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Philosophen sollten dieses Kapitel nicht lesen.

Jede einzelne Bemerkung und erst recht

die Folien dürften für sie einer unprofessionellen Entweihung gleich kommen. Es ist

nämlich hier nicht das Ziel, einen Abriss über die Analytische Philosophie zu verfassen.

Noch nicht einmal, umfassend die philosophischen Ursprünge der Sprechakttheorie zu

beleuchten. Dann müssten neben dem Philosophen John Langshaw Austin, der uns in

dieser Einführung reichlich beschäftigen wird, nämlich auch deutsche Sprachkritiker des

19. Jahrhunderts angeführt werden, mit denen wir uns hier aber nicht befassen werden. ¹8

Da die Sprechakttheorie eigentlich eine philosophische Disziplin ist, soll in diesem

Kapitel kurz auf den (oder einen) philosophischen Entstehungskontext eingegangen

werden. Ansonsten versteht sich dieses Lehrbuch aber eher als eine Einführung in die

linguistische Sprechakttheorie.

Es geht in diesem Kapitel darum, einen Umstand für das Aufkommen der Sprechakt-

theorie stark zu machen: die philosophie-interne Besinnung darauf, dass auch Philo-

sophen ja nichts anderes tun als sprechen, wenn sie philosophieren und die damit einher-

gehende Konzentration auf die Sprache als Werkzeug zur Erkenntnisgewinnung.

Nehmen Sie einmal das Wörtchen Wahrheit, das ganz gewiss für einigen Ärger gesorgt

hat. Insbesondere bei denjenigen, die sich auf die Suche nach DER Wahrheit gemacht

haben, und bei denjenigen, die sich mit auf diese Suche begeben mussten. Man ist recht

schnell einverstanden damit, die Wahrheit zu suchen. Es muss sie doch geben, die

Wahrheit. Nur was soll das eigentlich sein? Die Wahrheit sucht man ein wenig wie Gott.

Kaum jemand hat sie gesehen, dennoch ist sie vielleicht tief in uns. Sie kann

sophen eigentlich schlimm genug

für Philo-

gefühlt werden, man kann ihr durch Meditation

näher kommen und wenn man schließlich eins mit ihr ist und in ihr aufgeht, wenn man

nicht mehr krampfhaft nach ihr sucht, dann hat man sie möglicherweise gefunden. Die

Wahrheit.

Das ist eine der Wahrheiten über die Wahrheit. Allerdings eine recht unerquickliche. Es

ist nicht gerade leicht, Texte von Ludwig Wittgenstein zu verstehen. Aber angesichts des

fruchtlosen Leerlaufs sprachlicher Problembewältigungsversuche in puncto Wahrheit

dürfte nachvollziehbar sein, was es heißt, wenn Wittgenstein in den Philosophischen


Untersuchungen in Abschnitt 38 schreibt: ,,Denn die philosophischen Probleme ent-

stehen, wenn die Sprache feiert."19

Für gewöhnlich wird Wittgenstein in den frühen und den späten Wittgenstein gespalten.

Und wenn das obige Zitat auch dem späten Wittgenstein zuzurechnen ist, so findet sich

die Hinwendung zur Sprache als unhintergehbarer Bedingung des Philosophierens

bereits beim frühen Wittgenstein:

4.003

Der frühe Wittgenstein

Die meisten Sätze und Fragen, welche über

philosophische Dinge geschrieben worden sind,

sind nicht falsch, sondern unsinnig. [...] Die

meisten Fragen und Sätze der Philosophen

beruhen darauf, dass wir unsere Sprachlogik nicht

verstehen.

4.0031 Alle Philosophie ist ,Sprachkritik.

(Wittgenstein ¹21999/geschr. 1918:26)

Abbildung 4: Das Credo von Wittgenstein I

Wahrheit ist, wortbildungsmorphologisch gesprochen, eine Ableitung, nämlich ein de-

adjektivisches Substantivderivat zu der Basis wahr. Mit dem Wortartwechsel (von Ad-

jektiv zu Substantiv) ist die philosophische Gefahr einer Reifizierung gegeben, einer

Verdinglichung mit einer damit einhergehenden Positionierung unter den wie auch

immer gearteten Entitäten einer Welt. Die Anwendungsbedingungen von wahr dagegen

scheinen recht übersichtlich zu sein. Es kann z. B. als Attribut oder als Prädikat ge-

braucht werden. Immer bezieht es sich aber darauf, ob zwei Dinge übereinstimmen oder

zusammenpassen, z. B. ein Ereignis, wie es abgelaufen ist, mit dem Bericht darüber, wie

dieses Ereignis abgelaufen ist. Wenn Peter das Turnier gewonnen hat und ich berichte

Ihnen, Klaus hätte das Turnier gewonnen, ist mein Bericht nicht wahr. Wenn ich hin-

gegen von Peter als dem Sieger berichte, ist mein Bericht wahr. Dieser sehr einfache

Zusammenhang wird zwar schnell kompliziert, wenn man berücksichtigt, dass es alle

möglichen Formen von Teilwahrheiten und wahren Irreführungen usw. gibt.20 Im Ansatz

aber bleibt eine Anwendungsbedingung von wahr gleich: Wahr oder nicht wahr können
Aussagen über die Welt sein. Eine Verwendung von Wahrheit geht auch in genau diese

Richtung. Sie zeigt sich z. B. in folgendem Dialoggerüst, das sicherlich auch bei Ihnen

schon einmal zum Einsatz gekommen sein wird:

A zu B über C: ,,C hat schon wieder dies und jenes gemacht."

B zu C:

19

,,Ist das die Wahrheit?" - was nichts anderes heißt als:

,,Ist das wahr, was A sagt? Entspricht das den Tatsachen?"

Ist die Welt selbst wahr? Auch hier kommt wahr höchstens dann zum Einsatz, wenn es

um erkenntnistheoretische Dinge geht. Also um die Welt und die Erkenntnis von ihr.

Wer nun aber DIE Wahrheit sucht, sucht sie in der Welt. Nun dürfte einigermaßen klar

sein, dass man in der Welt nichts Wahres finden kann, wenn man weiß, wie sich die

Basis wahr so verhält. Wer sich also sprechend auf die Suche nach der Wahrheit begibt,

dessen Sprache feiert im Wittgensteinschen Sinne (falls man sich anmaßen darf, etwas

von Wittgenstein verstanden oder gar einen Wittgensteinschen Sinn ausfindig gemacht

zu haben). Dagegen ist nichts zu sagen: Feiern wird man allenthalben dürfen und es

macht ja auch Spaß, Probleme entstehen zu lassen und bei einigen Flaschen guten Weins

einer Lösung dann wieder näher zu bringen. Es ist eben nur in gewisser Weise unsinnig

und die Probleme sind unter Umständen Scheinprobleme.

Dem Problem der Wahrheit rückt man also näher, indem man untersucht, unter welchen

Bedingungen etwas wahr ist. Also die sogenannten Wahrheitsbedingungen. Einer der

ersten, die ein größeres Unterfangen dieser Art angestellt haben, ist Gottlob Frege²¹.

Viele Unterscheidungen, die Frege macht, sind auch sprechakttheoretisch relevant, Bei-

spielsweise die Unterscheidung zwischen Urteil und beurteilbarem Inhalt, die in seiner

Formelsprache des reinen Denkens (so der Untertitel seiner Begriffsschrift) durch zwei

berühmte Striche formalisiert werden: einem waagerechten (dem Inhaltsstrich) und

einem senkrechten (dem Urteilsstrich), der wohl einer der berühmtesten Striche in der

Philosophie ist:

„Der wagerechte Strich, aus dem das Zeichen gebildet ist, verbindet die darauf

folgenden Zeichen zu einem Ganzen, und auf dies Ganze bezieht sich die Bejahung,

welche durch den senkrechten Strich am linken Ende des wagerechten ausgedrückt
wird. Es möge der wagerechte Strich Inhaltsstrich, der senkrechte Urtheilsstrich

heissen. Der Inhaltsstrich diene auch sonst dazu, irgendwelche Zeichen zu dem

Ganzen der darauf folgenden Zeichen in Beziehung zu setzen. Was auf den

Inhaltsstrich folgt, muss immer einen beurtheilbaren Inhalt haben." (Frege

21964/¹1879: 2)

Seien Sie froh, dass wir hier keine Frege-Exegese betreiben und uns insbesondere nicht

mit seinen komplizierten seitenlangen Formalisierungen befassen müssen.22 In der

modernen Aussagenlogik geht es erheblich übersichtlicher zu.² 23

Wie bei jeder - um das Bild zu wechseln - Revolution überschlagen sich auch hier die

Ereignisse. Man hat also erkannt, dass zur Lösung des Problems der Wahrheit zunächst

einmal untersucht werden sollte, wann etwas wahr ist und wann nicht. Wahrheitsfähig

sind Inhalte. Aber die Frage von Wahr oder nicht wahr? ist auch nur dann sinnvoll ge-

stellt, wenn der wahrheitsfähige Inhalt behauptet, ausgesagt, mitgeteilt, berichtet usw.

wird. Schauen Sie sich folgende Frage an: ,,Raucht Sven?" Hier wird ja gerade danach gefragt, ob der
Sachverhalt, dass Sven raucht, wahr oder nicht wahr ist. H wird auf-

gefordert, eine wahrheitsgemäße Aussage zu machen. Was H dann sagt, das kann wahr

oder falsch sein. Kann das auch das Erfragte sein? Oder anders: Macht es Sinn, nach der

Wahrheit des Inhalts der Frage zu fragen? Nehmen Sie nun irgendeine Handlungsauf-

forderung. Macht es Sinn, zu fragen, ob das, zu dem aufgefordert wird, wahr ist? Ganz

offensichtlich nicht. Nach der Wahrheit von Inhalten zu fragen macht nur Sinn, wenn

diese behauptet, ausgesagt etc. werden. Weil das so ist, ist das philosophische Lieblings-

objekt der Aussagesatz gewesen.

Halten wir bis hierhin fest: Es geht um die Wahrheitsbedingungen von Aussagen. Die

adäquate sprachliche Form für letztere sollen Aussagesätze sein. Untersucht werden

m. a. W. die Verwendungsbedingungen von Aussagesätzen unter der Perspektive, wann

die damit getätigten Aussagen wahr und wann sie falsch sind. Diesen Gebrauch der

Sprache nennt Austin konstativ.

Nun gibt es aber bei weitem nicht nur Aussagen und längst nicht alle Sätze sind Aus-

sagesätze. Hinzu kommt noch, dass nicht alle Aussagesätze zum Vollzug von Aussagen

benutzt und nicht alle Aussagen mittels Aussagesätzen vollzogen werden. Noch nicht

einmal alle Äußerungen werden mit sprachlichen Einheiten getätigt, die grammatisch
mit vollem Recht Satz genannt werden können. Für alles ein paar Beispiele:

Viel Spaß!

Hiermit löse ich unsere Verlobung.

Kann ich bei Euch mitmachen? Nein, zieh Leine.

Willst du mich heiraten? Ja, ich will.

Ach nee, Ihr hier?

5/8

Was wären Weihnachtsmärkte ohne Glühwein!

Ich verbiete Ihnen hiermit, in dieser Weise von meiner Verlobten zuen.

Vier Brötchen, bitte.

Nein.

Bitte geben Sie mir ein Bund Dill, ein paar hiervon und dann noch...

Mist, Mist, Mist!

Von nun an sollst du heißen: Brian.

Herzlichen Glückwunsch zum Erhalt des Titels ,, Verlobte des Monats"!

• Nicht alle Äußerungen sind Aussagen!

• Nicht alle Sätze sind Aussagesätze!

• Die Beschränkung auf Aussagen (= konstative

Äußerungen) bedeutet eine enorme

Beschränkung der Philosophie.

• Es ist nötig, die gewöhnliche Alltagssprache zu

untersuchen!

Dies ist das Credo der

⇒ORDINARY LANGUAGE PHILOSOPHY

Abbildung 5: Das Credo der Ordinary Language Philosophy

Wenn sich eine Philosophie also auf die Fahnen geschrieben hat, die Sprache und das

Sprechen zu ihrem Ausgangspunkt zu nehmen, dann sollte sie sich nicht auf einen ein-

zigen Gebrauch der Sprache beschränken. Also nicht nur den konstativen Gebrauch

untersuchen. Wie wir gleich sehen werden, stellt Austin dem konstativen Gebrauch der

Sprache einen performativen Gebrauch gegenüber. Aber auch nur, um diese Unter-

scheidung - dialektisch gesprochen wieder aufzuheben. Man könnte Austins Vorgehen


so skizzieren:

These:

Antithese:

Synthese:

konstativ

performativ

Illokution

(Fokus: Wahrheitsbedingungen)

(Fokus: Vollzug)

(Fokus: Sprechhandlung)

Oder mit Levinsons (2000: 257) Worten: ,,Die Zweiteilung in Performative und

Konstative wird also zugunsten einer allgemeinen, voll ausgebildeten Sprechakttheorie

verworfen".

Die These kennen wir schon. Die Antithese24 nun lautet: Nicht jeder Sprachgebrauch

ist unter wahr/falsch zu beobachten. Manchmal kommt es SprecherInnen stattdessen

einfach darauf an, solche Dinge wie z. B. Aufforderungen, Taufen, Entschuldigungen

oder Versprechen sprachlich zu vollziehen, wobei eben nicht die Frage von Wahrheit

oder Falschheit im Raum steht. Viel eher schon die Frage der Aufrichtigkeit, wie wir im

nächsten Kapitel sehen werden. Was heißt nun aber performativer Vollzug?

Noch einmal das neue, modifizierte Credo: Es ist nötig, die gesamte Breite des Sprach- gebrauchs zu
untersuchen. Erst dann kann eine Sprachphilosophie zu relevanten Ergeb- nissen gelangen. Es sollten
also nicht mehr nur die Wahrheitsbedingungen von Aussagen untersucht werden, sondern der
Sprachgebrauch insgesamt steht auf dem philo- sophischen Speiseplan. Die ganz normale Sprache
sollte den Untersuchungsgegenstand abgeben. Eine Weise, dies zu tun, nimmt vom späten
Wittgenstein ihren Ausgang. Dieser Ansatz wird in Lehrbüchern gern Gebrauchstheorie der
Bedeutung genannt. Sie wird uns noch interessieren, wenn wir uns mit Searle näher befassen.

43

Der späte Wittgenstein

Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes,,Bedeutung" - wenn auch nicht
für alle Fälle seiner Benützung - dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist sein
Gebrauch in der Sprache.

Und die Bedeutung eines Namens erklärt man manchmal dadurch, daß man auf seinen Träger zeigt.
(Wittgenstein 121999/zuerst 1953: 262f.)

Abbildung 6: Das Credo von Wittgenstein II

Die gewöhnliche, die normale Sprache zu untersuchen, dafür steht Austin. Schauen wir uns vielleicht
ein paar authentische Beispiele an, damit wir uns darüber Klarheit ver- schaffen, was das heißen
könnte. Es handelt sich um studentische Entschuldigungen, die einem Dozenten gemailt wurden. Der
Dozent hatte die Studierenden gebeten, Entschuldigungs-E-Mails an ihn zu schicken, wenn sie im
Seminar mal fehlen sollten. Sich diese Beispiele anzusehen, heißt also auch, zu beobachten, wie man
sich ent- schuldigt. Es wird darauf hinauslaufen, dass man versucht herauszufinden, was das is eib
eine Entschuldigung, und wie sie vollzogen wird. Und wie man vor des Ergebnisses des Vollzugs von
Entschuldigungen zur Beantwor 6/8 ge langt, was Entschuldigungen sind. Und einiges mehr. Aber
der Reihe nach.

(1) Sehr geehrter Herr xxx,

aus gesundheitlichen Gründen kann ich am xxx nicht zum Seminar erscheinen. Hiermit möchte ich
mein Fehlen entschuldigen.

Mit freundlichem Gruß

(2) Sehr geehrter Herr xxx,

ich bitte Sie, mich heute im Seminar zu entschuldigen, da ich völlig erkältet bin. Mit freundlichen
Grüßen

(3) sehr geehrter herr xxx,

hiermit entschuldige ich mein fehlen in der sitzung am vergangenen xxx [...]. mit freundlichen
grüssen

(4) Sehr geehrter Herr xxx,

ich möchte mich für mein Fehlen in der 2. Sitzung am xxx entschuldigen. Ich mußte an diesem Tag
nach xxx reisen, da [...]

Mit freundlichen Grüßen

(5) Sehr geehrter Hr. xxx,

ich bitte Sie, mich am xxx aus familiären Gründen beim Seminar xxx zu entschuldigen. [...]

Vielen Dank & Gruß

Abbildung 7: Authentische Entschuldigungs-E-Mails (Beispiele für performative Äuße- rungen)

Was fängt man damit an?

Zunächst ist auffällig, dass in allen E-Mails dasjenige erwähnt wird, was zu ent- schuldigen ist.
Auffällig ist dies deshalb, weil der Dozent um Entschuldigungs-E-Mails nur für den Fall gebeten hat,
da eine Sitzung nicht besucht werden kann. Man kann als These also festhalten: Bei einer brieflichen
Entschuldigung wird angegeben, weshalb man sich entschuldigt. Nur bei einer brieflichen? Denken
wir kurz an eine volle U-Bahn oder einen vollen Regionalzug. Sie treten jemandem auf den Fuß und
sagen kurz,,Ent- schuldigung". Hier werden Sie nicht unbedingt äußern - obwohl Sie es natürlich
könnten -,,Entschuldigen Sie bitte, dass ich Ihnen auf den Fuß getreten bin." Die Situation ist
eindeutig und in aller Regel schnell behoben. Der Anlass Ihrer Entschuldigung ist un- mittelbar
gegeben. Würden Sie sich aber einen Tag später bei dieser Person ent- schuldigen, so würden Sie
aller Voraussicht nach in Erinnerung rufen, weshalb. Halten wir also fest: Entschuldigungen bedürfen
der Angabe ihres Anlasses.

Was noch? Außer in (3) werden zudem noch Gründe angeführt, weswegen man nicht anwesend war
oder sein wird. Daraus ließe sich die These generieren: Wer sich ge- lingend entschuldigen möchte,
sollte Gründe angeben können, aus denen klar wird, dass

er/sie keine Schuld hat. In der U-Bahn-Szene mit dem Auf-den-Fuß-Treten würde dafür ein
einfaches,,Tut mir Leid, das wollte ich nicht." genügen.

In (1) und (3) erscheint jeweils ein sprechakttheoretisch ganz wichtiges Wort: das Pro- nominal- bzw.
Präpositionaladverb hiermit. Ein testweises Einsetzen in (2), (4) und (5) ergibt, dass dieses Wort auch
dort problemlos stehen könnte. Erzählen wir also eine kleine sprechakttheoretische Geschichte des
Wörtchens hiermit.

Die Bezeichnung Präpositionaladverb nimmt auf die Wortbildung des Adverbs Bezug. Es steht in
einer Reihe mit solchen Wörtern wie hierbei, hierauf, hieran, hierunter etc. und dabei, darauf, daran,
darunter usw. Alles Adverbien, die kompositional aus Ad- verb+Präposition bestehen. Die
Bezeichnung Pronominaladverb dagegen nimmt auf eine Funktion Bezug, dass nämlich dieses
Adverb für etwas stehen kann. Wofür steht hiermit also in (1)? Da nichts weiter geschrieben, gesagt,
geschickt wurde, kann es sich nur auf die gesamte E-Mail und im Engeren auf den Satz beziehen, in
dem das Wort vorkommt. Hiermit bezieht sich also in (1) auf Hiermit möchte ich mein Fehlen ent-
schuldigen und in (3) auf hiermit entschuldige ich mein Fehlen in der Sitzung am ver- gangenen...
Denn womit entschuldigt man sich? Mit eben genau diesem geäußerten Satz. Da sich hiermit also
auf den geäußerten Satz bezieht, in dem hiermit selbst vorkommt, ist es reflexiv. Und da es sich auf
dieses eine Vorkommnis bezieht, ist es token-bezogen (und nicht type-bezogen). Es handelt sich also
um eine token-reflexive sprachliche Ein- heit.

Äußerungen, in denen das Wörtchen hiermit als token-reflexive sprachliche Einheit auftaucht und
mit denen eine sprachliche Handlung vollzogen wird, sind performativ. Mit ihnen wird das vollzogen,
wovon man sagt, dass man es mit ihnen vollzieht. Mit hiermit entschuldige ich mein Fehlen in der
Sitzung am vergangenen... wird eine Ent- schuldigung vollzogen. Man tut, was man sagt, indem man
sagt, was man tut. Das würde nicht so ohne weiteres funktionieren, wenn Sie sagen: Hiermit laufe
ich 100 Meter in 9,72 Sekunden. Indem Sie dies sagen, laufen Sie nicht 100 Meter in 9,72 Sekunden.
Oder aber nur in wirklich sehr speziellen fiktionalen Kontexten, falls diese irgendwie vorstell- bar
sind.

Untersucht man den performativen Vollzug von Sprechhandlungen (wie z. B. Ent- schuldigungen), so
lässt sich eine sprachliche Form herausarbeiten, die sozusagen am explizitesten ist:

Handlung

SICH ENTSCHULDIGEN
Verb (1. Ps. Sg. Präs. Ind. Akt.)

performativ gebrauchtes illokutionäres Verb

Anlass (wofür) Präpositionalgruppe

Hiermit entschuldige ich mich bei Ihnen für mein gestriges Fehlen.

Pronominaladverb

token-reflexiv

Präpositionalgruppe Adressat (bei wem)

Personalpronomen (1. Ps. Sg.) Akteur (wer)

Abbildung 8: Die sprachliche Form des explizit performativen Vollzugs von Entschuldi- gungen (Über
den grammatischen Status von mich - als Reflexiv- oder Perso- nalpronomen - kann gestritten
werden. Und damit auch darüber, ob mich zum Verb gehört oder Objekt zum Verb ist.)

Vollzieht man auf diese Weise eine Entschuldigung, wird der Vollzug mit Austin ex- plizit performativ
genannt. Dass hiermit als token-reflexive Einheit auftaucht oder problemlos so gebraucht eingesetzt
werden könnte, ist ein könnte man sagen - Per- formativitätsindikator.

In diesem Kapitel haben wir den Aufstieg der Unterscheidung performativ vs. konstativ miterlebt.
Das nächste Kapitel wird sich kurz mit dem Fall dieser Austin'schen Unter- scheidung befassen. Es
wird dann auf die Synthese von konstativ vs. performativ hin- arbeiten. Ausgangspunkt wird sein,
dass konstative Äußerungen doch etwas mit Per- formativität zu tun haben und performative auch
etwas mit wahr oder falsch. Ein neues Beschreibungsinventar wird benötigt werden, um die
Synthese vorzubereiten. Dies ist das System der Austin'schen Unglücksfälle.

Für dieses zweite Kapitel sollte es aber gut sein mit der Definition von explizit per- formativer Vollzug
eines Sprechaktes. Die dafür geeigneten Äußerungen werden explizit performative Äußerung
genannt.

Einen Sprechakt explizit performativ zu vollziehen heißt, das zu tun, wovon man sagt, dass man es
tut, indem man sagt, dass man es tut.

Zwei grammatische Normalformen für explizit performative Äußerungen: 1.,,die Äußerung beginnt
mit einem Verb in der ersten Person Singular des Präsens Indikativ Aktiv, z.B.,Ich verspreche, zu...""

2.,,Die andere Form, die ganz gleichwertig ist, aber häufiger in

Äußerungen schriftlicher Art vorkommt, verwendet im Gegensatz dazu ein Verb im Passiv und in der
zweiten oder dritten Person des Präsens Indikativ, z.B.,Die Reisenden werden gebeten, beim
Überqueren der Gleise die Fußgängerbrücke zu benutzen.""

(Austin 2000: 134)

Als dritte Normalform ist natürlich darüber hinaus eine Äußerung mit einem performativen Verb in
der 1. Person Plural Indikativ Präsens Aktiv anzusehen, z.B.,,Hiermit bitten wir Sie, ...".

Abbildung 9: Definition von explizit performativer Vollzug


Na gut: hier doch ein kleiner Vorausblick auf das vierte Kapitel. Sie können sich schon einmal
vormerken, dass der Handlungscharakter einer Äußerung im Allgemeinen mit dem Terminus
Illokution erfasst wird, wobei {il-} ein Allomorph des Wortbildungs- morphems (in-} ist und der
gesamte Terminus übersetzt heißt: mittels des Ge- sprochenen. Eine Illokution ist also
vorausgreifend eine mittels der Äußerung voll- zogene oder vollziehbare sprachliche Handlung.
Dasjenige Verb, mit dem man auf eine solche sprachliche Handlung Bezug nehmen kann, heißt
illokutionäres Verb. Ent- schuldigen ist ein solches illokutionäres Verb. Und dasjenige illokutionäre
Verb, mit dem man eine Sprachhandlung explizit performativ vollziehen kann, heißt performatives
Verb. Entschuldigen ist ein solches performatives Verb.

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