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Guten Tag meine Damen und Herren,


schön, dass Sie wieder dabei sind.

Steigerungsbildungen

Wir wollen uns heute mit „Steigerungsbildungen“ beschäftigen. Damit sind Wörter wie saukalt, stockfinster,
urgesund, erzkonservativ, aalglatt, scheißegal, stockschwul, quietschfidel, strohdumm, sternhagelvoll,
hochpoetisch, brunzdumm, grottenschlecht, Affenhitze, Höllentempo, Bombenerfolg, Mordswut,
Riesenfußballer oder schnurstracks. In den meisten Wortbildungslehren werden Sie vergeblich nach diesem
Wortbildungstyp suchen. In den meisten werden die Wörter dieses Typs anderen Klassen zugeordnet oder
schlicht ignoriert. Um zu verstehen, wie es dazu kommt, sollten wir einen Blick in die Forschungsgeschichte
werfen.

Ältere Ansätze zur Behandlung dieser Bildungen

Die älteste mir bekannte Auseinandersetzung mit diesen Wörtern stammt von 1854, als Georg Brückner einen
Aufsatz über den „Volkssuperlativ im Hennebergischen“ veröffentlichte. Dabei handelt es sich um keine
wortbildungstheoretische Auseinandersetzung, es geht Brückner vielmehr um eine Beschreibung der Semantik
dieser Wörter und um die Zuordnung zu einer bestimmten Sprachschicht. Die Bezeichnung „Volkssuperlativ“
ist allerdings nur halb richtig, denn diese Bildungen sind zwar volkstümlich (heute würden wir
umgangssprachlich sagen), aber keineswegs Superlative, wie wir noch sehen werden.

Alexis Dony bezeichnete diese Wörter 1865 als „volksthümliche Begriffsverstärkungen“ und beschäftigte sich
dabei auch mit deren wortbildungstheoretischen Einordnung. Er rechnet sie zu den „Compsita“.
Diese Einordnung präzisiert hat Ludwig Tobler, indem er in seinem 1868 erschienenen Buch über die
Komposition, das für viele Jahre als Standardwerk gelten sollte, die Unterklasse „verstärkende Komposita“
einführte.

Obwohl Oskar Hauschild (1899) diese Einordnung nicht grundsätzlich in Frage stellte, erwähnte er doch, dass
diese Wörter untypische Komposita seien. Nicht nur dass er eine semantische Verkrüppelung festzustellen
glaubte, er bemerkte auch den untypischer Akzent.

Mit Müllers Aufsatz über die Sprachverstärkung begann 1899 die Aufteilung dieser Bildungen auf
verschiedene Wortbildungstypen, denn er bezeichnet ur- und erz- als Vorsilben (heute sagen wir Präfixe).

1947 erschien die bis in die 60er Jahre federführende Wortbildungslehre von Walter Henzen, die noch mehrere
Auflagen erlebte. Henzen teilt die hier betrachteten Wörter auf verschiedene Wortbildungstypen auf:
a. Determinativkomposita
- Vergleichsbildungen (steinhart, grasgrün)
- Erstglied mit rein verstärkendem Charakter (todsicher, mausetot). Wenn man davon ausgeht, dass
es sich hier um Komposita handelt, mag man dem Substantiv Tod u.U. gerade noch eine
verstärkende Semantik zurechnen, aber beim Substantiv Maus ist das absolut absurd.
- kein semantischer Zusammenhang zwischen Erst- und Zweitglied (blitzdumm)
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b. Zusammenrückungen (tiefblau). Henzen denkt, dass tiefblau dadurch entstanden ist, dass die
Adjektivphrase tief blau zu einem Wort verschmolzen ist.
c. Präfigierungen (uralt, erzfaul)

Fabian Berz promoviert 1953 über diese Wörter und bestätigt in seiner Dissertation die Unterteilung von
Henzen, was nicht verwundert, wenn man weiß, dass dieser sein Doktorvater war. Seine Arbeit ist die zu
diesem Zeitpunkt umfangreichste zu dem Thema und er gebraucht als erster den Terminus
„Steigerungsbildung“ als Überbegriff für alle diese Bildungen.

1969 löst die Wortbildungslehre von Wolfgang Fleischer diejenige von Henzen als das Standardwerk der
deutschen Wortbildung ab. Auch er nimmt keinen einheitlichen Wortbildungstyp Steigerungsbildung an,
sondern verteilt die dafür infragekommenden Wörter ebenso wie Henzen auf verschiedene
Wortbildungstypen, allerdings mit teilweise anderen Zuordnungen:
a. Determinativkomposita (triefnass, prasseldürr, tiefblau)
b. Kopulativkomposita (wildfremd, winzigklein)
c. Präfigierungen (Bildungen mit ur- erz- grund- und hoch-)
Er ordnet also auch grund- und hoch- als Präfixe ein. Daneben macht er sich auch über den Status von kreuz-,
blitz- und sau- Gedanken, wobei er zu dem Schluss kommt, dass nicht zu entscheiden sei, ob diese Präfixe oder
Kompositionsglieder wären.

Kühnhold / Putzer / Wellmann (1978) glauben, dass sich die Erstglieder von Steigerungsbildungen zwischen
Präfix und Kompositionsglied stünden, also als „Präfixoide“ zu klassifizieren wären. Präfixoide sind
Elemente, die normale Wortstämme waren und sich von diesen durch den häufigen Gebrauch als
Kompositionserstglieder semantisch entfernt haben. Nun sind sie auf dem Weg Präfixe zu werden, haben
diesen Zustand aber noch nicht ganz erreicht. Kühnhold / Putzer / Welmann bezeichnen viele Elemente als
Präfixoide, obwohl es höchst zweifelhaft ist, dass es im Gegenwartsdeutschen überhaupt welche gibt.

Hans Altmann entwickelte in den 80er Jahren als erster das Konzept eines eigenen Wortbildungstyps
„Steigerungsbildung“ (veröffentlicht in Altmann/Kemmerling, 2000) und ich habe dieses 1989 in meiner
Magisterarbeit (veröffentlicht in Pittner (1991) und (1996) ausgearbeitet. Dieser Ansatz geht davon aus, dass
die oben angesprochenen Wörter alle demselben Wortbildungstyp angehören, da sie sich in Bezug auf
morphologische Merkmale und in Bezug auf ihre Verwendungsmöglichkeiten nicht voneinander
unterscheiden.

Bedeutungsanalyse der hier behandelten Wörter

Werfen wir zunächst einen kurzen Blick auf die Semantik dieser Wörter. Schon seit Beginn der
Auseinandersetzung mit ihnen macht die Beschreibung ihrer Bedeutung Probleme.

Weise (1902:247) hat die in der Fachliteratur zur damaligen Zeit zu findenden Bedeutungsangaben zu dem
Wort mutterseelenallein (damals ein häufig diskutiertes Wort) zusammengetragen. Daran lässt sich ablesen,
wie schwer die Semantik dieser Wörter zu beschreiben ist, wenn man sie als Komposita sehen will, wenn man
also das Erstglied in Zusammenhang mit dem gleichlautenden frei vorkommenden Wort bringen will.
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Folgende Bedeutungsangaben findet Weise für das Wort mutterseelenallein, das in Wirklichkeit einfach nur
‚sehr allein‘ bedeutet:
a. Lehnübersetzung von franz. moi tout seul;
b. Verstümmelung von mit der Seele allein, also ‚ganz allein, nur von seiner Seele begleitet‘
c. ‚allein in Bezug auf alle anderen Menschen‘, nach der Redewendung keine Mutterseele in der
Bedeutung ‚niemand‘;
d. ‚allein wie eine Mutterseele‘; (Warum ausgerechnet eine Mutterseele besonders allein sein sollte, wird
natürlich nicht näher erörtert.)
e. ‚allein wie in der Mutter / im Mutterleibe‘;
f. ; allein wie die selig auf ihre Niederkunft wartende Mutter‘; (Wieso eine selig auf ihre Niederkunft
wartende Frau besonders allein sein soll, erschließt sich wohl kaum. Darüberhinaus kann man die
Bedeutungskomponente ‚auf die Niederkunft warten‘ sicher nicht in dem Wort Mutterseele finden.)
g. ‚so allein wie eine Mutter, der man ihr Kind weggenommen hat‘; (Stimmte diese Paraphrase auch nur
ansatzweise, müsste das Wort Mutterseele die Bedeutung ‚Mutter, der man ihr Kind weggenommen
hat‘ haben.)

Ähnliche Probleme verrät der folgende Wörterbucheintrag von Hans Weigel aus den 70er Jahren:
„hautnah sage ich nie, höre ich aber sehr oft. Gerade in den letzten Monaten ist eine förmliche
hautnah-Inflation zu registrieren. hautnah sagt sich gut, aber was soll es bedeuten? Stadtnähe bedeutet in der
Nähe der Stadt, hautnah heißt aber nicht in der Nähe der Haut; und hautnah kann auch nicht heißen: so nahe
wie die Haut. Meine Haut ist mir nicht nah, sondern mehr als nah. Andere Häute sind aber auch nicht extrem
nah von mir, außer in ganz bestimmten Situationen, etwa bei Clinch im Boxkampf. Das was derzeit gemeinhin
immer wieder als hautnah bezeichnet wird, hat eigentlich nichts oder fast nichts mit der Haut zu tun. Darum
sage ich nie hautnah.“ (Weigel 51975:69)

Weigel erkennt richtigerweise, dass hautnah semantisch nichts mit dem Substantiv Haut zu tun hat, zieht aber
die falschen Konsequenzen aus dieser Erkenntnis. Statt über eine Erklärung für diese Tatsache nachzudenken
und zu untersuchen, ob sich ein entsprechendes Problem auch bei anderen Wörtern findet, sieht er in dem Wort
hautnah eine stilistisch schlechte neumodische Verirrung, die es abzulehnen gilt.

Will man die Bedeutung der Steigerungsbildungen adäquat beschreiben, muss man zwischen denotativer und
konnotativer Bedeutung unterscheiden. Unter denotativer Bedeutung versteht man die kontext- und
situationsunabhängige Grundbedeutung, während die konnotative Bedeutung variabel, kontextabhängig und
subjektiv ist. Nehmen wir das Wort Nacht. Die denotative Grundbedeutung ist ‚Zeitraum zwischen
Sonnenuntergang und Sonnenaufgang‘. Daneben löst das Wort bei vielen SprecherInnen aber noch weitere
Konnotationen aus. So finden manche die Nacht eher bedrohlich, während andere damit romantische
Konnotationen haben. Für Nachtmenschen, wie ich es bin, ist die Nacht einfach die Tageszeit, in der man am
wenigsten müde und daher am produktivsten ist.

Die denotative Bedeutung der Steigerungsbildungen ist einfach zu erklären. Ihre Erstglieder (wir werden
diese „Steigerungsglieder“ nennen) verstärken den Inhalt des Grundwortes ähnlich, aber nicht völlig gleich
wie sehr. Diese zeigen an, dass die Bedeutung des Grundwortes in einen relativ hohen, aber nicht genau
fassbaren Grad vorhanden ist. Der Wortbildungstyp Steigerungsbildung ist also (ähnlich wie bestimmte
Steigerungspartikeln) eine Ersatzstrategie, mit der wir den im Deutschen nicht vorhandenen Elativ ersetzen.
Keineswegs ist die semantische Leistung der Steigerungsbildungen mit dem Superlativ gleichzusetzen.
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Eine skalare Abstufung der Steigerungsbildungen nach Steigerungsgliedern ist nicht möglich, d.h. wir können
wenn wir die Wörter kotz-, sterbens-, stink- und todlangweilig vergleichen, nicht sagen, welches Wort die
Eigenschaft der Langweiligkeit größtmöglich zur ausdrückt. Auch die Erhöhung der Anzahl der
Steigerungsglieder bewirkt keinen klar fassbaren höheren Grad der Intensivierung (vgl. kohl-, kohlpech-,
kohlpechraben-, kohlraben-, pech-, pechkohlraben-, pechraben-, raben- und tiefschwarz).

Die intensivierende Bedeutung ist wohl nicht von der Besetzung des Erstglieds abhängig, sondern von der
besonderen Struktur dieser Bildungen. Schon Hermann Paul weist darauf hin, dass es vermutlich nur darum
gehe, eine beliebige Lautkette als zusätzlichen Akzentträger voranzustellen, m.a.W. man muss nur deutlich
machen, das man das Wort nicht als Determinativkompositum interpretieren darf.

Gelegentlich schwingen mit Steigerungsgliedern bestimmte Konnotationen mit, die durchaus auch von der
Bedeutung der lautgleichen Wörter ausgelöst werden. Trotzdem kann man nicht sagen, dass diese Wörter in
den Steigerungsbildungen drinstecken.
In den folgenden Sätzen wird durch den sprachlichen Kontext festgelegt, ob das Wort kalt negative oder
positive Konnotationen auslösen soll. Im ersten Beispiel, in dem negative Konnotationen verlangt sind,
können wir arsch-, bitter-, eis-, hunde-, sau- und stinkekalt einsetzen, während im zweiten Satz, wo der
Kontext ein positiv konnotiertes kalt verlangt, nur noch eiskalt uneingeschränkt verwendet werden kann.
Saukalt und arschkalt können in bestimmten Varietäten des Deutschen mit positiver Konnotation verwendet
werden, die meisten SprecherInnen aber werden eine solche Verwendung ablehnen. Ganz eindeutig negativ
konnotiert sind die Adjektive bitter-, hunde- und stinkekalt.

Mach doch mal die Heizung an! Hier drin ist es ja arsch- / bitter- / eis- / hunde- / sau- / stinkekalt.
Bei der Hitze wäre ein ?arsch- / *bitter- / eis- / *hunde- / ?sau- / *stinkekaltes Bier das Richtige.

Produktivität

Schauen wir uns nun noch die Produktivität der Steigerungsbildungen an. Die Steigerungsbildung ist ein sehr
produktiver Wortbildungstyp, der viele Augenblicksbildungen hervorbringt. Nur wenige werden dauerhaft
gebräuchlich oder gar lexikalisiert. Daraus folgt, dass wir die Vertreter dieses Wortbildungstyps natürlich
überwiegend in der gesprochenen Sprache und da besonders in wenig formellen Kontexten finden. Auch das
Auftreten neuer Steigerungsglieder ist jederzeit möglich. Diese sind aber sehr oft nur kurzlebig und
sprachlichen Moden unterworfen So war wunder- im 18. Jahrhundert ein sehr produktiv Steigerungsglied, ist
aber heute kaum mehr für Neubildungen geeignet. Zwar verwenden wir noch die Wörter wunderschön und
wunderhübsch, aber Neubildungen wie wundergeil, wunderscharf, wunderheiß gibt es nicht, obwohl die zu
steigernden Adjektive zur selben semantischen Klasse wie schön und hübsch gehören.

Morphologische Beschreibung

Nach all diesen Vorüberlegungen können wir nun eine morphologische Beschreibung des Wortbildungstyps
Steigerungsbildung in Angriff nehmen.
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a. beteiligte Morphemklassen:
Eine Steigerungsbildung besteht aus einem oder mehreren Steigerungsglied(ern) und einem
Wortstamm. Dieser kann ein Adjektiv oder ein Substantiv sein. Das einzige mir bekannte Adverb
dieses Typs ist schnurstracks.

Ein Steigerungsglied kommt nicht frei vor auch wenn es oft mit Wörtern lautgleich ist. In der
intensivierenden Bedeutung ist die Lautkette aber nicht als Wort verwendbar. Die Erstglieder von
Steigerungsbildungen sind also keine Wortstämme. Daher können die Steigerungsbildungen auch
keine Komposita sein, auch keine eigene Subklasse. Ein Steigerungsglied tritt vorne an einen
Wortstamm heran und trägt immer einen starken Akzent, allerdings nicht den einzigen eines Wortes.
Dies schließt auch die Einordnung als Präfigierungen (und auch als Präfixoidbildungen) aus. Denn die
normalerweise nicht akzentuierten Präfixe können zwar in Ausnahmefall (un-, entlehnte Präfixe) den
Wortakzent tragen, lassen aber nie eine Doppelakzentuierung zu.

Manche Steigerungsglieder sind stark reihenbildend, d.h. es gibt viele Bildungen, die mit diesem
Steigerungsglied gebildet sind. Hier einige Beispiele:
- blitz-: blank, blau, dumm gefährlich, gescheit, geschwind, gewandt, jung, sauber, schnell;
- bomben-: fest, ruhig, sicher, Erfolg, Fußballer, Spiel, Flanke, Schuss, Leistung, Seminararbeit,
Vortrag, Aussehen, Freund, Politiker;
- grund-: anständig, böse, brav, ehrlich, falsch, faul, fest, fromm, gelehrt, geizig, gerecht, gescheit,
gesund, gut, gütig, hässlich, religiös, schlecht, solide, sonderbar, verdorben, verkehrt,
verschieden;
- erz-: böse, deutsch, dumm, faul, föderalistisch, katholisch, kommunistisch, konservativ, politisch,
reaktionär, Schuft, Gauner, Politiker, Konservativer, Rebell:
- sau-: blöd, dämlich, dumm, elend, frech, gemütlich, grob, gut, heiß, kalt, schlecht, stark, wohl;
- stock-: blind, besoffen, dumm, dunkel, finster, fremd, katholisch, konservativ, normal, nüchtern,
reaktionär, sauer, schwul, steif, still, taub;

Manche Steigerungsglieder treten weniger zahlreich auf, wie z.B.:


- affen-: geil, jung, scharf, scheußlich, hässlich, Tempo, Zahn;
- brand-: aktuell, eilig, gefährlich, heiß, neu;

Daneben gibt es aber auch Einzelbildungen, wie bärenstark, bockstark, brunzdumm, gallenbitter,
gertenschlank, kerzengerade, klapperdürr, kunterbunt, mopsfidel, nagelneu, potthässlich, schlohweiß
zappenduster usw., bei denen das Erstglied nur in einem Wort vorkommt. Die Übergänge zwischen
den drei Gruppen sind selbstverständlich fließend.

Gelegentlich (aber eher selten) tritt mehr als ein Steigerungsglied auf, wobei auch eine Wiederholung
des Steigerungsglieds (u.U. mit Ablaut) vorkommen kann:
hundsmiserabelelend, funkelnagelneu, mucksmäuschenstill, mutterseelenallein, nigelnagelneu,
sperrangelweit, kohlpechrabenschwarz, ururalt, bitterbitterböse u.a.

b. Wortakzent
Ebenso wie bei den Kopoulativkomposita ist der Wortakzent auf allen Bestandteilen gleich stark
(úrgesúnd, áffengéil, ríppelráppelvóll), wobei auch hier der letzte Akzent gelegentlich stärker
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empfunden wird. Bei dreigliedrigen Wörtern wird der mittlere Akzent aus rhythmischen Gründen
gelegentlich abgesenkt, was uns auch schon von den Kopulativkomposita her bekannt ist.

c. Reihenfolge der beteiligten Elemente


Die Reihenfolge der beteiligten Teile ist fest, d.h. das Steigerungsglied (bzw. die Steigerungsglieder)
steht vor dem zu steigernde Wortstamm.

d. kategoriebestimmender Teil
Die Kategoire des Gesamtworts wird vom Zweitglied bestimmt, d.h. steigert man ein Adjektiv, erhält
man wieder ein Adjektiv, steigert man ein Substantiv, erhält man erneut ein Substantiv, das auch das
Genus des Ausgangswortes behält.

Zum Abschluss müssen wir noch über die Abgrenzung zu Wortgruppen aus Steigerungspartikel und
Adjektiv sprechen. Man könnte nämlich meinen, dass Steigerungsbildungen wie saugut gar keine Wörter,
sondern Wortgruppen wären, und die Erstglieder einfach als Steigerungspartikeln interpretieren.
Dazu ist Folgendes zu sagen. Steigerungspartikeln sind alleine Wörter, d.h. Sie bilden keine feste Verbindung
mit dem gesteigerten Adjektiv. Steigerungsglieder bilden dagegen eine feste Verbindung (also ein neues Wort)
mit dem Grundwort. Um dies zu zeigen, betrachten wir die folgenden Beispiele. In (1) können wir sehr gut und
saugut beliebig austauschen. Auch in (2) kann man dies und die Frage dadurch beantworten, dass man das
Adjektiv gut intensiviert und in den Fokus einer passenden Fokuspartikel (z.B. sehr) stellt. (3) zeigt, dass man
bei der Antwort gut weglassen kann, wenn es mit einer Steigerungspartikel gesteigert wird, nicht aber, wenn es
Teil einer Steigerungsbildung ist. Dieser Befund zeigt, dass Steigerungspartikeln selbständige Wörter sind,
daher können sie alleine im Fokus der Fokuspartikel stehen. Steigerungsglieder dagegen können das nicht,
denn sie kommen nicht frei vor, sind also keine Wörter.

(1) Er spielt sehr gut / saugut.


(2) Er spielt gut? – Sehr gut sogar. / Saugut sogar.
(3) Er spielt gut? – Sehr sogar. / *Sau sogar.

Literatur

Altmann, H. und S. Kemmerling (2000): Wortbildung fürs Examen. Wiesbaden


Berz, F. (1953): Der Kompositionstyp steinreich. Diss. Bern
Brückner, G. (1854): Der Volkssuperlativ im Hennebergischen. In: Die deutschen Mundarten 1, 222-230
Dony, A. (1865): Ueber einige volksthümliche Begriffsverstärkungen bei deutschen und englischen
Adjektiven. In: Bericht über die höhere Bürgerschule zu Spremberg. Spremberg
Erben, J. (21983): Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. Berlin
Fleischer, W. (1969): Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. Leipzig
Hauschild, O. (1899): Die verstärkende Zusammensetzung bei Eigenschaftswörtern im Deutschen.
Wissenschaftliche Beilage zum Jahresbericht des Wilhelm-Gymnasiums in Hamburg. Ostern 1899. Hamburg
Henzen, W. (31963): Deutsche Wortbildung. Tübingen (1. Auflage 1947)
Kühnhold, I., O. Putzer und H. Wellmann (1978): Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der
Gegenwartssprache. Dritter Hauptteil. Das Adjektiv. Düsseldorf
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Müller, K. (1899): Die Verstärkung des sprachlichen Ausdrucks. In: Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen
Sprachvereins XIV, Spalte 6-14
Paul, H. (1920): Deutsche Grammatik Bd. V, Teil IV: Wortbildungslehre. Halle a. d. S.
Pittner, R.J. (1991): Der Wortbildungstyp Steigerungsbildung im Deutschen. In: Eberhard Klein, Françoise,
Puradier Duteil und Karl Heinz Wagner (Hg.): Betriebslinguistik und Linguistikbetrieb. Akten des 24.
Linguistischen Kolloquiums, Universität Bremen, 4.-6. Septemer 1989. Bd. 1. Tübingen, 225-231
(=Linguistische Arbeiten 260)
Pittner, R.J. (1996): Der Wortbildungstyp Steigerungsbildung beim Adjektiv im Neuhochdeutschen. In:
Sprache & Sprachen 19, 29-67
Tobler, L. (1868): Über die Wortzusammensetzung nebst einem Anhang über verstärkende
Zusammensetzungen. Berlin
Weigel, H. (51975): Die Leiden der jungen Wörter. Zürich, München
Weise, O. (1902): Worterklärungen. In: Zeitschrift für deutsche Wortforschung III, 241-249

Wenden wir uns nun den Analysen zu, die Sie vorbereitet haben:

(DK) UntersuchungsergebnisSubst

(Suffig) UntersuchungSubst -s-FE (Suffig) ErgebnisSubst

(Präfig) untersuchPräfix -ungSuffix (Präfig) ergebV -nisSuffix

unter-Präfix suchV er-Präfix gebV

(DK) MitternachtsüberraschungSubst

(DK) MitternachtSubst sFE (Suffig) ÜberraschungSubst

MitteSubst rFE NachtSubst überraschV -ungSuffix

Das Verb überrasch lässt sich synchron betrachtet nicht weiteranalysieren, da das Verb rasch mittlerweile,
zumindest im Standarddeutschen, ausgestorben ist. Sprachgeschichtlich betrachtet lässt sich die Analyse auf
folgende Art und Weise vervollständigen:
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(Präfig) überraschV

über-Präfix (LexKonv) *raschV

raschAdj

Hinweis: Diesen Teil der Analyse müssten Sie in Ihrer Prüfung bzw. Hausarbeit nicht durchführen.

(DK) SittlichkeitsvergehenSubst

(Suffig) SittlichkeitSubst sFE (SyntKonv) VergehenSubst

(Suffig) sittlichAdj -keitSuffix (Präfig) vergehV

Sitt(e)Subst -lichSuffix ver-Präfix gehV

Bei der Suffigierung des Substantivs Sitte ist das e weggefallen, vermutlich aus Gründen der Sprachökonomie
(Einsparung einer Silbe).
Das Substantiv Vergehen wurde durch Syntaktische Konversion vom Verb vergeh abgeleitet, indem der
Infinitiv konvertiert wurde, d.h. aus einer Flexionsform des Verbs wurde der Stamm des Substantivs und diese
Umwandlung lässt sich bei allen Infinitiven durchführen.
Bei dem präfigierten Verb vergeh lässt sich der semantische Zusammenhang zum Verb geh nur noch schwer
herstellen. Die eigentliche Bedeutung von vergeh ist ‚in die falsche Richtung gehen‘ (vgl. sich verlaufen, sich
verfahren). Die hier vorliegende Bedeutung (‚etwas Falsches tun‘) hat sich erst danach entwickelt.

(Kopf-Schwanz-Wort) FüllerSubst

(DK) FüllfederhalterSubst

füllV (DK) FederhalterSubst

FederSubst (Suffig) HalterSubst

haltV -erSuffix

Der Zusammenhang zwischen Füller und Füllfederhalter ist wahrscheinlich nicht allen von Ihnen geläufig.
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Nachdem man zunächst Federkiele zum Schreiben in Tinte getaucht hat, wurden diese irgendwann durch sog.
Metallfedern ersetzt, die aber nur sehr klein sind (so wie heute die Füllerspitzen). Deshalb musste man sie in
eine Verlängerung (üblicherweise aus Holz) klemmen, damit man bequem schreiben konnte. Diese
Verlängerungen nannte man Federhalter. Im Laufe der Zeit konstruierte man Federhalter aus Metall (später
aus Kunststoff), die innen hohl waren, so dass man sie mit Tinte füllen konnte, was den Vorteil hatte, dass man
die Feder nicht ständig in das Tintenfass tauchen musste. Diese Geräte erhielten den Namen Füllfederhalter,
was zu Füller gekürzt wurde. Dass bei den heutigen Füllern die Tinte nicht mehr offen nachgefüllt wird,
sondern in Plastikpatronen eingesetzt wird, hat zu keiner Namensänderung geführt, allerdings ist die Langform
weitgehend verschwunden.

Kommen wir zu dem Wort Röhrchenzähner, das eine Säugetierfamilie bezeichnet, die heute nur noch durch
das Erdferkel vertreten wird und sich durch Zähne auszeichnet, die innen hohl sind.

(Suffig) RöhrchenzähnerSubst

(DK) RöhrchenzahnSubst -erSuffix

(Suffig) RöhrchenSubst ZahnSubst

RohrSubst -chenSuffix

Zum Abschluss noch etwas zur Einstimmung auf die Adventszeit:

(DK) WeihnachtsbaumbehangSubst

(DK) WeihnachtsbaumSubst BehangSubst

(DK) WeihnachtSubst sFE BaumSubst

weihV NachtSubst

Beim dem Wort Weihnacht ist Ihnen vielleicht in den Sinn gekommen, dass es ja auch die Form Weihnachten
gibt und Sie haben sich vielleicht gefragt, wie die beiden zusammenhängen. Weihnachten ist ein alter Plural
von Weihnacht und es gibt deshalb zwei Bezeichnungen, weil Sie entweder die eine Nacht (vom 24. auf 25.
12.), in der Jesus geboren worden sein soll, im Blick haben können oder aber das gesamte mehrtägige
Weihnachtsfest (24. – 26. 12.).
Unstrittig ist, dass das Erstglied von Weihnacht der Verbstamm weih ist. Umstritten ist allerdings die genaue
Bedeutung. Während die einen glauben, dass Weihnacht ‚die geweihte Nacht‘ ist (man spricht ja auch von der
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Heiligen Nacht), meinen die anderen, dass damit ‚die Nacht, in der geweiht wird‘ gemeint ist. Hierfür spricht,
dass es früher üblich war, in der Nacht vom 24. auf 25. 12. mit einem Weihrauchfass und mit Weihwasser
bewaffnet durch die Räume des Hauses und auch der Nebengebäude (Stall, Scheune usw.) zu gehen, um diese
zu segnen.
Auf dem ersten Blicken könnten wir versucht sein, dass Wort Behang mit dem Verb behäng in Verbindung
bringen zu wollen (Lexikalische Konversion), doch lässt sich so nicht erklären, warum das Verb einen Umlaut
hat und das Substantiv nicht. Tatsächlich ist Behang eine Lexikalische Konversion, allerdings nicht von
behäng, sondern vom Verb behang, das ‚herabhängen‘ bedeutet hat und mittlerweile ausgestorben ist. Nur
noch das vom Partizip II. abgeleitete Adjektiv behangen ist noch gebräuchlich. Daher kann das Substantiv
Behang synchron nicht mehr analysiert werden.

Sollte Sie die Langeweile hinterrücks überfallen, würde ich zur Analyse der folgenden Wörter raten:
Abfallentsorgungsunternehmen, Unbesiegbare und Blutgerinnsel;

Bis zum nächsten Mal


Robert J. Pittner

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