.) 031
I: hmm 032
B: wird keen Zwang 033
ausgeübt eben von (.) nich von ner andern Erzieherin 034
und nich von der Leiterin; 035
und da wurden eben dann so 036
Normen aufgestellt, die man ausm Erziehungsprogramm 037
rausgenommen hat die hat man sich dann aufn Plan 038
geschrieben, vierzehn Tage konnte man se lassen man 039
konnte se auch vier Wochen lassen aber dann mußte se 040
dann mußten se das quasi erreicht haben dann sollte man 041
des immer noch im Hinterkopf behalten aber dann kam 042
des nächste Ziel dran; so und nun hat man aber sicherlich 043
en paar Kinder gehabt die hatten das Ziel noch nicht 044
erreicht gehabt ja und deswegen is es eigentlich 045
Quatsch daß man sich das aufschreibt (.) und und äh (.) 046
sind dann bestimmt auch viele Sachen aufgetreten die 047
war standen eben so nich im Plan drin die wären aber 048
nur für mich bedeutsam gewesen (.) und (.) die hätte 049
ich auch hinschreiben können aber (.) man hat sich dann 050
eigentlich auch der Einfachheit halber immer an die (.) 051
Stichpunkte gehalten die dann dort drin standen; (.) 052
C: hier sind 053
dann Fachberater immer so ausm Kreis ne gekommen und 054
die haben dann auch hospitiert in den Gruppen (.) 055
?: hmm 056
C: und haben 057
auch die Planarbeit kontrolliert; (2) tja (3) die kamen 058
dann auch öfter und wenn denen dann wieder irgendwie 059
was eingefallen is naja des is nich richtig also (.) 060
A: (Lachen) 061
C: die erste 062
denn mußte des eben wieder alles verschwinden, 063
B: was vorjet Jahr 064
richtig war (.) 065
C: ja 066
B: is dies Jahr verkehrt. 067
C: und denn war des 068
andere war es wieder falsch denn also det fand ick 069
immer sehr schlimm; 070

69
Alle: hmm 071
C: zum Beispiel die Kinder die 072
spielen gerne mit diesen kleinen Plastikflaschen 073
Cremebüchsen und so wat allet naja und denn ham wir 074
nachher auch gesammelt und harns dann mit rein in den 075
Gruppen genommen und auf einmal durfte det allet nich 076
mehr sein; dann mußte wieder alles raus und die Kinder 077
hamja wirklichjerne damit gespielt ja, C.) und wir 078
haben alles ausgewaschen was soll da passieren? 079
CB): hmm 080
C: dat durfte ja 081
dann nich mehr sein. 082
B: naja das ging so weit daß se uns 083
vorgeschrieben haben wie wir die Möbel stellen sollten; 084
muß ich richtig mal so krass sagen C.) daß ebend det 085
sollte da in dieser Ecke nich stehen und det sollten 086
wir von da nach hier räumen det wär doch besser 087
jewesen, 088
A: dann sollte der Zweig aus dem Gruppenraum raus 089
B: ja 090
A: 091
der anner Decke hing (.) 092
I: ach 093
B: da hatten wir uns 094
A: ja 095
B: 096
son Zweig und den harn wir dann immer geschmückt der 097
sollte raus der war eben zu groß für diesen Raum; 098
A: M9
und die Tischdecke vom Tisch 100
B: also richtig die die 101
d~ 1m
A: 103
die die hatte bunte kleene Käfer hier ne weiße 104
Tischdecke mit kleenen Marienkäferchen; die war zu bunt 105
C.) die Tischdecke 106
B: ~a 107
C: keine Gardinen an die Fenster da kann ick 108
mich auch noch dran erinnern 109
B: ja also die mußten ne 110
bestimmte Höhe haben ham se ja unten bestimmt schon 111
jesehen 112
A: hier so wie hier also hier auch so kurz so 113
I: ja 114

70
~)ja 115
B: ne bestimmte Zentimeterzahl mußten die von oben 116
haben, 117
I: hmm 118
A: das war schon nen bißchen also (2) wobei 119
wir harns hier immer ganz gut abblocken können ne, 120
B: 121
weil wir ja son bißchen vom Schuß sind von N-Stadt 122
A: ja 123
I: hmm 124
B: ham wir dat denn immer son bißchen abjeblockt 125
A: und bei ( ) stellen ham wir uns 126
denn wirklich auf stur gestellt 127
B: und harns nich jemacht 128
A: und da da muß ich auch sagen hat unsere Leiterin 129
eigentlich auch ganz (Lachen) ganz gut reagiert; 130
die wollte das denn aufm Papier sehen wo das geschrieben 131
steht daß diese Tischdecke da nich liegen darf; 132
I: hmm 133
B: ja 134
A: oder daß die zu bunt is und naja und aufm Papier 135
zeigen konnte sies nich und da isse liegen geblieben 136
(.) dann die Decke; aber das war eben immer 137
Zivilcourage von den einzelnen Leuten (.) inwieweit se 138
dann sich davon haben beeinflussen lassen oder nich ne 139
I: 140
hmmja 141
A: und ich meine wenn man jetzt ne Leiterin gehabt 142
hätte die darauf voll mit drauf eingestiegen wär naja 143
dann hätte mans eben so machen müssen; 144
B: hmm 145
I: hmm (5) 146

Formulierende Interpretation

Gruppe: Marienkäfer
Passage: Arbeit nach PlanlLeitung

01-35 Der Maßstab für die Qualität der pädagogischen Arbeit


waren die Lerneifolge der Kinder.

01-13 Da früher die Kinder bei einer Erzieherin zu einem festgelegten


Zeitpunkt bestimmte Kompetenzen erworben haben mußten, war
diese "immer irgendwie" in einer "Buhmann-Rolle" (02-04).

71
Zwar wurde nicht "abgerechnet" (06), aber man prüfte, was sie
mit den Kindern ihrer Gruppe erreicht hatte. Die Qualität ihrer
pädagogischen Arbeit wurde insofern am Entwicklungsstand der
Kinder gemessen, als sie persönlich für ausbleibende Lernerfol-
ge verantwortlich gemacht wurde.

13-20 Die Erzieherin, bei der die Kinder die vorgegebenen Lernziele
nicht erreichten, war ihnen möglicherweise emotional viel zuge-
wandter ("lieber", 14) und vermittelte ihnen mehr Körperkon-
takt ("aufn Schoß jenommen", 15-16). Bei den Aktivitäten mit
dem Kind war es für sie dann gleichgültig, ob es - wie vorgege-
ben - eine Brücke oder einen Turm bauen konnte.

21-35 Heute kann die Erzieherin selbst über ihre Angebote an die Kinder
entscheiden und dabei auch deren Stimmung berücksichtigen. Ins-
besondere die kleinen Kinder sind am Montag "müde und abge-
spannt" (28), so daß man die Forderungen an sie reduzieren muß.
Es ist allein die Entscheidung der Erzieherin, geplante Aktivitäten
auf den folgenden Tag zu verschieben, da weder von einer ande-
ren Erzieherin noch von der Leiterin Zwang ausgeübt wird.

36-52 Die Arbeit orientierte sich an den normativen Vorgaben des Er-
ziehungsprogramms.

36-43 Im Erziehungsprogramm wurden Normen aufgestellt, die die Er-


zieherinnen in ihre Arbeitspläne aufnahmen. Spätestens nach
vier Wochen mußten die Kinder die formulierten Entwicklungs-
ziele erreicht haben. Die Erzieherin mußte dann zum nächsten
Ziel übergehen, das alte allerdings im "Hinterkopf' (42) behal-
ten.
43-49 Es war eigentlich unsinnig ("Quatsch", 46), Lernziele festzu-
schreiben, weil einige Kinder der Gruppe beim Übergang zum
nächsten Ziel das vorangegangene noch nicht erreicht hatten. Au-
ßerdem zeigten die Kinder darüber hinaus Verhalten, das nicht im
Plan stand und das nur für die Erzieherin bedeutsam war.

49-52 Obwohl die Erzieherinnen das über die Vorgaben hinausgehen-


de Verhalten auch hätten aufschreiben können, orientierten sie
sich "der Einfachheit halber" (51) immer an den Stichpunkten,
die im Plan standen.

53-118 Die Vorgaben der Fachberater, die die Arbeit nach Plan kon-
trollierten, waren nicht nachvollziehbar.

72
53-71 Die Planarbeit wurde von den Fachberatern des Kreises kontrol-
liert, die in den Gruppen hospitierten. Der Zwang, sich an deren
Forderungen, die für die Erzieherinnen nicht nachvollziehbar
waren ("irgendwie was eingefallen", 59-60), anzupassen sowie
die Inkonsistenz bei der Einschätzung pädagogischer Richtlinien
("was vorjet Jahr richtig war is dies Jahr verkehrt", 64-67) bela-
stete die Erzieherinnen.
72-82 Da Kinder zum Beispiel gern mit »Plastikflaschen« und "Creme-
büchsen" (73-74) spielen, sammelten und benutzten die Erziehe-
rinnen entsprechendes Material in ihren Gruppen. Die Erziehe-
rinnen können noch heute nicht verstehen, daß das Material plötz-
lich entfernt werden mußte, obwohl sie sogar eine potentielle Ge-
fahrenquelle erkannt und beseitigt hatten ("alles ausgewaschen",
79).
83-118 Es folgt eine Aufzählung verschiedener Vorgaben und Maßrege-
lungen, die die Reichweite der kaum begründeten Eingriffe in
die erzieherische Arbeit verdeutlicht: Der Standort von Möbeln
mußte mit dem Argument verändert werden, daß es "besser" (87)
so wäre. Der geschmückte Zweig im Gruppenraum mußte von der
Decke entfernt werden, weil er angeblich zu groß für den Raum
war. Eine weiße Tischdecke mit kleinen Marienkäfern wurde als
"zu bunt" (l05) beurteilt und sollte entfernt werden. Sogar die
Zentimeterzahl der Gardinenlänge wurde genau festgelegt.
119-146 Vorgaben konnten wegen der peripheren Lage des Dorfes und des
couragierten Verhaltens der Leiterin teilweise abgeblockt werden.
119-125 Bestimmte Vorgaben konnten ignoriert (»abjeblockt«, 125)
werden, weil sich die dörfliche Krippe weit entfernt von der zu-
ständigen Kreisstadt befand.
126-141 Darüber hinaus war es nur möglich, bestimmte Vorgaben nicht
zu erfüllen und "auf stur zu stellen" (127), weil die Leiterin ge-
schickt auf die Forderungen reagierte: Da die Fachberaterin der
Leiterin nicht die geforderte schriftliche Fixierung der Vorgabe
("wollte das denn aufm Papier sehen", 131) zeigen konnte, ig-
norierte man die Anweisung. Inwieweit der Einzelne sich beein-
flussen ließ oder nicht, wird generell auf seine "Zivilcourage"
(138) zurückgeführt.
142-146 Bei einer Leiterin, die das Vorgehen der Fachberaterinnen un-
terstützt hätte ("voll mit drauf eingestiegen wär", 143), hätte
man sich den Forderungen nicht widersetzt, sondern wäre ge-
zwungen gewesen, entsprechend der Vorgaben zu handeln.

73
Reflektierende Interpretation

Gruppe: Marienkäfer
Passage: Arbeit nach Plan/Leitung

01-08 Proposition durch A

A charakterisiert den von den Erzieherinnen geforderten leistungsorientierten


Erziehungsstil: Da die Kinder zu festgelegten Zeitpunkten bestimmte Kom-
petenzen erworben haben mußten, stand auch die Erzieherin unter einem ho-
hen Erwartungsdruck. Der Maßstab für die Beurteilung der Qualität ihrer
pädagogischen Arbeit waren die Lernerfolge der Kinder. Auch wenn die Be-
urteilung von außen dabei nicht im einzelnen von den erreichten Zielen ab-
hängig gemacht wurde ("zwar nicht abgerechnet", 05-06), wurde der erreich-
te Entwicklungsstand der Kinder letztlich doch so mit ihrer Kompetenz als
Erzieherin verknüpft, daß damit eine latente, generelle Schuldzuschreibung
verbunden war. Dies führte zu einem nebulösen Gefühl, "immer irgend wie in
ner Buhmann-Rolle" (02-04) zu sein und der Verantwortung eigentlich nie
gerecht werden zu können. Impliziert ist damit, daß die zu erreichenden
Entwicklungsziele so hoch gesteckt waren, daß sie oft oder in der Regel nicht
erreicht werden konnten.

09-19 Validierung und Elaboration der Proposition durch B

B bestätigt den von A eröffneten negativen Gegenhorizont: Wenn Kinder die


vorgegebenen Entwicklungsziele nicht erreicht hatten, wurden diese Diskre-
panzen zwischen formellem Programm und dessen Enaktierung nicht offen
problematisiert, sondern sie wurden immer den Erzieherinnen negativ ange-
lastet. Als positiven Horizont stellt sie dem einen anderen Umgang der Er-
zieherin mit den Kindern gegenüber: Die Erzieherin, bei der die Kinder die
Lernziele nicht erreichten, war ihnen möglicherweise emotional viel mehr
zugewandt und ermöglichte ihnen mehr Körperkontakt. Demgegenüber er-
schien es ihr gleichgültig, ob das Kind eine ganz spezifische Kompetenz
(eine Brücke oder einen Turm bauen können) hatte oder nicht. Die emotiona-
le Beziehungsebene und Aktivitäten, die inhaltlich vage bleiben, werden hier
den normativen, detailliert ausformulierten Vorgaben des Erziehungspro-
grammes gegenübergestellt.

20 Hörersignal durch 1

Die Interviewerin gibt zu verstehen, daß sie aufmerksam ist bzw. die Erläute-
rung verstanden hat.

74
21-31 Anschlußproposition durch B

Nach dem Wegfall der äußeren Vorgaben sind die individuellen Entschei-
dungs- und Handlungsspielräume der Erzieherinnen gewachsen. Sie selbst
entscheiden über die Angebote an die Kinder und haben die Möglichkeit,
das, was sie sich vorgenommen haben, auf einen anderen Tag zu verschie-
ben, wenn die "Stimmung" (22) der Kinder dies sinnvoll erscheinen läßt. Die
Forderungen an die Kinder, die mit der Leistungsorientierung des Program-
mes verbunden waren, treten hinter eine gelassenere Haltung zurück, die
auch den Kindern größere Freiräume eröffnet ("läßte se heute", 30).

32 Hörersignal durch I

Die Interviewerin gibt zu verstehen, daß sie aufmerksam ist bzw. die Erläute-
rung verstanden hat.

33-35 Zwischenkonklusion durch B

B faßt abschließend zusammen, daß heute - anders als früher - weder bei der
inhaltlichen Gestaltung der pädagogischen Arbeit noch in Bezug auf die Ein-
haltung eines Zeitplans von der Leiterin oder anderen Erzieherinnen
"Zwang" (33) ausgeübt wird.

36-52 Proposition und ihre Elaboration durch A

A veranschaulicht den Leistungsdruck, unter dem sowohl Erzieherinnen als


auch Kinder standen, um die vorgegebenen Entwicklungsziele zu erreichen.
Die Normen, an denen sich die Erzieherinnen bei der Vorbereitung und Aus-
wertung ihrer pädagogischen Arbeit - in Form von Plänen - orientierten, ent-
nahmen sie dem "Erziehungsprogramm" ("hat man sich dann aufn Plan ge-
schrieben" (38-39). Man hielt sich "der Einfachheit halber" (51) an diese
Vorgaben, d.h. paßte sich aus pragmatischen Gründen den Erwartungen an
und nutzte Freiräume, etwas über das Programm Hinausreichendes in den
Plan aufzunehmen nicht ("die hätte ich auch hin schreiben können", 54).
Kindliche Verhaltensweisen, die nicht im Plan standen, wären "nur" für die
Erzieherin "bedeutsam gewesen" (48-49) und spielten bei der Kontrolle und
Bewertung ihrer Arbeit keine Rolle. Auch die Erzieherinnen konzentrierten
sich bei der Wahrnehmung und Dokumentation von kindlichem Verhalten
daher auf die im Plan formulierten Entwicklungsaufgaben und Ziele. Diskre-
panzen zwischen dem formellen Programm und der pädagogischen Realität
wurden also selbst dann nicht dokumentiert, wenn die Möglichkeit bestand.
Die Orientierung an den im Programm festgelegten Altersnormen erwies
sich in der Praxis als nicht sinnvoll und kaum realisierbar ("eigentlich
Quatsch", 46): Die Erzieherin mußte zum nächsten Ziel übergehen, auch

75
wenn nach der vorgesehenen Zeit noch nicht alle Kinder das zuvor angestreb-
te Lernziel erreicht hatten. Gleichzeitig sollte sie aber für den gleichen Ent-
wicklungsstand bei allen Kindern sorgen, so daß sie die noch nachzuholen-
den Ziele immer "im Hinterkopf behalten" mußte (42). Darüber hinaus war
es unmöglich, in einem Plan die jede Planmäßigkeit überschreitende Vielfalt
kindlichen Verhaltens festzuschreiben, so daß viele Verhaltensweisen der
Kinder unberücksichtigt blieben. Eine kindzentrierte Pädagogik in dem Sin-
ne, daß die Erzieherin bei den Bedürfnissen und Kompetenzen der Kinder
ansetzt, war daher nicht möglich.

53-70 Anschlußproposition durch C und ihre interaktive Elaboration durch


C, A undB

Die Fachberater des Kreises hospitierten bei den Erzieherinnen, um über die
Arbeit entsprechend des Plans zu urteilen. Belastend ("schlimm", 70) war
dabei vor allem der ständige Druck, neuen, willkürlich veränderten Anforde-
rungen gerecht werden zu müssen, ohne an Entscheidungen beteiligt zu sein.
Es werden also zum einen die Inhalte der Planvorgaben kritisiert, die als be-
liebig und pädagogisch nicht fundiert wahrgenommen wurden ("irgendwie
was eingefallen", 59-60). Darüber hinaus stellen vor allem die von den Er-
zieherinnen zu bewältigenden Enaktierungsprobleme einen negativen Ge-
genhorizont der Gruppe dar. Die Erzieherinnen kritisieren nachträglich vor
allem, daß ihnen die pragmatische Anpassung an Vorgaben erschwert wurde
und sie ständig befürchteten, in einen Widerspruch zwischen alten und neuen
Verhaltensanforderungen zu geraten. Ein Diskurs über Sinn und Zweck von
Vorgaben wurde offensichtlich nicht in Betracht gezogen.

71 Validierung durch alle Teilnehmerinnen

Die anderen Erzieherinnen stimmen der Einschätzung von C zu, daß sie vor
allem unter der Willkür gelitten haben, mit der Vorgaben für sie nicht nach-
vollziehbar verändert wurden.

72-118 Exemplijizierung der Proposition durch C, Bund A

C vermittelt anschließend in Interaktion mit Bund A anhand von Beispielen,


welche konkreten Erfahrungen und Erlebnisse dieser Einschätzung zugrunde
lagen und damit den negativen Gegenhorizont der Gruppe konstituiert haben.
Es wird deutlich, daß die Fachberater die Vorgaben ihnen gegenüber nicht
diskursiv begründeten. Sie mißbrauchten ihre Macht vielmehr in dem Sinne,
als sie auch absurde, weder vom pädagogischen noch vom alltäglichen
Standpunkt rational nachvollziehbare Gründe als ausreichend erachteten, um
die Umsetzung einer Anweisung einzufordern (Zweig "war zu groß", 98;
Tischdecke "war zu bunt", 105). Die Erzieherinnen zogen ganz offensichtlich

76
nicht in Betracht, ihre Argumente für eine bestimmte, bewährte Praxis (aus-
gewaschene Cremedosen u.ä. als Spielmaterial für die Kinder) der Fachbera-
terin gegenüber vorzubringen und für ihre Meinungen zu streiten. Die Vor-
schriften bezogen sich nicht nur auf pädagogisch relevante Fragen, sondern
berührten alle, auch nebensächliche Bereiche der Krippe, wie z.B. die Länge
der Gardinen oder die Stellung der Möbel. Die Möglichkeit, selbstbestimmt
zu arbeiten und den Arbeitsplatz zu gestalten, wurde also in jeder Beziehung
massiv eingeschränkt. Insgesamt wird deutlich, daß es in erster Linie um die
Anpassung an kollektiv verordnete Reglementierungen ging und nicht darum,
daß die einzelne Erzieherin den Sinn und Zweck einer Vorschrift verstand
und mittrug.

114-115 Hörersignal durch 1

Die Interviewerin gibt zu verstehen, daß sie aufmerksam ist bzw. die Erläute-
rung verstanden hat.

119-128 Proposition durch A in Interaktion mit B

Im Anschluß an die interaktiv entfalteten Exemplifizierungen sind sich die


Erzieherinnen in ihrer negativen Bewertung der als willkürlich und unbe-
gründet empfundenen Forderungen einig. A und B verdeutlichen dann, daß
sie die Eingriffe der Kontrollinstanzen teilweise "abblocken" (120) konnten:
Die Form des Widerstandes der Erzieherinnen war die Verweigerungshal-
tung ("auf stur gestellt", 127) und das Ignorieren von Vorgaben ("hams
nich jemacht", 131), nicht aber die offene, kritische Auseinandersetzzung
mit der Fachberaterin. Daß sie sich überhaupt bestimmten Forderungen
entziehen konnten, führen sie darauf zurück, daß sich ihre Krippe am Rande
des Einfluß- und Kontrollbereichs der zuständigen Kreisstadt befand. Die ei-
gene, personale Kontrolle, die Möglichkeiten, auf die Vorgesetzten Einfluß
zu nehmen, wurden dagegen als sehr gering eingeschätzt.

129-141 Anschlußproposition durch A, Validierung durch B

Auch das Verhalten der Leiterin ermöglichte, bestimmte Vorgaben nicht zu er-
füllen. Sie hat "gut reagiert" (130), weil sie sich auf derselben ,bürokratischen
Ebene', auf der die Anweisungen durchgesetzt werden sollten, diesen wider-
setzte. Auch versuchte sie nicht, den Sinn der Vorgaben inhaltlich zu diskutie-
ren oder deren pädagogischen Wert offen in Frage zu stellen; sie verlangte statt-
dessen die schriftliche Fixierung der Vorgabe. Die Möglichkeiten, sich zu wi-
dersetzen, wurden also noch eher auf der rein formalen Ebene gesehen (,das
System mit seinen eigenen Waffen schlagen'), als auf der des inhaltlichen Dis-
kurses. Das Verhalten ihrer Leiterin wird von den Erzieherinnen als "Zivil-
courage" (138) bewertet und dahingehend generalisiert, daß immer die Zivil-
courage des Einzelnen über Widerstand gegen Vorgaben bzw. die Nutzung von

77
Handlungsspielräumen entschied. Auch im Falle des Widerstandes mußte die
Hierarchie eingehalten werden - es war die Leiterin, die sich gegen die Fachbe-
raterin zur Wehr setzen konnte.

133, 140-141 Hörersignal durch 1

Die Interviewerin gibt zu verstehen, daß sie aufmerksam ist bzw. die Erläute-
rung verstanden hat.

142-145 Konklusion durch A, Validierung durch B

Abschließend zieht A das Fazit, daß sie als Erzieherinnen - ohne besondere
Stellung in der Hierarchie - keine Möglichkeit hatten, Zivilcourage zu zeigen
und sich den Vorgaben zu widersetzen. Auch eine offene und inhaltliche Dis-
kussion über den Sinn der pädagogischen Prinzipien und Vorgaben wurde nicht
in Betracht gezogen. Einfluß und Macht der externen Kontrollinstanzen waren
so groß, daß die Erzieherinnen davon abhängig waren, daß die Person auf der
nächsten Hierarchiestufe (die Leiterin) die eigenen Handlungsspielräume
kannte und in ihrem Sinne nutzte.

146 Hörersignal durch I

Die Interviewerin gibt zu verstehen, daß sie aufmerksam ist bzw. die Erläute-
rung verstanden hat.

Ausschnitte aus der Fallanalyse

Kollektive Orientierungen der Gruppe Marienkäfer

Das Programm für die Erziehungsarbeit in Kinderkrippen


(s. dazu im Transkript insbesondere: Marienkäfer, Arbeit nach PlanlLeitung,
1-52.)

Die Erzieherinnen der Gruppe Marienkäfer kritisieren nicht in erster Linie


die Inhalte der Vorgaben, sondern die Willkür, mit der diese verändert wur-
den, sowie die ihnen abgeforderte Enaktierung.

Statt Diskrepanzen zwischen formellem Programm und dessen Umsetzungs-


fähigkeit zum Ausgangspunkt einer offenen Diskussion zu machen, wurde
der Erzieherin die individuelle Schuld und Verantwortung für jede nicht pro-
grammgemäße Entwicklung der Kinder zugeschrieben. Diskrepanzen traten
dabei aus Sicht der Erzieherinnen so regelmäßig auf, daß sie "immer irgend-
wie in ner Buhmann-Rolle" (02-04) waren, das Programm aber unangetastet
blieb. Dem durch das Erziehungsprogramm determinierten Erziehungsstil

78
wird heute als positiver Gegenhorizont ein selbstbestimmteres, flexibleres
Arbeiten gegenübergestellt. Während die inhaltlichen Vorgaben des Pro-
grammes nicht generell problematisiert oder abgelehnt werden, wird auf der
Ebene der Enaktierung große Erleichterung empfunden. Eine ähnliche Ein-
schätzung dominiert auch in allen anderen Gruppen, wobei bei den Erziehe-
rinnen der Gruppe Integration und Prozeß zumindest ansatzweise auch in-
haltliche Kritik geäußert wird. Im Vergleich zum Beispiel mit der Gruppe
Schiffsfahrt läßt sich in der Marienkäfer-Gruppe allerdings eine handlungs lei-
tende Orientierung erkennen, die neben den frustrierenden Bemühungen um
plangemäßes Arbeiten steht: Der emotionalen, individuellen Zuwendung
zum Kind wird eine positive Bedeutung beigemessen. An dieser Stelle deutet
sich also eine Typik der sozialräumlichen Milieus an: Vergleichbar mit der
Arbeit in kleinen Einrichtungen steht hier der emotionale Kontakt zu den
Kindern in dörflicher Umgebung im Kontrast zum eher anonymen Kontakt in
den großen Einrichtungen der Metropole. Im Unterkapitel "Das Leben auf
dem Land" wird dies genauer herausgearbeitet. Die deutlich wahrgenomme-
ne Diskrepanz zwischen dem eigenen, durch das Programm geleiteten, plan-
mäßigen Handeln und der negativen Bewertung dieses Vorgehens als
"Quatsch" (46), wurde nicht nach außen dokumentiert. Offenbar weniger
deshalb, weil konkrete Sanktionen drohten, sondern weil man keine Ein-
flußmöglichkeiten sah bzw. nicht an Erfolge eines mühevollen Diskurses
glaubte, dokumentierte man nur, was erwünscht war und den Erwartungen
entsprach. Auch wenn es später in der Passage noch um die willkürliche Ver-
änderung von Vorgaben geht, die über den Rahmen des Programmes hin-
ausgingen ("was vorjet Jahr richtig war is dies Jahr verkehrt", Arbeit nach
PlanlLeitung, 74-77), werden diese weder inhaltlich diskutiert noch in Bezie-
hung gesetzt zu der Perspektive der Kinder. Die den Erzieherinnen abver-
langte dogmatische Enaktierung von darüber hinaus auch noch willkürlich
veränderten Vorgaben steht im Zentrum des negativen Gegenhorizontes der
Gruppe Marienkäfer. Ähnlich wie auch in der Gruppe Zwerg wird hier die feh-
lende Verläßlichkeit von Vorgaben kritisiert, so daß für konformes (und auch für
nicht konformes Verhalten) kein sicherer, bekannter Rahmen existierte.
Berufliche Position der Erzieherinnen, Stellung der Krippe und Verhalten
der Leiterin
(s. dazu im Transkript insbesondere: Marienkäfer, Arbeit nach PlanILeitung,
89-145).

Die Gruppe Marienkäfer, in der keine Erzieherin eine herausgehobene hier-


archische Position hatte, ist von dem Bemühen geprägt, riskante Diskurse
möglichst zu vermeiden bzw. an ihre Leiterin zu delegieren, die sie - anders
als zum Beispiel die Erzieherinnen der Gruppe Schiffsfahrt - als Vertrauensper-
son und Verbündete empfinden.

79
In dieser Passage wird deutlich, daß pädagogische Vorgaben und Prinzipien
nicht Gegenstand von Diskursen waren. Der pädagogische Sinn und Zweck
von Vorgaben, die die Fachberater einführten, wurde den Erzieherinnen of-
fenbar nicht transparent. Die Erzieherinnen forderten weder einen inhaltli-
chen Diskurs ein noch kritisierten sie offen die Willkür, mit der Vorgaben
verändert wurden. Ihre Form des Widerstandes war die Verweigerungshal-
tung und das Ignorieren von Vorgaben. Die eigene, persönliche Kontrolle
wird als sehr gering eingeschätzt, wenn die Erzieherinnen die Tatsache, daß
sie sich überhaupt bestimmten Forderungen entziehen konnten, ausschließ-
lich auf externe Faktoren zurückführen: die periphere Lage des Dorfes und
das Verhalten der Leiterin. Die Leiterin der Gruppe Marienkäfer wehrte sich
gegen die Vorgaben der übergeordneten Instanzen, indem auch sie allerdings
nicht den Inhalt der Vorgaben problematisierte, sondern deren formale Absi-
cherung einforderte. Dieses, von den Erzieherinnen als "Zivilcourage" (138)
bezeichnete Verhalten, schlug das System mit dessen eigenen Waffen. Inner-
halb des hierarchisch aufgebauten Systems waren die autoritären Strukturen
so dominant, daß über Diskrepanzen zwischen Vorgaben und ihrer Enaktie-
rung sowie über pädagogisch relevante Konsequenzen von Vorgaben aus der
Perspektive der Kinder nicht offen und diskursiv verhandelt werden konnte.
Auch im Falle des Widerstandes mußte die Hierarchie eingehalten werden:
Nur die Leiterin konnte sich widersetzen, und die Erzieherinnen fühlten sich
von ihrem Verhalten abhängig. Die Möglichkeit zu "Zivilcourage" war also
aus ihrer Sicht eng mit der beruflichen Position verbunden.
Durch die komparative Analyse mit den anderen Gruppen bestätigt sich
also die Typik der beruflichen Stellung: Wenn überhaupt, dann wurde auf der
Ebene der Leiterinnen, stellvertretenden Leiterinnen, Mentorinnen etc. die
Möglichkeit gesehen, sich offen und kritisch mit den Vorgaben bzw. dem
Erziehungsprogramm auseinanderzusetzen. Die Qualität des kritischen Ver-
haltens reichte dabei von der auf rein formaler Argumentation beruhenden
Verweigerung der Leiterin der Gruppe Marienkäfer über das selbstbewußte
Ausschöpfen aller vorhandenen Spielräume der Leiterin der Gruppe Linie bis
zum Einfordern und Führen eines inhaltlichen Diskurses bei den beiden
Mentorinnen aus den Gruppen Integration und Nase. Einer Erzieherin ohne
besondere Qualifizierung fehlte die "Zivilcourage", die in der Hierarchie hö-
her stehende Mitarbeiterinnen sich offensichtlich zutrauten.

80
Ausschnitte aus der Typologie

Zur Typik (sozial-) räumlicher Milieus

Das Dorf als positives Korrektiv zur staatlichen Verregelung des


Erziehungsprozesses

Das Dorf, das für die Gruppen Marienkäfer und Land einen existentiellen
Hintergrund der gemeinsamen Erfahrungen bildet, wird dort thematisiert, wo
sich die Erzieherinnen kritisch mit der staatlichen Verregelung des Erzie-
hungsprozesses und der fehlenden Berücksichtigung kindlicher Individualität
auseinandersetzen. Die ländliche "Idylle" wird dabei zur Metapher einer
expliziten Selbstverortung im sozialräumlichen Milieu. Der Tatsache, auf
dem Land zu leben, wird von den Erzieherinnen selbst ein eindeutig positiver
Einfluß auf ihre frühere Arbeitssituation zugeschrieben. Die periphere Lage
des Dorfes und die, im Vergleich mit der Metropole, größere räumliche Di-
stanz zu den übergeordneten hierarchischen Ebenen führte dazu, daß man de-
ren Einfluß- und Kontrollmöglichkeiten für begrenzter und die vorgeschrie-
b~ne Enaktierung von Vorgaben für hintergehbarer als in der Stadt hielt.
Trotz aller Begrenzungen sahen die Erzieherinnen für sich größere indivi-
duelle, professionelle Gestaltungsfreiräume als bei den, einer überpräsenten
staatlichen Kontrolle ausgesetzten, städtischen Erzieherinnen. Die Möglich-
keiten zur Selbstbestimmung der pädagogischen Arbeit werden dabei als
notwendige Voraussetzung für eine stärkere Berücksichtigung und Förderung
kindlicher Individualität und damit als Gegengewicht zur normativen, auf
dem staatlichen Erziehungsprogramm beruhenden Pädagogik betrachtet. Die
Idealisierung des Dorfes als "Idylle" konkretisiert sich im Sinne einer ländli-
chen Abgeschiedenheit, die mit dem Schutz vor den negativen Auswirkun-
gen einer modernen, städtischen Gesellschaft auf die menschlichen Bezie-
hungen verbunden ist. Der persönliche Charakter der zwischenmenschlichen
Beziehungen auf einem Dorf mit einer überschaubaren Zahl von Personen
überlagerte den institutionellen und professionellen Charakter von Beziehun-
gen, beispielsweise zwischen Erzieherinnen und Eltern. Die Trennlinie zwi-
schen Familie und pädagogischer Institution, zwischen öffentlicher und pri-
vater Sphäre wird daher als weniger scharf beschrieben. In diesem Zusam-
menhang steht auch die starke Betonung eines emotionalen, körperlich-
liebevollen Kontaktes zu den Kindern bei den beiden Gruppen vom Land, die
sich in dieser expliziten Art und Weise bei den Berliner Erzieherinnen nicht
finden läßt. Während der eigene Sozialraum mit größerer Wärme in den zwi-
schenmenschlichen Beziehungen und insbesondere mit mehr Zeit für die in-
dividuellen Bedürfnisse der Kinder in Verbindung gebracht wird, dient der
negative Gegenhorizont der Stadt als Metapher für Anonymität und Gefühls-
kälte. Im Hinblick auf den durch die Wende eingeleiteten Transformations-
prozeß bedeuten die beschriebenen Erfahrungen im Milieu des Dorfes, daß

81
dessen Randlage auch weiterhin als Schutz vor zu intensivem, die Erziehe-
rinnen in ihrem eigenen Entwicklungsprozeß überrollendem Einfluß von au-
ßen betrachtet wird. Die beiden ländlichen Gruppen zeichnen sich durch eine
abwartende, beobachtende Haltung der Erzieherinnen aus, die sich allmäh-
lich und auf der Grundlage eigener Initiative an neue pädagogische Konzepte
anzunähern versuchen. Im Extremfall entsteht sogar das Gefühl, durch die
Entfernung von Berlin von wichtigen und dringend erwünschten Informatio-
nen und Anregungen abgeschnitten zu sein. Bei den Teams von Erzieherin-
nen aus dörflichen Einrichtungen beruht die Veränderung der handlungs lei-
tenden Orientierungen sowie der pädagogischen Praxis in hohem Maße auf
einer aktiven und bewußt gesuchten Auseinandersetzung.

Die Metropole als Faktor der Verdichtung von äußeren Einflüssen

Anders als die Teams von Erzieherinnen aus dem dörflichen Milieu verortet
sich keine der Berliner Gruppen explizit im sozial-räumlichen Milieu der
Metropole oder des Stadtteils. Der Sozialraum wird nicht als ein von der Ge-
samtgeseIIschaft sich unterscheidender (im Fall des Dorfes: schützender)
Raum wahrgenommen. Die Erzählungen über die Arbeit vor der Wende sind
stark vom Gefühl geprägt, in hohem Maße fremd bestimmt gearbeitet zu ha-
ben und der kontrollierenden Autorität der Vorgesetzten, insbesondere der
Fachberater, machtlos ausgesetzt gewesen zu sein. Die vorgeschriebene und
durch schriftliche Planung und Auswertung kontrollierte Enaktierung des
Erziehungsprogrammes wird dabei unabhängig von einer eher positiven oder
negativen GrundeinsteIlung zur Krippenpädagogik der DDR immer wieder
negativ hervorgehoben. Diskrepanzen zwischen programmatischen pädago-
gischen Vorgaben und der Realität wurden immer der Erzieherin als profes-
sionelles Versagen negativ angelastet. Die Angst vor Sanktionen bei Abwei-
chung von den Vorgaben hatte einen sehr diffusen und damit besonders be-
drohlichen Charakter. Insgesamt verdichtet sich in den Diskussionen die Be-
urteilung dieser Situation wiederholt in der Formulierung, "ständigem Druck
von oben" ausgesetzt gewesen zu sein. In den Erzählungen der Erzieherinnen
dokumentiert sich in Bezug auf den Transformationsprozeß deutlich eine
unmittelbare Konfrontation mit den neuen, westlichen Erziehungskonzeptio-
nen in der wiedervereinigten Stadt. Die massive öffentliche Diskussion über
Zustand und Zukunft der Kindereinrichtungen im Ostteil der Stadt, die oft
mit einem massiven Anspruch auf Veränderung und Anpassung verbunden
war, führte dazu, daß die unvermeidliche Auseinandersetzung in extremer
Weise forciert und von den meisten Erzieherinnen als aufgezwungen emp-
funden wurde. Im Hinblick auf den Transformationsprozeß führte diese Si-
tuation zu zwei entgegengesetzten Reaktionen und damit zu unterschiedli-
chen Veränderungsdynamiken. Zum einen entwickelte sich in manchen
Teams eine ausgeprägte Verteidigungshaltung in Bezug auf die Erziehungs-
konzeptionen der DDR und die eigene eingespielte Alltagspraxis. Parallel

82
dazu werden die pädagogischen Konzepte aus dem Westen auf der Grundla-
ge einer negativen Stereotypisierung abgelehnt oder aber es werden nur mi-
nimale Integrationsmöglichkeiten der verschiedenen Ansätze gesehen. Eine
konstruktive und kritische Analyse sowohl der neuen als auch der alten Er-
ziehungstheorie und -praxis wird ebenso vermieden wie eine experimentelle
Auseinandersetzung mit und Aneignung von alternativen Konzepten. Die
hier verwendete Metapher des »Kampfes« illustriert den der Kon frontation
zwischen Ost und West zugeschriebenen, Charakter. Bei den Gruppen Nase,
Schiffsfahrt und Linie führte diese Reaktion zu einer weitgehenden Stagnati-
on im Prozeß der Veränderung, die entweder selbstbewußt vertreten wird
oder aber mit dem Gefühl der Überforderung und Angst verbunden ist. Die
geradezu existentielle Angst davor, »Schiffbruch« zu erleiden, verdeutlicht
die Erwartung, im Zuge der Veränderung der eigenen pädagogischen Arbeit
Sicherheit und Geborgenheit der eingespielten Alltagspraxis zu verlieren.
Wenn die in der DDR geprägten Erziehungsvorstellungen und -praktiken ihre
Fraglosigkeit und Gültigkeit verloren haben, es aber auch noch nicht gelun-
gen ist, neue handlungs leitende Orientierungen zu entwickeln, kommt es, wie
in der Gruppe Zwerg, zu einer hochgradigen Verunsicherung und Verwirrung
in Bezug auf das eigene Verhalten im Erziehungsalltag. Teilweise führte das
hohe Maß an Kontingenz nach der Wende aber auch zu dynamischen Verän-
derungsprozessen, während derer eine Vielzahl neuer Erziehungs-vorstel-
lungen und -konzeptionen erarbeitet und in die eigene Arbeit integriert wer-
den konnte. Die Erzieherinnen der Gruppen Integration und Prozeß haben
sich den Anspruch auf Transformation zu eigen gemacht und verstehen den
eigenen Entwicklungsprozeß als spannende Herausforderung mit ex-perimen-
tellern Charakter.

Zur Typik des hierarchischen Profils einer Einrichtung

Eine hohe Position in der beruflichen Hierarchie


als eine Voraussetzung für Gestaltungsfreiräume

Eine herausgehobene hierarchische Position in der Krippe als Mentorin,


stellvertretende Leiterin oder als Leiterin, also eine Funktion auf der Schnitt-
stelle zwischen der »normalen« Erzieherin und den der Krippe übergeordne-
ten Entscheidungs- und Kontrollinstanzen, kann als notwendige, selbstver-
ständlich nicht hinreichende Voraussetzung für einen offen-kritischen Um-
gang mit der staatlichen Pädagogik und den sie vertretenden Vorgesetzten
gelten. Innerhalb dieser Typik können die Mentorinnen bzw. stellvertreten-
den Leiterinnen der Gruppen Integration und Nase, die Leiterinnen der
Gruppen Linie und Marienkäfer sowie die ehemalige Leiterin aus der Gruppe
Land verortet werden. Auch bei den Einrichtungen, die beispielsweise als
Hospitations- und Ausbildungseinrichtungen an der Spitze der Hierarchie der
Institutionen des Krippensystems standen, bestätigt sich, daß Gestaltungsfrei-

83
räume bzw. deren Nutzung mit einer höheren hierarchischen Position poten-
tiell wuchsen. Hierzu zählen die Gruppen Linie und Nase. Die Einforderung
eines Perspektiven wechsels in Bezug auf die Interaktion zwischen Erzieherin
und Kind, ein Infragestellen der führenden Rolle der Erzieherin zugunsten
einer Kindzentrierung im pädagogischen Prozeß, wurde - wenn überhaupt -
dann aus diesen, das Selbstbewußtsein stärkenden Positionen heraus gewagt.
Auch die selbstbewußte Nutzung und Einforderung durchaus vorhandener
Gestaltungsmöglichkeiten und Spielräume innerhalb des Systems und der
vorgegebenen Programmatik wurde offenbar erst auf der Grundlage einer
herausgehobenen Position in der Hierarchie zu einer realistischen Hand-
lungsmöglichkeit. Konträre Positionen wurden dann entweder offen thema-
tisiert oder aber im pädagogischen Alltag enaktiert, so daß prinzipiell eine
diskursive Auseinandersetzung mit den Vertretern der übergeordneten hier-
archischen Ebene möglich gewesen wäre. Falls sie geführt wurde, ging dies
allerdings nie über den konkreten Einzelfall hinaus und mündete nicht in ei-
nen übergreifenden Prozeß des Umdenkens oder der Veränderung. Nonkon-
formes Verhalten wurde im Einzelfall (der Erzieherin oder der Krippe) also
zwar geduldet, war aber nicht mit einer öffentlichen und inhaltlichen Dis-
kussion alternativer pädagogischer Konzepte oder Vorstellungen verbunden.
Darüber hinaus wird deutlich, daß eine starke kollegiale Einigkeit und gegen-
seitige Unterstützung im Team sowie vor allem die selbstbewußte Rücken-
deckung der Erzieherinnen durch ihre Leiterin weitere zentrale Faktoren wa-
ren, die es ermöglichten, relativ offen von Vorgaben abzuweichen bzw. die
vorhandenen Möglichkeiten innerhalb des Systems optimal auszunutzen. Erst
im Rahmen einer komparativen Analyse wird deutlich, daß neben der eige-
nen hierarchischen Position der Erzieherin das Verhalten der Leiterin von
zentraler Bedeutung war. Gefühle der Fremdbestimmtheit und Machtlosig-
keit dominierten bei Erzieherinnen (z.B. in der Gruppe Prozeß) trotz eigener
hoher Position in der Hierarchie dann, wenn die Leiterin als eine Person
wahrgenommen wurde, die den Vorgaben und Kontrollen ebenso macht- und
einflußlos ausgesetzt war wie sie selbst. Dieser zentrale Unterschied bei
Gruppen, die in bezug auf die Typik des hierarchischen Profils ansonsten
durch Gemeinsamkeiten verbunden sind, läßt sich also auf unterschiedliches
Verhalten der jeweiligen Leiterinnen zurückführen. Je mutiger und selbstbe-
wußter eine Leiterin Gestaltungsfreiräume schuf und verteidigte, desto
selbstbestimmter fühlten sich auch die Erzieherinnen.

Eine niedrige Position in der beruflichen Hierarchie als eine Ursache für
Resignation und Konformität

Eine niedrige hierarchische Position in der Krippe führte dazu, daß die Er-
zieherinnen so gut wie keine Möglichkeiten sahen, der Fremdbestimmtheit
etwas entgegenzusetzen bzw. eigene Vorstellungen zu entwickeln und durch-

84
zusetzen. Innerhalb dieser Typik können Erzieherinnen der Gruppen Schiffs-
fahrt, Zwerg, Marienkäfer und Land verortet werden. Diese Gruppen sind
von dem Bemühen geprägt, riskante Dikurse über pädagogische Vorgaben
möglichst zu vermeiden bzw. die durchgehend als groß empfundenen Diskre-
panzen zwischen den programmatischen Vorgaben und der Realität des Er-
ziehungs alltags nach außen zu vertuschen. Ein allgemeines, eher diffuses Ge-
fühl von Fremdbestimmung und Ausgeliefertsein erzeugte ein ängstliches
Bemühen um konformes Verhalten, ein resignatives Sich-Fügen in - aus der
eigenen Position heraus - Unabänderliches. Diese Grundeinstellung wird in
der gebrauchten Mefapher, "immer irgendwie" in einer "Buhmann-Rolle" ge-
wesen zu sein, besonders transparent. Bei den Besuchen der Fachberater ver-
suchten beispielsweise die Erzieherinnen, eine pädagogische Situation durch
gezieltes Üben und Vorbereiten der Kinder möglichst so zu gestalten, als gä-
be es keine Enaktierungsprobleme bei den Vorgaben. Der als massiv emp-
fundene Rechtfertigungs- und Begründungsdruck gegenüber den Fachbera-
terinnen ist dabei kennzeichnend für den weitgehend autoritären Charakter
dieser Beziehung. Das sehr resignative und angepaßte Verhalten wurde nur
dann ansatzweise durchbrochen, wenn die Leiterin als Verbündete und Ver-
trauensperson empfunden wurde, an die der Widerstand gegen Vorgaben er-
folgreich delegiert werden konnte. Die Möglichkeit zu »Zivilcourage« wird
überhaupt nur in Verbindung mit einer höheren Position in der beruflichen
Hierarchie gesehen - fiel auch die Leiterin in dieser Beziehung aus, wurde
sie als Bestandteil des übermächtigen, bedrohlichen Systems wahrgenom-
men, war das Gefühl, sich dem "Druck" von oben machtlos beugen zu müs-
sen, überwältigend und absolut. Eine Erzieherin der Gruppe Land entschied
sich bewußt für einen Ausstieg aus der Berufsrolle, wie er für die DDR un-
typisch war, indem sie insgesamt sechs Jahre Erziehungsurlaub nahm. An
diesem Fall wird deutlich, daß das Gefühl der Machtlosigkeit angesichts der
verbindlichen Vorgaben und der Tatsache, daß Diskrepanzen nicht als offen
thematisierbar und behebbar empfunden wurden, im Extremfall eher zum be-
ruflichen Ausstieg als zum Wagnis eines kritischen Diskurses führte. Eine
niedrige Position in der beruflichen Hierarchie war also mit überwiegend
konformem Verhalten verbunden. Da es gleichzeitig aber sehr häufig innere
Widerstände gegen inhaltliche Vorgaben bzw. vor allem gegen die den Er-
zieherinnen abverlangte reglementierte und sie unter hohen Leistungsdruck
setzende Enaktierung gab, wuchsen professionelle Unsicherheit und Unzu-
friedenheit. Als Ausweg bei einer zu extremen Diskrepanz zwischen den ei-
genen Orientierungen und den Anforderungen von außen zeigt sich in den
Gruppendiskussionen für Erzieherinnen ohne herausgehobene hierarchische
Position nur die Möglichkeit, den Beruf zumindest zeitweise aufzugeben, um
damit der Nicht-Authentizität zu entgehen.

85
3.3.3 Kritik

Betrachten wir den wissenssoziologischen Ansatz der dokumentarischen


Methode im Lichte der Meadschen pragmatistisch-naturalistischen Konzep-
tion!24 Dabei zeigt sich, daß sich bezüglich des Handlungs- bzw. Interakti-
ons- und Sinnbegriffs ganz erstaunliche Parallelen ergeben. So läßt sich die
Kategorie des "konjunktiven Erfahrungsraumes" mit dem Meadschen Begriff
des sozialen Aktes (social act) bzw. der sozialen Kooperation vergleichen.
Entscheidend dürfte dabei die konstitutionslogische Verwandtschaft beider
sein. Betont wird in beiden Konzeptionen die konstitutionslogische Vorgän-
gigkeit des Sozialen (genuine Interaktion, konjunktiver Erfahrungsraum) vor
dem Individuellen. Darüber dürfen jedoch nicht die zum Teil differierenden
Erkenntnisinteressen beider Konzeptionen vergessen werden: Während sich
die Meadsche Konzeption auf eine fundamental-anthropologische und histo-
rische Betrachtung zugleich bezieht, richtet sich der Ansatz der dokumentari-
schen Methode auf historisch-gesellschaftlich spezifische Erfahrungsräume.
Dies aber eröffnet gerade die Chance einer komplementären Ergänzung bei-
der Konzeptionen; keineswegs stehen beide in einem Ausschließungsverhält-
nis zueinander. Auch bezüglich des Sinnbegriffs lassen sich Affinitäten bei-
der Ansätze feststellen. Zunächst einmal wird nicht auf der derivativen Ebene
des subjektiv intentionalen Sinns angesetzt. Vielmehr werden diesem vorge-
lagerte Sinnebenen zentral-thematisch. Bei Mead ist dies der sich in der tria-
dischen Relation des sozialen Aktes konstituierende objektive Sinn; bei
Mannheim ist es der dokumentarische Sinn. Die Differenzen resultieren auch
hier wieder aus den unterschiedlichen Erkenntnisinteressen. Auch unter der
sinntheoretischen Perspektive ist nicht von einem Ausschließungsverhältnis
zu reden; vielmehr ergänzen sich beide Konzeptionen. Dabei scheint der
Meadsche Sinnbegriff eine anthropologische Fundierung und zugleich eine
Begründung der Konstitutionslogik von objektivem und subjektivem Sinn
leisten zu können, die wiederum durch die historisch-gesellschaftlieh spezifi-
schen und subkulturellen Einsichten Mannheims und der dokumentarischen
Methode in das Phänomen verschiedener sich überlagernder Sinnebenen er-
gänzt werden können.
Eine explizite Zeittheorie, die die Konstitution einer sozialen Raum-
Zeitlichkeit nachzeichnet, finden wir im Ansatz der dokumentarischen Me-
thode nicht, so daß auch hier der Rekurs auf die Meadsche Zeittheorie ge-
winnbringend sein dürfte.
Gehen wir zum Schluß noch auf die Konzeptualisierung von Subjektivi-
tät und Identität ein. Wir finden auf der konstitutions theoretischen Ebene bei
Mead Reflexionen, die davor warnen, Subjektivität und Identität in eins fal-
len zu lassen. Subjektivität als Unmittelbarkeit, als Nicht-Identisches ist ab-

124 Siehe dazu auch: Letsch, B.: Sinnrekonstruktion erzieherischer Haltungen. Diplomarbeit.
PB Erziehungswissenschaft, Psychologie u. Sportwissenschaft, PU Berlin 1996

86
zugrenzen von der sich immer schon im Medium von Begriffen des Allge-
meinen konstituierenden Identität. Forschungspraktisch impliziert dies, daß
Subjektivität nicht in der Unmittelbarkeit des Hier und Jetzt methodisch zu-
gänglich ist; dies ist sie erst, wenn sie in Form von Protokollen vorliegt. Die
dokumentarische Methode wird dem durch ihren spezifischen Rekonstruk-
tionsbegriff gerecht. Auch hier dürfte der radikalisierte Subjektivitätsbegriff
Meads ein weiteres Begründungspotential des Vorgehens der dokumentari-
schen Methode abgeben. Andererseits können die Erkenntnisse aus den Er-
forschungen über kollektive Sinnzusammenhänge und Biographieverläufe,
die die dokumentarische Methode gewonnen hat, zur Ausdifferenzierung der
Meadschen Subjektivitäts- und Identitätstheorie beitragen. Trotz partiell un-
terschiedlicher Erkenntnisinteressen läßt sich zusammenfassend festhalten,
daß die dokumentarische Methode nicht in einem Ausschliessungs-, sondern
in einem komplementären Verhältnis zu dem pragmatistisch-naturalistischen
Ansatz Meads steht.

87
4. Perspektiven einer rekonstruktiven Sozialforschung

4.1 Methodologie

Die methodologische Grundlegung der rekonstruktiven Sozialforschung be-


findet sich erst in ihrem Anfangsstadium. Das zeigt sich schon daran, daß
keine Einigkeit über den Gegenstandsbereich der rekonstruktiven Sozialfor-
schung besteht. Zwar richtet sich rekonstruktive Sozialforschung auf die Sinn-
erschließung sozialer Phänomene. Doch bereits bei der Frage nach der Be-
stimmung der Kategorie des Sinns beginnt der Streit. Welche Sinnebene oder
welche Sinnebenen sind konstitutiv für eine rekonstruktive Sozialforschung,
die. sich auf die Dechiffrierung sozialer Phänomene richtet? Kennen wir
überhaupt die Komplexität von Sinnstrukturen, die ein soziales Phänomen
konstituiert? Offensichtlich unterliegt jedem sozialen Phänomen eine kom-
plexe Architektonik von Sinnstrukturen, die eine unterschiedliche historische
und kulturelle Geltungsreichweite haben, hierarchisch angeordnet sind, ein-
ander überlagern und sich dialektisch bedingen. Es ist also diese Welt der
Sinnstrukturen zur Explikation zu bringen, wenn der Objektbereich rekon-
struktiver Sozialforschung schärfer gefaßt werden soll.l25 Um hier einen Er-
kenntnisfortschritt zu erreichen, ist zweierlei erforderlich. Erstens ist eine
extensive strukturale Rekonstruktion verschiedener relevanter Grundlagen-
theorien vorzunehmen, zweitens sind diese zur Integration zu bringen.
U. E. spielt bei diesem Projekt die pragmatistisch-naturalistische Theorie
George Herbert Meads eine bedeutende Rolle, weil in ihr für die rekonstruk-
tive Sozialforschung fundamentale Kategorien wie Handlung, Sinn und Zeit
extensiv behandelt werden und deren Zusammenhang hergestellt wird. Ne-
ben dem Meadschen Ansatz halten wir u.a. die Konzeptionen von Ch. S.
Peirce, S. Freud, K. R. Popper, N. Chomsky, Cl. Levi-Strauss und K. Mann-
heim für notwendig zur methodologischen Grundlegung und Ausdifferenzie-
rung rekonstruktiver Sozialforschung. Da wir auf die Bedeutung des wissens-
soziologischen Ansatzes K. Mannheims insbesondere bezüglich des Sinnbe-
griffs bereits aufmerksam gemacht haben, sei kurz auf die möglichen Beiträ-
ge der anderen o. g. Konzeptionen verwiesen.
Der Pragmatismus von eh. S. Peirce ist in unserem Kontext wegen sei-
ner Kategorienlehre (Erstheit, Zweitheit, Drittheit) und seiner Theorie der

125 Siehe dazu: Wagner, H.-I., Hermeneutische Erfahrungswissenschaft (im Druck)

89
Abduktion von Bedeutung. Welche Bedeutung hat die Kategorie der Drittheit
(d.i. die Ebene des Symbols bzw. des Interpretanten) für die Bestimung des
Objektbereichs der rekonstruktiven Sozialforschung? Was läßt sich aus der
Theorie der Abduktion für die Strukturgeneralisierung fruchtbar machen?
Hier scheinen noch ungehobene methodologische Begründungspotentiale re-
konstruktiver Sozialforschung zu liegen.
Wenden wir uns der Freudschen Psychoanalyse zu. Deren Methodologie
ist unter mindestens drei Aspekten in unserem Zusammenhang von Relevanz.
Erstens spielt in ihr die Kategorie des Sinns eine fundamentale Rolle, und sie
verfügt bereits über wichtige Elemente einer Sinntheorie. Zweitens ist in ihr
die Differenz von objektivem und subjektivem Sinn zentralthematisch. Der
objektive Sinn wird auf der Ebene des Unbewußten des Subjekts verortet und
strikt vom subjektiv intentionalen Sinn getrennt. Drittens läßt sich mit ihrer
Hilfe die Architektonik von objektiven Sinnstrukturen des Unbewußten auf-
hellen. Auf diesem Hintergrund lassen sich eine Reihe wichtiger methodolo-
gischer und methodischer Folgerungen für die rekonstrukive Sozialforschung
ableiten. 126
Gehen wir kurz auf die Relevanz von Poppers Drei-Welten-Theorie und
Fallibilismus für die empirisch-rekonstruktive Sozialforschung ein. Hier ist
zunächst die Differenzierung dreier Welten von Interesse. Vom Popperschen
Ansatz her läßt sich begründen, daß nicht die erste Welt als Welt des Physi-
kalischen und die zweite Welt als Welt des Subjektiven, sondern die dritte
Welt der objektiven Ideen der zentrale Gegenstand rekonstruktiver Sozialfor-
schung ist. Ferner bietet die Falsifikationstheorie Poppers eine ausgezeich-
nete Möglichkeit der Überprüfung von Strukturhypothesen.
In der Sprachtheorie N. Chomskys wiederum finden wir auf dem Hinter-
grund der Unterscheidung von Performanz und Kompetenz den Begriff der
generativen Regel als eines formalen Erzeugungsmodus neuer Sinnstruktu-
ren. Das Revolutionäre der Kategorie der generativen Regel liegt darin, daß
damit ein Grundmodell vorliegt, das einerseits empirisch überprüfbar ist und
andererseits bezüglich seiner kreativen Funktion, auf der Folie von Altem
Neues erzeugen zu können, auf die Funktionsweise objektiver Strukturen un-
terschiedlicher Typen angewandt werden kann.
Mit Hilfe des Levi-Strauss'schen Strukturalismus läßt sich nachweisen,
daß die basale Fundierungsebene rekonstruktiver Sozialforschung die univer-
sale Strukturierungsgesetzlichkeit der zweckfrei sich reproduzierenden Rezi-
prozität ist, die genetisch betrachtet Sozialität und damit soziale Phänomene
erst konstituiert.

126 Siehe dazu: Wagner, H.-J., Hermeneutische Erfahrungswissenschaft, a.a.O.

90
4.2 Methode

Rekonstruktive Sozialforschung zeichnet sich aus durch eine enge Wechsel-


beziehung zwischen Methodologie und Methode bzw. Forschungspraxis.
Dies läßt sich z. B. an der objektiven Hermeneutik ablesen: In der empiri-
schen Analyse stößt sie auf objektive latente Sinnstrukturen, deren methodo-
logische Begründung und Ausdifferenzierung sie wiederum u.a., aber we-
sentlich in der Meadschen Theorie findet. Andererseits wirkt sich die Ausdif-
ferenzierung der Methodologie auf die Methode aus. So ist, wenn dereinst
die Welt der Sinnstrukturen in ihrer komplexen Architektonik zur Darstel-
lung gebracht worden ist, auch eine Verfeinerung der methodischen Schritte,
die bereits existieren, zu deren Erfassung notwendig. Des weiteren erfordert
die Ausdifferenzierung der Welt objektiver Strukturen (universale, epochen-
spezifische, historisch-gesellschaftliche, subkulturelle Strukturen) eine Diffe-
renzierung der Kategorie der Latenz. Dabei zeigt sich, daß Strukturen, die
eher an der Oberfläche liegen und als latent im Sinne des Vorbewußten zu
klassifizieren sind, methodisch leichter zu entschlüsseln sind als Tiefenstruk-
turen. 127 L. Krappmann hat diese Problematik am Beispiel der qualitativen
Auswertung eines Interviews mit der Familie Thiele wie folgt beschrieben:
"An der Interpretation des Thiele-Interviews wurde deutlich, daß manche dieser
sozialen Deutungen und Handlungsregeln, oder wenigstens Teile von ihnen,
den Mitgliedern einer Kommunikationsgemeinschaft durchaus bekannt sind,
einige liegen nur eben unter der ,Oberfläche' des Bewußtseins und können mit
geringem Aufwand freigelegt werden. Andere wieder sind im Sinne des
Chomskyschen Paradigmas Tiefenstrukturen, die sehr schwierig zu erschließen
sind, da sie an der Oberfläche recht verschiedene Verhaltensweisen hervorzu-
bringen vermögen.,,128 Zu fordern ist also - wie bereits angedeutet - die
Nachzeichnung der Architektonik von Sinnstrukturen. Erst auf dieser Folie
der Unterscheidung von Strukturebenen lassen sich dann auch begründet Stu-
fen der Latenz unterscheiden.
Als Beispiel eines fruchtbaren Wechselwirkungsverhältnisses von Me-
thodologie und Interpretationserfahrungen in der Forschungspraxis sei etwa
auf die Verfeinerung des Methodenmodells der Sequenzanalyse in der ob-
jektiven Hermeneutik verwiesen. In diesem wird neuerdings zwischen einem
Parameter I und einem Parameter II differenziert. Zu unterscheiden ist "in
der Sequenzanalyse zwischen Regeln, die wie ein Algorithmus operieren und
an einer gegebenen Sequenzstelle den Spielraum sinnlogisch möglicher An-
schlüsse erzeugen bzw. festlegen (Parameter I), und dem Ensemble von Fak-
toren, Dispositionen und Motiven, die für eine gegebene Handlungsinstanz,

127 Siehe dazu: Wagner, H.-J., Hermeneutische Erfahrungswissenschaft, a.a.O.


128 Krappmann, L. (1976): Typisches im Individuellen. Berichte über Elterninterviews im
Sozialisationsprojekt des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, Berlin ; S. 83f.
(unveröff. Manuskript)

91
welchen Aggregierungsniveaus auch immer, eine Lebenspraxis also, deter-
minieren, welche Auswahl aus dem Spielraum von Anschlußmöglichkeiten
tatsächlich getroffen wird (Parameter 11). Dieses Ensemble von Faktoren ge-
hört einer Lebenspraxis kraft ihres geschichtlichen Bildungsprozesses an und
bestimmt ihre Fallstrukturgesetzlichkeit. ,,129 Dieses sequenzanalytische Me-
thodenmodell stellt u. E. einen erheblichen Fortschritt im methodischen Vor-
gehen der objektiven Hermeneutik dar, weil es eine klare Trennungslinie
zieht zwischen der Ebene der bedeutungs generierenden Regeltypen und der
der Subjektivität der jeweiligen Lebenspraxis.
Gehen wir nun auf die Frage ein, ob das äußere Kontextwissen bei der
Sinnerschließung eines Phänomens von vornherein heranzuziehen ist, oder
ob es zunächst zurückzustellen und erst dann zum Einsatz zu bringen ist,
wenn zuvor gedankenexperimentell möglichst viele Lesarten entworfen wur-
den. Dahinter steht wiederum nicht mehr und nicht weniger als die Frage
nach der methodischen Bewältigung der Dialektik von Allgemeinem und Be-
sonderem. Hier zeichnet sich ein zentraler Konflikt etwa zwischen objektiver
Hermeneutik und Wissenssoziologie ab. In den folgenden Äußerungen
Oevermanns spiegelt sich dieser wie folgt wider: "Ein Wissen über den tat-
sächlichen Kontext der Äußerung darf erst dann benutzt werden, wenn die
Menge der mit dem zu interpretierenden Text kompatiblen Lesarten mög-
lichst umfassend tatsächlich expliziert worden ist. Auf keinen Fall darf das
Wissen über den tatsächlichen Kontext dazu benutzt werden, kompatible
Lesarten von vornherein auszuschließen. Würde man das zulassen, was in der
sich auf die Kontextabhängigkeit von Textbedeutungen berufenden Wissens-
soziologie üblicherweise geschieht, dann würde man gar nicht erst an den
Punkt gelangen, an dem es möglich wird, die Explikation der regelgemäßen
pragmatischen Erfüllungsbedingungen mit einer Information über den tat-
sächlichen außertextlichen Kontext einer Handlung oder Äußerung systema-
tisch zu vergleichen und erst dadurch das reale Geschehen auf der expliziten
Folie von objektiven Möglichkeiten aufschlußreich zu bestimmen. - Man
kann das soeben Ausgeführte auf die folgende Formel bringen: Benutze alles,
was zur Entdeckung der mit einem Textausschnitt kompatiblen Lesarten
brauchbar und hilfreich ist, hüte Dich, Informationen über den äußeren Kon-
text eines protokollierten Geschehens dazu zu benutzen, über die Geltung
von mit dem Text kompatiblen Lesarten zu entscheiden." Und weiter: "Zum
,äußeren' Kontext gehört schlicht alles, was im Text selbst nicht mitgeteilt
oder markiert ist, mithin auch nicht Gegenstand einer expliziten methodisch
kontrollierten Rekonstruktions-Operation sein kann. Damit erweisen sich ge-
nerell alle hermeneutischen Verfahren, in denen die Sinnerschließung we-
sentlich auf den Kontext und das Wissen über den Kontext gestützt wird, als

129 Oevennann, U. (1995): Ein Modell der Struktur von Religiosität. Zugleich ein Struktur-
modell von Lebenspraxis und sozialer Zeit. In: M. Wohlrab-Sahr, Hg., Biographie und
Religion. FrankfurtlM.; S. 4lf.

92
falsch. Dieser Kategorienfehler liegt allen wissenssoziologisch begründeten
Interpretationsverfahren zugrunde. ,,130 Andererseits betonen etwa Vertreter
der "dokumentarischen Methode" die Notwendigkeit der komparativen Ana-
lyse, die sich nicht auf gedankenexperimentelle, sondern auf empirische
Vergleichshorizonte bezieht. "Die Erhöhung der Validität einer Fallanalyse
ist also nicht nur an die zunehmende empirische Fundierung des jeweiligen
Falles selbst, sondern auch an die zunehmende empirische Fundierung der
Vergleichshorizonte gebunden, indem an die Stelle gedankenexperimenteller
Vergleichshorizonte empirische, also andere empirische Fallanalysen treten.
Die komparative Analyse gewinnt demnach bereits dort Bedeutung, wo wir
uns auf der Ebene der Fallanalysen bewegen, wo wir versuchen, den einzel-
nen Fall in seiner Besonderheit, d.h. innerhalb des übergreifenden Rahmens
darzustellen, der diesen Fall, diese Gruppe strukturiert."m Die Austragung
dieses Streits steht erst am Anfang. Gefordert ist ein neuer - gegenüber dem
Positivismusstreit der 60er Jahre - viel stärker forschungspraktisch infor-
mierter Methodologien- und Methodenstreit in den Sozialwissenschaften
bzw. der rekonstruktiven Sozialforschung. Auf weitere wichtige Aspekte der
Methode rekonstruktiver Sozialforschung wie z. B. die Arbeit am Detail, das
abduktive Schließen, die Applikation des Falsifikationsprinzips und die Fra-
ge des Anfangs und des Endes der Interpretation eines Falles sei hier nur ver-
wiesen.

130 Oevermann, U. (1996): Beckett's "Endspiel" als Prüfstein hermeneutischer Methodologie.


In: H.- D. König, Hg., Neue Versuche, Beckett's Endspiel zu verstehen. Sozialwissen-
schaftliches Interpretieren nach Adorno. FrankfurtIM.; S. 100f; 124
131 Bohnsack, R., Rekonstruktive Sozialforschung, a.a.O., S. 136

93
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