Nachgelassene Schriften.
Über Phänomenologie.
Vortrag gehalten in Marburg im Januar 1914.
Geschehens, von dem, was wir Erleben nennen, und das als-
solches uns nicht fremd gegen ubersteht, wie die sinnliche W eit,
sondern seinem Wesen nach ichzugehörig ist, von den Zuständen,
Akten, Funktionen des Ich. Dies Erleben, -so gesichert es fi'u-
uns seiner Existenz nach ist, so fern und schwer erfaßbar i s t
es uns in seiner qualitativen Struktur, in seiner Beschaffenheit.
Was der normale Mensch von ihm erschaut, ja was er auch n u r
bemerkt, ist wenig genug; Freude und Schmerz, Liebe und H aß,
Sehnsucht, Heimweh u. dgh, das stellt sieh ihm wohl dar. A ber
das sind schließlich nur grobgefußte Ausschnitte aus einem u n
endlich nuancierten Gebiet. Auch das ärmste Bewußtseinsleben
noch ist viel zu reich, als daß es sein Träger ganz erfassen könnte.
Auch hier können wir schauen le rn e n , auch hier ist es für den
normalen Menschen in erster Linie die Kunst, die ihn erfassen
lehrt, was er vorher übersehen hat. Nicht nur so ist es ja, daß
durch die Kunst Erlebnisse in uns geweckt werden, die wir sonst
nicht hatten; sondern auch das leistet sie, daß sie uns aus der
Fülle des Erlebens das schauen läßt, was auch vorher schon da
war, ohne daß wir doch von ihm wußten. Die Schwierigkeiten
wachsen, wenn wir uns anderen Elementen zuwenden, die uns
noch ferner stehen — der Zeit, dem Raum, der Zahl, den B e
griffen, Sätzen u. dgl. Von all diesem reden wir, und wenn wir
reden, sind wir auf es bezogen, wir m e in e n es — aber in dieser
Meinung stehen wir ihm noch unendlich fern — wir stehen ihm
auch dann noch fern, wenn wir es d e f in ito r is c h umgrenzt
haben. Mögen wir auch die Urteilssätze abgrenzen, z. B. alles
das, was entweder falsch ist oder wahr — das Wesen des Satzes
und des Urteilssatzes, das, was es ist, sein W as, ist uns dadurch
nicht näher gekommen. Wollen wir das Wesen von Rot oder
von Farbe erfassen, so brauchen wir schließlich nur hinzublicken
auf irgendeine wahrgenommene oder phantasierte oder vorgcstelltc
Farbe, und an ihr, die uns als Einzelnes oder Wirkliches gar
nicht interessiert, ihr So-Sein, ihr Was herauszuheben. Gilt es
dann den Erlebnissen des Ich auf diese Weise näher zu. kommen,
so sind die Schwierigkeiten erheblich größer — wir wissen wohl,
es gibt so etwas wie Wollen oder Fühlen oder Gesinnungen, wir
wissen auch, daß es, wie alles Seiende, zur adäquaten Erschauung
gebracht werden kann — versuchen wir aber es zu erfassen, es
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wenn sie sich nicht in der Welt realisierten. Das ist nun in diesfy
Form nicht richtig, wir kennen ja doch auch Erlebnisarten, voj;
denen wir wissen, daß sie sich in der von uns erfaßten Reinhei.
vielleicht nie in der Welt realisiert haben;7 aber selbst wenn #
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ganz richtig wäre, so könnte es uns doch nur darauf hinweisen
daß wir Menschen begrenzt sind in dem, was uns an Erlebnis
arten zugänglich ist, begrenzt durch das, was uns selbst vergönnt
ist zu erleben — aber eine Abhängigkeit der Wesenheiten selbst
von ihrer eventuellen Realisation im Bewußtsein wird dadurch
natürlich nicht statuiert.
Blicken wir auf die faktisch vorliegende Psychologie, so sehen
wir, daß es ihr noch nicht einmal gelungen ist, über ihre oberste
und abgrenzende Wesenheit, über das Wesen des Psychischen
selbst, zur Klarheit zu kommen. Es ist ja nicht so, daß sich
der Gegensatz des Psychischen und Nicht-Psychischen erst
konstituiert durch unser Bestimmen und Definieren, sondern
es muß sich umgekehrt unser Bestimmen richten nach den letzt-
gegebenen und vorgefundenenWesensunterschieden. Seinem Wesen
nach unterscheidet siclb alles, was eingehen kann in den Strom
unseres Erlebens, was dem Ich zugehört im eigentlichen Sinn,
wie unser Fühlen, Wollen, Wahrnehmen u. dgl., von allem
anderen, was dem Bewußtseinsstrome transzendent ist, was ihm
ichfremd gegenübersteht, wie Häuser oder Begriffe oder Zahlen.
Setzen wir den Fall, ich sehe einen materiellen farbigen Gegen
stand in der Welt, dann ist der Gegenstand mit seinen Eigen
schaften und Modalitäten etwas Physisches, meine Wahrnehmung
des Gegenstandes aber, mein sich ihm Zuwenden und ihn Be
achten, die Freude, die ich über ihn empfindo, meine Bewunde
rung, kurz alles, was sich darstellt als Betätigung oder Zuständ-
lichkeit oder Funktion des Ich, alles das ist psychisch. Und nun
die heutige Psychologie: sie behandelt Farben, Töne, Gerüche und
dgl- — a's °b wir es bei ihnen mit Bewußtseinserlebnissen zu
tun hätten, als ob sie uns nicht Ebenso fremd gegenüberstünden,
wie die größten und dicksten Bäume. Man versichert uns, Farben
und Töne seien doch nicht wirklich, also subjektiv und psychisch;
aber das sind doch nur dunkle Worte. Lassen wir die Unwirklich
keit von Farben und Tönen dahingestellt — nehmen wir an, sie
seien unwirklich —, werden sie etwa dadurch zu etwas Psychischem ?
Über Phänomenologie. 383
seins etwa das Fühlen, Wollen und Denken hinzustellen oder d[e
Vorstellen, Urteilen, Fühlen oder irgendeine andere unzureichend
Teilung vorzunehmen. Und wenn man dann irgendeine Erlebnis
art nimmt, eine von den unendlich vielen, die durch diese Eii^
teilungen nicht gedeckt sind, dann muß sie umgedeutet werde.,
in etwas, was sie doch nicht ist. Da haben wir etwa das Vei,
zeihen, einen tiefliegenden und merkwürdigen Akt eigener Art —
ein Vorstellen ist es gewiß nicht. Daher hat man versucht, z\,
sagen, es sei ein Urteil — das Urteil, daß das zugefügte TJnrech
doch nicht so schlimm oder überhaupt kein Unrecht sei — , alst
genau das, was ein sinnvolles Verzeihen überhaupt unmöglich
macht. Oder man sagt, es sei das Aufhören eines Gefühles, das
Aufhören des Zornes, als ob das Verzeihen nicht etwas Eigenes,
Positives wäre, viel mehr als ein bloßes Vergessen oder Entschwinden.
Deskriptive Psychologie soll nicht erklären und auf anderes z u
rückführen, sondern sie will au f klären und hinführen. Sie will
das Was der Erlebnisse, dem wir an sich so ferne stehen, zur
letzten anschaulichen Gegebenheit bringen, will es in sich selbst
bestimmen und von anderem unterscheiden und abgrenzen. Damit
ist freilich kein letzter Haltepunkt erreicht. Von den Wesen
heiten gelten Gesetze, Gesetze von einer Eigenart und Dignität,
die sie durchaus von allen empirischen Zusammenhängen und
empirischen Gesetzmäßigkeiten unterscheiden. Die reine Wesens-
erschauung ist das Mittel, zur Einsicht und adäquaten Erfassung
dieser Gesetze zu gelangen. Über sie aber möchte ich erst im
zweiten Teil dieser Ausführungen reden.
Wesenserschauung ist auch in anderen Disziplinen gefordert.
Nicht nur das Wesen dessen, was beliebig oft sich realisieren
kann, sondern auch das Wesen des seiner Natur nach Einzigen
und Einmaligen erfordert eine Aufklärung und Analyse. Wir
sehen den Historiker bemüht — nicht nur das Unbekannte ans
Licht zu ziehen, sondern auch das Bekannte uns näher zu bringen,
es seiner Natur nach zur adäquaten Anschauung zu bringen. Hier
handelt es sich um andere Ziele und um andere Methoden. Aber
wir sehen auch hier die großen Schwierigkeiten und die Gefahren
des Ausweichens und des Konstruierens. W ir sehen, wie man
immer wieder von Entwicklung spricht, und die Frage nach dem
Was dessen, was sich da entwickelt, außer acht läßt. Wir sehen,
Über Phänomenologie. 385
Entweder also ist bei dieser zweiten Ansetzung mit den gleichen
Ausdrücken etwas Verschiedenes verstanden. Oder es handelt sich
um ein System von Sätzen, das auf einer nicht bestehenden
Ansetzung aufgebaut ist, und das als solches natürlich auch einen
Wert und besonders einen mathematischen Wert zu haben ver
mag. Versteht man unter Punkt und Gerade Dinge, die den be
treffenden Axiomsystemen zu genügen haben, so ist nicht das
geringste einzuwenden. Die Entfernung von jedem materialen Ge
halt wird aber hier besonders deutlich.
Aus der Eigenart d e r, Mathematik wird die Eigenart des
Nur-Mathematikers begreiflich, der innerhalb der Mathematik
gewiß Großes geleistet hat, der aber der Philosophie mehr ge
schadet hat, als es sich in kurzen Worten sagen läßt. Es ist
der Typus, der nur ansetzt und a u s , den Ansetzungen beweist,
und der damit den Sinn für das letzte und absolute Sein ver
loren hat. Er hat das Schauen verlernt, er kann nur noch be
weisen. Gerade mit dem aber, was ihn n ic h t kümmert hat es
die Philosophie zu tun; darum auch ist eine Philosophie more
geometrico beim Worte genommen ein absoluter Widersinn. Es
kann ja im Gegenteil die Mathematik e rs t von der Philosophie
her ihre letzte Aufklärung erfahren. In der Philosophie erst
erfolgt die Erforschung der fundamentalen mathematischen Wesen
heiten und der letzten Gesetze, die in ihnen gründen. Die Philo
sophie erst vermag dann auch von hier aus die Wege der Mathe
matik, die sich von dem anschaulichen Wesensgohalt so weit
entfernen, um dann doch immer wieder zu ihm zurüekzuführen,
voll verständlich zu machen. Die erste Aufgabe für uns muß
freilich sein, hier die Probleme erst wieder sehen zu lernen,
durch das Dickicht der Zeichen und der Regeln, mit denen sich
so trefflich hantieren läßt, vorzudringen zu dem sachlichen Ge
halt. Über die negativen Zählen z. B. haben die meisten von
uns sich eigentlich nur als Kinder wirklich Gedanken gemacht
— damals haben wir vor etwas Rätselhaftem gestanden. Dann
hat man diese Zweifel beruhigt, zumeist mit recht anfechtbaren
Gründen. Heute scheint bei vielen das Bewußtsein fast ger
schwvmden zu sein, daß es zwar Zahlen gibt, daß aber der
Gegensatz des Positiven und Negativen auf einer künstlichen An
setzung beruht, deren Grundgesetz und Recht durchaus nicht leicht
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als solcher enthalten. Man fragt nach dem Subjekt, von dem
die Anzahl prädiziert wird — ja woher weiß man denn, daß die
Anzahl überhaupt von etwas prädiziert wird —, kann mau denn
voraussetzen, daß jedes Element unseres Denkens prädizierbar
sein muß? Sicher nicht. Wir brauchen nur ein einfaches Bei
spiel zu betrachten. W ir sagen z. B.: Mur A ist b — dem nur
entspricht in der Aussage ein wichtiges Element, aber es wäre
offenbar durchaus verkehrt zu fragen, von wem das „nur“ prä
diziert wird. Das „n u r“ betrifft das A in bestimmter Weise,
aber es kann weder von ihm prädiziert werden, noch von irgend
etwas anderem in der Wolt. Und ebenso ist es, wenn wir sagen:
Alle A sind b, oder: Einige A sind b usf. Allo diese, kate
gorialen Elemente sind unprädizierbar; sie geben lediglich den
Bereich eines Gegenständlichen an, welches von einer Prädi
kation, dem b-sein, betroffen wird. Von hier aus fällt auch
Licht auf die Anzahl. Zweierlei gilt von ihr. Sie ist an und
für "Sich unprädizierbar. Und ferner: sie setzt eine Prädikation
voraus, insofern sie den quantitativen Bereich von Etwassen,
die Vielheit von Etwassen bestimmt, die von einer Prädikation
betroffen werden. Die Anzahl antwortet nicht auf die Präge:
wieviel, sondern auf die Präge: wieviel A sind b? Das ist für
die Kafcegorieenlehrc von der äußersten Wichtigkeit. Insofern
die anzahlenmäßige Bestimmtheit ein prädikatives Betroffensein
von Etwassen voraussetzt, liegt sie in einer ganz anderen Sphäre,
als etwa die Kategorie der Kausalität — sie liegt in einer
Sphäre, die wir später als die des Sachverhaltes kennen lernen
werden. Im übrigen ergeben sich weitere Differenzierungen
von hier aus sehr leicht. Z. B. ist es möglich, daß die Prädi
kation, um die es sich handelt, jeden einzelnen der Gegenstände
trifft, deren Bereich sie bestimmt, oder diese Gegenstände nur
insgesamt. Sagen wir, fünf Bäume sind grün, so ist gemeint,
daß jeder einzelne der Bäume grün ist. Sagen wir dagegen:
vier Pferde genügen, um den Wagen zu ziehen, so genügt ge
wiß nicht jedes Pferd. Solche Unterschiede können mir ver
ständlich werden von der hier vertretenen Auffassung der Anzahl
aus, nach der sie, wie gesagt, selbst nicht prädizierbar ist, aber
die Prädikationsbetroffenheit von Etwassen voraussetzt, deren
Bereicli sie dann bestimmt. — Dies muß uns hier zur Bestimmung
392 Adolf Rcinach.
, iU,i:
clor Anzahl genügen. Nun aber soll es noch eine a iid o /^ c h
von Zahlen geben, die Ordinalzahlen; rücken wir nun Slls
denen etwas näher auf den Leib. Die Anzahl stellte sicftlick
nicht prädizierbar heraus; dagegen scheint auf den ersten 7 ter-
die Prädizierbarkeit der Ordinalzahl keinem Zweifel zu ufLej;
liegen. Offenbar werden sie doch ausgesagt, und zwar iir/eßl
von einem Grliede einer geordneten Menge, sie scheinen d ic ^ q
Grliede seine Stelle innerhalb der Menge anzuweisen. Es y, ß
nahe, zu sagen: die Ordinalzahl ist dasjenige, was die jeweil j 0
Stelle von Elementen geordneter Mengen bestimmt. Aber gei^
das hält nicht stand, wenn wir nun die Worte und Zoichen y
lassen und uns den Sachen selber zuwenden. Wie steht es de^.,
eigentlich mit den Gliedern der Reihe und ihrer Stelle? y
haben zunächst das eröffnende Glied, das erste Glied der ReD6’
und ihm korrespondierend das abschließende Glied, das letz f '
Dann haben wir eines, das auf das erste folgt, dann eines, diS
auf das dem ersten folgende folgt usw. So läßt sich die Stel!^
eines jeden Gliedes bestimmen durch stete Rückbeziehung
das die Reihe eröffnende Glied, Yon einer Zahl oder etwas»
Zahlenmäßigem ist bis jetzt gar keine Rede. Man weise dock
ja nicht darauf hin, daß wir von dem ersten Glied reden ■ —
das erste hat doch mit der eins genau so wenig zu tun, wie
das letzte mit der fünf oder sieben. Und weiter: Es gibt doch
absolut nichts mehr in. der Reihe, keine Eigenart der Reihen-
glieder als solche, nichts Zahlenartiges, was von uns noch’ horaus-
zuholen wäre. Die Elemente haben ihre Stelle in der Reihe,
diese Stelle läßt sich durch die Folgerelation auf das eröffnende
Glied bestimmen — von Zahlen ist keine Rede. Aber wenn es
so ist, wie kommen dann jene Ordinalbezeichnungen, die doch
immerhin an Zahlen erinnern, zustando? Sehr einfach. Die
Stellenbezeichnuugen von vorhin waren ziemlich kompliziert.
Schon das Glied c muß bezeichnet worden als das dem auf das
erste Glied folgenden folgende Glied •— das wird schließlich
unerträglich, man muß auf eine bequemere Bezeichnung«weise
sinnen. Nun bestehen natürlich Beziehungen zwischen der Menge
und ihren Gliedern und den Anzahlen — wohlgemerkt den An
zah len . Die Reihe enthält eine Anzahl von Gliedern und ebenso
jeder Teil der Reihe. Das Glied c ist dasjenige Glied, bis zu
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dem die Eeilio drei Glieder enthält, wir nennen es deshalb das
dritte, ebenso ist d das vierte, und so können wir jedem Glied
der Reihe eine solche Bezeichnung zuordnen, weil die Reihe bis
zu jedem Glied eine bestimmte und immer verschiedene Anzahl
von Gliedern enthält. Nun aber sehen Sie die Verwirrung, dio
das Verbleiben in den Zeichen angerichtet hat. Neben den An
zahlen, den Kardinalzahlen, soll es eine zweite Art von Zahlen,
Ordinalzahlen, geben — wo sind die denn — wir können suchen,
soviel wir wollen, wir werden sie nicht finden. Es gibt die An
zahlen und die Anzahlbezeiclmungen, und es gibt ferner Ordinal-
bezoichnungen, welche mit Hilfe von Kardinalzahlen die Stelle
von Elementen geordneter Mengen bestimmen können. Aber
■ Ordinalzahlen gibt es nicht. Die Philosophie hat sich verblüffen
lassen, weil sie mit blinden Augen den Zeichengebungen des
Mathematikers folgte und damit Wort und Sache verwechselte.
Ist mau doch so weit gegangen, die Kardinalzahl aus der Ordinal
zahl abieiten zu wollen, d. h. die Anzahl abzuleiten aus einer
Bezeichnungsweise, welche zudem noch die Anzahl zur Voraus
setzung hat. Was mm diese Bezeichnungsweise anbelangt, so
darf man sich natürlich nicht verleiten lassen dio Wortbezoich-
nungen den Zifferbezeiclmungen ohne weiteres gleich zu setzen.
Die Wortbezeichmmgen bedienen sich ja durchaus nicht durch
gehend der Anzahl — das erste ist nicht das einste — ob es
eine sprachliche Bildung gibt, in der es zum. Ausdruck gelangt,
daß das eröffnende Glied zugleich dasjenige ist, bis zu dem die
Reihe ein Glied enthält, weiß ich nicht. Audi das auf das erste
folgende Glied braucht nicht mit Hilfe der Anzahl bezeichnet zu
werden — wir sagen zwar das zweite, der Lateinor aber sagt
secundus. Nicht alle Ordinalbezeichnungen sind also Ordinal-
zalilbezoiclinungen — die weitore Untersuchung muß natürlich
dem Sprachwissenschaftler überlassen bleiben.
Wenn wir Wesensanalysen erstreben, so werden wir natur
gemäß ausgehen von Worten und ihren Bedeutungen. Es ist
kein Zufall, daß Husserls Logische Untersuchungen mit einer
Analyse der Begriffe Wort, Ausdruck, Bedeutung usw. beginnen.
Zunächst gilt es der kaum glaublichen Äquivokationen Herr zu
werden, welche sich insbesondere in.der philosophischen Termino
logie finden. Husserl hat 14 verschiedene Bedeutungen des Be-
894 Adolf Eeinach.
0 reifen nach anderem, das es stützen solL — als ob nicht auch ein
solcher Begründungsversuch, wenn er nicht ganz willkürlich sein soll,
sich schließlich auf letzteinsichtige Zusammenhänge stützen müßte.
Ich habe mich bisher gegen die Subjektivierung des Apriori
gewandt — nicht weniger schlimm ist das, was ich vorhin die
V erarm u n g des Apriori genannt habe. Es gibt wenig Philo
sophen, die die Tatsache des Apriori nicht in irgendeiner Weise
anerkannt hätten, aber es gibt keinen, der sie nicht irgendwie
reduziert hätte auf eine kleine Provinz ihres wirklichen Gebietes.
Hume zählt uns einige Ideenrelationen auf — es sin d apriorische
Zusammenhänge; aber warum er sie auf R e la tio n e n beschränkt
und noch dazu auf einige wenige, ist nicht ersichtlich. 13nd vollends
die Eingeschränktheit, in der Kant das Apriori gefaßt hat, mußte
der nachfolgenden Philosophie verhängnisvoll werden. In Wahr
heit ist das Gebiet des Apriori unübersehbar groß; was immer
'an Objekten wir kennen, sie alle haben ihr „Was“, ihr „Wesen“,
und von allen Wesenheiten gelten Wesensgesetze. Es fehlt jedes,
aber auch jedes Recht dazu, das Apriori auf das Formale in
irgendeinem zu beschränken, auch von dem Materialen, ja dem
Sinnlichen, von Tönen und Farben gelten apriorische Gesetze.
Damit öffnet sich der Forschung ein Gebiet, so groß und so reicht
daß wir es heute noch gar nicht übersehen können. Lassen
Sie mich nur einiges Wenige erwähnen. Unsere Psychologie
ist so stolz darauf, e m p iris c h e Psychologie zu sein. Die Folge
ist, daß sie den ganzen Bestand von Erkenntnissen vernachlässigt,
der im Wesen der Erlebnisse, im Wesen des Wahrnehmens und
Vorstellens, des Urteilens, Fuhlens, Wollens usw. gründet. Stößt
sie auf solche Gesetze, so worden sie zu empirischen mißdeutet.
Ich nenne Ihnen als klassisches Beispiel David Hume. Da ist
am Beginn seines Hauptwerkes von Wahrnehmung und Vorstellung
die Rede, und es wird gesagt, daß jeder Wahrnehmung eine Vor
stellung desselben Gegenstandes entspricht — das ist für Hume
eine der Grundstützen seiner Philosophie. Aber wie sollen wir
diesen Satz auffassen? Ist gemeint, daß in jedem Bewußtsein,
in dem die Wahrnehmung eines Gegenstandes vollzogen wird,
auch eine Vorstellung desselben Gegenstandes sich realisieren
muß? Das wäre ein sehr bedenklicher Satz; wir nehmen doch
sicher sehr vieles wahr, das wir dann nicht vorstellen, das mög-
Üher Pliänommologie. 401