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Friedrich-Schiller-Universität Jena

Philosophische Fakultät
Institut für Philosophie
Lehrstuhl für Antike und Mittelalterliche Philosophie
Zwätzengasse 9
07743 Jena

Seminar: Augustinus – De doctrina Christiana (Sommersemester 2021)


Modul: Einführung in die Latinistik (Lat 300: Proseminar; Zusatzmodul)
Dozent: Prof. Dr. Matthias Perkams

Seminararbeit zum Thema:


Augustinus – De doctrina Christiana – Admotiones generales (IV,1-IV,6)

vorgelegt von:
Philipp Scholze
Nettelbeckufer 16
99089 Erfurt
philipp.scholze@uni-jena.de
Master of Science Geschichte der Naturwissenschaften
Matrikelnummer: 108878
Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung.........................................................................................................................................3
2. Inhaltsübersicht zu Liber IV von De doctrina Christiana.................................................................5
3. Übersetzung des Textabschnittes De doctrina Christiana IV,1-IV,6...............................................5
4. Analysierender Kommentar zu De doctrina Christiana IV,1-IV,6.................................................10
5. Interpretation..................................................................................................................................15
6. Zusammenfassung..........................................................................................................................17
7. Literaturverzeichnis........................................................................................................................19
8. Eidesstattliche Erklärung................................................................................................................20
1. Einleitung

De doctrina Christiana entstand in zwei Arbeitsphasen im Abstand von 30 Jahren. Nachdem die
ersten drei Bücher vom modus inveniendi (Methodik des Entdeckens) handelten, widmet sich Buch
4 dem modus proferendi (Methodik des Weitergebens). Bei der Revision seiner Schriften stieß
Augustinus auf die unfertige Schrift (1,1-1,35) aus den Jahren 396/7 und vollendete das Werk um
das Jahr 427.1 Augustinus schreibt hierzu in seinen Retractationes 2,IV,1: „Libros de Doctrina
Christiana, cum imperfectos comperissem, perficere malui quam eis sic relictis ad alia retractanda
transire. Complevi ergo tertium qui scriptus fuerat usque ad eum locum ubi commemoratum est ex
Evangelio testimonium de muliere, quae abscondit fermentum in tribus mensuris farinae donec
fermentaretur totum. Addidi etiam novissimum librum, et quatuor libris opus illud implevi; quorum
primi tres adiuvant ut Scripturae intelligantur, quartus autem quomodo quae intelligimus proferenda
sint.“

In Band 4 wird die Rhetorik sowohl in ihrer Bedeutung für die Analyse als auch für die Produktion
von Texten thematisiert: Die Kenntnis rhetorischer Figuren ist hilfreich bei der Textauslegung.
Jedoch postuliert Augustinus auch ein christliches Rednerideal, das auf Ciceros Bild vom
rhetorisch-philosophischen Redner aufbaut. „Die drei officia und genera dicendi werden im
christlichen Sinne neu bestimmt, wodurch Ciceros Werke orat. und de orat. ersetzt werden und die
pagane Tradition in einen christlichen Gebrauch überführt wird.“2

Bemerkenswert ist hierbei, dass die paganen Vorbilder, insbesondere Cicero und Quintilian, im
Buch 4 von De doctrina Christiana von Augustinus gar nicht namentlich genannt werden. Auch der
Begriff Rhetorik (rhetorica) wird vermieden zugunsten der Temini modus proferendi (Methodik des
Weitergebens) bzw. eloquentia (Beredsamkeit). Augustinus distanziert sich auch am Beginn des
Liber IV von seiner Vergangenheit als paganer Rhetoriklehrer in Karthago, Rom und Mailand, von
der auch keine schriftlichen Zeugnisse überliefert sind. Grundsätzliche Instruktionen zur Rhetorik
verweigert Augustinus, vielmehr setzt er auf die natürliche Begabung und die rhetorische Praxis als
denn auf eine theoretische Unterweisung. Dies ist nachvollziehbar, da das Christentum der
Spätantike kein dem paganen Bereich ebenbürtiges Schulsystem ausgebildet hatte. Für die
Katechumenen bestanden innerhalb der Kirche Ausbildungsmöglichkeiten. Großprediger waren die
Bischöfe, im kleineren Rahmen die Presbyter (Priester), welche vom Bischof beauftragt wurden.
Augustinus durfte aufgrund seiner rhetorischen Begabung schon als Presbyter, also vor der

1 Vgl. Schultheiß 2016: 48.


2 Schultheiß 2016: 59.
Bischofsweihe, predigen.3 In dieser Stoßrichtung ist auch Augustinus' Schrift De catechizandis
rudibus aufschlussreich, in welcher er darlegt wie die Redekunst in religionspädagogischer Absicht
zur Unterrichtung von Taufbewerbern eingesetzt werden kann.

Diese Seminararbeit widmet sich der Analyse der einleitenden Abschnitte des vierten Buches von
Augustinus' De doctrina Christiana (De doctrina Christiana – Admotiones generales (IV,1-IV,6)).
Die Kriterien für das Erlernen der Redekunst nach Augustinus werden hierbei herausgearbeitet.
Augustinus verteidigt in einem prozessual verstandenen Bildungszusammenhang die Praxis
gegenüber der Theorie. Die Erlernung der Beredsamkeit erfolgt am besten im jugendlichen Alter
durch die Rezeption und Anverwandlung guter Literatur bzw. durch das lebendige Anhören
begabter Redner. Grundlegend gewährt Augustinus dieser praktisch orientierten Methodik den
Vorrang gegenüber dem bloßen Lernen theoretischer Vorschriften und Regeln. In der detaillierten
Analyse und Interpretation des Textes erweisen sich Ingenium, Intuition und Imitation als zentrale
Motive des augustinischen Bildungskonzeptes der Rhetorik. Die durchgehende Abgrenzung
zwischen praktischem Lernen und vorschriftsgemäßer Theorie soll am Text durch Untersuchung
der sprachlichen Mittel ausgewiesen werden. Dies stellt den Versuch dar, die Verschränkung von
Form und Inhalt nachzuweisen. Begriffliche Konstellationen und ein Grundverständnis des
konzeptionellen Wirkungsgefüges rhetorischer Bildung nach Augustinus in nuce zu extrahieren, ist
die Intention dieser Arbeit. Dabei kann man phänomenologisch selber nur versuchen, als staunender
Lehrling sich dem Autor Augustinus und seiner Beredsamkeit zu nähern, indem man dessen eigener
Redekunst nachspürt.

Diese Seminararbeit hat folgenden Aufbau: Im zweiten Kapitel wird eine Zusammenfassung des
Inhaltes von Buch IV von De doctrina Christiana gegeben, um die zu analysierende Textpassage
besser in den Kontext des Werkes einordnen zu können. Im dritten Kapitel wird ein recht nah am
Text des Originals orientierter Übersetzungsvorschlag für die betreffenden Passagen angeboten,
um sodann im vierten Kapitel mittels eines analysierenden Kommentars grammatikalische
Besonderheiten, Tropen und Deutungsmuster auszuweisen. Im fünften Kapitel wird eine
zusammenhängende Interpretation der Textstelle anhand der Fragestellung gegeben. Schließlich
folgt im sechsten Kapitel ein Fazit.

3 Vgl. Meschlinsky 2004: 12-13.


2. Inhaltsübersicht zu Liber IV von De doctrina Christiana

I-V: Redekunst nützlich für christliche Lehre, Weisheit und Eloquenz sollen zusammenwirken.
VI-VII: alle rhetorischen Stilmittel in der Bibel präsent: Vorführung einiger Beispiele.
VIII-XVIII: drei Redestile (genera dicendi): verhaltener Redestil (genus humile) für das Lehren
(docere), gemäßigter Redestil (genus medium) für das Erfreuen (delectare), erhabener
Redestil (genus grande) für das Erschüttern. Ziel christlicher Rede: Heil der
Menschenseelen und Klarheit, daher auch Volkstümlichkeit (evtl. mangelnde
grammatische Korrektheit) vertretbar.
XIX-XXI: je ein Beispiel für jeden Redestil aus dem Neuen Testament sowie bei den Kirchenvätern
Cyprian und Ambrosius.
XXII-XXVI: Um der Überzeugungskraft willen Kombination der Redestile möglich, um den
Zuhörer verständig, bereitwillig und gehorsam zu stimmen..
XXVII-XXXI: christlicher Redner soll vorbildliche Lebensführung vorweisen, Bedeutsamkeit des
Gebets (oratio) für den christlichen Redner (orator), da der dreifaltige Gott allein den Erfolg
der Rede bewirkt.

3. Übersetzung des Textabschnittes De doctrina Christiana IV,1-IV,6

I.1. Vorbemerkung: modus inveniendi und modus proferendi

1. Hoc opus nostrum quod inscribitur De doctrina Christiana, in duo quaedam fueram prima
distributione partitus. Nam post proemium, quo respondi eis qui hoc fuerant reprehensuri, Duae
sunt res, inquam, quibus nititur omnis tractatio scriptuarum: modus inveniendi quae intellegenda
sunt, et modus proferendi quae intellecta sunt. De inveniendo prius, de proferendo postea
disseremus.

1. Dieses unser Werk, welches mit dem Titel „De doctrina Christiana“ versehen ist, hatte ich zu
Beginn in zwei Untergliederungen geteilt. Denn nach dem Proömium, in welchem ich denen
geantwortet habe, die dieses Werk kritisieren würden, sagte ich: „Es sind zwei Dinge, auf welche
sich jede Untersuchung der (Heiligen) Schriften stützt: Die Methodik des Entdeckens der Dinge,
welche verstanden werden müssen, und die Methodik des Vortragens der Dinge, welche verstanden
worden sind. Wir werden zuerst über das Entdecken, später über das Weitergeben sprechen.“
2. Quia ergo de inveniendo multa iam diximus et tria de hac una parte volumina absolvimus,
adiuvante domino de proferendo pauca dicemus, ut si fieri potuerit, uno libro cuncta claudamus
totumque hoc opus quattuor voluminibus terminetur.

2. Weil wir also schon vieles über das Entdecken gesagt haben und drei Bücher über diesen einen
Teil vollendet haben, werde ich nun mit Hilfe des Herrn ein wenig über das Vortragen sprechen,
damit wir, wenn es gelingen mag, in einem Buch alles abschließen und das ganze Werke auf vier
Bücher begrenzt wird.

I.2. Abgrenzung: keine Entfaltung einer systematischen Rhetorik

3. Primo itaque expectationem legentium, qui forte me putant rhetorica daturum esse praecepta quae
in scolis saecularibus et didici et docui, ista praelocutione cohibeo atque ut a me non expectentur
admoneo; non quod nihil habeant utilitatis, sed quod, si quid habent, seorsum discendum est, si cui
fortassis bono viro etiam haec vacat discere, non autem a me vel in hoc opere vel in aliquo alio
requirendum.

3. Zunächst zügle ich in dieser Vorrede die Erwartung der Leser, die vielleicht meinen, dass ich
rhetorische Vorschriften erteilen werde, welche ich in weltlichen Schulen gelernt und gelehrt habe,
und ich ermahne sie, dass sie dies nicht von mir einfordern; nicht, weil diese keinen Nutzen haben
könnten, sondern weil, wenn sie diesen haben, dies andernorts gelernt werden muss, wenn auch
vielleicht doch ein guter Mensch Muße findet, dies zu lernen. Bei mir darf man weder in diesem
Werk noch in irgendeinem anderen danach suchen.

II.3. Beredsamkeit als nützliches Mittel für den christlichen Apologeten

4. Nam cum per artem rhetoricam et vera suadeantur et falsa, quis audeat dicere adversus
mendacium in defensoribus suis inermem debere consistere veritatem, ut videlicet illi qui res falsa
persuadere conantur, noverint auditorem vel benevolum vel intentum vel docilem proemio facere,
isti autem non noverint? Illi falsa breviter, aperte, verisimiliter et isti vera sic narrent ut audire
taedeat, intellegere non pateat, credere postremo non libeat? Illi fallacibus argumentis veritatem
oppugnent, asserant falsitatem, isti nec vera defendere nec falsa valeant refutare? Illi animos
audientium in errorem moventes impellentesque dicendo terreant, contristent, exhilarent,
exhortentur ardenter, isti pro veritate lenti frigidique dormitent? Quis ita desipitat ut hoc sapiat?
4. Da nämlich mithilfe der Redekunst Wahres und Falsches angeraten werden kann, muss, wer
wagte zu sagen wider die wehrlose Lüge, gegen ihre Verteidiger in der Wahrheit bestehen, damit
nämlich jene, die von den falschen Dingen zu überzeugen versuchen, anerkennen werden, dass man
sich entweder wohlwollende oder aufmerksame oder gelehrige Zuhörer durch die Vorrede macht,
werden diese dort das nicht anerkennen? Erzählen jene in aller Kürze, klar und wahrheitsähnlich
Falsches, diese aber auf diese Weise Wahres, sodass man nur widerwillig zuhört, sich dem
Begreifen nicht öffnet und es einem schließlich nicht beliebt [dem Gesagten] Glauben zu schenken?
Bekämpfen jene die Wahrheit mit trügerischen Argumenten und behaupten die Unwahrheit, und
vermögen diese nicht Wahres zu verteidigen und Falsches abzuweisen? Erschrecken, betrüben,
erheitern und ermuntern jene, die in den Irrtum bewegen und treiben, die Seelen der Zuhörer durch
ihre Rede in heftiger Weise, während diese ruhig und matt in der Wahrheit schlummern? Wer wäre
so töricht, dass er dies für weise hielte?

5. Cum ergo sit in medio posita facultas eloquii, quae ad persuadenda seu prava seu recta valet
plurimum, cur non bonorum studio comparatur, ut militet veritati, si eam mali ab obtinendas
perversas vanasque causas in usus iniquitatis et erroris usurpant?

5. Da also die Redekunst in der Mitte angesiedelt ist, und in der Überredung zu den bösen wie zu
den rechten Dingen sehr viel vermag, warum wird sie dann im Studium der Guten nicht erworben,
damit sie der Wahrheit diene, wenn die Schlechten sie, um ihre verkehrten und eitlen Interessen zu
durchzusetzen, zur Ausübung der Sünde und des Irrtums gebrauchen?

III.4. Schulmäßiges Erlernen der Redekunst in der Jugendzeit empfehlenswert/ Frömmigkeit

6. Sed quaecumque sunt de hac re observationes atque praecepta, quibus, cum accedit in verbis
plurimis ornamentisque verborum linguae solertissima consuetudo, fit illa quae facundia vel
eloquentia nominatur, extra istas litteras nostras, seposito ad hoc congruo temporis spatio, apta et
convenienti aetate discenda sunt eis qui hoc celeriter possunt.

6. Aber es gibt nun alle diese Vorschriften und Regeln zu dieser Sache (Redekunst), aus denen,
wenn ein kunstfertiger Umgang mit vielen Worten und mit den Zierden der Worte der Sprache
hinzukommt, jenes entsteht, was Beredsamkeit oder Redegewandtheit genannt wird. Außerhalb
dieser unserer Schriften sollen diese, in einem bestimmten hierfür angemessenem Zeitraum, in
einem passenden und sich geziemenden Lebensalter von denen erlernt werden, die dies flink
vermögen.
7. Nam et ipsos Romanae principes eloquentiae non piguit dicere quod hanc artem nisi quis cito
possit numquam omnino possit perdiscere. Quod utrum verum sit, quid opus est quaerere? Non
enim, etiam si possint haec a tardioribus tandem aliquando perdisci, nos ea tanti pendimus ut eis
discendis iam maturas vel etiam graves hominum aetates velimus impendi.

7. Denn selbst die Fürsten der römischen Beredsamkeit waren nicht darum verdrossen zu sagen,
dass man diese Kunst nur schnell oder überhaupt nicht erlernen kann. Ob dies wahr sei, was ist es
nötig, dies zu fragen? Denn, auch wenn dies von den Langsameren irgendwann einmal erlernt
werden könnte, so schätzen wir diese (die Redekunst) nicht so hoch ein, dass wir für deren Erlernen
sogar die reifen und ferner die beschwerlichen Lebensalter der Menschen aufwenden wollten.

8. Satis est ut adulescentulorum ista sit cura, nec ipsorum omnium quos utilitati ecclesiasticae
cupimus erudiri, sed eorum quos nondum magis urgens et huic rei sine dubio praeponenda
necessitas occupavit. Quoniam si acutum et fervens adsit ingenium, facilius adhaeret eloquentia
legentibus et audientibus eloquentes quam eloquentiae praecepta sectantibus.

8. Es ist ausreichend, dass dies die Sorge der Jugendlichen ist, und nicht einmal von alldenjenigen,
die wir zum Nutzen der Kirche ausbilden wollen, sondern von denen, die noch nicht durch eine
Verpflichtung gebunden sind, die wichtiger ist und zweifellos gegenüber dieser Sache eine
vorrangige Notwendigkeit erheischt.Denn wenn ein scharfer und leidenschaftlicher Verstand
vorhanden ist, wird die Beredsamkeit leichter von denen erworben, die beredsame Menschen lesen
und hören, als von denen, welche die Vorschriften der Beredsamkeit befolgen.

9. Nec desunt ecclesiasticae litterae, etiam praeter canonem in auctoritatis arce salubriter
collocatum, quas legendo homo capax, etsi id non agat, sed tantummodo rebus quae ibi dicuntur
intentus sit, etiam eloquio quo dicuntur, dum in his versatur, induitur, accedente vel maxime
exercitatione sive scribendi sive dictandi, postremo etiam dicendi, quae secundum pietatis ac fidei
regulam sentit.

9. Es mangelt nicht an kirchlichen Schriften, auch außerhalb des von der Anhöhe des Autorität
heilsbringend zusammengestellten Kanons, durch deren Lektüre ein begabter Mensch, obgleich er
dies nicht erstrebt, sondern sich bloß mit den Dingen, die dort gesagt werden, beschäftigt, sich
auch mit der Beredsamkeit, die zum Ausdruck gebracht wird, beschäftigt,
10. Si autem tale desit ingenium, nec illa rhetorica praecepta capiuntur nec, si magno labore
inculcata quantulacumque ex parte capiantur, aliquid prosunt. Quandoquidem etiam ipsi qui ea
didicerunt et copiose ornateque dicunt, non omnes ut secundum ipsa dicant, possunt ea cogitare cum
dicunt, si non de his disputant. Immo vero vix ullos eorum esse existimo qui utrumque possint, et
dicere bene et ad hoc faciendum praecepta illa dicendi cogitare cum dicunt.

10. Wenn aber solch eine Begabung fehlt, werden weder jene rhetorischen Vorschriften erfasst,
noch nützen sie etwas, wenn sie, mit großer Mühe eingeprägt, wie geringfügig auch nur erfasst
werden. Denn nicht einmal diejenigen, die diese gelernt haben und mit reichem Wortschatz und
Schmuck reden, können während ihrer Rede an diese Regeln denken, um sie zu befolgen, wenn sie
denn nicht über diese rhetorischen Regeln selbst reden. Allerdings glaube ich kaum, dass es
wirklich irgendwelche dieser gibt, die beides können, nämlich gut reden und, während sie dies tun,
auch an die Vorschriften denken, um zu sprechen.

III.5. Erlernen der Redekunst durch Imitation und Intuition

11. Cavendum est enim ne fugiant ex animo quae dicenda sunt dum attenditur ut arte dicantur. Et
tamen in sermonibus atque dictionibus eloquentium impleta reperiuntur praecepta eloquentiae, de
quibus illi ut eloquerentur vel cum eloquerentur non cogitaverunt, sive illa didicissent sive ne
attigissent quidem. Implent quippe illa, quia eloquentes sunt, non adhibent ut sint eloquentes.

11. Man muss sich nämlich davor in Acht nehmen, dass einem nicht die Dinge aus der Seele
entfliehen, die gesagt werden sollen, während man darauf achtet, dass die Dinge mit
Kunstfertigkeit gesagt werden. Und dennoch werden in Predigten und Äußerungen der Beredsamen
die Vorschriften der Beredsamkeit vollendet vorgefunden, an welche jene zum Zwecke oder bei
Gelegenheit des Redens nicht gedacht haben, mögen sie nun sonst dieselben gelernt oder sich nicht
um diese gekümmert haben. Sie erfüllen freilich jene Vorschriften, weil sie beredsam sind, und
wenden sie nicht an, damit sie beredsam sind.

12. Quapropter, cum ex infantibus loquentes non fiant nisi locutiones discendo loquentium, cur
eloquentes fieri non possunt nulla eloquendi arte tradita, sed elocutiones eloquentium legendo et
audiendo et, quantum assequi conceditur, imitando? Quid, quod ita fieri ipsis quoque experimur
exemplis? Nam sine praeceptis rhetoricis novimus plurimos eloquentiores plurimis qui illa
didicerunt, sine lectis vero et auditis eloquentium disputationibus vel dictionibus neminem.
12. Warum, da aus den nicht-sprechenden Kindern nur durch das Erforschen der Sprechenden
Reden hervordringen, warum können die Beredsamen nicht ohne eine ihnen übergebene Kunst des
Redens zu Beredsamen werden, sondern nur durch das Lesen, durch das Hören und, soweit es zu
erlangen eingeräumt wird, durch das Nachahmen der Reden der Sprechenden? Ist es nicht so, dass
wir erfahren, dass auch solche Beispiele sich auf diese Weise ereignen? Denn wir haben viele
kennengelernt, die ohne rhetorische Vorschriften beredsamer sind als zahlreiche, die jene erlernt
hatten, aber keinen, der beredsam ist, ohne dass er Erörterungen oder Unterscheidungen von
Beredsamen gelesen oder gehört hat.

13. Nam neque ipsa arte grammatica, qua discitur locutionions integritas, indigerent pueri, si eis
inter homines qui integre loquerentur crescere daretur et vivere. Nescientes quippe ulla nomina
vitiorum, quidquid vitiosum cuiusquam ore loquentis audirent, sana sua consuetudine
reprehenderent et caverent, sicut rusticos urbani reprehendunt, etiam qui litteras nesciunt.

13. Denn es würde auch nicht die Grammatik selbst, durch welche Korrektheit der Rede erlernt
wird, als Kunstfertigkeit den Kindern fehlen, wenn sie die Möglichkeit eingeräumt bekämen, unter
Menschen, die korrekt sprechen, aufzuwachsen und zu leben. Obwohl sie freilich keine
Bezeichnungen von (grammatischen) Fehlern kennen, würde sie doch, was auch immer sie
Fehlerhaftes aus dem Munde des Sprechenden vernehmen, ihrer gesunden Gewohnheit nach tadeln
und sich davor in Acht nehmen, so wie die Stadtbewohner die Landbewohner tadeln, welche die
Hochsprache auch nicht kennen.

IV.6. Zweckgebundene Methoden des christlichen Lehrers

14. Debet igitur divinarum scriptuarum tractator et doctor, defensor rectae fidei ac debellator
erroris, et bona docere et mala dedocere atque in hoc opere sermonis conciliare aversos, remissos
erigere, nescientibus quo agitur quid expectare debeant intimare. Ubi autem benivolos, intentos,
dociles aut invenerit aut ipse fecerit, cetera peragenda sunt sicut postulat causa. Si docendi sunt qui
audiunt, narratione faciendum est, si tamen indigeat, ut res de qua agitur innotescat.

14. Der Ausleger und Lehrer der Heiligen Schriften muss also, als Verteidiger des rechten
Glaubens und Bekämpfer des Irrtums, Gutes lehren und Schlechtes abweisen und in dieser
Tätigkeit der Predigt Feindselige für sich gewinnen, Nachlässige aufrichten, denen, die nicht
wissen, worum es geht, beibringen, was sie erwarten müssen. Sobald man aber Wohlwollende,
Aufmerksame und Gelehrige vorgefunden oder selber erzeugt hat, muss man das Weitere so
durchführen, wie es der (konkrete) Fall erfordert. Wenn die, welche zuhören, belehrt werden
müssen, muss man dies mittels einer Erzählung tun, wenn es doch nötig ist, damit die Sache, um
welche es sich handelt, offenbar wird.

15. Ut autem quae dubia sunt certa fiant, documentis adhibitis ratiocinandum est. Si vero qui
audiunt movendi sunt potius quam docendi, ut in eo quod iam sciunt agendo non torpeant et rebus
assensum quas veras esse fatentur accomodent, maioribus dicendi viribus opus est. Ibi obsecrationes
et increpationes, concitationes et coercitiones et quaecumque alia valent ad commovendos animos
sunt necessaria.

15. Damit aber die Dinge, welche zweifelhaft sind, zu Gewissheiten werden, muss man Dokumente
heranziehen und vernünftig schlussfolgern. Wenn allerdings die Zuhörer eher aufgewühlt als
belehrt werden müssen, sodass sie in der Ausführung dessen, was sie schon wissen, nicht erstarren,
und sie den Dingen zustimmen, von denen sie zugeben, dass sie wahr sind, ist es nötig mit größeren
Kräften zu sprechen. Dort sind Beschwörungen und Schelten, Erregungen und Bändigungen und
alles andere vonnöten, was die Seelen zu bewegen vermag.

16. Et haec quidem cuncta quae dixi omnes fere homines in his quae loquendo agunt, facere non
quiescunt.

16. Und alles dies, was ich gesagt habe, führen also Menschen aus, sofern sie rednerisch tätig sind
und nicht schweigen.

4. Analysierender Kommentar zu De doctrina Christiana IV,1-IV,6

I.1. Vorbemerkung: modus inveniendi und modus proferendi

Zu Anfang rekurriert Augustinus auf seine eigene Ausführungen, die an das Proömium von De
doctrina Christiana anknüpfen. Gegen seine Kritiker verteidigte er dort die zwei methodischen
Ansätze zur Untersuchung der Bibel: modus inveniendi (Methodik des Entdeckens) und modus
proferendi (Methodik des Weitergebens).4 Nachdem in den ersten drei Büchern über das
Entdeckens referiert wurde, soll das Werk nun mit der Analyse der Weitergebens bzw. des

4 Vgl. Schultheiß 2016: 48.


Vortragens abgeschlossen werden. Mit der Formel pauca dicemus bringt Augustinus eine gewisse
Bescheidenheit zum Ausdruck, die zur Zügelung der Erwartungen der Leserschaft überleitet.

I.2. Abgrenzung: keine Entfaltung einer systematischen Rhetorik

Augustinus nimmt eine Abgrenzung dahingehend vor, dass er hier keine systematische Rhetorik
entwickeln kann. Ein Schlüsselwort ist hierbei praecetpa (Vorschriften), welche er für das
rhetorische Geschäft nicht explizit zu liefern wagt. Auch die Abgrenzung von den Lehren der
weltlichen Schulen (in scolis saecularibus) ist hierbei von Belang. Zwar haben die rhetorischen
Künste, die in den rhetorischen Schulen erlernt werden können, ihren Wert, ihre Nützlichkeit
(utilitas) dennoch strebt Augustinus eine Transformation dieser Lehren an. Augustinus zielt nicht
auf die exklusive Gelehrtenwelt, sondern auf die christlichen Redner aus dem Volke als Leserschaft
ab. Augustinus versucht sich hierbei auch von seiner eigenen, spärlich dokumentierten
Vergangenheit als paganer Rhetoriklehrer in Karthago, Rom und Mailand abzugrenzen.5

II.3. Beredsamkeit als nützliches Mittel für den christlichen Apologeten

Augenfällig ist in diesem Abschnitt die durchgehende Benutzung rhetorischer Fragen als Stilmittel.
Insofern erinnern diese Passagen, die im Leser eine eindringliche Wirkung entfalten, an die
mündliche Rede. Zu Beginn erinnert Augustinus an die schon bei Cicero und Quintilian bezeugten
drei Hauptziele der Redekunst: benivolus, intentus, docilis.6 Wohlwollen, Aufmerksamkeit bzw.
Gelehrsamkeit sollen bei den Zuhörern erzeugt werden, wenn es darum geht zwischen Wahrheit
und Lüge zu unterscheiden. Die Redekunst soll mit moralisch guten Absichten verknüpft sein. Dies
führt Augustinus am eindrucksvollsten mit einer Klimax (terreant, contristent, exhilarent,
exhortentur), die negativen Wirkungen schlechter Rede auf die Seelen der Zuhörer auch
lautmalerisch darstellt, vor. Das ruhige, unerregte, nüchterne Schlummern in der Wahrheit kann
aber auch trügerisch sein. Vielmehr ist die Redekunst in medio angesiedelt. In der Antithese
zwischen Guten und Bösen, sollen sich auch die Guten rednerische Fähigkeiten aneignen, um
Sünde und Irrtum (in usus iniquitatis et erroris) Widerstand leisten zu können.

III.4. Schulmäßiges Erlernen der Redekunst in der Jugendzeit empfehlenswert/ Frömmigkeit

Zur Erlernung der kunstfertigen Beredsamkeit bedarf es nach Augustinus einer gewissen geistigen
Agilität und Flinkheit, die nur in einem passenden und geziemenden Lebensalter (apta et
5 Vgl. Flasch 1986: 28. „Alle erhaltenen Werke Augustins sind »christlich« konzipiert.“
6 Vgl. Schultheiß 2016: 58-59.
convenienti aetate) gegeben ist. Augustinus rekurriert hierbei auf die klassisch-römischen Lehrer
der Beredsamkeit. In einer eindrucksvollen Antithese heißt es hierbei, dass man diese Kunst nur
schnell oder überhaupt nicht erlernt werden kann (quod hanc artem nisi quis cito possit numquam
omnino possit perdiscere). Nach einer rhetorischen Frage versteigt sich Augustinus in einem
gewissen Ton des Understatements, dass der Wert der Redekunst nun doch nicht so hoch
eingeschätzt werden kann (nos ea tanti pendimus), dass die Langsameren die reifen und
beschwerlichen Jahre des Menschenlebens zum Erlernen aufwenden sollten. Nach diesem
Argumentationsgang kann Augustinus nach dem Ausschlusskriterium schlussfolgernd konstatieren:
Satis est ut adulescentulorum ista sit cura (Es ist ausreichend, dass dies die Sorge der Jugendlichen
ist).

Weitere zweckgebundene Gütekriterien für die Ausbildung guter Redner sind hierbei der Willen für
den Nutzen der Kirche (utilitati ecclesiasticae) und – in einem einprägsam-impulsiven Bild
gezeichnet – ein scharfer und leidenschaftlicher Verstand (acutum et fervens ingenium). Das
Ingeniöse soll mit der Praxis und der Imitation, d.h. dem Lesen und Hören beredsamer Menschen,
zusammenwirken. Wiederum werden die bloßen theoretischen Vorschriften (praecepta) in einer
antithetischen Gegenüberstellung marginalisiert. Ein reiches Schriftgut zum Studium bieten die
kirchlichen Überlieferungen, durch deren Lektüre, so der Fokus auf das Verständnis der Inhalte
gerichtet ist, beiläufig in einem Verfahren des unbemerkten learning-by-doing auch die Kunst der
Beredsamkeit aufgesogen werden kann. 7 Das intuitive, nicht-intentionale Moment dieses
Lernvorganges bringt Augustinus mit folgendem mit der Subjunktion etsi eingeleiteten
Konzessionalsatz zum Ausdruck: etsi id non agat. (Im Sinne von: Obgleich er (der begabte
Mensch) dies nicht aktiv tut bzw. nicht aktiv erstrebt.) Das ingenium ist hierbei wiederum wichtiger
als die bloße Befolgung der praecepta, da ein fähiger Redner nur dann wirklich an die rhetorischen
Vorschriften und Regeln denkt, wenn er explizit über diese redet. Abschließend urteilt Augustinus,
basierend auf seiner Erfahrung, wiederum antithetisch nach dem Ausschlusskriterium: Immo vero
vix ullos eorum esse existimo qui utrumque possint, et dicere bene et ad hoc faciendum praecepta
illa dicendi cogitare cum dicunt. (Allerdings glaube ich kaum, dass es wirklich irgendwelche dieser
gibt, die beides können, nämlich gut reden und, während sie dies tun, auch an die Vorschriften
denken, um zu sprechen.) Die Wirkbedingungen von Imitation, Intuition und Ingenium im Prozess
der Erlernung der Redekunst werden im anschließenden Abschnitt von Augustinus sodann genauer
bestimmt.

7 Vgl. Lindberg 1986: 27.


III.5. Erlernen der Redekunst durch Imitation und Intuition

Die Redekunst kann am besten nur durch das Studium der Kunstfertigkeit von Redebegabten erlernt
werden. Hierbei treten Imitation und Intuition zusammen: Et tamen in sermonibus atque dictionibus
eloquentium impleta reperiuntur praecepta eloquentiae, de quibus illi ut eloquerentur vel cum
eloquerentur non cogitaverunt, sive illa didicissent sive ne attigissent quidem. In der Praxis des
Redens kann die Tätigkeit schlechterdings penibel durch pedantisches Denken an die praecepta
eloquentiae gesteuert werden: Augustinus bedient hierbei mit der Warnung, dass dem Redner sonst
die Dinge aus der Seele entfliehen (fugere ex animo), ein treffendes sprachliches Bild. Vielmehr
erscheint die eloquentia als natürliche oder antrainierte Tugend. Eindrücklich ist hierbei die
chiastische Gegenüberstellung von Kausalität (quia eloquentes sunt) und Finalität (ut sint
eloquentes), wobei der Kausalität der Vorrang eingeräumt wird.

Wie auch Kinder überhaupt das Sprechen erst durch Beobachtung und Imitation der Sprechenden
erlernen, so kann die Redekunst auch nur durch Hören, Lesen und Imitieren der Reden begabter
Rhetoriker gelingen. Auch hier operiert Augustinus wiederum mit eindringlichen rhetorischen
Fragen. Die rhetorische Erfahrung, d.h. das Lesen und Hören gelungener Reden, ist unabdingbar,
auf das Beachten der theoretischen rhetorischen Vorschriften (sine praeceptis rhetoricis) kann
hingegen verzichtet werden, da zum rednerischen Erfolg auch Intuition und natürliche Begabung
einen wesentlichen Teil beitragen. So könnten Kinder auch stets der Gewohnheit nach (sana sua
consuetudine), grammatische Fehler erkennen, auch wenn ihnen das theoretische Begriffsarsenal
fehlt. Imitation, Intuition und praktischer Vollzug prägen die Vermittlung der Redekunst mehr als
alle Theorie. Augustinus schwebt also weniger eine strukturalistisch fundierte rhetorische
Wissenschaft vor, sondern vielmehr eine an der Empirie geschulte Praxeologie der Rhetorik.

IV.6. Zweckgebundene Methoden des christlichen Lehrers

Zunächst nimmt Augustinus eine funktionale Zuweisung dahingehend vor, dass ein Bibel-Interpret
und christlicher Lehrer – antithetisch und kämpferisch formuliert – den rechten Glauben verteidigen
und den Irrtum bekämpfen soll (defensor rectae fidei ac debellator erroris). Mit Verweis auf die
drei Ziele – Wohlwollen, Aufmerksamkeit und Gelehrsamkeit –, die durch die Vortragskunst
erstrebt werden, fordert Augustinus eine am konkreten Fall orientierte Vorgehensweise ein. Die
Konstellation von Thema und Zuhörerschaft muss erkannt und dementsprechend argumentiert
werden. Rationale Argumentationsweise und die schriftliche Überlieferung bilden hierbei die
Grundlage. Um die Überzeugungskraft zu erhöhen, braucht es schärfere Mittel, um die
Zuhörerschaft auch emotional die Wahrheit nahezubringen. Mit dem Homoioteleuton obsecrationes
et increpationes, concitationes et coercitiones führt Augustinus diese Mittel vor. Beschwörungen,
Schelten, Erregungen und Bändigungen figurieren als die drastischsten Mittel kraftvoller
Überzeugung. Im Gegensatz zu dieser rhetorischen Dramatik wirkt der abschließende Satz
wiederum recht nüchtern und bescheiden: Et haec quidem cuncta quae dixi omnes fere homines in
his quae loquendo agunt, facere non quiescunt. Nicht-Schweigen und rednerische Tätigkeit sollte in
Augustinus' Ausführungen von seinem eigenen Erfahrungshorizont ausgehend beschrieben werden.
Augustinus rekurriert mit diesem nüchternen Ton auf seine Forderung, keine Vorschriften
(praecepta) formulieren zu wollen. In gewisser Weise wird hier eine analytisch-deskriptive, sich auf
die Empirie stützende Behandlung der Redekunst durch den christlichen Prediger Augustinus
angekündigt, welche dieser im weiteren Argumentationsgang des Buches IV von De doctrina
Christiana materialreich ausbreitet.

5. Interpretation

Christian Tornau stellt in seiner Habilitationsschrift Augustinus' Einstellung zu den


Bildungspraktiken seiner Zeit umfassend dar.8 Die Haltung des Augustinus zur Rhetorik weist einen
ambivalenten Charakter auf. Einerseits akzeptiert Augustinus den Gebrauchswert der Rhetorik, um
die christliche Bildung in heidnischen Kreisen zu verbreiten. Andererseits kritisiert er das
Bildungssystem seiner Zeit, da es die menschliche Seele mit dem Streben nach weltlichem Ruhm
korrumpiert.9 So bedient sich Augustinus der rhetorisch-literarischen Konventionen, um
wirkungsvoll mit der Gelehrtenwelt kommunizieren zu können. Er betont dabei, dass er diese
konventionellen Mittel der Beredsamkeit nur verwendet, um für die die christlichen
Wahrheitsideale außerhalb des heidnischen Wertesystems zu werben.10 Augustinus betrachtet
untugendhafte gebildete Personen als typische Feinde des Christentums. Tornau kontrastiert die
Haltung des Augustinus mit der Haltung des Bibelübersetzers Hieronymus. Hieronymus hatte,
aufgrund seiner höheren sozialen Herkunft und in Ermangelung pastoraler Verpflichtungen, einen
anderen Ansatz, welcher zu Kontroversen mit Augustinus führte. Hieronymus verstand die
spätantike Bildung als ein Alleinstellungsmerkmal der sozialen Eliten seiner Zeit. Daher benutzte er
die Bildungspraktiken und rhetorischen Techniken, um die Eliten mit den christlichen
Glaubenswahrheiten vertraut zu machen und die Konversion der Gebildeten und Mächtigen zu

8 Vgl. Tornau 2006: 13-105.


9 Vgl. hierzu auch: Lindberg 1986: 27. „Augustine's position has frequently been misunderstood as an attempt to
substitute faith for reason But this was surely never his purpose: philosophy and the philosophical life were not to be
replaced or repudiated, but to be Christianized. Esteem for human rational capacities pervades Augustine's
writings.“
10 Vgl. Tornau 2006: 19; 73.
erwirken. Die spätantiken Bildungspraktiken und ein asketischer Lebensstil galten für Hieronymus
als das höchste christliche Ideal.11 Tornau betont hingegen Augustinus rhetorische Technik der
Apologetik, so wie es dieser in De doctrina Christiana dargelegt hat. Augustinus zielt darauf, ein
Netz und Wirkungsgefüge von Gegenargumenten zu produzieren, welches mögliche kritische
Angriffe auf das Christentum abzuwehren vermag.12

Augustinus entwickelte seine Sprachtheorie auf der Grundlage stoisch-hellenistischer und


römischer Grammatiktheorien.13 Wie die Stoiker unterschied er zwischen dem Laut eines Wortes,
der Wortbedeutung und dem Ding (res), welches das Wort bezeichnet (signum). Augustinus
verstand Sprache als ein System von Zeichen, durch welche der Sprecher Dinge, eigene Gedanken
oder Emotionen bezeichnet.14 Für die christliche Rhetorik kann dies nun in Buch IV fruchtbar
gemacht werden. Die Wahrheit muss mit Überzeugungskraft an die Hörerschaft vermittelt werden
und dafür dient die Redekunst als Mittel zum Zweck. Der christliche Redner muss das Gute
sprachlich kommunizieren und das Böse bekämpfen. Daher soll Weisheit vor bloßer Beredsamkeit
den ersten Rang einnehmen, die Dinge sollen gegenüber den Worten betont werden. Die Anpassung
der Ausdrucksform der Wahrheit an die Bedürfnisse des Publikums ist für Augustinus im Rekurs
auf die ersten Bücher von De doctrina Christiana praktizierte Nächstenliebe. Der christliche Redner
liebt die Wahrheit und versucht andere dafür zu begeistern, so wie der einzelne Christ um der
Gottesliebe willen und aus der Gottesliebe heraus seinen Nächsten lieben soll. Christen sind dazu
angehalten, das Studium der Rhetorik nicht zu vernachlässigen, ohne dabei jedoch blindlings den
Regeln und Methoden der rhetorischen Schulen zu folgen. Die effektivste Methode zur Erlernung
der Beredsamkeit ist die Lektüre exzellenter Autoren. Den Auftrag des christlichen Predigers,
Exegeten und Katecheten formuliert Augustinus folgendermaßen: „Der Ausleger und Lehrer der
Heiligen Schriften muss also, als Verteidiger des rechten Glaubens und Bekämpfer des Irrtums,
Gutes lehren und Schlechtes abweisen und in dieser Tätigkeit der Predigt Feindselige für sich
gewinnen, Nachlässige aufrichten, denen, die nicht wissen, worum es geht, beibringen, was sie
erwarten müssen.“ (IV, 14)

Die Adressaten des vierten Buches von De doctrina Christiana sind Kleriker und Gläubige des
frühen und mittleren fünften Jahrhunderts, wie z. B. der spätere Augustinus-Biograph Possidius von
Calama oder Prosper von Aquitanien.15 Diese Männer schrieben nicht über Themen der Rhetorik
und verfassten keine gelehrten Handbücher wie andere Protagonisten ihrer Zeit. Diese kirchlichen

11 Vgl. Tornau 2006: 73-105.


12 Vgl. Tornau 2006: 354-357.
13 Vgl. Tornau 2020.
14 Vgl. De doctrina Christiana, I,2; II,1-4.
15 Vgl, Gilson 1955: 70.
Autoren benutzten die rhetorischen Mittel, welche sie in den Schulen der lateinischen Welt erlernt
hatten, vermochten aber kein rhetorisches Kalkül und wissenstheoretische Abhandlungen im Stile
des Augustinus vorzulegen. Peter Brown verweist auf einen wiederentdeckten Brief des
Augustinus, in welchem Augustinus in den späten 420er Jahren einem gelehrten Heiden namens
Firmus antwortet.16 Augustinus teilte Firmus, der Augustinus' De civitate Dei nicht überzeugend
fand, mit, er solle seinen Sohn daran erinnern, dass der Redner nach Cicero ein guter Redner und
ein guter Mensch sein sollte. Außerdem fragte Augustinus den Firmus, welche griechischen und
lateinischen Schriften dessen Sohn lese. 17 Dies gibt Zeugnis von der grammatischen
Bildungstradition und dem elterlichen Erwartungshorizont im Hinblick auf das Lehrer-Schüler-
Verhältnis. Es lässt sich schwerlich erweisen, ob die christlichen Grammatiker und Rhetoren in der
zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts auf der Grundlage von Buch IV der De doctrina Christiana zu
unterrichten begannen. Augustinus beeinflusste seine Zeitgenossen weniger durch seine
theoretischen Abhandlungen als durch sein eigenes Beispiel als Redner und Autor: In seinen vielen
Predigten und Kommentaren verwandte er einen klaren, dem christlichen Publikum zugänglicheren
Stil.18 Augustinus Konzept christlicher Predigt war nicht annähernd so wichtig wie seine eigene
Umsetzung des Konzeptes in der Praxis. Diese praktische Durchführung war im Geiste seiner De
doctrina Christiana stets als Suche nach dem Selbst eine lebenslange moralische Unternehmung. In
diesem Sinne versteht auch Kurt Flasch die christliche Philosophie des Augustinus als
Bildungsprogramm: „Das Christentum war eine weise pädagogische Einrichtung, um innerhalb der
sichtbaren Welt die Menschen auf ihr eigenes Inneres zurückzuwenden, das durch Einsicht und
Tugend seine Verwandtschaft mit dem göttlichen Geist realisieren sollte.“19

6. Zusammenfassung

In den vier Büchern von De doctrina Christiana stellt Augustinus dar, wie die Heilige Schrift
interpretiert und an die christliche Gemeinde vermittelt werden soll. Die ersten drei Bücher wurden
im Jahre 397 veröffentlicht, das vierte Buch wurde im Jahre 426 hinzugefügt. Den christlichen
Lehrern und Predigern bietet Augustinus hiermit ein Handbuch, um die Wahrheit in den Inhalten
der Bibel entdecken zu können, und diese Wahrheit sodann lehren und gegen Angriffe verteidigen
zu können.20

16 Vgl. Brown 2000: 471-473.


17 Vgl. ebd.
18 Vgl. Mechlinsky 2004.
19 Flasch 1986: 28.
20 Vgl. Williams 2006: 60-61.
Gegen seine Kritiker verteidigt Augustinus zu Beginn des vierten Buches von De doctrina
Christiana die zwei methodischen Ansätze zur Untersuchung der Bibel: modus inveniendi
(Methodik des Entdeckens) und modus proferendi (Methodik des Weitergebens). Augustinus zielt
nicht auf die exklusive Gelehrtenwelt, sondern auf die christlichen Redner aus dem Volke als
Leserschaft ab. Wohlwollen, Aufmerksamkeit bzw. Gelehrsamkeit sollen bei den Zuhörern erzeugt
werden, wenn es darum geht zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden, um dem moralisch
Guten zu dienen. Augustinus bevorzugt die Jugend als gebührliches Alter zum Erlernen rhetorischer
Fähigkeiten.

Sprachlich versiert arbeitet Augustinus heraus, dass das Erlernen der Beredsamkeit durch Lektüre
und Nachahmung von Vorbildern besser gelingen kann als durch das Befolgen von Vorschriften
(praecepta) und Regeln. Die Beredsamkeit als Tugend beruht auf einer natürlichen Begabung
(ingenium) und Intuition, welche durch Imitation vertieft werden kann. Obgleich die eloquentia als
Mittel für Gutes oder Schlechtes eingesetzt werden kann, soll sie so angewandt werden, dass sie der
Weisheit und der Verbreitung der christlichen Wahrheit dient. Für den christlichen Prediger ist es
somit eher notwendig, in der Kenntnis der kirchlichen Überlieferungen und in den
Glaubenswahrheiten geschult zu sein als nur – im Sinne eines l'art pour l'art – eloquent. Augustinus
implementiert Techniken und Begriffe des klassischen rhetorischen Kanons in den christlichen
Kontext, wobei er Intuition und Imitation als weitere wichtige Techniken im Sinne einer
Anverwandlung an die Praxis der Beredsamkeit betont. Als ethisches Programm dient die Rhetorik
der Vermehrung der Liebe und Wahrheit und der Bekämpfung der Sünde und des Bösen. Die
intellektuelle Anstrengung ist bei der Interpretation der Heiligen Schrift und der Predigt der
ethischen Perspektive untergeordnet. Das Ziel christlicher Bildung auf dem Gebiete der
Hermeneutik wie der Rhetorik bleibt für Augustinus stets moralisch-tugendhaftes Verhalten,
Gottesliebe und Nächstenliebe, ergo Herzensbildung.
7. Literaturverzeichnis

Primärliteratur

Augustinus: Sancti Aureli Augustini Opera. Sect. VI Pars VI. DE DOCTRINA CHRISTIANA.
Vindobonae Hoelder-Pichler-Tempsky, MCMLXII.

Sekundärliteratur

Brown, Peter. Augustine of Hippo: A Biography. Second edition. Berkeley 2000.


Flasch, Kurt: Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli.
Stuttgart 1986.
Gilson, Étienne: History of Christian Philosophy in the Middle Ages. Toronto 1955.
Lindberg, David C.: Science and the Early Church. In: Lindberg, David C.; Numbers, Ronald L.
(Hrsg.): God and Nature. Historical Essays on Encounter between Christianity and Science.
Berkeley, 1986.
Mechlinsky, Lutz: Der modus proferendi in Augustins Sermones ad populum. München 2004.
Schultheiß, Jochen: Augustinus. De doctrina christiana. In: Wischmeyer, Oda (Hrsg.): Handbuch
der Bibelhermeneutiken. Von Origenes bis zur Gegenwart. Berlin 2016, S. 47-62.
Tornau, Christian: Saint Augustine. In: Stanford Encyclopedia of Philosophy. Stanford 2020.
(https://plato.stanford.edu/archives/sum2020/entries/augustine/)
Tornau, Christian: Zwischen Rhetorik und Philosophie. Augustins Argumenationstechnik in 'De
civitate Dei' und ihr bildungsgeschichtlicher Hintergrund. Berlin 2006.
Prestel, P.: Die Rezeption der ciceronischen Rhetorik durch Augustinus in de doctrina christiana.
Frankfurt 1992.
Stump, Eleonore; Kretzmann, Norman (Hrsg.): The Cambridge Companion to Augustine.
Cambridge, 2006.
Williams, Thomas: Biblical interpretation. In: Stump, Eleonore; Kretzmann, Norman (Hrsg.): The
Cambridge Companion to Augustine. Cambridge, 2006.
8. Eidesstattliche Erklärung

Ich erkläre hiermit, dass ich die vorliegende Arbeit selbständig und nur unter Verwendung der
angegebenen Hilfsmittel und Literatur angefertigt habe.

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(Ort, Datum) (Unterschrift)

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