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Theodor W.

Adorno
Aspekte des neuen Rechtsradikalismus
Ein Vortrag

Mit einem Nachwort


von Volker Weiß

Suhrkamp
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Inhalt

Aspekte des neuen Rechtsradikalismus


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Editorische Notiz
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Nachwort
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Erste Auflage 2OI9


© Suhrkamp Verlag Berlin 20I9 Über die Autoren
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des
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Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (dutch Fotografie,
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Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn
Druck: CPI - Ebner & Spiegel, Ulm
ISBN 978-3-5I8-58737-9
ASPEKTE DES NEUEN RECHTS RADIKALISMUS
] a, meine sehr verehrten Damen und Herren,
ich möchte versuchen, nicht etwa mit dem An-
spruch auf Vollständigkeit Ihnen eine Theorie des
Rechtsradikalismus zu geben, sondern in losen Be-
merkungen einige Dinge hervorzuheben, die viel-
leicht Ihnen nicht allen so gegenwärtig sind. Ich
möchte damit also andere theoretische Interpreta-
tionen nicht außer Kraft setzen, aber ich möchte
einfach versuchen, das, was man so allgemein über
diese Dinge denkt und weiß, ein bißchen zu ergän-
zen.
Ich habe im Jahr 1959 einen Vortrag gehalten,
»Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit«, in
dem ich die These entwickelt habe, daß der Rechts-
radikalismus dadurch sich erklärt oder daß das
Potential eines solchen Rechtsradikalismus, der da-
mals ja eigentlich noch nicht sichtbar war, dadurch
sich erklärt, daß die gesellschaftlichen Vorausset-
zungen des Faschismus nach wie vor fortbestehen.

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Ich möchte also davon ausgehen, meine Damen und Nun, der Übergang zum Sozialismus oder, be-
Herren, daß die Voraussetzungen faschistischer Be- scheidener gesagt, auch nur zu sozialistischen Orga-
wegungen trotz des Zusammenbruchs gesellschaft- nisationen ist diesen Gruppen von jeher sehrschwer
lich, wenn auch nicht unmittelbar politisch, nach geworden und ist heute, zumindest in Deutsch-
wie vor fortbestehen. Dabei denke ich in erster land - und meine Erfahrungen beziehen sich na-
Linie an die nach wie vor herrschende Konzentra- turgemäß in erster Linie auf Deutschland -, noch
tionstendenz des Kapitals, die man zwar durch alle viel schwerer, als das früher der Fall war. Vor allem
möglichen statistischen Künste aus der Welt weg- deswegen, weil ja die SPD, die deutsche sozialde-
rechnen kann, an der aber im Ernst kaum ein Zwei- moirratische Partei, mit einem Keynesianismus, ei-
fel ist. Diese Konzentrationstendenz bedeutet nach nem Keynesschen Liberalismus, identifiziert ist, der
wie vor auf der anderen Seite die Möglichkeit der auf der einen Seite zwar die Potentiale einer Verän-
permanenten Deklassierung von Schichten, die ih- derung der Gesellschaftsstruktur, die in der klassi-
rem subjektiven Klassenbewußtsein nach durchaus schen Marxischen Theorie gelegen waren, abbiegt,
bürgerlich waren, die ihre Privilegien, ihren sozia- andererseits aber doch die Bedrohung der Verar-
len Status festhalten möchten und womöglich ihn mung, jedenfalls in der Konsequenz, für die Schich-
verstärken. Diese Gruppen tendieren nach wie vor ten, von denen ich gesprochen habe, verstärkt. Ich
zu einem Haß auf den Sozialismus oder das, was sie erinnere an die einfache Tatsache der schleichen-
Sozialismus nennen, das heißt, sie verschieben die den, aber doch sehr bemerkbaren Inflation, die ja
Schuld an ihrer eigenen potentiellen Deklassierung eine Konsequenz eben des Keynesschen Expansio-
nicht etwa auf die Apparatur, die das bewirkt, son- nismus ist, und ich erinnere weiter an eine These,
dern auf diejenigen, die dem System, in dem sie ein- die ich eben auch in jener Arbeit vor acht Jahren
mal Status besessen haben, jedenfalls nach traditio- entwickelt habe und die unterdessen sich doch sehr
nellen Vorstellungen, kritisch gegenübergestanden zu aktualisieren beginnt, nämlich daß trotz Vollbe-
haben. Ob sie das heute noch tun und ob ihre Pra- schäftigung und trotz all dieser Prosperitätssymp-
xis das heute noch ist, das ist eine andere Frage. tome das Gespenst der technologischen Arbeitslo-

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sigkeit nach wie vor umgeht in einem solchen Maß, es sich etwa um das agrarische Potential des Rechts-
daß im Zeitalter der Automatisierung, die ja in Zen- radikalismus handelt, ist die Angst vor der EWG
traleuropa noch zurück ist, aber ohne Frage nach- und den Konsequenzen der EWG für den Agrar-
geholt werden wird, auch die Menschen, die im markt hier sicher außerordentlich stark.
Produktionsprozeß drinstehen, sich bereits als po- Zugleich aber - und damit berühre ich den ant-
tentiell überflüssig - ich habe das sehr extrem aus- agonistischen Charakter, den der neue Nationalis-
gedrückt -, sich als potentielle Arbeitslose eigent- mus oder Rechtsradikalismus hat - hat er ange-
lich fühlen. Hinzu kommt natürlich noch die Angst sichts der Gruppierung der Welt heute in diese paar
vor dem Osten, ebenso wegen des niedrigeren Le- übergroßen Blöcke, in denen die einzelnen N atio-
bensstandards dort wie wegen der Unfreiheit, die nen und Staaten eigentlich nur noch eine unter-
ja doch unmittelbar und sehr real von den Men- geordnete Rolle spielen, etwas Fiktives. Es glaubt
schen, auch von den Massen, erfahren wird, und eigentlich niemand mehr so ganz daran. Die ein-
dazu, jedenfalls bis vor kurzer Zeit, das Gefühl zelne Nation ist in ihrer Bewegungsfreiheit durch
der außenpolitischen Bedrohung. die Integration in die großen Machtblöcke außer-
Es ist nun an die eigentümliche Situation zu er- ordentlich beschränkt. Man sollte nun daraus aber
innern, die herrscht mit Rücksicht auf das Problem nicht etwa die primitive Folgerung ziehen, daß
des Nationalismus im Zeitalter der großen Macht- deswegen der Nationalismus, wegen dieser Über-
blöcke. Innerhalb dieser Blöcke lebt nämlich der holtheit, keine entscheidende Rolle mehr spielt, son-
Nationalismus doch fort als Organ der kollekti- dern im Gegenteil, es ist j~ sehr oft so, daß Über-
ven Interessenvertretung innerhalb der in Rede ste- zeugungen und Ideologien gerade dann, wenn sie
henden Großgruppen. Es ist gar kein Zweifel dar- eigentlich durch die objektive Situation nicht mehr
an, daß sozialpsychologisch und auch real es eine recht substantiell sind, ihr Dämonisches, ihr wahr-
sehr verbreitete Angst davor gibt, in diesen Blöcken haft Zerstörerisches annehmen. Die Hexenprozesse
. aufzugehen und dabei auch in der materiellen Exi- haben schließlich nicht stattgefunden in der Zeit
stenz schwer beeinträchtigt zu werden. Also, soweit des Hochthomismus, sondern in der Zeit der Ge-

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genreformation, und etwas Ähnliches dürfte es mit schen Poujadismus vor Augen gestanden hat, zwar
dem, wenn ich es so nennen darf, »pathischen« Na- in bezug auf, wenn ich so sagen darf, den Sozialcha-
tionalismus heute auch auf sich haben. Dieses Mo- rakter dieser Bewegungen zutrifft, daß diese The-
ment des Angedrehten, sich selbst nicht ganz Glau- se sicherlich aber nicht zutrifft mit Rücksicht auf
benden, hat er übrigens schon in der Hitlerzeit die Verteilung, obwohl sicherlich gewisse ldeinbür-
gehabt. Und dieses Schwanken, diese Ambivalenz, gerliche Gruppen auch unter den Anfälligen sirid,
zwischen dem überdrehten Nationalismus und dem vor allem also kleine Einzelhändler, die durch die
Zweifel daran, der dann wieder es notwendig Konzentration des Einzelhandels in Warenhäusern
macht, ihn zu überspielen, damit man ihn sich und ähnlichen Institutionen unmittelbar bedroht
selbst und anderen gleichsam einredet, das war da- sind. Außer den Kleinbürgern spielen sicher eine
mals auch schon zu beobachten. hervorragende Rolle die Bauern, die sich ja in einer
Nun, aus diesen recht simpl~n Thesen möchte permanenten Krise befinden, und ich würde den-
ich ein paar Konsequenzen zunächst einmal zie- ken, daß solange, wie es nicht wirldich gelingt, das
hen. Ich glaube, es erldärt sich nämlich aus dem, Agrarproblem auf eine radikale, nämlich nicht sub-
was ich Ihnen gesagt habe, nämlich daß es sich im ventionistische und künstliche und in sich wieder
Grunde um eine Angst vor den Konsequenzen ge- problematische Weise zu lösen, solange man nicht
samtgesellschaftlicher Entwicldungen handelt, das, wirklich zu einer vernünftigen und rationalen Kol-
was von Meinungsforschungsinstituten allseitig be- lektivierung der Landwirtschaft gelangt, daß die-
obachtet worden ist und was auch aus unsrer ei- ser schwelende Herd dauernd bestehen bleibt.
genen Arbeit sich bestätigt hat, daß nämlich die Darüber hinaus gibt es aber auch in diesen Be-
Anhänger des Alt- und Neufaschismus heute quer wegungen insgesamt so etwas wie einen sich ver-
durch die Gesamtbevölkerung verteilt sind. Ich schärfenden Gegensatz der Provinz gegen die Stadt.
glaube, daß die sehr verbreitete Annahme, es han- Auch bestimmte einzelne Gruppen, wie zum Bei-
dele sich bei alldem um spezifisch ldeinbürgerliche spiel die ldeinen Winzer in der Pfalz in Deutsch-
Bewegungen, wie uns zuletzt noch im französi- land, scheinen besonders anfällig zu sein. Soweit

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es sich um die Frage nach dem industriellen backing angezogen, insbesondere auch Typen der Art, die,
dieser Bewegungen handelt, liegen bei uns bis jetzt sagen wir, so als Fünfzehnjährige um 1945 den Zu-
wirldich konkrete Belege dafür nicht vor. Man muß sammenbruch erlebt haben und bei denen dann
in all diesen Dingen sehr vorsichtig sein, daß man außerordentlich stark so dieses Gefühl liegt: »Deutsch-
nicht zu schematisch denkt und etwa also mit dem land muß wieder obenauf kommen.«
Schema von der Industrie, die den Faschismus for- Ich darf sozialpsychologisch hier vielleicht sagen,
ciert - man darf damit nicht so leichtfertig ope- obwohl ich weiß Gott diese Dinge nicht für primär
rieren. Man muß sich dabei auch vergegenwärti- psychologische Fragen halte, daß ja im Jahr 1945 die
gen, daß ja der Faschismus, dessen Apparatur stets wirkliche Panik, die wirkliche Auflösung der Iden-
eine Tendenz hat, sich auch den tragenden ökono- tifikation mit dem Regime und der Disziplin, nicht,
mischen Interessen gegenüber zu verselbständigen, wie etwa in Italien, stattgefunden hat, sondern daß
auch für die große Industrie ja keine Annehmlich- das bis zuletzt kohärent geblieben ist. Die Identifi-
keit ist und daß man in Deutschland zum Faschis- kation mit dem System ist in Deutschland nie wirk-
mus als einer Ultima ratio geschritten ist, nämlich lich radikal zerstört worden, und darin liegt natür-
im Augenblick der nun wirklich ganz großen Wirt- lich auch eine der Möglichkeiten, daß gerade von
schaftskrise, die also für die damals bilanzmäßig den Gruppen, von denen ich eben spreche, daran
bankrotte Ruhr-Industrie eine andere Möglichkeit angeknüpft wird.
offenbar nicht gelassen hat. Man hört ja sehr oft, gerade also mit Rücksicht
Natürlich gibt es Kaders alter Nazis. Aber auch auf solche Kategorien wie »Die ewig Unbelehr-
hier möchte ich sagen, und zwar einfach auf Grund baren« und wie solche Trostphrasen sonst lauten
von Beobachtungen, die innerhalb der empirischen mögen, die Behauptung, es gebe so einen Boden-
Sozialforschung vorliegen, daß man nicht glauben satz von Unbelehrbaren oder von Narren, einen so-
soll, daß es sich lediglich um die sogenannten Un- genannten lunatic /ringe, wie man in Amerika es
belehrbaren handelt, über die man dann so etwas nennt, in jeder Demokratie. Und es steckt dann
die Achseln zuckt. Es werden fraglos auch Junge darin so ein gewisses quietistisch bürgerlich Trö-

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stendes, wenn man sich das so vorsagt. Ich glaube, nomischen Rückschlag und haben diesen gewisser-
man kann darauf nur antworten: Gewiß sei in je- maßen antizipiert oder, wenn Sie wollen, diskon-
der sogenannten Demokratie auf der Welt etwas tiert. Sie haben gleichsam eine Angst und einen
Derartiges in variierender Stärke zu beobachten, Schrecken vorweggenommen, wenn man so sagen
aber doch nur als Ausdruck dessen, daß dem In- soll, der dann erst ganz akut geworden ist.
halt nach, dem gesellschaftlich-ökonomischen In- Mit diesem Wort des Antizipierens des Schrek-
halt nach, die Demokratie eben bis heute nirgends kens glaube ich nun wirklich etwas sehr Zentrales
wirklich und ganz sich konkretisiert hat, sondern berührt zu haben, das, soweit ich sehen kann, in
formal geblieben ist. Und die faschistischen Bewe- den üblichen Ansichten über den Rechtsradikalis-
gungen könnte man in diesem Sinn als die Wund- mus viel zu wenig berücksichtigt wird, nämlich
male, als die Narben einer Demokratie bezeichnen, die sehr komplexe und schwierige Beziehung, die
die ihrem eigenen Begriff eben doch bis heute noch hier herrscht, zu dem Gefühl der sozialen Katastro-
nicht voll gerecht wird. phe. Man könnte reden von einer Verzerrung der
Ich möchte weiter, wenn es sich darum handelt, Marxischen Zusammenbruchstheorie, die in die-
gewisse Klischeevorstellungen über diese Dinge zu- sem sehr verkrüppelten und falschen Bewußtsein
rechtzurücken, auch sagen, daß das Verhältnis die- stattfindet. Auf der einen Seite wird nach der ratio-
ser Bewegungen zur Ökonomie ein strukturelles nalen Dimension hin gefragt: »Wie soll das wei-
Verhältnis ist, daß es also eben in jener Konzentra- tergehen, wenn es etwa einmal eine große Krise
tionstendenz und der Tendenz zur Verelendung gibt?« - und für diesen Fall empfehlen sich diese
steckt, daß man es sich aber nicht zu kurzfristig Bewegungen. Aber sie haben auf der andern Seite
vorstellen kann und daß man, wenn man etwa ein- etwas gemeinsam mit jener Art von manipulierter
fach Rechtsradikalismus mit Konjunkturbewegun- Astrologie von heute, die ich für ein sozialpsycholo-
gen gleichsetzt, zu sehr falschen Urteilen gelangen gisch außerordentlich wichtiges und charakteristi-
kann. So waren die Erfolge der NPD in Deutsch- sches Symptom halte, daß sie nämlich in gewisser
land bereits einigermaßen alarmierend vor dem öko- Weise die Katastrophe wollen, daß sie von Welt-

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untergangsphantasien sich nähren, so wie sie übri- fisch deutschen Aspekt des Anstiegs der NPD, so
gens, wie wir aus den Dokumenten wissen, auch der spielt hier sicher eine sehr wesentliche Rolle die
ehemaligen Führungsclique der NSDAP gar nicht Funktion des Begriffs der Organisation. Die NPD
fremd gewesen sind. hat zum ersten Mal, schon allein durch die Anglei-
Wenn ich psychoanalytisch reden sollte, würde chung ihres Namens an die der anderen Parteien,
ich sagen, es sei sicherlich nicht die geringste der so etwas wie einen organisatorischen MassenappeIl
Kräfte, die hier mobilisiert werden, daß an den un- ausgeübt, ohne das sektiererische Aroma zu haben,
bewußten Wunsch nach Unheil, nach Katastrophe das die rechtsradikalen Vorreiter der NPD, näm-
in diesen Bewegungen appelliert wird. Aber ich lich die Sozialistische Reichspartei und wie sie alle
möchte doch dem hinzufügen - und ich spreche hießen, gehabt haben. Es wirkt in Deutschland -
damit gerade zu denen unter Ihnen, die mit Recht und das ist nun wohl ein spezifisch Deutsches, das
gegen eine bloß psychologische Deutung gesell- sich nicht ohne weiteres wird auf Österreich über-
schaftlicher und politischer Phänomene skeptisch tragen lassen - das Straffe und Zentralistische, wäh-
sind -, daß dieses Verhalten keineswegs nur psy- rend alles, was auch nur entfernt an Sekte gemahnt,
chologisch motiviert ist, sondern auch seine objek- was also nicht von vornherein so auftritt, als ob
tive Basis hat. Wer nichts vor sich sieht und wer wunders was dahinterstünde, in Deutschland su-
die Veränderung der gesellschaftlichen Basis nicht spekt ist und keinen Massenappell ausübt. Es ge-
will, dem bleibt eigentlich gar nichts anderes üb- hört zu den Grundstücken der deutschen Ideolo-
rig, als wie der Richard-Wagnersche Wotan zu sa- gie, daß es keine Einzelgänger geben soll. Man hat
gen: »Weißt Du, was Wotan will? Das Ende« -, der nicht umsonst dem Hindenburg immer wieder
will aus seiner eigenen sozialen Situation heraus das »Seid einig, einig, einig!« in den Mund gelegt,
den Untergang, nur eben dann nicht den Unter- und der Kampf gegen das »Parteiunwesen«, also
gang der eigenen Gruppe, sondern wenn möglich der Gedanke, daß der politische Kompromiß an
den Untergang des Ganzen. sich selbst bereits eine Verfallsform sei, das ist im
Wenn ich noch etwas sagen darf über den spezi- deutschen Bürgertum so tief eingewurzelt, daß bis

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heute auch durch die Veränderung der politischen zen wegen ihres niedrigen geistigen Niveaus und
Form an dieser Ideologie noch nicht sehr viel sich wegen ihrer Theorielosigkeit. Ich glaube, es wäre
geändert hat. ein völliger Mangel an politischem Blick, wenn man
Man will also etwas hinter sich haben, und das deshalb glaubte, daß sie erfolglos sind. Das Cha-
erklärt die große Rolle des sogenannten Bandwag- rakteristische für diese Bewegungen ist vielmehr
on- Effekts, wie man das in Amerika nennt, in eine außerordentliche Perfektion der Mittel, näm'-
Deutschland, das heißt, daß diese Bewegungen lich in erster Linie der propagandistischen Mittel
durchwegs so auftreten, als ob sie bereits sehr gro- in einem weitesten Sinn, kombiniert mit Blindheit,
ße Erfolge gehabt hätten, und durch die Vorspie- ja Abstrusität der Zwecke, die dabei verfolgt wer-
gelung, daß sie also die Garanten der Zukunft sei- den. Und ich glaube, daß gerade diese Konstella-
en und Gott weiß was alles hinter ihnen steht, die tion von rationalen Mitteln und irrationalen Zwek-
Menschen anziehen. Es spielt hier sicher noch, in ken, wenn ich's einmal so abgekürzt ausdrücken
diesem Einigkeitskomplex, herein die Tatsache, daß soll, in gewisser Weise der zivilisatorischen Gesamt-
gerade also in der Bundesrepublik der Nationalstaat tendenz entspricht, die ja überhaupt auf eine sol-
ja etwas ist, was sich mit ungeheurer Verspätung che Perfektion der Techniken und Mittel hinaus-
überhaupt erst realisiert hat, im Vergleich vor allem läuft, während der gesamtgesellschaftliche Zweck
also zu England und zu Frankreich. Und die Men- dabei eigentlich unter den Tisch fällt. Die Propa-
schen in Deutschland scheinen in einer immerwäh- ganda ist vor allem darin genial, daß sie bei diesen
renden Angst um ihre nationale Identität zu leben, parteien und diesen Bewegungen die Differenz, die
eine Angst, die zu der Überwertigkeit des National- fraglose Differenz zwischen den realen Interessen
bewußtseins sicher das Ihrige beiträgt. Etwa die und den vorgespiegelten falschen Zielen ausgleicht.
Panik, die die Deutschen bei der Idee der Spaltung Sie ist wie einst bei den Nazis geradezu die Sub-
ergreift, dürfte ebenfalls darin ihre Erklärung fin- stanz der Sache selbst. Wenn Mittel in wachsendem
den. Maß für Zwecke substituiert werden, so kann man
Man sollte diese Bewegungen nicht unterschät- beinahe sagen, daß in diesen rechtsradikalen Bewe-

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,L
gungen die Propaganda ihrerseits die Substanz der trotz der großen Katastrophe etwas Ähnliches wie
Politik ausmacht. Und es ist ja kein Zufall, daß die die Tatsache, daß die Deutschnationalen dann in
sogenannten Führer des deutschen Nationalsozialis- dem Machtkampf den Nationalsozialisten unterle-
mus, die Hitler und Goebbels, eben in erster Linie gen sind, daß sich das einfach in den Machtkämp-
Propagandisten waren und daß ihre Produktivität fen innerhalb der NPD einfach so zu wiederholen
und Phantasie in die Propaganda herein gegangen scheint.
ist. Politische Gruppierungen überdauern Systeme
Ich meine übrigens, daß man deshalb auch die und Katastrophen. In Deutschland scheinen zum
Konflikte in den deutschen Führungsgremien der Beispiel alte nationalsozialistische Zentren wie Nord-
NPD nicht übertreiben soll. Wenn mein Eindruck hessen, wo es bereits in den achtziger Jahren des vo-
richtig ist, dann hat der sogenannte harte oder radi- rigen Jahrhunderts eine wilde antisemitische Bewe-
kale Flügel gesiegt. Es ist dabei zu erinnern an das gung gab, oder wie Nordbayern besonders anfällig
ehemalige Verhältnis zwischen der NSDAP zu den zu sein. Gruppen, die sich als zugleich anti-schwarz
Hugenbergschen Deutschnationalen. Diese haben und anti-rot empfinden, tendieren mit dieser dop-
nach wie vor keine Massenbasis, und die Massenba- pelten Frontstellung fast apriori zum Rechtsradi-
sis scheint gerade mit jenem Moment der Katastro- kalismus, und ich könnte mir vorstellen, daß ge-
phenpolitik, des sich selbst Übertreibenden, wenn rade in bezug auf diese Struktur Sie in Österreich
Sie wollen, mit jenem Moment des Wahnhaften, ge- ähnliche Beobachtungen machen. Dabei ist natür-
radezu zusammenzugehen. lich nicht zu unterschlagen das Manipulierte und
Es ist übrigens in diesem Zusammenhang wohl Angedrehte all dieser Bewegungen, daß sie etwas
interessant und sollte einmal von der politischen vom Gespenst eines Gespensts haben. Es wäre
Wissenschaft und auch vor allem von den Politi- falsch, wenn man heute etwa in Deutschland, und
kern selbst, die solche Dinge analysieren, beachtet es wäre hysterisch, wenn man heute in Deutschland
werden, daß solche Strukturen trotz der Katastro- unter diesen Dingen sich so etwas wie eine sponta-
phen eine merkwürdige Konstanz haben, daß also ne Massenbewegung vorstellen würde. Wohl aber

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kann eine solche sich herausbilden, wenn das durch den »manipulativen Typ« genannt habe - übrigens
die objektiven Bedingungen gegebene Potential er- zu einer Zeit, als a11 das Material über die Himmlers
griffen und in sich zuspitzenden Situationen gesteu- und Höß und Eichmanns noch gar nicht bekannt
ert wird. Und in diesem Fall ist es wohl sicher rich- war, sondern lediglich auf Grund von Material, das
tig, daß die extremistischen Gruppen nach einer uns damals aus der empirischen Sozialforschung zu-
Dynamik, die sich immer wieder in diesen Situa- gefallen ist. Das sind also Menschen, die gleichzei-
tionen zeigt, die Oberhand gewinnen. Heute ist es tig kalt, beziehungslos, strikt technologisch geson-
sicher nicht soweit, aber man darf auf der andern nen, aber ja in gewissem Sinn eben doch irre sind,
Seite auch die von den Meinungsforschern ermittel- wie also in einem prototypischen Maß es Himmler
ten und im übrigen keineswegs so geringen Zahlen gewesen ist. Und diese merkwürdige Einheit von
für das Potential des Rechtsradikalismus nicht als Wahnsystem und technologischer Perfektion, die
Invarianten nehmen. Daß dabei nicht ganz dran ge- scheint in der Aszendenz zu sein und in diesen Be-
. glaubt wird, macht es nicht besser. Es enthält das wegungen überhaupt wieder eine entscheidende
zwar die Möglichkeit, an die bei der Abwehr anzu- Rolle zu spielen.
knüpfen ist - man kann da diese Widersprüchlich- Auf der andern Seite, meine Damen und Herren,
keit und dieses nicht ganz Geglaubte sicher benut- muß man natürlich die Differenzen von der Wei-
zen, um gegen diese Tendenzen anzugehen -, aber marer Zeit sehr stark hervorheben, wenn man nicht
es steckt darin auch die Möglichkeit und das Poten- nun wieder schematisch in Analogien denken will.
tial dieser Bewegungen selber, daß sie in Wahnsy- Die Nachwirku~g der Niederlage ist hier zuerst zu
steme sich steigern, und es kann ja wohl gar kein nennen. Diese Niederlage wurde allerdings über-
Zweifel mehr sein, daß also sogenannte Massenbe- deckt durch die Periode der Prosperität. Und hier
wegungen faschistischen Stils mit Wahnsystemen ist nun allerdings bei der Abwehr dieser Dinge ent-
eine sehr tiefe strukturelle Beziehung haben. - Hier scheidend anzusetzen. Man soll nicht in erster Linie
spielt sicher eine erhebliche Rolle jener anthropolo- mit ethischen Appellen, mit Appellen an die Huma-
gische Typ, den ich in der Authoritarian Personality . nität operieren, denn das Wort »Humanität« sel-

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ber und alles, was damit zusammenhängt, bringt ja man warnen muß vor dem Drill in jeglicher Ge-
die Menschen, um die es sich handelt, zum Weiß- stalt, vor der Unterdrückung ihrer privaten Sphäre
glühen, wirkt wie Angst und Schwäche, etwa ähn- und in ihrem Lebensstil. Und man muß sie war-
lich so, wie in bestimmten Vorgängen, die mir nen vor dem Kultus einer sogenannten Ordnung,
bekannt sind, die Erwähnung von Auschwitz zu die ihrerseits vor der Vernunft nicht sich ausweist,
Rufen wie »Hoch Auschwitz« geführt hat und die vor allem vor dem Begriff der Disziplin, die als
bloße Erwähnung jüdischer Namen bereits zum Selbstzweck präsentiert wird, ohne daß auch nur
Gelächter. noch die Frage »Disziplin für was?« dabei gestellt
Das einzige, was man :- ich nehme das hier vor- würde. Etwa auch die Fetischisierung alles Mili-
weg, weil ich das für eine der zentralsten Sachen tärischen, wie sie in solchen schönen Ausdrücken
halte mit Rücksicht auf die Gegenwehr gegen diese wie »der soldatische Mensch« sich ausdrückt, ge-
Bewegung -, das einzige, was mir nun wirklich et- hört selbstverständlich in diesen Zusammenhang.
was zu versprechen scheint, ist, daß man die poten- Weiter ist als ein Unterschied zu erinnern an die
tiellen Anhänger des Rechtsradikalismus warnt vor politische Verflechtung. Deutschland jedenfalls ist
dessen eigenen Konsequenzen, daß man ihnen klar heute nicht mehr in dem Sinn auch nur der Mög-
macht eben, daß diese Politik auch seine eigenen lichkeit nach politisches Subjekt, wie das in der
Anhänger unweigerlich ins Unheil führt und daß Weimarer Zeit der Fall gewesen ist. Es besteht die
dieses Unheil von vornherein mitgedacht worden Drohung sogar, daß gerade durch diese Bewegung
ist, so wie ja Hider schon früh den Ausdruck »Dann Deutschland aus dem weltpolitischen Zug, aus der
schieße ich mir lieber eine Kugel vor den Kopf« ge- weltpolitischen Tendenz überhaupt herausfällt und
braucht und dann bei jeder Gelegenheit wiederholt nun wirklich vollkommen provinzialisiert wird. Das
hat. Also man muß, wenn man gegen diese Din- setzt einerseits real viel engere Grenzen einer sol-
ge im Ernst angehen will, auf die drastischen Inter- chen Politik, es sei denn, daß in anderen und viel
essen derer verweisen, an· die sich die Propagan- mächtigeren Ländern ebenfalls der Rechtsradika-
da wendet. Das gilt besonders bei der Jugend, die lismus sich durchsetzen sollte. Auf der andern Seite

i
aber erzeugt gerade das Wut. Und diese Wut Heute gibt es keine kommunistische Partei mehr
dürfte dann besonders in dem sich austoben, was in Deutschland, und damit hat der Kommunismus
man so mit »kulturellem Sektor« zu bezeichnen wirldich eine Art von mythischem Charakter ange-
pflegt. Ich würde deshalb sagen, daß - wenn ich nommen, das heißt, er ist völlig abstrakt geworden,
einmal ganz schweigen darf von den Interessen, und diese eigentümliche Abstraktheit, die führt
die man als geistiger Mensch ganz unmittelbar an dann wieder dazu, daß man einfach alles, was ei-
diesen Dingen hat -, daß auch unter dem Gesichts- nem irgendwie nicht paßt, unter diesen Gummibe-
punkt der Politik die Symptome der Kulturreak- griff des Kommunistischen subsumiert und als kom-
tion und der angedrehten Provinzialisierung mit munistisch abwehrt. Zum Beispiel der berüchtigte
besonderer Wachsamkeit beobachtet werden müs- Kongo-Müller, ein Mann, der in Deutschland sich
sen, weil das, einfach weil die außenpolitische Be- aufgehalten hat, ein Deutscher, der unter den Söld-
wegungsfreiheit diesen Bewegungen abgeht, der nern im Kongo eine offenbar besonders grausliche
Bereich ist, in dem sie am meisten sich austoben Rolle gespielt hat, der hat also erklärt, wo immer in
können und sicherlich versuchen und noch mehr der Welt gegen den Kommunismus zu kämpfen sei,
versuchen werden, sich auszutoben. Da gibt es eine da werde er sich sofort zur Verfügung stellen, denn
ganze Reihe designierter Feinde. Hierher gehört et- das sei ja im Sinn der Demokratie.
wa die Imago des Kommunisten. In der Weimarer Nun, das ist abgespalten von jeder Kenntnis der
Republik war es so, daß die kommunistische Par- Sache. Es ist zu einem reinen Schreckwort gewor-
tei eine numerisch sehr starke Partei war und daß den. Eine gewisse Rolle spielt dabei nur - auch als
die politische Rivalität zwischen den Nazis und den ein Schreckbegriff - der Begriff des Materialismus,
Kommunisten immerhin eine gewisse Plausibilität wobei man in einer ganz trüben Weise den Mate-
besessen hat, obwohl durch die Stellung der Reichs- rialismus des Gewinnstrebens und des Interesses
wehr damals auch schon die reale Bedeutung des- am materiellen Vorteil mit der materialistischen
sen, was man damals kommunistische Drohung Theorie der Geschichte konfundiert und sich so
genannt hat, sicher sehr übertrieben worden ist. benimmt, als ob die, die dieses System verändern

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wollen, eben deshalb die Vulgärmaterialisten wären, auch an das deutsche Mißtrauen gegen den, der
die nur mehr haben wollen. nicht in Amt und Würde ist, der nicht eine feste Po-
Ich glaube, daß es übrigens zu den merkwür- sition hat, der sozusagen als ein Vagant im Leben,
digen Scheidungen innerhalb des Klassenbewußt- als ein »Luftmensch«, wie man das früher in Polen
seins gehört, die es heute noch gibt - und wir ha- genannt hat, betrachtet wird. Wer in die Arbeits-
ben dafür recht handfestes Material -, daß also teilung sich nicht einfügt, wer also nicht durch sei-
die in einem weitesten Sinn mit dem bürgerlichen nen Beruf an eine bestimmte Position und dadurch
Klassenbewußtsein Identifizierten sich im allgemei- auch an ganz bestimmte Gedanken gebunden ist,
nen als Idealisten betrachten, während die Arbei- sondern wer die Freiheit des Geistes sich bewahrt
ter, die die Zeche ja nach wie vor zu bezahlen ha- hat, der ist also nach dieser Ideologie eine Art von
ben, eben doch demgegenüber nach wie vor eine Lump und soll geschliffen werden. Es spielt dabei
gewisse Art von Skepsis haben, die zwar wenig mit natürlich noch die uralte Ranküne des Handarbei-
der Theorie zu tun hat, aber die immerhin dem ters gegen die geistige Arbeit herein, aber sich selbst
ideologischen Wesen dieses sogenannten Idealismus, gänzlich unkenntlich geworden und in einer voll-
der ein Vulgäridealismus ist - es gibt nämlich nicht kommen verschobenen Weise.
nur Vulgärmaterialismus, sondern es gibt auch Vul- Weil diese Bewegungen, die ja, wie ich sagte,
gäridealismus -, mit einer außerordentlichen Schär- prinzipiell überhaupt nur Machttechniken sind und
fe also gegenübersteht. keineswegs von einer durchgebildeten Theorie aus-
Dann sind natürlich eine bete noire, vor allem gehen, weil die ohnmächtig sind gegen den Geist,
solange man nicht offen antisemitisch sein kann wenden sie sich gegen die Träger des Geistes. Wie
und solange man auch nicht die Juden umbringen einmal Valery, der ja nicht gerade linksverdächtig
kann, weil das ja bereits geschehen ist, sind beson- ist, sehr schön formuliert hat: »Wenn einer geschei-
ders verhaßt die Intellektuellen. Das Wort »Links- ter ist als man selbst, so ist er ein Sophist.« Es wird
intellektueller« gehört ja auch zu diesen Schreck- dabei also die Trennung von sogenanntem Verstand
worten. Es wird dabei appelliert zunächst einmal und sogenanntem Gefühl verdinglicht. Ich kann es

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mir nicht versagen in diesem Zusammenhang, Sie Schuldgefühl durch eine Rationalisierung abge-
darauf aufmerksam zu machen, daß die Beobach- wehrt: »Etwas muß doch daran sein, sonst hätte
tungen, die ich über die Rolle des Begriffs des Exi- man sie nicht umgebracht.« Es hängt aber nun
stentiellen und der Existenz in der Existentialphilo- natürlich einstweilen unter der offiziellen Gesetz-
sophie jedenfalls des zentraleuropäischen Gepräges gebung ein Tabu über diesen Dingen. Aber noch
imJargon der Eigentlichkeit gemacht habe, daß sich das Tabu über der Erwähnung der Juden wird zu
die bestätigt haben. So wurde neulich in einer Pole- einem Mittel der antisemitischen Agitation, näm-
mik gegen eine Professorin, die den Rechtsradika- lich so mit diesem Augenzwinkernden: »Wir dür-
len nicht in den Kram paßte, gesagt: »Wir disku- fen ja nichts darüber sagen,· aber wir verstehen uns
tieren nicht mit ihr, sondern hier handelt es sich unter uns. Wir alle wissen, was wir meinen.« Und
um existentielle Gegensätze.« Sie können also dar- die bloße Erwähnung etwa eines jüdischen N a-
an sehen, wie unmittelbar der Begriff des Existen- mens genügt dieser Technik der Anspielung bereits,
tiellen hier in den Dienst des Irrationalismus, der um bestimmte Effekte hervorzurufen.
Abwehr der rationalen Argumentation, des diskur- Eine Technik übrigens der neuen Manipulation
siven Denkens überhaupt bereits tritt. Und ich des Antisemitismus, auf die ich Sie aufmerksam ma-
glaube allerdings, daß das vergiftete Klima der chen möchte, damit Sie sie vielleicht ein bißchen
Existentialphilosophie, das im deutschen Sprach- näher studieren und dagegen sich zur Wehr setzen,
bereich nun einmal herrscht, eine sehr erhebliche ist der kumulative Effekt. Die Soldaten-Zeitung,
Schuld für die Vorbereitung des Antiintellektualis- also die National-Zeitung, hat es zu einer außer-
mus unter den Intellektuellen trägt. ordentlichen Virtuosität entwickelt, niemals in ir-
Selbstverständlich ist auch nach wie vor, trotz gendeiner Nummer etwas zu schreiben, was so weit
alldem, der Antisemitismus eine »Planke in der ginge, daß nach der herrschenden ja recht dezidier-
Plattform«. Er hat die Juden, kann man sagen, ten Gesetzgebung gegen den Antisemitismus oder
überlebt, und daher rührt seine eigene gespensti- gegen Neonazismus eingeschritten werden könnte.
sche Gestalt. Es wird dabei vor allem auch das Andererseits aber, wenn man sich so eine Reihe

34 35
von Nummern hintereinander ansieht, muß man heit, die diese Bewegungen im Stadium ihres Re-
wirklich schon vom Geist des Formalismus gerade- venanttums nun einmal haben. Das offen Antide-
zu geschlagen sein, um nicht zu sehen, was sie mei- mokratische fällt weg. Im Gegenteil: Man beruft
nen. Und diese Gefahr, diese zu einer hochentwik- sich immer auf die wahre Demokratie und schilt
kelten Technik gesteigerte Form der Anspielung, die anderen antidemokratisch. Und in den Konzes-
gehört also zu den Dingen, die man nicht nur ge- sionen an demokratische Spielregeln liegt ein ge-
nau studieren und dingfest machen soll, sondern wisser Widerspruch. Das demagogische Element
man müßte doch wohl auch versuchen, legale Mit- kann sich nicht so ungehemmt mehr entfalten. Ich
tel zu finden, durch die es einem demokratischen erinnere etwa an das Problem der innerparteilichen
Staat möglich wäre, dagegen einzuschreiten. Demokratie, das ja in Deutschland von der Verfas-
Nun, was die Ideologie anlangt, so ist diese sung garantiert ist. Wo die innerparteiliche Demo-
Ideologie durch die Gesetzgebung an ihrer vollen kratie verletzt wird, droht das Verbot. Wird sie aber
Äußerung verhindert. Man kann sagen, daß alle innegehalten, so ist diese politische Form im Grun-
ideologischen Äußerungen des Rechtsradikalismus de unvereinbar mit dem, was man dabei verficht.
gekennzeichnet sind durch einen permanenten Kon- Auch das ist ein Moment, das für die Gegenwir-
flikt zwischen dem Nicht-sagen-Dürfen und dem, kung beachtet werden sollte.
was, wie ein Agitator neulich es nannte, die Zuhö- Dem Inhalt nach ist natürlich diese Ideologie,
rerschaft zum Sieden bringen soll - und das hat soweit sie überhaupt eine selbständige, durchgebil-
sie nicht zum Sieden gebracht, kann ich Ihnen zu dete Ideologie ist - und ich halte das Ideologische
Ihrer Beruhigung verraten. Nun, dieser Konflikt gegenüber dem politischen Willen dranzukommen
ist aber nicht nur äußerlich, sondern der Zwang wirklich für ganz sekundär ~, eben doch wesent-
zur Anpassung an demokratische Spielregeln be- lich gespeist von der Naziideologie. Es ist erstaun-
deutet auch eine gewisse Änderung in den Verhal- lich, wenn man die Dokumente liest, wie wenig
tensweisen, und insofern liegt darin doch auch ein zu dem alten Repertoire an Neuem hinzugekom-
Moment - ja, wie soll man sagen - der Gebrochen- men ist, wie sekundär und aufgewärmt es ist. Allen-

37
falls hat man versucht, die europäische Integration darf ich das en passant sagen, darauf hinweisen, daß
zu usurpieren, etwa von einer »Nation Europa« zu keineswegs alle Elemente dieser Ideologie einfach
reden, aber gerade das hat sich offenbar als sehr unwahr sind, sondern daß auch das Wahre in den
wenig zugkräftig erwiesen aus den Gründen 'des Dienst einer unwahren Ideologie dabei tritt und
Nationalismus als eines Versuchs der Selbstbehaup- daß das Kunststück der Gegenwehr wesentlich ist,
tllng inmitten der Integration, der dann doch stär- den Mißbrauch auch der Wahrheit für die Unwahr-
ker ist. Auch da ist eine Art von Widerspruch. heit aufzuspießen und dagegen sich zu wehren. Die
Eine sehr starke Rolle spielt offensichtlich in der wichtigste Technik, durch die die Wahrheit in den
Ideologie - und damit bezeichne ich nun wirklich Dienst der Unwahrheit gestellt wird, ist die, daß an
ein wissenschaftliches Problem, aber ein Problem, sich wahre oder richtige Beobachtungen aus ihrem
von dem ich mir nicht anmaße, daß ich Ihnen eine Zusammenhang herausgeschnitten, isoliert werden,
wirkliche Lösung geben könnte -, eine sehr erheb- also daß etwa gesagt wird: »Unterm Hitler ist es uns
liche Rolle spielt der Antiamerikanismus, der ja doch, eh' er den dummen Krieg gemacht hat, sehr
auch in dem Wort von den »plutokratischen« Na- gut gegangen«, ohne daß gesehen würde, daß die-
tionen undin diesen Dingen in der Nazizeit vor- se ganze Konjunktur der Jahre von 33 bis 39 ledig-
gebildet war. Es wird versucht im Sinn dieses Anti- lich durch die hektische Kriegswirtschaft, durch
amerikanismus, den Gedanken von der »dritten die Vorbereitung des Krieges überhaupt möglich
Kraft« Europa zu usurpieren. Was hinter dem Anti- gewesen ist. Und so gibt es hundert Dinge.
amerikanismus steckt, das ist schwer zu sagen. Jedenfalls hier wird angeknüpft an den ganzen
Wahrscheinlich ist es zum Teil das Anknüpfen an Komplex der Selbständigkeit, auf die ja die Demo-
etwas real Empfundenes, nämlich daran, daß man kratie hinausläuft und die gleichzeitig doch in dem
auch unter der formalen Demokratie, eben durch herrschenden System nicht voll realisiert wird. Es
das Blocksystem, die volle Freiheit der politischen hat, wenn meine Beobachtung mich nicht trügt,
Entscheidung sich vorenthalten glaubt - und nicht zu den wirksamsten Parolen des Neofaschismus ge-
nur vorenthalten glaubt. Ich möchte hier, vielleicht hört, daß sie Wendungen gebrauchten wie »Man

39
kann wieder wählen«. Oder daß sie - unter Varia- entendu war, daß es auf Macht, begriffslose Praxis,
tion eines Slogans von Goebbels, nämlich von den schließlich auf unbedingte Herrschaft ankam und
»Systemparteien« - von den »Lizenzparteien« ge- daß demgegenüber der Geist, wie er in der Theo-
sprochen haben, also von den Parteien, die lizen- rie sich niederschlägt, etwas Sekundäres ist. Und
ziert von den ehemaligen Besatzungsmächten ge- gerade das hat dann natürlich auch wieder ideo-
wesen seien. Und dies war ungeheuer wirksam, weil logisch diesen Bewegungen jene Flexibilität verlie-
die Menschen das Gefühl hatten, nun gerade mit hen, die man so vielfach beobachten kann. Es liegt
dieser Bewegung, die die Freiheit abschaffen will, das im übrigen auch im Geist der Zeit, die Vorherr-
gleichsam wieder in den Besitz der Freiheit, der frei- schaft einer begriffslosen Praxis, und das hat nun
en Entscheidungsmöglichkeit, der Spontaneität zu auch seine Konsequenz für die Propaganda.
gelangen. Ich glaube, daß es wichtig wäre, wenn Lassen Sie mich zum Schluß nun Ihnen einiges
man gerade mit diesem Motiv, das mit dem des Anti- über die Propaganda sagen, die ich ja, wie ich Ihnen
amerikanismus sehr verschmolzen ist, wenn man . andeutete, eigentlich für das Zentrum, für die Sa-
damit einmal sich genau auseinandersetzen würde. che selbst in gewisser Weise, halte. Diese Propagan-
Wesentlich ist an dieser Ideologie ihr Bruch- da gilt weniger der Verbreitung einer Ideologie, die,
stückhaftes. Viele »Planken« wie die Expansion wie ich Ihnen sagte, viel zu dünn ist, als dem, daß
nach dem Osten, der eigentliche Imperialismus Massen eingespannt werden. Die Propaganda ist
sind nolens volens weggefallen. Es fehlt völlig die also vorwiegend eine massenpsychologische Tech-
Perspektive »morgen die ganze Welt«, und dadurch nik. Zugrunde liegt dabei das Modell der autoritäts-
hat das Ganze so ein bißchen etwas Schwungloses gebundenen Persönlichkeit, und zwar heute genau
und noch viel mehr auf die Verzweiflung Gestell- wie zur Zeit von Hitler oder wie bei den Bewegun-
tes, als das unterschwellig im Nationalsozialismus gen des lunatiefringe in Amerika oder wie irgend-
auch schon vorhanden war. Aber ich möchte noch wo sonst. Die Einheit liegt in diesem Appell an
einmal sagen, daß es im Faschismus nie eine wirk- die autoritätsgebundene Persönlichkeit. Es wird im-
lich durchgebildete Theorie gab, daß immer sous- mer wieder gesagt, daß diese Bewegungen allen et-

41
was versprechen, und das ist als Charakteristik der der nicht mit der notwendigen Exaktheit statistisch
Theorielosigkeit richtig. Aber es ist doch insofern bewahrheitet sei und was es sonst alles mögliche
falsch, als in diesem Appell an den autoritätsge- gibt, und benutzen die Mittel eines pervertierten
bundenen Charalcter eine sehr spezifische und sehr Positivismus dazu, die Erfahrung, die lebendige Er-
pointierte Einheit liegt. Sie werden niemals auch fahrung zu inhibieren. Das, nebenbei bemerkt, ist
nur eine Äußerung finden, die dem Schema der au- der Punkt, an dem die Probleme, über die ich ge-
toritätsgebundenen Persönlichkeit nicht entspricht. stern abend vor Ihnen sprechen durfte,l mit denen,
Und wenn man gerade diese Struktur des Appells die ich heute behandele, unmittelbar konvergieren.
an die autoritätsgebundene Persönlichkeit aufdeckt, Verhaßt ist vor allem natürlich die Psychoanaly-
so bringt das nun wirklich die Rechtsradikalen zum se und der Antiintellektualismus, die Angst davor,
Weißglühen, und ich würde sagen, das ist immer- daß das Unbewußte bewußt wird, und der autori-
hin ein Beweis dafür, daß in dieser Struktur ein täre Charakter, die bilden hier eine Art von Syn-
Nervenpunkt getroffen wird. Die unbewußten Ten- drom miteinander. Diese Propagandatechnik be-
denzen, welche die autoritäts gebundene Persön- zieht sich nun ebenso auf gewisse formale Züge
lichkeit speisen, werden also nicht etwa von dieser wie auf mehr oder minder isolierte einzelne Inhalte.
Propaganda bewußt gemacht, sondern im Gegen- Es ist schon seit langer Zeit meine Überzeugung -
teil, sie werden noch mehr ins Unbewußte ge- und Horkheimer und ich haben noch in Amerika
drängt, sie werden künstlich unbewußt gehalten. an diesem besonderen Problem gearbeitet -, daß
Ich erinnere dabei nur an die überwertige Bedeu- es sich um eine r:elativ kleine Zahl immer wieder-
tung sogenannter Symbole, die ja für alle diese Be- kehrender standardisierter und vollkommen verge-
wegungen charakteristisch ist. genständlichter Tricks handelt, die ganz arm und
Wenn man aber auf diese Dinge dann zu spre- dünn sind, die aber auf der andern Seite gerade
chen kommt, dann werden die Herrschaften plötz- durch ihre permanente Wiederholung ihrerseits ei-
lich ganz wissenschaftlich, erklären, daß der Auf-
weis der autoritätsgebundenen Persönlichkeit, daß I [In seinem Vortrag »Zum Problem des sozialen Konflikts heute«.]

42 43
nen gewissen propagandistischen Wert für diese Be- gen operiert wird. Das ist verschmolzen mit der be-
wegungen gewinnen. rühmten Hitlerschen Technik der plumpen Lüge.
Zum Formalen möchte ich zunächst einmal Sie So hat die NPD in deutschen Wahlversammlun-
aufmerksam machen auf eine Sache, auf die man gen, und zwar offenbar systematisch, die Zahlun-
sich in der Abwehr einstellen muß, und das ist gen, die Wiedergutmachungszahlungen, an Israel
gar nicht so einfach. Das ist nämlich der Appell ums Zehnfache vergrößert. Das ist aber dann her-
an den Konkretismus, wie ich es genannt habe. Es ausgekommen, und es ist energisch dagegen de-
wird - und das wird offenbar gerade von der NPD monstriert worden, und sie sind dadurch nun in
in Deutschland sehr kultiviert - immerzu gearbei- erhebliche Schwierigkeiten gelangt.
tet mit der Anhäufung von Daten, besonders von Ebenfalls in denselben Zusammenhang gehört
Zahlen, denen man im allgemeinen gar nichts ent- die »Salami-Methode«, wie man das mit einem
gegnen kann, und zwar also mit diesem Unterton: schnoddrigen deutschen Ausdruck nennt, das heißt,
»Was? Das weiß doch jedes Kind! Und Sie wissen daß man von einem Komplex ein Stück abschnei-
nicht, daß seinerzeit der Rabbiner Nussbaum gefor- det, dann noch eins und noch eins. Also, es wird
dert hat, daß alle Deutschen kastriert werden sol- etwa mit der pseudowissenschaftlichen Pedanterie,
len?« Also solche völlig irren und phantastischen die diesen Bewegungen eigentümlich ist, an den
Geschichten. Ich habe das Beispiel eben erfunden, Zahlen der ermordeten Juden gezweifelt. Und es
wohlverstanden, aber so von dieser Art sind also wird erst gesagt: »Ja, es waren ja nicht sechs Mil-
die Argumente. Es wird mit Kenntnissen geprotzt, lionen, sondern nur fünfeinhalb«, und wenn man
die sich schwer kontrollieren lassen, die aber eben dann einmal soweit ist, dann ist zunächst über-
um ihrer Unkontrollierbarkeit willen dem, der sie haupt verdächtig, daß welche ermordet worden
vorbringt, eine besondere Art von Autorität verlei- sind, und am Schluß wird es dann so dargestellt,
hen. Ich glaube, es wird deshalb gut sein, daß man als ob's überhaupt umgekehrt gewesen wäre. Ich
von vornherein besonders wachsam dort ist, wenn glaube also, daß man diese Dinge besonders wach-
mit solchen scheinbar ganz konkreten Behauptun- sam betrachten soll.

44 45
Dann weiter ist sehr charakteristisch für diese in Wirklichkeit eine rein propagandistische Sache
Art des Denkens - und das ist gleichsam das Kom- ist. Ebenso wird das Wort »deutsch« monopolisiert.
plement zu dem Konkretismus - der Formalismus. Es wird alles Erdenkliche deutsch genannt, wäh-
Besonders gern ein Formalismus juridischer Art. rend die entgegengesetzten Parteien einfach, weil
Daß also etwa gesagt wird, daß das Münchner Ab- sie eben in Deutschland beheimatet sind und hier
kommen ja freiwillig von den westlichen Mächten fungieren, genauso deutsch sind wie die, die das
auch unterzeichnet worden sei, daß es infolgedes- Wort monopolisieren.
sen noch geltendes Recht sei und mit allen daraus Auf einen Trick möchte ich hier aber doch noch
entfließenden Ansprüchen etwa auf das Sudeten- eingehen, weil er gar nicht nur ein Triele ist, son-
land, und was es sonst noch gibt. dern weil man dem sehr ernsthaft immer wieder
Dann sagte ich, glaube ich, schon - nein, ich ha- begegnet. Das ist nämlich der Trick »Man muß
be noch nicht davon gesprochen, das ist eine Sa- doch eine Idee haben«. Das ist eine Sache, die
che, ich weiß nicht, ob sie auch für Österreich gilt, man auch unter relativ harmlosen und nur be-
für Deutschland gilt sie sicher, ich könnte mir den- schränkten Menschen findet, die so sagen: »Na ja,
ken, daß sie auch hier akut ist: das, was ich den was soll aus dieser Jugend werden? Diese Jugend
Trick des Offiziellen oder des Amtlichen nennen hat keine Idee, und die geben ihr doch wenigstens
möchte -, daß nämlich diese Gruppen durch ihre eine Idee.« Nun, ich habe Ihnen vorhin von Vul-
Nomenklatur sich so gebärden, als ob sie von ir- gäridealismus gesprochen. Ich glaube, das ist ge-
gendwelchen offiziellen Stellen gedeckt und ge- radezu der Prototyp dessen, was ich mit Vulgär-
fördert wären. Also, zum Beispiel die verbreitetste idealismus gemeint habe. Es wird nämlich hier der
rechtsradikale Zeitschrift, die für Studenten be- Begriff der Idee pragmatisch in sein Gegenteil ver-
stimmt ist, nennt sich Studenten-Anzeiger, was so setzt. Das heißt, die Idee soll nicht um dessent-
aussieht, für den Naiven, als ob sie von einer stu- willen da sein, weil sie wahr ist, nicht um ihres
dentischen Organisation herausgegeben wäre und objektiven Gehalts willen, sondern nur aus dem
die Studentensc~aft hinter sich hätte, während sie pragmatistischen Grund, daß man ohne Idee ge-

47
wissermaßen nicht soll leben können, daß es gut gischen Punkten, die man einmal sehr genau analy-
sein soll, daß man eine Idee hat. Was der Inhalt sieren müßte. Der Grund ist wahrscheinlich der,
der Idee ist, das ist gleichgültig. Aber wenn man daß in den Symbolen eben als ihr Ausdrucksgehalt
nur recht auf den Tisch schlägt und sagt: »Wir ha- noch ganz andere Dinge mitschwingen als nur das
ben eine Idee«, dann ist das dann schon bereits Nationale, wofür sie angeblich einstehen, und daß
das wirksame Surrogat für eine solche Idee. Also, das Unbewußte auf ganz andere Drohungen rea-
ich würde sagen, daß man gerade an dieser Stelle, giert, wenn diese Symbole also angeblich nicht ge-
wo also die Berufung auf »Man muß doch wieder nug respektiert werden, als diese Propaganda es
eine Idee haben« erfolgt, daß man da also auch vortäuscht. - Ähnlich ist auch die Neigung, etwa
besonders wachsam sein soll. Menschen, die die Oder-Neiße-Linie anerkennen
Was den Nationalismus anlangt, so tritt er in der möchten, als »Landesverräter« zu brandmarken. Ähn-
Propaganda im allgemeinen nicht generell auf, son- liche Dinge gab's auch schon, »Erfüllungspoliti-
dern mit großem Geschick konzentriert er sich auf ker« hieß das damals in der Weimarer Republik.
allergische Punkte. Zum Beispiel die Behauptung, Das ist der Komplex der punitiveness, den man viel-
daß die Deutschen in der Welt diskriminiert wür- leicht am besten mit Straffreudigkeit, nämlich den
den, worauf doch zunächst ganz einfach zu sagen anderen gegenüber, übersetzen könnte.
ist, daß es nach dem Ungeheuerlichen, das gesche- Neulich hat in Deutschland eine große Insti-
hen ist, eher das Überraschende ist, wie wenig ei- tution der öffentlichen Kommunikation eine Be-
gentlich an Ranküne in der Welt danach übrig- sprechung mit ein paar NPD-Führern gehabt, um
geblieben, wie schnell vergessen worden ist. Oder dahinterzukommen, was sie nun eigentlich an kon-
es wird gesprochen von der Mißachtung nationa- kreten Vorschlägen hätten. Und das einzige, was da-
ler Symbole, eine Sache, die dann unmittelbar in bei herauskam an konkreten Vorschlägen, und das
Wutanfälle und in Gewaltaktionen zu übersetzen ist sehr bezeichnend, ist: Die Todesstrafe für die
ist. Die Verselbständigung des Symbols gegenüber Mörder von Taxichauffeuren müßte wieder einge-
dem damit Gemeinten gehört auch zu diesen aller- führt werden. Das ist, ich meine, das klingt sehr

49
läppisch und unbeträchtlich, zeigt aber, welche Rolle mals wirklich verlangt worden ist. Dann, daß der
. I
der mit Rechtsideen getarnte Sadismus in diesen I
Nationalsozialismus erst gesund und dann »aus-
Dingen nach wie vor spielt. geartet« gewesen sei. Überhaupt die Lehre vom
Ich erspare es mir, Ihnen im einzelnen andere gesunden Kern. Dann die These von der Aufrech-
dieser für die jetzige Situation charakteristischen nung der Schuld. Und schließlich die Polemik ge-
Tricks zu analysieren. Zum Beispiel die Phrase: gen NS-Prozesse, wobei Fritz Bauer einmal die sehr
»Was jeder Negerstaat darf, das sollen wir nicht dür- richtige Bemerkung gemacht hat, daß dieselben
fen?« - wobei nur zu fragen wäre, was eigentlich? Leute, die auf die Wiedereinführung der Todesstra-
Oder die These vom Ausverkauf der deutschen fe drängen, die Straffreiheit für die Mörder von
Wirtschaft an fremdes Kapital, bei gleichzeitigem Auschwitz fordern, eine Sache, auf die man ja doch
Kapitalmangel innerhalb der deutschen Industrie. wohl in diesem Zusammehhang hinweisen soll, ob-
Oder die These von der Überfremdung durch Gast- wohl ich nicht leugne, daß es hier einen sehr ernsten
a~beiter - wobei nach wie vor der Bedarf an Ar- Widerspruch gibt, einen Widerspruch, an dem ich
beitskraft, selbst bei steigender Arbeitslosigkeit, in mir theoretisch einigermaßen den Schädel einge-
einer ganzen Reihe von Berufen, und zwar denen rannt habe.
der niedrigsten Handarbeit, so groß ist, daß dieses Nun, zur Frage der Abwehr lassen Sie mich nur
Bedürfnis nach Fremdarbeitern - ich sage lieber noch ganz wenige Worte sagen. Ich glaube, die
»Fremdarbeiter« als »Gastarbeiter«, weil ich »Gast- »Hush-Hush«-Taktik, also die Taktik, diese Dinge
arbeiter« für einen ideologischen Ausdruck halte -, totzuschweigen, hat sich nie bewährt, und es ist si-
dieses Bedürfnis besteht dabei fort. Dann natür- cher heute bereits diese Entwicklung viel zu weit ge-
lich der ganze Komplex )~Entartete Kunst«, »Sau- gangen, als daß man damit noch durchkäme. Daß
berkeit«, »saubere Leinwand« und was sonst mit man nicht moralisieren, sondern an die realen Inter-
diesen Dingen also zusammenhängt. essen appellieren soll, habe ich Ihnen bereits gesagt.
Dann gehört hierher der Komplex »Schluß mit Ich wiederhole es nur noch mal. Vielleicht darf ich
dem Schuldbekenntnis«, das sowieso eigentlich nie- dabei auch an ein amerikanisches Forschungsergeb-

50 51
nis erinnern aus unserer Authoritarian Personality, also daß die eigentlichen Subjekte einer Studie, die,
wo sich nämlich gezeigt hat, daß auch die vorur- die man zu begreifen und zu verändern hätte, die
teilsvollen Persönlichkeiten, die also durchaus auto- Rechtsradikalen sind und nicht die, gegen die sie
ritär, repressiv, politisch und ökonomisch reaktio- ihren Haß mobilisiert haben. Nun, meine Damen
när gewesen sind, an der Stelle, wo es sich um ihre und Herren, ich bin nicht so naiv zu glauben, daß
eigenen durchsichtigen, für sie selbst durchsichtigen man mit dieser Wendung nach innen unmittelbar
Interessen gehandelt hat, ganz anders reagieren. Al- bei den Menschen, um die es sich handelt, sehr viel
so, die waren etwa Todfeinde der Roosevelt-Regie- erreichen könnte, denn es gehört - ich kann das
rung, aber bei solchen Institutionen, die ihnen, wie jetzt nicht mehr im einzelnen Ihnen auseinander-
etwa der Mieterschutz oder die Verbilligungen der setzen, warum -, es gehört zu diesem Syndrom
Medizin, unmittelbar zugute gekommen sind, da wesentlich dazu, daß diese autoritätsgebundenen
hat der Antirooseveltianismus sofort sein Ende ge- Charaktere unansprechbar sind, daß sie nichts an
habt und da haben sie sich relativ rational verhal- sich herankommen lassen. Trotzdem aber hat -
ten. Diese Spaltung indem Bewußtsein der Men- und ich bitte Sie zu verzeihen, wenn ich hier noch
schen, die scheint mir einer der aussichtsreichsten einmal auf die Authoritarian Personality zu sprechen
Ansatzpunkte für eine Gegenwirkung in dem Sinn komme -, trotzdem hat sich gezeigt, daß einfach
zu sein, von dem ich gesprochen habe. dadurch, daß die Persönlichkeiten, die so und nicht
Ein ~eiteres Moment ist die Wendung nach in- anders sich verhalten, zu einem sozialpsychologi-
nen. Das heißt, daß man in der Abwehr versucht, schen Problem gemacht werden, daß über sie, daß
bewußtzumachen, daß dieser ganze Komplex der über den Zusammenhang ihrer Ideologie und ih-
autoritätsgebundenen Persönlichkeit und der rechts- rer psychologischen, ihrer sozialpsychologischen Be-
radikalen Ideologie in Wirklichkeit seine Substanz schaffenheit nachgedacht wird, d~ß das zum Pro-
gar nicht an den designierten Feinden hat, gar nicht blem wird, daß dadurch eine gewisse N aivetät des
an denen hat, gegen die man dabei tobt, sondern sozialen Klimas sich aufgelöst hat und eine gewis-
daß es sich dabei um projektive Momente handelt, se Entgiftung doch wohl eingetreten ist. Und ich

52 53
könnte mir denken, daß das auch im deutschen Lüge gegen Lüge setzen, nicht versuchen, genauso
Sprachbereich, in den verschiedenen Ländern, in schlau zu sein wie er, sondern nun wirklich mit ei-
denen deutsch gesprochen wird, daß das auch ei- ner durchschlagenden Kraft der Vernunft, mit der
nige Aussicht verspricht. wirklich unideologischen Wahrheit dem entgegen-
Schließlich sollte man die Tricks, von denen ich arbeiten.
gesprochen habe, dingfest machen, ihnen sehr dra- Vielleicht sind manche unter Ihnen, die mich fra-
stische Namen geben, sie genau beschreiben, ihre gen werden oder die mich fragen würden, wie ich
Implikationen beschreiben und gewissermaßen ver- nun über die Zukunft des Rechtsradikalismus den-
suchen, dadurch die Massen gegen diese Tricks zu ke. Ich halte diese Frage für falsch, denn sie ist viel
impfen, denn schließlich will niemand ein Dum- zu kontemplativ. In dieser Art des Denkens, die
mer sein oder, wie man in Wien sagen wird, nie- solche Dinge von vornherein ansieht wie Naturka-
mand will die »Wurzen« sein. Und daß das Ganze tastrophen, über die man Voraussagen macht wie
auf eine gigantische psychologische Wurztechnik, über Wirbelwinde oder über Wetterkatastrophen,
auf einen gigantischen psychologischen Nepp her- da steckt bereits eine Art von Resignation drin,
ausläuft, das ist wohl durchaus zu zeigen. durch die' man sich selbst als politisches Subjekt
Nun, meine Damen und Herren, ich wiederho- eigentlich ausschaltet, es steckt darin ein schlecht
le, daß mir bewußt ist, daß der Rechtsradikalismus zuschauerhaftes Verhältnis zur Wirklichkeit. Wie
kein psychologisches und ideologisches Problem ist, diese Dinge weitergehen und die Verantwortung
sondern ein höchst reales und politisches. Aber das dafür, wie sie weitergehen, das ist in letzter Instanz
sachlich Falsche, Unwahre seiner eigenen Substanz an uns. - Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
zwingt ihn, mit ideologischen, das heißt in diesem
Fall mit propagandistischen Mitteln zu operieren.
Und deshalb muß man ihm, abgesehen vom poli-
tischen Kampf mit rein politischen Mitteln, in sei-
ner'eigensten Domäne sich stellen. Aber nun nicht

54 55
Editorische Notiz

Den Vortrag über Aspekte des neuen Rechtsradikalis-


mus hielt Theodor W. Adorno am 6. April 1967 auf
Einladung des Verbands Sozialistischer Studenten
Österreichs im N euen Institutsgebäude der Wiener
Universität. Adorno stützte sich auf sieben Seiten
handschriftlicher Notizen und Stichworte, die sich
in seinem Nachlass erhalten haben. Druckvorlage
dieser Edition war die Tonaufnahme, die auch in
die Österreichische Mediathek aufgenommen wur-
de. - Der Text ist ein Vorabdruck aus dem von Mi-
chael Schwarz im Suhrkamp Verlag herausgegebe-
nen Band Theodor W. Adorno, Vorträge I949-I968,
der innerhalb der vom Theodor W. Adorno Archiv
edierten Nachgelassenen Schriften Adornos erschei-
nen wird.

57
Nachwort

Theodor W. Adornos Ausführungen über Aspekte


des neuen Rechtsradikalismus von 1967 zählen zu den
öffentlichen Interventionen des Philosophen. Als
rein mündlicher Vortrag an der Universität Wien,
von dem bislang lediglich eine Tonaufnahme exis-
tierte, ist er nahezu unbekannt geblieben. Doch
mehr als ein halbes Jahrhundert später besticht noch
die Gültigkeit einer Analyse, die sich passagenweise
wie ein Kommentar zu aktuellen Entwicklungen
liest.
Mitschnitten und Transkriptionen stand Adorno
ambivalent gegenüber, wie aus der Editionsgeschichte
anderer seiner Vorträge bekannt ist. Die Wiederga-
be des frei gesprochenen Wortes verwischte in sei-
nen Augen die grundsätzliche Differenz zur Schrift.
Solche Reproduktionen zählten für ihn zu den »Ver-
haltensweisen der verwalteten Welt, welche noch
das ephemere Wort, das seine Wahrheit an der eige-
nen Vergänglichkeit hat, festnagelt, um den Reden-

59
den darauf zu vereidigen«.! Im Gegensatz zur ver- punkt des Vortrags noch nicht abzusehen. Auf-
gänglichen Darbietungsform der mündlichen Rede grund des konkreten Gegenstands sind die grund-
ist der Inhalt des Vortrags jedoch keineswegs von sätzlichen Ausführungen zu den historischen und
flüchtigem Charakter und rechtfertigt die Veröffent- gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dieser Ent-
lichung des damals Gesprochenen. wicklung kursorisch gehalten. Mehr Aufmerksam-
Die Wiener Rede lässt sich als Fortsetzung des keit schenkt Adorno den sozialpsychologischen Dis-
Vortrags »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergan- positionen der Deutschen und der Wirkungsweise
2
genheit« von 1959 lesen. Sie fügt sich daher bei al- faschistischer Agitation.
lerTagesaktualität in das Werk Adornos ein. Die be- Für Adorno war es 1967 selbstverständlich, als
wusst lose gehaltenen Ausführungen dienten dazu, Referenz die historische Erfahrung des N ationalso-
einem österreichischen Auditorium den Aufstieg zialismus aufZurufen. Der Abdruck des Redetextes
der 1964 gegründeten NPD in der Bundesrepublik erweitert heute die beiden Stationen der damaligen
zu erläutern, die als Sammlungsbewegung des rech- Betrachtungen um eine dritte. Zu seinem histori-
ten Lagers signifikant Zuspruch verzeichnete. Bis schen Fluchtpunkt, dem Nationalsozialismus, und
1968 sollte sie in sieben Landesparlamente einzie- dem unmittelbaren Redekontext, den sechziger J ah-
hen. Das knappe Scheitern der NPD zwei Jahre spä- ren des vergangenen Jahrhunderts, tritt nun eine
ter bei den Bundestagswahlen 1969 war zum Zeit- Gegenwart, in der sich eine äußerste Rechte erheut
zur einflussreichen politischen Kraft entwickelt. Das
I Theodor W. Adorno, »Zur Bekämpfung des Antisemitismus verleiht Adornos Worten ihre Aktualität. Eine sche-
heute«, in: Das Argument 6:29 (1964), S. 88-I04, hier S. 88.
Auch in: ders., Gesammelte Schriften [Gsj, hg. von Rolf Tiede- matische Übertragung verbietet sich dennoch, Ador-
mann, Frankfurt/M. 1997, Bd.20: Vermischte Schriften, S.360- no betont in seinem Vortrag selbst die Differenzen.
383, hier S. 360.
2 Theodor W. Adorno, "Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergan-'
im Vergleich mit der Weimarer Zeit. Auch Analo-
genheit«, in: ders., Erziehung zur Mündigkeit. WJrträge und Ge- gien zum Nationalsozialismus waren bereits damals
spräche mit Hellmut Becker I959-I969, hg. von Ernst'Kadelbach,
Frankfurt/M. 1970, S. IO-29. Auch in: ders., GS, Bd. 10: Kultur-
nur begrenzt tragfähig. Dasselbe gilt für den Ver-
kritik und Gesellschaft, S. 555-572. gleich der Gegenwart im Jahr 2019 mit der Zeit von

60 61
vor fünfzig Jahren. Eine Lektüre der Rede erfordert ständlich. Europa, das hatte der Ausgang des Krie-
daher, durch den Kontext Bedingtes und Grund- ges gezeigt, war die Vergangenheit. Die Mitarbeiter
sätzliches zu unterscheiden. Die hellsichtig wirken- des IfS wussten, dass sich die Zukunft der west-
de Aktualität ist mit dem historischen Zeitkern ih- lichen Gesellschaft und damit auch der Gegen-
rer Wahrheit ins Verhältnis zu setzen. stand ihrerAnalyse fortan in den USA entscheiden
In der Rede finden sich mitunter beide Ebenen würden. Das US-amerikanische Modell aus Kapita-
vermischt, denn Adorno sprach in Wien nicht nur lismus und Demokratie forcierte die Entwicklung
als kritischer Analytiker der Verhältnisse, sondern von serieller Warenproduktion, Massenkonsum und
auch als Zeitzeuge. Er hatte erlebt, wie bereitwillig Kulturindustrie, also jener Felder, die für ihre Ge-
die bürgerlichen Eliten den Nationalsozialismus mit- sellschaftstheorie zentral waren. Hier zeichnete sich
trugen --:- so gleich am 3. April 1933, als die Universi- ab, was künftig auch Europa prägen sollte. Adorno
tät Frankfurt die Verbindung mit dem Institut für wertete das als Manifestation einer historischen Ten-
Sozialforschung (IfS) löste. Max Horkheimer wur- denz. 4 Diese Interpretation sah eine geschichtliche
de mit anderen »rassisch« oder weltanschaulich Un- Entwicklung, ohne die Gleichsetzung der Modelle
erwünschten umgehend entlassen. Niemand, be- zu vollziehen. Deren Differenz lag nicht nur, aber
schreibt Rolf Wiggershaus die Vorgänge, hatte sich besonders in der Shoah, die mehr Produkt des Na-
3 tionalsozialismus als des Fordismus war.
»vor die verfemten und verfolgten Kollegen« gestellt.
Mit der Rückkehr des IfS in die alte Welt nach dem Deutschland und den Nationalsozialismus hatte
Krieg rückten die deutschen Verhältnisse wieder nä- das IfS jedoch nie aus den Augen verloren. Eine Vor-
her, denen sich der Vortrag widmet.
Diese Entscheidung, das Institut wieder nach 4 Anlässlich der deutschen Kapitulation harre Adorno .an Hork-
heimer geschrieben, der Krieg sei, »wie es im Sinn der gesamten
Frankfurt umzusiedeln, war keineswegs selbstver- historischen Tendenz liegt, von der Industrie gegen das Militär
gewonnen worden«. Brief vom 9. 5. 1945, in: Theodor W. Adorno,
Max Horkheimer, Briefwechsel I927-I969, hg. von Christoph
3 Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte, theoreti- Gödde und Henri Lonitz, Bd. III: I945-I949, Frankfurt/M.
sche Entwicklung, politische Bedeutung, München 1997, S. 149· 2005, S. IOO-I03, hier S. IOL

I
lesungsreihe zu den »Nachwirkungen des National- I948, wie er bei Sondierungsgesprächen von den Of-
sozialismus« an der Columbia University im Frühjahr fiziellen der Universität »süß, aalglatt und verlogen
I945 zeugte von der widersprüchlichen Situation. ehrenvoll begrüßt« wurde: »Sie wissen noch nicht
Einerseits bewiesen die Vorträge, wie intensiv sich genau, sollen sie in mir einen relativ einflußreichen
das Institut weiterhin mit Deutschland und Europa Amerikareisenden oder den Bruder ihrer Opfer se-
befasste. Andererseits machten sie »deutlich, daß die hen, dessen Gedanke die Erinnerung ist. Sie müssen
entscheidenden Probleme Deutschlands und Euro- sich fürs letztere entscheiden.«6 Doch hatte bald
5
pas sich am besten in den USA studieren ließen«. nach dem Krieg, wie in den USA selbst, auch in West-
Konsequent hatte das Institut sein Großprojekt zur deutschland der politische Kurs der Besatzungsbe-
Vorurteilsforschung, die Studies in Prejudice, auf hörden vom Antifaschismus zum Antikommunis-
empirisches Datenmaterial aus den USA gestützt. mus gewechselt. Die neue Linie orientierte sich an
Dennoch fassten I949 Max Horkheimer, Theodor der Sicherung der bundesdeutschen Loyalität im be-
W. Adorno und Friedrich Pollock, der innerste ginnenden Ost-West-Konflikt. Das verstärkte das
Kreis des Instituts, den Entschluss zur Rückkehr. Der Echo des Nationalsozialismus in der Gesellschaft,
Schritt war auch durch eine paradoxe Hoffnung dem sich die Institutsarbeit widmete.
motiviert, dass in der weniger entwickelten deut- In das I950 begonnene Gruppenexperiment, mit
schen Gesellschaft Rudimente einer Zeit vor der to- dem nach Vorbild der Studies das Verhältnis junger
talen Vergesellschaftung, Reste von Bildungsidea- Deutscher zu NS-Diktatur und Besatzung, zu Schuld
len und bürgerlicher Subjektivität, also kurzum der und Demokratie ausgelotet werden sollte, flossen
europäischen Kultur, lebendig geblieben seien, die neue empirische Methoden nach US-amerikani-
in den schnelllebigen USA verschwunden waren. schem Muster ein. Das Ergebnis beschrieb ein bis
Der äußere Rahmen für einen Neuanfang in
Frankfurt war nicht einfach. Horkheimer schilderte 6 Brief von Max Horkheimer an Maidon Horkheimer vom 26.5.
1948, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, hg. von Alfred
Schmidt und Gunzelin Schmid Noerr, Bd. 17: Briefwechsel I94I-
5 Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S. 428 . I948, Frankfurt/M. 1996, S. 975-978, hier S. 976.
heute bekanntes demoskopisches Phänomen: eine talitären Moralisten und Idealisten hinstellen«. 8
»nicht-öffentliche Meinung [ ... ], deren Inhalt von Heute hingegen ist die Pionierarbeit des IfS ebenso
dem Inhalt der eigentlichen öffentlichen Meinung unbestritten wie ihre Bedeutung für gegenwärtige
sehr erheblich abweichen kann, deren Sätze aber ne- Untersuchungen: »Die (ernstzunehmenden) Dis-
ben den Sätzen der öffentlichen Meinung gleich den kussionen über Rechtspopulismus stellen auf Fra-
Geldeinheiten einer zweiten Währung umlaufen«. 7 gen ab, die erst mit dem den Vorurteilsstudien des
Das zeigte, dass die Konvention zivilisatorisch-demo- Instituts entnommenen begrifflichen Instrumenta-
kratischer Läuterung die Latenz des Faschistischen rium überhaupt gestellt werden können«, nämlich
nur schlecht im Zaum zu halten vermochte. Bei einer welcher »psychologische Gewinn« aus Abwertungen
Schwäche der übergeordneten Instanz und entspre- gezogen wird, warum »die (reale oder vorgeschobene)
chenden Stimuli trat es schnell wieder zutage, ein eigene Angst als Legitimation« für Ressentiments
Muster, das an aus der Psychoanalyse bekannte Vor- dient,· wie »Rassismus, Antisemitismus und Sexismus«
gänge erinnert. Die Erkenntnisse belegten früh, dass sowie »Nationalstaatlichkeit, Kapitalismus und Ras-
der Faschismus zum Überleben auf keine Partei an- sismus zueinander in Beziehung« stehen. 9 Seit Jahr-
gewiesen ist und dass eine solche sich vielmehr bei- zehnten hatte sich das IfS und auch Adorno selbst
zeiten unter Rückgriff auf die so tradierten »nicht- derartigen Komplexen gewidmet. Gemessen daran
öffentlichen« Ressentiments formieren kann. war seine Ankündigung in Wien, lediglich einige Ge-
Das waren keine willkommenen Nachrichten. An- danken ergänzen zu wollen, bemerkenswertes Un-
gesichts der Befunde des Gruppenexperiments grif- derstatement.
fen Gegner des Instituts zu einem »altbewährte[n] Im Moment seines Vortrags verfügte Adorno also
und bis heute beliebte[n] Verfahren: die Gefahren über die Erfahrung aus Emigration und Forschung
von rechts verharmlosen, den Entlarver selbst als to- sowie des Alltags in einem Land, in dem der Rechts-

7 Gruppenexperiment. Ein Studienbericht, bearbeitet von Fried- 8 Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S. 53 Z.
rich Pollock, mit einem Geleitwort von Franz Böhm, Frank- 9 Marc Grimm, »Zur Aktualität Kritischer Theorie«, in: Zeit-
furt/Mo 1955 (= Frankfurter Beiträge zur Soziologie, Bd. z), S. XI. schrift für Politische Theorie 8:1 (Z017), S. II3-I21, hier S. II6.

66
radikalismus noch gut zwei Jahrzehnte zuvor Staats- die »Planken« jener faschistischen »Plattform« wie-
raison gewesen war. Leitgedanke seiner Rede ist derzuerkennen, die er und Max Horkheimer schon
eine Variation der bereits 1959 formulierten, bis heute in der Dialektik der Aufklärung skizziert hatten. 12
vielzitierten Warnung, das »Nachleben des Natio- Der wiederholte Hinweis auf die Struktur der auto-
nalsozialismus in der Demokratie« sei »bedrohlicher ritätsgebundenen Persiinlichkeit schöpft aus der gleich-
denn das Nachleben faschistischer Tendenzen ge- namigen Teilstudie der institutseigenen Vorurteils-
gen die Demokratie«. Ebendiese zeichneten sich forschung. Insgesamt ruft der Vortrag eine ganze
nun im politischen Geschehen ab. Hatte er achtJah- Reihe von bekannten Motiven aus der Forschung
re zuvor noch explizit »nicht auf die Frage neonazis- des Instituts auf, die bereits den Übergang der Wei-
tischer Organisationen eingehen« wollen, war es marer Demokratie zum Nationalsozialismus »nicht
nun notwendig geworden, diesem Phänomen Auf- als Bruch, sondern als quasi-logische Evolution«
merksamkeit zu schenken. 10 sah. 13 Der strukturelle Widerspruch zwischen de-
Adorno spricht in Aspekte des neuen Rechtsradika- molcratischer Mitbestimmung und Konzentrations-
lismus wie zuvor von »pathischem« Nationalismus, the- tendenz des Kapitals, der damals im Zentrum der
matisiert die Tricks der Propaganda sowie die Spu- Analyse stand, wurde auch nach 1945 nicht auf-
ren der narzisstischen Kränkung in der Gesellschaft gelöst. Die faschistischen Bewegungen, so Adorno,
11
durch die Niederlage. Selbst Überlegungen zum könnte man in diesem Sinn als die 'Wundmale, als
Appell an rationale Interessen und die durchschlagen-
de Kraft der Vernunft finden sich wieder ausgeführt. I2 Max Horkheimer, Theodor W Adorno, Dialektik der Aufklä-
rung. Phflosophische Fragmente [I9441r947l, Frankfurt/M.
Aufgrund der übernommenen Begriffe sind unschwer I993, S. 2IO.
I3 Helmut Dubiel, Alfons Söllner, »Die Nationalsozialismusfor-
schung des Instituts für Sozialforschung- ihre wissenschaftliche
10 Adorno, ,>Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit«, S. IOE Stellung und gegenwärtige Bedeutung«, in: dies. (Hg.), Horkhei-
(GS, Bd. IO, S. 555f.). mel; Pollock, Neumann, Kirchheillw; Gurland, Marcuse: Wirt-
I I Bei den hier und im Folgenden kursiv gesetzten Begriffen, Wen- schaft, Recht und Staat im Nationalsozialismus. AnaIJsen des Insti-
dungen und Passagen handelt es sich um direkte Zitate aus tuts für SozialJorschung I939-I942, Frankfurt/M. I98I, S. 7-3I,
Adornos Vortrag in diesem Band. hier S. 9.

68
die Narben einer Demokratie bezeichnen, die ihrem legt, mit der Einführung des EU -Binnenmarktes sei
eigenen Begriffeben doch bis heute noch nicht voll ge- ein aufAbstiegsängsten gebauter Nationalismus ein
recht wird für alle Mal gebannt worden. Der Ruf nach Souve-
Bei aller Reserve gegenüber dem historischen Ver- ränität kann, obwohl diese in den komplexen Be-
gleich zeugen die Beispiele Adornos damit von der zugssystemen der Moderne schon damals etwas Fik-
Langlebigkeit einzelner Konfliktfelder. Regionale tives hatte, auch heute zu einer. der Hauptparolen
Kontinuitäten im Wahlverhalten erscheinen ihm rechter Europagegner werden.
als Gespenst eines Gespensts, und noch heute sucht In der Analyse des Zusammenhangs von Ökono-
dieser Wiedergänger manche Orte heim. Das Versa- mie, Gesellschaft und Subjektstruktur bewegt sich
gen der weniger radikalen Kräfte in der NPD wäh- Kritische Theorie auf ureigenem Terrain. Adornos
rend der I960er Jahre erinnert Adorno an die Rolle Anmerkung zur technologischen Arbeitslosigkeit als
der Deutschnationalen beim Aufstieg der NSDAP, Folge der Automatisierung kann daher lapidar blei-
nach diesem Muster scheitern Zähmungen bis heute. ben, greift sie doch eine lange Diskussion zum Ver-
Die Anmerkungen zum antagonistischen Charakter hältnis von Subjektkonstitution und technischer
des Nationalismus, zu dessen Aufblühen als Versuch Entwicklung im Kapitalismus auf. Herbert Marcu-
der Selbstbehauptung inmitten der Integration lesen se hatte bereits I94I in einigen Anmerkungen »zu
sich wie eine Beschreibung der Absatzbewegungen in- den gesellschaftlichen Folgen moderner Technolo-
nerhalb der EU. Nach wie vor gilt für die Ausbildung gie« und explizit mit Blick auf den »technokratischen«
von Ressentiment die Frage als zentral, »wie viel Kon- Charakter des Nationalsozialismus den Verfall des
trolle man über das eigene Leben zu haben glaubt«. 14 bürgerlichen Subjektes zum reinen Träger von Effi-
Adorno hat diese Bedeutung der Gefühle J ahrzehn- zienz und Leistung nachgezeichnet. 15
te vor dem Aufstand der sogenannten Wutbürger
erkannt - eine Entwicklung, die den Glauben wider- 15 Herbert Marcuse, »Einige gesellschaftliche Folgen moderner
Technologie«, in: Dubiel/Söllner (Hg.), Horkheimer, Pollock,
Neumann, Kirchheimer, Gurlanel, Marcuse, S.337-367, hier
14 UEfa Jensen, Zornpoliti/?, Berlin 2017, S. 38. S·341.

7I
Zwei Jahre zuvor, 1939, hatte Max Horkheimer spielt, zusammen: »Indem die Individuen das Kol-
beschrieben, wie »die technisch äußerst entfaltete lektivsubjekt der Nation oder den Führer zu ihrem
Industrie« das Prinzip des Liberalismus unterlaufe, Ideal machen und mit phantastischen Eigenschaften
da durch ihre Entwicklung der »Verkauf der Ar- ausstatten, verwirklichen sie ein Stück jenes archai-
beitskraft für große Teile der Bevölkerung unmög- schen Größen-Selbst, dessen Realisierung in der Exis-
lich wird«.16 Die Krisentendenz ist strukturell an- tenz des je Einzelnen ihnen versagt ist; zugleich be-
gelegt und generiert bis ins Bürgertum hinein das freien sie sich durch Projektion von ihren eigenen,
Gefühl der sozialen Katastrophe als Verzerrung der im Ich-Ideal gebundenen Aggressionen, mit der un-
Marxischen Zusammenbruchstheorie. Dieses Emp- vermeidlichen Folge, daß sich die Welt mit gefähr-
finden hat etwas in den Subjekten umschlagen las- lichen, vergeltungssüchtigen Objekten bevölkert, ge-
sen, denn nun wird von ihnen der Ausnahmezustand gen die sich das Subjekt wiederum zur Wehr setzen
erwartet, wenn nicht herbeigesehnt. Adorno sieht muß: die Kehrseite der Gratifikationen, die der >so-
die zeitgenössische ökonomische Krise daher in der zialisierte N arzißmus< verschafft, ist der Verfolgungs-
zuvor sich abzeichnenden p0litischen, dem Aufstieg wahn.«I?
der NPD, antizipiert. Am Ende steht, anstelle des Stre- Das Muster ist weiter wirksam. Die Erfahrung
bens nach Veränderung, die Flucht in lustvolle End- der Austauschbarkeit als Arbeitskraft kann so im
zeitrhetorik. Weißt Du, was W"Vtan will? Das Ende. völkischen Phantasma eines »großen Austauschs«
Das Wissen, dass man mehr sein könnte, aber ethnischer Gruppen münden. 18 Hilfesuchend wen-
nicht ist, treibt die Menschen noch immer zu Ak- den sich die Besorgten an einen imaginierten Sou-
ten des kollektiven Narzissmus. Stefan Breuer fasst
dieses Phänomen, das bereits in Adornos Vortrag 17 Stefan Breuer, »Adornos Anthropologie«, in: Leviathan 12:3
(1984), S. 336-353, hier S. 346f.
zur »Aufarbeitung der Vergangenheit« eine Rolle 18 Vgl. Renaud Camus, Der große Austausch, Schnellroda 2016.
Die Rede vom »großen Austausch« zählt zu den zentralen Pro-
pagandaphrasen der Neuen Rechten. Das vom Täter des Massa-
16 Max Horkheimer, •• Die Juden und Europa«, in: ebd., S. 33-53, kers von Christchurch 2019 veröffentlichte Manifest trug eben-
hier S. J4. falls den Titel »Der große Austausch«.

73
verän. Ein autoritär agierender Nationalstaat wird 1960er Jahren ein Generationswechsel, der den Über-
von ihnen nicht mehr als Bedrohung empfunden, gang von einer alten zu einer neuen Rechten mar-
sondern als Schutz und Inkarnation des »Eigenen« leiert. Grundlegend dafür war eine wesentliche An-
ersehnt - ein Prozess, der Horkheimer bereits in passungsleistung der äußersten Rechten nach 1945,
den 1930er Jahren hatte anmerken lassen, im Spät- der Wegfall des, wie Adorno sagt, offen Antidemo-
kapitalismus verwandelten sich »die Völker zuerst kratischen. An seine Stelle trat eine neue Selbstdar-
in Unterstützungs empfänger und dann in Gefolg- stellung, deren Beschreibung Adornos auch den heu-
schaften«.19 Statt in einer abstrakt verwalteten Welt tigen Rechtspopulismus charalcterisiert: Man beruft
unterzugehen, wählen sie lieber die unmittelbar er- sich immer auf die wahre Demokratie und schilt die
leb bare Autorität. anderen antidemokratisch.
Welchen Wert haben diese Analysen für die Ge- Der von Adorno beschriebene Konformitätsdruck
genwart? Zunächst gilt es, die Unterschiede zu wird heute kulturindustriell stark abgefedert. Im
beachten. Adornos Warnung vor einer schlichten Schatten des Warenfetischs bieten sich zahlreiche
Rückbindung des Rechtsradikalismus an die Kon- Möglichkeiten individualisierter Konformität, die
junkturbewegungen der Wirtschaft ist ernst zu neh- bis auf das Führungspersonal der gegenwärtigen
men. Die Auswirkungen der Rezession von 19 66 /67 Rechten zurückschlägt. Dessen Charisma bietet
als unmittelbarer Hintergrund der beschriebenen kaum mehr auf als eine Karikatur der Vergangenheit.
Entwicklungen lassen sich weder mit den Folgen der Auch die politischen Frontlinien sind nicht ohne Wei-
Weltwirtschaftskrise von 1929 noch mit denen ge- teres vergleichbar. In der Auseinandersetzung mit
genwärtiger Finanz- und Währungskrisen verglei- dem globalen Dschihadismus, einem agitatorischen
chen. Auch die Skepsis gegen eine Überschätzung Schlüsselelement des Rechtspopulismus, geht es an-
der Umtriebe alter Nationalsozialisten erweist sich ders als im Antisemitismus nicht allein um pathische
als richtig. Tatsächlich vollzog sich in den späten Projektion. Der politische Islam ist realer Akteur und
muss selbst als Produkt einer kollektiven narzissti-
19 Horkheimer, »DieJuden und Europa«, S. 37· schen Kränkung gesehen werden. In der Bereitschaft,

74 75
sich zukünftig auch dieses Felds anzunehmen, kann beispielsweise auf Sozialisten und Liberale ausdeh-
Kritische Theorie ihre Fähigkeit beweisen, »auf ge- nen lassen. Häufig verschieben die von Deklassie-
genwärtige und konkrete Bedrohungen zu reagie- rung Bedrohten die Schuld an der Misere nicht etwa
ren«.20 aufdie Apparatur, die das bewirkt, sondern aufdieje-
Das IfS untersuchte, wie der Faschismus mit dem nigen, die dem System, in dem sie einmal Status beses-
Fordismus aufsteigen konnte. Heute stellt sich die sen haben { . .l, kritisch gegenübergestanden haben:
Frage, was die Reste bürgerlicher Subjektivität in Jene, die andere Modelle vorschlagen, werden zum
der darauffolgenden Epoche generieren. Die Digi- besonderen Objekt der Wut, wie die heutige Fixie-
talisierung hat die von Adorno erwähnte Automati- rung der äußersten Rechten auf eine seit Jahrzehn-
sierung noch gesteigert. Die Verdrängung mensch- ten weitgehend machtlose Linke zeigt. Der Popanz
licher Arbeit in prekäre Bereiche produziert auch eines quasidiktatorischen »links-grün-verseuchten
im Hightechzeitalter Kränkungen. Zu Recht fragt 68er-Deutschland«22 zeigt, dass tradierte Feindbilder
Didier Eribon vor dem Hintergrund des Verfalls deI' selbst unter völlig veränderten gesellschaftlichen Be-
politischen Linken danach, wer nun eigentlich »der dingungen noch ihren Schrecken entfalten können.
Tatsache Rechnung« trage, dass die Überflüssigen, Unter Verlust jeglicher Kategorien wird die Europä-
die prekär Beschäftigten und die verbliebenen Res- ische Union als »EUSSR«, die Bundesrepublik als
te des Industrieproletariats »existieren, dass sie le- »DDR 2.0« und die gesamte politische Landschaft
ben, dass sie etwas denken und wollen«?21 bis tief hinein in den demokratischen Konservatis-
Diese Aspekte markieren eine große Lücke in der mus als »links« klassifiziert. Der Kommunismus,
Debatte um die gegenwärtige autoritäre Revolte, die bereits 1967 mehr Imago als Begriff und somit abge-
eben nicht alleine durch Rassismus geprägt ist. Viel- spalten von jeder Kenntnis der Sache, taugt noch im-
mehr kommen Ressentiments zum Zuge, die sich mer zur Beschwörung.

20 Grimm, »Zur Aktualität Kritischer Theorie«, S. 120. 22 Järg Meuthen auf dem Stuttgarter Parteitag der AfD im Jahr
21 Didier Eribon, Rückkehr nach Reims, Berlin 2016, S. 39· 20I6.

77
Die bereits aus dem Antisemitismus-Kapitel der Wortgewaltige Angriffe gelten auch einer durch
Dialektik der Aufklärung bekannte Verschränkung Adorno inspirierten historischen Aufarbeitung der
von Antiintellektualismus, Antimarxismus und Anti- nationalsozialistischen Vergangenheit. Vor Pathos
semitismus, Adornos bete noire, prägt nach wie vor bebend, kündigte ein führender AfD-Politiker an,
den Diskurs. In der Figur des sogenannten Kultur- das Ende einer »dämliche[n] Bewältigungspolitik«
marxismus ist sie heute wieder virulent. Dieser als einzuleiten, und forderte die »erinnerungspolitisch:e
cultural marxism von der äußersten US-amerikani- Wende um 180 Grad«.24 Diese Rhetorik kannte be-
schen Rechten entlehnte Begriff hat mittlerweile das reits die NPD, Adorno fasst sie als Komplex »Schluß
Erbe des nationalsozialistischen Propagandaworts mit dem Schuldbekenntnis« zusammen. Der Griff
vom »Kulturbolschewismus« angetreten. Er ist welt- nach der Vergangenheit, in dem sich deutsche Rechts-
weit verbreitet und konstruiert eine Verschwärungs- populisten der Gegenwart nicht von anderen Rechts-
theorie, in deren Zentrum bemerkenswerterweise parteien der vergangenen Jahrzehnte unterscheiden,
die Kritische Theorie selbst steht. 23 bestätigt, wie genau Adorno bereits die Motive jener
erfasst hatte, die eine Überwindung des »Schuld-
23 Vgl. Alice Weide!, »Die Angst der Kulturmarxisten vor der Auf- kults« einfordern. 25 Die Kränkung, die das Wissen
ldärung und der AfD«, in: Junge Freiheit anline vom 23. L 2018,
(https:lljungefreiheit.de/ debatte/kommentarho181 die-angst-
der-kulturmarxisten-vor-der-aufldaerung-und-der-afdl), letzter
Zugriff am 3°.3.2019. Der Begriff »Kulturmarxismus« ist auch New Yark Times anline, (https:llwww.nytimes.comh018/IIIr3/
zentral im Tatmanifest »2083« des norwegischen Massenmör- opinionl cultural-marxism-anti-semitism.html), letzter Zugriff
ders Anders Breivik aus dem Jahr 201L Weltanschaulich inspi- am 16.4.2019.
riert war Breivik durch den norwegischen Blogger »Fjordman«, 24 Björn Höcke in seiner Rede vom 17. L 2017 im Dresdner Lokal
dessen Texte ebenfalls einen Kampf gegen den »Kulturmarxis- Ballhaus Watzke.
mus« propagieren. Sie wurden nach Breiviks Massal,er ins Deut- 25 »Hundert Jahre nach der Geburt des ,häßlichen Deutschen< aus
sche übersetzt: Fjordman, Europa verteidigen. Zehn Texte, hg. dem Geist der britischen Kriegspropaganda sollte es an der Zeit
von Martin Lichtmesz und Manfred Kleine-Hartlage, Schnell- sein, Schuldkult und Nationalneurosen allmählich abzustreifen.
roda 201L Robert Bowers, der angeldagt ist, 2018 in der Syn- Die unangenehme Seite des ,typisch Deutschen< ist heute der
agoge von Pittsburgh elf Menschen ermordet zu haben, wähnte Schuldsrolz, der sich lustvoll selbst an den Pranger stellt, wo an-
sich ebenfalls im Kampf gegen den cultural marxism, vgL Samuel dere längst differenzierter hinschauen.« Michael Paulwitz, »Der
Moyn, »The Alt-Right's Favorite Meme is 100 Years Old«, in: Seibsrhaß blüht«, in: Junge Freiheit vom 23.5.2014, S. 13.

79
um die Untaten der eigenen Nation darstellt, wen- Viele dieser Affekte wirken wie aus der Zeit gefal-
det sich gegen diejenigen, die Erinnerung anmah- len, doch gerade der Anachronismus verfängt. Er-
nen, wie gegen das Erinnern selbst. Schon 1959 hatte weisen sich die Versprechen einer prosperierenden
er erkannt, dass »im Vergessen des kaum Vergange- Gegenwart als trügerisch, droht der Statusverlust,
nen« die »Wut« mitldinge, »daß man, was alle wis- wird Identität zum Fetisch und überwunden Ge-
sen, sich selbst ausreden muß, ehe man es den ande- glaubtes kehrt zurück. Wie Adorno feststellt, können
ren ausreden kann«. 26 In seiner Beobachtung dieser Überzeugungen und Ideologien gerade dann, wenn sie
Affekte spricht Adorno als jener zurückgekehrte eigentlich durch die objektive Situation nicht mehr
»Bruder« der Opfer, den bereits die Frankfurter Of- recht substantiell sind, ihr Dämonisches, ihr wahrhaft
fiziellen in der Person des zurückgekehrten Hork- Zerstörerisches annehmen. Heute zeigt die. immense
heimer fürchteten. Zugkraft frauenfeindlicher und homophober Agi-
Noch heute vermag, wie zu Adornos Zeiten, die tation in Zeiten der Gleichberechtigung oder die
Erwähnung von Auschwitz ebenso Menschen zum Renaissance des religiösen Fundamentalismus in-
Weißglühen zu bringen wie allgemeine ethische Über- mitten einer säkularen Gegenwart, wie trügerisch es .
legungen oder Appelle an die Humanität, wovon die ist, sich im Lichte des Erreichten zivilisatorisch in
Phrase vom »Gutmenschen« oder die an Seenotretter Sicherheit zu wiegen. Eribon ist erstaunt, mit welcher
adressierten »Absaufen«-Rufe bei einer Pegida-Kund- Energie nach wie vor »bestimmte Bevölkerungsgrup-
gebung 2018 zeugen. Eine Steigerung stellt allerdings pen - Schwule, Lesben, Transsexuelle oder auch Ju-
dar, dass sich rechte Agitatoren inzwischen routi- den, Schwarze usw. - mit der Last einer kulturellen
niert selbst mit den Opfern in eins setzen. 27 Verdammnis belegt« werden. 28 Ihnen wird, ließe
sich mit Rekurs auf die Dialektik der Aufklärung sa-

26 Adorno, »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit«, S. 14


(GS, Bd. 10, S. 5)8).
27 »Die Menschen, welche in Deutschland leben, haben sich rechtzukommen.« RolfPeter Sieferle, Finis Germania, Schnell-
ebenso daran gewöhnt, mit dem Antigermanismus fertigzuwer- roda2017, S. 77.
den, wie die Juden lernen mußten, mit dem Antisemitismus zu- 28 Eribon, Rückkehr nach Reims, S. 212.

80 81
gen, das rein abstrakte Recht der Emanzipation von und psychotisch und schließlich abhängig von ih-
denen nicht gegönnt, die Glück nur als Ausdruck ren sogenannten Führern.«31
von konkreter Macht deuten können. 29 Adorno hatte Löwenthals Ergebnisse schon 1944
Unbedingt gültig ist Adornos Feststellung, dass auf einem Symposium des Psychoanalytikers Ernst
in rechtsradikalen Bewegungen die Propaganda ihrer- Simmel präsentiert. 32 Er wusste, dass die politischen
seits die Substanz der Politik ausmacht. Hier knüpft Zerstörungen, die von den rechten Demagogen pto-
er nahtlos an Leo Löwenthals Falsche Propheten an, duziert werden, keine Entgleisungen waren, die
dessen Analyse faschistischer Agitation in den USA, sich einhegen ließen, sondern Kalkül. Für ihn stand
ebenfalls eine Teilstudie aus dem Prejudice-Groß- außer Frage, »daß die faschistische Propaganda mit
projekt des IfS, hervorhebt, wie grundlegend die ihrer verdrehten Logik und ihren phantastischen Ver-
Beschwörung des Ausnahmezustands für die Pro- zerrungen bewußt geplant und organisiert wird«.
paganda ist. 30 Schon Löwenthals Erkenntnisse ma- Sie folge dabei jedoch »keiner diskursiven Logik«,
chen die Hoffnung zunichte, die äußerste Rechte sondern sei »eine Art organisierter Gedankenflucht«,
würde sich schon mäßigen, sobald sie sich an be- die Affekte mobilisiere. 33 Das macht Vernunftap-
stimmte diskursive Regeln gewöhnt habe oder poli- pelle an den Agitator sinnlos. Adornos späterer Stoß-
tisch eingebunden worden sei. Die systematische seufZer, man müsse wirklich schon vom Geist des For-
Stimulation der autoritären Persönlichkeit durch malismus geradezu geschlagen sein, um nicht zu sehen,
Propaganda beschreibt Löwenthal als »auf den Kopf«
gestellte Psychoanalyse. Für die Technik der Agita- 3I Leo Löwenthal, .»Mitmachen wollte ich nie'. Gespräch mit Hel-
mut Dubiek in: ders., Schriften 4, Frankfurt/M. I990, S. 27I-
tion gelte dasselbe wie auch für die »Massenkultur« 298, hier S. 294. .
allgemein: »Man macht den Menschen neurotisch 32 Theodor W. Adorno, »Antisemitismus und faschistische Propa-
ganda", in: Ernst Simmel (Hg.), Antisemitismus, hg. von Elisa-
beth Dahmer-Kloss, mit einem Nachwort von Helmut Dah-
mer, Frankfurt/M. I993, 5. I48-I61. Darin (5. I50) Adorno:
29 HorkheimeriAdorno, Dialektik der Aufklärung, 5. I81. »Da die Propaganda ganz und gar auf die Mittel eingestellt ist,
°
3 Leo Löwenthal, Falsche Propheten. Studien zurfaschistischen Agi- wird sie selbst zum eigentlichen Inhalt."
tation, in: ders., Schriften 3, Frankfurt/M. I990, 5. II-I59· 33 Ebd., 5. I53.
was sie meinen, lässt sich umstandslos auf heutige mechanische und elektronische Reproduktionsmög-
Diskussionsangebote übertragen. lichkeiten möglich gewordene Verbreitung von
Die Wirkung der Agitation wird zudem durch Kunstwerken auch einen politisch guten Sinn ha-
den kulturindustriellen Rahmen garantiert, dem sie ben kann«, schon damals den »politischen Erfah-
selbst bis ins Detail entspricht. Im Internet-Zeital- rungen« der Institutsmitarbeiter widersprochen ha-
ter tritt die von Adorno konstatierte Kombination be. 34 Heute hat die digitale Revolution nicht nur die
einer außerordentliche[nJ Perfektion der Mittel mit Massenkultur auf eine neue Ebene gehoben, son-
einer völligen Abstrusität der Zwecke nun umso deut- dern auch Staat und Wirtschaft weitere Instrumen-
licher hervor. Ihren Erscheinungsformen als Bots, te geliefert, die Totalverwaltung noch auszudehnen.
Trolle und Fake News ist viel Aufmerksamkeit ge- Wie ihre historischen Vorläufer versteht sich die zeit-
schenkt worden. Unter dieser Oberfläche zeichnet genössische äußerste Rechte virtuos auf die Kombi-
sich genau die Konstellation von rationalen Mitteln nation von Propaganda und Technik. Ihr erfolgrei-
und irrationalen Zwecken ab, die Adorno als zivili- cher Einsatz bei den letzten Präsidentschaftswahlen
satorische Gesamttendenz auch jenseits solcher Ex- in den USA gilt den rechten Bewegungen in Europa
zesse ausmacht. Noch immer gilt, dass ohne eine als Vorbild, die sich seither in Stil und Inhalten re-
Reflexion auf die Mechanismen massenhaft produ- gelrechtamerikanisiert haben. Die vom IfS einge-
zierter Informationen und Kultur die Abwehr von nommene trans atlantische Perspektive hat nach wie
Propaganda ein aussichtsloses Unterfangen bleibt, vor Gültigkeit.
da Propaganda in diesem Rahmen überhaupt erst Nach lmapp drei Jahrzehnten digitaler Kommu-
wirken kann. Angesichts dieser Struktur wird auch nikation lässt sich feststellen, dass sich die Hoff-
diskretes Schweigen oder Abwiegeln, die Hush-Hush- nung auf einen technisch vermittelten Demokratie-
Taktik, nichts helfen. schub nicht erfüllt, solange der kulturindustrielle
Das erinnert an Löwenthals Einwand gegen Wal- Rahmen von Kitsch und Spektakel dominiert. Das
ter Benjamins Überlegungen zur Massenkultur, dem
zufolge Benjamins Optimismus, dass »die durch 34 Löwenthal, »)Mitmachen wollte ich nie«" S. 284.
Problem stellt sich selbst für Aktivitäten gegen die schen Bildungselite und liberaler Demokratie, von
aufstrebende extreme Rechte, wenn bei ihnen die- der die bundesrepublikanische Geisteslandschaft seit
selben Muster zur Anwendung kommen. Die allei- den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts be-
nige Verteidigung des Status quo wird als Abwehr- stimmt wurde, ist nicht naturgegeben. Sie kann auch
strategie fehlgehen, wenn nicht erkannt wird, dass enden. Auch in diesen Tagen ist das Gespenst,dem
die rechte Renaissance ihrerseits ein Resultat eben- sich Adornos Vortrag widmet, noch lange nicht' er-
jenes Status quo ist. Adorno - und auch Löwen- löst. Erneut wandelt es als neuer Rechtsradikalismus
thal - war dieser Zusammenhang schon vor mehr umher. Umso wichtiger ist es, sich die Struktur fa-
als einem halben Jahrhundert transparent. schistischer Agitation und die sozialpsychologischen
Zu einer Historisierung Kritischer Theorie be- Grundlagen ihres Erfolges wieder bewusstzumachen.
steht also kein Anlass. Gegenwärtig schwinden die Die Arbeiten Adornos und des Instituts für Sozial-
Berührungsängste der Mitte mit dem rechten Rand forschung sind dafür unverzichtbar.
und Teile des Bürgertums bewegen sich zurück in
die Konstellation, die sie in den liberalen N achkriegs- Volker Weiß
jahrzehnten verlassen haben. Sie spenden wieder Ap-
plaus, wenn der faschistische Agitator fordert, »dass
der Riss noch tiefer wird, dass die Sprache noch deut-
licher, noch konkreter wird«.35 Die Synthese zwi-

35 Götz Kubitschek auf einer Diskussion zwischen Durs Griinbein


und Uwe Tellkarnp arn 8.3. 2OI8 im Kulturpalast Dresden. Wie
durchlässig die Grenzen inzwischen geworden sind, zeigt auch
der Umstand, dass Uwe Tellkamp in Kubitscheks Zeitschrift Se-
zession publiziert: Uwe Tellkarnp, »Der Moralismus der Vielen.
Offener Brief", Sezession 87 (2OI8), S. 27-31. Zunächst arn I3. I1.
20I8 online erschienen, (hrtps://sezession.de/5987I/der-moralis
mus-der-vielen-ein-offener-brief-von-uwe-tellkarnp), letzter Zu-
griff arn 26.4- 20I9·

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Über die Autoren

THEODOR W. ADORNO (1903-I969) war Philo-


soph und Soziologe. Er zählt zu den Hauptvertre-
tem der Kritischen Theorie der »Frankfurter Schu-
le«, die aus dem Institut für Sozialforschung an der
Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt
am Main hervorging. Darüber hinaus wirkte er mit
seinen Vorträgen, Rundfunkbeiträgen und Publika-
tionen maßgeblich auf das kulturelle und intellektu-
elle Leben Nachkriegsdeutschlands ein. Sein Werk
erscheint im Suhrkamp Verlag.

VOLKER WEISS, geboren I972, ist Historiker und


Publizist. Er forscht unter anderem zur Geschichte
und Gegenwart der extremen Rechten. Sein Buch
Die autoritäre Revolte. Die Neue Rechte und der Un-
tergang des Abendlandes gilt als Standardwerk zur
N euen Rechten.

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