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Friedrich-Schiller-Universität Jena

Philosophische Fakultät
Institut für Philosophie
Zwätzengasse 9
07743 Jena
Seminar: Nikolaus von Kues - Idiota de mente (Der Laie über den Geist)
Sommersemester 2014
Dozent: Dr. Chung-Mi HwangBo

Seminararbeit zum Thema:

Naturphilosophie nach Maß – Nikolaus von Kues' Der Laie über Versuche
mit der Waage im Spiegel der Idiota-Dialoge

vorgelegt von:
Philipp Scholze
Schulstraße 12
07749 Jena
real_phil@web.de
B.A. Philosophie 8. Semester (Kernfach)
Matrikelnummer: 108878
Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung: Die Idiota-Bücher. Weisheit, menschlicher Geist und natürliche Welt

2. Die Sphäre des Größer und Kleiner

3. Mathematisches Maß und das Wissen über die natürliche Welt

4. Die Frage nach dem Gewicht

5. Fazit

6. Literaturverzeichnis

7. Eidesstattliche Erklärung
„Er [der Laie will] nicht weniger als
eine radikale Quantifizierung der gesamten Natur,
einschließlich des Menschen.“1

1. Einleitung: Die Idiota-Bücher. Weisheit, menschlicher Geist und natürliche Welt

Der Laie über Versuche mit der Waage ist das letzte der Idiotae Libri, einem Ensemble von vier
philosophischen Dialogen, die Nikolaus von Kues (Cusanus) im Jahre 1450 geschrieben hat. In
diesen Dialogen untersucht Cusanus den menschlichen Geist und sein (dialektisch vermitteltes)
Verhältnis zur Wahrheit aus unterschiedlichen Perspektiven. Dabei verfolgt Cusanus konzeptuell
eine absteigende Vorgehensweise: Er beginnt mit der höchsten Stufe der Wahrheit bzw. deren
Identität mit Gott, um dann das lebendige Bild der Wahrheit, den menschlichen Geist, zu studieren
und schließlich die Entfaltung der Wahrheit in der natürlichen Welt zu untersuchen. Die
Hauptprotagonisten dieser vier Dialoge sind der Redner und der Laie (idiota), denen im dritten
Buch ein Philosoph beigestellt wird. Zu Beginn der Dialogreihe wird der Redner als professioneller
Scholast eingeführt, der von Büchern und intellektuellen Autoritäten abhängig und um die
Akkumulation akademischen Wissens bemüht ist. Der Laie hingegen repräsentiert einen einfachen
Mann, dem weder scholastische noch geistliche Bildung zuteil geworden ist. Er vertraut auf
persönliche Erfahrung und grübelndes Denken um zu wahrer Weisheit zu gelangen. Im letzten Buch
der Reihe werden die beiden Figuren nicht mehr als Opponenten dargestellt. Durch den Verlauf
ihrer Gespräche hindurch wurde der Redner vom Laien zu Bescheidenheit geführt und der
Austausch der beiden geht nunmehr freundschaftlich vonstatten.
In Übereinstimmung mit dem zuvor angeführten Schema widmen sich die ersten beiden Bücher,
Idiota De Spientia I et II, der Analyse der Korrelation zwischen menschlicher und göttlicher
Weisheit, wobei letztere als das endgültige Ziel der ersteren zu begreifen ist. Der Autor wählt daher
eine Sprache, die mit mystischen Elementen durchwirkt scheint. Die Erfahrung der Weisheit wird
immer wieder durch sinnliche Bilder und als liebendes Wissen dargestellt. Die Geheimnisse der
Weisheit sollen nur denen offenbart werden, die sie verdienen, sodass moralische und emotionale
Reinigung als notwendiger Schritt auf dem Pfad zur Weisheit gefordert werden. Postive und
negative Sprache werden hierbei nebeneinandergestellt, wenn auf die Unaussprechlichkeit und
Unbeschreiblichkeit Gottes angespielt wird. Obwohl das Faktum, „dass die Weisheit sich offen in
den Straßen verkündet“2, niemals vergessen wird, so wird der Akzent doch auf die andere Seite der
1 Flasch, Kurt: Nikolaus von Kues in seiner Zeit. Ein Essay, Stuttgart, 2004, S. 50 f.
2 „Ego autem tibi dico, quod sapientia foris clamat in plateis [...]“ Nicolai de Cusa, Idiota. De Spientia I. (h V 3)
(Opera omnia. Iussu et auctoritate Academiae Litterarum Heidelbergensis. Ed. Ludovicus Baur, Lepzig, 1937.) So
betrachteten Korrelation gelegt: „die Weisheit wohnt in den höchsten Plätzen.“ 3
Das dritte Buch der Reihe, Idiota De Mente, fokussiert sich auf die Analyse des menschlichen
Geistes, welcher als ein Abbild Gottes definiert wird. Die Einführung eines dritten Protagonisten,
des Philosophen, ist ein Zeichen für Cusanusens Absicht eine detailliertere Untersuchung der Natur
des menschlichen Geistes und dessen Gottesähnlichkeit zu liefern. Das Vokabular scheint mehr
technisch durchwirkt, klassische philosophische Theorien werden erörtert und die Exposition gibt
sich kleinteilig, streng und verständlich. Die Ähnlichkeit des Geistes zu Gott ist dem Laie zufolge -
wie in dessen Urbild – in dessen Einheit zu suchen. Während in der natürlichen Welt, welche die
Entfaltung (explicatio) der göttlichen Einheit ist, letztere nur als ontologische Grundlage der Vielfalt
erscheint, spiegelt sich die Einheit im menschlichen Geist im Einssein wieder. Dieses dem Geist
eigene Merkmal ist die Quelle seiner Kraft, ähnlich der Kraft Gottes, nur dass das Dasein des
Geistes von Gott sich ableitet. Ob dieser Einschränkung ist es dem Geist nicht möglich zu schöpfen
und zu erzeugen, so wie Gott es tut. Daher besteht, da der göttliche Geist das Sein hervorbringt, die
Funktion des menschlichen Geistes in der Erschaffung von Konzepten, Anschauungen und
Ähnlichkeiten des Seins. Obwohl der menschliche Geist also die Welt auf die bestmögliche Weise
erkannt, kann er die Welt, weil er sie nicht erschaffen hat, niemals in ihrem ganzen Wesen erreichen.
Daher ist der Pfad des Geistes zur Wahrheit durch Endlosigkeit gekennzeichnet. Während also die
ersten beiden Bücher das Hauptaugenmerk auf die ewige Weisheit, die dem Geist unerreichbar-
erreichbar4 ist, geht es in Idiota De Mente um das Bild der Weisheit, d.h. um den Geist selbst.
In logischer Konsequenz beschäftigt sich De Staticis Experimentis mit der letzten Stufe dieser
Skala, nämlich mit der Entfaltung der ewigen Weisheit, d.h. mit der natürlichen Welt, und mit der
Fähigkeit des Geistes diese durch seine eigene Entfaltung zu erkennen. In diesem vergleichsweise
kurzen Buch beschreibt Cusanus mittels der Figur des Laien ein Verfahren, durch welches ein
präziseres Naturwissen erreicht werden kann. Der Laie entwirft ein neues Konzept der
Naturforschung: „Alles, buchstäblich: alles will er wiegen lassen. Nicht nur das Blut und den Urin
von Kranken für den Zweck von Diagnosen, auch die Luft und die Elemente unter verschiedenen
klimatischen Bedingungen will er messen, und selbst die Menschen in verschiedenen psychischen
Situationen.“5 Wiederum verändert sich der Sprachmodus, diesmal hin zum
Naturwissenschaftlichen. Zeigten De Sapientia I et II Cusanus' Vertrautheit mit der mystischen
Tradition und De Mente seine Kenntnis der klassischen philosophischen Schulen, so ist De Staticis
Experimentis Zeugnis seines Wissens über und seines Interesses an den (Natur-)Wissenschaften.
Obwohl der Dialog hauptsächlich aus einem Katalog möglicher Vorgänge an einer Waage besteht,

nicht anders erwähnt, stammen die deutschen Übersetzungen im Folgenden von mir (P.S.).
3 „ […], et est clamor eius, quoniam ipsa habitat in altissimis.“ Ebd.
4 Vgl. „ […] in similitudine iam dicta attingitur inattingibile inattingibiliter [...]“ Idiota. De Sapientia I (h V 7).
5 Flasch, Kurt: Nikolaus von Kues in seiner Zeit. Ein Essay, Stuttgart, 2004, S. 50.
wird dabei u.a. das Verständnis der Gesetze des Gleichgewichts und des Archimedischen Prinzips
vorausgesetzt. Dennoch ist De Staticis Experimentis nicht direkt als wissenschaftlicher Text zu
bezeichnen, welcher sich wissenschaftlicher Erforschungsmethoden bedient um ein Problem zu
untersuchen. Weder entwickelt der Dialog axiomatische Demonstrationen noch listet er direkt
Experimente auf. Die vom Laien beschriebenen Verfahrensweisen sind keine exakten Experimente
im moderne Sinne, welche unter zuvor bestimmten, reproduzierbaren exakten Randbedingungen
ablaufen.
Vielmehr gilt es De Staticis Experimentis als eine Text aufzufassen, der von einem philosophischen
Standpunkt aus die Verfahrensweisen des Geistes bei der Suche nach Wissen über die natürliche
Welt analysiert. Aus dieser Perspektive wirft der Dialog die Frage auf, warum gerade das Wiegen
als Methode ausgewählt wird. Die Idiota-Bücher beginnen mit der Klassifikation dreier spezifisch
menschlicher kognitiver Handlungen: Zählen, Messen und Wiegen. Sie stellen die höchsten Formen
dar, in denen die Einfalt des Geistes sich selbst durch Wissen und Erkenntnis entfaltet. 6 „Durch
Experimenten mit Gewichtsskalen könnte man sich mithilfe präziserer Vermutung allem Wissbaren
nähern.“7 Diese affirmative Wendung wird erweitert um Prozesse einzubeziehen, die
gewöhnlicherweise durch Zählen und Messen behandelt werden und deren wissenschaftliche
Beherrschung durch Wiegen absurd erscheint. Die Bevorzugung des Wiegens als Methode durch
den Laien hängt mit der Natur menschlichen Wissens zusammen, die in De Staticis Experimentis
als Voraussetzung angenommen wird.

2. Die Sphäre des Größer und Kleiner

Der Dialog beginnt damit, dass der Redner die Gewichtsskalen als unverzichtbare Instrumente des
Staates und des Justizwesens preist, und der Laie daraufhin antwortet: „Obwohl in dieser Welt
nichts Präzision erreichen kann, wissen wir dennoch aus der Erfahrung, dass die Urteile von
Gewichtsskalen recht zuverlässig sind und dass diese daher im Allgemeinen akzeptiert werden.“ 8
Dann fordert er ein verschriftlichtes Register, das „. die verschiedenen experimentellen Resultate in
Bezug auf Gewichte“9 fixiert, und führt aus, wie notwendig und hilfreich ein solches wäre.
Schließlich begründet er sein Forderung folgendermaßen: „Mir scheint, dass wir bei Bezug auf
Gewichtsunterschiede wahrhaftiger zu den verborgenen Aspekten der Dinge gelangen und viele

6 Vgl. Idiota. De Sapientia I (h V 5).


7 „ […] et sic staticis experimentis omne scibile praecisiori coniectura accederet.“ Nicolai de Cusa, Idiota. De Staticis
Experimentis (h V 164). (Opera Omnia. Iussu et auctoritate Academiae Litterarum Heidelbergensis. Ed. Ludovicus
Baur, Leipzig, 1937.)
8 „Quamquam nihil in hoc mundo praecisionem attingere queat, tamen iudicium staterae verius experimur et hinc
undique acceptum.“ Ebd. (h V 161).
9 „An ne quisquam experimentales ponderum conscripserit differentias?“ Ebd.
Dinge durch plausible Vermutungen wissen können.“ 10
Die einleitenden Worte des Laien versuchen nicht vorzugeben, dass das von ihm vorgeschlagene
Verfahren als Methode zu Erlangung universellen Wissens dienen soll. Mittels des Hauptcharakters
seiner vier Dialoge insistiert Cusanus vielmehr darauf, dass die letzte Wahrheit für den
menschlichen Geist unerreichbar ist. Gewichtsskalen vermögen eher als Instrument der
Wissensfindung näher an die Wahrheit heranzureichen. Der wiederholte Gebrauch des
komparativen Terminus verius11 in De Staticis Experimentis etabliert ein Abstufung und daher eine
Grenze des menschlichen Zugriffes auf Wahrheit. Im Paragraphen 162 wird diese Limitierung durch
Ausdruck verisimiliori coniectura verdeutlicht. Während sich versimiliori mit „der Wahrheit
ähnlicher“ übersetzen ließe, liefert Cusanus in seinem Werk De Coniecturis (1441-1445) selbst eine
Defintion für coniectura: „Coniectura igitur est positiva assertio, in alteritate veritatem, uti est,
participans.“12 Dies heißt übersetzt: „Eine Vermutung ist eine Aussage, die auf Übereinkunft fußt
und in Andersheit an der Wahrheit teilhat.“ Vermutungen sind also kein Spezialfall menschlichen
Wissens, sondern alles menschliche Wissen beruht auf Vermutung. Dabei handelt es sich um ein
Wissen, welches nicht natürlich ist, also nicht auf der Ergreifung des Wesens, sondern auf
Übereinkunft beruht. Dennoch geschieht dies nicht willkürlich, da dieses Wissen in einem größeren
oder kleineren Maße der Andersartigkeit an der Einheit der Wahrheit teilhat. Daher lässt sich ein
solches Wissen als der Wahrheit näherstehend als ein anderes auszeichnen. Warum weist der Laie
nun eben das durch Wiegen erworbene Wissen im Hinblick auf die Welt der Natur als das
adäquateste, der Wahrheit am nächstenstehende aus?
Die Antwort gilt es in der Idee vom menschlichen Wissen als proportionales Verhältnis zu suchen,
welche Cusanus in seinem ersten großen philosophischen Werk De Docta Ignorantia (1441)
entwickelt hat. Im ersten Buch wird zunächst affirmiert, dass jedes menschliche Individuum mit
einem Streben nach Wahrheit und mit einem angeborenen Beurteilungsmaßstab zur Erfüllung dieses
Verlangens bei der Wahrheitssuche ausgestattet ist. Diese klassische Argumentation mag
üblicherweise zu der Annahme führen, dass dieser kognitive Prozess letztlich zum Begreifen der
Wahrheit leitet. Cusanus jedoch schlussfolgert in einem völlig unterschiedlichen Sinne: „Alle, die
eine Untersuchung anstellen, beurteilen das Unsichere proportionell im Sinnne des Vergleich mit
dem, das unbekannt ist. Daher ist jede Untersuchung vergleichend und benützt die Mittel der
Proportion.“13 Schließlich deduziert Cusanus folgendermaßen: Wenn „jede Untersuchung mit dem
Mitttel der Proportion durchgeführt wird“, so schreibt er, ist das Unendliche – qua dem

10 „Per ponderum differentiam arbitror ad rerum secreta verius pertingi et multa sciri posse verisimiliori coniectura.“
Ebd. (h V 162).
11 Vgl. Idiota. De Staticis Experimentis (h V 161, 163 et 167).
12 De Coniecturis (h III 57).
13 „Omnes autem investigantes in comparatione praesuppositi certi proportionabiliter incertum iudicant; comparativa
igitur est omnis inquisito, medio proportionis utens.“ De Docta Ignorantia (h I 2).
Unendlichen – unbekannt, weil es sich sich aller Proportion entzieht.“ 14 Das Unendliche, das den
Menschen unbekannt ist, stellt paradoxerweise dieselbe Wahrheit dar, die diese durch ihr natürliches
Streben anvisieren. Dieses Verlangen ist jedoch nicht vergeblich, sondern der Mensch ignoriert die
Wahrheit vielmehr, da sie für den menschlichen Verstand unerreichbar ist. Erst durch Einsicht in
diese dialektische Verstricktheit kann ein menschliches Individuum den unendlichen Pfad hin zur
unbegreiflichen Wahrheit auf sich nehmen.
Dieser Pfad des intellektuellen Ergründens besteht in einer „vergleichenden Proportion“ (ZITAT).
Offensichtlich hätte Cusanus erklären können, dass die Wissensfindung durch Vergleich des
Bekannten mit dem Unbekannten voranschreitet. Tatsächlich zeichnet sich das Vergleichen durch
die Gegenüberstellung von zwei oder mehreren Objekten aus, um deren Unterschiede und
Ähnlichkeiten zu eruieren sowie Verbindungen zwischen diesen zu bestimmen. Cusanus spezifiziert
diesen Prozess jedoch dahingehend, dass er sich ausdrücklich auf die Mittel der Proportion bezieht.
Proportion, ein der mathematischen Sprache zugehöriger Begriff, bezeichnet die Hilfsmittel, die
zum Behufe des Fortschritts menschlicher Forschung verwandt werden. Cusanus wählt diesen
Terminus, da er jedes Vergleichen als ein Zusammentreffen von Einheit und Vielheit versteht. Jede
durch den menschlichen Geist erkannte Ähnlichkeit bzw. Unterschiedlichkeit impliziert sowohl
mehrere Wahrnehmungen bzw. Objekt sowie auch eine Messeinheit. Daher formuliert er: „Da aber
Proportion sich auf eine Übereinkunft bezieht, bezieht diese sich gleichzeitig auf eine Andersheit
und kann daher nicht unabhängig vom Begriff der Zahl verstanden werden.“ 15
In der Mathematik versteht man unter Proportion die Gleichheit der Verhältnisse zwischen zwei
oder mehreren Paaren von Quantitäten. Unter Verhältnis rubriziert man hierbei das quantitative
Verhältnis zweier ähnlicher Größen, d.h. wie oft die eine Größe in der anderen enthalten. Dieses
Verhältnis erhält man also, wenn man die eine durch die andere Größe teilt. So besteht z. B. eine
Proportionalität in der Zahlenreihe „2, 4, 8, 16, 32, 64, ..“, in welcher zwei aufeinanderfolgende
Glieder stets das Verhältnis 2 zueinander aufweisen. Diese Proportion oder Gleichheit der
Verhältnisse erlaubt uns algorithmitisch die nächsten Glieder der Zahlenreihe zu generieren. Somit
steht das Fortschreiben einer solchen Zahlenreihe in Analogie zur Wissensfindung, die vom bereits
Bekannten zum Unbekannten voranschreitet. Hat man einmal die Proportion innerhalb eines
solchen Zusammenhanges durchschaut, so lassen sich auch die weiteren Glieder bestimmen.

3. Mathematisches Maß und das Wissen über die natürliche Welt

Obwohl Cusanus nun die mathematische Vorgehensweise als eine vergleichende Proportion
begriffen haben mag, ist es nicht offensichtlich, dass diese derart ausgeweitet werden, um das
14 Ebd. De Docta Ignorantia (h I 3).
15 Ebd.
gesamte menschliche Wissen zu bestimmen. Die ersten Schwierigkeiten betreffen die Erkundung
der natürlichen Welt. Beim Vergleich zweier Zahlen lässt sich stets eine Art von proportionalem
Verhältnis finden. Der Vergleich zwei oder mehrerer Körper bzw. zwei oder mehrerer natürlicher
Prozesse jedoch nicht notwendigerweise das Auffinden eines mathematischen Verhältnisses, das
diese verbindet. Es lässt sich eine Korrelation herstellen, welche die Anwendung sowohl der Einfalt
als auch der Vielfalt erfordert. Hierbei handelt es sich aber nicht um eine proportionale Korrelation
im strikten mathematischen Sinne. Die Regel, welcher der Vergleich natürlicher Körper und
Prozesse komplexer Form und Zusammensetzung unterliegen, ist unbekannt. Um Elemente dieser
Art auf Proportionalität hin untersuchen zu können, gilt es eine Reihe derer Charakteristika in
Zahlen umzuwandeln.
Eine solche Transformation schlägt Cusanus nun in De Staticis Experimentis vor. Im Verlaufe des
Dialoges umreißt der Laie allgemeine, verschieden präzise Instruktionen, wie das Gewicht einer
Reihe von Dingen und Prozessen zu bestimmen sei: das Gewicht eines Menschen und eines Tieres
im Wasser bzw. auf der Erde16, von jedem Metall im Wasser und in der Luft17, von Steinen und
deren Heilkräften18, von jedem der vier Elemente 19, von der Tiefe des Meeres, der Geschwindigkeit
der Schiffe und der Stärke der Winde, Tiere und Menschen 20. Dem Laien zufolge ist es auch
möglich, Wärme, Kälte, die Tageszeit, die Bewegung schwerer Körper und die Größe der Sonne zu
wiegen, selbst Wetterbedingungen seien vorhersagbar 21.
Als wichtigstes Instrument wird hierfür eine Balkenwaage benötigt. Die beschriebenen
Naturvorgänge, die gewogen werden sollen, werden gewöhnlicherweise durch Zählen oder Messen
quantifiziert. Dies gilt z.B. für den Rhythmus der Herzschläge, welcher durch das Fühlen des Pulses
und das Zählen der Herzschläge innerhalb eines bestimmten Zeitintervalls erfasst wird. Auch die
Größe der Sonne wurde sonst von Astronomen mit trigonometrischen Methoden berechnet. Für
solche Fälle, in denen das direkte Wiegen der Phänomene unmöglich scheint und die Zeit als
Parameter einbezogen werden muss, ersinnt der Laie eine Technik als Behelf. Es wird die
Benutzung einer Klepsydra, d.h. einer Wasseruhr, angeraten, die während des Verlaufes des
betreffenden Naturprozesses Wasser akkumuliert, dessen Menge dann wiederum gewogen werden
kann.
Obwohl es im Dialog nicht explizit genannt wird, würde ein Register aller Gewichte, wie es der
Laie einfordert, erlauben verschiedene Reihen der Gewichte von Körpern und Phänomenen zu
fabrizieren, in welchen ein regulatives Maß gefunden werden könnte. So könnte beispielsweise eine

16 Vgl. De Staticis Experimentis, h V, 167-170.


17 Vgl. ebd., h V, 170-173.
18 Vgl. ebd., h V, 174-175.
19 Vgl. ebd., h V, 176-180.
20 Vgl. ebd., h V, 181-183.
21 Vgl. ebd., h V, 184-189.
Reihe von Gewichten der Tiere entwickelt werden, in welcher die durchschnittliche Katze x-mal so
viel wiegt wie eine Maus, ein Hund x-mal so viel wie eine Katze, ein Mensch x-mal so viel wie ein
Hund, ein Pferd x-mal so viel wie ein Mensch, etc. 22 In analoger Weise können solche Reihen auch
für Pflanzen und Mineralien entwickelt werden. Solche Reihen könnten dann wiederum auch in
einem gemeinsamen Register verbunden und verglichen werden und somit Reihen höherer Ordnung
erzeugt werden. So könnten Reihen der Gewichte aller Lebewesen, aller natürlichen (unbelebten)
Objekte sowie auch der Dauer verschiedenartiger Prozesse wie dem Herzschlag oder der Bewegung
von Körpern entstehen. Auf diese Weise könnte iterativ durch die Bildung konsekutiver Reihen eine
immer größerer Menge von Elementen und Prozessen in Zusammenhang gebracht bzw. ins
Verhältnis gesetzt werden.
Die Erforschung der natürlichen Welt mittels der Transformation von Körpern und Prozessen in
Zahlen, die Gewichte repräsentieren, und durch verhältnismäßigen Vergleich scheint
unerschöpflich.
Da dem Laien an der wahrhaftigen Ergründung der Zusammenhänge zwischen den Dingen gelegen
ist, figuriert für ihn die Übersetzung der Phänomene in Zahlenwerte als notwendiger Schritt zur
Erlangung menschlichen Wissens. Der Wissensfortschritt geht für ihn mittels proportionalem
Vergleich zwischen Unbekanntem und Bekanntem vonstatten. Mithilfe von Gewichtsskalen könnten
alle natürlichen Phänomene derart in Zahlenwerte umgesetzt werden, dass die Größenverhältnisse
zwischen diesen erkannt werden könnten. Als Endresultat des hier skizzierten Vorgehens stünde
somit der Aufbau einer einzelnen Reihe, die den Zusammenhang zwischen allen Objekten und allen
Prozessen, welche die natürliche Welt konstituieren, stiften würde.
Der Cusanischen Theorie des Wissens zufolge, die auf das metaphysische Konzept einer
unendlichen Wahrheit rekurriert, würde die Konstruktion einer solchen universellen Reihe eine
unendliche Zahl iterativer Schritte erfordern. Da dieses Ziel also unerreichbar bleibt, können die
Menschen nur versuchen, eine Reihe zu kreieren, die – als Grenzführungsprozess gewissermaßen –
allmählich immer mehr Objekte und Prozesse integriert. Somit führt der Laie eine Art
Approximationsverfahren für das komplette Wissen über die natürliche Welt ein. Obwohl man
hierbei nach dem absoluten Wissen strebt, wird man dieses nie erreichen. Dennoch stellt dies die
bestmögliche Prozedur dar, das diese mit dem Wesen des menschlichen Geistes korrespondiert.
Die Einheit des Geistes begleitet jede Betrachtung eines physikalischen Objektes und jeden
einzelnen kognitiven Schritt. Wenn die Sinne und die Vorstellungskraft operieren, zeigen sie ihre
Fähigkeit zur Unterscheidung: Das Auge könnte eine Farbe nicht von der anderen trennen, wenn die
die unterscheidende Einfalt des Geistes nicht bereits zuvor am Werke wäre. Ohne die Kraft der
Einheit des Geistes wäre die Vorstellungskraft nicht imstande mehrere Eindrücke zu einem Bild
22 Der Dialog hebt hierbei explizit auf die Bildung eines Mittelwertes für die jeweiligen Spezies ab. Vgl. De Staticis
Experimentis, h V 167.
zusammenzusetzen, könnte der Verstand Konzepte weder fabrizieren noch klassifizieren. Sobald
also die vielfältige Welt dem kognitiven Prozess gegenübertritt, stellt der menschliche Geist
Verbindungen zwischen den vielfältigen Manifestationen dieser Welt her. Die Vorstellung des
menschlichen Wissens als Wirkungsgefüge von Proportionalitäten, wie sie in De Docta Ignorantia
entwickelt und in De Staticis Experimentis anschaulich gezeigt wird, basiert also auf der Idee des
Geist, die Cusanus in dem De-Mente-Dialog ausführlich darlegt.
Die unabtrennbare Präsenz der Einfalt des Geistes in allem menschlichen Wissen lässt den Laien
den Geist als das bezeichnen, „woraus aller Dinge Grenze und Maß stammt. Mens, der Geist, wird
nämlich von mensurare, messen, her benannt, vermute ich.“ 23 Dies erklärt, warum die Methode der
Proportionalität nicht nur zum Vergleich von Zahlen sondern auch von Körpern und natürlichen
Prozessen verwandt werden kann. „Die Zahl, welche eine notwendige Bedingung der Proportion ist,
ist nicht nur in der Quantität gegenwärtig, sondern auch in allen Dingen, die in irgendeiner Art und
Weise entweder substantiell oder akzidentiell übereinstimmen oder sich unterscheiden können.“ 24
Hierbei sollte man sich vergegenwärtigen, dass das Messen mittels des Geistes nicht darin besteht
mathematische Konzepte zu lesen, die mutmaßlicherweise für die natürliche Welt wesentlich sind.
Wenn die Wirklichkeit eine für den menschlichen Geist begreifbare mathematische Struktur hätte,
dann gäbe es keinerlei Hindernisse für die Erreichung absoluten Wissens. Cusanus versteht das
Messen des Geistes vielmehr als kreative Handlung, in welcher sich an die kreative Kraft Gottes
assimiliert wird. Dies passiert nur, wenn die wahrnehmende Welt dies aktualisiert und der Geist in
seiner Einfalt durch Entfaltung die Möglichkeit zur Produktion der mathematischen
Wirkungszusammenhänge findet, die das wahrnehmbare und rationale Wissen aufrechterhalten.

4. Die Frage nach dem Gewicht

Wie eingangs erwähnt fungieren Messen, Zählen und Wiegen als Basisoperationen des
menschlichen Geistes zur Erfassung aller wissbaren Dinge. Offensichtlich hätte Cusanus jede
einzelne oder alle dieser Optionen wählen können um aufzuzeigen, wie der Geist zum Zwecke des
Wissenerwerbs in abwägbare Darstellungswerte umwandeln muss. Die Entscheidung für das
Wiegen fiel hierbei nicht aus Beliebigkeit heraus. Obwohl einige der in De Staticis Experimentis
beschriebenen Prozesse mithilfe des Zählens und Messens analysiert werden könnten, erlaubt es nur
das Wiegen alldiese vergleichbar zu machen. Das Zählen ermöglicht nur das Vergleichen

23 Nicolai de Cusa, Idiota. De Mente. (h V 57). „Habeo quidem et ego: mentem esse, ex qua omnium rerum terminus et
mensura. Mentem quidem a mensurando dici conicio.“ Deutsche Übersetzung in:Cusa, Nicolai de: Idiota de mente.
Der Laie über den Geist. Lateinisch – Deutsch. Mit einer Einleitung von Giovanni Santinello auf der Grundlage des
Textes der kritischen Ausgabe neu übersetzt und mit Anmerkungen herausgegeben von Renate Steiger, Hamburg,
1995, S. 9.
24 De Docta Ignorantia, (h I 3).
homogener, uniform zusammengesetzter bzw. ähnlicher Elemente. Dies ist für die Behandlung
natürlicher Körper unzureichend.
Andererseits kann das Messen verwandt werden um heterogene Elemente zu vergleichen, aber die
Bestimmung der Länge, Fläche oder des Volumens eines Körpers ist für die Darstellung von dessen
Komplexität, die diesen von anderen unterscheidet, untauglich. So ist – um auf ein vormaliges
Beispiel zu rekurrieren – die Katze x-mal so groß wie die Maus (ihre Länge, Fläche und ihr
Volumen sind dementsprechend x1-, x2-, x3-mal so groß wie im Falle der Maus), aber dieses
Verhältnis sagt nichts darüber aus, was die beiden zu unterschiedlichen Tieren macht. Für Cusanus
besteht die materielle Zusammensetzung eines jeden Wesens in einer bestimmterweise
proportionierten Kombination der vier Elemente. Das Gewicht, welches er als eine zum Körper
gehörende Qualität begreift, verleiht dieser Kombination Ausdruck: mehr oder weniger Wasser,
mehr oder weniger Luft, mehr oder weniger Erde, mehr oder weniger Feuer.
Vielleicht wäre es komplizierter nachzuweisen, warum Zählen und Messen in Bezug auf Körper nur
unzulänglich Prozesse in Darstellungsmuster umzuwandeln vermögen. Wenn man jedoch
akzeptiert, dass das Wiegen die adäquatere Operation zum Vergleich von Körpern anhand von
Proportionen ist, und man verschiedene natürliche Prozesse in der gleichen Versuchsreihe
analysieren möchte, scheint es zunächst vonnöten diese auf eine gemeinsame Skala zu reduzieren.
In dem Dialog wird jedoch keine detaillierte Beschreibung eines Verfahrens angegeben, mittels
dessen Prozesse quantifiziert werden könnten. Dennoch wird eine allgemeine Technik
vorgeschlagen, wie dieses Ziel realisiert werden könnte. Diese basiert auf der Reduzierung von
Gewicht und einer Menge von zeitabhängigen Funktionen (Geschwindigkeiten, Distanzen) auf
einen gemeinsamen Maßstab: das Gewicht von Wasser, das in einer Klepsydra (Wasseruhr)
angesammelt wird.

5. Fazit

Der menschliche Geist entfaltet sich, so er denn sich seiner selbst bewusst ist, in drei grundlegenden
Operationen: Zählen, Wiegen und Messen. Da weder das Zählen noch das Messen vermögen, die
der Natur eigene Heterogenität zufriedenstellend in Werte der Darstellung übersetzen zu können,
scheint das Wiegen wiederum die Operation zu sein, die der Wahrheit näher steht. Das bedeutet
jedoch weder, dass die Natur ein Buch voller mathematischer Zeichen ist, noch, dass das Wiegen
die Methode ist dieses zu entschlüsseln. De Staticis Experimentis gilt es nicht als
(natur)wissenschaftliches Werk zu lesen, dass solcherlei metaphysische und gnoseologische
Annahmen teilt. Es muss vielmehr nicht isoliert, sondern im Kontext der anderen Bücher
verstanden werden, die sich als Ensemble der Untersuchung der verschiedenen Ebenen der
Korrelation zwischen menschlichem Geist und Wahrheit widmen. Das bessere Verständnis dieses
Dialoges setzt nicht nur die in den Idiota-Büchern entwickelten Auffassungen über Weisheit,
Wahrheit und Geist voraus, sondern auch die Idee des menschlichen Wissens, welche in De Docta
Ignorantia dargelegt wird. Während jede intellektuelle Untersuchung durch den Vergleich des
Unbekannten mit dem schon Bekannten proportional voranschreitet, entzieht sich die Wahrheit, da
sie unendlich ist, aller durch den menschlichen Geist konstruierten, proportionalen Betrachtung. „So
doch alle Dinge eine bestimmte Proportion zu den anderen aufweisen, so bleibt uns diese Relation
nichtsdestotrotz verborgen und unverständlich.“ 25 Obwohl der menschliche Geist im Wiegen ein
Verfahren findet, die Natur entsprechend der ihr eigenen Charakteristika wissend zu beherrschen,
bleibt das Unendliche, von dem alle Dinge abgeleitet sind, in dem alle Dinge ruhen und zu dem alle
Dinge streben, durch Maß und Mengenverhältnis unantastbar. In Cusanus' philosophischer
Konzeption wird die Wahrheit daher nicht ontologisch dem menschlichen Vermögen gemäß
restringiert, um sie erreichbar zu machen.
Die drei wesentlichen Problemkreise des Cusanischen Denkens – Natur, Mensch und Gott 26 –
werden hierin also in ihrer Verquicktheit verhandelt. „Für Cusanus war […] eine neue
Methodologie der Naturforschung, eine auf Einsichtigkeit und Nützlichkeit aufgebaute Naturkunde
lebenslang ein Hauptproblem, nicht nur in seiner Schrift Versuche mit der Waage (1450), welche
die in der Spätscholastik entwickelten Methoden der quantitativen Analyse qualitativer Prozesse
besonders auf die Medizin anzuwenden lehrte.“ 27 Die Medizin erweist sich als Schnittpunkt der drei
genannten Sphären. Den Umschlag von Qualität in Quantität argumentativ durchexerzieren zu
können verweist wiederum auf die Meisterschaft im dialektischen Denken des Nikolaus von Kues.

25 Ebd., (h I 30).
26 Vgl. Flasch, Kurt: Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli. Stuttgart, 1986, S. 542
ff.
27 Ebd., S. 542.
6. Literaturverzeichnis

Primärliteratur

Cusa, Nicolai de: Opera Omnia. Iussu et auctoritate Academiae Litterarum Heidelbergensis. Ed.
Ludovicus Baur, Leipzig, 1937.

Cusa, Nicolai de: Idiota de mente. Der Laie über den Geist. Lateinisch – Deutsch. Mit einer
Einleitung von Giovanni Santinello auf der Grundlage des Textes der kritischen Ausgabe
neu übersetzt und mit Anmerkungen herausgegeben von Renate Steiger, Hamburg, 1995.

Sekundärliteratur

Cassirer, Ernst: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit,
Darmstadt, 1974.

Crombie, Alistair C.: Von Augustinus bis Galilei. Die Emanzipation der Naturwissenschaft,
München, 1977.

Flasch, Kurt: Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli.


Stuttgart, 1986.

Flasch, Kurt: Nikolaus von Kues in seiner Zeit. Ein Essay, Stuttgart, 2004.

Flasch, Kurt:Nikolaus von Kues. Geschichte einer Entwicklung. Vorlesungen zur Einführung in
seine Philosophie, Frankfurt, 2008.

Lindberg, David C.: The Beginnings of Western Science. The European Scientific Tradition in
Philosophical, Religious and Institutional Context, Prehistory to A.D. 1450. 2nd. ed.,
Chicago, 2007.

Stowasser, J. M., Petschenig, M., Skutsch, F.: Stowasser. Lateinisch-deutsches Schulwörterbuch,


München, 2006.
7. Eidesstattliche Erklärung

Ich erkläre hiermit, dass ich die vorliegende Arbeit selbständig und nur unter Verwendung der
angegebenen Hilfsmittel und Literatur angefertigt habe.

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(Ort, Datum) (Unterschrift)

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