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ALFRED KASTIL
ihn von dem aristotelischen, und neu ist auch die Art, wie
dieser Beginn nachgewiesen wird, besonders im ersten
Teile, wo er aus dem Gesetze der Entropie gefolgert wird.
Brentano hat diesen Schluß schon im Jahre 1868 gezogen,
seither ist er des öfteren wiederholt worden. Wie hier
Errungenschaften moderner Physik herangezogen werden
zur Lösung der erhabensten metaphysischen Frage, so im
psychologischen Beweise die Ergebnisse der Gehirn-
physiologie, wobei sich die Überraschung einstellt, daß
gerade das Fehlen eines unpaarigen Seelensitzes, der
Früheren zum Nachweise der Unkörperlichkeit des psy-
chischen Subjekts unentbehrlich erschienen war, den
Ausschlag zugunsten derselben gibt. Der Beweis für die
Unkörperlichkeit des psychischen Subjektes, hier nur in
knappen Andeutungen geboten, wird in anderem Zu-
sammenhang ausführlich wiedergegeben werden.
Nachdem jeder der vier Beweise zur Annahme eines
schöpferischen Prinzips geführt hat, soll in der „Vor-
lesung" eine einfache und kurze Überlegung die unend-
liche Vollkommenheit dieses Urprinzips erkennen lassen.
Später hat Brentano diese Überlegung nicht mehr so
einfach gefunden, und im „Gedankengang" wird auch
auf die Selbständigkeit der vier Beweise für den Schöpfer
verzichtet.
In der Tat müssen sich Bewegungsbeweis und psycho-
logischer, um auch nur diese Etappe zu erreichen, auf den
Satz vom ausgeschlossenen Zufall stützen. Eher könnte
der teleologische dessen entraten, denn ein zufälliger Ver-
stand würde die scheinbare Ordnung noch immer leichter
erklären als ein zufälliger Unverstand.
So wird denn aus mannigfachen Gründen eine ein-
heitliche Konzeption, bei der sich die verschiedenen den
überlieferten Beweisen entlehnten Motive in die Arbeit
teilen und zum Ganzen zusammenwirken, vorzuziehen
sein. Ich war darum in Versuchung, die Schlußabhandlung
„Gedankengang", die eine solche enthält, direkt an die mit
S. 204 endenden ,,Voruntersuchungen'' anzuschließen.
Vorwort des Herausgebers XIII
Dafür sprach auch noch anderes. Brentanos Kollegien-
heft bietet vom positiven Teile nur den teleologischen Be-
weis ausführlich und in einer Fassung, die durch seine
späteren Untersuchungen nicht überholt ist, während der
psychologische und der Kontingenzbeweis nur wenig aus-
geführt sind und sich zum Teil in später verlassenen Ge-
leisen bewegen. Das letzte gilt auch von gewissen Partien
des Bewegungsbeweises, der allerdings im Kollegienhefte
einen weit größeren Raum einnimmt als diese beiden. Im
Kapitel „Vollendung der Beweise für das Dasein Gottes",
das vom schöpferischen Verstand zum unendlich voll-
kommenen Wesen führen will, erschien Brentano selbst
später die Tragweite unseres Schöpfungsbegriffes über-
schätzt, wenn dort aus der unendlichen Schöpferkraft so-
fort auch auf ethische Vollkommenheit geschlossen wird.
In diese Lücke tritt eine spätere Abhandlung „Von der
sittlichen Vollkommenheit der ersten Ursache aller nicht
durch sich selbst notwendigen Wesen" ein, mit Über-
legungen, die zum Teile im „ Gedankengang" wiederholt
werden.
Wenn ich mich doch nicht dazu entschlossen habe, den
ganzen zweiten Hauptteil der großen Vorlesung gegen
die Abhandlung „Gedankengang'' einzutauschen, so
haben folgende Bedenken den Ausschlag gegeben.
Vor allem durfte die klassische Darstellung des teleo-
logischen Beweises, die ja auch durch spätere Über-
legungen Brentanos in keinem wesentlichen Punkte über-
holt worden ist, nicht unterdrückt werden. Sollte sie
ihren Platz im „ Gedankengang" bekommen, wo an Stelle
von dreieinhalb Druckseiten nicht weniger als hundert-
fünfzig einzuschieben gewesen wären 1 Das hätte das
Gefüge der feinen, kleinen Abhandlung gesprengt, ihre
übersichtliche Konzeption gestört. Den teleologischen
Beweis aber am ursprünglichen Platze zu lassen und die
drei andern wegen ihrer veralteten Fassung im Kollegien-
hefte daraus zu streichen, hätte den Meisterbau des
Kollegs zur Ruine gemacht.
XIV Vorwort des Herausgebers
Erster T ei1
Voruntersuchungen
Erste Voruntersuchung
Ob die Untersuchung nkht überflüssig? Behauptung, das
Dasein Gottes stehe von vornherein fest
I. Äußerliche Argumente dafür
9. Zwei Untersuchungen sind zu führen: ob Gottesbeweise
I_1icht überflüssig und ob sie nicht unmöglich . . . J:-5
10. Äußerliche Argumente für die Behauptung, daß es gar
keiner Beweise für das Dasein Gottes bedürfe . . . . 15
Leichtigkeit, mit der die Kinder den Glauben an
Gott annehmen, und Übereinstimmung aller Völker in
ibm deuten darauf, daß er priori feststehe.
Antwort: Weder diese noch jene spricht dafür. Es
gibt ursprüng~\che Glaubensneigungen auch für Irrtüm-
liches. Die Ubereinstimmung der Völker im echten
Gottesglauben besteht gar nicht, bestünde sie aber, so
bediirfte es nicht dieser Erklärung . . . . . . . . . . 16
11. Berufung auf den Satz: Gott ist das Prinzip, wodurch
wir alles erkennen . . . . . . . . . . . . . . . 17
12. Antwort: Etwas von Gott Gewirktes erkennen heißt
noch nicht es als von Gott Gewirktes erkennen . . . 18
13. Hinweis auf das ungleich bestechendere ontologische
Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
Zweite: Voruntersuchung
Ob es von vornherein einleuchte, daß sich das Dasein
Gottes nicht beweisen fasse?
56. Zwei Standpunkte, die unsere "C"ntersuchung aussichtslos
erscheinen lassen: dem einen gilt ein unendlich voll-
kommenes Wesen (Gott) selbst fü1· unmöglich; dem
andern Gottesbeweise für undurchführbar . . . . ; . 60
XXIV I nhaitsv~rzeichnis
75. Ist dem so, so hat Kant freilich nicht entfernt die Be-
deutung, welche man ihm zuzuschreiben pflegt. Er war
mehr ein Schriftsteller der Macht als der Wahrheit, wie
man dies von Hegel und Schelling bereits allgemein ein-
gesteht. Der frühere Irrtum der öffentlichen Meinung in
bezug auf diese läßt einen solchen in bezug auf Kant
minder befremdlich erscheinen . . . . . . . . . . . 83
76. Ein paar geschichtliche Momente machen sie noch mehr
verdächtig: a) Kants Nachwirkung, b) seine Stellung im
Ganzen der neueren Philosophie . . . . . . . . . . 84
Die drei großen Perioden der Philosophiegeschichte
und das Gesetz der vier Phasen innerhalb jeder der-
selben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
77. Kurze Veranschaulichung dieses Gesetzes an der Periode
der alten und der mittelalterlichen Philosophie 86
Die vierte Phase überall eine Art Surrogatphilosophie.
78. Die Surrogate, deren sie sich für echte Erkenntnis be-
dient, sind teils überschwenglich, teils Lückenbüßer . 87
79. Kants Lehre ist vom Grund aus unhaltbar. Wie schon
gesagt, gibt es gar keine synthetischen Erkenntnisse
a priori. Wenn Kant solche gefunden zu haben glaubt,
so ist dies die Folge davon, daß er weder den Begriff der
Erkenntnis noch den des Synthetischen richtig faßt . 88
80. Daß Erkenntnis Einsicht verlangt, entgeht ihm. Be-
zeichnend dafür sind vier Momente: . . . . . . . 89
a) die Frage: Wie sind synthetische Erkenntnisse a
priori möglich ? . . . . . . . . . . . . . . . 89
b) die Antwort: die Dinge richten sich nach ihnen . 90
c) die Frage nach den Grenzen ihrer Gültigkeit . . 90
d) die Antwort darauf: ihre tatsächliche Beschränkung
Sie wären hiernachnurVorurteile, von welchen Kant
vertraut, daß sich die Gegenstände nach ihnen richten 90
81. Indessen finden sich bei ihm unter der Bezeichnnng
synthetische Erkenntnis a priori auch evidente Sätze
a priori, die aber dann eben nicht synthetisch, sondern
analytisch sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
Kant entgeht dies, weil er auch den Begriff des
Synthetischen nicht richtig faßt, was ihn dazu
führt, den analytischen Charakter vieler Urteile zu
verkennen und infolge davon die Bedeutung dieser
Klasse zu unterschätzen und zu leugnen, daß durch
sie unsere Erkenntnis erweitert werde . . . . . . 91
82. Widerlegung. Auch Erläuterung erweitert unsere Er-
kenntnis. Axiome positiven Widerstreits neben denen
der Kontradiktion . . . . . . . . . . . . . . . . 92
83. Die ganze Arithmetik besteht aus analytischen Erkennt-
nissen. Die Rolle, welche in ihr die Anschauung spielt,
ist eine ganz andere als diejenige, die Kant ihr zuweist 92
84. Ebenso analytisch ist die Geometrie. Kant verkannte
dies, weil er Lehrsätze irrtümlich für axiomatisch hielt
und unter den Axiomen manche übersah . . . . . . 96
lnba.ltsverzeichnis XXVII
85. Andere Beispiele Kants sind zwar synthetische Erkennt-
nisse, aber nicht e. priori. So z. B. das Trägheitsgesetz.
Man kann nicht einmal sagen, wir hätten einen an-
geborenen Drang, da.ran zu glauben. Kant bringt für den
apriorischen Charakter allerdings sein gewöhnliches
Argument: Allgemeinheit und Notwendigkeit, allein dies
zeigt nur, wie unzugänglich diese Kriterien sind . . . 97
Eher bliebe die Möglichkeit, den Fall als ein Mittelding
von apriorischer und aposteriorischer Annahme zu
fassen, als einen durch Induktion vorbereiteten Drang,
über ihr Ergebnis hine.uszugreifen. (Kardinal New-
me.ns gra.mme.r of e.ssent.) Aber auch dann hätten wir
nur ein Vorurteil, keine Erkenntnis, selbst wenn uns
Gegenstände den Gefallen täten, sich nach unseren
Vorurteilen zu richten . . . . . . . . . . . . . 98
86. Instanz: wenn wir nur dessen gewiß sind, dann bekommt
ein solches Vorurteil den Wert einer Erkenntnis 99
Antwort: aber wie sollen wir dessen versichert sein, daß
sich die Gegenstände nach ihnen richten ? Kant
glaubt sich sicher, aber er irrt darin, denn es ist weder
selbstverständlich und wäre es sogar nicht, wenn der
reine Idealismus richtig wäre und unsere Subjektivität
allein es wäre, die die Phänomene erzeugte, noch
kann die Erfahrung de.für Gewähr bieten, wenn anders
wir ihr mit Kant die Kraft, Allgemeingültigkeit zu
sichern, absprechen. Auch wären in diesem Falle
die synthetischen Erkenntnisse a. priori nutzlos, und
wo bliebe die Hilfe gegen Humes Angriff auf die Ver-
läßlichkeit der Induktion? . . . . . . . . . . . lOl
87. Auch in anderen Punkten zeigt sich Kants Lehre un-
haltbar. So die von den Vorstellungen (Anschauungen
und Begriffen) e. priori . . . . . . . . . . . . . . 101
88. Was die Re.um- und Zeite.nsche.uung anlangt, hat Kant
ihre Apriorität nicht erwiesen. Er macht, indem er es
versucht, von dem Kriterium der Allgemeinheit und
Notwendigkeit in äquivoker ·weise Gebrauch .... 102
89. Nicht einmal diese selbst vermag er festzustellen, ge-
schweige denn de.mit zu beweisen, was er will .... 103
90. Eine Re.um- und Zeitanschauung, wie Kant sie uns zu-
schreibt, haben wir nicht. Die unsere ist weder rein,
noch unendlich, noch a. priori . . . . . . . . . . . 104
91. Ebenso unhaltbar ist seine Ke.tegorienlehre. Einige der ver-
meintlichen Begrüfe e. priori sind nicht einmal Begriffe l 05
92. Und die es sind, sind nicht a priori. Empirischer Ur-
sprung des Subste.nzbegriffes . . . . . . . . . . 107
93. Verfle.chungdesAristotelischenSubstanzbegriffes beiKant l 09
94. Kant will die Kategorien aus den Unterschieden des ur-
teilenden Verhaltens ableiten, verkennt aber die Natur
des Urteiles. Was er auf solcher Unterlage weiterbaut,
wird für die folgende Zeit zum verderblichen Beispiel
scheinwissensche.ftlicher Konstruktion . . . . . . . . 110
XXVIII Inhaltsverzeichnis
T eif
Zweiter
Die Beweise für das Dasein Gottes
166. Übersicht über die geschichtlich vorliegenden Beweis-
versuche. Einige können vor der Kritik nicht bestehen 207
167. Die vier gültigen Beweise . . . . . . . . . . . . 208
168. Sie gehen bis zum Nachweise des Schöpferg getrennte
Wege; der Schritt vom Schöpfer zum unendlich -voll-
kommenen \\' esen (Gott) ist ihnen gemeinsam . . . 20!)
169. Nach ihrer geschichtlichen Ordnung werden sie hier
vorgetragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210
170. Vergleich der vier Beweise in bezug auf ihre Kraft,
Menschen verschiedener Geistesrichtung zu überzeugen 211
Zweiter TeH
Die Wirklichkeit der T efeofogie
I. Die Hypothese der blinden Notwendigkeit
A. Ältere und neue·re Formen derselben
272. Ist die scheinbare Teleologie wirkliche? Methode der
Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300
273. Die drei denkbaren Hypothesen zur Erklärung des
Scheines der Teleologie: Verstand - Zufall - blinde
Notwendigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 300
274. Ob sie einander gleichwertig? . . . . . . . . . . 301
275. Unpassender Vergleich der dritten mit der Wirkung
eines Kaleidoskops . . . . . . . . . . . . 301
276. Die HypotheRe der blinden Notwendigkeit be-
gegnet uns in naiven Formen schon im Altertum .. 301
277. In neuer Zeit ersetzt in der ARtronomie die mechanische
Naturerklärung die antiken Sphärengeister . . . . . 302
278. Auch an die Erklärung der Organismen wagt sie sich. 302
.279. Erinnerung an den Versuch des Empedoklcs . . 302
Die. Darwinsche Selektionstheorie
280. Darwins Lehre von der natürlichen Zuchtwahl, bei der
der Kampf ums Dasein die Rolle des Züchters über-
nimmt, .................... 303
281. versucht die Entwicklung der vollkommeneren und
komplizierteren Organismen aus früheren, primitiveren
Formen zu erklären . . . . . . . . . . . . . . . 304
Inhaltsverzeichnis XXXIX
282. ebenso die Mannigfaltigkeit teleoider Gestaltungen. Der
Kampf ums Dasein als Feind der Gleichförmigkeit . 305
283. Noch kühnere Versuche machen Darwins Anhänger. 305
284--285. Insbesondere Häckel. So glaubt man denn auch
des Ursprungs des Organischen aus dem Unorganischen
ohne teleologische Faktoren versichert zu sein . . . 305
286-287. Der Sieg der Notwendigkeitshypothese über die
beiden anderen erscheint vielen durch den Darwinismus
gesichert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307
383. Begründet hat ihn Aristoteles, der aus der Tatsache der
Bewegung auf einen ersten, unbewegten Beweger schloß 384
384. den neuere Philosophen durch die Entdeckung des
Trägheitsgesetzes für entbehrlich geworden halten, 385
385. wobei sie unberechtigterweise vom Bewegungsverlust
durch Reibung absehen .............. 386
386. Anderen wieder scheint der Aristotelische Schluß
durch das Gesetz von der Erhaltung der Kraft unwirk-
sam gemacht, . . . . . . . . . . . . . . . . . 386
387. mit Unrecht, weil eine ewige Bewegung nicht mehr als
eine unendliche Kette sekundärer Ursachen wäre, und
zweitens, . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386
388. weil eine ewige Bewegung aus doppeltem Grunde un-
annehmbar ist, auf Grund des Gesetzes der Erhaltung
der Kraft in Verbindung mit dem Gesetz der vVechsel-
wirkung der Naturkräfte und a priori aus dem inneren
Widerspruch im Begriffe anfangsloser Bewegung . . 387
II. D a s u n m i t t e 1b a r N o t w e n d i g e i s t e i n
schöpferisches Prinzip
15. Es unterscheidet sich von allem, was in unsere
direkte Erfahrung fällt, nicht bloß durch seine
unmittelbare Notwendigkeit, sondern auch durch
die \Veise seines vVirkens, das schlechthin un-
bedingt ist. . . . . . . . 456
16. Trotz dieser Unbedingtheit könnte sein Wirken
einen Anfang haben . . . . . . . . . . . . . 456
III. Das unmittelbar Notwendige ist nicht
wechsellos
17. erstens als Ursache von Veränderungen, die in der
Erfahrung vorliegen . . . . . . . . . . . .. 457
L Inhaltsverzeichnis
Haben Sie Dank für Ihren guten Brief, der durch seine
schlichte, selbstlose Wahrhaftigkeit den angenehmsten
Eindruck machen mußte und mich auch mit dem bekannt
machte, was Sie in Ihrem Vertrauen auf die erhabensten
Lehren stört, die uns von altersher überliefert sind und
wie einem ANAXAGORASund ARISTOTELESauch einem
LOCKE und LEIBNIZ, einem LIEBIG, einem PASTEUR,
einem MAXWELLund LORD KELVIN und HELMHOLTZals
gesichert feststehen. Was z.B. LoRD KELVIN betrifft, so
las ich erst kürzlich eine Erklärung von ihm, die an Ent-
schiedenheit nichts zu wünschen übrigläßt. Es hatte in
einer Naturforscherversammlung einer der Redner mit
den Worten geschlossen, man sehe aus dem, was er aus-
geführt, daß die Naturwissenschaft die Frage, ob ein
Gott sei oder nicht, ganz offen lasse. Dagegen erhebt sich
nun THOMSON,indem er sagt, dies sei grundfalsch, viel-
mehr habe die Naturwissenschaft unbedingt und durch-
wegs die Voraussetzung eines göttlichen ersten Prinzipes
nötig. Ein andermal erzählte er, wie er als jüngerer For-
scher, als LIEBIG England besuchte, diesen durch die
Blütenfelder begleitet und ihn gefragt habe, ob er wohl
glaube, daß eine solche Blüte ohne eine verständige Ur-
sache denkbar sei, worauf LIEBIG antwortete: ,,Nein,
sicher so wenig als daß ohne eine solche ein Buch bestände,
welches die ganze wundersame Struktur einer solchen
Blüte beschriebe." Sie sehen, es war gerade der teleologi-
LIV Zum Geleite
VORUNTERSUCHUNGEN
Erste Voruntersuchung
Ob die Untersuchung nicht überflüssig 7
Behauptung, das Dasein Gottes stehe
von vornherein fest
I. .Ä.ußer1icheArgumente dafür
9. Ehe wir an unsere Aufgabe gehen, dürfen wir nicht
versäumen, zwei ihr widerstrebende Ansichten zu prü-
fen, die, einander entgegengesetzt, doch darin überein-
stimmen, daß sie uns jeder Mühe eines Beweisversuches
für das Dasein Gottes überheben würden, die eine, weil
er überflüssig, die andere, weil er unmöglich wäre.
Überflüssig wäre unser Versuch, wenn für uns das Da-
sein Gottes selbstverständlich wäre; wenn, sobald wir
sprechen „Gott ist", mit Bewußtsein dessen, was wir
sprechen, der Satz uns einleucht~te. Unmöglich, wenn
aus der Natur Gottes, aus der Bedeutung des Namens
,,Gott" selbst folgte, daß seine Existenz sich nicht be-
weisen lasse. Das erste ist eine auffallende Behauptung,
dennoch wiederholt, auch von angesehenen Denkern und
mit mehreren Argumenten vertreten worden.
10. Man berief sich auf die Leichtigkeit, mit welcher
die Kinder diesen Glauben an Gott annehmen, und auf
die Übereinstimmung aller Völker im Glauben an ihn.
Beides, meinte maJ.)., wäre unbegreiflich, wenn diese
Erkenntnis keine unmittelbare wäre, sei es angeboren,
sei es in der Weise unmittelbar, wie es die Axiome sind.
Antwort: a) Was glauben Kinder nicht leicht 1 Dar-
nach zu schließen, wäre jedes Ammenmärchen ange-
boren.
16 Glaubensbereitschaft der Naiven
folgt daraus weder, daß alles voll Wundern ist, noch daß
viele oder auch nur ein einziges vorkommen müßten.
Manche Theisten haben sogar aus teleologischen Er-
wägungen nachweisen zu können geglaubt, daß ein Wun-
der und überhaupt jeder unmittelbare Eingriff Gottes in
den Verlauf der Naturprozesse von vornherein unmög-
lich sei. Das war vielleicht ein zu kühner Schluß, und
seine Grundlagen scheinen zuwenig gesichert, als daß
einer der genannten großen theistischen Denker ihn ge-
zogen hätte. Aber alle, auch die vorzüglichsten unter
ihnen, trugen kein Bedenken, es als ein kosmologisches
Gesetz aufzustellen, daß es der Weisheit der Vorsehung
widerspreche, jemals durch eine unmittelbare Einwirkung
etwas hervorzubringen, was unter Vermittlung sekun-
därer Ursachen, also durch die in der Welt gegebenen
Kräfte, realisierbar sei. Zieht ein Forscher zur Erklärung
einer solchen Tatsache Gott herbei, so sagen sie, er habe
den Deus ex machina zitiert. ARISTOTELEShat diesen
Fehler an ANAXAGORAS, PASCALan DESCARTES,LEIBNIZ
an NEWTON gerügt.
Hiernach wird man ohne bedeutende Kenntnisse von
Zweck und Beschaffenheit der Welt gar nicht darüber
urteilen können, ob auch nur eine unmittelbare Ein-
wirkung Gottes in den Gang der Natur gefordert sei, und
daraus, daß keine zu merken ist, keinen Schluß gegen
<las Dasein Gottes ziehen können.
63. 6. Argument. Gott als unendlich vollkommenes
\Vesen wäre wirkend ohne Leiden zu denken, was gegen
<lasGesetz der Gleichheit von ·wirkung und Gegenwirkung
ist, das, zuerst in der Mechanik konstatiert, dann über
alle Gebiete in dem Maße, als sie der exakten Forschung
zugänglich wurden, Ausdehnung fand.
Antwort: a) Ist dieses „Gesetz der Gleichheit von Wir-
kung und Gegenwirkung" wirklich streng in seiner All-
ge'lleinheit erwiesen 1 Mancher wird Bedenken tragen,
dies zuzugeben. Das Argument sagt selbst: ,,in dem
Maße, als sie der exakten Forschung zugänglich wurden".
„Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung" 69
Wie wahr dies ist, sieht man daraus, daß HuME, von
welchem KANT insbesondere zu der Aporie über die Teil-
barkeit die Anregung empfing, geradezu skeptisch für
die Verwerfung jeder Kontinuität argumentierte.
Es ist aber einleuchtend, daß, wenn selbst, wie.KANT
meint, die Annahme der analytischen Sätze für sich allein
zum Aufbau einer Wissenschaft nicht genügen sollte, die
Verwerfung dieser Sätze ihn jedenfalls unmöglich machen
muß. Somit wäre eine phänomenale Wissenschaft ebenso-
wenig als eine Wissenschaft an sich erreichbar.
101. Der Kampf KANTS gegen die Skepsis endet mit
einer Niederlage auf der ganzen Linie.
Ich brauche aber kaum erst zu bemerken, daß mit
seiner Niederlage die Wissenschaft selbst nicht wehrlos
erscheint. KANT hat eben Unrecht, wenn er diese Wider-
sprüche als unausweichlich letzte Konsequenzen hin-
stellt. Nein! Das Gesetz des Widerspruchs gilt. Weder
die Dinge an sich, noch die Phänomene sind mit Wider-
sprüchen behaftet. In Begriffen ist ein Widerspruch und
Widerstreit der Bestimmungen möglich, in einer An-
schauung niemals.
Und so sind wir denn überhaupt auch Huirns An-
griffen gegenüber, und zwar ohne alle Hilfe apriorischer
synthetischer Wundermittel, genügend zur Abwehr ge-
rüstet.
Kritik der Lehre HuMEs
102. KANT schließt seine „Kritik der reinen Ver-
nunft" mit Worten stolzer Zuversicht. Er glaubt die
Weise, wie man die großen Rätsel der Philosophie lösen
könne, gezeigt, ja er glaubt, die Lösung schon ganz oder
nahezu erreicht zu haben: ,,Der kritische Weg ist
allein noch offen. Wenn der Leser diesen in meiner Gesell-
schaft durchzuwandern Gefälligkeit und Geduld gehabt
hat, so mag er jetzt urteilen, ob nicht, wenn es ihm
beliebt, das Seinige dazu beizutragen, um diesen Fuß-
steig zur Heerstraße zu machen, dasjenige, was viele
vollständig mißlungen 121
Jahrhunderte nicht leisten konnten, noch vor Ablauf des
gegenwärtigen erreicht werden möge: nämlich die mensch-
liche Vernunft in dem, was ihre Wißbegierde jederzeit,
bisher aber vergeblich beschäftigt hat, zur völligen Be-
friedigung zu bringen."
Wie seltsam kontrastiert der wahre Wert seiner Theorie
gegen den, den er ihr zuschreibt! Wir haben die Grund-
lagen seines Systems geprüft, und sie haben sich als
gänzlich unhaltbar erwiesen. Mit ihnen stürzt notwendig
das ganze Gebäude.
Indem ich dieses Endergebnis uns ins Bewußtsein
zurückrufe, fühle ich aber auch die Pflicht, nochmals
darauf hinzuweisen, daß wir zwischen dem Gelingen des
Unternehmens und der geistigen Kraft, die der Unter-
nehmende darin bekundet, wesentlich unterscheiden
müssen. KANT gehört gewiß zu den mächtigsten Geistern,
und sein Name wird in der Geschichte unserer Wissen-
schaft allezeit genannt werden, wenn auch sein Werk
nicht ewig bestehen wird und in gewissem Sinn für uns,
die wir erkannt haben, daß alles auf Illusionen ruht, und
nichts ein logisch festes Gefüge hat, schon heute nicht
mehr besteht.
103. Dagegen steht DAVID HuME mit seiner Skepsis,
deren Bekämpfung KANT seine ganze Kraft gewidmet
hat, um so mehr noch als ungeschwächter Gegner uns
gegenüber. Wir scheinen da einen harten Stand zu haben.
KANT wollte die Wissenschaft nur für Gegenstände mög-
licher Erfahrung retten - wir wollen Größeres: auch
ein Beweis fürs Dasein Gottes soll möglich sein. KANT
nahm, um auch nur jenes zu leisten, seine Zuflucht zu
angeblichen synthetischen Erkenntnissen a priori - wir
geben diese völlig preis und erkennen mit Hu~rn nur
analytische Axiome und Erfahrungstatsachen als sichere
Grundlage an. Wir wollen also Größeres leisten mit
geringeren Mitteln.
Dennoch dürfen wir nicht verzagen und den großen
Gegner für unüberwindlich halten. Ja der gesunde Men-
122 Rekapitulat.ion von
glauben ist, daß es ihrer entbehre, wenn nicht bloß die Art,
sondern auch die Gattung oder gar eine noch höhere Klasse
ausnahmslos diese Eigenheit gezeigt hat. (Es ist sozusagen
leichter, aus der Art, als aus der Gattung zu schlagen.)
Hiermit stimmt das Beispiel von der weißen, gelehrten
oder gar durchdringlichen Krähe. Es zeigt aber auch,
daß das Gesetz auf unseren Fall gar nicht anwendbar ist.
Nach manchen schon darum nicht, weil Gott unter
keinen unserer Begriffe falle. So gehöre er zu keiner Art,
bilde also auch von keiner eine Ausnahme.
Wir haben diesen Standpunkt der sog. negativen Theo-
logie oben abgelehnt (S. 55); doch ist zuzugeben, daß
Gott in seiner Eigentümlichkeit für sich besteht, ist er
doch einzig und allein unmittelbar notwendig. So mag
man ihn eine „Ausnahme" nennen von allem, was denkt
und ist.
Aber er ist keine Ausnahme, wie sie der Einwand ver-
langt, d. h. im Sinne einer vereinzelnten Differenz neben
zahllosen übereinstimmenden Merkmalen eo"').
Hiermit scheint der Einwand widerlegt, doch bleibt
noch eine
Instanz: Allen Forschern gelten solche Hypothesen für
plausibler, welche bekannten Tatsachen und Gesetzen ana-
log sind, weshalb man denn auch Hypothesen nie völlig er-
dichtet, sondern immer an Bekanntes anzulehnen pflegt.
Antwort: Allerdings ist dies richtig, und der Grund
dafür liegt darin, daß, soweit die Erfahrung reicht, nichts
sich bietet, was nicht mit anderen Erfahrungsgegenstän-
den irgendwie analog wäre. Hieraus wird wahrschein-
lich, daß dasselbe auch für anderes, das der Erfahrung
zugänglich ist, gelten wird. Nicht aber gilt dasselbe außer-
halb dieser Grenzen. MILL selbst, der diesen logischen
Grundsatz vertrat, glaubt zugestehen zu müssen, wir
könnten nicht leugnen, daß für Körper anderer Stern-
regionen vielleicht manche der hier allgemeinsten Gesetze
keine Geltung haben. Ja er geht so weit, dies sogar be-
züglich des allgemeinen Kausalgesetzes für möglich zu
unendlich kompliziert ? 187
halten, das er - wie wir sahen, mit Unrecht - für bloß
empirisch hielt. Um wieviel weniger gilt jenes Prinzip,
wenn es sich um die Gotteshypothese handelt.
154. c) Als dritter Grund wurde die unendliche Korn -
plikation der Gotteshypothese geltend gemacht.
Wer ein allreales, unendlich vollkommenes Wesen
annehme, häufe unendlich viele Vollkommenheiten, jede
ins Unendliche gesteigert, in diesem einen Wesen zu-
sammen. So bestehe seine Annahme eigentlich aus
unendlich vielen und die Hypothese erscheine unendlich
kompliziert. Je weniger einfach aber eine Hypothese ist,
um so weniger wahrscheinlich ist sie, ein Gesetz, das die
Logik genauer dahin bestimmt, daß die zusammengesetzte
Wahrscheinlichkeit gleich dem Produkte der einfachen
sei, also in unserem Falle unendlich gering.
Antwort: Dieses Gesetz ist richtig. Aber ist es auf
unseren Fall anwendbar~
a. Schon das ist von uns früher abgelehnt worden,
daß der Gottesbegriff mit dem eines allrealen Wesens
sich decke. Wenn wir darin wirklich alle denkbaren
realen Bestimmtheiten vereint denken wollten, müßten
wir vereint denken, was widerstreitet. An diese Korrek-
tur könnte die Antwort anknüpfen und darauf hin-
weisen, daß der eigentliche Gottesbegriff, weit entfernt
von solcher unendlicher Verwickelung vielmehr als ein
einfacher zu denken wäre, somit die Gotteshypothese
selbst, da sie etwas schlechthin Einfaches annehme, nicht
als eine komplizierte gelten könne. Doch könnte einer
demgegenüber das Bedenken aussprechen, daß wir selbst
früher unsere Gottesvorstellung als eine in hohem Maße
unvollständige bezeichnet haben. Nun komme zu uns
unbekannten Bestimmungen die Behauptung der Ein-
fachheit, vielleicht als ein Widerspruch, zum mindesten
aber als etwas Neues hinzu, so daß man vielleicht auch
darin eine Komplikation erblicken könnte.
ß. Dagegen dürften wir der Lösung des Einwandes
näher kommen, wenn wir den Sinn des Gesetzes klar ins
188 Die Gotteshypothese enthält
DIE BEWEISE
FÜR DAS DASEIN GOTTES
Übersicht über die geschichtlich vorA"
Hegenden Beweisversuche
166. Versuche, das Dasein Gottes zu beweisen, sind
wohl vielfach gemacht worden; ich habe schon in den
bisherigen Vorlesungen deutlich zu erkennen gegeben,
daß ich sie nicht alle für erfolglos halte. Doch manche
sind darunter, die als gänzlich wertlos betrachtet werden
müssen.
Da wir die Ansicht widerlegten, daß das Dasein Gottes
von vornherein evident sei, kamen wir auch auf das
ontologische Argument zu sprechen, womit manche es
a priori demonstrieren wollten, das aber, wie wir erkann-
ten, auf nichts als Paralogismen hinausläuft.
Auch noch andere vorgebliche Beweisversuche erweisen
sich als ungenügend oder auch als vollständig verfehlt.
So der, welchen DESCARTESversucht hat, indem er sich
auf die Tatsache stützte, daß wir im Besitze der Idee
eines unendlich vollkommenen Wesens seien. Diese
Idee müsse eine Ursache haben, und zwar eine Ursache,
deren Kraft zu einer solchen Wirkung ausreiche. Da nun
jede endliche Ursache, seien es nun äußere Dinge oder
wir selbst, nicht als hinreichende Ursache angesehen
werden könne - würde dann ja die Wirkung vollkom-
mener sein als ihre Ursache-, so müßte man schließen,
daß die Ursache dieser Idee ein unendliches Wesen sei.
Gott selbst müsse sie hervorgebracht haben, indem er,
der Schöpfer der Seele, ähnlich wie es auch menschliche
Künstler zu tun pflegen, dem Werke sein Zeichen einge-
schrieben habe.
Dieser Beweis, sage ich, ist vollständig verfehlt. Schon
seine Wurzel ist ein Irrtum. Denn die angebliche Tat-
208 Vier gültige Beweise
gesetzt sein können. Blicken wir auf den Fall der instink-
tiven Tätigkeiten des Vogels, von dem wir früher sprachen,
so finden wir, da sie ja willkürlich sind, beide Arten von
scheinbarer Zweckordnung der Natur mit seinem be-
wußten Streben vereinigt. Der Zweck seines bewußten
Begehrens erscheint wie in die Mitte gestellt zwischen
fernere Zwecke, denen er als Mittel dient, und nähere,
die ihm selbst als Mittel dienen, und die das bewußte
Begehren selbst der Reihe nach verwirklicht, ohne sie zu
ahnen.
Doch bei diesen wenigen Worten muß ich es jetzt be-
wenden lassen, und da anderes und schwierigeres zu tun
übrig bleibt, von der Schilderung der scheinbaren Zweck-
ordnung in der Natur auf dem Gebiet der lebenden Welt
Abschied nehmen.
Der Schein der Teleologie auf dem Gebiete
der leblosen Natur
180. Wenden wir uns zu dem zweiten großen Gebiet,
dem des Leblosen und Unorganischen. Die Unter-
suchung dieses Gebietes unter unserem Gesichtspunkte
scheint von besonderer Wichtigkeit.
Hier wird selbst von solchen die scheinbare Zweck-
mäßigkeit geleugnet, welche sie auf dem Gebiet des
Lebens anerkannt haben. KANT spricht mit Bezug auf
diesen Gegensatz geradezu von einer Antinomie der
teleologischen Urteilskraft. Und in der Tat scheint der
Name selbst darauf anzuspielen, daß hier nicht jener
Schein von Zusammenordnung wie auf dem Gebiet der
lebendigen körperlichen Wesen bestehe, wo jeder Teil als
Mittel und Werkzeug erscheint, welches dem Ganzen dient.
Es ist aber das bei weitem ausgedehnteste Gebiet in
der Natur. Die Organismen sind in der Tat wie Tropfen
im Meere, und so könnten manchem die Züge von Teleo-
logie, die die lebendige Natur zu bieten scheint, in der
Masse, die keine Spur von Zweckmäßigkeit trage, zu
verschwinden scheinen.
in der leblosen Natur 227
Aber dem ist nicht so. Auch das Leblose und Un-
organische in der Welt trägt deutlich den Charakter
scheinbarer Zweckmäßigkeit an sich. Und zwar zeigt
sich dieser teils schon, wenn man es an und für sich,
teils aber und vorzüglich, wenn man es in seiner innigen
Wechselbeziehung mit lebenden, empfindenden und den-
kenden organischen Wesen betrachtet, die bei Verände-
rung irgendeiner wesentlichen, ja auch mancher der ganz
akzidentellen Beschaffenheiten der unorganischen Welt
weder bestehen noch ihre vornehmsten Funktionen üben
könnten.
Einige kurze Betrachtungen werden, wie ich hoffe,
genügend zeigen, in wie hohem Maße beides der Fall ist.
181. Wenn wir auf das Reich der unorganischen Wesen
blicken und ihre verschiedenen Elemente miteinander
vergleichen, so finden wir, daß sich in ihrer Vielheit in
einer doppelten Weise eine Einheit darstellt:
1. eine Einheit der Ähnlichkeit;
2. eine Einheit durch die Beziehung der Kräfte und
Fähigkeiten aufeinander, so daß das eine bietet, was das
andere zu seiner Betätigung bedarf und sie sich so gegen-
seitig gewissermaßen ergänzen.
Jede dieser beiden Einheiten trägt aber ganz den
Charakter der Zweckmäßigkeit an sich.
182. Betrachten wir die erste der beiden Tatsachen
etwas näher.
a) Wenn wir das Reich der unorganischen Wesen be-
trachten, so finden wir alsbald, daß Gleichheit und Über-
einstimmung sich unter ihnen über sehr weite Gebiete
erstreckt. (Man bedenke die Massen der einzelnen chemi-
schen Elemente; von jedem sind ungeheuere Mengen
vorhanden, und zwischen ihnen besteht vollkommene
Gleichheit; sie sind nur lokal verschieden.)
b) Noch mehr! Alles ist mit allem verwandt, alles zeigt
mit allem Analogie und wird von gewissen Gesetzen in
gleicher oder ähnlicher Weise beherrscht. So z. B. unter-
liegen alle Stoffe den drei Aggregatzuständen und den
228 Der Schein der Teleologie
Die Antwort ist, daß wir, wenn nicht den Zweck, doch
die scheinbMe Aufgabe angeben können. Die Auf-
ga.be aber, wie auch immer sie vom Zweck verschieden
ist, ist doch ohne irgendeine Zweckordnung un-
denkbar.
Jede der mannigfaltigen Verwendbarkeiten der leben-
digen und leblosen Wesen erregt so den Schein einer
Teleologie; und bei den lebendigen in einem ganz be-
sonderen Maß jene höchste Weise der Verwendbarkeit,
die wir als ihre scheinbare Aufgabe im vorzüglichsten
Sinne des Wortes bezeichneten. Der Grund aber, der
uns so häufig hindert, außer der scheinbaren Aufgabe
auch den scheinbaren Zweck anzugeben, nämlich die
Möglichkeit mannigfacher Verwendung, ist gewiß nicht
etwas, was man als unteleologisch tadeln könnte. Viel-
mehr ist gerade diese Mannigfaltigkeit als teleologisch zu
bewundern, und wir haben darum auch früher schon auf
sie als auf etwas Bewundernswertes hingewiesen. Ohne
sie würde die reiche Schönheit der Natur in ein ödes und
ermüdendes Einerlei verwandelt, welches jetzt trotz der
Konstanz und steten Gleichförmigkeit der Naturgesetze
durch kein vorzüglicheres Mittel als durch die Dispo-
sitionen für viele und mannigfach verschiedene Ent-
wicklungen in der vollkommensten Weise vermieden und
in sein Gegenteil verkehrt ist.
212. B. So bleibt es denn wahr, was ich zur Ver-
teidigung des Scheines der Teleologie gegenüber dem uns
vorliegenden Einwand bemerkte, als ich sagte, vor allem
hätten wir nicht den einen oder andern, sondern un-
zählige Fälle einer scheinbaren Teleologie, und man
könne keineswegs sagen, daß sich dieselben - wie die
Gegner wollten - unter einer noch überschwänglich
größeren Zahl solcher Fälle fänden, die keine scheinbare
Zweckordnung an sich trügen.
Dazu kommt aber zweitens (und das ist das Entschei-
dende), daß bei vielen, ja bei den meisten dieser Ver-
hältnisse die denkbaren zweckmäßigen Dispositionen sich
der Teleologie überhaupt 259
ihrer Zahl nach zu der Gesamtzahl der möglichen wie
Endliches zu Unendlichem verhalten.
213. Einige Beispiele zur Erläuterung: So das Bei-
sammensein der Körper im Raum. (Wenn dies nicht
dem Zwecke, eine Welt zu bilden, dienen soll, so muß
es unendlich und abermals unendlich unwahrscheinlich
erscheinen, da doch schon in einer Linie unendlichmal
mehr Lagen völliger Isolierung denkbar sind.) Oder,
nehmen Sie einen Organismus, ja den Teil eines Organis-
mus, den Teil eines Teiles, z. B. unseren Augapfel und
seine Teile, die durchsichtige Hornhaut, die undurch-
sichtige weiße Haut, die Kristallinse, den Faltenkranz,
die vordere Kammer mit der wässerigen, die hintere mit
der Glasfeuchtigkeit angefüllt, die Gefäßhaut, welche die
weiße Haut bedeckt, selbst auf ihrer inneren Seite mit
einem schwarzen, schleimartigen Pigment überzogen, die
Regenbogenhaut oder Iris mit der Pupille, einem kreis-
förmigen Lichtloch in der Mitte, das sich verengen und
erweitern kann, den Sehnerv, der sich als Netzhaut in
unendlich feinen Verzweigungen über die Aderhaut ver-
breitet, die Linsenkapsel mit ihren vielen kapselförmig
sich umschließenden und mit zunehmender Kleinheit der
Kugelform sich nähernden Schichten. Und nun be-
denken Sie die wunderbaren Leistungen! Und wie diese
ohne die merkwürdigen physikalischen und chemischen
Beschaffenheiten der Bestandteile, ohne deren eigentüm-
liche Gestalt (der blinder Zufall nach drei Dimensionen
unendlichen Spielraum böte), und wiederum ohne die
eigentümlich abgemessene Veränderlichkeit der Gestalt
(Konvexität der Linse bei der Akkomodation, deren
Mechanismus zum Teil noch ganz rätselhaft ist) ganz
unerreichbar wären. Erwägen Sie, wie sich das Ganze
durch Ernährung erhält und wie sich die Teile beim
Wachstum umbilden müssen. Wie zahllose andere La.gen
der im einzelnen gegebenen Teile wären doch denkbar,
die aber die eigentümliche Leistung, als Sehapparat zu
dienen, unmöglich machen würden. Dazu dann noch
260 Lösung der Einwände gegen den Schein
tionen selbBt vor aller Erfahrung belehrt. Damit hat die ein-
fache Begierde, zu beißen, offenbar gar wenig Ähnlichkeit.
c) Bleihi; aber eine solche in gewissem Maße bestehen,
bleibt etwa,s, was trotz alledem, was gesagt wurde, einen
gewissen Schein von Teleologie wahrt, so hat dies in
wirklicher Teleologie seinen Grund. Der Zusammen-
hang ist der: die Hunde haben den Trieb zu beißen, wenn
sie zornig sind, und dies ist teleologisch. Die Folge davon
ist, daß jede Krankheit, die das Tier wütend macht, es
treibt zu beißen, und dies ist auch bei einer Krankheit,
die durch den Speichel ansteckend wirkt, der Fall. Man
vergleiche einen wütenden Ochsen: er wird stoßen, aber
nicht beißen, obwohl auch bei ihm der Speichel giftig
ist; einen wasserscheuen Menschen: er wird schreien und
um sich schlagen. Das Ganze ist also ein Gemisch von
einer zweckmäßigen Ordnung und einem pathologischen
Zustand. (Wie sich solche in eine teleologisch geordnete
Welt einfügen mögen, davon später ein Wort.)
So kehren wir das Argument gegen LITTRE : man be-
trachte den Zusammenhang der Tatsachen, und der
Schein einer besonderen künstlichen Teleologie beim Biß
des wütenden Hundes wird verschwinden, während er
beim Fortpflanzungstriebe bleibt, wie er denn schon auf
den ersten Blick ganz anders großartig sich darbietet.
So ist das Phänomen in der Tat nicht gleichartig.
(Ich will natürlich nicht leugnen, daß auch jeder Biß
des Hundes einen Zweck haben kann, ja hat; nur einen
ähnlichen Schein einer Aufgabe, die direkt auf Korrup-
tion gerichtet wäre, wie andere auf die Erzielung einer
Vollkommenheit, möchte ich beseitigt haben.)
221. Wenn bei dem Falle mit dem wütenden Hund die
Prüfung vornehmlich durch den Nachweis der Ungleich-
artigkeit des Phänomens den Einwand löste, so tut sie
es bei dem der rudimentären Glieder mehr durch die
Unterordnung unter das Gesetz.
Betrachten wir eines der erwähnten Beispiele im
besonderen.
der Teleologie überhaupt 265
Der Mann, wurde gesagt, hat Brustwarzen und Milch-
drüsen, aber nicht zum Säugen (obwohl HUMBOLDT
von einem säugenden Indianer erzählt). Ähnlich besitzt
in unvollkommener Entwicklung das Weib Glieder, die
nur beim männlichen Organismus für das vegetative
Leben von Bedeutung sind. Woher kommt das 1 Es
erklärt sich dies aus der Gleichheit des Keimes. (Erst
während der Entwicklung tritt eine Scheidung ein.)
Diese Gleichheit des Keimes aber scheint gewiß sehr
teleologisch, wie überhaupt schon die Allgemeinheit von
Dispositionen. Hier hat sie im besonderen eine Teilung
der Arbeit zwischen den Geschlechtern und infolge davon
eine vervollkommnete Leistung des einen und andern
zur Folge (Ehe). Ohne die Entwicklung der beiden Ge-
schlechter aus denselben ersten Dispositionen gäbe es
überhaupt nicht zwei Geschlechter, sondern wie bei den
meisten Pflanzen und bei manchen Tieren doppeltge-
schlechtliche Wesen, wenn nicht noch niedrigere Arten
der Fortpflanzung wie Parthenogenese oder ungeschlecht-
liche Sprossung und Zerfällung. Der vollkommenste von
allen ist offenbar der Zustand, wo die Geschlechter ge-
trennt sind n).
Mit dieser Gemeinsamkeit der ersten Dispositionen
hängt als notwendige Konsequenz das Vorhandensein
solcher rudimentärer Glieder zusammen. So ist denn die
Zulassung der Brustwarzen beim Manne teleologisch,
weil ihre Bildung und Entwicklung beim Weibe teleo-
logisch ist.
222. Von hier aus gewinnen wir nun ein wenig Licht
auch für die übrigen Fälle. Die Erscheinungen sind ja
analog, und so wird die Erklärung auch eine analoge
sein müssen.
In der Tat wissen Sie ja, daß die moderne Zoologie die
Deszendenzhypothese aufgestellt hat, wonach auch ver-
schiedene Arten, ja. Gattungen gemeinsamen Ursprunges
sind, und manche gehen kühn so weit, einen solchen für
alle Lebewesen zu behaupten. Diese Theorie, die sog.
266 Lösung der Einwände gegen den Schein
zweite. Nun aber haben wir schon, da wir von der an-
geblich törichten Vergeudung der Lebenskeime sprachen,
den, wie man meint, übergroßen Reichtum der Produk-
tionskraft in der Natur als dasjenige befunden, was in
zweckdienlichster Weise die Vollkommenheit in der
lebenden Welt erhält und fördert.
268. Weiter: Das Leid, meint man, der Irrtum, die
Schlechtigkeit würde ein moralisches Weltprinzip nicht
in seinen Plan aufgenommen haben. Wie kann ein un-
endlich gütiges und mächtiges Wesen fügen oder nur
dulden, daß einem Leid geschieht, daß er in den wich-
tigsten Beziehungen in Wahnideen befangen ist, ja daß
er dem größten sittlichen Verderben verfällt 1
Nichts ist kleinlicher und oberflächlicher als dieses
Gerede. W aa wir über die Zulassung eines Übels im Teile
in Rücksicht auf die Vollkommenheit des Ganzen sagten,
warum soll dies nicht auch auf Leiden, Irrtümer und
sittliches Verderben Anwendung finden 1 Bei endlich
vollkommenen Wesen beruhen Irrtum und Erkenntnis,
schlechter und guter Wille, Leid und Freude auf den-
selben Grundgesetzen des seelischen Lebens. Wer Irrtum,
schlechtes Wollen und Leid gänzlich ausschließen wollte,
der müßte, wenn nicht der natürliche Lauf fort und fort
durch Wundereingriffe unterbrochen werden soll, alles
vernünftige Seelenleben überhaupt aus der Welt ver-
bannen. Er würde sie aber kaum dadurch interessanter
gemacht und vervollkommnet haben.
269. Vielleicht sagt einer „nicht interessanter gemacht",
das will ich zugeben; besser gemacht aber jedenfalls.
Denn, wie sie jetzt ist, enthält sie mehr Irrtum als Er-
kenntnis, mehr Laster als Tugend, mehr Leiden als Lust.
Das heißt eben, das Schlechte überwiegt. Und so wäre
alles in allem eine tabula rasa auf diesem Gebiete ein
Fortschritt zu nennen.
Aber wenn auch viele solches mit Nachdruck be-
haupten, so bringen sie doch nichts vor, was dieses ihr
zuversichtliches Urteil rechtfertigte. Es mag sein, daß
übermenschlicher Teleologie 293
es mehr sittlich Schwache, ja mehr Lasterhafte gibt, als
heroisch tugendhafte Menschen. Aber was für eine rohe
Weise ist es, durch solche Abzählung zu bestimmen, ob
in der Summe Wert oder Unwert überwiege! Was mich
betrifft, so erscheint mir die Existenz eines Mannes wie
Sokrates etwas so Wertvolles, daß ich um seinetwillen
nicht die Geschichte Athens vermissen möchte, und wenn
noch zehntausend Schurken mehr dort ihr Unwesen ge-
trieben haben sollten. Ich fühle hier schier so, wie ich
nicht möchte, daß ein Bild des Tizian nicht bestände,
wenn auch mit ihm zehntausend ästhetische Mißgeburten
anderer Maler verschwinden sollten.
Bei Irrtum und Erkenntnis gilt dasselbe. Ich gebe zu,
daß der Irrtum weit verbreitet ist. Ja ein jeder, auch
der Weiseste, ist, während er schläft, der Spielball törichter
Einbildungen. Aber eine Entdeckung, die er als Wa-
chender macht, dürfte doch wohl in ihrem Werte allen
Unwert dieser träumerischen Irrungen aufwiegen.
260. Was endlich Leid und Lust anlangt, so ist es
gewiß nicht erwiesen, daß das Maß des Leidens dem der
Lust überlegen sei. Viele behaupten es (SCHOPEN-
HAUER, TURGENJEFF z.B.), viele glauben ebenso ent-
schieden des Gegenteils sicher zu sein. (So HUTCHESON
und neuerdings wieder HAMERLING.)
Prüft man die angeblichen Beweise, so findet man, daß
alles auf subjektiven Schätzungen beruht, die mit einer
wahren Messung wenig Ähnlichkeit haben. Sie ist wohl
wesentlich Temperamentsache. So werden Kinder, obwohl
sie zuweilen verzweifelte Wehlaute ausstoßen, nicht leicht
in bezug auf die Genüsse des Lebens pessimistisch denken,
während die morosa senectus, auch wenn sie sich gelegent-
lich trefflich amüsiert, im allgemeinen eher der ScHoPEN-
HAUERschen, trüben Weltanschauung zugänglich ist.
Was aber das Wertverhältnis von Freud und Leid an-
geht, so ist eines sicher: während die höchsten Freuden
reine Güter sind, schließen die grauenhaftesten Qualen
auch Gutes in sich. Denn als solche dürfen doch wohl
294 Lösung der Einwände gegen den Schein
darauf, daß sie ihre Sache mit der der Evolution für
identisch nehmen. Sehr mit Unrecht, denn es ist weder
erwiesen, daß die Evolution auf keinem anderen Wege
als dem von DARWIN angegebenen möglich gewesen,
noch auch nur, daß sie überhaupt auf diesem Wege mög-
lich gewesen sei.
301. Damit will ich aber durchaus nicht alles in Zweifel
gezogen wissen, was der Darwinismus behauptet und
voraussetzt.
Vor allem spricht vieles dafür, daß sich die Vielheit
der Arten aus einer geringen Zahl und die entwickelte
Gliederung aus relativer Einfachheit herausgebildet habe,
ähnlich wie der Vogel aus dem Ei und die beiden Ge-
schlechter aus dem gleichen Keime.
Gesichert ist ferner manches, was DARWIN zur Er-
klärung dieser Evolution heranzieht. So die Überpro-
duktion von Lebenskeimen und der Kampf ums Dasein,
der sich daran knüpft; gesichert, daß dabei das Voll-
kommenere, wenigstens das relativ besser Ausgestattete,
im Vorteile ist; gesichert, daß dieser Umstand die Ver-
vollkommnung begünstigt. Und da im Verlaufe der
Zeit eine Ausbildung zur Vollkommenheit eintrat, so hat
diese Überproduktion und der aus ihr sich ergebende
Kampf ums Dasein auch wohl dazu beigetragen.
302. Aber damit ist nicht gesagt, daß dieses Prinzip
der einzige und ausreichende Faktor der Entwicklung,
ja nicht einmal, daß es das vorzüglichste Mittel des Fort-
schrittes gewesen sei. Wenn aber dies nicht, dann hat die
Hypothese der mechanischen Notwendigkeit, wie sie uns
im DARWINschenVersuche vorliegt, das ihrige nicht getan.
Sie hat es unter keinem der beiden Gesichtspunkte
geleistet, unter denen wir die Orgap.ismen betrachtet
haben, weder unter dem ihrer hohen Schönheit, noch
unter dem scheinbar. höchst zweckmäßig ersonnener
Maschinen.
303. Die ästhetische Seite wird von der Hypothese der
blinden Notwendigkeit weniger beachtet. In der Tat, das
316 Die DARWINsche Theorie
"') IIAECKEL hat sich nicht gescheut, nach dem Tode DAR-
WINS einen Brief zu publizieren, worin nichts anderes ent-
halten ist als das Bekenntnis, daß er keiner positiven
Religion als Gläubiger anhing. Aber für H. geht daraus
hervor, daß D. ,,Monist" (d. h. Materialist) gewesen iBt.
344 Niederlage der Hypothese blinder Notwendigkeit
Antwort.
Der Einwand scheint ziemlich oberflächlich.
a) Vor allem gibt es eine große Menge teleologischer
Züge, die nicht Lagerungsverhältnisse sind oder auf
ihnen beruhen, z.B. die, welche schon die Natur der
Elemente an sich trägt, die durchgängige Einheit der
Ähnlichkeit und Kraftbeziehung.
b) Andere, wie das Zusammensein der Körper, sind
auch bei unendlicher Zeit unendlich unwahrscheinlich,
da zwei gerade Linien, wenn man sie nach beiden Seiten
ins Unendliche verlängert, sich doch nur in einem
Punkte schneiden. Die Zahl der Schnittpunkte der
Bahnen ist darum endlich und, wie groß auch immer,
unendlich klein und verschwindend im Vergleiche zur
unendlichen Vielheit möglicher Ausdehnungen, die in
Rechnung kommen.
c) Endlich ist in dem Einwande außer acht gelassen,
daß es Unendlichkeiten niederer und höherer Ordnung
gibt. Wir fanden oft den Zufall unendlich mal unendlich
unwahrscheinlich, ja mit einer unendlichen Unwahrschein-
lichkeit von unnennbar höherer Ordnung behaftet. Wenn
nun auch die Unendlichkeit der Zeit eine solche Zu-
sammenstellung unendlich leichter machen würde, so
würde die Folge keine andere sein, als daß sich die Ord-
nung der unendlichen Unwahrscheinlichkeit um eins ernie-
1
drigte, statt - - nun _!_
oc,D cx:,n- 1
wäre. Sie bliebe also, wenn es
sich z. B. um ein Unendliches der zweiten Ordnung han-
delte, immer noch unendlich, um so mehr, wenn es, wie
es hier der Fall ist, sich um unvergleichlich höhere und
höhere Ordnungen von Unwahrscheinlichkeiten handelt.
364. 3. Einwand.
Auch gegen die Sicherheit und Gültigkeit der Folge-
rungsweise wäre ein Einwand denkbar: die unendliche
Wahrscheinlichkeit gibt keine Sicherheit, denn auch un-
endlich Unwahrscheinliches geschieht und wird a parte
post ohne Widerstand geglaubt.
364 Vergleich der Verstandes- und Zufallshypothese
stehen. Aber dies ist nicht der Fall, denn erstens be-
wegen sie sich nicht in einem absolut leeren Raume,
und zweitens erleiden sie Reibungen, weil sie nicht durch-
aus feste Körper sind. Bei jeder Ebbe und Flut wird
mehr Kraft in Wärme verwandelt, und diese wird nach-
weisbar den Bewegungen der Gestirne, durch welche diese
Phänomene hervorgerufen werden, entzogen. So nimmt
denn die Gesamtheit der mechanischen Kräfte ab, bis
sie in eine über alle Körper gleichmäßig verteilte, unver-
änderliche Wärmemenge sich verwandelt haben wird.
Diese Wärmemenge wird natürlich eine bestimmte
Größe, ein gewisses Maß haben, und dieses Maß ist nach
dem Gesetz der Erhaltung der Kraft äquivalent dem Maß
gewisser mechanischer und anderer veränderlicher Kräfte,
die, wenn sie statt der Wärme beständen, notwendig
in einer bestimmten endlichen, wenn auch unermeßlich
langen Zeit wieder in diese Wärme sich verkehren würden.
397. Wenn nun aber dieses richtig ist, so können wir
offenbar auch umgekehrt von dem Endpunkt ausgehend
rückwärts auf einen Anfangspunkt der Bewegung schließen.
Wäre vor einer gewissen Zeitperiode, vor derjenigen
nämlich, innerhalb welcher auch bei der ungünstigsten
ursprünglichen Disposition der Kräfte der Gesamtvorrat
der Kraft in der Welt in unveränderliche Wärme sich
verwandelt haben muß, Bewegung in der Welt gewesen,
60 würde entweder der Prozeß des Umsatzes schon eher
zum Abschlusse gekommen oder die am Ende gegebene
Wärmemenge eine größere sein. S o mit, hat die Be -
wegung einen Anfang.
398. Man hat dagegen einzuwenden versucht: I. Nicht
alles muß zu Wärme werden. Etwas Bewegung bleibt,
nachdem die flüssigen Teile der Himmelskörper all-
mählich sämtlich festgeworden und infolgedessen Ebbe
und Flut aufgehört haben, übrig. Daher fehlt jener End-
punkt und der Schluß von ihm auf den entsprechenden
Anfangspunkt verliert allen Halt.
Aber die Lösung ist nicht schwierig.
396 Beweis des primus mot.or
33. (S.110.) Zur Klassifikation der Urteile vgl. B., Psych. II,
Anhang.
34. (S. 112.) Vgl. S. 65f.
36. (S.123.) Nach Hume gibt es keine Impression, aus·
der der Kausalbegriff geschöpft sein könnte. Auch nicht
durch Zusammensetzung von Elementen, die "'lerschiedenen
Impressionen entstammen, ist die Bedeutung dieses ,vortes
gebildet. Es ist - so müßte man, um der Tendenz seiner
Lehre ganz gerecht zu werden, sagen - gar kein Name,
sondern ein bloß mitbedeutender Ausdruck; ,,Ursache" für
sich allein hat auf diesem Standpunkte keinen Sinn, wohl
aber „ein etwas als Ursache Auffassender", was nichts anderes
heißt als „einer, der etwas denkt und daraufhin ein anderes,
dem jenes des öfteren vorangegangen ist, erwartet".
B. lobt (S. 126 und 129) die Methode und Sorgfalt, mit
der Hume in innerer und äußerer Wahrnehmung nach der
Quelle des angeblichen Kausalbegriffes gesucht habe, doch
enthält sein Referat nichts Näheres darüber. Vgl. Hume
a. a. 0., S. lOlff.
36. (S. 125.) Gemeint ist der Satz, daß der Flächeninhalt
eines Parabelsegments gleich ist zwei Dritteln des Parallelo-
grammes von gleicher Grundlinie und Höhe. Vgl.Versuch, S. 93.
37. (S. 128.) Versuch S. 35ff. wird auch noch auf einen
vierten Fall verwiesen, auf die durch Begriffe motivierte
(als richtig charakterisierte) Liebe und Bevorzugung. Einen
fünften nennt Psych. III/1, S. 34, das Entspringen der Apper-
zeption aus innerer Wahrnehmung. - B. unterläßt es, bei
der Kritik Humes darauf aufmerksam zu machen, daß Wir-
kendes und Gewirktwerdendes gleichzeitig sein müssen,
worauf seine eigene Metaphysik Nachdruck legt.
38. (S. 130.) Versuch S. 194f.
39. (S. 134.) Ein metaphysisches Ganze ist ein Akzidentel-
les (z. B. ein Denkendes), das als Teil die Substanz (das Ich)
einschließt. Ein logisches ist ein Speziesbegriff (Rotes), der
als Teil den Gattungsbegriff (Farbiges) einschließt. Über den
Unterschied s. S. 108.
40. (S.135.) Eine Fiktion aus doppeltem Grunde, weil
es keine Farben gibt, und wenn es solche gäbe, der Übergang
von einer einfachen Qualität zur andern über MiAchfarben
gehen müßte. Vgl. B., Untersuchungen zur Sinnespsychologie,
Leipzig 1907 (2. Aufl. in Vorbereitung als Psych. Bd. lll/2,
Phil. Bibl.).
41. (S. 134.) S. Anm. 40.
42. (S. 134.) Vielleicht wendet einer ein, solche „Tat-
sachen", wie die 1-9 angeführten, würde Hume eben rela-
Anmerkungen des Here.UBgebers 501
tiona nennen, nicht mattere of fact. Daa wäre ein Wortstreit;
worauf es sachlich ankommt, ist, daß sie auch auf dem Er-
fahrungswege festzustellen sind. Zudem beziehen sich die
Punkte 1-5 doch für jeden unverkennbar auf Reales. Wo
man dies aber, wie für 6 (Schluß von der Existenz von etwas
auf die Nichtexistenz des Entgegengesetzten), bezweifeln
könnte, liegt die Versuchung dazu nur in der Ausdrucksweise.
Nicht ein nichtreales Negativum wird erkannt, sondern ein
Reales wird in einem verwerfenden Urteil erkannt, d. h.
evident verworfen.
43. (8. 135.) Auch der Schluß von der Wirklichkeit auf
die Möglichkeit ist kein Schluß auf ein Nichtreales, sondern
ein durch ein evidentes Anerkennen eines Dinges moti-
viertes Verwerfen desjenigen, der daaselbe evident apodik-
tisch leugnen würde. Ein solcher wird als unmöglich er-
kannt.
44. (8. 135.) Auch Wahrscheinlichkeit kann man nicht
eine Tatsache im Sinne eines Realen nennen, man kann sie
aber überhaupt nicht zum Objekte machen, wohl aber einen,
der vergleichend beurteilt, was er über gewisse Dinge weiß
und nicht weiß. Vgl. Versuch, S. 160.
45. (8. 136.) ebenda III, Das Problem der Induktion.
46. (8. 136.) Auch Gesetze sind nicht Dinge und können
nicht zum Objekt des Denkens gemacht werden. Man drückt
sich aber, wenn man verwerfend apodiktisch etwas erkennt,
auch so aus, als habe man anerkennend die Unmöglichkeit
davon erkannt. Auch die Mathematiker urteilen über Dinge,
z.B. über Würfel und Kugeln, kümmern sich aber nicht
darum, ob sie irgendwo vorhanden sind, sondern begnügen
sich mit der negativen, apodiktischen Erkenntnis, daß jene
nicht sein können, ohne gleiche Seiten, diese nicht, ohne gleiche
Radien zu haben, worauf sie dann sagen, es bestehe das
Gesetz, daß jeder Würfel gleiche Seiten, daß jede Kugel
gleiche Radien habe. Hier handelt es sich um analytische
Urteile, hingegen erkennt der Chemiker nicht a priori, daß
H und 0, in einem gewissen Verhältnis verbunden, Wasser
ergeben, erschließt aber aus der Erfahrung (auf induktivem
Wege), daß es einer, der die Natur dieser Elemente so gut
kennen würde wie der Mathematiker die der geometrischen
Gebilde, aus deren Begriffe erkennen würde. Abgekürzt
sagt er dann, er hätte induktiv „ein Gesetz" erkannt. Vgl.
Anm. 48 und 78.
47. (8.137.) Vgl. Versuch ü. d. E., S. 88ff. und 93ff.
48. (8.137.) Wenn man sagt, ein Gesetz bedinge ein anderes
Gesetz oder eine konkrete Tatsache, so ist dies natürlich
502 Anmerkungen des Herausgebers
30. (S. 460) Man sieht, es ist nicht richtig, wenn manche
meinen, der Kontingenzbeweis führe zwar zu einem unmittel-
bar notwendigen Wesen, aber noch nicht zu einem solchen
Verstand. Auf die Verwandschaft dieses Arguments mit
einem, dessen Leibniz, in seines Theodizee sich bedient, hat
B. hingewiesen. (Über Kants Kritik der Gottesbeweise,
vier Phasen S. 84. Phil. Bibi. Bd. 195.)
31. (S. 461.) Was einem Notwendigen zukommt, kommt
ihm notwendig, was ihm nicht zukommt, kommt ihm un-
möglich zu. Vgl. S. 50.
32. (S. 462.) Vgl. Hume, DialogeüberdienatürlicheReligion,
deutsch von Paulsen, 2. Aufl. 1894 (Phil. Bibl. Bd. 36, S. 64).
33. (S. 464.) Vgl. Anm. 103.
34. (S. 465.) Dieser Paragraph enthält eine knappe Über-
sicht des in der vorausgehenden Vorlesung „Vom Dasein
Gottes" ausgeführten Beweises, daß der Darwinismus weder
den Schein der Teleologie überhaupt noch die Evolution im
besondem zu erklären vermag. Dort findet der Leser zu
jedem Satze dieser Übersicht die nähere Ausführung.
36. (S. 457.) Vgl. S. 15lf.
36. (S. 468.) Anm. 29.
37. (S. 470.) Ludwig Boltzmann, Vorlesungen über Gas-
theorie, Leipzig 1896/8. Ferner dessen Vortrag „Der zweite
Hauptsatz der mechanischen Wärmetheorie" (Populäre
Schriften, 3. Aufl., Leipzig 1925, S. 34ff.). Vgl. auch Czuber,
Die philosophischen Grundlagen der Wahrscheinlichkeits-
rechnung, S. 330ff., Leipzig-Berlin 1923.
38. (S. 470.) Vgl. oben S. 358f.
39. (S. 471.) Die Substanz, von der hier gesprochen wird,
wäre nichts anderes als der einheitliche, endlich ausgedehnte
Raum: die darin befindlichen Körper wären ao „darin", wie
sich die Qualität am Orte befindet, d. h. jeder Körper würde
den ihm zugehörigen Teil des Raumes als seinen substanziellen
Träger einschließen. Vgl. Anm. 127.
40. (S. 471.) Von der eben (in Anm. 39) erwähnten end-
lich ausgedehnten Raumsubstanz wurde schon gesagt, daß
sie beliebig kleiner oder größer gedacht werden könne, nie
aber unendlich groß. So besteht sie weder im Ganzen noch
einem ihrer Teile nach unmittelbar notwendig, und eben-
darum bedarf der Zusammenhang ihrer Teile einer Erklä-
rung.
41. (S. 471.) Vgl. S. 465.
42. (S. 472.) John Locke. Versuch über den menschl.
Verstand Bd. II, S. 290f. (Phil. Bibi. 76.)
43. (S. 472.) Vgl. S. 426.
Anmerkungen des Herausgebers 537
44. (S. 473.) Descartes' Lehre, daß das Wesen des Geistes
im Denken bestehe.
45. (S. 474.) Wenn ein isoliertes, von nichts umgebenes
Raumding sich bewegte, so wäre das nach B. eine substan-
zielle Veränderung, insofern damit Orte, die früher waren,
vernichtet würden und neue dafür zuwüchsen. Anders ist
die Bewegung zu deuten, wenn innerhalb eines Raumkon-
tinuums (Raumdinges) sich eine Qualität von einem Teil
der Substanz auf einen andern verschiebt. Dann erleidet
Substanzielles, nämlich die Orte, eine akzidentelle Verände-
rung. Vgl. Anm. 143.
46. (S. 474.) Nämlich die der Vielheit der Teile der Welt
entsprechende Fülle in der Einheit des göttlichen Denkens.
47. (S. 476.) Vgl. Anm. 149.
48. (S. 476.) Da B. einen zeitlichen Anfang der Welt
lehrt, kann mit dieser Bemerkung nur gemeint sein, daß die
Zukunft keinen Abschluß hat, während die abgelaufene
Dauer der Welt ins Unendliche an Ausdehnung wächst.
Weder dies noch jenes widerspricht der Unmöglichkeit
eines vollendet unendlich Ausgedehnten, denn diese betrifft
solches, was ist, d. h. was jeweils gegenwärtig ist. Was war
und was sein wird, ist nicht.
49. (S. 477.) Dieses Argument ausführlicher im Anhang zum
Ursprung S. 97ff. Vielleicht ließe sich auch so argumentieren:
Wenn ein unmittelbar notwendiges Wesen überhaupt eine
Wahl trifft, so könnte diese nur entweder auf das Beste unter
allem möglichen oder auf etwas fallen, was hinter diesem in
irgendeinem Maße zurückbleibt. Wie groß oder klein man
sich diesen Abstand denken mag, wie sollte man vermeiden,
damit ein Moment des Zufalls in das unmittelbar Notwendige
hineinzutragen 1
50. (S. 478.) Vgl. S. 449. Jlumes hier erwähnte Lehre
findet sich im Dialoge: über die natürliche Religion. Phil.
Bibl. Bd. 36, S. 93.
51. (S. 479.) Vgl. S. 62f.
52. (S. 480.) Hume a. a. 0. S. 117. Vgl. auch Bren-
tanos Abhandlungen über Sehopenhauer und über Kant»
Kritik der Gottesbeweise, im Anhange zu Vier Phasen, Phil.
Bibl. 195, S. 87 und 94.
53. (S. 482.) Hume a. a. 0. S. 111.
54. (S. 482.) Vgl. S. 426ff.
55. (S. 483.) Hume a. a. 0. S. 44.
56. (S. 485.) Vgl. S. 278f.
57. (S. 485.) Samuel Clarke, A demonstration of thc being
and attribution of God. London 1705.
538 Anmerkungen des Herausgebers