Sie sind auf Seite 1von 17

ZUM WAHRHEITSPROBLEM BEI KANT

von Gerold Prauss, Bonn

Der Transzendentalen Analytik, die in der Kritik der reinen Vernunft die
Erste Abteilung der Transzendentalen Logik bildet*, schickt Kant eine Einleitfing
voraus. In knappen vier Kapiteln entwirft er hier die Idee einer transzendentalen
Logik 2, die er im folgenden dann ausführt.
Dieser einleitende Entwurf besteht im wesentlichen darin, die transzendentale
Logik von einer ändern Art von Logik abzugrenzen. Diese nennt Kant die „all-
gemeine" und „reine" Logik und kennzeichnet sie mit allen wesentlichen Merk-
malen derjenigen Wissenschaft, die man unter dem Namen der formalen Logik
kennt. Sie „abstrahiert ... von allem Inhalt" der Erkenntnisse, d. h. „von aller
Beziehung derselben auf das Objekt", und „betraditet nur die logische Form im
Verhältnisse der Erkenntnisse auf einander" 3. Als eine „Wissenschaft", die es „mit
lauter Prinzipien a priori zu tun ... hat" 4, ist sie, genau wie die Mathematik 5,
„eine demonstrierte Doktrin, und alles muß in ihr völlig a priori gewiß sein" 6.
Von dieser formalen Logik soll sich nun die transzendentale Logik in einem ent-
scheidenden Punkt unterscheiden. Obwohl ebenfalls allgemein und rein und auf
Prinzipien a priori gegründet, soll sie dennoch eine Logik sein, „in der man nicht
von allem Inhalt der Erkenntnis ... d. i. von aller Beziehung derselben auf das
Objekt", sondern nur von „empirischem Inhalt" abstrahiert. Sie wird mithin von
Kant als eine Wissenschaft gedacht, „welche bloß die Regeln des reinen Denkens
eines Gegenstandes" 7 behandelt. Sie besteht in der Erkenntnis, „daß und wie ge-
wisse Vorstellungen (Anschauungen oder Begriffe)", obwohl sie „gar nicht empiri-
schen Ursprungs sind ... sich gleichwohl a priori auf Gegenstände der Erfahrung
beziehen"8. Das heißt, sie ist die Erkenntnis derjenigen allgemeinen und reinen
Bedingungen, die jedesmal erfüllt sein müssen, wenn so etwas wie Erfahrung, und

1
Vgl. Bd. 3, S. 83, 2. 1—4. Der Kantisdie Text wird hier und im folgenden nadi
der Akademie-Ausgabe zitiert.
2
Vgl. Bd. 3, S. 75, 2. 5 f.
3
Vgl. Bd. 3, S. 76, 2. 33 f. mit S. 77, 2. 22—24.
4
Bd. 3, S. 76, 2. 15, 2. 29.
5
Vgl. dazu z. B. Bd. 3, S. 477, S. 481.
' Bd. 3, S. 77, 2. l f.
7
Bd. 3, S. 77, 2. 22—31.
8
Bd. 3, S. 78, 2. 8—15.

166
das heißt: empirische Erkenntnis eines empirischen Gegenstandes bzw. der empiri-
sche Gegenstand einer empirischen Erkenntnis, vorliegen soll.
Inmitten dieser Abgrenzung der transzendentalen Logik von der formalen
schneidet nun Kant ganz unvermittelt ein Problem an, das auf den ersten Blick
gar nichts damit zu tun zu haben scheint, nämlich das Wahrheitsproblem: „Die alte
und berühmte Frage, womit man die Logiker in die Enge zu treiben vermeinte ...
ist diese: Was ist Wahrheit?"9 Erst im weiteren erhellt, daß zwischen jener Ab-
grenzung der transzendentalen von der formalen Logik und der Frage „Was ist
Wahrheit?" ein wichtiger Zusammenhang bestehen muß.
Er wird allerdings von dem äußerst knapp gefaßten und stellenweise fast schon
mißverständlichen Text dieser Einleitung großenteils verdeckt. Daher soll im fol-
genden versucht werden, durch eine Analyse dieses Textes jenen Zusammenhang
aufzudecken und damit zugleich den eigentlichen Gedankengang, den Kant hier
geht, freizulegen.
Sogleich der erste Satz, den Kant der Frage „Was ist Wahrheit?" folgen läßt,
ist mehrfach mißverstanden worden. Kant fährt fort: „Die Namenerklärung der
Wahrheit, daß sie nämlich die Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegen-
stande sei, wird hier geschenkt und vorausgesetzt" 10. Diesen Satz versteht zum
Beispiel Hegel so, als sei mit dem „hier" diese Einleitung und somit die Kritik der
reinen Vernunft gemeint: so als wolle Kant selbst eine philosophische Lehre vor-
tragen, für welche diese Namenerklärung der Wahrheit „geschenkt und voraus-
gesetzt" wird u. Aber auch Brentano 12 und im Anschluß an ihn Heidegger13 ver-
stehen jenen Satz so wie Hegel.
Aus einer Reihe von Stellen der Kritik der reinen Vernunft geht jedoch genau
das Gegenteil hervor. Die Wahrheit als Übereinstimmung der Erkenntnis mit ih-
rem Gegenstand wird hier so wenig „geschenkt" oder „vorausgesetzt", daß sie
vielmehr in gewissem Sinne, der noch zu erläutern ist, sogar ihr eigentliches Thema
bildet14, so daß gerade die transzendentale Logik, wie Kant selbst schon bald
nach jenem Satz bemerkt, „eine Logik der Wahrheit" 15 ist.
Wenn also das „hier" jenes Satzes sich nicht auf die Kritik der reinen Vernunft
beziehen kann, worauf bezieht es sich dann? — Die Antwort hierauf ergibt sich,

• Bd. 3, S. 79, Z. 5—9.


10
Bd. 3, S. 79, Z. 9—11.
11
Vgl. Hegel, Wissenschaft der Logik, Werke, hg. Glöckner, Bd. 5, S. 27.
12
Vgl. Brentano, Wahrheit und Evidenz, Leipzig 1930, S. 13.
13
Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, 8.'Aufl. Tübingen 1957, S. 215.
14
Vgl. z. B. Bd. 3, S. 145, Z. 21—25; S. 169, Z. 8—14; S. 203, Z. 14—19; S. 337,
Z. 33; S. 426, Z. 31 ff.; S. 532, Z 6 f. und Z. 14 ff.
« Bd. 3, S. 82, Z. 6, vgl. audi S. 130, Z. 26, S. 139, Z. 7—10, S. 202, Z. 16. Vgl. dazu
audi Friedridi Maywald, Über Kants transzendentale Logik oder die Logik der Wahrheit,
Ardi. i. Gesch. d. Philos., Bd. 25, 1912, S. 426. Diese Kennzeichnung bezieht sich natür-
lich jeweils speziell auf die Transzendentale Analytik, während die Transzendentale Dia-
lektik speziell eine „Logik des Scheins" ist. Da sie aber gerade zur Aufdeckung dieses
Scheins dient, kann durchaus die Transzendentale Logik im ganzen als eine Logik der
Wahrheit gelten. Vgl. Bd. 3, S. 82, Z. 24—29. ·

167
wenn man einmal genauer den Sinn des vorhergehenden Satzes ins Auge fa t1β.
W hrend sein Hauptsatz im Pr sens steht, in dem Kant durchwegs seine Lehren
darlegt, tritt im Nebensatz ganz pl tzlich und ausnahmsweise historisch-erz h-
lendes Imperfekt auf. Darin wird deutlich, da Kant hier kurz auf eine historisch
berlieferte Situation Bezug nimmt, in der „man", gemeint sind sicherlich die
Skeptiker17, den Logikern die Wahrheitsfrage stellte, um sie damit „in die Enge
zu treiben" 18.
Doch gilt es zu beachten, da Kant auf diese historische Situation nicht um ihrer
selbst willen anspielt. Ihm geht es dabei nicht um einen historischen Bericht. An
dieser historischen Situation interessiert ihn vielmehr nur das Typische. Deshalb
steht auch alles Folgende19, obwohl es ganz auf diese Situation bezogen bleibt,
sogleich wieder im Pr sens 20.
Damit kl rt sich der eigentliche Bezug des „hier". Auch mit ihm zielt Kant auf
das Typische jener Situation: Wenn man dem Logiker die Frage „Was ist Wahr-
heit?" vorlegt — wie dies zum Beispiel damals in der Antike geschah —, so wird
dabei die Namenerkl rung der Wahrheit als bereinstimmung der Erkenntnis mit
ihrem Gegenstand „geschenkt und vorausgesetzt". Allerdings ist zuzugeben, da
dieses „hier", zusammen mit dem Gebrauch des Pr sens, sehr leicht den Eindruck
hervorrufen kann, als meine Kant damit die Kritik der reinen Vernunft und mit-
hin seine eigene Lehre: die transzendentale Logik. In Wahrheit aber steht diese
ganze Er rterung gerade im Dienste der Abgrenzung der transzendentalen von
der formalen Logik, die Kant, wie gezeigt, in dieser Einleitung, diesem Entwurf
der Idee einer transzendentalen Logik, vollzieht. Gerade am Wahrheitsproblem
scheiden sich offenbar prinzipiell die Wege der formalen und der transzendentalen
Logik 21. Kant selber legt, wie es scheint, die Frage „Was ist Wahrheit?" durchaus
16
Einen Hinweis auf den Sinn dieses Satzes und damit auf den eigentlichen Bezugs-
punkt des „hier" verdanke ich einem noch unver ffentlichten Aufsatz von Manfred
Kleinschnieder, Bonn. Er legt berzeugend dar, da Kant hier h chstwahrscheinlich auf
eine historisch berlieferte Frage-Antwort-Situation der Antike anspielt, in welche die
Logiker durch die Skeptiker verwickelt wurden. Als Quelle Kants kommt daf r entweder
Sextus Empirikus selbst in Frage, in dessen Sdirift Προς μαθηματικούς das siebte Buch
Προς τους λογικούς gerichtet ist, oder, was wahrscheinlicher w re, eine bisher nicht iden-
tifizierte sekund re Quelle, die ihrerseits auf Sextus Empirikus zur ckgeht. Vgl. dazu
jetzt Georgio Tonelli, Kant und die antiken Skeptiker in Studien zu Kants philosophi-
scher Entwicklung (= Studien und Materialien zur Geschichte der Philosophie, hg. H.
Heimsoeth, D. Henrich, G. Tonelli, Bd. 6), Hildesheim 1967, besonders S. 93 und Anm. 2,
ferner S. 98 f., S. 107.
17
Vgl. z. B. Logik, Bd. 9, S. 50, Z. 11.
18
Bd. 3, S. 79, Z. 5 f.
19
Mit Ausnahme der Klammer „(wie die Alten sagten)", die als historische Reminiszenz
nat rlich ebenfalls im Imperfekt steht (vgl. S. 79, Z. 19).
20
Das wird in Zeile 11 besonders deutlich. Kant sagt dort nicht etwa „man verlangte
aber zu wissen...", sondern „man verlangt aber zu wissen...". Und das hei t eben
soviel wie „wenn man (wie damals) einem Logiker diese Frage stellt, so verlangt man
damit zu wissen...". Vgl. dazu auch Locke, £$$aj, Buch 4, Kap. 5, § 1.
21
Das zeigt sich deutlich auch noch an ndern Stellen bei Kant, beispielsweise in der
Reflexion 2162.

168
nicht, wie jene Skeptiker, den Logikern, sondern gerade sich selbst, dem Transzen-
dentalphilosophen, vor. Und jene Namenerklärung der Wahrheit, die man
„schenkt und voraussetzt", wenn man den formalen Logiker nach dem Wesen
der Wahrheit fragt, schenkt Kant, wie erwähnt, sich selbst keineswegs.
Mag nun dieser Bezug jenes „hier" auf den ersten Blick auch plausibel erschei-
nen, so führt er doch bei näherem Zusehen in neue Schwierigkeiten. Denn wenn
aus ihm hervorgeht, daß Kant die Abgrenzung der transzendentalen Logik von
der formalen an Hand der Wahrheitsfrage vornimmt, und zwar in dem Sinne, daß
diese Frage ebenso wie ihre Antwort eigentlich in den Bereich der transzendentalen
Logik fallen, — wie ist dann zu verstehen, daß er von dieser Frage sagt, daß sie
„an sich ungereimt ist", und von den Antworten auf diese Frage, daß sie „un-
nötige" bzw. ebenfalls „ungereimte" Antworten sind? 22. Damit will doch Kant
nicht etwa eingestehen, daß er sich in seiner transzendentalen Logik, dieser „Logik
der Wahrheit", damit beschäftigt, auf eine ungereimte Frage unnötige und unge-
reimte Antworten zu geben. Was sonst aber will Kant damit sagen?
Um das einzusehen, bedarf es zunächst einer sprachlich-grammatischen Erörte-
rung. Der Satz, der jene Aussage Kants formuliert, lautet im ganzen: „ ... wenn
die Frage an sich ungereimt ist und unnötige Antworten verlangt ...". Es handelt
sich um einen jener häufigen Sätze, die sprachlich zwar in Form eines Bedingungs-
satzes („wenn") auftreten, im Rahmen des Kontextes jedoch die logische Funktion
einer begründenden Assertion erfüllen, die sich logisch aus einem Bedingungssatz
und der entsprechenden Assertion zusammensetzt, und die man sprachlich in der
Regel mit „weil" oder „da" einleitet. Jenes „wenn" bringt es nun im Deutschen
mit sich, daß in dem Satz, dem es einleitend voraustritt, eine Inversion von Prädi-
kat und Prädikatsnomen erfolgt: aus „Die Sonne scheint warm" wird „Wenn die
Sonne warm scheint...".
Solche Inversion vollzieht nun auch der fragliche Satz bei Kant, so daß das Prä-
dikat „ist" hinter das Prädikatsnomen „ungereimt" tritt. Dies wiederum bedingt,
daß die Ausdrücke „Frage", „an sich", „ungereimt" zueinander in Unmittelbar-
stellung treten, woraus sich eine Doppeldeutigkeit ergibt. Auf Grund seiner Mittel-
stellung kann man nämlich, sprachlich gesehen, das „an sich" sowohl mit „die
Frage ..." als auch mit „ ... ungereimt" in Beziehung setzen. Doch auf Grund von
Ausdrücken wie „Ding an sich", „Sache an sich" usw., die man im Ohr hat, wird
man leicht dazu verführt, das „an sich" ohne weitere Überlegung auf „die Fra-
ge ..." zu beziehen und somit „die Frage an sich ist ungereimt" zu lesen, was
dann soviel heißt wie „die Frage als solche ist ungereimt". Das aber führt zu der
erwähnten Schwierigkeit. Nicht nur Kant selbst in seiner transzendentalen Logik,
sondern auch alle Philosophen vor ihm und nach ihm hätten sich dann, sofern sie
nach dem Wesen der Wahrheit fragten, mit einer Frage abgegeben, die als solche
ungereimt ist.

22
Vgl. Bd. 3, S. 79, Z. 15—18.

169
Doch diese Auflösung der Inversion ist dadurch, daß die Sprache sie erlaubt,
nicht auch schon vom Gedanken her gerechtfertigt. Sie legt sich nur dem Leser
nahe, der das „an sich", das auf Grund der Inversion auf „die Frage" bloß folgt,
vorschnell auch darauf bezieht. Sprachlich ist nämlich auch die andere Auflösung
möglich, die überdies in keinerlei gedankliche Konflikte führt. Die Inversion in
„wenn die Frage an sich ungereimt ist" kann man ohne weiteres auch in „die Frage
ist an sich ungereimt" auflösen, wobei sich das „an sich" auf „ungereimt" bezieht.
Es handelt sich dann um jenes umgangssprachlich gängige „an sich", wofür man
in der Regel „eigentlich" sagt, so daß sich als Sinn ergibt: „die Frage ist eigentlich
ungereimt".
Was haben wir aber mit diesem Ergebnis gewonnen? Was denn ist nun „eigent-
lich ungereimt"? Zwar nicht die Frage „Was ist Wahrheit?" als solche, so ergab
sich, doch anderseits auf jeden Fall diese Wahrheitsfrage. Wenn aber nicht als
solche, als welche dann?
Um das zu sehen, ist es nötig, sich vor Augen zu halten, daß Kant in diesem
Kapitel III der Einleitung zur Transzendentalen Analytik von Anfang an nur auf
die formale Logik und auf den formalen Logiker zielt. Das geht schon aus der
Überschrift hervor, die nur von der „allgemeinen Logik" spricht23, worunter bei
Kant, wie bemerkt, die formale Logik zu verstehen ist. Dodi auch sogleich im er-
sten Satz führt Kant die Frage „Was ist Wahrheit?" nicht einfach als solche, son-
dern von vornherein als den formalen Logikern gestellte Frage ein, nämlich als
eine Frage, „womit man die Logiker 24 in die Enge zu treiben vermeinte ..." 25.
Die Frage „Was ist Wahrheit?", die durchaus nicht als solche ungereimt, sondern
als eine transzendentale Frage Thema der transzendentalen Logik ist, wird also
nach Kant zu einer ungereimten Frage dadurch, daß man sie dem formalen Logi-
ker stellt2e.
23
Bd. 3, S. 79, Z. 2.
24
Daß Kant, wenn er kurzerhand von den „Logikern" sprldit, immer die formalen
Logiker meint, geht beispielsweise audi aus Bd. 3, S. 76, Z. 31 hervor. In derselben ver-
kürzenden Redeweise nennt er auch die formale Logik öfters nur die „Logik" (z. B. Bd. 3,
S. 141, Z. 29 und mehrfach in der gerade behandelten Einleitung, vgl. z. B. S. 80, Z. 2,
Z. 14, Z. 16, Z. 20, Z. 27, Z. 29). Niemals aber nennt er etwa umgekehrt die transzen-
dentale Logik nur „Logik" oder gar den Transzendentalphilosophen einfadi nur „Logi-
ker".
25
Bd. 3, S. 79, Z. 5 f.
28
Ganz intuitiv tut Kant hier also etwas sehr Vernünftiges: Die methodische Reflexion
der Moderne weist immer wieder mit Recht darauf hin, daß Ausdrücke, die man im Rah-
men der Umgangssprache formulieren und auch bis zu einem gewissen Grad verstehen
kann, als solche nicht notwendigerweise auch schon einen präzisen Sinn haben. Dafür ist
die Umgangssprache, da sie den verschiedensten Zwecken dienen und dazu flexibel blei-
ben muß,"viel zu vage. Das gilt auch für die Wahrheitsfrage. Wie alle ändern umgangs-
sprachlidi-unpräzisen Ausdrücke bekommt auch sie einen präzisen und nadiprüfbaren
Sinn erst dadurch, daß man sie in den Rahmen eines schon bestehenden oder noch zu er-
richtenden Systems hineinnimmt, dessen Aufbau genau definierten Regeln gehorcht. Die
Wahrheitsfrage als solche, d. h. als nur umgangsspradilich formulierte, wäre also noch
weder ,gereimt* noch ,ungereimt'. Für Kant ergibt sich dann aber das Interessante, daß sie

170
Damit klärt sich auf, warum Kant hier so unvermittelt das Wahrheitsproblem
anschneidet. Im Entwurf der Idee einer transzendentalen Logik, den er in dieser
Einleitung als Abgrenzung der transzendentalen von der formalen Logik gestaltet,
spielt dieses Problem in der Tat die entscheidende Rolle. Da die formale Logik von
allem, die transzendentale Logik dagegen durchaus nicht von allem Inhalt der
Erkenntnis abstrahiert, Wahrheit aber „gerade diesen Inhalt angeht" 27, führt die
Frage nach dem Wesen dieser Wahrheit geradezu auf das Kriterium des wesen-
haften Unterschiedes dieser beiden Wissenschaften. Die transzendentale Logik trägt
nach Kant ihre Auszeichnung darin, daß nur in ihrem Rahmen die Frage nach
dem Wesen der Wahrheit sinnvoll gestellt und beantwortet werden kann, wäh-
rend sie im Rahmen der formalen Logik ungereimt wird. Was Wahrheit ist, kann
diese so wenig behandeln, daß sie es vielmehr, um überhaupt sein zu können, was
sie ist, schon ,schenken und voraussetzen* muß 28.
Den Zweck jener Abgrenzung erreicht also Kant hier auf dem kürzesten Weg.
In wenigen, aber einprägsamen Strichen schildert er an Hand eines konkreten
Beispiels die schwierige Situation, in die der formale Logiker gerät, wenn man
ihm die transzendentallogische Frage „Was ist Wahrheit?" stellt. Und da nun
der Charakter dieser Situation im allgemeinen ermittelt ist, läßt sie sich auch in
ihren Einzelheiten leicht begreifen.
Als erstes gilt es zu beachten, daß Kant durchaus nidit sagen will, daß ein for-
maler Logiker, dem man die Wahrheitsfrage stellt, in Schwierigkeiten geraten
muß. Daher versieht er seinen Bericht über jenen antiken Versuch, die Logiker
„in die Enge zu treiben", sogleich mit der Beurteilung, daß man damit die Logiker
nur „in die Enge zu treiben vermeinte" 29. Der Sache nach zieht nämlich diese
Frage für den Logiker durchaus nicht zwangsläufig eine schwierige Situation nach
sich. Und zwar ganz einfach deshalb nicht, weil er diese Frage, da sie gar nicht in
den Rahmen seiner Wissenschaft gehört, auch gar nicht zu beantworten braucht.
Zwar hat auch der formale Logiker mit Wahrheit insofern zu tun, als er sich
mit dem beschäftigt, was wahr oder falsch sein kann, nämlich mit Erkenntnis-

ungereimt wird, wenn man sie, wie sidi wohl sdion umgangsspraddidi nahelegen dürfte,
auf die formale Logik bezieht, indem man sie nämlidi als Frage nadi der Wahrheit auf-
faßt, die im Gegensatz zur Falsdiheit steht. Auf ein anderes System bezogen und damit
dann audi anders aufgefaßt, wird sie jedoch, nach Kant, nidit nur gereimt, sondern so-
gar beantwortbar.
27
Bd. 3, S. 79, Z. 28 f.
28
Wie treffend diese Kennzeichnung des Wesens der formalen Logik durch Kant bis
heute geblieben ist, zeigt sidi deutlich zum Beispiel bei Quine. Den ersten Paragraphen
seiner Metbod$ of Logic (2. Aufl. New York 1959) beginnt er mit der sdiliditen Fest-
stellung: "The peculiarity of Statements... is that they admit of truth and falsity..."
Der Sinn von „Wahrheit" wird für den Aufbau der formalen Logik audi von ihm „ge-
schenkt und vorausgesetzt", so sehr, daß er die entsprechende Namenerklärung der Wahr-
heit als "a comraonplace" aus der eigentlichen formalen Logik ausklammert und eigens
in eine Introduction plaziert (vgl. S. XI).
29
Bd. 3, S. 79, Z. 5 f.; kursiv von mir.

171
scn 30 bzw, mit Urteilen. Als formaler Logiker betrachtet er aber lediglich „die
logische Form im Verhältnisse der Erkenntnisse auf einander*'31. Er legt in „all-
gemeinen und notwendigen Regeln des Verstandes" die „logische Form" fest, der
jede Erkenntnis „völlig gemäß sein" muß, wenn anders sie nicht allein schon durch
ihre logische Form falsch sein soll32. Denn was diesen Regeln, die für Kant sich
letztlich auf den Satz des zu vermeidenden Widerspruchs reduzieren, „wider-
spricht, ist falsch, weil der Verstand dabei ... sich selbst widerstreitet" 33. Als eine
Antwort auf die Frage „Was ist Wahrheit?" aber können solche formallogischen
Regeln niemals auftreten, „denn ein Erkenntnis, welches sich widerspricht, ist
zwar falsch, wenn es sich aber nicht widerspricht, nicht allemal wahr" 34, sondern,
wie wir heute sagen, nur konsistent 35. Anders ausgedrückt: Mit der Angabe der
bloß „negativen Bedingungen aller Wahrheit" ist die Frage nach dem Wesen der
Wahrheit noch nicht beantwortet, „weiter aber kann die Logik nicht gehen"n.
Mag damit nun zwar feststehen, daß die Antwort auf die Wahrheitsfrage gar
nicht Sache des Logikers ist, so geht doch Kant in jenem ersten Satz gerade von der
Situation aus, in der man eben diese Frage dem Logiker stellt. Und mag auch fest-
stehen, daß diese Frage von der Sache her den Logiker nicht zwangsläufig in
Schwierigkeiten bringen muß, so bleiben doch immer noch zwei Möglichkeiten,
nämlich daß der Logiker dies weiß, oder daß er es nicht weiß.

80
Hier ist zu beaditen, daß Kant das Wort „Erkenntnis", anders als es heute iiblidi ist,
in einem Sinn verwendet, in dem man nicht nur von wahren, sondern auch von falsdien
Erkenntnissen spredien kann. Vgl. dazu z. B. Bd. 3, S. 79, Z. 22: „... eine Erkenntnis ist
falsch, wenn sie ..." — Der Gebrauch von „Erkenntnis" in diesem Sinn, d. h. gleich-
bedeutend mit „Urteil", findet sich vor Kant zum Beispiel auch schon bei George Fried-
rich Meier im Auszug aus der Vernunftlehre, Halle 1752; vgl. z. B. Bd. 16, S. 237 ff.
31
Bd. 3, S. 77, Z. 23 f.
32
Vgl. Bd. 3, S. 80, Z. 3 mit Z. 9.
33
Bd. 3, S. 80, Z. 5 f.
34
Logik, Bd. 9, S. 51, Z. 32 f.
35
Hier zeigt sich auch, daß für Kant die formale Logik es eigentlich nur mit der logi-
schen Falschheit bzw. Konsistenz zu tun hat. Die logische Wahrheit dagegen, die inzwi-
schen große Wichtigkeit erlangt hat, wird als etwas Triviales (vgl. z. B. Quine, Metbods of
Logic, S. 29: " 'Validity' is not to be thought of äs a term of praise. When a Schema is
valid, any Statement whose form that sdiema depicts is bound to be, in some sense,
trivial. It will be trivial in the sense that it conveys no real Information...") von Kant
nicht einmal erwähnt. — Die logische Wahrheit, von der Kant gelegentlich spricht (vgl.
z. B. Logik, Bd. 9, S. 51 f.), darf mit der logisdien Wahrheit im modernen Sinne nicht
verwechselt werden. Kant versteht darunter lediglich diejenige Erkenntnis, die „logisch
gegründet" ist, faktisch aber durchaus falsch sein kann. — Seine Theorie der analytischen
Urteile, die dem modernen Begriff der logischen Wahrheit am nächsten kommt, erwähnt
er hier gar nicht. Vgl. dagegen Bd. 3, S. 141 ff.
36
Bd. 3, S. 80, Z. 14 f. Tut sie dies dennoch, nimmt sie die bloß „negativen" oder
bloß „notwendigen" Bedingungen der Wahrheit, über die sie verfügt, für die hinreichen-
den, so gibt sie sich als ein „Organon" der Wahrheitserkenntnis aus, wird damit aber in
Wahrheit zur „Logik des Scheins", die Kant als „Dialektik" von der eigentlichen Logik
als einer „Analytik" abgrenzt. Vgl. dazu Bd. 3, S. 80 f., ferner Reflexion 2177.

172
Weiß er es, so wird er diese Frage mit guten Gründen zurückweisen und auf-
zeigen, an wen sie eigentlich zu richten ist. Die Tatsache, daß er sie nicht beant-
worten kann, wird dann auf keinen Fall als „Unwissenheit" des Logikers gelten
können, in der sich die „Eitelkeit" seiner ganzen Wissenschaft offenbart37. Denn
Unwissenheit dieser Art kann überhaupt nur dort vorliegen, wo das entsprechende
Wissen grundsätzlich möglich ist, also keinesfalls im Rahmen der formalen, son-
dern allenfalls in der transzendentalen Logik. -
Was aber würde es bedeuten, wenn der Logiker dies wüßte und von daher nie-
mals in die Enge getrieben werden könnte? Im Grunde nichts geringeres, als daß
er den transzendentalen Grundgedanken schon gefaßt und mithin bereits den
ersten und entscheidenden Schritt von der formalen zur transzendentalen Logik ge-
macht hätte. Eben das ist aber vor Kant gerade nicht geschehen. Die Transzenden-
talphilosophie, die er begründet, sucht man vor ihm vergebens. Deshalb geht auch
Kant hier von vornherein nur von jener zweiten Möglichkeit aus: weder die be-
fragten Logiker noch die fragenden Skeptiker wissen um diese Eigentümlichkeit
der Wahrheitsfrage. Der einzige, der dies weiß und dieses Wissen in dem Urteil
„ ... vermeinte" 88 auch zum Ausdruck bringt, ist Kant selber, der Transzenden-
talphilosoph.
Doch noch ein Zweites gilt es zu beachten. Das Wissen von der Eigenart der
Wahrheitsfrage, also letztlich die Transzendentalphilosophie, gibt es erst seit Kant,
gewiß, diese Frage selber aber stellte man trotzdem lange vor Kant und versuchte
sich daran, sie zu beantworten. Obwohl sie also als solche durchaus nicht ungereimt
ist, so schwebte sie vor Kant doch ständig in Gefahr, in den Anschein der Un-
gereimtheit zu geraten. Denn da sie vor Begründung der Transzendentalphiloso-
phie eigentlich noch gar keine eigene Bleibe besaß, mußte sie sich notgedrungen
immer wieder in einem ihr fremden Bereich, nämlich dem formalen Logiker
stellen, der mit Wahrheit, wie bemerkt, immerhin etwas zu tun hat.
Wenn mithin Kant von vornherein nur davon ausgeht, daß die Wahrheitsfrage,
in ihrer Eigenart noch unerkannt, den formalen Logiker in unlösbare Schwierig-
keiten bringt, so kennzeichnet er damit nicht nur jene geschichtlich überlieferte
Situation, die ihm als Beispiel dient, und auch nicht nur eine bestimmte typische
Situation, sondern mit all dem zugleich auch noch das Typische der Situation
überhaupt, in der sich die gesamte Geschichte der Philosophie vor ihm befunden
hat. Und indem er dabei jene Schwierigkeiten, in welche die formalen Logiker
geraten, im einzelnen herausstellt, demonstriert er ganz konkret die sachliche Not-
wendigkeit, diese unhaltbare Situation zu bereinigen. Es gilt, die Wahrheitsfrage
ganz aus dem Bereich der formalen Logik herauszunehmen und ihr mit der Neu-
begründung einer anderen, der transzendentalen Logik, ihren eigenen Boden zu
bereiten, auf dem sie, gegen jeden Anschein von Ungereimtheit gesichert, sich
stellen kann.

3
? Bd. 3, S. 79, Z. 7 f.
28
Bd. 3, S. 79, Z. 6.

173
Welches sind nun jene Schwierigkeiten, die diese Frage dem Logiker bereitet und
bereiten muß, solange ihr transzendentaler Charakter noch verborgen ist? Auch
hier bestehen wieder zwei Möglichkeiten. In Unwissenheit darüber befangen, daß
diese Frage ebensowenig wie ihre Antwort in den Bereich ihrer Wissenschaft fällt,
können die formalen Logiker, wenn man sie ihnen dennoch stellt, die Antwort
nur entweder versuchen oder schuldig bleiben, d. h. „ihre Unwissenheit, mithin
die Eitelkeit ihrer ganzen Kunst bekennen" 39. Denn dem formalen Logiker ge-
stellt, der prinzipiell „nur die logische Form im Verhältnisse der Erkenntnisse
auf einander" 40 zum Thema hat, also immer wieder nur von einzelnen Erkennt-
nissen handelt, verlangt diese Frage nichts geringeres zu wissen, als „welches das
allgemeine und sichere Kriterium der Wahrheit einer jeden Erkenntnis sei" 41.
Wie aber sollte der formale Logiker wohl in der Lage sein, ein solches Ver-
langen zu erfüllen?
Als Frage nach der Wahrheit fragt sie den Logiker nämlich nach der Überein-
stimmung einer jeden Erkenntnis mit ihrem jeweiligen Gegenstand. Denn die
Namenerklärung der Wahrheit wird dabei ja „geschenkt und vorausgesetzt" 42.
Wenn Wahrheit aber „in der Übereinstimmung einer Erkenntnis mit ihrem Ge-
genstande besteht, so muß dadurch dieser Gegenstand von anderen unterschieden
werden; denn eine Erkenntnis ist falsch, wenn sie mit dem Gegenstande, worauf
sie bezogen wird, nicht übereinstimmt, ob sie gleidi etwas enthält, was wohl von
anderen Gegenständen gelten könnte" 43.
Jedoch in die „Was ist .. ,?"-Form gekleidet, fragt jene Frage nach dem Wesen,
das bekanntlich nur durch Angabe eines Allgemeinen' und ,hinreichenden' 44 Kri-
teriums umgrenzt werden kann. Nun müßte aber ein „allgemeines Kriterium der
Wahrheit" gerade ein solches sein, das „von allen Erkenntnissen ohne Unter-
schied ihrer Gegenstände gültig wäre" 45. Doch anderseits kommt es hier, da Wahr-
heit in der Übereinstimmung der einzelnen Erkenntnisse mit ihrem jeweiligen
Gegenstand bestehen soll, gerade auf den Unterschied dieser Gegenstände an. Die
Frage „Was ist Wahrheit?" muß also in diesem Sinne, den sie als Frage an den
Logiker bekommt, ohne Antwort bleiben. Der formale Logiker kann sonach in der
Tat nicht umhin, seine diesbezügliche „Unwissenheit" zu „bekennen".

39
Bd. 3, S. 79, Z. 7 f.
40
Bd. 3, S. 77, Z. 23 f.
41
Bd. 3, S. 79, Z. 11 f. Dieser Satz „man verlangt aber zu wissen..." ist nur zu ver-
stehen, wenn man ihn als Deutung des Sinns jener Wahrheitsfrage liest. Er will sagen:
„Wenn man die Frage „Was ist Wahrheit?" dem Logiker stellt, so verlangt man damit
zu wissen...". Vgl. audi oben Anm. 20.
42
Bd. 3, S. 79, Z. 11.
43
Bd. 3, S. 79, Z. 20—24.
44
Wenn Kant hier (Bd. 3, S. 79, Z. 12) von einem „sidieren" Kriterium spridit, so
meint er damit, wie z. B. ein Vergleidi mit Zeile 30 f. zeigt, sidierlich ein „hinreidiendes"
Kriterium. Vgl. auch S. 80, Z. 8, Z. 26.
45
Bd. 3, S. 79, Z. 25 f.

174
Nun besteht aber noch jene andere Möglichkeit. Der formale Logiker, der auf
die Wahrheitsfrage keine Antwort gibt, sondern seine Unwissenheit bekennt, weiß
zwar nicht um jene prinzipielle, jedoch durchaus um diese faktische Unmöglich-
keit dieser Antwort. Indes ist sehr wohl denkbar, daß der formale Logiker nicht
einmal dies weiß und von daher auf die Frage „Was ist Wahrheit?" eine Antwort
zu geben versucht. Allen formalen Logikern nun, die das versuchen, hält Kant vor,
daß sie sich dabei „auf einer elenden Diallele . betreffen lassen" müssen46. Ge-
nau diese Logiker sind es auch, gegen die sich im besonderen die Charakterisie-
rung richtet, die Kant mit leise spöttischem Unterton im zweiten Absatz dieses
Kapitels 47 vorträgt.
Kant geht hier davon aus, daß es „ein großer und nötiger Beweis der Klugheit
oder Einsicht" ist, „zu wissen, was man vernünftiger Weise fragen solle". Diese
Klugheit und Einsicht lassen sowohl diejenigen vermissen, die den Logikern die
Wahrheitsfrage stellen, welche dadurch „ungereimt" wird und „unnötige Ant-
worten verlangt", als auch die Logiker selbst, solange sie nicht wissen, daß diese
Frage prinzipiell nicht in den Rahmen ihrer Wissenschaft gehört. So trifft die
„Beschämung dessen, der sie aufwirft", auch noch den Logiker, der sie, indem er
seine diesbezügliche Unwissenheit bekennt, als berechtigt akzeptiert. In den
eigentlichen „Nachteil" aber bringt diese Frage denjenigen „unbehutsamen An-
hörer derselben", den sie „zu ungereimten Antworten zu verleiten" vermag. Er
nämlich bietet „den beladienswerten Anblick", daß er dem, der „den Bock melkt",
zu allem auch noch „ein Sieb unterhält".
Was versteht nun Kant hier unter „Diallele", und wie sieht der Versuch der
Logiker im einzelnen aus, der in diese Diallele führt? Da die Kritik der reinen
Vernunft darüber wenig Aufschluß gibt, sind hier die Stellen zu Rate zu ziehen,
an denen Kant ausführlicher dartut, welchen Sinn er damit verbindet, im wesent-
lichen also seine Reflexionen zur Logik48.
Doch ist aus der Kritik der reinen Vernunft immerhin noch zu ersehen, wel-
chen Weg jener Versuch der Logiker, die Wahrheitsfrage zu beantworten, allein
nehmen kann. Die Namenerklärung der Wahrheit als Übereinstimmung der Er-
kenntnis mit ihrem Gegenstand ist dafür, wie Kant ausführt, schon „geschenkt
und vorausgesetzt". Denn jeder, der in die geschilderte Situation überhaupt soll
46
Bd. 3, S. 79, Z. 7. Statt „Diallele" hat die zweite Auflage „Dialexe". Dies jedodi
dürfte, als hapax legomenon bei Kant, mit Sicherheit ein Druckfehler sein, der beim
Neusatz der zweiten Auflage unterlaufen ist. Wie die Reflexionen 2143 und 2151 zeigen,
neigte Kant dazu, dieses Wort in der fehlerhaften Form „Dialele" der ersten Auflage zu
sdireiben.
47
Vgl. zum folgenden Bd. 3, S. 79, Z. 13—19.
48
Natürlich nützt auch die von Jäsche zusammengestellte Logik. Dodi ist hier Vor-
sicht geboten, insbesondere im Hinblick auf alle Ausführungen, die sich zwar bei Jäsche,
nicht aber bei Kant selbst finden. Das gilt in diesem Fall vor allem für die Stelle, wo
Jäsdie diese Diallele als „Zirkel" kennzeichnet (Bd. 9, S. 50, Z. 9 f)· Kant selbst spridit
nämlidi immer wieder nur von einer Diallele (vgl. die Reflexionen 2143 und 2151, ferner
in anderem Zusammenhang audi Kritik der Urteilskraft, Bd. 5, S. 381, Z. 29), obwohl ihm
Wort und Begriff des Zirkels durchaus geläufig sind.

175
eintreten können, muß über den Sinn von „Wahrheit" schon verfügen, wenn er
die Frage „Was ist Wahrheit?" stellen oder beantworten oder auch nur verstehen
will. Ober diesen Sinn unterrichtet nun, nach Kant, die Namenerklärung, die
Nominaldefinition. Sie besteht darin, zu einem gegebenen Ausdruck einen ande-
ren, und in der Regel sachlich informativeren, Ausdruck anzugeben, der in allen
möglichen Kontexten, in denen der erstere auftritt, salva veritate für ihn substi-
tuiert werden kann 49. Will also der Logiker jene Frage beantworten, so muß er
anzugeben suchen, worin die Übereinstimmung einer Erkenntnis mit ihrem Gegen-
stand besteht. Denn wenn jene Namenerklärung schon geschenkt und vorausge-
setzt ist, fragt die Frage „Was ist Wahrheit?" von vornherein nichts anderes als
„Was ist Übereinstimmung einer Erkenntnis mit ihrem Gegenstand?".
Nun steht aber ferner schon fest, daß der formale Logiker es immer nur mit
einzelnen Erkenntnissen zu tun hat. Von daher bleibt ihm gar nichts anderes
übrig, als an solchen einzelnen Erkenntnissen und entsprechend auch an einzelnen
Gegenständen zu erläutern, was jeweils unter der Übereinstimmung dieser Er-
kenntnisse mit ihren jeweiligen Gegenständen zu verstehen ist.
Nehmen wir also an, er versucht dies beispielsweise an der wahren Erkenntnis
bzw. an dem wahren Urteil50 „Die Sonne scheint" zu zeigen. Welches ist der
Gegenstand dieses Urteils? Ohne Zweifel die Tatsache, daß die Sonne scheint51.
Damit ergibt sich für den formalen Logiker zunächst durchaus eine Möglichkeit,
auf jene Frage nach der Übereinstimmung einer .Erkenntnis mit ihrem Gegen-
stand eine Antwort zu geben: Zu behaupten, daß mein Urteil „Die Sonne scheint"
wahr ist bzw. mit seinem Gegenstand übereinstimmt, so kann er sagen, heißt
nichts anderes, als zu behaupten: „Ich urteile ,Die Sonne scheint' und die Sonne
scheint [tatsächlich]." Oder anders ausgedrückt: Das Urteil „Die Sonne scheint"
ist wahr bzw. stimmt mit seinem Gegenstand überein, weil die Sonne scheint.
Der formale Logiker hat sogar die Möglichkeit, diesen Ansatz auf seine Weise,
nämlich mit Hilfe von Variablen, für alle wahren Urteile zu verallgemeinern.
Eine solche Verallgemeinerung könnte dann etwa lauten: „X ist wahr, weil p",
wobei „X" Variable für den Namen eines beliebigen wahren Urteils ist, den man
umgangssprachlich mit Hilfe von Anführungszeichen bildet, und „p" Variable
für dieses Urteil selbst. Nun tritt aber das „weil" hier nur deshalb auf, da schon
vorausgesetzt ist, daß allein von tatsächlich wahren Urteilen die Rede sein soll.
Das kann man aber auch offen lassen, indem man „wenn" statt „weil" schreibt,
also „X ist wahr, wenn p" und „X ist falsch, wenn nicht p", wofür man be-
kanntlich kürzer auch schreiben kann „X ist wahr dann und nur dann, wenn p".
Wohin also führen letztlich Kants Überlegungen hinsichtlich der Möglichkeit
der formalen Logiker, die Frage „Was ist Wahrheit?" zu beantworten? Auf ge-
49
Vgl. dazu Kants Kennzeichnung der Nominaldefinition in Bd. 4, S. 158, Z. 30 f.
50
Vgl. dazu oben, Anm. 30.
51
Hier ist von einem zu bestimmter Zeit und an bestimmtem Ort auf Grund aktualer
Wahrnehmung gefällten wahren Urteil und der von diesem Urteil ausgedrückten Tat-
sache die Rede.

176
nau den Ansatzpunkt, den seit Tarski die moderne Semantik wählt. Denn eben
dies ist die Formel, mit der zum Beispiel Stegmüller in seiner Darstellung den
Ansatz Tarskis wiedergibt52.
Doch ist hier sogleich zu bemerken, daß dieser Ansatz durchaus nicht bean-
sprucht, jene Frage „Was ist Wahrheit?" zu beantworten 53. Vielmehr geht es hier
nur darum, .in scharfer Trennung von Objekt- und Metasprache ein formales
System zu errichten, das eine Handhabung des Prädikats „wahr" gestattet, die
nicht in Antinomien führt. Wenn mithin Kant den formalen Logikern die Mög-
lichkeit abspricht, im Rahmen und mit den Mitteln ihrer Wissenschaft die Wahr-
heitsfrage zu beantworten, so trifft dies nur diejenigen unter ihnen, die der Mei-
nung sind, daß sie dies könnten. Also nur wenn Tarski und die modernen Se-
mantiker diesen Anspruch tatsächlich erheben sollten, träfe sie der Vorwurf Kants,
daß sie sich dabei „auf einer elenden Diallele ... betreffen" lassen müssen.
Was nun Kant mit dieser .Diallele meint, geht deutlich aus seiner Reflexion
2143 hervor. Sie setzt ein mit dem Satz „Mein Urteil soll mit dem Objekt über-
einstimmen" und geht mithin genau von den Überlegungen der Kritik der reinen
Vernunft aus, die soeben erläutert wurden. Es soll gelten „X ist wahr bzw.
stimmt mit seinem Gegenstand überein, weil p". Darauf fährt Kant fort: „Nun
kann ich das Objekt nur mit meiner Erkenntnis vergleichen dadurch, daß ich es
erkenne. Dialele"54. Damit vollzieht er einen Schritt der Reflexion auf etwas,
das durch diese Formel leicht verdeckt werden kann. Da in ihr der Ausdruck
„X ist wahr ..." von einem Urteil, der Ausdruck „ ... p" dagegen von einer
Tatsache spricht, so entsteht der Eindruck, als werde hier tatsächlich eine Erkennt-
nis bzw. ein Urteil unmittelbar mit seinem Gegenstand verglichen, so daß sich
dabei dann die Wahrheit dieses Urteils, seine Obereinstimmung mit diesem Ge-
genstand ergibt. In Wirklichkeit bedarf man aber, um überhaupt von einem sol-
chen Gegenstand reden zu können, eines Urteils. Und zwar genau desjenigen Ur-
teils, welchem man dann, indem man von ihm selbst und nicht mehr von seinem
Gegenstand redet, Wahrheit zuspricht. Das Urteil, das man fällt, wenn man
„ ... p" sagt, muß also zunächst einmal selber Wahrheit besitzen, damit man
dann mit Hilfe von „X" auf es Bezug nehmen und gültig von ihm aussagen
kann „X ist wahr ...". So muß auch etwa Sokrates selber Weisheit besitzen,
wenn man gültig von ihm aussagen will „Sokrates ist weise". Genau auf diese
Wahrheit, die alle jene Formeln, direkt oder indirekt, schon voraussetzen, zielt
aber die dem Logiker gestellte Frage „Was ist Wahrheit?". Nennt er als Antwort
darauf eine jener Formeln, die nur die Handhabung des Prädikats „wahr" re-
geln, so erklärt er Wahrheit durch Wahrheit und verstrickt sich damit in der Tat
in eine Diallele 55.
52
Stegmüller, Das Wahrheitsproblem und die Idee der Semantik, Wien 1957, S. 2,
S. 20 f.
53
Vgl. z. B. Stegmüller, S. 15.
54
Und nahezu wörtlich steht dies audi in der Logik, vgL Bd. 9, S. 50, Z. 4 f.
55
Diese Diallele kommt in jener Formel bei Stegmüller, die als Äquivalenz auftritt,
besonders deutlich zum Ausdruck. Mehr ist dem formalen Logiker im Rahmen seiner

177
Für Kant ist damit endgültig erwiesen, daß im Rahmen der formalen Logik
die Wahrheitsfrage ohne Antwort bleiben muß und mithin leicht den Anschein
erwecken kann, als sei sie überhaupt ungereimt. Soll ihr daher der Sinn, den sie
für Kant durchaus hat, gesichert werden, so bedarf es der Besinnung darauf, wel-
cher Sinn dies eigentlich ist, was vernünftigerweise mit dieser Frage überhaupt ge-
fragt sein kann. Für den formalen Logiker, der es nur mit einzelnen Erkenntnis-
sen bzw. Urteilen zu tun hat, ist dabei von vornherein schon so weit klar, was mit
„Urteil", „Gegenstand" und ihrer „Übereinstimmung" gemeint ist, daß die Frage
„Was ist Wahrheit?" hier gar keinen rediten Anhalt mehr findet, um sich über-
haupt sinnvoll stellen zu können. Das zeigt sich deutlich, wenn Kant sagt, daß
die Namenerklärung der Wahrheit hier geschenkt und vorausgesetzt wird. Diese
Namenerklärung besteht für Kant nämlich darin, daß für das fragliche Wort
„andere und verständlichere Wörter unterlegt" M, d. h. substituiert werden. Und
in der Tat: „Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstand" ist für den
formalen Logiker nicht nur „verständlicher" als „Wahrheit". Als das, wobei er
es ein für alle Mal bewenden läßt, ist dies für ihn geradezu das letztlich und
schlechthin Verständliche 57, so daß er sich, wenn er auf jene Frage eine Antwort
geben soll, nur noch in einer Diallele hin und her bewegen und immer wieder
auf dasselbe zurückkommen kann.
Wie aber wenn der eigentliche Sinn dieser Frage erst dem aufginge, der sich
nicht, wie der formale Logiker, mit einzelnen Erkenntnissen beschäftigt und dafür
den Sinn von Erkenntnis überhaupt, Gegenstand überhaupt, schon als selbstver-
ständlich voraussetzt, sondern der, wie Kant, gerade danach fragt? 58 Auch Kant
setzt nämlich, wie bemerkt59, bei jener Namenerklärung der Wahrheit an. Nur
nimmt er von hier aus genau die entgegengesetzte Richtung. Was dem formalen
Logiker ganz selbstverständlich ist, nämlich Wahrheit als „Übereinstimmung der
Erkenntnis mit ihrem Gegenstand", ist für Kant gerade das Problem. Denn was

Wissenschaft nicht möglich. Audi Quine bemerkt: "A fundamental way of deciding
whether a Statement is true is by comparing it ... with the worid — or, which is nearest
we can come, by comparing it with our experience of the worid" (vgl. Metbods of
Logic, S. XI).
Bd. 4, S. 158, Z. 31.
57
Hier sei noch einmal an Quine erinnert, der dies als "a commonplace" in die Intro-
duction seiner Metbods of Logic setzt, vgl. S. XL
58
Diese eigentlich philosophische Frage wird bis heute erörtert und ist auch da, wo
dies nicht eigens erwähnt wird, eine letztlich transzendentalphilosophisdie Frage. Vgl.
z. B. Günther Patzig, Satz und Tatsache, in Argumentationen, Festschrift für Josef König,
Göttingen 1964; Wilhelm Kamiah, Der moderne Wahrbeitsbegriff, in Einsichten, Fest-
schrift für Gerhard Krüger, Frankfurt am Main 1962; Ernst Tugendhat, Tarskis semanti-
scbe Definition der Wahrheit und ihre Stellung innerhalb der Geschichte des Wahrheits-
problems im logischen Positivismus, Philos. Rundschau, Bd. 8, 1960; oder auch die Samm-
lung Truth, hg. George Pitcher, Prentice Hall 1964. — Aber auch z. B. Stegmüller stößt
auf diese Frage, nämlich genau dort, wo er feststellen muß, daß im Hinblick auf das Ver-
hältnis von Satz und Tatsache noch Probleme bestehen, vgl. Stegmüller, S. 140, Anm. 21;
dazu auch Patzig, S. 189.
59
Vgl. oben Anm. 14.

178
sind überhaupt Erkenntnis und ihr Gegenstand, so daß sie, wenn sie faktisch vor-
liegen, mit einander übereinstimmen oder nicht übereinstimmen? Genau dies ist
die Frage, mit der Kant die formale Logik verläßt und die transzendentale
Logik eröffnet: Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit es überhaupt so
etwas gibt, das sich auf etwas anderes so bezieht, daß es in diesem Bezug Erkennt-
nis dieses anderen, und dieses andere sein Gegenstand ist?
Im Rahmen dieser Logik hätte dann die Wahrheitsfrage durchaus einen Sinn.
Zwar zunächst nicht jenen, den sie auf den ersten Blick zu haben scheint, nämlich
nach der Wahrheit zu fragen, die im Gegensatz zur Falschheit steht. Denn da wahr
im Gegensatz zu falsch immer nur einzelne Erkenntnisse sind, gerät sie gerade damit
in den Umkreis der formalen Logik, wo sie dann ungereimt wird. Wie jene Frage
nach dem Wesen der Erkenntnis selbst würde vielmehr in der transzendentalen
Logik auch die Frage „Was ist Wahrheit?" genau nach demjenigen fragen, was
eine Erkenntnis überhaupt zur Erkenntnis macht. Das vermag freilich nicht jene
Wahrheit, die im Gegensatz zur Falschheit steht, denn Erkenntnis kann auch falsch
sein. Das erfordert vielmehr Wahrheit in einem Sinne, in dem sie diesen Gegen-
satz noch übersteigt.
Daß Kant die Frage „Was ist Wahrheit?" in der Tat in diesem Sinn versteht
und in seiner transzendentalen Logik behandelt, geht deutlich aus dem Satz her-
vor, mit dem er hier die Leistung dieser „Logik der Wahrheit" kennzeichnet. Ihr 60
„kann keine Erkenntnis widersprechen, ohne daß sie zugleich allen Inhalt verlöre,
d. i. alle Beziehung auf irgend ein Objekt, mithin alle Wahrheit" 61. Mit diesem
Satz spielt Kant auf jenen ändern an, mit dem er in ähnlicher Form kurz vorher
formuliert, was die Kriterien der formalen Logik leisten: „was diesen wider-
spricht, ist falsch, weil der Verstand dabei seinen allgemeinen Regeln des Denkens,
mithin sich selbst widerstreitet" 62.
Diese Anspielung scheint auf den ersten Blick rein äußerlich und zufällig. Bei
näherem Zusehen zeigt sich jedoch, daß Kant sie beabsichtigt, und zwar zu dem
Zweck, den prinzipiellen Gegensatz von transzendentaler und formaler Logik
hervorzuheben. Denn was ist mit diesen beiden Sätzen eigentlich gesagt?

60
Hier speziell: der „transzendentalen Analytik"; vgl. dazu oben Anm. 15. Audi die
formale Logik nennt Kant gelegentlich „Logik der Wahrheit", womit er sie als „Analytik"
der „Dialektik", als einer „Logik des Sdieins", entgegensetzt (Vgl. z. B. Bd. 4, S. 276,
Bd. 9, S. 16). Damit weist er darauf hin, daß die formale Logik, wenn audi nidit die
hinreichenden, so doch immerhin notwendige Bedingungen der Wahrheit ermittelt. Dem-
gegenüber meint Kant jedoch etwas prinzipiell anderes, wenn er die transzendentale Logik
eine „Logik der Wahrheit" nennt. Zwar kennzeichnet er auch damit speziell die transzen-
dentale Analytik gegenüber der transzendentalen Dialektik, welche ebenfalls eine
„Logik des Sdieins" ist, — jedoch eine Logik des transzendentalen Scheins. Daraus geht
hervor, daß auch die transzendentale Analytik, die Logik .einer ganz besonderen, nämlich
die Logik der transzendentalen Wahrheit ist, die sie auch, anders als die formale Logik
ihre Wahrheit, hinreichend erklärt.
ei
Bd. 3, S. 82, Z. 6 ff.
« Bd. 3, S. 80, Z. 4 ff. *

179
Oben hatte sich ergeben, daß die Erkenntnis, die den Kriterien der formalen
Logik widerspricht, zwar falsch, die ihnen genügt jedoch deshalb noch längst
nicht wahr ist 3. Das aber heißt nichts anderes, als daß die Kriterien der formalen
Logik nur gestatten, das logisch Falsche bzw. Nicht-Falsche zu identifizieren.
Demgegenüber soll nach Kant die transzendentale Logik als „Logik der Wahr-
heit" dazu hinreichen, in gewissem Sinne das Wahre bzw. das Nidit-Wahre zu
identifizieren. Was ihr widerspricht, muß seine Wahrheit verlieren, indessen, was
ihr genügt, Wahrheit besitzt. Während aber das, was der transzendentalen Logik
widerspricht, seine Wahrheit verliert, kann es, indem es mit den Kriterien der
formalen Logik übereinstimmt, Wahrheit durchaus nicht gewinnen. Die von Kant
beabsichtigte Entgegensetzung besagt also, wie es zunächst scheint, nichts geringe-
res, als daß im Hinblick darauf, was sie jeweils hinreichend erklären, die tran-
szendentale Logik eine Logik der Wahrheit, die formale Logik dagegen eine
Logik der Falschheit iste4.
Es bleibt jedoch zu fragen, ob dies tatsächlich der Gegensatz ist, den Kant hier
hervorheben möchte, ja mehr noch: es bleibt die Frage, ob dies überhaupt schon
ein Gegensatz ist. Wenn auch zutrifft, daß im genannten Sinn die transzendentale
Logik eine Logik der Wahrheit, dagegen die formale Logik eine Logik der Falsch-
heit ist, so fragt sich doch, in welchem Sinne Kant hier „Wahrheit" überhaupt
verwendet. Da er die logische Wahrheit, wie schon bemerkt, gar nicht berücksich-
tigt, so läge zunächst die Annahme nahe, daß er hier die faktische Wahrheit im
Auge hat. Damit ergäbe sich das Seltsame, daß die Wahrheit, die, mit der Falsch-
heit im Gegensatz, den Ausgangspunkt der formalen Logik bildet, sich plötzlich
als Gegenstand der transzendentalen Logik erwiese. Jene Grenze zwischen diesen
beiden Arten von Logik, die Kant in dieser Einleitung, diesem Entwurf der Idee
einer transzendentalen Logik, ziehen möchte, würde er damit gerade verwischen.
Was aber auf den ersten Blick nur sonderbar erscheint, erweist sich geradezu als
ausgeschlossen, wenn man noch einmal auf jenen Satz zurückblickt, mit dem Kant
die Leistung der transzendentalen Logik kennzeichnet. Danach soll nämlich jede
Erkenntnis, die ihr widerspricht, „alle Wahrheit" verlieren. Mit dieser Kennzeich-
nung wäre dann nicht nur auf höchst seltsame Weise bloß umschrieben, daß eine
solche Erkenntnis falsch wird. Mit ihr wäre vor allem auch jeder wesentliche
Unterschied zwischen formaler und transzendentaler Logik, um den es Kant hier
gerade geht, endgültig verloren. Denn „alle Wahrheit" büßt in diesem Sinn auch
ein, was den Kriterien der formalen Logik widerspricht. Wenn also Kant mit die-
sem Satz wie mit der ganzen Einleitung den Unterschied, vielleicht sogar den
Gegensatz von transzendentaler und formaler Logik herausstellen will, so muß
er hier mit „Wahrheit" einen ändern Sinn verbinden.
Und dieser zeichnet sich auch deutlich ab, wenn man einmal näher die Aus-
drücke in den Blick faßt, die Kant mit dem Ausdruck „alle Wahrheit" in Bezug
63
Vgl. oben S. 171 f.
64
Und das ist auch nicht weiter verwunderlidi, da Kant, wie oben sdion bemerkt (vgl.
Anm. 35), die logisdie Wahrheit im modernen Sinn hier nidit mit in Betracht zieht.

180
setzt, wenn er sagt: „allen Inhalt ... d. L alle Beziehung auf irgend ein Objekt,
mithin alle Wahrheit" 65. Daraus erhellt, daß jede Erkenntnis, die der transzen-
dentalen Logik widerspricht, damit „alle Wahrheit" in dem Sinne verliert, daß sie
„alle Beziehung auf irgend ein Objekt" verliert. Wohlgemerkt: alle Beziehung auf
ein Objekt und nicht etwa bloß alle Übereinstimmung mit einem Objekt. Solcher
Verlust bedeutet also durchaus 'nicht, daß eine Erkenntnis nur etwas verliert,
Wahrheit, um dafür etwas anderes, Falschheit, zu gewinnen, wobei sie selber
nach wie vor Erkenntnis bliebe, wie dies in der formalen Logik der Fall ist. Er
bedeutet vielmehr, daß sie gerade sich selbst verliert, daß sie aufhört, überhaupt
noch Erkenntnis zu sein, gleichviel ob wahre oder falsche. Denn wie die tran-
szendentale Logik zeigt, ist Erkenntnis gar nichts anderes als die Beziehung von
etwas auf ein Objekt, die dann, wenn sie faktisch vorliegt, im Modus der Über-
einstimmung „Wahrheit", im Modus der Nichtübereinstimmung dagegen „Falsch-
heit" heißt, und die, um überhaupt vorzuliegen, genau den Bedingungen genügen
muß, die diese Logik formuliert.
Es zeigt sich also, daß Kant in jenem Satz tatsächlich eine ganz besondere
Wahrheit meint, die es von jener ändern, die mit der Falschheit im Gegensatz
steht, wohl zu unterscheiden gilt. Der Ausdruck „alle Wahrheit" ist zunächstc6
nichts anderes als ein verkürzter Ausdruck für „alle ^fahrhdtsmöglicbkeit", die
als solche freilich ebenso sehr eine „fWsc^&e/ismöglichkeit" ist. „Alle Wahrheit"
heißt hier mithin soviel wie „alle Wahrheits<ß//erenz", — ein Wort, das Kant
noch nicht verwendet.
Eben damit zeigt sich aber auch, daß dieser Satz tatsächlich einen Gegensatz
herausstellt, der so fundamental ist, daß Kant die Abgrenzung von transzenden-
taler und formaler Logik, der er diese Einleitung widmet, mit diesem Satz end-
gültig vollzieht. Denn jener erste Satz, auf den er anspielt, formuliert, daß jede
Erkenntnis, die den Kriterien der formalen Logik widerspricht, falsch ist. In
Gegenüberstellung dazu formuliert nun Kant mit diesem zweiten Satz nichts an-
deres als den folgenden Gegensatz: Was den Kriterien der formalen Logik wider-
spricht, ist, wenn auch nicht wahr oder konsistent, so doch immerbin falsdi,
und das heißt: immerhin wahrheitsi////erewi; was hingegen der transzendentalen
Logik widerspricht, ist nicht einmal dies, nicht einmal falsch, weil überhaupt
nicht wahrheitsdifferent, hat also von vornherein keinerlei Möglichkeit, wahr oder
f alsdi zu sein.
Die transzendentale Logik ist demnach als „Logik der Wahrheit" eine Logik
der Wahrheitsdifferenz. Was den Kriterien, die sie aufstellt, widerspricht, verliert
„alle Wahrheit": nicht nur jene, die als Gegensatz zur Falschheit die formale
Logik beschäftigt, sondern auch noch jene ganz andere, die als Wahrheitsdifferenz

65
66
Bd. 3, S. 82, Z. 7 f.
Nämlich wenn man dieses „alle" erst einmal in seiner unprägnanten Bedeutung
nimmt.

181
diesen Gegensatz, indem sie ihn als seine Gattung übersteigt, allererst ermöglichtC7.
Und wenn auch noch nicht das Wort „Wahrheitsdifferenz", so besitzt doch auch
Kant für diese besondere Art der Wahrheit einen besonderen Ausdruck. Im Ge-
gensatz zu jener ändern, die er als „empirische" bezeichnet, nennt er sie als Gegen-
stand der transzendentalen Logik auch die „transzendentale Wahrheit" M.
Eben diese ist es, nach der die Frage „Was ist Wahrheit?" — wenn auch bis
Kant verborgenerweise — eigentlich fragt, wenn anders sie überhaupt einen Sinn
haben soll, in dem sie beantwortbar ist M . Diesen Sinn versteht nur der, dem be-
wußt wird, daß sie als transzendentale Frage von vornherein auch nur eine tran-
szendentale Antwort verlangt. Dies war als erstem Kant beschieden, hat ihm aber
auch als erstem jene Anstrengung des Begriffs abverlangt, die Entwurf wie Aus-
führung einer transzendentalen Logik erfordern.

67
Diese prägnante Bedeutung von „alle" dürfte hier eigentlidi gemeint sein. Sie ergibt
sich, wenn man berüdksichtigt, daß Kant die Ausdrücke „aller", „alle", „alles" sehr häufig
gleichbedeutend mit „jeder", „jede", „jedes" verwendet, „alle" hätte dann hier im be-
sonderen den Sinn „jede Art von...". Vgl. zum ganzen z. B. Bd. 3, S. 270, Z. 31;
S. 337, Z. 32; S. 387, Z. 21; ferner Bd. 5, S. 48, Z. 18 und die Reflexionen 3977, 3935,
3936. — Eine „Logik der Wahrheit" heißt die Transzendentale Logik freilich nicht nur
als Logik soldier Wahrheitsdifferenz. Diese Auszeidmung trägt sie vor allem auch darum,
weil sie die Grundsätze ermittelt, die als a priori wahre wiederum diese Wahrheits-
differenz ermöglidien. Davon aber handelt diese Einleitung noch nidit. Vgl. jedodi z. B.
Bd. 3, S. 203.
68
Vgl. Bd. 3, S. 139, Z. 7—10 mit S. 145, Z. 21—25 und mit S. 203, Z. 14—19, S. 337,
Z. 31 ff. Damit klärt sidi dann audi der Sinn des Gegensatzes von transzendentaler
Wahrheit und transzendentalem Schein. Von transzendentalem Schein sind alle Urteile,
die keine transzendentale Wahrheit besitzen, als Urteile diesen Besitz jedodi vortauschen.
Ohne diese Wahrheit, d. h. ohne eigentlidie Beziehung auf ein Objekt, geben soldie Ur-
teile nur vor, wahr oder falsdi zu sein. In Wahrheit aber sind sie weder das eine noch
das andere, nämlich sinnlos, wofür Kant „grundlos" sagt (vgl. z. B. Bd. 3, S. 82, Z. 29,
S. 141, Z. 16—25). — Ferner klärt sich damit auch noch, warum die „transzendentale
Wahrheit" bei Kant zweierlei bedeuten kann, die Wahrheitsdifferenz empirisdier Urteile
und zugleich audi die Wahrheit a priori der Grundsätze (vgl. Bd. 3, S. 139, Z. 7—10).
Wahrheitsdifferent sind empirische Urteile eben nur durch die Wahrheit a priori der
Grundsätze, die ihnen zugrunde liegen.
00
Inwieweit im Rahmen der transzendentalen Logik dann audi noch eine Antwort auf
die Frage nadi der Wahrheit möglich wird, die im Gegensatz zur Falschheit steht, bleibt
in dieser Einleitung zur Transzendentalen Logik offen. Vgl. aber z. B. Bd. 3, S. 432,
Z. 4-9.

182

Das könnte Ihnen auch gefallen