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FRANZ BRENTANO

VOM DASEIN GOTTES


l\Iit Einleitung und Anmerkungen
herausgegeben von

ALFRED KASTIL

VERLAG VON FELIX MEINER


HAMBURG
PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 210

Das ausführliche Inhaltsverzeichnis befindet sich auf Seite XIX ff.

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Vorwort des Herausgebers
Als ein Verehrer Leibnizens diesen einst wegen seiner
großen mathematischen Entdeckungen pries, wehrte der
Philosoph ab: nicht um seiner selbst willen sei ihm das
Studium der Mathematik wichtig, sondern wegen des
Dienstes, den er sich davon für die Ausbildung der Gottes-
beweise erhoffe. Leibniz mag dabei vor allem an die
Mathematik als allgemeine Schule des Scharfsinnes und
exakten Denkens gedacht haben, aber seine Hoffnungen
haben sich noch in anderer Weise erfüllt. Die Mathema-
tiker sind es, denen wir die Aufhellung des Verfahrens ver-
danken, wie der menschliche Geist aus gegebenen ~at-
sachen verborgene Ursachen und aus Einzelnem allge-
meine Gesetze erschließt. Durch die Ausbildung der
Wahrscheinlichkeitsrechnung erscheint die wissenschaft-
liche Induktion gerechtfertigt. Nicht Kant hat das
Humesche Problem gelöst, sondern Laplace.
Die Philosophen, in ihren Erkenntnistheorien durch ein
Jahrhundert von der Kritik der reinen Vernunft beein-
flußt, haben den Dienst, den die Mathematik der ihr an
sich fremden Ursachenforschung und damit natürlich
auch der Forschung nach der ersten Ursache leistet, lange
verkannt, und da sich die Weltanschauung der Gebil-
deten nach der herrschenden Philosophie richtet, ja diese
nach dem Gesetze der Gewohnheit noch eine Zeitlang
überdauert, hegt man heute noch Mißtrauen gegen alle
Metaphysik und ist geneigt, ein Werk, das Gottesbeweise
verspricht, als überholt beiseitezuschieben. Aber die
IV Vorwort des Herausgebers

Gebildeten werden eben abermals die Wandlung mit-


machen müssen, die sich in der Wissenschaft voll-
zieht.
Franz Brentano hat in seinem „Versuch über die Er-
kenntnis" den Einspruch, den Kant gegen jeden erneuten
Versuch eines Gottesbeweises erhoben hat, als ganz un-
berechtigt erkennen lassen und damit den wissenschaft-
lichen Weg zu Gott wieder frei gemacht. So darf man
denn ohne Scheu von neuem die Richtung einschlagen,
in welcher die echten Klassiker der Philosophie, von
Aristoteles bis Leibniz, dem erhabensten Ziele philo-
sophischer Forschung sich zu nähern suchten; doch muß
die Anknüpfung an sie in wahrhaft kritischem Geiste er-
folgen, im Sinne einer Auslese des Wertvollen und Fort-
bildung des Entwicklungsfähigen.
Wieviel Brentano an den Versuchen seiner großen Vor-
gänger zu ändern fand, wird der Leser dieses Bandes a:tr
raschesten erkennen, wenn er das Studium mit dei
Schlußabhandlung „Gedankengang beim Beweise für das
Dasein Gottes" beginnt. Zwei Jahre vor Brentanos Tode
entstanden, enthält sie seine Gedanken über das Problem
aller Probleme in ihrer reifsten Gestalt.
Alle Motive der sonst getrennt geführten Beweise er-
scheinen darin zu einem einheitlichen Beweisgange ver-
einigt. In mehreren Stufen erhebt sich der Bau. Das
Fundament bildet der sog. Kontingenzbeweis. Daß die
Welt weder zufällig noch unmittelbar notwendig ist, wird
in beiden Teilen originell nachgewiesen. Der Satz vom
ausgeschlossenen Zufall erscheint als analytischer Satz.
Zufall und Sein ergeben einen Widerspruch, so wahr jener
der Kontinuität widerstrebt, die dieses fordert. Die
Körperwelt aber kann auch nicht unmittelbar notwendig
sein, weil sie jederzeit ein bestimmtes Maß von Aus-
dehnung haben muß, aber nie ein solches haben
kann, das der Natur nach unüberschreitbar wäre, wäh-
rend eine vollendet unendliche Ausdehnung absurd er-
scheint.
Vorwort des Herausgebers V

Brentanos Nachweis, daß dem sog. allgemeinen Kausal-


gesetz der Satz vom ausgeschlossenen Zufall zugrunde
liegt und daß dieser ein analytischer ist, wird zweifellos
immer mehr Beachtung finden. Wer darin einen Fehler
vermutet, möge ihn aufdecken, in derselben exakten
Weise, wie sie in Brentanos Argumentation uns entgegen-
tritt; sich länger damit zufrieden geben, das Kausalgesetz
als ein „Postulat", als eine blinde Voraussetzung a priori,
hinzunehmen, bedeutet den Bankrott der Erkenntnis-
lehre.
Der Kontingenzbeweis führt zur Anerkennung eines
unmittelbar notwendigen, transzendenten, schöpferischen
Prinzips.
Daß dieses nicht anders denn als ein Verstand gedacht
werden kann, wird auf vier Wegen gezeigt, von denen
drei neue Wege sind, wobei sich unter anderem die alt-
hergebrachte Meinung, daß das unmittelbar Notwendige
schlechthin wechsellos gedacht werden müsse, als Irrtum
herausstellt. Brentano macht auf einen Wechsel aufmerk-
sam, der, weit entfernt, das Notwendige mit sich in
Widerspruch zu bringen, vielmehr unerläßlich ist, es mit
sich im Einklang zu halten, und erntet damit auf den
Höhen der Metaphysik eine Frucht seiner psychologischen
Analysen über unsere Zeitvorstellung. Das vierte der
Argumente für den schöpferischen Verstand ist das teleo-
logische, das bei Brentano wie ein Neubau erscheint.
Die Art, wie dann vom schöpferischen Verstand weiter-
geschlossen wird auf die Einheit und unendliche Voll-
kommenheit des ersten Prinzips, weicht wesentlich ab
von den entsprechenden Teilen der Vorlesung. Es han-
delt sich nicht bloß um Ergänzung und Berichtigung,
sondern um ganz neue Argumente.
Während der teleologische Beweis im „Gedankengang"
nur skizziert ist, wird er in der großen Vorlesung sehr
ausführlich behandelt.
Einen großen Fortschritt bedeutet vor allem die scharfe
Scheidung zweier Thesen: der Feststellung, daß allent-
VI Vorwort des Herausgebers

halben in der Welt ein Schein von Teleologie bestehe, und


der diesen Tatbestand erklärenden Hypothese, daß dieser
teleoide Charakter auf wirklicher Zweckordnung beruhe.
Wer, wie dies häufig geschieht, den teleologischen Beweis
mit der angeblichen Tatsache einer Zweckordnung be-
gänne, setzte sich nicht nur dem kürzlich wieder von
Driesch erhobenen Vorwurf des Anthropomorphismus
aus, sondern dem weit schlimmeren, das zu Beweisende
vorauszusetzen.
Auch die Behandlung jeder der beiden Fragen weist
eine Fülle origineller Züge auf. Was die erste anlangt, so
wird es dem Kenner der Geschichte des Problemes sofort
auffallen, in wie hohem Maße bei Brentano das von den
Teleologen fast ganz vernachlässigte Gebiet der leblosen
Natur zu seinem Rechte kommt.
Auf dem der lebendigen Natur waren die Tatsachen,
an denen Brentano hier einen überwältigenden Schein von
Teleologie demonstriert, zur Zeit der Entstehung seines
Entwurfes vielfach unter diesem Gesichtspunkte ange-
fochten. Die Teleophobie war eine ansteckende Krank-
heit, gegen die man ziemlich immun geworden ist.
Der Blick für den Schein der Zweckordnung hat sich
wesentlich geschärft. Die Beschäftigung damit ist nicht
nur extensiver, sondern auch intensiver geworden. Das
kommt besonders darin zum Ausdruck, daß man den
teleoiden Charakter der organischen Natur nicht wie in
früheren Jahren vorwiegend in der Deszendenz der
Arten, sondern in den wunderbaren Vorgängen der Keim-
entwicklung verfolgt, ein Gebiet, auf dem, wie Brentano
von allem Anfang erkannte, die eigentlichen Rätsel der
Teleologie liegen. In diesem Sinne macht es sich auch
Driesch zum Programm, den umgekehrten Weg ein-
zuschlagen, als die Früheren. ,,Allgemeine biologische
Erörterungen", sagt er, ,,pflegten stets von der Des-
zendenztheorie auszugehen und alle anderen Probleme
der Formenphysiologie wurden nur nebenbei als Dinge
minderer Wichtigkeit behandelt." In seiner „Philo-
Vorwort des Herausgebers VII
sophie des Organischen" kommt die Deszendenz zuletzt
und wird kurz erörtert, aber die Morphogenesis des In-
dividuums gelangt sehr eingehend und sorgfältig zur Dar-
stellung. Der Vorteil, der dadurch für die Behandlung
des teleologischen Problems erreicht wird, besteht in der
experimentellen Erfaßbarkeit und außerordentlichen An-
schaulichkeit der Grundphänomene ontogenetischer Ent-
wicklung. Man kann sagen, daß durch Werke wie das
von Driesch zum ersten Teile unserer Frage, d. h. zur
Sicherung der Tatsache, daß in der lebendigen Natur ein
Schein von Teleologie besteht, Beispiele von allergrößter
Bedeutung und zwingendster Kraft erbracht werden.
Driesch ist so in der Lage, unmittelbar an die Ergebnisse
moderner experimenteller Untersuchungen der Keim-
vorgänge die These zu knüpfen: Hier sieht alles so aus,
als ob innerhalb einer Kollokation von materiellen Teil-
chen das Walten der physikalischen und chemischen
Gesetze unter der Kontrolle eines diesem System selbst
nicht angehörenden, übernatürlichen Faktors gehalten,
bzw. gewisse darin enthaltene Tendenzen niedergehalten
würden, damit ein bestimmtes Ziel, die Bildung eines
Individuums der betreffenden Art, erreicht werde. Man
kann die Tatsache, daß hier ein Schein von Zweckordnung
bestehe, kaum eindringlicher formulieren, als dies durch
Driesch geschehen ist.
Vielleicht findet es einer befremdlich, daß ich den
wesentlichen Ertrag dieser „Philosophie des Organischen"
in dem Beitrage erblicke, den sie zur Sicherung des
Scheines der Teleologie leistet, während sie doch vielmehr
den Anspruch erheben dürfe, eine Erklärung dafür zu
bieten.
Da muß ich nun allerdings gestehen, daß ich eine solche
Erklärung in den Leistungen des modernen Vitalismus
nicht gegeben finde. Wenn Driesch davon spricht, daß
die Vorgänge im Keime, z.B. die erstaunlichen Regu-
lationen bei willkürlich gestörter Entwicklung, durch
einen äußeren Faktor „kontrolliert" würden, wagt er es
VIII Vorwort des Herausgebers

doch nicht, damit Ernst zu machen und diesen Faktor


einen psychischen zu nennen, ja, er lehnt dies geradezu
ab, weil er es nicht für angemessen hält, auf Vorgänge der
äußeren Natur Begriffe anzuwenden, die aus innerer Er-
fahrung stammen. Da dies nun zweifellos für den Begriff
des Kontrollierens zutreffen würde, so handelt es sich
also um ein Kontrollieren, das kein Kontrollieren ist, und
was bleibt dann, klar gesprochen, übrig als unsere be-
scheidene Ausgangsthese, daß alles sich so verhalte, als
ob eine solche Ordnung stattfände, d. h. eben die These,
daß hier der Schein einer Zweckordnung bestehe 1
Driesch will nun allerdings überhaupt nicht von Teleo-
logie in der Natur sprechen, sondern um einen solchen
psychologischen Begriff zu vermeiden, lieber von Ganz-
heiten und von Ganzheitsbezogenheiten, was ihm offen-
bar vorsichtiger und unverbindlicher scheint, scheut aber
andererseits nicht vor der Behauptung. zurück, daß er
solche Ganzheiten unmittelbar in äußerer Natur schaue.
Dieser Begriff der Ganzheitsbezogenheit beruhe durchaus
auf empirischer Gegenständlichkeit (d. h. er sei dem
Gebiete der äußeren Erfahrung entnommen).
Ich halte dieses Schauen für eine Selbsttäuschung. Die
„Ganzheit", welche hier gemeint ist, besteht ja nicht in
der bloßen Vereinigung einer Mannigfaltigkeit innerhalb
einer sinnfälligen Kontur oder anschaulich gegebener Zeit-
grenzen, sondern darin, daß eine gegebene Kollokation
von Dingen und Aufeinanderfolge von Vorgängen uns an
das verständige Walten von Wesen gemahnt, die, weil
sie eines als Zweck anstreben, anderes und mannigfaltiges
als Mittel dazu wählen und ins Werk setzen. Das aber
sind doch zweifellos Begriffe, deren Ursprung aus innerer
Erfahrung ein neuer Terminus nicht widerlegen, sondern
bloß verdunkeln kann.
Darum scheint mir der Anspruch, das wirkliche Ge-
ge bensein solcher Ganzheiten unmittelbar in der Natur
zu schauen, in der Tat das vorweg zu nehmen, was erst
durch eine Konfrontierung der Hypothese ihres tatsäch-
Vorwort des Herausgebers IX
liehen Bestandes mit der, daß es sich um einen bloßen
Schein solcher Bezogenheiten handle, zu beweisen wäre.
Hingegen ist der Versuch, Begriffe, die wir dem psy-
chischen Gebiete entnommen haben, außerhalb desselben
hypothetisch anzuwenden, durchaus nicht von vornherein
zu verurteilen. Müßten wir es uns doch sonst versagen,
von Ursachen und Wirkungen in der äußeren Natur zu
sprechen, denn auch diese Begriffe haben wir ursprüng-
lich dem Gebiete innerer Wahrnehmung entnommen.
So glaube ich denn nicht fehlzugehen, wenn ich bei
der Deutung bleibe, daß uns dieser Neovitalismus nicht
eigentlich eine Erklärung, wohl aber höchst überzeugen-
des Material zur Sicherstellung der Tatsache des Scheines
der Teleologie bietet. Daß diese Tatsachen, in die Form
eines Alsob gebracht, besonders eindringlich formuliert
erscheinen, macht aus der Fiktion noch keine ernsthafte
Hypothese.
Während dem ersten Teil des teleologischen Beweises,
der vom „Scheine der Teleologie" handelt, jährlich und
stündlich durch neue Entdeckungen der Wissenschaften
Material zuströmt, dürfte der zweite, welcher die Hypo-
thesen namhaft macht, die sich zur Erklärung jener Tat-
sache darbieten, und sie auf ihre relative Wahrschein-
lichkeit untersucht, wenig mehr zu seiner Ergänzung
übrig lassen.
Vor allem wird, wer sich an die Logik hält, Brentano
zugeben müssen, daß außer den drei von ihm unterschie-
denen Hypothesen keine vierte möglich ist. Denn ent-
weder besteht tatsächlich eine Zweckordnung, oder der
Schein trügt. Das erste besagt die Verstandeshypothese;
das Zustandekommen des bloßen Scheines aber könnte
nur entweder Ergebnis blinder Notwendigkeit oder er-
staunlichsten Zufalls sein.
Was sonst an Erklärungsversuchen geboten wird, ist
entweder mit inneren Widersprüchen behaftet, wie der
Pantheismus, der mit einem Dritten identifizieren will,
was nicht untereinander identisch sein kann, oder es
X Vorwort des Herausgebers

ist schon in den genannten drei Hypothesen ent-


halten.
Daß insbesondere der Vitalismus nicht damit konkur-
rieren kann, habe ich schon angedeutet. Um es noch
deut!icher zu machen, frage man sich, ob so viele kontrol-
lierende Faktoren (,,Entelechien") angenommen werden
sollen als Organismen oder nur eine einzige, die Ur-
cntelechie. Die erste Annahme würde den Schein von
Zweckordnung nicht erklären, sondern nur verstärken,
weil ja diese vielen nichtR von einander und vom Ganzen
der \Velt wissen und doch so wunderbar präzis an ihrem
einheitlichen Baue zusammenwirken würden. Die zweite
Annahme aber, welche Driesch selbst gelegentlich als
möglich andeutet, ist nichts als in ungewohnter Aus-
drucksweise die Verstandeshypothese. Nur so verstanden
ist die Erneuerung der Entelechienlehre fiktionsfrei, und
so war sie auch von Aristoteles gemeint.
So ist denn wirklich keine vierte Hypothese denkbar;
ja Brentano gelingt es nachzuweisen, daß eigentlich nur
zwei davon, Zufall oder Verstand, in .Frage kommen, da
die sog. Hypothese der blinden Notwendigkeit versteckte
Anleihen bei diesen beiden machen muß. Er knüpft dabei
an eine Hypothese an, die damals mehr als je zuvor
eine wissenschaftliche Lehre die Gebildeten in Bewegung
setzte, derart, daß die Stellung zu ihr zu einem Kriterium
der ·weltanschauung wurde. Es handelt sich um Darwins
Theorie der Selektion durch den Kampf ums Dasein.
Brentano griff in die Diskussion darüber mit einer wich-
tigen Unterscheidung ein: Deszendenztheorie und Dar-
winismus dürfen nicht miteinander verwechselt werden.
Jene ist gesichert, unabhängig davon, ob der Darwin-
sehe Versuch zu ihrer Erklärung gelungen ist oder nicht.
\V as nun diesen betrifft, so will Brentano durchaus nicht
darüber absprechen, daß die von Darwin herangezogenen
Momente unter den Faktoren, die zur Entwicklung der
Arten beigetragen haben, eine Rolle spielen. ·wogegen er
sieh wendet, ist der Wahn, als stelle Darwins Hypothese
Vorwort des Herausgebers XI
eine echte Form der Hypothese blinder Notwendigkeit
dar. Allerdings, man könnte, wenn sie eine solche wäre,
keine andere, einfachere ausdenken. Aber eben darum
kommt die Hypothese blinder Notwendigkeit mit ihr zu
Fall; denn sie kann ja nicht einmal die Entstehung neuer
Organe und ebensowenig die Vervollkommnung bereits
entwickelter begreiflich machen, ohne daß der Schein
einer alle menschliche Verstandeskraft und Kunst unend-
lich überragenden Teleologie der Uranlage zurückbleibt.
Gegen die Unzulänglichkeit des Darwinismus ist man
schon lange nicht mehr blind, doch dürfte sie kaum
irgendwo so zwingend und gemeinverständlich dargelegt
worden sein wie in dieser Vorlesung Brentanos. Da nun
gerade diese berühmte Theorie so viele zu Atheisten ge-
macht hat, ist es sehr zu bedauern, daß Brentano nicht
schon vor einem halben Jahrhunc:!.ert durch die Veröffent-
lichung seiner Kritik auch außerhalb des Kollegs in den
Kampf gegen den Materialismus eingetreten ist. Von
seinen Studenten danken ihm viele Hunderte die Er-
haltung des Gottesglaubens und die Bewahrung vor jener
materialistischen Diesseitsreligion, deren fanatische Ver-
künder der \Velt den Himmel auf Erden versprochen und
die Ausführung damit begonnen haben, ein Riesenreich
zur irdischen Hölle umzuschaffen. -
In der großen Vorlesung nimmt der teleologische Be-
weis die erste Stelle ein. Ihm folgen der Beweis aus dem
Anfang der Bewegung, der aus der Kontingenz der Welt
und der psychologische aus der Geistigkeit der Seele wie
selbständige Argumente, deren keines einer Verifikation
durch die andern bedürfte, wie immer eine solche wegen
der verschiedenen Aufnahmefähigkeit der menschlichen
Intellekte praktisch willkommen sein mag.
Jeder dieser Beweise knüpft an ältere Versuche, die fast
alle bis auf Aristoteles zurückgehen, an, wird aber im
wesentlichen originell geführt.
Schon daß der Beweis aus der Bewegung zu einem
solchen aus dem Anfange der Bewegung wird, entfernt
XII Vorwort des Herausgebers

ihn von dem aristotelischen, und neu ist auch die Art, wie
dieser Beginn nachgewiesen wird, besonders im ersten
Teile, wo er aus dem Gesetze der Entropie gefolgert wird.
Brentano hat diesen Schluß schon im Jahre 1868 gezogen,
seither ist er des öfteren wiederholt worden. Wie hier
Errungenschaften moderner Physik herangezogen werden
zur Lösung der erhabensten metaphysischen Frage, so im
psychologischen Beweise die Ergebnisse der Gehirn-
physiologie, wobei sich die Überraschung einstellt, daß
gerade das Fehlen eines unpaarigen Seelensitzes, der
Früheren zum Nachweise der Unkörperlichkeit des psy-
chischen Subjekts unentbehrlich erschienen war, den
Ausschlag zugunsten derselben gibt. Der Beweis für die
Unkörperlichkeit des psychischen Subjektes, hier nur in
knappen Andeutungen geboten, wird in anderem Zu-
sammenhang ausführlich wiedergegeben werden.
Nachdem jeder der vier Beweise zur Annahme eines
schöpferischen Prinzips geführt hat, soll in der „Vor-
lesung" eine einfache und kurze Überlegung die unend-
liche Vollkommenheit dieses Urprinzips erkennen lassen.
Später hat Brentano diese Überlegung nicht mehr so
einfach gefunden, und im „Gedankengang" wird auch
auf die Selbständigkeit der vier Beweise für den Schöpfer
verzichtet.
In der Tat müssen sich Bewegungsbeweis und psycho-
logischer, um auch nur diese Etappe zu erreichen, auf den
Satz vom ausgeschlossenen Zufall stützen. Eher könnte
der teleologische dessen entraten, denn ein zufälliger Ver-
stand würde die scheinbare Ordnung noch immer leichter
erklären als ein zufälliger Unverstand.
So wird denn aus mannigfachen Gründen eine ein-
heitliche Konzeption, bei der sich die verschiedenen den
überlieferten Beweisen entlehnten Motive in die Arbeit
teilen und zum Ganzen zusammenwirken, vorzuziehen
sein. Ich war darum in Versuchung, die Schlußabhandlung
„Gedankengang", die eine solche enthält, direkt an die mit
S. 204 endenden ,,Voruntersuchungen'' anzuschließen.
Vorwort des Herausgebers XIII
Dafür sprach auch noch anderes. Brentanos Kollegien-
heft bietet vom positiven Teile nur den teleologischen Be-
weis ausführlich und in einer Fassung, die durch seine
späteren Untersuchungen nicht überholt ist, während der
psychologische und der Kontingenzbeweis nur wenig aus-
geführt sind und sich zum Teil in später verlassenen Ge-
leisen bewegen. Das letzte gilt auch von gewissen Partien
des Bewegungsbeweises, der allerdings im Kollegienhefte
einen weit größeren Raum einnimmt als diese beiden. Im
Kapitel „Vollendung der Beweise für das Dasein Gottes",
das vom schöpferischen Verstand zum unendlich voll-
kommenen Wesen führen will, erschien Brentano selbst
später die Tragweite unseres Schöpfungsbegriffes über-
schätzt, wenn dort aus der unendlichen Schöpferkraft so-
fort auch auf ethische Vollkommenheit geschlossen wird.
In diese Lücke tritt eine spätere Abhandlung „Von der
sittlichen Vollkommenheit der ersten Ursache aller nicht
durch sich selbst notwendigen Wesen" ein, mit Über-
legungen, die zum Teile im „ Gedankengang" wiederholt
werden.
Wenn ich mich doch nicht dazu entschlossen habe, den
ganzen zweiten Hauptteil der großen Vorlesung gegen
die Abhandlung „Gedankengang'' einzutauschen, so
haben folgende Bedenken den Ausschlag gegeben.
Vor allem durfte die klassische Darstellung des teleo-
logischen Beweises, die ja auch durch spätere Über-
legungen Brentanos in keinem wesentlichen Punkte über-
holt worden ist, nicht unterdrückt werden. Sollte sie
ihren Platz im „ Gedankengang" bekommen, wo an Stelle
von dreieinhalb Druckseiten nicht weniger als hundert-
fünfzig einzuschieben gewesen wären 1 Das hätte das
Gefüge der feinen, kleinen Abhandlung gesprengt, ihre
übersichtliche Konzeption gestört. Den teleologischen
Beweis aber am ursprünglichen Platze zu lassen und die
drei andern wegen ihrer veralteten Fassung im Kollegien-
hefte daraus zu streichen, hätte den Meisterbau des
Kollegs zur Ruine gemacht.
XIV Vorwort des Herausgebers

So mußte ich mich zur Umarbeitung der drei dem


teleologischen folgenden Beweise entschließen. Ich habe
mich gefragt, wie Brentano sie geführt hätte, falls er
selber dazu gekommen wäre, die große Vorlesung zu
publizieren, und habe nach gründlichem Studium von
allem, was der Nachlaß zu diesen Problemen enthielt, aus
Handschriften und Diktaten, aus Briefen und Gesprächen
das Reifste zusammengetragen, wovon ich annehmen
durfte, daß Brentano selber mit seiner Einfügung an
Stelle der abgetragenen Teile des Baues einverstanden
gewesen wäre. Ob er diesem partiellen Umbau nicht einen
Neubau über dem Grundrisse des „Gedankenganges" vor-
gezogen hätte, ist keine Frage von praktischer Bedeutung.
Er hat den Bau nicht ausgeführt, der Grundriß aber liegt
dem Leser in der Schlußabhandlung dieses Bandes vor.
Auch im ersten Teile des Buches, in den Vorunter-
suchungen, konnte sich die Arbeit des Herausgebers nicht
auf die mechanische Leistung korrekter Abschriften be-
schränken. Wir haben es ja, zum ersten Male bei der
Publikation des Nachlasses, mit einem Kollegienhefte zu
tun. Von solchen darf in der Regel vermutet werden, daß
sie, in bloßen Schlagworten niedergeschrieben, das meiste
der Ausführung durch den freien Vortrag überlassen. Das
trifft glücklicherweise auf diese Vorlesung nicht zu. Sehr
beträchtliche Teile sind stilistisch ausgearbeitet, immer-
hin die Stellen, wo an die Ergänzung durch den Vortrag
gedacht war, so zahlreich, daß ich dies nicht immer
anmerken konnte. Es wäre ja auch, wo der Gedanke ein-
deutig vorlag, pedantisch gewesen. Wo die Redaktion
sachlicher Natur war, ist darauf aufmerksam gemacht.
Einiges aus Brentanos Heften ist leider verloren gegangen,
aber Nachschriften seines Schülers Marty standen mir zur
Verfügung.
Die sachlichen Korrekturen beziehen sich immer auf
Punkte, wo die spätere Lehre Fortschritte brachte. So
mußte der veränderten Stellung Brentanos zur sog.
theologia analogica Rechnung getragen werden, die
Vorwort des Herausgebers XV
keinem unserer empirischen Begriffe Anwendbarkeit auf
Gott zugestehen will, nicht einmal dem des Seienden.
Auch hätte es Brentano sicher mißbilligt, wenn z. B. im
Kapitel über das ontologische Argument die alte Auffas-
sung, als könne man auch solches, was nicht real wäre,
zum Gegenstande des Denkens machen, und die Meinung,
als hätten wir es bei Worten wie Existenz oder Möglich-
keit mit Namen und Begriffen zu tun, nicht getilgt wor-
den wäre. Durch die Einsicht, daß es sich dabei um bloß
mit bedeutende Worte handle und daß Möglichkeiten,
Unmöglichkeiten, ewige Wahrheiten nur im Sinne einer
Fiktion zu einem Etwas, insbesondere zu einem von Gott
unabhängigen gemacht werden können, wird ja nicht nur
die Analyse des ontologischen Argumentes selbst noch
durchsichtiger, sondern auch die Metaphysik im allge-
meinen und die Gotteshypothese insbesondere von allen
störenden Überbleibseln der Platonischen Ideenlehre
befreit.
Das Konservieren des Überlebten hätte übrigens das
Studium der Philosophie Brentanos für alle, die es aus
den Nachlaßbänden begonnen haben, erschwert, denn
diese bringen die Lehre in ihrer reifsten Gestalt.
In den „Voruntersuchungen", dem ersten Teile des
vorliegenden Bandes, ist wohl alles Wesentliche gewürdigt,
was gegen die Möglichkeit exakter Gottesbeweise vor-
gebracht werden kann. Die Auseinandersetzung mit
Hume und K9,nt umfaßt einen ganzen Entwurf der Er-
kenntnistheorie.
Wo der Text der Vorlesung späteren Arbeiten Bren-
tanos angepaßt werden mußte, war oft aus mehreren
Fassungen eine Wahl zu treffen. Ob ich immer die rich-
tige getroffen, wird man kontrollieren können, sobald der
ganze Nachlaß bekannt sein wird. Manches hätte ich
gerne nochmals überarbeitet, aber der Gedanke an die
Fülle des Stoffes, den die Herausgeber noch zu bewäl-
tigen haben, zwang dazu, die auf diesen Band gewendete,
vor vier Jahren begonnene, aber mehrmals unterbrochene
XVI Vorwort des Herausgebers

Arbeit zum Abschluß zu bringen, zumal viele das Er-


scheinen dieses Werkes schon lange und mit zunehmen-
der Ungeduld erwarten.
In Zweifeln konnte ich mich wiederholt mit meinem
Freunde Prof. 0. Kraus in Prag, der gerade den sechsten
der von ihm übernommenen Nachlaßbände fertiggestellt
hat, beraten. Entsagungsvolle Hilfe bei der Redaktion
des Druckmanuskriptes danke ich meinem getreuen, frei-
willigen Assistenten Dr. Ernst Foradori. Mein Fakultäts-
kollege, der Botaniker Prof. Dr. Adolf Sperlich hatte die
Güte, den Text des teleologischen Beweises durchzusehen
und manche Anmerkung zu den Biologisches betreffenden
Partien beizustellen. Ihnen allen sei herzlich gedankt.
Die erste Erwähnung der Vorlesungen über das Dasein
Gottes findet sich in einem Briefe Brentanos an Marty
vom 1. Februar 1871, wo es heißt: ,,Stumpf erzählt mir,
daß Sie die Logik dieses Semesters wünschen. Leider
werden Sie nicht das finden, was Sie erwarten. Ich ließ
mich, um die durch den Krieg vorzeitig abgebrochene
Metaphysik des vorigen Semesters zu ergänzen, dazu ver-
leiten, einen Teil der für die Logik bestimmten Stunden
auf den Beweis des Daseins Gottes zu verwenden, und
da ich hier in beliebter Weise eingehend war, dehnten die
Untersuchungen sich über vierundzwanzig Stunden aus.
Namentlich vermehrte ich die Betrachtungen über die
Möglichkeit eines strengen Beweises und ging auf ganz
neue Objektionen ein." Die Handschrift dieser Vorlesung
findet sich im Nachlaß, ebenso aber auch noch ältere Ent-
würfe, die bis 1867 zurückreichen. Das Kollegienheft ist
wiederholt umgearbeitet worden. Am 6. April 1873 be-
richtet er Marty, daß er seine Würzburger Laufbahn mit
der Erörterung der großen Weltanschauungsfragen ab-
geschlossen habe: in der Metaphysik mit den Gottes-
beweisen, im Kolleg über Psychologie mit der Unsterb-
lichkeitsfrage, im Seminar (,,in der Sozietät") mit den
höchsten ethischen Betrachtungen. Ein Jahr darauf
rühmt er den Eifer der Wiener Studenten, die in der
Vorwort des Herausgebers XVII
Psychologie mit gespanntester Aufmerksamkeit folgen
und der Vorlesung über das Dasein Gottes immer zahl-
reicher zuströmen, so daß man in den größten Hörsaal
übersiedeln muß. Aus dem Jahre 1877 datiert eine neue
Redaktion des Metaphysikheftes. Der Text des vorliegen-
den Bandes aber ist zum größten Teile nach der Hand-
schrift vom Jahre 1891 hergestellt. Doch finden sich
zwischen den mit violetter Tinte beschriebenen Quart-
seiten dieses Manuskripts vielfach kleine, mit Bleistift
geschriebene, nicht selten schon schwer lesbare Oktav-
blätter aus den älteren Fassungen.
Wie weit Brentano in jeder einzelnen Stunde gekommen
ist, verzeichnete er am Rande, wo die Lektionen fort-
laufend gezählt sind. Da diese Zäsuren nicht sachlichen
Abschnitten entsprechen, konnten sie im Drucke nicht
beibehalten werden. Eine Gliederung in abgerundete
Vorlesungen aber hätte solche von zu verschiedenem
Umfange ergeben. So bleibt es der gelegentlich vorkom-
menden direkten Anrede an die Zuhörer überlassen, den
Charakter einer Vorlesung anzudeuten.
Großen Wert legte Brentano immer auf zusammen-
fassende Inhaltsangaben zur Erleichterung der Über-
sicht. Die zum ersten Teile des vorliegenden Bandes, zu
den Voruntersuchungen, und die zum „Gedankengang"
stammen von ihm selbst. Bei der Einteilung in Para-
graphen erlaubte ich mir Abweichungen vom Hefte, wo
sie nicht fortlaufend, sondern abschnittweise durchge-
führt und häufig unterbrochen ist.
Bei den Anmerkungen blieben die bisher bewährten
Gesichtspunkte gewahrt. Sie sollten vorwiegend solches
enthalten, was der Leser zum besseren Verständnis
braucht, aber nicht leicht anderswo als bei einem mit der
Gesamtlehre vertrauten Schüler Brentanos finden kann.

Das Erscheinen des Werkes fällt in eine Zeit, wo die


Gebildeten nicht. mehr so stark im Banne materialistischer
Weltanschauung stehen wie in den Jahren, da es entstand.
XVIII Vorwort des Herausgebers

Doch scheint eine andere Gefahr nicht gering, nämlich


die des Mystizismus. Wem Philosophie eine Wissen-
schaft und nicht bloßes Surrogat für eine solche ist, für
den kann es auch in der Gottesfrage nur zwei Dinge
geben, entweder Verzicht oder Beweise.
Innsbruck, Weihnachten 1928.
ALFRED K.ASTIL
Inhalt
Vorwort dC's HC'rnusgPhC'rs. . . . . . . . . . III
Zum GdC'itt•: Aus einem Briefe F. Brentanos an einen
Agnostiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . LIII

VOM DASEIN GOTTES


Yorlesungen, gehalten an den Universitäten Würzburg und
Wien (lSGS-1891)
Ein1eitung
Theoretisches und praktisches Interesse der Gottesfrage
I. Die ""ichtigkC'it dieser Untersuchung soll beleuchtet
werden z1miid1><t . . . . . . . . . . . . . . . . . l
2. unt.er thcoret.isd1r.m Gcsiehtispunkte. Unter diesem
iiherragt sie all<' anrlC'rC'n
a) wC'gcn <lf'r VolllrnmmC'nheit des GegPnstandes. Ihn,
wpnn auch nnr rnangp]haft zn erkennen, das höchste
dem J\h,nschen hPschiedC'ne Glück . . . . . . . . 2
b) In sich betrachtf't., ·wäre das Da,:ein Gottes diejenige
"\Yahrheit, von ckr allf, anderen abhängen . . . . 2
3. Unt.cr praktischem: a) Glück8quelle. b) Trost im Un-
glück (Leibniz); Bedürfnis im Glück (Goethe) .... 3
c) Dcsonc!Nc ]krlPnhmg im Zusammenhang mit der
Unstcrblichkeits:fragr. . . . . . . . . . . . . . . 3
Die ist., nach dem ZC'up;ni;; der Dichter, die Sehnsucht
aller EdlPn; ohne Gott aber wäre Unsterblichkeit gar
nicht zn \YÜnschen . . . . . . . . . . . . . . . 4
d) Ebenso im Zusammenhang mit der Frage nach der
Zukunft des ganzen KrPiscs, auf den wir wirken . . 5
4. Bctfrutung für die l\loral. a) Kant. Schiller . . . . 5
b) \Yas in sich gut und schlecht., muß freilich unabhängig
von der Cottesfrag<' pr)rnunt. W<"r<kn. ,Ymi aber da$
praktisch Best<" ist., hiingt davon ab, ob die \Velt-
Pnt.wiPkhmg mdir zum Guten als zum Bösen führt.
Ohne GlauhPn 1111 die individuelle Unsterblichkeit ist
keine optirnistü,che Ethik des ,virkens möglich und
jener nicht ohne Gottesglauben. Ein Optimismus
ohne Gott ist keiner dPs Verstandes, sondern des Trie-
be,; . . . .......... . 5
5. Bedeutung fiir die soziakn Zustünde ..... . 10
6. B<>dcutung für die Kunst 10
7. ,Yie die ThPistPn halten sie auch die Atheisten für die
wichtigste Frage. Zeichen dafür . . . . . . . . . . 11
XX Inhaltsverzeichnis

8. Behandlungsweise der Frage. Nicht blindes Glau-


ben, \ViRRen streben wir an. Eingehende Darlegung auch
der Gegengründe unerläßlich . . . . . . . . . . . 11

Erster T ei1
Voruntersuchungen

Erste Voruntersuchung
Ob die Untersuchung nkht überflüssig? Behauptung, das
Dasein Gottes stehe von vornherein fest
I. Äußerliche Argumente dafür
9. Zwei Untersuchungen sind zu führen: ob Gottesbeweise
I_1icht überflüssig und ob sie nicht unmöglich . . . J:-5
10. Äußerliche Argumente für die Behauptung, daß es gar
keiner Beweise für das Dasein Gottes bedürfe . . . . 15
Leichtigkeit, mit der die Kinder den Glauben an
Gott annehmen, und Übereinstimmung aller Völker in
ibm deuten darauf, daß er priori feststehe.
Antwort: Weder diese noch jene spricht dafür. Es
gibt ursprüng~\che Glaubensneigungen auch für Irrtüm-
liches. Die Ubereinstimmung der Völker im echten
Gottesglauben besteht gar nicht, bestünde sie aber, so
bediirfte es nicht dieser Erklärung . . . . . . . . . . 16
11. Berufung auf den Satz: Gott ist das Prinzip, wodurch
wir alles erkennen . . . . . . . . . . . . . . . 17
12. Antwort: Etwas von Gott Gewirktes erkennen heißt
noch nicht es als von Gott Gewirktes erkennen . . . 18
13. Hinweis auf das ungleich bestechendere ontologische
Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18

II. Das ontologische Argument für das Dasein Gottes


A. S e i n e G e s c h i c h t e v o n A n s e l m b i s L e i b n i z
14. Interesse in historischer Beziehung . . . . . . . . . . 19
15. Fassung des Argumentes bei Anselm von Canterbury. 19
16. Des Mönches Gaunilo Kritik daran. . . . . . . . . . 20
17. Kritik von Thomas v. Aquino . . . . . . . . . . . . 21
18. Erneuerung des Arguments in veränderter Form durch
Descartes . . . . . . • • • • . . . . . . - . . . 21
19. Einwand, der schon diesem vorlag, daß zunächst Gottes
.Möglichkeit gesichert sein müßte. . . . . . . . . . . 22
20. Descartes hält diese Forderung für berechtigt, aber leicht
erfüllt. Ebenso Leibniz. Jener will die Möglichkeit
Gottes der Klarheit, dieser dem durchwegs positiven
Charakter des Gottesbegriffes entnehmen . . . . . . . 23
Inhaltsverzeichnis XXI
B. Humes Kritik des ontologischen Argumente
21. Die Annahme, daß der Satz „Gott ist" dem Subjekt ein
bereits darin enthaltenes Prädikat „Existenz" zuspreche,
ist falsch. Das Urteil ist keine Prädikation, sondern ein
Glauben an den Gegenstand (was wiederum eine Art
Fühlen oder fest beharrendes Vorstellen desselben ist).
So ist der Satz kein analytischer. Außerdem ist der Ge-
danke eines durch sich notwendigen WeseflS ein Un-
gedanke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
22. Warum Humes Opposition geringen Einfluß auf die
öffentliche Meinung gewann. Andere seiner Sätze zogen
mehr die Aufmerksamkeit auf sich. Seine weitgehende
Skepsis widerstrebte den meisten. Seine Untersuchung
ist verwickelt. Die sämtlichen dazu gehörigen Momente
nirgends übersichtlich zusammengestellt . . . . . . . 25
23. Zudem ist in seinen Erörterungen manches paradox,
anderes irrtümlich. l. Ein Irrtum, wenn er lehrt, ,,A" und
„Existenz von A" besage dasselbe. 2. Paradox mußte
da.mal;; die Lehre klingen, daß das Urteil nicht wesent-
lich in einer Verbindung von Vorstellungen bestehe . . 26
3. Unhaltbar, daß es ein Gefühl oder festeres Vorstellen
sei. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
4. Daß es ein in sich notwendiges Wesen nicht geben
könne, können wir nicht von vornherein wissen. Auch
ist es nicht richtig, daß unmöglich dasselbe heißt wie
widersprechend. Es könnte Axiome geben, die einem
andern Typus als dem des Kontradiktionsgesetzes an-
gehören.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
24. Die Wolff-Schule behielt das Argument. Doch Kant
entging das Bedeutsame in Humes Angriff nicht 29
C. Kants Kritik des ontologischen Arguments
25. Momente in Humes Opposition, denen Kant nicht bei-
stimmt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
26. Dagegen gibt er zu, daß der Satz „Gott ist nicht" nicht
unmittelbar widersprechend ist . . . . . . . . . . 30
27. Der Satz „ Gott ist" gilt Kant als kategorischer Satz,
aber von sehr eigentümlicher Art, nämlich als ein syn-
thetischer Satz, welcher den Gegenstan~ selbst mit
dem Begriffe in Beziehung setze, wie denn Ahnliches von
jedem Existenzialsatze gelte . . . . . . . . . . 31
28. Kants Folgerung aus dieser Lehre über die Natur des
Existenzialsatzes für das ontologische Argument . . . 33
29. Dessen wesentlichen Fehler findet er darin, daß es ein
synthetisches Urteil für analytisch nimmt . . . . . 33
30. Großer Beifall, den diese Kritik Kants am ontologischen
Argument gefunden . . . . . . . . . . . . . . . 33
31. Was daran Kant eigentümlich ist. Seine Differenz von
Hume und ihr Belang: die Rückkehr zum kategorischen
Urteil. Dennoch Spuren, die an Hume erinnern, in der
eigentümlichen Auffassung vom Existenzialsatz . . . 34
XXII Inhaltsverzeichnis

32. Irrtümer Kants: unmöglich kann der wirkliche Gegen-


stand die Stelle des Prädikats im Existenzialsatz ein-
nehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
33. Auch Existenzialsätze könnten analytisch sein 36
34. Daß im Begriffe Gottes dessen Dasein enthalten, läßt
sich nicht leugnen . . . . . . . . . . . . . . . . 37
35. So scheint denn zunächst der Ansturm Kants in seiner
Berechtigung zweifelhaft. Kein Wunder, daß das Argu-
ment nach wie vor Verteidiger gefunden hat . . . . 38
36. Und doch ist es zu verwerfen, es ist ein Trugschluß durch
Mehrdeutigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
D. Nachweis des Fehlers im ontologischen
Argument
37. Daß so vielen bedeutenden Philosophen ein so grober
Fehler unterlaufen konnte, erscheint erstaunlich . . . 39
38. Doch nur für den, der die Geschichte der Wissenschaft
und die Natur der Äquivokationen nicht genügend stu-
diert hat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
Verwüstungen, welche Äquivokationen schon an-
gerichtet haben . . . . . . . . • . . . . . . . 40
Weites Gebiet der Äquivokationen. Schon Aristoteles
hat Untersuchungen über ihren mannigfachen Cha-
rakter angestellt. Seine Dreiteilung derselben. Seine
Bemerkungen sind nicht erschöpfend. Beispiele.
Allgemein in allen Sprachen ist die Äquivokation eines
Namens durch dreifache Supposition. Noch eine
vierte wäre zu notieren . . . . . . . . . . . . . 40
Nicht bloß Namen sind äquivok, auch Pronomina,
Partikeln, Flexionen. Ferner syntaktische Verbindun-
gen (Formeln). Besonders groß ist die Gefahr, wo man
sich die Bedeutungen nicht klar gemacht hat und gar
nicht an Äquivokationen denkt . . . . . . . . . 41
39. In unserem Falle können zweierlei Äquivokationen vor-
liegen:
I. entweder wird ein negatives Urteil für
positiv ge ha 1ten (wegen der bejahenden Aus-
sageform). Dies begegnet allen Logikern, die vom
Satz des Widerspruchs den der Identität „A ist A"
unterschieden wissen wollen . . . . . . . . . . 42
40. 2. oder eine bloß nominale Bestimmung
für eine reale genommen . . . . . . . . 43
41. Nach weis des zweiten Fehlers im ontologischen Argument 44
42. Nachweis der ersten. . . . . . . . . . . . . . . . 45
43. Was alles man bei Nichtbeachtung der Äquivokation
ebensogut beweisen könnte . . . . . . . . . . . . 46
E. Die im ontologischen Argument versteckte
Wahrheit
44. Trotz der Größe des Fehlers sind die Verteidiger des
Arguments nicht gering zu schätzen. Sie haben sonst
Inhaltsverzeichnis XXIII
Großes geleistet, und einer gereicht dem andern zur
Entschuldigung. Auch die Gegner haben die tiefste Wur-
zel. des Irrtums nicht aufgedeckt. Auc:I:i Kant nicht 47
Überhaupt haben die Logiker die Aquivokation der
Formeln nicht bemerkt . . . . . . . . . . . . . 48
45. Zudem haben die Verteidiger an Wahres gerührt . . 48
A. Wahr ist: W er zu g i b t , d aß Go t t m ö g li c h i s t ,
muß zugeben, daß er ist. Nachweis dieses
Satzes durch Analyse des Sinnes von „möglich" und
von „Gott" . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
46. Vergleichender Blick auf die mathematischen \Vahr-
heiten. vVas, wenn wahr, notwendig wahr ist, ist, wenn
falsch, notwendig falsch . . . . . . . . . . . . . . 50
47. Andere Wendung des Beweises der These . . . . . . 51
48. ~'.lanche wollen überall von der }Iöglichkeit auf die Wirk-
lichkeit schließen . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
49. Sofern sie dem Satze zustimmten, waren also Descartes
und Leibniz im Recht; sie irrten aber, da sie sich den
Beweis der Möglichkeit Gottes leicht dachten. Er ist
aus dem Begriffe überhaupt nicht zu führen. Der Be-
griff eines allrealen \Vesens ist geradezu widersprechend 52
50. ::\-Ieinung derjenigen, die keinen unserer Begriffe auf Gott
anwendbar finden . . . . . . . . . . . . . . . . 53
51. Diese „analogische Theologie" läuft auf einen Agnostizis-
mus, ja auf Atheismus hinaus . . . . . . . . . . . 54
Vollständig ist unser Gottesbegriff freilich nicht und
reicht darum auch nicht aus, sein Dasein erkennen zu
lassen. Zeugnis Humes, daß dazu der Besitz irgend-
welcher anwendbarer Begriffe nicht genügen würde . 55
Die Rede von einer bloß analogi;;chen Erkenntnis
Gottes ist Produkt einer philosophischen Verfallszeit.
52. Unterschied der Begriffe unendlich vollkommen undallreal. 56
53. Auch klar im Descartesschen Sinne kann man unsern
Gottesbegriff nicht nennen . . . . . . . . . . . . 56
54. Kant hat recht, daß er nicht ausreiche, uns die Möglich-
keit seines Gegenstandes zu ge,vährlei-,ten 57
Gleichwohl bleibt auch Leibniz im Rechte: aus der
}Iöglichkeit würde die Wirklichkeit Gottes folgen.
55. B. Wer einen v o 11ständigen Gottes b e griff
hätte, wiirde daraus seine Existenz er-
kennen . . . . . . . . . . . . . . . 58

Zweite: Voruntersuchung
Ob es von vornherein einleuchte, daß sich das Dasein
Gottes nicht beweisen fasse?
56. Zwei Standpunkte, die unsere "C"ntersuchung aussichtslos
erscheinen lassen: dem einen gilt ein unendlich voll-
kommenes Wesen (Gott) selbst fü1· unmöglich; dem
andern Gottesbeweise für undurchführbar . . . . ; . 60
XXIV I nhaitsv~rzeichnis

I. Gründe, die es von vornherein einleuchtend machen


sollen, daß Gott nicht sei
57. I. Der Begriff eines unendlich vollkommenen Wesens
schließt ·Widersprüche ein . . . . . . . . . . 60
Antwort: nicht er, sondern der des allrealen VVesens,
mit dem er sich nicht deckt . . . . . . . . 60
58. II. In einem unendlichen Wesen müßte alles Endliche
untergehen . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
Antwort: ein Sophisma nach Art des Gorgias; das
unendlich Vollkommene ist nicht die Summe
aller Werte . . . . . . . . . . . . . . . . 61
59. III. Das ·werk des unendlich Vollkommenen müßte
unendlich vollkommen sein, nicht voll von Mängeln
wie die \Veit . . . . . . . . . . . . . . . . 62
Antwort: nur ins Unendliche an Vollkommenheit
wachsend.. . . . . . . . . . . . . . . . . 62
Instanz: aber dann doch tadellos in jedem Momente. 62
Antwort: da wir den letzten Zweck nicht kennen,
läßt sich kein Tadel als berechtigt erkennen und
die Annahme, daß die Welt wachsend an Voll-
kommenheit jedes Maß überschreiten werde,
nicht durch unsere Erfahrung widerlegen 62
60. Beleuchtung unserer Frage von dieser Seite. Blick
auf den wahrscheinlichen Ausgangspunkt der Ent-
wicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
61. IV. Das Prinzip der Ähnlichkeit des Wirkenden mit
dem Gewirkten schließt aus, daß Gott Ursache des
Schlechten sei; und doch müßte er Ursache von
allem sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
Antwort: dieses Prinzip leuchtet weder a priori ein,
noch wird es durch die Erfahrung gerechtfertigt 65
62. V. Die Regelmäßigkeit im Laufe der Natur ist un-
vereinbar mit dem freien Walten eines a1lmächtigen
Wesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
Antwort: regellose Eingriffe widersprächen seiner
Weisheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
Gottesglaube schließt Wunderglauben nicht ein. 68
63. VI. Gott würde wirken ohne zu leiden, was dem Gesetz
der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung
widerspricht . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
Antwort: a) dieses Gesetz ist nur auf Körper an-
wendbar. b) Die Analogie zu „doppelte Masse -
doppelte Anziehung" wäre „unendliche Kraft -
keine Gegenwirkung'' . . . . . . . . . . . 68
64. VII. Der göttliche Verstand müßte einfach und unabhän-
gig sein; jedes Denken fordert aber ein komplizier-
tes physiologisches Substrat . . . . . . . . . 70
Antwort: grober Anthropomorphismus. - Un-
haltbarkeit des sog. Korrelativismus vom Be-
wußtsein und Gehirnprozeß . . . . . . . . . 70
Inhaltsverzeichnis XXV
II . .Argumente, welche darauf ausgehen, von vornherein
zu zeigen, daß ein sicherer Beweis für das Dasein Gottes
nicht erbracht werden könne
A. Skeptische Bedenken aHgemeiner Art
I. D e r all g e m e i n e S k e p t i z i s m u s
65. Er verwirft jede Erkenntnis . . . . . . . . 72
und widerspricht damit sowohl der Erfahrung als auch
sich selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
II. Die gemilderte Skepsis der N eueren Akademie
66. Diese Form läßt überall nur Wahrscheinlichkeit gelten 73
67. Wäre sie im Recht, so bliebe für die Gotteserkenntnis
nur eine minimale, aber auch sie widerspricht der Er-
fahrung und sich selbst . . . . . . . . . . . . . . 74
III. Die limitierte 8 ke p si s David Humes
68. Bei jedem Schluß von Tatsachen auf Tatsachen stützen
wir uns auf Kausalverhältnisse. Seine Berechtigung
hängt davon ab, ob das Vertrauen auf die Erfahrung ver-
nünftig ist. Es ist unvernünftig; man folgt dabei dem
blinden Drange der Gewohnheit . . . . . . . . . . 75
Ein Schluß auf eine transzendente Tatsache ist außer-
dem unnatürlich, und so insbesondere der auf das Da-
sein Gottes beides, unvernünftig und unnatürlich . . 76
IV. Der transzendentale Idealismus Kants
69. Kants Reaktion gegen Hume bekämpft seine Angriffe auf
alle Wissenschaft, indem sie sich auf synthetische Er-
kenntnisse a. priori stützt. Aber dem Versuch eines
Gottesbeweises bringt er keine Hilfe . . . . . . . . 77
70. Vor allem erscheint ihm selbst die Möglichkeit erweitern-
der Erkenntnisse a priori mysteriös. . . . . . . . . 78
71. So greift er zur Hilfsannahme, daß sich die Gegenstände
nach ihnen richteten . . . . . . . . . . . . . . . 79
72. Doch nur solche Gegenstände, die bloße Phänomene, nicht
Dinge an sich sind. Die Phänomene sind Produkt einer-
seits der Dinge an sich, andererseits unserer Subjektivität 79
Unser Erkenntnisvermögen zweifach: Anschauung und
Verstand, jene trägt die apriorischen Formen von
Raum und Zeit in sich, dieser liefert uns zwölf reine
Verstandesbegriffe, die sog. Kategorien . . . . . . 80
73. So haben denn die synthetischen Erkenntnisse a priori,
ohne welche kein Aufbau der Wissenschaft möglich,
nur im Bereiche möglicher Erfahrung Gültigkeit. Das
Dasein Gottes erscheint auch von Kants Standpunkte
als schlechthin unerweisbar . . . . . . . . . . . . 81
Kritik der Lehre Kants
74. Kants synthetische Erkenntnisse a priori können in der
Tat Gottesbeweise nicht retten; dies um so weniger, weil
wir gar keine solchen Erkenntnisse besitzen . . . . . 81
XXVI Inhaltsverzeichnis

75. Ist dem so, so hat Kant freilich nicht entfernt die Be-
deutung, welche man ihm zuzuschreiben pflegt. Er war
mehr ein Schriftsteller der Macht als der Wahrheit, wie
man dies von Hegel und Schelling bereits allgemein ein-
gesteht. Der frühere Irrtum der öffentlichen Meinung in
bezug auf diese läßt einen solchen in bezug auf Kant
minder befremdlich erscheinen . . . . . . . . . . . 83
76. Ein paar geschichtliche Momente machen sie noch mehr
verdächtig: a) Kants Nachwirkung, b) seine Stellung im
Ganzen der neueren Philosophie . . . . . . . . . . 84
Die drei großen Perioden der Philosophiegeschichte
und das Gesetz der vier Phasen innerhalb jeder der-
selben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
77. Kurze Veranschaulichung dieses Gesetzes an der Periode
der alten und der mittelalterlichen Philosophie 86
Die vierte Phase überall eine Art Surrogatphilosophie.
78. Die Surrogate, deren sie sich für echte Erkenntnis be-
dient, sind teils überschwenglich, teils Lückenbüßer . 87
79. Kants Lehre ist vom Grund aus unhaltbar. Wie schon
gesagt, gibt es gar keine synthetischen Erkenntnisse
a priori. Wenn Kant solche gefunden zu haben glaubt,
so ist dies die Folge davon, daß er weder den Begriff der
Erkenntnis noch den des Synthetischen richtig faßt . 88
80. Daß Erkenntnis Einsicht verlangt, entgeht ihm. Be-
zeichnend dafür sind vier Momente: . . . . . . . 89
a) die Frage: Wie sind synthetische Erkenntnisse a
priori möglich ? . . . . . . . . . . . . . . . 89
b) die Antwort: die Dinge richten sich nach ihnen . 90
c) die Frage nach den Grenzen ihrer Gültigkeit . . 90
d) die Antwort darauf: ihre tatsächliche Beschränkung
Sie wären hiernachnurVorurteile, von welchen Kant
vertraut, daß sich die Gegenstände nach ihnen richten 90
81. Indessen finden sich bei ihm unter der Bezeichnnng
synthetische Erkenntnis a priori auch evidente Sätze
a priori, die aber dann eben nicht synthetisch, sondern
analytisch sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
Kant entgeht dies, weil er auch den Begriff des
Synthetischen nicht richtig faßt, was ihn dazu
führt, den analytischen Charakter vieler Urteile zu
verkennen und infolge davon die Bedeutung dieser
Klasse zu unterschätzen und zu leugnen, daß durch
sie unsere Erkenntnis erweitert werde . . . . . . 91
82. Widerlegung. Auch Erläuterung erweitert unsere Er-
kenntnis. Axiome positiven Widerstreits neben denen
der Kontradiktion . . . . . . . . . . . . . . . . 92
83. Die ganze Arithmetik besteht aus analytischen Erkennt-
nissen. Die Rolle, welche in ihr die Anschauung spielt,
ist eine ganz andere als diejenige, die Kant ihr zuweist 92
84. Ebenso analytisch ist die Geometrie. Kant verkannte
dies, weil er Lehrsätze irrtümlich für axiomatisch hielt
und unter den Axiomen manche übersah . . . . . . 96
lnba.ltsverzeichnis XXVII
85. Andere Beispiele Kants sind zwar synthetische Erkennt-
nisse, aber nicht e. priori. So z. B. das Trägheitsgesetz.
Man kann nicht einmal sagen, wir hätten einen an-
geborenen Drang, da.ran zu glauben. Kant bringt für den
apriorischen Charakter allerdings sein gewöhnliches
Argument: Allgemeinheit und Notwendigkeit, allein dies
zeigt nur, wie unzugänglich diese Kriterien sind . . . 97
Eher bliebe die Möglichkeit, den Fall als ein Mittelding
von apriorischer und aposteriorischer Annahme zu
fassen, als einen durch Induktion vorbereiteten Drang,
über ihr Ergebnis hine.uszugreifen. (Kardinal New-
me.ns gra.mme.r of e.ssent.) Aber auch dann hätten wir
nur ein Vorurteil, keine Erkenntnis, selbst wenn uns
Gegenstände den Gefallen täten, sich nach unseren
Vorurteilen zu richten . . . . . . . . . . . . . 98
86. Instanz: wenn wir nur dessen gewiß sind, dann bekommt
ein solches Vorurteil den Wert einer Erkenntnis 99
Antwort: aber wie sollen wir dessen versichert sein, daß
sich die Gegenstände nach ihnen richten ? Kant
glaubt sich sicher, aber er irrt darin, denn es ist weder
selbstverständlich und wäre es sogar nicht, wenn der
reine Idealismus richtig wäre und unsere Subjektivität
allein es wäre, die die Phänomene erzeugte, noch
kann die Erfahrung de.für Gewähr bieten, wenn anders
wir ihr mit Kant die Kraft, Allgemeingültigkeit zu
sichern, absprechen. Auch wären in diesem Falle
die synthetischen Erkenntnisse a. priori nutzlos, und
wo bliebe die Hilfe gegen Humes Angriff auf die Ver-
läßlichkeit der Induktion? . . . . . . . . . . . lOl
87. Auch in anderen Punkten zeigt sich Kants Lehre un-
haltbar. So die von den Vorstellungen (Anschauungen
und Begriffen) e. priori . . . . . . . . . . . . . . 101
88. Was die Re.um- und Zeite.nsche.uung anlangt, hat Kant
ihre Apriorität nicht erwiesen. Er macht, indem er es
versucht, von dem Kriterium der Allgemeinheit und
Notwendigkeit in äquivoker ·weise Gebrauch .... 102
89. Nicht einmal diese selbst vermag er festzustellen, ge-
schweige denn de.mit zu beweisen, was er will .... 103
90. Eine Re.um- und Zeitanschauung, wie Kant sie uns zu-
schreibt, haben wir nicht. Die unsere ist weder rein,
noch unendlich, noch a. priori . . . . . . . . . . . 104
91. Ebenso unhaltbar ist seine Ke.tegorienlehre. Einige der ver-
meintlichen Begrüfe e. priori sind nicht einmal Begriffe l 05
92. Und die es sind, sind nicht a priori. Empirischer Ur-
sprung des Subste.nzbegriffes . . . . . . . . . . 107
93. Verfle.chungdesAristotelischenSubstanzbegriffes beiKant l 09
94. Kant will die Kategorien aus den Unterschieden des ur-
teilenden Verhaltens ableiten, verkennt aber die Natur
des Urteiles. Was er auf solcher Unterlage weiterbaut,
wird für die folgende Zeit zum verderblichen Beispiel
scheinwissensche.ftlicher Konstruktion . . . . . . . . 110
XXVIII Inhaltsverzeichnis

95. Unhaltbar sind endlich auch Kants Beschränkungen der


Forschung, worin er teils Hume Zugeständnisse macht,
teils sogar antastet, was dieser unberührt gelassen 111
96. 1. die Unerkennbarkeit des Dinges an sich. Sie ist
durch Kant unzulänglich bewiesen, ja durch das
Zeugnis der evidenten inneren Wahrnehmung gerade-
zu widerlegt . . . . . . ........... 112
Auch die sog. phänomenale Erkenntnis eines
Dinges ist Erkenntnis eines Dinges an sich, näm-
lich dessen, der das Phänomen hat . . . . . . 113
97. 2. die ausschließliche Gültigkeit der synthetischen Er-
kenntnisse a priori für Gegenstände möglicher Er-
fahrung, wobei auch die mathematischen Axiome
und das Kausalgesetz einbezogen werden .... 114
Diese Einschränkung ist völlig willkürlich . . . 115
98. Wäre sie aber berechtigt, so bliebe nicht genug für
Mathematik und Naturwissenschaft. Diese wendet
das Kausalgesetz nicht auf Phänomene an, sondern
auf Dinge an sich und hat nie ein Bedenken, über die
Erfahrungsgrenze hinauszugehen ........ 115
Ebensowenig hält die Mathematik diese ein, ihre For-
schungen beziehen sich auf mehr aJs dreidimensionale
Überräume. (Kant selbst läßt, wo ostensive Kon-
struktion nicht möglich, symbolische zu) 116
99. Kant selbst durchbricht beide Schranken: so beim
Schluß auf das Ding an sich, auf die Subjektivität,
auf fremde psychische Phänomene, auf eine Mehr-
heit seelischer Wesen . . . . . . . . . . . . . 117
Klaffende Widersprüche in seiner Kosmologie.
Die synthetischen Erkenntnisse e. priori sollen
nicht für die Totalität der Erscheinungen gelten,
was mit ihrer Gültigkeit für jeden einzelnen Teil
im Widerspruch steht . . . . . . . . . . . . 118
100. 3. Genau besehen beschränkt Kant auch die Gültigkeit
der analytischen Erkenntnisse ......... 118
101. Kants Kampf gegen die Skepsis endigt so mit einer
Niederlage auf der ganzen Linie. . ........ 120
Kritik der Lehre Humes
102. Kants Mißlingen spricht nicht gegen die Kraft seines
Geistes .................... . 120
103. Beim Kampf gegen Hume ist der gesunde Menschen-
verstand von vornherein auf unserer Seite, denn seine
Argumente beweisen entweder nichts, oder es fällt die
ganze empirische Wissenschaft . . . . . . . . . . 121
104. Wiederholung der Hauptpunkte seiner Lehre . . . . 122
105. Weitreichender Charakter seiner Skepsis ..... . 123
106. 1. Hume übersieht, indem er die apriorischen und aposte-
riori.Bchen Erkenntnisse nach den Gegenständen schei-
det, daß dasselbe auf beide Weisen erkannt werden
könnte .................... . 124
Inlmltsverzeichnis XXIX
107. 2. Eine Folge dieses Fehlen:; ist rfü, Vernachlässigung von
Tatsachem,chliisscn, die keine Kausalschliisse sind .. 125
108. 3. Seine Bestimmung des Ursachenbegriffes ist verfehlt.
Berichtigung . . . . . . . . . . . . . . . . 126
100. Nachweis, aus WC'klien Phiinomenen dieser Begriff ge-
sC'höpft ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
ll0. ·warum Humc selbst, obwohl der richtigen l\Iethode
sich bewußt, den Nadnn:,is V<'rfrhlt hnbt?n mag . . . 129
111. 4. Falsch ist aneh s!'ine Belrnuµtnng, daß unsn Vertrauen
auf clic Erfahrung unvernünftig und immer nur durch
den Drang der Gewolmhr it bestimmt sc>i . . . . . 130
112. Eine neue Thc>orie für Tatsaclwnschlüs,se muß gefunden
,,-erdt>n. lÜe dann auch clen 1:-r-hlüsisenauf Tram;zenllen-
tes gerecht \Yerclr-n muß . . . . . . . _ . _ . . . 131
113. Kurzer Riir-kblic·k . . . . . . . . . . . . . . .. 132
114. Schlüsse von Tat~achcn aufTatsad1c>n mfü,sen den allgt>-
meinen Regt>ln dc>rLogik entsprechen. heben also nur Be-
rechtigung 1. wenn die, Priimiss«"n den Schlußsatz Reibst,
oder2.dessen unt?nd]ic,hp 1\"ahrscheinlic hkeit einschließen.
Hieraus; schon erhellt die Bedeutung der 1\"ahr1,chein-
lichkeitsrechnung für die Induktion. Die l\1atlw-
matiker liefern uns die "\Yaffp gegen Humos Angriff
auf die Erfahrung.swissernselmft . . . . . .... 132
Die wahre Natur der Schlüsse von Tatsachen
auf T11tsachen
ll5. I. Tatsachensr-hliisse, bei denc,n die PrämiqR<>n den
Schlußsatz involvieren . . . . . . . . . . . . . . 133
116. II. Tatsachenschlüsse, bei denen die Prämissen die un-
endliche "\Vahrsch<>inlichkeit des Schlußsatzes involvie-
ren. Ein orientierende,; Beispiel . . . . . 136
117. Zwei Fälle von Tatsachenschliissen, die nicht Kausal-
schliisf-e sind (1, 2) . . . . . . . . . . . . .... 136
118. Kmrnalbeziehungcn ,;ind iibt?rall zu erschließen, wo die
Erfahrung kontinuierlicht>n ZnRnmmenhang z<>igt (3) . 137
119. Schlüsse auf besondt>rc Kausnlge,;ctze. Unterschied von
empirischen und Grnndgp,;ptzc,n (4) . . . . . . . . 138
120. Das allgem<>ine Kausalg<'sc,tz. l\1ißglückter Ver-
such, es empiri,;eh zn Ric>hern (5) . . . . . . . 139
121. Der richtige Erfahrungsbeweis; stiit.zt sid1 auf das Ge-
setz: natura non faC'it saltum . . . . . . 140
122. Mißglückte Ver,mche, dag allgemeine Kausalgesetz
a priori zu beweisen . . . . . . . . . . . . . . . 141
123. Apriori,scher Beweis dafür aus dem Begriff des
·werdens, der zwar nicht den Begriff der Ursache, aber
den der Zeit enthält . . . . . . . . . . . . . 141
124. Analyse der ven,chiedenen Fälle, unter denen ein nr-
sachlost>s Vl·erdt>n stattfinden müßte:
a) einfachstpr Fall, wo einem Realen, das von Relbst
werden könnte, kein positiver, nur der kont.ra-
diktorische Gegensatz entgegensteht. . . . . . . 142
XXX Inhaltsverzeichnis

125. b) kompliziertere Fälle, wo auch mit positiven Gegen-


sätzen zu rechnen wäre. Analyse des Falles, wo das
spontane Entstehen nur Rolange als möglich gedacht
wird, als keiner der positiven Gegensätze wirklich ist 144
126. c) Analyse des Falles, wo spontanes Geschehen auch
trotz des Bestandes eines positiven Gegensatzes mög-
lich gedacht wird . . . . . . . . . . . . . . . 145
127. Zwei Einwände gegen diesen apriorischen Beweis des
allgemeinen Kausalgesetzes und ihre Lösung .... 147
128. \Viederholung des Grundgedankens .unseres Beweises 149
129. Verwandtschaft desselben mit den Motiven, die das
Kausalgesetz dem gesunden Menschenverstande emp-
fehlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150
130. 'Wiederaufnahme der Frage (aus 119), ob Kausalgesetze,
die Grundgesetze sind, sich empirisch feststellen lassen 150
131. Antwort: Grundgesetze im strengen Sinne (wahrhaft
kosmologische Gesetze) wären nur unter Voraussetzung
der Erkenntnis des Daseins Gottes mit Sicherheit fest-
zustellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152
132. Schlüsse auf konkrete Ursachen (6) . . . . . . . . 153
133. Bedingungen für Schlüsse auf transzendente
Ursachen (7)
a) man muß eine Vorstellung davon haben ..... 154
b) die Annahme muß die Tatsachen unendlich besser
erklären als alle andern Hypothesen. Die erste ist
erfüllbar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154
134. Drei Fälle, wo auch die zweite erfüllt ist ...... 155
135. Humes Vorwurf besonderer Unnatürlichkeit transzen-
denter Schlüsse ist unberechtigt. Die Gewohnheit
drängt auch zu Analogieschlüssen, wie z. B. der teleo-
logische Beweis solcher sich bedient . . . . . . . . 157
V. \\"eitere Acgumente allgemeiner Art gegen die
Beweisbarkeit des Daseins Gottes
136. Rückblick auf die bisher erörterten Einwände ... 159
137. Comtes Einwand, daß die Ursachenforschung über-
haupt, also auch die nach der ersten Ursache unmöglich 160
138. Antwort: Unterscheidung eines zweifachen Sinnes, in
dem man die Ursachen für unerkennbar halt.en kann 161
139. Richtig ü,t, daß wir die Weise, wie Gott die Welt wirkt,
nicht erkennen können, was auch kein Theist be-
ansprucht . . . . . . . . . . .......... 163
140. J. St. :'.\Iills Einwand: eine Hypothese, die eine beson-
dere Natur von Ursachen erfindet, ist nie zu verifizieren 164
141. Antwort: die Mathematiker, in ihren Theorien über vVahr-
scheinlichkcit, wic1!'Sennichts von solchem Hindernis 165
Die Naturwissenschaften stellen als Hypothesen
ungescheut neue Individuen, ja neue Spezies auf und
glauben, sio exakt verifizieren zu können 165
142. Zeugnis von Helmholtz (gegen Goethes Ansicht über
Naturerklärung) . . . . . . . . . . . . . .... 166
InhoJtsverzeichnis XXXI

B. Argumente, welche dem Gegenstande spezieH angepaßt sind


143. I. Ein Be·weis ist eine Erkenntnis aus <km C:rull(k;
Gott hat keinen Grund J67
Antwort: der Grund einer Erkenntnis hrauC'ht
nicht der des Erkannten zu sein. Scinsgrund und
Erkenntnisgrund fallen oft nicht zusamrnf'n . 168
144. II. Bei jedem Beweis stiitzt man sich auf allgemeinP
Gesetw (z. H. auf <las Kau~olgcsetz oder das
Kontradiktionsgesetz), aber Gott lintcrliegt keinPm
Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
l 45. Antwort,: 1. Kein evidenter Satz läßt Ausnahmen zu.
2. Daß die logischen Gesetze auf Uott anwendbar,
unterwirft ihn nicht einem frcmdnn \\'illcnsgnbot.
3. E1· ist nicht durch seinen \Villen notwendig . 170
146. Instanz: <ler Satz des \\"iclerspn1ch setzte ahcr dod1
seiner Allmacht SPhranken. Auch wären <lin
logischen Gesetze, ,rnnn nicht Dinge, so doch
von ihm unabhängige Entitäten. . . . . . . 172
Antwort,: Die Unmöglichkeit, Absurdes zu wollen,
ist keine Beeinträchtigung. Gesetze sind weder
abhängig noch unabhängig von Gott, weil sie
überhaupt nicht im eigentlichen Sinne sind . I 73
147. Irnitanz: Daß er darauf verzichten muß, positiv
\Viderstreitendes zu wirken, mindert die Voll-
kommenheit seines \Verkes ......... 174
Antwort: Nebeneinander lmnnsein, was nicht eines
sein kann; für das Vielerlei bietet oft eine hi\hcre
Einheit Ersatz; die Welt wächst ins Unt'ndlicho
an Vollkommenheit . . . . . . . . . . . . 174
148. III. Die Gotteshypothese erklärt äußi>re Vorgiingc in
Analogie zu unserem Inneren, ein Rückfall in naive
~tadien der Forschung . . . . . . . . . . . . 17 5
Antwort: Analogiebildungen können wisst'nsc-lmft-
einwandfrei sein . . . . . . . . . . . . .. 175
149. Instanz: Die Menschen sind auf Urun<l naiver Ue-
dankengänge auf den Gottcsglaubt'n vPrfallen.
Kompromittiert dieser Ursprung nic-ht auch
unsere, Gotteshypothese? . . . . . . . . . 176
Antwort: "'enn zunächst ungenügende Gründe,
später vielleicht andere, die genügen. Irrige
Hypothesen oft die Vorläufer der richtigen und
einen Teil der ·vvahrheit enthaltend ..... 177
150. IV. Beim Gottesbeweis wäre höchstens physische
Sicher hcit (unendliche W ahrseheinlichkeit) möglich. 178
151. Aber auch diese ist unerrl'ichbar, weil die Gottes-
hypothmrn vorgiingig unendlich unwahrscheinlich
ist, denn sie nimmt a. etwas Beispielloses, b. t;_twas
allem, was die Erfahrung zeigt, unendlich Uber-
legenes, c. und unendlich Kompliziertes an (unc,nd-
lich viele, unendlich gesteigerte Vollkommenheitcn) 179
XXXII Inhaltsverzeichnis

152. Antwort: 1. Auch vorgängig unendlich Unwahr-


scheinliches kann gesichert werden . . . . . 183
153. 2. Die Gründe für die vorgängige, unendliche Un-
wahrscheinlichkeit sind nicht stichhaltig. a. Gottes
Transzendenz ist selbstverständlich, b. er gehört zu
keiner Art, da er allein unmittelbar notwendig ist 184
Instanz: Hypothesen sollen immer an Bekanntes
anknüpfen . . . . . . . . . . . . . . . . 186
Antwort: Dies gilt nur, soweit die Erfahrung reicht 186
15-!. c. Prüfung des Einwandes unendlicher Kompli-
kation. Eine scheinbare Lösung ....... 187
\-Vahre Lösung. Genauere Bestimmung des Be-
griffes einer zusammengesetzten Hypothese.
Die Vielheit der Attribute ergibt keine Kompli-
kation, da eines notwendig mit dem anderen zu-
sammenhängt ............... 188
Auch nicht ihre unendliche Steigerung .... 189
155. 3. Gottes Dasein ist vor gängig einhalb wahrscheinlich 190
156. Vergleich der Gotte8hypothese mit anderen Bei-
spielen induktiver Forschung. Entdeckung des
Neptun ................... 192
157. Rückblick auf die Lösung des Einwandes. Irratio-
nelle moderne vVahrscheinlichkeitstheorien ... 193
158. Mit unserem Ergebnis stimmt die Leichtigkeit, mit
welcher die Gotteshypothese angenommen wird 195
159. V. Die endliche Welt steht in keiner Proportion zu
einer unendlichen Ursache . . . . . . . . 196
Antwort: Unvollkommene Erkenntnis von der
ersten Ursache genügt . . . . ........ 196
160. Instanz: Gott heißt nicht nur erste Ursache, son-
dern unendliche Vollkommenheit. . . . . . . 197
Antwort: Die Kraft der Ursache erhellt nicht bloß
aus der Größe des vVerkes, sondern auch aus der
Art des vVirkens.
Schöpferisch<'s "'irken weist aufunendliche Kraft 197
161. Instanz : Die\ Veise des \Yir kens er kennen wir ja nicht 197
Antwort: Wir erkennen einen jede endliche Größe
iiben,teigenden Abstand von allem irdischen
\Virken und Erkennen . . . . . ...... 197
162. Instanz: Uns unendlich überlegen, bedeutet noch
nicht ab,solute unendliche Vollkommenheit .. 200
Antwort: Alle relativ unendliche Vollkommenheit
ist aueh absolute. Verheißung des Nachweises,
daß Rich der göttliche Machtbereich mit dem
Umfang des überhaupt Möglichen deckt ... 200
163. VI. Das Fehlschlagen aller bisherigen Versuche läßt
die Unlö,;barkeit der Aufgabe erkennen . . . . 202
Antwort: Hinweis auf ähnliche Argumente gegen
die Möglichkeit philosophischer Erfolge über-
haupt. In unserem Falle Uneinigkeit und Zweifel
erst seit dem Verfall der Philosophie . . . . 202
Inhaltsverzeichnis· XXXIII
164. Hinweis auf den Einfluß neuerer Objektionen.
Sollten sie nicht sofort befriedigend gelöst worden
sein, so wäre dies kein Beweis ihrer Unlösbarkeit 203
165. Dieses am wenigsten stringente Argument schafft
uns am meisten Arbeit, denn Reine be,~te \Vider-
legung besteht in der tatsächlichen Durchführung
der Beweise . . . . . . . . . . . . . . . . 204

T eif
Zweiter
Die Beweise für das Dasein Gottes
166. Übersicht über die geschichtlich vorliegenden Beweis-
versuche. Einige können vor der Kritik nicht bestehen 207
167. Die vier gültigen Beweise . . . . . . . . . . . . 208
168. Sie gehen bis zum Nachweise des Schöpferg getrennte
Wege; der Schritt vom Schöpfer zum unendlich -voll-
kommenen \\' esen (Gott) ist ihnen gemeinsam . . . 20!)
169. Nach ihrer geschichtlichen Ordnung werden sie hier
vorgetragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210
170. Vergleich der vier Beweise in bezug auf ihre Kraft,
Menschen verschiedener Geistesrichtung zu überzeugen 211

Der te1eofogische Beweis


Erster Tei1
Der Schein der T e1eofogie
Die Erfahrungsgrundlage
171. Die Grundtatsache des Scheines der Teleologie 214
172. Einteilung der Erfahrungsgebiete, wo er uns begegnet 215

Der Schein der Teleologie auf dem Gebiete der


lebendigen Natur
173. I. bei vollkommen unbewußter Lebenstätigkeit
ästhetische Vollkommenheit 215
174. mechanische Leistungsfähigkeit der Organismen 216
der pflanzlichen 217
175. der tierischen. Hier dient die Organisation auch
dem seelischen Leben. 217
176. Gegenseitigkeit der scheinbaren Zuordnung 2 l!l
177. Zusammenfassung 223
II. bei halbbewußter Lebenstätigkeit 223
178. Instinkte 224
179. Willkürliche Bewegung 225
XXXIV Inhaltsverzeichnis

Der Schein der Teleologie auf dem Gebiete der


leblosen Natur
180. Hier wird der Schein der Teleologie häufig übersehen 226
181. Doppelte Einheit auf diesem Gebiete . . 227
182. Die Einheit der Ähnlichkeit . . . 227
183. Ihr Rcheinbar teleologischer C'harakter 228
184. Die Einheit der Kraftbeziehung . 229
185. Ihr scheinbar teleologischer Charakter 230
186. Beispiele dafür im einzelnen 230
187. Teleoide chemische Erscheinungen. . . . 231
188. Das Beisammensein der Körper im Raume 233
189. Da.;; Unorganische als Vorbereitung des Organischen 234
Ausreichende Menge der Stoffe und entsprechende
Bedingungen . . . . . . . . . . . . •. . . . . 236
190. Die Natur als Organismus . . . . . . . . . ... 236
191. Beispiele wechselseitigen Angepaßtseins . . . . . . 237
192. Ob wirkliche Zweekordnung, erst zu entscheiden nach
Erledigung der: . . . . . . . . . 238

Einwände gegen den Schein der Teleologie in der Natur


A. Gegen den Schein der Teleologie überhaupt
193. Sie dürfen nicht ignoriert werden . . . . . . . . . 239
194. Man Ragt, der Schein der Teleologie verliere sich bei
näherer Betrachtung der Phänomene aus doppeltem
Grunde:
I. weil er bei den meisten überhaupt fehle . . . . 239
I 95. II. wc>ilbei den am meisten bewunderten Fällen schein-
barer TC'leologie sich nachweisen läßt, daß in ·wirk-
lichkeit k0ine Zweckordnung bestehe . . . . . 241
Beispiel der rudimentären Glieder . . . . . 241
196. LittreR Beispiel vom Beißinstinkt des wut-
kranken Hundes . . . . . . . . 242

B. Ein wände gegen den Schein einer


übermenschlichen Teleologie
197. Man sagt, die Mittel der Natur zur Erhaltung der Art
deuten, wenn überhaupt auf eine Intelligenz, doch
auf eine sehr niedrige . . . . . . . . . . . . . . 243
I. Dies zeigt sich schon in ihrer maßlosen Ver-
geudung der Lebenskeime ........ 244
Ein gelungener unter zahllosen mißlungenen
Versuchen. Das trifft auch der blinde Zufall . 245
198. II. Selbst der bewunderte Apparat des Auges hat
v iele Män ge1 . . . . . . . . . . . . . . . 245
199. III. Die angeblichen gö tt liehen Zwcc kein Natur
und Geschichte vielfach vereitelt 247
Inhaltsverzeichnis XXXV
200. IV. Das Weltprinzip scheint sittlich minder-
wertig .................. 240
V. Es ist, als hätte es den Lebewesen den Beruf
zum Bösen gegeben (Kampf ums Dasein) .. 250

Lösung der Einwände gegen den Schein der Teleologie


A. Gegen den S eh ein der Teleologie überhaupt
20 l. I. Allerdings können wir von dem meisten und in den
meisten Beziehungen keinen Zweck angeben 251
202. aber daraus folgte höchstens, daß vieles keinen
habe, und auch dies nur unter Überschätzung unse-
res Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . 251
203. Bestechender ist der Vergleich mit Zufallswürfen
und zufälligen sinnvollen Letternfolgen 252
204. doch würde er nur dann etwas besagen, wenn die
teleoiden Phänomene spärlich wären und die Zahl
der möglichen, zweckmäßigen zu der aller mög-
lichen Kombinationen in einem endlichen und nicht
allzu geringen Verhältnisse stünde . . . . . . . 253
205. A. In Wahrheit zeigt die Natur in zahllosen Fällen,
wenn schon nicht scheinbare Zwecke, so doch
scheinbare Aufgaben . . . . . . . . . . . . 253
206. Scheinbare Zwecke darum nicht, weil vielerlei
Verwendungen möglich sind . . . . . . . . 254
207. Auch die scheinbare Aufgabe läßt sich meist nur
im allgemeinen angeben, sowohl auf unorgani-
schem .................. 254
208. als auf organischem Gebiete . . . . . . . . 255
209. Hier sind es die höchsten, ihm eigentümlichen
Leistungen . . . . . . . . . . • • • . . . 255
210. Auch Menschen kennen oft die Zwecke der ihnen
von anderen gestellten Aufgaben nicht. Der
Zweck ist unbedingt und einheitlich, aber viele
Aufgaben können in seinem Dienste stehen und
nach den Umständen wechseln . . . . . . . 256
211. Ohne Zweckordnung gibt es keine Aufgaben . 257
Die mannigfaltige Verwendungsweise, die uns
den Zweck unkenntlich macht, erscheint selbst
teleologisch.
212. ß. Zu der überwältigenden Fülle teleoider Erschei-
nungen kommt die Erwägung, daß von vorn-
herein unendlich mehr zweckwidrige als zweck-
mäßige Kombinationen denkbar sind . . . . 258
213. Erinnerung an frühere Beispiele. Das Beisam-
mensein der Körper im Raum, die Lage der
Teile des Augapfels zueinander erscheint ein
günstiger Fall unter unendlich vielen möglichen. 259
214. Darum paßte besser der Vergleich mit einer unter
Felsblöcken aufgefundenen Bildsäule 260
XXXVI Inhaltsverzeichni1;

215-216. Die Größe der Teleologie i:;timmt zu ihrem Geheimnis 261


217. So können die nichtteleoiden Phänomene am Cha-
rakter der teleoiden nicht irremachen ..... 261
218. II. Der allgemeine Schein der Teleologie schwindet auch
nicht angesichts der vermeintlichen Gegenbeispiele
(rudimentäre Glieder, schädliche Instinkte) ... 262
219. Vor allem ist zu untersuchen, ob diese Fälle den
offenbar teleoiden wirklich verwandt sind 262
220. Das ist schon von Littres Beispiel des Beiß-
instinktes bei wutkranken Hunden zu verneinen.
Hier besteht kein ähnlicher Schein von Teleologie
wie etwa beim Fortpflanzungstrieb. Er ist kein
spezialisierter Trieb, sondern Folge des teleoiden
Triebes zur Abwehr im gereizten Zustande . . . 263
221. Dagegen erwecken die rudimentären Glieder der
beiden Geschlechter den Schein der Zweckordnung
schon wegen ihres Zusammenhanges mit der Einheit
des Keimes . . . . . . . . . . . . . . . . . 264
222. Erweiterung dieses Gedankens im Hinblick auf die
Deszendenztheorie . . . . . . . . . . ... . . . 265
223. In ihrem Lichte erscheint die Zweckordnung noch
großartiger . . . .. . . . . . . . . . . . . . 268
224. Warum sie nicht zerstört werden . . . . . . . 26Q
B. Lösung der Ein wände gegen den Schein einer
übermenschlichen Teleologie
225. I. Erinnerung an Langes Tadel der maßlosen Ver-
geudung der Lebenskeime ........ 270
226. Es handelt sich gar nicht um Vergeudung.
a) Lange ü~ersieht die anderen Verwendungsarten 270
227. Dieser „Überfluß" in Wahrheit unentbehrlich 271
228. b) Großartig_keit des Überflusses in der Natur 271
229. c) Der sog. Überfluß dient der Erhaltung der Art,
die auf das Gesetz gebaut ist, daß Ähnliches
das Ähnliche erzeuge . . . . . . . . . . . 271
230. und gerade dies erscheint teleologisch 272
231. II. Handelte es sich selbst um Vergeudung, so bliebe
doch der Schein übermenschlicher Teleologie be-
stehen; man muß nur beachten, daß es sich nicht
um den Verstand des 1Verkes, sondern des \Verk-
meisters handelt . . . . . . . . . .. . . . . 273
232. Von ihm zeugt die wunderbare Künstlichkeit der
Organismen, schon wenn man diese in sich be-
trachtet . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274
233. noch mehr, wenn man ihre Leistungen erwägt, die
alle menschliche Technik unvergleichlich überragen 274
234. Je gefährdeter eine Art ist und je mehr vom Ver-
ständigsein entfernt, desto zweckmäßiger erscheint
eine reiche Ausstattung mit Keimen . . . . . 276
235. So bliebe selbst bei wirklicher Vergeudung der
Schein übermenschlicher Zweckordnung bestehen 277
Inhaltsverzeichnis XXXVII
236. Blick auf Albert LangeR unpassende Vergleiche,
die so gewählt sind, als handle es sich um dE'n Ver-
stand der Organismen, nicht ihres ersten Urhebers 278
237. vVeder das in seinen Beispielen zutage tretende
]Hißverhältnis zwischen Aufwand und Leistung,
noch die Möglichkeit, diese viel leichter zu_!'ffzielen, 279
238. paßt auf die Erhaltung der Arten durch Uberfülle
der Keime.
Ersatz durch besser passende Vergleiche 280
239. Hume macht der Natur den entgegengesetzten
Vorwurf der Kargheit . . . . . . . . . . . . 281
240. II. Vogt tadelt den Ban des Auges im Vergleich mit
optischen Gläsern . . . . . . . 282
241-243. ein unzureichender Maßstab, 283
244. denn der Teil muß am Ganzen, das Organ am
Organismus gemessen werden . . . . . . . . . 284
245. Das Auge ist den Bedürfnissen angepaßt 285
246. Seine scheinbaren Mängel werden ausgeglichen . 285
247. oder sie sind, wie z.B. die ChromaRie, unmerklich 286
248. ihre Verhinderung würde den Apparat unnütz
komplizieren . . . . . . . . . . . . . . . . 286
249. III. Die angebliche Vereiteh~ng der Naturzwecke 287
250. ist schon durch frühere Überlegungen widerlegt. 288
251. Vor allem ist zwischen Zweck und Aufgabe zu
unterscheiden . . . . . . . . . . . . . . . . 288
252. Dann ist der Teil am Ganzen zu messen. Dieses
aber ist hier das uns unbekannte \'Veltganze.
Einheit der Gesetze muß darin gewahrt sein . 288
253. Die \Veit kann vollkommen nur im Sinne eines
unendlichen, aus scheinbar chaotischen Anfängen
sich entfaltenden Entwicklungsprozesses sein . . 289
254. IV. Die angeblic-he sittliche Minderwertigkeit des
\Yeltprinzips . . . . . . . . . ...... . 290
255. Der Vorwurf gehört in einen anderen Zusammen-
hang. Gleichwohl sei er beantwortet 290
256. Vor allem ist unsere \Verterkenntnis und \Vert-
vergleichung beschränkt . . . . . . . . . . . ·291
257. so insbesondere für uns nicht zu entscheiden, ob
die Fülle des Lebendigen mit der Vernichtung des
Einzelnen zu teuer bezahlt ist . . . . . . . . 291
258. Unsere seelischen \Verte beruhen auf denselben
psychologischen Gesetzen wie die Unwerte 292
259. Der Nachweis, daß diese überwiegen, ist durch ein-
fache Abzählung nicht zu erbringen. Ein Edler
wiegt viele Schurken, eine große Erkenntnis viele
Irrtümer auf . . . . . . . . . . . . . 292
260. Maß- und \Vertverhältnis von Freud und Leid.
Nützlichkeit des Leides . . . . . . . . . . . 293
261. V. Angeblicher Beruf der Dinge zum Bösen. 294
262. Diese Anklage muß zuerst der Rhetorik entkleidet
werden .................. . 294
XXXVIII lnhnltsverzeiclmis

263. ,,Kampf aller gPi:wn alle". In dPr lchlosen Natur


gibt es keinen im eigentlichen Sinne 295
264. Der vernunftlose Kampf der Tiere ist nicht un-
sittlich.
Auch der mpnscl1liche if;t es nicht immer, ,md wo
er es ist, ist er nic,lit sein Beruf, wo er aber Beruf
iRt, nicht unsittlich . . . . . . . . . . 295.
265. Auch der Kampf dient der Vollkommenheit, dcR
Ganzen .................. 296
266. Der Kampf der Vernunftlosen ist ni~ bloß auf Zer-
störung gerichtet . . . . . . . . . . . . . . 296
267. und jede Zerstörung ist hier zugleich Aufbau . 297
268. Der Kampf eine der vornehmRtPn Vollkommen-
heiten des Ganzen . . . . . . . . . . 297
269. und Mitt<>l des Fortschrittes für den Einzelnen
oder für das Ganze . . . . . . . . . . . . . 298
270. Erhabenheit Gotte::< im Untergang der Kreatur. 298
271. Wie Widerstreit Harmonie und Kampf Frieden
sein kann . . . . . . . . . . . . . . . . . 299

Zweiter TeH
Die Wirklichkeit der T efeofogie
I. Die Hypothese der blinden Notwendigkeit
A. Ältere und neue·re Formen derselben
272. Ist die scheinbare Teleologie wirkliche? Methode der
Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300
273. Die drei denkbaren Hypothesen zur Erklärung des
Scheines der Teleologie: Verstand - Zufall - blinde
Notwendigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 300
274. Ob sie einander gleichwertig? . . . . . . . . . . 301
275. Unpassender Vergleich der dritten mit der Wirkung
eines Kaleidoskops . . . . . . . . . . . . 301
276. Die HypotheRe der blinden Notwendigkeit be-
gegnet uns in naiven Formen schon im Altertum .. 301
277. In neuer Zeit ersetzt in der ARtronomie die mechanische
Naturerklärung die antiken Sphärengeister . . . . . 302
278. Auch an die Erklärung der Organismen wagt sie sich. 302
.279. Erinnerung an den Versuch des Empedoklcs . . 302
Die. Darwinsche Selektionstheorie
280. Darwins Lehre von der natürlichen Zuchtwahl, bei der
der Kampf ums Dasein die Rolle des Züchters über-
nimmt, .................... 303
281. versucht die Entwicklung der vollkommeneren und
komplizierteren Organismen aus früheren, primitiveren
Formen zu erklären . . . . . . . . . . . . . . . 304
Inhaltsverzeichnis XXXIX
282. ebenso die Mannigfaltigkeit teleoider Gestaltungen. Der
Kampf ums Dasein als Feind der Gleichförmigkeit . 305
283. Noch kühnere Versuche machen Darwins Anhänger. 305
284--285. Insbesondere Häckel. So glaubt man denn auch
des Ursprungs des Organischen aus dem Unorganischen
ohne teleologische Faktoren versichert zu sein . . . 305
286-287. Der Sieg der Notwendigkeitshypothese über die
beiden anderen erscheint vielen durch den Darwinismus
gesichert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307

B. Kritik der Hypothese der blinde~


Notwendigkeit
288. Sie versagt schon gegenüber dem Schein der Teleologie
in der leblosen Natur ............. 308
289. Sie verfügt über keine Erklärung für die Ähnlichkeit
und Kraftbeziehung der Elemente sowie für deren
Unterordnung unter dieselben allgemeinen Gesetze .. 308
290. Kann sie doch nicht einmal ihr Vorhandensein, ins-
besondere in der für die Bedürfnisse des Organischen
ausreichenden Zahl, erklären . . . . . . 309
291. ebensowenig, daß sie sich im Raume berühren . . . 309
292. Sie versagt gegenüber dem Schein der Teleologie in der
lebendigen Natu;r, vor allem kann sie schon deren
Vorhandensein nicht erklären. Heute fehlen in der
Natur die Bedingungen für eine Urzeugung 310
293. Diese war auch früher nur unter ausgesucht günstigen
Umständen möglich, denn die Elemente und Kräfte
sind die gleichen geblieben. Die Temperatur hat 311
294. allerdings abgenommen, aber die Hitze des Laplace-
sehen Gasballes war der Keimbildung nicht günstig . 311
295. Im Laboratorium entsteht heute manches Organische
aus dem Unorganischen, weil hier Bedingungen geschaf-
fen werden, die in der freien Natur, ohne teleoide Fak-
t9ren, nie gegeben sein konnten . . . . . . . . . 311
296. Übrigens ist ein Eiweißklümpchen noch kein Organis-
mus. Wie keine generatio spontanea, so auch keine
generatio aequivoca . . . . . 312
207. Ho erweckt schon die Entstehung des Organischen
einen Schein hoher Teleologie 312
298. Wie schwer sie begreiflich, bezeugt Helmholtz ,mit
seinem verzweifelten Rekurs auf einen der Erde das
Geschenk des ersten Keims bringenden 1\feteorfall 313
299. Stammen die Organismen aus der leb]o,:en Natur, so er-
scheint diese um so mehr teleologisch . . . . . . 314
300. Ebensowenig kann die Notwendigkeitshypothese die
Deszendenz und den Reichtum an Arten er-
klären. Der einzig belangreiche Versuch m dieser
Richtung ist 314
XL Inhaltsverzeichnis

Darwins Lehre von der natürlichen Zuchtwahl


301. Einiges daran ist richtig . . . . . . . . . . . . . 315
302. reicht aber nicht aus, das zu leisten, was die Hypothese
der blinden Notwendigkeit zu leisten hätte 315
303. Die ästhetischen Vorzüge der Organismen vernach-
lässigt die Darwinsche Theorie . . . . ...... 315
304. Aber auch ihre mechanische Leistungsfähigkeit macht
sie nicht begreiflich (ohne Anleihe bei Zufall oder
Teleologie) . . . . . . . . . . . . . . . . 316
Darwins Versuch ist nicht gesichert
Man führt zu seinen Gunsten an:
305. I. Die Evolution wäre sonst nicht zu begreifen .. 317
306. Antwort: das ist nicht einmal die Keimbildung,
schon weil wir die Vererbung nicht begreifen 317
307. II. Vieles, was die Theorie geltend macht, ist Tatsache.
1. So die Erfolge der künstlichen Zuchtwahl .. 318
2. Manches macht sie anschaulich (Mimikry).
3. Die vielfach beobachteten infinitesimalen Unter-
schiede erklärt fie.
4. Ebenso die Proportion zwischen Variationsbreite
und der Zahl der Arten .......... 319
308-309. Antwort ad 1. Die künstliche Zuchtwahl hat
den leitenden Verstand voraus und leistet doch
viel Geringeres .............. 319
310. Antwort ad 2. Für die Mimikry bestehen be-
sondere Dispositionen, auch fehlt die angebliche
Anschaulichkeit des Prozesses 320
311-312. Antwort ad 3. Zahllose Zwischenstufen müßten
verloren gegangen sein. Auch lassen die all-
mählichen Übergänge andere Erklärungen zu 321
313. Antwort ad 4. Ebenso diese Proportion . . . 323
Die Darwinsche Hypothese ist höchst
un wahrscheinli eh
314. Zeugnis des gesunden Menschenverstandes. Gegner
unter den Zoologen . . . . . . . . . . . 323
315. Um so mehr, wenn gewisse Einschränkungen berück-
sichtigt werden, denen die Vererbung und ebenso .. 323
316. die Variabilität unterliegt . . . . . . . . . . . . 324
317. Man überschätzt ihre ·wahrscheinlichkeit, weil man sie
fälschlich mit der Evolutionstheorie identifiziert, wäh-
rend sie doch ein Versuch, diese zu erklären, ist .. 325
Die Unmöglichkeit der Darwinschen Hypothese
318. Sie ist als Form der Hypothese der blinden Notwendig-
keit ganz unmöglich . . . . . . . . . . . . . 325
319. I. weil sie auf prominente Erscheinungen nicht an-
wendbar ist . . . . . . . . . . . 326
320-323. 1. auf die Bildung neuer Organe 326
324--326. 2. auf deren Vervollkommnung 330
I nhal tsverzeiclmis XLI
327-328. 3. auf teleologische Erscheinungen, die unter
dem Gesichtspunkte der bloßen Arterhaltung un-
verständlich sind, wie "\Vissenschaften . . . . . 332
329. und schöne Künste und . . . . . . . . . . . 334
330. "\Verke der Liebe gegen nicht mehr Leistungsfähige 335
331. auf Organe von artfremder Dienlichkeit (Klapper
der Klapperschlange) . . . . . . . . . . 336
332. Vieles von Tatsachen der letzten Art noch un-
entdeckt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338
333. II. weil die Zeit seit dem Bestehen von Organismen
nicht ausreichte für die vom Darwinismus geforderte
langsame Entwicklung . . . . . . . . . . . . 338
334-335. Blick auf verlangsamende :Momente . . . . . 339
336. Selbst eine tausendfach größere Periode als die von
Thomson für das Bestehen von Organismen . aus-
gerechnete von 100 Millionen Jahren reichte nicht
aus ..................... 342
337. Mit dem Darwinismus fällt die Hypothese der
blinden Notwendigkeit. Er ist die denkbar ein-
fachste und doch vollgepfropft mit scheinbar teleologi-
schen Annahmen . . . . . . . . . . . . . . . . 342
338. Aufzählung der wichtigsten derselben . . . . . . . 343
Neue Theorien zur Erklärung der Evolution
339. ·wie konnte eine so unhaltbare Hypothese so bedeuten-
den Anhang gewinnen ? . . . . . . . . . . . . . 345
340. Drei Gruppen von Anhängern, einige bemerken über-
haupt keine Schwierigkeiten, noch auch nur Dunkel-
heiten in ihr, andere geben nur diese, andere wieder
beides zu, fürchten aber, daß mit ihr die Evolution
selbst zu Fall käme . . . . . . . . . . . . . . . 345
341. Die Evolution ist Tatsache, aber es gibt dafür weniger
verzweifelte Erklärungen . . . . ......... 346
342. Vor allem vollzog sich qie Evolution der Arten nicht
bloß durch unmerkliche Übergänge, es gab mannigfach
auch Sprünge . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346
Im selben Keim liegt die Disposition zu differenten
Entwicklungen. Stammen doch beide Geschlechter
aus demselben Keim . . . . . . . . . . . . . 34 7
343. Die Analogie zwischen Ontogenese und Phylogenese
empfiehlt die Theorie ursprünglich mannigfaltiger
Keimanlagen, die unter verschiedenen Umständen zu
verschiedenen Reihen von Arten sich entwickelten . . 348
344-348. Diese Theorie der heterogenen Zeugung
wird durch mannigfache Erfahrungstatsachen bestätigt 349
Analogie~ auf unorganischem Gebiete . . . . . . 352
349. Trotz der Uberlegenheit dieser Theorie sind ihr die
Gegner einer teleologischen Weltanschauung nicht ge-
neigt ...................... 352
350. weil die teleoiden Faktoren dabei weniger versteckt sind
als im Darwinismus . . . . . . . . . . . . . . . 352
XLII Inhaltsverzeichnis

II. Vergleich der Verstandes- und der Zufallshypothese


351. Nachdem die Hypothese der blinden Notwendigkeit
gefallen, muß die relative Wahrscheinlichkeit der beiden
anderen festgestellt werden . . . . . . . . . . . . 354
352-354. Die Verstandeshypothese ist weder vorgängig
noch ihrem Erklärungswerte nach unendlich unwahr-
scheinlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355
355. Die Zufallshypothes·e würde zwar die Erscheinungen
mit Sicherheit erklären, ist aber vorgängig unendlich
unwahrscheinlich ............... 356
356. Schon das Beisammensein der Körper im Raume er-
scheint, als blinder Zufall gefaßt, unendlich unwahr-
scheinlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357
357-358. dazu kommt die Verwandtschaft aller in bezug
auf physikalische und chemische Gesetze . . . . . 358
359. und diese unendliche Unwahrscheinlichkeit steigert sich
noch für die Organismen. Vergleich mit der Unmöglich-
keit, menschliche Kunstwerke, die doch weniger wunder-
bar, auf den Zufall zurückzuführen ........ 359
360. Denkt man die Natur zur Erzeugung jener besser dis-
poniert, so verringert sich zwar die Unwahrscheinlich-
keit der äußeren, steigt aber um so mehr die der inne-
ren Dispositionen . . . . . . . . . . . . . . . . 360
361. Somit ist die Zufallshypothese unendlich unwahrschein-
licher als die andere und die Verstandeshypothese
vollkommen gesichert . . . . . . ....... 361
362. Einwände gegen diese Folgerung:
1. Einwand. Gegen die Bestimmung der Wahrschein-
lichkeit der Verstandeshypothese. Auch diese be-
stimmte Ordnung wird durch sie nicht erklärt, da
unzählige andere denkbar wären . . . . . 361
Antwort. Nur der allgemeine Charakter der
Ordnung war zu erklären . . . . . . . . . 362
363. 2. Einwand. Gegen die Bestimmung der ·wahr-
scheinlichkeit der Zufallshypothese. In unend-
licher Zeit konnte sich auch eine regelmäßige,
scheinbar teleologische Kollokation ergeben . . 362
Antwort. a) es gibt teleologische Züge, die nicht
Lagerungsverhältnisse sind. b) Das Zusammen-
sein der Körper bleibt auch für unendliche Zeit
unendlich unwahrscheinlich. c) Die Zufälle
wären Unwahrscheinlichkeiten höchster Ordnung
und so der Teleologie gegenüber noch immer
unendlich im Nachteil . . . . . . . . . . . 363
364. 3. Einwand. Auch unenrllich Unwahrscheinliches
geschieht und wird a parte post geglaubt. Bei-
spiele . . . . . . . . . . . . . . . .... 363
365. Antwort. Wäre dieser Einwand entscheidend, so
fiele Naturwissenschaft und Geschichte, denn
sie schließen genau so ·wie wir hier . . . . . 364
Inhaltsverzeichnis XLIII
366. Die Wahrscheinlichkeit einer HypotheRe wird nicht
sowohl durch die \Vahrscheinlichkeit der in ihr
gemachten Annahmen an und für sich als durch
deren Verhältnis zur \\'ahrscheinlichkeitssumme
aller andern denkbaren Hypothesen be,;timmt 366
367. Instanz: Kommt aber nicht doch unendlich Un-
wahrscheinliches vor ? . . . . . . . . . . 368
Antwort: Allerdings, aber nie hat jemand solche,;
richtig erraten . . . . . . . . . . . . . 368
368. Die Verstandeshypothese bleibt definitiv gesichert 369

Des tdeofogischen Beweises dritter Tei1:


Vom ordnenden V erstand zum Schöpfer
360. Hat der Verstand den Stoff bloß geordnet oder ge-
schaffen ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370
370. Ordnen genügte nicht, da schon die Natur der Elemente
entsprechend sein muß . . . . . . . . . . . . . . 370
371. Aber vielleicht \\'esensumwandlw1g zur Brauchbar-
machung eines vorgefundenen Stoffes ? . . . . . . 371
372. Auch diese nicht, denn der Verstand müßte diesen Stoff
erkannt haben; wie aber wäre dies möglich gewesen?
Drei Annahmen scheinen denkbar: 1. ohne Kausalzu-
sammenhang mit dem Stoff, 2. vom Stoff gewirkt, 3. den
Stoff wirkend . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372
373. Die zweite Annahme scheidet aus, weil sie eine Ord-
nung vor der Ordnung voraussetzt . . . . . . . . 373
374. Ebenso die erste . . . . . . . . . . . . . . . . 375
375. Nur die Schöpfungshypothese ist zulässig . . . . . 376
376. Sie kann durch die Annahme einer unendlichen Reihe
von Verstaµdesmächten, die immer einer den andern in
die Lage versetzt hätten, den Stoff zu erkennen, nicht
ersetzt werden, erstens weil diese unendlich unwahr-
scheinlich ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377
377. und zweitens, weil eine unendliche Kette sekundärer
Ursachen die primäre nicht entbehrlich machte 378
378. Dieses Prinzip hat Aristoteles ausgesprochen, auch noch
in anderer Fassung . . . . . . . . . . . . . . . 381
379-380. Die Schöpfungshypothese erscheint vollkommen
gesichert . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381
381. Gleichwohl sollen noch drei andere Beweise dafür er-
bracht und dann erst der letzte Schritt, vom Schöpfer
zum unendlich vollkommenen \\'esen, unternommen
werden ..................... 382

Der Beweis aus der Bewegung


382. Er unterscheidet sich vom teleologischen durch die viel
einfachere Erfahrungsbasis. Nur die Tatsache der Be-
wegung, d. h. Veränderung, liegt ihm zugrunde 384
XLIV Inhaltsverzeichnis

383. Begründet hat ihn Aristoteles, der aus der Tatsache der
Bewegung auf einen ersten, unbewegten Beweger schloß 384
384. den neuere Philosophen durch die Entdeckung des
Trägheitsgesetzes für entbehrlich geworden halten, 385
385. wobei sie unberechtigterweise vom Bewegungsverlust
durch Reibung absehen .............. 386
386. Anderen wieder scheint der Aristotelische Schluß
durch das Gesetz von der Erhaltung der Kraft unwirk-
sam gemacht, . . . . . . . . . . . . . . . . . 386
387. mit Unrecht, weil eine ewige Bewegung nicht mehr als
eine unendliche Kette sekundärer Ursachen wäre, und
zweitens, . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386
388. weil eine ewige Bewegung aus doppeltem Grunde un-
annehmbar ist, auf Grund des Gesetzes der Erhaltung
der Kraft in Verbindung mit dem Gesetz der vVechsel-
wirkung der Naturkräfte und a priori aus dem inneren
Widerspruch im Begriffe anfangsloser Bewegung . . 387

1. Beweis des primus motor, gestützt auf die


Gesetze von der Erhaltung der Kraft und der
Wechselwirkung der Naturkräfte
389. Der Entdeckung des Gesetzes derErhaltungderKraftging
das der Erhaltung des Stoffes voraus. Sinn dieses Gesetzes 387
390. Sinn des Gesetzes der Erhaltung der Kraft. Er-
läuterung der Begriffe Kraft, Arbeit, Fußpfund-Arbeit 388
391. Wechselseitige Umwandlung von Spannkraft und leben-
diger Kraft der Bewegung, veranschaulicht am fiktiven
Beispiele einer auf absolut elastischer Platte auf- und
abspringenden ebensolchen Kugel bei vollkommener
Reibungslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 389
392. In Wirklichkeit geht Kraft der Bewegung verloren, wird
aber in Wärme umgewandelt. Begriff des mechanischen
VVärmeäquivalentes ............... 390
393. In dem fiktiven System (oben 391) würde von Zeit zu
Zeit derselbe Zustand wiederkehren . . . . . . . . 392
394. Solche Wiederkehr des Gleichen lehrten füt das Ganze
der Welt die alten Jonischen Naturphilosophen 392
395. Sie ist aber durch da8 Carnot-Clausiussche Gesetz au8-
geschlrn,sen. Nicht rückverwandelbarer \Värmerest . 393
396. Der englische Physiker W. Thomson (Lord Kelvin) fol-
gerte daraus den schließlichen Wärmetod der Welt. -
Anteil der Reibung der Gestirne am Äther und des
ProzeBses von Ebbe und Flut an der allmählichen Ab-
sorption aller Bewegung . . . . . . . . . . . . 394
397. Der Prozeß der Umwandlung aller Energieformen in
Wärme muß, wie er ein Ende haben wird, auch einen
Anfang genommen haben . . . . . . . . . . . . 395
398. Versuche den KonBequenzen aus dem Carnot-Clausius-
schen Satze zu entgehen (Wärmetod und Anfang der
Bewegung):
Inhaltsverzeichnis XLV
I. Ebbe und Flut werden noch vor Absorption der
Gestirnbewegung aufhören ...
Antwort: 1. genügt auch dieAtherreibung; 2. bliebe
eben ein doppelter unveränderlicher Kraftvorrat,
neben "\Yärme auch Bewegung; 3. wäre der An-
fang noch näher gerückt . . . . . . . . 395
399. II. Masse und Kraftvorrat sind unendlich 397
400. Antwort: unmöglich, weil dann dem System der
Schwerpunkt fehlte . . . . . . . . . . . . 397
401. III. Zwei Versuche \Vundts:
l. \Venn die Schwerkraft zur Fortpflanzung von
einem Orte zum andern Zeit braucht, wäre der
Schwerpunkt dem System entbehrlich; wenn
nicht, ließe sich denken, daß . . . . . . . 397
2. eine endliche Masse im miendlichen Raum ver-
schieden dicht verteilt wäre und es darum nie
zum "\Yärmeausgleich zwischen 11llf'n Punkten
kommen könnte . . . . . . . . . . . . . 398
402. Widerlegung des ersten Versuches von Wundt ... 398
403-404. Widerlegung des zweiten Versuches von \Vundt 399
405. Bekräftigung des Schlusses auf einen Anfang aller Be-
wegung ..................... 401
406. Er ist gleichzeitig von Philosophen und Physikern ge-
zogen worden . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402
407. Den zum Beginne der Bewegung nötigen Impuls konnte
sich die Körperwelt nicht selbst gegeben haben. Er
geht auf ein transzendentes Prinzip zurück 403
408. Dieser Schluß hat dasselbe Maß von Sicherheit wie das
Carnot~che Gesetz, um ihn aber auch davon unab-
hängig zu machen, folgt ein zweiter Beweis: 404

2. Beweis für den ersten Beweger aus dem Wider-


spruch im Begriffe einer anfanglosen-Bewegung
409. Nachweis für den einfachen Fall einer gleichmäßigen,
geradlinigen Bewegung . . . . . . . . . . . . . . 404
410. Andere Fassung dieses Nachweises . . . . . . . . 405
411. Wie sich die :Mathematiker dazu verhalten 406
412. Verallgemeinerung des Nachweises für jede Verände-
rung, die einen "\\'echsel an Geschwindigkeit zuläßt . 406
413. Auf den temporalen "\Yechsel als solchen ist der Beweis
nicht anwendbar, da dieser notwendig ein absolut
gleichmäßiger ist . . . . . . . . . . . . . . . . 407
414. Möge der tram,zendente Impuls bloß bewegend oder
schöpferisch gewesen sein, er muß mit Bewußtsein er-
folgt sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407
415. Daß dieser transzendente Impuls erst in einem bestimm-
ten Momente erfolgte, kann man nur begreifen, wenn
man annimmt, daß dieser Moment ans allen Zeit-
punkten ausgewählt worden sei . . . . . . . . . . 407
XLVI Inhaltsverzeichnis

416. Die absoluten Zeitpunkte sind notwendig von einander


verschieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407
417. Das erste Prinzip darf nicht absolut wechsellos gedacht
werden ..................... 408
418. Darin liegt ein wesentlicher Gegensatz zum Aristoteli-
schen BeweiRe für den primus motor . . . . . . . 408
419. Das erste Prinzip muß den Stoff erkannt haben, was
nur möglich ist, wenn es ihn schöpferisch hervorgebracht
hat . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409

Der Beweis aus der Kontingenz


420. Er ist noch einfacher als der Bewegungsbeweis und
beruht .............. : ... . 410
421. I. auf der Tatsache, daß weder Körper noch Seelen un-
- 422. mittelbar notwendig sind, was meist zugegeben wird,
aber exakt begründet werden muß. Zunächst be-
züglich der Körper 410
423. a) aus ihrer Korruptibilität . . . . 411
b) aus ihrer Vielheit,
424. c) aus der Indifferenz der Orte . . 412
425. d) Verbindung der Momente b und c 412
426. e) Ausdehnung des Nachweises auf beliebig Di-
mensionales . . . . . . . . . . . . . . . 412
427. Dabe_i_ist die Unmöglichkeit krummer Räume
und Uberräume zu beachten. Sie hängt mit der
Homogeneität der Raumteile und mit dieser
hängt deren Indifferenz zuia;ammen . . . . . 413
428. Nachweis bezüglich der Seelen . . . . . . . . 414
II. auf dem Gesetz, daß absolut Zufälliges unmöglich ist.
429. Das nicht unmittelbar Notwendige müßte entweder
zufällig oder gewirkt sein . . . . . . . . . . . 414
430-432. Das erste ist ausgeschlossen, weil es abRolut Zu-
fälliges nicht geben kann. Die Behauptung, etwas
sei, widerspricht der Behauptung, es sei zufällig;
jene schließt Kontinuität ein, diese widerstreitet ihr 414
433. Das nicht unmittelbar Notwendige muß von einem
unmittelbar Notwendigen gewirkt sein 410
434. Eine unendliche Kette mittelbar notwendiger UrRaehPn
wäre absolut zufällig . . . . . . . . 416

Der psychofogische Beweis


435. Ihm liegt die Tatsache der Geistigkeit unserer Seele
zugrunde .................... 417
436. Die innere ,vahrnehmung zeigt uns nicht am,gedehnt,
aber da ,;ie nicht individuell, ja nicht einmal gattungs-
mäßig Bestimmtes zeigt, läßt sich daraus nicht ohne
weiteres auf wirklichen l\Iangel an Ausdehnung der
Bewußtseinszustände schließen . . ........ 417
Inhaltsverzeichnis XLVII
437. Die Hypothese, daß das Denkende körperlicher Natur
sei, liegt am nächsten . . . . . . . . . . . . . . 419
438. Ob sie richtig, muß durch vergleichendes Studium des
Körperlichen und Seelischen eruiert werden . . . . 419
439. Weder von den örtlichen noch von den qualitativen
Unterschieden der Körper haben wir zureichende Vor-
stellungen. Mehr Rolche noch vom Psychischen . . . 420
440. Der ursprüngliche naive Realismus ist durch die Physik
widerlegt ................... . 420
441. Manche gestehen den Körpern nur räumlich-quantita-
tive Differenzen zu. Extrem mechanistische Theorie 420
442. Andere wieder bezi.veifeln, ob es Ausgedehntes gebe,
womit alle Naturgesetze ins \Vanken gebracht er-
scheinen ................... . 420
443. Streitfragen über die Struktur der Materie. Atomismus-
frage. Natur des Äthers. Versuch, diesen als einheit-
liche, kontinuierliche Substanz zu fassen . . . . . . 421
444. Gesichert ist die Ausdehnung des Körperlichen nach
drei Dimensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . 422
445. Evidente \Vahrnehmung psychischer spezifischer Diffe-
renzen .................... . 422
446. doch nur am eigenen Ich . . . . . . . . . . . . 422
447. Alles, was in meine evidente innere \-Vahrnehmung fällt,
gehört einem und demselben Dinge an. (Einheit des
Bewußtseins) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422
448. Aristoteles Versuch, die Unkörperlichkeit dieses Dinges
zn erweisen . . . . . . . . . . . . . . . . 423
Er lehrt: es gibt ausdehnung,dose Denkakte, sie
können nur einC'm ausdehnungslosen Subjekt zu-
kom1nen,
449. aber auch ausgedehnte, deren Subjekt ein Teil des
Leibes ist. Semirnaterialismus . . . . . 424
450. Kritik des Aristotelischen Semirnaterialismus. 1. Auch
ausdehnungslose Subjekte können, wie eine Vielheit
von Akzidenzien, so auch ausgedehnte Akzidenzien
haben .................... . 424
451. 2. Die Einheit des Bewußtseins umfaßt Empfinden und
Denken, die darum nicht verschiedenen Subjekten ge-
trennt zukommen können . . . . . . . . . . . . 425
452. Mit der Einheit des Bewußtseins vereinbar wäre der
Materialismus nur dann, wenn er ein Stück Materie
Punkt für Punkt mit Subjekten, die dasselbe Bewußt-
sein haben, besetzt dächte . . . . . . . . . . . . 425
453. Um einander nicht zu stören, müßten diese unter ganz
gleichen äußeren Bedingungen stehen . . . . . . . 425
454. Dieses mit einer Kolonie psychischer \\'csen besetzte
Stück Gehirn könnte nach den Ergebnissen der Phy-
siologie nicht ein unpaariger Teil sein . . . . . . . 426
455. sondern müßte beide Hemisphären des Gehirns um-
fassen. Aber dann fehlte die unerläßliche Gleichheit der
Bedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427
XLVIII Inhaltsverzeichnis

456. Im "\Viderspruch zu dieser einzig diskutabeln Form des


Materialismus steht auch, daß verschiedene Teile des
Gehirns uns beim Denken verschiedene Dienste leisten 427
457. Das können sie, wenn sie alle auf ein einheitliches,
geist.iges Subjekt einwirken ...... · ....... 428
458. Diese Annahme stimmt zu unserer Uberzeugwig, daß
w1r a1s ·psychisches Subjekt im "\Vechsel des Denkens
beharren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429
459. Ebenso zur Tatsache, daß Vorstellungen sich nicht ver-
erben . . . . . . . . . . . . . . . . . ,. . . . . 431
460. Diese geistige Seele kann nicht durch Zeugung von den
elterlichen abstammen, sondern muß durch ein bewußt
wirkenden Prinzip Rchöpferisch hervorgebracht worden
sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431
461. Die Vollkommenheit der Welt erfordert, daß die Schöp-
fung nicht zum Abschluß komme. Die Schöpfung der
Seelen erfolgt nach einem kosmologischen Gesetze . . 432
402. Zwei Aporien, die sich aus der Hypothese der Geistigkeit
der Seele ergeben: Unerklärlichkcit der "\Vechselwirkung
mit einem Leibe überhaupt und der Beschränkung ihrer
Verbindung mit diesem Leibe insbesondere 433
463. Allein unbegreiflich ist uns jedes Wirken, und daß nur
Ähnliches aufeinander wirken könne, ist ein Vorurteil. 433
464. Es könnte allen Teilen desselben Gehirns etwas gemein-
sam sein, was keinem andern Gehirn zukommt . . . 434

V oHendung des Beweises für das Dasein Gottes


465. Aufgabe: Schritt vorn Verstand zum Gott ..... 436
466. Zuerst ist die unendliche Vollkommenheit, dann die Ein-
heit zu erweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . 436
467. Schöpferisches Wirken erfordert unendliche Kraft . 436
468. Aus der unendlichen Kraft folgt unendlich!> Vollkommen-
heit des ersten Prinzips . . . . . . . . . . . . . 438
469. Seine Erkenntnis muß unserer unendlich überlegen sein 438
470. Einwand: Unendlich überlegen heißt nicht absolut
vollkommen . . . . . . . . . . . . . . . .... 441
471. Antwort: Die Überlegenheit ist unendlich in unend-
lichster Ordnung . .. . . . . . . . . . . . . . . . 441
4 72. Die absolute Vollkommenheit folgt auch aus der Allmacht 442
4i3. Diese aus der Einheit des schöpferischen Prinzips, das
nur dann von allem wissen kann, wenn es alles wirkt 442
474. Es kann nur ein unmittelbar Notwendiges geben .. 443
475. und dessen Machtbereich muß sich decken mit dem
des logisch Möglichen. Es ist allmächtig, also absolut
vollkommen an Gott ............... 444
Inhaltsverzeichnis XLIX

GEDANKENGANG BEIM BEWEIS FÜR


DAS DASEIN GOTTES
(Diktat aus dem Jahre 1915>
Erster Teil: Von der Notwendigkeit alles Seienden
I. Es gibt nichts absolut Zufälliges
1-5. Genereller Nachweis dafür aus der Unmöglichkeit
eines Unzeitlichen und aus der Kontinuität alles
Zeitlichen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 446
6--9. Spezieller Beweis gegen die Zufälligkeit der Körper
und Seelen, gestützt darauf, daß alle Körper räum-
lich kontinuierlich sind, daß immer unendlichmal
mehr Orte bloß möglich sind, als jeweils verwirk-
licht (bzw. erfüllt) sein können. Ferner, daß mit
der indefiniten Vermehrbarkeit der Zeugungen auch
die Seelen indefinit vermehrbar sind . . . . . . 448
II. Nichts was in unsere Erfahrung fällt, ist
unmittelbar notwendig
10---11. Nichts Physisches ist unmittelbar notwendig 453
12. Nichts Psychisches ist unmittelbar notwendig 454

Zweiter Teil: Von der ersten, unmittelbar notwendigen


Ursache
I. E s g i b t e i n t r an s z e n de n t e s u n m i t t e 1b a r
Notwendiges
13-14. Dies folgt aus der bloß mittelbaren Notwendigkeit
der Erfahrungsdinge. Eine unendliche Kette mittel-
bar notwendiger Ursachen wäre zufällig und ist
darum unmöglich. . . . . . . . . . 455

II. D a s u n m i t t e 1b a r N o t w e n d i g e i s t e i n
schöpferisches Prinzip
15. Es unterscheidet sich von allem, was in unsere
direkte Erfahrung fällt, nicht bloß durch seine
unmittelbare Notwendigkeit, sondern auch durch
die \Veise seines vVirkens, das schlechthin un-
bedingt ist. . . . . . . . 456
16. Trotz dieser Unbedingtheit könnte sein Wirken
einen Anfang haben . . . . . . . . . . . . . 456
III. Das unmittelbar Notwendige ist nicht
wechsellos
17. erstens als Ursache von Veränderungen, die in der
Erfahrung vorliegen . . . . . . . . . . . .. 457
L Inhaltsverzeichnis

18. zweitens, weil sein zeitlicher Fortbestand selbst


ein ·wechsel ist.
Bemühungen des Aristoteles, die Veränderungen
in der Welt auf ein erstes unveränderliches und
zeitloses Prinzip zurückzuführen, . . . 458
19. ihr Mißlingen zwingt zu anderen Versuchen ... 459
IV. Das unmittelbar Notwendige ist ein Vorstand
Vier Beweise dafür:
20. Beweis aus der unendlichen Vielheit dessen, was in
Wirklichkeit ist . . . . . . . . . . . . . . 459
2!. Beweis aus der Viclteiligkeit, welche der blinden Ur-
sache eines Vielteiligen zukommen müßte . . 460
22. Beweis aus der Vereinigung unmittelbarer Notwen-
digkeit mit Wechsel . . . . . . . . . . . . 461
23. Beweis aus der scheinbaren Ordnung in der \Velt 462
24. Einwand gegen das teleologischeArgument,
gestützt auf Darwins Versuch. Mißlingen dieses
Versuches . . . . . . . . . . . . . . . 463
Physische Sicherheit der vier Beweise für
den schöpferischen Verstand.
25-30. Man hat sie als bloße Wahrscheinlichkeitsbeweise
bemängelt, aber die Wahrscheinlichkeit ist hier
unendlich groß
Eine solche unendliche Wahrscheinlichkeit
wird in den Naturwissenschaften nirgends
erreicht (26) . . . . . . . . . . . . . . 465
Das erste Argument ergibt mehr als endliche
Wahrscheinlichkeit (27).
Ebenso das zweite (27) . . . . . . . . . 467
Beim dritten sind wir außerstande, eine kon-
konkurrierende Hypothese zu entdecken . . 467
Auch beim vierten erweist, sich die VVahr-
scheinlichkeit aus vielfachen Gründen und
in überschwenglichem Maße als unendlich
(28-30) . . . . . . . . . . . . . . . . 468
31. Zusammenstimmen der nachgewiesenen Ausdeh-
nungslosigkeit des ersten Prinzips mit der Aus-
dehnungslosigkeit unseres Geistes . . . . . 471

V. Gegensatz des Urverstandes zu allen


empirischen Geistern
32. Unmittelbar notwendig. Schöpferisch. Wechsel
von absolutem Gleichmaß. Sein Denken ist sein
Wesen ........... . 472
33-34. Reine (akzidenzfreie) Substanz . . . . ... 473
35. Vollkommen impassibel . . . . . . . . . . 474
36. VI. Das unmittelbar notwendige Prin-
zip ist ein einziges ......... 475
Inha.Itsverzeichnis LI
37-38. VII. Unendliche Vollkommenheit der
Erkenntnis und Liebe . . . . 476
3!!-40. VIII. A 11macht und G 1ü c k s e 1i g k e i t des
schöpferischen Verstandes 477

Dritter Teil: Zur Theodizee


41. Einwände gegen clio Vollkommenheit des "Yeltprinzips
im Hinblick auf die in der "Veit zutage tretenden Übel-
stände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479
42. Humes und Kants ablehnendes Urteil iiber diese Art
von Einwänden . . . . . . . . . . . . . . 479
43. Vier Gesichtspunkte für die Beurteilung des Übels in der
Welt ...................... 480
44. Dreifacher Grund, auf den es Hume zurückführen wollte 481
45. Der UnsterblichkeitRgedanke eröffnet die Aussicht auf
ausgleichende Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . 482
46. Falscher Analogieschluß vom Diesseits auf das Jenseits 482
47. Unterschied von Mensch und Tier in bezug auf das rela-
tive Maß von sinnlicher Lust und Unlust. Dieses scheint
hierin günstiger gestellt . . . . . . . . . . . . . . 483
48. Aber dieses Verhältnis ist im wahren Interesse des Men-
schen gelegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484
4!!. Leichtfertigkeit der pessimiRtischen Kritiker der \Veit 484
50. Die großen Philosophen von Aristoteles bis Leibniz hiel-
ten den Beweis für das Dasein Gottes für leicht faßlich
und sicher. Bei Clarke bahnt sich ein Umschwung an.
Kants verwerfende Kritik der Gottesbeweise steht im
Zusammenhang mit einem allgemeinen Verfall der Philo-.
sophie ...................... 485
51. Die Lehre von der bestmöglichen Welt ist eine Konse-
quenz des Theismus. Selbst die ihr wie Thomas v. A. und
Suarez "Viderstrebenclen geben indirekt dafür Zeugnis 486
52. Inwiefern selbst bei scheinbar Gleichgültigem, wie die
möglichen räumlichen und ?:eitlichen Lagen der \Veit,
eines vor dem andern den Vorzug verdienen mag . . 488
53. Dunkclheitcn läßt auch die Gotteshypothese zurück, aber
nicht, wie alle anderen, Absurditäten . 489

Anmerkungen des Herausgebers 491


Register .......... . 539
Zum Gefeite
Aus einem Briefe Franz Brentanos an einen Agnostiker
über Sicherheit und Bedeutung der theistischen W dt•
anschauung (1909)

Haben Sie Dank für Ihren guten Brief, der durch seine
schlichte, selbstlose Wahrhaftigkeit den angenehmsten
Eindruck machen mußte und mich auch mit dem bekannt
machte, was Sie in Ihrem Vertrauen auf die erhabensten
Lehren stört, die uns von altersher überliefert sind und
wie einem ANAXAGORASund ARISTOTELESauch einem
LOCKE und LEIBNIZ, einem LIEBIG, einem PASTEUR,
einem MAXWELLund LORD KELVIN und HELMHOLTZals
gesichert feststehen. Was z.B. LoRD KELVIN betrifft, so
las ich erst kürzlich eine Erklärung von ihm, die an Ent-
schiedenheit nichts zu wünschen übrigläßt. Es hatte in
einer Naturforscherversammlung einer der Redner mit
den Worten geschlossen, man sehe aus dem, was er aus-
geführt, daß die Naturwissenschaft die Frage, ob ein
Gott sei oder nicht, ganz offen lasse. Dagegen erhebt sich
nun THOMSON,indem er sagt, dies sei grundfalsch, viel-
mehr habe die Naturwissenschaft unbedingt und durch-
wegs die Voraussetzung eines göttlichen ersten Prinzipes
nötig. Ein andermal erzählte er, wie er als jüngerer For-
scher, als LIEBIG England besuchte, diesen durch die
Blütenfelder begleitet und ihn gefragt habe, ob er wohl
glaube, daß eine solche Blüte ohne eine verständige Ur-
sache denkbar sei, worauf LIEBIG antwortete: ,,Nein,
sicher so wenig als daß ohne eine solche ein Buch bestände,
welches die ganze wundersame Struktur einer solchen
Blüte beschriebe." Sie sehen, es war gerade der teleologi-
LIV Zum Geleite

sehe Beweis, der sich hier noch in seiner vollen Über-


zeugungskraft erwies, wie einst da, wo ARISTOTELESvon
allen, welche der Anblick der Welt nicht zur Überzeugung
von einem all waltenden Verstande geführt hatte, wie von
Leuten sprach, die aller Überlegung ermangelten.
Nun wohl, daß Sie, wenn Sie an dem Dasein eines sol-
chen Verstandes zweifeln, es nicht unüberlegt tun, zeigt
Ihr Brief, und so könnte nur etwa das Wort von BACON
VONVERULAMauf Sie anwendbar sein, wenn er sagt, daß
das halbe Wissen von Gott ab, das ganze wieder zu ihm
zurückführt.
Sie werden vielleicht darauf bemerken, daß BACON
hierin recht haben möge, nur könne dies nur derjenige
beurteilen, der selbst das ganze Wissen habe; Sie aber
hätten es nicht und auch kein anderer Sterblicher, und
darum sei es in unserer Lage logisch gefordert, wenn nicht
Atheist zu sein, so doch als Agnostiker sich jedes Urteils
darüber, ob ein Gott sei oder nicht sei, zu enthalten.
Doch daß Sie, wenn Sie so sprächen, die Meinung des
baconischen Wortes mißdeuten würden, ist zweifellos.
Unter dem ganzen Wissen verstand er sicher nicht eine
Allwissenheit schlechthin, sondern er sprach von der Ge-
samtheit der uns Menschen gegebenen Erkenntnisse, von
einer Erwägung, die bei dem sich bietenden Einwand nicht
stehenbleibe, sondern auch nach seinen Lösungsmitteln
sich umsehe und sie dann sicher finde. Keiner war ja mehr
als er davon überzeugt, daß die Ära fruchtbarer For-
schungen nun erst recht eigentlich beginne, wie auch noch
NEWTON,nachdem er Großes getan, sich doch nur einem
Knaben verglich, der ein paar Muscheln aus dem Meere
gezogen, während der Ozean noch unzählige andere in
seinem Schoße berge. Auch LEIBNIZ, wenn er davon
sprach, daß nach Einführung seiner characteristica
universalis die Menschheit in Dezennien mehr Fort-
schritte in der Wissenschaft machen würde als bisher in
Jahrhunderten und Jahrtausenden, gab dadurch deutlich
genug zu erkennen, wie weit er davon entfernt war, zu
Brief an einen Agnostiker LV
glauben, daß das menschliche Wissen bereits seine Voll-
endung erreicht habe. Und so waren denn auch noch
MAXWELL und PASTEUR,LORD KELVIN und HELMHOLTZ
weit von einem solchen Wahn entfernt. Sie müßten
überaus schlechte Denker gewesen sein, wenn sich, da
sie in der Überzeugung vom Dasein eines Gottes so fest
standen, aus der einfachen Tatsache, daß uns Vieles in der
Welt noch unbekannt sei, die Folgerung ergäbe, daß wir
über die Frage der Existenz Gottes im Unsichern bleiben
müßten.
Und doch ist das eigentlich der Gedanke, der Ihrer
ganzen Objektion sowohl im allgemeinen als in bezug
auf den teleologischen Beweis zugrunde liegt, denn
auf was anderes läuft es hinaus, wenn Sie auf Unvoll-
kommenheiten und Schranken unseres Gesichts- und
sonstigen Wahrnehmungsvermögens und auf die Ergeb-
nisse neuerer Forschungen verweisen, welche manche bis-
her für exakt gehaltenen Fassungen von Gesetzen als
inexakt und darum auch diese Gesetze selbst nicht mehr
eigentlich als Gesetze, sondern als Zusammenfassungen
von Tatsachen erkennen lassen, welche nach der gegen-
wärtig gegebenen Lage annähernd gleichmäßig auf-
getreten sind und für eine wenig entfernte Zukunft eine
ähnliche Gleichmäßigkeit auch für noch andere mit hoher
Wahrscheinlichkeit erwarten lassen ?
Das erstere ist ein Umstand, der wohl zu keiner Zeit
unbemerkt geblieben ist, das zweite aber dürfte nur dann
für die Gottesbeweise schlechthin den Ruin bedeuten,
wenn nicht bloß die Aufstellung des einen oder andern
Gesetzes, sondern aller, welche die Menschheit zu be-
sitzen glaubt, sich als Illusion erwiesen. In der Tat gehen
manche so weit und gestehen selbst den mathematischen
Lehrsätzen keine höhere Würde als die von allgemeinen,
induktiven Tatsachen mit unvollkommener Exaktheit
zu. Soweit dürften Sie in Ihrer Befreundung mit pragma-
tistischen Ideen nicht gehen, und auch sonst werden Sie
an den Bestand strenger Denkgesetze nicht zweifeln.
LVI Zum Geleite

Wenn aber dies, so düdte sich, wie immer vieles im Dun-


keln geblieben ist, aus der Edahrung genug entnehmen
lassen, um einen Gottesbeweis und insbesondere auch
einen teleologischen mit jener unendlichen Wahrschein-
lichkeit aufzubauen, welche als ein Äquivalent einer streng
mathematischen Deduktion angesehen werden dad. Wo
ein Zweifel eintritt, ob die Dinge so oder so sich verhalten,
kann dilemmatisch vorgegangen werden, so z.B., wenn
der Atomismus, der zeitweise den Naturforschern ganz
gesichert schien, wieder in Zweifel gezogen wird; man
mag ihn annehmen oder man mag ihn nicht annehmen, in
jedem Fall bieten sich besondere Angriffspunkte für den
teleologischen Beweis. Oder wenn die einen als Dualisten
die Welt aus Körpern und unausgedehnten Geistern, die
andern sie aus Körpern allein oder aus lauter geistigen,
unausgedehnten Einheiten bestehen lassen; in jedem Fall
gewinnt man besondere Stützpunkte .. Und wiederum
wenn von denen, die materialistisch-monistisch denken,
die einen alles aus Urstoffen ableiten, die psychischer
Tätigkeit entbehren, die andern sie als etwas fassen, was
schon Keime des höchsten Denkens in irgendeinem niedern
Gefühl besitzt; so oder so gedacht, immer bietet es die
Grundlage zum teleologischen Aufbau. Und so könnte
ich weitergehen und die Unterschiede derer, welche die
Körperwelt ganz mechanisch und jener, welche sie man-
nigfach energetisch sich betätigen lassen, und derer,
welche an einen qualitativ einheitlichen Urstoff glauben,
und derjenigen, welche eine Vielheit mit elementarer
Verschiedenheit zusammenwirken lassen usw. namhaft
machen; das Argument verliert nicht an Boden.
CuVIER, welcher an keine Umbildung der Arten
glaubte, LAMARCK,AMPERE, der darwinistische WEIS-
MANN,K. E. VONBAER und LüDGE mit ihrer Zielstrebig-
keit in der Natur, so verschieden sie sich auch zur biologi-
schen Evolution stellen, werden darum doch auch gleich-
mäßig zur Annahme eines Gottes als letzter Erklärung
der Teleologie in den Organismen geführt. Und wer, wie
Brief an einen Agnostiker LVII
mir es HERING einmal von sich gestand, um der Schwierig-
keit der ersten Entstehung der Organismen zu entgehen,
sie anfangslos auf der Erde gegeben glaubt, würde bei
tiefer eindringender Erwägung ebensowenig des die
Ordnung bestimmenden Gottes entraten können. Man
mag sich wenden und drehen wie man will, der teleolo-
gische Beweis erscheint immer gleich möglich und
gleich gesichert. Sogar der Solipsismus entrinnt ihm nicht,
wie ganz richtig schon LOCKE und LEIBNIZ erkannt ha-
ben, die darum auch beide darin einig sind, daß die
Existenz eines Gottes sicherer als sogar die Erkenntnis
einer Außenwelt und, von dem Bestand unserer selbst
abgesehen, sogar die gesichertste Erkenntnis eines
Existierenden sei. So minimal ist die empirische Basis,
deren wir bedürfen, während allerdings von den Vernunft-
wahrheiten die reichste und energischste Anwendung zu
machen ist. Alle die, welche infolge auftauchenden
Zweifels über irgendein vermeintes Ergebnis
bisheriger induktiver Forschung sich an den
Gottesbeweisen irremachen lassen, haben von
der Vernunft nicht genugsam den Gebrauch ge-
macht, den sie uns gestattet.
Alles das, was ich hier sage, ist sehr allgemein an-
deutend und würde natürlich durch die genauere Aus-
führung im einzelnen sehr gewinnen. Sie kennen mich
aber, glaube ich noch genugsam, um überzeugt zu sein,
daß ich nicht in hohen Phrasen, die viel versprechen,
ohne eine Bewährung und Verteidigung vor einem wider-
strebenden Kritiker zu gestatten, zu reden liebe.
Recht sehr würde es mich freuen, Ihnen selbst zu der
genauesten Prüfung Gelegenheit geben zu können. Für
heute aber möge das Gesagte genügen. So sei auch, weil
Sie das Entropiegesetz berühren, nur kurz bemerkt, daß
ich es in seiner Wahrscheinlichkeit durch nichts verringert
glaube, was einzelne Forscher für die Anwendung auf das
Weltall geltend zu machen versuchten. Als z. B. BOLTZ-
MANNbei mir in Florenz weilte, habe ich ihn alsbald
LVIII Zum Geleite

wegen der Ausflucht, die er vor dem Wärmetod gefunden


zu haben sich schmeichelte, in die größte Verlegenheit
gesetzt, die er auch seinem edel aufrichtigen Charakter
entsprechend nicht in Abrede stellte.

Stände Ihnen noch heute der Theismus fest, so würden


Sie gewiß nicht so wie jetzt es ungehörig finden, daß ich
auf diesen Vorzug hinwiese. Unzählige Konsequenzen
hängen damit zusammen; ohne den Theismus ist wohl
eine umfassende enzyklopädistische Weltkenntnis, aber
eine philosophische Erklärung ihres Charakters und eine
Voraussage, welche die fernsten Zeiten mit begreift und
jene Erweiterung über Körper- und Geisterwelt hinaus,
welche ein wohlbegründeter Optimismus mit sich bringt,
nicht mehr möglich. Ein Agnostiker, der im Gegensatz
zum Atheisten der Gotteshypothese eine Möglichkeit
und eine gewisse, wenn auch nur endliche Wahrscheinlich-
keit zuschreibt, könnte allerdings alle diese Konsequenzen
des Theismus wenigstens hypothetisch ziehen und, wenn
auch nur als endlich wahrscheinlich, erhabene und herz-
erfreuende Aussichten eröffnen. Wer aber unter ihnen
findet sich, der es täte 1 Ich kenne keinen, und dies wohl
darum, weil der Agnostiker, wenn er die Gottesbeweise
als hinfällig erwiesen zu haben glaubt, die willkürlich
,~emachte Annahme, Gott sei, für etwas so Unwahrschein-
liches hält, daß sie eine solche ernstere hypothetische
Berücksichtigung gar nicht mehr verdienen würde. Er
steht darum, wenn er überhaupt nicht geradezu den
Atheisten beigezählt werden soll, ihnen doch unvergleich-
lich näher als den Theisten. Ich selbst also leugne durch-
aus nicht, daß mir der Umstand, ob ein Denker Theist
oder nicht Theist ist, für seine Würdigung als Philosoph
von eminenter Bedeutung erscheint.

Die Philosophie hat am meisten die Würde einer theore-


tischen Wissenschaft, d. h. die Erkenntnis ihrer Wahr-
heiten ist mehr als die jeder andern, von aller praktischen
Brief an einen Agnostiker LIX

Rücksicht unabhängig, begehrenswert. Sie verliert aber


diesen Vorzug ganz und gar, wenn das Dasein Gottes und
alles das, was als Konsequenz damit zusammenhängt, von
dem Bereich ihrer Erkenntnis ausgeschlossen wird. Um-
faßt sie diese Wahrheiten, so kann sie eine Fülle des
Trostes gewähren, an welchen die gepriesenen Tröstungen
der Religion selbst nicht hinanreichen; umfaßt sie sie
nicht, so sieht sich die Menschheit darauf angewiesen,
ihren Trost in poetischen Illusionen zu suchen, wie
ALBERT LANGE sie auch geradezu empfiehlt.
Sie klagen, lieber Freund, über den Mangel an Inter-
esse, den die Zuhörerschaft in ... der Philosophie ent-
gegenbringt. Will man gerecht sein, so wird man aber
auch einen solchen Mangel des Interesses recht wohl be-
greifen. Sie selbst bemerken sehr richtig, daß die Auf-
gaben, welche die experimentelle Psychologie sich stellt,
nicht gar viel Lockendes haben, und rühmen es an KüLPE,
daß er in das Bereich seiner Forschung auch andere Fra-
gen zieht. Ich wage aber zu behaupten, daß auch diese,
wenn sie nicht dazu gelangen, praktischen Bedürfnissen
zu dienen, also rein um der Schönheit der Resultate willen,
nichts genügend Anziehendes für ein menschliches Gemüt
haben werden. Die Forschung, welche uns einen gött-
lichen Urgrund der Welt offenbart und welche darauf-
hin das Schicksal der Welt und unser eigenes Schicksal
optimistisch verklärt, diese gibt dagegen, was unter allem,
was die Welt bietet, das Beglückendste ist, in dem er-
habenen Bewußtsein dieser Wahrheiten selbst.
Nach der Lösung dieser Fragen geht ein allgemeines,
natürliches Sehnen der Menschheit, und die Tatsache, daß
die Religion eine so allgemeine völkergeschichtliche Er-
scheinung ist wie die Staatsbildung, gibt dafür ein be-
redtes Zeugnis; denn was ist die Religion anderes als
ein Surrogat für eine die Welt auf ihren letzten, gött-
lichen Grund zurückführende und in den Zielen ihrer
Ordnung verdeutlichende Philosophie?
VOM DASEIN GOTTES
V or1esungen, geha1ten an den Universitäten
Würzburg und Wien (1868-1891)
Einleitung
Theoretisches und praktisches Interesse
der Gottesfrage
l. Wer einen Zyklus v0n Vorlesungen beginnt, spricht
wohl gerne ein Wort von der Wichtigkeit des Gegen-
standes 1), um das Interesse an der Untersuchung zu
beleben. Anderwärts mag das nötig sein, in unserm Falle
sicher nicht. Wenn es überhaupt möglich ist, eine ver-
nünftige Überzeugung vom Dasein Gottes zu gewinnen,
so ist es außer Zweifel, daß die Untersuchungen, die
darauf abzielen, vom höchsten theoretischen Interesse
wie auch von großer praktischer Bedeutung sind.
Wir wollen dennoch bei dem einen und andern Punkte
ein wenig verweilen, damit unser Bewußtsein davon ein
noch lebendigeres werde und uns zu andauernder Geduld
für die kommenden schwierigen Betrachtungen fähig
mache.
2. Zunächst ein Wort vom besondern theoretischen
Interesse der Gottesfrage.
Jede Erkenntnis hat als solche ihren Wert, doch nicht
jede den gleichen. Er wächst mit der Güte des Gegen-
standes, mit dem Umfange des Gebietes, worüber sie
Licht verbreitet, und wohl auch mit der Unverlierbar-
keit ihres Besitzes. Unter dem ersten Gesichtspunkte hat
man der Botanik den anmutenden Namen einer scientia.
amabilis gegeben, unter dem zweiten werden vor den
anderen Wissenschaften diejenigen geschätzt, die nicht
bloß, was besteht und geschieht, erzählend zusammen-
stellen, sondern es auch auf seine Ursachen zurückführen
und allgemeine Gesetze aufzeigen, denen das Einzelne in
2 Vollkommenheit des Gegenstandes. Grundgesetz

seinem Verlaufe unterliegt. Der Satz der Gravitation ist


theoretisch interessanter als das Datum des heutigen
Tages oder als irgendeine Einzelheit der Geschichte und
der Naturbeschreibung.
Wir mögen den einen oder den andern dieser Maß-
stäbe anwenden, immer erscheint die Erkenntnis Gottes
als die theoretisch wertvollste.
a) Gott ist seinem Begriffe nach ein Wesen von unend-
licher Vollkommenheit. Was kann dem, der das Gute
liebt, teurer sein als die Kunde, daß das Ideal aller
Ideale wirklich ist 1 So fanden denn auch PLATON und
ARISTOTELES, denen ein Leben der Forschung und Be-
trachtung als das glücklichste galt, die höchste dem
Menschen beschiedene Seligkeit in dieser Erkenntnis, und
sie ließen sich in dieser Überzeugung nicht dadurch be-
irren, daß die Vorstellung, die wir uns von Gott zu bil-
den vermögen, nur ein ärmliches Surrogat für die uns
fehlende Anschauung Gottes ist. Durch einen glück-
lichen Vergleich weiß ARISTOTELES es deutlich zu machen,
wie ihr trotzdem ein überragender Wert bleiben könne.
Es sei, bemerkt er, für uns eine größere Freude, ein be-
sonders geliebtes Wesen, sei es auch nur von fern und
im Dämmerlicht zu erblicken, als einen uns gleich-
gültigen Gegenstand in nächster Nähe und voller Faß-
lichkeit zu schauen.
b) In dieser Erkenntnis besitzen wir aber zugleich
eine Wahrheit, die in gewissem Sinne mehr als alle
anderen positiven Wahrheiten 2 ) gesichert ist, denn sie
dringt über alles bloß Tatsächliche hinaus zu dem vor,
was keiner weiteren Erklärung mehr bedarf, weil es in
sich notwendig ist. Was ich als bloß tatsächlich vor-
stelle, mag von Bedingungen abhängen, die wandelbar
sind und mit deren Entfall es selbst entfiele. Das in sich
Notwendige aber ist selbst der Grund für alles andere.
Und wenn es sich ferner erweist, daß dieser Grund einer
für alles ist, so zeigt sich, daß diese Erkenntnis von un-
verlierbarer Sicherheit auch alle andern an Weite über-
aller positiven Wahrheit. Praktisches Interesse 3

trifft. Die Erkenntnis des universalen Prinzips strahlt ihr


Licht über alles aus, was ist, was war und was sein wird.
Die großen kosmologischen Fragen - Einheit oder Viel-
heit der Welt, endlicher Stillstand oder endlose Entwick-
lung, Fortschritt zum Guten oder zum Bösen -, sie alle
sind nur im Lichte der Gottesfrage zu lösen.
3. Mit diesem weitreichenden Einfluß der Wahrheit,
die unsere Untersuchungen sichern sollen, hängt nun
auch ihre große praktische Bedeutung zusammen.
a) In ihr liegt auch, abgesehen von der theoretischen
Freude eines Aufschlusses über die große, ewige, welt-
umfassende Frage, eine Quelle reichen Glückes. Denn ist
ein Gott, so lebt uns ein weiser, liebevoller Herrscher und
Vater, und sein Dasein ist meines Erachtens für jeden,
nach der Ansicht aller aber wenigstens für die edeln Men-
schen ein großes Gut, und im Bewußtsein, es zu be-
sitzen, fühlen sie sich mehr als durch den Besitz anderer
Güter bereichert. Darum sagt LEIBNIZ (Remarques sur
un petit livre) sehr treffend: ,,Man behauptet, es habe
der Gedanke, daß kein Gott sei, noch niemanden zittern
gemacht, wohl aber der Gedanke, daß es einen solchen
gebe. Ich bin nicht dieser Ansicht. Man kann zittern
nicht nur, wenn man ein großes Übel fürchtet, sondern
auch, wenn man an den Verlust eines großen Gutes
denkt."
b) Derselbe LEIBNIZhebt hervor, was auch von anderer
Seite häufig betont wurde, daß die Überzeugung vom
Dasein Gottes ein Trost im Unglück sei; GOETHE aber
findet den Edeln ihrer mehr noch im Glück bedürftig.
c) Wieviel sie für das Glück eines edlen Menschen-
herzens bedeutet, wird besonders klar, wenn man an den
Zusammenhang der Gottesfrage mit der Frage nach der
individuellen Unsterblichkeit denkt. Jeder Unverdor-
bene hat ein natürliches Verlangen nach persönlicher
Fortdauer, und die Stimmen der großen Dichter, dieser
besten Kenner des Menschenherzens, geben dem Zeugnis.
4 Gott und Unsterblichkeit

GOETHES Und solang du dies nicht hast,


Dieses stirb und werde,
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde
ist Ihnen wohl allen bekannt. Weniger sicher darf ich
dies vielleicht von einem schönen Gedichte GOTTFRIED
KELLERS voraussetzen, auf das ich Sie besonders darum
hinweisen möchte, weil es die tieferen Motive dieses Ver-
langens zum Ausdruck bringt:
Es ist nicht Selbstsucht und nicht Eitelkeit,
Was sehnend mir das Herz grabüber trägt;
Was mir die kühngeschwungne Brücke schlägt,
Ist wohl der Stolz, der mich vom Staub befreit.
Sie ist so eng, die grüne Erdenzeit,
Unendlich aber, was den Geist bewegt!
Wie wenig ist's, was ihr im Busen hegt,
Die ihr so satt hier, so vergnüglich seid!
Und wenn auch einst die Freiheit ist errungen,
Die Menschheit hoch wie eine Rose glüht,
Ihr tiefster Kelch vom Sonnenlicht durchdrungen:
Das Sehnen bleibt, das uns hinüberzieht,
Das Nachtigallenlied ist nicht verklungen,
Bei dessen Ton die Knospen sind erblüht!
Wir fühlen uns zu Mehr und zu Höherem berufen als
dieses Erdenleben entfalten und erreichen kann; daher
d'as Bedürfnis nach persönlicher Fortdauer, daher auch
von vornherein die Hoffnung darauf. Aber nachzu-
weisen, daß sie nicht eitel sei, hat Schwierigkeiten, und
wohl die bedeutsamsten Argumente, auf die sie sich
stützen ließe, würden entfallen, wenn es keinen Gott
gäbe.
Es würde mich zu weit führen, dies hier darzulegen;
dagegen ist ein anderes Moment auch in kürzester Kürze
zu erweisen, daß nämlich ohne den Gottesglauben der
Unsterblichkeitsgedanke eher etwas Beunruhigendes
haben müßte: es fehlte uns ja dann jede Möglichkeit
eigener Fürsorge über unsere Todesstunde hinaus, wäh-
Theismus und Ethik 5
rend der Gottesgedanke uns lehrt, daß wir für die Güter
des jenseitigen Lebens schon hier auf Erden vorsorgen
und uns vor Verderben sichern können, zumal, wenn
Gott auch als vergeltende Gerechtigkeit zu denken ist,
denn dann wird uns, ähnlich wie die Naturgesetze, auch
das Gesetz der gerechten Vergeltung zur Grundlage einer
bedeutsamen Machterweiterung.
d) Und wenn wir von dem hohen Gedanken an das
eigene jenseitige Leben uns zu dem noch höheren an die
Zukunft des ganzen Kreises, auf den wir wirken, hin-
wenden, so zeigt sich ganz Ähnliches. Wird er überhaupt
eine Zukunft haben 1 Wird sie glücklich oder unglücklich
sein 1 Wem das alles gleichgültig ist, dessen Gemüt müßte
keiner edlen Regung fähig sein.
Dies also ein Gesichtspunkt, unter dem die große prak-
tische Bedeutung der Erkenntnis Gottes augenschein-
lich ist.
4. Ein anderer ergibt sich aus der Beziehung, in welcher
die Überzeugung vom Dasein Gottes zur Moral steht.
a) KANT fordert den Glauben an das Dasein Gottes
als ein Postulat der praktischen Vernunft. SCHILLER,
von ihm beeinflußt, macht den Wert des Menschen vom
Vertrauen auf die „drei Worte des Glaubens" abhängig:
Freiheit, Tugend, Gott.
b) Über die Art dieses Zusammenhangs von Theismus
und Moral herrscht freilich nicht überall volle Klarheit.
Manche meinen, daß ohne vorausgehende Erkenntnis
Gottes ein Wissen um das, was gut und besser, was schlecht
und schlechter sei, sich nicht gewinnen lasse. Es schwebt
dabei, wie es scheint, vielen der Gedanke vor, daß die
sittliche Erkenntnis ein Wissen um Gebote sei, und zwar
um Gebote des göttlichen Willens, die uns durch über-
natürliche Offenbarung kund gemacht worden seien. Doch
ist leicht, zu zeigen, daß eine theologische Ethik dieser
Art sich im Kreise bewegen würde. Um eine Ethik, die
mit dem Anspruche auftritt, als göttlich geoffenbarte zu
gelten, beruhigten Gewissens als echte Offenbarung
6 Theismus und Ethik

Gottes anzunehmen, müßte ich Kriterien für ihre Echt-


heit besitzen. Nun hängt aber die Glaubwürdigkeit eines
Berichtes nicht allein von äußeren Zeugnissen und von
der uns schon sonstwoher bekannten Vertrauenswürdig-
keit der Gewährsmänner, sondern auch von der inne-
ren Wahrscheinlichkeit des Berichteten selbst ab. Das
wird von manchen der sog. Apologeten zu wenig berück-
sichtigt. So war z.B. DE MAISTRE, der berühmte fran-
zösische Verteidiger des katholischen Glaubens, der Mei-
nung, ein Wunderbericht - wie etwa der über eine
Totenerweckung oder über die Auferstehung des Ge-
kreuzigten - sei ebenso glaubhaft wie Leben und Taten
Juuus CAESARS,wofern nur das eine ebensogut bezeugt
sei wie das andere. Das zeigt von keiner genügenden
Beachtung der Gesetze der Wahrscheinlichkeit, welche
uns die Wahrscheinlichkeit eines berichteten Ereignisses
vielmehr als das Produkt aus beiden Faktoren, der Ver-
läßlichkeit des Zeugen und der inneren Glaubhaftigkeit
des Berichtes selbst, erkennen lassen. Statt einer theo-
retischen Darlegung darüber, die in die Logik gehört,
hier nur ein Beispiel zur Veranschaulichung. Meldet mir
unser Pedell, daß mich nach der Vorlesung ein ausländi-
scher Kollege, der hier zu Besuch weile, vor der Türe
des Hörsaales erwarten wolle, so wird mir kein Zweifel
daran aufsteigen. Zeigt mir aber derselbe Mann die An-
kunft eines verstorbenen Kollegen an, so werde ich dem
Zeugen, wie immer er mir als ehrlich und ernsthaft be-
kannt sein mag, doch nicht ohne weiteres Glauben schen-
ken, sondern mich nach anderen Hypothesen umsehen,
die geeignet schienen, das Zustandekommen eines so
seltsamen Berichtes aufzuklären. vVas von Ereignissen
gilt, gilt aber auch von überlieferten Lehren. Mutet
uns der Mormonenhäuptling SMITHzu, seine Vielweiberei
als einen ihm von Gott geoffenbarten Nachtrag zum
Christentum hinzunehmen, so sträuben wir uns gegen
eine solche Zumutung; ganz anders, als wenn uns JEsus
Nächsten- und Feindesliebe als göttliche Gebote ver-
Theismus und Ethik 7

kündet. Gewiß hat der nicht unrecht, der sagt, Gott


gebiete nur das Gute, aber nicht darum ist etwas gut,
weil Gott es gebietet, sondern er gebietet es, weil es gut
ist. Die Begriffe mögen gleichen Umfang haben, aber
identisch sind sie nicht. Daraus aber folgt, daß ein ver-
nünftiges Urteil über eine angeblich geoffenbarte Moral
ein gewisses Maß von Kenntnis der natürlichen Moral
bereits voraussetzt, weil ja ein als geoffenbart ausge-
gebenes Sittengesetz erst darauf geprüft werden muß, ob
es Gottes würdig sei, d. h. ob es nicht etwa dem natür-
lichen Sittengesetze widerspreche.
In der Tat läßt sich, was gut (liebenswert) und was
schlecht (hassenswert), ebenso was besser (d. h. was vor
anderem den Vorzug verdient), ganz ohne Rücksicht auf
die Gottesfrage erkennen 3 ). Wir erkennen z. B. ganz un-
mittelbar unsere Liebe zur Erkenntnis und zur Freude,
unser Mißfallen an Irrtum und Leid und den Vorzug, den
wir der größeren Summe solcher Güter vor der kleineren,
und der kleineren solcher Übel vor der größeren geben,
als natürlich richtig, und kommen so, ohne Reflexion auf
die Frage nach der ersten Ursache, zur Aufstellung einer
Gütertafel und zu der Einsicht, daß unser höchstes prak-
tisches Gut jeweils in der höchsten erreichbaren Summe
jener Güter bei einem Mindestmaß jener Übel bestehe.
Obwohl mir so die Prinzipien ethischer Erkenntnis von
der Metaphysik unabhängig scheinen, muß ich doch
auf einen Punkt hinweisen, wo die Ethik sich vor die
Frage nach dem Dasein Gottes gestellt sieht und von wo
sie dann einen ganz andern Weg geht, je nachdem die
Antwort ausfällt. Von der Güterlehre gilt allerdings, daß
sie davon unabhängig ist. Bei unseren sittlichen Ent-
scheidungen aber haben wir uns nicht nur zu fragen, was,
isoliert betrachtet, als ein Gut oder Übel anzusehen ist,
sondern auch, worin unter den gegebenen Umständen das
Beste besteht, was wir erzielen können. Dies kann auch
ein bloßes Mittel zum Guten (ein Nützliches), ja es kann
unter Umständen geradezu ein Übel sein, dessen Wahl
8 Theismus und Ethik

dann eben nur dadurch gerechtfertigt ist, weil jede


andere Entscheidung ein noch schlimmeres herauf-
beschwören würde. Am allgemeinsten formulieren wir
dieses praktische Problem, wenn wir uns fragen, ob denn
das leibliche Leben selbst eher als nützlich denn als
schädlich für jenes unser höchstes praktisches Gut gelten
dürfe. Wer wollte verkennen, daß dies eine Grundfrage
aller Ethik ist, und daß sie sich nicht losgelöst von jedem
Zusammenhang mit der Frage nach dem Dasein Gottes
beantworten läßt 1 Wie sollen wir denn_ sonst zu irgend-
einer wahrscheinlichen Erwartung darüber kommen, ob
das Leben, seine Fortsetzung und Fortpflanzung, mehr
des Guten oder mehr des Übeln im Gefolge haben werde 1
Davon aber hängt es doch wohl ab, ob wir uns vernünf-
tigerweise zu einer Ethik des Lebens und Wirkens oder
zu einer solchen der Resignation und des Nirvana be-
kennen dürfen. Auf Grund des Stückchens Vergangen-
heit, de-s man menschliche Geschichte nennt, ist diese
Frage gewiß nicht beruhigend im optimistischen Sinne zu
entscheiden. Wer, wie ScHOPENHAUER,sich so enge auf
die geschichtliche Erfahrung einstellt, kommt viel eher
zum Pessimismus und zur Lebensverneinung. Im Alter-
tum war eine Zeitlang unter. den Philosophen, also unter
Menschen, die von Beruf über den Wert des Lebens nach-
denken, der Selbstmord epidemisch, und auch unsere Zeit,
die das Bewußtsein einer viel weiter fortgeschrittenen
Bildung hat, hat ihre Dichter und Denker des Welt-
schmerzes, die viel Anklang finden. Hält man dem ent-
gegen, daß doch die Selbstmorde weit seltener sind als
darnach zu erwarten wäre, so beweist dies nur die Kraft,
nicht die Vernünftigkeit des Lebenstriebes.
Und nehmen wir selbst an, daß diejenigen zu schwarz
sehen, die in Vergangenheit und Gegenwart mehr Irrtum
und unbelehrbare Borniertheit als Einsicht bei den Men-
schen zu finden glauben, mehr Niedertracht und kläg-
liche Schwäche als Tugend und Achtung vor dem Sitten-
gesetz, mehr Qual und Leid als Freude und Zufrieden-
Theismus und Ethik 9
heit; die Frage, wie wir uns im Leben einzurichten haben,
hängt doch, wie gesagt, von der Hoffnung für die Zu-
kunft ab. Das gilt für den Einzelnen und gilt für die Ge-
samtheit. Wer sich unheilbar krank weiß und mit einem
nahen Abschlusse seines Lebens rechnen muß, weiß da-
mit auch seine Pflichten andere geworden, und ein Ge-
schlecht, das fest von der unmittelbaren Nähe des Welt-
endes überzeugt ist, kann nicht eine Ethik des Wirkens
und irdischen Fortschritts als seiner Lage angemessen
erkennen'). Aber ein Abschluß winkt dem ganzen Men-
schengeschlecht. HELMHOLTZ 5) hat einmal die Be-
merkung gemacht, daß ein freudiges Aufgehen in der
Sorge um künftige Geschlechter sich vielleicht mit dem
Verzichte auf persönliche Unsterblichkeit, nimmermehr
aber mit dem Gedanken an ein unvermeidliches Ende
des Menschengeschlechts abzufinden vermöchte. Auf
dieseg ernsteste „Was dann 1" bedarf, wer sein Leben
in den Dienst des Guten stellen will, einer Antwort. Sie
aber ist nur im Zusammenhang mit dem Gottesgedanken
möglich. Nur dieser gibt Vertrauen auf eine Zweckord-
nung in der Welt, nur er gibt die Gewähr, daß alles,
einem vernünftigen Urgrunde entstammend, einem ver-
nünftigen Ziele zustrebe, nur er läßt uns vernünftig auf
eine persönliche Fortdauer der Seelen hoffen, die auch
den Untergang der irdischen Welt überdauert, und stellt
damit dieses Leben unter ein Gesetz der Verantwortung,
das im Ewigen wurzelt. Ein Optimismus ohne Gott ist
kein Optimismus der Vernunft, sondern des blinden Lebens-
triebs, und verdient vollauf den Hohn eines ScHOPEN-
HAUER,der sich hier an Konsequenz des Denkens unseren
modernen Atheisten mit ihrem naiven Bekenntnis zu den
Idealen des Fortschrittes weit überlegen zeigt. Sie. sind
ebenso durch einen blinden Instinkt beherrscht wie die-
jenigen, die vornehm „alles Transzendente" verwerfen
und dabei an die Dinge glauben, weil sie sie greifen.
Diese Bemerkungen werden genügen, unsere Meinung
verständlich zu machen, daß ohne metaphysisch begrün-
1O Theismus, Politik und Kunst. Zeugnis

dete Zukunftshoffnung sich eine praktische Ethik nicht


aufbauen lasse. In diesem Sinne also muß der Frage
nach dem Dasein Gottes eine entschiedene Bedeutung für
die Moral zuerkannt werden 41 ).
5. Ist aber die Gottesfrage für die Moral von Bedeu-
tung, so ist damit gesagt, daß sie es auch für die Politik
ist, denn diese ruht auf dem Grunde der Ethik. Die
soziale Ordnung bedarf der sittlichen Sanktion. Ma-
schinengewehre vermögen sie nur provisorisch aufrecht
zu erhalten. Darum das Wort VOLTAIRES,man müßte
Gott erfinden, wenn es keinen gäbe. Der Fortgang der
französischen Revolution hat dazu geführt, daß der
Gottesglaube von Staats wegen zum Dogma proklamiert
wurde. Und gewiß nur mit Rücksicht auf solche Zu-
sammenhänge hat JOHN LOCKE, der Apostel religiöser
Toleranz, die Atheisten davon ausgenommen. Diese Ein-
schränkung ist weder gerecht noch weise, aber die emi-
nenten Gefahren des Atheismus für die soziale Ordnung
machen sie verständlich.
6. Wie unser persönliches Glück, wie moralische Füh-
rung und gesellschaftliche Ordnung durch den Gottes-
glauben segensreich beeinflußt werden, so auch das Ge-
biet der Kunst. Schon öfters ist dies betont worden. In
Architektur, Malerei, Bildhauerkunst und Dichtung
nimmt die Begeisterung der Völker ihren höchsten Flug.
Am erhabensten in der Tragödie. Ein Abbild des Lebens
will uns der tragische Dichter geben, nicht in historischer
Treue, sondern, wie ARISTOTELESsagt, ,,in philosophi-
scher Weise". Im Bilde des Einzelnen weist er uns die
ewigen, das All durchwaltenden Kräfte und Gesetze. Da
ist es denn durchaus nicht gleichgültig, ob er selbst die
höchsten Dinge klar und richtig zu schauen vermag. So
ändert das Drama seinen Charakter, zum Besseren wie
zum Schlechteren, mit der Weltanschauung des Dichters,
und wenn die theistische die wahre ist, so ist die theistisch
beseelte Tragödie wesentlich ausgezeichnet. Doch dies
nur flüchtig, da die früheren Gesichtspunkte gewiß von
der Atheisten. Beha.ndlungsweise der Frage 11

umfassenderer Bedeutung sind, obwohl auch dieser zu


zeigen geeignet ist, wie die Überzeugung vom Dasein
Gottes jedes Gebiet des höheren Lebens durchdringt.
7. Selbst die Atheisten gestehen in ihrer Art zu, daß
diese Frage allen an Wichtigkeit vorangehe, schon durch
die Mühe, die sie sich geben, jeden Beweisversuch als
nichtig darzutun und sich so von einer Idee zu befreien,
die sonst ihr ganzes Leben zu beherrschen Anspruch
machen würde. Taucht eine Hypothese auf, die die An-
nahme eines göttlichen Urhebers der Welt überflüssig zu
machen verspricht, so bemächtigen sie sich alsbald ihrer
mit einem Eifer, der, wie das Beispiel des mit der teleo-
logischen Weltanschauung konkurrierenden Darwinismus
zeigt, weniger ihrem naturwissenschaftlichen als ihrem
philosophischen Gehalt gilt.
8. Meine Ansicht ist solchen Versuchen entgegenge-
setzt. Ich glaube, daß die Tatsachen, richtig erwogen,
der Annahme Gottes im höchsten Maße günstig sind. Ich
bin aber weit entfernt davon, diese Ansicht irgendeinem
autoritativ aufdrängen zu wollen. Jeder möge frei den-
kend und so kritisch als möglich der Untersuchung fol-
gen. Nicht ein blindes Glauben - welches wohl wenig
Aussicht auf dauernden Fortbestand hätte -, sondern
Einsehen und Wissen ist es, was ich Ihnen geben möchte,
als ein gesichertes Fundament für Ihre ganze Lebens-
anschauung. Auch werde ich die Argumente dagegen
ebenso sorgfältig wie die dafür entwickeln. Manches
dürfte zunächst des Eindrucks nicht verfehlen. Ich hoffe
aber, daß Sie schließlich um so überzeugter dem schönen
Worte BACONSbeipflichten werden, daß uns die Philo-
sophie, wenn man sie nur obenhin studiert, von Gott ent-
ferne, daß sie uns aber zu ihm führe, wenn wir tiefer
in sie eindringen.
ERSTER TEIL

VORUNTERSUCHUNGEN
Erste Voruntersuchung
Ob die Untersuchung nicht überflüssig 7
Behauptung, das Dasein Gottes stehe
von vornherein fest
I. .Ä.ußer1icheArgumente dafür
9. Ehe wir an unsere Aufgabe gehen, dürfen wir nicht
versäumen, zwei ihr widerstrebende Ansichten zu prü-
fen, die, einander entgegengesetzt, doch darin überein-
stimmen, daß sie uns jeder Mühe eines Beweisversuches
für das Dasein Gottes überheben würden, die eine, weil
er überflüssig, die andere, weil er unmöglich wäre.
Überflüssig wäre unser Versuch, wenn für uns das Da-
sein Gottes selbstverständlich wäre; wenn, sobald wir
sprechen „Gott ist", mit Bewußtsein dessen, was wir
sprechen, der Satz uns einleucht~te. Unmöglich, wenn
aus der Natur Gottes, aus der Bedeutung des Namens
,,Gott" selbst folgte, daß seine Existenz sich nicht be-
weisen lasse. Das erste ist eine auffallende Behauptung,
dennoch wiederholt, auch von angesehenen Denkern und
mit mehreren Argumenten vertreten worden.
10. Man berief sich auf die Leichtigkeit, mit welcher
die Kinder diesen Glauben an Gott annehmen, und auf
die Übereinstimmung aller Völker im Glauben an ihn.
Beides, meinte maJ.)., wäre unbegreiflich, wenn diese
Erkenntnis keine unmittelbare wäre, sei es angeboren,
sei es in der Weise unmittelbar, wie es die Axiome sind.
Antwort: a) Was glauben Kinder nicht leicht 1 Dar-
nach zu schließen, wäre jedes Ammenmärchen ange-
boren.
16 Glaubensbereitschaft der Naiven

b) Anfänglich hegen wir Menschen überhaupt ein


schrankenloses Vertrauen nach allen Seiten hin. Wir ver-
trauen der Erfahrung, indem wir ohne weiteres unter
ähnlichen Umständen Ähnliches erwarten; wir vertrauen
auf die Sinne, indem wir alles, was sie uns zeigen, un-
bedenklich für wirklich nehmen; ja selbst unseren Phan-
tasien stimmen wir, gleichsam in wachem Traume, zu.
Erst Enttäuschungen machen uns kritischer.
So glauben wir denn auch zunächst alles, was uns
andere sagen, besonders solchen, die uns Beweise von
Liebe und überlegener Einsicht gegeben haben. Der
Knabe hält seinen Vater anfangs für allwissend. An Irr-
tümer oder absichtliche Täuschungen denken wir gar
nicht, bis eben auch hier Enttäuschungen das Vertrauen
lockern. Sind aber Kritik und Argwohn einmal erwacht,
so mögen sie sich auch gegen den Gottesglauben kehren.
Und so begegnen wir nicht selten bei nachdenklichen
Kindern frühen Zweifeln.
Soweit das Argument sich auf den leichten Glauben
der Kinder stützt, ist es also nichtig.
c) Und die Übereinstimmung der Völker? Schon
LOCKE hat bemerkt, daß diese Übereinstimmung ga.r
nicht in der Weise vorhanden ist, wie es bei einer einge-
borenen oder doch unmittelbar einleuchtenden Erkennt-
nis zu erwarten wäre. Wenn ein Volk das Krokodil, ein
anderes einen Moloch oder eine Astarte als göttliche Wesen
verehren, was hat das mit dem eigentlichen Gottesglauben
zu tun 1 Müßte dieser, wenn wirklich angeboren, nicht
eher das Aufkommen solcher unwürdiger Vorstellungen
verhindern 1 Was bildet denn den Inhalt eines derartig
primitiven Glaubens 1 Nichts anderes als der Gedanke an
lebendige Wesen, die uns irgendwie - durchaus nicht in
allem - überlegen sind. Man hat mit Recht gesagt: wenn
der Hund sich Gedanken machen könnte, würde ihm der
Mensch wohl als ein solcher „Gott" erscheinen.
d) Aber angenommen, die Völker stimmten wirklich
in einem echten Gottesglauben überein, ein Beweis dafür,
„Gott das, wodurch wir alles erkennen" 17

daß er unmittelbar einleuchtete, wäre das noch keines-


wegs; genug, wenn es nicht an allgemein naheliegenden
Anlässen dafür fehlt (wie solche ja auch für allgemeine
Irrtümer, z.B. vom Ruhen der Erde und der Bewegung
der Sonne um sie, gegeben sind). Solche sind denn hier
unstreitig vorhanden, zumal für jene primitivere Vor-
stellungsweise. Der naive Mensch deutet die Erschei-
nungen der Natur vitalistisch, nach Analogie zu seiner
inneren Erfahrung. Das Kind zürnt der Tischkante, an
die es angestoßen ist. Und kindlich klingt es, wenn
THALES VON MILET, der Vater der Philosophie, ver-
kündet: Der Magnet hat eine Seele, denn er zieht das
Eisen an. Vollends wird jede Kraftentfaltung, die über
menschliches Maß hinausgeht, dem Primitiven zum Wal-
ten mächtiger persönlicher Wesen.
11. Ein zweites Argument: Das wodurch uns etwas
anderes gewiß und einleuchtend ist, muß um so mehr
selbst uns gewiß und einleuchtend sein. (Man denke nur
an die Grundsätze der Mathematik.) Nun ist aber Gott
das, wodurch wir alles, was wir erkennen, erkennen. Er
ist das Licht, durch welches uns alle Wahrheit, auch die,
die wir a priori erkennen, einleuchtet: also muß auch er,
und am allermeisten, von uns erkannt werden, d. h. sein
Dasein muß uns jedenfalls a priori einleuchten.
Dieses Argument wird noch heute von den sog. Onto-
logisten vorgetragen. Aber es ist durchaus verunglückt.
Es ist ein Paralogismus, und das ist vielleicht noch seine
beste Eigenschaft. Denn wäre die Folgerung stringent,
eo würden gewiß die allermeisten - und ich gestehe, mich
dazu zu zählen - daraus schließen, daß Gott nicht ist.
Das Argument setzt nämlich seine Existenz als ge-
sichert voraus und folgert nun, daß sie eine allen unmittel-
bare Wahrheit sein müsse.
Gott ist das, wodurch wir alles erkennen.
Also muß er uns unmittelbar evident sein.
Denn das, wodurch wir alles erkennen, muß uns un-
mittelbar einleuchten.
18 Das an sich, nicht a.uch Wll!erer Erkenntnis nach Erste

Sonach ließe es sich umkehren:


Ob es einen Gott gibt oder nicht, mag zunächst frag-
lich sein.
Eines aber ist gewiß : daß mir seine Existenz nicht
unmittelbar einleuchtet.
Nun müßte sie es aber.
Also gibt es keinen Gott.
Wir sehen, das Argument ist ein zweischneidiges
Schwert, wenn es überhaupt scharf und schneidig ist.
Aber es ist das Gegenteil, ein Paralogismus durch Äqui-
vokation.
12. Die Antwort ergibt sich mit dem Hinweis auf den
mehrfachen Sinn des „Wodurch".
Gott ist das, wodurch wir alles andere erkennen, nicht
in dem Sinne, als ob anderes nicht erkannt würde, wenn
man ihn nicht erkannt hätte - wie dies bei den Prin-
zipien, die durch sich selbst einleuchten, der Fall ist -,
sondern in dem Sinne, daß durch seinen unmittelbaren
oder mittelbaren Einfluß alle Erkenntnis in uns hervor-
gebracht wird. Er ist, wie der letzte Grund aller Voll-
kommenheit, so auch der letzte Grund aller Erkenntnis.
Aber etwas anderes ist: etwas von Gott Gewirktes er-
kennen und etwas als von Gott Gewirktes erkennen, so
wird denn in der Tat gar vieles von uns erkannt ohne
irgendwelchen Zusammenhang mit der Erkenntnis seiner
ersten Ursache, ja ohne Zusammenhang mit der Erkennt-
nis seiner sekundären Ursachen. Muß doch auch der Seh-
nerv, die Netzhaut, die Linse des Auges und das, was
sie bildet, sowie, was Licht und Farbe erzeugt, nicht
selbst gesehen, ja überhaupt nicht- erkannt sein, damit
durch sie etwas erkannt werde. So zeigt sich denn auch
dieses Argument als ungenügend, ja der Fehler ist größer
als beim früheren.
13. Die erwähnten Versuche sind nicht die einzigen,
die das Da.sein Gottes als eine Wahrheit, die uns von vorn-
herein gegeben sein soll, kennzeichnen wollen. Doch sind
die meisten kaum der Erwähnung wert und auch ohne
Zur Geschichte des ontologischen Arguments 19

besondere philosophische Schulung leicht zu widerlegen.


Nur von einem kann dies nicht in gleicher Weise gesagt
werden, indem es vielmehr die andern bei weitem an
Interesse übertrifft. Es ist ein Versuch, der geradezu
darauf ausgeht, die Existenz Gottes unmittelbar aus dem
Begriffe, den wir mit diesem Worte verbinden, ein-
leuchtend erscheinen zu lassen, es ist

II. Das ontofogische Argument für das Dasein


Gottes
A. Seine Geschichte von ANSELM bis LEIBNIZ
14. Schon durch seine Geschichte ist es merkwürdig.
Vor achthundert Jahren von dem scharfsinnigen ANSELM
VON ÜANTERBURYersonnen, hat es bis zum heutigen
Tage Anhänger und Gegner gefunden. Die berühmtesten
Denker haben sich damit beschäftigt. Ein ALEXANDER
ALENSIS war dafür, THOMAS, ScoTUS, ÜCCAMwußten
manches dagegen vorzubringen. Aber ein RAYMUNDVON
SABUNDEnahm es doch wieder auf, und vom Mittelalter
spann sich der Streit darum in die neuere Philosophie
herüber. Kein Geringerer als DESCARTEShat es, in einer
ihm eigentümlichen Fassung, erneut, SPINOZAzur Grund-
lage seines more geometrico errichteten Systembaues ge-
macht, und auch LEIBNIZ hat in gewisser Weise zuge-
stimmt, indem er nur eine Lücke, die er darin gefunden
hatte, auszufüllen bemüht war. HuME und KANT aber
erklärten sich entschieden gegen das Argument, und ihre
Ausführungen haben Schule gemacht, doch ohne ver-
hindern zu können, daß auch von Späteren wieder der
eine und andere zu einer günstigeren Meinung gelangte,
so daß das Argument auch heute noch Anhänger zählt.
15. Ich will es zuerst so, wie es bei ANSELM,dann wie
wie es bei DESCARTESsich findet, darlegen, hierauf HuME
und KANT mit ihrer Kritik zu Wort kommen lassen, um
schließlich mein eigenes Urteil darüber abzugeben.
20 ANsELMS Fassung, GAUNiLos Kritik

Bei ANSELMfindet es sich in folgender Fassung:


a) Unter Gott denken wir ein Gut, vollkommener als
welches keines gedacht werden kann. Hieraus können
wir sofort einsehen, daß das, was wir Gott nennen, ist.
b) Vor allem ist klar: es existiert in unserem Ver-
stande (sooft wir es denken).
c) Aber unmöglich kann das, vollkommener als wel-
ches nichts gedacht werden kann, bloß im Verstande
existieren. Denn was im Verstande und in Wirklichkeit
ist, ist vollkommener als was bloß im Verstande ist.
d) Wäre daher Gott bloß im Verstande, so könnte
etwas Vollkommeneres als Gott gedacht werden.
e) Nun bezeichnen wir aber mit dem Namen „Gott" das-
jenige vollkommener als welches nichts gedacht werden
kann. Also wäre, wenn Gott bloß im Verstande wäre, etwas
Vollkommeneres als dasjenige denkbar, vollkommener als
welches nichts gedacht werden kann, was widerspricht.
f) Also ist Gott nicht bloß im Verstande, sondern auch
in Wirklichkeit.
16. Dagegen hat schon ein Zeitgenosse, der Mönch
GAUNILO,in einer anonymen Schrift, der er anspielend
an eine Psalmstelle den Titel „Liber pro insipiente" gab,
den Einwand erhoben, das Wirklichsein müsse bereits
feststehen, damit die Folgerung gültig sei: ,,Zuerst muß
es mir gewiß werden, daß jenes Vollkommenere irgendwo
in Wirklichkeit vorhanden ist, und dann erst wird daraus,
daß es vollkommener als alles ist, unzweifelhaft hervor-
gehen, daß es auch in Wirklichkeit subsistiere" 7). Ein
Vergleich soll ANSELMS Fehler beleuchten: Die Sage
weiß von einer Insel, irgendwo - unauffindbar - im
Weltmeere, zu erzählen, so reich an Naturschätzen und
Fruchtbarkeit, daß keine auffindbare ihr gleichkomme.
Diese Insel, so wäre nach ANSELMSVerfahren zu schließen,
muß wirklich existieren. Denn eine bloß eingebildete
wäre doch nicht wertvoller als alle bekannten Inseln.
Diesen Vergleich hat nun ANSELMin seiner Antwort -
im Liber apologeticus contra Gaunilonem respondentem
Ontologisches Argument. Tuo.MAs. DESCARTES 21

- als unzutreffend abgelehnt. Sein Gegner lasse außer


acht, daß zwischen dem schlechthin Vollkommensten
und dem innerhalb einer gegebenen Gattung Vollkom-
mensten ein Unterschied zu machen sei.
17. Es müssen viele ANSELMzugestimmt haben, denn
THOMASVON AQUIN, in seiner Summa contra gentiles,
spielt wiederholt auf solche Gefolgschaft an. Er selbst
macht nicht mit, sondern lehnt das Argument in einer
dem GAUNILOwesentlich verwandten Weise ab: Wenn
Gott dasjenige bedeutet, vollkommener als welches nichts
gedacht werden kann, so muß jeder unmittelbar zugeben,
daß Gott in Wirklichkeit sei, der zugibt, daß dasjenige
in Wirklichkeit ist, vollkommener als welches nichts ge-
dacht werden kann. Der Atheist gibt das aber nicht zu,
sondern bloß, daß dasjenige, vollkommener als welches
nichts gedacht werden kann, im Verstand sei. Und
daraus erhellt dann auch für das, was wir mit dem Namen
Gott bezeichnen, nichts weiter, als das es im Verstande sei.
18. DESCARTESkam, und mit ihm die Erneuerung der
Philosophie, und siehe da, auch das ontologische Argu-
ment kam wieder, wenn .auch in neuem Gewande. Er
schließt so:
Wir haben die Idee eines unendlich vollkommenen
Wesens, d. h. eines Wesens, das alle denkbaren Voll-
kommenheiten in sich begreift. Da nun zu den Voll-
kommenheiten auch die Existenz gehört, so enthält diese
Idee nicht bloß wie die anderen Ideen die Möglichkeit
ihres Gegenstandes, sondern sie schließt dessen wirkliche,
ja notwendige und ewige Existenz ein.
Was nun aber in der Idee eines Gegenstandes ent-
halten ist, das kann von ihm mit Sicherheit ausgesagt
werden.
Also kann ich mit Sicherheit sagen, daß das unendlich
vollkommene Wesen, d. h. daß Gott ist. (So sicher, wie
ich vom Dreieck, weil in seinem Begriff die Winkelsumme
von zwei Rechten eingeschlossen ist, aussagen kann, daß
es drei Winkel von zusammen 180 Grad hat.)
22 Ontologisches Argument bei DEBOABTJl:B

Ausdrücklich will DESCARTESdieses Argument von


dem des ANSELMUSunterschieden wissen. Dieser schließe:
Gott bedeutet das, vollkommener als welches nichts
gedacht werden kann; muß also als das Vollkommenste
unter allem Denkbaren vorgestellt werden. Nun ist aber
Wirklichsein und in der Vorstellungsein mehr als bloß
in der Vorstellung sein. Also ist Gott nicht bloß in der
Vorstellung, sondern auch wirklich.
Das aber sei ein offen.kundiger Paralogismus, denn zu
folgern wäre auf diese Weise nicht mehr als: Gott muß
als etwas nicht bloß in der Vorstellung, sondern auch in
Wirklichkeit Existierendes vorgestellt werden.
Er selbst schließe ganz anderes:
Wovon wir klar und deutlich erkennen, daß es zur
Natur eines Dinges gehört, das können wir von diesem
Dinge mit Sicherheit aussagen. Nun aber erkennen wir
klar und deutlich, daß zur Natur des vollkommensten
Wesens die Existenz gehört.
Also können wir sie von ihm mit Sicherheit aussagen.
D. h. wir dürfen aussagen: Gott ist.
Sie bemerken wohl, daß das, was DESCARTESgegen
ANSELMvorbringt, sich wesentlich mit dem Einwande
des Aquinaten deckt. Er glaubt die Waffe vernichtend
für ANSELM; daß sie sich gegen sein eigenes Argument
kehren lasse, fürchtet er nicht.
19. Doch ein anderer Einwand wurde ihm selbst ge-
macht, dem er nicht schlechthin jede Berechtigung ab-
sprechen wollte. Der Verfasser der ÜBJECTIONES SECUNDAE
- so genannt, weil sie im Anhang zur ersten Ausgabe der
„Meditationen" DESCARTES'an zweiter Stelle abgedruckt
waren -, wies, vielleicht durch SuAREZ angeregt, auf
eine Lücke im Argumente hin : Nicht ohne weiteres gelte
der Satz: ,,Was klar und deutlich im Begriffe einer Sache
enthalten ist, läßt sich von ihr aussagen", sondern nur
unter der Voraussetzung, daß deren Natur eine mögliche
sei. Sonst dürfte man ja auch von einem runden Dreiecke
aussagen, daß es ein Dreieck sei.
und bei LEIBNIZ 23
20. DESCARTESpflichtet dieser Einschränkung wohl
bei, hält sie aber nicht für gefährlich. Denn daß Gottes
Natur möglich sei, leuchte von vornherein ein. Der Be-
griff Gottes gehöre nämlich zu den klaren Begriffen, und
solche können keinen Widerspruch einschließen. Damit
will DESCARTESallerdings nicht in jeder Beziehung den
Gottesbegriff als ein Muster von Klarheit hingestellt
wissen, wohl aber in derjenigen, auf die es ihm gerade
ankommt: daß nämlich im Begriff des unendlich Voll-
kommenen die Existenz enthalten sei, denn dies sei
jedenfalls klar und deutlich genug.
Ähnlich urteilt der Engländer CunwoaTH, und auch
LEIBNIZ und seine Schule waren der Meinung, daß das
ontologische Argument in der Fassung des DESCARTES
zwar vollkommen stringent sei, aber doch erst den Nach-
weis der Möglichkeit eines unendlich vollkommenen
Wesens voraussetze. Von der Art freilich, wie DES-
CARTESselbst diesen versucht hat, ist LEIBNIZ nicht be-
friedigt. Es sei durchaus nicht immer erlaubt, bis zum
Superlativ zu gehen. Der Begriff der größten Geschwin-
digkeit z. B. widerspreche sich selbst. Wie können wir
uns dessen versichern, daß dies nicht ac.ch von dem der
„größten Vollkommenheit" zu sagen sei? Damit sei der
Begriff der „schnellsten Bewegung" jedenfalls nicht zu
einem deutlichen gemacht, daß einer einerseits, was Be-
wegung, andererseits, was Größtes bedeute, klar denke,
vielmehr müßte zu diesem Zwecke auch ihre Verbindung
anschaulich vorgestellt werden. Gleichwohl glaubt
LEIBNIZ der Schwierigkeit Herr zu sein: im Begriff
einer Vollkommenheit liege jedenfalls, daß sie etwas
Positives sei, keine bloße Negation. Somit schließe der
Begriff eines Wesens, das alle denkbaren Vollkommen-
heiten in sich vereinigt, keine einzige Negation ein, eben
darum aber auch keinen Widerspruch, da sich ein solcher
nur aus einer Verbindung von Position mit Negation er-
geben könnte, also sei er von vornherein als möglich zu
erkennen 7a).
24 Das ontologische Argument

B. HUMES Kritik des ontologischen Arguments


21. Während LEIBNIZ das ontologische Argument im
wesentlichen gelten ließ, zählen HuME und KANT zu
seinen entschiedenen Gegnern. Von der Opposition
HuMES wird heute wenig mehr gesprochen, um so mehr
von der Kritik, die KANT daran geübt hat. Man feiert
ihn als den ersten, der den eigentlichen Fehler aufgedeckt
habe. Wir aber wollen es nicht unterlassen, auch HuMEs
zu gedenken, der, wie in so vielen andern Fragen, auch
in dieser KANT wesentlich beeinflußt hat. Zu dem ist, was
er vorzubringen wußte, auch an sich interessant genug.
Die Opposition HUMEs8 ) ist keine oberflächliche. Sie
will ihre Kraft aus den Tiefen allgemeiner psychologischer
Betrachtungen ziehen. Irrtümer über die Natur des Vor-
stellens und ebensolche über die des Urteilens sollen das
Argument als eine üble Frucht gezeitigt haben.
Was besagt der Satz: ,,Gott ist"?
DESCARTESund andere Ontologisten meinen, es werde
darin der allgemeine Begriff der Existenz von Gott aus-
gesagt. Das Urteil, das er ausdrücke, bestehe in der
Verbindung dieses Prädikatsbegriffes mit dem Subjekts-
begriffe Gott.
Das ist nach HuME falsch und schon darum unmög-
lich, weil „Existenz" gar kein allgemeiner Begriff sei.
Die Existenz eines Dinges sei gar nichts anderes als das
Ding selbst, und der Satz „Ein Ding existiert" nicht die
Beilegung eines Prädikates, sondern der Ausdruck des
Glaubens an das Ding selbst.
Und was ist dieses Glauben? Hier stoßen wir, nach
HuME, auf einen zweiten Irrtum der Ontologisten, daß
nämlich das Glauben oder Urteilen eine Beziehung
zweier Vorstellungen aufeinander sei. In Wahrheit aber
sei das Urteilen eine besondere Weise des Vorstellens,
die er bald als ein Gefühl (feeling), bald als ein festes Er-
fassen des Gegenstandes (a firmer conception, a faster
hold, that we take of the objekt) zu bestimmen sucht.
HUMES Kritik des ontologischen Arguments 25

Jedenfalls handle es sich beim Satze „A ist" nicht um


den Ausdruck einer Relation zweier Begriffe, sondern um
den einer einfachen Tatsache, welche geglaubt wird.
Hieraus folgt nun, daß die Existenz eines Dinges nie
anders als durch Erfahrung festgestellt werden kann.
Denn aus bloßen Begriffen gewinnen wir bloß die Er-
kenntnis der zwischen ihnen bestehenden Beziehungen
(wie z. B. in der Mathematik, wo aus den Begriffen der
Größen deren Relationen herausanalysiert werden), nim-
mermehr aber die eines einfachen Faktums.
Dies gilt dann auch notwendig von der Existenz Gottes.
Ein Widerspruch kann in ihrer Leugnung nicht liegen.
Wer Gott leugnet, spricht ihm damit kein Merkmal ab,
das zu seinem Wesen gehört, und auch keines zu, das
ihm widerstritte. Er prädiziert überhaupt nichts von
ihm, sondern weist nur einfach seine Vorstellung un-
gläubig zurück.
Ja, der Gedanke eines durch sich selbst notwendigen
Wesens erscheint HuME infolge dieser Erwägung schlech-
terdings unannehmbar, wenn anders ein durch sich selbst
notwendiges Wesen ein solches sein soll, dessen Leugnung
einen Widerspruch einschlösse.
22. Diese Kritik enthält sehr bedeutende Momente,
hat aber doch keinen allgemeinen und definitiven Um-
schwung der Meinung über das Argument zu bewirken
vermocht. Ja, mancherlei trug bei, daß sie von den
meisten nicht nach Gebühr beachtet wurde.
Zunächst drängte sich bei HuME vieles andere in den
Vordergrund des Interesses. Andere Angriffe dieses
revolutionären Geistes zielten auf Sätze von viel tiefer
verankertem Ansehen. Sein Skepsis verwarf alle Meta-
physik, bestritt sogar die Möglichkeit jeder Natur-
wissenschaft und induktiven Forschung überhaupt, und
bei diesem ungeheuem Anprall verspürte man wenig
von dem Stoß gegen diese eine These.
Auch lag in einer so weitgehenden Skepsis etwas, wo-
gegen der gesunde Menschenverstand sich sträubte.
26 HUM:Es Ablehnung des Existenzbegriffes

HuMEs Kritik mußte im allgemeinen den Verdacht er-


regen, daß sie allzu scharf sei, und allzu scharf macht schar-
tig. Ohne in jedem einzelnen Falle eine Antwort bereit
zu haben, vertraute man doch darauf, daß eine solche
möglich sei.
Ein anderer Grund war wohl die Verwickelung der
Argumentation. Es war vielen zu schwierig, sich über die
aufgerührten Vorfragen eine sichere Meinung zu bilden.
Um so schwieriger, als sie bei HUMEnirgends das Ganze
der dazugehörigen Probleme wohlgeordnet zusammen-
gestellt fanden. Um seinem Gedankengang zu folgen,
muß man Äußerungen aus Treatise on human nature mit
solchen aus dem Essay concerning human understanding
und den Dialogues concerning natural religion verbinden.
23. Dazu kommt, daß seine Gedanken manches ent-
hielten, was den Zeitgenossen höchst paradox erscheinen
mußte, und manches, was entschieden falsch ist.
I. Paradox vor allem, daß er „Existenz" nicht als
allgemeinen Begriff gelten lassen mochte. Doch scheint
dies an und für sich noch kein Irrtum. Wer ein Ding als
etwas Rundes, Ausgedehntes, als Farbiges, als Ding
denkt, der denkt es unter einem andern und andern all-
gemeinen Begriff; nicht ebenso, wer es als „existierend"
denkt. Man darf aber doch nicht so weit gehen, mit
HUME zu sagen, daß „A" und „Existenz von A" der-
selbe Gedanke sei. Vielmehr wird das A im zweiten Falle
in gewisser Weise mit der Vorstellung eines berechtigten
Glaubens in Verbindung gebracht, ein komplizierterer
Gedanke als A, den zu analysieren uns aber hier zu weit
ab führen würde. Für uns genügt es, festzustellen, daß
HUME an etwas Richtiges rührt, wenn er dabei ein Glau-
ben mit im Spiele sein läßt 9 ).
2. Freilich hat man auch an der Art, wie HUME die
Natur des Glaubens bestimmen wollte, Anstoß genommen.
Das Glauben gehört offenbar zu jener Klasse psychischer
Betätigungen, denen im eigentlichen Sinne zukommt,
wahr oder falsch zu sein, was nach ARISTOTELESdas
HUMEs Urteilslehre 27
charakteristische Merkmal für das Urteil ist. Dieses aber
hatte man seit Jahrtausenden fast ausnahmslos als eine
Zusammensetzung von Vorstellungen gedeutet und kaum
einem war es eingefallen, von dieser Bestimmung für den
Existenzialsatz eine Ausnahme zu machen. HUME mußte
damit also Befremden erregen.
3. Und was wußte er an die Stelle der alten Urteils-
theorie zu setzen 1 Eine Lehre, die weder mit den Tat-
sachen, noch mit sich selbst im Einklange scheint.
Zunächst hören wir, der Glaube sei ein „Gefühl".
Aber man nehme diesen Namen im weiteren oder im
engeren Sinne, die Bestimmung bleibt gleich unannehm-
bar. Im weiteren spricht man von allen Phänomenen des
Interesses als „Gefühlen", im engeren nur von Lust und
Schmerz. Daß sich das Urteil als solches nicht in Lust
und Leid differenziert, bedarf keiner Ausführung. Nun
gibt es freilich auch andere Interessephänomene, aber
keines, das nicht entweder ein Lieben oder Hassen, im
weitesten Sinne des Wortes, wäre. Auch dies aber ist
ein Gegensatz, der dem urteilenden Verhalten als solchem
fremd ist, da dieses sich vielmehr in Bejahen und Ver-
neinen differenziert. Das Urteil kann Gegenstand eines
Gefühles sein, aber es ist nicht selbst ein solches 9a).
Und wie steht es mit der andern nähern Bestimmung,
die er vom Glauben gibt, daß er nämlich „a firmer
conception, a faster hold, that we take of the objekt"
sei 1 Ich bekenne mich außerstande, mir etwas Klares
dabei zu denken. Zwar weiß ich wohl, daß man von der
Festigkeit eines Glaubens und von einer gefestigten Über-
zeugung im Unterschiede vom Zweifel und von einer
schwankenden Meinung spricht. Aber die Vorstellung
eines Dinges, an das ich glaube, muß deshalb keinen
festeren Halt in meinem Bewußtsein haben als eine, an
die ich nicht glaube. Und was soll, wenn der Glaube
eine besondere Festigkeit des Vorstellens wäre, dann das
Leugnen sein 1 Offenbar das Gegenteil, aber ich wüßte
als solches kaum etwas anderes anzugeben als das Schwan-
28 Hu:nui:s Bestreitung des In-sich-Notwendigen

ken der Vorstellung, was doch eher mit dem Zweifel in


Parallele zu stellen wäre, als mit dem Verwerfen.
HUMEs Bestimmungen über die Natur des Glaubens
sind also keineswegs befriedigend, abgesehen da.von, daß
sie nicht einmal untereinander in Einklang stehen. Denn
„ein Gefühl" ist doch wohl nicht dasselbe wie „ein
fester Halt, den eine Vorstellung gewinnt" 10 ).
Hier ist also der Unterbau seiner Lehre entschieden
schadhaft.
4. Auch an einem andern Irrtum HuMEs können wir
nicht stillschweigend vorübergehen. Er verwirft von
vornherein den Begriff eines in sich notwendigen Wesens
und schießt da.mit entschieden übers Ziel hinaus.
Die Behauptung ist chokant. Die Vorgeschritteneren
von Ihnen mögen wohl eher der entgegengesetzten Mei-
nung sein, daß ein zufälliges Wesen unmöglich sei, und
vo:ri.einem Zufall bloß etwa mit Rücksicht auf unsere
mangelnde Einsicht in die notwendigmachenden Ur-
sachen die Rede sein könne. Da.mit, daß alles notwendig
ist, ist aber nicht gesagt, daß alles verursacht sei, und
so ist es denn eben ein nicht verursachtes Notwen-
diges, was die Philosophen ein in sich Notwendiges nen-
nen. Man mag die Frage offen lassen, was denn dieses
In-sich-Notwendige sei, ob etwa die Körperwelt selbst
oder ein überweltliches Prinzip, aber es von vornherein
als unmöglich zu verwerfen, hat man kein Recht. HuME
glaubt sich allerdings dazu berechtigt, weil ein Not-
wendiges soviel besage als etwas, dessen Nichtsein einen
Widerspruch einschließe. Das aber sei niemals der Fall.
Denn wer ein Ding einfach leugne, könne sich nicht
widersprechen, solange er es nicht zugleich anerkenne.
Dasselbe für existierend und zugleich für nichtexstie-
rend halten widerspreche, nicht aber das Zweite für sich
allein. Aber bei dieser Argumentation stützt sich HUME
auf eine voreilige Voraussetzung, daß nämlich nur das
als unmöglich gelten dürfe, was widerspricht. Das leuch-
tet nicht ein. Die beiden Begriffe sind nicht identisch.
Unmöglichkeit und Widerspruch 29
Es wäre auch denkbar, daß uns ein verwerfendes Urteil
aus den ihm zugrunde liegenden Begriffen einleuchtete,
ohne daß es dem Typus des Kontradiktionsgesetzes ent-
spräche. Wer dies von vornherein als unmöglich ver-
werfen wollte, weil nur ·widersprechendes als unmöglich
einleuchten könne, würde sich selbst widersprechen, da
diese Verwerfung selbst kein Fall des Satzes des Wider-
spruchs wäre. Die Frage, ob es Axiome gibt, die einem
andern Typus angehören, läßt sich nur empirisch ent-
scheiden. Und wenn die Untersuchung ergeben sollte,
daß wir Menschen faktisch keine von anderer Art be-
sitzen, so wäre damit noch lange nicht gesagt, daß nicht
vielleicht andere Arten vernünftiger Wesen solcher teil-
haftig sein könnten. Und so mag es denn auch ein Wesen
von solcher Beschaffenheit geben, daß einer, der eine
ausreichende Vorstellung davon besäße, aus ihr selbst
und ohne Hinzutritt weiterer Erfahrungen, die Existenz
dieses Wesens entnehmen würde. Ein solches Wesen
verdiente dann erst wahrhaft den Namen eines in sich
notwendigen Wesens, und von ihm hat HuME jedenfalls
nicht darzutun vermocht, daß es von vornherein un-
möglich sei. Wir werden auf diesen Punkt noch einmal
zurückkommen, dort, wo es gilt, den richtigen Kern aus
dem ontologischen Argumente herauszuschälen.
24. Das Irrtümliche, das der HuMEschen Kritik des
ontologischen Arguments beigemischt ist, hat, wie dies
häufig in solchen Fällen geschieht, das Wertvolle an ihr
verdunkelt. Noch dunkler wurde, ob das, was an ihr
richtig ist, genüge, das Argument zu entkräften oder ob
nicht vielmehr die Mängel der vorbereitenden Auf-
stellungen das Hauptergebnis unsicher machen. Und so
fuhren denn viele, darunter insbesondere die WoLFFIA-
NER11 ) fort, sich des ontologischen Beweises zu bedienen.
Doch wenn auch für viele, nicht für alle blieb die Be-
deutung der HuMEschen Kritik verhüllt, und so werden
wir denn gerade bei KANT auf die deutlichsten Spuren
seines Einflusses stoßen.
30 Das ontologische Argument

C. KANTS Kritik des ontologischen Arguments


25. KANT nennt in der ausführlichen Erörterung, die
er in seiner Kritik der reinen Vernunft der Unmöglichkeit
eines ontologischen Beweises für das Dasein Gottes
widmet, HuME zwar nicht, ist aber sichtlich, wie ander-
wärts, von ihm angeregt, wie er denn diesen Zusammen-
hang seiner Philosophie mit der HUMEschen auch allge-
mein bekannt hat. Und so wäre denn in gewissem Sinne
zu sagen: Ohne HuME kein KANT.
Freilich hat er sich nicht alles, was HuME gelehrt hatte,
zu eigen gemacht, und gerade die von uns aufgezählten
Irrtümer HuMEs teilt er nicht.
l. Er lehrt nicht, daß Existenz eines Dinges das Ding
selbst bedeute;
2. nicht, daß der Glaube ein Gefühl oder eine besondere
Weise des Vorstellens sei;
3. auch nicht, daß es kein notwendiges Wesen geben
könne. In der Kritik der praktischen Vernunft bekennt
er sich vielmehr selbst zum Glauben an Gott, nachdem
er schon in der Kritik der reinen die Idee Gottes für
fehlerfrei erklärt hatte und sein Dasein eine Annahme,
die sich zwar nicht beweisen, aber auch nicht widerlegen
lasse. Wie diese Irrtümer HuMEs lehnt KANT
4. auch die aller Tradition zuwiderlaufende und darum
bei der Macht der Gewohnheit seiner Zeit gewiß höchst
paradoxe Lehre, daß der Ex:istenzialsatz keine Verbin-
dung von Subjekt und Prädikat sei, ab. Jedes Urteil hat
nach ihm, wie eine Quantität, Qualität und Modalität,
auch eine Relation.
26. Dagegen hält auch KANT daran fest, daß aus der
aufs Geratewohl gewagten Idee eines absolut notwen-
digen Wesens. von vornherein seine Existenz nicht er-
kannt werden könne, daß dessen Leugnung keinen Wider-
spruch involviere, daß der negative Ex:istenzialsatz dem
Subjekt nicht bloß das Prädikat Existenz abspreche,
sondern es selbst mit aufhebe, also den Gegenstand selbst
KANTS Lehre vom Existenzie.lsatz 31
leugne. So sei denn nicht abzusehen, wie ein negativer
E:ristenzialsatz einen Widerspruch enthalten, also, da der
Satz des Widerspruchs das Kriterium bildet, von vorn-
herein als unwahr erkannt werden solle. Der Gegner
müßte behaupten, es gebe Subjekte, die nicht aufgehoben
werden könnten, aber er vermisse dafür jeden Nachweis
und sei unfähig, sich ein solches zu denken.
27. So weit pflichtet KANT den Gedanken HuMES im
wesentlichen bei, ja die Übereinstimmung geht noch um
einen halben Schritt weiter. HuME hatte dem E:ristenzial-
satz eine Sonderstellung unter den Aussagen zugewiesen,
indem er das Urteil, das in ihm kundgegeben wird, nicht
zu den kategorischen rechnete. Das ist nun zwar KANTS
Ansicht nicht, ihm gilt auch das Existenzialurteil für
kategorisch, aber doch für ein kategorisches Urteil ganz
eigentümlicher Art12).
Alle kategorischen Urteile sind nach KANT entweder
analytisch oder synthetisch, und zwar zählt er einen
bejahenden Satz dann zu den analytischen, wenn das
Prädikat im Subjekte eingeschlossen ist, zu den syn-
thetischen, wenn dies nicht der Fall ist. Was nun den
Existenzialsatz anlangt, so entscheidet KANT, daß
,,wie billigermaßen jeder Vernünftige gestehen müsse",
,,ein jeder Existenzialsatz synthetisch" sei.
Diese allgemeine Behauptung mag im ersten Augen-
blick befremden. Denn wenn der Existenzialsatz kate-
gorisch ist, so scheint sein Prädikat der Begriff „seiend",
und müßte nicht von diesem Begriff wohl gelten, was
von jedem anderen zu gelten scheint, daß er nämlich als
bereicherndes Merkmal mit anderen verbunden werden
kann ? Ist dies geschehen, und mache ich das Ganze,
dem ich ihn als Merkmal einverleibt, zum Subjekt, ihn
selbst aber zum Prädikat, so scheint der Satz doch in
der Tat den Charakter eines analytischen Satzes tragen
zu müssen.
Dementgegen sucht KANT seine Behauptung, jeder
Existenzialsatz sei notwendig synthetisch in folgender
32 KANTS Lehre vom Existenzialsatz

Weise zu rechtfertigen. Existenz, meint er, sei kein reales


Merkmal, d. h. keine Bestimmung, welche so wie grün,
gelehrt und dergleichen zu anderen Merkmalen hinzu-
tretend, sie näher zu determinieren und das Ganze inhalt-
lich zu bereichern vermöge. ,,Sein ist also, wenn es im
Existenzialsatz einem Subjekt beigelegt wird, kein realer
l?rädikatsbegriff, es ist ebensowenig ein Begriff, der als
Bestimmung in dem Subjektsbegriffe beschlossen ist,
als es ein Begriff ist, der als neue Bestimmung, es be-
reichernd, synthetisch hinzukäme."
Es ist vielmehr ein Prädikat, welches gar kein Begriff
ist, sondern der Gegenstand selbst.
Hören Sie KANT selbst diese dunkle, absonderliche
Theorie entwickeln. ,,Sein", sagt er, ,,ist offenbar kein
reales Prädikat, d. i. ein Begriff von irgend etwas, was zu
dem Begriff eines Dinges hinzukommen könnte." Es ist
keine „Bestimmung eines Dinges". ,,Es ist bloß die
Position eines Dinges oder gewisser Bestimmungen an
sich selbst. Im logischen Gebrauch ist es lediglich die
Kopula eines Urteils. Der Satz ,Gott ist allmächtig'
enthält zwei Begriffe, die ihre Objekte haben, Gott und
Allmacht; das Wörtchen ,ist' ist nicht noch ein Prä-
dikat obenein, sondern nur das, was das Prädikat be-
ziehungsweise auf das Subjekt setzt."
Dies soll es nun auch im Existenzialsatz sein. Es fehlt
also bei diesem kategorischen Urteil ein zweiter Begriff.
Wie ist das möglich 1 Weil eben hier die Relation nicht
zwischen zwei Begriffen, sondern zwischen einem Be-
griffe, der die •Stelle des Subjektes einnimmt, und dem
Gegenstande besteht. ,,Sage ich: ,Gott ist', so setze ich
kein neues Prädikat (d. h. keinen Prädikatsbegriff) zum
Begriffe von Gott, sondern nur ... den Gegenstand
in Beziehung zu meinem Begriff. Beide müssen
genau einerlei enthalten . . . und so enthält das Wirk-
liche nichts mehr als das bloß Mögliche (Gedachte). Hun-
dert wirkliche Taler enthalten nicht das Mindeste mehr
als hundert mögliche (gedachte). . . Aber in meinem
KANTS Deutung des Fehlers im o. A. 33
Vermögensstande ist mehr bei hundert wirklichen Ta-
lern . . . denn der Gegenstand kommt zu meinem Be-
griffe synthetisch hinzu."
28. Hiernach kann man nicht anders, als dem onto-
logischen Beweisversuche jede Berechtigung absprechen.
KANT tut dies, indem er fortfährt: ,,So fehlt denn auch
bei einem Wesen, das ich als die höchste Realität ohne
Mangel denke, zwar nichts an dem möglichen realen In-
halte, aber doch noch etwas an dem Verhältnisse zu
meinem Zustande des Denkens, nämlich, daß seine Er-
kenntnis auch a posteriori möglich sei." - ,,Eine Existenz
außer dem Gebiete unserer Erfahrung ist eine Voraus-
setzung, die wir durch nichts rechtfertigen können. Und
es war etwas durchaus Unnatürliches und eine bloße Neue-
rung des Schulwitzes, aus einer bloßen Idee das Dasein
des entsprechenden Gegenstandes selbst herausklauben
zu wollen ... Es ist also an diesem Beweis Müh und Arbeit
verloren, und ein Mensch würde wohl ebensowenig aus
bloßen Ideen an Einsichten reicher werden, als ein Kauf-
mann an Vermögen, wenn er, um seinen Kassastand zu
bessern, eine Reihe von Nullen daranhängen wollte."
29. Was soll sich also schließlich als der unheilbare
Fehler des ontologischen Arguments herausgestellt haben 1
ANSELM,DESCARTESund die anderen Verfechter des
Arguments wollten den Satz „Gott ist" als einen ana-
lytischen dartun. Seine Leugnung sollte einen Wider-
spruch einschließen. Aber der Satz ist ein Existenzial-
satz und als solcher synthetisch, indem er mit dem Sub-
jekte nicht ein in dessen Begriff enthaltenes begriffliches
Merkmal, sondern den Gegenstand selbst verbindet. Und
eben darum ist nach KANT nicht abzusehen, wie man
behaupten möge, ,,daß das Prädikat der Existenz sich
ohne Widerspruch nicht aufheben lasse, da dieser Vor-
zug nur den analytischen Urteilen, als deren Charakter
eben darauf beruht, eigentümlich zukommt".
30. Für diese Untersuchungen über das ontologische
Argument hat KANT lauten Beifall gefunden. Wo die
34 KANTS und HUMEs Lehre vom Existenzie.lse.tz

Jahrhunderte im Dunkel getappt, habe er als der erste


Licht gegeben, und dies gleich so, daß jeder Schatten
verschwand. Dieser Beifall darf indessen unser Urteil
nicht bestimmen. Es wäre nicht der erste Fall von über-
schwenglichen und doch unverdienten Lobpreisungen, die
einer philosophischen Lehre zuteil geworden sind. Um
seinem allfälligen Verdienste sowohl als dem seiner Vor-
gänger gerecht zu werden, müssen wir einerseits prüfen,
was ihm eigen und was von andern (unter denen be-
sonders HuME in Betracht kommt) überkommen ist,
andererseits, ob seine Lehre richtig ist.
31. In einigen Punkten hat er sich von HUME ent-
fernt. Insbesondere macht er sich dessen neue Ideen
über die Natur des Urteils nicht zu eigen, wonach dieses
ein Glauben (belief), der Glaube aber ein „Gefühl" oder,
wie es an anderen Stellen heißt, ein stärkeres Vorstellen,
ein festeres Erfassen des Objekts sein soll, sondern bleibt
bei der althergebrachten Meinung, daß jedes Urteil in
einem Beziehen von etwas auf etwas bestehe, und nimmt
davon auch den Existenzialsatz nicht aus. Gleichwohl
findet er es nötig, diesen einer besonderen Analyse zu
unterziehen, und gerade hier finden wir bei KANT einen
Zug, der ihn HUME annähert.
Obwohl er nämlich im Existenzialsatz ein kategori-
sches Urteil erblickt, so leugnet er doch ebenso wie HuME,
daß hier zwei Begriffe aufeinander bezogen würden. Nur
einer soll gegeben sein, und auf diesen soll der Gegen-
stand selbst als Prädikat bezogen werden. Die Ver-
wandtschaft mit HUME scheint mir unverkennbar: HUME
sagt, im Satze „A ist existierend" sei Existenz nichts
anderes als der Gegenstand selbst; KANT sagt: in
diesem Satze sei der Gegenstand selbst dasjenige, was
auf den Subjektsbegriff bezogen werde.
Also wenn KANTS Lösung richtig ist, gebührt HUME
gewiß ein guter Teil des Ruhmes.
32. Aber ist sie richtig ~ Das wollen wir jetzt in Er-
wägung ziehen. Der Hauptpunkt in der Lehre KANTS
KANTS Lehre vom Existenzie.lse.tz unhaltbar 35

vom Existenzialsatze war der, daß er ein kategorisches


Urteil sei, bei welchem die Relation von Subjekt und
Prädikat nicht zwischen zwei Begriffen, sondern zwi-
schen dem einen Begriff, welcher die Stelle des Subjekts
einnimmt, und dem Gegenstande bestehe. ,,Sage ich:
,Gott ist', so setze ich kein neues Prädikat zum Begriff
von Gott, sondern nur den Gegenstand in Beziehung zu
meinem Begriff." ,,Der Gegenstand kommt zu meinem
Begriffe synthetisch hinzu."
Was behauptet also KANT?
Der Existenzialsatz sei kategorisch, habe aber die
Eigenheit gegenüber andern kategorischen Sätzen, daß
ähnlich wie bei diesen ein Begriff zum andern Begriff,
hier ein wirkliches außer mir befindliches Ding zu einem
meiner Begriffe hinzukäme, also von ihm prädiziert werde.
Ist das richtig?
Nicht bloß nicht richtig, sondern so offenbar falsch und
unmöglich, daß ich nicht glauben würde, daß KANT dieser
Ansicht gewesen sein könne, wenn seine Worte irgend-
welche andere Deutung gestatteten, oder wenn ich nicht
gefunden hätte, daß ähnliche irrige Meinungen auch
schon bei andern tüchtigen Denkern vorgekommen
waren, indem z.B. manche Scholastiker, und sogar
THOMASVON AQUIN, oft so sprachen, als bestände das
Urteil in einer Vergleichung des Gedankens und der
Wirklichkeit (comparatio rei et intellectus). Dieses scho-
lastische „Vergleichen" und jenes KANTische „Beziehen"
laufen wesentlich auf eins hinaus.
Aber die Übereinstimmung der Lehre macht mir sie
nicht annehmbarer, wo die Unmöglichkeit handgreiflich
ist. Der Gegenstand außer mir soll im Existenzialsatze
so wie anderwärts ein zweiter Begriff vom Subjekte prä-
diziert werden? Ist das nicht eine monströse Behaup-
tung?
a) Das Prädikat ist ein Teil, s. z. s. die eine Hälfte des
kategorischen Urteils. Wie könnte ein Urteil halb in,
halb außerhalb mir sein?
36 KANTS Lehre vom Existenzialsatz unhaltbar

b) Und wenn ich urteilte: ,,Der Kaiser von Japan ist",


wieviele Meilen Länge müßte mein Urteil haben, da es
mit dem Subjekte in meinem Geiste anfinge und mit
seinem Prädikate in Japan endigte!
c) Auch gibt es falsche Existenzialsätze. Wie sollten
nun sie vollzogen werden, da der Gegenstand gar nicht
existiert 1 Wie könnte er synthetisch zu meinem Be-
griffe hinzukommen 1
d) KANT hat scherzhaft von einem Kaufmanne ge-
sprochen, der, um seinen Kassenstand zu verbessern,
Nullen daran hängen wollte. So lächerlich der Gedanke
ist, so erscheint er kaum so absonderlich, wie diese an-
gebliche Herstellung einer kategorischen Verknüpfung
zwischen einem Begriffe als Subjekt und einem wirk-
lichen Dinge als Prädikat. Und es ist unmöglich anzu-
nehmen, daß KANT sich Inhalt und Tragweite seiner Be-
hauptung ganz klar gemacht habe. Es geht schlechter-
dings nicht an, den Existenzialsatz als kategorisches
Urteil zu fassen, worin der wirkliche Gegenstand selbst
die Stelle des Prädikatsbegriffes vertritt. Ist keine zweite
Vorstellung da, so besteht auch keine Prädikation, d. h.
wir haben dann keinen kategorischen Satz. Wer Hu:nt1E
das erste zugibt, der muß ihm unbedingt auch in dem
zweiten Recht geben.
33. Also in dem Punkte wenigstens ist, was KANT
behauptet, sicher unhaltbar und bedarf einer Korrektur.
Bleibt man, wie er es tut, bei der Ansicht, der Existenzial-
satz sei kategorisch, so wird man auch sagen müssen,
daß er wie einen Subjekts-, so auch einen Prädikatsbegriff
habe; und als solcher wird dann wohl kein anderer als
eben „Existenz" in Frage kommen können 13 ).
Dann ist es aber wiederum nicht einzusehen, warum
ein Existenzialsatz unter keinen Umständen ein analy-
tisches Urteil ausdrücken soll. Und was hindert uns dann,
gerade den Satz „Gott ist" als ein solches anzusehen 1
DESCARTEShat es getan, weil in dem Begriffe Gottes als
des unendlich vollkommenen Wesens ewige, durch sich
Möglichkeit analytischer Existenzialsä.tze 37

selbst notwendige und vollkommene Existenz klar und


deutlich enthalten sei. Ist dies nicht der Fall ? KANT
will es nicht zugeben, aber liegt der Schein des Rechtes
nicht vielmehr auf seiten DESCARTESund insbesondere
auch LEIBNIZens ?
34. Erwägen wir es auf folgende Weise: Man mag von
der Existenz vielleicht mit Recht bestreiten, daß sie,
allgemein gesprochen, eine Vollkommenheit sei (da es
ja auch Schlechtes gibt und das „es gibt" hier dasselbe
bedeutet wie beim Guten). Und wiederum, daß sie eine
Realität sei (da man ja auch von Mängeln, von Möglich-
keiten, von Unmöglichkeiten zu sagen pflegt, sie existier-
ten); aber bleibt sie nicht dennoch für das Gute eine
conditio sine qua non des Besitzes aller seiner guten
Eigenschaften (primum est vivere ... ) und für das Reale
die Bedingung des Besitzes aller seiner realen Bestim-
mungen? So gewiß also ein rundes Viereck, so gewiß ist
ein Gott ohne ein ewiges, völlig selbständiges, also von
allem andern unabhängiges, unbedingt und unmittelbar
notwendiges, vollkommenes Sein eine contradictio in
adjecto. Zufälliges Sein und unendlich vollkomm~nes
Sein widerspricht sich. Von einem andern abhängig
oder irgendwie bedingt sein und unendlich vollkommen
sein widerspricht sich. Der Möglichkeit nach nicht sein
und unendlich vollkommen sein widerspricht sich.
(Denn die Möglichkeit, daß etwas irgendwann der Exi-
stenz entbehrte - möge die Existenz nun selbst als reale
Eigenschaft und als Vollkommenheit gefaßt werden oder
nicht - ist die Möglichkeit, daß es irgendwann aller seiner
Vollkommenheiten entbehre. KANT sagt, hundert bloß
gedachte Taler seien nicht um einen einzigen Taler
weniger als hundert wirkliche Taler. Es scheint mir aber,
daß sie sogar um hundert Taler weniger sind. Die Mög-
lichkeit, daß es der Existenz entbehre, wäre bei dem
unendlich vollkommenen Wesen also selbst eine Unvoll-
kommenheit und jedenfalls in einer Unvollkommenheit
begründet. Ein Wesen, das sein und nicht sein kann,
38 Das ontologische Argument ein Paralogismus

kann ebensowenig ein unendlich vollkommenes Wesen


sein, als eine Figur, die eine größere Winkelsumme hat
als zwei Rechte, ein Dreieck sein kann. Soweit bleiben
DESCARTES und LEIBNIZ im Recht.
35. Damit aber scheint das ontologische Argument
wieder vollständig rehabilitiert:
Zum Wesen Gottes gehört es, daß er unendlich voll-
kommen ist.
Was unendlich vollkommen ist, ist durch sich selbst
notwendig.
Was notwendig ist, ist.
Also ist Gott.
36. Ist es so gefaßt nun wirklich richtig und unantastbar 1
Nein, weder in dieser Form, noch in irgendeiner andern
versuchten oder noch zu versuchenden. Was man auch
sagen möge, es ist ein für allemal nicht richtig, daß der
Satz „Gott ist" oder der andere „Gott ist notwendig" in
ähnlicher Weise durch sich selbst und aus den Begriffen
einleuchte, wie der Satz, daß alle Dreiecke drei Seiten
und drei Winkel haben.
Es ist außer Zweifel: das ontologische Argument hat
schon manchen zum Schweigen gebracht. Er wußte nicht
wie und wodurch sichseiner Konsequenz zu erwehren,
hatte aber dabei die Empfindung, die man auch in andern
Fällen hat, wenn man sich in einem Trugschlusse gefangen
fühlt. Man muß sich äußerlich ergeben und ist doch
innerlich nicht überzeugt. Ja, ich möchte wohl behaup-
ten, daß selbst diejenigen, welche das Argument sich an-
eigneten und zugunsten des Glaubens an Gott davon An-
wendung machten, nicht so wie in andern Fällen von
Evidenz und Beweis sich beruhigt finden konnten. Und
zuerst hatten sicher sie wie jeder andere den Eindruck,
als ob bei dem Beweise nicht alles bloße Geschwindigkeit
sei, sondern als ob wirkliche Hexerei daran einen Anteil
habe, d. h. daß es dabei nicht ganz mit rechten Dingen
zugehe.
Worin aber liegt der Fehler 1
Der Fehler im ontologischen Argument 39

Parturiunt montes, nascitur ridiculus mus. Das Argu-


ment ist ein sehr gemeiner logischer Schnitzer, eine
Täuschung durch Äquivokation. Das mag zunächst in
Anbetracht der vielen Größen, die sich darum bemüht
haben, kaum glaublich klingen. Doch hoffe ich es in der
nächsten Vorlesung außer Zweifel zu setzen.
D. Nachweis des Feh1ers im ontologischen Argument
37. Unsere Aufgabe ist es, ein definitives Urteil über
das ontologische Argument zu gewinnen. Daß dieses
nicht anders als verwerfend ausfallen könne, habe ich
schon als meine Überzeugung zu erkennen gegeben und
zugleich ausgesprochen, daß es sich um einen Para-
logismus durch Äquivokation handle.
Diese Behauptung mag Ihnen erstaunlich vorgekommen
sein. Scheint diese Art von Schlußfehlern doch wohl der
gröbste Verstoß, welchen die Lehre von den Paralogismen
verzeichnet. Wenn sich einer durch Trugschlüsse wie die
ZENOS gegen die Bewegung verwirren läßt oder durch
Argumente, wie den gegen sich selbst gerichteten Schwur
- ich schwöre, daß ich falsch schwöre 14) konsterniert wird,
so begreift sich das; aber einem Paralogismus durch
Äquivokation zum Opfer fallen, das scheint doch die
Sache nur eines schwachen, ungeübten Denkvermögens!
Über dem Gleichlaut des Ausdrucks den Unterschied
der daran geknüpften Gedanken übersehen, verrät das
nicht größten Leichtsinn, flüchtigste Oberflächlichkeit 1
Und hier, wo wir Denker ersten Ranges wie DESCARTES,
LEIBNIZ, HuME, KANT und so viele andere in die lang-
wierigsten, gründlichsten Untersuchungen eingehen sehen,
soll keiner von ihnen den Fehler bemerkt haben, so zwar,
daß die einen den Paralogismus gelten ließen, die andern,
ihn bestreitend, doch den wesentlichen Mangel nicht
scharf zu bezeichnen vermochten!
38. Wer so spricht, der zeigt, daß er weder die Ge-
schichte der Wissenschaft, noch die Natur der Äqui-
vokationen genügend studiert hat.
40 Von den Aquivoke.tionen

Die Geschichte der Wissenschaft zeigt, daß kein Geist


so hoch ist, daß er nicht vor Täuschungen durch Äqui-
vokationen sich sorgfältig zu hüten hätte. Sie haben ins-
besondere in der Philosophie Verwüstungen angerichtet,
und keiner der großen Denker ist ganz von diesem Fehltritt
verschont geblieben, PLATOwie PARMENIDES,KANT wie
DESCARTES,HERBART wie HEGEL sind ihm unterlegen.
Und die Verwunderung darüber mildert sich, wenn wir
das Gebiet der Äquivokation und die Mannigfaltigkeit
der Gestalten, die sie annimmt, etwas vollkommener
kennen lernen.
Der freilich müßte ein erbärmlicher Tropf sein, der
sich durch Äquivokationen wie Hahn, Mars, vergeben,
aufheben und dergleichen täuschen ließe, aber zwischen
ihnen und anderen Äquivokationen und insbesondere
jenen, welche große Denker täuschten, ist auch ein sehr
bedeutender Abstand.
Schon ARISTOTELESfiel der wesentlich verschiedene
Charakter der Äquivokationen auf und schien ihm wert,
vom Logiker beachtet zu werden. Er selbst unterschied
unter dem äquivoken Namen drei Klassen: zufällig mehr-
deutige (der Hahn auf dem Mist und der an der Flinte),
solche der Analogie nach (helle Farben - helle Töne),
solche durch Beziehung zum selben Terminus (gesunder
Leib, gesunde Gesichtsfarbe, gesunde Speise). Doch ist
damit die Mannigfaltigkeit auch nur der äquivoken
Namen keineswegs erschöpft. Als Beispiel einer sehr
gewöhnlichen Art erwähne ich die Restriktion, durch die
ein N a.me einen engeren Sinn bekommt (Sonne - i. e. S.
unsere Sonne; Verstand - bei ANAXAGORAS im Sinne
des göttlichen Weltordners).
Bei allen Namen findet sich die Äquivokation durch
dreifache Substitution, indem dasselbe Wort bald für die
Sa.ehe (Mensch ist ein Lebewesen), bald für den Begriff
(Mensch ist allgemeiner als Europäer), bald für das Wort
substituiert (Mensch ist ein Hauptwort). Man kann ihnen
als viertes das mit dem Namen bezeichnete als solche
Von den .Äquivokationen 41
an die Seite stellen (Jaxthausen ist ein Dorf und Schloß
an der Jaxt).
Auch das ist zu beachten, daß sich Äquivokationen
nicht nur bei Namen (Substantiven und Adjektiven) und
Zeitwörtern, sondern auch bei Partikeln, Präpositionen,
Konjunktionen (wenn: bald temporal, bald konditional)
und Flexionen finden.
Ebenso aber auch bei syntaktischen Verbindungen
(indem z. B. das Adjektiv bald determinierend, bald
modifizierend fungiert; Beispiele der zweiten Art: ein
falscher Gulden, ein toter Vogel, ein gedachter Taler, ein
gewesener Minister, ein vermeintlicher Verbrecher).
• Jede dieser Art von Äquivokation kann, wenn sie nicht
als solche bemerkt wird, Verwirrung stiften. So hat z. B.
die Mehrdeutigkeit einer syntaktischen Verbindung den
Streit der Logiker verschuldet, ob die Stellung der Be-
stimmungen gleichgültig sei: sie ist es, wenn das Prä-
dikat determinierend fungiert (ein „großes Rundes" be-
sagt dasselbe wie ein „rundes Großes"); nicht aber,
wenn es modifiziert (,,ein Reicher ist arm geworden"
sagt nicht dasselbe wie „ein Armgewordener ist ein
Reicher"; ,,ein Mensch ist tot" nicht soviel wie „ein
Toter ist ein Mensch").
Besonders gefährlicl:. wird eine Äquivokation dann,
wenn man sich den Sinn eines Namens oder einer syn-
taktischen Formel nicht genügend klar gemacht hat,
oder überhaupt nicht an die Möglichkeit einer Äqui-
vokation denkt. Jenes ist bei sehr allgemeinen und sehr
viel gebrauchten Ausdrücken häufig, denn hier bereitet
einerseits die Höhe der Abstraktion dem Definierenden
Schwierigkeiten, andererseits gleitet die Aufmerksamkeit
über das allzu Gewohnte leicht hinweg; dieses in be-
sonderem Maße bei syntaktischen Formen, wo auch
solche, die sich vor äquivoken Namen schon in Acht zu
nehmen gelernt haben, gar nicht an eine solche Gefahr
zu denken pflegen. Um so mehr hat die Logik Anlaß,
mit aller Sorgfalt dabei zu verweilen.
42 Negative Aussagen mit positivem Sinn

39. Gerade ein solcher Fall liegt nun auch beim


ontologischen Argument vor. Doch war es nicht immer
dieselbe Äquivokation, durch welche seine Anhänger irre-
geführt wurden. Es haben vielmehr die einen, wegen der
Übereinstimmung im Ausdrucke, einen dem Sinne nach
negativen Satz für affirmativ, die andern aber eine
bloß nominale Bestimmung für eine reale genommen.
Machen wir uns zunächst die Möglichkeit dieser Täu-
schungen im allgemeinen klar:
1. Über die Möglichkeit der Verwechslung
einer negativen mit einer affirmativen Be-
stimmung.
Die gewöhnlichste Form für affirmative Urteile ist
„S ist P". Der so gebaute Satz „Irgend ein Mensch ist
glücklich" drückt ein bejahendes Urteil aus und sagt
dasselbe wie „Es gibt einen glücklichen Menschen". Es
geschieht aber, daß wir in einer völlig gleichlautenden
Form auch negative Urteile ausdrücken, wie z.B. durch
den von den Logikern so genannten Satz der Identität:
„Aist A". Da kann es denn leicht dazukommen, daß ein
solches Urteil für ein affirmatives gehalten und als sol-
ches verwertet wird.
Vielleicht neigen auch Sie dazu, und so mag es am
Platze sein, daß ich hier das Gegenteil und die Verschie-
denheit der Bedeutung der gleichlautenden Formel in dem
einen und andern Falle nachweise.
Der Satz „Ein Mensch ist gücklich" enthält ein wirk-
liches affirmatives Urteil, nämlich die Anerkennung der
Verbindung eines Menschen mit der Eigenschaft glück-
lich. Wir konnten mit Recht sagen, er bedeute so viel
wie der Satz: ,,Es gibt einen glücklichen Menschen".
Nehmen wir nun an, es verhalte sich ähnlich mit dem
sogenannten Gesetz der Identität „A ist A" oder, um
statt A einen bestimmtem Terminus zu setzen, ,,Ein
Mensch ist ein Mensch". Der Satz würde dann soviel
bedeuten wie der Satz „Es gibt einen Mensch seienden
Menschen". Und da „ein Mensch seiender Mensch" nicht
Vom sog. Satz der Identität 43

mehr besagt als der einfache Ausdruck „ein Mensch", so


hieße „Ein Mensch ist ein Mensch" soviel als „Es gibt
einen Menschen".
Ist das richtig 1 Nein! Das Gesetz der Identität ist
durch sich selbst evident; daß ein Mensch ein Mensch
sei, leuchtet a priori ein. Daß es aber Menschen gibt,
leuchtet nicht a priori ein. Es ist auch keineswegs eine
notwendige Wahrheit, und vor hundert Millionen Jahren
hat es, wenn die Berechnungen THOMSONS Vertrauen ver-
dienen, auch wirklich keine gegeben.
Was ist denn aber der Sinn von „A ist A", ,,Ein Mensch
ist ein Mensch" 1 Nicht: ,,Es gibt einen Menschen, wel-
cher ein Mensch ist", sondern „Es gibt keinen Menschen,
welcher nicht ein Mensch ist". Der Satz behauptet nicht,
daß es einen Menschen gebe, der Mensch sei; er leugnet
aber, daß es einen Menschen gebe, der nicht Mensch sei.
Und das ist in Wahrheit durch sich selbst einleuchtend,
denn das Gegenteil wäre ein Widerspruch. (Sie sehen,
nebenbei bemerkt, daß die landläufigen Logikbücher den
Satz der Identität mit Unrecht als ein zweites, vom
Satze des Widerspruches verschiedenes Prinzip auf-
stellen. Verschieden ist nur die sprachliche Formulie-
rung, der Gedanke ist derselbe).
Von dieser Art, d. h. dem Aussehen nach positiv, der
Bedeutung nach negativ, sind auch alle Sätze der Mathe-
matik (soweit sie a priori erkennbare Wahrheiten sind),
und damit hängt es zusammen, daß ein Satz wie „Das
Quadrat hat vier Seiten" in seiner Wahrheit unabhängig
von der Existenz wirklicher Quadrate ist.
Diese Beispiele werden wohl genügen, die erste der
beiden Verwechslungen zu beleuchten, von denen ich
sagte, daß sie den Verteidigern des ontologischen Argu-
mentes unterlaufen seien. Ehe ich daran gehe, sie dort
nachzuweisen, noch einige einführende Bemerkungen in
die Natur der zweiten Verwechslung:
40. 2. Über die Möglichkeit der Verwechslung
einer nominalen mit einer realen Bestimmung.
44 Nominale und reale Bestimmungen

Dieser Fall dürfte Ihnen geläufiger sein als der erste.


Das Wörtchen „ist" heißt nämlich oft so viel wie
„bedeutet". Sage ich z. B. ,,Die Quadratur des Kreises
ist die Konstruktion eines Quadrats, welches den gleichen
Flächeninhalt hat wie ein gegebener Kreis", so will ich
damit nicht mehr sagen, als : unter der Quadratur des
Kreises verstehe man eine solche Konstruktion. Ob es
eine solche Konstruktion gebe, ob sie auch nur möglich
ist, ist damit gar nicht ausgesprochen. Es soll bloß die
Bedeutung eines Namens angegeben werden, die ja auch
auf etwas ganz Imaginäres gehen kann. Ich kann so
auch ein hölzernes Bügeleisen als „e·~was aus Holz be-
stehendes Eisernes" definieren.
Der, so verstanden, unanfechtbare Satz wird alsbald
zum Irrtum und Widersinn, wenn man ihn statt nominal
real deutet; wenn also das „ist" nicht „heißt", sondern
,,existiert" bedeuten soll.
41. Kehren wir nach diesem Umwege über die wich-
tigsten Arten der Täuschung durch Äquivokation zu
unserem ontologischen .Argumente zurück. Ich sagte:
der Fehler, der darin begangen wird, und zwar in jeder
seiner Formen, ist ein Paralogismus durch Äquivokation
indem entweder eine Nominalbestimmung mit einer Real-
bestimmung oder ein negatives Urteil mit einem affirma-
tiven verwechselt wird.
A. Unter- Verwechslung einer nominalen mit einer
realen Bestimmung sagt das Argument:
Was ein unendlich vollkommenes Wesen ist, dem
kommt notwendige Existenz zu.
Gott ist ein unendlich vollkommenes Wesen.
Also kommt Gott notwendige Existenz zu.
Also: Gott ist.
Was heißt hier: ,,Nun ist Gott ein unendlich voll-
kommenes Wesen?" Es gibt einen Gott, der ein un-
endlich vollkommenes Wesen ist ? Das wäre real ver-
standen, setzte aber voraus, was doch erst zu beweisen
ist, nämlich die Existenz Gottes.
Der Fehler im ontologischen Argument 45

Oder heißt es bloß soviel wie: ,,Unter Gott versteht


man ein unendlich vollkommenes Wesen 1" Dann ist der
Satz nicht zu beanstanden, ergibt aber keinen andern
Schlußsatz als: Unter Gott versteht man ein Wesen,
dem notwendige Existenz zukommt, wobei die Frage, ob
ein solches Wesen existiert, offen bleibt.
42. Läge keine andere als diese Verwechslung dem
Argumente zugrunde, so würde es sich allerdings nicht
sehr lange gehalten haben, denn sie ist unschwer zu be-
merken und auch tatsächlich wiederholt von den Kri-
tikern beanstandet worden. Sie haben aber damit nicht
immer überzeugend gewirkt, weil die Vertreter des Argu-
ments sich von dem Vorwurfe, eine nominale mit einer
realen Bestimmung verwechselt zu haben, nicht ge-
troffen fühlten. DESCARTESz. B. lehnte diese Zumutung
für seine Person entschieden ab, wobei er aber zugeben
wollte, daß dies in der Tat der Fehler des alten ANSELM-
schen Argumentes gewesen sei, den als solchen schon
THOMASVON AQUINO gerügt habe.
Nun, dann ist zuverlässig der andere Fehler im Spiele:
B. die Verwechslung eines negativen mit einem
affirmativen Urteil.
Um ihren Platz im Argumente DESCARTESfestzu-
stellen, sei es wiederholt:
Wovon wir klar und deutlich erkennen, daß es zur
Natur eines Dinges gehört (im Begriffe eines Dinges
enthalten ist), das können wir mit Sicherheit von
diesem Dinge aussagen.
Wir erkennen klar und deutlich, daß zur Natur des
vollkommensten Wesens gehört, durch sich not-
wendige, ewige Existenz zu haben.
Also läßt sich von Gott aussagen, daß er durch
sich notwendige Existenz hat; d. h. Gott hat durch
sich notwendige Existenz.
Also ist Gott.
Die Gefahr der Verwechslung liegt schon im Ober-
satze, im Worte „aussagen". Was im Begriffe einer Sache
46 Paralogismen nach dem ontologischen Muster

liegt, läßt sich nämlich von dieser a priori keineswegs


kategorisch, sondern nur hypothetisch aussagen. Mit
andern Worten, wir dürfen nicht von vornherein posi-
tiv behaupten, daß diese Bestimmung dem Subjekte zu-
komme, sondern nur negativ, daß es ihm, wenn das
Ding ist, nicht fehlen könne.
Nach dieser Aufklärung ergibt sich im vorliegenden
Falle nicht der Schlußsatz
Gott hat durch sich notwendige Existenz, sondern
vielmehr nur
Es gibt keinen Gott ohne durch sich notwendige
Existenz.
43. Ich glaube, das Gesagte genügt. Doch mag es
dazu dienen, recht deutlich zu zeigen, wie völlig ver-
fehlt der Beweis ist, wenn wir uns an einigen Beispielen
vergegenwärtigen, was alles man, in solcher Weise den
Doppelsinn der Aussageformel außer acht lassend, eben-
sogut wie das Dasein Gottes a priori beweisen kann.
Z.B. die Existenz eines Schusters.
In dem Begriffe eines Schusters liegt, daß der
Schuhe machen kann.
Was im Begriffe des Schusters liegt, kann von ihm
ausgesagt werden. Also kann von einem Schuster mit
Sicherheit ausgesagt werden, daß er Schuhe ma.chen
kann, und es ist einleuchtend, daß er Schuhe machen
kann.
Wie sollte er aber Schuhe machen können, wenn er
nicht wäre 1
Also ist ein Schuster.
Oder die Existenz eines goldenen Berges:
W ~ golden ist, ist.
Ein goldener Berg ist golden.
Also ist ein goldener Berg.
Die Existenz eines steinernes Gastes (im Begriffe eines
solchen liegt, daß er aus Stein ist und daß er Einladungen
annimmt ... ); die Existenz eines Mondmännchens (in
dessen Begriffe liegt es, daß es auf dem Monde wohnt).
Der Wahrheitskern im ontologischen Argument 47

Auf dieselbe Art sind Schneewittchen und Dornröschen,


Schneeweißehen und Rosenrot, Rübezahl und aller Zauber
der Märchenwelt in historische Personen zu verwandeln.
E. Die im ontofogischen Argument versteckte Wahrheit
44. Wir haben festgestellt, daß das ontologische Argu-
ment für das Dasein Gottes in keiner Form als gültiger
Beweis gelten kann und dargetan, warum dem so ist.
Es ist ein Paralogismus infolge von Äquivokation und
zählt so zu den Verstößen gröberer Art. Man sollte
meinen, daß dergleichen einem ANSELMUS,DESCARTES,
SPINOZA,LEIBNIZ nicht hätte unterlaufen können. Soll
man angesichts des Gegenteils an der Schärfe ihres V er-
standes irre werden 1 Dagegen schützt uns ein Blick auf
ihre sonstigen großen Leistungen. Auch das Wort:
quandoque bonus dormitat Homerus möchte ich zur
Erklärung ihres Versehens nicht anwenden, denn es
würde nicht erklären, wie so es kommen konnte, daß
einer es dem andern nachsprach. Alle haben sie sicher
nicht geschlafen, wenn auch einer dem andern in ge-
wissem Sinne zur Entschuldigung gelten darf.
Es war eben nicht so leicht, hinter den Irrtum zu kom-
men, als ihn nun, da er uns offen vor Augen liegt, ein-
zusehen. Auch die Gegner des Arguments haben meist
nicht den wahren Fehler und die tiefste Wurzel der
Täuschung aufgedeckt. So hat KANT die Äquivokation
von negativen und affirmativen Urteilen nicht bemerkt.
Er rührt ein wenig daran, wenn er gelegentlich unter-
scheidet: ,,Die unbedingte Notwendigkeit des Urteils ist
nicht eine absolute Notwendigkeit der Sachen. Denn die
absolute des Urteils ist nur eine bedingte Notwendigkeit
der Sache oder des Prädikats im Urteil. Der Satz, daß ein
Triangel notwendig drei Winkel habe, sagt nicht, daß
drei Winkel schlechterdings notwendig seien, sondern:
unter der Bedingung, daß ein Triangel da ist, sind auch
drei Winkel in ihm notwendigerweise da" (K. d. r. V. II,
457f.). Hier ist an Wahres gerührt, aber Falsches ein-
48 Aus Gottes Möglichkeit folgt die Wirklichkeit

gemischt. Es hat den Anschein, als nähme KANT hier


HERBARTS Lehre vorweg, wonach jeder kategorische Satz
hypothetisch zu verstehen wäre, was aber doch ent-
schieden unrichtig ist. (,,Cajus ist gestorben" heißt nicht
„Wenn Cajus ist, so ist er gestorben", und „Brutus
lebt", nicht „Wenn Brutus ist, so lebt er"). Auch verrät
schon die falsche Bestimmung, die KANT vom analyti-
schen Urteile gegeben hat (daß nämlich bei diesem das
Prädikat offen oder versteckt im Subjekte enthalten sei),
daß er selber der Verwechslung affirmativer und nega-
tiver Urteile unterlegen ist 1.ia).
So haben sich denn überhaupt die Logiker bis auf die
neueste Zeit den wahren Charakter dieses Fehlers nicht
klar gemacht, und unterliegen ihm darum selbst immer
wieder von neuem, indem sie den Satz der Identität für
verschieden vom Kontradiktionsgesetze und allgemeine
Gesetze - wie z. B. die mathematischen - für bejahende
Urteile halten.
46. Dazu gesellt sich als weiteres Moment, das dem
Argumente eine solche Zähigkeit verleihen mochte, der
Umstand, daß die Männer, die es vertraten, damit auch
an etwas Wahres gerührt haben. Dies gilt sowohl von
dem, was LEIBNIZ, als von dem, was schon DESCARTES
und ANSELMgesagt haben.

A. Es ist zwar richtig, daß ebensowenig wie aus anderen


Nominalbestimmungen aus derjenigen Gottes die Exi-
stenz des Gegenstandes gefolgert werden kann; dennoch
besteht wenigstens insofern ein Unterschied, als man,
wenn von Gott nur zugegeben werden dürfte, daß er
möglich ist, folgern müßte, daß er wirklich und not-
wendig ist; während gewöhnlich nur der umgekehrte
Schluß - aus der Wirklichkeit auf die Möglichkeit -
erlaubt ist.
Es ist dies leicht zu erweisen.
l. Nur muß man, um den Beweis zu fassen, sich klar
halten, was das Wort „möglich" im eigentlichen Sinne
Möglichkeit - Gottesbegriff 49
besagt. Denn oft gebrauchen wir es in einem uneigent-
lichen Sinn, nämlich für das,
wovon es nicht sicher ist, daß es nicht ist,
während es hier für das steht,
wovon es nicht notwendig ist, daß es nicht ist.
Bei jenem genügt, um es von etwas auszusagen, daß
man nicht weiß, daß es nicht ist.
Hier ist erforderlich, daß man wisse, daß es nicht
unmöglich ist.
Bei jenem ist der Gegensatz: sicher falsch.
Bei diesem: notwendig falsch.
2. Ferner muß man sich klar halten, welchen Begriff
man mit dem Worte „Gott" zu verbinden pflegt. Wir
können mit DESCARTESsagen: man verstehe unter Gott
ein ewiges, durch sich selbst notwendiges, unendlich voll-
kommenes Wesen. Oder wir können auch nur einfach
die letzte Bestimmung allein geben. Denn ein unendlich
vollkommenes Wesen wäre nicht unendlich vollkommen,
wenn es nicht ewig wäre. Und ebenso wäre es nicht
unendlich vollkommen, wenn es nicht notwendig, son-
dern nur zufällig wäre. Mag die Existenz selbst eine Voll-
kommenheit zu nennen sein oder nicht, sicher ist, daß der
Mangel der Existenz der Mangel aller seiner Vollkommen-
heit wäre. Und auch schon die bloße Möglichkeit des
Mangels der Existenz wird darum von dem Ideal aller Voll-
kommenheit auszuschließen sein. Die Notwendigkeit der
Existenz erscheint ihr gegenüber entschieden als Vorzug.
So umfaßt der Begrüf der unendlichen Vollkommen-
heit an und für sich schon, wie den der Ewigkeit, auch
den der Notwendigkeit, und zwar der Notwendigkeit
durch sich selbst, da auch jede Abhängigkeit von anderem
dem Begrüfe des unendlich Vollkommenen widerstreitet.
Niemals hat darum auch jemand ein unendlich voll-
kommenes Wesen gelehrt, ohne es durch sich selbst not-
wendig zu denken*).
"') Aristoteles. Met. A 7. IE civar"'1• äea la-r111öv. xai v a11arxn
ua.tw,, "'" OVTWo&ex~-
50 Aus Gottes Möglichkeit

Bei so gefaßtem Gottesbegriff ist es nun, wie gesagt,


unzweifelhaft, daß das bloße Zugeständnis der Möglich-
keit zum Nachweis der Wirklichkeit genügt. Denn wenn
es möglich ist, daß Gott ist, so ist es
entweder sowohl möglich, daß ei' ist, als auch mög-
lich, daß er nicht ist,
oder es ist bloß möglich, daß er ist, und nicht mög-
lich, daß er nicht ist.
Nun aber ist das erste nachweisbar falsch; also gilt das
zweite.
Beweis: Wäre es von Gott sowohl möglich, daß er ist,
als auch möglich, daß er nicht ist, so dürfte aus der An-
nahme, er sei, nichts Unmögliches sich ergeben.
Es würde aber dann ein ewiges, durch sich selbst not-
wendiges, unendlich vollkommenes Wesen sein, von dem
es möglich wäre, daß es nicht wäre, das also zufällig
(kontingent) wäre, und dies ist absurd und unmöglich.
Somit bleibt für den Fall, daß die Möglichkeit Gottes
zugegeben wird, nur das andere übrig, nämlich, daß es
bloß möglich ist, daß er ist, und nicht möglich, daß er
nicht ist.
Also folgt: Wer der Möglichkeit Gottes sicher ist, ist
seiner Wirklichkeit sicher.
46. Ich weiß aus Erfahrung, daß dieses Argument
leicht Mißtrauen erweckt. Man fürchtet, es handle sich,
ähnlich wie beim ontologischen Argument, wie wir es
kennen lernten, um einen logischen Fallstrick. Aber mit
Unrecht, und um jede Furcht zu zerstreuen, will ich noch
ein wenig bei diesem Punkte verweilen.
1. Die Argumentation hängt wesentlich mit dem logi-
schen Prinzip zusammen: Was, wenn es wahr ist, nicht
zufällig, sondern notwendig wahr ist, das ist, wenn es
falsch ist, nicht zufällig, sondern notwendig falsch.
2. Die Richtigkeit dieses Prinzips läßt sich leicht an
Beispielen der Mathematik anschaulich machen.
Auf dem Gebiete der Mathematik, da sie a priori ein-
leuchtet, gibt es keine zufällige Wahrheit. Wenn ein
folgt seine Wirklichkeit 51
mathematischer Satz, z. B. 7 + 5 = 12, wahr ist, so ist
er notwendig wahr. Wenn nun jemand ein mathemati-
sches Gesetz aufstellte, welches falsch wäre, so wäre es
nicht bloß falsch, sondern notwendig falsch.
3. Wenn demnach einer von einem mathematischen
Satze zugäbe, daß er nicht notwendig falsch sei, so würde
darin liegen, daß er überhaupt nicht falsch sei, also daß
er wahr sei, mit andern Worten, aus der Möglichkeit
seiner Wahrheit folgt seine Wahrheit.
4. Dasselbe gilt nun auch bei dem Satze „Gott ist".
Denn bei dem Satz, daß Gott sei, handelt es sich ebenso-
wenig um zufällige Wahrheit als bei mathematischen
Fragen. Ist er wahr, so ist er nicht zufällig, sondern not-
wendig wahr, ist er also falsch, so ist er nicht zufällig,
sondern notwendig falsch.
5. Nun gesteht jemand zu, daß Gott möglich ist, also,
daß der Satz „Gott ist" nicht notwendig falsch ist; so-
mit können wir sofort schließen, daß er überhaupt nicht
falsch ist, also daß Gott ist.
4 7. Noch eine etwas andere Fassung möchte ich dem
Gedanken geben: ,vas immer in Frage kommen kann,
ist entweder notwendig oder zufällig oder unmöglich.
Handelt es sich um das durch sich notwendige Wesen,
so steht also vor allem auch für dieses fest, daß es ent-
weder notwendig oder zufällig oder zufällig nicht oder
unmöglich ist. Aber daß es zufällig sei, wird niemand
behaupten, denn sonst wäre es, im Falle es wäre, not-
wendig und zufällig zugleich. Und wenn es unmöglich ist,
daß es nur zufällig ist, so ist damit zugleich gesagt, daß
es unmöglich nur zufällig nicht ist. Denn im Begriff des
Zufalls liegt, daß, wenn das zufällige Sein, auch das zu-
fällige Nichtsein möglich ist und umgekehrt.
Es bleibt also hier von vornherein nur die Disjunktion,
daß es entweder notwendig oder unmöglich ist. Wenn
nun einer zugesteht, daß es nicht unmöglich sei, so gibt
er offenbar etwas zu, woraus folgt, daß es notwendig ist ,
also ist.
52 Schluß vom Möglichen aufs Wirkliche

48. Ich hoffe, diese Wiederholung der Sache in anderer


und anderer Wendung genügt. Es handelt sich hier um
keinerlei lcgische Falle, sondern um eine strenge Konse-
quenz, die ohne Widerspruch nicht abzuweisen ist. Viel-
leicht wird das Verfahren weniger wunderlich erscheinen,
wenn ich darauf hinweise, daß manche, z.B . .ALBERT
LANGE, aus der Möglichkeit überall die Wirklichkeit
glaubten erschließen zu können. Sie meinten nämlich,
allgemein erkannt zu haben, daß es keinen Zufall gebe,
d. h. daß nichts sei und sein könne, außer dann, wenn
es notwendig ist. Wäre hiernach für irgend etwas in
irgendeinem Falle die Möglichkeit erkannt, so wäre dies
so viel, wie wenn die Wirklichkeit und Notwendigkeit
erkannt wäre, und diese könnte aus jener erschlossen
werden. Was nun diese Denker für alles, was nur irgend-
wie in Frage kommt, lehren, das gilt jedenfalls für den
Begriff des durch sich notwendigen Wesens. Es kann
nicht sein, ohne notwendig zu sein. In dem Zugeständ-
nis der Möglichkeit ist also das seiner Wirklichkeit in-
volviertUb).
49. Soweit also hatten DESCARTESund LEIBNIZsicher
recht. Sie irrten aber, indem sie sich den Beweis der
Möglichkeit so leicht dachten. Wir können ihn in Wahr-
heit aus dem bloßen Begriffe ebensowenig wie den für
die Existenz gewinnen.
DESCARTESmeinte, unser Begriff Gottes müsse als
möglich zugestanden werden, denn er sei klar, also
ohne Widerspruch, also möglich. LEIBNIZdefinierte Gott,
das unendlich-vollkommene Wesen, als das „allreale
Wesen". In diesem Begriffe aber fänden sich lauter Posi-
tionen, keine einzige negative Bestimmung, sohin auch
kein Widerspruch, und so stehe seine Möglichkeit außer
Zweifel.
Allein LEIBNIZübersieht hier vor allem, daß nicht nur
Kontradiktionen, sondern auch konträre Prädikate (wie
hier und dort, rot und blau) einander im selben Sub-
jekte ausschließen. So ist denn die Vereinigung aller
Widerspruch in „e.llreales Wesen" 53
erfahrungsmäßigen Vollkommenheit (Realität) nicht nur
in ihrer Möglichkeit zu bezweifeln, sondern geradezu als
unmöglich zu erkennen, und wenn Gott wirklich in diesem
Sinne das allreale Wesen sein soll, so stünde seine Nicht-
existenz a priori fest.
Diese Absurdität würde noch dadurch verschärft, daß
dem unendlich Vollkommenen, nach manchen Theo-
logen, nicht nur alle denkbaren realen Bestimmtheiten
zukommen sollen, sondern auch jede davon in unend-
licher Steigerung. Dadurch aber würde schon eine ein-
zelne Eigenschaft an und für sich, abgesehen von ihrer
Vereinbarkeit mit allen andern, zum Widersinn, denn -
wie z.B. auch LEIBNIZ wiederholt hervorgehoben hat -
ein unendlicher Kreis, eine unendliche Schnelligkeit,
eine unendlich intensive Hitze widerspricht.
So schiene denn das Gegenteil dessen, was LEIBNIZ für
wahr hielt, einzuleuchten. Weit entfernt, daß unser
Gottesbegriff die Möglichkeit seines Gegenstandes ge-
währleistete, ergäbe sich daraus vielmehr sofort dessen
Unmöglichkeit. Doch dürfte sich kaum einer von den
großen Theisten durch dieses Argument wirklich ge-
troffen fühlen. Sie würden eben nicht gelten lassen, daß
die Vereinigung aller erfahrungsmäßigen Vollkommen-
heiten zum Inhalte des Gottesbegriffes gehöre.
50. Einige gehen soweit, daß sie lehren, unser Gottes-
begriff enthalte überhaupt kein der Erfahrung ent-
nommenes positives Merkmal. Das in sich notwendige
Wesen sei uns vielmehr durchaus transzendent. Wie
überhaupt solches, müssen wir uns auch das göttliche
Transzendente durch Surrogate für die uns fehlenden
eigentlichen Begriffe zurecht zu legen suchen. Wir den-
ken es teils dadurch, daß wir von ihm einiges schlechthin
leugnen (schon die Transzendenz selbst ist eine solche
negative Bestimmung; ebenso, wenn wir es als unräum-
lich denken, als jeder Einwirkung von außen entrückt
usw.); teils legen wir ihm gewisse positive Prädikate der
Erfahrung mit dem Bewußtsein bei, daß sie nicht im
54 Von der „e.ne.logischen Theologie"

eigentlichen Sinne, sondern bloß der Analogie nach


gelten sollen. Schon THEOPHRASThat die Wichtigkeit
solcher analoger Prädikationen erkannt. Um sie in ihrem
Sinn verständlich zu machen, erinnere ich an das Bei-
spiel vom Farbenblinden. DALTONerkannte wohl, daß
es Farben gebe, die er sich nicht anschaulich vorstellen
könne, er dachte sie aber in gewisser Weise den von
ihm gesehenen analog. Ähnlich können wir alle den
Gedanken eines Sinnes fassen, der uns mangelt, aber
unseren Sinnen analog vielleicht einem Tiere gegeben ist.
Und wieder können wir Topoide von n Dimensionen
denken, in Analogie zu dem dreidimensionalen Erfah-
rungsraum.
So, sagen mache, sei es denn auch nicht im eigent-
lichen, sondern nur in einem diesem irgendwie analogen
Sinne zu verstehen, wenn wir Gott ein denkendes, er-
kennendes, wollendes Wesen, ja wenn wir ihn überhaupt
ein Wesen, ein Reales nennen.
Durch diesen Rekurs auf ein bloßes Vorstellen nach
Analogie also sucht man dem Vorwurfe, daß unser Gottes-
begriff Absurdes enthalte, zu entgehen. Man weist auf
Beispiele aus der Mathematik hin, daß Widersprechendes
wenn man es der bloßen Analogie nach nimmt, zu Mög-
lichem wird: eine stetige Größe erscheint analog einer
diskreten, die aus unendlich vielen, unendlich kleinen
Teilen zusammengesetzt ist. Diese widerspricht, jene
nicht. Ein Kreis kann als Analogon eines regulären Viel-
ecks mit unendlich vielen unendlich kleinen Seiten gefaßt
werden. Jener ist möglich, dieses absurd 15 ).
51. Es will mir aber doch recht bedenklich scheinen,
den Gottesbegriff auf diese Weise zu rechtfertigen. Wo
liegt denn die Grenze, welche diese sog. analogische Theo-
logie vom vollen Agnostizismus scheidet 1 Wenn Gott
nicht einmal unter die höchsten unserer allgemeinen Be-
griffe fallen soll, dann auch nicht unter den des Etwas.
Das aber hieße doch wohl nichts anderes, als ihn schlecht-
hin leugnen. Und so findet sich denn kein Unterschied
Eigentliche Begriffe können unvollständig sein 55

mehr zwischen solchem Agnostizismus und vollem


Atheismus, es wäre denn in bezug auf die Klarheit,
wo dann der Vorteil entschieden auf seiten des Atheisten
liegt.
Wenn aber überhaupt unter irgendwelche positive
Begriffe, warum nicht auch unter solche, die minder
allgemein sind als der des Etwas (was so· viel heißt wie
Reales) ? Warum soll es von vornherein ausgeschlossen
sein, daß wir das durch sich Notwendige als bewußt
oder unbewußt, als erkennend oder nicht erkennend,
als wollend oder nicht wollend zu denken haben ? Wird
nicht vielmehr notwendig eines von beiden die Wahr-
heit sein?
Wer sich einbildet, daß der Besitz irgendwelcher eigent-
licher und positiver Begriffe, die auf Gott anwendbar
wären, uns sofort fähig machen müßte, seine Möglich-
keit bzw. seine Existenz a priori zu erkennen, würde
sehr vorschnell urteilen, denn dazu wäre vielmehr eine
vollständig determinierte und vollkommen adäquate Vor-
stellung von Gott, die Anschauung Gottes erforderlich,
die wir doch sicher nicht besitzen. DAVID HUME hat
schon ganz richtig erkannt, daß ein unvollständiger Be-
griff von einem in sich notwendigen Wesen nicht aus-
reichen würde, dessen Notwendigkeit a priori erkennen
zu lassen. Er fragt - indem er davon absieht, daß ihm
selbst, wie wir früher erwähnt haben, der Begriff eines in
sich Notwendigen überhaupt unannehmbar schien -
gelegentlich: ,,Wer beweist mir, daß nicht schon diese
Welt selbst unmittelbar notwendig ist 1", hat aber doch
nicht bestritten, daß wir im Besitze irgendwelcher posi-
tiver Begriffe von ihr sind, und gibt so zu erkennen, daß
die Unmöglichkeit a priori über die Existenz eines in sich
notwendigen Wesens zu entscheiden, sich sehr wohl da-
mit vertrage, daß wir positive Begriffe besitzen, die dar-
auf anwendbar sind.
Wie dem auch sein möge, wenn man jenes Gerede von
eines durchaus bloß analogischen Erkenntnis Gottes
56 Unendlich vollkommen heißt nicht allreal

ernst nimmt, so ist es eigentlich reiner Atheismus. Die


klar denkenden Atheisten haben es denn auch nicht mit-
gemacht. Erst in einer Verfallszeit, in der Philosophie
der NEUPLATONIKER,ist es aufgekommen. LEIBNIZ ins-
besondere hält sich ganz frei davon 15 ).
52. Wie aber entgeht er dann dem Vorwurf, daß der
Begriff des allrealen Wesens sich selbst widerspreche 1
Durch die Ausrede, daß das alles nicht ernsthaft gemeint
sei, ist, wie wir sahen, gar nichts gewonnen. Dagegen ist
zu sagen, daß der Begriff des unendlich vollkommenen
Wesens eben nicht mit dem des Allrealen zusammenfällt,
und daß, wer ihn damit identifiziert, sich eine ganz un-
nötige Schwierigkeit schafft. Im Begriffe des Unendlich-
vollkommenen liegt nicht mehr als folgendes: ein Wesen
von solcher Vollkommenheit, daß jeder Zuwachs an Wert
eine Absurdität ergeben würde. Mit andern Worten, der
Begriff Gottes ist zwar der eines schlechthin durch nichts
zu überbietenden Wertes, nicht aber der einer Vereinigung
aller denkbaren endlichen Werte.
Wenn wir den Begriff so vorsichtig fassen, enthält er
kei!ie Handhabe, ihn von vornherein als widersprechend
zu verwerfen, reicht aber freilich auch andererseits nicht
aus, uns a priori ein Urteil über die Möglichkeit seines
Gegenstandes zu gestatten 15 ).
53. Damit ist aber zugleich DESCARTESAuffassung er-
ledigt, wonach die Möglichkeit Gottes schon wegen der
Klarheit unseres Gottesbegriffes a priori feststehe. Denn
was immer unter seinem berühmten Wahrheitskriterium
der Klarheit und Deutlichkeit zu verstehen sein möge,
klar im Sinne vollkommener Determiniertheit ist unser
Begriff von Gott keineswegs. Um nur eines hervorzu-
heben: wenn wir uns Gott als ein denkendes Wesen vor-
stellen dürfen, so nicht wohl als eines, dessen Denken,
wie das unsere akzidenteller Natur ist, sondern ein
seinem Wesen nach Denkendes. Darauf mag der all-
gemeine Begriff des Denkens Anwendung finden, wenn
wir von der Art, wie er in unserer Erfahrung deter-
Gottes Möglichkeit nicht erkennbar 57
miniert erscheint, abstrahieren, aber von dem, was
statt dessen in den Gottesbegriff einzusetzen wäre, be-
sitzen wir keine Anschauung. Mit andern Worten, wir
vermögen wohl vielleicht das eigentlich vorzustellen,
was unserm Denken mit dem göttlichen gemeinsam ist,
nicht aber das, wodurch sich das seiner Substanz nach
Denkende von dem bloß akzidentell Denkenden unter-
scheidet. So kann der Fall, in dem wir uns hier be-
finden, vielleicht dem eines Rotblinden verglichen wer-
den, dem zwar der eigentliche Begriff des Farbigen, aber
nicht die fragliche spezifische Differenz dieses Begriffes
zu Gebote steht 16 ).
54. So bleibt es denn dabei: die Möglichkeit Gottes
vermögen wir aus unserem Begriffe von ihm nicht zu er-
kennen. Und hierin wenigstens sind wir wesentlich einer
Meinung mit KANT, wenn auch seine Ausdrucksweise an
einigen Stellen nicht ganz glücklich ist. In der Kritik der
reinen Vernunft heißt es von der Idee eines höchsten
Wesens, ,,sie vermag nicht einmal so viel, daß sie uns in
Ansehung der Möglichkeit eines Mehreren belehrte.
Das analytische Merkmal der Möglichkeit, das darin be-
steht, daß bloße Positionen (Realitäten) keinen Wider-
spruch erzeugen, kann ihm zwar nicht bestritten werden;
da aber die Verknüpfung aller realen Eigenschaften in
einem Ding eine Synthese ist, über deren Möglichkeit
wir a priori nicht urteilen können, weil uns die Reali-
täten spezifisch nicht gegeben sind, und wenn
dieses auch geschähe, überall gar kein Urteil darin statt-
findet, weil das Merkmal der Möglichkeit synthetischer
Erkenntnisse immer nur in der Erfahrung gesucht werden
muß, zu welcher aber der Gegenstand einer Idee nicht
gehören kann; so hat der berühmte LEIBNIZ bei weitem
das nicht geleistet, wessen er sich schmeichelte, nämlich
eines so erhabenen idealischen Wesens Möglichkeit
a priori einsehen zu wollen."
Immerhin bleibt an dem Gedanken LEIBNIZens das
richtig - und dies gegen KANT -, daß aus der Mög-
58 Gottes Dasein eine notwendige,

lichkeit Gottes, wenn sie uns einleuchtete, sofort seine


Wirklichkeit zu folgern wäre.
55. B. Das führt zum zweiten Punkt: Wenn wir -
statt eines unvollständigen Begriffes - die volle An-
schauung Gottes hätten, so würden wir aus ihr seine
Existenz, d. h. wir würden unmittelbar seine Notwendig-
keit erkennen. Und dies nicht etwa, wie wir unsere eigene
Existenz als denkender Wesen erkennen, denn diese er-
gibt sich nicht aus dem Vorstellungsinhalt, sondern aus
der Weise des Erfassens, und wir erkennen uns darum
auch nicht als notwendig. Nicht also in dieser Weise
würden wir die Existenz Gottes erkennen, sondern in
einer andern, diesem Vorstellungsgegenstand allein eige-
nen Weise, die sich am besten mit der Weise vergleichen
läßt, in welcher wir unmittelbar die notwendige Nicht-
existenz von etwas erkennen, was aus eirn:1.nderwider-
sprechenden Merkmalen zusammengesetzt ist. Denn Gott
ist in der Tat durch sich selbst notwendig seiend, wie
dies durch sich selbst notwendig nichtseiend ist. Der Satz
„Gott ist" ist darum an und für sich ebenso per se
evident wie der Satz „ein rundes Dreieck ist nicht", und
wenn wir ihn nicht so erkennen, so nur, weil uns die
ausreichende Vorstellung Gottes fehlt.
Es könnte allerdings einer zweifeln, ob auch dann der
an sich und unmittelbar notwendige Satz uns wirklich
unmittelbar einleuchten würde, weil es immer noch frag-
lich bliebe, ob unser Verstand denn auch die dazu aus-
reichende Urteilskraft besäße. Doch dürfte dieser Zweifel
in Anbetracht der Erhabenheit des verlangten Vor-
stellungsvermögens nicht wohl am Platze sein. Wer
immer einer so vollkommenen Vorstellung Gottes fähig
wäre, würde wohl auch der Kraft der Einsicht, die aus
ihr entspringt, nicht ermangeln. Nur das mag fraglich
bleiben, ob denn überhaupt ein anderes als das unend-
lich vollkommene Wesen selbst einer solchen Vorstellung
teilhaftig sein könnte. Doch dies sind femerliegende
Betrachtungen; für uns genügt hier die Feststellung, daß
aber nicht für uns apriorische Wahrheit 59

das „Gott ist" wirklich eine an und für sich unmittelbar


einleuchtende Wahrheit wäre für den, dem die adäquate
Vorstellung Gottes zu Gebote stünde.
Auch hierin enthält das ANSELMsche Argument also
etwas Tiefes und Wahres. Nur macht es die Beweise für
das Dasein Gottes nicht überflüssig, da vielmehr erst
mittels ihrer auch über die Richtigkeit dieser Behaup-
tung Aufschluß zu erhalten ist.
Zweite Voruntersuchung
Ob es von vornherein einleuchte, daß
sich das Dasein Gottes nicht beweisen
lasse 7
56. In schroffem Gegensatz zu der bisher besprochenen
Ansicht erklären es andere als von vornherein und vor
jedem Versuche einleuchtend, daß die Existenz Gottes
sich nicht beweisen lasse. Einige darum, weil es ein-
leuchte, daß Gott nicht sei, andere, weil die Natur des
Gegenstandes hier einen strengen Beweis ausschließe.
Diese Ansicht wird besonders häufig und mit den schein-
bareren Gründen vertreten, wir wollen aber jene zuerst
zu Worte kommen lassen, um vom Leichteren zum
Schwierigeren aufzusteigen.

1. Gründe, die es von vornherein ein1euchtend


machen soUen, daß Gott nicht sei
57. I. Argument. Der Gottesbegriff ist wider-
sprechend. Einern unendlich vollkommenen Wesen müßte
jegliche Vollkommenheit zukommen, das aber ist so
sicher unmöglich, als es sicher ist, daß unter den Voll-
kommenheiten, welche die Erfahrung uns an den Dingen
zeigt, solche sich finden, die zwar auf verschiedene
Gegenstände verteilt, nimmermehr aber in ein und dem-
selben Subjekte vereinigt sein können.
Dieses Argument lag schon THOMASVONAQUINOvor:
Opposita non posaunt esse in eodem
Sed perfectiones rerum sunt oppositae.
Cum ergo opposita non posaint aimul esse in eodem,
Ob das Unendliche Endliches ausschließt? 61

videtur, quod non omnes rerum perfectiones sind


in Deo.
Aber weder er noch ein anderer der großen Theisten
haben es stringent gefunden, und auch auf uns kann es
keinen Eindruck mehr machen, da sich die Widerlegung
ja schon im Zuge der Untersuchung über das ontologische
Argument ergeben hat: der Begriff „allreales Wesen"
widerspricht, aber er deckt sich nicht mit dem Gottes-
begriff.
58. 2. Argument. Wir verstehen unter Gott ein
Wesen, welches alle Vollkommenheit in sich schließt und
die Ursache des Seins und der Vollkommenheit aller
anderen Dinge ist.
Hiermit schreiben wir Gott alle Realität und Voll-
kommenheit zu und nehmen doch außer der seinen noch
Realität und Vollkommenheit an, was widerspricht. Hat
er alle Vollkommenheit, so bleibt für nichts anderes
mehr eine Vollkommenheit übrig. In dem unendlichen
Wesen müßte alles Endliche untergehen.
Antwort: Nicht das ist richtig, daß für etwas anderes
keinerlei Vollkommenheit übrig bliebe, sondern nur, ~aß
keine denkbar ist, die für ihn selbst ein Zuwachs von
Vollkommenheit wäre.
a) Eine Bewegung wird dadurch nicht langsamer, daß
etwas anderes sich ebenfalls bewegt. Und die Kopie
hebt von der Schönheit des Bildes nichts auf. Damit,
daß eines eine gewisse Vollkommenheit habe, ist nicht
ohne weiteres ausgeschlossen, daß auch ein anderes ihrer
teilhaftig sei. Das Argument erinnert an das Sophisma,
womit GoRGIAS die Mittelbarkeit der Erkenntnis be-
stritt: dieselbe Vorstellung könne nicht in beiden, dem
Redenden und Hörenden sich finden. (Als ob sie durch
die „Mitteilung" dem Mitteilenden entzogen würde!)
b) Übrigens hängt das Argument sichtlich mit der von
uns schon abgelehnten falschen Fassung des Gottes-
begriffes als Synthese aller denkbaren Realität und Voll-
kommenheit zusammen. Gott ist aber eben, wie immer,
62 Gottes Werk nicht unendlich

als unendlicher Wert, nicht als unendliche Summe und


Steigerung aller endlichen Werte zu denken.
ö9. 3. Argument. Der gewöhnlichste Beweisversuch
gegen die Existenz Gottes wird aus der Unvollkommen-
heit der Welt entnommen. Wir denken unter Gott die
unendlich vollkommene Ursache der Welt. Ein absurder
Gedanke! Das Werk eines Künstlers steht in Proportion
zu seiner Kunst. Das Werk des unendlichen Künstlers
müßte unendlich vollkommen sein. Die Welt aber, weit
davon entfernt, ist voll von Schlechtigkeit, Elend, Un-
ordnung.
Antwort: a) Die Forderung trifft in unserem Falle
nicht zu, denn ein unendlich vollkommenes Werk ist ein
Widerspruch. Für den unendlich vollkommenen Werk-
meister sind daher nicht unendlich vollkommene, son-
dern nur ins Unendliche vollkommenere Werke möglich.
Weder ein endliches noch ein unendlich vollkommenes
ist das Maß seiner Kraft. Aber dem Gedanken, daß er
ins Endlose immer vollkommenere und vollkommenere
schaffe, steht nichts im Wege.
Instanz: Wenn schon nicht unendlich vollkommen,
so müßte doch jedes seiner Werke wenigstens in seiner
Weise tadellos sein.
Antwort: b) Gewiß! aber ist unser Tadel auch be-
rechtigt? Dies wäre zu erweisen, und man irrt, wenn
man dies für eine leichte Sache hält. Es ist erstaunlich,
wie kindlich und oberflächlich die gewöhnlichen Tadler
verfahren. Nur aus der Erkenntnis der letzten Zwecke
und der letzten Dispositionen ließe sich die Zweckmäßig-
keit (vom Ziele) entfernterer Zustände beurteilen. Wenn
die Schöpfung ein Kunstwerk ist, so liegt der Zweck
wohl in dem Ganzen; wenn sie eine vernünftig geordnete
Entwicklung ist, im Ziele. Was wir erkennen, sind nur
entfernte Vorbereitungen, und wiederum von diesen nur
geringe Teile. Weder der Endzustand noch seine nächsten
Vorstufen, noch die Entfernung derselben von dem gegen-
wärtigen Entwicklungszustand, noch auch die augen-
aber an Vollkommenheit endlos wachsend 63

blickliche Lage der Welt ist in größerem Umfang uns


bekannt: ist es also nicht so gut wie sicher, daß wir das
Werk Gottes - wenn die Welt ein solches ist - in seinen
verschiedenen Beziehungen zuwenig kennen und ver-
stehen, um den Vorwurf von Unordnung und Unzweck-
mäßigkeit erheben zu dürfen 1
Wir werden später eingehender auf gewisse Vorwürfe
der Art zurückkommen und vielleicht dann inne werden,
daß nicht bloß in der Welt, als Ganzes genommen, keine
sichere Spur von Uno:;:-dnung und Unzweckmäßigkeit sich
zeigt, sondern sogar aus den Spuren von Ordnung, welche
uns begegnen - mit Sicherheit, wenn auch nur sehr in-
direkt -, zu erkennen ist, daß die Ordnung die best-
mögliche ist.
60. Hier nur noch eine Bemerkung, um Mißverständ-
nisse auszuschließen und einen schein baren Widerspruch
zu lösen.
a) Ich sagte, das Endziel sei der Maßstab für die
Schätzung der Mittel und vorbereitenden Zustände.
b) Ich sagte ferner, ein unendlich vollkommenes Werk
sei undenkbar. Das erste könnte den Schein erwecken,
als glaubte ich an ein Ende oder wenigstens an einen
Abschluß der Welt in bleibend vollendetem Zustande.
Das zweite könnte ein Widerspruch gegen die „best-
mögliche Ordnung" scheinen.
ad a) Demgegenüber erkläre ich, daß das erste keines-
wegs meine Meinung ist. Bei einer ins Unendliche fort-
gehenden Entwicklung würde das Ganze der Entwick-
lung als der letzte Zweck, d. h. als dasjenige zu betrachten
sein, um dessen willen die Teile sind, waren oder sein
werden.
ad b) Was das zweite betrifft, so muß man zwischen
eigentlichem und uneigentlichem Unendlichen unt'3r-
scheiden. Ein fertig unendliches Werk - das habe ich
schon zugegeben - ist widersprechend. Nicht wider-
sprechend aber ist ein auf Vervollkommnung ins Unend-
liche angelegte Werk, ein Werk, das ins Unendliche wächst.
64 Vom Übel in der Welt

Du sprichst: ,,Es muß die Welt die beste sein:


Das Beste wählt der Beste, wenn er schafft."
Ein andrer: ,,Nicht die beste ist sie, nein!
Sonst wäre sie das Maß von Gottes Kraft."
Doch hört ihr beiden, die ihr also streitet!
Ist denn die Welt1 - Nein! werdend überschreitet
Sie jedes Guten __
Maß, und, end,!os fern,
Strebt sie von Ahnlichkeit zu Ahnlichkeit
Z~m unerreichbar hohen Bild des Herrn.
Im Liichte dieser Auffassung aber ergibt sich als wahr-
scheinlich, daß die Entwicldung beim Unvollkommensten
anhebt. Aus je unvollkommeneren Anfängen sich das
Werk entfaltet, um so erhabener ist das Schauspiel dieser
Entwicklung. Gegen das, was folgen mag, und, wenn
ein Gott ist, folgen muß, erscheint aber auch die ganze
bisher abgelaufene Weltgeschichte nur wie ein schwacher
Auftakt eines unendlichen und unendlich erhabenen
Dramas. So gesehen, müssen dem Theisten die pessi-
mistischen Bedenken recht kleinlich, vorlaut und über-
eilt erscheinen. Wir sind an diesem Punkte noch weit
entfernt, für oder gegen den Theismus zu entscheiden,
aber das dürfen wir als Ergebnis der angestellten Be-
trachtungen schon festhalten, daß über Optimismus und
Pessimismus kein endgültiges Urteil zu gewinnen ist, so-
lange nicht die Gottesfrage selbst ihre Antwort ge-
funden hat.
61. 4. Argument. Das vorige Argumentmachtegel-
tend, daß in der Welt zuviel des Schlechten existiere, als
daß man sie als Werk eines unendlich vollkommenen
Wesens betrachten dürfte. Dagegen konnten die Theisten
ihre These nicht etwa dadurch schützen, daß sie be-
stritten, daß es wirklich Schlechtes in der Welt gebe.
Aber sie sagten, es sei nicht dargetan, daß das Schlechte
in der Welt das Gute überwiege. Das Schlechte in der
Welt stehe mit Gutem in gesetzlichem Zusammenhange,
und so erscheine mit Rücksicht auf die Vollkommenheit
und Güte des Ganzen die Zulassung des Schlechten im
Einzelnen gerechtfertigt.
Prinzip der .Ähnlichkeit von Ursache und Wirkung 65

Allein der Bestand des Schlechten in der Welt ist noch


in ganz anderer Weise als Argument gegen das Dasein
Gottes verwendet worden.
Das Schlechte in der Welt ist geworden. Indem es
ward, mußte es eine Ursache haben, und wenn ein Gott
existierte, so wäre es, wie alles andere, was verursacht
ist, auf ihn als erste Ursache zurückzuführen.
Nun macht aber jedes Wirkende das Gewirkte, inso-
weit es wirkt, sich ähnlich, ein Gesetz, das sich nicht nur
in der leblosen Natur (z.B. in den Erscheinungen, die
nach dem Gesetz der Trägheit verlaufen) zeigt, sondern
auch in der lebendigen (wo der Löwe Löwen, der Mensch
Menschen erzeugt), und wiederum in den Werken der
Kunst, die dem Bilde ähneln, das ihnen im Geiste des
Künstlers vorangegangen ist.
Da nun Gott der Schöpfer alles Seienden wäre, müßte
alles, soweit es am Sein teilhat, also auch das Schlechte,
ihm ähnlich sein, was sich aber mit der reinen und ab-
soluten Vollkommenheit Gottes nicht verträgt. Das
Schlechte steht zum Guten in dem Verhältnis einer nega-
tiven zu einer positiven Größe, so daß, wie das Bestehen
des Guten vorzüglicher ist als das Nichtbestehen von
Gutem und Schlechtem, das Nichtbestehen von Gutem
und Schlechtem vorzüglicher erscheint als das Bestehen
von Schlechtem. Ein solches Verhältnis erscheint mit
dem Gedanken, daß Gott etwas Schlechtes als Schlechtes
bewirkt habe, unvereinbar.
Antwort: Das Prinzip der Ähnlichkeit von Wirkendem
und Gewirktem, auf welches dieser Einwand sich stützt,
ist nicht erwiesen. Es ist weder a priori noch a posteriori
zu rechtfertigen. Was das letzte betrifft, würde die
inductio per enumerationem simplicem, ubi non reperitur
instantia contraria, wenn wirklich gegeben, nach den
Regeln der Logik nicht ausreichen. Sie ist aber nicht
gegeben, und zwar insbesondere nicht in den Fällen, in
welchen die Verursachung der Beobachtung unterliegt:
Prämissen und Schluß, Vorstellung und daraus ein-
66 Der Gottesglaube schließt

leuchtendes Prinzip, Wollen des Zwecks und Wahl des


Mittels, Vorstellen von Gutem und Besserem und Liebe
und Bevorzugung, die apodiktisch aus dieser Vorstellung
entspringt, sie stehen miteinander im Verhältnis von
·wirkendem und Gewirktem, aber man kann nicht sagen,
daß sie einander ähnlich seien. Dazu kommt, daß die
Ähnlichkeit, wo sie hervortritt, nicht immer gleich groß
ist. So setzt die Kreisbewegung nach dem Gesetz der
Trägheit sich in der Tangente fort. Die sich erhaltende
Bewegung verschiebt örtlich, während die sich erhal-
tende Ruhe größere Übereinstimmung der Wirkung mit
der Ursache zeigt. Noch weniger als in der Mechanik
findet sich das angebliche Gesetz auf dem biologischen
Gebiete bewährt. Freilich bringt Vogel den Vogel, Löwe
den Löwen hervor, aber die Entwicklungsgeschichte zeigt
die Genesis anderer aus anderen Arten. Auch bringt das
Bienenweibchen, vom Männchen befruchtet, Weibchen,
unbefruchtet dagegen die ihm unähnlicheren Männchen
hervor. Was endlich die sog. Ähnlichkeit zwischen dem
Kunstprodukte und dem Künstler anlangt, so ist sie
von ganz anderer Art als die zwischen erzeugtem und
zeugendem Organismus.
62. 5. Argument. In gewisser Weise den beiden vor-
hergegangenen entgegengesetzt, welche die Unordnung in
der \Velt urgierten, beruft sich ein fünftes auf die Regel-
mäßigkeit im Gange der Natur. Gewiß, ohne sie gäbe es
kein Wissen, keine menschliche Vorsehung. So bildet
sie clie Basis jedes Unternehmens, aber sie erscheint un-
vereinbar mit der Annahme eines allmächtigen Gottes.
Diese ließe im Gegenteil fortwährend willkürliche Eingriffe
in den Gang der Natur erwarten, welche alle Regelmäßig-
keit und damit alle Möglichkeit menschlicher Voraussicht
aufhöben. Emphatisch hat man gesagt: der Atheismus ist
das Interesse der Wissenschaft, die Annahme eines Gottes
unvereinbar mit der Erforschung der Naturgesetze.
Antwort: a) Keiner der großen Theisten älterer oder
neuerer Zeit hat eine solche Folgerung gezogen. Wir fin-
Wunderglauben nicht ein 67
den nichts davon bei ARISTOTELES,nichts bei DESCATRES,
LOCKE, LEIBNIZ, KANT. Sie dachten eben die Gottheit
nicht bloß frei und mächtig, sondern auch weise. Wie
wenig weise aber ein solches ~fahren wäre, zeigt die
Konsequenz, die daran geknüpft wird, und weshalb
schon gesagt wurde, daß dieser Einwand in gewisser Weise
den vorhergehenden entgegengesetzt erscheine. Das
Wahre in ihnen dient diesem zur Widerlegung.
b) So einleuchtend ist das, daß nicht nur die großen
theistischen Denker, sondern auch die vorgeschritteneren
Religionen die Folgerung ablehnen. Namentlich auch die
christliche. (Man müßte sie denn in den Zerrbildern be-
trachten, welche sie in dem abergläubischen Gehirn von
Ungebildeten oder Halbgebildeten erhält, wie sich deren
leider in allen Ständen finden können; das hieße aber
ihr unrecht tun.)
Ich sage, auch die christliche Volksreligion, wenn sie
die Möglichkeit und Wirklichkeit einzelner Wunder be-
hauptet, ist weit davon entfernt, es für möglich und mit
der Weisheit Gottes verträglich zu halten, daß er durch
fortwährende und willkürlich regellose Eingriffe die ganze
natürliche Ordnung der Dinge aufhebe und unkenntlich
mache. Sie sieht in der natürlichen Ordnung wie im
Wunder eine Offenbarung Gottes, was in einem solchen
Falle weder die eine noch die andere sein würde. Die
natürliche Ordnung nicht, denn sie wäre zerstört; das
Wunder nicht, denn es fehlte das Maß, woran man es
ermessen und als Abweichung bestimmen könnte.
Instanz: Man sagt: ,,Nun gut, wenn es einen Gott
gäbe, wären jedenfalls Wunder zu erwarten. Es ge-
schehen aber keine. Ich wenigstens habe keines in mei-
nem Leben erfahren, diejenigen aber, von welchen mir
hin und wieder berichtet wird, erscheinen mir wenig
glaubhaft. Sie müßten aber öfters vorkommen und jedem
in seinem Leben schon etliche begegnet sein."
Antwort: Ich muß auch dies als eine ganz unberech-
tigte Folgerung abweisen. Wenn es einen Gott gibt, so
68 Gottesglaube ohne Wunderglauben

folgt daraus weder, daß alles voll Wundern ist, noch daß
viele oder auch nur ein einziges vorkommen müßten.
Manche Theisten haben sogar aus teleologischen Er-
wägungen nachweisen zu können geglaubt, daß ein Wun-
der und überhaupt jeder unmittelbare Eingriff Gottes in
den Verlauf der Naturprozesse von vornherein unmög-
lich sei. Das war vielleicht ein zu kühner Schluß, und
seine Grundlagen scheinen zuwenig gesichert, als daß
einer der genannten großen theistischen Denker ihn ge-
zogen hätte. Aber alle, auch die vorzüglichsten unter
ihnen, trugen kein Bedenken, es als ein kosmologisches
Gesetz aufzustellen, daß es der Weisheit der Vorsehung
widerspreche, jemals durch eine unmittelbare Einwirkung
etwas hervorzubringen, was unter Vermittlung sekun-
därer Ursachen, also durch die in der Welt gegebenen
Kräfte, realisierbar sei. Zieht ein Forscher zur Erklärung
einer solchen Tatsache Gott herbei, so sagen sie, er habe
den Deus ex machina zitiert. ARISTOTELEShat diesen
Fehler an ANAXAGORAS, PASCALan DESCARTES,LEIBNIZ
an NEWTON gerügt.
Hiernach wird man ohne bedeutende Kenntnisse von
Zweck und Beschaffenheit der Welt gar nicht darüber
urteilen können, ob auch nur eine unmittelbare Ein-
wirkung Gottes in den Gang der Natur gefordert sei, und
daraus, daß keine zu merken ist, keinen Schluß gegen
<las Dasein Gottes ziehen können.
63. 6. Argument. Gott als unendlich vollkommenes
\Vesen wäre wirkend ohne Leiden zu denken, was gegen
<lasGesetz der Gleichheit von ·wirkung und Gegenwirkung
ist, das, zuerst in der Mechanik konstatiert, dann über
alle Gebiete in dem Maße, als sie der exakten Forschung
zugänglich wurden, Ausdehnung fand.
Antwort: a) Ist dieses „Gesetz der Gleichheit von Wir-
kung und Gegenwirkung" wirklich streng in seiner All-
ge'lleinheit erwiesen 1 Mancher wird Bedenken tragen,
dies zuzugeben. Das Argument sagt selbst: ,,in dem
Maße, als sie der exakten Forschung zugänglich wurden".
„Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung" 69

Sie sind es nicht alle in gleichem Maße; die Induktion


läßt also zu wünschen übrig.
Besonders merklich wird das Mangelhafte daran bei
der Berührung des psychischen Gebietes.
Eine unter den Naturforschern stark verbreitete An-
sicht läßt den physiologischen Prozeß das Substrat des
psychischen sein. Das Bewußtsein komme zu gewissen
Gehirnprozessen s. z. s. als ein :rmgeeyov, als ein Plus,
welchem kein Plus auf der Gegenseite entspricht, hinzu.
Anders fassen die Spiritualisten die Sache. Sie denken
sich jeden Bewußtseinsvorgang als ein Leiden, als Effekt
einer physischen Einwirkung auf die Seele und anderer-
seits wiederum körperliche Vorgänge (z. B. bei der will-
kürlichen Bewegung der Glieder) von psychischen bewirkt.
Hier wäre wohl eine Gegenwirkung durchweg annehmbar,
wenn auch vielleicht nicht streng erwiesen. Aber wäre es
auch eine Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung?
b) Was besagt dieses sog. Gesetz? Es besagt, daß Wirkung
und Gegenwirkung zueinander im Verhältnis der Massen
stehen. Wenn z.B. zwei Körper einander anziehen, von
denen der eine doppelt soviel Masse hat als der andere, so
zieht er doppelt so stark an, als er angezogen wird. Offenbar
kann aber diese Fassung des Gesetzes nur auf Körperliches
Anwendung finden, nicht aber auf die Wechselwirkung von
Geistigem unter sich oder von Geistigem mit Körperlichem.
Nur etwas Analoges könnte einer hier anzunehmen ver-
suchen. Das Argument der Induktion verwandelt sich
bei solcher µera.ßaot~ El~ a.Uo yevo~ in ein Argument der
Analogie, verliert aber dabei zuviel an Kraft, um noch
einen sicheren Stützpunkt zu bieten.
Und was soll die Analogie sein 1 Das Verhältnis der
Realität und Vollkommenheit des Seins? Wie ist dieses
beim Wirken eines Unendlichen auf Endliches? Wenn
die eine Wirkung endlich, müßte die andere !_ sein oder
vielmehr =0 (denn_!_ ist unmöglich). Also folg; von vorn-
""
herein das Gegenteil: man kann aus dem Gesetz der
70 Denken ohne Materie

Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung demon-


strieren, daß das Unendliche keine endliche, also gar
keine Rückwirkung erfahren wird.
Ist es doch auch nicht eigentlich die Gegenwirkung
eines Endlichen, sondern eines Nichts, da Gott die uni-
versale, totale, schöpferiche Ursache ist.
64. 7. Argument. Unter Gott denken wir einen
ewigen, schöpferischen Verstand, einen Verstand, der,
selbst ursachlos und frei von jeder Abhängigkeit, das
Ganze der Natur und Welt erst möglich macht. Aber
ein solcher Verstand ist unannehmbar. Jedes Denken
ist die Kehrseite eines physiologischen Phänomens, es
hat eine psychophysische Bewegung zur Grundlage. Ein
Gedanke, so einfach er scheinen mag, ist darum faktisch
etwas sehr Kompliziertes oder, genauer gesagt, etwas,
was sehr komplizierte Verhältnisse zur Voraussetzung hat.
So müßten wir denn auch das göttliche Denken von einer
psychophysischen Bewegung begleitet und als Ergebnis
oder die Kehrseite vollkommenster Organisation denken.
Kein menschliches Hirn, aber die ganze Weltordnung
etwa, müßte für es die Basis sein, wie denn faktisch die
Pantheisten Gott als Weltordnung zu fassen pflegten. Aber
sie taten es im Widerspruch mit dem Gottesbegriffe, denn
die Weltordnung könnte vielleicht irgendwie als Zweck
ihrer Teile, kann aber sicher nicht als ihre wirkende Ur-
sache gefaßt werden. Sie resultiert aus ihnen, weit entfernt
die Kraft zu sein, aus der alles quillt. Sie ist das Kom-
plizierteste des Komplizierten: Gott aber soll einfach sein.
Antwort: Sehr viele legen großes Gewicht auf den Ein-
wand. Er ist aber nichts anderes als ein grober Anthropo-
morphismus. Gewiß schöpfen wir den Begriff des Ver-
standes, den wir zum Aufbau des Gottesbegriffes ver-
wenden, aus unserer inneren Erfahrung. Indem wir ihn
hypothetisch zur Erklärung der Welt auf ihre erste Ur-
sache übertragen, nehmen wir aber durchaus nicht alles
und jedes mit in diese Hypothese auf, was wir in der be-
sonderen Erfahrung, die uns ihn bietet, damit verbunden
Gott reiner Geist 71
finden, sondern nur solche Elemente, die einen ent-
sprechenden Erklärungswert haben. Von anderen dürfen
wir abstrahieren, es wäre denn, daß es analytisch einleuch-
tete, daß ein Verstand überhaupt nicht ohne sie gedacht
werden könne. Dies ist aber in bezug auf die Abhängig-
keit von physischen Prozessen durchaus nicht einleuch-
tend, welche vielmehr bloß ein empirisches Datum ist.
Schon ARISTOTELESlag wesentlich dieselbe Schwierig-
keit vor. Das Denken ist ein Leiden, das Empfangen einer
Wirkung, durch welche das Vermögen zu denken wirk-
lich denkend wird. Wie kann also die erste Ursache ein
Denken sein 1
Seine Antwort lautete: Sie ist kein Verstand von der-
selben Art wie unserer, vielmehr etwas unsagbar Höheres.
Ein Verstand, der ohne Abhängigkeit tätig ist, der nicht
ein Vermögen des Denkens ist, welches erst in Wirklich-
keit überführt werden muß, sondern seiner Natur nach
wirkliches Denken 16 ).
Übrigens leidet das Argument, wie es vorgebracht
wurde und oft vorgebracht wird, auch noch an einer
gewissen Unklarheit und Ungenauigkeit. Das Psychische
wird als „Kehrseite" des physiologischen Prozesses be-
zeichnet. Das deutet auf ein Verhältnis der Korrelativi-
tät, etwa wie konkav zu konvex, was aber ganz und gar
nicht auf das Verhältnis zwischen Bewußtsein und Ge-
hirnprozeß paßt. Denn dieses, weit entfernt von der
analytischen Zusammengehörigkeit echter Korrelations-
begriffe, ist vielmehr ein sehr dunkles Verhältnis, das wir
besser mit allgemeinen Ausdrücken wie Abhängigkeit,
wenn nicht Wechselwirkung, bezeichnen würden und
auch oben gelegentlich so bezeichnet haben. Doch da
auch in dieser schärferen Fassung das Argument noch
wesentlich ebenso versucht werden könnte, lohnt es sich
hier nicht weiter, diesen Punkt zu urgieren. Der ent-
scheidende Fehler ist jener andere, der Anthropo-
morphismus, das Übersehen der Transzendenz des m
sich notwendigen, göttlichen Denkens als solchen.
72 Der radikale Skeptizismus

II. Argumente, welche darauf ausgehen, von vom•


herein zu zeigen, daß ein sicherer Beweis für das
Dasein Gottes nicht erbracht werden könne
65. Wir können diese Argumente in zwei Klassen
scheiden: die eine umfaßt solche allgemeiner Art, die
andere speziell dem Gegenstande angepaßte.

A. Skeptische Bedenken aUgemeilner Art


I. Der allgemeine Skeptizismus
Aus allgemeinen und allgemeinsten Gründen wird vor
allem der absolute Skeptizismus gegen den Beweis-
versuch protestieren. Doch ist es fraglich, ob dieser
Standpunkt von uns zu berücksichtigen sei.
a) Der gesunde Menschenverstand lehnt ihn ab. Unter
Ihnen dürfte kaum einer ihm zuneigen.
b) Auch geht seine Opposition gegen jeden Versuch
gleichmäßig. Es wäre inkonvenient, ihn überall zu be-
rücksichtigen; warum also hier 1
Indes mag es sich empfehlen, bei einer metaphysischen
Frage, zumal bei der vornehmsten der Metaphysik, doch
etwas dabei zu verweilen, weil der Metaphysik ja die
Aufgabe zufällt, sich mit der Skepsis auseinanderzusetzen.
Und wenn wenige davon beirrt werden, so genügen auch
wenige Worte.
a) Die absolute Skepsis ist falsch. Es gibt tatsäch-
lich voll.kommen sichere Urteile. Jede innere Wahr-
nehmung und jedes Axiom ist ein Beispiel davon.
b) Die absolute Skepsis ist inkonsequent. Sie müßte
sich selbst aufheben. Wenn nichts erkennbar ist, so auch
ihre eigene Wahrheit nicht. Sie gleichwohl behaupten,
heißt also, von sich selbst abfallen. Das einzige Mittel,
sich vor Widerspruch zu bewahren, ist dann, überhaupt
nichts zu behaupten, sondern „sich zu verhalten wie eine
Pflanze". (.ARISTOTELES.)
Die gemilderte universelle Skepsis 73

II. Die gemilderte Skepsis der neueren


Akademie
66. Es gibt noch einen andern Standpunkt allgemeinen
Zweifels, von dem aus man gegen unseren Versuch oppo-
nieren könnte. Es ist der der n:.ilderen Skepsis, wie ihn
im Altertum die neuere Akademie im Unterschiede vom
Pyrrhonismus vertrat: nirgends sei mehr als Wahr-
scheinlichkeit erreichbar.
Auch hier könnte es fraglich erscheinen, ob wir über-
haupt gut tun werden, ihn zu berücksichtigen. Verstößt
er weniger gegen den gesunden Menschenverstand und
zählt darum unter den Laien und unter den Philo-
sophen heute gar manchen Bekenner, so wird man im all-
meinen auch ganz zufrieden sein, wenn wir, falls er recht
hätte und wirklich überall nur Wahrscheinlichkeits-
beweise erreichbar wären, einen solchen auch in unserem
Falle erbrächten, so gut als überhaupt nur irgendwo
menschliche Beweise möglich sind.
a) Aber dennoch ist es nicht uninteressant, ob wir wirk-
lich von vornherein uns bescheiden und mit einer end-
lichen Probabilität zufrieden geben müssen.
b) Und wichtiger noch wird die Untersuchung, weil
es ziemlich naheliegt, daß, wenn überall nur Wahr-
scheinlichkeit, in unserem Falle eine sehr geringe zu
erhoffen wäre.
Weniges dürfte zur Verdeutlichung genügen.
Man hat schon früh ein Argument für das Dasein
Gottes daran geknüpft, daß tatsächlich etwas werde.
Man macht geltend, daß dieses Werden eine Ursache
habe, daß diese, wenn gleichfalls geworden, eine weitere
Ursache voraussetze, und daß wir so eine Kette von
Ursachen annehmen müßten, die - wie lange wir sie
auch fortgesetzt denken mögen - jedenfalls schließlich
zu einer ersten, ungewordenen Ursache hinführen, der wir
dann das Attribut ewig und-wie weiter ausgeführt wird
- andere göttliche Attribute nicht versagen könnten.
74 Die gemilderte universelle Skepsis

Ich will hier nicht untersuchen, ob dieser Beweis nicht


mit irgendwelchen besonderen Mängeln behaftet ist; aber
auch angenommen, er sei sonst tadelfrei, und wir stünden
nur auf dem Standpunkte jener milderen Skepsis, so
würde er schier jedes Übergewicht der Wahrscheinlich-
keit verlieren.
a) Schon die Tatsache, daß etwas werde, wäre nur
wahrscheinlich.
b) Und ebenso die Annahme, daß dieses Werden eine
Ursache verlange.
c) Dasselbe gälte aber dann wieder für das Werden
dieser Ursache selbst usf.
d) Die Wahrscheinlichkeitsbrüche müßten wir multi-
plizieren, und dies führte mit der Verlängerung der Kette
zu einer steten Abnahme der Zuversicht, daß nicht doch
einmal etwas ursachlos geworden sei. Somit verlöre alles
übrige seinen logischen Zusammenhang.
Ganz Ähnliches nun dürfte auch bei jedem anderen
Beweisversuch für das urerste göttliche Weltprinzip aus
Erfahrungstatsachen sich ergeben. Auf dem Stand-
punkte auch der milderen universellen Skepsis scheint es
also um jeden, auch nur wahrscheinlichen Gottesbeweis
geschehen.
67. Doch auch vom milderen Skeptizismus ist leicht zu
zeigen, daß er falsch ist, und daß er, konsequent durch-
geführt, sich selbst zerstört und in die absolute
Skepsis zurückfällt.
a) Durch den Hinweis auf zweifellos einleuchtende
Wahrheiten, wie den Satz des Widerspruchs.
b) Durch die Frage, ob nicht das wenigstens als sicher
gelten dürfe, daß etwas wahrscheinlich sei. Wenn es
bloß ein Sechstel Wahrscheinlichkeit hat, daß beim be-
vorstehenden Würfeln ein Auge obenauf zu liegen kom-
men werde, ist das Urteil, welches dieses Maß von Wahr-
scheinlichkeit ausspricht, auch bloß ein wahrschein-
liches? D. h. ist auch nicht einmal die Tatsache dieser
Wahrscheinlichkeit gesichert? Wer jede Sicherheit leug-
HUMEs Skeptizismus 75

net, wird auch sie nur als wahrscheinlich gelten lassen


dürfen, und so fort in infinitum. Eine unendliche Reihe
von Wahrscheinlichkeitsbrüchen, die miteinander zu
multiplizieren wären, ergäbe sich so, und damit wäre
alsbald jeder Vorzug der Wahrscheinlichkeit verwischt.
c) Nie ist die Erkenntnis, daß etwas wahrscheinlich
sei, unmittelbar. LAFLACEsagt, daß jedes Wahrschein-
lichkeitsurteil eine Zusammensetzung aus Wissen und
Unwissenheit darstelle. Und schon AuousTINUS be-
merkte, die Wahrscheinlichkeit habe ihr Maß an der
Wahrheit.
III. Die limitierte Skepsis DAVID HUMES
68. Ungleich wichtiger als diese Opposition auf Grund
universell skeptischer Ansichten ist diejenige, welche
seinerzeit DAVID HUME gegen die Möglichkeit eines
Gottesbeweises machte. Sie hat auch darum besondere
Bedeutung, weil durch sie und durch den Einfluß, wel-
chen sie auf KANT gewonnen hat, ein Umschwung in der
gewöhnlichen Meinung der Philosophen herbeigeführt
wurde. Vor ihm waren ein DESCARTES,MALEBRANCHE,
SPINOZA, LEIBNIZ wie ein BACON, LOCKE, BERKELEY,
ja selbst ein VOLTAIREeinig in der Überzeugung vom
Dasein Gottes. Mit HUME aber wird alsbald eine ent-
gegengesetzte Strömung mächtig.
HuME ist Skeptiker, aber er ist es nicht universell. Er
erkennt Axiome vom Charakter des Satzes des Widerspruchs
an und rechnet dazu alle Grundsätze der Mathematik
und alle Gesetze syllogistischer Beweisführung. Er er-
kennt ebenso auch evidente Wahrnehmungen an und
verhält sich sogar gegenüber dem Vertrauen, welches
das Gedächtnis fordert, nicht eigentlich ablehnend.
Skeptiker ist er nur in einem Punkte, der freilich von
sehr allgemeiner Tragweite ist: bezüglich des Schlusses
auf irgendeine Tatsache, die wir nicht unmittelbar er-
fahren. Und darum schon, aber auch aus besonders gra-
vierenden Gründen hält er jeden Schluß auf eine tran-
76 HUMI!lll Skeptizismus

szendente Tatsache - wie das Dasein Gottes - für


unvernünftig und logisch unstatthaft.
Folgender ist im wesentlichen der Gang seiner Ideen:
Außer den Tatsachen, von welchen wir unmittelbare
Kenntnis haben, pflegen wir andere anzunehmen, indem
wir sie erschließen. Wann tun wir dies, und wodurch
glauben wir uns dazu berechtigt 1
Wir stützen uns auf Kausalverhältnisse, vermöge
deren mit den schon bekannten Tatsachen andere als
Ursachen oder Wirkungen verknüpft seien. Es kommt
nun alles darauf an, ob wir hier logisch richtig verfahren.
a) Vor allem erscheint es nötig, den Begriff der Ur-
sache zu klären. Aus welcher Impression ist er gewon-
nen 1 Die Frage setzt in eine Verlegenheit, aus der HuME
nur den Ausweg findet, anzunehmen, daß der fragliche
Begriff aus einer Vielheit von Eindrücken zusammen ge-
wonnen sei. Die Ursache ist, meint er, das regelmäßige
Antezedens, an welches die Erwartung sich knüpft, daß
das Konsequens eintreten werde.
b) Ist diese Erwartung vernünftig 1 Worauf stützt sie
sich 1 Auf die bisher gemachten Erfahrungen. Sehen wir,
ob dieser Schluß gerechtfertigt ist. Nach den Gesetzen
der Logik ist er es dann, wenn die Prämissen ihn fordern,
d. h. involvieren. Er darf nicht mehr sagen, als was
in den Prämissen enthalten ist. Er sagt aber offenbar
mehr, scheint also unrichtig.
c) Aber, sagt man zu seiner Verteidigung, alle Men-
schen schließen doch so, und die Erfahrung bestätigt diese
Schlüsse.
Die Erfahrung bestätigt sie 1 wirft HUME ein; wa.s
bestätigt die Erfahrung 1 Daß man der Erfahrung ver-
trauen dürfe 1 - Ein offenbares idem per idem ! Wenn
aber tatsächlich alle Menschen so schließen, so mag dies
zeigen, daß ihnen dies natürlich, nicht aber daß es ver-
nünftig ist. Sie lassen sich nicht von der Stimme der
Vernunft, sondern vom Triebe der Gewohnheit leiten,
nicht anders als auch die Tiere. Vor dem Richterstuhle
KANTS Opposition gegen Huiui: 77
der Vernunft kann der Schluß nicht bestehen. Jeder
Schluß auf eine Erfahrungstatsache ist logisch unbe-
rechtigt. Und damit fällt jede Möglichkeit der Erkennt-
nis eines Kausalgesetzes, und alle empirische Wissen-
schaft, wie Physik u. a. wird unmöglich.
Wenn nun aber in dieser Weise jeder Schluß auf eine
Ursache oder Wirkung verweiflich erscheint, so in ganz
besonderem Maße jeder transzendente Schluß als unver-
nünftig nicht bloß, sondern auch unnatürlich, da die
Erfahrung fehlt und die betreffende Gewohnheit sich nicht
bilden konnte. Und darum ist denn auch insbesondere
jeder Schluß auf das Dasein Gottes ausgeschlossen.
So HuME. Wir sehen, es bleibt genug, um ihn einen
Skeptiker zu nennen.
IV. Der transzendentale Idealismus KANTS
69. Dieser Skeptizismus HuMEB hat sehr nachhaltig
gewirkt und sofort eine mächtige Bewegung hervor-
gerufen. Insbesondere wurde KANT dadurch angeregt.
In seiner berühmten „Kritik der reinen Vernunft" zeigt
er sich bemüht, die Wissenschaft im weitesten Umfange
vor solchen Angriffen zu retten; aber der Beifall, den
dieses Werk fand, trug nicht dazu bei, das Vertrauen
auf die Gottesbeweise zu beleben.
Nur das Wissen von Erfahrungsgegenständen glaubt
er sichern zu können, jeden Schluß auf etwas Transzen-
dentes aber gibt er preis. Und gerade dies mußte nun
den Glauben festigen, daß ein Gottesbeweis unmöglich
sei, da man den Skeptiker und den Bekämpfer der Skep-
sis in diesem Stücke einig fand.
Sehen wir, ehe wir zu HuME Stellung nehmen, wie
KANT dazu kam, bei der Bekämpfung des Skeptizismus
selbst der Erkenntnis solche Schranken zu ziehen! Es
hing dies mit dem eigentümlichen Mittel zusammen, des-
sen er sich bei der Abwehr HUMEB bediente. HUME
hatte die unmittelbare Erkenntnis gewisser Tatsachen
und außerdem Axiome vom Charakter des Satzes der
78 KANTS Synthesis s. priori

Identität oder des Widerspruches zugestanden, und den-


noch den Gedanken durchzuführen gesucht, daß die
wichtigsten Gebiete der Forschung, namentlich die ganze
Naturwissenschaft, ungangbar seien.
KA~T, wie er überhaupt HuMEs Scharfsinn bewunderte,
zweifelt nicht, daß es unmöglich sei, dieser Konsequenz
zu entgehen - wenn wir nicht außer jenen Axiomen, die
er analytische Erkenntnisse a priori nennt, noch
andere von der Erfahrung unabhängige Erkenntnisse, die
im Unterschiede von jenen analytischen synthetische
Erkenntnisse a priori zu nennen wären, besäßen.
In Wahrheit glaubte er solche in sich vorzufinden. So die
mathematischen Axiome, z. B. den Satz der Geometrie,
daß die gerade Linie die kürzeste zwischen zwei Punkten
sei. HUME hatte diese gelten lassen, aber als analytische
Sätze angesehen. KANT fand, daß er darin irrte. Analy-
tisch ist wohl der Satz „Die gerade Linie ist gerade" oder
„Die gerade Linie ist eine Linie", weil hier das Prädikat
im Subjekte enthalten ist. Nicht aber ist dies der Fall
im Satze „Die gerade Linie ist die kürzeste zwischen zwei
Punkten''.
Solche synthetische Erkenntnisse a priori meinte KANT
auch noch außerhalb der Mathematik zu finden, so z.B.
das Gesetz der Kausalität oder den Satz, daß allem Wer-
den ein Bleibendes zugrunde liege usf. Indem er nun
auf diese Weise die Basis erweiterte, glaubte er ein für
den Bau der Wissenschaften ausreichendes Fundament
zu besitzen.
70. Aber die so eingeführten synthetischen Erkennt-
nisse a priori kamen ihm selbst befremdlich vor. Es
schien ihm schwer begreiflich, wie sie überhaupt mög-
lich seien. Eine analytische Erkenntnis a priori -
z.B. das Urteil „Ein Dreieck ist eine Figur" - schien
ihm selbstverständlich möglich; denn hier sei ja das
Prädikat im Subjekte enthalten und bringe nichts Neues
zu ihm hinzu. Es sei nur eine Erläuterung, keine Erwei-
terung der Erkenntnis. Dagegen komme im syntheti-
Wie sind synthetische Erkenntnisse 11, priori möglich? 79

sehen Urteile das Prädikat als etwas absolut Neues zum


Subjekte hinzu. Es liege nicht im Subjekte; wie sollte
man also von vornherein wissen, daß es immer mit ihm
verbunden sich finde, und daß das Urteil richtig sei 1
71. Indem er nun vor dieser Schwierigkeit stand, kam
ihm ein Gedanke, der ihm kühn wie der Gedanke des
KOPERNIKUS, aber ebenso segenverheißend schien.
Eine synthetische Erkenntnis a priori, sagte er sich,
ist faktisch unmöglich, wenn wir - wie man es bisher
tat - voraussetzen, daß unsere Erkenntnis sich nach den
Dingen richten müsse. Nehmen wir einmal das Gegen-
teil an! Nehmen wir an, die Dinge täten uns den Ge-
fallen und richteten sich nach unserer Erkenntnis -
gewiß werden dann die synthetischen Erkenntnisse
a priori sich eher als möglich ergeben. Denn die synthe-
tischen Urteile, welche vermöge der Eigenheit unseres
Erkenntnisvermögens von vornherein etwa in uns fest-
stehen, werden dann auch für die Natur der Gegenstände
selbst bestimmende Gesetze werden.
72. Aber, werden Sie vielleicht fragen, ist diese kühne
Annahme KANTS nicht geradezu tollkühn? Wo gibt es
denn Gegenstände, die sich nach unserer Erkenntnis
richten?
Da, wo es Gegenstände gibt, welche Produkte unseres
Erkenntnisvermögens sind, antwortet KANT und weist
hin auf das ganze Gebiet unserer Phänomene. Sie sind
das Produkt zweier Faktoren, eines objektiven und eines
subjektiven. Das Ding an sich wirkt auf unser Erkennt-
nisvermögen, und so wird das Phänomen erzeugt. Es ist
durch die Subjektivität unseres Erkenntnisvermögens
wesentlich bestimmt und sozusagen geformt, eben darum
aber kein eigentliches Bild des Dinges an sich, welches es
veranlaßt.
Unser Erkenntnisvermögen ist aber zweifach: Sinn-
lichkeit, d. h. das Vermögen der Anschauungen, und
Verstand, das Vermögen zu Urteilen und allgemeinen
Begriffen.
80 Reine Anschauung und Kategorien

Die Sinnlichkeit ist wieder zweifach: äußere Wahr-


nehmung und innere Wahrnehmung.
Die Ans~hauungsvermögen bringen die Einwirkung des
Dinges an sich in die subjektiven apriorischen Formen
von Raum und Zeit. Der Verstand prägt ihr dann noch
subjektive Begrüfsformen, seine apriorischen Katego-
rien auf: Quantität, Qualität, Relation und Modalität,
von denen jede eine Trias von Begriffen umfaßt. Wir
bekommen so zwölf Stammbegriffe des reinen Ver-
standes. Die Kategorien entsprechen .den Momenten,
welche die Logik bei der Einstellung der Urteile geltend
zu machen pflegt.

Urteils- Arten des Kategorien:


formen: Urteilens:
Quantität allgemeine Allheit
besondere Vielheit
einzelne Einheit
Qualität bejahende Realität
verneinende Negation
unendliche Limitation
Relation kategorische Inhärenz und Subsistenz
hypothetische Kausalität und Dependenz
disjunktive Gemeinschaft (Wechsel-
wirkung zwischen dem
Handelnden u. Leidenden)
Modalität problematische Möglichkeit-Unmöglichkeit
assertorische Dasein-Nichtsein
apodiktische Notwendigkeit-Zufälligkeit

So richten sich nach unseren apriorischen, synthe-


tischen Denkgesetzen alle Phänomene, d. h. alle Gegen-
stände möglicher Erfahrung. Fragen wir nun aber weiter,
wie es denn mit solchen Gegenständen stehe, welche nicht
Phänomene, nicht Gegenstände möglicher Erfahrung
sind, mit den Dingen an sich. \Verden auch sie unseren
synthetischen Gesetzen a priori entsprechen? KANT ant-
wortet mit einem entschiedenen Nein! Und so kommt
„Unerkennbarkeit des Transzendenten" 81

er denn dazu, für unsere synthetischen Erkenntnisse


a priori eine Grenze der Gültigkeit zu statuieren. Was
innerhalb des Gebietes möglicher Erfahrung liegt, darauf
haben sie Anwendung, was aber dieses Gebiet über-
schreitet, was transzendent ist, dafür gelte sie nicht
mehr.
73. Die Folgen dieser Restriktion sind leicht erkennbar.
Da die synthetischen Erkenntnisse a priori die Wissen-
schaft erst möglich machen, so gibt es nur ein Wissen
von Gegenständen, für welche sie Geltung haben. Also
ist alle unsere Wissenschaft auf Gegenstände möglicher
Erfahrung beschränkt. Die Mathematik, die Natur-
wissenschaft sind gerettet, freilich nicht als Wissenschaf-
ten von Dingen an sich, sondern von unseren Phänomenen.
Eine Erkenntnis transzendenter Wesen, insbesondere eine
Erkenntnis des Daseins Gottes - darin gibt er HuME
Recht - ist dagegen vollständig ausgeschlossen. Wie
das ontologische Argument verwerflich war, so sind es
auch alle Argumente, welche Gott als Ursache der Welt
erschließen wollen, denn das apriorische Prinzip der
Kausalität verliert hier, bei der transzendenten Frage,
seine Anwendbarkeit.
Das also ist, kurzgedrängt, die Weise, wie KANT sich
zu HUMES Skeptizismus stellte. Wir sehen: wenn wir
seine berühmte Lehre uns zu eigen machen, so wird
damit für unseren Fall nicht das geringste geändert. Wir
mögen HUME, wir mögen KANT folgen, das Dasein Gottes
erscheint gleichmäßig unerweisbar.
Kritik der Lehre KANTs 17 )

74. Die Bekämpfung der HuMEschen Skepsis durch


KANT bringt uns in unserer Lage keine Hilfe. Die synthe-
tischen Erkenntnisse a priori, mit welchen er die Wissen-
schaft im allgemeinen retten will, haben, wie er selbst
zugesteht, für unsere Frage keine Kraft und Geltung.
Und wenn er diese Beschränkung nicht machte, so würde
uns dennoch nicht geholfen sein, denn der ganze Weg,
82 Synthetische Erkenntnis a. priori gibt es nicht

den KANT einschlägt, um HUMEs Zweifel zu entrinnen,


ist eine Verirrung. Synthetische Erkenntnisse a priori,
so gewiß auch KANT sie zu besitzen glaubte, kommen in
unserem ganzen Erkenntnisschatze nicht vor.
Den Hörern meiner Vorlesungen über „Praktische
Philosophie" wird diese Erklärung nicht überraschend
kommen. Manchen andern mag sie aber wohl befremden.
Keine synthetischen Erkenntnisse a priori 1 Was bleibt
denn dann von der ganzen „Kritik der reinen Vernunft"
übrig, um derentwillen man KANT den ARISTOTELESder
modernen Zeit, den Neubegründer der Philosophie, ihren
Reformator nach Inhalt und Methode genannt hat und
ihn als den wesentlichen Wendepunkt ihrer Geschichte
betrachtet 1 Man sollte meinen, so gut wie nichts. Lautet
doch die Grundfrage dieser ganzen Philosophie: ,,Wie sind
synthetische Erkenntnisse a priori möglich 1" Indem ich
mich anschicke, hierauf zu erwidern, gestehe ich, daß ich
mich in Verlegenheit finde. Nicht als ob ich nicht wüßte,
was ich der Wahrheit nach zu sagen hätte, sondern weil
ich nicht weiß, wie ich bei der mir gebotenen Kürze die
Wahrheit Ihnen genugsam glaublich machen soll. Sie
sind junge Leute, denen die geltende öffentliche Meinung
um so natürlicher mächtig imponiert, als Sie ihr kein
Gegengewicht in langjährigen eigenen Studien zu ver-
schaffen vermochten. Auch hören Sie nicht bloß die
Journalistik KANTS Ruhm ausposaunen, Sie finden auch,
daß ALBERTLANGE ihn vor allen feiert, und daß große
Naturforscher wie HELMHOLTZihm den Tribut ihrer
Huldigung zollen; Sie lesen seinen Namen als einen der
verdientesten auf den Mauern unserer Universität; Sie
haben sein Hauptwerk auch wohl einmal aufgeschlagen
und, vielleicht mit dem Bewußtsein, daß Sie nicht viel
davon verstünden, aber nur mit um so größerem Respekt
wieder geschlossen. Was muß es Ihnen nun zunächst
für einen Eindruck machen, wenn ich Ihnen sage, was
andere, die es bereits ebensogut einsehen, gewöhnlich zu
sagen sich scheuen: daß KANT der große Reformator
Urteil über KANT 83
nicht war; daß er nicht eine strenge und wahrhaft frucht-
bare Methode, sondern eine Methode der Willkür in die
Philosophie eingeführt hat, welche ihn und andere zu
den unberechtigsten Konstruktionen verleitete; daß er in
der Psychologie ein sehr unvollkommener Beobachter
war; daß er in der Ethik mit seinem imaginären kate-
gorischen Imperativ die Eingangspforte selbst ver-
fehlte; daß er die Logik, ihren Zweck verkennend, zur
sogenannten formalen Logik verkümmern und in so rudi-
mentärer Gestalt für ihre wesentlichsten Funktionen un-
brauchbar werden ließ, und daß er in der Kritik der
reinen Vernunft selbst ein Gebäude aufgeführt hat, das
so wenig festgefügt ist, daß die Voraussetzung, auf der das
Ganze ruht, selbst eine lliusion ist?
An Widersprüchen und Unklarheiten im einzelnen ist
das berühmte Werk auch nicht arm. Durch Klarheit
war KANT überhaupt nicht ausgezeichnet; darin war
ihm HUME entschieden überlegen.
75. Wenn kein ebenso klarer, war KANT aber doch ein
ebenso mächtiger, ja ein mächtigerer Geist als HUME. Er
hat seine ganze Zeit, ja sein ganzes Jahrhundert mit sich
fortgerissen und so Epoche gemacht wie kaum ein
anderer, womit freilich nicht gesagt ist, daß die von ihm
eingeleitete Epoche in der Philosophie eine solche wahren
Fortschrittes gewesen sei.
Es gibt, sagt LEWES, Schriftsteller der Macht und
Schriftsteller der Wahrheit. Lassen wir diese Scheidung
gelten, so ist KANT viel mehr jenen ersten als diesen bei-
zuzählen, wie denn entschieden auch von HEGEL -
welchen LEWES bei der Scheidung im Auge hat - das-
selbe gesagt werden muß. SCHOPENHAUER hat sich frei-
lich nicht gescheut, ihn einen frechen Unsinnschmierer
zu nennen. Ich möchte so unhöflich nicht sein und ihn
lieber einen grandiosen Maler des Widersinns und einen
genialen Architekten wissenschaftlicher Willkür nennen.
Denn so verfehlt das ganze HEGELsche System nach
Inhalt und Methode ist, so gewiß verwendete er und ver-
84 KANTS Stellung

schwendete er in seiner Konstruktion eine hervor-


ragende Kraft. Vor wenigen Dezennien noch wäre die
Welt auch über ein solches Urteil erstaunt und entrüstet
gewesen; heute ist alles über die wissenschaftliche Un-
haltbarkeit aufgeklärt und eine viel wegwerfendere Kri-
tik gewöhnt1 8 ). Bei KANT ist das noch anders, aber die
Tatsache, daß die öffentliche Meinung sich bei HEGEL so
schwer verirren konnte, dürfte doch auch hier eine Auf-
lehnung nicht mehr ohne weiteres als allzu stolze Unab-
hängigkeit eigenen Urteils erscheinen lassen. Sie ist in
der Philosophie heute mehr als irgendwo unbedingt ge-
fordert. Zum vernünftigen Glauben ist die Zeit nicht
reif 19).
Ich möchte aber der Autorität der verbreiteten Mei-
nung gegenüber noch auf ein paar geschichtliche Mo-
mente hinweisen, welche dazu dienen mög,en, sie noch
mehr verdächtig erscheinen zu lassen.
76. Die Verehrer KANTS nehmen keinen Anstand, in
ihm den ARISTOTELESder Neuzeit zu sehen. Aber eine
unbefangene geschichtliche Betrachtung zeigt ihn in ganz
anderem Lichte. Weder, was auf ihn folgt, noch was
ihm vorangeht, noch was er selbst lehrt, gibt ihm irgend-
wie eine Stellung, wie sie der große Stagirite im Alter-
tume eingenommen hat.
a) HERBARTsagt, KANT habe wohl einen Funkenge-
schlagen, an dem man ein Licht hätte anzünden können,
aber sein Erbe sei in die Hände eines taumelnden Ge-
schlechtes gefallen. Er gesteht damit - offenbar im
Hinblick auf die Systembauten der FICJ.:ITE,ScHELLING,
HEGEL - zu, daß sofort nach KANT alles a..ußer Rand
und Band geriet. Ist das glaublich, wenn dieser wirklich
der Entdecker richtiger Methoden und Prinzipien ge-
wesen sein soll 1 Wo hätte die Geschichte der Wissen-
schaft dafür ein zweites Beispiel 1 Es ist dabei nämlich
wohl zu beachten, daß die Nachfolger alle an ihn an-
knüpften, nicht etwa ihn verkennend von ihm sich ab-
wandten. Woher also dieses plötzliche Taumeln 1 Es
in der Geschichte der Philosophie 85
scheint eben, daß sich in seiner Philosophie eine Pan-
dorabüchse öffnete.
b) Noch deutlicher wird seine Stellung im Ganzen
der neueren Philosophie durch die Erscheinungen charak-
terisiert, die ihm voraufgingen, besonders wenn man dabei
auf gewisse Analogien achtet, die der Verlauf der Geschichte
der Philosophie in ihren drei großen Perioden, welche die
abendländische Forschung unterscheiden läßt, aufweist 20 ).
Sie zeigt uns im Altertume, Mittelalter und in der Neu-
zeit nach einer Zeit aufsteigender Entwicklung jedesmal
Perioden des Verfalls und scheint in solchem Wechsel
von Aufstieg und Abstieg mehr den schönen Künsten
als den andern Wissenschaften verwandt. Dieser Ver-
fall ist ein allgemeiner und folgt einem erkennbaren Ge-
setz. Er setzt immer mit einer Abnahme oder Trübung
des wissenschaftlichen Interesses ein, wodurch die Philo-
sophie verflacht und den Charakter strenger Forschung
verliert. Sie wird zu einer autoritätsgläubigen Schul-
oder zu einer oberflächlichen Popularphilosophie, die das
erste Stadium des Verfalles bilden. Diese Wendung
fordert früher oder später das Mißtrauen der selbstän-
digeren Denker heraus und löst - wie in der Politik die
Herrschaft rechtloser Willkür eine ordnungsfeindliche
Anarchie - eine skeptische Reaktion aus, die alle ver-
nünftigen Grundlagen unserer Überzeugungen erschüt-
tert -, das zweite Stadium des Verfalles. Aber die
Skepsis kann den Menschen nicht befriedigen. Er hat
einen natürlichen Drang nach dem Wissen, und dieser
steigert sich nach der skeptischen Fastenzeit zu einem
krankhaften Heißhunger. Es kommt zu einer Reaktion
gegen den Skeptizismus, die jedes Maß überschreitet.
Unvermittelt oder im Gefolge einer Gedankenverbindung,
die keine vernünftige Vermittlung zu nennen ist, treten
die kühnsten Behauptungen auf den Plan. Zu den unnah-
barsten Höhen wähnt man sich aufschwingen zu können,
ja glaubt sie schon erreicht, indes in Wahrheit die wei-
testen Lücken der Erkenntnis mit den willkürlichsten
86 Die vier Phe.sen der Philosophie

Annahmen ausgefüllt werden. Hiermit ist das dritte


und äußerste Stadium des Verfalles erreicht. Der Gegen-
satz zu den bescheidenen, aber gesunden Anfängen ist
der ausgesprochenste. Man meint, alles zu wissen, und
weiß nichts; denn man weiß nicht einmal das eine, was
man beim Beginne der Periode gewußt und schmerzlich
sehnend gefühlt hatte - nämlich, daß man nichts weiß.
77. Im Altertume erreichte die Philosophie auf griechi-
schem Boden ihren Gipfel in ARISTOTELES.Bald nach
ihm senkt sich ihr Weg immer deutlicher abwärts, vor-
nehmlich, weil praktische Interessen das Übergewicht
über den reinen Wissenstrieb erlangten. Das ganze
griechische Leben war damals in einem Zustande der
Auflösung. Der Glaube an die Volksreligion war dahin,
und auch die Autorität der altüberlieferten staatlichen
Einrichtungen war gebrochen. Da wurde die Philosophie
als. Nothelferin angerufen. Die STOA und der EPIKU-
REISMUSmit ihrem einseitigen praktischen Charakter sind
die beiden Schulen, welche dieses erste Stadium des Ver-
falles im Altertum vertreten.
Im Mittelalter tritt alsbald nach dem großen Kirchen-
lehrer THOMASVONAQUINOein analoges Verfallsstadium
ein in der Zeit des Schulstreites der Dominikaner und
Franziskaner, wo die Autorität der Ordenslehrer THOMAS
und DuNs ScoTus zum Regulativ der Forschung wurde,
wo jeder Dominikaner auf jenen, jeder Franziskaner auf
diesen schwor, und Rechthaberei an Stelle der Wahrheits-
liebe, endloses Disputieren und ungeheuerliches Distin-
guieren an die Stelle fruchtbarer Forschung trat.
In der Neuzeit verflachte und verwässerte die großen
Leistungen der echten Träger wissenschaftlichen Fort-
schrittes, eines DESCARTES,LOCKE, LEIBNIZ, die unter
dem Namen „Aufklärungsphilosophie" bekannte Phase
der Popularphilosophie in England, Frankreich, Deutsch-
land. Und jedesmal führt die weitere Entwicklung zur
Skepsis : im Altertum im PYRRHONISMUSund in der
minder folgerichtigen, gemäßigteren Skepsis der neueren
Surrogatphilosophien 87
Akademiker und Eklektiker, im Mittelalter zum NOMINA-
LISMUSund in der Neuzeit zu der von uns bereits näher
betrachteten Erkenntnislehre Hu11rns, allemal die natür-
lichen Grundlagen des Erkennens aufwühlend und er-
schütternd, und überall zu einer extremen Reaktion, sei
es mystischen Überschwangs, sei es entfesselter Kon-
struktionslust führend: bei den griechischen NEUPLA-
TONIKERNund NEUPYTHAGOREERN,in der mittelalter-
lichen Mystik eines Meisters EcKHARDT, eines JOHANNES
TAULER, eines HEINRICH Suso, in den Künsteleien der
LuLLischen Denkmechanik und in der „Spekulation"
und „Intuition" des NIKOLAUSCusANUS, die als „docta
ignorantia" alle Erfahrung und alle Wege gemeiner Logik
kühn zu überfliegen sich anmaßt.
Was in Deutschland mit KANT einsetzte und dann
bis zum Zusammenbruch des Hegelianismus die Vor-
herrschaft innehatte, ist wesentlich analog den ent-
sprechenden vierten Phasen der beiden vorausgegangenen
Perioden. Es ist eine als Reaktion gegen die Skepsis ein-
setzende Surrogatphilosophie mit der Tendenz, zu den
von dieser beanstandeten oder in ihrer Bedeutung herab-
gesetzten Erkenntnismitteln neuartige hinzuzufügen.
78. Unter diesen Surrogatmitteln treten manche mit
dem Anspruch auf, im Rang höher zu stehen als die
natürliche Erkenntnisweise durch ,vahrnehmung, De-
duktion und Induktion: so die Ekstasen und übernatür-
lichen Erleuchtungen der Neuplatoniker, die „docta
ignorantia" des Cusaners, die vom Heiligen Geiste in-
spirierte Lullische Kunst. Wenn man an die Verachtung,
welche die deutschen .idealistischen Philosophen nach
KANT gegen die „gemeine Erfahrung" an den Tag legten
und an die „intellektuelle Anschauung" ScHELLINGs
denkt, die dem Begnadeten gegeben sein soll, aber keinem
andern gelehrt werden kann, so hat man an ihnen solche
Surrogate überschwenglichen Charakters.
Anderer, bescheidenerer Art sind die Ersatzmittel,
deren sich der Führer der antiskeptischen Reaktion in
88 Synthetische Urteile a. priori

England, THOMAS REID, bedienen wollte. Man möchte


sie Lückenbüßer für echtes Erkennen nennen, denn sie
stehen offenbar im Range unter diesem. Statt auf evi-
dente Prinzipien rekurriert nämlich diese sog. Common-
sense-Philosophie auf blinde Urteilsinstinkte, die allen
Menschen von Natur aus gemeinsam seien und auf die
wir uns verlassen müßten, obwohl bei ihnen nicht ebenso
wie bei eigentlicher Evidenz eine Täuschung ausge-
schlossen ist. Zu diesen natürlichen Glaubensneigungen
des gesunden Menschenverstandes treten dann ergänzend
noch Willensdiktate, die unsere Überzeugungen beein-
flussen.
Beide Arten von Lückenbüßern bilden nun das Um
und Auf dessen, was KANT als Abwehrmittel gegen die
Skepsis zu bieten hat, jene in der Form seiner synthe-
tischen Erkenntnisse a priori, diese in der Gestalt seiner
Postulate der praktischen Vernunft.
79. Diese allgemeinen Betrachtungen waren kaum zu
umgehen, um Ihnen das verwerfende Urteil, das ich über
KANTS Lehre und seinen Versuch, der Skepsis HuMEB
entgegenzutreten, fällen muß, minder paradox erscheinen
zu lassen. Wenden wir uns jetzt, um es vollends zu recht-
fertigen, zur Kritik seiner Lehre von den synthetischen
Erkenntnissen a priori und seines Versuches, auf sie ge-
stützt, die Wissenschaft H UME gegenüber zu retten, zurück.
Ich legte Ihnen zunächst die Voraussetzungen dar, die
ihn zu der Überzeugung geführt haben, daß alle Erkennt-
nis neuer allgemeiner und notwendiger Gesetze nur durch
synthetische Sätze a priori zu gewinnen sei. Würde sie
als irrtümlich sich erweisen, so schwände mit ihr das ganze
Fundament der Kritik der reinen Vernunft dahin. Auch
seine Le!u-e von den apriorischen Anschauungen und all-
gemeinen Begrüfen, welche wir unabhängig von der Ein-
wirkung der Dinge an sich besitzen sollen, lernten wir
kennen. Endlich hörten wir von den Schranken, welche er
der Erkenntnis setzt. Kein Ding an sich soll erkennbar,
nur phänomenale Wahrheit erreichbar sein, und keine
sind als ErkenntniBBe unmöglich 89

transzendente Tatsache, d. i. nichts, was nicht Gegen-


stand möglicher Erfahrung ist, erschlossen werden
können.
Diese ganze Lehre ist vom Fundament aus unhaltbar.
Es gibt keine synthetischen Erkenntnisse a priori im
ganzen Bereiche menschlichen Erkennens. Niemand hat
eine gefunden, und wenn KANT selbst glaubte, solche
gefunden zu haben, so konnte er dies nur, weil er weder
den Begriff „Erkenntnis", noch den „synthetisch" klar
zu fassen und in seinen wesentlichen Merkmalen festzu-
halten wußte.
80. Insbesondere gilt dies vom Begriffe der Erkennt-
nis. Zur Erkenntnis gehört nicht bloß Wahrheit, son-
dern Einsicht 21). Dies scheint KANT völlig entgangen
zu sein. Hält man es fest und vergleicht dann die Äuße-
rungen KANTS, so ergibt sich sofort, daß nicht einmal
er selbst Urteile gefunden zu haben glaubte, welche die
Elemente in sich vereinigen, die zu einer synthetischen
Erkenntnis a priori gehören würden. Bezeichnend sind
dafür insbesondere vier Momente:
a) Seine Frage: Wie sind synthetische Erkenntnisse
a priori möglich? Was ist ihr Sinn 1 Zu ergründen -
etwa aus der Natur der Seele abzuleiten -, wie wir
Menschen zu dieser intellektuellen Ausstattung kommen?
Das kann nicht gemeint sein, denn die gleiche Frage
müßte dann ebensogut für die analytischen, ja für die
Urteile überhaupt aufgeworfen werden. Und die eine
wie die andere wäre unlösbar und gleich verkehrt. Ihr
Sinn, in klare Worte gefaßt, ist vielmehr der: Wie ist es
möglich, daß wir von vornherein gewisse synthetische
Urteile mit voller Überzeugung fällen, während sie doch
keine Einsichten sind, und wie kommt es, daß diese Vor-
urteile sich in gewisser Weise als richtig bewähren, wäh-
rend man doch meinen sollte, die Erfahrung werde ihnen
früher oder später widersprechen 1
Analytische Erkenntnis, meint KANT, ist selbstver-
ständlich möglich, denn das Prädikat ist im Subjekte
90 Synthetische Vorurteile a priori

enthalten, muß also wohl ihm beigelegt werden können;


das synthetische Urteil bringt dagegen ein Prädikat,
welches nicht im Subjekte liegt, zu ihm hinzu. Wie soll
man da von vornherein wissen, daß es immer mit ihm
verbunden und daß das Urteil, welches es universell dem
Subjekte zuspricht, richtig sei 1
Wissen, das ist offenbar der Skrupel KANTS, kann
man es nicht - und doch urteilt man mit voller Über-
zeugung, ja fährt gut, indem man dies tut. Das ist das
Erstaunliche.
Sie bemerken wohl: das Staunen KANTs hat gerade
die Nichtselbstverständlichkeit dieser Urteile zum Anlaß.
Sie gelten ihm als a priori, aber er verhehlt sich nicht,
daß sie nicht a priori einleuchten.
b) Das zweite Moment, woran wir erkennen, daß KANT
hier unmöglich den wahren Begriff der Erkenntnis fest-
zuhalten wußte, ist seine Antwort auf die eben erörterte
Frage: die Dinge richteten sich nach dem von vornherein
in uns feststehenden Urteile. Diese Antwort ist ganz
unzulänglich, denn, wenn es sich so verhält, mag wohl
unser Urteil vor Irrtum bewahrt bleiben, aber die Frage,
woher wir wissen können, daß wir nicht irren, bleibt
nach wie vor ungelöst - weil eben die Evidenz fehlt.
c) Das dritte Moment: daß er es für notwendig findet,
zu untersuchen, ob diese neue Klasse von Erkenntnissen
Grenzen der Gültigkeit habe und welche. Die Garantie
für die Wahrheit fehlt ihnen also offenbar vorerst noch.
d) Das vierte Moment: seine Antwort auf diese Frage.
Er lehrt faktisch eine solche Beschränkung. Es fehlt
ihnen also eigentlich die Wahrheit selbst.
81. Also nach der Schilderung und Behandlung, die sie
durch KANT selbst erfahren, wären sie nichts weniger als
synthetische Erkenntnisse, sondern vielmehr synthe-
tische Vorurteile (a priori), von welchen er nur an-
nimmt, daß die Phänomene nach ihnen sich richten.
Indes ist, was KANT uns faktisch unter dem Titel einer
synthetischen Erkenntnis a priori vorführt, durchaus
Analytisches Urteil 91
nicht alles nur blindes Vorurteil. Es finden sich auch
wirklich evidente Wahrheiten darunter, die uns unab-
hängig von der Erfahrung einleuchten. Aber auch in
ihnen bietet sich uns kein Beispiel synthetischer Er-
kenntnis a priori. Es mangelt ihnen dazu eine andere
Eigenschaft: sie sind nicht wahrhaft synthetisch, viel-
mehr sind sie analytische Urteile a priori.
Wie nämlich KANT den Begriff „Erkenntnis" fehler-
haft gefaßt hat, so auch die Begriffe analytisch und
synthetisch. Vor allem ist zu beanstanden, daß er bei
der Bestimmung des Begriffes „analytisch" ausschließ-
lich auf kategorische Sätze Rücksicht nahm (er spricht
ja von einem Prädikate, das im Subjekte enthalten sein
müsse, Subjekt und Prädikat hat aber nur der kate-
gorische Satz), während doch auch konditionale, dis-
junktive und Existentialsätze 22 ) zuweilen als analytische
Wahrheiten einleuchten. Ferner übersah KANT, daß der
Satz „A ist A" als Ausdruck eines affirmativen Urteils
genommen, gar nicht von vornherein einleuchtet, obwohl
sein Subjekt das Prädikat enthält. Die zutreffende Be-
stimmung, welche allen diesen Bedenken gerecht wird,
wäre vielmehr folgende: analytisch ist ein Urteil, das aus
den Begriffen einleuchtet (ex terminis evident ist). Es
handelt sich hierbei immer um negative, apodiktische
Urteile, und zwar um solche, die eine Zusammensetzung
aus widersprechenden oder widerstreitenden Merkmalen
verwerfen.
Dieser Fehler involviert die Gefahr, den analytischen
Charakter vieler Urteile zu verkennen und infolge davon
die Bedeutung der ganzen Klasse zu unterschätzen. Das
ist denn auch KANT zweifellos begegnet, wenn er sagt,
daß unse:i:-eErkenntnis durch analytische Urteile nicht
erweitert werde. Ja, da doch Null plus eins selbstver-
ständlich mehr als Null ist, erscheint seine Behauptung
hier geradezu widersprechend und ist wohl nur so zu er-
klären, daß er die Erweiterung unserer Erkenntnis mit
der unserer Vorstellungen verwechselt hat. Wer A vor-
92 Analyse erweitert die Erkenntnis

stellt, ohne zu wissen, ob es ist oder nicht ist, hat noch


keine Erkenntnis, weil kein Urteil davon; wohl aber hat
er eine Erkenntnis gewonnen; sobald er es weiß, ohne
deshalb mehr als A zum Gegenstande seines Vorstellens
haben zu müssen.
82. Seltsam mutet es auch an, daß KANT für gut be-
findet, Erläuterung und Erweiterung einander gegen-
überzustellen. Ist nicht auch eine Erläuterung etwas,
was unsere Erkenntnis erweitert 1 Gewiß! und oft eine
schwer zu erwerbende. Wie wären sonst Definitionen
erforschbar und lehrbar1 Und wie könnte es so oft der
Fall sein, daß einer beim Definieren sein Ziel verfehlt 1
Und die Psychognosie, deren wesentliche Aufgabe darin
besteht, was die innere Wahrnehmung uns zeigt, zu ver-
deutlichen, sollte unser Wissen überhaupt nicht er-
weitern 1 Helmholtzens Klanganalyse keine Entdeckung
neuer Wahrheiten sein 1
Doch sehen wir von allen Fällen der Erläuterung ab;
der einfachste Satz des Widerspruches „Kein A ist
Nicht-A" ist ein integrierender Teil unserer Erkenntnis.
Erkennten wir ihn nicht, wir wären ärmer an Erkenntnis;
also bereichert, also erweitert er sie.
Und zu den Fällen von Sätzen des Widerspruchs (der
Kontradiktion) kommen als weitere analytische Sätze
die des positiven Widerstreits, wo nicht einmal jener
irreführende Schein, daß sie uns nichts Neues bieten,
besteht.
KANT hat diese nicht beachtet, jene in ihrer Bedeutung
verkannt. Die Folge davon war eine noch größere Nei-
gung, das 9ebiet der analytischen Erkenntnisse zu ver-
engern. \Vo immer etwas Bedeutendes resultiert, gilt ihm
das Urteil als nicht analytisch. Auf analytischen Sätzen
ist eben nach ihm keine Wissenschaft aufzubauen.
83. So hat er denn faktisch den analytischen Charakter
der :Mathematik geleugnet, den doch selbst HuME unan-
getastet gelassen hatte. Nicht einmal der Satz 1 + 1 = 2
soll analytisch einleuchten.
Analytischer Charakter der Mathematik 93

Verwunderlich nur, daß er über den Charakter der


Logik anders geurteilt hat. Diese gilt ihm ganz und gar
für analytisch. Offenbar hat er hier darauf vergessen,
daß analytische Urteile nichts zur Erweiterung unserer
Erkenntnis leisten sollen.
ALBERT LANGE will hier emendieren: die Logik sei in
der Tat synthetisch, denn ihre Grundsätze ergeben sich
aus der Raumanschauung, indem wir uns das Verhältnis
der Begriffsumfänge durch die gegenseitige Lage von
Kreisen zueinander veranschaulichen. Die Rauman-
schauung selbst sei a priori. Aber alle solche Mühe ist
vergebens: Die Syllogismen sind nachweisbar analytisch.
Wer den Schlußsatz eines gültigen Syllogismus leugnen, die
Prämissen aber zugeben wollte, widerspräche sich selbst.
So sind denn auch alle mathematischen Erkenntnisse
analytisch.
Zunächst die der Arithmetik.
KANT sucht deren synthetischen Charakter darzutun,
indem er sich des Gesetzes 7 + 5 = 12 als erläuternden
Beispiels bedient. 7 + 5, meint er, enthalte nur die Ver-
einigung dieser beiden Zahlen, wodurch keineswegs ge-
dacht werde, welche Zahl beide zusammenfasse. Man
müsse also die Anschauung zu Hilfe nehmen, indem man
etwa an den Fingern abzählt und so die Zahl 12 ent-
springen sieht. Aus der Zergliederung der Begriffe selbst,
ohne Zuhilfenahme der Anschauung, könnten wir die
Summe niemals finden.
Allein es fehlt viel, daß dies Argument seinen Zweck
erfülle.
1. KANT sagt, man müsse die Anschauung zu Hilfe
nehmen. Nun, in gewissem Sinne ist ihre Hilfe nirgends
entbehrlich. Kein elementarer Begriff ist ohne ent-
sprechende Anschauung zu gewinnen, und so setzt jedes
analytische Urteil auch Anschauungen voraus, aus denen
die darin analysierten Begriffe stammen.
Aber von dieser Hilfe der Anschauung für das begriff-
liche Denken spricht hier KANT nicht. Was er sagen
94 Analytischer Charakter

will, ist vielmehr, daß hier das Eigentümliche der An-


schauung im Gegensatz zum allgemeinen Begriff genützt
werde.
2. Ist dies richtig1 Nein! Worin besteht das Eigen-
tümliche der .Anschauung 1 In den individualisierenden
(oder doch möglichst der Individualisierung nahen spezi-
fizierenden) Momenten. Diese aber darf der Mathe-
matiker nicht zu Hilfe nehmen, wenn der zu beweisende
Satz allgemein ist. So z. B. beim Beweise des pytha-
goreischen Lehrsatzes nicht die Gleichschenkligkeit des
angeschauten Dreieckes, wenn etwa zufällig das auf die
Tafel gezeichnete rechtwinklige Dreieck zwei gleichlange
Katheten haben sollte. Sonst gilt der Beweis nicht jen-
seits dieser engeren Sphäre. Nur das allen rechtwinkligen
Dreiecken Gemeinsame darf benutzt werden, also keines-
falls das, was die Anschauung als Anschauung vom Be-
griffe unterscheidet. Würde das Individuelle benutzt, so
gewönne man statt des allgemeinen einen individuellen
Satz. Häufig, an anderen Anschauungen den Beweis
wiederholend, käme man dann allenfalls zu einer Induk-
tion. Aber so glaubt KANT selbst nicht, daß der Mathe-
matiker verfahre2 6 ).
3. Doch selbst angenommen, das Eigentümliche der
Anschauung im Unterschiede von dem darin enthal-
tenen Begriff werde benutzt, in welcher Weise sollen wir
uns das Verfahren denken 1 Werden wir aus der An-
schauungsvorstellung das Urteil gewinnen 1 Oder wie
eine Erfahrungstatsache 1
Sicher nicht wie eine Erfahrungstatsache. Daß H und
0 Wasser bilden, finde ich als Erfa,hrungstatsache. Eben
darum genügen zur Erkenntnis nicht Phantasiebilder,
sondern Wahrnehmungen müssen gegeben sein. Für den
Mathematiker genügen Phantasiebilder.
Der Mathematiker würde sein Urteil also aus veran-
schaulichten Begriffen gewinnen und insofern wären seine
grundlegenden Erkenntnisse noch immer analytisch, ana-
lytische Einzelurteile. Diese Einzelurteile aber würden
der Arithmetik 95
eine universelle Bedeutung durch den Umstand erlangen,
daß (innerhalb unserer Erscheinungswelt) das Besondere
und Individuelle der Anschauung zu den Merkmalen,
welche den Inhalt des Begriffes bilden, hinzukäme.
Diese Notwendigkeit stünde dann wohl einzig und
allein durch Erfahrung fest. Insofern wäre die Mathe-
matik empirisch begründet. Alles andere ergäbe sich
analytisch. Sie soll aber doch nach KANT a priori und
dabei nicht analytisch sein.
4. Sehen wir uns noch das Verfahren KANTs in seinen
Beispielen im speziellen an.
Es handelt sich um den Satz 5 + 7 = 12. Wenn der
Satz 5 + 20 = 25 in Erörterung stünde, so wäre es wohl
sehr scheinbar, ja ich möchte sagen, es wäre evident, daß
er einen Fall des Satzes des Widerspruchs bilde. Ebenso
aber auch beim Satz 2 + 1 = 3. Denn (1 + 1) + 1 =
1 + 1 + 1. Aber auch bei 5 + 5 = 10, und bei 5 + 2 = 7
somit auch bei 5 + 7 = 5 + 5 + 2 und bei 5 + 5 + 2 =
10 + 2. Aber auch bei 10 + 2 = 12; also bei 5 + 7 = 12.
Auch 5 + 7 = 12 ist also analytisch. Was hier den
analytischen Charakter leichter verkennen läßt, ist nur
die Durchschneidung der Abteilungen des dekadischen
Systems. Der Sinn ist: ein Kollektiv von 5 und ein Kol-
lektiv von 7, in Kollektive zerlegt, die im dekadischen
System eine Stelle haben, geben ein Kollektiv von 10
und ein Kollektiv von 2.
Diese Zerlegung kann ich in einer Anschauung vorstellen.
Ich kann in der Anschauung ihren allgemeinen Begriff
erfassen, und sowohl in der Anschauung, als in diesem Be-
griff werde ich das Ergebnis 10 + 2 finden,nur in der An-
schauung besonders spezifiziert, im Begriff unbestimmter.
Und so kann ich denn analytisch aus dem Begriff dieser
Zerlegung ersehen, daß 10 + 2 ihr Ergebnis ist.
5. Ich glaube, es ist hiernach leicht ersichtlich, was
KANT beirrt hat. Der Begriff der Zerlegung von 7 + 5
in Kollektive des dekadischen Systems kann eigentlich
und uneigentlich gedacht werden. Eigentlich, wenn ein-
96 Analytischer Charakter der Geometrie

heitlich, uneigentlich und nur sozusagen als Postulat,


wenn ich „Zerlegung in Kollektive des dekadischen
Systems" für sich denke und dann für sich „vorgenommen
mit 5 + 7". Denke ich den Begriff dieser Zerlegung
eigentlich, so kann ich sofort analytisch erkennen, wel-
ches ihr Ergebnis ist. Denke ich den Begriff der Zer-
legung uneigentlich und nur als Postulat, so kann ich
es nicht sofort. Immerhin liegt darin ein genügender
Anhalt, denn ich kann das Postulat, wenn ich seine
Forderung verstehe, erfüllen. (In manchen Fällen ist es
schneller, in andern langsamer erfüllbar. Bei 5 + 20
natürlich sehr schnell; ebenso bei 1 + 1; relativ schnell
auch bei 20 + 1; langsamer offenbar bei 7 + 5 = 12.
Daher wählte KANT dieses Beispiel, und ebendarum
meinte er auch, an noch größeren Zahlen würde man
sich noch leichter überzeugen.)
Diese Erfüllung des Postulates durch wirkliche Er-
füllung des Begriffes hält KANT irrigerweise für eine
Hinzufügung der Anschauung zum Begriff, und daraus
entspringt dann seine Meinung, es würden in dem Urteile
Momente zum Begriffe hinzugebracht, die nicht ihm,
sondern der Anschauung entliehen seien.
84. Ebenso analytisch sind auch die geometrischen
Erkenntnisse. Die Axiome der Geometrie sind nicht bloß
wahre apriorische Einsichten, sondern auch echte Fälle
des Kontradiktionsgesetzes. Der Satz freilich, an dem
KANT mit Vorliebe den synthetischen Charakter der
Geometrie darzutun sucht, daß die Gerade die kürzeste
zwischen zwei Punkten sei, leuchtet nicht unmittelbar
aus den Begriffen ein; aber er ist auch kein Axiom, son-
dern ein beweisbarer Lehrsatz, und zwar von analyti-
schem Charakter. Man nimmt, um ihn zu beweisen, den
Satz, daß es zwischen zwei Punkten nur eine Gerade
geben könne, zu Hilfe, und dieser wieder ergibt sich aus
den Sätzen: ,,Zwei einer dritten gleiche Richtungen sind
untereinander gleich" und „Gleiche Richtungen, in
gleicher Weise verändert, geben gleiche Richtungen" 23 ).
Trägheitsgesetz nicht a priori 97
Lehrreich ist es, mit KANTS Lehre zu vergleichen, was
HELMHOLTZ„über die geometrischen Axiome" sagt; er
legt in einem so betitelten Aufsatze die Unmöglichkeit
sie auf die Apriorität der Raumanschauung zu basieren
dar, und im letzten Grunde gesteht er zu, daß sie analy-
tisch sind. Nur daß in Wirklichkeit ein Raum von drei
Dimensionen bestehe, und ferner noch solche Sätze, wie
die Postulate, eine gerade Linie zu ziehen, einen Kreis zu
beschreiben u. dgl. (was ja eigentlich mechanische Vor-
gänge, nicht reine Größenverhältnisse angeht) bezeichnet
er als synthetisch und - empirisch. Darin aber kann
ihm kein Vernünftiger widersprechen. Auch HuME hätte
es gewiß nicht getan. Es affiziert den wesentlich ana-
lytischen Charakter der eigentlich mathematischen Wahr-
heiten in keiner Weise. Es handelt sich da um Opera-
tionen, die wir zur Anwendung der Mathematik auf die
Wirklichkeit nötig haben, und eigentlich nur sehr an-
nähernd auszuführen vermögen.
85. Also sowohl der Begriff und die Bedeutung der
Erkenntnis, als auch der Begriff und die Bedeutung des
analytischen Urteils wurden von KANT mangelhaft ge-
faßt, als er seine Lehre von den synthetischen Erkennt-
nissen a priori entwickelte. Und blicken wir auf die Bei-
spiele, so sind die, welche wirklich evident sind, analytisch
(z.B. die Sätze der reinen Mathematik) und die, welche
wirklich synthetisch sind, nicht evident, also nicht Er-
kenntnisse a priori. So z. B. das Gesetz der Trägheit,
von dem man auch nicht einmal sagen kann, daß wir
einen angeborenen Drang hätten, daran zu glauben.
ARISTOTELEShatte keine Ahnung von dem Gesetz. Und
Sie selbst haben es vielleicht zum ersten Male mit Ver-
wunderung in der Physikstunde gehört.
KANT bringt allerdings für das Gesetz der Trägheit
und andere, die er ebenso für synthetisch a priori hält,
seine gewöhnlichen Argumente: es handle sich um Sätze,
denen Allgemeinheit und Notwendigkeit zukomme; und
es ist ja ganz richtig, daß das Gesetz der Trägheit etwas
98 Urteilsinstinkt nicht Apriori

als allgemeine und notwendige Wahrheit ausspricht.


Aber was folgt daraus 1 Doch wohl nur, daß diese Merk-
male, an einem Satze angetroffen, noch kein ausreichender
Grund sind, ihm unabhängig von der Erfahrung zuzu-
stimmen.
Eher bliebe die Möglichkeit, den Fall so zu fassen, daß
wir darin eine Art Mittelding von a priorischer und
aposteriorischer Annahme vor uns hätten. Was ich
damit meine, mag ein Beispiel anderer Art verdeutlichen.
Sie alle rechnen wohl nicht damit, daß, ehe wir aus-
einandergehen, die Decke dieses Hörsaales über unseren
Köpfen zusammenbrechen werde, sondern sind über-
zeugt, daß sie auch weiterhin noch halten werde. Sie
hegen dieses Vertrauen mit voller Zuversicht. Aber
logisch rechtfertigen ließe sich doch streng genommen
nur eine besonders hohe Wahrscheinlichkeit. Gleichwohl
wagen wir ohne weiteres den Schritt über diese hinaus
zur sicheren Überzeugung. Diese Art vorzugehen ist uns
ganz natürlich. Auf eben dieses psychologische Gesetz
der Urteilsbildung stützt der Apologet Kardinal NEW-
MANN in seinem Werke ,Grammar of assent' seine Recht-
fertigung der kirchlichen Lehre von der Glaubenspflicht.
Diese fordert, obwohl die Tatsache der göttlichen Offen-
barung nur mit Wahrscheinlichkeit zu beweisen sei, daß
man doch davon, wie von etwas, was man sicher wisse,
vollkommen überzeugt sei. Die Logik widerspreche aller-
dings - aber meint NEWMANN, um so schlimmer für die
Logik, denn sie habe damit die Natur gegen sich.
So, könnte einer sagen, sei es auch mit unserem Glau-
ben an das Gesetz der Trägheit. Infolge von Erfahrungen
entspringe unserer Subjektivität der Drang, diesen syn-
thetischen Satz als allgemein und notwendig zu behaup-
ten. Und so sei dieser denn immer noch in gewissem
Sinne ein synthetisches Urteil a priori, denn die Er-
fahrung als solche könne nicht die schlechthinige Allge-
meinheit garantieren, wir aber urteilen - obwohl erst
nach gemachten Erfahrungen - schlechthin allgemein.
Subjektivität, nicht Apriorität 99
Indessen, wenn man die KANTsche Lehre auch so faßt
oder vielmehr umbildet, bleibt das wesentliche Be-
denken unbehoben und ist überhaupt nicht zu be-
seitigen. Wenn wir nämlich, indem wir das Gesetz der
Trägheit in dieser Weise aufstellen, infolge eines Dranges
unserer Subjektivität in unserem Urteile weiter griffen,
als uns die Erfahrungen berechtigen, so wäre dieses Urteil
eben ein unberechtigtes Vorurteil, also keine Er-
kenntnis a priori. Und dies selbst dann nicht, wenn
das Urteil wahr wäre, und wenn die Dinge sich nach
unseren subjektiven Vorurteilen richteten.
86. Wie aber, könnte einer fragen, wenn wir gewiß
sind, daß dies geschehe ? Vielleicht, so müßte die Ant-
wort lauten, aber woher sollte uns diese Gewißheit
kommen? KANT glaubt sich allerdings in ihrem Be-
sitze, aber gerade darin liegt ein besonderer Fehler. Er
scheint es für selbstverständlich zu halten, daß unsere
Phänomene sich nach den subjektiven Gesetzen unseres
Erkenntnisvermögens richten, weil sie in ihrer Ent-
stehung nicht einzig vom Ding an sich, sondern auch
von einem subjektiven Faktor abhängen. Wenn dies
wirklich sein Gedanke war, so liegen dagegen folgende
Einwände nahe:
l. Diese Subjektivität ist doch nicht der einzige Fak-
tor. Wie sie, ist auch das Ding an sich am Zustande-
kommen des Phänomens mitbeteiligt. Und es liegt von
vornherein kein Grund vor, den einen Faktor mächtiger
zu denken als den andern. Ist nun der Einfluß des Sub-
jekts so groß, daß das Ding an sich ganz unerkennbar
wird und wir die Gesetze der Phänomene nicht einfach
den Gesetzen der Dinge an sich konform behaupten dür-
fen, um auf diese zu schließen, so wird auch der des
Dinges an sich mächtig genug sein, um uns zu hindern,
vernünftig zu behaupten, daß der Verlauf der Phäno-
mene in seinen Gesetzen mit den Gesetzen unserer Sub-
jektivität, unseren subjektiven Vorurteilen, genau har-
monieren werde.
100 Übereinstimmung der s. E. a.

2. Wir finden bei den Menschen mehrfach Urteile,


welche sich auf natürlichem Wege gebildet haben - wie
ja alles Urteilen nach psychologischen Gesetzen, die
ebenso wie die physikalischen zu. den Naturgesetzen ge-
hören, verläuft -, ohne daß sich jedoch der Verlauf der
wirklichen Ereignisse nach ihnen richtet. Vielmehr er-
weisen sie sich bei genauerer Prüfung als unbegründete
Vorurteile. Jeder einzelne hat solche, ganze Nationen
stehen unter ihrem Banne, gewisse Zeitalter haben ihre
Modeansichten. Den Gesetzen ihrer Subjektivität ent-
sprechend sind sie alle entstanden, aber es fällt den
Dingen nicht ein, sich darnach zu richten. Ebensowenig,
als sie sich nach den fixen Ideen eines Narren richten,
die ja ebenfalls nach den Gesetzen seiner Subjektivität
verlaufen.
Vielleicht findet einer diesen Vergleich darum un-
passend, weil er erwor-bene Vorurteile heranzieht, indes
die synthetischen Urt-eile a priori doch angeborene seien.
Bei solchen sei aber doch wohl eher damit zu rechnen,
daß der Verlauf der Dinge sich nach ihnen richten werde.
Aber ein solches Zusammenstimmen ist weder von vorn-
herein zu erwarten, noch wird es durch die Erfahrung
bestätigt. Man denke nur an das instinktive Vertrauen,
das wir von Geburt an der äußeren Wahrnehmung ent-
gegenbringen. Allem, was die Sinne uns zeigen, stimmen
wir ohne weiteres zu. Und doch stoßen wir im Verlaufe
der Erfahrung auf Widersprüche, welche das Zeugnis
der Sinne zunichte machen. Ebenso führt uns der natür-
liche Hang der Gewohnheit auf dem Urteilsgebiete gar
häufig zu Täuschungen. Wenn nun aber in allen diesen
Fällen ersichtlich ist, daß die Phänomene sich nicht
nach unseren Vorurteilen richten, was berechtigt uns
dann, ohne weiteres anzunehmen, daß sie anderwärts
unseren natürlichen Vorurteilen von der Notwendigkeit
ihres Verlaufes entsprechend verlaufen werden 1
3. Ja, angenommen, der reine Idealismus sei im
Rechte und es gebe gar kein Ding an sich, so wird es
mit den Phänomenen zweüelhe.ft 101
doch noch immer nicht einleuchtend, daß die Phänomene
entsprechend unseren Vorurteilen ablaufen müssen. Selbst
wenn unsere Seele, wie LEIBNIZ meinte, eine Monade
ohne Fenster ist, keiner Einwirkung von außen zugäng-
lich, alle Phänomene nach inneren Gesetzen aus sich
entwickelnd, die Aufeinanderfolge dieser Phänomene und
die Erwartungen dieser Aufeinanderfolge, wie sie sich in
uns entwickeln, sind doch zweierlei und können gar sehr
auseinandergehen.
So ist denn die Übereinstimmung, wie KANT sie voraus-
setzt, keineswegs selbstverständlich, und wenn sie wirk-
lich bestehen sollte, so fragt es sich, woher wir das wissen
können. Offenbar bleibt gar kein anderer Weg als der
der Erfahrung, d. h. eben der Weg der Induktion, den
KANT für ungeeignet hält, Allgemeingültigkeit zu ge-
winnen. Wie HUME, leugnet ja auch er, daß die Erfah-
rung die Quelle der Erkenntnis streng allgemeiner und
notwendiger Gesetze sein könne.
Auch erschienen dann die synthetischen Erkenntnisse
a priori überflüssig und nutzlos. Alles ruhte auf Induk-
tion, nicht auf synthetischen Sätzen a priori. Denn wie
soll ich durch die Induktion die allgemeine Überein-
stimmung der Tatsachen mit den a priorischen Vor-
urteilen erkennen, wenn ich nicht durch Induktion die
allgemeinen Gesetze selbst konstatiert habe 1 Und jeden-
falls bietet sich uns keine Hilfe gegen HuME, der die
Kraft der Induktion in Frage stellt.
Hiermit erscheint KANTs Apologetik des Wissens voll-
kommen gescheitert. Wir brauchten nicht weiter dabei
zu verweilen. Nichtsdestoweniger dürfte es bei dem An-
sehen des Philosophen, den wir bekämpfen, und bei der
Wichtigkeit der Frage, um welche es sich handelt, rät-
lich sein, uns die von ihm dargelegte Theorie noch etwas
anzusehen, um zu erkennen, wie auch in anderen Punkten
die grundlegenden Anschauungen KANTS unhaltbar sind.
87. Wir hören KANT nicht bloß von Urteilen a priori
sprechen, wie man sie früher nicht gekannt 24 ), auch
102 Keine Vorstellungen e, priori

apriorische Vorstellungen führt er ein. Werfen wir


auch auf sie einen Blick!
Vor allem: Was heißt hier „a priori"? Es heißt offen-
bar: unabhängig von der Einwirkung des Dinges an sich,
rein subjektiv 26 ).
Sowohl Anschauungen (d. s. nach KANT individuelle
Vorstellungen 26 )) als Begriffe dieser Art soll es geben.
Von jenen zwei: Raum und Zeit. Von diesen zwöli: die
Kategorien oder Stammbegriffe des Verstandes, wovon
sich je drei unter einem der vier Titel: Quantität, Qualität,
Relation und Modalität subsumieren lassen.
Mein Urteil darüber geht dahin, daß das Ganze eine
Ausgeburt willkürlicher Konstruktionslust, bei relativ
schwacher psychologischer Beobachtungsgabe ist. Es
bleibt sozusagen nicht ein Wort davon bestehen.
88. Raum und Zeit sollen Anschauungen sein, unendlich
und a priori, wobei Apriorität ihren subjektiven Ursprung,
ihre Unabhängigkeit von der Erfahrung, d. h. hier von
der Einwirkung des Dinges an sich besagen will. Aber
hat KANT diese Unabhängigkeit auch bewiesen 1 Ein
Beweis dafür würde sein, wenn er nachweisen könnte,
daß sie der Einwirkung äußerer Reize zeitlich voran-
gingen. Aber dieses Beweismittel versagt, und KANT
gesteht zu, daß sie nicht in diesem Sinne vor der Er-
fahrung sind.
Dagegen beruft er sich darauf, daß sie allgemein und
notwendig seien. Allgemein, weil alle Phänomene des
inneren Sinnes zeitlich und alle der äußeren Sinne räum-
lich erscheinen. Notwendig, weil wir sie nicht wegdenken
können. Wenn wir alles wegdenken, bleibt der Raum
übrig. Und ähnlich die Zeit.
Dies erinnert an Früheres. Auch bei den angeblichen
synthetischen- Urteilen a priori hörten wir ihn Allge-
meinheit und Notwendigkeit als Kriterien der Apriori-
tät geltend machen. Hier nun wieder, und, meint KANT
offenbar, auch in ähnlicher Weise beweiskräftig. Aber in
Wahrheit liegt nur Gleichheit der Bezeichnung bei ver-
„allgemein und notwendig" äquivok 103
schiedener Bedeutung vor, und wenn KANT dies nicht
bemerkt hat, so war er eben durch eine Äquivokation
getäuscht. Hier bei den Anschauungen bedeutet All-
gemeinheit soviel wie, daß sie sich in allen Erscheinungen,
sei es beider Sinnesgebiete, sei es wenigstens des äußeren,
finden. Dort, bei den synthetischen Erkenntnissen, be-
sagt Allgemeinheit nicht ebenso deren Allgegenwart, son-
dern nur, daß sie dort, wo sie auftreten, als allgemeines
Gesetz, als ein Urteil, welches etwas als allgemein und
notwendig behauptet, auftreten.
89. Daß KANT diese Äquivokation entgeht und daß
er darum hier wie dort als den gleichen Rechtsgrund
Allgemeinheit und Notwendigkeit zum Beweis des a priori-
sehen Charakters zu benützen wagt, ist ein bedenkliches
Zeichen für die Verläßlichkeit seiner Ausführungen im
allgemeinen. Indes könnte gerade der Wechsel der Be-
deutungen das Kriterium in unserem Fall eher emp-
fehlen, da wir sahen, daß es, in dem früheren Sinne ver-
standen, ganz unzulänglich ist. Aber unter dem Gesichts-
punkte logischer Berechtigung ist sein Verfahren hier und
dort völlig gleich zu stellen. Denn
l. Wie konstatiert er die Allgemeinheit 1 Durch In-
duktion? Dann verstieße er gegen seine eigenen Prin-
zipien, da ja Induktion solche Allgemeinheit nie soll ge-
währleisten können. Was aber sonst sagt ihm mit Be-
stimmtheit, daß ihm keine Erscheinung entgangen sei,
und daß es in alle Zukunft ebenso sein werde, wenn nicht
eine Induktion? (Ich will davon schweigen, daß HELM-
HOLTZ und die sogenannten Empiristen gegenteiliger Mei-
nung sind und lehren, daß sich unsere Raumvorstellung
erst allmählich aus unräumlichen Erscheinungen gebildet
habe, da ich wenigstens mich nicht überzeugen kann, daß
sie darin im Rechte sind.)
Und wie konstatiert er die Notwendigkeit 1 - Dadurch,
daß wir den Raum nicht wegdenken können 1 Aber auch
diesen Satz könnte er, scheint's, nur wieder durch In-
duktion feststellen. Und wenn wir ihn nicht wegdenken
104 Ra.um- und Zeite.nachauung

können, wer sagt uns, ob nicht wenigstens beim Wegfall


des Denkens - wie z.B. infolge eines Schlages auf den
Kopf - auch die Raumanschauung wegfällt 1 Auch dann
aber bestünde keine von der Einwirkung der Dinge an
sich unbedingte Notwendigkeit.
2. Wäre aber selbst die Allgemeinheit und Notwendig-
keit einwandfrei konstatiert, so bewiese sie noch lange
nicht die Apriorität im Sinne der Unabhängigkeit dieser
Erscheinungen von der Einwirkung der Dinge an sich.
Es könnte die Einwirkung des Dinges an sich es beständig
(oder wenigstens wie es jetzt wirkt) notwendig machen.
Faktisch werden wir zeitweilig gewisse Töne oder Melo•
dien nicht los. Und noch klarer gilt dies von den Farben-
erscheinungen, wenigstens wenn wir auch Schwarz und
Weiß dazu rechnen. (Die Eigenempfindung der Netz-
haut ist ein dunkles Grau, das zum Vorschein kommt,
wenn kein äußerer Reiz auf sie einwirkt. Sie ist eine
positive Qualität, nicht etwa ein Mangel an solcher.)
Die Apriorität einer Raum- und Zeitanschauung, wie
KANT sie lehrt, ist also unerwiesen.
Zudem wird die Allgemeinheit und Notwendigkeit
des Raumes selbst von KANT nur für gewisse Gebiete,
nämlich für die Erscheinungen der äußeren Sinne be-
hauptet. Genügt sie, warum dann nicht auf noch engerem
Gebiete, z.B. dem der Farben, Töne usw. 21 )1
90. 3. Noch mehr: Es ist nachweisbar, daß wir Raum-
und Zeitanschauungen, wie KANT sie lehrt, gar nicht
haben, und daß diejenigen, welche wir haben, unmöglich
a priori sein können, wenn die Vorstellungen der Raum
und Zeit erfüllenden Gegenstände, Farben, Gefühlsein-
drücke usw. a posteriori sind.
a) Vor allem sind unsere Raum• und Zeitanschauungen
nicht unendlich. Im Gegenteile, sie sind sehr beschränkt.
Die sog. psychische Präsenzzeit umfaßt nur Bruchteile
einer Sekunde und ist das einzige Stück wirklich an-
schaulicher Zeitvorstellung 28). Auch jedes der Sinnes-
felder, für Farben, für Töne usw., hat seine engen und
Ra.um- und Zeitanschauung 105
unüberschreitbaren Grenzen. Daß KANT das Gegenteil
lehren konnte, ist ein merkwürdiges Zeichen unreifer
Psychologie!
b) Überhaupt sind Raum und Zeit keine Anschauungen
im KANTsehen Sinne, wonach das Wort Anschauung
eine individualisierte Vorstellung bedeuten soll. Wir
schauen überhaupt keine absoluten Ortsdifferenzen und
ebensowenig absolute Zeitdifferenzen an, relative aber
entbehren der Individualität, da bekanntlich die gleichen
Abstände zwischen verschiedenen absoluten Orts- bzw.
Zeitpunkten sich finden können 29 ).
c) Von diesen relativen örtlichen und zeitlichen Be-
stimmtheiten lassen sich die qualitativen nicht abtrennen.
Ein Farbiges, das angeschaut würde, ohne wenigstens in
dieser relativen Weise örtlich und zeitlich bestimmt zu
erscheinen, ist ausgeschlossen, wie dies ja KANT selbst
zugibt. Die Räumlichkeit ist im Momente der Qualität
eingeschlossen, wie das Substantielle im Akzidentellen
eingeschlossen ist. Damit ist aber auch schon gesagt, daß
die Raum- und Zeitanschauungen nicht a priori sein
können. Es wäre dies ähnlich, wie wenn einer die Inten-
sität eines Tones a priori, den Ton selbst aber aposteriori
gegeben dächte. Damit will nicht gesagt sein, daß wir
nicht Räumliches und Zeitliches in Abstraktion von be-
stimmten Qualitäten zu denken vermöchten, aber dann
handelt es sich offenbar nicht um Anschauungen, son-
dern um allgemeine Begriffe.
91. Wie aber steht es mit den allgemeinen Begriffen
a priori 1
Ebenso schlecht oder wenigstens nicht besser.
KANTführt als solche „Kategorien" die Bedeutung der
Worte: Sein, Nichtsein, Notwendigkeit, Unmöglichkeit,
Möglichkeit an, aber den Nachweis, daß es sich dabei
wirklich um Begriffe a priori handle, vermissen wir. Er
hätte auch nicht wohl gelingen können, denn wer diese
Worte überhaupt für Namen, d. h. für Zeichen, hält, die
Begriffe zum Ausdrucke bringen und Dinge nennen, be-
106 KANTs Ke.tegorienlehre

findet sich im Irrtum. Es handelt sich vielmehr um bloß


mitbezeichnende Ausdrücke, die nur im Zusammenhang
der Rede eine Bedeutungsfunktion haben, ähnlich wie
das Wörtchen „ist" oder Partikeln und Konjunktionen.
Schon gelegentlich der Zurückweisung des ontologi-
schen Arguments wurde angedeutet, daß, wer ein Ding
für existierend hält, nicht etwa die Vorstellung dieses
Dinges mit einer zweiten Vorstellung, der der Existenz,
verbindet, sondern eben dieses Ding anerkennend be-
urteilt. Wer es „für nicht-existierend hält", verwirft es.
Auch das kommt vor, daß einer ein gewisses Ding nicht
selbst beurteilt, indem er sich des eigenen Urteils, ob es
sei oder nicht sei, ganz enthält, da.bei es aber als von
irgendeinem (anerkennend oder verwerfend) beur-
teilt vorstellt, vielleicht auch es von einem solchen
Urteilenden mit Recht anerkannt bzw. mit Recht ver-
worfen vorstellt. Wir pflegen dann zu sagen, er stelle
sich vor, daß es sei (bzw. nicht sei) oder auch, er stelle
sich das Sein (Nichtsein) dieses Dinges vor. Da gewinnt
es denn den Anschein, als würden neue, von dem Dinge
selbst zu unterscheidende Objekte vorgestellt, während
eine richtige psychologische Analyse zeigt, daß dem
keineswegs so ist. Nicht ein Sein oder ein Nichtsein wird
zum Objekt gemacht, sondern ein jenes Ding Glaubender
bzw. Leugnender, und natürlich dann und sozusagen
indirekt (modo obliquo) auch das Ding selbst. So drücken
denn auch die Worte Möglichkeit, Unmöglichkeit, Not-
wendigkeit keine Begriffe aus und nennen keine Dinge.
Wer etwas als unmöglich erkennt, verwirft es, und zwar
mit apodiktischer Modalität. Daraufhin kann er sich
natürlich auch den Begriff eines solchen bilden, der ein
Ding apodiktisch und mit Recht verwirft, und, wenn er
selber eines solchen Urteils sich enthält, so wird man von
ihm sagen können, daß er sich jenes Ding als unmöglich
bloß vorstelle. Auch das kommt vor, daß wir uns einen
ein Ding apodiktisch und evident Verwerfenden vor-
stellen und diesen, insofern er evident urteile, selber
Subetanzbegriff 107
apodiktisch verwerfen, ein einigermaßen komplizierter
Gedanke, den wir aber sprachlich knapp ausdrücken,
indem wir einfach sagen, wir hielten jenes Ding für
möglich. Von Begriffen a priori ist dabei nichts zu finden,
so wahr die Begriffe eines Urteilenden und die beson-
deren eines Bejahenden und Verneinenden, eines apo-
diktisch, eines evident Urteilenden insgesamt aus der
inneren Erfahrung gewonnen sind 30 ).
92. Freilich finden sich unter den von KANT sog.
Kategorien auch wirkliche Namen. Von den Ausdrücken
Substanz und Akzidenz (Subsistierendes und Inhärie-
rendes), von Ursache und Wirkung (Wirkendes und Ge-
wirktes) möchte ich keineswegs leugnen, daß sie Dinge
nennen und Begrüfe bedeuten. Aber für KANT ist damit
nichts gewonnen, denn unschwer läßt sich von diesen
Begrüfen ihr Ursprung aus der Erfahrung nachweisen.
Was den Kausalbegriff anlangt, so haben wir die Punkte,
wo er anschaulich in unserer inneren Erfahrung ent-
halten ist, schon bei einer früheren Gelegenheit ange-
deutet und werden in der Auseinandersetzung mit der
Art, wie HuME davon Rechenschaft zu geben versucht
hat, eingehender darauf zurückkommen. Aber auch, was
den Begriff der Substanz anlangt, irren die, welche ihn
in keiner Wahrnehmung gegeben wähnen, so sehr, daß
er vielmehr in jeder beschlossen ist, wie schon ARISTO-
TELES erkannte, der ihn als erster scharf zu fassen ver-
standen hat.
Er verstand darunter das erste Subjekt realer Be-
stimmungen (-ro {m;o;<elµevov), von diesen aber lehrte er,
daß sie alle die Substanz einschlössen, in der Art, daß
es zwar Substantielles für sich, nicht aber Akzidentelles
ohne zugrundeliegendes Subjekt geben könne.
Solche Inhärenzverhältnisse zeigt uns in der Tat
mannigfach unsere innere Erfahrung. Wer sich z. B. selbst
als einen, der etwas mit Evidenz urteilt, wahrnimmt, hat
an dieser Evidenz ein Beispiel von etwas dem Urteil
Inhärierenden. Das Subsistierende aber, das Subjekt,
108 Substanz begriff

sozusagen der Träger der Evidenz, ist das Urteil. Es


handelt sich um ein Verhältnis einseitigen Einschlusses,
indem nämlich das Evidente das Urteilende in sich ent-
hält. Evidentes heißt evidentes Urteil. Man bemerkt
leicht eine gewisse Verwandtschaft mit dem bekannten
Verhältnis zwischen Gattungs- und Artbegriff, denn auch
die Spezies (Rotes) schließt die Gattung (Farbiges) ein.
Doch besteht auch ein wesentlicher Unterschied, inso-
fern die Gattung irgendwelcher spezifischen Bestimmte
heit gar nicht entbehren kann. (Ein Farbiges, das kein-
bestimmte Farbe hätte, sondern nur farbig im allge-
meinen wäre, ist unmöglich.) Hingegen kann beim Ur-
teilenden die Evidenz ersatzlos entfallen. Eben das hatte
ich bei der Bemerkung, daß es sich um einen einseitigen
Einschluß handle, im Auge.
Wir können mit Rücksicht darauf die Evidenz ein
akzidentelles Moment am Urteil nennen. Der Urteilende
als solcher erscheint als Subjekt des Evidenten. Substanz
aber werden wir ihn. darum noch keineswegs nennen
dürfen, denn er erscheint nicht als letztes Subjekt.
Schon darum nicht, weil ein über ein X Urteilender not-
wendig einen dieses X Vorstellenden in sich schließt. Es
ist zwar denkbar, daß einer etwas vorstelle, ohne ein
Urteil darüber zu fällen, dagegen nicht, daß er etwas
beurteile, ohne überhaupt eine Vorstellung seines Gegen-
standes zu besitzen. Es erscheint sohin der Vorstellende
wiederum als Subjekt des Urteilenden - aber auch er
nicht als sein letztes Subjekt. Es mag einer einen, der
über einen gewissen Gegenstand urteilt, mit allen näheren
determinierenden Bestimmungen nach Qualität, Modalität,
Evidenz des Urteils vorstellen, seine Vorstellung hat damit
doch noch nicht individuelle Bestimmtheit gewonnen.Viel-
mehr können ihr zahllose Gegenstände in gleicher Weise
entsprechen, will sagen, es können der Individuen, die
über dasselbe ganz ebenso urteilen, beliebig viele sein.
Wie diese, so führt auch noch eine andere Überlegung
auf das Bedürfnis nach einem weiteren dem Urteilenden
Subeta.nzbegriff 109
und Vorstellenden Zugrundeliegenden. Die Erfahrung
zeigt nämlich, daß einer, der urteilt, auch zugleich lieben,
hassen, sehen, hören kann, ohne daß eine dieser Tätig-
keiten an die andere gebunden wäre. Vielmehr kann,
wer zu sehen aufhört, fortfahren zu hören und ein ge-
wisses Urteil zu fällen, und umgekehrt, nachdem er
über X zu urteilen aufgehört hat, fortfahren zu sehen usw.
Gleichwohl zeigt uns die innere Wahrnehmung hier nicht
ein Kollektiv, sondern ein einheitliches Ding, das in viel-
heitlicher Weise sich denkend betätigt. Und dieses ge-
meinsame Subjekt von allen gleichzeitigen psychischen
Tätigkeiten ist es, das wir als letztes Subjekt ansehen und
worauf wir, ohne uns von dem alten aristotelischen Ge-
danken zu entfernen, den Namen „Substanz" anwenden
können.
Auch auf dem Gebiete der äußeren Wahrnehmung
ließe sich leicht das Vorhandensein analoger lnhärenz-
verhältnisse nachweisen, doch möchte ich hier nicht wei-
ter darauf eingehen 31 ). Genügt doch der Hinweis auf die
innere Erfahrung, um außer Zweifel zu stellen, daß KANT
im Irrtum ist, wenn er den Begriff der Substanz in kejner
Wahrnehmung gegeben und darum a priori hinzu-
kommend denkt.
93. Freilich ist zugegeben, daß KANT, indem er von
Substanz spricht, sich gar wesentlich von dem wertvollen
alten aristotelischen Begriffe entfernt hat, dem er viel-
mehr den eines solchen, was „bleibend jedem Wechsel
zugrunde liegt", supponie.:1i. Diese Verflachung des
Substanzbegriffes hat der Metaphysik geschadet, in-
dem sie das Verständnis für den echten verdunkelte,
und der KANTschen Kritik nicht genützt: denn so
wahr die Begriffe des Bleibenden und Wechselnden mit
dem allgemeinen Begriff des zeitlich Bestimmten zu-
sammenhängen, so wahr sind auch sie für jeden als
Erfahrungsbegriffe erkennbar, der die KANTsche Lehre
von einer Zeitanschauung a priori als fiktiv erkannt
hat.
110 KANTsKategorien

94. Kehren wir, ehe wir diesen Gegenstand verlassen,


nochmals zu jenen sog. Kategorien zurück, die, wie Sein,
Nichtsein usw., überhaupt nicht als Begriffe anzusehen
sind. Wir haben erkannt, daß es sich dabei um Urteils-
weisen handelt, die man allerdings wieder zum Gegen-
stande begrifflichen Vorstellens machen kann. Auch
KANT verrät eine Ahnung von dem Zusam:µienhang die-
ser vermeintlichen Begriffe a priori mit Urteilsdifferenzen,
insofern er sich bemüht, diese als „Stammbegriffe des
reinen Verstandes" zu erweisen und irgendwie aus der
Natur des Urteils abzuleiten. Aber diese Natur des
Urteils hat er gänzlich verkannt.
Er verkannte sie im allgemeinen, indem er das
Wesen des U rteilens in eine besondere Art von Vor-
stellen setzte. Es sei die Vorstellung von einer Vorstel-
lung. Alle Urteile seien Funktionen der Einheit unserer
Vorstellungen. Wir sahen, wie dies beim Existenzial-
urteil eklatant falsch ist, und es trüft auch nirgends sonst
die Sache. Er verkannte sie in den besonderen Arten,
z. B. bei der Relation, wo er sprachliche Unterschiede mit
wesentlichen Funktionen des Denkens verwechselte. Er
erlaubte sich weiter aus einer pedantischen Liebhaberei an
Drei-Gliederungen die gröbsten Willkürlichkeiten. So fügte
er z. B. der Unterscheidung des anerkennenden und ver-
neinenden Urteils als drittes Glied das unendliche Urteil 32 )
bei, ohne zu beachten, daß es sich hier um einen Unter-
schied der Materie des Urteils handelt. Ähnlich steht es
hinsichtlich der Quantität mit seiner Dreiteilung in all-
gemeines, besonderes und Einzelurteil; und bei der Moda-
lität herrscht noch mehr Konfusion und Willkür 33 ).
Ein Funke der Kritik, und diese ganze Lehre von den
Kategorien explodiert.
So übel also ist es um dieses A priori der Vorstellungen
bestellt. Und doch hat KANT auf solcher Grundlage sein
Scheingebäude aufgeführt. Natürlich war dies nur mög-
lich, indem er auch ferner Willkür auf Willkür sich er-
laubte. Eine Konstruiererei, die, als verderbliches Bei-
KANTS Beschränkungen der Erkenntnis 111

spiel wirkend, eine ganze Periode der Philosophie aufs


Schädlichste beeinflußt hat*).
95. Und abermals könnten wir hiernach sagen, wir
hätten nun genug getan, um unser durchaus ablehnendes
Verhalten :im rechtfertigen. Dennoch ziehen wir es vor,
noch ein weiteres Wort beizufügen, welches sich auf die
Beschränkungen bezieht, die KANT, indem er H UMEs
Skepsis bekämpfte, seinerseits der Forschung auferlegen
wollte. Es wird dabei nicht nur manches Hu:r,rn preis-
gegeben, dessen Wahrung für uns wichtig ist, sondern in
gewisser Beziehung solches verkümmert, was HuME unan-
getastet gelassen hatte. Und darum empfiehlt es sich,
gerade hier im besonderen die Unzulänglichkeit und In-
konsequenz der KANTschen Lehre darzutun.
Drei Punkte sind es, bei denen ich hier verweilen will:
l. Der erste ist die von KANT behauptete Unerkennbar-
keit des Dinges an sich; 2. der zweite seine Behauptung,
daß die sog. synthetischen Erkenntnisse a priori (wozu
auch das Kausalgesetz und die mathematischen Axiome
gehören sollen) nur für Gegenstände möglicher Erfahrung
gültig seien. Ich werde zeigen: a) daß dies nicht genügen
würde, Naturwissenschaft und Mathematik zu retten, und
b) daß KANT selbst sich nicht konsequent an diese
Schranken gebunden hat. 3. Der dritte Punkt endlich
betrifft die analytischen Gesetze. Ich will zeigen, daß
KANT, so wenig er sich dessen bewußt war, genau be-
*) Es fehlt nicht an Versuchen, diesem K.ANTschen
Apriorismus durch Interpretationskünste aufzuhelfen. So,
wenn ihn manche zu einem Vorläufer der modernen Lehre
über die spezifischen Sinnesenergien machen wollen Allein
hier wären mit größerem Rechte DESCARTES,LOCKE,BER-
KELYund alle diejenigen zu nennen, welche die Subjektivität
der Qualitäten erkannt und das in klaren Worten ausge-
sprochen haben, wie etwa in der Feststellung, daß sie nicht
Bilder, sondern bestenfalls Zeichen der Dinge seien. Dies
zusammen mit der ARISTOTELischenAnnahme eines Ver-
mögens für eine Gattung etwa ergibt die Lehre von den
spezifischen Sinnesenergien. KANTS Konstruktionen stehen
weit ab.
112 Unerkennbarkeit des Dinges a.n sich

sehen, selbst für diese analytischen Gesetze eine Be-


schränkung ihrer Anwendbarkeit gelehrt hat.
96. l. Die Lehre von der Unerkennbarkeit des
Dinges an eich hat KANT besonders reiches Lob ein-
getragen. Ganz mit Unrecht.
a) Schon die Art, wie er diese Lehre zu beweisen ver-
•mcht, scheint unzulänglich. Er meint, sie ergebe sich
von vornherein aus dem Einflusse der Subjektivität, der
das zustandegekommene Bild notwendig verfälschen
müsse. Offenbar nimmt er an, daß das Ding an sich,
wenn es allein wirkte, eine Erscheinung erzeugen würde,
die ihm vollkommen entspräche. (Und ähnlich die Sub-
jektivität.) Nun wirken aber die beiden Faktoren zu-
sammen, also stören sie einander.
Vorausgesetzt wird hier der Satz, daß Ähnliches die
Tendenz habe, Ähnliches zu wirken. Mit welchem Rechte 1
A priori leuchtet das nicht ein. Also muß die Erfahrung
entscheiden, die aber doch nur, soweit sie reicht; und
so bleibt denn denkbar, daß die beiden Faktoren so zu-
sammenwirken, daß sie sich zur Produktion der dem Ding
an eich entsprechenden Erscheinung ergänzen. (Das
Bienenweibchen allein erzeugt Männchen und mit dem
Männchen Weibchen. Wie töricht, wenn einer a priori
das Gegenteil behaupten wollte! Und doch liegt unser
Fall ganz ähnlich) 34 ).
Ich will natürlich nicht leugnen, daß faktisch vielfach
das Gewirkte seiner Ursache ähnlich ist; die Erfahrung
spricht in gewissen Fällen zugunsten einer solchen Ähn-
lichkeit, nur leugne ich die Berechtigung, dies von vorn-
herein und allgemein anzunehmen.
Die Unerkennbarkeit des Dinges an sich ist also, auf
diese Weise wenigstens, nicht bewiesen.
b) Und noch mehr, sie besteht gar nicht allgemein;
und wenn sie bestünde, so würde ein absoluter Skepti-
zismus die Folge sein.
Ich sage, der Satz von der Unerkennbarkeit des Dinges
an sich ist geradezu falsch. Wenigstens in der Allgemein-
ist unbewiesen, js fsl.sch 113
heit, in welcher KANT ihn behauptet. Denn die innere
Wahrnehmung erfaßt ihr Objekt, wie es an sich ist,
und unterscheidet sich so als evidente Wahrnehmung
von der äußeren. DESCARTESund LOCKE hatten den
Unterschied erkannt, während KANT ihn völlig ver-
wischte. Es ist geradezu ein Widersinn, wenn man
äußere und innere Wahrnehmung hierin gleichstellen, von
beiden nur zugeben will, daß sie bloß „phänomenale
Wahrheit" enthielten.
Damit die Farbe als Phänomen existiere, muß das
Vorstellen der Farbe an sich bestehen. Denn, frage ich,
was heißt: Farbe hat phänomenale Wahrheit 1
Reißt das: Es ist wahr, daß die Farbe als vorge-
stellt existiert? Dann heißt es nichts anderes, als daß
ein die Farbe Vorstellendes ist. Mit andern Worten, die
phänomenale Wahrheit der äußeren besagt die Wahrheit
an sich der inneren Wahrnehmung.
Heißt es: Wahrheit nur für das Subjekt, nicht auch
für andere und für alle 1 Dann läuft die Lehre auf eine
Fälschung des Begriffes der Wahrheit und auf die Leug-
nung aller Evidenz oder Erkenntnis hinaus. (Ich glaube
nicht, daß KANT es so meinen konnte, doch gibt es Leute,
die ihn so verstehen wollen.) Eine solche Wahrheit für
mich im Unterschiede von einer für dich ist Unsinn.
Wenn es überhaupt wahr ist, daß ich ein gewisses Phä-
nomen habe, so ist es wahr für jeden, der so urteilt, ja
für alle schlechthin. Diese Deutung der „phänomenalen
Wahrheit" fiele zurück in den Subjektivismus des PROTA-
GORAS,an welchem schon ARISTOTELESdiese Fälschung
des Begriffes der Wahrheit gerügt hat.
Was soll denn die Einschränkung einer Wahrheit auf
eine solche bloß für mich 1 Soll das heißen: ,,Auf das,
was ich für wahr halte 1" Damit wäre nun allerdings
jeder Irrtum aufgehoben - aber ebenso auch alle Er-
kenntnis und alles wirkliche Wissen!
Wenn einer verbessern wollte: ,,Wahr für mich ist,
was ich nach den Gesetzen meiner Natur für wahr halte",
114: Die Beschränkung der s. E. a..

so läuft das auf dasselbe hinaus. Denn nach Natur-


gesetzen geschieht alles, also urteilt auch jeder, der
urteilt, nach Gesetzen der Natur.
Vielleicht sagt einer: Phänomenale \Vahrheit bedeute
Wahrheit im Sinne eines Zeichens für etwas in sich Un-
bekanntes. Aber ·wie, wenn dies so unbekannt ist, daß
wir nicht einmal das wissen, ob das eine Mal und andere
Mal ein Unterschied vorliegt? Wenn dieses Unbekannte
weder als Einheit, noch als Vielheit, weder als Beharren,
noch als Wechsel sich erkennen läßt usw.?
Wie dem sein möge - eines scheint mir sicher, daß
die Leute, die von „phänomenaler Wahrheit" sprechen,
ohne einen Unterschied zwischen äußerer und innerer
Wahrnehmung zu machen, und KANT an der Spitze,
sich gar nicht klar gemacht haben, was sie eigentlich mit
ihrer phänomenalen Wahrheit wollen.
Was KANT insbesondere betrifft, so gäbe es hier gegen
ihn noch ein argumentum ad hominem. Man könnte
ihn fragen: Ist die Raum- (oder Zeit-) Anschauung ein
Phänomen oder Ding an sich? Angenommen, sie sei
Phänomen, so müßte sie doch, als rein a priori, ein solches
Phänomen sein, das dem dabei einzig beteiligten Faktor,
nämlich der Subjektivität, voll entspricht. Dann aber ist
die Räumlichkeit (und Zeitlichkeit) auch Sache dieses
Faktors, also auch an sich.
Dieses Argument scheint zwingend, wenn auch nur für
KANT selbst und auf Grund einer falschen Voraussetzung.
Es ist aber klar, daß es seine ganze Lehre zu oberst zu
unterst kehrt.
Doch bleiben wir bei dem, was allgemein gültig gesagt
ist: die Evidenz der inneren \Vahrnehmung ist unbe-
streitbar, und sie zeigt, daß die Erkenntnis eines Dinges,
wie es an sich ist, möglich und wirklich ist.
97. 2. Noch eine andere Schranke hat KANT der Er-
kenntnis gesetzt. Nur für Gegenstände möglicher Er-
fahrung sollen die synthetischen Erkenntnisse a priori
Geltung haben, und darum soll es nicht angehen, auf
auf Erfa.brungagegenstände ist Willkür 115

Grund des Kausalgesetzes oder wie immer einen Schluß


auf eine transzendente Tatsache zu machen.
Auch diese Bestimmung erweist sich als volle Willkür.
In Wahrheit ist es nicht einzusehen, warum, wenn die
synthetischen Vorurteile für die Erfahrungsgegenstände
Geltung haben, sie nicht ebenso auf alles, worüber wir
denken - also z. B. das Kausalgesetz auf die Idee
Gottes - anwendbar sein sollen. Unsere Idee Gottes
ist ja doch auch durch unsere Subjektivität durch-
gegangen wie alle andern Vorstellungen, die unser sind.
Warum also die Ausnahme 1
Sagt einer: die Gottesidee sei aber nur durch die Sub-
jektivität des Verstandes, nicht durch die der Sinn-
lichkeit hindurchgegangen, was aber ebenfalls dazu ge-
hörte, damit die subjektiven Erkenntnisgesetze gültig
seien - so ist zu erwidern, daß diese Forderung die reine
Willkür ist, und um so verwunderlicher, als das Kausali-
tätsgesetz nach KANT mit der Kategorie der Kausalität
gegeben ist, die doch nicht eine Anschauungsform der
Sinnlichkeit, sondern ein Stammbegriff des reinen Ver-
standes sein soll. Also wäre zu erwarten, daß dieses
subjektive Gesetz, wenn für etwas, für alle Gedanken-
gebilde des Verstandes Geltung haben müsse. Wohin
man blickt, nichts als Willkür!*)
98. Doch nicht nur völlig willkürlich ist diese Be-
schränkung, die so beschränkten Prinzipien wären auch

*) Vielleicht sagt einer, um dem Widerspruch zu ent-


gehen, auch die Erfahrungsgegenstände haben nur phänome-
nale Wahrheit. Ich antworte: Wohlan, angenommen! Dann
fällt der Unterschied überhaupt fort. Und da KANT zudem
die Phänomene so eigentümlich faßt, daß sie wirken und
gewirkt werden, so ist die phänomenale Wahrheit eines
Gottes erst recht von großer Bedeutung. (Daß es freilich
absurd ist, Phänomenen diese Bedeutung zu geben, ist
richtig, wenn anders man unter dem Phänomen das bloß
Vorgestellte als solches versteht, also gar nichts Reales.
Aber diese Absurdität trifft nicht uns, dafür muß der Ur-
heber des Systems verantwortlich gemacht werden.)
116 An Kt.NTs Beschränkungen hält sich

nicht ausreichend, um die Naturwissenschaft und die


Mathematik zu retten.
a) Die Naturwissenschaften wenden das Kausalgesetz
ganz anders an als KANT ihnen hier gestatten will. Sie
nehmen nie eine Verursachung zwischen den Phänomenen
an, sondern durchwegs zwischen den selten oder nie in
die Erscheinung tretenden Ursachen der Vorstellungen
der Phänomene. In der Tat wäre jenes, wie wir eben
bemerkten, absurd. Mit einem vorgestellten Stein läßt
sich kein Fenster einwerfen. Phänomene fallen nicht und
gehen keine chemischen Verbindungen ein.
b) Die Naturwissenschaft hat nie ein Bedenken, über
die Grenzen möglicher Erfahrung hinaus:,;ugehen (z. B.
ins unsichtbar Kleine), und wäre es selbst nicht bloß
nicht ausgeschlossen, sondern sogar erwiesen, daß von
dem betreffenden Gegenstande in alle Ewigkeit keine Er-
fahrung zu machen sein werde. So wendet sie die Ge-
setze der Mechanik ohne Scheu auch auf die Atome an*).
c) Ebenso ungenügend wäre KANTS Lehre zur Rettung
der Mathematik. De~ diese stellt heute kühne Theorien
für hypothetische n-dimensionale Größen auf, unbem
kümmert darum, ob sie damit das Gebiet der Anschc.u-
lichkeit und möglichen Erfahrung überschreite. Kein
Mathematiker glaubt wohl heute noch an die Gebunden-
heit seiner Analysen an die Raumanschauung. In der
Tat müßte er sich auch, wenn er an die räumliche An-
schaulichkeit sich zu halten hätte, für den dreidimensio-
nalen Raum sehr enge Grenzen ziehen.
Und ähnliches gilt für die Zeit. Gegen die Forderung,
nicht über das hinauszugehen, was uns davon anschau-

*) Auch solche Körperchen, von deren Existenz wir nur


durch das bewaffnete Auge erfahren, bleiben unmerklich
kleine Größen, auf welche wir nur aus andern Erscheinungen,
welche ihre Wirkung sind, Schlüsse ziehen. Sie sind keine
Gegenstände möglicher Erfahrung. Wie nun, wenn wir auf
die Infusorien usw. das Gesetz der Trägheit usw. nicht an-
wenden dürften 1
weder eine Wissenschaft noch er selbst 117

lieh gegeben ist, müßten Mathematik, Mechanik, Bio-


logie, Weltgeschichte, kurz alle Wissenschaften pro-
testieren.
Interessant ist hier eine Stelle der Methodenlehre, wo
KANT das Genügen der symbolischen Konstruktion (wo
die ostensive nicht zu leisten ist) zugesteht. Er fühlt
offenbar das Bedürfnis einer Erweiterung über die Gren-
zen des in sich selbst Anschaulichen. Wem wäre auch
eine Billion anschaulich? Man hält sich (nach KANT)
an die Ziffern. Aber geht eben dadurch auf das in sich
Transzendente.
99. Ist es hier schon unverkennbar, daß KANT sich
selbst nicht konsequent an diese Schranke gebunden hat,
so noch auffallender anderwärts.
a) Beim Schluß auf ein Ding an sich nach dem Gesetz
der Kausalität. Hier ist der Gegenstand transzendent,
sohin wäre nach der Lehre KANTs der Schluß gar nicht
gestattet. KANT zieht ihn aber doch.
b) Beim Schluß auf die Subjektivität. Denn ist diese
ein Phänomen 1 Ein Erfahrungsgegenstand 1 Nein! Sie
ist, wie das Ding an sich, ein Faktor beim Zustandekommen
des Phänomens, ja KANT vermutet einmal, daß es mit
dem Ding an sich identisch sein möge. (Eine Vermutung,
mit der dann FICHTEs „Das Ich-Nichtich" ernst ge-
macht hat.)
c) Beim Schluß auf die fremden psychischen Phäno-
mene, d. h. auf psychische Wesen außer uns. Ein Du
ist kein Gegenstand möglicher Erfahrung für mich. Es
mag sich erfahren, für mich ist es transzendent. Den-
noch mache ich den Schluß, und KANT hat ihn auch
gemacht.
d) Insbesondere deutlich beim Schluß auf eine Mehr-
heit psychischer Wesen. (Ihr - sie.) Diese Mehrheit ist
etwas, was für gar niemanden Gegenstand einer mög-
lichen unmittelbaren Erfahrung ist. Gleichwohl hat KANT
gewiß damit gerechnet.
So stößt denn Widerspruch auf Widerspruch.
118 Widersprüche in der Kosmologie

e) Noch anschaulicher werden diese Widersprüche


KANTS mit sich selbst in der Kosmologie, wenn er von
den synthetischen Erkenntnissen a priori und insbe-
sondere von dem Kausalgesetz leugnen will, daß es für
die Totalität der Erscheinungen der Welt, für das
Ganze der Geschichte des Universums in Anspruch ge-
nommen werden dürfe, weil das Ganze der Welt transzen-
dent, kein Gegenstand möglicher Erfahrung sei. Nur für
die Teile der Welt, die einzelnen Ereignisse und Gruppen,
lasse es sich, und zwar durchwegs anwenden. Das ist
ein Widerspruch: wenn ich über jede endliche Entfernung
hinaus das Kausalgesetz auf die Ereignisse der Welt an-
wenden darf und soll - was KANT zugibt -, so darf ich
und muß ich es für die unendliche Reihe in Anspruch
nehmen.
(Man vergleiche das Verfahren der Mathematiker, die,
wenn sie gefnnden haben, daß, wenn etwas, falls für das
nte Glied, auch noch für das n + lte Glied gilt, seine
universelle Geltung als selbstverständlich ansehen; oder
bei der Exhaustionsmethode, wenn sie vom Vieleck auf
den Kreis schließen; ebenso bei der Differentialrech-
nung.)
So bliebe denn nichts übrig, als selbst dem Satze des
Widerspruchs beschränkte Gültigkeit zuzugestehen, was
absurd wäre und uns gegen die absolute Skepsis vollends
widerstandslos machen würde.
Übrigens wurde schon vorhin die Frage gestreüt, ob
nicht, wie das Universum, auch schon beträchtlichere
Teile der Welt und beträchtlichere Strecken der Ge-
schichte als transzendent gelten müssen. Ist's nicht volle
Willkür, wenn KANT bezüglich ihrer kein Bedenken hegt,
dort aber sich nicht beruhigt findet?
100. 3. Wiederum könnte man sagen: Genug und über-
genug! Aber noch eines darf ich nicht verschweigen,
nämlich, daß bei KANT, genau besehen, noch eine Be-
schränkung der Anwendbarkeit von Gesetzen gelehrt
wird, welche er sich selbst nicht zu klarem Bewußtsein
Beschränkung analytischer Erkenntnis 119

gebracht hat und welche noch bedenklicher als die der


sog. synthetischen Erkenntnisse a priori, nämlich die der
analytischen und des Satzes des Widerspruchs selbst.
In der Kosmologie, aus welcher wir eben die Behaup-
tung anführten, daß das Kausalgesetz nicht für die To-
talität der Erscheinungen in Anspruch genommen werden
könne, lehrt KANT nämlich noch, daß man auf Wider-
sprüche geführt werde sowohl, wenn man annehme, daß
die Welt im Raum und in der Zeit endlich, als wenn man
annehme, daß sie unendlich sei, d. h. doch wohl, sowohl
wenn man annehme, daß es dem Raume nach (und
ebenso der Zeit nach) äußerste Phänomene gebe, als
auch, wenn man annehme, daß es solche nicht gebe. Er
folgert daraus nur, daß man hier ins Transzendente sich
verirrt habe. Da nun aber die eine oder die andere An-
nahme nach dem Gesetze des ausgeschlossenen Dritten
wahr sein muß, wenn es überhaupt Phänomene gibt, so
würde diese Behauptung, daß es Phänomene gebe, selbst
bereits die Widersprüche involvieren. An der Existenz
der Phänomene aber hält KANT doch fest.
Ebenso lehrt er, daß man sich in Widersprüche ver-
wickle sowohl, wenn man annehme, daß die. räumlichen
Phänomene aus letzten, nicht weiter teilbaren Teilen
bestünden, als auch wenn man annehme, daß dies nicht
der Fall sei. Da nun wieder eine von beiden Annahmen
richtig sein muß, falls überhaupt räumliche Phänomene
existieren, so ist auch hier unter dieser Voraussetzung
dem Widerspruch nicht zu entfliehen. Er ist also in der
Annahme der Phänomene selbst involviert.
Und so zeigt sich denn, daß, genau besehen, wenn für
das Gebiet der Dinge an sich die synthetischen Erkennt-
nisse a priori keine Geltung haben, für das Gebiet der
Erscheinungen die analytischen, der Satz des Wider-
spruchs, sie nicht haben. Die Phänomene - das Einzige,
wovon es ein Wissen geben soll - haben den Wider-
spruch an sich, so daß KANT hier schon den Satz HEGELS
vorbereitet, daß alle Dinge widersprechend seien.
120 KANTS Rettungsversuch

Wie wahr dies ist, sieht man daraus, daß HuME, von
welchem KANT insbesondere zu der Aporie über die Teil-
barkeit die Anregung empfing, geradezu skeptisch für
die Verwerfung jeder Kontinuität argumentierte.
Es ist aber einleuchtend, daß, wenn selbst, wie.KANT
meint, die Annahme der analytischen Sätze für sich allein
zum Aufbau einer Wissenschaft nicht genügen sollte, die
Verwerfung dieser Sätze ihn jedenfalls unmöglich machen
muß. Somit wäre eine phänomenale Wissenschaft ebenso-
wenig als eine Wissenschaft an sich erreichbar.
101. Der Kampf KANTS gegen die Skepsis endet mit
einer Niederlage auf der ganzen Linie.
Ich brauche aber kaum erst zu bemerken, daß mit
seiner Niederlage die Wissenschaft selbst nicht wehrlos
erscheint. KANT hat eben Unrecht, wenn er diese Wider-
sprüche als unausweichlich letzte Konsequenzen hin-
stellt. Nein! Das Gesetz des Widerspruchs gilt. Weder
die Dinge an sich, noch die Phänomene sind mit Wider-
sprüchen behaftet. In Begriffen ist ein Widerspruch und
Widerstreit der Bestimmungen möglich, in einer An-
schauung niemals.
Und so sind wir denn überhaupt auch Huirns An-
griffen gegenüber, und zwar ohne alle Hilfe apriorischer
synthetischer Wundermittel, genügend zur Abwehr ge-
rüstet.
Kritik der Lehre HuMEs
102. KANT schließt seine „Kritik der reinen Ver-
nunft" mit Worten stolzer Zuversicht. Er glaubt die
Weise, wie man die großen Rätsel der Philosophie lösen
könne, gezeigt, ja er glaubt, die Lösung schon ganz oder
nahezu erreicht zu haben: ,,Der kritische Weg ist
allein noch offen. Wenn der Leser diesen in meiner Gesell-
schaft durchzuwandern Gefälligkeit und Geduld gehabt
hat, so mag er jetzt urteilen, ob nicht, wenn es ihm
beliebt, das Seinige dazu beizutragen, um diesen Fuß-
steig zur Heerstraße zu machen, dasjenige, was viele
vollständig mißlungen 121
Jahrhunderte nicht leisten konnten, noch vor Ablauf des
gegenwärtigen erreicht werden möge: nämlich die mensch-
liche Vernunft in dem, was ihre Wißbegierde jederzeit,
bisher aber vergeblich beschäftigt hat, zur völligen Be-
friedigung zu bringen."
Wie seltsam kontrastiert der wahre Wert seiner Theorie
gegen den, den er ihr zuschreibt! Wir haben die Grund-
lagen seines Systems geprüft, und sie haben sich als
gänzlich unhaltbar erwiesen. Mit ihnen stürzt notwendig
das ganze Gebäude.
Indem ich dieses Endergebnis uns ins Bewußtsein
zurückrufe, fühle ich aber auch die Pflicht, nochmals
darauf hinzuweisen, daß wir zwischen dem Gelingen des
Unternehmens und der geistigen Kraft, die der Unter-
nehmende darin bekundet, wesentlich unterscheiden
müssen. KANT gehört gewiß zu den mächtigsten Geistern,
und sein Name wird in der Geschichte unserer Wissen-
schaft allezeit genannt werden, wenn auch sein Werk
nicht ewig bestehen wird und in gewissem Sinn für uns,
die wir erkannt haben, daß alles auf Illusionen ruht, und
nichts ein logisch festes Gefüge hat, schon heute nicht
mehr besteht.
103. Dagegen steht DAVID HuME mit seiner Skepsis,
deren Bekämpfung KANT seine ganze Kraft gewidmet
hat, um so mehr noch als ungeschwächter Gegner uns
gegenüber. Wir scheinen da einen harten Stand zu haben.
KANT wollte die Wissenschaft nur für Gegenstände mög-
licher Erfahrung retten - wir wollen Größeres: auch
ein Beweis fürs Dasein Gottes soll möglich sein. KANT
nahm, um auch nur jenes zu leisten, seine Zuflucht zu
angeblichen synthetischen Erkenntnissen a priori - wir
geben diese völlig preis und erkennen mit Hu~rn nur
analytische Axiome und Erfahrungstatsachen als sichere
Grundlage an. Wir wollen also Größeres leisten mit
geringeren Mitteln.
Dennoch dürfen wir nicht verzagen und den großen
Gegner für unüberwindlich halten. Ja der gesunde Men-
122 Rekapitulat.ion von

schenverstand wird von vornherein auf unserer Seite


sein, wenn wir sagen: Falls wirklich jeder Beweisversuch
für das Dasein Gottes als aussichtslos aufgegeben werden
müßte, so könnte die Skepsis H-uMEs doch nicht der Grund
dafür sein. Die Argumente HUl\IEs beweisen entweder
nichts gegen unsern Versuch, oder es fällt mit ihm zu-
gleich jeder Versuch einer empirischen Wissenschaft.
Bei genauerer Prüfung zeigt sich denn auch, daß die
HuMEsche Lehre, wenn nicht dieselbe Willkür und un-
berechtigte Konstruktionslust, doch ebenso wesentliche
Fehler hat wie die KANTsche, so daß auch, was dieses
Hindernis anlangt, uns die Bahn völlig frei wird.
104. Zunächst wird es aber nötig sein. uns seinen Gedan-
ken~ang den wesentlichsten Momenten nach in Erinnerung
zu rufen.
Vier Punkte kommen vornehmlich in Betracht:
1. Die Gesamtheit unserer Erkenntnisse verteilt sich
nach HuME auf zwei Klassen: auf „Beziehungen von
Ideen" und auf „Tatsachen". Oder - was dasselbe
sagen soll - auf analytische Erkenntnisse a priori einer-
seits und aposteriorische Erkenntnisse, welche auf Wahr-
nehmung (und Gedächtnis) beruhen, andererseits.
Die ersten sind teils unmittelbar (wie die mathemati-
schen Axiome), teils mittelbar (wie die mathematischen
Lehrsätze). Von den zweiten; den aposteriorischen, sind
wenigstens die unmittelbaren gesichert.
2. Fragen wir, wie wir denn mittelbar einer Tatsache
uns versichern können, so ist zu antworten: nur etwa
auf Grund eines Kausalverhältnisses. Mit diesen werden
wir uns also zu befassen haben, wenn wir uns über die
logische Berechtigung eines Schlusses auf Tatsachen ein
Urteil bilden wollen.
3. Vor allem aber gilt es hier den Begriff „Ursache" zu
klären. Schon die Frage, aus welcher Impression er
stammt, setzte HuME in einige Verlegenheit. Er glaubte
ihn schließlich aus der Vereinigung mehrerer Eindrücke
zu begreifen, von denen keiner isoliert Kausalität ergibt.
HuMEs Gedankengang 123
Ursache ist ihm das regelmäßige Antenzendens, welches
die Erwartung erweckt, daß eine gewisse Konsequenz
eintreten werde 36 ).
4. Diese Erwartung ist aber nicht vernünftig zu
nennen. Denn bei einem logisch korrekten Schluß darf
der Schlußsatz nicht mehr sagen, als was in den Prä-
missen enthalten ist.
Sagt man dagegen, alle Menschen schlössen so, so gibt
HUME zu, daß man deshalb diese Schlußweise eine ihnen
natürliche, nicht auch, daß man sie vernünftig nennen
dürfte.
Sie schließen aber unvernünftig und unnatürlich zu-
gleich, wenn sie, von der Gewohnheit verlassen, mit
ihren Erwartungen über das Gebiet aller Erfahrung hinaus
ins Transzendente zielen.
105. Das also ist die Weise, wie HuME uns den Be-
weisversuch für das Dasein Gottes streitig macht. Wir
sehen, es war nicht zuviel gesagt, daß alle empirische
Wissenschaft und gewiß auch jeder gesunde Menschen-
verstand hier unser Bundesgenosse ist. HuMEB Skepsis
ist zwar nicht universell, greift aber doch weit über
unsere Frage hinaus. Hätte er Recht, so gäbe es nicht
bloß keinen Gottesbeweis, sondern auch keine Natur-
wissenschaft. Da und dort hätten wir gleichmäßig nur
ein illusorisches Wissen. Ein Irrtum wäre es ebenso, wenn
der Naturforscher auf das Vorhandensein von Wasserstoff
oder dergleichen, als wenn der Metaphysiker auf das Da-
sein Gottes zu schließen sich unterfängt. Ob der Irrtum
ein „natürlicher" oder ein „unnatürlicher" zu nennen
sei, fällt dabei nicht ins Gewicht. Das einzig Wesentliche
ist, ob Wahrheit oder Irrtum, Vernunft oder Unvernunft.
Das ist denn doch eine Lehre, die von vornherein ver-
dächtig erscheinen muß. Die klare Widerlegung aber
ergibt sich aus einer sorgsamen Erwägung der einzelnen
Momente, die wir in unserer Darlegung darum streng
gesondert halten, um jedes in seiner Isoliertheit leichter
und allseitig zu betrachten.
124 HU1i1Es Einteilung der Erkenntnisse

106. Wenden wir uns zunächst zum ersten Punkt, zu


HuMES Einteilung der Erkenntnisse:
1. Alle unsere Erkenntnisse, lehrt er, sind entweder
analytische Erkenntnisse a priori oder aposteriorische
Erkenntnisse. Das ist für uns, nachdem die synthetischen
Erkenntnisse a priori gefallen sind, nicht mehr zu be-
zweifeln. Aber ich muß doch bemerken, daß die Dar-
legung dieses Satzes, wie sie sich in den „Untersuchungen
über den menschlichen Verstand" (IV. Abschnitt, I. Teil
princ.) findet, Bedenken erregen muß und zu Ver-
wirrungen Anlaß geben kann.
Während nämlich HuME eigentlich nur die natürliche
Einteilung von Urteilen und Erkenntnissen gibt, spricht
er zugleich, als ob er von den Gegenständen der Urteile
und Erkenntnisse eine Einteilung gebe, was doch etwas
ganz anderes ist. Hören wir ihn selbst: ,,Man kann alle
Gegenstände der menschlichen Vernunft oder der Unter-
suchung sehr ungezwungen in zwei Klassen einteilen,
nämlich Beziehungen der Ideen und Tatsachen." Dann
aber fährt er freilich fort: ,,Zur ersten Klasse gehören die
Sätze der Geometrie, der Algebra und Arithmetik und
überhaupt jedes Urteil, dessen Evidenz auf Intuition und
Demonstration sich gründet . . . Sätze der Art werden
durch die Wirksamkeit des Denkvermögens gefunden, sie
sind unabhängig von was immer für einem Ding auf der
Welt." Bald darauf aber hören wir wieder: ,,Tatsachen,
die zweite Art der Gegenstände der menschlichen Ver-
nunft ... " Die Sache wird freilich daraus begreiflich,
daß jedem Erkennen ein Erkanntes entspricht, und daß
man, wenn von einer Erkenntnis a priori und a poste-
riori, auch von einem a priori Erkannten und a poste-
riori Erkannten sprechen kann. Aber dennoch ist bei
der großen Tragweite, die hier jeder Irrtum gewinnen
würde, die größte Achtsamkeit geboten, damit man über
den Umfang des einen und andern Gebietes im klaren sei.
a) So erscheint es von vornherein nicht undenkbar,
daß etwas, sowohl a priori, als auch a posteriori erkannt
Hm,ras Einteilung der Erkenntnisse 121}

werden könne. ARCHIMEDESwollte so die Parabeifläche


feststellen 36 ), GAUSS den Satz, daß das Dreieck zur
Winkelsumme zwei Rechte hat. Wir haben hier denselben
Gegenstand, dieselbe Wahrheit, aber in anderer Erkennt-
nisweise, müßten also sagen, derselbe Satz sei eine „Be-
ziehung von Ideen" und „Tatsache", analytische Er-
kenntnis a priori und Erkenntnis a posteriori. Das stimmt
aber doch nicht, wenigstens nicht, insofern er das eine
oder andere ist.
HuME scheint von vornherein eine solche Möglichkeit,
daß dasselbe beide Erkenntnisweisen zulasse, auszu-
schließen.
b) Auch das ist nicht von vornherein undenkbar, daß
ein Schluß aus einer Mischung von a priorischen und
a posteriorischen Annahmen gebildet werde. Es ist sogar
sehr neheliegend. Ein Beispiel bietet der Schluß mit den
beiden Prämissen: Alle Dreiecke haben zwei Rechte. Und:
Diese Fläche ist ein Dreieck. Oder: daß ein gewisser, mir
vorliegender Körper ein bestimmtes Verhältnis der Ober-
fläche zum Inhalt aufweist, ist eine Tatsache. Daß er
eine Kugel ist, ist eine Tatsache. Die eine läßt sich aus
der andern unter Zuhilfenahme analytischer Sätze er-
schließen. Oder: der Schluß: A ist ein Apfel, B ist ein
Apfel, C ist ein Apfel. Also sind, da 1 + 1 + 1 = 3,
drei Äpfel vorhanden. Wohin würde nun hier der Schluß
aber gehören 1 Offenbar zu den a posteriori erkannten
Wahrheiten.
HUME hebt dies indes nicht ausdrücklich hervor, wohl
darum, weil er solchen Erkenntnissen keine große Wich-
tigkeit beilegt. Doch ist von vornherein das Maß der
Wichtigkeit nicht sicher zu bestimmen, und jedenfalls
scheint es gut, dies hervorzuheben.
107. 2. In Wahrheit finden wir die Folgen der Unter-
lassung sogleich bei der Prüfung des zweiten Punktes.
Die Behauptung, mittelbar könnten wir uns nur etwa.
auf Grund eines Kausalverhältnisses einer Tatsache ver-
sichern, ist entschieden falsch.
126 HUMEB Ka.use.lbegriff

Wenn „alle M sind P" analytisch und „S ist M" empi-


risch ist, so folgt „S ist P", und es ist dies ein Schluß auf
eine Tatsache. Von einem Wirken braucht dabei keine
Rede zu sein. Es kann, wie das eben erwähnte Beispiel
lehrt, auch ein rein mathematisches Verhältnis den Zu-
sammenhang herstellen. Der Begriff des Wirkens, wenn
man hier von einem solchen sprechen wollte, würde also
mißbräuchlich verändert sein.
108. 3. Doch sehen wir, wie HUME den Begriff des Wir-
kens bestimmt hat.
Die Methode, die er bei dieser Untersuchung anwandte,
ist grundsätzlich zu billigen. So muß man es machen:
nach anschaulichen Beispielen suchen, aus denen er ab-
strahiert sein könnte. Nur durch solches Zurückgehen
auf die Erfahrung als Quelle aller unserer Begriffe ist
für dunkle und strittige Begriffe eine Klärung und Ver-
deutlichung zu erwarten, nicht durch ein willkürliches
und unnatürliches Diktum: was man nicht analysieren
kann, seh' man als a priori an! Aber die Handhabung
der Methode ist bei H UME- wenigstens in diesem Falle
- keine glückliche, denn der Begriff, der sich für ihn
dabei ergibt, stimmt nicht mit der Weise, wie wir den
Begriff Ursache fort und fort in der Wissenschaft ange-
wandt finden. Nach HuME wäre „Ursache" ein des
öfteren erfahrener Eindruck, der uns durch Gewöhnung
einen zweiten, andern Eindruck in seinem Gefolge er-
warten läßt. Dagegen hat schon der schottische Philo-
soph THOMASREID geltend gemacht, daß, so verstanden,
auch die Nacht die „Ursache" des Tages genannt werden
müßte. (In Wahrheit ist sie aber Wirkung eines Standes
der Sonne, der zu einem Stande führt, welcher den Tag
bewirkt.)
Noch mehr, indem HUME die Ursache ein „erfahrungs-
mäßiges Antezedenz" nennt, widerspricht er sich selbst.
Nach ihm soll doch jeder Schluß von einer Tatsache auf
eine andere ein solcher von einer Ursache auf eine Wir-
kung oder umgekehrt sein. Halten wir uns an ein Bei-
HUMEs Kausalbegriff 127
spiel. Wir sehen vor uns etwas Gelbes und schließen aus
der Goldfarbe auf den Gold.klang. Dabei soll uns nach
HuME eine Kausalbeziehung leiten. Aber wie denn 1 Ist
etwa die Goldfarbe die Ursache des Goldklanges oder
umgekehrt 1 Offenbar keines von beiden. Wir schließen
vielmehr aus unserem Gesichtseindruck auf die Gegen-
wart eines Goldstücks und diesem schreiben wir die
Fähigkeit zu, auch eine gewisse Gehörsempfindung in
uns hervorzurufen. Was verstehen wir aber unter Gold 1
Nichts als die (in sich unwahrnehmbare) Ursache
dieser Wirkungen. Ursache ist also hier durchaus nicht
erfahrungsmäßiges Antezedenz.
So hat denn HUMES Bestimmung Fehler nach beiden
Seiten: sie überschreitet den Umfang des Begriffes und
erfüllt ihn andererseits doch nicht. Denn manches, was
den Namen verdient, fällt nicht unter HuMEs Definition,
und anderes, worauf sie paßt, verdient ihn nicht.
Somit ist klar, daß er, trotz des Scharfsinnes, den er
an seine Analyse gewandt und des Eindruckes, den er
damit auf viele gemacht hat, doch den Inhalt des Be-
griffes nicht richtig bestimmt hat. Welches ist nun aber
der wahre Begriff der Ursache und woher stammt ed
109. In Fällen, wo uns der Ursprung eines Begriffes
fraglich erscheint und Schwierigkeiten macht, empfiehlt
es sich, ihn auf dem Gebiete der inneren Erfahrung zu
suchen. Nun hat freilich auch HUME dieses Gebiet nicht
vernachlässigt, aber er hat den richtigen Punkt nicht ge-
funden, oder wenn er ihn gefunden hat, sich durch
scheinbare Objektionen daran irre machen lassen. Er
meinte, wir bekämen den Begriff „Ursache" erst da, wo
wir mehrmals eines auf ein anderes folgen sahen. Vor-
her nähmen wir nicht mehr als ein zeitliches Nacheinander
wahr. Aber so ist es nicht überall auf dem Gebiete der
inneren Erfahrung.
Wenn wir z.B. einen Schluß ziehen, so folgt in uns der
Gedanke des Schlußsatzes dem Eintritt der Prämissen
ins Bewußtsein wohl vielleicht zeitlich nach, aber nicht
128 Ursprung des Kausalbegriffes

bloß dieses Verhältnis des Vor- und Nacheinander er-


fassen wir, sondern noch ein ganz anderes und eigen-
artiges. Und dieses bestimmt uns, selbst wenn wir den
Schluß zum ersten Male gezogen haben, zu sagen, er
gehe aus den Prämissen hervor, er sei nicht bloß ihre
zeitliche Folge, sondern ihre Wirkung. Wir erfassen hier
kein bloßes Nach-dem-andern, sondern ein Durch-das-
andere.
Oder der Fall einer unmittelbaren Einsicht. Ich sehe
ein Axiom ein, z. B. daß was wahr ist, nicht falsch ist.
Um dieses Urteil zu fällen, muß ich mir allerdings die
Vorstellungen von wahr und falsch gebildet haben, aber
zwischen diesen und dem ihre Vereinigung apodiktisch
verwerfenden Urteil nehme ich nicht bloß das zeitliche
Verhältnis wahr, sondern ich bemerke auch, daß mein
Urteil aus diesen meinen Vorstellungen entspringt. Aus
den Begriffen, die seine Materie bilden, leuchtet mir das
Urteil ein. Und ich muß, um dieses Zusammenhanges
inne zu werden, nicht erst hundertmal erfahren haben,
wie auf die betreffenden Vorstellungen hin jenes Urteil
sich einstellt.
Ein anderes Beispiel: ich begehre etwas als Mittel zu
einem gewissen Zwecke. Ich habe dann einen zweüachen
Willen, ich will den Zweck, und ich will daraufhin das
Mittel. Der zweite mag dem ersten vielleicht zeitlich
nachfolgen. Nehme ich aber lediglich dieses Zeitverhält-
nis zwischen ihnen wahr1 Nein, ich gewahre unmittel-
bar ein Hervorgehen des einen aus dem andern. Ich
nehme wahr, daß das Wollen des Zwecks in mir das
Wollen des Mittels bewirkt. Und wiederum brauche ich,
um das zu bemerken, nicht wiederholt schon das eine
mit und nach dem andern gewollt zu haben.
Dies also sind die Fälle 37 ), wo wir das Wirken faktisch
wahrnehmen, und von hier aus verallgemeinern wir den
Begriff und tragen ihn als „Kraft" hinaus zur Erklärung
in die Natur, wie manchen andern Begriff, den wir dem
Innern entnehmen. Tragen wir doch auch den Begriff
Ursprung des Kausalbegriffes 129
des Zweckes zur Erklärung in die Natur hinaus, obwohl
man Zwecke ebensowenig sehen, hören, tasten kann,
wie Ursachen. Wo immer wir von einem Gewirkten
reden, da meinen wir - so allgemein wird der Begriff
gefaßt - ein Reales, das vom Nichtsein zum Sein be-
stimmt wird, weshalb das Wirkende jedenfalls bis zu dem
Momente sein muß, wann das Gewirkte beginnt und ge-
wirkt wird. Daher auch die Mehrdeutigkeit des Wortes
,,infolge".
110. Vielleicht befremdet es manchen, daß die Tat-
sachen, im Hinblick auf welche wir hier den Begriff des
Wirkens geklärt haben, dem Scharfblicke HuMEs, der
doch gerade hier mit großer Sorgfalt gesucht hat, ganz
entgangen sein sollten. Ich glaube auch gar nicht, daß
dem so sei. HUME dürfte vielmehr die Quelle unseres
Ursachebegrüfes an den hier aufgezeigten Punkten eben-
falls gefunden haben, aber an seinem Funde wieder irre
geworden sein. In der Tat liegt ein scheinbarer Einwand
dagegen, daß wir hier ein Wirken bemerken, nahe. Man
sollte meinen, dann müßten wir wohl einen notwendigen
Zusammenhang des einen mit dem andern bemerken.
Aber geschieht dies hier wirklich, wenn wir auf Grund
der Prämissen den Schlußsatz fällen? Die Wahrheiten
mögen notwendig zusammenhängen, hängt aber ebenso
das Denken der Prämissen mit dem Denken des Schluß-
satzes zusammen? Oder, wenn ich ein Axiom denke,
hängt das apodiktische Urteil mit dem Denken der Be-
griffe notwendig zusammen? Das scheint man denn doch
nicht behaupten zu können. Müßte doch sonst, wenn
das eine gegeben ist, immer auch das andere eintreten,
was aber, wie die Erfahrung zeigt, nicht der Fall ist. Es
kommt nicht selten vor, daß einer die betreffenden Vor-
stellungen oder die betreffenden Prämissen denkt, aber
doch zaudert das Urteil, das daraus zu entnehmen wäre,
wirklich zu fällen. Somit scheint hier kein notwendiger
Zusammenhang, also wohl auch kein Kausalzusammen-
hang zu bestehen.
130 Ursprung des Kausalbegriffes

Oder war das nicht ein Irremachen 1 Ist vielleicht der


Einwand wirklich so stark, daß er nicht zu wider-
legen ist1
Vielleicht versucht einer die Abwehr in folgender Weise:
Der Begriff der Notwendigkeit liege gar nicht im Ver-
ursachen. So meinen wirklich manche und machen von
diesem Einfall in der Lehre von der indeterministischen
Freiheit des Willens Gebrauch, indem sie die Freiheit des
Willens nicht zwar darin erblicken, daß er gar keine
Ursachen habe, wohl aber keine, die ihn mit Notwendig-
keit hervorrufen.
Mir will dieser Ausweg allerdings recht bedenklich er-
scheinen. Aber um so gangbarer ein anderer: eine
generelle Notwendigkeit, daß jene Begriffe dieses Axiom,
jene Prämissen diesen Schlußsatz hervorrufen, besteht
allerdings nicht, da sie ja nicht die einzigen beim Wirken
beteiligten Faktoren sind. Dazu gehören noch mannig-
fach andere, auch ganz unbewußte, wie z.B. Vorgänge
im Gehirn. Das schließt aber nicht aus, daß im gegebenen
Falle alle diese Faktoren vorhanden sind und darum die
Wirkung mit Notwendigkeit sich einstellt. Aber so wie
nicht nur der ganze Körper eine Bewegung hat, sondern
jedes seiner Atome, so hat in einem Komplex von zusam-
menwirkenden Ursachen jede dieser Ursachen ihr Wir-
ken. Und nichts spricht gegen die Möglichkeit, eine
einzelne daraus ohne die andern in ihrer Wirksamkeit
wahrzunehmen. Der das Wirken Wahrnehmende hat
dann sehr wohl die Erkenntnis, daß hie et nunc ein not-
wendiger Zusammenhang besteht, in der Gesamtheit der
gegebenen Verhältnisse, aber ohne volle Kenntnis davon,
worin sie bestehen, ohne Kenntnis der sämtlichen con-
ditiones sine qua non 38 ).
111. 4. Wir haben nun weiter zu prüfen, wie es mit der
vierten These HuMEs steht, daß nämlich auf Grund einer
Kausalbeziehung von uns Tatsachen zwar faktisch er-
wartet werden, daß wir aber kein logisches Recht zu
solchen Schlüssen haben.
Schlüsse von Tatsachen auf Tatsachen 131

Die Frage verdoppelt sich, da, wie wir sahen, der


wahre Begriff der Kausalität von dem von HuME fest-
gesetzten differiert. Sein Argument ist natürlich nur
seiner Auffassung angepaßt. Da ist es denn ohne weiteres
zuzugeben, daß die bloße gewohnheitsmäßige Erwartung
als solche noch keine vernünftige sei. Ja noch mehr, daß
die Erwartung nicht in allen solchen Fällen ohne weiteres
eine sichere sei, zeigt die Erfahrung selbst. Solche
Erwartungen finden sich denn auch oft enttäuscht. Ob
deshalb alle Erfahrung wertlos sei, ist eine andere Frage,
auf welche wir noch zurückkommen wollen.
Bezüglich unseres Begriffs der Kausalität gilt aber
Ähnliches. Sahen wir doch, daß das Wirken in einem
Falle nicht das Wirken in allen für uns ununterscheid-
baren Fällen garantiert. Man bedenke die Mitbe-
dingungen, wozu auch negative gehören, wegen mög-
licher Gegenwirkung und Vereitelung durch andere
Kräfte. Es müssen also jedenfalls noch besondere Be-
dingungen erfüllt sein, wenn in gewissen Fällen auf Grund
von Kausalbeziehungen eine Tatsache erschlossen wird.
112. Wir sehen, es bedarf eines Ersatzes der HUME-
schen Theorie für die Schlüsse von Tatsachen auf Tat-
sachen durch eine wesentlich andere Theorie. Diese wird
dann für die Fälle, wo Erfahrungen zur Erwartung be-
rechtigen oder nicht, und für das Maß, in welchem sie
es tun (denn nicht immer ja erwarten wir etwas mit
gleicher Zuversicht), uns das Kriterium werden; sie wird
auch die Bedingungen offenbaren, unter welchen eigent-
liche Kausalbeziehungen in einem berechtigten Schluß auf
Tatsachen eine Rolle spielen; sie wird zeigen, inwieweit
der unvernünftige Drang der Gewohnheit mit den For-
derungen der Vernunft zusammenstimmt; und sie wird
wiederum zeigen, ob ein Schluß auf eine transzendente
Tatsache immer und in jedem Falle als unvernünftig, ja
unnatürlich verdammt werden müsse.
Denn, daß HuMEs doppeltes Anathema jede Be-
deutung verloren hat, nachdem der Drang der Gewohn-
132 Schlüsse von Tatsachen

heit, mag sie nun konkurrieren oder nicht, jedenfalls das


entscheidende Wort nicht zu sprechen hat, ist aufs klarste
ersichtlich.
113. Das Bild, das sich beim Rückblick auf unsere
heutigen Untersuchungen zeigt, ist wiederum wesentlich
ein Bild der Zerstörung. Es verlangt aber das Zerstörte
einen Ersatz.
Daß HuMEB Lehre von der Kausalität nicht fehlerfrei
ist, ist uns klar geworden. Namentlich zeigten sich zwei
große Fehler.
1. Die falsche Fassung des Begriffes Ursache.
2. Die Verkennung der Wahrheit, daß es Schlüsse von
Tatsachen auf Tatsachen gibt, bei welchen analytische
Prinzipien die Brücke bilden, Prinzipien, welche mit
Kausalverhältnissen oft gar nichts zu tun haben.
114. Es haben nun andere den Baustein, den HuME
verworfen hat, zum Eckstein des Gebäudes gemacht und
uns so den wahren Einblick in den logischen Zusammen-
hang bei den Schlüssen von Tatsachen auf Tatsachen er-
möglicht. Ich werde das nächstemal, soweit es nötig
und durch die Zeit gestattet ist, darauf eingehen. Heute
nur zwei Bemerkungen:
Wenn Schlüsse von Tatsachen auf Tatsachen Berech-
tigung haben sollen, so müssen die allgemeinen Regeln der
Logik auf sie Anwendung finden. Es kann für sie keine
Ausnahme davon geben. Es muß also die Gefahr des Irr-
tums ausgeschlossen sein. Und das ist sie in zwei Fällen:
I. wenn die Prämissen den Schlußsatz,
2. wenn sie die unendliche Wahrscheinlichkeit des
Schlußsatzes involvieren. Dann ist es „so gut wie un-
möglich," daß er falsch ist.
Involvieren sie eine kleinere Wahrscheinlichkeit des
Schlußsatzes, so ist der Schluß nicht berechtigt. Da-
gegen ist auch dann aus der gegebenen Tatsache eine
andere zu erschließen, nämlich die betreffende Wahr-
scheinlichkeit des Schlußsatzes, welche unter Umständen
sehr wertvoll ist.
auf Tatsachen 133

Diese Bemerkung bereitet die weitere vor, daß die


Wahrscheinlichkeit bei den Schlüssen von Tatsachen
auf Tatsachen eine große Rolle spielt. Das Verständnis
des Zusammenhangs wuchs also mit der Ausbildung
der Wahrscheinlichkeitsrechnung, zu der schon PASCAL
und FERMAT vor HuME den Anstoß gegeben hatten.
HuME - nach seinen Erörterungen über die Wahr-
scheinlichkeit in den „Untersuchungen über den mensch-
lichen Verstand" zu urteilen - hat nichts davon ge-
kannt. Sonst hätte er schon zu seiner Zeit in der ars
conjectandi von BERNOUILLlSätze finden können, welche
geeignet gewesen wären, ihn von seiner Skepsis zu be-
freien.
Den Mathematikern danken wir also hier wesentlich
die Befreiung von den Fesseln der Skepsis, deren Bande
die KANTsehe Kritik so fruchtlos zu sprengen sich
mühte. Ich hoffe Ihnen, trotz der nötigen Kürze, doch
deutlich zu zeigen, wie aus der Wahrscheinlichkeitslehre
die Induktion, die Annahme von Kausalbeziehungen
auch in der Außenwelt, die Erkenntnis des allgemeinen
Kausalgesetzes (daß kein Werden ohne Ursache), die An-
nahme von spezielleren Kausalgesetzen (z. B. des ·Ge-
setzes der Gravitation) und mannigfache Schlüsse auf
neue Tatsachen als Ursachen und Folgen der gegebenen,
mit unmittelbarem oder mit verwickelterem Zusammen-
hang, ihre Kraft und Berechtigung empfangen.
Haben wir so die wahre logisch bindende Kraft er-
kannt, so werden wir auch erkennen, daß die Angriffe
auf die transzendenten Schlüsse jeden Angriffspunkt ver-
loren haben.
Die wahre Natur der Schlüsse von Tatsachen
auf Tatsachen
115. So wollen wir denn unsererseits vom neuen die
Frage aufwerfen: Ist ein Schluß von einer Tatsache
auf eine Tatsache logisch gerechtfertigt?
Wir antworten mit einem entschiedenen Ja.
134 Schlüsse von Tatsachen

I. Und zwar erstens schon darum, weil es möglich ist,


daß eine Tatsache in einer anderen involviert ist.
So können wir sehließen:
1. vom Ganzen auf den Teil (das Wort Ganzes und
Teil nicht bloß im quantitativem, sondern in ganz weitem
Sinn genommen, also sowohl physische, als auch meta-
physische und logische Teile umfassend 39 ).
Hierher gehört auch der Schluß von den Fundamenten
auf die Relation. Wir haben hier „Beziehungen von
Ideen" im HuMEschen Sinne, welche, wenn sie nicht für
sich allein die neue Tatsache erkennen lassen, doch den
Übergang von der bekannten zu ihr ermöglichen. (Z. B.
daß dieser Körper ein gewisses Verhältnis von Oberfläche
und Inhalt hat, ist eine Tatsache; daß er eine Kugel ist,
ist ebenfalls eine Tatsache. Ich kann aber die erste aus
der zweiten erschließen.}
2.. von den vollständig aufgezählten Teilen auf das
Ganze. Also von den Summanden auf die Summe. Auch
hier kann das Ganze in weitergreifendem Sinne genom-
men werden. Wo das Ganze keine Größe im eigentlichen
Sinne ist, sind auch die Teile nicht in eigentlichem Sinne
Summanden.
3. von dem Korrelat auf das Korrelat. (Vom Bräuti-
gam auf eine Braut.)
4. von der Existenz des Allgemeinen, Unbestimmten
auf das Spezielle und Individuelle, (z. B. von der Tat-
sache, daß ein Hund, darauf, daß entweder ein Pudel
oder ein Spitz oder eine Dogge usw.; von der Tatsache,
daß ein Urteil, darauf, daß entweder eine Bejahung oder
eine Verneinung, jedesfalls also eine bestimmte Differenz;
von der Tatsache, daß ein Rotes, darauf, daß es hier oder
dort; von der Tatsache, daß ein Schall, darauf, daß ent-
weder ein lauter oder leiser, hoher, tiefer oder einer von
mittlerer Höhe usw.).
5. von der Grenze auf das Begrenzte. Es ist die Eigen-
tümlichkeit einer Grenze, daß sie kein Ding für sich, son-
dern nur im Zusammenhang mit einem Kontinuum sein
auf Tatsachen 135
kann. Jedes Kontinuum besteht in letzter Instanz aus
lauter Grenzen, doch nicht wie eine Summe aus Sum-
manden. Denn da die Grenze kein Ding für sich ist, kann
sie auch nicht für sich fortgenommen oder hinzugezählt
werden. Gleichwohl ist jede Grenze und trägt als Grenze
zum Kontinuum bei. (Verdeutlichung an der Fiktion
einer Farbenfläche 40 ), die von einer roten und einer
blauen Linie begrenzt ist, zwischen denen ein Kontinuum
von Violettnuancen vermittelt.) Solche Grenzen sind
die Punkte einer Linie, die Linien einer Fläche, die Flä-
chen eines Körpers, die Momente in der Zeit usw.
Vermöge dieser Eigenheit also ist der Schluß von der
Grenze auf das Begrenzte, und von der Grenze auf eine
unendliche Vielheit von Grenzen; von einem Moment auf
eine Zeitstrecke, auf eine Unendlichkeit von Momenten;
von einem Punkt auf die Linie, Fläche, den Körper, auf
eine Unendlichkeit von Punkten gestattet. Von einer
roten Linie auf eine Farbenfläche, welche entweder durch-
aus rot oder an Rot sich annähernd in infinitesimalen
Übergängen 41 ).
6. Von der Existenz von etwas auf die Nichtexistenz des
Widersprechenden oder positiv Widerstreitenden. (Z. B.
von der Tatsache, daß ein gewisser Körper lebendig ist, auf
die Falschheit der Behauptung, daß er leblos. Von der Tat-
sache, daß er rot, auf die Tatsache, daß er nicht grün 42).)
7. Von der Wirklichkeit auf die Möglichkeit 43 ).
8. Von dem (gegenwärtig) Sein auf das vergangene
Zukünftigsein oder auf das zukünftige Gewesensein.
(Nicht im Sinne von „fuit Ilium," sondern wie wir auch
von etwas, was jetzt noch besteht, oft sagen hören, daß
es auch früher schon bestanden habe.)
9. Von der Zahl der tatsächlich gegebenen „gleich-
möglichen" Fälle auf die Wahrscheinlichkeit eines Falles
oder eines aus einer gewissen Gruppe. Auch diese Wahr-
scheinlichkeit ist eine Tatsache 44 ).
Diese 9 Weisen beanspruchen nicht eine erschöpfende
Aufzählung der Fälle zu sein, in welchen wir von einer
136 Schlüsse von Tatsachen

Tatsache auf eine andere einen Schluß ziehen, weil diese


darin involviert ist. Dagegen dürften sie hinreichen, dar-
zutun, wie häufig und mannigfach solche Schlüsse sind
und wie sie nicht ohne Bedeutung für den Fortschritt des
Denkens erscheinen.
116. II. Aber auf diese Klasse sind unsere Schlüsse
von Tatsachen auf Tatsachen nicht beschränkt. Es
kommt noch eine zweite hinzu, diejenigen nämlich, wo
wir auf eine Tatsache schließen, nicht weil sie selbst, aber
weil ihre unendliche Wahrscheinlichkeit in einer anderen
involviert ist. Wir brauchen hier nicht verwickelte Bei-
spiele zu suchen und eine Mannigfaltigkeit von Fällen zu
unterscheiden. Es genügt die einfache allgemeine Be-
merkung, daß wir in häufigen Fällen von der unendlichen
Wahrscheinlichkeit auf die Wirklichkeit einer Tatsache
schließen. Veranschaulichen wir uns dies an einem Bei-
spiel: ich behaupte, ein Kegel, der in die Höhe geworfen
wurde, wird beim Sturz nicht auf die Spitze zu stehen
kommen. Im Unterschiede vom vorigen Falle ist hier
die Möglichkeit des Irrtums nicht absolut, aber so gut
wie ausgeschlossen. Man spricht hier von „physischer"
Sicherheit und stellt ihr die absolute als „mathematische"
Sicherheit entgegen 45 ).
117. .Also soviel steht fest, wir können aus Tatsachen
auf Tatsachen schließen, und zwar in logisch richtiger
Form, teils mit absoluter, teils mit physischer Sicher-
heit. Gehen wir weiter! Fragen wir: Was für Tat-
sachen lassen sich aus anderen Tatsachen er-
schließen1
Auch hier wird es gut sein, die einheitliche allgemeine
Frage spezialisierend und detaillierend in mehrere zu
zerlegen und dabei insbesondere die Punkte, welche uns
am nächsten angehen, ins Auge zu fassen. Ich frage also
vor allem:
l. Läßt sich ein allgemeines Gesetz 48 , das
auch analytisch erkannt werden kann, aus
Tatsachen erschließen1
auf Tatsachen 137
Ja, ohne Zweifel kann dies geschehen und geschieht
auch häufig. Als Beispiel sei auf den schon früher er-
wähnten Schluß des ARCHIMEDES für den Parabel-
abschnitt oder auf GAuss' Schluß für die Winkelsumme
des Dreiecks verwiesen. Ein einfacheres Beispiel als
diese: in einem einzelnen Falle hätte genaue Messung er-
geben, daß in einem Kreise der Zentriwinkel gleich ist
dem doppelten zugehörigen Peripheriewinkel. Daraus
kann ich auf das allgemeine Gesetz schließen, denn daß
gerade dieser Kreis diese Eigenart hätte, erscheint als un-
endlich unwahrscheinlich 417).
2. Läßt sich aus Tatsachen das Bedingtsein
einer Tatsache durch eine andere erschließen?
Ja! So in dem eben betrachteten Falle die Bedingtheit
des speziellen Faktums durch das allgemeine Gesetz und
des individuellen Falles durch den speziellen 48 ).
118. 3. Läßt sich eine Kausalbeziehung er-
schließen?
Wir fragen jetzt nach einer solchen im eigentlichen
Sinn, nicht in dem früheren uneigentlichen "), in dem
wir von einem Bedingungsverhältnis zwischen Grund-
gesetz und abgeleitetem Gesetz sprachen. Auch diese
Frage ist zu bejahen.
Ein sehr weiter Bereich, wo dies der Fall ist, sind die
Fälle der Kontinuität, sei es der räumlichen, sei es der
zeitlichen; es liegt dann entweder spezifische Gleichheit
von etwas, das einen Raum einnimmt oder wenigstens
eine Zeit dauert 60 }, oder es liegen infinitesimale Über-
gänge vor, sei es allseitig oder wenigstens teilweise oder
einseitig 61 ). (Es mag auch einmal irgend etwas abrupt
folgen.) Hier, sage ich, nehmen wir nun freilich ein
Kausalverhältnis nicht wahr, aber wir können solche doch
mit aller Sicherheit erschließen. Denn woher käme es zu
einem solchen infinitesimalen Übergang des einen zum
anderen, wenn sie vollkommen unabhängig wären, wenn
weder ein Teil den anderen bestimmte, noch auch etwaa
da wäre, was sowohl das eine als das andere bestimmte? 62)
138 Kausa.lschlüsse

Ähnlich läßt sich in anderen Fällen wenigstens


die Wahrscheinlichkeit von Kausalbeziehungen er-
schließen. Z. B. nach der Methode der konkommit-
tierenden Veränderungen. (So, was Ursache des
Schmerzes in dem ins Feuer gehaltenen Finger ist.)
Auch bei anderen regelmäßigen Antezedentien wird
bald direkt, bald indirekt ein solcher Schluß ge•
zogen 53 ).
119. 4. Läßt sich ein spezielles Kausal-
gesetz erschließen1
Solche Kausalgesetze sind entweder:
a) empirische Gesetze; bei diesen liegt ein unauf-
gelöster Komplex von Bedingungen vor, der konstant
bleiben muß, damit das Gesetz sich bewahrheite.
b) Grundgesetze und aus ihnen abgeleitete (erklärte)
sekundäre Gesetze (diese analog den Lehrsätzen, jene
den Grundsätzen in der Mathematik).
Die empirischen Gesetze haben keine Gültigkeit für
Fälle, die von dem Gebiete der Erfahrung weit abliegen.
Ja, ihre Wahrscheinlichkeit nimmt schon vorher suk-
zessive ab. Dagegen ist sie oft sehr groß, ja unendlich
groß für angrenzende Fälle 64 ).
(Kenne ich ein Gesetz für die Fortpflanzungsgeschwin-
digkeit des Lichtes, ohne aber den Komplex der Bedin-
gungen noch recht analysiert zu haben, und mache nun
die Anwendung im Gebiete meiner Erfahrung, z. B. in
dieser meiner Luftregion, so werde ich dies mit ziem-
lichem Vertrauen tun. Dagegen würde ich, falls ich das
Gesetz ohne weiteres auf die Fortpflanzung des Lichtes
im Wasser ausdehnte, fehlgehen. Diese Änderung der
Umstände mag gleichgültig, sie könnte aber auch sehr
bedeutsam sein. Solange ich das nicht weiß, werde ich
nur mit großer Vorsicht das Erfahrungsgebiet verlassen.
Das Gesetz der Gravitation hat einen ungeheueren Er-
fahrungsraum, aber doch nicht einen unbegrenzten. Ich
kann also nicht sagen, daß Ausgedehntes immer der Gra-
vitation unterliege.)
Kausalschlüsse 139
Welche Art von Kausalgesetzen lassen sich nun auf
Grund von Tatsachen konstatieren 1
Empirische nun wohl sicher mit großer, ja oft unend-
licher Wahrscheinlichkeit (nach dem Gesetze, daß die
Wahrscheinlichkeiten der Hypothesen sich zueinander ver-
halten wie die Wahrscheinlichkeiten der zu erklärenden
Ereignisse unter Voraussetzung der Hypothesen). Die
Naturwissenschaften sind reich an Beispielen.
_120. 5. Läßt sich das allgemeine Kausal-
gesetz aus Tatsachen erschließen?
Bedenklicher erscheint es, ob Grundgesetze durch
Tatsachen festgestellt werden können und infolge davon
wahrhaft apodiktische sekundäre. Selbst das Gravi-
tationsgesetz ist kein Beispiel dafür. Wenn von einem,
möchte es einer vielleicht von dem allgemeinen Kausal-
gesetze glauben, wonach jedes Werden eine Ursache hat.
Hier scheint nicht wohl zu sagen, daß etwas, was in dem
Erfahrungsgebiet zu seiner Entstehung eine Ursache ver-
langt unter gewissen anderen, bei uns nicht gegebenen
Bedingungen sie nicht verlange. Diese selbst wären ja
dann die Ursachen, die es ermöglichten. Hier scheint man
also ohne weiteres sagen zu können, man sei auf ein
Grundgesetz gestoßen und habe es durch Tatsachen
konstatiert.
Aber, näher besehen, ist das doch eine bedenkliche
Argumentation. Eines allerdings dürfte sich zeigen lassen,
daß nämlich, was einmal eine Ursache verlangt, immer
eine Ursache verlange. Damit ist aber noch lange nicht
gesagt, daß jedes Werdende eine Ursache verlange.
Ja, geschweige, daß von allen zugegeben würde, daß
dieser Satz auf Grund von Tatsachen als ein Grundgesetz
erwiesen werden könne, sagen viele, daß er auf diesem
Wege nicht einmal als ein empirisches Gesetz zu konsta-
tieren sei. So u. a. HELMHOLTZin seiner „Physiolo-
gischen Optik". Und warum bestreitet er das? Weil,
meint er, in den allermeisten Fällen die Ursache von uns
nicht angegeben werden könne, somit die erforderliche
140 Das allgemeine Kausalgesetz

Induktionsbasis fehle. Um nun das Kausalitätsgesetz


nicht ganz preisgeben zu müssen, bleibe nichts übrig, als
es für ein synthetisches Urteil a priori zu erklären.
121. Daß dies ein Irrweg ist, steht für uns nach den
früheren Erörterungen außer Zweifel. Bedenken muß
aber auch schon die Wendnng erwecken, die HELM-
HOLTZ zu dieser Annahme führt. Er erklärt es darum für
eine Erkenntnis a priori, weil die empirische Rechtferti-
gung scheitert. Deutlich erscheint das Kausalitätsgesetz
bei ihm nur wie eine Art Postulat. ,,Man muß es postu-
lieren, denn beweisen kann man es nicht." Das ist aber
doch eine recht bedenkliche Zumutung, welche die Logik
zurückweisen wird.
Doch auch schon seine erste Behauptung ist verfehlt,
ich meine den Satz, daß das Kausalitätsgesetz nicht ein-
mal als empirisches Gesetz genugsam zu beweisen sei.
Mag es immerhin richtig•sein, daß oft die Ursache nicht
angegeben werden kann, die Folgerung, die HELMHOLTZ
daraus zieht, ist unstatthaft. Er hätte hier vielmehr
unterscheiden müssen zwischen der Erkenntnis, was die
Ursache sei, und der Erkenntnis, daß eine kausale Be-
ziehung bestehe. Diese ist gesichert, wo immer wir einen
Fortbestand oder einen stetigen Verlauf finden. Den
einen oder anderen aber erblicken wir überall, soweit
nnsere Erfahrung reicht. Man hat, um das auszudrücken,
den Satz geprägt: Natura non facit saltum. (Der Ver-
gleich in diesem Bilde hinkt, denn auch ein Sprung ist
ein Verlauf, aber das Wort charakterisiert den Tat-
bestand um so besser, insofern die ganze Natur kein Bei-
spiel und darum kein wahrhaft treffendes Bild von dem,
was hier von ihr geleugnet wird, bietet.)
So besitzt denn, im Gegensatz zu dem, was HELM-
HOLTZ meint, das Kausalgesetz sogar im höchsten Maße
eine empirische Garantie 55 ). Aber sie genügt nicht, um
ihm schlechthinige, transzendente Allgemeinheit zu
sichern. Es wäre ein Irrtum, wenn man glaubte, es
daraufhin von jedem X, von jedem auch transzendenten
Das allgemeine Kausalgesetz 141
Etwas behaupten zu dürfen. In Wahrheit wird dies nur
dann vor der Vernunft gerechtfertigt sein, wenn der
Satz, daß nichts ohne Ursache werde, nicht bloß auf
Grund von Erfahrungstatsachen, sondern a priori ge-
sichert ist.
122. Wenn aber a priori, so heißt das durch Analyse
der Begriffe. Man hat in der Tat verschiedene Versuche
gemacht, um es analytisch einleuchtend erscheinen zu
lassen. Aber die meisten können vor der Kritik nicht
bestehen.
So meinten manche, Werdendes und Wirkendes seien
Korrelativa, also müsse jedem Werden eine Ursache ent-
sprechen, wie jedem Konkav ein Konvex. Es ist aber
nicht richtig, die Korrelativa sind vielmehr Wirkendes
und Gewirktwerdendes, und das eben wäre erst zu be-
weisen, daß jedes W-erdende ein Gewirktwerdendes ist.
CHRISTIAN W OLFF argumentierte: Wenn etwas keine
Ursache hätte, so hätte es das Nichts zur Ursache, aber
daß das Nichts eine Ursache sein könne, sei eben absurd.
Auch dieser Versuch ist ganz mißglückt, denn die beiden
Sätze „A hat keine Ursache" und „A hat eine Ursache,
welche das Nichts ist" sind nicht identisch. Daß der
zweite widerspricht, widerlegt also nicht ohne weiteres
den ersten.
So geht es also nicht, wohl aber auf andere, wenn auch
nicht so einfache Weise, doch immerhin eine solche, auf
welche wir durch frühere Betrachtungen vorbereitet
sind.
123. Wir haben gesehen, daß eine Kausalbeziehung
gesichert ist, wo immer eine Kontinuität besteht. Nicht
weil in dem Begriffe des Kontinuums der Begriff Ursache
läge, wohl aber weil mit physischer Sicherheit zu be-
haupten ist, daß es ohne Kausalbeziehungen zu einer
Kontinuität nicht kommen kann 56 ). Somit werden wir
durch Analyse (a priori) uns von der Allgemeingültigkeit
des Kausalgesetzes - des Satzes, daß kein Werden ohne
Ursache - überzeugen können, nicht bloß, wenn wir den
142 Apriorischer Beweis

Begriff Ursache, sondern auch· schon, wenn wir den einer


Kontinuität als mit dem Begriffe jedes Werdens gegeben
dartun.
Das aber ist ganz leicht; denn der Begriff jedes Wer-
dens enthält den Begriff einer Zeit, ja den einer dop-
pelten Zeit, einer Zeit des Seins und des Nichtseins.
Werden heißt ja so viel wie anfangen, und der Anfang
ist die Zeitgrenze zwischen einem Nichtsein und darauf-
folgenden Sein.
Beweis a priori für das Kausalgesetz
124. Der Nachweis, daß für keine Realität ein Werden
ohne Ursache zuzugeben ist, wird am klarsten auf in-
direktem Wege zu erbringen sein, durch ein Eingehen
auf die verschiedenen Hauptfälle, welche hier denkbar
wären.
a) Der einfachste und noch am leichtesten denkbare
Fall wäre, wo einem Realen, welches von selbst werden
sollte, keine positiven, sondern nur ein kontradikto-
rischer GegenBatz gegenüberstünde 67 ).
Komplizierter und schwieriger denkbar dagegen er-
scheinen offenbar Fälle, wo dem, was von selbst
werden soll, auch positive Gegensätze gegenüber-
stehen. Denn da positiv Entgegengesetztes nicht zu-
gleich bestehen kann, so wird von positiv Entgegen-
gesetztem sicher nie eines werden, während das andere
fortbesteht 68 ).
Nimmt man nun an, es könne das eine von selbst wer-
den, so muß man diese Möglichkeit entweder nur auf die
Fälle beschränken, wo keiner seiner spezifischen Gegen-
sätze besteht. (Und dann ist sein Werden vielleicht
schon darum ausgeschlossen, weil eben ein positiver
Gegensatz besteht 69 ).) Oder, wenn man diese Beschrän-
kung vermeiden will, so muß man mit der Annahme, daß
es von selbst werden könne, die Annahme, daß sein
positiver Gegensatz von selbst aufhören könne, ver-
binden.
für das allgemeine Kausalgesetz 143
Immerhin werden wir auch solche Fälle noch einer be-
sonderen Prüfung unterwerfen. Zunächst aber wenden
wir uns zu jenem einfachen Fall.
Also die Frage ist: Ist es annehmbar, daß eine Realität,
für welche nur ein kontradiktorischer Gegensatz denkbar
ist, jemals von selbst werde?
Es ist leicht zu erkennen, daß die Frage zu verneinen
ist. Denn um werden zu können, muß es (das ist das erste
Erfordernis) nicht sein und zwar eine Zeitlang nicht sein.
(Denn eine bloß punktuelle Unterbrechung wäre keine
Unterbrechung, vielmehr ein Unsinn, da, wer sie be-
hauptet, eine Grenze behandelt, als ob sie etwas für sich
wäre.) Also notwendig wäre es eine Zeitlang nicht. Da
es aber etwas sein soll, was von selbst werden kann, so
hätte es ebensogut wie am Ende der Zeit in einem be-
liebigen dazu gehörigen früheren Zeitpunkt beginnen
können, in welchem es faktisch nicht begonnen hat. Ja,
die Chance dafür war damals 1/2. Dasselbe gilt von einem
anderen Zeitpunkt zwischen ihm und dem Endpunkt.
Dasselbe von einem dritten. Dasselbe von unzähligen im
einzelnen. Für jeden war die Chance 1/2.
Welche Chance bestand nun dafür, daß es in keinem
von ihnen werde, obwohl es in jedem, wenn es noch nicht
geworden, mit 1/2 Wahrscheinlichkeit werden konnte?
Wir müssen multiplizieren. Die Wahrscheinlichkeit ist
also(!t, wobei n die Zahl der Momente bedeutet. Wäre
sie gleich 64, so wie die Felder des Schachspieles, so be-
trüge der Bruch weniger als ein Trillionstel. Sie ist aber
in Wahrheit größer als jede gegebene, die absolute Un-
endlichkeit. Somit können wir mit voller Sicherheit
sagen, daß etwas derartiges nie und nimmer vorkommen
wird, d. h. daß etwas, was nur einen kontradiktorischen
Gegensatz hat, wenn es von selbst werden kann, nie auch
nur die kleinste Zeit hindurch nicht sein wird. Ist es aber
unannehmbar, daß es auch nur die kleinste Zeit hindurch
nicht ist, so ist es auch unannehmbar, daß es werde.
144 Apriorischer Beweis

.Also ist es offenbar, daß wir berechtigt sind, zu leugnen,


daß etwas, was nur einen kontradiktorischen Gegensatz
hat, je ursachlos entstehe 60 ).
126. b) Wenden wir uns nun zu jenen komplizierten
Fällen, wo es sich um Realitäten handelt, für welche außer
dem kontradiktorischen auch positive Gegensätze denk-
bar sind.
Nehmen wir an, es fände sich unter diesen Realitäten
eine, welche von selbst werden könne, so unterschied ich
bereits zwei Hauptweisen, wie diese Annahme sich ge-
stalten lasse. Und vor allem, sagte ich, könnte man viel-
leicht die Möglichkeit eines spontanen Entstehens auf
den Fall beschränkt denken, daß keiner von den posi-
tiven Gegensätzen wirklich sei. Dann wäre also, für den
Fall, daß einer der positiven Gegensätze bestände, das
spontane Werden bereits aus dem Grunde ausgeschlossen.
Für den Fall aber, wo keiner der positiven Gegensätze
bestände, würde derselbe Beweis gelten, den wir eben
geführt haben.
Instanz: Doch könnte hier einer einen Einwand er-
heben, den ich kurz widerlegen will. Er könnte sagen:
Solange einer der positiven Gegensätze bestände, könne
die Realität, der die Annahme die Möglichkeit eines spon-
tanen Werdens zuschreibe, nicht werden. Aber die posi-
tiven Gegensätze könnten vielleicht einmal aufhören zu
sein. Von da an könne die Realität nun von selbst wer-
den. Und nach dem von uns erbrachten Nachweise sei
es dann allerdings undenkbar, daß sie darnach die kleinste
Zeit hindurch ausbliebe; es sei aber eben darum zu er-
warten, daß sie dann sofort und im ersten Moment der
Möglichkeit selbst von selbst entstehe.
Ich antworte darauf: Wenn man annimmt, die posi-
tiven Gegensätze unserer Realität hören auf, wie denkt
man sich dieses Aufhören? Durch eine Ursache herbei-
geführt? Oder ursachlos? Sagt man das erste, so ist
offenbar, daß man, wo eine Ursache das Aufhören des
Gegensatzes bewirkt und infolge davon unsere Realität
für das allgemeine Kausalgesetz 145
sofort unausbleiblich ins Dasein tritt, wohl sagen kann:
die vernichtende Ursache des Gegensatzes sei die Ursache
des Entstehens der Realität, indem ihre Wirksamkeit
mit Notwendigkeit zu ihr führt.
Sagt man aber, der Gegensatz höre von selbst (ursach-
los) auf, so ist klar, daß dann der Bestand des Gegensatzes
nicht hindert, daß die Realität ursachlos entsteht. Wir
haben also dann nicht mehr denselben Fall, sondern den
anderen, den wir unterschieden haben, den letzten, der
uns noch zu untersuchen übrigbleibt, und den wollen
wir jetzt analysieren.
126. c) Wir werden sehen, wie auch hier, und wie
immer man die Bedingungen ändern mag, der Grund-
gedanke gleichmäßig sich bewährt.
Es handelt sich also jetzt um ein Ding, für welches es,
außer einem kontradiktorischen auch positive Gegen-
sätze gibt, Wid für welches angenommen wird, daß es
spontan werden könne, möge ein positiver Gegensatz
dazu bestehen oder nicht bestehen. (Womit offenbar
gesagt ist, daß die positiven Gegensätze von selbst auf-
hören können.)
Die Zahl der betreffenden positiven Gegensätze kann
entweder endlich oder unendlich groß gedacht werden.
a) Der erste Fall bedarf keiner besonderen Erörterung.
Denn wir bekommen, wenn wir annehmen, die Gegen-
sätze könnten zwar von selbst vergehen, aber nur die
von uns ins Auge gefaßte Realität von selbst werden,
wie früher die Wahrscheinlichkeit von 1/2 für das Nicht-
entstehen in jedem einzelnen Moment einer Zeit, in der
sie nicht wäre, da sie ja ebensogut anfangen kann, nach-
dem ein positiver, wie nachdem ein kontradiktorischer
Gegensatz bestanden hat; und somit die physische Un-
möglichkeit, daß sie jemals, auch nur die kleinste Zeit
hindurch, nicht ist, und folglich die Unmög~chkeit, daß
sie werde.
Wenn wir aber annehmen, auch jeder der positiven
Gegensätze könne ebensogut wie die Realität von selbst
146 Apriorischer Beweis

entstehen, so bekommen wir, da jeder die gleiche Chance


hat, für das Nichtentstehen der Realität in einem ein-
zelnen Moment allerdings statt 1/2 den Bruch n : , aber
1
00

dieser Unterschied würde bedeutungslos, da ~: )


1
(½)der Ausdruck
00

ebenso wie einer unendlichen Un-


wahrscheinlichkeit ist.
b) Anderes gilt, wenn wir annehmen, der denkbaren
Gegensätze seien, wie dies auch in der Erfahrungswelt
gewöhnlich ist, unendlich viele 62 ), wenn anders wir
wiederum damit die Annahme verbinden, daß dies Ding
auch dann von selbst werden könne, wenn einer von
seinen positiven Gegensätzen bestehe, da diese von
selbst aufhören können, und weiter noch von jedem die-
ser positiven Gegensätze dasselbe statuieren. Unter
solchen Voraussetzungen wäre in einem Falle, in welchem
das Ding nicht ist, nicht sein sofortiges Werden zu er-
warten, da ja unendlich viele Möglichkeiten mit gleicher
Chance des Werdens neben ihm bestehen. Die Chance,
daß das Ding werde, ist also dann für einen einzelnen Mo-
ment unendlich klein, und folglich könnte man wohl an-
nehmen, daß es eine Zeitlang nicht bestünde.
Dagegen erheben sich von einer anderen Seite die
alten Bedenken, und womöglich in verstärktem Maße.
War es nämlich unter der früheren Voraussetzung un-
denkbar, daß das Ding eine Zeitlang nicht bestehe, so
erscheint es jetzt unmöglich, daß es bestehe, und wäre es
auch nur für die kürzeste Zeit. Denn für jeden Moment des
Bestehens wäre sein Aufhören schon mit unendlicher
Wahrscheinlichkeit zu erwarten, und wie sollte da ein Fort-
bestand während einer ganzen Zeitstrecke denkbar sein,
da jede auch noch so kleine Zeit unendlich viele solche Mo-
mente enthalten muß 1 Jetzt also gilt von der Möglichkeit
seines Bestandes, was früher von der Möglichkeit seines
Nichtbestandes galt. Sie ist schlechterdings zu negieren 111).
für das allgemeine Kausalgesetz 147
127. 1. INSTANZ. Doch hier erhebt sich ein Einwand,
der eine Erledigung erheischt. Es könnte einer sagen,
unser Argument sei nicht ganz genügend; denn es gebe eine
doppelte Art des Bestandes in der Zeit, die eine sei ein
ruhiger Fortbestand, die andere ein Bestand in dem Sinne,
in welchem eine Bewegung besteht, welche verläuft und
in ihrem Verlaufe einen stetigen und vielleicht sehr un-
regelmäßigen Wechsel der Teile zeigt, indem sie bald rasch,
bald langsam, bald da, bald dorthin gerichtet ist. So
könnte denn mitten im Fluß seiner positiven Gegensätze
auch das Ding von dessen ursachlosem Werden wir
sprachen, momentanen Bestand gewinnen.
Antwort: Auch zu einem Fortbestand, wie ihn eine
Bewegung hat, kann es nicht kommen, wenn in jedem
Augenblick jeder positive Gegensatz von selber an die
Stelle des bestehenden treten kann. Denn selbst schon
für einen einzelnen Moment wäre es unendlich unwahr-
scheinlich, daß dies einer der nächstangrenzenden wäre,
da ja das Bereich der nächstangrenzenden verschwindend
klein ist gegenüber dem der fernerstehenden. Ein un-
endlich oft wiederholtes sich Folgen nächstangrenzender
positiver Gegensätze wäre darum (b)und
00
vollständig
undenkbar.
2. INSTANZ. Doch noch einen Einwand könnte einer
wagen: Die Hypothese, könnte er sagen, lasse sich den-
noch vielleicht halten, wenn wir folgende beschränkende
Bedingungen für das ursachlose Werden einfügen:
Nehmen wir an, es sei nicht möglich, daß von den posi-
tiven Gegensätzen jeder von selbst an die Stelle jedes
anderen, sondern nur jeder der nächstanschließenden an
die Stelle eines nächstanschließenden trete. Dann
scheinen alle jenen Inkonvenienzen zu entfallen. Denn
es wird ein stetiger, aber im übrigen ganz regelloser
Wechsel zu erwarten sein.
Antwort: Vor allem ist zu bemerken, daß hier nicht
mehr ein Fall voller Ursachlosigkeit des Werdens statuiert
148 Apriorischer Beweis

wird. Das jeweils Bestehende erscheint in seiner Be-


sonderheit ja mit maßgebend für das, was wird, indem
es den Kreis der zunächst statt seiner möglicherweise ein-
tretenden Gegensätze bestimmt ..
Ferner aber erscheint auch diese sozusagen teilweise
Ursachlosigkeit oder Zufälligkeit noch unstatthaft und
ist auf demselben Wege wie die vollständige Uraach-
losigkeit zu widerlegen.
Dies leuchtet sofort ein, wenn man erwägt, wie jede
infinitesimale Änderung in einer gewissen Richtung un-
möglich ist ohne eine Änderung von endlicher Größe nach
derselben Seite hin.
Nehmen wir, um dies recht anschaulich zu zeigen, den
einfachsten Fall, den eines Kontinuums von einer Dimen-
sion, nach welchem darum die Veränderung nur nach
zwei Richtungen, vorwärts oder zurück (positiv oder
negativ) statthaben kann. Eine infinitesimale Änderung
nach der einen oder anderen Seite hin ist nur möglich als
Teil einer endlich großen Änderung nach dieser Seite.
Da nun eine ursachlose Änderung nach dieser Seite in
dem einzelnen Moment nur 1/2 Wahrscheinlichkeit hat,
(½)Wahrscheinlichkeit
00

so hieße dies eine Annahme von


machen, d. h. etwas schlechterdings Undenkbares sta-
tuieren.
Dazu kann es also nicht kommen. Ganz ähnlich ver-
hält es sich aber bei Kontinuis von mehreren Dimensionen.
Nehmen wir z. B. den Fall eines zweidimensionalen.
Wir können ihn uns durch einen Punkt symbolisieren, der
in einer Ebene liegt. Denken wir uns diesen eine mög-
lichst unregelmäßige Bewegung ausführen, so wird doch,
wenn wir eine beliebige gerade Linie durchlegen, sich
zeigen, daß die Bewegung eine endliche Strecke hindurch
nach derselben Seite von der geraden Linie sich entfernt,
um dann erst vielleicht wieder sich ihr zu nähern. Wir
haben also wieder, da es der möglichen Annäherungen
so viele gibt als der möglichen Entfernungen, die unend-
für das allgemeine Kausalgesetz 149
lichmalige Wiederholung eines Falles von 1/2 Wahrschein-
lichkeit. Und dasselbe gilt dann für Kontinua von 3, 4, n
usw., ja unendlich vielen Dimensionen.
Somit sehen wir, daß selbst diese beschränkte, ja in
gewissem Sinne unendlich beschränkte Einführung der
Zufälligkeit ebenso wie die Annahme einer absoluten
Herrschaft des Zufalls für das Werden auf irgend-
welchem Gebiete schlechterdings unzulässig ist. Es
könnte weder je zu einem ruhigen Bestand, noch zu einer
Dauer im Sinne des Verlaufes kontinuierlicher Verände-
rung kommen. Also zu gar keinem Sein in der Zeit. Also
ist ein Werden oder Vergehen ohne Ursache schlechter-
dings undenkbar. Und so haben wir denn, wie ich es im
Anfang aussprach, auf rein analytischem Wege auf Grund
der in dem Werden enthaltenen Zeitvorstellung und der
in der Zeitvorstellung enthaltenen Vorstellung von Kon-
tinuität das Prinzip der Kausalität als allgemeines, streng
ausnahmsloses, über alle Erfahrung hinausreichendes
Gesetz erwiesen.
Es steht fest: Nichts wird ohne Ursache. Auf dieses
Gesetz uns stützend, werden wir, wo immer wir es tun,
und wäre es auch bei einem Beweisversuch für das Dasein
Gottes, auf einer Grundlage fußen, die nicht wanken
kann.
128. Unsere Darlegung ist etwas umfangreich geworden.
Es dürfte sich darum empfehlen, den Hauptgedanken
in Kürze herauszuheben. Der Kern des ganzen B~weises
für das allgemeine Kausalgesetz ist folgender:
Die Wahrheit· des Kausalgesetzes ergibt sich uns auf
Grund des Begriffes des Werdens, welcher den Begriff
der Zeit und somit den der Kontinuität einschließt, so
wie des Gesetzes der großen Zahlen, wonach bei einer un-
endlichen Vervielfältigung der Fälle die relative Häufig-
keit der Ereignisse ihrer relativen Wahrscheinlichkeit
aufs genaueste entsprechen muß 03 ).
Bei einer Kontinuität von Ereignissen müssen sioh
also die gleichmöglichen Gegensätze, wenn es solche gibt,
150 Beweis für das Kausa,lgesetz

vollständig im Gleichgewicht halten, und somit erscheint


nicht für die kleinste Zeit die kleinste endliche Abände-
rung nach irgendwelcher Seite hin ohne determinierende
Ursache denkbar. Eine unendlich kleine Abänderung
aber oder eine Abänderung für eine unendlich kleine
Zeit für sich allein wäre ein Ding der Unmöglichkeit.
129. Es sollte mich nicht wundern, wenn mancher von
Ihnen, auch wenn er die hier geführte Untersuchung
vollständig begriffen hat und durch sie vollkommen
überzeugt worden ist, dennoch darüber erstaunt ist, daß
es solcher Mittel bedurfte, um uns eine vernünftige Über-
zeugung von der Allgemeingültigkeit des Kausalgesetzes
zu geben. Der Glaube daran besteht so allgemein, er ist
ein Ausspruch des sog. gesunden Menschenverstandes.
Aber wie sollte dieser bei seiner Überzeugung durch so
feine Motive bestimmt werden 1
Die Antwort darauf ist, daß, wie schon LAPLACE sagt,
die exakte Verfolgung dessen, was die Wahrscheinlich-
keitslehre verlangt, sehr allgemein die Rechtfertigung
von dem ist, was der sog. gesunde Menschenverstand be-
hauptet; aber während dieser es sofort mit instinktivem
Takt ahnt, ist der genaue Nach weis oft mit nicht geringen
Schwierigkeiten verbunden. Übrigens besteht zwischen
dem Gedankengang hier und dort bei allem Unterschied
der Exaktheit doch immer eine gewisse Verwandtschaft.
Und so auch hier. Ich habe oft diese Beobachtung ma-
chen können, wenn ich einfachen Leuten, denen wissen-
schaftliche Analysen fernliegen, die Frage stellte, ob sie
wohl meinten, daß etwas von selbst werden könne. Sie
gaben zunächst ausnahmslos zur Antwort: Nein! Und
auf die weitere Frage, warum denn nicht, stellten sie sich
mit der Gegenfrage ein: ,,Warum wäre es dann nicht
schon früher geworden 1" Diese Frage trifft in der Tat den
Nagel auf den Kopf 64 ).
130. Nachdem wir uns von der Möglichkeit eines ana-
lytischen Beweises für das allgemeine Kausalgesetz über-
zeugt haben, wollen wir zu den Betrachtungen zurück-
Ob Kausa.lgeeetze empirisch feststellbar? 151

kehren, die uns zu dieser Analyse veranlaßt haben. Wir


hatten die Frage aufgeworfen, ob es möglich sei, ein
Kausalgesetz als Tatsache auf Grund von Tatsachen zu
konstatieren 8 ~).
Bei der Beantwortung unterschieden wir empirische
Kausalgesetze (von einer Gültigkeit für das Erfahrungs-
gebiet) und Kausalgesetze von strenger Allgemein-
gültigkeit, wie sie Grundgesetzen und aus ihnen abgelei-
teten Lehrsätzen zukommt.
Bezüglich der ersten lautete unsere Antwort sofort be-
jahend. Bezüglich der letzten stießen wir auf Bedenken,
von welchen selbst das allgemeine Kausalgesetz nicht un-
berührt blieb. Nun haben wir gesehen, daß ihm dennoch
in Wahrheit strenge Allgemeingültigkeit zukommt. Aber
wir sahen zugleich, daß dies nur darum der Fall ist, weil
es nicht a posteriori, sondern a priori erkannt werden
kann. Und somit bleibt immer noch die früher an-
geregte Frage, ob man irgendein Kausalgesetz von streng
ausnahmsloser Gültigkeit auf Grund von Tatsachen dar-
zutun vermöge.
Es scheint schwierig, und vielleicht ist mancher ge-
neigt, es geradezu für unmöglich zu erklären. Doch darf
man hier, wie anderwärts, nicht vorschnell sein. Näher
untersucht, scheint es nicht undenkbar, daß gewisse
Bestimmungen mit unendlicher Wahrscheinlichkeit sich
als vollkommen allgemeingültig für das gesamte Reich
des Seienden aussprechen lassen.
Fragen wir uns z.B., ob ein Buch mit Gedichten von
dem Werte der SHAKESPEAREschenTragödien irgendwo
in der Welt entstanden sei oder entstehen werde, ohne
direkte oder indirekte Einwirkung eines vernünftigen
Wesens, so wird jeder, der seinen gesunden Menschen-
verstand gewahrt hat, dies in Abrede stellen. Ähnlicher
Beispiele ließen sich im Hinblick auf andere Geisteswerke
viele erbringen, und es ließe sich auf Grund ihrer zu all-
gemeinen Bestimmungen von gleich ausnahmsloser Wahr-
heit emporsteigen, die um so bedeutender erscheinen, als
152 Kosmologische Gesetze

sie unabhängig selbst von der Erkenntnis des allgemeinen


Kausalgesetzes Gültigkeit haben. Denn wenn auch etwas
ursachlos entstehen könnte oder von Ewigkeit bestände,
so würde doch keiner glauben, daß ein Exemplar einer
SHAKESPEARE sehen Tragödie ursachlos entstanden sei
oder auch nur zufällig von Ewigkeit bestehe.
Sieht man aber näher zu, so hat man es hier doch nicht
eigentlich mit Kausalgesetzen zu tun, und es wird keine
absolute Unmöglichkeit einer gewissen Kollokation un-
abhängig von verständigem Zutun beµauptet, sondern
es wird nur gesagt, daß ein Er~ignis, welches sich unter
Annahme einer verständigen Ursache relativ leicht er-
klärte, ohne diese Annahme aber unendlich komplizierte
Hypothesen verlangt, wo immer es sich finde, mit un-
endlich größerer Wahrscheinlichkeit, ,,mit physischer
Sicherheit" also, auf einen Verstand zurückzuführen sei.
131. In der Tat müssen wir die Frage hier unentschieden
lassen; denn eine nähere Erwägung zeigt, daß es nur
unter einer Bedingung denkbar ist, wenn wir uns näm-
lich von der Existenz eines ersten, göttlichen und darum
universellen Prinzips aller Realität eine vernünftige Über-
zeugung zu verschaffen vermögen.
Nur solche Gesetze, welche eine Beziehung auf die
Gottheit enthalten, werden nämlich, wenn auch empi-
risch gefunden, als streng. allgemeine Kausalgesetze für
die ganze Schöpfung ausgesprochen werden können.
Z.B. daß alles eine erste Ursache hat, daß alles einen
Zweck hat, daß nichts vernichtet werden wird, wenn
es auch aus nichts geworden ist u. dgl. Für alle solche
Fra.gen fehlt uns aber zunächst jede Möglichkeit der
Entscheidung.
Ich bemerke nur noch, daß mit dem, was ich eben sagte,
einige paradoxe Aussprüche unserer größten Denker zu-
sammenhängen, über die wohl mancher, der nicht tiefer in
die Metaphysik hineingeschaut hat, gelächelt hat. So wenn
ARISTOTELESdie Existenz Gottes als die sicherste von
allen Wahrheiten bezeichnet, und wenn LOCKE (hierin
Erforschung besonderer Ursachen 153
mit DESCARTESeinig) behauptet, daß für uns außer der
eigenen Existenz die keines anderen Wesens so sicher sei
wie die der Gottheit 66).
Doch dies sei hier nur im Vorbeigehen erwähnt. Da.-
gegen müssen wir noch zur Ergänzung des Gesamtbildes
von dem, was man als Tatsache aus Tatsachen er-
schließen kann, ein paar andere Fragen aufwerfen und
kurz beantworten. Vor allem:
132. 6. Läßt sich ein Ding oder Ereignis als
Ursache oder Wirkung oder überhaupt als et-
was durch Kausalbeziehung Gefordertes aus
anderen Dingen oder ~reignissen erschließen 1
Ja! Vor allem im allgemeinen, schon auf Grund des
Kausalgesetzes, d. h. wo irgend etwas wird, muß irgend
etwas die Ursache des Werdens sein.
Im besonderen (bald mit Sicherheit, bald mit Wahr-
scheinlichkeit) auf Grund von besonderen Kausal-
beziehungen.
Beispiele: Von zwei Urnen weiß ich, daß die eine, un-
bekannt welche, lauter schwarze, die andere lauter weiße
Kugeln enthält. Vor welcher stehe ich? Das ist nach eir,.em
Zuge mit Sicherheit erkennbar. - Nicht ebenso im Falle
von drei Urnen, wenn in jeder zwei Kugeln, in der einen
zwei schwarze, in der anderen zwei weiße, in der dritten
eine schwarze und eine weiße enthalten sind. Ich ziehe eine
weiße. Vor welcher stehe ich? Antwort: Es ist zwei gegen
eins zu wetten, daß vor der mit zwei weißen Kugeln. Und
ebensoviel, daß ich im nächsten Zuge Weiß ziehen werde.
Allgemeiner gesprochen stellt man die sämtlichen mög-
lichen Hypothesen zusammen, bestimmt ihre relativen
Wahrscheinlichkeiten und berechnet daraus die Wahr-
scheinlichkeit der einzelnen bezüglich der Summe der
Wahrscheinlichkeiten aller anderen, die neben ihr mög-
lich sind.
Oft überwiegt eine alle anderen neben ihr möglichen
unendlich. Z. B. daß eine Uhr von irgendeinem Uhr-
macher (Fachmann oder Dilettanten in der Uhrmacherei)
154 Transzendente Schlüsse

gemacht wurde. Oder daß ein Blatt, a.uf welchem ein


deutsches Gedicht steht, von einem Menschen beeinflußt
ist, welcher die deutsche Sprache kennt.
Auch die merkwürdigen Induktionsformeln : !! oder
1
+ + h-angen d am1·t zusammen. s·1e cir··uck en d"1e
n +n m 2
Wahrscheinlichkeit eines Analogieschlusses auf den näch-
sten Fall aus, die erste, wenn kein Anhaltspunkt pro
oder contra gegeben ist, die zweite, wenn außer der Zahl
der Fälle, wo das Ereignis eingetreten ist (n) auch die der
Fälle, wo es ausgeblieben ist (m) bekannt ist. Ich muß
dafür im übrigen auf die Ausführungen der Mathematiker
verweisen, durch die der gesunde Menschenverstand
einen Sieg über HuME, wenn dieser das Vertrauen auf
die Erfahrung als Aberglauben verdammt, feiert 87 ).
133. 7. Und nun noch eine Frage: Läßt sich
etwas Transzendentes als Ursache erschließen1
Wollen wir darüber Klarheit gewinnen, so müssen wir
uns vor allem in Erinnerung bringen, was mit dem Trans-
zendenten gemeint sei. Man bezeichnet so das, was kein
Gegenstand möglicher Erfahrung ist, mit anderen Worten
wovon es unmöglich ist, daß es jemals unmittelbar durch
Wahrnehmung erkannt werde. Von vornherein ist nun,
wenn wir an die Weise denken, in welcher, wie wir eben
sahen, etwas als Ursache erschlossen wird, nicht abzu-
sehen, warum nicht auch ein Schluß auf eine transzen-
dente Ursache möglich sein sollte. Nur zwei Bedingungen
sind ja, damit es geschehe, zu erfüllen 68 ).
a) Erstens muß man, um etwas als Ursache zu er-
schließen, eine Vorstellung davon haben.
b) Zweitens muß seine Annahme eine Hypothese sein,
welche eine bereits gesicherte Tatsache erklären würde
und die sämtliche neben ihr möglichen Hypothesen un-
endlich an Wahrscheinlichkeit übertrifft.
Von diesen zwei Bedingungen ist es zunächst von der
ersten offenbar, daß sie auch bezüglich eines Transzen-
Transzendente Schlüsse 155
denten erfüllbar ist. Haben wir doch Vorstellungen von
vielem, von dessen Existenz wir durch unmittelbare
Wahrnehmung keine Kenntnis haben noch haben können.
So z. B. von allem, was die Vorstellungen unserer äußeren
Sinne uns zeigen. Man spricht zwar von äußerer Wahr-
nehmung, aber sie verdient den Namen nicht. Die Exi-
stenz einer Außenwelt, wie sie uns erscheint, ist nichts
weniger als unmittelbar gesichert. Hier haben wir also
Vorstellungen, ja anschauliche Vorstellungen von Dingen,
die nie durch unmittelbare Erfahrung erkannt werden
können 69 ).
Noch mehr. Wir können in ihnen sowie auch in den
Vorstellungen des inneren Gebietes durch Abstraktion
Elemente unterscheiden und dieselben frei und mannig-
fach kombinieren und können auf diese Weise Vorstel-
lungen von Dingen bilden, welche ebensowenig oder noch
weniger Gegenstände möglicher Erfahrung genannt wer-
den können. Können wir uns doch auf diese Weise selbst
Widersprechendes vorstellen. Negationen, komparative
Bestimmungen, Analogien und ursächliche Beziehungen
spielen bei der Bildung solcher Konglomerate eine wich-
tige Rolle. Die Vorstellungen von Dingen und Ereig-
nissen, die wir auf diese Weise gewinnen, sind freilich
meist keine anschaulichen und oft sogar nur Surrogate von
ihnen. Aber mehr als dies wird ja nicht gefordert, um die
Untersuchung anzustellen, ob ihnen etwas entspricht.
134. Die erste Bedingung ist also sicher vielfach er-
füllt. Blicken wir aber auf die zweite, so ist es jedenfalls
nicht von vornherein einleuchtend, daß unter den man-
nigfaltigen transzendenten Begriffen, welche wir in der
eben bezeichneten Weise gewinnen können, keiner sich
finde, bei welchem die Annahme, daß ihm etwas in Wirk-
lichkeit entspreche, nicht als Hypothese zur Erklärung
einer durch Erfahrung bereits konstatierten Tatsache
dienen und ihre möglichen Nebenhypothesen in dieser
Beziehung unendlich übertreffen könne.
Und so finden wir es denn auch faktisch.
156 Transzendente Schlüaae

1. Vor allem involviert schon die Allgemeingültigkeit


des Kausalgesetzes den Schluß auf transzendente Objekte
als Ursachen für irgendwelches Werden in der Erfahrungs-
welt.
Denn denke ich mir als nächste Ursache Gegenstände
möglicher Erfahrung, so verlangen diese selbst wieder
Ursachen und so- fort, und ich käme zu einer unend-
lichen Kette, welche vielleicht unannehmbar ist. Aber
auch angenommen, sie sei möglich und genügend zur
Erklärung, jedenfalls ist sie in ihrer Unendlichkeit kein
Gegenstand möglicher Erfahrung.
2. Ferner ist die Annahme einer dreidimensionalen
Außenwelt eine Hypothese, welche mit unendlich größerer
W ahracheinlichkeit als jede andere unsere physischen
Phänomene und ihre Ordnung begreülich m&cht. Sie
ist die Basis aller unserer Naturwissenschaft, und diese
Basis würde verlorengehen, wenn der Schluß auf sie als
transzendenter nicht zulässig erschiene.
Dasselbe gälte von den weiteren Bestimmungen der
Körperwelt, wonach die Körper z.B. träge, schwer usw.
gedacht werden.
3. Noch mehr ein Fall vollkommen gesicherten trans-
zendenten Schlusses ist der, welcher uns zur Annahme
einer zweiten psychischen Individualität außer der unse-
rigen und einer Mehrheit von menschlichen Seelenleben
führt 70 ). Und ebenso der, welcher uns tierische Seelen-
leben in entfernterer Analogie zu dem unserigen an-
nehmen läßt. DESCARTESzog ihre Existenz in Zweifel,
aber der Zweifel erscheint hier kühner als die Zuversicht.
Wir denken uns solche tierische Seelenleben meist ärmer
als das unserige; es könnte aber wohl geschehen, daß wir
es in mancher Beziehung auch reicher zu denken ver-
anlaßt wären. Was steht im Wege, unter Umständen
die Hypothese aufzustellen, daß bei gewissen Tieren die
Tonleiter weiter hinauf oder hinab reiche 1 Und ebenso,
daß sie mehr Farbenqualitäten sähen als wir, so daß wir
uns zu ihnen ähnlich wie die Rotblinden zu normal sehen-
Transzendente Schlüsse 167
den Menschen verhalten würden1 Ja, was steht im Wege,
unter Umständen die Hypothese eines sechsten Sinnes
aufzustellen, so wie einer, der von Geburt stockblind
oder stocktaub wäre, doch wohl nach allem, was er im
Verkehr mit anderen Menschen erführe, zur Hypothese
eines fünften Sinnes bei ihnen berechtigt wäre, von dessen
Charakter er sich durch Analogien, Negationen, kompara-
tive Bestimmungen u. dgl. freilich nur eine unvollkom-
mene und uneigentliche Vorstellung bilden könnte.
ERNST HEINRICH WEBER vermutete einen solchen
sechsten Sinn bei Tauben, um sich die Tatsache zu er-
klären, daß solche, die in einem geschlossenen Käfige
von Halle nach Leipzig gebracht worden waren, den
Weg zurückgefunden hatten. Das wäre eine transzen-
dente, aber unter Umständen (die nur vielleicht hier
fehlen) mit physischer Sicherheit zu verifizierende
Hypothese.
Das sind nur Beispiele, die keineswegs erschöpfend
sind, von welchen aber jedes einzelne schon hinreicht,
unsere Behauptung von der Möglichkeit eines sicheren
Schlusses auf transzendete Ursachen außer Zweüel, zu
setzen.
135. Nachdem ich so den skeptischen Angrüf HuMES
auf jeden Schluß von Tatsachen auf Tatsachen kräftiger
als KANT zurückgewiesen und auch die logische Berech-
tigung unserer Schlüsse auf transzendente Ursachen dar-
getan habe, möchte ich schließlich noch eine Bemerkung
beifügen.
HuME hatte gegen die transzendenten Schlüsse auf
Ursachen ein doppeltes Anathem geschleudert, weil sie
nicht nur wie alle anderen unvernünftig, sondern zu-
gleich unnatürlich seien, indem hier nicht einmal die
Gewohnheit, die sonst die treibende Kraft werde, sich
wegen mangelnder Erfahrung habe bilden können 71).
Der Unterschied wäre, wie ich schon sagte, von gar
keinem wesentlichen Belang. Aber er besteht nicht ein-
mal wirklich. Die Neigung der Gewohnheit, ohne hier,
168 Transzendente Analogieschlüsse

•wie überhaupt irgendwo, das logisch rechtfertigende


Prinzip zu sein, treibt doch auch bei transzendenten
Schlüssen oft in derselben Richtung. Dies ist offenbar
der Fall
l. wo man im allgemeinen auf das Vorhandensein
einer sonst nicht näher zu bezeichnenden Ursache
schließt, welche dann nur negativ, als transzendent, zu
kennzeichnen ist, weil keine der empirischen passen
würde.
Man supponiert eine Ursache auch darum gern, weil
man gewohnt ist, bei einem Werden etwas als Ursache
vorausgehen zu sehen.
2. Bei Analogieschlüssen, welche, wie wir gesehen,
oft zu einer transzendenten Ursache führen.
Die Gewohnheit ist ja eine Macht, welche. uns treibt,
nicht bloß zur Wiederholung früherer, sondern auch zur
Übl;tilg ähnlicher Akte. So z. B. wird jemand infolge der
Gewohnheit sich nicht bloß leichter über das erzürnen,
worüber er sich schon oft geärgert hat, sondern auch
über anderes. Und einer, der sich im Witz geübt hat,
würde wenig witzig erscheinen, wenn er infolge davon
nur die alten Witze zu wiederholen und nicht auch ähn-
liche zu erfinden geneigt wäre.
Die Gesetze der Ideenassoziation werden in der Psycho-
logie sehr oft ungenügend angegeben, wenn man von
einem Gesetz der Kontiguität und einem Gesetz der Simi-
larität spricht, von welchen das eine eine schon gehabte
Vorstellung an eine wiedergekehrte, früher gleichzeitige,
das andere an eine ihr ähnliche assoziiere. Es kann ge-
schehen, daß man durch Assoziation zu einer Vorstellung
gelangt, die man noch gar nie gehabt hat, indem
man an Ähnliches Ähnliches assoziiere. So wenn man eine
Melodie transponiert. Und so führt denn auch die Ge-
wohnheit oft zur Annahme neuer, aber den früher ge-
fundenen analoger Ursachen 72 ).
Eine solche Neigung der Gewohnheit zu analogen An-
nahmen bekundet sich nun insbesondere auch bei der
Rekapitulation der allgemeinen Einwii.nde 159

Frage nach dem Dasein Gottes und dürfte zur Folge


haben, daß die Annahme derselben sich leichter und
weiter verbreitet hat als die Erkenntnis aus logisch
gültigen Gründen, wenn sich eine solche für den Meta-
physiker als das Resultat sorgsamer Betrachtung der
Tatsachen und genauer Vergleichung der Wahrschein-
lichkeiten ergeben sollte.
V. Weitere Argumente allgemeiner Art gegen
die Beweisbarkeit des Daseins Gottes
136. Die ausgedehnten Betrachtungen über die Gültig-
keit der Schlüsse von Tatsachen auf Tatsachen machen
es nötig, den Zusammenhang in Erinnerung zu bringen,
in welchem sie mit unserer großen Aufgabe stehen. Wir
hatten uns mit Argumenten auseinanderzusetzen, die
jeden Versuch eines Gottesbeweises als vergeblich dartun
wollten, weil man von vornherein erkenne, wenn schon
nicht, wie ebenfalls manche behauptet hatten, daß Gott
nicht sei, so doch daß dieser Gegenstand eine sichere Er-
kenntnis ausschließe. Wir schieden diese Argumente in
zwei Klassen, die einen allgemeinerer Art, die anderen
speziell unserem Gegenstande angepaßt. Bisher haben
wir uns mit den ersten beschäftigt. Wir besprachen kurz
den absoluten Skeptizismus, der jeden Beweis als
unmöglich ablehnt. An zweiter Stelle erörterten wir die
mildere Skepsis, die nirgendwo mehr als eine endliche
Wahrscheinlichkeit erreichbar glaubt.
Nachdem wir diese beiden Standpunkte ohne viel
Schwierigkeiten überwunden hatten, galt es, einen un-
gleich bedeutenderen Gegner abzuwehren, DAVID HUME
mit seinem limitierten Skeptizismus, der uns zwar
nicht alle Sicherheit im Urteilen absprechen will, wohl
aber die logische Berechtigung, Tatsachen aus Tat-
sachen zu erschließen, so daß unsere Erfahrungskenntnis
auf das beschränkt bleiben müßte, was sich mit unmittel-
barer Evidenz wahrnehmen läßt. Diese Lehre bedroht
jede Erfahrungswissenschaft mit Vernichtung, und da
160 AuousTB CoH'l'Il:s Verdikt

Gott, wenn überhaupt, doch nur als eine Tatsache aus


Tatsachen erschlossen werden könnte, auch die ganze
natürliche Theologie.
Als vierter erstand uns in KANT ein Gegner, der zwar,
im Unterschied von HuME, Tatsachenschlüsse mit Hilfe
seiner synthetischen Erkenntnisse a priori retten will,
aber doch auch die Gültigkeit jedes transzendenten
Schlusses, d. h. jedes Schlusses auf etwas, was nicht ein
Gegenstand möglicher Erfahrung ist, ausschließt.
Länger als ich vorausgesehen hatte, haben uns diese
Auseinandersetzungen mit den beiden großen Gegnern
beschäftigt, von welchen HUME vorzüglich den Um-
schwung der An.sichten in der Gottesfrage bewirkte,
KANT aber heute noch als angesehenste Autorität die
öffentliche Meinung bestimmt. Die darauf verwandte
Zeit reut mich nicht, wenn es mir gelungen ist, was ich
hoffe, Ihnen die volle Einsicht in die Unhaltbarkeit
dieser Theorien zu geben und sie von dem Drucke mächtig
auf unserer Zeit lastender Vorurteile zu befreien.
Ja, ich will auch jetzt zu keinem rascheren Tempo
übergehen, denn je mehr man hastet, sagt ein englisches
Sprichwort, um so weniger kommt man ans Ziel. Es wäre
damit die Möglichkeit einer wahren Überzeugung und so
jeder wirkliche Erfolg verloren.
So will ich denn zunächst die Aufzählung und Prüfung
der Argumente allgemeinerer Art vervollständigen,
indem ich Ihnen zeige, wie in neuerer Zeit Ähnliches wie
von HUME und KANT auch von anderer Seite geltend ge-
macht wurde.
137. AuousTE CoMTE erinnert uns an Hu111E,indem
auch er den Verzicht auf einen Beweis für das Dasein
Gottes mit der Begründung fordert, daß die Erforschung
der Ursachen überhaupt unmöglich sei. Seine
Lehre ist im wesentlichen folgende 73 ):
Im Anfange der Geschichte wissenschaftlicher Be-
strebungen, da der menschliche Geist seine Schranken
noch nicht kennt, finden wir ihn allerdings auf der Suche
gegen die Ursachenforachung 161
nach den Ursachen des Geschehens, mit der Zeit aber
kommt er, li.uf dem einen Gebiete früher, auf dem anderen
später, dahinter, daß es in diesem Sinne ein „Erklären"
überhaupt nicht gebe. Von da an bedeutet dieses Wort
den Forschern nichts anderes mehr als die Herstellung
des Zusammenhanges zwischen den besonderen Phäno-
menen und einigen allgemeinen Tatsachen, deren Zahl der
Fortschritt der Wissenschaft immer mehr verringert.
Als Erläuterung dient CoMTE ein Blick auf die be-
obachtenden Wissenschaften. Niemals machen sie, in
ein gewisses fortgeschrittenes Stadium gekommen, den
Anspruch, die erzeugenden Phänomene darzulegen, auch
dort nicht, wo sie die Naturerklärung zur höchsten Voll-
kommenheit gebracht haben. So faßt z.B. NEWTONS
Gravitationsgesetz eine unermeßliche Mannigfaltigkeit
von Tatsachen als besondere Fälle der allgemeinen Tat-
sache, daß sich ein Körper, wenn nichts ihn hindert,
nach dem anderen hin mit einer Geschwindigkeit bewegt,
welche zu ihren Massen im direkten und zum Quadrate
ihrer Entfernung im umgekehrten Verhältnis steht. Es
zeigt uns aber nicht die Ursache, warum die Körper
einander anziehen, und jeder Naturforscher lehnt diese
Frage als unwissenschaftlich ab. Eine frühere, unreife
Forschungsweise mochte sich einbilden, den Grund dafür
gefunden zu haben, sei es in einem lebendigen Streben,
das den Himmelskörpern innewohne, sei es in Sphären-
geistern, die sie bewegen, sei es in einer besonderen
Entität „Schwere", die nichts bietet als eine naive Wieder-
holung der zu erklärenden Tatsache, nicht besser als die
„Virtus soporifica", mit der der weise Arzt bei MOLIERE
erklärt, warum das Morphium einschläfert. Heute ist
die Physik sich-über die Wertlosigkeit dieser Ursachen-
forschung ganz klar. Aber auch aus der Philosophie
muß sie verschwinden und mit ihr natürlich auch die alte
Frage nach der ersten Ursache aller Dinge.
138. Dieses Argument hat einen tiefergehenden Ein-
fluß geübt als seine logische Schwäche hätte erwarten
162 Kausalzusammenhänge unbegreiflich,

lassen. Denn widerlegt ist es gar leicht durch den Hin-


weis aul die beiden voneinander verschiedenen Bedeu-
tungen, die der Satz „Die Erforschung der Ursache ist
unmöglich" haben kann. Er kann besagen:
1. es sei unmöglich, die innere Weise des ursächlichen
Prinzips zu erkennen, mit anderen Worten das Venir-
sachtsein zu begreifen.
So verstanden besagt der Satz etwas ganz Richtiges;
nämlich daß unsere Kenntnis der aufeinander wirkenden
Dinge nicht vollkommen genug sei, uns einsehen zu
lassen, warum sie in der gegebenen Weise unter den ge-
gebenen Umständen aufeinander wirken. Man will damit
den Unterschied hervorheben, der zwischen der Art, wie
wir ein physikalisches Gesetz erkennen, und derjenigen
besteht, wie wir aus dem Begriffe zweier Zahlen, z. B.
der Zahl vier und der Zahl zwei, erkennen, warum die
eine genau das Doppelte der anderen ist und sein muß.
Hier bleibt kein Wie und Weshalb zu beantworten
übrig. Der Grund ihres Größenverhältnisses liegt uns
deutlich in den Begriffen selbst vor. Wir verwundern
uns nicht darüber, daß das Gesetz gleichmäßig und in
allen Fällen sich bewährt. Wir bedürfen nicht der Er-
fahrung und einer Reihe von Induktionen, um uns von
seiner Allgemeingültigkeit zu überzeugen. Es leuchtet
uns vielmehr a priori aus den Begriffen selbst ein. Anders
z. B. im Falle der sog. Attraktion. Hier sind wir nicht
so ins Innere gedrungen und haben das, was Ursache ist,
so in seinem Wesen erfaßt, daß wir unabhängig von der
Erfahrung, aus den Begriffen selbst die Erscheinung als
Folge hätten voraussagen können.
So verstanden, ist also gegen den Satz, daß die Ursache
unerkennbar sei, nichts einzuwenden 74 ).
2. Man kann ihn aber in einem weitergehenden Sinne
verstehen, indem man schon das für unerkennbar hält,
daß in diesem oder jenem Dinge die Ursache liege.
Und so verstanden ist er falsch und hat keineswegs
die Naturforscher auf seiner Seite. Sie halten es nicht
e.ber nicht unerkennbar 163
für unerkennbar, daß in den einander anziehenden Kör-
pern und in ihrer dermaligen Stellung der Grund ihrer
sog. Attraktion liege. Wenn ein bewegter Körper an
einen ruhenden stößt und dieser hiedurch in Bewegung
kommt, der andere aber nach dem mechanischen Gesetze
der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung eine
Verlangsamung, unter Umständen auch eine Ablenkung
erfährt oder zum Stillstande gebracht wird, so bestreiten
die Physiker nicht, daß diese Veränderungen in den be-
treffenden Körpern und in ihren vorhergehenden Zu-
ständen wahrhaftig ihre Ursachen haben. Kein Astro-
nom scheut sich zu sagen, daß die Sonne und ihre Stellung
zur Erde es sei, wodurch die Bewegung der Erde in der
Art modifiziert und von der geraden Linie abgebogen
wird, wie es uns die Erfahrung zeigt. Ebenso zweifelt
kein Vernünftiger, daß sein Wille die Bewegung seiner
schreibenden Hand bewirkt. Hier haben wir sogar - im
Unterschied von den früheren Beispielen - von dem,
was Ursache ist, eine eigentliche Vorstellung. Gleich-
wohl bleibt uns die Weise der Ursächlichkeit hier wie
dort unbegreiflich.
139. Die Anwendung auf die Frage nach der Erkenn-
barkeit einer ersten Ursache der Welt ergibt sich leicht.
Wer sagt, ein vernünftiges Wesen sei das Prinzip der
Welt und ihrer Ordnung, behauptet damit keineswegs,
daß er in bezug auf das Entstehen der Welt jene begrei-
fende Einsicht erlangt habe, die unserem Verstande sogar
bei näher liegenden Ursachen versagt ist. Er maßt sich
nicht an, daß er Gottes Natur verstehe und aus ihr den
Plan der Welt und diese selbst abzuleiten vermöge. Aber
daß es einen Gott gebe, und daß dieser die Welt hervor-
gebracht habe, das mag trotzdem und vielleicht mit aller
Strenge als wahr zu erweisen sein.
So viel also von diesem Angriffe CoMTES,der, wie gesagt,
in gewisser Weise an HuME anklingt, aber doch wesent-
lich verschieden ist, wie denn CoMTE, wenn er die Er-
kenntnis der Ursache ausschaltet, skeptisch nicht soweit
164 J. St. Mxu. hält tnmszendente Schlüsse

geht, jeden Schluß von einer Tatsache auf eine andere


zu verwerfen.
140. Auch JOHN STUARTMn.L hat in seiner Schrift
„A. COMTE und der Positivismus" den Irrtum CoMTES
zurückgewiesen, hält aber selbst einen sicheren Beweis
für das Dasein Gottes auf Grund allgemeiner logischer
Ansichten für unmöglich. Und man könnte sagen, daß
er sich hier zu KANT ähnlich wie COMTE zu HuME ver-
halte, indem auch er, wenn auch aus ganz anderen Grün-
den wie KANT, die Möglichkeit eines sicheren SchlUBses
auf eine transzendente Ursache in Abrede stellt.
MILL ist nämlich der Meinung, daß eine Hypothese,
welche eine besondere Natur von Gegenständen erfinde,
nie zu verifizieren sei. Um überhaupt eine Hypothese
wissenschaftlich exakt zu erweisen, hält er es für er-
forderlich, zu zeigen:
1. Daß wir aus der Hypothese die bekannten Tatsachen
ableiten können;
2. daß nichts anderes die gesuchte Bedingung sein
könne.
,,Es scheint mir nun, sagt MILL, daß diese zweite Ge-
wißheit nicht zu erlangen ist, wenn die in der Hypothese
angenommene Ursache eine. unbekannte, bloß für die
Erklärung der Wirkung ersonnene ist ... " ,,Nimmt eine
wissenschaftliche Hypothese eine unbekannte Ursache
an, so kann sie nur dadurch nützlich sein, daß sie eine
Richtungslinie für die Untersuchung abgibt, die mög-
licherweise zu einem anderen (unabhängigen) wirklichen
Beweise führt."
Ehe Amerika entdeckt wurde, war man auf allerlei
fremdartige, an die Westküste Afrikas angeschwemmte
Gegenstände aufmerksam geworden. Das wies auf ein
westwärts liegendes Land hin. Doch wäre es höchst un-
sicher gewesen, daraufhin schon Amerika anzunehmen.
Erst als man, dadurch angeregt, hinausfuhr und das
Land entdeckte, war die Hypothese gesichert. Vorher
hätte auch ein Zusammentreffen vieles anderen, was
nicht für verifizierba.r 165
damit stimmte, doch nicht zu einem exakten Beweise aus-
gereicht 76 ).
Eines solchen entbehrt denn aus dem angeführten
Grund für MILL auch die Atomtheorie und die Hypothese
des Lichtäthers. So auch für CoMTE. Ebenso verlangt
der Physiologe HuXLEY in seiner Schrift über die Ur-
sache der organischen Natur eine vera causa. Ähnlich
denkt ULRICI, der das Unverüizierbare als das Gebiet des
Glaubens von dem des Wissens abgesondert sehen will und
auch den Gottesgedanken in das erste verweist.
141. Indes ist diese Ansicht unhaltbar, und es könnte
schier überflüssig erscheinen, hier noch bei ihrer Wider-
legung zu verweilen. Haben wir doch schon in den Er-
örterungen, zu denen wir durch HuME und KANT ver-
anlaßt worden sind, die wahren Erfordernisse für den
exakten Beweis einer Hypothese kennen gelernt, die
Forderung MILLS aber nicht darunter gefunden. Auch
die Mathematiker in ihren Theorien über die Wahrschein-
lichkeitsrechnung wissen nichts davon. Und sicher ist
es dem Umstand, daß MILL in seiner sonst so verdienst-
vollen Logik*) die Bedeutung der Wahrscheinlichkeits-
rechnung verkennt und die Stellung von Mathematik
und Induktion geradezu verkehrt, indem er alle Mathe-
matik auf Induktion gründen will 76 ), während doch alle
Induktion zur Bemessung ihrer Rechtsgültigkeit mathe-
matische Betrachtungen verlangt, zuzuschreiben, daß er
in diesen Irrtum fallen konnte. Immerhin wollen wir
um seiner Autorität und der der anderen genannten
Forscher willen noch ein paar Augenblicke prüfend bei
seiner Ansicht verweilen.
MILL sagt, daß nach seiner Meinung eine Hypothese,
welche eine besondere Natur von Gegenständen erfindet,
nie gesichert werden könne, außer etwa durch einen nach-
folgenden Beweis auf Grund direkter Erfahrung. Da ist
denn vor allem die Frage am Platz, wie weit diese Ein-

"') Und Ähnliches gilt auch von den anderen Genannten.


166 HELM!!or.rz, Go:irmm, MILL

schränkung greife. Wir nehmen in vielen Fällen neue


Individuen an, von denen nur der Art nach ähnliche
bekannt waren. So z.B. Vulkane auf dem Monde, oder
mit LEVERRIER den Neptun. Sollte MILL schon hier
Bedenken hegen ? Kaum! und sicher hätt.e er unrecht.
Diese Hypothesen sind sogar mit größter Strenge be-
wiesen. Wir nehmen aber ebenso auch neue Arten
und Gattungen an, z. B. zur Erklärung aufgefundener
Mamutknochen und anderer vorweltlicher Tier- und
Pflanzenreste oder ihrer Abdrücke. Ebenso neue che-
mische Elemente, die sich oft durch lange Zeit noch nicht
rein darstellen lassen, wenn schon kein Chemiker mehr
an ihnen zweifelt. Es genügt, daß die BUNSENsche
Spektralanalyse zu deren Entdeckung geführt hat. Ent-
deckung, nicht reiner Darstellung. Denn nicht das neue
Element selbst wird so unmittelbar gefunden, sondern
eine Erscheinung im Spektrum, die als Wirkung auf eine
neue Gattung von Elementen zurückführt.
Wenn nun alles dies mit Sicherheit geschieht, wo liegt
da die Grenze? Es scheint keine vorhanden. Und dies
stimmt denn auch mit unseren frühen Erörterungen u:nd
wird auch von Philosophen, die wie MILL selbst sonst in
übertriebener Weise Empiristen sind, wie z. B. von
seinem Freunde ALEXANDERBAIN zugestanden.
142. Wie große Naturforscher darüber denken, da.für
mag Ihnen eine Stelle aus HELMHOLTZENS Aufsatz über
GOETHESnaturwissenschaftliche Arbeiten Zeugnis geben.
,,(GOETHE ist der Ansicht) daß die Natur ihre Geheim-
nisse von selbst darlegen müsse, daß sie die durchsichtige
Darstellung ihres ideellen Inhaltes sei. Er fordert daher,
... daß immer eine der beobachteten Tatsachen die an-
dere erkläre und man so zur Einsicht in den Zusammen-
hang komme, ohne das Gebiet der sinnlichen Wahr-
nehmung zu verlassen. Diese Forderung . . . ist aber
ihrem Wesen nach grundfalsch. Denn eine Naturerschei-
nung ist physikalisch erst dann vollständig erklärt, wenn
man sie bis auf die letzten ihr zugrunde liegenden und
über Naturerklärung 167
in ihr wirksamen Naturkräfte zurückgeführt hat. Da wir
nun diese Kräfte nie an sich, sondern nur ihre Wirkungen
wahrnehmen können, so müssen wir in jeder Erklärung
von Naturerscheinungen das Gebiet der Sinnlichkeit ver-
lassen und zu unwahrnehmbaren, nur durch Begriffe
bestimmten Dingen übergehen." (GOETHE möchte die
Natur vom Physiker angegriffen sehen wie vom Dichter,
der jeden geistigen Gehalt in sinnlicher Anschauung
gibt.) ,,Der Physiker dagegen will ihn hinüberführen in
eine Welt unsichtbarer Atome, Bewegungen, anziehender
und abstoßender Kräfte" usw.
Wir sehen, die Ansicht MrLLS - die er übrigens selbst
nur bescheiden vermutend ausgesprochen hat - wird,
wie von uns, so von anerkannten Richtern in noch viel
entschiedenerer Sprache verworfen. Wir werden mit ihnen
MrLLS Forderung, daß jede andere Hypothese ausge-
schlossen sein müsse, nicht für unberechtigt, aber doch
sehr wohl ohne Zuhilfenahme einer vera causa in seinem
Sinne für erfüllbar erklären dürfen 77 ). Seine andere, an
erster Stelle angeführte Forderung, daß wir nämlich aus
der Hypothese die bekannten Tatsachen abzuleiten ver-
möchten, hingegen scheint mir nicht ebenso unerläßlich.
Wir können unter Umständen ein uns vorliegendes Bild
auf einen bestimmten Künstler als seinen Urheber zurück-
führen, wären aber keineswegs imstande aus der Bekannt-
schaft mit dem Meister irgendeines seiner Werke abzuleiten.
B. Argumente, welche dem Gegenstande spezieU
angepaßt sind
143. Wenden wir uns zu der zweiten Klasse der gegne-
rischen Argumente, zu jenen, welche dem Gegenstande
speziell angepaßt sind. Sie erscheinen von vornherein
von sehr ungleichem Gewicht. Wenn wir, um keine
Lücke zu lassen, keines ganz übergehen, so können wir
doch einige rasch abtun.
I. Das Dasein Gottes kann nicht bewiesen werden,
denn ein Beweis ist eine Erkenntnis aus dem Grunde.
168 Seinsgrund - Erkenntnisgrund

Das Dasein Gottes aber hat keinen Grund außer sich, da


es vielmehr selbst, wenn es einen Gott gibt, die Wahrheit
ist, in welcher die Wahrheit aller anderen Wesen ihren
Grund hat. Gott schließt also seiner Natur nach die
Möglichkeit eines Beweises für sein Dasein aus. Es kann
nur etwa unmittelbar erkannt werden, was wir in früheren
Erörterungen als für uns unmöglich dartun wollten; jeden-
falls aber kann es nicht erwiesen werden.
Antwort: Das ist ein Argument, mit dem etwa
SPINOZAsich einverstanden erklären würde, der darum
auch, in seiner Ethik, für das Dasein Gottes keine anderen
als ontologische Argumente geltend macht. Aber es ist
falsch und leicht zu widerlegen.
Es bedarf dazu nur einer einfachen, klaren Unter-
scheidung zwischen dem Grund einer Wahrheit in sich
und dem Grund einer Wahrheit für uns, d. h. dem Grund,
vermöge dessen wir subjektiv eine Wahrheit erkennen.
(Grund des Seins und Erkenntnisgrund.)
Gründe des Seins sind die Ursachen für ihre Wir-
kungen, Gründe des Seins kann man, im uneigentlichen
Sinne 78 ), die höheren Gesetze für die davon abhängigen
Lehrsätze nennen. (Z.B. die Gesetze der Trägheit und
Gravitation für die Gesetze der Beschleunigung der Fall-
geschwindigkeit.) Gründe der Erkenntnis können auch
Wirkungen für Ursachen sein, und wiederum mag man
in uneigentlichem Sinne abhängige Gesetze Erkenntnis-
gründe für höhere Gesetze nennen, wenn jene, durch
Wahrnehmung und Induktion erkannt, diese als ihre
notwendigen Voraussetzungen fordern. Oft ist dies der
einzige für uns gangbare Weg, und die Ordnung des
Früheren und Späteren der Wahrheit in bezug auf uns
und des Früheren und Späteren der Wahrheit an und
für sich sind dann einander entgegengesetzt. Dies hat
schon ARISTOTELESdes öfteren hervorgehoben. Übrigens
hat gerade er zu dem Irrtum Anlaß gegeben, durch die
von der unseren abweichende Bedeutung, welche bei
ihm das Wort „Wissen", und durch den Doppelsinn, den
Aristotelischer Begriff des Beweises 169

bei ihm das Wort „Beweis" hat. Wir verstehen unter


Wissen oft jede sichere Erkenntnis, er unter buai17µ11
nur die einer allgemeinen und notwendigen Wahrheit,
welche aus höheren und in letzter Instanz aus wahren
höchsten und ersten Prinzipien abgeleitet wird. Man hat
also nach ihm kein „Wissen" von dem, was man mit
Evidenz wahrnimmt, und ebensowenig von einem Axiom
- wohl aber von einem Lehrsatz, welchen man aus
den Grundsätzen ableitet. Das Wort an6&i~t,; aber hat
bei ihm eine zweifache Bedeutung. Einmal nennt er so
jede mittelbare Erkenntnis, jeden sicheren Schluß, dann
aber, im engeren Sinne, nur einen Schluß, der eine ab-
hängige Wahrheit aus den ersten Gründen ihres Seins
ableitet und erklärt, also eine Erkenntnis aus einem
Grunde gibt, mit anderen Worten einen Schluß, der zu
einem „Wissen" in dem eben bestimmten Sinne führt.
Ein solcher apodiktischer (deduktiver) oder szienti-
fischer (epistemonischer) Beweis im engeren Sinne ist
also für keine andere als abhängige, sekundäre Wahr-
heiten möglich. Und somit kann er auch für das Dasein
Gottes nicht erbracht werden. Darin ist aber nicht ein-
geschlossen, daß seine Existenz überhaupt nicht durch
Schlüsse zu sichern sei, und daß man in dem jetzt üb-
lichen Sinne ein Wissen von ihm nicht haben könne. In-
dem der Einwand beides konfundiert, macht er sich eines
Paralogismus durch Äquivokation schuldig. Er leugnet
mit der Ableitung aus höheren, bedingenden Wahrheiten
die Möglichkeit einer Beweisführung und mittelbaren
Erkenntnis überhaupt.
144-. II. Nicht minder einfach als bei diesem ist die
Widerlegung eines zweiten Arguments, dem wir uns jetzt
zuwenden wollen.
Wenn wir das Dasein Gottes auf Grund von Erfahrungs-
tatsachen erschließen wollen, so müssen wir dabei ge-
wisse allgemeine Gesetze zuhilfe nehmen, z. B. das Kausal-
gesetz, und wir haben zu dem Behufe Sorge getragen
zu zeigen, daß es evident und analytisch sei. Aber wie
170 Gott keine Ausnahme

immer dieses und andere Gesetze auf solche Weise ge-


sichert sein mögen, dünkt es manchen, daß sie doch da,
wo es sich um das Dasein Gottes handle, keine geeignete
Stütze böten, und daß dieses überhaupt nicht erweisbar
sei, weil für Gott keines unserer Gesetze, auch nicht ein
analytisches, ja nicht einmal das Gesetz des Wider-
spruchs Geltung haben könne. Denn, sagen sie, Gott, der
absolut Freie, Unabhängige, Unendliche, muß über jedes
Gesetz erhaben sein. Wir dürfen ihn also auch nicht
den Gesetzen der Kausalität und des Widerspruches
unterworfen denken.
Wenn nun aber dies richtig ist, so hat es mit allem
Spekulieren über Gott ein Ende. Denn nicht bloß kann
nichts anderes als das Vertrauen auf das Kausalgesetz
uns zu seiner Anerkennung führen, sondern wir können
auch, vom Gesetz des Widerspruchs verlassen, nichts wie
immer Wahres und Gewisses von ihm und seinem Dasein
aussagen, ohne fürchten zu müssen, daß es zugleich falsch
wäre und wir uns im Irrtume befänden. Somit schließt
die Erhabenheit Gottes jede sichere Erkenntnis seines
Daseins aus.
(Dieses Argumentes hat sich, nach einem mündlichen
Berichte STUMPFS, LoTZE bedient.)
145. Lösung: l. Auch dieser Einwand ist nichtig
und kaum schwieriger zu widerlegen als der vorige. Man
behauptet, das Dasein Gottes sei unerweisbar, weil, wo
es sich um Gott handle, keines unserer einleuchtendsten
Gesetze, auch nicht ein analytisches Geltung habe.
Diese Behauptung aber ist offenbar absurd. Was wie
ein analytischer Satz evident ist, das ist wahr, und zwar
in dem Sinne wahr, in welchem es aus den Begriffen ein-
leuchtet, und es geht nicht an, dann Fälle zu unter-
scheiden, in welchen es wahr, und andere, in welchen es
nicht wahr sei. Eine solche Einschränkung involviert
eine Änderung des Sinnes. Und so ist denn vom Satz des
Widerspruchs und von anderen unmittelbar oder mittel-
bar uns einleuchtenden analytischen Gesetzen schlechter-
von den logischen Gesetzen 171
dings zu bestreiten, daß sie in ihrer Anwendbarkeit eine
Einschränkung erlitten und z.B. bei einer Untersuchung
über Gott unverlässig erschienen.
Wenn ein bedeutender Forscher, wie LoTZE dies ver-
kannte, so dürfte es sich dabei um eine üble Nachwirkung
der KANTschen Philosophie handeln. KANT hatte sich
erlaubt von synthetischen Erkenntnissen a priori zu
sprechen; dann aber noch zu fragen, wo sie gültig seien
und wo nicht 79 ). Auf diesem Abwege ist man nun offen-
bar weiter gegangen und nahm schließlich keinen An-
stoß, bei den analytischen Sätzen selbst sich dieselbe
Prozedur zu erlauben. Es war aber vielmehr, wie wir ge-
sehen, schon KANTSEinschränkung logisch verwerflich*).
Wenn wirklich analytisch evidente Sätze, wie der Satz
der Kausalität oder des Widerspruchs, in ausnahms-
loser Universalität als Gesetze festgehalten, sich nicht
mit der Erhabenheit Gottes vertrügen, so müßte man
also nicht schließen, daß sie nur beschränkte Gültigkeit
hätten, sondern daß ein so erhabenes Wesen, wie wir es
in Gott denken, nicht existiere. Das Argument wäre
dann ein anderes und würde nicht in diese, sondern in
die vorige Klasse einzuordnen sein, welche gegen die
Beweisversuche für das Dasein Gottes protestierte, weil
es von vornherein erkennbar sei, daß ein Gott nicht sei.
2. Aber auch so gewendet, würde das Argument nichts
an Haltbarkeit gewinnen. Denn nur infolge einer Be-
griffsverwirrung konnte man dazu kommen zu glauben,
daß die Freiheit und Vollkommenheit Gottes eine Ein-
buße erleiden würde, wenn die analytischen Gesetze der
Kausalität und des Widerspruchs u. s. f. für Gott ebenso
wie für uns Geltung hätten.

*) Obwohl, wie gesagt, wahrscheinlich KANT an LOTZEB


Verirrung die Schuld trägt, so sei doch daran erinnert, daß
auch DESCARTES schon ähnlich sich verirrt hatte, wenn er
meinte, Gott könnte die Radien des Kreises ungleich machen.
Die Denker des Altertums und Mittelalters, wenn man von
einigen Nominalisten absieht, stehen die.sem Irrtum fern.
172 „Gesetze" sind nicht

Gottes Würde und Freiheit schließt es allerdings aus,


daß es ein Wesen gebe, welches das Recht hätte, ihm zu
gebieten, oder die Macht hätte, ihn zu zwingen oder zu
hemmen und ihm so in legitimer oder illegitimer Weise
Gesetze zu geben. Aber das behauptet ja doch derjenige
nicht, welcher die unabänderliche, ausnahmslose Gültig-
keit der Gesetze des Widerspruchs u. dgl. auch für Gott
behauptet. Es sind das ja keine Gesetze im Sinne von
Geboten oder Beschränkungen, welche dem Willen eines
anderen Wesens entstammten, was eben als mit der gött-
lichen Erhabenheit und Freiheit unvereinbar bezeichnet
wurde. Es sind Gesetze im Sinne von notwendigen Wahr-
heiten, welche ebenso von jedem anderen als dem gött-
lichen Willen unabhängig sind.
3. Vielleicht sagt einer: Aber schon das ist unvereinbar
mit der Vollkommenheit Gottes, daß etwas notwendig ist,
ohne durch seinen Willen als notwendig bestimmt zu
werden.
Doch das ist so wenig richtig, daß vielmehr die Voll-
kommenheit Gottes das Gegenteil involviert; denn sie
verlangt, daß Gott notwendig sei, aber offenbar nicht
notwendig infolge seines Willens, sondern absolut not-
wendig. (BAADERSRede von der ewigen Selbsterzeugung
und Selbstverjüngung Gottes ist Unsinn.)
146. Instanz: Indes gibt sich einer hiermit vielleicht
noch nicht zufrieden. Etwas anderes sei es mit der Not-
wendigkeit Gottes, etwas anderes mit anderen Notwendig-
keiten. Gott selbst möge immerhin unabhängig vom
göttlichen Willen absolut notwendig sein, ohne daß der
Vollkommenheit Gottes Eintrag geschehe. Aber was außer
Gott sei und notwendig sei, dürfe es nur infolge seines
Willens sein, sonst erscheine Gott nicht als der Urquell
alles Seins. Von jenen analytischen Gesetzen aber gelte
a) daß sie sind (wenn auch nicht als Dinge, so doch
als undingliche, aber doch wahrhaft existierende Entitäten)
ohne von Gottes Willen und Wirken abhängig zu sein.
Ein wirkliches Dreieck, wenn es ein solches irgendwo auf
im eigentlichen Sinne 173
der Welt gibt, ist, wenn Gott ist, von ihm gewirkt; aber
von der Wahrheit, daß jedes Dreieck drei Winkel haben
muß, und von der Unmöglichkeit eines Kreises mit un-
gleichen Radien läßt sich das nicht ebenso sagen. Diese
sind, ohne von Gott irgendwie abhängig zu sein. (Wie
sie denn überhaupt von der Existenz irgendwelches
Realen, selbst von der eines Dreieckes, bzw. eines Kreises
unabhängig sind.)
b) Bestehen aber solche Notwendigkeiten und Un-
möglichkeiten unabhängig von Gott, so setzen sie seiner
Allmacht unverkennbare Schranken. Er müßte ja ver-
zichten, Widersprechendes zu wollen, denn es würde
doch nicht geschehen.
Antwort: Gewiß würde Widersprechendes nicht ge-
schehen, selbst wenn Gott es wollte, aber die Voraus-
setzung ist ebenso absurd, wie die Existenz eines Wider-
spruchs, und es zeigt keine Unvollkommenheit Gottes,
wenn er solches nicht wollen kann. Sagt das doch nichts
anderes, als daß er keinen Unsinn wollen und daß seine
Allmacht sich unmöglich feindlich gegen sich selber
kehren kann. Denn dies wäre der Fall, wenn er wollte,
daß dasselbe sei und nicht sei. So wenig es eine Schranke
seiner Vollkommenheit ist, daß ihm die Möglichkeit
fehlt, unvollkommen zu sein, so wenig, daß ihm die Mög-
lichkeit fehlt, Unsinniges oder Ruchloses zu wollen. Ich
füge hinzu „Ruchloses", weil auch die ethischen Gesetze
gelten ebenso wie die logischen. Wenn LEIBNIZ sagt,
Gott könne nicht anders als das Beste wollen, sagt er
nichts, was der Vollkommenheit widerspricht.
Was aber das Bedenken anlangt, daß solche Gesetze,
d. h. solche analytische Notwendigkeiten, bzw. Unmög-
lichkeiten, wenn sie auch nicht geradezu als von Gott
unabhängige Dinge gelten dürfen, doch immerhin von
ihm unabhängige Entitäten seien, so ist es ebenfalls ganz
unberechtigt. Dann es handelt sich hier überhaupt nicht
um etwas, was im eigentlichen Sinne ist. Es ist vielmehr
daran zu erinnern, daß, wer sich erlaubt, eine Unmög-
174 Das Sein im Sinrn, der Wahrheit

lichkeit oder Möglichkeit, ein Nichtsein von etwas usw.


ein Seiendes zu nennen und zu sagen, sie bestünden, damit
gar nichts anderes sagen wolle, als daß derjenige wahr
urteile, der ein gewisses Ding apodiktisch leugne oder
etwas als tatsächlich nicht vorhanden beurteile oder von
einem, der ein Ding apodiktisch leugne, urteile, daß er
irre. Eben darum hat ARISTOTELESdiesen Gebrauch
des Wörtchens seiend (im Sinne des 6v wt; al7J#e1,) als
solchen, der nicht in die Metaphysik einschlage, aus-
geschieden. Man sieht, der vorliegende Einwand ist durch
eine sprachliche Täuschung verursacht worden, von der
schon ARISTOTELESsich freizuhalten gewußt hat. Wer
von Gesetzen, von Möglichkeiten und Unmöglichkeiten
als von solchem spricht, was ist, und es darauf hin ernst-
lich für ein Seiendes nimmt, irrt ebenso, wie einer, der
die Häupter seiner Lieben zählend und eines vermissend
damit eine positive Feststellung gemacht zu haben
glaubt: ein Anerkennen des Nichtvorhandenseins des X
oder gar des Vorhandenseins des Nichtvorhandenseins
des X 80 ).
147. Schließlich ließe sich noch ein Einwand denken:
Wenn Gott nicht wirken kann, was analytischen Gesetzen
widerspricht, so bedeutet dies doch eine Beschränkung
seiner Kraft. Denn er kann dann nicht nur das Wider-
sprechende nicht bewirken, sondern auch solches nicht,
was positiv widerstreitet (wie ein rotes Grünes). Das aber
muß doch sein auf die vollkommensten Werke gerichtetes
Wollen lähmen. Denn von dem, was sich so ausschließt,
hat jedes seinen besonderen Vorzug, und nur durch die
Vereinigung dieser Vorzüge wäre das Vollkommenste zu
erreichen.
Antwort:
a) Die Welt, das Werk Gottes, umfaßt vieles, und
Eigenschaften, die miteinander in einem und demselben
Teile unvereinbar sind, können nebeneinander in ver-
schiedenen sich verwirklicht finden und im Ganzen zu
höherer Vollkommenheit summieren.
Berechtigte Analogieschlüsse 175
b) Auch ist ein höheres Analogon denkbar, einheitlich
und von solcher Vollkommenheit, daß es dadurch als
Äquivalent für die auf Vielerlei verteilten, e..nander
widerstreitenden V ollkommenheiten gelten kann.
c) Übrigens wurde schon gesagt, daß die unendliche
Vollkommenheit und Macht Gottes nicht verlangt, daß
er ein unendlich vollkommenes Werk, sondern nur ins
Unendliche vollkommenere Werke zu wirken vermöge.
d) Nicht sein Werk, sondern er selbst ist das, wodurch
er reich und selig ist.
148. III. Wenn ein Beweis •für das Dasein Gottes
möglich wäre, so wäre es ein solcher a posteriori, ein
Schluß auf Gott als Ursache zur Erklärung gewisser Er-
fahrungstatsachen. Aber ein solcher muß schon darum
unberechtigt erscheinen, weil darin äußere Vorgänge
nach Analogie zu unserem Inneren erklärt werden.
Dies ist, sagt u. a. ÜOMTE, offenbar ein Nachklang des
ersten, kindlichen Stadiums der Wissenschaft. In naiver
Weise hielten die ersten Forscher alles für lebendig, wie
dies unsere Kinder auch heute noch tun. Ein Hylo-
zoismus war es, womit alle Weltbetrachtung anfing. Man
merkte aber mit der Zeit, daß diese Allbeseelung sich
nicht durchführen lasse, und so kam dann in diese vitali-
stische Auffassung eine retrograde Bewegung. Von
einem allgemeinen Fetichismus ging man zum Polytheis-
mus über. Man wies ein ganzes Bereich einem einzelnen
Wesen als Domäne zu. Dabei blieb aber dieser Rückzug
nicht stehen. Vom Polytheismus kam man zum Theis-
mus, der also als das letzte Überbleibsel einer naiven
Hypothese anzusehen und schon darum von der strengen
Wissenschaft nicht ernst zu nehmen, sondern endlich
einmal ganz zu beseitigen ist.
Antwort: Daß die Gotteshypothese in mancher Be-
ziehung eine Erklärung in Analogie zu unserem Inneren
gibt, ist nicht zu bestreiten, aber nicht jede Analogie ist
verwerflich. Unter Umständen kann der Analogieschluß
ein vollkommen tadelloser Schluß sein, ein Schluß von
176 Vorgeschichte des Gottesglaubens

unendlicher Wahrscheinlichkeit, unter anderen Um-


ständen wenigstens einen solchen vorbereiten und ein-
leiten. Wir machen sogar alle, oder doch die meisten
Hypothesen nach Analogie und sehen darin von vorn-
herein eine Empfehlung. (MILL.)
Warum sollte da gerade die Analogie zu unserem
igenen Inneren nirgends und niemals für berechtigt
gelten? In Wahrheit führt sie in vielen Fällen zu unend-
licher Wahrscheinlichkeit. Schon wenn wir überhaupt
Kräfte und wirkende Ursachen in die. Außenwelt ver-
legen, entnehmen wir diese Begriffe unserer inneren Er-
fahrung, noch deutlicher ist dies der Fall, wenn wir
Empfindungen, Affekte, willkürliche Bewegung bei Tieren
und bei unseren Mitmenschen voraussetzen. So ist
denn, wer sich von Analogien leiten läßt, nicht schon
von vornherein deswegen zu verdammen, vielmehr
muß erst geprüft werden, was für Anhaltspunkte er
dafür hat.
149. Wird auf die Vorgeschichte der Gotteshypothese
und ihren logisch nicht einwandfreien Ursprung hinge-
wiesen, so dürfte diese geschichtliche Feststellung stim-
men. Wenigstens spricht manches dafür. Was die Ge-
schichte der Menschheit im großen Stile uns zeigt, zeigt
die der Philosophie zuweilen in verkleinertem Maßstabe.
Ich denke hier besonders an die griechische. THALES,
ihr Begründer, war Hylozoist. Bei ihm ist alles dem
Wesen nach Wasser, und dieses Wasser ist lebendig.
Das All, sagt er mit Beziehung darauf, sei voll von Göt-
tern, und dem Magnet schreibt er eine Seele zu, weil er
das Eisen anzieht. Bei EMPEDOKLESwird dieser Hylo-
zoismus durch eine Art Polytheismus abgelöst, und nach
diesem kommt dann der Theismus des ANAXAGORAS.
Analog sind die am meisten zurückgebliebenen Völker
Fetischisten, die vorgeschritteneren Polytheisten, die
Vorhut der Menschheit Theisten. (Ich weiß wohl, daß
M.u MÜLLERdas nicht zugeben will und den Fetischis-
mus als eine Korruption eines ursprünglichen Theismus
kein Beweis gegen ihre Richtigkeit 177

angesehen wissen möchte. Doch ist in dieser Konstruk-


tion die Tendenz unverkennbar.) Zugegeben, daß der
geschichtliche Verlauf wirklich der hier dargelegte war,
so scheint mir daraus weder etwas gegen die Wahrheit,
noch auch nur gegen die Beweisbarkeit der Gottes-
hypothese gefolgert werden zu können.
Wenn für einen Satz zunächst nur schwache Wahr-
scheinlichkeitsgründe sprechen, warum sollte das eine
spätere kräftigere Beweisführung ausschließen? Man
erzählt von NEWTON,er sei durch einen vom Baume fal-
lenden Apfel zu der Frage, ob er auch gefallen wäre,
wenn er höher und so hoch wie der Mond gehangen hätte,
und warum dieser nicht zur Erde falle, und so auf den
Gedanken seines Gravitationsgesetzes gekommen. Wenn
das Geschichtchen wahr ist, so macht es doch keineswegs
das Gesetz verdächtig, das diesem Einfall entstammt.
Ja, selbst wenn es zunächst sogar ganz unzutreffende
Gründe gewesen sind, die zu einer Hypothese geführt
haben, kann diese gleichwohl wissenschaftlich einwand-
frei werden. Was hat den atomistisch denkenden Che-
miker die Erinnerung daran zu kümmern, daß DEMOKRIT,
da er zuerst diese Hypothese aufgebracht, ganz verkehrt
dafür argumentierte? Er wies auf die zunehmende Schwie-
rigkeit hin, die es hat, einen Stab in kleinere und immer
kleinere Stücke zu zerbrechen, was aber gar nicht mit
der Unentbehrlichkeit unteilbarer Einheiten, sondern mit
den Gesetzen des Hebels zusammenhängt.
Auch darin, daß eine Hypothese zunächst im Zusam-
menhange mit Irrtümern aufgetreten ist, liegt nichts,
was Bedenken gegen sie erwecken müßte. Irrige Hypo-
thesen sind oft die Vorläufer der richtigen und enthalten
nicht selten bereits einen Teil der Wahrheit. (Ein be-
rühmtes Beispiel ist die Emissionstheorie des Lichtes
als Vorläuferin der Undulationshypothese.) Wenn eine
Hypothese ein Überbleibsel ist, so ist vielleicht gerade
dieses Überdauernde das, was den Wahrheitskern der
früheren ausmacht. Wer wird die Hypothese, daß die
178 Ob beim Gottesbeweis

Tiere Empfindung besitzen, deswegen verwerfen wollen,


weil sie ein Überbleibsel des alles belebenden Hylozois-
mus ist 1 COMTEselbst tut es nicht, sondern spricht von
der Automatentheorie DESCARTESals von einer „merk-
würdigen Verirrung''.
So darf denn auch niemand die theistische Hypothese
schon deswegen ablehnen, weil sie ein Überbleibsel des
Hylozoismus sei. Übrigens ist sie es, bei Lichte besehen,
gar nicht. Denn zu dem Dogma des Fetischismus und
Polytheismus gehört nicht der Gott, wie ein DESCARTES,
LEIBNIZ, KANT sich ihn denken. So mag sie denn besser
als eine durch irrige Hypothesen vorbereitete, irgendwie
ihnen verwandte gelten, die vielleicht selber richtig und
beweisbar ist.
150. IV. Wenn das Dasein Gottes mit Sicherheit be-
weisbar wäre, so doch nicht mit mathematischer, sondern
mit physischer, die man auch unendliche Wahrschein-
lichkeit nennt. Die wichtigsten Fragen der Metaphysik
sind nur solcher Beweise fähig, weshalb der Ausdruck
„metaphysisch sicher", den manche für die analytischen
Beweise der Mathematiker gebrauchen, schlecht ge-
wählt ist.
Die Gesetze und Tatsachen, auf welche sich die Be-
weisversuche für das Dasein Gottes stützen, sind größten-
teils selbst nur physisch sicher erkennbar. So die Existenz
der Außenwelt, die zuverlässigsten Tatsachen des Ge-
dächtnisses, ja die Tatsache des Gedächtnisses über-
haupt.
Das also ist zuzugeben. Ein Schatten auf unseren
Versuch fällt damit aber nicht, denn die physische
Sicherheit ist ein Äquivalent für die mathematische, und
wir sind logisch berechtigt, so zu schließen.
Aber - so wird uns nun eingewendet - auch ein
physisch sicherer Beweis ist hier durch die Natur des
Gegenstandes ausgeschlossen, und somit läßt sich das
Dasein Gottes überhaupt nicht streng erweisen. Und
warum soll er ausgeschlossen sein 1 Hören wir die Gründe:
physische Sicherheit erreichbar! 179
151. Die Wahrscheinlichkeit einer Hypothese, aus der
wir ein Faktum erklären wollen, hängt von einem Zwei-
fachen ab:
1. von der Leichtigkeit, mit der sie, verglichen mit
anderen, das Faktum erklärt;
2. von der sog. vorgängigen Wahrscheinlichkeit der
Hypothese.
Zur Erläuterung dieses Unterschiedes ein populäres
Beispiel: Ein Kind spielt, in einem erhöhten Kinder-
stühlchen sitzend, mit seinem Hanswurst. Kaum habe
ich das Zimmer verlassen, höre ich es schreien und weinen.
Warum 1 Verschiedene Hypothesen bieten sich dar.
Vielleicht, weil ich es allein gelassen habe - doch hat es
sich darüber sonst nicht so aufgeregt. Vielleicht ist ihm
sein Spielzeug hinuntergefallen; in solchen Fällen hat es
gewöhnlich zu schreien angefangen. Vielleicht ist aber
vielmehr soeben der Schornsteinfeger des Weges ge-
kommen und hat sein rußiges Gesicht zum Fenster hinein-
gesteckt. Dann hätte es sicherlich vor Angst geschrien.
Natürlich wären noch andere Erklärungen auszudenken.
Wie soll ich darunter, und zunächst aus diesen dreien, die
wahrscheinlichste herausfinden 1 Dabei habe ich auf
zwei Momente zu achten:
l. darauf, mit welcher Leichtigkeit aus der Annahme
die Tatsache sich erklärt. In dieser Beziehung hat die
dritte vor den beiden anderen den Vorzug und die erste
bleibt am weitesten zurück. Aber damit wird die Schorn-
steinfegerhypothese nicht schon die wahrscheinlichste,
denn es kommt eben noch
2. der Unterschied in der vorgängigen Wahrscheinlich-
keit in Betracht. Darin aber steht die dritte den beiden
anderen weit. nach, denn es wird höchst selten vorkom-
men, daß ein Kaminfeger seine Leiter an ein Haus, in dem
er nichts zu suchen hat, anlehnt und durchs Fenster
hineinschaut.
Ich muß aber beide Unterschiede beachten, und dann
mag sich die zweite als die wahrscheinlichste ergeben.
180 Angebliche unendliche

Dieses populäre Beispiel mag hier zur Erläuterung ge-


nügen. Eingehender wird in der Logik der Gegenstand
besprochen und das genaue Verhältnis der W ahrschein-
lichkeiten festgestellt. Es bezieht sich darauf das sechste
Prinzip von LAPLACE: Für eine gegebene Wirkung ist
die Wahrscheinlichkeit gleich der vorgängigen Wahrschein-
lichkeit der Ursache, multipliziert mit der Wahrschein-
lichkeit, daß die Ursache, wenn sie existierte, die Wirkung
hervorgebracht haben würde.
Auf dieses logische Gesetz gestützt, behauptet man
nun, wie gesagt, ein physisch sicherer Beweis für das
Dasein Gottes sei durch die Natur des Gegenstandes
ausgeschlossen. Denn, sagt man, das Dasein Gottes ist
nicht eine kleine und gewöhnliche Annahme, eine Hypo-
these wie andere Hypothesen; sie enthält vielmehr vor-
gängig und in sich selbst eine unendliche Unwahrschein-
lichkeit.
a) Nicht bloß ist sie, wie schon bemerkt, ohne Beispiel
(schon das ist bedenklich, bot es doch auch für das NEW-
TONsche Gesetz eine bedeutende Stütze, daß es in der Tat-
sache der irdischen Schwere etwas, was schon gesichert
war, verwerten konnte), sondern es besteht
b) auch ein riesiger, ja ein unendlicher Abstand zwischen
dem Wesen, das man hier annimmt, und allen, von
denen die Erfahrung uns Kenntnis gibt. Nichts soll es
mit irgendeinem von ihnen gemein haben, und unter
keines der Gesetze, welche für uns bekannte Wesen
gelten, auch nicht unter die allgemeinsten unter ihnen
fallen.
Je allgemeiner ein Gesetz ist, sagen aber die Logiker,
um so weniger glaublich ist eine Ausnahme. Und hiermit
stimmt der gesunde Menschenverstand, denn wenn er
schon nicht ohne Schwierigkeit glauben würde, daß
einer eine weiße Krähe gesehen hätte, weil dies eine Aus-
nahme von dem empirischen Gesetze wäre, wonach alle
Krähen schwarz sind, so würde er es doch noch viel
weniger glaubhaft finden, daß eine Krähe gesehen worden
Unwahrscheinlichkeit der Gotteshypothese 181

sei, welche in bezug auf eine allgemein anerkannte


Eigenschaft der Vögel oder gar der Tiere oder gar der
lebenden Wesen oder gar aller körperlichen Wesen eine
Ausnahme bildete. (Eine Krähe, mit der man ein philo-
sophisches Gespräch führen konnte, eine Krähe, die nicht
undurchdringlich war, so daß sie durch die Wände eines
noch so gut vergitterten Käfiges flog. Lieber wollte man
ihm glauben, daß er 100 weiße Krähen gesehen und blaue
Nachtigallen und grüne Störche dazu.)
Somit stellt sich die Annahme eines Wesens wie Gott,
das in bezug auf alle auch noch so allgemeinen Gesetze
eine Ausnahme bilden würde, von vornherein als eine vor
allen anderen schwierige und unendlich unwahrschein-
liche Annahme dar.
c) Aber auch damit ist noch nicht alles gesagt, was zu
sagen ist, um die ganze Größe der vorgängigen Unwahr-
scheinlichkeit einer solchen Hypothese darzutun. Sie
ergibt sich auch noch von einer dritten Seite. Betrachten
wir etwas näher den Begrüf, den wir mit dem Namen
Gott verbinden. Die einen sagen, er bedeute ein allreales,
die anderen ein unendlich vollkommenes Wesen. . So
oder so gefaßt, besagt er unendlich viel. Nicht bloß
irgendwelche, alle Realität, nicht bloß irgendwelche,
sondern alle Vollkommenheit soll in unendlicher Steige-
rung in Gott sich finden. Somit enthält die Annahme
Gottes der Kraft nach unendlich viele Annahmen. Die
Hypothese ist nicht eine einfache, sondern eine kompli-
zierte, ja sie enthält eine unendliche Komplikation. Mit
jeder Komplikation aber nimmt, wie die Logik lehrt,
die vorgängige Wahrscheinlichkeit einer Hypothese ab,
so zwar, daß der Bruch, welcher die vorgängige Wahr-
scheinlichkeit einer aus mehreren Annahmen zusammen-
gesetzten Hypothese ausdrückt, gleich dem Produkte
der Wahrscheinlichkeiten der einzelnen Annahmen ist.
So ist z. B. die vorgängige Wahrscheinlichkeit, daß einer
mit 3 Würfeln 6 wirft = (1/ 8 ) 3 = ½16 ; mit 8 Würfeln
kleiner als 1/Million, mit 16 kleiner als 1/Billion, mit
182 Ob die Gotteshypothese

24 kleiner als 1/Trillion. Und wiederum sagt auch hier


der gesunde Menschenverstand dasselbe, wenn auch
weniger genau. So wenn CICERO es als schlechthin un-
glaublich bezeichnet, daß ein wahlloses Ausstreuen von
Buchstaben den Text der Ilias ergeben hätte.
Was sollen wir also von einer Hypothese sagen, die
unendlich viele Realität und Vollkommenheit in emi-
nentem Maße in einem ,vesen enthalten denkt1 Die vor-
gängige Wahrscheinlichkeit ist hier ein Produkt von un-
endlich vielen Brüchen, und würde, wenn wir jeden von
ihnen gleich 1/z annehmen, (½) °" betragen, ein Über-
maß von unendlicher Unwahrscheinlichkeit.
Und dies scheint noch viel zu wenig gesagt, da von
der unendlichen Steigerung, dem Übermaß, in welchem
jede einzelne Vollkommenheit Gott zugeschrieben wird,
keineswegs gesagt werden kann, daß ihre Annahme vor-
gängig ebenso wahrscheinlich als ihre Verwerfung sei.
Wir dürften also statt ½ eigentlich selbst wieder nur
einen unendlichen kleinen Bruch setzen und bekämen
somit einen unendlich kleinen Bruch auf die unendlichste
Potenz, in unendlich kleiner Größe der unendlichsten
Ordnung als die vorgängige Wahrscheinlichkeit der Hypo-
these der Existenz Gottes.
Doch genug, daß sie vorgängig unendlich unwahrschein-
lich ist, um zu zeigen, daß ein Beweis für das Dasein Gottes
mit physischer Sicherheit nicht erbracht werden kann.
Denn sollte auch die Hypothese gewisse Tatsachen, die
in unsere Beobachtung und Erfahrung fallen, aus der
Annahme Gottes viel leichter, ja unendlich leichter er-
klären als alle anderen (wie z.B. die Zweckmäßigkeit,
die wir in den Organismen finden, sich wohl leichter aus
dem vernünftigen Wirken Gottes als aus dem bloßen
blinden Zusammenwirken der Stoffe erklärt), so würde
doch die innere, die vorgängige Unwahrscheinlichkeit
der Hypothese dies wieder aufwiegen. Und somit würde
kein Beweis, am wenigsten ein vollkommen exakter,
physisch sicherer Beweis zu gewinnen sein.
unendlich unwahrscheinlich? 183
152. Lösung: Hier ist ein Einwand aufgeworfen, der,
ohne daß ich die Bedeutung anderer, die wir teils schon
berührt haben, teils noch berühren werden, unterschätzen
möchte, wohl vor allen andern viele zu dem Zweifel an
der Möglichkeit eines exakten Beweises für das Dasein
Gottes bewegt, selbst solche, die ihn nicht in so scharfer
Formulierung sich vorgehalten haben. Doch ist, wie auch
sonst, die scharfe Fassung des Einwandes die beste Vor-
bereitung zu seiner Lösung.
Das Argument ruht einerseits auf einer allgemeinen
logischen Theorie, andererseits auf einer Analyse unseres
speziellen Falles.
l. In der ersten Hinsicht macht es geltend, daß bei der
Feststellung der Wahrscheinlichkeit einer Hypothese
nicht bloß die Leichtigkeit, mit welcher sie vorliegende
Tatsachen erklärt, sondern auch ihre sog. vorgängige
Wahrscheinlichkeit in Betracht komme. Und soweit ist,
was es sagt, ganz richtig.
Dagegen ist es nicht mehr zu billigen, wenn gefolgert
wird, daß eine Hypothese, die vorgängig unendlich un-
wahrscheinlich ist oder vielleicht gar aus einer Vielheit
von Annahmen sich zusammensetzt, von denen jeder
eine unendlich kleine Wahrscheinlichkeit zukommt, von
vornherein verworfen werden oder als eine, die nicht
mehr zu physischer Sicherheit erhoben werden könne,
angesehen werden müßte. Dies ist keineswegs zuzu-
geben. Vielmehr kann ein hypothetisch angenommenes
Gesetz oder eine hypothetische angenommene Ursache
an und für sich unendlich unwahrscheinlich sein und
dennoch unter Umständen durch die Tatsachen, die sie
zu erklären dient, unendlich wahrscheinlich gemacht, also
physisch sicher erwiesen werden. Denn auch dann könnte
sie, z. B. bei einer beschränkten Zahl möglicher Hypothe-
sen, unendlich wahrscheinlicher als jede andere sein,
sei es an sich, sei es durch die Leichtigkeit, mit der sie die
Tatsachen erklärt. Denken wir uns, es seien nur drei
Hypothesen möglich, A, Bund C. Jede von ihnen sei zu-
184 Ob die Gotteshypothese

sammengesetzt aus n-Annahmen, von denen jede einzelne


denselben unendlich kleinen Bruch zum Ausdrucke ihrer
Wahrscheinlichkeit habe; die eine von den Dreien erkläre
aber das vorliegende Faktum unendlich leichter als jede
andere, so wäre sie sofort physisch gesichert, ganz so, wie
wenn die vorgängigen Wahrscheinlichkeiten eine gleiche
endliche Größe gehabt hätten. Es entspricht dies einem
Prinzip der Wahrscheinlichkeitsrechnung, welches bei
LAPLACE also lautet: ,,Die Wahrscheinlichkeit einer jeden
der denkbaren Ursachen eines beobachteten Ereignisses
ist ein Bruch, dessen Zähler die Wahrscheinlichkeit des
Ereignisses unter Annahme der Ursache, multipliziert mit
ihrer vorgängigen Wahrscheinlichkeit, und dessen Nenner
die Summe der Produkte der Wahrscheinlichkeiten, die
sich unter Annahme jeder der denkbaren Ursachen für
das Ereignis ergeben, mit der vorgängigen W ahrschein-
lichkeit der betreffenden Ursache selbst ist."
Natürlich muß man mit der Anwendung dieser Formel,
wenn unendlich kleine Wahrscheinlichkeiten in Rechnung
kommen, vorsichtig sein, damit einige, in wirklich ent-
sprechender Weise einander gegenübergestellt, sich neu-
tralisieren und das definitive Resultat eines bestimmten
endlichen oder auch unendlichen Übergewichtes einer
Hypothese über alle anderen verlässig sei. Bei richtigem
Verfahren bleibt aber dann an der betreffenden größeren
Wahrscheinlichkeit oder auch physischen Sicherheit kein
Zweifel. LAPLACE sagt in einem seiner Essays, in dem
Kapitel „Anwendung der Probabilitätsrechnung auf die
Naturwissenschaft", daß jedes Naturgesetz, selbst das
einfachste, immer von vornherein unendlich unwahr-
scheinlich ist in Anbetracht der unendlichen Menge
anderer, die in der Natur bestehen können. Trotzdem
werden viele exakt erwiesen. Und so ist denn das Argu-
ment unserer Gegner, was das allgemeine logische Prinzip
anlangt, keineswegs solid gegründet.
um. 2. Indes haben sie allerdings versucht, die vor-
gängige Wahrscheinlichkeit der Gotteshypothese in einem
unendlich unwahrscheinlich? 185

ganz besonders ungünstigen Lichte erscheinen zu lassen.


Unendlich vervielfacht sollen die unendlichen Unwahr-
scheinlichkeiten hier sich häufen. Das würde, wenn es
wahr wäre, immerhin Bedenken zurücklassen. Wir
werden aber auch dies nicht zugeben, ohne die vor-
gebrachten Gründe genau geprüft zu haben.
Drei Gründe wurden für die unendliche Unwahrschein-
lichkeit der Gotteshypothese geltend gemacht:
a) Als erster, daß von einem Wesen, wie es diese Hypo-
these annimmt, kein Beispiel in unserer Erfahrung sich
finde.
Das ist allerdings ein Umstand, der eine Hypothese
sehr unwahrscheinlich machen kann, doch hat er immer
nur nach dem Maße Bedeutung, als es wahrscheinlich
ist, daß uns ein solches Wesen, falls es existierte, in irgend-
welchen Beispielen begegnet sein würde. (Gibt es rot-
häutige Menschen? Wenn einem, der nie aus seinem
Dorfe herausgekommen ist, keiner begegnet ist, verschlägt
dies wenig; anders, wenn auch ein Weltreisender nirgend-
wo einen angetroffen hätte.) Wenn ein Blinder gegen die
Farben spricht, ist dies von keinem Gewicht, da er ja
keine erfahren haben kann. So aber ist es hier. Wenn
es einen Gott gibt - wahrnehmbar ist er jedenfalls nicht,
weder sinnlich, noch in der inneren Erfahrung, die jedem
von uns ja nur sein eigenes Selbst zeigen kann.
b) Als zweiter Grund wurde der unendliche Abstand,
den ein solches Wesen von allem haben würde, was uns
die Erfahrung zeigt, geltend gemacht.
Auch das ist kein stichhaltiger Grund; denn warum
sollte kein Wesen existieren, dessen Abstand von unserer
Erfahrung sehr bedeutend ist 1 Es wurde allerdings
gesagt, je allgemeiner ein Gesetz sei, um so weniger glaub-
lich erscheine nach dem, was die Logik lehrt, eine Aus-
nahme. Das ist richtig, berührt uns aber hier nicht. Es
ist nämlich das Gesetz so zu verstehen, daß von einem
Dinge, welches zu einer Art gehört, die bisher ausnahms-
los eine gewisse Eigentümlichkeit zeigte, schwieriger zu
186 Ob die Gotteshypothese

glauben ist, daß es ihrer entbehre, wenn nicht bloß die Art,
sondern auch die Gattung oder gar eine noch höhere Klasse
ausnahmslos diese Eigenheit gezeigt hat. (Es ist sozusagen
leichter, aus der Art, als aus der Gattung zu schlagen.)
Hiermit stimmt das Beispiel von der weißen, gelehrten
oder gar durchdringlichen Krähe. Es zeigt aber auch,
daß das Gesetz auf unseren Fall gar nicht anwendbar ist.
Nach manchen schon darum nicht, weil Gott unter
keinen unserer Begriffe falle. So gehöre er zu keiner Art,
bilde also auch von keiner eine Ausnahme.
Wir haben diesen Standpunkt der sog. negativen Theo-
logie oben abgelehnt (S. 55); doch ist zuzugeben, daß
Gott in seiner Eigentümlichkeit für sich besteht, ist er
doch einzig und allein unmittelbar notwendig. So mag
man ihn eine „Ausnahme" nennen von allem, was denkt
und ist.
Aber er ist keine Ausnahme, wie sie der Einwand ver-
langt, d. h. im Sinne einer vereinzelnten Differenz neben
zahllosen übereinstimmenden Merkmalen eo"').
Hiermit scheint der Einwand widerlegt, doch bleibt
noch eine
Instanz: Allen Forschern gelten solche Hypothesen für
plausibler, welche bekannten Tatsachen und Gesetzen ana-
log sind, weshalb man denn auch Hypothesen nie völlig er-
dichtet, sondern immer an Bekanntes anzulehnen pflegt.
Antwort: Allerdings ist dies richtig, und der Grund
dafür liegt darin, daß, soweit die Erfahrung reicht, nichts
sich bietet, was nicht mit anderen Erfahrungsgegenstän-
den irgendwie analog wäre. Hieraus wird wahrschein-
lich, daß dasselbe auch für anderes, das der Erfahrung
zugänglich ist, gelten wird. Nicht aber gilt dasselbe außer-
halb dieser Grenzen. MILL selbst, der diesen logischen
Grundsatz vertrat, glaubt zugestehen zu müssen, wir
könnten nicht leugnen, daß für Körper anderer Stern-
regionen vielleicht manche der hier allgemeinsten Gesetze
keine Geltung haben. Ja er geht so weit, dies sogar be-
züglich des allgemeinen Kausalgesetzes für möglich zu
unendlich kompliziert ? 187
halten, das er - wie wir sahen, mit Unrecht - für bloß
empirisch hielt. Um wieviel weniger gilt jenes Prinzip,
wenn es sich um die Gotteshypothese handelt.
154. c) Als dritter Grund wurde die unendliche Korn -
plikation der Gotteshypothese geltend gemacht.
Wer ein allreales, unendlich vollkommenes Wesen
annehme, häufe unendlich viele Vollkommenheiten, jede
ins Unendliche gesteigert, in diesem einen Wesen zu-
sammen. So bestehe seine Annahme eigentlich aus
unendlich vielen und die Hypothese erscheine unendlich
kompliziert. Je weniger einfach aber eine Hypothese ist,
um so weniger wahrscheinlich ist sie, ein Gesetz, das die
Logik genauer dahin bestimmt, daß die zusammengesetzte
Wahrscheinlichkeit gleich dem Produkte der einfachen
sei, also in unserem Falle unendlich gering.
Antwort: Dieses Gesetz ist richtig. Aber ist es auf
unseren Fall anwendbar~
a. Schon das ist von uns früher abgelehnt worden,
daß der Gottesbegriff mit dem eines allrealen Wesens
sich decke. Wenn wir darin wirklich alle denkbaren
realen Bestimmtheiten vereint denken wollten, müßten
wir vereint denken, was widerstreitet. An diese Korrek-
tur könnte die Antwort anknüpfen und darauf hin-
weisen, daß der eigentliche Gottesbegriff, weit entfernt
von solcher unendlicher Verwickelung vielmehr als ein
einfacher zu denken wäre, somit die Gotteshypothese
selbst, da sie etwas schlechthin Einfaches annehme, nicht
als eine komplizierte gelten könne. Doch könnte einer
demgegenüber das Bedenken aussprechen, daß wir selbst
früher unsere Gottesvorstellung als eine in hohem Maße
unvollständige bezeichnet haben. Nun komme zu uns
unbekannten Bestimmungen die Behauptung der Ein-
fachheit, vielleicht als ein Widerspruch, zum mindesten
aber als etwas Neues hinzu, so daß man vielleicht auch
darin eine Komplikation erblicken könnte.
ß. Dagegen dürften wir der Lösung des Einwandes
näher kommen, wenn wir den Sinn des Gesetzes klar ins
188 Die Gotteshypothese enthält

Auge fassen, auf welches er sich stützt. Was versteht man


unter einer zusammengesetzten Hypothese? - Eine
Hypothese, welche eine Vielheit von Annahmen macht?
Wohl! aber damit ist nicht das Ganze gesagt. Nur dann
wird die Hypothese eine komplizierte zu nennen sein,
wenn sie eine Vielheit voneinander unabhängiger
Annahmen macht, d. h. solcher, von denen nicht die
eine aus der andern hervorgeht, in ihr nicht notwendig
enthalten ist. Wer ein Dreieck mit einer Winkelsumme
von 2 R annimmt, macht keine kompliziertere Annahme,
als wer einfach ein Dreieck annimmt. Dagegen mutet
ein Angeklagter, der sich herauslügt und, in die Enge
getrieben, seine Erfindungen durch neue Erfindungen zu
retten sucht, dem Richter komplizierte Hypothesen hin-
zunehmen zu. Dort ist die Teilannahme notwendig im
Ganzen mitgegeben, hier kommt sie als etwas Unab-
hängiges hinzu.
Worin soll nun bei der Gotteshypothese die unendliche
Komplikation bestehen? Nehmen wir einmal, um dem
Gegner entgegenzukommen, an, daß unendlich viele Voll-
kommenheiten in unendlicher Steigerung Gott zuge-
schrieben würden.
Aber in der unendlichen Vielheit wenigstens läge keine
Komplikation, da aus der Annahme, daß irgendeine end-
liche Vollkommenheit in unendlichem Übermaße in ihm
sich finde, sofort dasselbe für jede andere endliche Voll-
kommenheit folgte. Innerhalb einer endlich vollkom-
menen Gattung ist kein unendlich vollkommenes Indi-
viduum möglich. Eine unendliche Vollkommenheit, die
bloß Ideal der Ausdehnung oder des Denkens wäre, ist
unmöglich. Ebenso aber auch eine, die zwei Gattungen
angehörte mit Ausschluß der andern. Es treibt der Be-
griff des unendlich Vollkommenen zur Sprengung der
Schranken jeder Art nicht bloß, sondern jeder Gattung 81 ).
Es müßte also höchstens einer sagen, daß schon in der
unendlichen Steigerung einer Vollkommenheit die un-
endliche Komplikation liege. Aber auch darin hätte er
keine unendliche Komplikation 189
unrecht. Die Steigerung in sicl:. selbst ist weder hier
noch anderwärts eine Komplikation. Es ist nicht schwie-
riger, einen Körper mit der Schnelligkeit von einer Meile
als von einem Fuß in der Minute, von dem Gewicht von
vielen Zentnern als weniger Lote, von einem Durchmesser
von vielen t<tusend Meilen als eines Zolles anzunehmen.
Früher dachte man darüber wohl anders, was sich z.B.
darin verrät, daß ARISTOTELESdes EMPEDOKLESAnsicht,
daß auch das Licht sich zeitlich fortpflanze, aber so
schnell, daß es unmerklich sei, ablehnte, weil dies doch
ein µeya al'tr1µa wäre. Ja, wenn die Darwinianer uner-
meßliche Perioden annehmen, um Zeit für die ungeheuren
Leistungen des Kampfes ums Dasein zu bekommen, so
ist diese Annahme von vornherein gar nicht unwahr-
scheinlicher als eine bescheidenere Ziffer. Sonst würde
ja, je kleiner einer einen Körper sich denkt, seine An-
nahme desto wahrscheinlicher, während eher umgekehrt
eine Kleinheit, die unter ein gewisses Maß herabsinkt,
etwas Staunenerregendes für uns hat, wie z.B. die Klein-
heit mikroskopischer Lebewesen. Warum? - weil es
eben gegen unsere gewöhnliche Erfahrung geht. Diese
also machen wir hier zum Maßstabe, und wo er unan-
wendbar ist, macht Größe oder Kleinheit gar keinen
Unterschied. Ein Beispiel wird dies recht deutlich
machen. Wenn die Annahme einer körperlichen Außen-
welt auch als gesichert gelten kann, so sind wir doch
außerstande, die absolute Größe der einzelnen Dinge an-
zugeben. Sollte nun von den unendlich vielen beliebigen
Hypothesen, die man, freilich müßig genug, darüber auf-
stellen könnte, jede um so wahrscheinlicher sein, je kleiner
sie sich die Dimensionen dächte? Lächerlich! vielmehr
sind alle gleich wahrscheinlich, weil kein :Maßstab der
Erfahrung gegeben ist.
So ist denn klar, daß auch aus diesem Grunde und
überhaupt aus allen angeführten eine vorgängige unend-
liche Unwahrscheinlichkeit der Existenz Gottes nicht
gefolgert werden kann.
190 V orgängige W e.h.rscheinlichkeit

155. 3. Eines ist noch übrig zum vollständigen


Triumphe über den Gegner, nämlich der Nachweis, daß
die Existenz Gottes vorgängig nicht bloß nicht so über-
schwenglich unwahrscheinlich, sondern überhaupt nicht
unwahrscheinlich, vielmehr wahrscheinlicher als tausend
andere Hypothesen ist, deren vorgängige Unwahrschein-
lichkeit niemandem Bedenken erregt.
Diesen wollen wir jetzt versuchen. Ich glaube nämlich
zeigen zu können, daß die vorgängige Wahrscheinlichkeit
der Gotteshypothese ¼ ist, indem vorgängig ebensoviel
oder, wenn man lieber will, ebensowenig für als gegen
sie spricht.
Woher, fragen wir vor allem, sollten uns Gründe für
die eine oder andere Seite kommen? Aus der Erfahrung?
Dieser ist der Gegenstand entzogen und einzig in seiner
Art. Woher also sonst, wenn nicht etwa aus dem Begriff?
Und in der Tat gibt auch der Begriff oft Anhaltspunkte
und dient nicht bloß, die Möglichkeit oder Unmöglich-
keit, sondern auch die Wahrscheinlichkeit einer Hypothese
zu beurteilen. So gibt er z. B. Anhaltspunkte durch seine
Komplikation, oder, indem er zeigt, daß die Hypothese
eines unter vielen Gleichmöglichen annimmt.
Nun haben, wie wir wissen, einige in der Tat aus dem
Begriffe Gottes als des unendlich vollkommenen Wesens
seine Existenz und Notwendigkeit folgern wollen. Ver-
geblich! Aus dem dürftigen Begriffe, der uns von ihm
zu Gebote steht, leuchtet uns weder seine Existenz noch
seine Nichtexistenz, weder seine Möglichkeit noch Un-
möglichkeit ein. Nur zwei Punkte sind erkennbar, von
denen wir den einen schon bei der Besprechung des
ontologischen Arguments, den andern heute erörtert
haben:
a) Gott ist nicht kontingent, sondern entweder un-
möglich oder notwendig.
b) Wenn von einer Vielheit göttlicher Vollkommen-
heiten die Rede sein darf, so sind diese sicherlich von-
einander untrennbar. Entweder kommt in der Weise,
der Gotteshypothese gleich ein He.lb 191

wie wir sie ihm beilegen 82 ), keine etwas Wirklichem zu


oder alle, und entweder ist jede für sich unmöglich oder
sind alle zusammen notwendig.
Zufolge des ersten Punktes koinzidiert die Frage nach
der Existenz Gottes also mit der nach der Möglichkeit
Gottes (entweder ist er wirklich oder unmöglich).
Zufolge des zweiten Punktes koinzidiert die Frage nach
der Möglichkeit Gottes mit der nach der Möglichkeit
einer einzigen der Vollkommenheiten, die wir ihm bei-
legen. Die vorgängige Wahrscheinlichkeit der Existenz
Gottes ist also gleich <ler vorgängigen Wahrscheinlich-
keit eines seiner Attribute.
Spricht nun, von vornherein und abgesehen von aller
Erfahrung, mehr für oder mehr gegen die Möglichkeit?
Wir können auf diese Frage nur mit dem Bekenntnis
unserer vollen Unwissenheit antworten. Es spricht
a priori nichts dafür und nichts dagegen. Der aus-
reichenden Vorstellung von Gottes Wesen entbehrend,
sind wir des einzigen Jl,fittels beraubt, welches einem apri-
orischen Urteil über diese Frage irgendeinen Anhalt, dann
aber freilich zugleich - wenigstens für einen geeigneten
Verstand - ein unmittelbar evidentes Kriterium bieten
würde. Indem nun bei solchem Dunkel weder etwas
pro, noch etwas contra geltend zu machen ist, bleiben
sich die Chancen für und gegen die Möglichkeit gleich.
Die Wahrscheinlichkeit der Möglichkeit des einzelnen
Attributes wäre also a priori = ½- Somit sind auch
bezüglich der Frage der Existenz Gottes die Chancen
dafür und dagegen gleich, d. h. die vorgängige Wahr-
scheinlichkeit der Existenz Gottes ist = ½-
1\-fit andern \Vorten, wie aus der Erfahrung, so läßt
sich auch aus dem Begriffe Gottes nichts entnehmen,
was überwiegend zugunsten oder ungunsten der vor-
gängigen \Vahrscheinlichkeit der Gotteshypothese spräche.
So besteht hier wie anderwärts das \Vort von LAPLACE
zu Recht: Die vorgängige Wahrscheinlichkeit der Gottes-
hypothese beruht auf unserem Wissen und unserer Un-
1 92 Vorgängig unendlich unwahrscheinliche

wissenheit. Auf unserem Wissen: es sind hier nur zwei


Fälle denkbar: entweder ist Gott notwendig, oder er ist
unmöglich. Auf unserer Unwissenheit: es ist nichts zu
finden, was a priori für die eine oder die andere Seite
spräche.
156. Erwägen wir nun die Lage, in welche wir uns
nach unserer Untersuchung versetzt finden, so können
wir nicht sagen, daß das Ergebnis ein der Hypothese
besonders ungünstiges wäre. Im Gegenteil, wir haben in
dem Bruch 1/zeine größere vorgängige Wahrscheinlich-
keit für die Gotteshypothese als bei tausend und aber-
tausend andern Hypothesen, die man zur Erklärung
gewisser Phänomene aufstellt und zur vollen Sicherheit
erhebt. Ich könnte mich damit begnügen, auf das Wort
von LAPLACEzu verweisen, daß die Naturgesetze, die
wir hypothetisch annehmen, eine vorgängig unendlich
kleine Wahrscheinlichkeit haben, doch will ich dasselbe
noch mehr durch Beispiele verdeutlichen.
Es nähme jemand zur Erklärung einer Erscheinung an,
ein Körper habe mit einer gewissen Geschwindigkeit und
Gewalt von einer gewissen Seite an einen andern gestoßen.
Diese Annahme wäre der des Theisten gegenüber inso-
fern im Vorzuge, als ihre Möglichkeit nicht zu bezweifeln
ist. Aber der Vorzug wird weit überwogen durch den
Umstand, daß - bei einer endlichen Zahl bewegter Kör-
per an dem betreffenden Orte - eine unendliche Zahl
von Richtungen und Kraftmaßen möglich ist, so daß auf
unendlich viele mögliche Fälle nur ein wirklicher kommt.
Aus jedem der beiden Gründe folgt daher für die Hypo-
these eine vorgängige unendliche Unwahrscheinlichkeit
(gemildert etwa nur durch die Beiläufigkeit der Be-
stimmungen), und vereint erheben sie dieselbe zu einer
noch überschwenglich größeren unendlichen Unwahr-
scheinlichkeit höherer Ordnung, der gegenüber eine kon-
kurrierende Hypothese, welche nur an der einen, nicht
an der andern Unwahrscheinlichkeit partizipierte, vor-
gängig noch unendlich im Vorteil wäre. Trotzdem ist
und doch gesicherte Hypothesen 193
die Hypothese keine besonders abenteuerliche und kann
vielmehr unter Umständen zur vollständigen Gewißheit
gebracht werden.
Ein anderes Beispiel: Die Annahme, ein Planet stehe
an einem gewissen Punkte des Himmelsraumes, wie sie,
um nochmals eines berühmten Falles zu erwähnen,
LEVER:&IERgemacht hat, um die Störungen des Uranus
zu erklären. Mit Bestimmtheit behauptete er, daß jen-
seits noch ein Planet sich finden müsse, und gab für diesen
die Länge der Achse seiner Bahn, deren Exzentrizität,
die Länge des Perihels, die Umlaufszeit, die Masse, die
Zeit der Opposition u. a. in präzisen Zahlen an. Er for-
derte den Berliner Astronomen GALLEauf, sich am Him-
mel nach dem theoretisch gefundenen Gestirn umzu-
sehen. Noch am Abende des 23. Septembers 1846, wo der
Brief LEVERRIERs angelangt war, fand jener wirklich,
nahe an dem Orte, welchen der Franzose als die Stelle des
neuen Planeten bezeichnet hatte, einen Stern achter Größe,
den die Sternkarte nicht enthielt. Es zeigte sich, daß es
ein Planet von den Eigenschaften war, die LEVERRIERan•
genommen hatte: der Neptun mit seinem matten Lichte
glänzte ihm entgegen. Und doch, wie gering war die vor-
gängige Wahrscheinlichkeit für die Hypothese, für jedes
Element der Annahme, und erst für ihre Komplikation!
Wir sehen also, daß bei unserer Hypothese, selbst
wenn die vorgängige Wahrscheinlichkeit für Gottes
Existenz nicht gleich der für seine Nichtexistenz, son-
dern millionen- und billionenfach, ja unendlich geringer
wäre, dies kein Grund sein dürfte, sie von vornherein
zurückzuweisen oder auch nur als keines sicheren Be-
weises fähig zu betrachten, daß sie vielmehr vorgängig
noch ungleich günstiger gestellt bliebe als andere Hypo-
thesen, die wie sie eine Ursache zur Erklärung gewisser
Tatsachen annehmen und zur vollständigen Sicherheit
gebracht werden.
167. Fassen wir das Gesagte zusammen. Ein Drei-
faches, glaube ich, ist zur Genüge dargetan:
194 Irrationelle Wahrscheinlichkeitstheorien

1. Daß sich das Argument auf einer falschen allge-


meinen Voraussetzung aufbaut, wenn es annimmt, daß
eine vorgängig sehr unwahrscheinliche und aus viel-
fachen unendlich unwahrscheinlichen Annahmen zu-
sammengesetzte Hypothese niemals zur physischen Sicher-
heit gebracht werden könne.
2. Daß die Gründe, um derentwillen es für die Gottes-
hypothese eine außerordentlich große, ja unendliche und
abermals unendliche vorgängige Unwahrscheinlichkeit
statuiert, samt und sonders nichtig sind und auf dem
übersehen sehr wesentlicher Momente beruhen.
3. Endlich, daß die vorgängige Wahrscheinlichkeit der
Gotteshypothese nicht größer, aber auch nicht kleiner als
die ihres kontradiktorischen Gegenteils, d. h. ½ ist.
Auch ohne dieses letzte Resultat, zu welchem wir nur
durch eine feinere Analyse und durch Folgerungen aus
früheren Ergebnissen gelangen konnten, ist schon genug
gesagt, um den Angriff als vollständig unberechtigt er-
scheinen zu lassen. Ein vergleichender Blick auf die vor-
gängige Wahrscheinlichkeit von Hypothesen, wie wir sie
sehr gewöhnlich im Leben und in der Wissenschaft
machen und zu physischer Sicherheit bringen, schlägt
die erhobenen Bedenken vollständig nieder.
Es ist in letzter Zeit von zwei Freiburger Professoren,
dem Nationalökonomen LEXIS und dem Physiologen
KRIES, die Behauptung ausgesprochen worden, daß die
objektive Wahrscheinlichkeit nicht immer einen mathe-
matischen Bruch zum Ausdrucke habe, nicht darum -
was niemand leugnen würde -, weil wir diesen Bruch
nicht immer herauszurechnen vermögen, sondern darum,
weil überhaupt zwischen der Wahrscheinlichkeit des Pro
und Contra öfter kein Größenverhältnis bestehe. Sie be-
haupten dies namentlich für Fälle, wo unsere Daten sehr
mangelhaft sind; man komme da zu widersprechenden
Bestimmungen. Da unser Fall ein Fall von sehr mangel-
haften Daten ist, so würden sie ihn wohl auch hierher
rechnen.
Zustimmung des gesunden Menschenverstandes 195

Ich gestehe, daß ich diese Theorie für schlechterdings


irrationell halte, obwohl ich begreife, was zu dem Irrtum
verführen konnte. Ich will aber hier nicht die Gründe,
warum ich der alten Ansicht der großen Mathematiker un-
erschüttert anhange, auseinandersetzen. Es mag die Frage
in anderer Beziehung von Belang sein; für unsern Fall
ändert die Annahme der Modernen nichts Wesentliches.
Auch nach ihr entfällt ja jede Möglichkeit, auf Grund einer
zu geringen vorgängigen Wahrscheinlichkeit die Gottes-
hypothese von vornherein als unhaltbar zu verwerfen und
als anderen gegenüber im Nachteile zu kennzeichnen.
] 58. Mit unserem Ergebnis stimmt endlich auch recht
wohl die Leichtigkeit, mit welcher die Hypothese auch
von den gewöhnlichen Leuten angenommen wird, ja
diese würde, abgesehen von unseren schärferen Wider-
legungen, für sich allein ein Argument gegen die Rich-
tigkeit der Einwände bilden. Der sog. gesunde Menschen-
verstand, obwohl unfähig, das genaue Maß der Wahr-
scheinlichkeit zu bestimmen, führt doch im großen und
ganzen zu einer richtigen Abschätzung, und LAPLACEhat
nicht ohne Grund den W ahrscheinlichkeitscalcule die
wissenschaftliche Rechtfertigung des gesunden Menschen-
verstandes genannt.
Instinktiv sträubt er sich gegen vorgängig ungewöhn-
lich unwahrscheinliche Hypothesen, namentlich auch
gegen sehr komplizierte. \Vie andern logischen Gesetzen,
so kommt er unbewußt auch dem Gesetze nach, daß man
am besten die einfachste Hypothese wählt. Daher ist er
auch in manchen Fällen, z. B. bei der Zumutung, den
Text der Ilias durch blinde Kombination der Buch-
staben zustande gekommen zu denken, gegen die Zufalls-
hypothese schlechterdings eingenommen. Nicht aber
gegen die Gotteshypothese. Und doch, wie sollte man
das nicht erwarten, wenn sie wirklich so kompliziert wäre,
wie die Gegner sie hinstellen?
Ebenso finden wir, daß sich der gesunde Menschen-
verstand zwar gegen die Annahme einer weißen oder
196 Unendliche Kraft

einer gelehrten oder einer durchdringlichen Krähe sträubt,


nicht aber gegen die Gotteshypothese, obwohl sie so
Außerordentliches annimmt. Wieso der Unterschied,
wenn hierfür in gleicher Weise das Prinzip Bedeutung
hätte, daß, je allgemeiner ein Gesetz ist, um so unglaub-
licher eine Ausnahme davon 1
159. V. Wenn wir das Dasein Gottes erweisen könn-
ten, so aus seinen Wirkungen. Diese Voraussetzung liegt
allen vorhergehenden Betrachtungen zugrunde. Aber
auch dies ist unmöglich und darum überhaupt jede
Möglichkeit eines Beweises ausgeschlossen. Und warum
können wir Gottes Dasein nicht aus seinen Wirkungen
erweisen1 Weil sie in keiner Proportion zur Ursache
stehen. Sie sind endlich, Gott unendlich. Wie soll
man die unendliche Ursache aus der endlichen Wir-
kung erkennen 1 Ein Vergleich mag den Gedanken noch
deutlicher machen. Man denke sich ein Bild, das ein
Raphael, aber eilfertig mit wenigen Pinselstrichen hin-
geworfen hat. Die ganze Kunst des Meisters ist nicht
daraus zu erkennen. Um so weniger wird die Größe
Gottes aus einem endlichen Werke zu erkennen sein.
Es kann uns also den unendlichen Urheber nicht offen-
baren.
Antwort: Dieses Argument lag schon alten Zeiten
vor. Unter andern nahm THOMASVON AQUIN darauf
Rücksicht und bemerkte, daß damit wohl etwas gesagt
sei, aber nicht soviel, als man glaube. Aus Wirkungen,
die außer Proportion stehen, könne man zwar allerdings
unmöglich eine vollkommene Erkenntnis der Ursache ge-
winnen, aber eine unvollkommene, und jedenfalls die
Erkenntnis ihrer Existenz.
So würde man aus jenen leicht hingeworfenen Strichen
wohl erkennen, daß sie von einem begabten Maler, wenn
auch nicht, daß sie von RAPHAEL stammen. Daß wir
aber eine vollkommene Erkenntnis des göttlichen Wir-
kens zu gewinnen fähig seien, das sei mehr, als irgendein
vernünftiger Theist behaupte.
aus endlichen Wirkungen feststellbar 197

160. Instanz: Der bekennt noch keinen Gott, der zwar


einen ersten Grund der Welt anerkennt, aber nicht ein
unendlich vollkommenes Wesen, denn d a s erst bedeutet
„Gott". Daß aber ein unendlich vollkommenes Wesen
existiert, könnten wir nur dann aus seinen Wirkungen
beweisen, wenn sie selbst unendlich wären. Aber kein
einziges der Werke Gottes ist, und auch alle zusammen
sind sie nicht unendlich. Also können wir Gott nicht als
Ursache der Welt erschließen.
Antwort: Die Kraft des Wirkenden ist nicht bloß
nach der Größe des Werkes, sondern auch nach der
Weise des Wirkens zu bemessen. Wie z.B. die Größe.
der Wärme, welche auf einen Körper wirkt, nicht bloß
nach der Größe der ihm mitgeteilten Wärme, sondern auch
nach der Schnelligkeit der Mitteilung. Würde in unend-
lich kleiner Zeit eine gewisse endliche Wärme mitgeteilt,
so müßte die Wärme des erwärmenden Körpers unend-
lich sein. Dasselbe gilt auch für das Werk Gottes, und
so läßt sich denn in der Tat, wie wir sehen werden, trotz
der Endlichkeit des Werkes nachweisen, daß die Kraft
Gottes unendlich ist. Es handelt sich hier ja um Schöp-
fung und um Erhaltung, welche eine Manifestation der-
selben Kraft, wie man sich ausgedrückt hat, eine fort-
gesetzte Schöpfung ist. Diese Art des Wirkens unter-
scheidet sich gar sehr von allen andern. Wenn ein
Chemiker aus Sauerstoff und Wasserstoff Wasser hervor-
bringt und wenn der Schöpfer diese Elemente schafft,
so ist das ein grundverschiedenes Wirken. Das schöpfe-
rische erfordert . eine unendliche Kraft, und wenn eine
solche wirklich besteht, so muß auch die Realität, die
von ihr ausgeht, unendlich überlegen sein.
161. Instanz: Aus der Weise des Wirkens sollen wir
Gott erkennen? Ja, wurde denn nicht früher schon zuge-
geben, daß wir in die Weise des Wirkens überhaupt niemals,
weder hier noch sonstwo, einen Einblick bekommen?
Antwort: Allerdings, aber in einem Sinne, der un-
serer gegenwärtigen Behauptung nicht widerspricht. Der
198 Unendliche Überlegenheit

Schöpfungsakt bleibt freilich unbegreiflich, wie ja sogar


die Anziehung, die ein Körper auf den andern übt; aber
dies hindert nicht, daß wir außer dem Werk, das es hervor-
bringt, einiges Besondere bestimmen können, was dieses
Wirken von anderem unterscheidet, wie z.B., daß hier
etwas aus nichts gewirkt wird, daß momentan eine Wir-
kung von endlicher Größe erzielt wird und dergleichen.
Das Dunkel, welches darauf ruhen bleibt, hindert nicht,
die unendliche Überlegenheit der schöpferischen Kraft
zu erkennen; ja es dient, wenn wir einsehen, daß es für
den Schöpfer selbst nicht bestehen kann, als ein neuer
Anhaltspunkt für die Erkenntnis seines unendlichen
Abstandes.
In der Tat ist das, was von der Welt in unsere Er-
fahrung fällt, obwohl es kein unendliches Werk uns zeigt,
doch von der Art, daß wir sagen müssen: wir sind unend-
lich weit davon entfernt, es mit Vollkommenheit zu er-
kennen, denn dazu würde eine unendliche Erkenntnis
erforderlich sein.
In einer berühmten Stelle seines „Philosophischen
Versuches über die Wahrscheinlichkeiten" weist LA-
PLACEdarauf hin, wie alles in der \Velt von notwendigen
Gesetzen beherrscht werde. ,,\Vii: müssen also, folgert er,
den gegenwärtigen Zustand des Weltalls als die Wirkung
seines früheren Zustandes und andererseits als die Ur-
sache dessen, der folgen wird, betrachten. Eine Intelli-
genz, welche für einen gegebenen Augenblick alle Kräfte,
von denen die Natur belebt ist, sowie die gegenseitige Lage
der Elemente, die sie zusammensetzen, kennen würde,
und überdies mächtig genug wäre, um diese gegebenen
Größen der Analyse zu unterwerfen, würde in derselben
Formel die Bewegung der größten Weltkörper wie die
des leichtesten Atoms ausdrücken. Nichts würde für sie
ungewiß sein und Zukunft und Vergangenheit ihr offen
vor Augen liegen. Und, fügt er bei, der menschliche Geist
bietet in der Vollendung, die er der Astronomie zu geben
wußte, ein schwaches Bild dieser Intelligenz. Seine Ent-
der göttlichen Erkenntnis 199
deckungen auf dem Gebiete der Mechanik und Geometrie,
verbunden mit der Entdeckung der allgemeinen Schwere,
haben es ihm möglich gemacht, durch dieselben ana-
lytischen Ausdrücke die vergangenen wie die zukünftigen
Zustände zu umfassen. Durch Anwendung derselben
Methode auf einige andere Gegenstände ist er dazu ge-
langt, die beobachteten Phänomene auf allgemeine Ge-
setze zurückzuführen und diejenigen vorauszusehen, die
gegebene Umstände herbeiführen müssen. Alle diese
Bemühungen beim Aufsuchen der Wahrheit zielen dahin
ab, ihn unablässig der eben angenommenen Intelligenz
näher zu bringen, der er aber - merken Sie auf dieses
für uns entscheidende Bekenntnis - immer unend-
lich fern bleiben wird." Und daß dies nicht eine
rhetorische Hyperbel ist, daran wird niemand zweifeln,
wenn er bedenkt, daß wir in alle Ewigkeit nicht einmal
das genaue Verhältnis der Peripherie zum Radius des
Kreises zu bestimmen imstande sein werden. Mit allen
Annäherungen bleiben wir der absoluten Genauigkeit der
Bestimmungen immer unendlich fern. Und Ähnliches
wiederholt sich überall. Die kleinen Fehler aber werden
sich, wo es sich um eine Kette ins Unendliche fortlaufen-
der Konsequenzen handelt, in solcher Weise kompli-
zieren und kombinieren, daß schon für eine endlich ent-
fernte Zukunft, wie es ja auch jeder beliebige, noch so
fern gedachte Zeitpunkt ist, alles ins Unbestimmte für
uns zerfließen müßte.
Solches muß für jede Intelligenz gelten, welche nicht
im allereigentlichsten Sinne der unseren unendlich über-
legen ist. Für die schöpferische Intelligenz dagegen,
werden wir sehen - und der Nach weis ist nicht einmal
schwer zu führen - kann es nicht gelten. Sie muß also
unendlich vollkommen sein. Und dies tritt noch kräf-
tiger hervor, wenn man bedenkt, daß es sich nicht um
eine endlich entfernte Zukunft, wie auch immer sie nach
Äonen zählen mag, sondern um die Voraussicht einer
geradezu unendlichen Entwicklung handelt, so daß ihre
200 Unendliche Überlegenheit

Erkenntnis in Wahrheit schlechterdings auch dem Um-


fange des Gegenstandes nach jedes Verhältnis zu einer
endlichen verliert, wenn auch nirgends in der Ent-
wicklung ein Stadium unendlicher Realität und Voll-
kommenheit erscheint. Denn, wie schon ANAXAGORAS
von seinem Nus in erhabenen Worten sagt: ,,Das, was
war, und das, was ist, und das, was sein wird, alles er-
kannte der Verstand, alles ordnete er von Anbeginn."
Sollte da einer noch zweifeln, daß es sich um die An-
nahme eines wirklich unendlich überlegenen, unendlich
vollkommenen Wesens handelt? Wir können aber auch
hier noch hinzufügen, daß nicht bloß die unendliche Über-
fülle des Erkannten und die unendlich größere Genauig-
keit der Erkenntnis, sondern ebenso auch die Weise, in
welcher sie dem schöpferischen Wesen eignen muß, diese
unendliche Vollkommenheit darstellt. Wir erkennen das
wenige, was wir erkennen, leidend, allmählich es in Rech-
nungen und Demonstrationen entwickelnd, und erkennen
bald dies, bald jenes: dort aber bei dem urersten, schöpfe-
rischen Denken, welches in seiner Ewigkeit und Unermeß-
lichkeit alles, was es jemals erkennt, immer vollendet und
natürlich seiner jeweiligen zeitlichen Position entspre-
chend erkennt, ist das Gegenteil von all jenen Mängeln
und Unvollkommenheiten verwirklicht. Das alles werden
künftige Betrachtungen aufs deutlichste erkennen lassen.
Wenn der Schöpfer der Welt erweisbar sein sollte, so
ist also an seiner unendlichen Überlegenheit nicht zu
zweifeln.
162. Instanz: Es könnte einer, der diese unendliche
Überlegenheit des Schöpfers uns gegenüber zuzugeben
keinen Anstand nimmt, vielleicht doch noch den Zweifel
hegen, ob denn damit auch schon dessen absolute un-
endliche Vollkommenheit dargetan wäre.
Antwort: Dieser Zweifel e!"schiene ganz unberech-
tigt. Vor allem habe ich schon hervorgehoben, daß die
unendliche Vollkommenheit in einer endlichen Gattung
nicht möglich ist. Es gibt keine relativ unendliche Voll-
der göttlichen Erkenntnis 201
kommenheit, welche nicht die absolute Vollkommenheit
wäre. Der Irrtum ähnelt dem gewisser Mathematiker,
die, weil von unendlich kleinen Größen verschiedener
Ordnung gesprochen werden kann, dies so deuten, als
gebe es absolut unendlich große Mengen, von denen die
eine noch größer, ja unendlich größer als die andere ist.
Die ganze Linie, meinen sie, habe doppelt soviel Punkte
als die halbe, obwohl auch diese schon unendlich viele
Punkte enthalte. Und eine Fläche habe unendlichmal
mehr als eine Linie. Aber das Gegenteil ist richtig, und
man kann nachweisen, daß die eine und andere paarweise
einander zugeordnet werden können. Ebenso bei einer
Fläche und Linie, selbst wenn die Linie in dieser Fläche
liegt. So schlägt denn das Argument aus dem Vergleich
mit der unendlichen Vielheit ins Gegenteil um und be-
stätigt, was ich sagteB3 ).
Zum Überfluß werden wir aber noch Sorge tragen, den
Nachweis, daß der Schöpfer uns und allem Endlichen un-
endlich überlegen gedacht werden müsse, auch noch durch
Überlegungen zu ergänzen, die dartun, daß nicht nur
alles, was ist, seiner Kraft entspringt, sondern auch
nichts möglich ist, außer insofern es durch seine Kraft
möglich wird, so daß sich also der Umfang seiner Macht
bereits mit dem Umfang des absolut Möglichen deckt.
Es ist also auch aus diesem Grunde nicht bloß unendlich
vollkommener als wir, sondern zugleich absolut voll-
kommen zu nennen.
Mit dem Gesagten allerdings haben wir den Nachweis
noch nicht erbracht. Wir haben nur den Weg skizziert,
den künftige Untersuchungen nehmen werden, und hier
nur zeigen wollen, wie unbegründet auch dieser Ein-
wand ist, welcher uns von vornherein von unserem Unter-
nehmen abschrecken will. Es klingt recht scheinbar:
,,Aus dem endlichen Werke kann kein unendlicher Werk-
meister erkannt werden" - aber eine einigermaßen sorg-
fältige Erwägung läßt erkennen, wie vorschnell dieser
Schluß, wie wenig gesichert seine Basis ist.
202 Angebliches Mißlingen

163. VI. Und nun nach so vielen Einwänden noch


einen letzten. Er ist der, welcher der gewöhnlichste von
allen ist, und der, dessen Lösung uns mehr als die aller
anderen zu schaffen machen wird, obwohl er der Form
nach am wenigsten zwingend erscheint.
Wie löst sich dieses Paradoxon? Der Einwand stützt
sich auf das tatsächliche Fehlschlagen aller bisher unter-
nommenen Versuche. Eine beliebte Argumentation, von
der sich gar viele bestimmen lassen. Manche gehen dabei
sehr oberflächlich zu Werke, indem sie sich dieser angeb-
lichen Tatsache gar nicht durch eine direkte Prüfung der
bisher unternommenen Versuche im einzelnen versichern,
sondern die Uneinigkeit der Philosophen als genügende
Basis dafür betrachten. Wäre irgendein Beweis stringent,
so würde, meinen sie, jeder Widerspruch verstummen.
Andere sehen sich die Beweise, wie sie von diesem und
jenem aufgebaut wurden, wohl an, finden sich dann aber
von keinem befriedigt, und in Erwägung, daß nach mehr-
tausendjährigen V ersuchen keine besseren Erfolge er-
zielt wurden, halten sie auch jeden künftigen für aus-
sichtslos, da er ja doch im wesentlichen zu den gleichen
Mitteln greifen müßte.
Solche Argumentationen entsprechen recht wohl der
Weise, wie gar viele heutzutage über die ganze Philo-
sophie absprechen. In der Tat besteht ja nicht allein in
diesem Punkte Uneinigkeit und Zerfahrenheit der philo-
sophischen Ansichten im Gegensatz zu der Einigkeit auf
den andern Wissensgebieten, und sehr Unvollkommenes
ist oft in berühmten Büchern zu lesen.
Aber auch die andern Disziplinen boten in früheren
Zeiten einen solchen Anblick, und von ihnen einige länger
als andere. Die Mathematik war lange schon in einem
gewissen exakten Gang, als in der Physik, Chemie, Physio-
logie noch alles ganz ungeheuerlich untereinander ge-
worfen wurde. Dennoch sind sie später von der Ver-
wirrung erlöst worden. Wäre es nicht denkbar, daß be-
sondere Gründe dahin wirkten, daß die Philosophie sich
aller Beweisversuche 203
noch länger in solchem Zustande erhielt, und daß doch
auch für sie einmal die Stunde der Erlösung schlagen
werde ? Gewiß ! und sie bestehen wirklich und lassen sich
aufs klarste nachweisen. So ist denn dieses Verzweifeln
an der Zukunft der Philosophie ganz unberechtigt 84 ).
164. Soviel über die Oberflächlichkeit eines sochen
philosophischen Räsonnements im allgemeinen. Was
aber unseren besonderen Fall anlangt, so sprechen noch
andere Gründe gegen ein solches Verfahren. In der Aner-
kennung der Bündigkeit der Gottesbeweise waren die
längste Zeit hindurch schier alle hervorragenden Denker
miteinander einig. ARISTOTELESwie PLATO, LOCKE und
NEWTON wie DESCARTESund LEIBNIZ stimmten dafür.
Erst im Zusammenhange mit einem allgemeinen Verfall
der Philosophie ist der Zweifel aufgetaucht und mächtig
geworden.
Wir haben HuMES und KANTS Bedenken kennenge-
lernt und den Skeptizismus und Kritizismus, woraus sie
erwachsen waren, gerichtet. Wenn aber einer sich unab-
hängig von diesen allgemeinen Theorien von den Beweisen,
wie sie gewöhnlich dargestellt werden, nicht befriedigt
fühlt, so wird man, bei genauerem Zusehen, finden, daß
seine Zweifel mit gewissen Objektionen zusammen-
hängen, die erst in neuerer Zeit erhoben worden sind. Ich
denke hier insbesondere an solche gegen den Beweis des
Primus Motor auf Grund des Gesetzes der Erhaltung der
Energie, oder gegen den teleologischen auf Grund des
Darwinismus. Aber wenn diesen Objektionen bisher nicht
genügend begegnet worden sein sollte, folgt daraus, daß
sie schlechthin unwiderleglich sind 1 Sie sind ja erst neuen
Datums, die bisher gegebenen Antworten also die ersten
Widerlegungsversuche. Warum sollten diese sofort in
jeder Beziehung gelungen sein? Manchmal schon hat
sich ein Einwand schließlich als ganz unberechtigt heraus-
gestellt, und doch hatte es des Aufwands allen Scharf-
sinns und der größten Achtsamkeit bedurft, ihn zu lösen.
Man denke an die berühmten Objektionen der ELEATEN
204 Neue Objektionen

gegen die Möglichkeit der Bewegung, die noch HERBART


für schlechthin unlösbar erklärt hatte, obwohl sie nichts
als Paralogismen sind. Wer bürgt dafür, daß es sich
nicht auch mit den neu aufgetauchten Objektionen gegen
die alten Gottesbeweise ganz ähnlich verhalte? Was be-
rechtigt uns daraus, daß mancher nicht untüchtige und
ungelehrte Mann daran gescheitert ist, zu schließen, daß
diese Einwände wirklich unwiderleglich und vernichtend
sind 1 Vielleicht sind vielmehr auch sie nur trügerische
Paralogismen, so daß das Dasein Gottes nicht bloß be-
weisbar, sondern sogar wesentlich durch die alten Argu-
mente erwiesen bleibt? Nicht freilich durch alle, denn
die ontologisch a priorischen Begründungen werden wir
nicht zu erneuern uns versucht fühlen, wohl aber durch
einige und gerade solche, die auch schon der antiken Zeit
nicht fremd waren.
165. Auch ohne das, was ich hier ausführte, leuchtet
es wohl jedem, der dieses letzte Argument ins Auge faßt,
von selbst ein, daß es, wie gesagt, in der Form nicht
stringent ist. Nichtsdestoweniger wird es, wie ich sagte,
uns in gewisser Weise mehr als alle anderen zu schaffen
machen. Denn um es vollständig zu entwurzeln, müssen
wir das ungünstige Urteil über die uns zu Gebote stehen-
den Gottesbeweise durch ihre tatsächliche Durchführung
und Verteidigung gegen jeden alten oder neuen Angriff
in sein Gegenteil verkehren.
Dieser Aufgabe sollen alle noch übrigen Betrachtungen
gewidmet sein.
ZWEITER TEIL

DIE BEWEISE
FÜR DAS DASEIN GOTTES
Übersicht über die geschichtlich vorA"
Hegenden Beweisversuche
166. Versuche, das Dasein Gottes zu beweisen, sind
wohl vielfach gemacht worden; ich habe schon in den
bisherigen Vorlesungen deutlich zu erkennen gegeben,
daß ich sie nicht alle für erfolglos halte. Doch manche
sind darunter, die als gänzlich wertlos betrachtet werden
müssen.
Da wir die Ansicht widerlegten, daß das Dasein Gottes
von vornherein evident sei, kamen wir auch auf das
ontologische Argument zu sprechen, womit manche es
a priori demonstrieren wollten, das aber, wie wir erkann-
ten, auf nichts als Paralogismen hinausläuft.
Auch noch andere vorgebliche Beweisversuche erweisen
sich als ungenügend oder auch als vollständig verfehlt.
So der, welchen DESCARTESversucht hat, indem er sich
auf die Tatsache stützte, daß wir im Besitze der Idee
eines unendlich vollkommenen Wesens seien. Diese
Idee müsse eine Ursache haben, und zwar eine Ursache,
deren Kraft zu einer solchen Wirkung ausreiche. Da nun
jede endliche Ursache, seien es nun äußere Dinge oder
wir selbst, nicht als hinreichende Ursache angesehen
werden könne - würde dann ja die Wirkung vollkom-
mener sein als ihre Ursache-, so müßte man schließen,
daß die Ursache dieser Idee ein unendliches Wesen sei.
Gott selbst müsse sie hervorgebracht haben, indem er,
der Schöpfer der Seele, ähnlich wie es auch menschliche
Künstler zu tun pflegen, dem Werke sein Zeichen einge-
schrieben habe.
Dieser Beweis, sage ich, ist vollständig verfehlt. Schon
seine Wurzel ist ein Irrtum. Denn die angebliche Tat-
208 Vier gültige Beweise

sache, auf die er sich beruft, besteht nicht. Eine Idee


von Gott, wie sie hier vorausgesetzt wird, besitzen wir
gar nicht. Es müßte eine adäquate Vorstellung seines
Wesens sein. Im Vergleich zu einer solchen hat der aus
unserem empirischen Material entnommene Begriff nur
den Charakter eines ärmlichen Surrogates, aus dem sich
über seine Möglichkeit oder Wirklichkeit nichts ent-
nehmen läßt.
Ähnlich wird vielleicht noch mehr als einer von den
andern Beweisversuchen vor der Kritik nicht bestehen
können, und es mag ein Interesse haben, dies nachzu-
weisen. Wie aber wollen uns nicht hier mit ihnen auf-
halten, sondern uns sogleich zu jenen wenden, die mir
selbst wenigstens entweder sicher und unerschütterlich
oder als eine schätzbare Verifikation erscheinen. Von den
scheinbaren Argumenten der Gegner durfte ich keines
vernachlässigen, von den unvollkommenen Argumenten
dafür brauche ich aber wohl nicht alle zu beachten und
ihre Mängel aufzudecken, denn wenn wir sogar mit Un-
recht geringschätzig von einem dächten, so würden da-
durch die Beweise, die wir führen, nichts von ihrer Kraft
einbüßen.
167. Wir wenden uns also sogleich zu den Beweisen,
die wir für gültig und treffend halten. Es sind folgende
vier:
1. Der teleologische Beweis aus der vernünftigen Ord-
nung in der Natur.
2. Der Beweis aus der Bewegung.
3. Der Beweis aus der Kontingenz.
4. Der psychologische Beweis aus der Natur der
menschlichen Seele.
In diesen vier Beweisen ist, wie mir scheint, alles ent-
halten, was Haltbares für das Dasein Gottes gesagt wor-
den ist, und jeder von ihnen dürfte vielleicht an und für
sich als vollkommener, physisch sicherer Beweis anzu-
sehen sein, wefoher der Bestätigung durch die anderen
nicht eigentlich bedarf. Doch ist eine solche, wenn
gehen bis zum Schöpfer getrennt 209
anderwärts in der Wissenschaft (wie z.B. bei der Achsen-
drehung der Erde u. dgl.), gewiß bei einem so wichtigen
Gegenstande am allermeisten willkommen, schon weil sie
dient, die Besorgnis eines unmerklich eingeschlichenen
Fehlers, die bei größerer Verwicklung selbst an mathe-
matische Beweise sich knüpfen mag, leichter zu zer-
streuen.
Sie stimmen indes nicht bloß im Ziele überein, auch
der Weg zum Ziele ist ihnen zum Teil gemeinsam, inso-
fern sie schon vor seiner Erreichung zusammenfließen,
indem alle zunächst das Dasein eines Schöpfers und
aus ihm erst die Existenz eines unendlich vollkommenen
Wesens erweisen. (Am ehesten könnte noch der teleo-
logische diesen Durchgangspunkt entbehren; doch er-
scheint er auch bei ihm als die natürlichste Zwischen-
station.)
168. Auch vorher könnten wir die Beweise schon mit-
einander verbinden, indem wir bald aus dem einen,
bald aus dem anderen Motive entnähmen. So hat es
ARISTOTELESgemacht (in dem sogenannten 12. Buche
seiner Metaphysik), und es bietet dies mannigfache Er-
leichterungen. Aber dann verlören wir jenen Vorteil der
wechselseitigen Verifikation, von dem ich oben sprach,
und vielleicht noch andere Vorteile; jedenfalls verlöre
die Untersuchung an Reiz, da zum mindesten die Ein-
fachheit der Motive, die manchem der Argumente eine
ganz besondere Schönheit gibt, nicht in gleicher Weise
hervortreten würde 8'•).
Bis zur Feststellung der Tatsache, daß es einen Schöp-
fer gibt, führen wir also, wie gesagt, jeden der Beweise ge-
sondert (die zwei ersten ausführlicher, die letzten, soweit
die Zeit es gestattet). Aber auch in diesem ihrem ersten
Teile sind die vier Beweise eins in ihrer Methode.
Diese ist bei keinem von ihnen apriorisch; vielmehr gehen
alle von der Erfahrung aus. Unsere Methode wird bei
jedem der Beweise diejenige sein, welche die Natur-
wissenschaft befolgt, wenn sie aus beobachteten Er-
210 Reihenfolge der vier Beweise

scheinungen auf ihre Ursache schließt. Auch wir schließen


bei jedem von der Wirkung auf die Ursache.
169. Sie unterscheiden sich aber voneinander nach
dem Unterschied der Beobachtungen, von denen sie aus-
gehen.
Die Ordnung, in welcher ich sie aufgeführt, ist die
ihrer historischen Aufeinanderfolge, oder genauer ge-
sprochen, die historische Ordnung der ersten Versuche,
durch deren allmähliche Vervollkommnung sich die vier
Beweise gebildet h~ben.
Der älteste ist der teleologische. Er geht bis auf
ANAXAOORAS zurück, ja Ansätze zu ihm möchten schon
viel früher und selbst schon beim Vater der Philosophie,
bei THALES, zu finden sein.
Einen Beweis aus der Bewegung hat PLATON zuerst
versucht; freilich in sehr unvollkommener Weise. ARISTO-
TELEShat die Fassung modifiziert, und seitdem hat sie -
wie auch die der anderen - noch mannigfache Verände-
rungen erfahren.
Für den Beweis aus der Kontingenz hat ARISTOTELESden
Grund gelegt. Auch für den psychologischen lassen sich
die ersten Ansätze bei ihm nachweisen, obwohl er ihn
in den erhaltenen Schriften nicht vollständig ausgeführt
und dargelegt hat (JOHN LOCKE legt auf ihn besonderes
Gewicht)*).
*) Als weitere Beweise für das Dasein Gottes werden zu-
weilen angeführt :
a) der sog. moralische aus dem Phänomen des Gewissens,
b) der Beweis aus dem consensus gentium,
c) der Beweis aus den Folgen des Atheismus, zumal des
konsequenten.
(Alle Menschen verlangen von Natur aus nach Wissen. Die
Wahrheit kann also nicht zu ihrem Verderben, zur Auf-
lösung der menschlichen Gesellschaft führen. Aber sie hätte
dennoch diese Folge, wenn der Atheismus die Wahrheit
wäre.) Ich möchte nicht sagen, daß nicht in jedem ein rich-
tiger Gedanke stecke, doch haben wir damit nicht ebensoviel
neue Beweise gegeben, da vielmehr alle drei auf den teleo-
logischen zu reduzieren sind. Der erste ist ein Teil von ihm
Verschiedene Wirksamkeit 211

Wir werden uns bei unseren Entwicklungen an diese


Ordnung halten, und zwar nicht bloß, weil sie die Ord-
nung der Aufeinanderfolge ihres Entstehens ist; noch ein
anderer and gewichtigerer Umstand spricht dafür.
170. Die beiden ersten Beweise sind wohl die wirk-
samsten von allen. Die anderen zwei, obwohl an und für
sich vielleicht ebenfalls zwingend, erlangen doch schwerer
ein volles Vertrauen. Der dritte, weil er in sehr abstrakten
Begriffen sich bewegt, wo die Gefahr von Fehlschlüssen,
namentlich durch Äquivokation bekanntlich am größten
ist, so daß der Verstand hier wie bei anderen ähnlich ge-
arteten metaphysischen Untersuchungen eine besondere
Neigung, sich selbst zu mißtrauen, verrät. Der vierte
ist zwar von diesem Mangel frei; allein indem er die
Geistigkeit unserer Seele zum Ausgangspunkt nimmt,
stützt er sich auf eine Tatsache, deren Feststellung selbst
eines der schwierigsten Probleme der Philosophie ist und

und gerade in seiner Stellung im Ganzen von überwältigender


Bedeutung. Und ähnliches gilt auch von dem ästhetischen
und logischen Beweis, die von einzelnen unterschieden wor-
den sind; jener auf die Schönheit in der Natur und in der
Weise, in welcher sie z.B. durch den Umsatz schwingender
Bewegung in Farbe dem Wahrnehmenden erscheint, gestützt
(cf. TRENDELENBURG,Log. Unters.); dieser ausgehend von
der Zusammenordnung, welche die Erkenntnis der Wahr-
heit ermöglicht. Der zweite ein Zeichen, wie offenbar die
Teleologie in der Welt und namentlich im Gewissen des
Menschen ist. Aus dem Zusammenhange des teleologischen
Beweises gerissen, ist das Argument von keiner schlagenden
Bedeutung. Geradezu falsch aber ist der manchmal gezogene
Schluß, daß uns der Gottesglaube angeboren sein müsse.
Dagegen spricht schon die Verschiedenheit der Vorstellungen,
die sich die Menschen von „Gott" machen (cf. LOCKE und
HUME und oben S. 16). Das, was wirklich vorliegt, kann
auch anders erklärt werden (A. CoMTE). Der dritte setzt
offenbar voraus, daß das, was von Natur begehrt, nicht
Verderben sein kann, und ist in dieser seiner Grundlage
ebenfalls teleologisch. Im Anerkennen eines solchen Be-
gehrens ist schon der Zweck für die Natur des Menschen
anerkannt.
212 Verschiedene Wirksamkeit

vielleicht verwickeltere Untersuchungen fordert als der


Beweis des Daseins Gottes selbst. Darum möchte dieser
Weg, obgleich objektiv genommen verläßlich, doch der
mißlichste von allen sein, einen zur sicheren Annahme
des Ergebnisses zu führen, und es dürfte das umgekehrte
Verfahren, nämlich das Dasein Gottes beim Beweise der
Unsterblichkeit der Seele als Prämisse zu benutzen, den
Vorzug verdienen. Als Bestätigung schon geführter Be-
weise ist er dagegen bei niemandem ohne Bedeutung,
denn es wird immer und für jeden beachtenswert sein,
wenn er die Psychologie, wie auch immer nach lang-
wierigen Untersuchungen, zur Notwendigkeit einer An-
nahme führen sieht, deren Bedürfnis aus anderen Gründen
klar geworden.
Wenn man den teleologischen mit dem Bewegungs-
beweis vergleicht, so zeigt sich der erste im allge-
meinen, der zweite in besonderen Fällen wirksamer. Der
erste gewinnt rasch den sogenannten gesunden Menschen-
verstand für sich. Er ist der einzige, den bis zu einem
gewissen Grade auch der gemeine Mann fassen kann.
Damit er aber auch exakt sei, muß er noch genauer präzi-
siert und so der Charakter vollkommener physischer
Sicherheit nachgewiesen und jeder Einwand beseitigt
werden. Denn der Materialismus hat in betreff seiner
viel Staub aufgewirbelt. Auch habe ich Leute gefunden,
die durch die Gewohnheit materialistischer Betrachtungs-
weise wie unfähig geworden waren, einen Zug von Zweck-
mäßigkeit in der Natur zu sehen und zu würdigen. Sie
fingen zu lachen an, wenn man ihnen davon sprach.
Für solche also ist der Bewegungsbeweis viel wirk
samer, der auch dadurch den teleologischen übertrifft,
daß er so gar wenig voraussetzt, nichts als die leichte
und sichere Beobachtung einer Veränderung, und von
ihr aus durch eine Reihe ganz stringenter Folgerungen
das Dasein eines unendlich vollkommenen Wesens dar-
tut. So nähert er sich dem Charakter der mathemati-
schen Beweise an und mag in der Tat vor allen anderen
der vier Beweise 213
geeignet sein, einen scharfen Verstand zur Überzeugung
zu zwingen.
Doch hat der Gegensatz zwischen der Größe des
Resultates und der Kleinheit des ersten Datums etwas so
Erstaunliches und Ungeheuerliches, daß dies allein bei
manchem Bedenken erregen wird. Eine so unbedeutende
Unterlage scheint einen so gewaltigen Bau nicht tragen
zu können. Und gewöhnlich wird man darum geneigter
sein, dem teleologischen Beweise, der aus einer ganzen
Fülle von Beobachtungen auf den verschiedensten Ge-
bieten wie auf einer breiten Grundlage sich erhebt, zu
vertrauen. Ich hoffe indes, daß jedem von Ihnen die
Gültigkeit dieser beiden Argumente in gleicher Weise
einleuchtend werden wird.
Was aber die Ordnung der Beweise betrifft, so ist es
nach dem Gesagten offenbar, daß es im allgemeinen am
besten ist, mit dem teleologischen Beweise zu beginnen
und auf ihn den aus der Bewegung folgen zu lassen. An
diesen schließt sich dann am natürlichsten der ihm etwas
verwandte Beweis aus der Kontingenz an, während die
Bestätigung durch den psychologischen Beweis die letzte
Stelle einnimmt.
Wenden wir uns zunächst zum teleologischen.
Der teleologische Beweis
Erster Teil: Der Schein der T e1eofogie
I. Die Erfahrungsgrundfage
171. Die Basis, auf welcher der teleologische Beweis
ruht, ist die Tatsache, daß in der Welt und- um unseren
Blick zunächst auf die Erde zu heften - auf Erden eine
Menge von Gegenständen sich finden, die ganz und gar
den Charakter tragen, als seien sie in ihrem Sein und
Wirken zu einem Zweck hingeordnet, den weder ein
menschlicher Verstand und Wille, noch ein tierisches Be-
gehren ihnen gesetzt haben kann.
Diese Tatsache ist an und für sich sehr wunderbar und
wohl geeignet, das philosophische Staunen zu erregen;
namentlich darum, weil bei dieser Hinordnung Mittel ge-
braucht und Motive angewandt scheinen, die nur ein
solcher künstlerischer Verstand gewählt haben könnte,
der an Kenntnis der Natur und ihrer Gesetze und an
Scharfsinn der Erfindung alle menschliche Wissenschaft
und Erfindungsgabe weit übertreffen würde.
Freilich gibt es Leute, die dennoch nicht staunen;
weniger darum, weil ihnen die Tatsache nicht bekannt
ist - denn jedem liegt sie bis zu einem gewissen Maße
vor Augen, obwohl dem am meisten, der am meisten von
den betreffenden Gegenständen ein \Vissen sich ver-
schafft hat - als darum, weil sie zu bekannt ist, und was
uns gewöhnlich begegnet uns nicht mehr verwundert,
wenn wir es auch in keiner Weise erklären können. So
wundert sich über die Erscheinung der Schwere schier
niemand, über die der Elektrizität aber staunen die Leute,
obwohl die eine genau so geheimnisvoll ist wie die andere.
Erfahrungsbasis des teleologischen Beweises 215

Daher wird es wohl gut sein, in kurzen Zügen die Tat-


sache nach ihren Hauptseiten hier uns neu vor Augen
zu stellen.
172. Zwei große Gebiete sind es, auf welchen sie uns
begegnet, auf dem einen von den meisten, auf dem
andern von den wenigsten beachtet, auf dem Gebiete
der lebendigen und auf dem der leblosen Natur.
Auf dem Gebiete der lebendigen Natur zeigt sich die
Erscheinung da am unverhülltesten und greifbarsten, wo
es sich um völlig bewußtlose Lebenstätigkeiten handelt.
Hierher gehören alle Erscheinungen des vegetativen
Lebens und mit ihnen auch noch die der Reflexbe-
wegungen im strengen Sinne des Wortes.
Sie tritt aber schon bei geringerer Aufmerksamkeit
ebenso klar hervor, auch wo es sich um halb bewußte
Lebens tätig kei ten handelt.
Hierher gehören die Instinkte, auch moralische In-
stinkte und instinktive Urteile mitinbegriffen, und die
willkürlichen Bewegungen der Glieder. Trotzdem ist
schon hier manchem die Tatsache entgangen, welcher in
den ersten Erscheinungen sie wohl erfaßt hatte.
Noch häufiger, wie gesagt, ist dies auf dem Gebiete
der 1e b 1o s e n Natur geschehen. Nichtsdestoweniger
ist es für den, der einmal auf dem Gebiet der lebendigen
Natur der Tatsache inne geworden, nicht schwer ein-
zusehen, daß auch das Leblose und Ur.organische in der
Welt, insofern es in den innigsten Wechselbeziehungen
mit den lebenden Wesen steht, gleichfalls den Charakter
der Zweckmäßigkeit an sich trägt.
Ja noch mehr; selbst abgesehen von diesen Beziehungen
ist er für den Tieferdenkenden auch hier aufs sicherste
erweis bar.
Der Schein der Teleologie auf dem Gebiete
der lebendigen Natur
173. I. Betrachten wir zunächst kurz das Gebiet der
lebendigen Natur und vornehmlich das der völlig un-
216 Der Schein der Teleologie

bewußten Lebenstätigkeit, wie wir sie bei den


Pflanzen, aber noch reicher und künstlicher verschlungen
in den vegetativen Funktionen der Tiere und Menschen ge-
wahren. Hier hat alles das Gepräge, als sei es und wirke
es um eines Zweckes willen, der Entwicklung und er-
neuernden Erhaltung des eigenen Organismus, der in
beständigem Vergehen begriffen ist, und des künst-
lerischen Aufbaues eines ande:ren, im allgemeinen ähn-
lichen, manchmal aber auch nicht unwesentlich ab-
geänderten und den veränderten Umständen entspre-
chend relativ vervollkommneten Organismus. Und das
Werk ist wunderbar in seiner Schönheit sowohl als in
seinen Leistungen.
In der ersten Beziehung brauchen wir nur mit den
heiligen Büchern unseres Volkes auf die Lilien des Feldes
zu verweisen, die nicht nähen und nicht spinnen und
doch schöner gekleidet sind als Salomon in seiner Pracht
und Herrlichkeit.
Schon das unbewaffnete Auge erkennt die Wahrheit
dieses Wortes, wie viel mehr das bewaffnete, das dort
immer neue Züge von Schönheit, hier nur Unregel-
mäßigkeit und rohes Flickwerk erkennt. Und was von
der Lilie und anderen Blumen und Gewächsen gilt, das
gilt in erhöhtem Maße von den tierischen Organismen,
vom Schmetterling und Käfer, von Fischen, Vögeln und
Landtieren und vor a!lem von der erhabenen Schönheit
eines blühenden und edelgebildeten menschlichen Ant-
litzes, so wunderbar geeignet, jeder Bewegung der Seele
zum Ausdruck zu dienen.
174. Aber diese Werke von wunderbarer Schönheit
sind zugleich von einer, scheinbar wenigstens, für ge-
wisse Leistungen berechneten, so durchdachten zweck-
mäßigen Gliederung, daß selbst, wer gering von den
Organismen denkt, dennoch schon von den niedrigsten,
den Pflanzen, sagen muß, daß sie wie Maschinen seien,
die alle von menschlichem Scharfsinn ersonnenen Ma-
schinen unendlich hinter sich zurücklassen 86).
in der lebendigen Natur 217
Betrachten wir ein bescheidenes Pflänzchen, wie das
Veilchen. Seine ästhetischen Vorzüge kennen wir. Aber
wie staunenswert sind nicht auch sozusagen seine mecha-
nischen Leistungen! Diese Blume mit ihren schwachen
Fäserchen weiß sich dauerhafter zu erhalten als eine
Kette von geschmiedetem Eisen und als die ägyptischen
Pyramiden. Diese zerbröckeln und jene rostet und zer-
reißt; aber das Veilchen erhält sich durch Blüte und
Samenbildung der Art nach fort und fort durch Jahr-
tausende und in eine unabsehbare Zukunft in alter Kraft
und Frische. Das ist eine Leistung, an die keine mensch-
liche Mechanik reicht. Ein Professor der Physiologie,
der früher in Würzburg mein Kollege war, PETZOLD,
tüchtig in seinem Fach, aber in philosophischen Fragen
ziemlich laienhaft und einem oberflächlichen Materialis-
mus ergeben, wagte einmal im Kolleg die Hoffnung aus-
zusprechen, daß die Mechanik, die jetzt noch in rohen
Anfängen stehe, in ihrem weiteren Fortschreiten auch
einmal dazu gelangen werde, eine Maschine zu bilden,
die sich erneuernd selbst erhalte und aus den sie um-
gebenden Stoffen neue, gleichartige Maschinen zu bilden
und so sich zu vervielfältigen vermöge. Ein Lächeln
kommt auf Ihre Lippen! Und in der Tat, auch ihm
begegnete es, daß ihm seine Schüler ins Gesicht lachten.
Er schien ihnen etwas Unglaubliches zu sagen, und der
Ausspruch einer solchen Hoffnung für die Mechanik ließ
das ganz Außerordentliche, was in der Leistung auch der
einfachsten Pflanze liegt, und den unermeßlichen Unter-
schied, der noch zwischen ihren und den höchsten
Leistungen der verwickeltsten Werke menschlicher Mecha-
nik besteht, klarer als vielleicht je zuvor ihnen vor Augen
treten.
175. Und doch ist, was wir bei den höheren tierischen
und menschlichen Organismen finden, noch viel wunder-
barer.
Die Organisation der Pflanzen scheint kunstlos gegen sie.
Die Zwecke, die hier, wenn der Schein nicht trügt, er-
218 Der Schein der Teleologie

reicht werden sollen, sind höher; denn die Organe der


Ernährung und Fortpflanzung haben hier ja nicht bloß
sich selbst im Wechselverkehr und gegenseitigen Zu-
sammenwirken neu zu bilden, um fort und fort dieselben
Funktionen auszuüben, sondern auch Organe höherer
Tätigkeiten, der Empfindung, des Begehrens, der will-
kürlichen Bewegung. Sie treten also in höheren Dienst,
haben höhere Aufgaben zu lösen, wie z.B. den wunder-
baren Bau des Auges, wie ihn besonders der Physiologe
kennt.
Und noch viel wunderbarer muß der des Gehirns sein!
Es gab zwar Materialisten, die keinen Anstand nahmen,
von einem Brei des Gehirns zu reden. Aber sie wußten
wahrlich nicht, was sie sagten. Wenn wir auch das
Wunder seiner Struktur nicht analysierend sichtbar
machen können, so vermögen wir sie doch aus seinen
Leistungen zu erschließen.
Lassen wir die Frage unentschieden, ob das Gehirn
selbst empfinde, was ihm eine ganz besonders unter-
scheidende Würde gegenüber allen anderen Organen gäbe
- jedenfalls ist das Gehirn wenigstens als nächstver-
mittelnder Faktor bei der Empfindung, ja als Helfer bei
aller bewußter Tätigkeit beteiligt, bei Sinnesvorstellung,
bei Gedächtnisvorstellung, bei Abstraktion und Phan-
tasie, bei Urteil von unmittelbarer oder mittelbarer
Evidenz, bei Affekt und edlen Gefühlen und erhabenstem
Wollen und Streben, das auch den unbeteiligten Beobach-
ter sympathisch ergreift und mehr als alles, was ihm sonst
Großes und Erhabenes in der Welt begegnet, zu en-
thusiastischer Bewunderung hinreißt.
Ein kleiner Druck auf das Gehirn, eine Entzündung,
eine kleine Desorganisation, und alles das wird unmög-
lich, und wir sehen statt dessen vielleicht nur ein dumpfes
Brüten und eine wilde Ideenflucht oder Wut und Raserei.
V{ie wunderbar muß das alles geordnet sein!
Das Elementarste von allem Psychischen ist die Sinnes-
vorstellung. Aber welche scheinbar ausgewählte Ord-
in der lebendigen Natur 219
nung setzt schon diese voraus! Das Auge vermittelt nicht
bloß Farbenvorstellungen, sondern diese in einer gewissen
Ordnung, welche für ein geordnetes Nebeneinander in
der Außenwelt Kriterium werden kann. Daher die feinen
Nervenverzweigungen der Retina. Jede andere Nerven-
faser gibt eine andere Ortsvorstellung oder wenigstens -
wie die sog. Empiristen wollen - ein anderes Lokal-
zeichen und die benachbarten verwandte. Bei der Lei-
tung zum Gehirn und durch dasselbe werden aber alle
diese Eigenheiten festgehalten, und nur so wird unsere
Orientierung über Räumliches möglich.
Ähnliches wie hier für den Raum finden wir bei der
Gedächtnisvorstellung für die Zeit. Die aufeinander-
gefolgten Eindrücke reihen sich zu einer zeitlichen Kon-
tinuität, was nur durch ganz wunderbare Ordnungen
möglich werden kann, wie die Psychologie näher aus-
einandersetzt.
Steht es so mit dem, was vom Psychischen das Ele-
mentarste und Primitivste ist, so vervielfältigen und
potenzieren sich die Wunder der scheinbaren psychischen
Teleologie mit jeder neuen Komplikation, und jedes stellt
das Gehirn als ein so unbegreiflich hohes Werk natürlicher
Mechanik hin, daß es nur zu begreiflich ist, daß unsere
Anatomie und Physiologie des Gehirns schlechterdings
unfähig ist, irgendwie den Zusammenhang zu fassen.
Aber wenn die physiologische Analyse uns hier so gut
wie nichts bietet und wohl in Ewigkeit bieten wird, so ist
dies nur eine Folge und ein Zeugnis für die unvergleich-
liche Vollkommenheit der Organisation, welche die Natur
hier aufzubauen vermocht hat 86 ).
176. Aber wenn Anschauung, Urteil, Wille und andere
psychische sensitive und intellektive Leistungen wie
Zwecke erscheinen, denen die vegetativen Tätigkeiten,
welche das Gehirn und andere Organe üben, unterge-
ordnet sind, so doch nicht, als ob sie nur empfingen, nicht
auch gäben. Vielmehr besteht auch hier Wechselseitig-
keit der Hilfe.
220 Der Schein der Teleologie

Nur eine beschränktere Zahl von Stoffen ist für die


Verarbeitung im tierischen Organismus ein brauchbares
Material, der Hauptsache nach ist er auf andere orga-
nische Stoffe angewiesen, und diese sind dem höheren
tierischen Organismus nicht unmittelbar gegeben. Die
psychischen sensitiven und intellektiven Tätigkeiten
müssen sie herbeibringen unter Benutzung der von den
vegetativen schon gegebenen Organe, die in der ent-
sprechenden Weise dafür gebildet sind. Hören wir, wie
einer der größten neueren Biologen den innigen Zu-
sammenhang schildert, in welchem die ganze Organi-
sation eines Tieres zu seiner Nahrung steht.
„Jedes lebende Wesen", sagt ÜUVIER*), ,,bildet ein
Ganzes, ein einziges und geschlossenes System, in wel-
chem alle Teile gegenseitig einander entsprechen und zu
derselben Wirkung des Zweckes durch wechselseitige
Gegenwirkung beitragen. Keiner der Teile ka,nn sich
verändern ohne die Veränderung der übrigen, und folg-
lich bezeichnet und gibt jeder Teil einzeln genommen alle
übrigen. Wenn daher die Eingeweide eines Tieres so
organisiert sind, daß sie nur Fleisch, und zwar nur
frisches, verdauen können, so müssen auch seine Kiefer
zum Fressen, seine Klauen zum Festhalten und zum Zer-
reißen, seine Zähne zum Zerschneiden und zur Verkleine-
rung der Beute, das ganze System seiner Bewegungs-
organe zur Verfolgung und Einholung, seine Sinnes-
organe zur Wahrnehmung derselben in der Feme ein-
gerichtet sein. Es muß selbst in seinem Gehirn der nötige
Instinkt liegen, sich verbergen und seinen Schlacht-
opfern hinterlistig auflauern zu können. Der Kiefer be-
darf, damit er fassen könne, einer bestimmten Form des
Gelenkkopfes, eines bestimmten Verhältnisses zwischen
der Stelle des Widerstandes und der Kraft zum Unter-
stützungspunkt, eines bestimmten Umfanges des Schlaf-
muskels und letzterer wiederum eine!" bestimmten Weite

*) Aus MÜLLERS Physiologie 1835, 1, S. 467ff. u. S. 47lff.


in der lebendigen Natur 221
der Grube, welche ihn aufnimmt, und einer bestimmten
Wölbung des Jochbogens, unter welchem er hinläuft,
und dieser Bogen muß wieder eine bestimmte Stärke
haben, um den Kaumuskel zu unterstützen. Damit das
Tier seine Beute forttragen könne, ist ihm eine Kraft
der Muskeln nötig, durch welche der Kopf aufgerichtet
wird, dieses setzt eine bestimmte Form der Wirbel, wo
die Muskeln entspringen, und des Hinterkopfes, wo sie
sich ansetzen, voraus. Die Zähne müssen, um das Fleisch
verkleinern zu können, scharf sein. Ihre Wurzel wird um
so fester sein müssen, je mehr und je stärkere Knochen
sie zu zerbrechen bestimmt sind, was wieder auf die Ent-
wicklung der Teile, die zur Bewegung der Kiefer dienen,
Einfluß hat. Damit die Klauen die Beute ergreifen
können, bedarf es einer gewissen Beweglichkeit der
Zehen, einer gewissen Kraft der Nägel, wodurch be-
stimmte Formen aller Fußglieder und die nötige Ver-
teilung der Muskeln und Sehnen bedingt werden; dem
Vorderarm wird eine gewisse Leichtigkeit, sich zu drehen,
zukommen müssen, welche bestimmte Formen der
Knochen, woraus er besteht, voraussetzt; die Vorder-
armknochen können aber ihre Form nicht ändern, ohne
auch im Oberarm Veränderungen zu bedingen. Kurz,
die Form des Zahns bringt die des Kondylus mit sich,
die Form des Schulterblattes die der Klauen, geradeso
wie die Gleichung einer Kurve alle ihre Eigenschaften
mit sich bringt; und so, wie man, wenn man jede Eigen-
schaft derselben für sich zur Grundlage einer besonderen
Gleichung nähme, sowohl die erste Gleichung als alle
ihre andern Eigenschaften wiederfinden würde, so könnte
mn,n, wenn eins der Glieder des Tieres als Anfang gegeben
ist, bei gründlicher Kenntnis der Lebensökonomie das
ganze Tier darstellen. Man sieht ferner ein, daß die
Tiere mit Hufen sämtlich pflanzenfressende sein müssen,
daß sie, indem sie ihre Vorderfüße nur zur Stützung
ihres Körpers gebrauchen, keiner so kräftig gebauten
Schulter bedürfen, woraus denn auch der Mangel des
222 Der Schein der Teleologie

Schlüsselbeins und des Akromium und die Schmalheit


des Schulterblattes sich erklärt; da sie auch keine
Drehung ihres Vorderarms nötig haben, so kann die
Speiche bei ihnen mit der Ellenbogenröhre verwachsen,
oder doch an dem Oberarm durch einen Ginglymus und
nicht durch eine Asthrodie eingelenkt sein; das Bedürfnis
der Pflanzennahrung erfordert Zähne mit platter Krone,
um die Samen und Kräuter zu zermalmen; diese Krone
wird ungleich sein und zu diesem Ende der Schmelz mit
Knochensubstanz abwechseln müssen. Da bei dieser Art
von Krone zur Reibung auch horizontale Bewegung
(Reibung) nötig ist, so wird hier der Kondylus des Kiefers
nicht eine so zusammengedrückte Erhabenheit bilden
wie bei den Fleischfressern; er wird abgeplattet sein und
zugleich einer mehr oder weniger platten Fläche am
Schläfenbein entsprechen; die Schläfengrube, welche nur
einen kleinen Muskel aufzunehmen hat, wird von ge-
ringerer ·weite und Tiefe sein."
Sie hörten hier CuvrnR nicht bloß sagen, es habe alles
ganz und gar den Charakter, also bes um eines Zweckes
willen sei, er behauptete dies geradezu.
„Alle Teile", sagte er im Anfang der eben mitgeteilten
Stelle, ,,entsprechen einander gegenseitig und tragen zu
derselben Wirkung des Zweckes durch wechselseitige
Gegenwirkung bei."
Hören wir ihn noch an einem anderen Ort: ,,Die Zoo-
logie hat einen Grundsatz, der ihr eigentümlich ist und
den sie bei vielen Gelegenheiten mit Vorteil anwendet,
dieser wird der Grundsatz der Endursachen genannt.
Denn da nichts existieren kann, das nicht alle zu seiner
Existenz notwendigen Bedingungen in sich vereinigt, so
müssen die verschiedenen Teile eines Wesens auf eine
solche Weise gebildet und koordiniert sein, daß sie das
Ganze nicht nur an und für sich, sondern auch in seiner
Beziehung zu den Wesen, die es umgeben, möglich
machen." ,,Der Grundsatz", sagt er weiter, ,,führt oft
zu allgemeinen Gesetzen, die ebenso klar abgeleitet sind
in der lebendigen Natur 223
wie diejenigen, welche das Resultat einer Berechnung
oder eines Experimentes sind." Mit Anwendung des-
selben war CUVIER selbst imstande, aus einem einzigen
Knochen eines noch unbekannten urweltlichen Tieres
den ganzen Bau desselben in seinen wesentlichen Teilen
mit völliger Sicherheit abzuleiten, und seine Konstruktion
fand sich denn auch durch nachträgliche Auffindung
eines ganzen Skeletts bestätigt.
177. Solche Erfolge dienen wohl, die Methode zu emp-
fehlen, und so könnte man denn sagen, der Grundsatz
CuVIERs habe sich in der glänzendsten Weise bewährt
und die Hypothese von den Endursachen in einer Weise
sich fruchtbar erwiesen, wie sich dessen gewöhnlich nur
die verlässigsten naturwissenschaftlichen Erklärungs-
versuche rühmen können.
Dennoch wollen wir uns wohl hüten, deshalb sofort zu
behaupten, daß hier wirklich eine Ordnung von Mitteln und
Zwecken gegeben sei. Wir bleiben zunächst bei unserer be-
scheideneren Aufstellung und wiederholen - das aber aller-
dings mit viel Zuversicht -, es sei wohl unleugbar, daß
diese Gegenstände ganz und gar den Charakter haben, als
seien und wirkten sie um eines Zweckes willen, den nur ein
übermenschlicher Verstand ihnen gesetzt haben könnte*).
Ehe wir weitere Schlüsse ziehen, wollen wir sehen, wie
die gleiche Tatsache sich auch auf anderen Gebieten kon-
statieren läßt. Dann wollen wir die Einwände dagegen
hören und erledigen. Und dann erst, wenn es ganz un-
zweifelhaft geworden, daß es auf allen Gebieten der Natur
den Anschein hat, als sei ein Zweck, wollen wir unter-
suchen, ob wir deshalb sagen dürfen, daß wirkliche
Zweckordnung in den Dingen bestehe.

II. Die Schilderung, die ich von der scheinbaren


Zweckmäßigkeit in der lebendigen Natur gegeben, be-
*) Vgl. hierzu KARL ERNST v. BÄR, ,,Reden und kleinere
Aufsätze, zweiter Be.nd, insbesondere den Aufsatz „Über
Zielstrebigkeit in den organischen Körpern" (2. Aufl. 1886).
224 Der Schein der Teleologie

handelte nahezu ausschließlich Wirkungen einer voll-


kommen bewußtlosen Tätigkeit.
178. Die Vollständigkeit würde es erheischen, daß ich
nun auch von jenen halbbewußten Tätigkeiten
spräche, an die ich früher schon rührte, von der merk-
würdigen Tatsache des sog. natürlichen Instinkts (und
anderen ihm verwandten) und von den Erscheinungen
bei der willkürlichen Bewegung.
a) Die instinktive Tätigkeit, z.B. beim Nester-
bau, Brüten und der Auffütterung der Jungen durch
die Vögel, hat unverkennbar einen Charakter, als wür-
den hier Zwecke erstrebt und Mittel geordnet. Das
leugnet niemand. Dagegen irrt mancher, indem er hier
die kluge Vorsicht und Kunst der Tierchen bewundert.
Der Vogel erstrebt hier nur immer das Allernächst-
liegende. Dazu hat er einen blinden Drang, der ohne
Ahnung der ferneren Zwecke ihnen dient. Der Vogel hat
keine angeborene Idee vom Nest, wie noch CuvIER
meinte, wie denn heutzutage die Lehre von angeborenen
Ideen überhaupt nicht mehr aufrecht gehalten wird. Er
ist blind für das Resultat seiner Tätigkeit, wie der
Mensch selbst es ist, wenn er seinen Instinkten folgt,
z. B. als Säugling das erstemal die Brust der Mutter trinkt.
Und denselben blinden Drang erfahren wir ja noch alle
in Hunger und Durst, in dem Geschlechtstrieb u. dgl.
W ALLACE versuchte in neuerer Zeit allerdings darzu-
tun, daß der Bau des Nestes nicht ganz blind erfolge.
Er meinte eine Belehrung der Jungen durch die Eltern
nachweisen zu können. Durch Absperrung der Jungen
sollen sie nach seiner Beobachtung der Kunst des Bauens
verlustig gehen. Ich gestehe, daß ich ein solches Experi-
ment für durchaus nicht entscheidend halte. Ja, ich kann
mir von dieser Belehrung durch die Eltern gar keine Vor-
stellung machen. Sollen sie die Jungen theoretisch oder
praktisch in diese Kunst einführen? Man verfolge nur
jede der Hypothesen, man wird bald erkennen, daß sie
undurchführbar sind. Lehrreich ist auch ein Vergleich
in der lebendigen Natur 225
mit den Instinkten bei Insekten, welche nur einmal im
Leben Eier legen und dann sterben (worüber Näheres bei
BAER und WEISMANN). Hat wirklich W ALLACE den
Wegfall des Bautriebes durch die Absperrung kon-
statiert, so war vielleicht der sonst bestehende Instinkt
durch anormale Lebensverhältnisse nicht zur Entwick-
lung gelangt.
Nicht also mit der vernünftigen Kunst des Menschen,
sondern vielmehr mit der sozusagen vernunftlosen Kunst,
mit dem unbewußt zweckmäßigen Wirken des vegeta-
tiven Lebens muß man, wie andere Instinkte, auch den
Bautrieb der Vögel zusammenstellen. Denn wenn das
Tierchen nur das Allernächstliegende bewußt erstrebt
und von keinen ferneren Folgen Kenntnis hat, so hat
das, was es tut, doch das Gepräge, als sei es noch zu
vielen entfernteren Zwecken in entsprechendster Weise
geordnet.
179. Eine Art von Gegensatz zu den Erscheinungen
des Instinktes zeigt die andere Klasse von Erscheinungen,
die ich berührte, nämlich die der willkürlichen Be-
wegungen. Wir wollen ein Glied bewegen, und es be-
wegt sich sofort. Auch zweifelt kaum einer, daß unser
Wille es ist, der die erstrebte Bewegung verursacht.
Aber er tut es nicht unmittelbar, vielmehr sehr ver-
mittelt. Unmittelbar bewirkt der Wille etwas, wovon
wir kein Bewußtsein haben, und dieses wirkt in derselben
Weise auf ein zweites usf., bis endlich nach einer langen
Reihe uns größtenteils unbekannter und in keiner Weise
von uns beabsichtigter Vorgänge die von uns begehrte
Bewegung erfolgt.
Hat es nun nicht ganz und gar den Charakter, als seien
alle die Wirkungen, die der Bewegung vorhergehen, Mittel
zu dem von uns begehrten Zweck? Doch sind sie nicht
von uns selbst ergriffene Mittel. Es ist also auch bei den
Wirkungen des Begehrens, als bestehe eine Ordnung von
Mitteln und Zwecken, die nicht von uns selbst und auch
von keinem andern menschlichen Verstand und Willen
226 Der Schein der Teleologie

gesetzt sein können. Blicken wir auf den Fall der instink-
tiven Tätigkeiten des Vogels, von dem wir früher sprachen,
so finden wir, da sie ja willkürlich sind, beide Arten von
scheinbarer Zweckordnung der Natur mit seinem be-
wußten Streben vereinigt. Der Zweck seines bewußten
Begehrens erscheint wie in die Mitte gestellt zwischen
fernere Zwecke, denen er als Mittel dient, und nähere,
die ihm selbst als Mittel dienen, und die das bewußte
Begehren selbst der Reihe nach verwirklicht, ohne sie zu
ahnen.
Doch bei diesen wenigen Worten muß ich es jetzt be-
wenden lassen, und da anderes und schwierigeres zu tun
übrig bleibt, von der Schilderung der scheinbaren Zweck-
ordnung in der Natur auf dem Gebiet der lebenden Welt
Abschied nehmen.
Der Schein der Teleologie auf dem Gebiete
der leblosen Natur
180. Wenden wir uns zu dem zweiten großen Gebiet,
dem des Leblosen und Unorganischen. Die Unter-
suchung dieses Gebietes unter unserem Gesichtspunkte
scheint von besonderer Wichtigkeit.
Hier wird selbst von solchen die scheinbare Zweck-
mäßigkeit geleugnet, welche sie auf dem Gebiet des
Lebens anerkannt haben. KANT spricht mit Bezug auf
diesen Gegensatz geradezu von einer Antinomie der
teleologischen Urteilskraft. Und in der Tat scheint der
Name selbst darauf anzuspielen, daß hier nicht jener
Schein von Zusammenordnung wie auf dem Gebiet der
lebendigen körperlichen Wesen bestehe, wo jeder Teil als
Mittel und Werkzeug erscheint, welches dem Ganzen dient.
Es ist aber das bei weitem ausgedehnteste Gebiet in
der Natur. Die Organismen sind in der Tat wie Tropfen
im Meere, und so könnten manchem die Züge von Teleo-
logie, die die lebendige Natur zu bieten scheint, in der
Masse, die keine Spur von Zweckmäßigkeit trage, zu
verschwinden scheinen.
in der leblosen Natur 227
Aber dem ist nicht so. Auch das Leblose und Un-
organische in der Welt trägt deutlich den Charakter
scheinbarer Zweckmäßigkeit an sich. Und zwar zeigt
sich dieser teils schon, wenn man es an und für sich,
teils aber und vorzüglich, wenn man es in seiner innigen
Wechselbeziehung mit lebenden, empfindenden und den-
kenden organischen Wesen betrachtet, die bei Verände-
rung irgendeiner wesentlichen, ja auch mancher der ganz
akzidentellen Beschaffenheiten der unorganischen Welt
weder bestehen noch ihre vornehmsten Funktionen üben
könnten.
Einige kurze Betrachtungen werden, wie ich hoffe,
genügend zeigen, in wie hohem Maße beides der Fall ist.
181. Wenn wir auf das Reich der unorganischen Wesen
blicken und ihre verschiedenen Elemente miteinander
vergleichen, so finden wir, daß sich in ihrer Vielheit in
einer doppelten Weise eine Einheit darstellt:
1. eine Einheit der Ähnlichkeit;
2. eine Einheit durch die Beziehung der Kräfte und
Fähigkeiten aufeinander, so daß das eine bietet, was das
andere zu seiner Betätigung bedarf und sie sich so gegen-
seitig gewissermaßen ergänzen.
Jede dieser beiden Einheiten trägt aber ganz den
Charakter der Zweckmäßigkeit an sich.
182. Betrachten wir die erste der beiden Tatsachen
etwas näher.
a) Wenn wir das Reich der unorganischen Wesen be-
trachten, so finden wir alsbald, daß Gleichheit und Über-
einstimmung sich unter ihnen über sehr weite Gebiete
erstreckt. (Man bedenke die Massen der einzelnen chemi-
schen Elemente; von jedem sind ungeheuere Mengen
vorhanden, und zwischen ihnen besteht vollkommene
Gleichheit; sie sind nur lokal verschieden.)
b) Noch mehr! Alles ist mit allem verwandt, alles zeigt
mit allem Analogie und wird von gewissen Gesetzen in
gleicher oder ähnlicher Weise beherrscht. So z. B. unter-
liegen alle Stoffe den drei Aggregatzuständen und den
228 Der Schein der Teleologie

allgemeinen Gesetzen, die sich an jeden knüpfen. Ferner


herrscht eine vollkommene Übereinstimmung aller in
bezug auf das Gesetz der Trägheit und die anderen Gesetze
der Mechanik. Ebenso eine völlige Gleichheit aller hin-
sichtlich des Gesetzes der Schwere. Alle Körper ziehen
einander an im direkten Verhältnis ihrer Massen und im
umgekehrten der Quadrate ihrer Entfernungen. Und
wer da weiß, daß keine Kraft unmittelbar in die Ferne
wirkt, der erkennt sofort, daß bezüglich der Gravitation
auch darin noch eine auffallende Gleichheit alles Körper-
lichen besteht, daß alle Körper in allen Zuständen in
völlig gleicher Weise der Schwerkraft als Leiter dienen.
Diese Züge der Übereinstimmung könnten natürlich
leicht vervielfältigt werden, denn fast möchte ich sagen,
derartige Gleichheiten oder Ähnlichkeiten spezifisch ganz
verschiedener Körper seien nicht zu zählen. Aber es
wird genügen, auch nur diese wenigen hervorzuheben.
183. Das ist also die erste der Tatsachen, von denen
ich sprach. Ist nun, frage ich, diese Tatsache etwas
Selbstverständliches, ist sie etwas, was von vornherein
als notwendig erwartet werden mußte 1 Keineswegs!
weder die spezielleren noch die ausnahmslos allgemeinen
Übereinstimmungen. Im Gegenteil müssen sie dem im
höchsten Maße auffallen, der für diese gleichen und ähn•
liehen Dinge keinen gemeinsamen Ursprung annimmt.
(Ich darf wohl hier auf die Verwandtschaft mit einem
Argument der Deszendenzlehre hinweisen, die aus den
Analogien im Bau verschiedener Arten auf deren ein-
heitlichen Ursprung schließt.)
Also nicht selbstverständlich und von vornherein not-
wendig, aber als im höchsten Grade teleologisch erscheinen
diese engeren und weiteren Kreise der Verwandtschaft
und die Einheit der Ähnlichkeit, die sogar alle durch-
dringt. Teleologisch erscheinen sie vom Standpunkt der
Schönheit, denn ohne solche Gleichheit und Überein-
otimmung käme es zu keinerlei Proportion. Teleologisch
aber auch im Interesse der Wahrheit und Erkenntnis.
in der leblosen Natur 229
Die allgemeinen Gesetze geben Licht, das alle Gebiete
erhellt. Die Analogien werden der leitende Faden des
Forschers. Man sagt, Wissen sei Macht. Das Wissen
vom einzelnen Falle, der sich nicht wiederholt 1 Nein!
das Wissen von solchen, die immer wiederkehren, das
Wissen von allgemeinen Gesetzen. Und, falls es einen
einheitlichen Urheber der Welt geben sollte, so wäre jene
durchgängige Einheitlichkeit auch schon als ein Hin-
weis auf den einheitlichen Urheber von eminent teleo-
logischer Bedeutung.
(Es ist interessant, daß selbst einem Manne wie DüH-
RING, der doch energisch alle idealistische Weltanschauung
ablehnt, dieser Gedanke nicht ganz entgangen ist. Wo
er den Darwinismus bespricht, räsonniert er bitter über
die Darwinianer, daß sie auch dieses Argument brächten.
Also ein ziemlich unverhülltes Diktat: dieses Argument
darf nicht gebraucht werden, weil wir damit auf etwas
stoßen würden, was nicht gefunden werden soll!)
184. Betrachten wir nun die andere Einheit, von der
ich sprach, die Einheit in den Beziehungen der sich
wechselseitig ergänzenden Vermögen und Kräfte. ,
Die Körper, die uns die Erfahrung zeigt, können einer
auf den andern wirken und einer von dem andern leiden.
Und wäre dies nicht der Fall, so könnten sie sich gar
nicht betätigen, denn keiner kann aus nichts etwas
hervorbringen. Da bietet sich ihm denn ein anderer
Körper mit einer seiner wirkenden Kraft entsprechend9n
Fähigkeit zu leiden dar und ergänzt so die fehlende Be-
dingung.
Und während er so von ihm die ergänzende Bedingung
seiner eigenen Wirksamkeit empfängt, macht er wiederum
seinerseits auch ihm in derselben Weise das Wirken
möglich.
Wechselseitig beeinflussen sich beide, und zwar so, daß
nicht bloß während der Wirkung eine Gegenwirkung er-
folgt, sondern daß diese Gegenwirkung auch auf das ge-
naueste dem empfangenen Maß der Wirkung entspricht.
230 Der Schein der Teleologie

Das berühmte Gesetz der Gleichheit von Wirkung und


Gegenwirkung gilt allgemein in der Körperwelt, wie auch
der Einfluß der Körper aufeinander eine allgemeine, die
ganze Natur durchdringende Tatsache ist 87 ).
185. Auch hier haben wir aber etwas, was sich keines-
wegs von selbst versteht, und zwar nicht bloß nicht der
letzte Umstand, sondern auch nicht das Sichineinander-
fügen von aktivem und passivem Vermögen überhaupt.
Vielmehr liegt etwas äußerst Wunderbares in diesem Zu-
sammenpassen, wenn auch die wenigsten jemals darauf
aufmerksam werden, um sich darüber zu wundern. Die
Gewohnheit macht hier wie anderwärts, daß es ihnen
scheint, als ob es sich von selbst verstehe, daß die Körper
aufeinander einzuwirken vermögen, obwohl in Wahrheit
dies so wenig der Fall ist, daß das innere Wie des Wirkens
hier sogar für alle Zeit ein ebenso unenthüllbares Ge-
heimnis bleibt wie beim Einfluß, den Geist und Leib
aufeinander ausüben.
Also nicht selbstverständlich, vielmehr sehr auffallend
und merkwürdig ist auch diese Tatsache. Aber ebenso
ist klar, daß auch sie eine, scheinbar wenigstens, im
höchsten Maße teleologische ist. Denn in der Betätigung
der Kräfte besteht für die Körper wie für die anderen Dinge
vorzüglich ihre Vollkommenheit. Ohne sie wäre keine
Entwicklung, ohne sie wären wohl einzelne isolierte Kör-
per, aber keine Welt vorhanden.
186. Um aber das Auffallende sowohl, als auch das
Großartige dieser scheinbaren Teleologie mehr noch in
seiner Bedeutung zu würdigen, dürfen wir nicht bloß so
im allgemeinen auf das Zusammenstimmen passiver und
aktiver Fähigkeiten hinweisen, wir müssen auch auf die
große Vielheit der Kräfte achten, durch welche die ver-
schiedenen Körper miteinander in solche Wechselwirkung
treten. Nicht etwa bloß durch Druck und Stoß oder
durch die sog. Schwerkraft sind die Körper aufeinander
zu wirken fähig. Die verschiedensten physikalischen
Kräfte können Wechselbeziehungen zwischen ihnen her-
in der leblosen Natur 231
stellen. Und zu ihnen kommen noch die chemischen.
Verschiedene können sich „verbinden", d. h. durch Ein-
wirkung aufeinander sich gegenseitig umwandeln, so
zwar, daß aus ihrer Verschiedenheit ganz neue Arten von
Stoffen hervorgehen. In dieser wechselseitigen Umwand-
lung verschiedener Stoffe in einen neuen einheitlichen
Stoff scheint das innerste Aufeinanderberechnetsein sich
zu offenbaren.
Und alle diese verschiedenartigen physikalischen und
chemischen Prozesse zeigen nicht bloß eine gegenseitige
Einwirkung, sondern auch das Gesetz der Gleichheit der
Wirkung und Gegenwirkung erscheint überall gewahrt.
187. Die chemischen Prozesse, die wichtigsten unter
allen, sind auch die, welche am meisten die Züge einer
scheinbaren Teleologie erkennen lassen.
a) Nicht bloß geben sie, wie schon gesagt, am meisten
den Schein eines gänzlichen Aufeinanderberechnetseins
der verschiedenen Stoffe;
b) sie führen auch, da sie die tiefgreifendsten Revolu-
tionen sind, zu den großartigsten Entwicklungen.
c) Infolge ihrer wird in der Welt der ungeheuere Reich-
tum mannigfaltiger Arten von Körpern bei einer ganz
geringen Zahl von Urstoffen möglich.
d) Dies wird besonders dadurch erreicht, daß die
Elemente in mehr als einem Verhältnis sich verbinden
und die Verbindungen selbst wieder neue und kompli-
ziertere Verbindungen eingehen. Denn an jede Verbin-
dung in etwas veränderten Verhältnissen ist als Resultat
eine vollständig andere Art von Stoff geknüpft. Und
ebenso bewährt sich das Gesetz der vollständigen Umge-
staltung der Stoffe nach allen ihren Eigenschaften auch
bei den höheren, d. h. weniger elementaren Ordnungen
chemischer Verbindung.
e) Aber wenn die Elemente sich verbinden, und die
Verbindungen selbst wieder in höheren Verbindungen
sich vereinigen können, so vermögen sie dies doch nur
in wenigen Verhältnissen, und nicht ins Unendliche kann
232 Der Schein der Teleologie

sich Verbindung mit Verbindung komplizieren, sondern


auch hierin wird schnell eine Grenze erreicht.
Auch dies erscheint im höchsten Maße zweckmäßig.
Teleologisch erscheint es, daß die Stoffe sich in meh-
reren, teleologisch aber auch, daß sie sich nicht in sehr
vielen Verhältnissen verbinden. Teleologisch, daß sich
die ersten Verbindungen in Verbindungen der Verbin-
dungen fortsetzen, teleologisch aber auch, daß sich diese
Fortsetzung nicht zu einer allzulangen Kette ausspinnt.
Wäre das Letzte der Fall, d. h. ginge die Zunahme der
Komplikation ins Unendliche, so verlöre sich alsbald alle
Allgemeinheit, so daß es überhaupt keine Gleichartigkeit
mehr gäbe und dann aber auch keinerlei Ordnung mehr,
kein organisches Leben, keine wissenschaftliche Erfor-
schung der Natur - mit andern Worten: an Stelle der
Ordnung ein Chaos! (Es ist eigentlich ein beschämendes
Zeichen für die Kurzsichtigkeit des menschlichen Geistes,
daß diese Tatsache von der begrenzten Verbindungsmög-
lichkeit der Stoffe erst so spät entdeckt worden ist.
WHEWELLhat ganz recht, wenn er gelegentlich bemerkt,
daß man dies eigentlich von vornherein sich hätte sagen
müssen, da. sonst nicht zwei Körper gleicher Art mehr
zu finden wären 88 ).
f) Teleologisch erscheint aber auch der Einfluß der
physikalischen Bedingungen auf die chemischen Kräfte.
Mit ihnen ändert sich die chemische Verwandtschaft, wo-
durch Sonderung des Verbundenen und Wiederverbindung
des Gesonderten herbeigeführt wird. Zufolge ihrer allein
ist ein dauernder Kreislauf des Stoffes möglich, während
sonst baldiger Stillstand eintreten würde.
g) Feinere Züge von scheinbarer Teleologie endlich
zeigen sich bei genauerer Betrachtung in den schönen
Regelmäßigkeiten der Gesetze der multipeln Propor-
tionen und der chemischen Äquivalente.
Sie sind die vorzügliche Basis der Atomtheorie ge-
worden. Mag diese Theorie manchem noch nicht als voll-
kommen gesichert gelten, so sind doch jene Regelmäßig-
in der leblosen Ne.tur 233
keiten selbst unbestreitbare Tatsachen, und sie reihen
sich andern ähnlichen Tatsachen in der unorganischen
Natur an, bei welchen die atomistischen Erklärungen
versagen, wie z.B. in den Gesetzen der Wärmeäquiva-
lente und der Änderungen der Volumverhältnisse bei
der chemischen Mischung gasförmiger, fester und flüssiger
Körper. Überall zeigt sich, als sollte einer ästhetischen
Anforderung entsprochen werden, Mannigfaltigkeit und
höchste Ordnung und Harmonie.
188. Nur flüchtig habe ich diese letzten Andeutungen
gemacht, und kaum ist einem unter ihnen, der nicht als
Fachmann mit dem besprochenen Gegenstand schon von
vorherein vertraut ist, jedes Einzelne vollkommen ver-
ständlich geworden. Eine eingehendere Darlegung würde
eben zu einem ungleich längeren Verweilen nötigen. Und
ein solches scheint nicht geboten, da ja auch das Vorher-
betrachtete schon genugsam die scheinbare Teleologie in
der unorganischen Natur, die wir zeigen wollten, dartut.
Dennoch wollen wir noch eines Umstandes gedenken, der
nicht, weil er unbekannt, sondern eher weil er zu bekannt
ist, vielleicht am wenigsten leicht in seiner Zweckdien-
lichkeit beachtet wird.
Es ist das Zusammensein so vieler Körper im Raume.
Ohne es würde alle diese Mannigfaltigkeit von Kraft-
beziehungen in Ewigkeit zu keiner Betätigung und Ent-
wicklung führen. Denn was voneinander getrennt ist,
ist ja vollkommen isoliert, wie zeitlich so räumlich.
NEWTONSBemerkung: Keiner werde so ohne alles philo-
sophische Urteil sein, daß er dies nicht erkenne, verrät,
daß ihm diese Wahrheit wie eine von vornherein ein-
leuchtende galt; doch ist sie jedenfalls auch durch die
Erfahrung gesichert. Wohl denn! ist aber dieses Zu-
sammensein selbstverständlich? Keineswegs. Vielmehr
ist für den, der keinen ordnenden Verstand in der Welt
anerkennt, das Zusammensein auch nur zweier Körper
im Raume eine unendliche, ja unendlichmal unendliche
Unwahrscheinlichkeit. Man denke sich eine unendliche
234 Der Schein der Teleologie

Linie, auf der, unbekannt wo, zwei Körper sich befinden


sollen. Wer sie aneinandergrenzend vermutete, würde
unendlich Unwahrscheinliches annehmen. Potenziert
unendlich Unwahrscheinliches aber, da sie doch in einer
Fläche, ja in einem dreidimensionalen Raume sich be-
finden müssen 89 ).
Also, auch alle die andern scheinbar teleologischen
Bedingungen der unorganischen Welt vorausgesetzt, wür-
den noch immer alle diese Kräfte brach und tot daliegen,
wenn nicht der eine günstige unter unendlich mal unend-
lichmal unendlichen ungünstigen Fällen tatsächlich ver-
wirklicht wäre.
Auch hier also ohne Zweifel der Schein, als ob der
Umstand für die Ermöglichung der Tätigkeit und Ent-
wicklung berechnet sei.
189. Wir haben gesagt, auch die unorganische Welt zeige,
ähnlich wie die organische, in großartigster Weise einen
Schein von Teleologie. Und zwar sowohl an und für sich
betrachtet als wegen den Beziehungen zu den Organismen.
Das erste nachzuweisen war der Zweck, den wir in den
vorangegangenen Betrachtungen verfolgten. Und sie
allein würden genügen, um die ganze Natur als von einer
scheinbaren Teleologie durchdrungen zu erweisen. Aber
staunenswerter noch tritt die scheinbare Zweckmäßig-
keit in der unorganischen Welt hervor, wenn wir ihre
Beziehungen zur organischen betrachten.
Wir haben schon vorübergehend auch diese Seite ge-
streift. Und in der Tat haben alle die Züge scheinbarer
Teleologie, die wir eben beachtet, auch unter diesem Ge-
sichtspunkt Bedeutung. Aber noch anderes und Größeres
bleibt zu sagen.
Wenn es schon unsere Verwunderung erregte, daß die
verschiedenen Stoffe, welche die unorganische Welt zeigt,
gegenseitig aufeinanderwirkend sich in einen, soweit die
Erscheinungen gehen, neuen gleichteiligen Körper von
ganz anderen Kräften und Eigenschaften umzuwandeln
fähig sind, was man die chemischen Verbindungen nennt,
in der leblosen Natur 235
so ist es noch viel wunderbarer, daß unter ihnen sich
solche finden, welche unter Einwirkung organisierter Sub-
stanzen selbst in organische und organisierte Substanzen
verwandelt werden können.
Der Unterschied gegenüber den früheren Eigenschaften
und Leistungen ist ja noch weit großartiger; schon bei
der Pflanze und vollends bei animalischen Körpern.
Man denke nur an die Beteiligung bei den Phänomenen
der Empfindung, der Affekte, des Instinkts, der Phan-
tasie, des Gedächtnisses, selbst wenn wir diese nicht, wie
manche wollen, geradezu selbst als Funktionen eines Teils
des tierischen Organismus betrachten. Jedenfalls hängen
sie von gewissen Funktionen ab, die nur gewisse Organe
üben können, und diese Organe und ihre Kräfte sind
herausgebildet worden aus den Elementen und den Kräf-
ten, mit welchen diese ausgestattet waren.
Gewiß ist es wunderbar, daß es Elemente gibt, welche
einer solchen Umbildung fähig sind.
Und in der Tat sind es auch nicht alle. Vielmehr fin-
den die wenigsten in Organismen Verwendung. Von
diesen aber einige in allen. Wenn ein einziges von ihnen,
z.B. der Kohlenstoff oder Stickstoff oder Sauerstoff oder
der Wasserstoff fehlte, so wäre kein Organismus mög-
lich, und für die ganze wunderbare Teleologie fehlten die
Bedingungen ihrer Möglichkeit. Scheint hier nicht eine
Teleologie schon vor jener Teleologie zu bestehen, welche
keines der Elemente vermissen läßt, die die wunderbaren
Eigenschaften besitzen, vermöge deren sie, sich verwan-
delnd, zur Entstehung einer lebendigen Substanz bei-
tragen können?
In der Tat, wenn nicht bloß die Uhr, sondern auch
jedes ihrer Elemente, wie z.B. die vielgezahnten Räd-
chen, wegen ihrer Beziehung zu ihr Teleologie verrät,
so noch viel mehr die Elemente der Organismen mit den
vielen, meist uns unbekannten Eigenschaften ausge-
stattet, die gerade notwendig sind, damit jedes seinen
unentbehrlichen Beitrag zu den Organismen liefern könne.
236 Der Schein der Teleologie

Und die Natur bietet nicht bloß diese Elemente


sämtlich, sondern sie bietet sie auch in der geeigneten
Menge und in den entsprechenden Bedingungen. Eine
ungeheuere Menge von Stickstoff, Kohlenstoff, Sauer-
stoff, Wasserstoff u. a. im Verhältnis zu anderen, wie
etwa zum Gold. Wem dies nicht gefällt, der denke an
den lydischen König! In Wahrheit, böte die Natur sie
nicht im Verhältnis zu den andern in 110 großen Mengen,
so genügten sie nicht den Erfordernissen der organischen
Welt.
Und so wie die Menge sind auch andere Bedingungen
erforderlich. Vor allem ihre räumliche Vermengung.
Was nützt der Stickstoff, wenn er zu einem Himmels-
körper zusammengeballt wäre? Dazu gesellen sich noch
die Bedingungen der Temperatur, des Lichtes usf., ohne
welche jene chemischen Verbindungen und Zersetzungen,
durch die sie Ursachen der Organismen werden, unmög-
lich wären. In allen diesen Beziehungen gibt die unorga-
nische Natur die Vorbereitung und Disposition zur Ent-
stehung des organischen Lebens.
Und so scheint sie denn in der Tat gewissermaßen die
Samen und Embryonen des Lebendigen in sich zu tragen
oder, nach einem schönen Worte ScHELLINGs, wie eine
schlafende Tier- und Pflanzenwelt, die durch die Ein-
wirkung der bereits erwachten Organismen neu zu wahrer
Lebenstätigkeit geweckt werden muß.
190. Gewiß eine scheinbar wunderbare Teleologie!
Und doch fürchte ich, durch das Unpassende, das jedem
Vergleich anhaftet, die Phänomene in mancher Beziehung
verdunkelt zu haben. Das Verhältnis des Unorganischen
zum Organischen ist nur nach einer Seite ähnlich dem
des Schlafenden zum Erwachten. Nicht bloß passiv,
sondern auch aktiv erweist sich jenes. ,,Wenn das
Weizenkömlein nicht stirbt, bleibt es, wenn es aber
stirbt, bringt es hundertfältige Frucht", heißt es in der
Heiligen Schrift. Die unorganische Natur, Erde, Wasser
usw. bearbeitet ebenso den Samen wie umgekehrt. So
in der leblosen Natur 237
sieht man recht eigentlich, in wie hohem Maße es eine
Wahrheit einschließt, daß nicht bloß das Samenkorn,
sondern auch die unorganische Welt eine Art Fötus ist.
Und nicht bloß zum Entstehen, auch zur fortwährenden
Erhaltung des Lebens liefert das Leblose den Stoff und
die Bedingungen. Der Organismus gleicht einem in steter
Erneuerung sich erhaltenden Strudel im Strome der
unorganischen Welt. Wer das recht betrachtet, ersieht
erst die ganze innige Zusammengehörigkeit der Gebiete.
Und nicht bloß zum Entstehen und Erhalten ihres
Seins, sondern auch zur Übung der Funktionen der Lebe-
wesen dient die unorganische Welt. Wenn sie dort von
den Organismen geweckt wird, so erscheint sie hier
weckend. Nicht, wie schon bemerkt, bloß zum vege-
tativen Leben, auch zum sensitiven und intellektiven.
Das Licht, der Schall usw. wecken ja das Bewußtsein
und das ganze sensitive Leben, das wiederum das intel-
lektuelle weckt.
Wegen dieser Beziehung stellt sich das Unorganische
selbst gewissermaßen als ein ergänzendes Glied mit zum
Organischen gehörig dar, und die ganze Natur, die beide
umfaßt, sozusagen als ein größerer Organismus. Und in
diesem stehen dann wieder diejenigen Teile, die man
speziell und im gewöhnlichen Sprachgebrauch Organis-
men nennt, in einer Art organischer Beziehung zueinander;
wie denn z.B. Tiere und Menschen ihre Nahrung in
anderen organischen Wesen finden.
191. Noch in anderer und oft sehr merkwürdiger Weise
zeigt sich ein solches wechselseitiges Aufeinanderange-
wiesensein. Man fand in England, daß eine gewisse Art
von rotem Klee, der dort angebaut wird, ganz besonders
gut in der Umgebung solcher Orte gedieh, wo viele
Katzen gehalten wurden. Man ging dem Zusammenhang
nach und fand folgendes: Hummeln sind es, welche diese
Blüten besuchen und, den Blütenstaub verschleppend,
die Befruchtung fördern. Diese Hummeln nun haben in
den Feldmäusen grimmige Feinde, die ihrerseits wieder
238 Der Schein der Teleologie

unter der Polizei der Katzen stehen. So scheinen in der


Natur mittelbare teleologische Beziehungen selbst das
Fernstliegende zu verknüpfen; und es ist mit Sicher-
heit zu sagen, daß vieles von solchen Zusammenhängen
uns noch ganz unbekannt ist.
Wir fanden uns so an das Wort, des ARISTOTELES er-
innert, daß alles zu allem wie in irgendwelcher Beziehung
der Wirksamkeit*) so auch in irgendwelcher teleolo-
gischer Beziehung stehe.
Es scheint, als ob alles organisch ineinandergriffe,
nicht bloß die Teile eines im engeren Sinne sog. Organis-
mus; auch Unorganisches und Unorganisches, Unorga-
nisches und Organisches, Organisches und anderes Orga-
nische. Wenn man dem Kreislauf des Wassers oder dem
Kreislauf der Luft folgt, die massenhaft absorbiert,
dennoch unvermindert und mit unverändertem Ver-
hältnis der Mengung sich erhalten, so hat man eine
Ahnung von dem, was wir finden würden, wenn es uns
vergönnt wäre, das ganze Weben und Treiben der Natur
zu durchschauen und alle teleologischen Beziehungen in
ihr zu erkennen.
192. Doch da dies uns versagt ist, begnügen wir uns
mit dem, was wir deutlich nachzuweisen vermögen und,
wie ich glaube, trotz der Beschränkung, welche die Zeit
uns auferlegt, auch deutlich nachgewiesen haben. Und die-
ses ist, daß, wie wir im Anfang sagten, in der Welt und
namentlich auf der uns am meisten bekannten Erde
eine Menge von Gegenständen sich finden, die ganz und
gar den Charakter haben, als seien sie in ihrem Sein und
Wirken zu einem Zweck hingeordnet, den kein mensch-
licher Verstand und Wille und auch kein tierisches Be-
gehren ihnen gesetzt haben kann.
Es ist, als ob eine solche Zweckordnung, und zwar
auf den verschiedensten Ge bieten bestünde. Dürfen
wir daraus aber auch den Schluß ziehen, daß wirklich

*) Was schon wegen der Anziehung offenbar ist.


in der leblosen Natur 239
eine Zweckordnung bestehe 1 Das ist die wichtige Frage,
die uns am Herzen liegt. Aber so sehr es uns nach einer
Antwort verlangen mag, ich darf die Untersuchung dar-
über noch gar nicht beginnen, denn, indem ich sie auf-
werfe, ist es mir, als würde mir von einer ganzen Schar
nicht verächtlicher Männer Halt geboten, indem sie selbst
gegen die bescheidene Behauptung, daß auch nur der
Schein einer solchen Zweckordnung bestehe, noch immer
ein Veto einlegen. Um die Berechtigung dieses Einspruchs
zu beurteilen, müssen wir unsere Betrachtungen über
den Schein der Teleologie noch ergänzen.

II. Einwände gegen den Schein der T e1eofogie in der


Natur
A.. Gegen den Schein det' T e1eofogie nbet'haupt
193. Sie werden, und auch mir geht es so, nicht recht
begreifen können, wie man nach so vielen Tatsachen, wie
wir sie uns vorgeführt, noch leugnen kann, daß wenigstens
die Welt so aussieht, als seien in ihr Zwecke, die nicht
von Menschen und Tieren, sondern von einem anderen
Verstand gesetzt worden. Aber dennoch darf man kei-
nem Opponenten, zumal in einer wissenschaftlichen Frage,
das Wort entziehen.
Hören wir also die Einwände.
194. I. ,,Wenn ihr sagtet, es scheine, als sei Zweck in
der Natur, so ist dies nicht richtig, oder doch richtig nur
in sehr beschränktem und wenig besagendem Sinne. Auf
den ersten Blick wohl, das geben wir zu, da mag es man-
chem, ja uns allen so scheinen, nicht aber bei näherer
Überlegung."
Aber haben wir die Tatsachen nicht näher überlegt,
und war es nicht gerade die nähere Überlegung, die uns
die scheinbare Teleologie enthüllte 1
,,Dann habt ihr sie wenigstens nicht vernünftig über-
legt, sonst wäre euch der Schein wieder entschwunden.
Bei einigem nämlich, das geben wir zu, mag es allerdings
240 Einwände gegen den Schein

scheinen, als habe es einen Zweck; aber nicht bei allem,


oder wenn bei allem - denn in der Tat wolltet ihr ja
auf den sämtlichen Gebieten scheinbare Zweckmäßig-
keiten aufweisen-, doch nicht in jeder Beziehung.
In vielen, ja in den meisten, nicht. Und darum verliert
sich auch in den Beziehungen, in welchen, wenn man sie
~soliert betrachtete, ein Zweck sich zu zeigen schien,
dieser Schein von Zweckmäßigkeit wieder, sobald man
auf die Gesamtheit schaut."
„Man sage mir, wozu die Wanzen und Läuse oder gar
die Eingeweidewürmer (cf. LITTRE) in der Welt sind,
dann will ich auch die Erklärung für die Pferde und
Ochsen annehmen; man sage mir, wozu nicht weniger
Gold beim Rothschild und nicht mehr in der österreichi-
schen oder päpstlichen Staatskasse liegt, dann will ich
auch die Erklärung, warum nicht mehr und nicht weniger
Sauerstoff oder Stickstoff in der Luft ist, annehmen."
„Man sage mir, wozu dieser einzelne Stein am Weg
liegt und gerade in der und nicht in der umgekehrten
Stellung, dann will ich auch das respektieren, was ihr
über den Ort der Erde und die Stellung ihrer Achse sagt."
„Man sage mir, warum das Meerwasser salzig ist, dann
will ich auch die Teleologie seiner anderen Eigenschaften
bewundern. Offenbar wäre dem Seefahrer mehr mit
süßem Wasser gedient."
„Man sage mir, wozu, um auf die Organismen selbst
zu schauen, z. B. die Milz ist, die wir bei jungen Füchsen
ohne Nachteil ausschneiden, dann will ich auch glauben,
was ihr vom scheinbaren Zweck des Auges sagt usf."
,,Bis dahin kann ich aber nicht bloß nicht zugeben,
daß irgendein Zweck in der Welt verwirklicht sei, son-
dern auch nicht einmal, daß er verwirklicht scheine.
Denn warum sollte unter vielen Würfen nicht manch-
mal ein Pasch sich finden und unter unzähligen, ~ie sie
gerade kommen, in eine Reihe gelegten Buchstaben aller
Art nicht einmal ein Wort aus irgendeiner menschlichen
Sprache oder auch geradezu ein Wort unserer Mutter-
der Teleologie überhaupt 241
sprache und ein uns besonders liebes Wort sich zusammen-
setzen? Kein vernünftiger Mensch wird sagen, wenn er
auf die Gesamtheit schaut, daß hier ein besonderes Ge-
setz des Zweckes auch nur zu walten scheine."
„Das also unser Einwand und Protest oder vielmehr er
ist es erst zum kleineren Teile."
196. II. ,,Damit man sehe, wie sehr er berechtigt ist,
müssen wir die eben gegebene Erörterung noch durch
eine zweite Betrachtung ergänzen."
,,Wenn man bei einem großen Teil der Fälle der Natur-
phänomene, welche auf den ersten Blick eine Teleologie
zu verraten scheinen, und gerade bei solchen, die zu den
bedeutendsten gehören, nachgewiesen hätte, daß in der
Tat keine Zweckordnung besteht, würde man dann auf
die übrigen noch ein Gewicht legen, ja würde man auch
nur behaupten können, daß jetzt noch jener anfängliche
Schein von Teleologie bestehe 1"
,,Offenbar nicht! Nun wohlan! so lasse man die Be-
hauptung des Scheins von Zweckmäßigkeiten fahren,
denn in der Tat ist jener Nachweis erbracht."
„So fehlt es vor allem nicht an Gegenbeispielen, deren
Gewicht die so vielgepriesene scheinbare Teleologie der
Glieder der Organismen verschwinden läßt. Man denke
nur an die sog. rudimentären Glieder, die Flügel des
Vogels Strauß, die falschen Staubfäden, die Augen der
blinden Eidechse (mit allen Teilen und den dazu-
gehörigen Nerven), die verkümmerte Lunge der Vögel,
die Zähne des Walfisches, die nicht durchbrechen usw.
Oder, um auch dem edelsten aller Organismen, dem
menschlichen, Beispiele zu entnehmen: die Ohrmus-
keln des Menschen mit den dazugehörigen Nerven
und allem Apparat, die Brustwarzen des Mannes und
ähnlich auch wiederum beim Weibe Organe oder doch
Andeutungen solcher, die nur für das Leben des männ-
lichen Organismus von Bedeutung sind."
,,In allen diesen Fällen haben wir dieselben Einrich-
tungen, die ihr so teleologisch findet und wo ihr saget,
242 Einwände gegen den Schein

den Schein wunderbarster Zweckmäßigkeit könne nur


der Blinde verkennen: Muskeln und Nerven zur Be-
wegung, Zahn, Auge, embryonale Anlage zur Ent-
wicklung usw. - und dennoch liegt es auf der Hand,
daß der angebliche Zweck nicht besteht."
196. ,,Eine der bestechendsten und am meisten zur
Anerkennung eines Scheins von Teleologie verführenden
Tatsachen war offenbar die des Instinktes."
,,Er ist es, dem wir z. B., wo er in der Form des Zeu-
gungstriebes auftritt, die Forterhaltung aller Gattungen
und Arten der animalischen Wesen verdanken. Er tritt
auf zur Zeit der Reüe der Kraft, und ist so, wenn
irgend etwas, im ersten Augenblick geeignet, den Schein
einer Teleologie zu erwecken."
„Allein man betrachte - eines für tausend-folgendes
Gegenstück dieser scheinbaren Teleologie. ,Der Hund,
der dir die Hand leckt, beschädigt dich durch seinen
Speichel nicht; allein durch einen physiologisch-chemi-
schen Prozeß, der bis zur Stunde dem Scharfsinn mensch-
licher Wissenschaft ein Rätsel ist, fängt in diesem Spei-
chel ein gütiges Prinzip sich zu entwickeln an, welches
dem Tier und, allen denen, welchen seine Bisse es ein-
impfen werden, den Tod bringen wird. Und was ge-
schieht 1 Dieser neue Zustand, in welchem es mit einer
solchen Kraft ausgestattet ist, flößt ihm die verderb-
liche Begierde zu beißen ein, so zwar, daß die Ursache,
welche das Gift bereitet hat, zu gleicher Zeit in jeder Be-
ziehung dafür gesorgt hat, daß es nicht ohne Schaden
gebracht zu haben sich verliere, und wenn ihm der eine
Organismus erlegen ist, ein anderer es forterhalte. Wie
nun, was sagt man zu dieser sonderbaren Zweckursache 1'"
(LITTRE, Vorrede zu seiner Ausgabe von COMTE.)
,,Es wird wohl schwerlich einer hier den Schein der Zweck-
mäßigkeit und den Instinkt eines solchen Fortpflanzungs-
triebes bewundern wollen. Dann aber möge es ihm auch klar
werden, daß dieser auch anderwärts nicht zu bewundern
ist; denn das Phänomen ist hier und dort ganz analog."
übermenschlicher Teleologie 243

„Das also das doppelte Argument, welches dazu dienen


mag, denen, die andere blind nennen, weil sie keinen
Schein von Teleologie anerkennen wollen, selbst die
Augen zu öffnen."
„Es ist nicht richtig, sagen wir, daß ein Schein jener
Teleologie besteht, den ihr zur Grundlage eures Gottes-
beweises machen könntet, außer etwa für den, der ganz
oberflächlich die Dinge betrachtet. Dem Nachdenkenden
zerfließt er sofort aus den angegebenen Gründen."
„I. Weil bei vielem, ja bei dem meisten uns kein Schein
von Zweck entgegentritt oder doch nur in einigen wenigen
Beziehungen sich zeigt. Und hiermit löst sich, wie gezeigt,
der anfängliche Schein von Teleologie in einzelnen Punk-
ten von selber auf."
„II. Weil bei einem großen Teil der Fälle, in welchen
man am meisten geneigt sein möchte, eine scheinbare
Zweckmäßigkeit zu bewundern, nachweisbar kein Zweck
besteht. Hiermit löst sich natürlich auch für die übrigen
die erste Wahrscheinlichkeit einer Zweckordnung wie-
der auf."
B. Einwände gegen den Schein einer
abermenschHchen T deo1ogie
197. Mancher von Ihnen mag bei diesem Angriff um
die Errungenschaften unserer bisher angestellten Unter-
suchungen bange geworden sein. Und doch haben wir
noch nicht die ganze Macht des Widerstandes gegen uns
sich erheben sehen.
Wir haben nicht bloß gesagt, daß eine Zweckordnung
sich zu zeigen, sondern auch, daß diese Zweckordnung
alle Leistungen menschlichen Scharfsinns weit zu über-
bieten scheine. Das ist ein Punkt, der den Gegnern noch
besondere Blößen zu bieten und auf das vollständigste
widerlegt scheint.
,,Zugegeben sogar, daß ein gewisser Schein von Zweck-
mäßigkeit in den Werken der Natur sich finde, so doch
nicht ein solcher, welcher einen mehr als menschlichen
244 Einwände gegen den Schein

Scharfsinn, sondern einen viel niederen Grad von In-


telligenz vermuten lassen könnte. ,Mit dem Maßstabe
menschlichen Verstandes gemessen', sagt z. B. .ALBERT
LANGE in seiner Geschichte des Materialismus, ist das
,wesentlichste Mittel', welches die Natur anwendet, ,ein
solches, das nur dem blindesten Zufall gleichgestellt wer-
den kann'."
1. An einem Beispiel, das vor andern wegen seiner
Zweckmäßigkeit angestaunt zu werden pflegt und bei
welchem auch wir eingehend verweilten, nämlich an der
Erhaltung der Arten durch die stete Erzeugung neuer
und ähnlicher Organismen, sucht A. LANGE dies dar-
zutun. ,,Wenn ein Mensch," sagt er, ,,um einen Hasen
zu schießen, Millionen Gewehrläufe auf einer großen
Heide nach allen beliebigen Richtungen abfeuerte; wenn
er, um in ein verschlossenes Zimmer zu kommen, sich
10000 beliebige Schlüssel kaufte und alle versuchte; wenn
er, um ein Haus zu haben, eine Stadt baute und die
überflüssigen Häuser dem Wind und Wetter überließe;
so würde wohl niemand dergleichen zweckmäßig nennen,
und noch viel weniger würde man irgendeine höhere
Weisheit, verborgene Gründe und überlegene Klugheit
hinter dem Verfahren vermuten. Wohlan, so höre man
denn auch auf in der Natur von solcher zu sprechen!"
„Wer aber in den neuen Naturwissenschaften Kenntnis
nehmen will von den Gesetzen der Erhaltung und Fort-
pflanzung der Arten, der wird allenthalben eine unge-
heuere Vergeudung von Lebenskeimen finden."
„Der Untergang der Lebenskeime ist die Regel; die
,naturgemäße' Entwicklung ist ein Spezialfall unter Tau-
senden, es ist die Ausnahme, und diese Ausnahme schafft
jene Natur, deren zweckmäßige Selbsterhaltung der
Teleologe kurzsichtig bewundert."
,,Ihr Werden ist sonach ,ein Zufall'; ein Zufall natür-
lich nicht in dem Sinne, als ob dabei ,die allgemeinen
Naturgesetze' nicht maßgebend wären; wohl aber und
im strengsten Sinne des Wortes ein Zufall, wenn wir
übermenschlicher Teleologie 245
diesen Ausdruck im Gegensatz zu den Folgen einer
menschenähnlich berechnenden Intelligenz betrachten."
.,Immerhin können wir bei aller Zufälligkeit im ein-
zelnen im großen ganzen eine gewisse Notwendigkeit des
Gelingens nicht verkennen. (Wie wenn ein schlechter
Schütze oder gar eine ins Blaue abgefeuerte Kugel das
Zentrum der Scheibe träfe.) Unter den zahllosen Fällen
müssen sich auch die günstigen finden, denn sie sind
wirklich da, und alles Wirkliche ist durch die ewigen Ge-
setze des Universums hervorgerufen. Somit wird durch
das Gesagte nicht sowohl jede Teleologie beseitigt, als
vielmehr ein Einblick in das objektive Wesen der Zweck-
mäßigkeit der Erscheinungswelt gewonnen. Wir sehen
deutlich, daß diese Zweckmäßigkeit im einzelnen nicht
die menschliche ist, ja, daß sie, auch soweit wir die
Mittel bereits erkannt haben, nicht etwa durch höhere
Weisheit hergestellt wird, sondern durch Mittel, die
ihrem logischen Gehalte nach entschieden und klar die
niedrigsten sind, die wir kennen."
,,Das also ist, was etwa von einem Schein der Teleo-
logie hier bleibt für den, welcher den Zusammenhang der
Erscheinungen kennt. Mit einem solchen Minimum ist
aber für den, der das Dasein Gottes beweisen will, nicht
wohl mehr etwas anzufangen. Vielmehr scheint das end-
lose Material, welches allein die letzten Dezennien der
exakten Forschung ans Licht gefördert haben, ein Stück
der vielgeschmähten Weltanschauung des EMPED0KLES
bestätigt zu haben, der aus einem Ozean von Geburt und
Untergang unzweckmäßiger Formen allmählich die durch
den Zufall zweckmäßiger gebildeten und erhaltungs-
fähigen Gestaltungen hervorgehen ließ."
„So ergibt sich denn, daß die Teleologie ins Reich
der Dichtungen gehöre, aus der Naturforschung aber und
aus der kritischen Naturphilosophie einfach und definitiv
zurückzuweisen ist."
198. Was LANGE hier ausspricht, ist nicht eine ihm
einzig eigene Ansicht, vielmehr haben mit ihm und vor
246 Einwände gegen den Schein

ihm viele Forscher in derselben Weise die erwähnten Tat-


sachen den Teleologen entgegengehalten. Und von diesen
haben einige auch noch in anderer Art zu zeigen gesucht,
wie weit die scheinbare Zweckmäßigkeit, die man in den
Werken der Natur zu bewundern pflege, hinter den über-
schwenglichen Lobeserhebungen, die man ihnen spende,
zurückblieben.
II. ,,Wenn irgend etwas geeignet ist, den Schein hoher
Zweckmäßigkeit zu erregen, so ohne Frage das Auge,
und dies ist daher auch das beliebteste Thema der Teleo-
logen. Vom Nerven bis zur Wimper. Aber auch das
Auge, und zwar (von allen Mißbildungen im einzelnen
abgesehen) das normale Auge, zeigt so viel Unvollkom-
menes an sich, daß es einem übermenschlich verstän-
digen Wesen wenig Ehre machen würde, und daß es
lächerlich wäre, das scheinbare Wirken eines unend-
lichen Verstandes, wie doch die Teleologen ihn zu er-
weisen suchen, darin finden wollen.''
„Es ist unvollkommen, insofern es sich nicht für jede
Entfernung einstellen kann. Die Einrichtung für die
Akkommodation ist unvollkommen. Ein geringer Raum
liegt zwischen dem Anfangs- und Endpunkt der Sphäre
völlig deutlichen Sehens im Verhältnis zu dem, welchen
es durchdringen und beherrschen muß."
„Es ist ferner unvollkommen, insofern es nicht ganz
achromatisch ist. Daher bilden sich Farbensäume um
die Bilder weiß leuchtender Gegenstände. FRAUENHOFER
hat durch Verwendung von Chrom- und Flintglas Instru-
mente geschaffen, die dem abhelfen. Unser Auge ent-
behrt solcher Vorkehrungen."
„Und doch ist gerade das weiße Sonnenlicht, in dem
es hauptsächlich schaut, und ebenso die Mehrzahl der
sog. Farben gemischtes Licht, bei dem eben die farbigen
Säume entstehen."
„Die Unvollkommenheit des Auges zeigt sich auch
darin, daß das Auge an verschiedenen Stellen mehr oder
minder deutlich sieht. Der sog. gelbe Fleck ist die Stelle
übermenschlicher Teleologie 247
des deutlichsten Sehens. Alle diese Fehler lassen in dem
Auge ein so unvollkommen gearbeitetes Instrument er-
kennen, daß VOGTsagt, wenn ein Optiker ihm ein solches
lieferte, so würde er es ihm vor die Füße werfen. Wie
sieht es da aus mit dem Schein des unendlich überlegenen
Verstandes, der die Gesetze der Natur besser kennt als
wir? Schon jetzt ist er, wenigstens was die Kenntnis
der Optik angeht, von uns überflügelt. Und doch ist
das Auge noch am meisten der Stolz des Teleologen. Wie-
viel weniger ergeben andere Glieder Argumente für eine
Weisheit, wie er sie beweisen möchte."
199. ,,Aber, was mühen wir uns und suchen in den
Tiefen der Wissenschaft Argumente gegen den Schein
einer solchen Teleologie, wie sie dem Walten eines gött-
lichen, eines unendlichen und allmächtigen Verstandes
entspräche? Liegen doch die schlagendsten Wider-
legungen für jedem klar zutage."
III. ,,Die Zwecke, die ein solcher sich setzte, müßte
in keinem Falle etwas zu vereiteln imstande sein. Nun
gut! Daß dies von den sog. Zwecken, welche der Natur
gesetzt sein sollen, nicht gesagt werden kann, liegt am
Tage. Wer weiß nicht, daß gar oft Blüten vom Sturm
oder Frost zerstört werden, daß unreife Früchte abfallen,
daß ein Blitzstrahl den ganzen Baum mit seinem Blüten-
flor vernichtet und die Genußsucht der Menschen Rosen-
sträucher plündert, auch wenn er nichts von den Millionen
fehlgeschlagener Versuche weiß, von denen wir zuvor
hörten, zu welchen nur ein gelingender sich gesellt?
Wer weiß nicht dasselbe von den Eiern der Tiere und
von dem Fötus im Menschenleib, der oft mit dem mütter-
lichen Organismus vor jeder Betätigung der, wie man doch
sagt, zur Tätigkeit bestimmten Organe zugrunde geht?"
,,In allen diesen Fällen wird der sog. Zweck verfehlt.
Ferner, wer kennt nicht etwas von den vielen Fällen
von Verkrüppelungen und Krankheiten aller Art, die die
Schönheit entstellen und den Gebrauch der Glieder un-
möglich machen 1"
248 Einwände gegen den Schein

,,Wer weiß nichts von allem dem Schmerz und Elend,


das in der Welt ist, von der großen Schlechtigkeit der
Menschen, die doch für die Liebe des Guten bestimmt
sein sollen 1 Wer weiß nichts von den Erfolgen der Bö-
sen, von den vielen Versuchungen, die zum Schlechten
führen, und von der Weise, wie es sich zum Laster 11,usbil-
det 1 Es ist eine solche sittliche Mißgeburt in der Tat
etwas so Seltenes nicht oder wenigstens lange nicht so
selten wie die Verwirklichung des sittlichen Ideals. Kann
man doch sagen, daß selbst der Tugendhafte in vielen
Fällen sich schwach zeige und von seinem wahren Zweck
abfalle. ,Der Gerechte fällt siebenmal im Tage.' "
,,So ist alles voll Unordnung und Zweckwidrigkeit,
d. h. Verletzungen der sog. Zwecke im kleinen und im
großen, im Leben des einzelnen wie in der Geschichte,
die, während sie nach den Teleologen die sukzessive Ent-
faltung höherer und höherer Vollkommenheit sein sollte,
tatsächlich eine fortlaufende Kette der blutigsten Greuel
und fluchwürdigsten Verbrecher ist."
„Blicken wir aufs Altertum. Selbst die Juden und
Griechen und Römer, auf denen noch am meisten mit
einer gewissen Bewunderung das Auge des Geschichts-
forschers verweilen könnte, was zeigt ihre Geschichte 1
Die Juden haben ihre heiligen Bücher, die selbst ein
fortlaufendes Zeugnis gegen sie sind. Bei den Griechen
Sklaverei und Sittenlosigkeit, Päderastie, lügnerische
Diplomatie, im Inneren kein Halt und nach außen die
bekannte griechische Treue. Auch ihre intellektuellen
Verirrungen waren groß. Die Religion war selbst zur Zeit
ihrer politischen Blüte polytheistischer Aberglauben, und
nach dem Zerfall dieses Polytheismus zerfiel auch das
bißchen sittliche Kultur und mit ihr die Kunst, die ja
vorwiegend in seinem Dienste erblüht war. Und die
Römer! Von ihnen haben wir das ,Recht' übernommen,
aber ihre eigene Geschichte war eine Kette ungerechtester
Vergewaltigung und treuloser Perfidie. Da der skep-
tische Philosoph ARKESILAOS aus Griechenland nach
übermenschlicher Teleologie 249
Rom gekommen war, hielt er an zwei aufeinanderfolgen-
den Tagen Vorträge über die Gerechtigkeit. Am ersten
sprach er für, am zweiten gegen sie und dies mit Argu-
menten, die gar sehr geeignet waren, auf seine Zuhörer
Eindruck zu machen. Er zeigte ihnen nämlich, daß vom
Standpunkte der Gerechtigkeit dem römischen Staate
nichts übrigbliebe, als alles im Laufe der Jahrhunderte
Annektierte wieder herauszugeben."
,,Von der neueren Zeit aber sei lieber geschwiegen.
Weder im Innern noch nach außen hin haben sich die
Staaten ans Sittengesetz gehalten."
,,Wer wagt da noch zu behaupten, die Zwecke, die,
wi.e man sagt, in der Natur angestrebt würden, würden
nie verfehlt 1 Wer sieht nicht, daß vielmehr das Gegenteil
das fast allgemeine Ergebnis ist? Und daß der göttliche
Verstand sich am alleröftesten verrechnet haben müßte 1"
„So kann denn kein Schein der Teleologie, welcher auf
einen übermenschlichen, verständigen, unendlich voll-
kommenen Ordner gedeutet werden könnte, zugegeben
werden."
200. IV. ,,Auch noch von einer andern Seite zeigt sich
dasselbe. Das unendlich Vollkommene müßte auch sittlich
vollkommen gedacht werden. Auch nicht ein Schein
einer überlegenen Güte des Willens verrät sich im Welt-
regiment. Dies wird vollends klar, wenn die Überlegen-
heit des Verstandes gerettet werden soll; denn wenn
alles, so vvie es geschieht, von ihm geplant und gewollt
sein soll, müßte er tausendfach etwas anderes als das
Gute angestrebt haben. Ja, die Unordnung selbst müßte
die ihm vor allen andern beliebende Ordnung sein. Das
vernünftige Wesen, auf dessen Wirken manche den
Schein von Teleologie zurückführen wollen, müßte nicht
bloß intellektuell, sondern auch moralisch tief unter dem
Niveau stehen, zu welchem sich die besseren unter den
Menschen erheben."
„Millionen", sagt LANGE, ,,schwanken zwischen Leben
und Tod, damit einzelne Individuen sich entfalten. Die
250 Gegen den Schein übermenschlicher Teleologie

menschliche Vernunft kennt kein anderes Ideal als die


möglichste Erhaltung und Vervollkommnung des Lebens,
welches einmal begonnen hat, verbunden mit der Ein-
schränkung von Geburt und Tod. Der Natur sind üppige
Zeugungen und schmerzvoller Untergang nur zwei ent-
gegengesetzt wirkende Kräfte, die ihr Gleichgewicht
suchen. . . Das Mitleid, die schönste Blüte der irdi-
schen Organismen, bricht nur auf vereinzelten Punkten
hervor und ist selbst für das Leben der Menschheit mehr
ein Ideal als eine der gewöhnlichen Triebfedern."
V. ,,Man spricht von Harmonie, in der alles stehe. Man
sagt, daß es in der Welt scheine, als ob alles für alles
teleologisch berechnet sei. Ist nicht das gerade Gegenteil
die Wahrheit1 - Nicht Einigkeit und Harmonie, Wider-
spruch und Disharmonie finden wir überall. Kampf gegen
die sog. Mitgeschöpfe ist die allgemeine Losung. Tier
kämpft mit Tier, Tier mit Pflanze und der Mensch mit
beiden, und so kämpfen sie auch mit dem Unorganischen.
Sie befeinden und zerstören sich gegenseitig. Und der
Kampf ist notwendig, dem sog. Berufe entsprechend.
Alles ist zum Haß geboren. Ihr saget, alles sei für alles.
Aber nein! Alles gegen alles. Die Welt, weit entfernt,
die bestmöglichste zu sein, wie manche Teleologen und
Theisten in blindem Enthusiasmus erklärten, ist viel-
mehr die schlechteste von allen möglichen. Der Krieg,
nicht der Friede ist in ihr der Vater des Lebens; natür-
lich des unglücklichsten. Entweder mißlingt das Werk
oder es gelingt mit schlechten Mitteln. In jedem Falle
wird das Gegenteil des Guten verwirklicht, man müßte
denn der Ansicht sein, daß der Zweck die Mittel heiligen
könne. Und hiernach sollte noch weiter der Schein eines
gütigen und weisen Verstandes bestehen 1 Nein! Eher
könnte man an ein manichäisches böses Prinzip denken.
Dem Vernünftigen aber erscheint es als Zufall, der, da
viel mehr scheinbar unteleologische Bildungen als teleo-
logische möglich sind, im ganzen ein solches überwiegend
trauriges Gemälde hervorbringen muß."
Lösung der Einwände 251
„Wenn aber dennoch manche meinen, ein Schein von
Zweckmäßigkeit und von dem Walten eines gütigen Ver-
standes bliebe, so sind die Vernünftigeren unter ihnen
noch die, welche ihn für sehr beschränkt halten (,extre-
mely limited' Mill). Er wird, wie so gewöhnlich die Guten
in der Welt, ein schwächliches Prinzip sein; und ein an-
deres und stärkeres böses Prinzip müßte ihm wohl gegen-
übergestellt werden, dem Ormuzd ein Ahriman, und ein
solcher, von dem er fast so gut wie vollständig über-
wunden wäre."
Dies das Resultat. Es scheint, wir müssen uns zum
Pessimismus bekehren, obwohl wir zuerst einen Auf-
flug zu einer idealeren Weltanschauung genommen
hatten 89 ").

III. Lösung der Einwände gegen den Schein der


Teleologie
A. Gegen den Schein der Te1eofogie überhaupt
201. Der Angriff war ein doppelter. Der eine war
gegen den Schein einer Teleologie überhaupt; der
andere zunächst gegen den einer übermenschlich er-
habenen Teleologie gerichtet, wie wir ihn in der Natur
behauptet hatten. Unter intellektuellem wie ethischem
Gesichtspunkt wurde die unendliche Erhabenheit be-
kämpft. Zuletzt war dann auch hier der Erfolg derselbe.
I. Prüfen wir zuerst, was an erster Stelle behauptet
wurde 1 Kein Schein von Teleologie sollte trotz alledem,
was wir auf den verschiedensten Gebieten aufgezeigt
hatten, bestehen 1 Und warum nicht 1 Vor allem, wurde
gesagt, darum nicht, weil wir von dem meisten, ja von
allem in den- meisten Beziehungen keinen Zweck anzu-
geben wissen.
202. Dieses ist eine Tatsache, die oft als eine Wider-
legung des teleologischen Arguments vorgebracht wird,
aber gewöhnlich in einer so plumpen Weise, die kaum
eine Entgegnung verdient. ,,Von vielem wissen wir in
252 Lösung der Einwände gegen den Schein

vielen Beziehungen einen Zweck nicht anzugeben, also


hat in Wirklichkeit nichts in irgendeiner Beziehung einen
Zweck" - das ist ein Schluß, der nach ganz absonder-
lichen syllogistischen Regeln gebildet scheint.
1. Könnte man höchstens schließen, also hat vieles
keinen Zweck.
2. Auch dies nur unter Voraussetzung eines Wissens-
maßes, das uns sehr begreiflicherweise nicht zukommt.
Auch die wirkende Ursache ist uns ja bei gar vielem un-
bekannt, die doch dem Zweck gegenüber die nähere ist.
In der Weise also, wie er allerdings oft gemacht wird,
ist der Einwand ohne Bedeutung. Das kommt mir gerade-
so vor, als würde ein Angeklagter den drei Zeugen, die
ihn auf frischer Tat ertappt haben, zu seiner Entlastung
neun andere gegenüberstellen, die ihn nicht ertappt haben.
(Wenn ScHOPENHAUER vom Teleologen verlangt, er solle
ihm den Grund angeben, warum das Meerwasser salzig
ist, so ist das ein Argument solchen Schlages.)
203. Aber in anderer Weise wurde die Tatsache in
dem von uns vorgeführten Argumente verwertet. Und
in ihm - das läßt sich nicht leugnen - ist etwas Be-
stechenderes gesagt.
Es werden die sämtlichen Phänomene der uns be-
kannten Welt zusammengestellt, diejenigen, welche iso-
liert einen Schein von Zweckmäßigkeit erwecken moch-
ten, und diejenigen, wo keine Zweckordnung erkennbar
ist. Es wird darauf hingewiesen, daß die Zahl der ersten,
wie groß auch an und für sich, in der Gesamtzahl klein
erscheine.
Und nun wird behauptet, daß sich, in diesem Zu-
sammenhang betrachtet, der Schein der Zweckordnung
verliere. Unter vielen unregelmäßigen Würfen wird
natürlich auch ein Pasch geworfen, und wenige verständ-
liche Worte unter unzähligen für uns sinnlosen Zusam-
menstellungen von Buchstaben scheinen nicht mehr ver-
nünftig geordnet. Wir werden vielmehr sofort an bloßen
Zufall glauben und wenig Gewicht darauf legen, daß die
der Teleologie überhaupt 253
andern vielleicht in einer uns unbekannten Sprache auch
einen vernünftigen Sinn haben könnten.
204. So gefaßt würde in der Tat der Einwand etwas
verschlagen, wenn wirklich in unserem Falle das Ver-
hältnis so wäre wie bei den Würfeln und Buchstaben:
A. Wenn nur sehr weniges wäre, was, für sich allein
betrachtet, den Schein einer Zweckordnung erweckte, so
könnte bei einer weit größeren Zahl von Fällen, die uns
nichts von Zweckmäßigkeit andeuteten, der Schein wie-
der verlorengehen. Wie z. B., wenn wir eine ziemlich
wohlgerundete Kugel von Sandstein mit vielen verschie-
dentlich abgerundeten Steinen derselben Art von einem
ausgetretenen Fluß zurückgelassen fänden.
B. Aber freilich bliebe auch hier eine Beschränkung
beizufügen. Nicht unter jeder Bedingung wird dies der
Fall sein, sondern nur dann, wenn die Zahl der mög-
lichen zweckmäßigen Dispositionen zu der Gesamtzahl
der möglichen in einem endlichen und nicht allzu
geringen Verhältnis stände. Aus diesem Grunde würde
z. B. der Schein der Zweckordnung nicht verschwinden,
wenn statt jenes Steines ein wohlgebildeter steinern.er
Finger oder eine Hand oder gar eine ganze wohlgeformte
Bildsäule oder auch ein scharf ausgeprägtes Relief
irgendwo, und wäre es auf einer dem Anschein nach
zum ersten Male betretenen Insel, gefunden würde.
20ö. Zum ersten Falle nun gehören die Beispiele der
Buchstaben und der Würfel. Unser Fall aber ist sowohl in
dieser als in der ers~n Beziehung ganz und gar verschieden.
A. Vor allem haben wir nicht den einen oder andern,
sondern unzählige Fälle einer scheinbaren Teleologie.
Und es kann keineswegs gesagt werden, daß sich die-
selben unter einer noch überschwänglich größeren Zahl
anderer Fälle, die keine Zweckordnung zeigten, fänden.
Damit dies deutlich werde, müssen wir ein Doppeltes
wohl unterscheiden: 1. Fälle, in welchen wir einen
schein baren Zweck, und 2. Fälle, in welchen wir eine
scheinbare Aufgabe anzugeben vermögen.
254 Lösung der Einwände gegen den Schein

Es ist wichtig, daß man diese beiden Begriffe wohl


auseinanderhalte.
Was den Zweck anlangt, so ist es in Wahrheit nicht
bloß, wie unsere Gegner behaupteten, gewiß, daß wir
in gar vielen Beziehungen die scheinbaren Zwecke der
Natur nicht anzugeben wissen, sondern wir müssen sogar
sagen, daß wir sie eigentlich nie zu erkennen vermögen,
außer soweit wir sie bereits erreicht oder mit Sicherheit
zu erreichen sehen.
206. Der Grund liegt in etwas, was wir bereits in
früheren Erörterungen berührt haben, nämlich in der
Vielheit der Kräfte und Vermögen, womit ein jegliches
von der Natur ausgestattet ist, und in der Mannigfaltig-
keit möglicher Verwendung, die sich daran knüpft.
,:x) Die Dinge haben Fähigkeiten für vieles, was ein-
ander ausschließt, z. B. für warm und kalt; für diesen
und jenen Ort; für Ruhe oder Bewegung; für diese oder
jene chemische Verbindung usw.
ß} Und viele Fähigkeiten, von denen die eine brach-
liegen muß, wenn die andere sich entwickeln soll. Wie
die Fähigkeit zum Seiltänzer und Philosophen.
207. So ist es durchgehends auf dem Gebiete des Un-
organischen, und darum können wir hier besser im allge-
meinen einen scheinbaren Zweck angeben (wie z.B.
sagen, daß darum Wasserstoff in der Welt sei, damit er
sich mit Sauerstoff zu Wasser verbinde) als im einzelnen.
Vom einzelnen können wir es nur tun, indem wir uns einer-
seits, wie gesagt, auf das bereits Verwirklichte, anderer-
seits auf das Allerallgemeinste, das, was bei jeder Art
der Verwendung gleichmäßig sich bewährt, beschränken.
In diesem Sinne sagt schon ARISTOTELES,die Natur habe
die Art im Auge; und die allgemeinsten teleologischen
Beziehungen blieben überall ungestört (Metaph. A 10).
Im übrigen können wir nur etwa von hypothetischen
Aufgaben sprechen, oder etwa, wie bei einem mannigfach
verwendbaren Fabrikat, sagen, daß es den Zweck habe, für
das und jenes in der und jener Weise brauchbar zu sein.
der Teleologie überhaupt 255
208. Aber auch beim Organischen ist es nicht anders.
Nur im allgemeinen können wir sagen, daß Augen zum
Sehen, Blüten zum Fruchtbringen bestimmt schienen.
Denn auch hier sind noch mannigfach andere Verwen-
dungen möglich und darum auch in einzelnen Fällen wirk-
lich, und die Verwendung zum Sehen und zum Frucht-
bringen ist selbst nur ein einzelner Fall unter vielen.
209. Allerdings kann man aber bei den organischen
Wesen etwas sagen, was man bei den andern nicht eben-
sogut sagen kann. Von dem vielen, wozu die Fähigkeit
in ihnen besteht, und wovon das eine das andere aus-
schließt, so daß jedes wie eine bedingungsweise gegebene
Aufgabe erscheint, ist eines, was wir im vorzüglichen
Sinne in dieser Weise als die scheinbare Aufgabe
bezeichnen können.
1. Bei manchen Verwendungen wird nämlich das
lebendige Organische nicht anders als das Leblose und
Unorganische benutzt, mit dem es ja vieles, nämlich
die Elemente, gemein hat (z. B. die Blüten und Blätter
als Dünger). Das Organisierte erscheint hier unter dem
Organischen etwa wie ein Bürger, der ein besonderes
Handwerk zur Meisterschaft gebracht, andere Aufgaben
aber mit andern gemein hat, wie z.B. den Kriegsdienst,
um deswillen er im Notfalle von der Tätigkeit, in welcher
seine eigentümliche Geschicklichkeit zutage tritt, ab-
steht, um das Gemeinsame, worin er nicht vor andern
ausgezeichnet ist, zu tun.
2. Bei andern Verwendungen wird es zwar wie Orga-
nisches benutzt, nicht aber wie Organisiertes, z. B. als
Nahrung.
3. Wiederum bei anderem kommt zwar seine Organi-
sation in Betracht, aber es wird nicht benutzt wie Organi-
siertes, das seine Organe betätigt, sondern wie Ruhendes
(z. B. die Blüte, die vom Botaniker zerlegt und analy-
siert wird).
4. Bei anderem endlich wie Organisiertes, das seine Kraft
in wachem Leben entfaltet. So bei der Fruchtbildung.
256 Lösung der Einwände gegen den Schein

Bei dieser letzten Verwendung sind seine Leistungen,


unmittelbar und in sich selbst betrachtet, die höchsten. Sie
sind diejenigen, welche am wenigsten ohne die ganze
künstliche Einrichtung erreichbar wären; sie sind die-
jenigen, in welchen das organisierte Wesen, für sich
a,llein betrachtet, am vollkommensten ist und am
meisten seiner Vollkommenheit dient, sie erhaltend und
vermehrend. In diesen höchsten Leistungen offenbart
sich daher auch allein vollständig (oder wenigstens dem
Wesentlichen nach), was für ein Kunstwerk der
Organismus als Organismus ist.
Auch sind sie diejenigen, worauf bei dem bewußten
organisierten Leben die Triebe und Instinkte abzielen,
und für die wir daher bei dem unbewußten (der Analogie
nach) sagen, daß ein Streben 90 ) darauf gerichtet sei.
Dieses Streben folgt einem in die Natur gelegten Gesetze,
und insofern dies wegen der scheinbaren Zweckordnung
des Ganzen von einem Verstand auszugehen scheint,
können wir mit einer verstärkten Bedeutung (xa-r' Uox~v)
sagen, es scheine, als habe das lebendige, namentlich das
animalische Wesen eine Aufgabe empfangen, die es zu
lösen suche.
210. Aber Aufgabe ist von Zweck verschieden. Auf-
tragen, etwas zu tun, heißt nicht soviel wie wollen,
daß es getan werde. (Kompanie, die den Befehl erhält,
einen Hügel zu stürmen, dessen Gipfel sie unmöglich
erreichen kann. Bote, der den von Anfang an beabsich-
tigten Gegenbefehl erhält.) Wenn wir uns einen Ver-
stand denken wollen von einer Erhabenheit wie die, auf
welche die von uns bewunderten Zeichen der Teleologie
hinzudeuten scheinen, so müssen wir wohl annehmen,
daß er den Plan seines Werkes von Anfang an und nicht
bloß in gewissen allgemeinen Zügen, sondern vollständig
durchdacht und entworfen habe. Der Plan muß unmittel-
bar ihm angehören bis ins einzelnste, und dem wider-
spricht nicht, daß die Ausführung des Plans in gar vielen
Stücken eine mittelbare ist. Denn, wenn er auch alles
der Teleologie überhaupt 257

unmittelbar vermöchte, so würde er doch seinen Werken


eine der vorzüglichsten Vollkommenheiten entziehen,
wenn er sie nicht f"elbst wirken und durch das Wirken
die Vollkommenheit fördern ließe in einer in seinem
Plane von Anfang an vorgezeichneten Weise.
Bei dieser mittelbaren Ausführung des Plans ist es
aber nicht nötig, ja nicht einmal möglich, daß dem als
Mittel Verwendeten der Plan selbst mitgeteilt werde.
Ist dies ja auch nicht bei dem Hammer der Fall, dessen
sich der Schmied bedient, und bei dem Soldaten, der in
die Schlacht geführt wird, ja bis zu einem gewissen Maße
auch nicht bei den untergeordneten Offizieren. Sie er-
halten Aufträge, etwas zu tun; die Endabsichten aber
bleiben verborgen, und wer sie handeln sieht, wird
leichter und öfter auf diese Aufträge als auf den eigent-
lichen Zweck schließen können. So ist es denn auch in
der Natur etwas anderes, den Zweck, und etwas anderes,
die Aufgabe von etwas zu erkennen: jener ist uns ver-
borgen, während die scheinbare Aufgabe uns oft ganz
wohl erkennbar ist; jener ist immer unbedingt und ein-
heitlich, während wir, wie wir zuvor sahen, oft nur von
einer Mehrheit von Aufträgen reden können, deren jeder
bloß für einen gewissen Fall gegeben scheint.
211. Diese Bemerkungen sind von Wichtigkeit. Sie
werden sich bei der Lösung verschiedener Einwände
nützlich erweisen. Zunächst aber werden wir einen Ein-
wand zu erledigen haben, der aus ihnen selbst ent-
springt.
Es könnte nämlich einer sagen: Da wir nach unserer
Auseinandersetzung in so seltenen Fällen einen (schein-
baren) Zweck in der Natur zu bestimmen wüßten, so
zwar, daß selbst diejenigen Erscheinungen, bei welchen
man am meisten geneigt ist, ein solches Wissen zu bean-
spruchen, großenteils hiervon keine Ausnahme bilden,
so sei es unbegreülich, wie man noch länger behaupten
könne, daß ein Schein von Zweckordnung unleugbar in
der Natur vorhanden sei.
258 Lösung der Einwände gegen den Schein

Die Antwort ist, daß wir, wenn nicht den Zweck, doch
die scheinbMe Aufgabe angeben können. Die Auf-
ga.be aber, wie auch immer sie vom Zweck verschieden
ist, ist doch ohne irgendeine Zweckordnung un-
denkbar.
Jede der mannigfaltigen Verwendbarkeiten der leben-
digen und leblosen Wesen erregt so den Schein einer
Teleologie; und bei den lebendigen in einem ganz be-
sonderen Maß jene höchste Weise der Verwendbarkeit,
die wir als ihre scheinbare Aufgabe im vorzüglichsten
Sinne des Wortes bezeichneten. Der Grund aber, der
uns so häufig hindert, außer der scheinbaren Aufgabe
auch den scheinbaren Zweck anzugeben, nämlich die
Möglichkeit mannigfacher Verwendung, ist gewiß nicht
etwas, was man als unteleologisch tadeln könnte. Viel-
mehr ist gerade diese Mannigfaltigkeit als teleologisch zu
bewundern, und wir haben darum auch früher schon auf
sie als auf etwas Bewundernswertes hingewiesen. Ohne
sie würde die reiche Schönheit der Natur in ein ödes und
ermüdendes Einerlei verwandelt, welches jetzt trotz der
Konstanz und steten Gleichförmigkeit der Naturgesetze
durch kein vorzüglicheres Mittel als durch die Dispo-
sitionen für viele und mannigfach verschiedene Ent-
wicklungen in der vollkommensten Weise vermieden und
in sein Gegenteil verkehrt ist.
212. B. So bleibt es denn wahr, was ich zur Ver-
teidigung des Scheines der Teleologie gegenüber dem uns
vorliegenden Einwand bemerkte, als ich sagte, vor allem
hätten wir nicht den einen oder andern, sondern un-
zählige Fälle einer scheinbaren Teleologie, und man
könne keineswegs sagen, daß sich dieselben - wie die
Gegner wollten - unter einer noch überschwänglich
größeren Zahl solcher Fälle fänden, die keine scheinbare
Zweckordnung an sich trügen.
Dazu kommt aber zweitens (und das ist das Entschei-
dende), daß bei vielen, ja bei den meisten dieser Ver-
hältnisse die denkbaren zweckmäßigen Dispositionen sich
der Teleologie überhaupt 259
ihrer Zahl nach zu der Gesamtzahl der möglichen wie
Endliches zu Unendlichem verhalten.
213. Einige Beispiele zur Erläuterung: So das Bei-
sammensein der Körper im Raum. (Wenn dies nicht
dem Zwecke, eine Welt zu bilden, dienen soll, so muß
es unendlich und abermals unendlich unwahrscheinlich
erscheinen, da doch schon in einer Linie unendlichmal
mehr Lagen völliger Isolierung denkbar sind.) Oder,
nehmen Sie einen Organismus, ja den Teil eines Organis-
mus, den Teil eines Teiles, z. B. unseren Augapfel und
seine Teile, die durchsichtige Hornhaut, die undurch-
sichtige weiße Haut, die Kristallinse, den Faltenkranz,
die vordere Kammer mit der wässerigen, die hintere mit
der Glasfeuchtigkeit angefüllt, die Gefäßhaut, welche die
weiße Haut bedeckt, selbst auf ihrer inneren Seite mit
einem schwarzen, schleimartigen Pigment überzogen, die
Regenbogenhaut oder Iris mit der Pupille, einem kreis-
förmigen Lichtloch in der Mitte, das sich verengen und
erweitern kann, den Sehnerv, der sich als Netzhaut in
unendlich feinen Verzweigungen über die Aderhaut ver-
breitet, die Linsenkapsel mit ihren vielen kapselförmig
sich umschließenden und mit zunehmender Kleinheit der
Kugelform sich nähernden Schichten. Und nun be-
denken Sie die wunderbaren Leistungen! Und wie diese
ohne die merkwürdigen physikalischen und chemischen
Beschaffenheiten der Bestandteile, ohne deren eigentüm-
liche Gestalt (der blinder Zufall nach drei Dimensionen
unendlichen Spielraum böte), und wiederum ohne die
eigentümlich abgemessene Veränderlichkeit der Gestalt
(Konvexität der Linse bei der Akkomodation, deren
Mechanismus zum Teil noch ganz rätselhaft ist) ganz
unerreichbar wären. Erwägen Sie, wie sich das Ganze
durch Ernährung erhält und wie sich die Teile beim
Wachstum umbilden müssen. Wie zahllose andere La.gen
der im einzelnen gegebenen Teile wären doch denkbar,
die aber die eigentümliche Leistung, als Sehapparat zu
dienen, unmöglich machen würden. Dazu dann noch
260 Lösung der Einwände gegen den Schein

der Zusammenhang mit dem Gehirn und den Bewegungs-


nerven, die Dienste der Muskeln, die äußeren schützenden
Organe usw. usw. Ganze Bücher sind über den Aug-
apfel geschrieben worden und haben doch den Gegen-
stand nicht erschöpft! Worauf es mir hier vornehmlich
ankommt ist der Gedanke, daß für alle diese Teile ohne
Rücksicht auf die besondere Aufgabe unendlichmal un-
endlichmal mehr Möglichkeiten völlig unzweckmäßiger
Dispositionen denkbar wären.
Es gilt aber Ähnliches für das Gehör usw., für den
Instinkt, für die Medien der willkürlichen Bewegung usw.
Was soll da die Unwahrscheinlichkeit der zufälligen ver-
ständlichen Kombination von sechs oder zwölf von un-
seren vierundzwanzig Lettern 1
214. Wir sehen, der Vergleich ist vollständig unzu-
treffend. Gerade der Nerv des Beweises ist ausge-
schnitten. Bei Beweisen von physischer Sicherheit liegt
er ja in dem Verhältnis der Möglichkeiten, in der unend-
lichen Unwahrscheinlichkeit.
Vielmehr ist es etwa so, wie wenn einer (um auf den
von mir gebrauchten Vergleich zurückzukommen) irgend-
wo unter vielen Blöcken, die dem Anscheine nach roh
oder von einer ihm unverständlichen Zweckmäßigkeit der
Form, einige Bildsäulen ersten Ranges fände, und wäre
es, wohin kein Mensch gekommen sein kann, z. B. auf
dem .Monde. Der Schein der Zweckmäßigkeit bliebe un-
leugbar in aller Kraft fortbestehen. Falls es undenkbar
wäre, daß die Form des einen Steines künstlerisch ge-
bildet sei, ohne daß auch die andern, woran wir keine
Zweckordnung bemerken, Zwecken dienen, so würden wir,
wenn es nur irgend möglich erschiene, daß uns der Zweck
entgehen könne, mit aller Zuversicht schließen, es habe
a,uch dieses einen uns unbekannten Zweck. Wir verhalten
uns hier der Natur gegenüber so wie SOKRATES zur dunklen
Schrift des HERAKLIT. ,,Was ich davon verstanden habe,"
sagte er, ,, war gut, ich schließe daraus, daß das, was mir
unverständlich geblieben ist, nicht minder vortrefflich sei."
der Teleologie überhaupt 261
215. Um so weniger Grund haben wir, uns den Schein
der Teleologie in der Natur durch jene unpassenden Ver-
gleiche verdunkeln zu lassen, je weiter die rohe Arbeit der
schönsten Antike und alle unsere Kunst hinter den Wer-
ken der Natur zurückstehen.
Eine Schwierigkeit, anzunehmen, daß hier eine uns
verborgene Zweckmäßigkeit bestehe, liegt in keiner Weise
vor. Gerade die Größe der Teleologie auf der einen Seite
stimmt recht wohl zu ihren Geheimnissen auf der andern
Seite und macht sie begreiflich, ja läßt sie von vornherein
erwarten. Wenn wirklich das, was wir bewundern, das
Werk einer so hoch über alle menschliche erhabenen
Kunst und einer so unvergleichlich höheren Einsicht und
Wissenschaft ist, wie es scheint, so ist es nicht anders
möglich, als daß wir bei gar vielem ihre Absicht nicht zu
bestimmen, ihre Pläne nicht zu erraten wissen.
216. Und das um so mehr, als je vollkommener die
teleologische Durchbildung ist, um so mehr kein Teil für
sich, sondern für das Ganze bestimmt ist. Erst dieses
also gäbe den Schlüssel des Verständnisses und den Maß-
stab zur Berechnung der Vollkommenheit, ein Maßstab,
der offenbar uns nicht gegeben ist, die wir zeitlich und
räumlich nur eine kurze Spanne überschauen.
Aus diesem Grunde zeigt sich der Vergleich mit den
Buchstaben, wie er gegeben wird, noch in einer besonderen
·weise unpassend. Besser paßte, wenn hinzugefügt würde,
daß die Letternfolgen alle einer uns nur unvollkommen
und den wenigsten Worten nach bekannten Sprache an-
gehörten. Dann wäre ja von vornherein zu erwarten, daß
viele uns unverständlich seien, und der Schein von Zweck-
mäßigkeit würde keineswegs aufgehoben.
217. So mindert denn offenbar die große Zahl dessen,
wovon wir vom teleologischen Gesichtspunkte aus keine
genügende und sichere Erklärung geben können, den
Schein teleologischer Ordnung, da, wo er deutlich hervor-
tritt, nicht im geringsten, bestätigt vielmehr nur die ver-
mutete relative Ohnmacht unseres Verstandes. Und so
262 Lösung der Einwände gegen den Schein

ist der Einwand, so unbestreitbar auch unsere vielfache


Unkenntnis der Zweckbeziehungen ist, nicht bloß als
unzulänglich erwiesen, sondern auf das vollständigste
in sich selbst vernichtet.
218. II. Gehen wir zum zweiten Angriff über, der
ebenfalls g~gen den Schein irgendwelcher Zweckordnung
in der Natur gerichtet war ..
Es wurde gesagt, gerade bei jenen Gattungen von
Phänomenen, welche auf den ersten Blick am meisten
eine Teleologie zu verraten scheinen, lasse sich für ge-
wisse Fälle sofort erkennen, daß in der Tat eine Zweck-
ordnung nicht bestehe, und hierdurch werde natürlich
auch für die übrigen der anfängliche Schein von Teleo-
logie zerstört. Als Beispiel führten wir aus der Klasse der
scheinbaren Teleologie der Glieder der Organismen die
sog. rudimentären Glieder, die Flügel des Vogels Strauß,
die falschen Staubfäden, die Augen der blinden Eidechse,
die verkümmerte Lunge der Vögel, die Zähne der Wal-
fische, die Ohrmuscheln des Menschen, die Brustwarzen
des Mannes an.
Dann aus der Klasse der instinktartigen Phänomene
den Trieb des wütenden Hundes zum Beißen, wodurch
er das Gift, das sich in seinem Speichel entwickelt hat,
fortpflanzt, analog dem Fortpflanzungsinstinkt in der
Zeit der Reife.
219. Diese Tatsachen sind allerdings auf den ersten
Blick chokant. Aber daß dadurch, wie der Einwand will,
der Schein einer Teleologie bei der betreffenden Klasse
von Erscheinungen allgemein aufgehoben werde, ist nicht
richtig. Vielmehr hat man ein Gefühl der Befremdung,
wie etwa, wenn ein Phänomen, das einer Reihe von früher
beobachteten Phänomenen ganz ähnlich ist, eine Aus-
nahme von einem Gesetz bilden würde, welchem cie
andern Fälle sich sämtlich unterworfen gezeigt hatten.
Man leugnet deshalb nicht sofort die Gültigkeit des Ge-
setzes für diese Art von Phänomenen, sondern unter-
sucht das neue Phänomen genauer, um zu sehen, ob es
der Teleologie überhaupt 263
wirklich den andern gleichartig, und wenn dies, ob es
wirklich von dem Gesetze ausgenommen sei.
220. Tut man dies nun auch in unserem Fall, so löst
sich bei näherer Betrachtung das Rätsel.
Was LITTRES wütenden Hund anlangt, so ergibt die
Prüfung die Ungleichartigkeit des Falles. Es läßt
sich leicht erkennen, daß hier kein ähnlicher Schein von
Teleologie wie beim Instinkt des Zeugungstriebes besteht.
a) Warum sagte LITTRE selbst, niemand werde hier,
wie beim Fortpflanzungstrieb, eine natürliche Zweck-
ordnung annehmen wollen 1 Offenbar weil das, was aus
dem Biß des Hundes hervorgeht, nichts ist, was so wie
der erzeugte Organismus den Schein eines bewunderungs-
würdigen Kunstwerkes an sich trägt, sondern nur Kor-
ruption und Zerstörung. Die Wirkung ist nichts anderes
als eine Ansteckung, die Mitteilung einer tödlichen Krank-
heit. Aber indem in dieser Weise die Folgen verschieden
sind, wird der ganze Charakter des Phänomens ein
anderer. Eine künstliche Ordnung zerstören, ist etwas
Leichtes, eine Ordnung herstellen, schwer. Um die Ord-
nung der Organismen zu schaffen, wirkt der Instinkt des
Zeugungstriebes als ein Mittel mit vielen andern zu-
sammen; er tritt gerade da auf, wo sonst in einer künst-
lichen Kette eine Lücke wäre. Nichts davon gilt bei dem
Trieb des Hundes zu beißen, und darum ist er nicht ent-
fernt ein Phänomen von ähnlich hohem Schein der
Teleologie. - Der Prozeß der Ansteckung ist höchstens,
wie auch der sprachliche Ausdruck andeutet, der Art, wie
sich ein Feuer fortpflanzt, nicht aber der Fortpflanzung
der Pflanze und eines Tieres zu vergleichen.
b) Noch in einer andern Beziehung zeigt sich der
Unterschied von dem Instinkt, mit welchem er hier in
Parallele gestellt wird.
Der Trieb der Fortpflanzung ist, ähnlich dem der Er-
nährung, ein ganz spezialisierter Trieb, so daß es in der
Tat den Anschein hat, als habe die Natur über gewisse,
im Interesse der Erhaltung des Lebens erforderliche Funk~
264 Lösung der Einwände gegen den Schein

tionen selbBt vor aller Erfahrung belehrt. Damit hat die ein-
fache Begierde, zu beißen, offenbar gar wenig Ähnlichkeit.
c) Bleihi; aber eine solche in gewissem Maße bestehen,
bleibt etwa,s, was trotz alledem, was gesagt wurde, einen
gewissen Schein von Teleologie wahrt, so hat dies in
wirklicher Teleologie seinen Grund. Der Zusammen-
hang ist der: die Hunde haben den Trieb zu beißen, wenn
sie zornig sind, und dies ist teleologisch. Die Folge davon
ist, daß jede Krankheit, die das Tier wütend macht, es
treibt zu beißen, und dies ist auch bei einer Krankheit,
die durch den Speichel ansteckend wirkt, der Fall. Man
vergleiche einen wütenden Ochsen: er wird stoßen, aber
nicht beißen, obwohl auch bei ihm der Speichel giftig
ist; einen wasserscheuen Menschen: er wird schreien und
um sich schlagen. Das Ganze ist also ein Gemisch von
einer zweckmäßigen Ordnung und einem pathologischen
Zustand. (Wie sich solche in eine teleologisch geordnete
Welt einfügen mögen, davon später ein Wort.)
So kehren wir das Argument gegen LITTRE : man be-
trachte den Zusammenhang der Tatsachen, und der
Schein einer besonderen künstlichen Teleologie beim Biß
des wütenden Hundes wird verschwinden, während er
beim Fortpflanzungstriebe bleibt, wie er denn schon auf
den ersten Blick ganz anders großartig sich darbietet.
So ist das Phänomen in der Tat nicht gleichartig.
(Ich will natürlich nicht leugnen, daß auch jeder Biß
des Hundes einen Zweck haben kann, ja hat; nur einen
ähnlichen Schein einer Aufgabe, die direkt auf Korrup-
tion gerichtet wäre, wie andere auf die Erzielung einer
Vollkommenheit, möchte ich beseitigt haben.)
221. Wenn bei dem Falle mit dem wütenden Hund die
Prüfung vornehmlich durch den Nachweis der Ungleich-
artigkeit des Phänomens den Einwand löste, so tut sie
es bei dem der rudimentären Glieder mehr durch die
Unterordnung unter das Gesetz.
Betrachten wir eines der erwähnten Beispiele im
besonderen.
der Teleologie überhaupt 265
Der Mann, wurde gesagt, hat Brustwarzen und Milch-
drüsen, aber nicht zum Säugen (obwohl HUMBOLDT
von einem säugenden Indianer erzählt). Ähnlich besitzt
in unvollkommener Entwicklung das Weib Glieder, die
nur beim männlichen Organismus für das vegetative
Leben von Bedeutung sind. Woher kommt das 1 Es
erklärt sich dies aus der Gleichheit des Keimes. (Erst
während der Entwicklung tritt eine Scheidung ein.)
Diese Gleichheit des Keimes aber scheint gewiß sehr
teleologisch, wie überhaupt schon die Allgemeinheit von
Dispositionen. Hier hat sie im besonderen eine Teilung
der Arbeit zwischen den Geschlechtern und infolge davon
eine vervollkommnete Leistung des einen und andern
zur Folge (Ehe). Ohne die Entwicklung der beiden Ge-
schlechter aus denselben ersten Dispositionen gäbe es
überhaupt nicht zwei Geschlechter, sondern wie bei den
meisten Pflanzen und bei manchen Tieren doppeltge-
schlechtliche Wesen, wenn nicht noch niedrigere Arten
der Fortpflanzung wie Parthenogenese oder ungeschlecht-
liche Sprossung und Zerfällung. Der vollkommenste von
allen ist offenbar der Zustand, wo die Geschlechter ge-
trennt sind n).
Mit dieser Gemeinsamkeit der ersten Dispositionen
hängt als notwendige Konsequenz das Vorhandensein
solcher rudimentärer Glieder zusammen. So ist denn die
Zulassung der Brustwarzen beim Manne teleologisch,
weil ihre Bildung und Entwicklung beim Weibe teleo-
logisch ist.
222. Von hier aus gewinnen wir nun ein wenig Licht
auch für die übrigen Fälle. Die Erscheinungen sind ja
analog, und so wird die Erklärung auch eine analoge
sein müssen.
In der Tat wissen Sie ja, daß die moderne Zoologie die
Deszendenzhypothese aufgestellt hat, wonach auch ver-
schiedene Arten, ja. Gattungen gemeinsamen Ursprunges
sind, und manche gehen kühn so weit, einen solchen für
alle Lebewesen zu behaupten. Diese Theorie, die sog.
266 Lösung der Einwände gegen den Schein

Deszendenzhypothese, ist besonders durch LAMARCK, und


neuerdings und am erfolgreichsten durch DARWIN ver-
treten worden. Man kann sagen, sie ist so gut wie all-
gemein angenommen und für alle Zeiten gesichert. Die
mächtigsten Argumente sprechen dafür, von der Er-
scheinung, die wir eben ins Auge faßten, ganz abgesehen.
1. Man hat dafür die „Verwandtschaft" geltend ge-
macht, d. h. die Ähnlichkeit von verschiedenen Spezies,
welche sie zu einer Gattung, der Gattungen, welche sie
zu einer Klasse zusammenfassen läßt u. dgl. Es ist in
der Tat ein starkes Argument für einheitlichen Ursprung,
obwohl vielleicht nicht ebenso stark für einheitliche
physiologische Abstammung.
2. Mächtiger spricht aber die Verwandtschaft und
Divergenz, wie sie speziell auf dem Gebiete der. geolo-
gischen und paläontologischen Forschung zutage tritt.
a) Wenn wir die früheren Arten mit den gegenwär-
tigen vergleichen, so zeigt sich, daß keine von diesen da-
mals bestanden hat und keine von jenen heute noch be-
steht. Nur Verwandtschaft tritt zutage, und nun erhebt
sich die Frage: sollten jene einfach untergegangen sein,
diese aber schlechthin neu aus dem Unorganischen ent-
standen sein, oder liegt es nicht näher, einen kausalen
.Zusammenhang zwischen den Generationen anzunehmen 1
b) Was so schon nahe liegt, wird noch viel näher ge-
legt, ja steigert sich zu einer erdrückenden Wahrschein-
lichkeit, wenn man sieht, daß nicht nur überhaupt andere
Arten ehedem vorhanden waren als jetzt, sondern suk-
zessiv andere und andere. Wir können so Reihen mit
stufenweiser Annäherung bilden. Wir hätten also nicht
zwei Floren bzw. Faunen ohne kausalen Zusammenhang
(wenn wir die Deszendenz ablehnen wollten), sondern viele,
aber in stets sich annähernder Beschaffenheit, was im
höchsten Grade unwahrscheinlich wäre.
c) Ebenso zeigt uns die Paläontologie Mittelstellungen
damaliger Arten, die ohne Deszendenz nicht zu erklären
wären.
der Teleologie überhaupt 267
3. Zu diesen Tatsachen kommt noch die der geogra-
phischen Distribution, sowohl der gegenwärtigen Arten
als der geschichtlichen in ihrem Verhältnis zur Gegen-
wart. Wenn wir die früher an einem besonderen Orte
vorhanden gewesenen Tierarten mit den jetzt dort leben-
den vergleichen, so finden wir sie ihnen ähnlicher als
Arten anderer Gegenden 92 ).
4. Ferner sprechen für die Deszendenz auch die Tat-
sachen der Geschichte der individuellen Entwicklung.
lt) Wir finden eine größere Übereinstimmung verschie-
dener Arten in früheren Stadien ihrer Entwicklung, so
daß ihre Embryonen leichter verwechselt werden können.
ß) Wir finden, daß höhere Arten bei ihrer Entwick-
lung Stadien durchschreiten, welche andere auch er-
reicht haben, aber um dann auf dieser Stufe stehen zu
bleiben.
r) FR. MÜLLER und ERNST HÄCKEL haben ein Gesetz
aufgestellt, das HÄCKEL das biogenetische Grundgesetz
nannte. Es hängt mit folgender Tatsache zusammen. Wenn
wir mit den aufeinanderfolgenden Spezies die sukzessiven
Entwicklungsformen des einzelnen Individuums ver-
gleichen, so fällt uns eine gewisse Übereinstimmung beider
Reihen auf. Das hat auf den Gedanken geführt, die Ent-
wicklungsgeschichte des Individuums als eine kurze und
vereinfachte Wiederholung, gewissermaßen als eine Re-
kapitulation des Entwicklungsganges der Art zu deuten.
5. Hierher gehört ferner die Tatsache der rudimen-
tären Glieder und speziell die Beobachtung, daß solche
zwar manchmal bei den entwickelten Individuen fehlen,
wohl aber in einem Stadium der Entwicklung sich zeigen,
um sich dann wieder zu verlieren.
6. Die Faktoren, mit welchen diese Hypothese rech-
nen muß, sind der Erfahrung denn auch keineswegs
fremd, so daß ihre Durchführbarkeit gar nicht zu be-
streiten ist.
Wir stoßen da vor allem auf die Tatsache der Varia-
bilität überhaupt. Sie führt zur Bildung von Abarten.
268 Lösung der Einwände gegen den Schein

Die gebildeten Eigenheiten verstärken sich allmählich,


und das geht so weit, daß sich eine bestimmte Grenze,
welche durch kleine Unterschiede in derselben Richtung
nicht überschritten werden könnte, nicht angeben läßt.
Dazu stimmt die Verschwommenheit der Spezies-
grenzen, welche häufig eine erstaunlich weitgehende Über-
brückung der Abstände zeigen.
7. Dazu kommen dann in gewissen Fällen noch stär-
kere plötzliche Variationen, wie sie z. B. bei der Ver-
setzung in ein anderes Klima oder sonst veränderte Ver-
hältnisse eintreten. (Austern von der Nordsee ins Mittel-
meer gebracht.) Auch der Dimorphismus und Poly-
morphismus im Formenkreis der Spezies (wozu als einer
der wichtigsten auch der geschlechtliche gehört)*) geben
dem Gedanken an starke Variabilität eine kräftige Stütze.
223. Ich darf wohl sagen, daß diese Hypothese heute
bei den Fachleuten zu vollkommenem Siege gelangt ist.
Und mit der Gemeinsamkeit der Deszendenz verschie-
dener Formen sind darum bei den Tierarten wie bei den
Geschlechtern die rudimentären Glieder in Zusammen-
hang zu bringen, welche der Einwand urgierte. Wie dort
erscheinen sie darum auch hier teleologisch, wie über-
haupt die Allgemeinheit erster Dispositionen. Und man
hat schon oft, und gewiß mit Recht, gesagt, daß die
Evolutionstheorie ein großartigeres Bild der Weltordnung
sei als die Annahme der Kreation jeder einzelnen Art
für sich. Je mehr mittelbar in der Schöpfung zustande
kommt, um so vollkommener erscheint sie, so zwar, daß
man in der Metaphysik es geradezu als ein kosmolo-
gisches Gesetz aufgestellt hat, daß der Weltschöpfer, was
mittelbar zu erreichen ist, niemals unmittelbar wirkt.
Die Verschwisterung von allem mit allem hat etwas
Grandioses. Die Zoologie gewinnt, wenn ihre Systematik
eine genetische Bedeutung hat, einen unvergleichlich
größeren Reiz.
*) Die Geschlechter stehen oft sehr weit voneinander ab
und stammen doch aus demselben Keim.
der Teleologie überhaupt 26S

(Manche haben wegen des Menschen Skrupel gegen


diese Hypothese, bei allen andern Lebewesen gefällt ihnen
der Gedanke, hier nicht. Ich sehe dies für eine Ver-
irrung an, und glaube nicht bloß, daß die theistische
Philosophie, sondern auch sogar die Bibelgläubigkeit sich
irgendwie damit versöhnen könne.)
224. So scheinen denn die rudimentären Glieder unter
teleologischem Gesichtspunkte genugsam in ihrem Be-
stande gerechtfertigt. Wie die Glieder des noch unge-
borenen Kindes teleologisch sind, weil sie später einmal
teleologisch sein werden, so die rudimentären Glieder,
weil sie einmal teleologisch gewesen sind, oder genauer
gesagt, weil entweder sie selbst oder jene Dispositionen,
aus welchen sie als Nachwirkung stammen, einmal teleo-
logisch gewesen sind.
Fragt man, warum sie nicht zerstört werden, so ist zu
antworten:
1. Die Natur trifft keine Einrichtung, am wenigstens
zerstörende, umsonst. Der Mangel rudimentärer Glieder
wäre sozusagen ein Überfluß.
2. Es wäre schade um sie, sind sie doch Denkmäler
der Geschichte, wertvolle Zeichen des Entwicklungs-
ganges der Organismen.
3. Wertvoll auch unter ästhetischem Gesichtspunkt.
Sie sind oft sehr reizvoll, und schon die Analogie von
allem mit allem, die darin zutage tritt, ist etwas Schönes,
ein Schmuck der Weltordnung.
4. Übrigens sind sie, auch wenn sie die Funktionen
der analogen Glieder nicht üben, doch darum nicht ohne
jede Funktion. Gar mannigfach weist die Zoologie ander-
weitige Verwendungen für sie nach, und wenn diese
nützlichen Funktionen nicht so kunstvoll sind und die
Aufmerksamkeit in geringerem Maße fesseln als die voll
entwickelten, so gilt von ihnen Ähnliches wie von der
Blüte, die nicht Frucht bringt, aber im Haushalte der
Natur nicht verlorengeht.
270 Lösung der Einwände gegen den Schein

B. L<5sung de!' Einwände gegen den Schein einer aber•


menschHchen T deologie
225. Wir kommen nun zur zweiten Klasse von Ein-
wänden. Zugegeben, ein gewisser Schein von Teleologie
bestehe, so doch keiner, welcher das Wirken
eines den menschlichen Verstand weit über-
treffenden, eines göttlichen Verstandes ver-
muten lasse.
Auch hier sind mehrfache Argumente zu prüfen.
I. Das erste war dasjenige, welches, wie von vielen
anderen, so insbesondere von LANGEin seiner Geschichte
des Materialismus geltend gemacht worden ist. Er weist
auf die außerordentliche Vergeudung der Lebens-
keime bei dem Prozeß der Fortpflanzung hin und zieht
den Schluß, daß die zweckmäßige Selbsterhaltung in der
Natur, die der Teleologe kurzsichtig bewundere, nicht
eine übermenschliche Weisheit bekunde, sondern durch
Mittel erreicht werde, die ihrem logischen Gehalte nach
entschieden die niedrigsten seien, sie wir kennen (vgl. die
erläuternden Beispiele oben S. 244).
226. Das Argument hat nicht wenige bestochen, doch,
wer es gründlicher überdenkt, wird daran gar vieles zu
tadeln finden.
l. a) Eines liegt dem, der unseren vorausgegangenen
Betrachtungen gefolgt ist, nahe: LANGE übersieht die
anderweitigen Verwendungen, welche die Keime, die
nicht zu lebendigen Wesen werden, dennoch finden.
Es ist nicht richtig, daß die Blüte, die keine Frucht
bringt, ganz unnütz sei. Wenn eine Raupe die Knospe
zerstört, so erhält sie ein höheres, ein tierisches Leben;
wenn ein Botaniker die Blume analysiert, so fördert sie
die Erkenntnis der Menschen; und auch dann, wenn sie
bloß vom Winde niedergeweht verfault, wird sie nicht
zwecklos vernichtet; aus ihrer Verwesung geht, nicht
unmittelbar, doch mittelbar vielleicht, Vollkommeneres
hervor als das, was sie, zur Frucht sich entwickelnd, zur
übermenschlicher Teleologie 271
Folge gehabt haben würde. Oder, wenn es vielleicht in
sich selbst minder vollkommen sein wird, so kann doch
die geringere Vollkommenheit dieses einzelnen Gliedes
der Weltordnung der größeren Vollkommenheit des
Ganzen dienen. ,,Wenn alle Glieder Auge wären, wo
bliebe da das Auge1" (PAULUS.)
227. Das, was LANGE Vergeudung nennt, ist also
keine Vergeudung im Sinne einer nutzlosen Verschwen-
dung; vielmehr ist es eine notwendige Konsequenz der
Mannigfaltigkeit möglicher Verwendungen, die wir hier
wie anderwärts in der Natur finden. Diese selbst ist, wir
haben es früher gesagt, teleologisch, und darum ist auch
jener sog. Überfluß teleologisch. Bestünde er nicht, so
dürfte man keine Blüte brechen, ohne daß die Ordnung
unheilbar zerstört wäre. Jede Pflanze wäre im eigent-
lichsten Sinne des Wortes ein „Kräutchen Rührmich-
nichtan". Das aber wäre ein Zustand, den wohl nicht
leicht jemand einen im Vergleiche mit dem bestehenden
vollkommeneren nennen wird.
228. b) Es kommt hinzu, daß in jener scheinbar leicht-
fertigen Verschwendung von tausenden der künstlichsten
Produkte selbst etwas Großartiges liegt, indem es von
der Leichtigkeit, mit der die Natur das produziert, was
für die menschliche Kunst ganz unerreichbar ist, Zeugnis
ablegt. Ein großer Künstler, der aus der Fülle seines Ge-
nies schöpft und mit Leichtigkeit ein Meisterwerk hervor-
bringt, macht wohl auch einmal eine zerbröckelnde Kalk-
wand zur Grundlage einer der augenblicklichen Ein-
gebung entspringenden Zeichnung. Ein anderer, dem nur
mit saurer Mühe etwas Erträgliches gelingt, ist dagegen
ängstlich besorgt, um die Erhaltung jedes nur einiger-
maßen gelungenen Werkes.
229. c) Doch noch mehr können wir sagen, um jene
getadelte Vergeudung zu rechtfertigen. Nicht bloß ist
sie keine Vergeudung schlechthin, sie ist es auch nicht für
die Fortpflanzung selbst. Auch dem Zweck der Er-
ha.ltung der Art wird durch jenen scheinbaren Über-
272 Lösung der Einwände gegen den Schein

fluß gedient. Die Erhaltung ist auf das Gesetz gebaut,


daß das .Ähnliche das .Ähnliche erzeugt. Somit ist klar,
daß, wenn eine größere Kraftentfaltung in dem Erzeugen-
den, auch eine größere Fülle von Kraft in dem Erzeugten
ist. Der Hase, von dem LANGE in seinem Vergleiche
spricht, wird wegen der fehlgehenden Kugeln nicht
besser erlegt, der erzeugte Organismus aber wird in ge-
wissem Sinne infolge der ihn nicht erzeugenden Keime in
der Tat vollkommener erzeugt.
Nur wegen dieses Überflusses im einzelnen ist die Er-
reichung der Erhaltung der Art im ganzen und durch die
lange Reihe der Generationen mit dem mannigfaltigen
Wechsel der individuellen Verhältnisse, die andere und
andere Schwierigkeiten und Gefahren darbieten, möglich.
Und so ist, was im Augenblick Überfluß scheint, im Ver-
laufe der Jahrhunderte unentbehrlich. Das Gelingen
dieser Erhaltung bei so mannigfach wechselnden Hinder-
nissen ist ein Erfolg, dessen Größe LANGE nicht ge-
bührend gewürdigt hat, sonst würde er eingesehen haben,
daß der tatsächliche Erfolg nicht bloß eine gewisse
Zweckmäßigkeit der Einrichtung, sondern eine sehr hohe
Zweckmäßigkeit und im Besonderen auch die Zweck-
mäßigkeit und Unentbehrlichkeit dessen zeigt, was er als
Überfluß tadelt.
230. Freilich könnte er sagen, daß er wohl einsehe,
daß bei einer Einrichtung, wo .Ähnliches das .Ähnliche
erzeuge, im einzelnen Fall ein Überfluß gefordert sei.
Aber das gerade finde er unteleologisch, daß in solcher
Weise Ähnliches aus .Ähnlichem hervorgehe. Vielmehr
müßte in jedem einzelnen Falle der Organismus knapp
und genau seinen Verhältnissen angepaßt sein, wie z. B.
wenn ein Strauch an einem Wege stehe, auf welchem
zur Zeit der Blüte eine Ziege vorüberkomme, die der
Hunger treibe, an seinen Zweigen zu fressen, so müßte
dieses Exemplar so angelegt sein, daß nur die vom Wege
abgewandten oder in einer gewissen Höhe vom Boden
befindlichen Zweige Knospen und Blüten entwickelten.
übermenschlicher Teleologie 273
Aber eine solche Anschauung bietet doch zu offensicht-
liche Blößen. Denn wer sähe nicht, um nur eines von
dem Vielen hervorzuheben, was dagegen bemerkt werden
könnte*), daß dies eine viel größere Künstlichkeit der
Einrichtung verlangen würde als die, welche jetzt vor-
handen ist? Und hier möchte man fragen: wozu 1 Die
vielen Vorkehrungen zur ängstlichen Vermeidung des
Überflusses wären in der Tat selbst der aller ungerecht-
fertigste Überfluß. So zeigt sich, daß, was auf den ersten
Blick unnütze Verwickelung scheint, in Wahrheit Ein-
fachheit und die scheinbare Verschwendung Ersparnis ist.
231. 2. Aber noch mehr! selbst wenn sie wirklich
Vergeudung wäre, so wäre auch dann die Teleologie, die
sich in der Fortpflanzung der Organismen zu offenbaren
scheint, keine geringere, sondern noch immer eine weit
größere als die des menschlichen Verstandes.
Um dies zu zeigen, brauchen wir nichts anderes als die
Frage, um die sich alles dreht, ein wenig schärfer zu
präzisieren, was die Gegner der Teleologie freilich nicht
zu tun pflegen und, trotz alles Aufwandes von Bered-
samkeit, auch LANGE nicht getan hat.
Was also ist denn eigentlich der Punkt, um den es
sich handelt 1
Handelt es sich darum, ob das Werk in der Natur, der
organisierte Körper, also etwa die Pflanze, die zeugend
der Art nach sich forterhält, mehr Vernunft habe als der
Mensch und sich scharfsinniger als dieser in seinem künst-
lerischen Bilden betätige 1 Oder handelt es sich darum, ob
jener erste Werkmeister, den die scheinbar künstlerische
Maschinerie des Organismus anzudeuten scheint, wenn es
einen solchen gibt, einen mehr als menschlichen Verstand
und eine übermenschliche Einsicht gehabt haben müsse 1

*) Oft schützen die zugrunde gehenden Keime die anderen,


wie der Soldat, welcher für die Rettung der anderen stirbt;
z.B. die Frucht, welche Sättigung bringt, die andere, und
die eine Rose, die zum Schmuck des Kleides verwendet
oder zu botanischen Zwecke analysiert wird, die andere.
27 4 Lösung der Einwände gegen den Schein

Offenbar um das zweite. Denn inbetreff des ersten


ist es offenbar, daß dem Organismus wegen seiner vege-
tativen Funktionen und aller ihnen dienenden Organe
nicht bloß kein menschlicher, sondern auch kein unter-
menschlicher und überhaupt kein Verstand zugeschrieben
werden kann. Kein theistischer Philosoph ist so töricht,
etwas derartiges zu behaupten, und wenn LANGE eine
solche Ansicht bestreiten wollte, so würde er den Kampf
nur gegen Windmühlen führen.
232. Also um den scheinbaren Verstand jener etwaigen
ersten, nicht um den der nächsten Ursache handelt es
sich. Und da ist denn kein Zweifel, daß er, selbst ange-
nommen, es gehe bei den Arbeitsleistungen der Organismen
viele Arbeitskraft nutzlos verloren, nicht anders als weit
übermenschlich gedacht werden kann. Dies zeigt sich,
wenn man den Organismus eines Tieres oder einer Pflanze
oder auch nur die Blüte einer Pflanze, die zunächst als
Organ der Fortpflanzung wirkt, an und für sich be-
trachtet. Alle Künstlichkeit menschlicher Werke ver-
schwindet, wie wir schon früher sagten, neben der künst-
lichen Einheit ihrer Struktur, die sich dem bewaffneten
Auge immer wunderbarer offenbart, und von der die
menschliche Kunst, wenn sie sie nachahmen will, nur
die aller roheste, unvollkommenate Nachbildung der all-
gemeinen Umrisse geben kann.
233. Noch mehr aber offenbart sich die wunderbare Teleo-
logie ihrer Organisation in ihren Leistungen. Im Zu-
sammenwirken mit gewissen Bedingungen der umgebenden
Natur vermag sie ein Werk aus sich zu erzeugen, welches
von keiner geringeren Künstlichkeit und Vollkommenheit
als jener Organismus ist, dem sie selbst als Teil angehört.
Nicht einmal unmittelbar sind wir imstande, ein Werk
von entfernt ähnlicher Künstlichkeit zu schaffen, wieviel
weniger können wir es mittelbar, indem wir eine Ma-
schine fertigen, die sich selbst überlassen für sich allein
ein Werk von so wunderbar durchbildeter, künstlicher
Struktur zu liefern imstande wäre.
übermenschlicher Teleologie 275
Wenn ein Mechaniker ein solches fertigte, und wenn
auch noch soviel Arbeitskraft bei seinen Produktionen
verlorenginge, und wenn es noch so viele Abfälle dabei
gäbe, so würde er mit Recht als der erfinderischeste
Kopf nicht bloß eines Jahrhunderts, sondern des Jahr-
tausends gefeiert werden. Niemandem würde es einfallen,
wegen jener Verluste von Arbeitskraft und Material sein
Werk zu bekritteln. Fehlt es ja doch auch bei unseren
gewöhnlichen Fabrikaten an Abfällen nicht, und geht ja
bekanntlich bei jeder Maschine immer ein bedeutender
Bruchteil der Arbeitskraft verloren.
Und nun noch eines:
Unsere Mechaniker haben noch niemals eine Maschine
gebat:.t, die für sich allein auch nur einmal eine ähn-
liche erzeugt hätte, wieviel weniger eine Maschine, welche
auf solche Weise das erste Glied einer sich von selbst
fortsetzenden Kette geworden wäre. Sie hätten dies
unstreitig gern getan. In jedem Organismus der uns
umgebenden Natur liegt uns dagegen die Lösung dieses
Problemes tatsächlich vor Augen. Hier haben wir wirk-
lich eine Maschine (wenn denn doch einmal die Pflanze
noch unter diesen Begriff gehören soll), welche von
Generation zu Generation ähnliche erzeugt, und welche
dies tut, ohne daß die Menschen auch nur einmal nötig
haben, ihr das Material dazu zu liefern und sie vor Zer-
störung zu schützen. Freilich findet sie das Material
nicht überall und muß darum oft die Arbeit einstellen,
und in den vielen und mannigfachen Gefahren, die bald
ihr unvollendetes Produkt, bald die produzierende
Maschine selbst bedrohen, geht oft das Werk, oft die
Maschine selbst vor der Zeit zugrunde. Aber die Leichtig-
keit und Fülle, mit der sie produziert, überwindet auch
alle diese Hindernisse, so daß die Erhaltung der Art
durch die Jahrhunderte gelingt. Das ist in der Tat ein
außerordentlicher Erfolg, der die Überwindung der
größten Schwierigkeiten einschließt. Das Mittel ist frei-
lich jenes als wenig zweckmäßig getadelte Mittel der Ver-
276 Lösung der Einwände gegen den Schein

geudung (denn wir wollen ja einen Augenblick annehmen,


daß es eine solche sei), aber der tatsächliche Erfolg ist
offenbar der beste Beweis für die hohe Zweckmäßigkeit
dieses Mittels. Und wenn wir, was, wie bemerkt, leider
nicht der Fall ist, imstande wären, eine Maschine zu
konstruieren, die ohne unser weiteres Zutun selbst,
trotz aller Ungunst möglicher Verhältnisse sich zu er-
halten und auszubreiten fähig wäre, so wüßte ich in der
Tat nicht, welches andere Mittel wir ergreifen sollten
als das so hochmütig bekrittelte Mittel der Vergeudung,
durch welches es jener Vernunft, auf welche die Organis-
men als ihre Werkmeisterin hinzuweisen scheinen, ge-
lungen ist, durch eine einmalige unmittelbare Kon-
struktion mittelbar tausende und tausende zu schaffen
und mit ihren Wirkungen ein Jahrtausend um das andere
von Ende zu Ende zu durchdringen.
234. So sehen wir denn, wie das Argument der Gegner
auch nicht mehr den geringsten Schein für sich behält,
sobald man nur das eine klargemacht hat, daß es sich
nicht um den Verstand der nächsten, sondern um den
der ersten Ursache, nicht um den Verstand der Organis-
men, sondern des Baumeisters der ersten Organismen
handelt. Mit einer so leichten Unterscheidung so augen-
fällig verschiedener Dinge ist das ganze stolze, auf die
Vergeudung der Keime gegründete Argument vernichtet.
Nur die Unklarheit der Fassung lieh ihm einen Schein
von Bedeutung.
Wenn es sich um den Verstand der unmittelbaren Ur-
sache handelte, so könnte man freilich nicht anders als
ihn geringschätzen, wenn z. B. ein Rosenstock, den ein
Gärtner pflegt, um gelegentlich Sträuße zu schneiden,
trotz aller bitteren Erfahrungen, die er schon gemacht,
sich immer noch in derselben Weise in erfolglosen An-
strengungen abquälte, sich fortzupflanzen, wenn er
immer noch mit den Staubfäden und Griffeln zugleich
jenen vollen Kranz lieblicher und duftender Blättchen
entwickelte, die weit entfernt zu schützen, in diesem
übermenschlicher Teleologie 277
Falle gerade die Ursache des Verderbens sind. Wie seine
Macht, müßte sein Verstand, wenn er dabei mit Ver-
stand verführe, offenbar sehr beschränkt sein. Aber
anderes gilt, wenn es, wie das wirklich der Fall ist, um
den Verstand und die Macht der ersten Ursache des
Rosenstockes sich handelt, die ja weniger den Vorteil
des einzelnen Falles, als den der Gesamtheit im Auge
haben muß. Ihr Tun erscheint wegen jener Vergeudung
nicht unverständig, sondern um so verständiger, je mehr
die nächste Ursache unverständig ist, indem durch die
Ausstattung mit jener überfülle von Fruchtbarkeit nun
ein Ersatz für den dem Werke selbst mangelnden Verstand
geboten wird. (Wenn ein Vater einen geistig beschränkten
Sohn instand setzen will, im Leben zu bestehen, täte er
nicht wohl daran, ihm nur so viel zu geben, als für die
günstigsten Verhältnisse knapp hinreicht, vielmehr wird
er ihn weit reicher als einen solchen ausstatten müssen,
der tüchtig genug ist, sich selber durch die Welt zu
schlagen.) So zeigt sich denn auch, je weiter das Werk
vom Verständigsein entfernt ist, in der Natur um so
mehr jene scheinbare Vergeudung. Darum die unyer-
gleichlich größere Zahl der Blüten der Bäume und
Pflanzen gegenüber den Geschlechtsorganen der Tiere.
Wenn diese auch schwierigeren Bedingungen unterliegen
als die meisten Pflanzen, insofern bei ihnen die Ge-
schlechter getrennt sind, so bieten bei ihnen sinnliche
Wahrnehmung und tierisches Begehren doch schon einen
Ersatz durch etwas dem Verstande Analoges. Eine
solche überschwängliche Fülle wie bei der Pflanze wird
also hier entbehrlich. Und die Deutung auf eine solche
weise Rücksicht liegt uns hier um so näher, als bei den
Pflanzenarten, welche getrennte Geschlechter haben,
also erhöhten Schwierigkeiten ausgesetzt sind, sich jene
Vergeudung am stärksten zeigt (z.B. bei den Pappeln).
236. So also glaube ich, müßte jeder Vorwurf, von unserer
Seite wenigstens, verstummen, wenn auch die scheinbare
Vergeudung der Lebenskeime wirkliche Vergeudung wäre.
278 Lösung der Einwände gegen den Schein

236. Wir wollen aber, ehe wir von dem Argument


scheiden, noch einen besonderen Blick auf die Ver -
gleiche werfen, deren eich LANGE bedient, um die Über-
legenheit der menschlichen Teleologie gegenüber der-
jenigen, die in der Natur eich zu zeigen scheint, deutlich
zu machen, und dlll'ch welche er seinem Argumente
etwas vorzüglich Bestechendes verliehen hat. Wir
wollen prüfen, ob sie wirklich treffend oder ob sie ver-
fehlt sind, vielleicht sogar an vielfachen Fehlern leiden.
Einen großen Fehler werden wir nach der geführten
Untersuchung unschwer erkennen. Es ist der, daß auch
in ihnen der Fragepunkt verschoben ist. Sie sind alle so
gewählt, als handle es sich um die Verständigkeit der
Organismen im Sinne einer ihnen selbst innewohnenden
Vernunftbegabung und nicht vielmehr im Sinne einer
Konstruktion, die einem künstlerischen Verstand Ehre
ma!)hen kann.
Der Mensch, der um einen Hasen zu schießen, Millionen
Gewehrläufe nach allen Richtungen abfeuerte, erschiene
gewiß sehr wenig verständig. Aber was folgt 1 Höchstens
etwa, daß der Baum, der aus Tausenden von Blüten zwar
nicht mit Pulver und Blei, aber mit Samenstaub und
Fruchtknoten sozusagen hervorschießt, sehr wenig ver-
ständig ist. Aber gilt dasselbe von dem Verstand, auf
den der Theist als erste Ursache die Bildung der Pflanzen
und Blüten selbst zurückführt 1 Gewiß nicht! Bleibt
doch auch, wenn noch so unvernünftig geschossen würde,
die Flinte selbst ein vernünftiges Werk, von der Kunst,
die die maschinelle Konstruktion des dummen Schützen
selbst erfordern würde, ganz zu schweigen.
Wir sehen also, LANGE beweist oder sucht zu beweisen,
was gar keines Beweises bedarf, und das, was eines Be-
weises bedürfte, läßt er fein unbewiesen. Und dasselbe
zeigen die anderen Beispiele. Denn auch bei dem, der
die tausend Schlüssel kauft und alle probiert, steht der
Verstand des unnütz verschwenderischen Käufers, und
bei dem, der eich eine Stadt baut, um eine Wohnung zu
übermenschlicher Teleologie 279

haben, der Verstand des töricht verschwenderischen


Bauunternehmers zwar allerdings tief unter dem Niveau
des gewöhnlichen Menschenverstandes. Aber was anderes
kann hier gefolgert werden als etwa das, daß der Ver-
stand der verschwenderisch fruchtbaren Organismen
nicht dem des Menschen gleich zu setzen ist? - was
jeder Teleologe auch vor diesem Argument konzediert
hätte, und aus viel schlagenderen Gründen, als sie LANGE
in den Vergleichen bietet, denn diese sind nicht bloß
wegen der beiden nachgewiesenen Versehen (des Über-
sehens der anderweitigen Verwendungen und der Ver-
wechslung von Verstand des Werkes und des Meisters)
sondern auch noch aus anderen Gründen unpassend.
237. Da nicht bloß bei LANGE, sondern gar häufig
in der Wissenschaft die Einkleidung in einseitig oder nur
scheinbar entsprechende Vergleiche das ist, was am
meisten dazu dient, einem nichtigen Argument Schein zu
geben, so wird es nicht unnütz sein, wenn ich noch ein
paar andere Fehler der Gleichnisse aufdecke. Sie werden
dann in ähnlichen Fällen wissen, wie man solche Argu-
mente entkräftet.
Ein Doppeltes ist, was das Verfahren eines Menschen,
der, wie LANGE sagt, um einen Hasen zu schießen, Mil-
lionen von Gewehrläufen über das ganze Feld hinstreüen
ließe, oder eine Stadt baute, um eine Wohnung zu haben,
ganz besonders als unvernünftig erscheinen ließe.
Erstens, das Mißverhältnis des Aufwandes zur Größe
des zu hoffenden Gewinnes. Anders würde es schon sein,
wenn statt des Hasen ein reißendes Tier oder ein ge-
fürchteter Räuber getroffen werden sollte, mit dessen
Tode dem ganzen Land Frieden und Sicherheit zurück-
gegeben wäre, namentlich, wenn dies so am sichersten
erreicht würde; denn auch dies ist von Bedeutung. Wenn
ein ganzes Regiment dastände und ein Nebel oder eine
Rauchwolke die Ebene deckte, warum sollte man in
einem solchen Falle, um recht sicher zu sein, nicht in
ganzer Linie „Feuer" kommandieren?
280 Lösung der Einwände gegen den Schein

Hierzu kommt aber noch ein zweiter Grund, warum


uns ein Verfahren wie das, von welchem in den Ver-
gleichen gesprochen wird, ganz besonders unvernünftig
erscheint: die viel größere Leichtigkeit, mit der dasselbe
Resultat auch ohne solche Mittel erreichbar wäre.
So beim Hasen (wenn nur ein einigermaßen guter
Schütze ihn aufs Korn nimmt; und jedenfalls bemüht
sich der Schütze rückwärts ganz umsonst).
Noch mehr bei dem verschwenderischen Hausbau, da
der W ohnungsuchende ja ebensogut vorher wie nachher
überlegen konnte, wo und wie er wohnen wolle.
Endlich konnte der Schlüsselkäufer probieren, ehe er
kaufte, statt nachher.
In diesen beiden Punkten treffen nun offenbar die Ver-
gleiche nicht mit dem Verglichenen zusammen. Das
eine Korn, das eine Ähre erzeugt, indem es auf guten
Grund gefallen ist, gibt Ersatz für viele Körnei', die ohne
dies zu errnichen zugrunde gehen. Und überhaupt ist
der Aufbau eines Kunstwerkes wie das eines Organismus
und das unsterbliche Fortbestehen von Geschlecht zu
Geschlecht etwas ganz anderes als die Erlegung eines
Hasen.
238. Nimmt man all das Unpassende, ja nur einen
Teil davon hinweg, so bleibt nichts Lächerliches übrig,
und es zeigt sich, daß der Gegner mit seinen Witzen, ich
weiß nicht, ob überhaupt etwas, jedenfalls aber nicht die
Anschauungen des Teleologen getroffen hat. Und zahl-
reichere, entsprechendere Vergleiche beweisen, daß der
Mensch gar häufig in ähnlicher Weise wie der Werk-
meister der Natur, wenn er wirklich einen Überfluß zu-
ließe, ja selbst so wie seine Werke verfährt, ohne daß
jemand etwas Unvernünftiges darin findet.
Ich frage: Wer wird z.B., wenn ein Leuchtturm die
ganze Nacht hindurch nach allen Seiten Licht ausstrahlt,
während nur einige Strahlen einmal ein Schiff treffen,
das zum Hafen strebt, dies unvernünftig nennen, weil
es eine nutzlose Verschwendung all der anderen Licht-
übermenschlicher Teleologie 281
strahlen sei? Und wenn einer in einem Garten eine
Quelle gräbt, die Tag und Nacht sprudelt, während er
nur hier und da, bald zu dieser, bald zu jener Zeit sich
einen Trunk Wasser holt, wer wird ihn einen törichten
Verschwender heißen? Und wenn ein Dieb 10000 Schlüssel
sich anschafft, um einen· Millionenschatz zu stehlen, wenn
einer Jahre zu einer Prüfung studiert, die eine Stunde
dauert, wird man ihn darum für schwachsinnig halten
dürfen? Man rüstet sich eben für alle Fälle. Oder wenn
Kolumbus auf der Heimfahrt vom entdeckten Amerika,
vom Sturm überfallen und den Verlust seiner Entdeckung
fürchtend, eine Menge Tonnen ins Meer warf, um die
Nachricht davon in die Welt zu tragen, wer würde dies
unvernünftig nennen? Wie viele Boten und Luftballons
wurden von Metz und Paris ausgesendet! Wer wollte
die Polizei dafür bekritteln, wenn sie den Steckbrief gegen
einen flüchtigen Verbrecher in viele Zeitungen einrücken
läßt und in jedes Exemplar der betreffenden Nummer?
Wer findet es überhaupt noch unvernünftig, bei einer
ernsten Sache, wenn Gefahr im Spiele oder gar droht,
nicht alles auf eine Karte zu setzen? Und was ist das
anderes, als was die Natur tut? Und das ist es, was
LANGE, töricht genug, Vergeudung nennt. Ich glaube
wirklich, mit dem Maße, das LANGESVergleiche anwenden,
gemessen, würden alsbald alle Menschen verrückt er-
scheinen. Und bei der Teleologie in der Natur, bei der zur
Erreichung der großartigsten Ziele dieses Mittel ange-
wandt wird, dürfen wir von Unvernunft auch nicht
sprechen. Der Mangel an Vernunft liegt hier entschieden
auf seiten des Kritikers.
239. HUME, wie LANGE ein Gegner jedes theistischen
Versuches, müht sich in den Gesprächen über die natür-
liche Religion, nach seiner Art, allenthalben in der Natur
Unvernunft zu finden. Dabei kommt er auf einen Punkt,
der mit dem von LANGEberührten so ziemlich zusammen-
fällt; aber wenn er einen Vorwurf gegen die Natur er-
hebt, so ist es der entgegengesetzte, daß sie überall so
282 Lösung der Einwände gegen den Schein

knickrig erscheine und so übertrieben sparsam. Das sei


doch nicht schön und mache keinen göttlichen Eindruck:
„Die Natur scheint die genaueste Berechnung über die
Bedürfnisse ihrer Geschöpfe gemacht zu haben, und
gleich einer strengen Gebieterin hat sie ihnen nicht mehr
Kräfte und Gaben verliehen, als eben nötig war, diese
Bedürfnisse zu befriedigen. Eine gütige Mutter würde
ihnen einen größeren Vorrat zugeteilt haben, um sie
wider alle Zufälle zu schützen" (a. a. 0. II. Abteil.). Man
sieht, es ist der Natur ebenso unmöglich, es allen Kri-
tikern recht zu machen, wie in der bekannten Fabel
dem Vater und seinem Sohne, die den Begegnenden zu
Liebe, bald einzeln, bald zusammen auf ihrem Esel
reiten, um schließlich resigniert neben ihm dahinzutraben.
Das erste der gegen den Schein einer übermenschlich
verständigen Zweckordnung gerichteten Argumente, das
sich auf die Vergeudung der Lebenskeime stützte,
scheint nun genugsam widerlegt; wir wenden uns also
den anderen zu.
240. II. Sehen wir zunächst, ob es gelinge, in gleicher
Weise auch den Angriff abzuweisen, der sich die Un-
vollkommenheit des Auges zum Angriffspunkte
gewählt hat.
Mit Recht sagen die Gegner, daß schier nirgends so sehr
wie hier die Teleologie in der Natur bewundert zu werden
pflege. Und gerade darum droht das Argument um so
verderblicher zu werden. Denn wenn es hier gelänge, ich
will nicht sagen den Schein einer Teleologie überhaupt,
aber doch den einer übermenschlich verständigen Teleo-
logie zu zerstören, so würde kein anderes Phänomen ihn
wieder zu erwecken imstande sein.
Wirklich schien der Nachweis von vielerlei Unvoll-
kommenheiten zu gelingen. Das Akkomodationsver-
mögen des Auges für verschiedene Entfernungen zeigte
sich beschränkt. Es ist nicht achromatisch wie unsere
guten Ferngläser es sind. Auch die verschiedene Deut-
lichkeit des Sehens an verschiedenen Stellen der Netz-
übermenschlicher Teleologie 283
haut schien klar die Unvollkommenheit des Auges zu
beweisen. Und so fand denn wenigstens VOGTden ganzen
Apparat so mangelhaft, daß er erklärte, wenn ein Optiker
es wagen sollte, ihm ein solches Instrument zu bringen,
würde er es ihm vor die Füße werfen.
Wenn es mit dem Auge so steht, was gilt dann von den
anderen Gliedern?
241. Unsere Antwort lautet: gewiß nichts Besseres!
Und VOGT würde darum gut tun, sich nicht bloß die
Augen auszureißen, um sich von einem Optiker ein paar
bessere machen zu lassen, sondern sich auch Glied für
Glied die Finger und Zehen oder lieber gleich die Arme
und Beine abhacken zu Jassen. Denn in der Tat, wenn
ein Techniker uns eine Lokomotive bauen würde, die
uns nicht schneller vom Platze brächte als unsere Beine,
oder einen Hebel, der nicht vorteilhafter zur Hebung der
Lasten eingerichtet wäre als das Gelenk unseres Armes,
so dürfte er schwerlich Käufer dafür finden.
Auch seine Zähne wird Herr VOGT sich wohl schon
längst haben ausziehen lassen. Denn in der Tat, wenn mir
ein Schmied eine Zange lieferte, die nicht fester packte
oder ein Messer, das nicht schärfer schnitte, ich muß es
gestehen, selbst ich, obwohl vielleicht weniger hitzigen
Temperaments als Herr VOGT, käme vielleicht in die
Versuchung und würfe sie ihm als unbrauchbar vor die
Füße.
242. Aber das eine muß ich eben doch noch beifügen:
von dem Gliederabschneiden und Augenausreißen bin
ich trotzdem kein rechter Freund. Und auch Herr VOGT
scheint mir vor solchen Konsequenzen doch selbst noch
etwas Bangen zu haben. Und aus welchem Grunde? -
Offenbar, weil doch noch manches ist, was optisches Glas
und Auge und was Hebel und Armgelenk und Messer
und Zahn unterscheidet, und wo der Vorzug nicht in
gleicher Weise auf seiten des menschlichen Produktes
ist. Ein Messer im Munde möchte wohl bald seine un-
angenehmen Wirkungen haben und auch dem Rost nicht
284 Lösung der Einwände gegen den Schein

lange widerstehen. Wie es aber im Munde selbst all-


mählich hätte wachsen sollen, vermag ich gar nicht zu
begreifen.
Ähnliches gilt denn auch beim Auge und ist bei allen
Gliedern so offenbar, daß es kaum einer besonderen Be-
merkung bedarf.
243. Dies genügt zu zeigen, mit wie unzureichendem
Maßstab Herr VooT gemessen hat, als er den Wert der
Teleologie in der Natur und den der Teleologie in den
menschlichen Werken gegeneinander bestimmte, und
eine in der Tat empörende Schmähung zurückzuweisen.
Wenn das Auge ein so geringes Kunstwerk ist, so mache
er eines! Es hat keine Gefahr, daß ihm dies gelinge, und
so hat es denn auch keine Gefahr, daß er unseren Nach-
weis der Überlegenheit der Teleologie in den Organismen
entkräfte.
244. Aber ist nicht dies wenigstens gezeigt, daß das
Auge viel Unvollkommenes an sich hat, und genügt das
nicht, um erkennen zu lassen, daß zum Nachweise eines
göttlichen Verstandes der Schein von Teleologie in der
Natur in keiner Weise verwendbar sei 1
Das erste ist richtig, das zweite aber ist nicht etwas,
was mit Notwendigkeit daraus folgte.
a) Vollkommen im Sinne unendlicher Vollkommenheit
ist nichts Gewordenes und kann es nicht sein, wie wir
schon früher sagten. Auch das Werk einer unendlichen
Weisheit kann in keinem seiner wirklich zu erreichenden
Stadien unendlich vollkommen sein, sondern nur etwa
über jede endliche Vollkommenheit hinaus sich ent-
wickeln.
b) Aber auch in diesem Sinne wird nur das Ganze an
und für sich, der Teil aber nur in seiner Beziehung zum
Ganzen an unendlicher Vollkommenheit teilhaben können.
Dieses ist das größere Gut, und das geringere ist zum
größeren wie das Mittel zum Zweck geordnet. Ich kann
noch einmal auf die Analogie mit einem Kunstwerke
hinweisen, auch hier muß der Teil als Teil am vollkommen-
übermenschlicher Teleologie 285
sten sein, nicht aber der Teil als Ganzes. Und so ist denn
der Teil als Teil am Ganzen zu messen.
Dieses Ganze ist nun für alles, was in der Welt ist, im
strengsten Sinne des Wortes nur das Ganze der Welt,
das uns unbekannt ist, und darum ist der eigentlich
tauglichste Maßstab nicht in unseren Händen.
Doch mag für die Vollkommenheit eines regelmäßig
gebauten Gliedes auch das Ganze des lebenden Wesens,
dem es angehört, ein in gewisser Beziehung sic1erer Maß-
stab genannt werden. Legen wir ihn an, so werden wir
sehen, daß kein vernünftiger Grund zum Tadel uns ge-
geben ist.
245. Allerdings könnte das Auge so gebaut sein, daß
es vollkommener sähe, und daß es sich für geringere
und größere Fernen einstellen ließe. (Obwohl für die
Feme nach HELMHOLTZnoch kein Maß gefunden ist.)
Aber die Vollkommenheit des Sehens genügt den Be-
dürfnissen des lebenden Wesens, wenn auch die Akko-
modation der besten Augen nicht bis zu den Fixsternen
reicht. Sie ist verschieden und gerade in dieser Ver-
schiedenheit ist, wie CuvIER sagt, der Verschiedenheit
der Bedürfnisse Rechnung getragen. (Gewiß hat der
Mensch ein größeres Interesse, in die Nähe und in die
Feme genauer zu sehen als jedwedes Tier, zum Zwecke
wissenschaftlicher Forschung, aber Ähnliches gilt hier
wie bei der Hand. Diese ist auch nicht so stark wie die
mächtigen Glieder der Tiere, aber sie ist stark genug,
um die stärksten Waffen zu fertigen, und so ist unser
Auge scharf genug zur Konstruktion von Mikroskopen
und Teleskopen.)
246. Sagt man, das sei wohl richtig, aber wie wolle
man es rechtfertigen, daß dasselbe Auge desselben Tieres
an verschiedenen Stellen verschieden, hier mehr, dort
minder deutlich und recht klar nur mit dem verhältnis-
mäßig kleinen gelben Fleck sehe; so ist auch dies kein
unlösliches Bedenken. Vor allem liegt darin kein Schaden
für uns, denn die Enge des Bewußtseins gestattet in
286 Lösnng der Einwände gegen den Schein

demselben Moment immer nur einen kleinen Teil des


Bildes mit voller Aufmerksamkeit zu betrachten, und
die wunderbare vollkommene Beweglichkeit des Auges
läßt uns mit äußerster Schnelligkeit die Stelle des schärf-
sten Sehens nacheinander den verschiedenen Teilen der
umfangreicheren Fläche zukehren. So besteht denn hier
nicht die geringste Zweckwidrigkeit.
Aber noch mehr! Die Physiologie hat bereits gerade
hier wieder den Schein einer besonderen Zweckberechnung
aufgedeckt. Dem Umstand dieses Sehens mit verschie-
dener Deutlichkeit haben wir nämlich wesentlich die
Vermeidung der Doppelbilder beim Sehen zu verdanken.
247. Aber, sagt man, die Chromasie ist doch jedenfalls
ein :Fehler, der sich nicht rechtfertigen läßt, zumal wir
in gemischtem Lichte schauen.
Meint ihr 1 - Ich meine sogar, er lasse sich sehr leicht
rechtfertigen. Und der Rechtfertigungsgrund, gegen den
sich nicht leicht eine weitere Instanz geltend machen
läßt, ist die Unschädlichkeit, ja die fast durchgängige
Unmerklichkeit der Farbenzerstreuung. Diese ist so
gewiß, daß keiner von Ihnen, der nicht schon Physiologie
studiert hat, überhaupt etwas davon gewußt haben wird.
Die Physiologen selbst haben aus dem Bau des Auges erst
erschlossen, daß weiße Gegenstände mit einer farbigen
Umsäumung wahrgenommen werden müßten, und waren
zuerst in Verlegenheit, wie sie die Erfahrung, die für
gewöhnlich auch den aufmerksamen Beobachter solche
Farbenräume weißer Gegenstände vermissen läßt, damit
in Einklang bringen sollten. Über die Weise, wie ihnen
dies endlich gelang, können Sie sich aus jedem gründ-
licheren Lehrbuche der Physiologie unterrichten.
248. Ist also das Auge nicht achromatisch, so ist es
doch so gut wie achromatisch für die Augfabe, die es zu
lösen hat. Und wenn nun dies richtig ist, so ist der Mangel
besonderer Einrichtungen, wie wir sie zur Erwirkung
einer vollkommenen Achromasie in unseren optischen
Instrumenten anbringen, nicht bloß kein Grund des
übermenschlicher Teleologie 287
Tadels, sondern des Lobes. Denn jede unnütze Kompli-
kation ist unteleologisch, und dies gilt um so mehr beim
Organismus, wo alles zu allem in Wechselbeziehung steht,
und eine Komplikation tausend andere Komplikationen
zur Folge haben müßte. Wenn die Natur im Auge einen
Fehler der Chromasie, so wie er sich nach unserer Er-
örterung herausgestellt hat, zuläßt, so verfährt sie nicht
anders als etwa unsere Mathematiker verfahren, wenn
sie bei einer großen und schwierigen Rechnung einen sehr
kleinen Bruch, dessen Berücksichtigung jede Operation
außerordentlich erschweren würde, ohne durch die größere
Genauigkeit des Endergebnisses einen der Mühe ent-
sprechenden Ersatz zu gewähren, einfach beiseite lassen
- ein Verfahren, das so sehr als Methode anerkannt ist,
daß daher auch ins gewöhnliche Leben der Ausdruck
,,etwas in die Brüche fallen lassen" übergegangen ist.
So sehen wir denn wiederum den Schein der Teleologie
ihren Anfechtern gegenüber vollkommen siegreich.
Und wie das Auge, so wird jedes Glied in der Beachtung
seines wahren teleologischen Maßstabes seine Apologie
finden, die oft erklären, in anderen Fällen wenigstens den
Mangel einer Erklärung aus dem geringen Umfang
unserer Kenntnisse begreiflich machen kann.
249. III. Wir wenden uns zur Abwehr des dritten Ein-
wandes gegen die Erhabenheit der scheinbaren Teleologie
in der Natur, der sich nicht wie die beiden vorausgehenden
auf Tatsachen gründet, welche nur der wissenschaft-
lichen Forschung zugänglich waren, vielmehr auf solches
hinweist, was keiner, der auch nur oberflächlichste
Kenntnis von den Erscheinungen gewonnen hat, leugnen
könne.
Es wird gesagt, die Zwecke eines göttlichen Verstandes
müßte offenbar nichts zu vereiteln imstande sein. Das
Gegenteil aber liege am Tage:
Es zeige sich, so oft auch nur eine Blüte oder ein Ei
zugrunde gehe, es zeige Bich bei Krankheit und Ver-
krüppelung, bei vorzeitigem und gewaltsamem Tode,
288 Lösung der Einwände gegen den Schein

bei sittlicher Verworfenheit, ja bei jedem sittlichen Fehler,


wie ihn selbst das Leben des Gerechtesten täglich biete.
Mit einem Wort jede Unordnung im Großen und im
Kleinen beweise, wie die Absichten jenes Verstandes, den
man etwa in der Natur anzunehmen geneigt sein könnte,
häufig fehlschlagen würden. Der sogenannte göttliche
Verstand, wurde gesagt, müßte sich am alleröftesten
verrechnet haben.
250. Nicht unvorbereitet treten wir an die Lösung
dieses Einwandes heran. Vielmehr haben wir wesentlich
nichts anderes zu tun, als auf frühere Betrachtungen
zurückzugreifen. Wir wollen aber dennoch, auch auf die
Gefahr hin, uns zu wiederholen, nichts Wesentliches, was
zur Widerlegung dient, unerwähnt lassen. Und zwar
zuerst einiges im allgemeinen, dann, da ja eine Reihe
besonderer Phänomene berührt wurde, auch für einzelne
von ihnen noch etwas im besonderen sagen.
251. Vor allem muß ich an die Unterscheidung von
Zweck und Aufgabe erinnern. Wir haben sie früher
sorgfältig festgestellt und zugleich gezeigt, wie Zweck
und Aufgabe auseinandergehen können; wie in der
Natur der Zweck uns schier immer verborgen bleibe,
Aufgaben aber recht wohl erkennbar seien; wie die Auf-
gaben viele und entgegengesetzte sein können, der Zweck
aber einer, und wie dieser, im Falle die Natur einen un-
endlich vollkommenen Urheber haben sollte, immer er-
reicht werde, die Aufgaben aber oft zu keiner Erfüllung
gelangten.
Mittels dieser Gedanken haben wir manche der be-
trachteten Erscheinungen schon im einzelnen beleuchtet,
z.B. die Erscheinung der Blüten und der unreifen Früchte,
welche massenhaft zugrunde gehen. Und wir haben auch
gesehen, wie sie im Haushalte der Natur deshalb nie als
eigentlicher Unrat vorkommen, sondern immer eine von
den mannigfachen möglichen Verwendungen finden.
252. Dann muß ich an das erinnern, was wir auch schon
hervorhoben: daß der Teil sein Maß am Ganzen hat.
übermenschlicher Teleologie 289
Das W eltganze wäre der wahre Maßstab, der die wirklich
vorkommende Zweckwidrigkeit ermessen ließe. Der
Maßstab ist uns nicht gegeben, und darum fehlen uns
wohl die Mittel zu vollkommener Erklärung im einzelnen,
aber auch dem Gegner fehlt die Waffe zu entscheidendem
Angriff.
Ich hebe indes hervor, daß die Vollkommenheit der
gesamten Ordnung jedenfalls die Allgemeinheit der Ge-
setze verlangt; nicht ein aus Wundern und unmittelbaren
Nachbesserungen zusammengeflicktes Machwerk, son-
dern ein einheitlich in großem Stil durchgeführter Plan
soll die Weltordnung sein. Es wird in Rücksicht darauf
im Teile gar mancherlei zugelassen, was ihn nicht für sich,
wenn er ein Ganzes wäre, vollkommen erscheinen lassen
würde, wohl aber als Teil der Welt und an dieser Stelle
und zur Durchführung der allgemeinen Gesetze.
253. Endlich erinnere ich noch einmal daran, daß die
Welt, wenn Werk eines unendlich vollkommenen Ver-
standes, in gewisser Weise an seiner unendlichen Voll-
kommenheit teilnehmen muß. Dies aber nur in der
Weise, wie ein ·werk es allein vermag, nämlich durch
eine Entwicklung über jedes endliche Maß der
Vollkommenheit hinaus. Jedes frühere Stadium ist
gegenüber den späteren unvollkommen, ähnlich wie bei
der embryonalen Entwicklung. Und bei welcher Stufe
soll die Entwicklung beginnen 1 Es liegt nahe, zu denken,
daß sie im Vergleich zu den späteren Stadien wie eine
Art Chaos erscheinen müsse. Und das sozusagen Chao-
tische und, wenn man es für sich nähme, Ungeordnete
und Unvollkommene wird auch den nächstfolgenden
Stadien anhaften und sich, wenn die Entwicklung unend-
lich sein soll, nie gänzlich verlieren, sondern nur die Voll-
kommenheit ins Unendliche siegreich mit dieser Unvoll~
kommenheit ringen, dem Ende sozusagen immer un-
endlich fern, dem Anfang relativ nahe. Und wer wüßte
für die durchlaufenen Perioden die genaue absolute
Länge zu bezeichnen? Wieviel scheinbare Unordnung
290 Lösung der Einwände gegen den Schein

muß da nicht sehr natürlich erwartet werden, wenn auch


die Spuren begonnener Ordnung, die dazwischen sich
zeigen, schon alles, was wir zu ordnen vermögen, unend-
lich hinter sich zurücklassen?
254. IV. Erläutern wir im Hinblick darauf nun noch
einige Beispiele der unseren Gegnern anstößigsten Er-
scheinungen im besonderen und im Zusammenhang da-
mit zugleich die daraus abgeleitete moralische Minder-
wertigkeit des Verstandes.
Das vernünftige Wesen, wurde gesagt, an welches etwa
als Ursache zu denken wäre, müßte moralisch tief unter
dem Niveau stehen, auf welchem sich die Besseren unter
den Menschen befinden. Ein guter Mensch wird vor-
ziehen, die Erzeugung neuen Lebens zu beschränken, als
die Überfülle des Erzeugten dem Untergange zu weihen.
Er wird das Leid, den Irrtum, die Feindschaft aus-
schließen. Und nun sehen wir von alledem ein Übermaß.
Eine Fülle pessimistischer Aussprüche von Dichtern und
Denkern konnten so zu geflügelten Worten werden.
„Der Mensch ist zum Leiden geboren." ,,Es irrt der
Mensch, solang er strebt." - ot nÄEtaWt xaxol.
Die Volkssprache hat die Worte „selten", ,,außer-
ordentlich" geradezu zu Synonymen für „vorzüglich"
gemacht. Nach den modernen, darwinistischen Philo-
sophen ist „der Kampf aller gegen alle" Prinzip der Welt-
entwicklung und sie begegnen sich in dieser wenig tröst-
lichen Lehre mit einem uralten Gedanken aus vorsokra-
tischer Zeit.
266. Bei Lichte besehen, handelt es sich bei diesem
Argument nicht eigentlich um eine Objektion gegen un-
sere These. Vielmehr wäre seine passende Stelle ent-
weder früher unter den Angriffen zu suchen, die von
vornherein die Annahme eines Gottes als unmöglich er-
kennen lassen wollen, oder später, wo der weltordnende
Verstand als unendlich vollkommenes Wesen erwiesen
werden soll (womit ja dann, wie die Vollkommenheit des
Verstandes auch die vollkommene Güte gesichert wäre).
übermenschlicher Teleologie 291
Immerhin sei auch hier den Bemerkungen eine kurze
Antwort entgegengestellt, die aber, wohlbemerkt, wieder-
um nicht darauf ausgeht, zu zeigen, daß die Weltordnung
einen unter sittlichem Gesichtspunkte unendlich voll-
kommenen Ordner verlangen würde, sondern nur zu
zeigen, daß die Gegner nicht erwiesen haben, daß sie
etwa nur mit einem moralisch schlechten weltordnenden
Prinzip vereinbart werden könnte.
266. Und dies zu leisten, ist nicht schwer. Es kommt
dabei vor allem als ein nicht unwesentliches Moment die
Erwägung in Betracht, daß der Mensch in bezug auf die
Erkenntnis des Guten und Schlechten an und für sich
und in seinem Wertverhältnisse zu anderem Guten und
Schlechten beschränkt ist. Die Psychologie und ethische
Erkenntnistheorie zeigen, wie wir aller Wahrscheinlich-
keit nach unfähig sind, ganze Klassen von Gütern in
ihrer Güte zu erkennen. Und ebenso, wie wir vielfach
gar kein Mittel haben, die Größenverhältnisse gewisser
Güter festzustellen 93 ). Bei unserem Wählen nehmen wir,
wenn wir das Gute fördern wollen, nur auf das wenige,
was für uns als gut und schlecht vergleichbar ist, Rück-
sicht. Da ist es denn sehr natürlich, daß wir die Wert-
schätzungen eines Wesens, das auf diesem Gebiete um-
fassendere Einsichten besitzt, nicht durchwegs begreifen.
Und so müssen wir aus diesem wie aus früher erbrachten
Gründen mit sittlichen Vorwürfen gegen den etwaigen
Weltordner sehr zurückhaltend sein. Denn sittlich will,
wer als letzten Zweck das Bestmögliche erwählet.
267. Nach dieser allgemeinen Bemerkung noch ein paar
Worte, die das Einzelne betreffen.
Die Beschränkung der Zeugung und möglichste Er-
haltung des Erzeugten soll moralischer sein als Überfülle
der Produktion neuen Lebens, welches größtenteils vor-
zeitig dem Untergang. verfällt. Das ist jedenfalls kein
selbsteinleuchtender Satz, und so ist er denn auch gewiß
nicht unbedingt richtig, sondern nur in dem Falle, wenn
der erste Weg die Welt zu Besserem führen würde als der
292 Lösung der Einwände gegen den Schein

zweite. Nun aber haben wir schon, da wir von der an-
geblich törichten Vergeudung der Lebenskeime sprachen,
den, wie man meint, übergroßen Reichtum der Produk-
tionskraft in der Natur als dasjenige befunden, was in
zweckdienlichster Weise die Vollkommenheit in der
lebenden Welt erhält und fördert.
268. Weiter: Das Leid, meint man, der Irrtum, die
Schlechtigkeit würde ein moralisches Weltprinzip nicht
in seinen Plan aufgenommen haben. Wie kann ein un-
endlich gütiges und mächtiges Wesen fügen oder nur
dulden, daß einem Leid geschieht, daß er in den wich-
tigsten Beziehungen in Wahnideen befangen ist, ja daß
er dem größten sittlichen Verderben verfällt 1
Nichts ist kleinlicher und oberflächlicher als dieses
Gerede. W aa wir über die Zulassung eines Übels im Teile
in Rücksicht auf die Vollkommenheit des Ganzen sagten,
warum soll dies nicht auch auf Leiden, Irrtümer und
sittliches Verderben Anwendung finden 1 Bei endlich
vollkommenen Wesen beruhen Irrtum und Erkenntnis,
schlechter und guter Wille, Leid und Freude auf den-
selben Grundgesetzen des seelischen Lebens. Wer Irrtum,
schlechtes Wollen und Leid gänzlich ausschließen wollte,
der müßte, wenn nicht der natürliche Lauf fort und fort
durch Wundereingriffe unterbrochen werden soll, alles
vernünftige Seelenleben überhaupt aus der Welt ver-
bannen. Er würde sie aber kaum dadurch interessanter
gemacht und vervollkommnet haben.
269. Vielleicht sagt einer „nicht interessanter gemacht",
das will ich zugeben; besser gemacht aber jedenfalls.
Denn, wie sie jetzt ist, enthält sie mehr Irrtum als Er-
kenntnis, mehr Laster als Tugend, mehr Leiden als Lust.
Das heißt eben, das Schlechte überwiegt. Und so wäre
alles in allem eine tabula rasa auf diesem Gebiete ein
Fortschritt zu nennen.
Aber wenn auch viele solches mit Nachdruck be-
haupten, so bringen sie doch nichts vor, was dieses ihr
zuversichtliches Urteil rechtfertigte. Es mag sein, daß
übermenschlicher Teleologie 293
es mehr sittlich Schwache, ja mehr Lasterhafte gibt, als
heroisch tugendhafte Menschen. Aber was für eine rohe
Weise ist es, durch solche Abzählung zu bestimmen, ob
in der Summe Wert oder Unwert überwiege! Was mich
betrifft, so erscheint mir die Existenz eines Mannes wie
Sokrates etwas so Wertvolles, daß ich um seinetwillen
nicht die Geschichte Athens vermissen möchte, und wenn
noch zehntausend Schurken mehr dort ihr Unwesen ge-
trieben haben sollten. Ich fühle hier schier so, wie ich
nicht möchte, daß ein Bild des Tizian nicht bestände,
wenn auch mit ihm zehntausend ästhetische Mißgeburten
anderer Maler verschwinden sollten.
Bei Irrtum und Erkenntnis gilt dasselbe. Ich gebe zu,
daß der Irrtum weit verbreitet ist. Ja ein jeder, auch
der Weiseste, ist, während er schläft, der Spielball törichter
Einbildungen. Aber eine Entdeckung, die er als Wa-
chender macht, dürfte doch wohl in ihrem Werte allen
Unwert dieser träumerischen Irrungen aufwiegen.
260. Was endlich Leid und Lust anlangt, so ist es
gewiß nicht erwiesen, daß das Maß des Leidens dem der
Lust überlegen sei. Viele behaupten es (SCHOPEN-
HAUER, TURGENJEFF z.B.), viele glauben ebenso ent-
schieden des Gegenteils sicher zu sein. (So HUTCHESON
und neuerdings wieder HAMERLING.)
Prüft man die angeblichen Beweise, so findet man, daß
alles auf subjektiven Schätzungen beruht, die mit einer
wahren Messung wenig Ähnlichkeit haben. Sie ist wohl
wesentlich Temperamentsache. So werden Kinder, obwohl
sie zuweilen verzweifelte Wehlaute ausstoßen, nicht leicht
in bezug auf die Genüsse des Lebens pessimistisch denken,
während die morosa senectus, auch wenn sie sich gelegent-
lich trefflich amüsiert, im allgemeinen eher der ScHoPEN-
HAUERschen, trüben Weltanschauung zugänglich ist.
Was aber das Wertverhältnis von Freud und Leid an-
geht, so ist eines sicher: während die höchsten Freuden
reine Güter sind, schließen die grauenhaftesten Qualen
auch Gutes in sich. Denn als solche dürfen doch wohl
294 Lösung der Einwände gegen den Schein

die Qualen des verbrecherischen Gewissens gelten, jene


schmerzvollen Selbstbeschuldigungen, deren Macht die
Alten uns in den Furien schilderten. Es ist etwas
Edles und Heiliges in dieser Pein. Und neben dem, was
von dem ihr innewohnenden Werte gilt, erscheint diese
Pein, wie auch ganz deutlich andere von minderem
Range, in ihren Folgen im allgemeinen 80 geordnet, daß
es nicht allzu schwer wird zu glauben, daß auch das
Leiden berufen ist, die Vollkommenheit des W eltganzen
zu erhalten und zu fördern, was ihm dann ähnlich wie der
Lust, die auch im allgemeinen in diesem Sinne wirkt,
einen hohen Nützlichkeitswert verleiht.
261. V. Doch ein Einwand bedarf in dieser Hinsicht
eines besonderen Wortes der Entgegnung. Es wurde nicht
bloß darauf hingewiesen, daß so viel Böses in der Welt
sei, sondern auch darauf, daß jener scheinbare Beruf der
natürlichen Dinge ein Beruf zum Bösen sei. Nicht bloß
zeige sich überall stets statt Einigkeit Widerspruch,
sondern dieser Widerspruch, der Kampf von allem mit
allem, erscheine auch als Beruf. Die Dinge scheinen
darauf angewiesen, einander zu bekämpfen und zu zer-
stören. Nicht alles für alles, wie wir gesagt, sondern alles
gegen alles. Der Krieg, nicht der Frieden, sei der Vater
des Lebens, natürlich des unglückseligsten. Und so
erscheine die Welt als die schlechteste von allen mög-
lichen. Alles sei innerlich.st wie von einem bösen Geist
durchdrungen, 80 daß wir immer Schlechtes sehen, ent-
weder Mißlingen oder Gelingen mit schlechten Mitteln.
Wenn hier der Schein des Waltens eines göttlichen
Prinzips anerkannt werden solle, so nicht eines gütigen,
sondern eines manichäisch bösen Prinzips.
262. Hier wird recht deutlich, was man durch unvoll-
ständige und . ungenaue Darstellung und durch Rede-
figuren leisten kann. Nimmt man sie hinweg, so bleibt
nicht viel von der ganzen pomphaften Argumentation
übrig, jedenfalls nichts, was nicht schon in den bisherigen
Erörterungen widerlegt wäre.
übermenschlicher Teleologie 295

263. Zeigen wir dies im einzelnen. Vor allem ist nicht


alles, was hier Kampf genannt wird, wirklich Kampf.
Vom Kampf im wahren und eigentlichen Sinne kann man
ja nur da reden, wo Begehren ist. Bei allem Leblosen
also und auch bei allem dem, was in unbewußten Lebens-
funktionen sich bestätigt, kann nur in einem höchst un-
eigentlichen Sinne von Kampf gesprochen werden, inso-
fern nämlich alles Wirken und Gegenwirken und ins-
besondere jenes, das in gewissen Fällen zu einseitiger
oder gegenseitiger Zerstörung der Substanzen führt, eine
gewisse .Ähnlichkeit mit dem eigentlichen sog. Kämpfen
zeigt.
264. Ferner, nicht alles, was Kampf ist, ist von beiden
oder auch nur von der einen Seite wirklich böse.
Wenn wir „böse" im moralischen Sinne nehmen, ist
dies offenbar, und zwar sowohl vom Kampf im eigent-
lichen als von dem im uneigentlichen Sinne, von dem wir
eben sprachen. Daß der letztere nie moralisch böse ge-
nannt werden kann, ist einleuchtend. Dasselbe gilt aber
auch vom Kampf im eigentlichen Sinne, soweit er ver-
nunftlos, wie von den Tieren, geführt wird.
Nur der Mensch hat unter allen Wesen, die in unsere
Erfahrung fallen, die Gabe der Vernunft und mit ihr die
Fähigkeit zu sittlichem und unsittlichem Handeln. Aber
auch die Kämpfe, die er mit vernünftiger Überlegung
unternimmt, sowohl die, wo er gegen andere Menschen,
als die, wo er gegen andere lebende Wesen oder auch
gegen die bewußtlose Natur kämpft, sind keineswegs alle
moralisch böse zu nennen. Es kommt vielmehr darauf
an, welche Ziele er in ihnen anstrebt und welche Mittel
er dabei ergreift. In beiden Beziehungen kann er fehlen,
aber ein so geführter Kampf wird niemals seine Aufgabe
sein. Die wahre Aufgabe, die dem vernünftig Handeln-
den gesetzt ist, ist ja die, das Vollkommene zu lieben, es
mit aller Kraft anzustreben und sich selbst sowie anderes
ihm unterzuordnen und was sonst als Konsequenz aus
diesem Gesetz abzuleiten ist. Auch ein Kampf ist daher
296 Lösung der Einwände gegen den Schein

nie für ihn Aufgabe, außer als Konsequenz und in keiner-


lei Widerstreit mit diesem Prinzip. Jeder andere ist ein
Abfall von seiner Aufgabe.
Somit ist allgemein erwiesen, daß der Kampf, soweit
er in der Welt als Aufgabe erscheint, niemals moralisch
böse ist, und daß also, wenn auch ein Beruf zum Kampf
im eigentlichen und minder eigentlichen Sinne, doch
deshalb niemals ein Beruf zum moralisch Bösen einem
Dinge innewohnt.
265. Aber wenn nicht etwas moralisch Böses, ist nicht
doch jeder Kampf wahrhaft etwas Böses zu nennen
und läßt darum den etwaigen Urheber der ·welt, der mit
Bewußtsein und Freiheit alles zum Kampfe berufen haben
würde, nichtsdestoweniger als sittlich böse erscheinen 1
Keineswegs! Allerdings ist es wahr, daß wo immer
Kampf geführt wird (und sei es auch ein solcher, bei
welchem beide Teile zum Kampf berufen erscheinen),
ein Mangel an Vollkommenheit gefunden wird. Beide
Teile können ja nicht siegen. Der eine wenigstens er-
reicht nicht, was er erstrebt, und erstrebt nicht, was mit
dem Plane des Ganzen und seiner eigenen Bestimmung
vereinbar ist. Aber wir sahen ja schon früher, wie solche
Unvollkommenheiten der Teile mit der Vollkommenheit
des Ganzen verträglich, ja um ihretwillen zugelassen sein
können, und insbesondere wie es geschehen kann, daß
die einzelnen Teile der Welt, unbekannt mit ihren eigent-
lichen Zielen, de~noch in allem ihrem Wirken zu ihrer
Verwirklichung beitragen.
266. Aber ist nicht der Kampf oft auf Zerstörung ge-
richtet und führt, wenn er siegreich ist, zu wirklicher Zer-
störung? Das aber ist, weshalb er vorzüglich als böse er-
scheinen muß.
Wir antworten: Wenn durch jene Kämpfe nur Zer-
störung bewirkt würde, oder wenn auch nur die Kämpfen-
den selbst in ihrem Streben nur auf Zerstörung gerichtet
wären, dann freilich würde der, welcher den Beruf dazu
ihnen gegeben, kaum mehr als sittlich gut erscheinen
übermenschlicher Teleologie 297
können. Aber in beiden Beziehungen ist das Gegenteil
offenbar. Nirgends ist das Begehren auf eine Zerstörung
um ihrer selbst willen gerichtet, sondern auf ein Gut,
das ohne sie nicht zu erreichen ist. So wenn das Raubtier
durch den Tod eines anderen sein Leben fristet oder ein
Pflanzenfresser Blätter und Früchte verzehrt. Und so-
weit ein Analogon des Begehrens im Reiche des Un-
bewußten erscheint, sei es, daß eine Pflanze aus dem
Boden und aus der Atmosphäre Stoffe an sich zieht und
sie zersetzt, sei es, daß in der unorganischen Natur ein
physikalischer oder chemischer Prozeß stattfindet, gilt
auch dafür dasselbe.
267. Und nirgends ist das Ergebnis des Kampfes bloße
Zerstörung.
Vielmehr ist jede Zerstörung zugleich Aufbau. Cor-
ruptio unius est generatio alterius. Und das, was in ihr
und durch sie aufgebaut wird, ist oft schon in sich selbst
betrachtet vollkommener als das, was zerstört wird.
Jedenfalls aber auch wenn dies nicht der Fall ist, steht,
wie wir früher gesehen, nichts der Annahme entgegen,
daß es, in Rücksicht auf das Ganze betrachtet, voll-
kommener sei.
268. Und der Prozeß des Kampfes selbst, sowohl des
Kampfes im eigentlichen, als des Kampfes im uneigent-
lichen Sinne, ist eine der vornehmsten Vollkommen-
heiten des Ganzen.
Das gegenseitige Wirken und Leiden aller Dinge macht
ja erst die Welt zur Welt und gibt ihr wie Einheit, so
Entwicklung. Und diese wird um so großartiger, je tiefer
die umwandelnde Kraft bis in das innerste Wesen der
Dinge greift. In der Zerstörung entfaltet die Substanz
ihr Vermögen als materielle Ursache.
Im bewußten Kampfe aber, im Kampf im eigentlichen
Sinne, wird die lebendige Kraft zu gesteigerter Tätigkeit
angeregt, und in der Tätigkeit liegt, wie im Allgemeinen,
so insbesondere beim Lebendigen die vorzügliche V oll-
kommenheit.
298 Lösung der Einwände gegen den Schein

So ist es bei den Kämpfen der Tiere. Der Fuchs


ist nicht wahrhaft Fuchs und der Löwe nicht im voll-
endeten Sinne Löwe außer in den listigen Nachstellungen
oder in dem kühnen Angriff auf das, was sie a.ls Beute
sich ersehen haben. Und auch den Menschen weckt der
Kampf um die Selbsterhaltung, und nicht zufällig ist
es, wenn wir sehen, wie die Völker solcher Erdstriche,
wo die Natur am freigebigsten ihre Gaben darreicht, am
wenigsten zu rühriger Tätigkeit ihre Kraft zu entwickeln
pflegen.
269. Ich könnte noch vieles sagen, was durch den sog.
Kampf an Gutem erzielt wird. DARWIN und schon
HERAKLITbetrachten ihn als Vehikel des Fortschrittes.
So sehen wir denn, wie ungerecht der Vorwurf unserer
Gegner war, da sie den Beruf zum Kampf auf eine
schlechte Absicht des Weltprinzipes deuteten. Selbst
das Einzelne gewinnt durch den Kampf oft an Voll-
kommenheit, oder, wenn es geschädigt oder zerstört
wird, gewinnt doch das Ganze dabei an Vollkommen-
heit.
270. Freilich mögen wir mit einer gewissen Wehmut
sehen, wie etwas Schönes und Herrliches zugrunde geht,
aber der, welcher einmal die Teleologie in der Welt er-
kannt hat, sieht zugleich mit staunender Bewunderung
dieses Schauspiel. In dem Untergang von Vollkommenem
liegt etwas Großartiges. Die Erhabenheit Gottes, ja
selbst die des Weltganzen zeigt sich in der Hinfälligkeit
der einzelnen seiner Teile. Dies Individuum, so voll-
kommen es auch erschien, war nicht so vollkommen,
daß es in der Welt auf ewig eine Stelle verdiente. Es
war ein Werk nicht der Anstrengung, sondern sozusagen
des Spiels und gibt, indem es dem Untergang preis-
gegeben wird, am meisten von der mühelosen Leichtig-
keit seines Aufbaues Zeugnis. ,,Zeus", sagt in diesem
Sinne HERAKLIT,,,baut die Welt spielend wie ein Knabe
und löst sie wieder in Feuer auf, solche Spiele spielt
Zeus."
übermenschlicher Teleologie 299
Und derselbe Gedanke der Erhabenheit Gottes im
Untergang der Kreaturen hatte den Dichter ergriffen,
da. er sagte:
Hoffnungslos
Weicht der Mensch der Götter Stärke,
Müßig sieht er seine Werke
Und bewundernd untergehn.
Wenn nun die Welt dann am vollkommensten ist,
wenn sie am meisten die Vollkommenheit Gottes offen-
bart, so sieht man wohl, wie auch in dieser Beziehung,
wie in so vielen anderen, der Kampf in der Welt und die
Zerstörung teleologisch wohl geordnet erscheinen.
271. Wir hatten gesagt, in der Welt erscheine alles für
alles. In dem Einwande wurde dagegen behauptet, daß
dies so vollkommen irrig, daß vielmehr alles gegen alles
gerichtet scheine. Wir hatten von einer Harmonie ge-
sprochen; in dem Einwand dagegen wurde behauptet,
daß dies so gänzlich falsch sei, daß vielmehr überall
Widerstreit sich zeige.
Er übersah, daß, was gegen ein anderes ist, deshalb
doch für das andere sein, und daß, was in Widerstreit,
deshalb doch in Harmonie sich finden kann. Was gegen
die Vollkommenheit eines anderen, an sich betrachtet, ist,
kann doch zugleich für die Vollkommenheit sein, die ihm
als Teil des Ganzen zukommt. Und ebenso kann der
Widerstreit der Teile mit der Harmonie des Ganzen und
der Widerstreit der Aufgaben mit der Einheit der Absicht
und des Zweckes zusammenbestehen. So kann es denn
auch geschehen, daß, während in dem einen Sinne der
Kampf alle Gebiete der Welt durchdringt, in einem
anderen und höheren Sinne alles im vollkommensten
Frieden geordnet ist.
Und so ergibt denn die Prüfung auch dieses Einwandes,
wie die der früheren, daß nichts den Schein von Teleo-
logie, welchen wir in der Welt erwiesen haben, zerstören,
ja nichts zu irgendwelchem Tadel dieser Teleologie uns
zu berechtigen vermag.
300

Zweiter T ei1: Die Wirk1ichkeit du T e1eofogie


I. Die Hypothese der blinden Notwendigkeit
A. Äftere und neue Formen dersefben
272. Die Frage ist: Bedeutet diese scheinbare Zweck-
ordnung in der Welt wirkliche Zweckordnung, d. h. ist sie
zu fassen als Folge des Wirkens eines Verstandes und
Willens1
In welcher Weise nun ist diese Untersuchung zu führen 1
Der Schein der Zweckordnung ist eine Tatsache. Wir
müssen nach den Hypothesen fragen, aus welchen diese
Tatsache erklärbar ist. Sind mehrere solche Hypothesen
möglich, so haben wir für jede ihre Wahrscheinlichkeit
festzustellen. Wenn die Wahrscheinlichkeit der einen
die Summe der W ahrscheinlich.keiten aller übrigen un-
endlich übertrifft, so ist ihre Wahrscheinlichkeit unend-
lich, d. h. (physische) Gewißheit 94 ).
273. Man hat faktisch. drei Hypothesen aufgestellt:
Die erste besagt nichts anderes als die Wirklichkeit
der Zweckordnung. Sie will den Schein der Zweck-
ordnung begreifen daraus, daß ein Verstand und Wille
tätig war und diese Zweckordnung setzte.
Die zweite Hypothese ist die des Zufalls. Diese
Ordnung in der Natur wird als eine letzte Tatsache hin-
genommen. Es handle sich eben um scheinbar teleo-
logische Kollokationen.
Die dritte Hypothese ist die Hypothese der blinden
Notwendigkeit. Aus den Naturgesetzen folge, daß
die Natur, sich selbst überlassen, ohne Zutun irgend-
welchen ordnenden Prinzips und welches auch immer die
Kollokation ihrer Bestandteile sein mag, allmählich in
einen Zustand übergehen müsse, der den Schein der be-
rechnetsten Zweckordnung an sich trägt.
Es ist leicht nachzuweisen, daß eine vierte
Hypothese nicht mehr möglich ist, denn die
Die drei Hypothesen 301
scheinbare Zweckordnung ist entweder wirk-
liche Zweckordnung oder bloßer Schein. Im
ersten Fall gilt die erste Hypothese. Ist sie
bloßer Schein, so entsteht dieser entweder
notwendig oder nicht notwendig 96 ).
274. Aber wenn es außer Zweifel steht, daß keine
vierte Hypothese möglich ist, so erhebt sich dafür eine
andere Frage: ob man die genannten drei wirklich alle
als mögliche Hypothesen zulassen dürfe.
Hier gibt namentlich die dritte Anlaß zu Bedenken.
275. Man hat, um sie zu erläutern, sich des Vergleiches
mit dem Kaleidoskope bedient. Unter jeder beliebigen
Kollokation gibt dieses einen Schein von Ordnung.
Natürlich beweist ein solcher Vergleich nichts. Auch
scheint er wenig passend. Die drei in bestimmten Winkeln
zusammengestellten Spiegelwände werden mit den die
Natur beherrschenden Gesetzen verglichen, während sie
doch vielmehr als ein Bestandteil der ursprünglich regel-
mäßigen Kollokation erscheinen. Nur die Gesetze der
Spiegelung etwa dürfte man mit den die Natur beherrschen-
den Gesetzen in Parallele stellen. Aber wenn man .das
tut, so fällt der ganze Vergleich. Auch erscheinen nicht
die willkürlich hineingeworfenen farbigen Stückchen,
wenn man sie in ihrer Beziehung zueinander betrachtet,
als künstlerisch regelmäßig geordnet, sondern nur wenn
man ihre Gesamtheit mit den Spiegelbildern zusammen-
faßt, in welchen sie, dank der zum voraus gegebenen
Ordnung, in regelmäßiger Folge sich wiederholen.
276. Lassen wir also diese Vergleiche, die, wenn sie
selbst passender gewählt würden, immer wenig Be-
deutung hätten.
Wichtiger ist, was man seit DEMOKRITSZeiten - denn
schon dieser Vater des Atomismus, ja teilweise schon vor
ihm EMPEDOKLEShat eine derartige mechanische Er-
klärung der scheinbaren Zweckordnung in der Natur an-
gebahnt - von einzelnen Tatsachen vorzuführen suchte,
die zeigen sollten, wie durch blinde Notwendigkeit eine
302 Die Hypothese der blinden Notwendigkeit

ganz willkürliche Unordnung in der Natur nach und


nach zur regelmäßigen Ordnung werde.
Schon DEMOKRITwies darauf hin, wie aus einem noch
so wirren Chaos mit Naturnotwendiglieit doch nach und
nach eine lichtere und schönere Ordnung werden müsse,
indem Gleichartiges mit Gleichartigem sich zusammen-
finde (Schwalbe mit Schwalbe, Kranich mit Kranich.
Beim Würfeln des Getreides trennt es sich von der Spreu.
Am Meere werden Muscheln von ähnlicher Gestalt an die-
selbe Stelle getrieben).
277. Heute macht man Größeres geltend. Die Ordnung,
die wir in den Erscheinungen des Himmels wahrnehmen,
die Regelmäßigkeit d13r Bewegungen der Gestirne hat
man lange Zeit dem Einfluß, ja dem unmittelbaren Ein-
fluß geistiger Mächte zugeschrieben. Aber das Gravi-
tationsgesetz hat diese Geister als unnötig beseitigt und
zugleich gezeigt, wie zwei oder mehrere in beliebiger Ent-
fernung voneinander angenommene und mit einer be-
liebigen, nur nicht allzu großen Kraft in verschiedener
Richtung fortgestoßene Massen naturnotwendig in ein
ähnlich regelmäßiges Spiel periodischer Umläufe mit-
einander eintreten werden.
278. Ja noch größere Probleme scheinbarer Teleologie
will in dieser Weise die rein mechanische Naturerklärung
lösen. Auch die Vollkommenheit der Organisation, welche
wir in großer Mannigfaltigkeit an Pflanzen und Tieren
bewundern, glaubt sie aus den allgemeinen Gesetzen als
naturnotwendiges Resultat jedweder Entwicklung,
von wie unvollkommenen Anfängen sie auch
ihren Ausgang nehmen möge, fassen und erklären
zu können.
279. EMPEDOKLEShatte schon den Gedanken aus-
gesprochen, daß unter vielfachen Ansätzen zu organischen
Gebilden, die im Verlauf der Zeit unter Einfluß von
verbindenden und trennenden Kräften entstanden seien,
diejenigen, welche völlig mißgebildet gewesen, als nicht
lebensfähig wieder zugrunde gegangen seien, während
Die DARWINsche Selektionshypothese 303

die vollkommeren Gebilde sich erhielten und fortpflanzten.


Und so sei nach und nach die Erde notwendig von Ge-
schlechtern wohlgebildeter lebender Wesen bevölkert
worden, wie wir sie jetzt um uns gewahren.
Die DARWINsche Selektionstheorie
280. Die nähere Ausführung erregt unserer vor-
geschrittenen Wissenschaft ein Lächeln. Aber der Grund-
gedanke ist auch hier nicht untergegangen, ja in unseren
Tagen hat er mächtiges Aufsehen erregt und zahlreiche
Anhänger gewonnen. Dies geschah, als DARWINmit seiner
Lehre von der geschlechtlichen Zuchtwahl auftrat.
Ein Züchter verbessert die Rasse, indem er die voll-
kommeneren Exempla.re ausschließlich erhält und zur
Fortpflanzung verwendet, nach den Gesetzen der Ver -
erbung und der Veränderung.
Nach dem ersten dieser Gesetze übermacht jedes Tier
und jede Pflanze, von welcher Art auch immer sie sein
mögen, ihrer Nachkommenschaft eine allgemeine Ähn-
lickheit mit partikulären Besonderheiten. Nach dem
zweiten kann jedes Individuum von den Individuen, von
denen es abstammt, in jeder beliebigen Art und Richtung
um ein Kleines abweichen. So bilden die Züchter ganz
neue Arten (Tauben: Pfauentauben, Purzeltauben usw.
- Schafe in England mit langem wolligen Leib und
kurzen Beinen. - Stier ohne Hörner in Paraguai).
Dasselbe tut die Natur. Das Prinzip, das hier an die
Stelle der absichtlichen Auswahl tritt und, wenn auch
langsam, doch auf die Länge der Zeit (und die Zeit sei
ja als praktisch unendlich zu betrachten) sehr bedeutend
und nur um so nachhaltiger wirkt, ist der struggle for
life, der „Kampf ums Dasein" (um die Lebensbedürf-
nisse).
Jede Art von Tier und Pflanze hat nämlich, wie MAL-
THUS in nationalökonomischer Beziehung schon vor
DARWINhervorgehoben hatte, die Tendenz, sich in einer
geometrischen Progression zu vervielfältigen, während
304 DARWINS Theorie als Form

doch die Mittel, welche die Natur zu ihrer Erhaltung dar-


bietet, entweder gar nicht oder doch nicht in dieser ste-
tigen Weise zunehmen. Infolgedessen hat jedes In-
dividuum einen sehr harten Kampf um seine Existenz
zu bestehen, während die Gesamtheit der animalischen
und vegetabilischen Bevölkerung der Erde (den Men-
chen und seine Wirksamkeit ausgenommen) fast sta-
tionär bleibt. So wird jede Variation irgendwelcher Art,
welche dazu dienlich ist, das Leben des Individuums zu
retten oder es fähig zu machen, mit größerer Sicherheit
seine Art zu erhalten, auf die Länge hin erhalten werden
und seine günstige Eigentümlichkeit einigen seiner Nach-
kommen vererben. Diese Eigentümlichkeit wird auf
diese Weise verstärkt werden, bis sie den höchsten Grad
der Nützlichkeit erreicht. Auf der anderen Seite werden
Individuen, welche ungünstige Eigentümlichkeiten zeigen,
unerbittlich zugrunde gehen. Die Wirksamkeit der natür-
lichen Zuchtwahl kann daher nicht unpassend, mit einem
Ausdruck von HERBERTSPENCER,,,Surviral of the fittest",
Überleben des Geeignetsten, genannt werden.
Das Unvollkommenere und den Verhältnissen weniger
Angemessene kann neben dem Vollkommeneren und
Angemesseneren nicht bestehen. So kann auch in der
Gesellschaft der ungeschickte Handwerker nicht neben
den geschickteren, der weniger begabte Künstler nicht
neben den begabteren bestehen, sobald einmal von diesen
eine gewisse Menge vorhanden ist. Und wiederum
scheint so, um ein anderes Beispiel den Verhältnissen
von Menschen zueinander zu entnehmen, in unseren
Tagen die amerikanische Rasse neben den eingewan-
derten Europäern erliegen zu sollen.
281. Auf diese Weise glaubt also DARWINdie Entwick-
lung unserer vollkommensten Organismen aus ursprüng-
lich relativ sehr unvollkommenen als· naturnotwendig
begreiflich machen zu können, und - was ja hierin ein-
geschlossen ist - die Entwicklung der kompliziertesten
Strukturen aus relativ sehr einfachen. Denn die geglie-
der Hypothese blinder Notwendigkeit 305

derteren stehen höher wegen der Teilung der Arbeit unter


den verschiedenen Gliedern.
282. Und nicht bloß die Vollkommenheit aus der Un-
vollkommenheit, sondern auch die Mannigfaltigkeit
teleologischer Gestaltungen aus der früheren Armut
weniger Bildungen.
Denn, wie gesagt, die Variationen geben nach den
verschiedensten Richtungen. Und wie der Kampf ums
Dasein sieb als ein Feind der Unvollkommenheit erweist,
so als der einer allzu weit ausgedehnten Gleichförmigkeit.
Einmal schon darum, weil der Konkurrenzkampf unter
Gleichen viel härter ist. Wenn alle Schuster wären, wie
wollten sie alle bestehen? Andererseits, weil ohne Arbeits-
teilung kein rechter Fortschritt zu erzielen ist. Wenn
einer ein wenig Schuhe machen, ein wenig backen, ein
wenig hobeln könnte, so würde ein solcher Hans in allen
Gassen neben den ausgebildeten Fachmännern sich nicht
halten können.
Auch sind verschiedenen Verhältnissen verschiedene
Organismen angemessener. Im allgemeinen wird ein
Insekt Vorteil davon haben, wenn es recht gut fliegen
kann, aber es gibt Verhältnisse, wo dies anders ist. Auf
einer viel von Stürmen heimgesuchten Insel haben In-
sekten mit rudimentären Flügeln den Vorteil, nicht so
leicht aufs offene Meer hinausgeweht werden zu können.
(Auf Neuseeland gibt es einen Vogel Apteryx.) Statt-
gefundene Migration oder Wandel in den klimatischen
Verhältnissen eines Landes können so, was ursprünglich
nützlich war, zum Nachteile gewandelt haben.
283. So will denn DARWIN nicht bloß den Menschen
aus Fischen, ja aus unvollkommeneren doppelgeschlecht-
lichen Bildungen, sondern alle Wirbeltiere aus denselben
ableiten und in ähnlicher Weise auf anderen Gebieten
vorgehen.
Kein Wunder, daß andere auf dem betretenen Weg
noch weiter gingen und alle Organismen aus denselben
einfachen, aus einem Plasma und einem Kern bestehenden
306 DARWINS Theorie als Form

Urzellen und weiter noch aus einem strukturlosen Ei-


weißklümpchen durch den Kampf ums Dasein in einer
Millionen und vielleicht Billionen von Jahren fortdauern-
den, aufsteigenden und sich mannigfach verästelnden
Entwicklung hervorgehen ließen.
284. Einen ganzen Stammbaum der organischen Welt
hat vorzüglich HÄCKEL in seiner „generellen Morpho-
logie" und seiner „natürlichen Schöpfungsgeschichte" in
dieser Weise entworfen, der freilich manche Lücken nur
durch hypothetische Zwischenglieder, aber immer nach
Analogie anderer Intervalle, ausfüllt.
Und er steigt, seiner Methode getreu, von der Wurzel
bis zum Gipfel. Von der Entwicklung der höchsten geisti-
gen Vorzüge, wie von den ersten und niedersten Evolu-
tionen sucht er dadurch Rechenschaft zu geben.
Ja er leistet hier mehr als man billig fordern kann;
denn er erklärt Vorzüge, die nicht einmal vorhanden
sind, sondern nur irrtümlich von Philosophen behauptet
wurden, wie die angeborenen Ideen.
Aber auch die Instinkte haben sich im Kampf ums
Da.sein entwickelt. Zum Beispiel die Furcht des Hasen;
es hat früher auch mutige Hasen gegeben, die zu viel,
und feige Löwen, die zu wenig wagten und darum aus-
gestorben sind. Liebte ein Tier giftige Kräuter oder ent-
behrte eines auch nur des Abscheus vor solchen, so mußte
es bald den Untergang finden, was eine Auslese solcher
Tiere zur Folge hatte, bei denen sich die hier unentbehr-
liche instinktive Abneigung ausgebildet hatte. So ist es
denn überhaupt zu den natürlichen Instinkten gekommen,
die die Tiere bei der Wahl ihrer Nahrung leiten.
Und auch höhere Neigungen, ja den Stachel des Ge-
wissens könnte HÄCKELin dieser Weise erklären, indem
die, bei welchen er nicht oder in geringerem Maße ent-
wickelt sich zeigte, allmählich am Galgen ausgestorben
seien. Die einzige Schwierigkeit wäre, daß - was ältere
wie neuere Zeiten zeigen - man gerade die größten Diebe
gewöhnlich laufen läßt. Doch solche sind am Ende natur-
der Hypothese blinder Notwendigkeit 307

gemäß wenige, und so erscheint, wie andere, auch diese


Schwierigkeit überwindlich.
285. Wenn nun dies alles durch Naturnotwendigkeit aus
einem Eiweißklümpchen hervorgegangen, so erscheint die
Annahme nicht mehr schwierig, daß im Laufe der Zeiten,
bei dem steten und notwendigen Wechsel der Situationen
und der physikalischen Bedingungen auch einmal eine
solche Kombination von Umständen sich ergeben mußte,
durch welche diese quaternäre Kohlenstoffverbindung,
die wir Eiweiß nennen, aus unorganischen Stoffen durch
den Zusammentritt von Kohlenstoff, Sauerstoff, Wasser-
stoff und Stickstoff gebildet ward. (HÄCKEL. Generelle
Morphologie I, S. 183.)
Wenn auch bis jetzt nur eine Bildung in organischen
Substanzen beobachtet wurde, so darf man deshalb
diesen Weg des Entstehens nicht für den einzig mög-
lichen halten. Hat doch der Chemiker schon manche
andere organische Stoffe, wie den Harn, den Alkohol,
die Ameisensäure u. a. kompliziertere Kohlenstoffver-
bindungen auf rein organischem Wege hergestellt (ebenda.
s. 189).
286. Und so glaubt denn die mechanische Hypothese,
die Hypothese der blinden Notwendigkeit, hier eine so
glänzende Probe von ihrer Fähigkeit, die höchste Phäno-
mene scheinbarer Teleologie zu begreifen, gegeben zu
haben, daß ihre Möglichkeit nicht weiter beanstandet
werden könne, ja daß jeder Vernünftige ihr von vorn-
herein den Sieg über ihre beiden Nebenbuhlerinnen, die
Zufallshypothese und die Hypothese des weltordnenden
Verstandes, zusprechen werde.
Mit stolzem Siegesbewußtsein ruft daher ERNST
HÄCKEL in seiner generellen Morphologie (I. S. 100
Anm. 2), nachdem er das DARWINsche Prinzip dargelegt
hat, aus: ,,Es gibt einen Zufall so wenig als einen Zweck
in der .Natur . . . In unserer Anschauung tritt an die
Stelle des Zweckes (und des freien Willens) die absolute
Notwendigkeit, die avayx11'•.
308 Die Hypothese blinder Notwendigkeit

287. So wollen die Anhänger der blinden Notwendig-


keit ihre Hypothese zunächst als möglich erweisen. In
der Tat, wenn wir alles überschauen, scheint ihre Möglich-
keit nicht länger zu beanstanden. Scheint doch gezeigt
worden zu sein, daß auf den verschiedensten Gebieten
Phänomene, die man am meisten als teleologisch bewun-
dert, sich aus rein mechanischer Notwendigkeit begreifen
lassen. Auf dem Gebiete der unorganischen \Veit die
Regelmäßigkeit der astronomischen Erscheinungen. Und
ebenso auf den höheren und vorzüglich teleologisch er-
scheinenden Gebieten des vegetativen, sensitiven und
intellektiven Lebens die wunderbar zweckmäßige Struk-
tur der vollkommensten Organismen und die Phänomene
des Instinkts und des Gewissensstachels.
So scheint denn wohl denkbar, daß alles aus blinder
Notwendigkeit sich herausgebildet habe, wie es auch
scheinbar teleologisch sich zeigen mag.
B. Kritik der Hypothese der b1inden Notwendigkeit
288. Dennoch ist dies nicht der Fall, und der Schein,
durch den so viele sich blenden lassen, verschwindet bei
einer genaueren Untersuchung. Wer die Phänomene
nicht bloß oberflächlich, sondern, wie wir es getan, scharf
ins Auge faßt, erkennt deutlich die Hypothese der mecha-
nischen Notwendigkeit als unmöglich. Weit entfernt,
daß sie die Teleologie in den Erscheinungen der lebendigen
Natur begreiflich machte, zeigt sie sich außerstande,
auch nur jene Züge scheinbarer Zweckmäßigkeit zu er-
klären, die uns auf dem niederen Gebiet der un-
organischen Welt begegnen.
·wir wollen, um dies zu zeigen, nur einiges aus früheren
Betrachtungen in Erinnerung bringen, was besonders
schlagend und unwidersprechlich die Unmöglichkeit
einer derartigen Erklärung zeigt.
289. Die teleologischen Verhältnisse der Elemente, so-
wohl die der Ähnlichkeit und der gleichmäßigen Unter-
ordnung aller unter gewisse allgemeine Gesetze als auch
versagt im Gebiet des Leblosen 309
die mannigfachen Kraftbeziehungen, die gegenseitige
Ergänzung der wirkenden und leidenden Vermögen,
alles das läßt sich aus blinder Notwendigkeit nun und
nimmer begreifen. Die mechanische Hypothese steht
hier vor letzten Tatsachen, die sie nicht erklären
kann, die vielmehr die Voraussetzung und das Mittel
ihrer Erklärungen sind. Woher nun die scheinbare Teleo-
logie in jenen letzten Tatsachen?
290. Die wunderbarsten unter diesen Beziehungen
sind die, wodurch die Entwicklung eines Organismus
aus ihnen möglich wird, einer Pflanze oder gar eines
wahrnehmenden und begehrenden Tieres. Hierzu ist
auch von den bestehenden nicht jedes Element geeignet.
Was wäre von dem ganzen Wunderreich der Organismen
vorhanden, wenn der Sauerstoff oder der Stickstoff nicht
existierte oder in geringerem Quantum vorhanden wäre?
Der Sauerstoff scheint über die Hälfte des Gewichtes
unseres Planeten auszumachen. Und niemand kann ja
doch die Möglichkeit leugnen, daß wie ein größeres, auch
ein kleineres .Quantum davon vorhanden sein könnte,
somit auch gar keines.
So weit haben die Vertreter der absoluten Notwendig-
keit nicht gedacht. Und zur Antwort gedrängt, bleibt
ihnen nichts übrig, als mit DEMOKRITsie abzulehnen
und die Frage für unberechtigt zu erklären: roii ad övw~
ovx Mwii afrwv bu?;rJ1:eiv*), was aber offenbar, wie schon
ARISTOTELESbemerkt hat, eine eitle Ausrede ist. Die
N otwendigkeitshypothese versagt ihre Dienste und die
Zufallshypothese, über die sie sich so hoch erhaben
rühmte, muß die Lücke ausfüllen.
291. Das Beisammensein mehrerer Elementarteile im
Raum - von allen besonderen Verteilungen innerhalb des
erfüllten Raumes aQgesehen - ist ein Fall unter vielen
gleichmöglichen. Ohne es keine Wirksamkeit, denn wenn
die Körper völlig getrennt wären, so auch ohne Einfluß
•) Für das, was immer war, ist die Frage nach der Ursache
unberechtigt.
310 Die Notwendigkeitshypotheae erklärt nicht

aufeinander. Damit aber blieben alle jene Gesetze,


welche die Teleologie gebären sollen, unfruchtbar und
tot. So erscheint diese Disposition denn gewiß äußerst
teleologisch. Wie erklärt sie sich nun 1 Sie ist eine ge-
gebene Tatsache. Notwendig aber ist sie offenbar nicht,
drängt also wieder zu einer Anleihe bei der Zufalls-
hypothese.
292. Wir könnten dies weiter verfolgen, aber diese
Züge genügen. Wenden wir uns zum Gebiete des Lebens
und der Organismen!
Auch hier nur wenige Bemerkungen, die aber hin-
reichen werden, den Wahn einer Erklärung der schein-
baren Teleologie der Organismen aus blinder Not-
wendigkeit vollständig zu zerstören.
a.) Vor allem ist schon das Vorhandensein der
Organismen keineswegs als eine notwendige Folge
der die organische Welt beherrschenden Gesetze zu be-
greifen.
Die Wissenschaft hat konstatiert, daß innerhalb des
ganzen Gebietes der Erfahrung keine Urzeugung vor-
kommt. Man hat früher an eine solche geglaubt, ge-
stützt auf Erfahrungen, wie die, daß ein Tropfen, einem
Glase reinen Wassers entnommen, sich auf einmal von
einer Unzahl mikroskopischer Lebewesen erfüllt zeigt.
Aber dem Physiologen PASTEUR ist der Nachweis ge-
glückt, daß diese Infusorien keineswegs aus unorganischer
Materie sich bildeten, sondern aus der umgebenden Luft
entnommenen Keimen. Leitete er die Luft durch einen
glühend gemachten Flintenlauf, und setzte er dann das
Wasser dieser Luft aus, so bildeten sich keine Infusorien
mehr. Dieser Versuch hat so imponiert, daß VrncHow
sagte, alle bekannten Tatsachen sprächen gegen die
spontane Erzeugung in gegenwärtiger Zeit. Ein Philo-
soph, der am meisten den Naturforschern nahesteht,
WuNDT, hat ebenso ausdrücklich bekannt, es sei sicher-
gestellt, daß jetzt wenigstens die Bedingungen für eine
Urzeugung auf Erden nicht mehr vorhanden seien.
den Ursprung des Lebens 311
293. Hieraus wird aber im äußersten Maße unwahr-
scheinlich, daß dies früher einmal der Fall gewesen sei -
wenn wir nicht eine ganz ausgesucht zweck-
mäßige Lagerung voraussetzen wollen. Denn
wenn ohne solche früher Organisches aus Unorganischem
entstanden sein sollte, so doch auch wohl jetzt. Die
Elemente sind ja noch alle vorhanden, und auch die
physikalischen Kräfte und Bedingungen sind nicht in
der Art wesentlich verändert, daß sich die früheren Zu-
stände nicht, wenigstens partiell, wieder herstellen ließen.
Und daher kein einziges Produkt, von dem festgestellt, daß
es die unorganische Welt früher aus sich hervorgebracht,
welches sie nicht auch heute noch, wenn auch nicht in
gleicher Menge, nachweisbar zu erzeugen vermöchte.
294. Allerdings unterliegt, was ich gesagt, einer Aus-
nahme. Manches deutet darauf hin, daß die Stoffe un-
serer Erde einmal in dem Zustand eines so hohen Wärme-
grades sich befanden, daß derselbe jetzt auch selbst
partiell nicht hergestellt werden kann. Nach der LAPLACE-
sehen Hypothese waren die Stoffe der Erde und des
Sonnensystems überhaupt infolge ihres Wärmezustandes
einmal in dem Maße expandiert, daß eine Masse vom
Gewichte eines Pfefferkorns, eine Kubiklinie fester tellu-
rischer Substanz, 100000 Millionen Kubikmeilen aus-
füllte. Aber dies ist kein Zustand, in welchem Organis-
men eich bilden können, die vielmehr sowohl in dieser
als in anderen Beziehungen eine gewisse Mäßigung und
Temperierung der Kräfte fordern.
295. Sehen wir also von solchen Leistungen ab, die bei
unserer Frage auf keinen Fall in Betracht kommen, so
gilt, was oben gesagt wurde: wovon wir wissen, daß es
früher von selbst aus dem Unorganischen geworden ist,
das ist auch jetzt noch daraus produzierbar. Ja, experi-
mentell wenigstens, scheint es, mehr auf unorganischem
Wege als früher. So ist es z.B. sehr unwahrscheinlich,
daß jemals ohne künstliche Mittel Harnstoff, Alkohol,
Ameisensäure aus dem Unorganischen geworden sei.
312 Die Notwendigkeitshypothese erklärt nicht

Und so will ich nicht leugnen, daß vielleicht einmal


auch noch Eiweiß künstlich erzeugt werden wird, woraus
nicht folgt, daß es früher einmal in der Natur je von
selbst geworden sei. Vielmehr wird es auch dann höchst
unwahrscheinlich bleiben, daß je spontan eine solche
Konstellation von Bedingungen, wie wir sie künstlich be-
wirken, aufgetreten sei.
296. Aber angenommen, es wäre ein solches Eiweiß-
klümpchen von selbst geworden, so wäre es eben doch
erst ein einfaches Eiweißklümpchen, nicht ein organi-
sierter Körper, dessen Stru~tur, auch wo die Organi-
sation auf einer noch so niederen Stufe steht, unvergleich-
lich feiner ist als die der vollkommensten Bildsäule.
DARWIN hat hier richtiger als HÄCKEL gesehen. Denen,
welche in der Abstammung des menschlichen Organismus
von anderen und niederen eine Herabwürdigung finden,
hält er entgegen, wie jeder auch noch so tiefstehender
Organismus ein hohes und staunenswertes Kunstwerk sei.
Allerdings sieht man die Struktur oft nicht. Aber daraus
folgt nichts, denn sie entschwindet wegen ihrer Kleinheit
unserer Wahrnehmung. Und was nicht direkt sichtbar
ist, zeigt sich in den Leistungen, in den Funktionen des
Lebens. So ist es ja auch beim Keimblättchen im Ei-
dotter. Es mag wohl leicht möglich sein, etwas dem Aus-
sehen nach Ähnliches zu bilden, aber kein Vogel wird
daraus entstehen, hier aber ist nicht bloß ein Vogel, son-
dern ein Vogel von bestimmter Gattung, Art und Spiel-
art prä.determiniert. Aus Eiweißklümpchen, die wir
ausstreuen, wird nachweisbar nie eine Monere.
Und überhaupt ist wie keine Urzeugung auch keine
generatio aequivoca im engeren Sinne vorgekommen.
Gerade dafür ist auch P ASTEURS Versuch entscheidend.
(Man unterscheidet generatio spontanea von g. ae. Die
zweite soll aus schon Organisiertem einen neuen Organis-
mus entstehen lassen, wie z.B. aus bloßer Fäulnis.)
297. Wenn man nun bei so bestelltem Tatbestand
noch die Möglichkeit der spontanen Entstehung eines
die Entstehung des Lebens 313
Organismus aus unorganischen Stoffen behaupten will,
so möchte dies vielleicht gewagt, doch unter der Annahme
einer ganz außerordentlich günstigen zufälligen Kom-
bination von Umständen vielleicht noch nicht mit aller
Entschiedenheit verwerflich erscheinen. Wenn man aber
die absolute Notwendigkeit eines solchen Entstehens
unter allen denkbaren ursprünglichen Situationen be-
hauptet, so ist dies eine Behauptung, die der deutlichen
Wahrheit ins Angesicht schlägt.
298. Wie groß die allgemeine Verlegenheit ist, in welcher
sich die Vertreter der N otwendigkeitshypothese hier befinden,
mag Ihnen daraus ersichtlich werden, daß man zu dem
Gedanken gegriffen hat, vielleicht seien einmal Keime vom
Himmel gefallen; ein Meteorstein könnte der Erde das
Geschenk eines Samens gebracht haben, worauf dann die
Entwicklung in Gang gekommen sei. Kein geringerer For-
scher als HELMHOLTZhat diesen Ausweg ersonnen. Aber
wie wenig gangbar will er erscheinen! Vor allem ist niemals
in einem Meteorstein etwas Organisches gefunden worden,
wie etwa ein Samenkorn; und dann ist es auch kaum an-
nehmbar, daß es nicht schon vor dem Eintreffen auf unserer
Erde zerstört worden wäre. ZÖLLNERhat HELMHOLTZ wegen
dieser Hypothese heftig angegriffen und auf den glühenden
Zustand des auf die Erde auffallenden Steines hingewiesen.
HELMROLTZ entgegnete zwar, glühend sei er wegen der unge-
heueren Kälte des Weltraumes nur außen, nicht auch in
seinem Inneren. Aber wie sollte der Keim den Prozeß über-
lebt haben, der den Meteorstein als Splitter von einem Pla-
neten trennte? Aller Wahrscheinlichkeit nach ist der Planet
- von dem man natürlich annehmen müßte, daß er orga-
nisches Leben beherbergt habe - durch einen Zusammen-
stoß mit einem Weltkörper zugrunde gegangen. Ein solcher
müßte aber doch zu einer ganz kolossalen Wärmeentwick-
lung geführt haben. Ist der Planet aber einer vulkanischen
Eruption zum Opfer gefallen, dann hat beim Bersten seiner
Rinde die feurig flüssige Masse das Ganze überflutet. Wir
fallen, wenn wir die Scylla vermeiden, in die Charybdis.
(Übrigens scheinen die Meteore eher mit Kometen in Zu-
sammenhang zu stehen.) Zudem ist deutlich, daß durch
diese Meteorhypothese die ganze Schwierigkeit der Keim-
bildung nicht beseitigt, sondern nur in die Ferne gerückt
wird. Woher stammt denn der Keim? Aus einer Pflanze.
Und woher diese wieded Aus einem Keim. Ja., war denn
314 Die DARWINsche Theorie

dies immer 801 Dann stehen wir vor einem glücklichen


Zufall. Wenn aber nicht, so wieder vor der Frage: Wie ent-
stand das Organische aus dem Unorganischen 1 Daß dies
einmal sich ereignet haben müsse, ist 80 wahrscheinlich,
wie die LAPLACESCHEHypothese, wonach alles einmal in
einem gasförmigen Zustande sich befand, also Organismen
nicht bestanden haben. Somit werden durch jenen HELM·
HOLTzschen Versuch keine Schwierigkeiten beseitigt, son-
dern nur neue Unwahrscheinlichkeiten hinzugefügt.
299. So sehen wir denn die Hypothese der blinden
Notwendigkeit schon beim ersten Schritte aufgehalten.
Sie koinzidiert schon beim Versuche, die Entstehung der
ersten Organismen zu erklären, mit der Zufallshypothese,
indem sie dafür ausgesucht günstige Bedingungen voraus-
setzt. Wenn sie dies aber nicht tun will, so muß sie den
Schein der Teleologie vom Organischen ins Unorganische
verdrängen, wo er dann ins Unendliche gesteigert wieder-
kehrt. Wir müssen uns dann eben die unorganische
Natur so beschaffen denken, daß aus ihr ohne weiteres,
unter allen denkbaren Konstellationen ihrer Teile, Orga-
nismen entstehen müssen. Was man so dem Schein der
Zweckmäßigkeit dadurch entzieht, daß man sich die An-
nahme einer ausgesucht günstigen uranfänglichen Kollo-
kation 'der Körper erspart, gewinnt man ihm durch die
unendlich nahe Rückung der unorganischen an die
organische Natur wieder zurück.
300. b) Doch sehen wir von der Frage, wie die ersten
Organismen entstanden seien, ab. Auch die Entwick-
lung der höheren Organismen aus den niederen
und des gewaltigen Reichtumes der Arten aus einer oder
wenigen ursprünglich gegebenen wollte die Hypothese
der blinden Notwendigkeit mit Ausschluß jedes teleolo-
gischen Faktors als etwas Selbstverständliches begreif-
lich machen.
Der einzig belangreiche Versuch, der in dieser Richtung
gemacht worden ist, ist der DARWINsche. Aber er hält
einer unbefangenen Kritik nicht stand. Das Vertrauen,
das so viele auf diese Lehre setzen, beruht wesentlich
als Form der Notwendigkeitshypothese 315

darauf, daß sie ihre Sache mit der der Evolution für
identisch nehmen. Sehr mit Unrecht, denn es ist weder
erwiesen, daß die Evolution auf keinem anderen Wege
als dem von DARWIN angegebenen möglich gewesen,
noch auch nur, daß sie überhaupt auf diesem Wege mög-
lich gewesen sei.
301. Damit will ich aber durchaus nicht alles in Zweifel
gezogen wissen, was der Darwinismus behauptet und
voraussetzt.
Vor allem spricht vieles dafür, daß sich die Vielheit
der Arten aus einer geringen Zahl und die entwickelte
Gliederung aus relativer Einfachheit herausgebildet habe,
ähnlich wie der Vogel aus dem Ei und die beiden Ge-
schlechter aus dem gleichen Keime.
Gesichert ist ferner manches, was DARWIN zur Er-
klärung dieser Evolution heranzieht. So die Überpro-
duktion von Lebenskeimen und der Kampf ums Dasein,
der sich daran knüpft; gesichert, daß dabei das Voll-
kommenere, wenigstens das relativ besser Ausgestattete,
im Vorteile ist; gesichert, daß dieser Umstand die Ver-
vollkommnung begünstigt. Und da im Verlaufe der
Zeit eine Ausbildung zur Vollkommenheit eintrat, so hat
diese Überproduktion und der aus ihr sich ergebende
Kampf ums Dasein auch wohl dazu beigetragen.
302. Aber damit ist nicht gesagt, daß dieses Prinzip
der einzige und ausreichende Faktor der Entwicklung,
ja nicht einmal, daß es das vorzüglichste Mittel des Fort-
schrittes gewesen sei. Wenn aber dies nicht, dann hat die
Hypothese der mechanischen Notwendigkeit, wie sie uns
im DARWINschenVersuche vorliegt, das ihrige nicht getan.
Sie hat es unter keinem der beiden Gesichtspunkte
geleistet, unter denen wir die Orgap.ismen betrachtet
haben, weder unter dem ihrer hohen Schönheit, noch
unter dem scheinbar. höchst zweckmäßig ersonnener
Maschinen.
303. Die ästhetische Seite wird von der Hypothese der
blinden Notwendigkeit weniger beachtet. In der Tat, das
316 Die DARWINsche Theorie

größerer Leistungen Fähige mag im Kampfe ums Dasein


im Vorteil sein, wie aber das Schönere 1 Freilich ließe
sich, wenn wir speziell das Geschlecht der Menschen be-
trachten, auf die Macht der Schönheit bei solchen Wahlen,
die einen Bezug auf die Fortpflanzung des Geschlechtes
haben, hinweisen. Aber bei den Tieren schon verläßt
uns mehr und mehr ein solcher Erklärungsgrund. Mag
bei den höheren ein Analogon der menschlichen Vorliebe
für das Schöne sich finden, so ist es doch mißlich anzu-
nehmen, daß ihr ästhetischer Standpunkt mit dem un-
seren zusammentreffe. (Haben doch schon die Chinesen
einen ganz anderen Geschmack.) Eine Bevorzugung von
dem, was uns schöner scheint - sei es in der gleichen,
sei es gar in einer verschiedenen Art und Klasse - hat
bei den höheren Tieren die Erfahrung nicht festgestellt.
Noch weniger aber findet das Prinzip auf die niederen
Tiere, die des Gesichtssinnes entbehren, und auf die
Pflanzen Anwendung. Und dennoch entzückt uns gerade
auch hier die Pracht des Laubwerkes und der Blüten.
Man hat, was diese betrifft, allerdings scharfsinnig die
Tiere herangezogen, indem man darauf aufmerksam
machte, daß Insekten, z. B. die Bienen, gewissen schönen
Blüten den Vorzug geben. Aber dieser Instinkt geht
wohl nur auf Duft und grelle Farben. Nein! die Lilie
des Feldes, deren Gewandung die Herrlichkeit Salomona
übertrifft, bleibt offenbar nach der Hypothese der mecha-
nischen Notwendigkeit in ihrer Schönheit unerklärt. Von
der mikroskopischen Schönheit ihrer Teile gar nicht zu
reden, auf die wohl HERAKLITSWort Anwendung finden
mag, daß die unsichtbare Harmonie noch schöner sei als
die sichtbare.
304. Doch ich will bei der ästhetischen Betrachtung
der Organismen nicht länger verweilen und lieber zu
ihrer mechanischen Leistungsfähigkeit übergehen, auf
die der DARWINsche Versuch das Hauptgewicht legt.
Hier glaubt er sich denn auch des Erfolges vollk.ommen
sicher, und viele Tausende folgen ihm mit gläubigem
als Form der Notwendigkeitshypothese 317

Vertrauen. Ich vermag diese Zuversicht nicht zu teilen,


möchte vielmehr im Gegenteil und mit aller Bestimmt-
heit aussprechen, daß der DARWINsche Versuch, die
Evolution zu erklären, nicht gesichert, ja daß er geradezu
widerlegt ist.
DARWINS Versuch ist nicht gesichert
305. Wo wären denn eigentlich die Argumente, welche
eine solche Sicherheit zu verleihen vermöchten 1
I. Manche sagen: Die Tatsache der Evolution der
höheren Organismen aus den niederen ist nicht zu be-
zweüeln. Unmöglich aber ist es, sie anders zu begreifen,
also ist dieses Prinzip der Evolution mit gesichert. In
diesem Sinne gilt der Darwini~mus DuBOIS REYMONDals
die Planke, an die wir uns klammern müssen, um nicht
zu ertrinken.
Aber ist das auch wirklich ein Argument, das vor dem
Richterstuhle der Logik bestehen kann 1 Darf man so
schließen: ,,Sonst könnte ich überhaupt keine Erklärung
geben, also muß diese die richtige sein?" Was würde man
wohl von einem Geschworenengerichte sagen, welches
argumentierte: ,,Wir müssen den Angeklagten schuldig
sprechen, weil wir nicht wissen, wer es sonst getan haben
sollte?" Ist es denn selbstverständlich, daß wir die Er-
scheinungen der Natur begreifen können 1 Ist nicht viel-
mehr tausendfach, ja bis zu einem gewissen Grade überall
das Gegenteil der Fall 1 Und speziell hier: begreüen wir
denn die Entstehung durch Urzeugung? Oder auch nur
die erneuernde Ontogenese 1 Und wie sollten wir die
Phylogenese vor jener begreüen 1
306. Dieses Argument ist also gewiß sehr schwach.
Und es ist um so schwächer als wir, falls der Kampf ums
Dasein wohl das wahre und einzige Vehikel der Ent-
wicklung wäre, doch den Prozeß, der zum Fortschritt
führt, nicht vollständig begrüfen. Müßten wir ja sonst
die Vererbung begreüen. Die aber ist in das tiefste
Dunkel gehüllt. Was hindert also, zu sagen: Die Natur,
318 Darwinismus nicht gesichert

welche in der Ontogenese auf eine uns geheimnisvolle


Weise aus dem Unvollkommeneren das Vollkommenere
entwickelt, hat auch schon in der Phylogenese auf
eine uns ebenso geheimnisvolle Weise aus dem Unvoll-
kommeneren das Vollkommenere hervorgehen lassen 1
Unsere Hoffart vielleicht, nicht aber die Logik legt ein
Veto ein.
307. II. Kräftiger klingt folgendes Argument:
Tatsache ist die Überproduktion der Lebenskeime;
Tatsache weiter der Kampf ums Dasein, Tatsache der
Vorteil des Geeignetsten, Tatsache die natürliche Zucht-
wahl, welche in einem der Vollkommenheit günstigem
Sinne wirkt. Wir können und müssen als Folgen davon
bedeutende Umbildungen und die Erzeugung ganz neuer,
scheinbar zweckmäßiger Besonderheiten erwarten, 1. weil
wir die künstliche Zuchtwahl solches bewirken sehen
(Tauben), 2. weil wir uns auch im einzelnen manchmal
recht gut vorstellig machen können, wie es dabei zuge-
gangen ist. Man denke z.B. an die Mimikry (mit Farbe
und Formbildung der Umgebung, oder eines Tieres mit
einem andern, geschützten Tiere oder eines Schmetter-
lings u. dgl. mit Blättern usf.).
Da wir also auf Grund gesicherter Tatsachen ein Prin-
zip haben, das zur Heranbildung solcher Besonderheiten
führen konnte, warum sollten wir noch nach anderen
Gründen suchen, um die verschiedenen Differenzen der
höheren und niederen Organismen zu erklären 1 „Entia.
non sunt multiplicanda praeter necessitatem" war schon
der Grundsatz NEWTONS.
Wenn wir diesen Erklärungsgrund auch für die Bildung
der sog. Arten und Klassen in Anspruch nehmen, so
bietet sich uns darin zugleich die Erklärung für einige
andere Erscheinungen. So
3. für die „infinitesimalen" (will sagen unmerklichen)
Übergänge, welche sich vielfach finden und der Analogie
nach mit Wahrscheinlichkeit überall supponiert werden
müssen.
Hemmnisse der na.türl. Zuchtwahl 319
4. für die Proportion zwischen der Größe der Variabi-
lität und der Zahl der Arten, die darauf hindeutet, daß
diese große Zahl von Arten eben jener leichten Um-
wandelbarkeit nach allen Richtungen hin zu danken sei.
308. Doch auch dieses zweite Argument ist von ge-
ringer logischer Kraft:
l. was den Schluß aus der Analogie niit der künst-
lichen Zuchtwahl angeht.
Er ist in doppelter Beziehung ein Schluß a minori ad
majus, wo er um packend zu sein, ein Schluß a majori ad
minus oder wenigstens von gleich groß auf gleich groß
sein sollte.
a) Insofern die künstliche Zuchtwahl den leitenden
und isolierenden Verstand voraus hat und darum viel
energischer wirkt.
Bei der natürlichen fehlt vor allem das wichtige Moment
der Isolierung. Will ein Züchter eine gewisse Eigenschaft
heranbilden, so isoliert er die betreffenden Exemplare,
die etwas davon aufweisen. Aber die Natur tut das nicht
ebenso. Ist irgendeine günstige Variation aufgetreten, so
sind immer auch Exemplare vorhanden, die diese Eigen-
schaften nicht haben, und es besteht in der Regel freie
Kreuzung zwischen den einen und den anderen, wodurch
die erzeugten Unterschiede wieder verwischt werden.
(Wo es aber - wie etwa durch Migration - zu einer Iso-
lierung kommt, entfällt wiederum der Kampf ums Da-
sein.) Immerhin konnte es vorkommen, daß gemeinsame
Vorzüge allmählich entwickelt werden, aber der Mangel
an Isolierung bliebe doch ein so bedeutendes Hemmnis
und mußte die Entwicklung so sehr verlangsamen, daß
der Vergleich mit der künstlichen Zuchtwahl nicht ohne
weiteres gestattet ist. Das weniger zu Bewundernde liegt
vor, das mehr zu Bewundernde wird daraus erschlossen.
309. b) Insofern die künstliche Zuchtwahl, wie immer
sie Augenfälliges leisten mag, doch so Kleines nur leistet,
daß es zu dem, was in Frage kommt, in gar keinem Ver-
hältnisse steht (a minimo ad maximum).
320 Darwinismus nicht gesichert

a. Hat die künstliche Zuchtwahl es je so weit gebracht,


daß sie eine Art erzeugte, die sich nicht wieder rückbilden
konnte zu der Art, von welcher sie ausging1 Im Gegen-
teil! Nicht bloß lassen sich die neuen Rassen durch
künstliche Zuchtwahl wieder in die alten zurückbilden,
sie fallen sogar in der Verwilderung von selbst wieder
dahin zurück. (Atavismus.)
ß. Noch mehr als dies. Niemals ist es geschehen, daß
durch künstliche Zuchtwahl ein neues Glied von teleo-
logischer Bedeutung hervorgebracht wor_den wäre.
r- Ja, man kann sagen, daß die künstliche Zuchtwahl
niemals Unterschiede erzeugt hat, welche so groß sind
wie die auf anderem Wege in der Natur entstandenen
(z. B. durch Versetzung in ein anderes Klima). Die
künstliche ist nicht bloß außerstande, die Vervoll-
kommnung im anderen Klima zu verstärken, sondern
auch nur zu erhalten. Amerikanische Schafe, arabische
Pferde, mit denen die Züchter in Europa arbeiten,
müssen darum immer wieder Nachschub durch Zucht-
tiere aus der Heimat erhalten, damit ihre Qualitäten auf
der Höhe bleiben. Man hätte gerne Nordseeaustern ins
Mittelmeer verpflanzt, aber sie änderten dort sofort ihre
Art. Wollte man dem entgegenwirken oder in der Nord-
see eine Art erzeugen, wie sie durch den Ortswechsel in
der Natur erzielt wird, die künstliche Zuchtwahl brächte
diese Aufgabe niemals zustande 96 ).
Wer wagte unter solchen Umständen zu behaupten,
die Länge der Zeit müsse alle diese Schwierigkeiten aus-
gleichen 1
310. 2. Was den Fall der Mimikry anlangt, so gilt
ganz Ähnliches. Das ist ein Argument a minore ad majus,
wo logisch das Gegenteil gefordert wäre. Auch ist es mit
der gerühmten „Anschaulichkeit" des Prozesses, durch
den die natürliche Zuchtwahl dieses merkwürdig teleo-
logisch erscheinende Schutzmittel zustande gebracht
haben mag, durchaus nicht so gut bestellt, wie manche
sich einbilden, wenn anders die schützende Eigenschaft
Mimikry 321
durch unmerkliche Übergänge sich herausgebildet haben
soll. Denn wenn die Unterschiede unmerklich waren, wie
sollte sie dann schützend gewirkt haben 1 Um den Kampf
ums Dasein ins Spiel zu setzen, müssen also hier wohl
Sprünge angenommen werden. Aber gerade solche will
die Theorie anderwärts, wo es sich um Erscheinungen
von unvergleichlich höherer Teleologie handelt, nicht
zulassen.
Endlich könnte einer zweifeln, ob selbst unter der
Annahme solcher Sprünge die Fälle der Mimikry sich
durch den Kampf ums Dasein erklären ließen. Die
Natur zeigt uns nämlich für diese Nachahmung eigene,
sehr merkwürdige Einrichtungen. Gewisse Fische ändern,
in ein anderes Wasser versetzt, alsbald ihre Farbe, indem
sie die Farbe desselben annehmen. Das geschieht nicht
zufällig, sondern vermöge einer ihnen innewohnenden,
sehr zweckmäßig scheinenden Disposition (die sich
seltsamerweise verliert, wenn diese Fische geblendet
werden). Ein ähnliches Beispiel ist der Laubfrosch,
der im Sonnenlicht lichtgrün, im Schatten dunkelgrün
wird.
Die Anhänger der natürlichen Zuchtwahl werden freilich
vorgeben, daß sich diese Disposition durch solche heraus-
gebildet habe. Es mag so sein; aber daß es so ist, haben
sie eben zu beweisen. Was als Tatsache zunächst fest-
steht, ist doch nur, daß die organische Natur in gewissen
Stadien der Entwickelung eine Anpassung durch 1\fimikry
auch auf anderen Wegen bewirken kann, was den Ge-
danken nahelegt, daß sie es auch ursprünglich bewirken
konnte, im Einklange mit dem scheinbar teleologischen
Charakter, der ihr nachgewiesenermaßen jedenfalls schon
von Anfang an, ja schon vermöge der ihr mit der
unorganischen Natur gemeinsamen Eigenheiten zuge-
kommen ist.
311. 3. Was aber die Berufung auf unmerkliche
Übergänge anlangt, so scheint auch ihr die Erfahrung
wenig günstig.
322 Fehlen von Zwischenstufen

Die jetzt bestehenden Arten, mit den Überresten der-


jenigen verglichen, die wir als ihre Vorfahren ansehen
sollen, zeigen immer sehr beträchtliche Unterschiede.
Wohin sollen aber die Übergangsformen, welche zwischen
unseren Zeitgenossen und denjenigen von ihnen sehr ver-
schiedenen, aber ihnen im allgemeinen verwandten Arten,
welchen die vorhandenen Überreste angehören, ge-
kommen sein? Alle am schärfsten markierten Gruppen
treten ganz plötzlich auf den Schauplatz. Selbst beim
Pferde, dessen Stammbaum man mit Vorliebe als einen
wohlerhaltenen und Kontinuität bezeugenden anzu-
führen pflegt, fehlt der Beweis für eine Artbildung durch
kleine und fortwährend wiederholte, zufällige Variationen.
Bei anderen Formen aber, wie bei den Labyrinthodonten
und Trilobiten, wo die Darwinianer gradweise Verände-
rungen nachgewiesen zu haben glaubten, hat sich dies
bei näherer Untersuchung als ein Irrtum herausgestellt.
Was man für Überreste von besonderen, minder erhal-
tenen Arten gehalten hatte, sind in Wahrheit Reste von
nicht völlig entwickelten, unreifen Exemplaren der-
selben Art. So ist denn, wie von des EMPEDOKLESMiß-
geburten, auch von DARWINS allmählichen Übergangs-
stufen nichts zu finden.
312. Dieses Fehlen von Übergängen schien bedeuten-
den Forschern, wie BAER und Miv ART,sogar ein unwider-
leglicher Einwand gegen die Entwicklung selbst. Andere
freilich sind anderer Ansicht und glauben es durch die
Unvollkommenheit der Überlieferung ausreichend er-
klärt. Sie mögen nicht unrecht haben, aber gesichert
wird man ihre Auffassung nicht nennen können.
Aber selbst wenn eine solche Allmählichkeit der Über-
gänge von Generation zu Generation gesichert wäre, so
brauchte der Kampf ums Dasein noch immer nicht ihre
ausreichende Ursache, ja nicht einmal der hauptsächliche
treibende Faktor gewesen zu sein. Beide Behauptungen
sind ja nicht identisch. Wir sahen doch gerade vorhin,
wie der Fortschritt im Kampfe ums Dasein oft nm bei
DARWINS Theorie höchst unwahrscheinlich 323

Merklichkeit der Abstände wirksam gedacht werden


kann (Fall der Mimikry).
313. 4. Endlich ist auch die Proportion zwischen
der Größe der Variabilität und der Zahl der Arten
nur ein sehr schwacher Wahrscheinlichkeitsgrund. Der
Gedanke liegt nahe, daß, auch wenn nicht der Kampf ums
Dasein, sondern ganz andere Faktoren die wesentlichen
treibenden Kräfte waren, die größere Umbildbarkeit mit
der größeren Zahl der P.rndukte in Beziehung stehen werde.
Die DARWINsche Hypothese ist höchst
unwahrscheinlich
314. Wir haben erkannt, daß die Annahme, welche
in dem Kampf ums Dasein das genügende oder doch vor-
zügliche Mittel des Fortschrittes sieht, sicherlich nicht
als erwiesen gelten darf. Aber noch mehr, ich wage es
auszusprechen, daß diese Hypothese höchst unwahr-
scheinlich, ja, daß sie geradezu widerlegt sei.
Daß sie höchst unwahrscheinlich sei, sagt sich schon
der gesunde Menschenverstand, und Zoologen, welche
sich ihn bewahrt haben, geben dem Zeugnis. (So z.B.
CLAUS, Lehrbuch der Zoologie 6. Aufl. S. 206.) Diese
Unwahrscheinlichkeit wächst noch, wenn man gewisse
Einschränkungen berücksichtigt, welchen die Gesetze
der Vererbung und der Variabilität durch Summierung
kleiner Unterschiede unterliegen.
316. Was die Vererbung anlangt, hat ein bedeuten-
der Zoologe, WEISMANN,in einer Reihe von Schriften die
These verfochten, daß niemals eine erworbene Eigen-
schaft sich vererbe. (Ein Beispiel: In China ist es seit
Jahrtausenden Sitte, den Mädchen die Füße durch Ein-
schnüren zu verkrüppeln, gleichwohl bringt auch dort
jedes neugeborene Kind normale Füße mit auf die Welt.)
WEISMANNSTheorie ist nicht unbestritten geblieben.
Ich kann darüber nicht urteilen; aber sicher bekäme,
wenn er recht haben sollte, der Kampf ums Dasein eine
noch viel härtere Arbeit 97 ).
324 Unwahrscheinlichkeit des DarwinismUB

Außer Zweüel stehen dagegen andere Beschränkungen


der Vererblichkeit. So durch Klimawechsel. Tiere, die
in ein anderes Klima versetzt werden, vererben unter so
veränderten Verhältnissen gewisse Eigenschaften nicht
weiter.
Eine andere Beschränkung ist unseren Obstzüchtern
geläufig. Sie erzielen edle Spielarten, können sie aber
nur durch Pfropfung erhalten, während die Samen davon
unveredeltes Obst bringen.
Sehr häufig werden Eigenschaften, die beide Eltern
in besonders hohem Maße auszeichnen, nicht auf die
Nachkommen übertragen. Kanarienvögel mit schönen
Buschen bekommen kahle Junge. Überhaupt führt die
Vermischung von ganz vorzüglich ähnlichen Exemplaren
gewöhnlich zu einer Verschlechterung. Verwandten-
ehen haben darum -wegen der allzu großen Ähnlichkeit
als solcher, nicht wegen der gemeinsamen Abstammung
- häufig, auch wo beide Eltern kräftig und normal sind,
eine schwächliche Nachkommenschaft mit Degenerations-
erscheinungen, wie Taubheit usw. So kennt denn auch
das Eherecht der meisten Völker verbotene Grade der
Verwandtschaft 0 s).
Die natürliche Zuchtwahl wäre aber doch gerade auf die
Verbindung besonders ähnlicher Paare angewiesen; müssen
sich ihr daraus nicht besondere Schwierigkeiten ergeben 1
316. Soviel von den Beschränkungen der Vererbung.
Aber auch die Variabilität unterliegt solchen. Die
Darwinianer rechnen von vornherein damit, daß jedes-
mal eine kleine Abweichung nach jeder Richtung hin
vorkommen, und daß deren Addition und züchtende Aus-
lese in der Folge zu immer bedeutenderen Differenzen
führen werde. Aber diese Annahme ist nur mit starken
Einschränkungen richtig ; allgemeingesprochen ist sie
falsch. Wenn ein Züchter eine gewisse Rasseneigentüm-
lichkeit in besonders hohem Grade erzeugen will, so ge-
lingt zunächst eine Steigerung recht wohl, aber die zweite
Steigerung fällt schon geringer aus und die dritte noch
Schranken der Vererbung und Variation 325

unbeträchtlicher usf. in einer Art abnehmender geo-


metrischer Progression, deren Summe ein gewisses Maß
nicht überschreitet. Vielmehr zeigt sich zugleich in
vielen Fällen eine Tendenz, zum Ausgangspunkte zurück-
zukehren. Wäre dem anders, so müßte es z. B. möglich
sein, Pferde in der Größe des Stefansturmes zu züchten.
Schon der gesunde Menschenverstand verwirft solche
Möglichkeiten, was zeigt, daß die gemeine Erfahrung
gegen eine schrankenlose Variabilität spricht. Die Ur-
sache dieser Beschränkung liegt übrigens nahe. Der
Organismus besteht auf Grund einer eigentümlichen
Korrelation seiner Teile zueinander. Wird einer ver-
ändert, so auch die anderen mit ihm, und was jenem an
und für sich keinen Schaden brächte, kann den anderen
abträglich sein. Bei manchen Arten zeigen sich schon
von Anfang an Schwierigkeiten, bedeutendere Modifika-
tionen zu erzielen. So (nach DARWINselbst) z.B. bei den
Gänsen. Diese Art ist im Gegensatz zu den sehr variablen
Tauben von einer starken Stabilität.
:n7. Blicken wir zurück: die Argumente, die zugunsten
des Darwinismus erbracht worden sind, sind ohne zwin-
gende Kraft. Wer ihnen ohne weiteres vertraut, schenkt
ihnen mehr Vertrauen als sie an und für sich verdienen,
und zwar beruht diese Überschätzung ihrer W ahrschein-
lichkeit meist auf der Verwechslung der auf viel solideren
Grundlagen ruhenden allgemeinen Evolutionstheorie mit
dem DARWINschen Erklärungsversuche für sie. Die
geringe Wahrscheinlichkeit, die der Unbefangene diesem
von vornherein zu erkennen geneigt sein wird, wird noch
mehr abgeschwächt, wenn man auf die eben besprochenen
Einschränkungen achtet, denen sowohl Vererbung als
Variation unterliegen.
Die Unmöglichkeit der DARWINschen Hypothese
318. Doch nicht nur als unwahrscheinlich darf diese
Hypothese bezeichnet werden, sie ist geradezu wider-
legt und, was für uns besonders wichtig ist, sie ist gar
326 Unmöglichkeit des Darwinismus

keine echte Form der Hypothese der blinden


Notwendigkeit, da sie Annahmen einschließt, die
den Schein ausgesuchtester Zweckmäßigkeit an sich
tragen.
Um dies nachzuweisen, soll zuerst die Unmöglichkeit
dargetan werden, die DARWINsche Erklärung auf ge-
wisse Erscheinungen anzuwenden, die vermöge ihrer
Ausdehnung und ihres Charakters zu den wesentlichsten
des ganzen Gebietes gehören.
Dann wollen wir einen Blick auf die Länge der Ent-
wicklungszeit werfen, welche diese Hypothese in An-
spruch nehmen würde, und fragen, ob die Tatsachen es
erlauben, mit solchen Zeiträumen zu rechnen.
319. I. Unter dem ersten Gesichtspunkte hebe ich drei
Fälle hervor:
1. den der Erstbildung neuer Organe,
~- den der weiteren Vervollkommnung von Gebilden,
die bereits zu großer Vollkommenheit entwickelt sind,
3. die Fälle einer scheinbaren Teleologie, welche sich
dem Vorteile der Erhaltung der Art nur unvollkommen
oder auch gar nicht unterordnen lassen.
320. 1. Die Schwierigkeit, welche es hat, die Erst-
bildung neuer Organe mittels des Züchtungsprinzips
zu erklären, ist unverkennbar und auch schon wiederholt
hervorgehoben worden.
Nehmen wir z.B. die Entstehung des Sehenden aus
dem Nichtsehenden. Wie soll das nach DARWINSHypo-
these zugegangen sein 1 Offenbar soll nicht urplötzlich
ein Organ gegeben gewesen sein, das fähig war, Gesichts-
empfindungen zu vermitteln. Nicht so denkt man sich
den Vorgang, daß, nachdem bei den elterlichen Organis-
men noch keinerlei Anfänge vorhanden waren, auf ein-
mal ein Nachkomme mit dem ganzen Sinnesapparat auf
den Plan getreten sei. Vielmehr soll dieser Apparat und
sein Zubehör ganz allmählich entstanden sein, in einer
langen, durch Millionen von Gliedern sich erstreckenden
Kette, innerhalb deren ein erster, primitiver Ansatz immer
Bildung neuer Organe 327

mehr sich entwickelte, in dem sich unter den mannig-


fachen Variationen diejenigen erhielten, welche dem voll-
kommenen Sehorgane näherliegen, während das Zurück-
gebliebene daneben zugrunde ging. Ähnlich verhielt es
sich mit allen anderen Gliedern, denn selbst von den
Wirbeltieren haben die niedersten keine Füße.
Das Ganze erscheint wie ein Würfelspiel der Natur.
Schon der erste Ansatz war ein solcher glücklicher Wurf.
Zwar blieb, was so variierte, noch weit, weit entfernt
vom Zustande des Sehfähigen, war aber doch immerhin
schon auf dem Wege dahin. Und da sich nun nach
DARWIN das relativ Vollkommene besser erhält, so er-
hielt sich dieser Ansatz. Nun mag, vielleicht erst nach
Generationen, ein zweiter solcher Glückswurf erfolgt
sein. Die Differenzierung ist damit weiter fortgeschritten
und der Ausstattung mit einem Sehapparat noch um einen
Schritt näher gekommen. Auch diese relative Vervoll-
kommnung bedeutet einen Vorsprung im Kampfe ums
Dasein, und die minder begünstigten Exemplare gehen
daneben zugrunde.
321. Der Verlauf ist also jedesmal der: vor der Zeit,
wo das Organ die entsprechende Leistung ausüben
konnte, hat es einer ungeheuren Zahl glücklicher Würfe
bedurft, d. h. günstiger Variationen, die zwar, wenn man
den Gedanken an ein fertiges Organ, z.B. ein Auge,
zum Maßstabe nimmt, Fortschritte bedeuten, aber doch
noch ohne die Möglichkeit, die dadurch angebahnte
Funktion bereits auszuüben. Wir können das Organ in
diesem Stadium darum nicht unpassend mit dem Zu-
stande rudimentärer Glieder vergleichen.
Wenn aber solches notwendig die Annahme der Darwi-
nisten ist, wer sieht nicht, daß ihr Erklärungsprinzip sie
vollständig im Stiche zu lassen droht? ·warum erhält
sich denn immer das relativ Vollkommene gegenüber
dem Unvollkommeneren? Offenbar nicht darum, weil es
die Vorbereitung auf ein Vollkommeneres ist, sondern
weil es als das, was es wirklich ist, schon mehr leistet
328 Unmöglichkeit des Darwinismus

und im Daseinskampfe Vorteile bringt. Sollte also das


Prinzip auf die Entstehung des Sehvermögens anwend-
bar sein, so müßte, wie das ausgebildete Auge gegenüber
dem weniger scharfen, jedes minder rudimentäre gegen-
über dem mehr rudimentären durch seine bereits wirk-
lichen Leistungen im Vorteile sein. Wer erkennt nun
aber nicht, daß dies eine sehr schwierige Annahme ist 1
Somit stehen wir vor einer weiten Kluft, die der Kampf
ums Dasein nicht auszufüllen vermag. Warum hat sich
zwischen dem ersten Ansatze und dem Schlußstadium der
Entwicklung immer die vollkommenere und vorgeschrit-
tenere Funktion erhalten 1 Darauf bleibt uns DARWINS
Hypothese die Antwort schuldig. Was aber bleibt dann
von dem ganzen Versuche, den Schein der Teleologie in
den Organismen zu erklären übrig, wenn die Organe in
ihrem Entstehen unerklärlich sind 1
322. Das wäre die große Objektion, die sich dem Ver-
suche sofort entgegenhält. Man hat nun freilich eine
Antwort zu finden geglaubt: In jenen vorbereitenden
Stadien, wo das Organ die Leistung, zu der es sich heraus-
bildete, noch nicht ausüben konnte, vermochte es aller-
dings durch diese noch keinen Vorteil zu bringen. Aber
nichts steht im Wege anzunehmen, es hätte in anderer
Weise einen Vorteil gebracht. Finden wir doch wirklich
solche Leistungen nicht selten bei rudimentären Gliedern.
Auch spricht die Analogie der Glieder verschiedener Tier-
arten dafür: die Flügel der Vögel sind ein Analogon der
Arme des Menschen, die Fischblase ist ein solches der
Lunge u. ä. So mag auch ein Organ auf den verschiedenen
Stufen seiner Entwicklung nacheinander verschieden-
artige Dienste geleistet haben, und indem an die Stelle
des einen immer wieder ein anderer und anderer trat, ver-
mochte es sich dann doch im Kampf ums Dasein zu jenem
Zustande höchster Leistungsfähigkeit durchzubilden, der
uns unerklärlich schien.
Aber ich glaube, daß diese Antwort für die Logik, der
man oft bei den Beweisführungen der Darwinianer be-
Bildung neuer Organe 329
gegnet, bezeichnend ist. Jene Leistung, die das Organ
geübt hat, ehe es fähig wurde, im späteren Sinne zu wir-
ken, war eine ganz anders geartete. Somit ist es ganz
gewiß nicht selbstverständlich, daß die allmähliche Ver-
vollkommnung für die frühere zugleich eine zunehmende
Disposition für jene ganz andere Leistung einschließt,
die es jetzt noch gar nicht üben kann. Und wenn den-
noch ein derartiges Verhältnis besteht, so erweckt es
den Schein einer höchst teleologischen Fügung, vermöge
deren immer das der einen Leistungsfähigkeit Näher-
gekommene zugleich, alles in allem genommen, auch für
seine ganz anders gearteten wirklichen Leistungen derart
vervollkommnet wird, daß es über die anderen den Sieg
davonträgt. Das wäre etwas, was gar nicht in der DAR-
wrnschen Hypothese involviert ist, eine ganz neue Vor-
aussetzung, die, weit entfernt, die scheinbare Teleologie
erklärend zu beseitigen, diesen Schein in hohem Maße und
damit auch das Bedürfnis nach einer Erklärung hervorruft.
323. Es ist also klar geworden, daß für DAR\VIN der
Weg zu den neuen Organen ohne Zuhilfenahme neuer und
scheinbar höchst teleologischer Prinzipien schlechterdings
ungangbar ist. Viel eher gelingt es den Darwinianern,
eine Rückbildung und das Schwinden der Organe in dieser
Weise begreiflich zu machen. Vienn sie unter veränderten
Verhältnissen nicht mehr nützlich waren, so gewährte
jede Abnahme dieses überflüssigen Ballastes einen Vorteil,
so daß der Kampf ums Dasein sie leicht rudimentär
werden, ja ganz verschwinden lassen konnte. Faktisch
werden ja auch alle rudimentären Organe, die wir wirk-
lich in der Natur finden, als Rückbildungen aufgefaßt.
Indem THEODOR FECHNER das Gelingen dieses Herab-
steigens mit dem Mißlingen dieses Ansteigens verglich,
kam er zu dem paradoxen Einfall, vielleicht sei die Sache
so zu denken, daß am Anfange die höchstkomplizierten
Organismen standen. KoELLIKER hat Ähnliches aus-
gesprochen. Daß damit auf jede blind mechanische Er-
klärung des Scheines von Teleologie verzichtet wäre,
330 Unmöglichkeit des Darwinismus

liegt auf der Hand, wenn es auch mit meinen Gedanken


von teleologischer Entwicklung nicht zusammenstimmt
und gewiß von jedem Standpunkte aus, tiefer erwogen,
verwerflich ist, sowohl philosophisch als direkt empirisch.
Alles deutet auf größere Einfachheit der früheren Zu-
stände, zumal die Analogie zwischen der Ontogenese und
der Phylogenese. Aber daß eine solche Meinung auf-
kommen konnte, ist charakteristisch für die Wucht, mit
der sich der eben besprochene Sachverhalt aufdrängt.
324. 2. Ebensowenig wie die Neubildung von Organen
läßt sich die Fortentwicklung über eine bereits
erreichte Stufe von hoher Vollkommenheit hin-
aus auf Grund der DARWINschen Prinzipien begreifen;
wenigstens nicht ohne Zuhilfenahme ganz neuer und
scheinbar höchst teleologischer Annahmen.
Indem DARWIN von der Variabilität Anwendung
machte, versäumte er es, auf eine Frage aufmerksam zu
machen, welche meines Erachtens sehr wichtig ist, näm-
lich, wie viele von den denkbaren Modifikationen, welche
der variable Organismus erfahren kann, Verbesserungen
und wie viele wohl Verschlechterungen sein werden.
Dieses Verhältnis ist durchaus nicht gleichgültig. Wenn
gleich viel Verbesserungen wie Verschlechterungen mög-
lich sind, dann ist es wohl wahrscheinlich, daß im Kampfe
ums Dasein eine Verbesserung eintreten werde. Wenn
aber mehr Verschlechterungen, und sehr viel mehr, dann
wäre ein Gegengewicht gegeben gegenüber den Chancen
der Qualität durch die Quantität. Aus dem Überleben
des Geeignetsten folgt dann allenfalls, daß die erhaltenen
Abkömmlinge besser als die untergehenden, nicht aber,
daß sie besser als ihre Eltern sein werden. Die Betrachtung
ergibt aber weiter, daß je mehr bereits eine hohe und
ausgesuchte Nützlichkeit erreicht ist, um so mehr sich
das Zahlenverhältnis zuungunsten der Verbesserungen
ändert. Ist doch dann die einzelne Abweichung eine
blinde Abweichung von einem mit scheinbar äußerst
kluger Zweckberechnung ausgesuchten Zustand.
Vervollkommnung der Organe 331
325. Wenn nun dies richtig ist, so spricht eine zu-
nehmende Unwahrscheinlichkeit gegen das Eintreten
weiterer wirklicher Verbesserungen, möge auch das ein-
zelne Bessere, mit jedem einzelnen verglichen, mehr
Chancen haben. Vielmehr wird durch weitere Abwei-
chungen Degeneration herbeigeführt werden.
Lassen Sie mich diesen Gedanken durch einen Ver-
gleich illustrieren. Es gelänge, eine Maschine zu kon-
struieren, die sich nicht bloß als Individuum stetig er-
neuerte, sondern auch, aus der umgebenden Natur Stoffe
aufnehmend, eine kleine Maschine aus sich herausbildete,
die dann zur Größe der ersten heranwüchse, also eine sich
fortpflanzende Maschine. Wird es wahrscheinlich sein,
daß diese Maschine sich ins Unendliche fortentwickelt 1
Ja, daß die abstammenden Maschinen, wo sie abweichen,
noch vollkommenere Maschinen sein werden 1 Ich denke,
jeder gesunde Sinn wird das Gegenteil erwarten. Die
Maschine ist sehr raffiniert erdacht. Blinde Abwei-
chungen werden wohl vorkommen, aber im verschlech-
ternden Sinne. Immerhin wäre es nicht undenkbar, daß
auch einmal eine Verbesserung eintritt, jedenfalls aber
weit mehr Verschlechterungen, und darum wird jeder
erwarten, daß die Maschine, wenn überhaupt Modifi-
kationen stattfinden, nach und nach degeneriere, bis sie
schließlich gar nicht mehr gehen wird. Ganz analog liegt
der Fall bei den höheren, ja, genau besehen, bei jedem
Organismus, denn jeder stellt sich als ein ausgesuchtes
mechanisches Kunstwerk dar, neben dem unsere Ma-
schinen verschwinden.
326. Ein anderer Vergleich: Es besitzt jemand ein sehr
gelungenes Porträt eines verstorbenen Freundes. Immer-
hin hat es seine kleinen Unvollkommenheiten, der Be-
sitzer trägt ein noch getreueres Bild des Verstorbenen im
Herzen und möchte nun auch gerne ein solches an der
Wand haben. Was tun? Er kommt auf den Einfall, das
Bildnis von geschickten Malern tausendmal kopieren zu
lassen und dann unter diesen Kopien diejenigen auszu-
332 Unmöglichkeit des Darwinismus

suchen, bei welcher die Abweichung in einer größeren


Verähnlichung besteht. Diese Kopie ließe er dann wieder
tausendmal kopieren, in der Zuversicht, bei so fort-
gesetztem Verfahren mit der Zeit ein ganz vollkommenes
Bild zu bekommen. Wird der Mann sein Ziel erreichen 1
Oder wird das Original sich doch als das beste von allen
herausstellen 1 Offenbar wird das letzte der Fall sein,
nur steigende Verunähnlichung wird dabei herauskommen,
wenn anders das Porträt wirklich sehr ähnlich gewesen
ist. Von den Kopien mag jeweils eine im Vorteile gegen
die damit im Wettbewerbe stehenden Kopien sein, aber
nicht gegenüber dem Originale selbst.
Setzen wir voraus, daß es in der Natur anders ist, weil
dort eine leichtere Variabilität zum Besseren herrsche, so
nehmen wir damit einPrinzip zuHilfe, das ganz außer-
halb des DARWINschen Rahmens liegt. Bleiben wir
auf seinem Standpunkte, dann ist, wie wir sahen, weder
die Erstbildung neuer Organe, noch die Vervollkommnung
von bereits sehr vollkommenen Gebilden zu begreifen.
327. 3. Noch eine dritte Klasse von Erscheinungen habe
ich namhaft gemacht, wo sich das Prinzip der Zuchtwahl
recht augenfällig als ungenügend erweist. Es sind das
jene Fälle einer scheinbaren Teleologie lebendiger Ge-
bilde, welche sich dem Gesichtspunkte einer Dienlichkeit
zur Erhaltung der Art nur höchst gezwungen oder auch,
wie mir scheint, gar nicht unterordnen lassen.
Dahin gehören vor allem gewisse Phänomene, welche
allen anderen im Range voranstehen und die wir, im
Unterschiede von den Tieren, beim menschlichen Ge-
schlechte bewundern: die schönen Künste, die Philosophie
und die anderen freien Wissenschaften und gewisse
moralische Erscheinungen, wie die selbstlose Liebe und
dankbare Fürsorge auch gegen Greise, Kranke, unheil-
bar Irrsinnige und andere, von denen nie weder der
einzelne noch das Geschlecht eine Gegenleistung erwarten
kann. Diese Erscheinungen stehen höher im Range als
das bloße Leben, sei es des Einzelnen, sei es der Art.
Künste und Wissenschaften 333
„Das Leben ist der Güter höchstes nicht." ARISTOTELES
sieht darum den Zweck mehr in der Tätigkeit als im Sein,
und mehr in der Tätigkeit des intellektiven, als in der des
animalischen und in diesem mehr als in der des vege-
tativen Lebens.
Bei so bewanderten Verhältnissen wird man nun be-
fremdlich berührt, wenn eine Lehre alle diese Werte
mit so völliger Gleichgültigkeit gegen das Höhere, was
sie in sich ist, nur einfach unter dem Gesichtspunkte
der Nutzbarkeit für die Erhaltung der Art verständlich
machen will. Das was die Natur, in vollster Niedrigkeit
bleibend, in jedem Infusorium leistet, das und nichts
anderes zu leisten, hätte sie hier so schwindelnde Höhen
erstiegen 1 Freilich bei der Wechselbeziehung zwischen
allem und jedem in der Natur läßt sich nicht leugnen, daß
wie das Höhere durch das Niedere, auch umgekehrt das
Niedere durch das Höhere vielfach gefördert wird. Und
so konnte denn das Höhere auch als Erfordernis des
Niedrigeren emporgetrieben worden sein. Aber wenn sich
dies schon im allgemeinen, wie wir früher sagten, nur unter
Annahme einer von vornherein sehr unwahrscheinlichen
und darum scheinbar höchst teleologischen Kombination
von Bedingungen begreifen läßt, so erscheint es geradezu
unbegreiflich bei jenen vor allen hohen Erscheinungen,
die ich eben erwähnte.
328. Über den Ursprung der freien Wissenschaften
haben schon PLATON und ARISTOTELESnachgedacht.
Sie glaubten ihn nur aus einem kraftvollen Wissens-
triebe, aus reinem theoretischen Interesse zu begreifen.
Aus dem Staunen, sagt PLATON, ist die Philosophie
hervorgegangen, und ARISTOTELESwiederholt das nicht
bloß, sondern führt auch noch weiter aus, daß zuerst das,
was dem Nutzen und was der Annehmlichkeit dient, er-
funden war, ehe, dort wo man Muße hatte, die höheren
Wissenschaften aufkamen, die frei, ohne Rücksicht auf
Nutzen und Annehmlichkeit nur die Wahrheit um ihrer
selbst willen suchen.
334 Unmöglichkeit des Darwinismus

Natürlich ist nicht zu leugnen, daß sich im Gefolge der


theoretischen Forschung dann auch reicher Nutzen ein-
gestellt hat. Aber das war nicht ihr Motiv. Ein Beweis
war dem DEMOKRITwertvoller als alle Schätze des Perser-
königs, und ein ANAXAGORAS lehnte die Sorge um Erwerb
und staatliche Ehren mit den Worten ab : ,,Der Himmel
ist mein Vaterland und die Erforschung der Gestirne
mein Beruf." Auch ergaben sich die reichen Früchte oft
erst nach jahrtausendlangem, theoretischem Bemühen.
Die Wissenschaften gleichen darin jenen Organen der
Lebewesen, von deren ersten Bildung ich sprach: dem
Zwecke, dem sie später dienen, können sie im Anfange
nicht dienlich sein. Und selbst wenn die Zeit solcher
praktischer Früchte gekommen ist, ernten sie gewöhnlich
andere, als die Forscher und Entdecker. Ein KEPLER, der
so Großes vollbracht hat, war dem Hunger preisgegeben.
Seine Armut gestattete ihm nicht einmal den Besitz eines
Exemplars seiner eigenen, unsterblichen Werke. Und
wenn die gelehrten Berufe in neuerer Zeit etwas ein-
träglicher geworden sind, so stellt doch selbst ein COMTE
noch den Gedanken des reinen theoretischen Interesses
in Gegensatz zum Kampf ums Dasein.
329. Das gleiche gilt auch von den schönen Künsten,
über welche darum praktische Naturen, ja auch einseitig
gerichtete theoretische Geister häufig geringschätzig
urteilen. Ich entsinne mich einer Stelle bei JOHN LocKE
über die Dichtkunst, die ja doch keinen rechten Nutzen
bringe und ohne die das Menschengeschlecht vielleicht
nicht ebenso glücklich, aber doch ebenso sicher im Lebens-
kampfe sein würde. Ob Österreich durch seine Musik er-
halten bleiben wird, mag dahingestellt bleiben.
Allerdings nähren auch die schönen Künste unter Um-
ständen ihren Mann, ein
Arion schüfte goldbeladen
einstens von Tarents Gestaden,
und ein Rossrnr und LrszT stehen ihm an goldener Ernte
nicht nach. Aber wie anders lassen sich diese äußeren
Werke der Nächstenliebe 335
Erfolge erklären, als unter der Voraussetzung einer all-
gemeinen Empfänglichkeit des Geschlechtes~ Und um
deren Entwicklung handelt es sich. Man denke alle ohne
musikalisches Gehör, welcher Nachteil im Kampfe ums
Dasein wäre für die Geschöpfe daraus erwachsen? Was
wir früher von den ästhetischen Reizen in den Werken
der Natur sagten, daß sie durch Zuchtwahl im Kampfe
ums Dasein nicht wahrhaft begreiflich seien, gilt auch
von denen der Kunst. Die Natur hätte vielmehr, als
einseitige Zuchtwählerin - wie der Vater Ovrns gegen
die poetischen Triebe seines Söhnchens - gegen jede
solche Regung eifern müssen, bis zu ihrer restlosen Aus-
merzung.
330. Ich wies auch noch auf eine dritte Klasse er-
habenster Erscheinungen hin: es sind solche, die wir
auf ethischem Gebiete finden, selbstlose Liebe und dank-
bare Fürsorge, auch Greisen und unheilbar Kranken
gegenüber, von denen keine entsprechende Gegenleistung
zur Förderung des Einzelnen oder der Art mehr zu er-
warten ist, Pflege der Eltern bis zum Tode mit hingeben-
der Sorgfalt und tiefste Trauer auch dann noch über ihren
Verlust. Unter dem Gesichtspunkte des Vorteiles im
Kampfe ums Dasein sollte man diese Züge eher als falsche
Sentimentalitäten verurteilen. Von dem, was nicht mehr
mithilft, sich abkehren, heißt die Art fördern. Diese
Gefühle sollten also im Kampfe ums Dasein nicht ent-
wickelt, sondern ausgerottet worden sein. Ein gesunder,
ich will nicht sagen Egoismus, aber Artipsissimismus
müßte herrschen. Jeder, der ein gewisses Alter über-
schritten hat oder wenigstens wirkliche Zeichen der
Altersschwäche bietet, müßte als natürlicher Feind be-
trachtet werden, und nicht pensionieren sollte man die
Dienstunfähigen, sondern vergiften. In der Tat hat es
in der französichen Revolution nicht an Anregungen
dieser Art gefehlt, aber wie so vieles andere Unsinnige
hat die Zeit sie wieder weggeschwemmt. Die Charitas
nimmt sich nach wie vor, ja immer entschiedener auch
336 Unmöglichkeit des Darwinismus

der Krüppel und rettungslos Siechen an, wogegen das


Benehmen der Hunde gegen kranke Hunde eben - ein
Hundebenehmen ist. Im Menschen, wenigstens im voll-
wertigen, sträubt sich alles gegen solche Härte, und doch
geht dieser Kraftaufwand an seine Werke der Liebe dem
Dienste der .Arterhaltung im rein biologischen Sinne ver-
loren.
331. Neben diesen Erscheinungen, welche als mensch-
liche uns nahestehen, möchte ich noch eine erwähnen,
die einem uns ferner liegenden Gebiete entnommen ist,
die aber den Darwinianern und schon DARWIN selbst
viel Kopfzerbrechen gekostet hat. Denn auch sie zeigt,
und in besonders frappanter Weise, einen Fall von
scheinbarer Teleologie, der sich nicht recht dem Dienste
im Kampfe ums Dasein subsumieren läßt. Es ist der
Fall eines Gliedes, dessen scheinbare Teleologie nicht auf
den Vorteil des eigenen Organismus selbst, sotldern
anderer lebendiger Wesen abzuzielen scheint. Bei man-
chen Organismen sind künstlich konstruiert und da-
durch für gewisse Funktionen bestimmt erscheinende
Organe vorhanden, die auf das Beste nicht der betreffen-
den Lebewesen, sondern solcher, die von ihnen feindlich
bedroht werden, berechnet scheinen. So z. B. die Klapper
der giftigen und sehr gefährlichen Klapperschlange. An
sexuellen Reiz kann zur Erklärung dieses Organes nicht
ge::lacht werden, da beide Geschlechter in gleicher Weise
damit ausgestattet sind. Man dachte an Faszination des
zur Beute dienenden Tieres, wodurch dieses leichter über-
wältigt werde. Aber Beobachtungen im Londoner Zoolo-
gischen Garten widerlegen diesen a priori nicht übel er-
scheinenden Einfall. Auch an die Ähnlichkeit des Klap-
pems mit dem Geräusche fließenden Wassers dachten
manche und hatten dabei im Auge, daß durstende Tiere
dadurch angelockt werden könnten. Aber diese Ähnlich-
keit ist eine so entfernte, daß dieser Versuch nur die
Größe der Verlegenheit verrät, in die der Darwinismus
hier geraten ist. Ähnlich steht es mit DARWINSeigenem
Fremddienliche Organe 337
Einfall, durch das Klappern würden feindliche Vögel
verscheucht, denn dieses ist gar nicht so stark, daß es
etwas Erschreckendes haben könnte, und selbst wenn
dies die Wirkung wäre, müßte sie sich doch durch gegen-
teilige Erfahrung wieder abstumpfen und eher eine An-
ziehung an ihre Stelle treten, ja mit der Zeit zum Instinkt
werden, wie denn umgekehrt nach dem DARWINschen
Prinzip der der Klapper spezifisch eigene Ton von Ge-
schlecht zu Geschlecht mehr und mehr ein Warnungs-
zeichen hätte werden müssen, so daß der Kampf ums
Dasein, weit entfernt die Entstehung der Eigentümlich-
keit zu erklären, vielmehr nach beiden Seiten hin darauf
hinarbeiten müßte, sie abzuschwächen und aufzuheben.
DARWINverzweifelt trotz alledem nicht, daß man noch
irgendwie von der merkwürdigen Erscheinung werde
Rechenschaft geben können. Denn die Sache ist ihm
von größter Wichtigkeit. Wenn ein einziger Fall fest-
gestellt würde, wo ein Organ nicht für die Art selbst von
Nutzen ist, dann gebe er seine Hypothese auf. Und wenn
er in anderen Fällen nicht so arg in Verlegenheit steckt
und eher etwas Plausibles zur Erklärung vorzubringen
vermag, so hat sein Verfahren doch auch da etwas
Lockeres und Problematisches an sich. Man gewinnt
nicht die Überzeugung, daß der etwa denkbare Hergang
auch der wirkliche gewesen sei. Denn alles in der Welt
hat bekanntlich zwei Seiten. Man darf sich darum nicht
zufrieden geben, irgendeinen Vorteil ausfindig gemacht
zu haben, sondern muß auch darüber beruhigt sein, daß
er die Nachteile wirklich überbiete. Einseitige Betrach-
tungen führen zu entgegengesetzten Resultaten. Und
Prinzipien, die ebensogut das Gegenteil erklären, er-
klären in Wahrheit gar nichts. Ein Beispiel: man könnte
beweisen, daß es lauter Giftpflanzen geben müsse, und
andererseits, daß es keine geben könne. Dieses, weil die
für das Gift empfänglichen Tiere schon ausgestorben
sein müßten, jenes, weil unter den Pflanzen die giftigen
den Vorteil im Kampfe ums Dasein haben.
338 Unmöglichkeit des Darwinismus

332. Soviel über die dritte Klasse von Fällen, welche


ich noch mit unter dem ersten Punkte begreifen mußte.
Ich glaube genug gesagt zu haben, um ihre Aufzählung
zu rechtfertigen. Doch habe ich mir selbst nicht wie bei
den beiden anderen genug getan. Ich glaube, daß hier,
bei vollkommenerer Erforschung der Tatsachen, noch
viel mehr an Inkommensurabilität zwischen der schein-
baren Teleologie in der organischen Welt und der Nütz-
lichkeit zur Erhaltung der Art sich entdecken und diese
Inkommensurabilität selbst auch hier sich viel heller ins
Licht rücken ließe. Hier dürfte ein Feld noch für manche
verdienstliche philosophische und biologische Unter-
suchung sein e9 ).
Was ich über die beiden ersten Klassen sagte, über die
Fälle der beginnenden Organe und über das Fortschreiten
über schon erreichte hohe Vollkommenheitsstufen hinaus,
dürfte dagegen kaum mehr etwas Wesentliches ver-
missen lassen. Die Unmöglichkeit der Anwendung des
Züchtungsprinzips auf eine Fülle der wesentlichsten Er-
scheinungen ohne Zuhilfenahme anderer und Rcheinbar
höchst teleologischer Prinzipien dürfte also unwider-
sprechlich erwiesen sein.
333. II. Wir wollen nun aber noch unter einem an-
deren Gesichtspunkte die Möglichkeit der DARWINschen
Hypothese prüfen, nämlich unter dem der Länge der
Zeit, welche die Entwicklung in Anspruch nehmen
würde.
Auf diesem Gebiete nun glauben die Darwinianer aller-
dings sich vor Verlegenheiten gesichert. Die Länge der
Zeit involviere keinen Einwand, weil die Zeit, während
welcher die Erdoberfläche ihren physikalischen Be-
dingungen nach fähig war, lebendige Wesen zu tragen,
für jeden praktischen Zweck als so gut wie unendlich
angesehen werden könne.
Es fragt sich aber, ob diese Behauptung berechtigt ist.
Der Gedanke liegt nahe, daß über diesen Punkt über-
haupt nichts Wahrscheinliches auszumachen sei. Den-
Länge der Entwicklnngszeit 339
noch hat in neuer Zeit der große englische Physiker
THOMSON auf dreifachem Wege eine Untersuchung darüber
angestellt, seit wann die physikalischen Bedingungen
auf der Erde die Entwicklung der Organismen gestatten.
Bei der ersten dieser Betrachtungen stützte er sich
auf den Einfluß von Ebbe und Flut auf die Rotation der
Erde. (Sie gehen darauf aus, sie zu zerstören und in eine
der des Mondes ähnliche zu verwandeln, bei der Tag und
Jahr zusammenfallen.) Bei der zweiten nahm er die
wahrscheinliche Länge der Zeit, während welcher die
Sonne diesen Planeten beleuchtet, zum Ausgangspunkte.
Bei der dritten bildete die Temperatur im Innern der
Erde die Grundlage seiner Berechnung.
Diese dreifache Untersuchung ergab identische Re-
sultate: die Periode, während welcher der Zustand der
Erde die Existenz von Organismen zuließ, kann nicht
mehr als ungefähr hundert Millionen Jahre dauern. In
einer solchen Frist kann sich nun aber nicht entfernt
etwas wie die Welt der Organismen, die wir jetzt auf der
Erde finden, durch allmähliche Zuchtwahl im Kampfe
ums Dasein entwickelt haben 9u).
334. Dies zeigt sich sofort, wenn man die Resultate
künstlicher Zuchtwahl, wie sie während einer langen
Reihe von Jahren erzielt wurden, mit einem entsprechen-
den Faktor multipliziert. Sie bleiben ganz unvergleich-
lich hinter dem, was geleistet werden müßte, zurück
(MIVART). Nie wurde, auch nicht ein einziges Mal, ein
neues Organ gebildet. KoELLIKER, in seiner Geschichte
des Pennatulidenstammes, hebt dies hervor. Hier handle
es sich, sagt er, immer nur um ein Mehr oder Weniger
schon vorhandener Teile in Größe, Form, Zahl, Farbe
usw., nie um eine wirkliche Neubildung, und es gibt keinen
Fall, in welchem die Züchtung ein Organ zum Vorschein
gebracht hat, das vorher nicht da war. Wenn wir nun
die ersten Organismen, wie sie die ältesten Schichten der
Erde enthalten, in denen überhaupt eine Spur von
Leben zurückgeblieben ist, mit den gegenwärtigen ver-
340 Unmöglichkeit des Darwinismus

gleichen, so erkennen wir, wie unmöglich es sein wfu'de,


die Kluft zwischen Sonst und Jetzt durch all.mähliche
Modifikationen einer künstlichen, tausend und abermals
tausend Millionen Jahre fortgesetzten Zuchtwahl zu
überbrücken. Und doch ist es von vornherein evident
und insbesondere von den Darwinianern auch ausdrück-
lich zugestanden, daß die unbewußte natürliche Zucht-
wahl durch den Kampf ums Dasein nur außerordentlich
viel langsamer wirken kann als die künstliche*).
Schon wegen der mangelnden Isolierung. Das ist ein
so großes Hindernis, daß um dessentwillen schon mancher
ganz und gar an irgendwelcher Beteiligung der natür-
lichen Zuchtwahl beim Evolutionsprinzip verzweifelt ist.
Ein anderer Grund**) liegt in der Notwendigkeit, daß
gleichzeitig viele Individuen eine und dieselbe günstige
Mödifikation erfahren müssen, wenn Hoffnung bestehen
soll, daß diese durch natürliche Zuchtwahl zum Siege
gelange. Denken wir, ein einziges Invividuum habe in-
folge einer günstigen Modifikation die doppelte Chance
seine Art zu erhalten, so ist es, wie wenn es zwei Lose
hätte, während Tausend andere je eines hätten. Was ist
nun in einem solchen Falle wahrscheinlicher, daß der,

*) Die Darwinianer sagen gewöhnlich, um diesen Nach-


teil durch einen Vorzug aufzuwiegen, die natürliche Zucht-
wahl wirke, wenn langsamer, auch dauerhafter als die künst-
liche. Inwiefern aber dies 1 - Zunächst scheint nicht, daß
ein solcher Unterschied zu erwarten wäre. (Wurde doch
gerade das Produkt der natürlichen Zuchtwahl durch die
künstliche relativ rasch geändert.) Das Diktum hat in der
Tat nur in einer Weise einen vernünftigen Sinn: Da die
natürliche Zuchtwahl immer so langsam wirkt, so wird sie
wie beim Bilden, auch beim Umbilden ähnlich langsam
wirken. Und darum erscheint das langsam gebildete Pro-
dukt sehr dauerhaft. Besieht man die Sache also genau, so
findet man das Argument verstärkt, daß die Bildungen durch
natürJiche Zuchtwahl ungleich längere Zeiträume in An-
spruch nehmen.
**) Zuerst geltend gemacht in einem scharfsinnigen Artikel
der North Briti.sh Review Juni 1867.
Länge der Entwicklungszeit 341
welcher die zwei Lose hat, oder daß einer von denen,
welche ein Los haben, gewinnt 1 DARWIN hat, als ihm
von diesem Einwande Kunde kam, in seiner edlen Offen-
heit zugestanden, daß er ihm bis dahin entgangen sei
und daß die Richtigkeit der Bemerkung nicht bestritten
werden könne. ,,Wenn z.B., führt er selber aus, ein
Vogel irgendwelcher .Art seine Nahrung leichter gewinnen
könnte, falls er einen krummen Schnabel hätte, und wenn
einer mit einem stark gekrümmten Schnabel erzeugt
worden wäre, so würde dieses eine Individuum doch
nur eine überaus geringe Chance haben, unter Verdrän-
gung der gewöhnlichen Form seine Art fortzupflanzen."
Aber die simultane Veränderung vieler Individuen durch
eine und dieselbe günstige Modifikation ist selbst wieder
etwas äußerst Unwahrscheinliches. Nehmen wir an, daß
eine gewisse zufällige Veränderung bei einem Individuum
vorkomme, habe die Wahrscheinlichkeit½, so hat das Vor-
kommen einer gleichzeitigen bei 100 Individuen die Wahr-
scheinlichkeit von (½)100 oder weniger als ein Quintillionstel.
Wir sehen also, was für eine außerordentliche Verlang-
samung um dieses Grundes willen die Vervollkommnung
durch natürliche Zuchtwahl erfahren müßte.
335. Ein anderer Grund, der die Entwicklung ver-
langsamt, ist das Gesetz der korrelativen Veränderungen,
vermöge dessen jede Eigenschaft, die eine Abänderung
erfährt, zugleich Änderungen anderer Eigenheiten mit
sich bringt. Wenn eine Variation bei einem Organe
einen Vorteil bedeutet, so muß sich erst zeigen, ob die
begleitenden Änderungen in anderen nicht überwiegend
schädlich ausfallen. Eben darum ist, wie wir schon ge-
hört haben, die beliebige Summierung ein und derselben
Variation zu sich selber nicht möglich.
Dazu käme noch die erwähnte Notwendigkeit für den
Darwinismus, zwischen den Zeiten des Fortschrittes
solche der Stabilität anzunehmen, und zwar von solcher
Ausdehnung, daß die Zeiten des Fortschrittes daneben
verschwinden.
342 Mit dem Darwinismus ist auch die

336. Nach alledem müssen wir sagen: wenn selbst


das dreifache Resultat von THOMSENSUntersuchungen,
die niemand widerlegt hat, auch nicht annähernd, sondern
nur entfernt richtig wäre, ja wenn eine hundert- und
tausendfach größere Periode für die physikalischen Be-
dingungen des Daseins lebender Wesen zugestanden
werden könnte, und wenn man zudem annehmen dürfte
- was vom Standpunkte der blinden Notwendigkeit
offenbar nicht statthaft ist -, daß sogleich im ersten
Momente dieser Periode Eiweißklümpchen, ja mikro-
skopische lebendige Organismen sich gebildet hätten, so
wäre nichtsdestoweniger die Entwicklung der lebenden
Wesen, die wir jetzt schauen, durch allmähliche Vervoll-
kommnung im Kampfe ums Dasein schon aus Zeit-
mangel völlig undiskutierbar.
337. Auch von dieser Seite also ergibt sich die Un-
möglichkeit, durch das Prinzip der natürlichen Zuchtwahl
allein oder auch nur hauptsächlich die Entwicklung der
höheren, komplizierteren Organismen aus den Protozoen
begreiflich zu machen.
Diese Unhaltbarkeit des Darwinismus führt nun eine
neue Niederlage der Hypothese der blinden
Notwendigkeit für die Erklärung der scheinbaren
Teleologie in der Natur herbei.
Wir fanden zuerst sie unanwendbar für den Schein
der Teleologie der unorganischen Natur. Dann für den
Übergang zu den ersten Organismen. Jetzt wieder für die
Entwicklung der höheren aus den niederen.
Oder könnte einer vielleicht sagen: wenn die DARWIN-
sehe Hypothese sich auch als unzureichend erweise, was
steht im Wege anzunehmen, daß nicht in anderer Weise
auf dem Wege mechanischer, blinder Notwendigkeit
die Entwicklung sich begreifen lasse, und der Schein
der Teleologie sich ohne Hilfe eines Verstandes oder eines
wunderbaren Zufalles erkläre 1
Auf diese Frage ist nicht zu antworten, ehe sie genauer
präzisiert ist. Ohne Hilfe eines direkt eingreifenden
Hypothese der blinden Notwendigkeit widerlegt 343

Verstandes oder Zufalls? Warum nicht? Auch bei der


Ontogenese spielen solche Faktoren ja nicht herein. -
Ohne Hilfe eines Verstandes, welcher von vornherein
geordnet hat, oder eines Zufalls, welcher von vornherein
wunderbar erlesene Bedingungen vereinigte? Dies sicher
nicht!
Diese Antwort ergibt sich besonders deutlich, wenn wir
erwägen, daß die DARWINsche Hypothese jedenfalls
die einfachst denkbare ist, jede kompliziertere aber
natürlich etwas Wunderbareres im Zusammenstimmen
der Bedingungen an sich trägt, mag sie nun sprungweise
oder allmählich die Arten der Organismen sich ent-
wickeln lassen, und daß - und dies ist das Schlagendste
- selbst diese denkbar einfachste, DARWINsche Hypo-
these noch vollgepfropft ist von scheinbar äußerst
teleologischen Annahmen, auf deren Erklärung durch
blinde Notwendigkeit man verzichten muß.
DARWIN selbst hat dies, scheints, nicht verkannt und
war deshalb kein Gegner der Teleologie, sowenig als
LAMARCK,obwohl HAECKEL beide für sichere Atheisten
hält"'). Und in neuester Zeit tritt wieder WEISMANN
energisch für die Teleologie ein, obwohl er ein Darwini-
aner trotz DARWIN selber ist.
Nach dem Darwinismus soll sich die Entwicklung mit
Notwendigkeit auf Grund gewisser Gesetze vollziehen, wie
z.B. Vererbung und Variabilität. Und diese sind keineswegs
selbstverständlich, wenn sie aber wirklich die Entwicklung
herbeiführen, mit dem höchsten Schein der Teleologie
behaftet. Es gilt ganz Analoges wie beim Unorganischen
oder wie beim Ern bryo in bezug auf die reife Frucht.
338. Sagt man, dies bedeute denn doch eine starke
Schwächung des Scheines der Teleologie, weil es sich um

"') IIAECKEL hat sich nicht gescheut, nach dem Tode DAR-
WINS einen Brief zu publizieren, worin nichts anderes ent-
halten ist als das Bekenntnis, daß er keiner positiven
Religion als Gläubiger anhing. Aber für H. geht daraus
hervor, daß D. ,,Monist" (d. h. Materialist) gewesen iBt.
344 Niederlage der Hypothese blinder Notwendigkeit

nur wenige Gesetze handelt, so antworoo ich: weder ist die


Zahl so gering, noch auch würde, wenn sie geringer wäre,
diese abschwächende Wirkung eintreten, wofern man nur
auf den besonderen Charakter dieser Gesetze achtet.
a) DARWIN zählt davon schon in der ersten Auflage
eine ganze Reihe auf:
l. Wachstum und Fortpflanzung;
2. Gesetz der Vererbung;
3. Gesetz der Variabilität;
4. Gesetz der Überproduktion.
Es kommt noch dazu, in alles eingreifend,
5. ein Gesetz der korrelativen Änderungen
und nach unseren Ausführungen
6. ein Gesetz der Ablösung der Funktionen bei der
Bildung der neuen Organe (viel wunderbarer als die
gewöhnliche mehrfache Verwendbarkeit, vielmehr wäre,
da die Extreme, welche nützlich sind, weit auseinander-
stehen, zu erwarten, daß die Brücke sich nur durch
Mittelglieder herstellen lasse, welche gar keinerlei Vor-
teile bringen) und
7. ein Gesetz der refativen Leichtigkeit der Bildung
des Vollkommeneren, weiches Schritt für Schritt und
million- und billionfach sich wiederholend fördernd ist.
Blickt man auf diese Gesetze im einzelnen, so hat schier
jedes einen ausgesprochen teleologischen Charakter und
die Kombination mit den anderen wird eine der scheinbar
künstlichsten Verwebungen.
b) Auch sind sie alle sekundäre Gesetze, also aufzu-
lösen in mehrere und unübersehbar viele bis in die von
Stickstoff und Kohlenstoff usw. hinein.
So bestätigt es sich denn, was ich sagte, die DARWIN-
sehe Hypothese koinzidiert mit der des Zufalls
- oder aber mit der teleologischen. Da sie nun aber
keinesfalls durch eine einfachere zu ersetzen ist, so ergibt
sich, daß die Hypothese der blinden Notwendig-
lceit schlechterdings und a,n jedem Punkte un-
anwendbar ist.
Schlußwort über den Darwinismus 341>

Neue Theorien zur Erklärung der Evolution


339. Meine Darlegungen zum Nachweise der Un-
möglichkeit der DARWINschen Hypothese zur Erklärung
des Scheines der Teleologie in der Entwicklung der
Organismen waren sehr gedrängt und gewiß nicht voll-
ständig. Doch reichen sie wohl aus, dem, der ihnen mit
Aufmerksamkeit gefolgt ist, zu zeigen, wie unhaltbar
dieser Versuch ist. Wie aber konnte eine sowenig be-
gründete Annahme so viele tüchtige Vertreter finden 1
Und was ist es mit den Argumenten, die für sie sprechen?
Solche Fragen regen sich wohl auch in Ihnen, und so
mag noch ein Schlußwort über die Bedeutung der DARWIN-
sehen Hypothese am Platze sein.
340. Man kann ihre Anhänger in drei Gruppen teilen.
Die einen finden in ihr weder Schwierigkeit noch Dunkel-
heit. Sie glauben durch sie den Schleier von der Ent-
wicklung der Organismen gehoben und das Geheimnis
ihrer Teleologie offenbar geworden. Für einen HAECKEL
ist DARWIN der NEWTON der organischen Natur.
Andere sind weniger enthusiastisch. Zwar scheint auch
ihnen die Hypothese keine Schwierigkeiten zu bieten,
aber sie verbergen sich nicht, daß sie vieles dunkel läßt
und keine letzte Erklärung bietet. Die Gesetze der Ver-
erbung und Variabilität sind ja keine letzten Gesetze,
und insbesondere die Ursache der Variation bleibt uns
ganz verborgen. Wir kennen - gestehen sie - den Re-
gulator für die Entwicklung, die eigentlich bewegenden
Kräfte nicht.
Noch andere - und darunter die feinsten Köpfe -
sind sich darüber klar, daß der Annahme die größten
Schwierigkeiten entgegenstehen und daß die Erklärung
an und für sich eine äußerst riskierte und von kolossaler
Unwahrscheinlichkeit sei. Dennoch, meinen sie, müsse
man sich an sie halten, weil sie das einzige Mittel biete,
sonst unbegreiflichen Tatsachen gerecht zu werden. So
ist für Du BoIS REYMOND der Darwinismus die Planke,
346 Neuere Theorien

an die sich der Schiffbrüchige klammert, um nicht Z'J.


ertrinken. Und in der Tat, wenn eine an sich sehr un-
wahrscheinliche Annahme die einzig mögliche Hypo-
these zur Erklärung einer gewissen Tatsache ist, so kann
sie dadurch zur Gewißheit erhoben werden. Anders
freilich, wenn sie unmöglich ist. Dann greift man nicht
nach einer Planke, sondern nach einem Strohhalm. Die
Meinung, daß jede andere Erklärung ausgeschlossen sei,
muß dann eben ein Irrtum sein, und man hat entweder
sich mit einem subjektiven Ignorabimus zu bescheiden
oder aber nach einer neuen Umschau zu halten.
341. Wie verhält es sich in unserem Falle 1 Welches
ist vor allem die zu erklärende Tatsache selbst 1 Sie ist
im wesentlichen die eine: die Evolution der Organismen
aus anderen und niedrigeren Arten. Diese läßt sich an-
gesichts der vielen Gründe, die für sie vorgebracht
werden, nicht wohl leugnen. Vergleichen wir diese nun
mit den Gründen, die der Darwinismus für sich selber
geltend macht, so finden wir sie der Hauptsache nach
dieselben. Die wichtigeren Argumente der Darwinianer
sind zunächst samt und sonders Argumente für die
Evolutionstheorie und werden darum als solche für den
Darwinismus betrachtet, weil man glaubt, von der Evo-
lution lasse sich in keiner anderen Weise als durch die
natürliche Zuchtwahl Rechenschaft geben. Wäre der
Nachweis erbracht, daß die Entwicklung sich auch
anders denken lasse, so wären sofort alle Stützen des
Darwinismus gefallen. Nun läßt sich aber dieser Nachweis
erbringen und er ist erbracht worden. Es gibt eine andere
Hypothese, die bei weitem nicht so verzweifelt anmutet
wie der Darwinismus, und damit ist diesem nun vollends
jede Daseinsberechtigung benommen 100 ).
342. DARWINläßt die Entwicklung der vollkommeneren
Organismen, wie sie heute vorhanden sind, durch eine
unabsehbare Kette ganz kleiner, man möchte sagen
infinitesimaler Veränderungen sich vollziehen, die, in
jedem Falle in jeder Richtung möglich, sich in infinitum
zur Erklärung der Evolution 347

addieren können. In der letzten Beziehung fordert er


für d.:e Evolution zu viel, in der ersten zu wenig. Es gibt
oft plötzliche bedeutende Abweichungen, so daß die
von gleichen, ja von denselben Organismen Abstammen-
den beträchtlich voneinander abstehen. Es tritt das
seltsame Schaf mit dem langgestreckten, wolligen Leib
und den niederen krummen Beinen auf oder ein Stier
ohne Hörner oder ein Mensch mit sechs Fingern. Vögel,
die im Brutofen, bei bedeutend höherem Wärmegrade
als dem der natürlichen Brutwärme, sich entwickeln,
fallen unverkennbar anders aus.
Das sind freilich zum Teil Beispiele von Mißgeburten,
doch als Zeugnisse dafür wohl verwertbar, daß in den-
selben Keimen die Fähigkeit zu unmittelbar ganz be-
deutend differenter Entwicklung gelegen sein muß. Und
diese wird von der Natur (regelmäßig) zur Erzeugung
von weit voneinander abstehenden Organismen mit
wesentlich verschiedener, scheinbar teleologischer Ent-
wicklung verwendet. Daß die beiden Geschlechter aus
demselben Keime sich entwickeln können, dafür spricht
schon, daß jedes gewisse Organe des anderen in rudi-
mentärer Form besitzt. Bei dieser Differenzierung war
aber doch offenbar nicht der Kampf ums Dasein der
treibende Faktor, so daß unter einer unermeßlich größeren
Zahl mittlerer und unteleologischer Gestaltungen immer
nur wenige von einer der beiden teleologischen Formen
des männlichen und weiblichen Geschlechtes sich fänden,
oder auch bei den früheren Entwicklungsstadien des
Fötus fort und fort jeder Fortschritt unter tausend-
fältigem Untergang minder glücklicher Nebenformationen
sich vollzogen hätte.
Vielmehr lag unleugbar schon in den ersten Keimen
eine doppelte Fähigkeit, eine scheinbare Anlage zur
Entwicklung zweier Arten von Organismen je nach be-
sonderen Bedingungen, welche eintreten und worüber die
Physiologie noch keine Rechenschaft zu geben imstande
ist, deren jede in einer besonderen Weise äußerst teleolo-
348 Neuere Theorien

gisch gebildet scheint. {Dabei ist der Abstand beider


Geschlechter oft ein so weiter, daß man sie als solche ver-
kannt und das Männchen z. B. für einen Parasiten der
Art gehalten hat. Sexueller Dimorphismus. Bei manchen
Tieren geht diese Differenzierung in vier Formen auaein-
a.nder 1°1).)
343. Ähnlich müssen wir, wenn wir wirklich mit der
Analogie zwischen Ontogenese und Phylogenese Ernst
machen wollen, über die ursprünglichen einfachen Orga-
nismen denken. Wir müssen in ihnen eine mehrfache
Fähigkeit, eine mehrfache scheinbare Anlage zur Ent-
wicklung vollkommenerer Arten von Organismen an-
nehmen, deren jede in ihrer Weise höchst teleologisch
gebildet erscheint. Die Keime der ursprünglichen Orga-
nismen, die unter gewissen Umständen allerdings Orga-
nismen derselben Spezies wie die, der sie selbst angehören,
hervorbringen konnten und hervorbrachten, waren so
beschaffen, daß sie unter veränderten Bedingungen in
ihrer Entwicklung zu einer mehr oder minder verschie-
denen Spezies von Organismen führten 102 ), welche den
veränderten Bedingungen mehr entsprach und gewöhn-
lich oder immer auch an und für sich betrachtet voll-
kommener war. Traten diese Bedingungen ein, so fand
also ein sprungweiser Übergang statt, den wir mit
KoELLIKER*), der ebenso wie eine bedeutende Anzahl
anderer hervorragender Naturforscher - wie NÄGELI**),
HEER, CLAus, RÄTIMEYER, Hrs, BRou, GRISEBACH,
WIESNER, MrvART u. a. - diese Deszendenzhypothese
vertritt, als heterogene Zeugung (generatio hetero-
genea) bezeichnen können.

*) Zeitschrift f. w. Zoologie 1864, S. 181: ,,Entwicklungs-


geschichte des Pennatulidenstammes". S. 25 nennt er aie
,,Entwicklung aus inneren Ursachen".
**) Entstehung und Begrüf der natürlichen Art. Mün-
chen 1865. (Nach KOELLIKER,Pennatulidenatamm S. 27,
das Beste, was über diesen Gegenstand veröffentlicht wor-
den ist.)
zur Erklärung der Evolution 349
Solche Sprünge oder heterogene Zeugungen müssen
aber wiederholt vorgekommen sein, d. h. auch die Keime
der in dieser Weise entwickelten Organismen müssen
ebenso eine mehrfache Fähigkeit der Entwicklung zu
Organismen von verschiedener Spezies gehabt haben.
Unter gleichbleibenden Bedingungen entwickeln sich
gleiche Organismen 102), unter veränderten kommt es zu
Heterogenesis. Nimmt man dies an, so macht man nur
mit der Analogie der fötalen Entwicklung in zweifacher
Richtung wirklich Ernst.
344. Wir haben aber mehr noch als diese Analogie, was
der Hypothese zur Empfehlung dient, nämlich wirkliche
Beispiele- solcher sprungweiser Übergänge oder Hetero-
genien in der Welt der Organismen. Größere Unterschiede,
als je durch Züchtung allmählich erzielt worden sind,
treten plötzlich zwischen Erzeuger und Abkömmling auf.
MlvART führt (a. a. 0. S. 97) mehrere Beispiele von
plötzlicher Modifikation auf, die, wie er bemerkt, nicht
geringer sind als der Abstand von Hyparion und Equus.
Englische Austern, ins Mittelmeer gebracht, änderten
plötzlich die Weise ihres Wachstums und bildeten heryor-
stehende divergierende Strahlen, wie die von den eigent-
lichen mittelländischen Austern. Sir CH. LYELL berichtet
einen Fall von Windspielen, die von Engländern, welche
in der Real del Monte Compagnie engagiert waren,
mitgenommen wurden. Sie gehörten zur besten Art
Hasen zu jagen, konnten aber in der verdünnten Atmo-
sphäre die Fatiguen einer langen Jagd nicht ertragen.
Ihre Jungen waren nicht im geringsten durch die dünne
Luft belästigt.
Vielleicht wichtiger noch sind die Fälle, welche KoEL·
LIKER ('Pennatulidenstamm S. 12ff.) anführt.
An ihrem Generationswechsel, also in dem, was sozu-
sagen unter unseren Augen geschieht, haben wir Bei-
spiele von dem, was nach der Annahme der Hypothese
auch früher und wiederholt und allgemein stattfand, um
die Fortschritte in der organisierten Welt herbeizuführen.
350 Neuere Theorien

345. Nicht ganz dasselbe liegt in anderen Fällen vor,


worin aber doch ein verwandter Zug in der Natur sich
darstellt; nämlich da, wo ein Tier mehrere Verwand-
lungen aus einem lebenden Wesen in ein andersartiges bis
zur Entwicklung der vollkommensten geschlechtlichen
Form durchmacht. (Kaulquappe, Frosch; Raupe, Schmet-
terling usw.) Manche durchlaufen eine ganze Reihe von
Übergangsformen und erscheinen in der vollendeten
Form wie Tiere ganz anderer Art und Gattung, so daß
der Zusammenhang oft erst spät von der Wissenschaft
entdeckt worden ist. Diese Metamorphosen sind dem
Generationswechsel verwandt.
Die seltsamsten Tatsachen bieten in dieser Beziehung
gewisse Eingeweidewürmer. Man findet bei ihnen oft
Eier in ganz unglaublicher Zahl, die sich aber nicht im
Wohnorte des Muttertieres, sondern außerhalb desselben,
mei,st in Gewässern, entwickeln und in verschiedener
Gestalt als wurmförmige Larven leben. Manche dieser
haben lange als besondere Würmerarten gegolten. Man
pflegt die Larven „Ammen" zu nennen, im Falle sie
Knospen erzeugen, aus welchen abermals selbständige
Larvenformen hervorgehen, deren letzte endlich die Ge-
stalt des Muttertieres annimmt und sich von außen in
sein Wohntier einbohrt. Es kommt auch vor, daß eine
dieser Larvenformen ein besonderes Tier bewohnt und
erst, wenn es aus diesem in einen bestimmten anderen
Tierkörper gelangt, sich zur vollendeten Form ent-
wickelt.
So ist es beim Bandwurm, dem lästigen Schmarotzer
des Menschen, von welchem jene Art, die man den ge-
meinen Bandwurm nennt, bis 50 Fuß lang wird. Der
Kopf ist so dick wie ein Stecknadelkopf; in den brei-
teren Gliedern enthält er zahlreiche Eier, von denen
solche, die irgendwie in den Körper von Tieren gelangen,
sich zu den sog. Bla.senwürmern entwickeln, die man
bis vor kurzem für unabhängige Tiere gehalten hat. So
im Speck der Schweine die Finnen von Erbsen- bis Nuß-
zur Erklärung der Evolution 351
große, im Gehirn der Schafe die Drehwürmer, bestehend
aus einer Blase bis zur Größe eines Hühnereies mit
mehreren Saugröhren; in der Leber des Menschen daB
Igelkorn und in den Haustieren der Echinococcus veteri-
norum. Eine Schweinsfinne, die durch den Genuß von
Schweinefleisch in den Menschen gelangt, verwandelt sich
nachgewiesenermaßen in die vollendete Form des Band-
wurmes.
346. Der Fall ist, wie gesagt, nicht ganz von der Be-
deutung des früher angeführten, wo es sich um verschie-
dene vollentwickelte, zeugungsfähige Arten handelte
(hier im Zirkel, dort jede Art sich fortsetzend). Daß
sich aber gewisse verwandte Züge der Natur hier offen-
baren, ist unverkennbar; namentlich zeigt sich eine
gewisse mehrfache Entwicklungsfähigkeit darin, daß
oft gewisse Übergangsformen durchlaufen, oft
übersprungen werden. Etwas Ähnliches zeigt sich
auch in folgender Tatsache: Kaulquappen im Dunkeln
gehalten, bleiben Kaulquappen, bei Zulassung des
Lichtes entwickeln sie sich zum Frosch. Ein gewaltiger
Abstand! Jene sind Knorpelfische, dieser eine höhere
Form als die Knochenfische.
347. Eine weitere verwandte Tatsache liegt in dem
vor, was wir inbetreff einzelner Glieder zu bemerken
Gelegenheit hatten (vgl. M:rvART Kap. 8). Wir finden,
daß bei Anneliden, wenn wir sie durchschnitten haben,
das Schwanzstück einen neuen Kopf erzeugt. Bei
einigen, wie z.B. Syllus und Nais bildet sich auch ohne-
dies in gewissen Intervallen statt eines einfachen Ringes
ein Kopf, und das Tier zerfällt dann spontan in mehrere
Tiere. (Mehrfache Entwicklungsfähigkeit dieses Gliedes.)
Wiederum könnte man im selben Sinne auf die Bildung
aller der verschiedenen Organe eines verwickelten Orga-
nismus aus einem ursprünglich aus gleichartigen Zellen
bestehenden Zellenhaufen 103 ) verweisen. Alles dies spricht
für die Annahme einer mehrfachen scheinbaren
Entwicklungsanlage in denselben Keimen.
362 Neuere Theorien

348. Auch diese Annahme spnmgweiser Übergänge


von Organismen zu Organismen von wesentlich neuen
Beschaffenheiten ist in Übereinstimmung mit dem, was
die unorganische Welt zeigt. So erfährt z. B. Schwefel
verschiedene Modüikationen unter anderen und anderen
physikalischen Bedingungen; in jeder regelmäßig krystal-
lisierend - im kochenden sowohl als kalten Zustande -
aber nach einem ganz anderen Kristallsysteme. Ähn-
liches gilt vom Phosphor.
Bei der Änderung der Aggregatzustände findet ein
plötzlicher Übergang zu einem ganz neuen Zustande mit
ganz verschiedenen, aber, wie wir sehen, eigentümlichen,
scheinbar teleologischen Eigenschaften statt.
349. CuVIER war darum ein Gegner der Evolutions-
theorie, weil er nur die LAMARCKscheErklärung vor
Augen hatte, die so wie die DARWINsche die Spezies
aufhebt. Sie sei, meinte der große Mann, gegen das
wesentlichste Interesse der Wissenschaft. Eine syste-
matische Biologie werde dadurch unmöglich. Nach
unserer Auffassw1g über die Evolution aber entfällt dieses
Bedenken.
So kann denn diese Evolutionshypothese einerseits
viel Größeres für sich anführen, andererseits vermeidet
sie alle Objektionen, welche dem Darwinismus gelten;
ja es ist offenbar, daß, da diese schlechterdings unlösbar
sind, wenn überhaupt eine Evolution der Organismen
aus einfachen ursprünglichen Bildungen stattgefunden
hat, für diese entweder durch eine unübersehbare Kette
in der glücklichsten Weise sich fügender Zufälle oder auf
diesem Wege die Erklärung gegeben werden muß 164 ).
Auch nach ihr findet die Entwicklung mit mechanischer
Notwendigkeit statt. Auf neue unmittelbare Eingriffe
Gottes wird dabei nicht rekurriert. Gleichwohl sind die
Gegner einer teleologischen Weltanschauung ihr viel
weniger als dem Darwinismus geneigt 106 ).
350. Der Grund scheint durchsichtig genug. Denn so
wenig als die mechanisch notwendige Entwicklung des
zur Erklärung der Evolution 353
einzelnen vollkommenen Fötus aus dem einfachen Ei
die scheinbare Teleologie schmälert, so wenig diese Ent-
wicklung der vollkommeneren Arten aus den uranfäng-
lichen einfachen. Gerade weil der Vogel mechanisch not-
wendig aus dem Ei wird, muß in diesem eine ganz be-
stimmte Disposition und Struktur gefordert werden, die
durch die mindeste Abweichung aufgehoben wird, und
diese erscheint ein Fall unter unendlich vielen gleich
möglichen. Ähnlich ist es denn auch hier; ja noch viel
wunderbarer,
a) sowohl was die scheinbar vorbereiteten Anlagen
der Keime anlangt, wobei immer die neuen den die
Änderungen bewirkenden neuen Bedingungen mehr ge-
mäß sind,
b) aber auch was die scheinbar vorberechneten physi-
kalischen Bedingungen betrifft, deren Aufeinanderfolge
kein Abwärtssteigen, sondern einen Aufstieg bedingt und
die auch in ihrem Nebeneinander in wunderbarer Weise
zu einem vorbestimmten Zwecke zu konkurrieren scheinen.
Auf jeder Stufe müssen die Entwicklungen der ver-
schiedenen Reihen nicht bloß mit den unorganischen
Bedingungen, sondern auch miteinander zusammen-
stimmen. Das ist so klar, daß es Vertretern dieser An-
sicht, welche in keiner Weise die teleologische Welt-
ansicht befürworten wollen, ähnlich wie vielen Physio-
logen erging, die, ohne es zu wollen, oft sprechen müssen,
als nähmen sie eine Zweckordnung in der Natur an. So
spricht es z. B. KoELLIKER in der Zeitschrift für wissen-
schaftliche Zoologie als seinen „Grundgedanken" aus,
daß „der Entstehung der gesamten organischen Welt
ein großer Entwicklungsplan zugrunde liege". Und in
seiner Schrift über die Entwicklungsgeschichte des Pen-
natulidenstammes heißt es: ,,Meine Grundanschauung
ist somit die, daß bei und mit der ersten Entstehung der
organischen Materie und der Organismen auch der ganze
Entwicklungsplan, die gesamte Reihe der Möglichkeiten,
potentia mitgegeben wurde, daß aber auf die Entwick-
354 Vergleich der Verstandes- und Zufallshypothese

lung im einzelnen verschiedene Momente bestimmend


einwirkten und derselben ein bestimmtes Gepräge auf-
drückten."
Daß bei solcher Art, die Dinge zu sehen, der Schein der
großartigsten Teleologie aufrecht bleibe, aehen HAECKEL
und andere seiner Geistesrichtung ein; dagegen hofften
sie, ihn durch die DARWINsche Erklärung loszuwerden.
Wir haben gesehen, daß diese Hoffnung sich nicht be-
stätigt hat. Dem Kampf ums Dasein mag allerdings in
einzelnen Fällen ein kleiner Spielraum bleiben, aber wenn
er universelles Erklärungsprinzip sein will, so verkennt
er seine Kräfte*) und läuft die Gefahr des Frosches in
der Fabel.
II. Vergleich der Verstandes• und der ZufaUshypothese
351. Durch das Ergebnis unserer bisherigen Betrach-
tungen ist unser Beweisverfahren wesentlich vereinfacht:
die Hypothese der blinden Notwendigkeit kommt als
Erklärung für die scheinbare Teleologie nicht mehr in
Betracht. Von den drei Hypothesen bleiben also nur
mehr zwei in Konkurrenz, die Verstandes- und die Zu-
fallshypothese, und für diese wird es dem früher ent-
worfenen Plane entsprechend nun unsere Aufgabe sein,
ihre relativen Wahrscheinlichkeiten festzustellen.
Wenn die eine die andere unendlich übertrifft, so hört
sie auf, Hypothese zu sein und wird zu einer vollständig,
mit physischer Sicherheit erwiesenen Wahrheit.
Die Berechnung wird nicht besonders schwierig sein;
denn wo es sich um unendliche Abstände handelt, dürfen
wir auch ganze endliche Größen in die Brüche fallen
lassen. Auch ist das Verfahren einfach, und manches,
was wir schon früher, im einleitenden Teile, erörtert
haben, kommt uns dabei zu Hilfe. Dennoch bitte ich
um Ihre angestrengte Aufmerksamkeit, da die Unter-
"') Selbst dort, wo er noch am ehesten anwendbar scheint,
stellt sich bei feinerer Untersuchung der Zusammenhang oft
ganz anders dar. (STRICKERS Amöben, Farben der Fische.)
Jene ist nicht unendlich unwahrscheinlich 355

suchung trocken ist, aber den Nerv des ganzen Beweises


enthält. Hier wird es sich entscheiden, ob es sich um
rhetorische Dialektik oder um einen echten wissenschaft-
lichen Beweis handelt.
352. Betrachten wir zunächst die Hypothese, welche
die scheinbare Teleologie als wirkliche faßt, indem sie
sie auf einen übermenschlichen Verstand als ihre Ursache
zurückführt.
Wir müssen hier - nach dem sechsten LAPLACEschen
Prinzip -
l. die vorgängige Wahrscheinlichkeit der Existenz
eines zu einer solchen Wirkung fähigen Wesens fest-
stellen
2. und dann ermitteln, wie wahrscheinlich es sei, daß,
falls ein derartiges Wesen existiere, infolge davon eine
scheinbar teleologische Ordnung in der Welt sich finde.
Haben wir beide Wahrscheinlichkeitsbrüche fest-
gestellt, so sind sie miteinander zu multiplizieren.
353. Die vor gängige Wahrscheinlichkeit eines zur
Ordnung der Welt fähigen, ja unendlich vollkommenen,
denkenden Wesens ist nicht unendlich klein. Wir haben
schon früher festgestellt 106 ), daß von vornherein ebenso-
viel oder ebensowenig für als gegen sie spricht. Somit
ist die Wahrscheinlichkeit eines solchen Verstandes 1/2;
es genügt uns aber, sagen zu können, daß entsprechend
den uns zu Gebote stehenden Daten die Annahme keine
unendlich unwahrscheinliche ist, denn mit den Unter-
schieden endlicher Größen haben wir ja gar nicht mehr
zu rechnen.
354. Das ist aber auch hinsichtlich des Erklärungs-
wertes der Hypothese offenbar 107 ).
Wie wir auch über die Freiheit und Selbstgenügsam-
keit eines solchen Wesens denken mögen, der gemäß
es denkbar wäre, daß es sich alles Wirkens enthielte, so
ist doch ein solches Wirken nicht von vornherein unend-
lich unwahrscheinlich. Entweder es liebt und will nur sich
selbst oder, indem es sich selbst liebt und will, auch etwas
356 Vergleich der Verstandes- und Zufallshypothese

anderes, ihm Ähnliches wegen der Ähnlichkeit mit sich.


Sein Akt ist dann nicht vollkommener, denn es liebt
nichts Vollkommeneres; aber offenbar auch nicht unvoll-
kommener. (Vielleicht wäre es nicht schwer, von vorn-
herein eine überwiegende, ja unendlich überwiegende
Wahrscheinlichkeit zugunsten seines Wirkens nachzu-
weisen. Doch wir wollen uns hier nicht unnötig in sub-
tilere Untersuchungen einlassen. Uns genügt, wenn man
dafür eine endliche Wahrscheinlichkeit zugesteht.)
Somit ist klar, daß unter Annahme der Existenz eines
zur Weltordnung fähigen und vielleicht gar unendlich
vollkommenen Wesens eine scheinbare Teleologie in der
Welt jedenfalls nicht unendlich unwahrscheinlich ist.
Da nun ein endlicher Bruch, mit einem endlichen
Bruch multipliziert, jedenfalls keine unendlich kleine
Größe ergeben kann, so sehen wir, daß wir für die erste
Hypothese eine endliche Wahrscheinlichkeit erhalten.
355. Wenden wir uns nun zur anderen, zur Zufalls-
hypothese, um auch bei dieser sowohl die vorgängige
Wahrscheinlichkeit als auch die Wahrscheinlichkeit der
zu erklärenden Tatsache unter Annahme der entsprechen-
den zufälligen Kollokation zu bestimmen.
Kein Zweifel, daß die letzte gleich 1, d. h. gleich der
vollen Gewißheit, zu setzen ist 108 ).
Nur die vorgängige Wahrscheinlichkeit der Existenz
von Wesen mit allseitig entsprechenden Eigentümlich-
keiten und Gesetzen sowie die einer zufälligen zweck-
mäßigen Kollokation derselben, die in steter Umbildung
unter dem Einfluß der unveränderlich fortbestehenden
Gesetze zu einem Schein von Teleologie hinführen mußte,
wie die Welt ihn darbietet, bleibt zu berücksichtigen. Und
diese Wahrscheinlichkeit kann nur als eine unendlich
kleine bestimmt werden.
Das wird Ihnen sofort deutlich werden, wenn Sie sich
einzelner der früher erwähnten Momente entsinnen.
Blicken wir auf das unorganische Gebiet für sich.
Schon von einem ihrer einfachsten Züge, dem Beisammen-
Diese ist unendlich unwahrscheinlich 357

sein der Körper im Raume, haben wir erkannt, daß er


nicht nur nicht selbstverständlich, sondern, als zufällige
Tatsache aufgefaßt, unendlich unwahrscheinlich ist. Es
sind ja unendlich mehr Lagen auseinander denkbar,
schon in einer Ebene, ja in einer Linie, und jede davon
gleich denkbar.
Denkt man sich aber die Körper statt ruhend bewegt
und jeden vermöge des Gesetzes der Trägheit mit un-
verminderter Geschwindigkeit fortschreitend, bis er
etwa irgendwo auf einen anderen trifft, so bleibt die
Gesamtzahl derjenigen Dispositionen, in welchen ein
solches Zusammentreffen stattfinden wird, verglichen
mit der Gesamtzahl derjenigen, welche- zu keinem führen
würden, immer noch unendlich klein, und somit ist, da
jede Disposition an und für sich gleich denkbar ist, die
Annahme, daß eine der ersten zufällig wirklich gewesen,
immer noch eine unendlich unwahrscheinliche.
356. Zur Verdeutlichung denken wir uns,
a) die Körper hätten sich ursprünglich alle in einer
und derselben Ebene bewegt - eine Annahme, die
offenbar ihr Zusammentreffen sehr begünstigt - und
b) nehmen wir ferner an, es hätten sich ihre Bahnen
alle in einem und demselben Punkte geschnitten,
c) endlich, zu noch größerer Vereinfachung, die Körper
hätten sich alle mit völlig gleicher Geschwindigkeit bewegt,
so daß nur die Unterschiede ihrer Entfernungen von dem
Schnittpunkte der Bahnen in Rechnung kommen,·
so ist es leicht zu zeigen, daß auch dann noch das
Zusammentreffen auch nur zweier von den Billionen und
Aberbillionen Körperchen, die wir uns existierend denken
mögen, in dem gemeinsamen Kreuzungspunkte eine un-
endliche Unwahrscheinlichkeit gewesen wäre. Wäre
es ja doch unendlich unwahrscheinlich, daß zwei von
den Körpern in einer genau gleichen Entfernung von dem
Schnittpunkte sich befunden hätten, da es vielmehr
unendlich wahrscheinlich wäre, daß die Unterschiede
ihrer Distanzen vom Schnittpunkte, jede mit jeder ver-
358 Vergleich der Verstandes• und Zufallshypothese

glichen, ganz außerordentlich groß gewesen sein würden.


(Das Wahrscheinlichkeitsverhältnis des Zusammentref-
fens zweier in diesem Falle ist genau dasselbe wie da.s des
Beisammenseins bei einer zufälligen ruhenden Lagerung
innerhalb einer Linie.)
So ungünstig steht der Fall schon bei nur zweien; wie
erst, da nicht bloß zwei, sondern unzählig viele bei-
sammen sind 1 Mit jeder neuen Einheit steigt die Un-
wahrscheinlichkeit unendlich.
357. Vergessen wir über diesem ganz einfachen Faktum
des räumlichen Beisammenseins der Körper nicht alle
anderen, die wir schon in der unorganischen Welt als
scheinbar höchst teleologische bewundert haben. So die
mannigfache Verwandtschaft von allem mit allem. Wir
wollen nur einen einzelnen und verhältnismäßig ein-
fachen Zug solcher Verwandtschaft in Betracht ziehen,
nämlich das allgemeine Gesetz der Schwere, das voll-
ständig gleichmäßig alle Massen beherrscht, wobei alle
Körper gleich gut als Leiter dienen. Daß dies auch nur
bei zwei Stoffen unter den vielen, wenn wir sie nicht
in ihrem Ursprung geeint und so wahrhaft mit-
einander verwandt denken, der Fall sei, ist bereits
unendlich unwahrscheinlich, da ja unendlich viele andere
Fälle gleich denkbar sind. Wie nun aber gar, daß diese
Gleichförmigkeit durchgehend ist 1 Mit jedem neuen
Körper, den wir in Betracht ziehen, wird die Unwahr-
scheinlichkeit nochmal unendlich gesteigert.
358. Ich will hiernach nicht mehr die anderen für die
ganze Körperwelt allgemeinen Gesetze und insbesondere
die chemische Verwandtschaft in Betracht ziehen. Wir
sahen früher, welchen Schein des innerlichsten Aufein-
anderberechnetseins der Elemente der Prozeß der che-
mischen Verbindung erweckt 109 ), und es bedarf nach dem
eben Dargelegten keiner Ausführung des Beweises mehr,
daß auch hier wiederum, wenn alles dem Zufalle zu-
geschrieben werden soll, unendlich und abermals unend-
liche Unwahrscheinlichkeiten sich ergeben.
Diese ist unendlich unwa.brscheinlich 359

Auoh auf die wunderbare Tatsache, daß in der Natur


Elemente sich finden, die durch Umwandlung in che-
mischen Prozessen zu einem organischen, ja des Bewußt-
seins fähigen Körper werden können, will ich nicht
weiter eingehen. Es ist ja klar, was, wenn schon die von
uns analysierten, vergleichsweise unscheinbaren Tat-
sachen unendliche Unwahrscheinlichkeit ergaben, hier
das Ergebnis einer solchen Analyse sein würde.
359. Nur auf die wirklich gegebene wunderbare
Struktur der Organismen will ich noch einen schnellen
Blick werfen, um diese Tatsachen, die den weniger Re-
flektierenden allein fast in ihrer Teleologie auffällt und
auch bei dem teleologischen Beweise gewöhnlich fast
ausschließlich berücksichtigt wird, bei der Prüfung der
Wahrscheinlichkeit der Zufallshypothese nicht ganz un-
beachtet zu lassen.
Es gehört nicht viel Nachdenken dazu, um einzusehen,
daß auch hier die Wahrscheinlichkeit eine unendlich
kleine ist. Wir können hier, wie man es in allen Wissen-
schaften, auch in der Mathematik, gerne tut, a minori ad
majus argumentieren, indem wir statt unmittelbar den
Organismen uns zuzuwenden, zunächst ein Werk der
Kunst, sei es ein ästhetisches, sei es eine künstlich kon-
struierte Maschine, in Betracht ziehen. In beiden Rück-
sichten, hinsichtlich der Schönheit sowohl als hinsicht-
lich ihrer wunderbaren Leistungsfähigkeit, lassen ja die
Organismen alle Produkte menschlicher Kunst unbe-
zeichenbar weit hinter sich zurück. Betrachten wir also
eine Uhr oder ein Rädchen darin, eine Fabrik oder auch
nur eine Dampfmaschine oder ein Rad oder einen hohlen
Zylinder der Dampfmaschine. Oder ein Gemälde oder
auch nur einen Kopf darauf; die Laokoongruppe oder
nur den Kopf einer ihrer Gestalten - wer sieht nicht
sofort ein, daß die Annahme, so etwas sei zufällig durch
glückliche Kollokation von Stoffen entstanden oder an-
fanglos zufällig irgendwo gewesen, unendlich unwahr-
scheinlich wäre1 Jeder sagt hier .3in entsch;edenes Nein
360 Vergleich der Verstandes- und Zufallshypothese

und hat dabei nicht etwa das Gefühl, daß er eigentlich


erst auf den Mond reisen müßte, um Umschau zu halten,
ob nicht dort doch derartige Gebilde von ungefähr sich
fänden.
Wenn nun aber schon solches unendliche Unwahr-
scheinlichkeit hat, wie erst die Annahme, daß der mensch-
liche Organismus aus zufälliger Kollokation entstanden
sei, da er doch von einer so unvergleichlich durchgebil-
deteren Teleologie, von einer so wunderbar komplizierten
Struktur, von einer, wenn man auch nur auf einzelne
Glieder achtet, ganz unvergleichlich höheren Schönheit
und Leistungsfähigkeit ist 1
360. Um den Gedanken noch mehr zu festigen, wollen
wir einen Einwand zu Wort kommen lassen: Vielleicht,
könnte einer sagen, sind die Elemente der organischen
Welt von der Art, daß aus ihnen leichter durch Zufall
ein Organismus als ein soviel weniger künstlich gebauter
Körper wie die Laokoongruppe entstehen kann 1
Die Antwort ist einfach: Wir brauchen gar nicht erst
darzutun, daß der Natur der unorganischen Elemente
die ihnen hier zugeschriebene Beschaffenheit nicht zu-
kommt. (Obwohl auch das nicht schwer wäre; die Er-
fahrung spricht jedenfalls nicht dafür. Wir sehen zwar
fort und fort Kristallbildungen unter unseren Augen von
selbst entstehen, nicht aber, daß Organisches aus Un-
organischem werde. Offenbar sind die Elemente zu
jenem besonders geneigt, nicht aber zu diesem. Und nur
unter Annahme einer ganz exquisiten Kombination von
Bedingungen mag einmal de.r Übergang vom Unorga-
nischen ins Organische ohne direktes Eingreifen eines
Verstandes ermöglicht worden sein.) Angenommen
aber, es wäre so, so würde zwar die Unwahrscheinlichkeit
zufällig entsprechender äußerer Dispositionen der Ele-
mente verringert, dafür aber die der zufällig entsprechen-
den inneren Dispositionen wachsen. Der Anteil des
Zufalls bliebe somit unverkürzt. Woher kommt es,
müßte man fragen, daß die Elemente so beschaffen sind,
Die Verstandeshypothese gesichert 361

daß sie unvergleichlich leichter zu einem wirklichen als


zu einem gemeißelten Organismus sich gesta.lten 1 Ist
dies Zufall, so ist er um so wunderbarer, je wunderbarer
die Struktur des betreffenden "\Verkes ist. Kurz, es bleibt
eine unendliche und abermals unendliche Unwahrschein-
lichkeit.
361. Was ist also hinsichtlich der Zufallshypothese
das Endergebnis?
Sowohl auf dem Gebiete der leblosen als auf dem der
lebendigen Natur läßt sich die scheinbare Teleologie nur
mit einer unendlichen Unwahrscheinlichkeit auf zufällig
gegebene Kollokationen und Dispositionen zurückführen.
Somit ist die Hypothese, daß die Teleologie keine bloß
scheinbare, sondern eine wirklich gegebene sei, unendlich
wahrscheinlicher als die des Zufalls. Und da notwendig
eine von beiden wahr sein muß, ergibt sich die erste als
physisch gewiß. Es ist somit exakt bewiesen, daß
die scheinbare Teleologie einen Verstand zum
Urheber hat. Wer die Stringenz unseres Beweisganges
leugnen will, muß leugnen, daß vom Skelett auf das
antediluvianische Tier, von der übereinstimmenden
Regelmäßigkeit der bisherigen himmlischen Erschei-
nungen auf das Gesetz der Gravitation und Trägheit zu
schließen sei usf., ja selbst die Existenz von Amerika
oder England muß ihm zweifelhaft erscheinen.
362. Der Schluß, den wir zuletzt gezogen haben, war
der wichtigste im ganzen Beweisgange. Ich habe keinen
Zweifel darüber gelassen, daß ich ihn für vollkommen
korrekt halte. Daß dem so sei, wird, glaube ich, durch ein
Eingehen auf gewisse Einwände noch deutlicher zum
Vorschein kommen, die sich einerseits gegen unsere ver-
gleichsweise Bestimmung der Wahrscheinlichkeiten der
beiden konkurrierenden Hypothesen, andererseits gegen
die daraus gezogene Folgerung wenden.
l. Einwand.
Die Wahrscheinlichkeit der ersten, der Verstandes-
hypothese, sei nicht richtig bestimmt. Es handle sich
362 Vergleich der Verstandes- und Zufe.llshypothese

doch darum, diese bestimmte Ordnung zu erklären. Allein


dem allmächtigen Künstler seien unzählige möglich, und
darum jede einzelne a priori unendlich unwahrscheinlich.
Antwort.
Richtig ist: es ist bloß sicher, daß Gott irgendeine
Ordnung verwirklichen wollte; welche - das ist vor-
gängig unendlich unwahrscheinlich, wegen der Unend-
lichkeit der möglichen.
Allein falsch ist, daß es sich darum handle, diese be-
stimmte Ordnung zu erklären. Vielmehr sollen nur die
allgemeinen Züge begreiflich gemacht werden, ohne die
überhaupt keine Ordnung möglich wäre: die Verwandt-
schaft der Dinge, ihre gegenseitige Ergänzung im Wirken,
ihr Zusammensein im Raum als äußere Bedingung zum
Wirken, das Dasein lebender Wesen. (Ohne bewußtes und
vernünftiges Leben wäre kaum eine Weltordnung denk-
bar, wenigstens keine wertvolle). Dieser allgemeine
Charakter der Ordnung ist zu erklären, nicht ihre
speziellen und individuellen Besonderheiten - und jenes
leistet mit unendlich größerer Wahrscheinlichkeit unsere
Hypothese.
(Auch diese bestimmte Marmorgruppe, von dieser
Größe, Form, diesem Gegenstande usw. vorauszusagen,
wäre a priori unendlich unwahrscheinlich; und doch
bleibt der Schluß von der Statue auf den Bildhauer ver-
nünftig.)
363. 2. Einwand.
Die Wahrscheinlichkeit der zweiten Hypothese, der
des Zufalls, ist nicht richtig bestimmt. Wohl sind der
Zusammenstellungen, die teleologischen Charakter haben,
unendlich wenige im Verhältnisse zur Gesamtzahl der
überhaupt möglichen. Aber in einer unendlichen Zeit
konnte bei stetem Wechsel der gegenseitigen Lagen nach
unendlich vielen unregelmäßigen auch eine regelmäßige,
scheinbar zweckmäßige wirklich werden, die dann infolge
der Vorteile, die sie bot, sich erhielt oder auch zu größerer
Vollkommenheit sich entwickelte.
Verteidigung der Wa.hrscheinlichkeitsberechnung 363

Antwort.
Der Einwand scheint ziemlich oberflächlich.
a) Vor allem gibt es eine große Menge teleologischer
Züge, die nicht Lagerungsverhältnisse sind oder auf
ihnen beruhen, z.B. die, welche schon die Natur der
Elemente an sich trägt, die durchgängige Einheit der
Ähnlichkeit und Kraftbeziehung.
b) Andere, wie das Zusammensein der Körper, sind
auch bei unendlicher Zeit unendlich unwahrscheinlich,
da zwei gerade Linien, wenn man sie nach beiden Seiten
ins Unendliche verlängert, sich doch nur in einem
Punkte schneiden. Die Zahl der Schnittpunkte der
Bahnen ist darum endlich und, wie groß auch immer,
unendlich klein und verschwindend im Vergleiche zur
unendlichen Vielheit möglicher Ausdehnungen, die in
Rechnung kommen.
c) Endlich ist in dem Einwande außer acht gelassen,
daß es Unendlichkeiten niederer und höherer Ordnung
gibt. Wir fanden oft den Zufall unendlich mal unendlich
unwahrscheinlich, ja mit einer unendlichen Unwahrschein-
lichkeit von unnennbar höherer Ordnung behaftet. Wenn
nun auch die Unendlichkeit der Zeit eine solche Zu-
sammenstellung unendlich leichter machen würde, so
würde die Folge keine andere sein, als daß sich die Ord-
nung der unendlichen Unwahrscheinlichkeit um eins ernie-
1
drigte, statt - - nun _!_
oc,D cx:,n- 1
wäre. Sie bliebe also, wenn es
sich z. B. um ein Unendliches der zweiten Ordnung han-
delte, immer noch unendlich, um so mehr, wenn es, wie
es hier der Fall ist, sich um unvergleichlich höhere und
höhere Ordnungen von Unwahrscheinlichkeiten handelt.
364. 3. Einwand.
Auch gegen die Sicherheit und Gültigkeit der Folge-
rungsweise wäre ein Einwand denkbar: die unendliche
Wahrscheinlichkeit gibt keine Sicherheit, denn auch un-
endlich Unwahrscheinliches geschieht und wird a parte
post ohne Widerstand geglaubt.
364 Vergleich der Verstandes- und Zufallshypothese

Bei einem Würfel von unendlich vielen Seiten hat das


Auftreffen einer bestimmten Seite die Wahrscheinlich-
keit _!.;
00
dennoch fällt eine, gleichviel ob die mit der ersten
oder der billionsten. Oder: Über eine Ebene rollt eine
Kugel und kommt gerade dort zum Stillstande, wo der
Schatten eines daraufstehenden Körpers seine Grenze
hat. A priori hätte dies niemand geglaubt, a parte post
glauben wir es ohne Widerstreben. Unendlich Unwahr-
scheinliches ereignet sich fort und fort, und hier mußte
unendlich Unwahrscheinliches geschehen, mochte die
Kugel wo immer halten. Warum also soll nicht auch in
unserem Falle etwas unendlich Unwahrscheinliches sich
verwirklicht haben 1 Wenn statt der Elemente, die in
ihren Kräften und Eigenschaften so schön zusammen-
stimmen, zufällig andere vorhanden wären, die nicht zu-
sammenstimmen, statt der Lagerung, die ein Wechsel-
spiel der Kräfte möglich macht, eine andere, zerstreute
ursprünglich gegeben gewesen wäre, die kein solches er-
möglichte, so wäre doch auch sie jedesmal ein Fall unter
unendlich vielen. Die unzweckmäßige Lagerung ist also
genau so unwahrscheinlich als die zweckmäßige, aber
ohne Bedenken würde man sie a parte post als Tatsache
anerkennen, und kein Vernünftiger würde dafür einen
besonderen Grund, etwa einen besonderen Unordner,
statuieren, weil etwas so Unwahrscheinliches unmöglich
dem Zufalle zugeschrieben werden dürfe. Warum also
bei der zweckmäßigen Lagerung ein solches Staunen und
der Rekurs auf einen unendlich vollkommenen Geist als
Ursache1
Lösung.
365. Dieser Einwand verrät ein völliges Verkennen der
Gesetze der Wahrscheinlichkeit. Freilich sind diese
wenig bekannt, und auch solche, die Logik studiert
haben, sind wegen des niedrigen Wasserstandes in den
üblichen Logiklehrbüchern gewöhnlich nicht zum Schwim-
men gekommen.
Bedeutung der unendlichen Wahrscheinlichkeit 365

Vor allem, wenn dieses Raisonnement richtig ist, ver-


dient kein Satz der Naturwissenschaft Vertrauen. Wir
dürfen dann nicht mehr von Bergringen auf dem Monde
auf vulkanische Eruptionen schließen; denn wie anders
als durch den Gedanken, daß es unendlich unwahr-
scheinlich wäre, wenn zufällige Lagerungen diesen
Charakter trügen, ist dieser Schluß vermittelt? Wir
dürfen dann nicht mehr aus Skelettfunden in tiefen
Schichten der Erde auf antediluvianische Tiere schließen.
Ja, wir müssen uns jeden Schluß von der Wirkung auf
die Ursache in der Naturwissenschaft versagen, und noch
mehr I auf jeden Beweis für ein Naturgesetz verzichten.
Denn alle Gesetze der Chemie und Physik usw. werden
auf keine andere Weise festgestellt.
Nehmen wir, um dies an einem Beispiel nachzuweisen,
eines der Gesetze, welche vor allen als erwiesen gelten,
zum Beispiel das Gesetz der Gravitation oder das der
Trägheit. Mit der Annahme des Gesetzes der Gravi-
tation stimmt allerdings alle Bewegung und Ruhe der
Massen am Himmel zusammen. Aber, könnte man
sagen, deswegen dürfen wir nicht von dem Bestande
eines solchen Gesetzes überzeugt sein und darauf sowohl
unsere Häuser als auch jede Art von Berechnung und
Erwartung bauen, denn würden die Erscheinungen der
Ruhe und Bewegung in irgendwelcher anderen Folge
stattfinden, die sowohl dieser als jeder anderen Regel-
mäßigkeit widerspräche, so würden wir ohne jede An-
nahme eines Gesetzes, die ja unmöglich wäre, dies als
Spiel des bloßen Zufalls betrachten. Aber die regelmäßigste
Ordnung hat, wenn der Zufall durch kein Gesetz be-
schränkt ist, ebensoviel Chancen als irgendwelche be-
stimmte unregelmäßige Zusammenstellung, und somit
wäre es nach den im Einwand geltend gemachten An-
schauungen nur inkonsequent, hier wegen der Regel-
mäßigkeit der Erscheinungen irgendwelche bindende Not-
wendigkeit, irgendwelche Herrschaft eines Gesetzes zu
supponieren.
366 Vergleich der Verstandes- und Zufallshypothese

Sie sehen wohl, daß in derselben Weise das Gesetz der


Trägheit und ebenso jedes Gesetz der Physik und der
Naturwissenschaft überhaupt als eine willkürliche und
bodenlose Behauptung verworfen werden müßte.
Die Naturwissenschaft also wäre vernichtet, aber
auch die sichersten Schlüsse der Geschichte und Alter-
tumskunde würden mit ihr zuschanden. Die Auffindung
eines Denkmals mit Inschriften, z.B. eines Obelisken,
die Auffindung von geprägten Münzen, die Auffindung
einer Statue des Apollo oder die Auffindung eines Tem-
pels würde in keiner Weise als ein Zeugnis einer früheren
Kultur und Kunst betrachtet werden können. Daß es
einst ein durch Kunst und Wissenschaft blühendes
Griechenland gegeben habe, wäre eine durch nichts ver-
bürgte Annahme. Ja mehr noch können wir sagen. Auch
daß es jetzt ein Griechenland gibt, oder daß, um be-
rühmtere und einflußreichere Orte zu nennen, ein Rom
und Paris existiert, wäre keine sichere Wahrheit. Denn
wenn auch Tausende mündlich und schriftlich Zeugnis
geben, es wäre alles ebensogut als ein Zusammentreffen
von nur scheinbar durch die wirkliche Existenz einer
solchen Stadt bedingten Zufällen zu deuten.
366. Halten wir inne und häufen wir die Beispiele
nicht weiter. Sind doch schon diese mehr als hinreichend,
um den Einwand ad absurdum zu führen. Zeigen wir
vielmehr, worin denn der eigentliche Fehler des Arguments
besteht. Woher kommt es, daß wir doch in dem einen
Falle eine Hypothese, die an und für sich eine unendlich
unwahrscheinliche ist, ohne Widerstreben und mit voller
Sicherheit annehmen, in dem anderen dagegen eine
Hypothese, weil sie unendlich unwahrscheinlich sei, mit
aller Entschiedenheit verwerfen 1
Die Antwort ist sehr einfach.
Die Wahrscheinlichkeit, mit welcher eine Hypothese
anzunehmen oder zu verwerfen ist, wird nicht sowohl
durch die Wahrscheinlichkeit der in ihr gemachten An-
nahmen an und für sich als durch das Verhältnis dieser
Bedeutung der unendlichen Wahrscheinlichkeit 367

Wahrscheinlichkeit zur Wahrscheinlichkeitssumme aller


an ihrer Statt denkbaren Hypothesen bestimmt.
a) Ist also auch eine Annahme an und für sich unend-
lich unwahrscheinlich, aber die einzige, unter welcher
ein unzweifelhaft feststehendes Ereignis möglich ist,
oder ist die Wahrscheinlichkeit, die ihr an und für sich
zukommt, obwohl selbst unendlich klein,' dennoch un-
endlich größer als die Wahrscheinlichkeitssumme aller
anderen an ihrer Statt möglichen Annahmen, so ist sie
als eine mit aller Sicherheit erwiesene Tatsache anzu-
nehmen. (In dem ersten Falle ist nämlich ihre Wahr-
1 l
scheinlichkeit = -f-= l , im anderen 1
00
n , was = l
;; ;;;;+ 008
= Gewißheit.)
b) Ferner: kann man das zu erklärende Ereignis aus
zwei oder mehreren Annahmen, von denen jede an und
für sich eine unendlich kleine Wahrscheinlichkeit hat,
aber keine der anderen unendlich an Wahrscheinlichkeit
nachsteht, erklären, so hat jede dieser Hypothesen eine
endliche Wahrscheinlichkeit und ist darum weder mit
Sicherheit anzunehmen, noch mit Sicherheit zu ver-
werfen.
c) Nur wenn einer an und für sich unendlich unwahr-
scheinlichen Annahme, aus der ein Ereignis erklärt
werden könnte, eine Annahme von endlicher oder wenig-
stens unendlich größerer Wahrscheinlichkeit entgegen-
steht, wird die Hypothese als unendlich unwahrschein-
lich mit vollkommener Sicherheit zu verwerfen sein.
So aber ist es in unserem Falle. Den an und für sich
unendlich unwahrscheinlichen Annahmen der Zufalls-
hypothese steht die Verstandeshypothese als unendlich
wahrscheinlicher gegenüber. Und somit ist die Falschheit
der ersten, die Wahrheit der zweiten mit vollkommener
Sicherheit dargetan.
In dem Falle dagegen, daß die Welt jeder zweck-
mäßigen Ordnung entbehren würde, würde die Zufalls-
368 Vergleich der Verstandes- und Zufallshypothese

hypothese, wenn auch an und für sich nicht minder


kompliziert und verwickelt, dennoch die einzig mögliche
sein (oder doch wahrscheinlicher als jede andere) und
darum würden dann die bestehenden Kollokationen
und Dispositionen der Dinge unbedenklich dem Zufalle
zugeschrieben werden können.
Ähnlich erklärt sich denn auch die Sicherheit aller
naturwissenschaftlichen, historischen und geographischen
Tatsachen. Sie sind physisch sicher nicht sowohl darum,
weil die entgegengesetzte Annahme eines bloßen zu-
fälligen Zusammentreffens der Umstände an und für sich
unendlich unwahrscheinlich ist, als weil sie unendlich un-
wahrscheinlicher als eine andere mögliche Hypothese ist.
367. Doch ist der Einwand noch nicht vollkommen
erledigt.
Das, könnte einer sagen, ist allerdings dargetan, daß
die Verstandeshypothese unendlich wahrscheinlicher als
die des Zufalls ist, und der Schluß, daß - weil eine un-
geordnete Lagerung ohne Anstand auf den bloßen Zufall
zurückgeführt werden würde - auch bei einer geord-
neten dasselbe mit Leichtigkeit geschehen könne, ist als
unrichtig erwiesen. Aber nichtsdestoweniger scheint die
Verstandeshypothese nicht vollständig sicher, vielmehr
noch immer höchst unsicher. Denn das scheint ja doch
richtig, daß fort und fort unendlich Unwahrscheinliches
geschieht, und so kann denn auch hier das unendlich
·wahrscheinliche falsch und das unendlich Unwahrschein-
liche wahr sein. Weit entfernt, daß die physische Sicher-
heit ein Äquivalent der absoluten wäre, scheint sie den
Namen in keiner Weise zu verdienen, da wir uns in den
allerhäufigsten Fällen dadurch getäuscht sehen.
Antwort.
Wenn das wahr wäre, was hier gesagt wird, so wäre es
allerdings um die physische Sicherheit getan. Aber das
Gegenteil ist wahr. Es kommt nie vor, daß etwas, was
bei vernünftiger Beurteilung der Verhältnisse für un-
endlich unwahrscheinlich gehalten wird, dennoch sich be-
Kein richtiges, unendlich unwahrscheinliches Urteil 369

wahrheitet. Aber wie beim Würfel mit unendlich vielen


Seiten - wenn eine fällt, ist dies nicht etwas, was jeder
vernünftige Mensch, zum voraus gefragt, für unendlich
unwahrscheinlich erklärt hätte 1
Ohne Zweifel! Aber das ist mit aller Entschiedenheit
zu leugnen, daß, wo mit einem solchen ·Würfel diese be-
stimmte Zahl geworfen wurde, jemals jemanden die Frage
gerade in betreff derselben bestimmten Zahl vorgelegt
worden ist. Und dasselbe wird auch in aller Zukunft
nicht der Fall sein. Ebenso bezüglich der Billardkugel,
die an einem bestimmten Punkte zum Stehen kommt.
Allerdings kommt es beständig vor, daß etwas, was,
wenn wir uns die Frage gestellt hätten, wir für unendlich
unwahrscheinlich hätten erklären müssen, dennoch in
\Vahrheit stattfindet, aber niemals wird es geschehen,
daß etwas, was wir wirklich mit Recht für unendlich
unwahrscheinlich erklärt haben, sich trotzdem bewahr-
heitet. Die Zahl der Urteile, die überhaupt von Menschen
gefällt werden, ist endlich, und darum ist, was für jeden
einzelnen Fall des Urteilens unendlich unwahrscheinlich
ist, es auch für alles Urteilen insgesamt. Und so ist es
denn selbst ein physisch sicherer Satz, wenn die Logik
lehrt, daß niemals ein Urteil, das auf eine unendliche
Wahrscheinlichkeit sich stütze, fehl gehe, und daß somit
die unendliche Wahrscheinlichkeit in der Tat ein voll-
kommenes Äquivalent der absoluten Sicherheit sei.
Es bewährt sich hier der mathematische Satz, daß
1
= l , in vollkommener Weise.
l - ;:,;:;
368. So ist denn auch der dritte Gegner geschlagen,
der uns das Recht auf unsere Schlußfolgerung streitig
machen wollte. Nun bleibt keine Seite des Beweises
mehr, die nicht als unangreifbar sich zeigte. Es steht
also fest, die scheinbare Teleologie ist wirkliche, d. h.
Wirkung eines Verstandes, der den Menschen, Tieren,
Pflanzen und unorganischen Wesen in ihrem Sein und
\Virken Zwecke gesetzt hat.
370

Des teleologischen Beweises dritter T ei1:


Vom ordnenden Verstand zum Schöpfer
369. Wir könnten nun fragen, ob dieser Verstand als
eine Einheit oder als eine Vielheit zu denken sei. Und es
liegt offenbar nahe, daß er wohl nicht als eine Vielheit
gefaßt werden könne. Die Einheit der Ordnung scheint
auf die Einheit des Ordners hinzuweisen.
Doch wir wollen jetzt nicht tiefer in diese Untersuchung
eingehen und die Frage nach der Einheit oder Vielheit
vorläufig auf sich beruhen lassen, indem wir zunächst
zeigen, daß die verständige weltordnende Macht, deren
Dasein wir erwiesen haben, nicht bloß als ordnende,
sondern auch als schöpferische Macht gedacht werden
müsse.
Ist dieser Satz wirklich durch den teleologischen Beweis
darzutun 1 KANT und viele mit ihm haben es geleugnet.
Aber der Erfolg unserer Untersuchung wird, so hoffen
wir, zeigen, daß auch hier die Kraft des teleologischen Ax-
guments verkannt wird.
Unsere Frage ist also die, ob das Wirken jener ver-
ständigen Macht, auf welche wir die teleologische Ord-
nung der Welt zurückgeführt haben, als ein bloßes Um-
bilden und Zusammenordnen vorgefundener Stoffe oder
als ein totales Verursachen, als ein Hervorbringen ohne
Beihilfe einer gegebenen Materie und in diesem Sinne als
ein Wirken aus Nichts zu denken sei.
370. In mehrfacher Weise läßt sich die Schöpfung in
diesem Sinne ohne viel Schwierigkeit aus den bereits ge-
wonnenen Ergebnissen dartun.
Vor allem haben unsere früheren teleologischen Be-
trachtungen dargetan, daß nicht bloß in der Lagerung
und Zusammensetzung der Elemente und in anderen
Beziehungen, die als Folge einer ordnenden Tätigkeit
gefaßt werden können, sondern auch in der Natur der
Elemente selbst die deutlichsten Züge der Teleologie sich
zeigen.
Vom Verstand zum Schöpfer 371
Geradeso wie der Uhrmacher nicht aus beliebig vor-
gefundenen Bestandteilen sein Werk ordnend zusammen-
setzen kann, da es vielmehr Elemente von bestimmter
Gestalt und Art unumgänglich fordert, geradeso war es
unmöglich, aus beliebig vorgefundenen Stoffen, von denen
keiner zu keinem eine Beziehung hatte, die viel größeren
Kunstwerke der Organismen und anderer teleologischer
Bildungen, die wir in der Welt finden, durch bloßes
Ordnen zusammenzusetzen.
Wie in den Elementen der Uhr eine Ordnung vor der
Ordnung sich findet, so muß auch in den Elementen der
Natur eine Ordnung vor der Ordnung gegeben sein. Es
muß zwischen ihnen jene allgemeine Verwandtschaft, es
müssen jene mehr und minder allgemeinen Gesetze be-
stehen, ohne welche weder ein organisches noch sonst ein
Zusammenwirken möglich wäre. Und wir haben gesehen,
daß wer das Bestehen gerade dieser Bedingungen dem
bloßen Zufall zuschreiben wollte, unendlich und abermals
unendlich unwahrscheinliche Annahmen machen würde.
Somit ist nicht bloß die teleologische Zusammen-
stellung, sondern auch die ihr zugrunde liegende, in der
Natur der Elemente selbst gegebene scheinbare Teleo-
logie als wirkliche zu fassen. Dann aber muß die welt-
ordnende verständige Macht nicht bloß als eine ordnende,
sondern zugleich als schöpferische Kraft gedacht werden.
371. Dieses Argument ist von großem Gewicht. Den-
noch aber ist es nicht so, daß es keinen Einwand zu-
ließe.
Das, könnte nämlich einer sagen, sei allerdings erwiesen,
daß nämlich jener weltordnenden verständigen Macht
nicht bloß die geordnete Zusammensetzung, sondern
auch die Bildung der Elemente zugeschrieben werden
müsse. Darüber aber, ob diese Bildung eine Schöpfung
aus Nichts oder eine substanzielle Umwandlung gegebener
minder teleologischer Stoffe gewesen sei, sei noch nichts
entschieden. (Sind ja. doch auch die Räder der Uhr zwar
allerdings schon vor der Ordnung, die sie durch die Zu-
372 Vom Verstand zum Schöpfer

sammensetzung erhalten, in sich selbst geordnet, aber


sie sind durch frühere Einwirkungen der Kunst aus min-
der teleologischen gebildet.) Allerdings müßte dies eine
Art von Umwandlung gewesen sein, wie sie jetzt inner-
halb des Kreislaufes der Stoffe nicht mehr vorkommt.
Denn hier können die Elemente nicht anders als durch
Auflösung ihrer Verbindungen erzeugt werden. Es
müßte daher ohne Zweifel dem weltbildenden Ver-
stande eine außerordentliche und gewissermaßen über-
weltliche, nichtsdestoweniger aber nicht notwendig
eine schöpferische Kraft beigelegt werden, wenn sie ihr
auch, um zur Erklärung aller Teleologie in der Natur der
Elemente zu genügen, möglichst nahe kommen wird.
Solange nicht jede Beihilfe einer Materie ausgeschlossen
ist, ist unsere Behauptung nicht vollständig erwiesen.
Allerdings könnte einer sagen, die Existenz jener Ma-
terie selbst sei nicht notwendig, und wenn sie die unent-
behrliche Vorbedingung der Welt und ihrer Ordnung sei,
im höchsten Maß teleologisch.
Allein hierdurch würde die Lücke des Beweises nur
schlecht ausgefüllt werden, denn die Existenz jener
Materie kann, wenn nicht als notwendig, doch auch
nicht als unendlich unwahrscheinlich bezeichnet werden.
Und somit würde die Stringenz des Beweises gelockert
werden. Sollen wir darum mit Sicherheit und Voll-
kommenheit den Beweis zu Ende führen, so werden wir
wohl einen anderen Weg betreten müssen.
372. Aber auch dieser ist in den vorausgegangenen
Untersuchungen bereits angebahnt. Wenn der Verstand
einen gegebenen Stoff teleologisch ordnen, ja wenn er
seine Natur selbst erst zu einer teleologischen umbilden
soll, so ist dies offenbar unmöglich, ohne daß er den ge-
gebenen Stoff erkennt. Aber in welcher Weise läßt sich
diese Erkenntnis begreifen 1
Nur drei Fälle sind denkbar.
a) Entweder hat er die Erkenntnis des gegebenen
Stoffes ohne Kausalzusammenhang, durch eine Art von
Erkenntnis des Stoffes durch den Verstand 37 3

apriorischem Besitz, so wie manche auch bei den Men-


schen angeborene Ideen und Prinzipien fingierten,
oder er besitzt sie wegen eines Verhältnisses von Ur-
sache und Wirkung zwischen ihm und seinem Objekte,
und dies wiederum ist in einer doppelten Weise denkbar:
b) entweder liegt die Wirkung in ihm und die Ursache
in dem erkannten Objekt, ähnlich wie auch wir die auf
unsere Sinne wirkenden äußeren Gegenstände infolge
dieser Einwirkung in einem gewissen Maße zu erkennen
imstande sind;
c) oder es liegt umgekehrt die Ursache in ihm und die
Wirkung im Objekt. Und auch dies wäre nicht ohne
Analogie im Gebiete unseres Erkennens, indem ja z. B.
einer, der im Dunkeln einen Buchstaben mit Kreide an
die Tafel schriebe, ihn erkennen würde, ohne ihn zu sehen.
Wer in dieser letzten Weise die Erkenntnis, welche der
Verstand von dem zu bildenden Stoffe haben muß, sich
erklären wollte, der müßte offenbar den Stoff als sein
Werk und somit den Verstand als schöpferischen Werk-
meister denken.
373. Ein vierter Fall außer diesen dreien ist offenbar
unmöglich. Aber auch von den drei Fällen, die wir
unterschieden haben, erscheint nicht jeder in gleicher
Weise annehmbar.
Betrachten wir, um dies zu erkennen, zuerst den zwei-
ten, welcher das Erkennen des Verstandes am meisten
unserem gewöhnlichen Erkennen analog erscheinen lassen
würde. Gerade die Analogie, die ihn auf der einen Seite
empfiehlt, ist auf der anderen seine Schwäche. Denn
wie zwischen unseren Sinnen und dem Objekt, das, auf
sie einwirkend, ihnen erkennbar wird, ein äußerst teleolo-
gisches Verhältnis besteht, so würde auch das Verhältnis
zwischen jenem Verstand und dem Stoff, der durch sein
unbewußtes Wirken sich ihm erkennbar machte, den
Schein der höchsten Teleologie erwecken.
Schon das, daß der wirkenden Kraft des Stoffes ein
leidendes Vermögen des Verstandes entspricht, so daß
374 Vom Verstand zum Schöpfer

sich diese beiden Bedingungen des Wirkens gegenseitig


einander ergänzen, ist etwas, was nicht ohne die größte
Unwahrscheinlichkeit dem Zufall zugeschrieben werden
kann; und dies um so mehr, je unvollkommener wir
nach dem vorigen Argument den ursprünglich gegebenen
Stoff denken müssen.
Auch genügt nicht die bloße Annahme einer wirkenden
Kraft in dem Stoffe und einer entsprechenden leidenden
Fähigkeit in dem Verstande, um die wirkliche Einwirkung
zu erklären. Auch die äußeren Verhältnisse beider müssen
so sein, wie sie die Möglichkeit des Wirkens fordert. So
könnten die Körper, wie wir früher gesagt haben, nicht
aufeinander wirken, wenn jeder vom anderen isoliert,
an einem getrennten Orte sich fände. Und unendlich
unwahrscheinlich erschien es, daß auch nur bei zweien in
dieser Beziehung die zum Wirken geeignete Disposition
durch bloßen Zufall verwirklicht gewesen sein sollte.
Ganz ähnlichen Schwierigkeiten würde aber auch die
jetzt betrachtete Hypothese unterliegen.
Doch gehen wir weiter! Wenn schon die Bedingungen
der Einwirkung eines Stoffes auf den Verstand überhaupt
nicht ohne die äußerste Unwahrscheinlichkeit als durch
Zufall gegeben betrachtet werden können, was sollen
wir speziell von den Bedingungen einer solchen Ein-
wirkung sagen, deren Wirkung die Erkenntnis des
wirkenden Prinzips ist 1 Nirgendwo ist wohl der Schein
der Teleologie in der Natur mehr wunderbar, als da, wo
durch die Einwirkung des Lichtes auf unser Auge Aus-
dehnung und Gestalt und Lage und außerdem mannig-
fache andere Beziehungen des leuchtenden Körpers uns
erkennbar werden.
Die Einwirkung jenes Urstoffes auf den Verstand
würde aber offenbar den Schein einer noch viel wunder-
bareren Teleologie erwecken. Und dies in demselben Maß,
als die Erkenntnis, die jener Verstand infolge der Ein-
wirkung von dem wirkenden Objekt empfangen würde,
eine weit vollkommenere sein müßte als die, welche wir
Erkenntnis des Stoffes durch den Verstand 375

durch den Gesichtssinn, ja durch alle unsere Sinne zu-


sammengenommen zu erhalten vermögen. Denn jener
Verstand muß tief in die Natur des Stoffes selbst hinein-
blicken, wenn er jene teleologische Umbildung seiner gan-
zen Natur, von der wir oben gesprochen haben, bewerk-
stelligen soll. Und auch in der Gestaltung jedes Organis-
mus zeigt sich ja nicht bloß eine unvergleichlich über-
legene Kunst, sondern als ihre Grundlage ein unvergleich-
lich überlegenes Wissen.
Somit wären wir nach dieser Hypothese wieder auf
eine Teleologie vor der Teleologie, auf eine Ordnung vor
der Ordnung gestoßen, die, wenn irgendeine, als das
Werk eines Verstandes gedacht werden müßte. Und so-
mit täte es nach dieser Hypothese not, einen zweiten
Verstand vor dem ersten anzunehmen, der, ihn und den
Stoff in höchst teleologischer Weise zusammenordnend,
ihre Wechselwirkung erst ermöglichte.
374. Etwas ganz Ähnliches würde aber notwendig
werden, wenn wir der ersten Annahme folgend die Er-
kenntnis des Stoffes durch den Verstand ohne Voraus-
setzung eines kausalen Zusammenhanges wie einen in
seiner Natur selbst liegenden apriorischen Besitz be-
trachten wollten.
Ist das Erkannte etwas Notwendiges oder etwas Zu-
fälliges? Offenbar etwas Zufälliges. Und dies zeigt sich
deutlich in mannigfachen Beziehungen. Wo? in welcher
Lage? und Massenverteilung? schon bewegt? und in
welchem Maß und in welcher Richtung der Bewegung 1
Ebenso in bezug auf jeden anderen Umstand, der einen
·wechsel zuläßt. (Und ein solcher muß nach den früheren
Erörterungen auch in bezug auf die Substanz möglich
sein.) Und nicht bloß ist das Erkannte zufällig, sondern
sein wirkliches Bestehen ist ein Fall unter unendlich und
abermals unendlich vielen gleich möglichen. Wie z. B.
hinsichtlich des Ortes 110 ).
Offenbar ist also auch das Urteil, welches diesen Zu-
stand anerkennt, nicht eine notwendige, sondern eine
376 Vom Verstand zum Schöpfer

zufällige und a priori unendlich: unwahrscheinliche Wahr-


heit. (Darum eigentlich nicht Erkem1tnis zu nennen,
sondern höchstens eine sehr riskierte, aber zufällig wahre
Behauptung. Doch sei davon abgesehen, da auch sie zur
Wirksamkeit allenfalls genügen könnte.) Würde daher
einer ohne jeden Zusammenhang mit dem Objekt a priori
dies Urteil fällen, so würde er mit unendlicher Wahr-
scheinlichkeit der Gefahr des Irrtums sich aussetzen.
Aber auch schon das wäre unendlich unwahrscheinlich,
daß einer a priori gerade dieses Urteil fällte, da doch un-
endlich und unendlich mal viele ihm widersprechende Ur-
teile ebenso leicht a priori angenommen werden könnten.
Wir sehen also wohl, daß die Hypothese zu unendlich
unwahrscheinlichen Annahmen greift.
·würde wirklich ein an und für sich unendlich unwahr-
scheinliches Urteil diesem Verstand von Natur aus inne
wohnen und ihn in Übereinstimmung mit einer an und
für sich ebenso unendlich unwahrscheinlichen Wirklich-
keit setzen und so seine ordnende Wirksamkeit möglich
machen, so könnte dieses an und für sich unendlich un-
wahrscheinliche, scheinbar teleologische Verhältnis, wenn
irgendeines, unmöglich dem Zufall zugeschrieben werden.
Somit wären wir, wie schon bemerkt, in der Tat auch in
diesem Falle ähnlich wie beim Falle der zuvor betrach-
teten Hypothese zur Annahme eines zweiten Verstandes
vor dem ersten genötigt, der, diesen und den Stoff in
jene teleologische Übereinstimmung bringend, dadurch
die Vorbedingung jeder Wirksamkeit und Ordnung ver-
wirklicht haben würde.
375. Wir sehen also wohl: wie immer man die Er-
kenntnis, die der Verstand von dem zu ordnenden Stoffe
hat, erklären mag, - wenn man ihn nicht als Schöpfer
des Stoffes anerkennt, so wird man zur Anerkennung
einer Teleologie vor der durch ihn bewirkten Teleologie,
d. h. eines Verstandes vor diesem Verstande, der ihn erst
in das entsprechende Verhältnis zum Stoff gebracht hat,
genötigt sein.
Erkenntnis des Stoffes durch den Verstand 377

Aber auch dieser Verstand muß den Stoff erkennen.


Und somit kehrt die Frage, ob er bloß Ordner oder auch
zugleich Schöpfer sei, zurück. Sagen wir, er sei nicht
Schöpfer, so führt dies zur Annahme eines dritten Ver-
standes, und so werden wir ins Unendliche fort immer
einen Verstand vor dem anderen zur Erklärung der
scheinbaren Teleologie in der Welt annehmen oder irgend-
einen ersten Verstand als schöpferisch anerkennen müssen.
376. Unsere Wahl kann hier nicht schwanken.
Denn vor allem wäre die Annahme einer solchen un-
endlichen Menge von Verstandesmächten zur Erklärung
der scheinbaren Teleologie innerhalb dieser sichtbaren
Welt eine offenbare Lächerlichkeit.
Da PLATON zur Erklärung der sinnlichen Welt die
Welt der Ideen fingierte, hob ARISTOTELEShervor, wie
inkonvenient es sei, daß er, da er die Gründe der sicht-
baren Dinge habe erforschen wollen, nichts anderes als
eine ganze Unzahl anderer, unsichtbarer Dinge noch dazu
erfunden habe. ,,Diejenigen," sagt er, ,,welche die Ideen
als Ursachen aufstellten, haben, da sie die Ursachen der
sichtbaren Dinge zu finden suchten, andere als diese und
eine nicht geringere Zahl hinzugefügt, wie wenn einer,
im Begriffe, eine Menge zu zählen, meinen würde, das
Wenige werde er nicht zählen können, und darum zuerst
noch mehr dazu täte. Gibt es doch der Ideen ebenso-
viele oder noch mehr als derjenigen Dinge, um deret-
willen man sie angenommen."
In der Tat erscheint der Vorwurf treffend, aber mit
viel mehr Grund würde er in unserem Falle erhoben wer-
den können, wo die Anzahl der zu Hilfe gerufenen ord-
nenden Mächte geradezu unendlich sein würde. Be-
denkt man die Abnahme der Wahrscheinlichkeit einer
jeden Hypothese mit der Zunahme ihrer Komplikation,
so sieht man wohl, daß diese Hypothese unendlich un-
wahrscheinlich ist, ja leicht wäre es zu zeigen, daß wir
es hier mit einer unendlichen Unwahrscheinlichkeit der
unendlichsten Ordnung zu tun haben.
378 Vom Verstand zum Schöpfer

377. Aber wir sind imstande, auch noch in einer anderen


Weise die Notwendigkeit der Annahme eines schöpfe-
rischen Verstandes darzutun.
Nicht bloß wäre nämlich die Annahme einer solchen
unendlichen Reihe verständiger Ursachen an und für sich
unendlich unwahrscheinlich, sondern sie wäre zugleich
auch ungenügend und würde die Annahme einer schöpfe-
rischen Ursache nicht entbehrlich machen.
Auch eine unendliche Reihe sekundärer Ursachen macht
nämlich die primäre in keinem Falle entbehrlich, da sie
vielmehr selbst ohne dieselbe schlechterdings unmöglich
ist. Dieser Satz ist von großer Wichtigkeit und darum
ist es nötig, daß wir uns eine vollkommen klare Einsicht
in ihn verschaffen.
Eine sekundäre Ursache ist eine solche, welche selbst
wieder die Wirkung einer früheren Ursache ist; eine
primäre, bei welcher dies nicht der Fall ist.
Ist etwas die "Wirkung einer sekundären Ursache, so
ist es zugleich die Wirkung der Ursache dieser Ursache.
Denken wir uns eine Reihe von Ursachen ABCDE,
von welchen jede vorhergehende die Ursache 111 ) der
folgenden, also A von B, B von C, C von D, D von E ist,
so ist offenbar F, welches von E bewirkt wird, auch Wir-
kung von D, C, Bund A.
F findet in diesem Falle in der Reihe dieser fünf Ur-
sachen seinen Erklärungsgrund.
Aber nicht bloß in diesen fünf Ursachen, auch in den
vier ersten allein genommen. Denn diese sind ja im-
stande, die fünfte zu verwirklichen, und ebenso in den
drei, und ebenso in den zwei ersten, ja ebenso in der
Ursache A allein.
Und auch diese kann wegfallen, wenn sie nicht pri-
märe Ursache ist. Mit anderen ·worten eine Wirkung,
die sich aus einer Reihe von sekundären Ursachen er-
klärt, von denen jede frühere die Ursache der späteren
ist, erklärt sich auch ebensogut aus den früheren Ur-
sachen allein nach Abzug der späteren. Wenn ich also
Unendliche sekundäre Ursachen ersetzen nicht die primäre 379

von einer solchen Reihe von Ursachen jede Ursache weg-


nehme, welche die Wirkung einer früheren ist, so muß
noch ein genügender Erklärungsgrund für die Wirkung
dieser Reihe übrigbleiben.
Nehmen wir nun an, die Wirkung gehe aus einer un-
endlichen Reihe sekundärer Ursachen ohne jede primäre
Ursache hervor, so müßte offenbar, auch wenn wir jede
sekundäre Ursache weggedacht hätten, noch ein ge-
nügender Grund der Wirkung der Reihe übrigbleiben.
Aber es bliebe ja gar keine Ursache übrig, somit würde
die Wirkung ebensogut auch ohne jede Ursache erklär-
bar sein. Mit anderen Worten, wer annimmt, daß eine
Wirkung aus einer unendlichen Reihe sekundärer Ur-
sachen ohne primäre hervorgehen könne, muß auch an-
nehmen, daß eine Wirkung ohne jede Ursache möglich
sei*). (Man denke sich zur Erläuterung folgendes Bei-
*) Eines Einwandes sei noch kurz Erwähnung getan, ob-
wohl er schon beim ersten Blick wenig Schein für sich hat.
Ihr habt, könnte einer sagen, wohl gezeigt, daß eine end-
liche Reihe sekundärer Ursachen und ebenso auch eine un-
endliche Reihe von ihnen nicht hinreicht, eine Wirkung zu
begründen. Aber ein dritter Fall scheint möglich, der zwi-
schen beiden in gewisser Weise in der Mitte liegt. Wenn es
nämlich auch unmöglich ist, daß etwas unmittelbar Wirkung
seiner selbst ist, so besteht doch kein Widerspruch darin,
daß etwas mittelbar sich selber hervorbringt. Es kann ein
Kreislauf von Ursachen und Wirkungen gedacht werden, und
dieser Kreislauf könnte ewig sein. Vielleicht wäre es in dieser
Weise möglich, daß eine endliche Zahl sekundärer Ursachen,
von denen aber jede unendlich oft zur Wirksamkeit gelangt,
als ein in sich geschlossener Kreis, unabhängig von jeder
andern Ursache existierte. Dieser Einwand ist schon früh
ersonnen worden, aber er ist unserem Beweise gegenüber eine
nichtige Ausflucht.
Mag es sein, daß manche Inkonvenienzen, die man der
Erklärung einer Wirkung aus einer unendlichen Reihe von
Ursachen vorgeworfen hat, auf diesem Wege vermieden wer-
den, unserem Argument entrinnt man nicht. Wir zeigten:
Was sich aus einer Reihe von Ursachen erklärt, von wefchen
jede folgende Wirkung der früheren ist, das muß sich aus
ihr auch noch nach Abzug jeder Ursache, welche die Wir-
380 Vom Verstand zum Schöpfer

spiel: Ein Ring hinge in einem anderen Ring und dieser


an einem an der Decke des Zimmers befindlichen Haken.
\Ver wollte glauben, daß der Haken dadurch entbehrlich
wäre, daß jener erste Ring an einem zweiten, der zweite
Ring an einem dritten usw. in inf. hinge1 Das wäre
ebenso Illusion, wie die Erklärung der Inder für die
Ruhe der Erde im \Veltraum, wenn sie sich diese von
vier Elefanten getragen denken und jeden von diesen
wieder von vier Elefanten getragen und so fort ins Un-
endliche.)

kung einer andern ist, erklären. Und so erkannten wir, daß


eine Wirkung aus einer kontinuierlichen Reihe bloßer sekun-
därer Ursachen erklären wollen, so viel sei, als etwas aus
nichts erklären wollen.
Ganz Ähnliches können wir aber auch hinsichtlich eines
solchen ewigen Zirkels sagen. Jede der Ursachen ist hier
mehrmals, früher und später, ja unendlichmal wirksam, und
die Wirkung, die in einem gewissen .Augenblicke durch einen
ihrer Kreisläufe gegeben ist, muß sich auch aus den früheren
allein ohne die späteren erklären, insofern diese selbst ja aus
den früheren Kreisläufen hervorgehen. So wird denn aber
auch, wenn alle Kreisläufe, aus welchen eine in gewissem
Augenblick gegebene Wirkung hervorgegangen ist; wegge-
nommen werden, noch eine hinreichende Ursache derselben
übrigbleiben müssen. Und was heißt dies wieder anders, als
eine Wirkung auf ein Nichts von Ursache zurückführen 1
Auch in folgender Weise läßt sich zeigen, wie nichtig diese
Ausflucht ist.
Jede Ursache kann nur dann Ursache sein, wann sie ist,
somit ist die zeitliche Bestimmtheit ein für ihr Wirken keines-
wegs gleichgültiger Umstand. Dieser Umstand ist aber bei
den Dingen, welche in ewigem Kreislauf auseinander hervor-
gehen, bei ihrem jedesmaligen Auftreten ein verschiedener.
Und somit können wir die Ursachen bei ihrem früheren und
späteren Auftreten nicht als dieselben, sondern als verschie-
dene Ursachen bezeichnen. Das Ding mit der späteren Zeit-
bestimmtheit könnte als solches unmöglich eines der anderen
mit einer früheren Zeitb~stimmtheit hervorbringen. Daher
ist c;; offenbar, daß wir wirklich auch hier nicht eigentlich
einen Zirkel, t:!Ondern eine unendliche Reihe verschiedener
HekunJärer Ursachen haben. Und so ist die Ausflucht abge-
.schnitten.
Unendliche sekundäre Ursachen ersetzen nicht die primäre 381

378. Derselbe Gedanke läßt sich auch so fassen: Ein


Ganzes, wovon jeder Teil der Natur nach früher Wirkung
als Urs0,che ist, ist früher Wirkung als Ursache. Daher
hat schon ARISTOTELES mit Recht gesag~, wenn auch im
einzelnen etwas früher Wirkung als Ursache sei, müsse
doch schlechthin die Ursache früher als die Wirkung
sem.
379. Blicken wir insbesondere auf unseren Fall, so
zeigt sich die eben erwiesene "Wahrheit recht augen-
scheinlich. Da jede unter den vorbereitenden, ver-
ständigen Mächten die folgende genau in den Stand ver-
setzt, in welchem sie selbst ist, RO wäre es offenbar eben-
sogut, wenn sie selbst fortexisticrend die Ordnung des
Stoffes vollzogen hätte. Dann aber hätten wir statt der
unendlichen Reihe einen Verstand, der, ohne den Stoff
Denken wir, um die Sache an dem oben gebrauchten Bei-
spiele zu erläutern, es sei nicht unmöglich, daß etwas zu-
gleich an mehreren Orten bestünde; was würden Sie dazu
sagen, wenn in einem solchen Falle einer behauptete, das sei
zwar unmöglich, eine Kugel an einer Kette aufzuhängen, von
der kein Glied von einem festen Punkt~ gehalten, sondern
ins Unendliche fort jedes von einem andern Gliede getragen
sei; dagegen habe die Sache keine Schwierigkeit mehr, wenn
man nach je zehn Gliedern das erste wiederkehrend denke 1
Offenbar wäre dies lächerlich. Im wesentlichen wäre nichts
geändert. Und die Kette, die aus zehn Gliedern besteht,
würde nichtsdestoweniger als eine Reihe von unendlich vielen
sekundären Ursachen zu bezeichnen sein, da die Verschieden-
heit der örtlichen Bestimmtheiten denselben Ring bei jeder
Wiederholung als eine verschiedene Ursache erscheinen
lassen würde.
Dasselbe gilt nun in der Tat ebenso bei der zeitlichen
Wiederkehr eines im übrigen gleichen Prinzips. Und auch,
wenn nicht bloß jedes zehnte Glied mit dem ersten, sondern
jedes mit jedem identisch wäre, würde die Kette aus dem
gleichen Grunde nicht hinreichen. Und so würde denn auch,
wenn sogar unmittelbar eine \Virklichkeit von sich selbst
gewirkt werden könnte, immer noch die primäre Ursache
dadurch nicht ersetzt werden können, vielmehr eine solche
Wirkung ihrer selbst immer noch auf eine andere, ungewirkte
und primäre Ursache hinweisen.
382 Vom Verstand zum Schöpfer

hervorgebracht zu haben, von ihm Kenntnis hätte. Mit


einem Worte, unser altes Rätsel.
380. Wir sehen deutlich, daß auch eine unendliche
Reihe bloß ordnender verständiger Mächte für sich allein
zur Erklärung der scheinbaren Teleologie in der Welt
nicht genügt; die Annahme eines schöpferischen Ver-
standes bleibt unentbehrlich.
Somit sehen wir, wie alle drei Hypothesen, auch die-
jenigen beiden, welche nicht unmittelbar in einem
schöpferischen Verstand den Grund der Weltordnung
suchen, der Annahme eines schöpferischen Verstandes
nicht entbehren können 112 ).
Ohne sie würde ihr Erklärungsgrund eine zufällige,
scheinbar höchst teleologische Ordnung vor der Ordnung
und so etwas unendlich, ja unendlich mal unendlich Un-
wahrscheinliches sein, was, wie wir früher gezeigt haben,
die Annahme eines .schöpferischen, ja unendlich voll-
kommenen Wesens nicht ist.
Und so ist denn nunmehr auch diese These mit voller
physischer Sicherheit festgestellt. Die scheinbare Teleo-
logie in der Welt, welche uns zur Annahme eines welt-
ordnenden Verstandes nötigte, nötigte uns auch zur An-
nahme eines schöpferischen Verstandes, der den zu
ordnenden Stoff selbst aus nichts hervorgebracht hat.
381. Wir haben den teleologischen Beweis soweit ge-
führt, daß wir nicht bloß einen weltordnenden, sondern
auch einen schöpferischen Verstand nachgewiesen haben.
Es bliebe nun noch übrig die Einheit sowohl als auch die
unendliche Vollkommenheit dieses Verstandes darzutun,
denn erst wenn dies geschehen ist, ist wahrhaft das
Dasein Gottes erwiesen. Der erste Nachweis würde ohne
Mühe gelingen, und auch der zweite keine so großen
Schwierigkeiten bereiten, wie manche gemeint haben.
Aber wir wollen, wie wir es schon im Anfang der
Untersuchung gesagt haben, den Beweis hier nicht
weiter führen, um erst später seinen Faden wieder aufzu-
nehmen.
Vom Verstand zum Schöpfer 383
Alle vier Beweise haben ja das miteinander gemein, daß
sie zuerst den Schöpfer und dann erst aus dem Schöpfer
den Gott, das unendlich vollkommene \Vesen, dartun.
Und darum würden wir, wenn wir schon hier den Beweis
zum vollen Abschluß brächten, zu einer nutzlosen ·wieder-
holung derselben Erörterung uns genötigt sehen. Besser
also werden wir, nachdem wir in vierfacher ·weise daH
Dasein des Schöpfers dargetan, die sämtlichen Beweise
von dem gemeinsamen Durchgangspunkt zum gemein-
samen Ziele hinführen.
Wir kommen zunächst zum Beweis aus der Bewegung.
Der Beweis aus der Bewegung
382. Dieser Beweis steht zu dem zuvor betrachteten
Argumente in einem eigentümlichen Gegensatz. Die
Methode ist zwar hier und dort dieselbe, er ist nicht wie
der ontologische Beweis, wenn er sich als haltbar zeigen
würde, apriorisch. Von Tatsachen der Erfahrung gehen
beide aus und erschließen den Schöpfer und Gott wie die
Ursache aus der ohne sie undenkbaren Wirkung. Aber
während die Tatsache, welche dem teleologischen Be-
weise zugrunde liegt, eine mannigfach komplizierte ist,
ist beim Bewegungsbeweis das Gegenteil der Fall. Die
einfache Tatsache der Veränderung, der Bewegung oder
des Werdens, von welcher äußere wie innere Erfahrung
uns Zeugnis geben und die niemand außer dem raffinier-
testen Skeptiker bestreitet, ist das Fundament, auf
welches der Beweis sich stützt 113 ).
Darum erscheint er bündiger und kürzer; er muß nicht
alle Gebiete der Erfahrung durchwandern, um sein Bau-
material zusammenzutragen, und die Verteidigung gegen
viele Angriffe ist ihm erspart. Nur freilich findet der
teleologische Beweis, wenn er ihm auf der einen Seite
nachsteht, auf der anderen Ersatz durch die Schönheit
der Untersuchung selbst und durch die lebendige An-
schauung von dem Wirken Gottes, die er durch die Be-
trachtung so vieler erhabener Züge seines Werkes uns
gewinnen läßt.
383. ARISTOTELES 114 ) war der erste unter den Philo-

sophen, der aus der Tatsache der Bewegung Gott als


den primus motor erschließen wollte. Die Anregung zu
dem Argumente hat er wohl PLATONzu danken.
AfilsTOTELES Beweis des primus motor 385
Dieser Beweis geht, wie gesagt, von der Tatsache des
Wechsels aus, den wir so mannigfach in der Welt gegeben
finden, z. B. in der örtlichen Bewegung 116 ).
Ein solcher Wechsel, eine solche Bewegung verlangen
ein wirkendes Prinzip.
Dieses wirkende Prinzip ist entweder ursachlos, oder
es hat ebenfalls eine Ursache (sekundäre Ursache).
Aber der Wechsel verlangt mehr als bloß sekundäre
Ursachen, er verlangt jedesfalls auch eine primäre Ur-
sache, d. h. eine solche, welche nicht Wirkung einer
anderen ist. So gewiß Veränderung in der Welt ist, so
gewiß ist sie auf ein erstes bewegendes Prinzip zurück-
zuführen. Es gibt also eine ewige, nicht selbst wieder
verursachte Energie.
Diese ist nach ARISTOTELESschlechthin unveränder-
lich und erfordert eben darum keine Ursache.
Sie muß von unendlicher Kraft gedacht werden, folg-
lich von unendlicher Realität und damit auch von un-
endlicher Vollkommenheit.
384. Prüfung dieses Argumentes.
Die zugrunde liegende Tatsache werden wenige zu
beanstanden geneigt sein. Auch die neuesten Fortschritte
der Naturwissenschaft haben alles eher als Zweifel daran
wachgerufen. Die Mechanik ist sozusagen die allein-
herrschende Disziplin geworden.
Aber die Tatsache des Wechsels, die Tatsache der Be-
wegung wird wesentlich anders aufgefaßt als in der Zeit,
da der Beweis des primus motor seinen Ursprung nahm.
PLATON und ARISTOTELESwußten nichts von dem
Gesetz der Trägheit, nach welchem der in Bewegung
befindliche Körper sowenig .3ines außer ihm liegenden,
stets erregenden Bewegers bedarf, um in der Bewegung
zu beharren, als der ruhende sozusagen eines Beruhigers,
um in der Ruhe zu bleiben. Wie der ruhende Körper,
damit er weiter ruhe, nur verlangt, daß nichts ihn störe,
so der bewegte Körper, damit er weiter und mit ungemin-
derter Geschwindigkeit sich geradlinig bewege.
386 Beweis des primua motor

Da die Bewegung nun gar keiner Ursachen zu ihrem


Bestande bedarf, so scheint nichts der Annahme im Wege
zu stehen, daß sie von Ewigkeit ursachlos bestehe.
Alle die stolzen metaphysischen Folgerungen sehen sich
den Boden entzogen.
385. Immerhin bliebe vielleicht dem Beweise eine ge-
wisse Bedeutung erhalten, wenn die moderne Natur-
wissenschaft für die Bewegung der Körper nichts anderes
als das Gesetz der Trägheit gefunden hätte.
Die Körper, welche die Welt bilden, sind nicht isoliert.
Wir nehmen an, daß die Gravitation die entferntesten
in ·wechselwirkung setze. Vielfach stoßen die Massen zu-
sammen und dabei scheint, w1:mnsie nicht ganz elastisch
sind, Bewegung verlorenzugehen. Ebenso bei jeder
Reibung. Somit scheint doch das körperliche Weltall,
sich selbst überlassen, zum Stillstand kommen zu müssen,
ja, wenn man denkt, daß die Welt von Ewigkeit bestand,
könnte man schließen, daß sie schon längst zum Still-
stand gekommen sein müßte, wenn nicht der Einfluß
einer ihr fremden, bewegenden Kraft sie immer oder von
Zeit zu Zeit neu zur Bewegung anregte.
386. Aber zum Gesetze der Trägheit kam in letzter
Zeit das Gesetz der Erhaltung der Kraft. Danach „be-
sitzt das Naturganze einen Vorrat wirkungsfähiger Kraft,
welcher in keiner Weise weder vermehrt noch vermindert
werden kann. Die Quantität der wirkungsfähigen Kraft
in der Natur ist ebenso ewig und unveränderlich wie die
Materie" (HELMHOLTZ).
Nach diesem Fund, sagte man sich, ist es mit dem Be-
weis Gottes als primus motor zu Ende.
387. Und doch ist dies nicht der Fall. Vor allem ist
auf einen Irrtum hinzuweisen, der bei jener angeblichen
Vernichtung des Beweises des primus motor durch das
Gesetz von der Erhaltung der Kraft unterlief.
Daß die Bewegung einer Ursache bedarf, ist unleugbar;
jeder frühere Zustand erzeugt den späteren, und so
kämen wir zu einer unendlichen Reihe sekundärer Ur-
aus dem Energie- und Entropiegesetz 387

sachen. Wir haben aber schon früher erkannt, daß eine


unendliche Reihe sekundärer Ursachen die primäre nicht
entbehrlich macht. So bleibt denn der Schluß auf einen
Beweger, der nicht selbst wieder von etwas anderem be-
wegt wird, aufrecht.
388. Doch noch mehr ist zu sagen. Weit entfernt,
daß die neuen Entdeckungen der Physik dem Bewegungs-
beweise den Boden entziehen, dienen sie ihm vielmehr
zur kräftigsten Stütze.
Es läßt sich nämlich mit Hilfe des Gesetzes der Er-
haltung der Kraft in Verbindung mit einem zweiten, dem
Gesetze der Wechselwirkung der Naturkräfte 116 ), dartun,
daß im Gegensatze zu der Aristotelischen Lehre von der
Ewigkeit der Bewegung aller Wechsel, wie wir ihn in der
Welt gewahren, einen Anfang genommen haben müsse.
Dieser Beweis ist ein Erfahrungsbeweis und gilt für
den ganzen Bereich der körperlichen Natur.
Wir können aber den Nachweis für den Beginn aller
Veränderung noch verallgemeinern, für alle endlichen
Dinge, indem wir a priori, aus dem Begriffe des Wechsels
(mit variabler Geschwindigkeit) überhaupt argumentieren.
Dieser zweite Nachweis ist der einfachere zugleich
und zwingendere. Dennoch will ich wegen der außer-
ordentlichen Wichtigkeit der Sache es nicht unterlassen,
Ihnen auch den anderen vorzuführen.
l. Beweis des primus motor, gestützt auf die
Gesetze von der Erhaltung der Kraft und der
Wechselwirkung der Naturkräfte
389. Wenden wir uns also zunächst zu dem ersten
Beweise. Hier wird es vor allem nötig sein, Ihnen den
Sinn des Gesetzes der Erhaltung der Kraft und des Ge-
setzes der Wechselwirkung der Naturkräfte zu erklären.
Die Begründung kann nicht unsere Sache sein. Wir be-
nutzen sie als Data der Naturwissenschaft, ähnlich wie
das Gesetz der Trägheit, der Gleichheit von Wirkung und
Gegenwirkung u. a.m).
388 Beweis des primus motor

Der Entdeckung des Gesetzes der Erhaltung der Kraft


war die des Gesetzes der Erhaltung des Stoffes lange
vorausgegangen. Gewöhnlich denkt man sich die Er-
haltung des Stoffes so, daß alleI;"Stoff aus Atomen be-
steht, welche nicht weniger und nicht mehr werden und
sich nur anders und anders gruppieren. Indessen kann
man nicht behaupten, daß diese Ansicht (auch ganz ab-
gesehen von metaphysischen Erwägungen) eine wissen-
schaftlich erwiesene sei, denn es ist keineswegs aus-
gemacht, daß zwei Atome Wasserstoff und ein Atom
Sauerstoff, wenn sie ein Molekül Wasser bilden, als diese
bestimmten drei Atome in Wirklichkeit verharren. Viel-
mehr ist es auch denkbar, daß das Wasser auf einer
inneren Umbildung von Sauerstoff und Wasserstoff
beruht, jedenfalls aber sicher, daß die Masse des gewonne-
nen Wassers der Summe der Massen des verbrauchten
Wasserstoffs und Sauerstoffs gleich ist, und daß aus dem
Wasser diese beiden Stoffe, und zwar in gleichen Mengen
wie früher, zurückgewonnen werden können. Das Wasser
war also zum mindesten ein Äquivalent der Stoffe, aus
denen es gebildet wurde.
390. Zu diesem Satz von der Erhaltung des Stoffes
gesellte sich in jüngerer Zeit ein zweiter von nicht ge-
ringerer Allgemeinheit und Bedeutung, der Satz von
der Erhaltung der Kraft.
Eine Kraft ist, was immer eine Wirkung hervor-
bringen kann. So ist z. B. jede Bewegung eine Kraft,
denn sie gibt dem bewegten Körper selbst andere und
andere Ortsbestimmungen und bringt, wenn er auf einen
zweiten KÖi·per stößt, auch in diesem Veränderungen
hervor.
Die Wirkung einer Naturkraft nennt man Arbeit und
bestimmt (da es bei den Arbeiten der Natur sich nicht
um Talent und Geschicklichkeit handeln kann) die Größe
der Arbeit nach der Größe des Kraftaufwandes.
Wird ein schwerer Körper in die Höhe geschnellt, so
nimmt die Kraft der Bewegung während des Fluges mehr
aus dem Energie- und Entropiegesetz 389

und mehr ab, um schließlich Null zu werden. Die Hebung


des Gewichtes bis zu diesem Punkte ist hier eine Arbeit,
für welche die gesamte Kraft der Bewegung aufgewandt
worden ist. War der Körper 1 Pfund schwer und wurde
er um l Fuß gehoben, so sagen die Physiker, die auf-
gewendete Kraft der Bewegung habe 1 Fuß-Pfund Arbeit
geleistet, und sie bedienen sich dieses Fuß-Pfundes als
einheitlichen Maßes, um die Arbeitsgrößen und Kraft-
aufwände miteinander zu vergleichen.
Ich glaube, diese wenigen Worte reichen hin, Ihnen
drei Begriffe, von denen wir im folgenden Gebrauch
machen werden: Kraft, Arbeit, Fuß-Pfund-Arbeit deut-
lich zu machen.
391. Ich sagte eben, die Größe der Arbeit entspreche der
Größe des Kraftaufwandes, und die Kraft der Bewegung
des in die Höhe geschnellten Körpers werde, während er
sich erhebe, mehr und mehr verbraucht. Widerspricht
es dem nicht, wenn die Naturforscher von einer immer-
währenden Erhaltung der Kraft reden 1 Keineswegs,
sie wollen nämlich damit nicht sagen, daß jede einzelne
Kraft unvergänglich fortbestehe (wovon ja das Gegenteil
offenbar ist), sondern daß, wenn eine Kraft zugrunde
geht, eine andere von gleicher Größe für sie gewonnen
werde; gerade so, wie wenn selbst Wasserstoff und Sauer-
stoff in dem chemischen Prozeß der Wasserbildung zu-
grunde gehen sollten, jedenfalls in dem entsprechenden
Wasser ein Äquivalent für den Verlust geboten war.
Machen wir dies an einem einfachen Beispiele deutlich.
Denken wir uns, in einem luftleeren Raume werde eine
Kugel senkrecht emporgeworlen. Wegen des Einflusses
der Schwere würde sie allmählich langsamer und lang-
samer steigen und, zu einer gewissen Höhe gelangt, auch
den letzten Rest von Bewegung einbüßen. Aber sofort
würde die Kugel wieder zu fallen beginnen, während des
Falles ihre Bewegung beschleunigen und schließlich mit
derselben Geschwindigkeit unten anlangen, mit welcher
sie emporgeworlen wurde.
390 Beweis des primus motor

Und nehmen wir an, die Kugel sei vollkommen elastisch


und falle auf eine horizontale Platte, die ebenfalls voll-
kommen elastisch sei, so würde sie dann zum zweitenmal
und ebenso kräftig wie das erstemal emporgeschnellt
werden. Wenn also die Bewegung zeitweise abgenommen
hatte und momentan völlig vernichtet worden war, so
lag in der gehobenen Stellung der Kugel ein Äquivalent
für den erlittenen Kraftverlust. So kann es geschehen,
daß die Kugel zum zweitenmal zur selben Höhe zurück-
kehrt und dann zum drittenmal die ursprüngliche Ge-
schwindigkeit wiedererlangt und so ins Unendliche fort,
solange die Bedingungen dieselben bleiben. Das Maß der
Kraft erhält sich also wirklich unabänderlich, und wir
besitzen es nur abwechselnd bald in der Form einer Be-
wegung, bald in der Form eines gehobenen Gewichtes.
392. Ändern wir jetzt in einem Punkte die gemachte
Annahme. Denken wir Kugel und Platte seien nicht
vollkommen elastisch, wie es denn in Wirklichkeit keine
vollkommen elastische Masse gibt. Notwendig wird der
Prozeß ein anderer werden. Die Kugel wir nicht mit der-
selben Geschwindigkeit und darum auch nicht zu der-
selben Höhe zurückgeschnellt werden und schließlich ganz
und gar zur Ruhe kommen. Auf den ersten Blick möchte
es darum scheinen, als ob die Kraft der Bewegung all-
mählich ohne allen Ersatz verlorengegangen sei. Doch
untersucht man Kugel und Platte genauer, so findet man,
daß sie durch die wiederholten Stöße, welche die Kugel
zur Ruhe brachten, noch eine weitere Änderung erfahren
haben. Ihre Temperatur ist erhöht worden. An die
Stelle der Bewegung ist also Wärme getreten. Nun ist
auch die Wärme wirkungsfähig und insbesondere (denken
Sie nur an Lokomotive und Dampfschiff) auch fähig,
Bewegung hel'vorzubringen. "\Vir können also nicht ent-
scheiden, ob Kraft verlorengegangen sei oder nicht, so-
lange wir nicht das Verhältnis der Kraft der gewonnenen
Wärme zu der Kraft der verlorenen Bewegung festgestellt
haben. Hierüber gibt uns ein Gesetz Aufschluß, welches
aus dem Energie- und Entropiegesetz 391
der englische Naturforscher JOULE durch eine Reihe von
Versuchen erwiesen hat. Es lautet also: Wenn die Be-
wegung durch Stoß oder Reibung geschwächt wird, so
entsteht für jedes Fuß-Pfund-Arbeit, das verlorengeht,
immer dieselbe genau bestimmte Wärmemenge, und
wenn durch Wärme Bewegung gewonnen wird, so ver-
schwindet für jedes Fuß-Pfund-Arbeit, das gewonnen
wird, wiederum jenes Quantum Wärme. Eine Bewegung
z.B., deren Kraft genügt, um ein Pfund zu 1350 Fuß Höhe
zu erheben, ergibt, wenn sie durch Stoß oder Reibung
verlorengeht, an ihrer Statt die Wärmemenge, welche
erforderlich ist, um 1 Pfund Wasser um 1 Grad des hun-
dertteiligen Thermometers zu erhitzen. Umgekehrt kann
unter Aufwand der Wärmemenge, deren man bedarf,
um die Temperatur eines Pfundes Wasser um 1 Grad zu
erhöhen, 1 Pfund 1350 Fuß hoch erhoben werden. Man
nennt diese Größe das mechanische Äquivalent der
Wärme. Verbrennt man 1 Pfund reiner Kohle, so er-
hält man eine Wärmemenge, welche, wenn unsere Dampf•
maschinen sie vollständig in Bewegung umzusetzen ver-
möchten, 100 Pfund auf 4½ Meilen Höhe erheben könn-
ten. Und umgekehrt kann unter Aufwand eines solchen
Maßes von Bewegung das Quantum Wärme, welches man
beim Ver brennen von 1 Pfund Kohle erhält, erzeugt
werden. Doch die genaueren Zahlen sind hier für uns
ohne Wichtigkeit. Genug, daß wir sehen, wie die Kraft
der durch den Stoß verlorenen Bewegung in der dadurch
erzeugten Wärmemenge in der Tat ihr genaues Äqui-
valent findet. Auch hier wird also die einzelne Kraft
zwar zerstört, aber das Quantum der vorhandenen Kraft
bleibt nach wie vor unverändert.
Auch in betreff aller übrigen bekannten physikalischen
und ebenso in betreff der chemischen Prozesse haben die
Forscher ähnliche Untersuchungen angestellt, und jedes-
mal kamen sie zu dem analogen Ergebnis. So zweifelt
heute kein Naturforscher mehr daran, daß die gesamte
Natur, wie einen Vorrat von Stoff, so einen Vorrat von
392 Beweis des primus motor

wirkungsfähiger Kraft besitzt, der sich niemals mehrt


noch mindert 118 ).
Die Quantität der Kraft ist also unveränderlich. Z11
dem Satz von der Erhaltung des Stoffes kommt als ein
zweiter der der Erhaltung der Kraft.
393. Die Quantität, in welcher die Kraft vorhanden
ist, erhält sich, die Form, in welcher sie besteht, unter-
liegt der Veränderung. Es fragt sich: kann es geschehen,
daß wenigstens nach einer längeren Periode auch die
alte Form, in welcher die Kraft bestanden hatte, wieder-
kehrt?
Denken wir, damit uns die Frage deutlicher werde,
noch einmal an die Kugel zurück, die wir auf der Platte
auf und nieder springen ließen. Wir nahmen dabei zuerst
an, Kugel und Platte seien vollkommen elastisch; dann,
sie seien es nicht. Beide Male erhielt sich das Maß der
Kraft. Aber nur in dem ersten Falle sahen wir die Kraft
periodisch zu der früheren Form zurückkehren. Die
Kugel erlangte und verlor wieder die erste Geschwindig-
keit und stieß abermals und abermals zur selben Höhe.
Im zweiten Falle dagegen löste sich die Kraft der Be-
wegung mehr und mehr in eine Wärmemenge auf, um
dann nie wieder ihre erste Form anzunehmen.
So wird es überall sein, wenn wir auf Systetne von
kleinerem Umfang Rücksicht nehmen. Ein perpetuum
mobile, ein ewig Bewegtes, gibt es unter ihnen nicht.
Nur in bezug auf das W eltganze erhebt sich die Frage:
strebt auch der Kraftvorrat im W eltganzen einem End-
zustande entgegen, oder wird das Welt ganze wenigstens
ein perpetuum mobile sein, und wird nach einer wie auch
immer unübersehbar langen Periode eine Lage der Ver-
hältnisse, welche schon früher einmal wirklich gewesen,
zurückkehren?
394. Die Frage ist interessant genug. Schon beim
Beginne der Philosophie hat man sie aufgeworfen. Und
gerade die ältesten Philosophen, THALES, ANAXIMANDER,
ANAXIMENES, HERAKLIT,EMPEDOKLES,waren einstimmig
aus dem Energie- und Entropiegesetz 393

in ihrer Bejahung. ,,Zeus baut die Welt," sagt HERAKLIT,


,,spielend wie ein Knabe und löst sie wieder in Feuer auf.
Solche Spiele spielt Zeus." Alles erneut sich, wie es vor-
dem war. ,,Das Meer", sagt er in einem andern seiner
Fragmente, ,,wird ausgegossen und gemessen nach dem-
selben Maß, in welchem es bestand, ehe es Erde geworden"
und „Jede neue Sonne ist nach dem Maß der Alten".
Man erzählt auch von einigen muntem Studiosen, denen
der Kopf mehr mit Humor als der Beutel mit Geld gefüllt
war, wie sie dieser Lehre anhangend, sie praktisch zu
verwerten suchten. Einern kreidigen Wirte, der allzu
streng die Zeche forderte, trugen sie die Lehre vor. Nach
so und soviel tausend Jahren, setzten sie ihm auseinander,
wenn alles wiederkehre, würden auch sie wieder zu ihm
kommen. Er möge sie also jetzt ziehen lassen. Bei der
Wiederkehr wollten sie dann ehrlich die Rechnung bis
auf den letzten Heller berichtigen. Es scheint, daß sie
ziemlich überzeugend sprachen. Wenigstens wird erzählt,
der Wirt habe die Lehre gelten lassen. Ja, ja, meinte er,
das scheine ganz plausibel. Da dem so sei, so wolle er
ihnen auch gern Aufschub gewähren. Dafür möchten sie
ihm aber jetzt die Zeche zahlen, die sie ihm, als sie ihm
vor der letzten vieltausendjährigen Periode die Ehre ge-
schenkt, schuldig geblieben seien. So scheint, nach diesem
Fall wenigstens zu urteilen, der praktische Wert der
Lehre nicht groß.
Dennoch ist es interessant, zu wissen, ob sie wenigstens
theoretisch richtig ist.
395. Das Gesetz, welches uns darüber belehrt und wel-
ches wir hier das Gesetz der ·wechselwirkung der Natur-
kräfte nennen, ist von einem französischen Naturforscher,
CARNOT,gefunden und dann von CLAUSilJSin etwas be-
richtigt und so mit dem Gesetze der Erhaltung der Kraft
in Einklang gebracht worden. Das Gesetz ist (in der
Fassung von HELMHOLTZ)folgendes: ,,Nur wenn Wärme
von einem wärmeren auf einen kälteren Körper übergeht,
kann sie, und auch dann nur teilweise, in andere Wir-
394 Beweis des primus motor

kungsformen, seien es nun mechanische, elektrische oder


chemische Kräfte verwandelt werden." So z. B. ver-
wandeln wir in unseren Dampfmaschinen einen Teil der
Wärme der glühenden Kohlen in mechanische Kraft, in-
dem wir sie auf das weniger warme Wasser des Kessels
übergehen lassen.
396. Hieraus hat der Engländer W. THoMSON merk-
würdige Folgerungen gezogen. Wenn sämtliche Körper
in der Welt eine und dieselbe Temperatur hätten, so
würde es, folgerte er, unmöglich sein, irgendeinen Teil
ihrer Wärme in eine andere Kraft zu verwandeln. Und
weiter schloß er, daß wir demnach den gesamten Kraft-
vorrat des Weltganzen in zwei Teile teilen könnten. Der
eine davon ist Wärme und muß Wärme bleiben, und
nur der andere, zu dem ein Teil der Wärme der heißeren
Körper und der ganze Vorrat chemischer, mechanischer,
elektrischer und magnetischer Kräfte gehört, ist ver-
änderliche Kraft. Nun ist es aber eine bekannte Tat-
sache, daß die Temperatur sich fortwährend auszuglei-
chen sucht, und ferner, daß bei jedem mechanischen
Prozesse infolge von Stoß oder Reibung und ebenso in
der Regel auch bei den chemischen und elektrischen
Prozessen ein Teil dieser Kräfte in Wärme übergeht.
Somit folgt, daß der erste Teil des Kraftvorrats fort-
dauernd zunimmt, der zweite abnimmt, so daß, wenn
das Weltall dem Ablaufe seiner physikalischen Prozease
ungestört überlassen wird, endlich der gesamte Kraft-
vorrat in Wärme und zwar in unveränderliche Wärme
übergehen wird.
Dann ist jede Möglichkeit einer weiteren Veränderung
erschöpft, und es muß ein vollkommener Stillstand aller
Naturprozesse eintreten. Alles organische Leben hat
natürlich ein Ende. Aber auch die Planeten werden
nicht mehr um die Sonne und die Sonnen nicht mehr um-
einander oder um einen gemeinsamen Schwerpunkt
kreisen. Nur wenn sich die Gestirne ohne jede Reibung
bewegten, könnten ihre Bewegungen in Ewigkeit be-
aus dem Energie- und Entropiegesetz 395

stehen. Aber dies ist nicht der Fall, denn erstens be-
wegen sie sich nicht in einem absolut leeren Raume,
und zweitens erleiden sie Reibungen, weil sie nicht durch-
aus feste Körper sind. Bei jeder Ebbe und Flut wird
mehr Kraft in Wärme verwandelt, und diese wird nach-
weisbar den Bewegungen der Gestirne, durch welche diese
Phänomene hervorgerufen werden, entzogen. So nimmt
denn die Gesamtheit der mechanischen Kräfte ab, bis
sie in eine über alle Körper gleichmäßig verteilte, unver-
änderliche Wärmemenge sich verwandelt haben wird.
Diese Wärmemenge wird natürlich eine bestimmte
Größe, ein gewisses Maß haben, und dieses Maß ist nach
dem Gesetz der Erhaltung der Kraft äquivalent dem Maß
gewisser mechanischer und anderer veränderlicher Kräfte,
die, wenn sie statt der Wärme beständen, notwendig
in einer bestimmten endlichen, wenn auch unermeßlich
langen Zeit wieder in diese Wärme sich verkehren würden.
397. Wenn nun aber dieses richtig ist, so können wir
offenbar auch umgekehrt von dem Endpunkt ausgehend
rückwärts auf einen Anfangspunkt der Bewegung schließen.
Wäre vor einer gewissen Zeitperiode, vor derjenigen
nämlich, innerhalb welcher auch bei der ungünstigsten
ursprünglichen Disposition der Kräfte der Gesamtvorrat
der Kraft in der Welt in unveränderliche Wärme sich
verwandelt haben muß, Bewegung in der Welt gewesen,
60 würde entweder der Prozeß des Umsatzes schon eher
zum Abschlusse gekommen oder die am Ende gegebene
Wärmemenge eine größere sein. S o mit, hat die Be -
wegung einen Anfang.
398. Man hat dagegen einzuwenden versucht: I. Nicht
alles muß zu Wärme werden. Etwas Bewegung bleibt,
nachdem die flüssigen Teile der Himmelskörper all-
mählich sämtlich festgeworden und infolgedessen Ebbe
und Flut aufgehört haben, übrig. Daher fehlt jener End-
punkt und der Schluß von ihm auf den entsprechenden
Anfangspunkt verliert allen Halt.
Aber die Lösung ist nicht schwierig.
396 Beweis des primus mot.or

1. Es ist falsch, daß wegen der allmählichen Erstarrung


der Massen die Bewegung nicht endigen werde. Nur
der eine Grund der fortdauernden Abnahme der Be-
wegung fällt dann weg, der andere, der Äther, bliebe.
Er muß notwendig verdrängt, es muß ihm also Bewegung
mitgeteilt werden, eine Wirkung. Nach dem Gesetz der
Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung muß also
an der Bewegung des Sternes etwas verlorengehen. Und
bei diesem mechanischen Prozeß geht wie bei jedem
anderen durch Stoß und Reibung irgend etwas an mecha-
nischer Kraft verloren und wird in Wärme verwandelt.
2. Angenommen, es sei richtig, daß über ein gewisses
Maß hinaus die Bewegung keinen weiteren Umsatz in
Wärme erfahre, so würde doch auch dann einmal ein
Punkt erreicht werden, wo keine veränderliche Kraft, son-
dern nur ein doppelter unveränderlicher Kraftvorrat
bestände: erstens mechanische Kraft, zweitens Wärme.
Der erste von Anfang an gegeben, der zweite allmählich
gewachsen auf Kosten des veränderlichen Kraftvorrats.
Von dem ersten ganz absehend können wir daher für
den zweiten und seine längste Bildungszeit unsere Rech-
nung führen und mit aller Sicherheit sagen, daß vor
einem bestimmten Zeitpunkte von diesem veränderlichen
Kraftvorrat nichts vorhanden gewesen sein kann, indem
sonst der Umsatzprozeß früher begonnen und folglich
auch früher geendet hätte.
3. Ja noch mehr. Wenn wirklich, indem die Körper
allmählich fest werden, der Umsatz der Bewegung in
Wärme ein immer geringerer wird, bis er zuletzt ganz
aufhört, so folgt, weit entfernt, daß der Anfang der Be-
wegung nicht mehr erschlossen werden könnte, im
Gegenteil, daß er uns näherliegt. Denn wie von jetzt an,
je weiter wir vorwärts in die Zukunft gehen, die Ab-
nahme der Bewegung immer schwächer wird, so muß sie,
je weiter wir rückwärts in die Vergangenheit blicken,
immer stärker gewesen sein. Somit brauchte das Be-
wegungsäquivalent der jetzt bestehenden Wärme noch
aus dem Energie- und Entropiegesetz 397

weniger lang zu seinem Umsatz, a.ls wenn es mit dem


Maße von Geschwindigkeit, wie es jetzt sich in Wärme
umwandelt, sich darein verwandelt hätte.
399. II. Indessen wird häufig noch ein anderer Versuch
gemacht, den Schluß auf einen Weltstillstand abzuweisen.
Wenn ich von den Konsequenzen des CARNOTschenGe-
setzes sprach, so ist es mir oft begegnet, daß man mir
sofort entgegenhielt: ich scheine zu vergessen, daß die
Welt unbegrenzt und daß die Masse der Körper und in-
folge davon auch ihr Kraftvorrat unendlich seien. Wie
auch immer die Wärme fort und fort auf Kosten anderer
Naturkräfte wachse, der Prozeß des Umsatzes werde
darum niemals abschließen, und der Weltstillstand, wenn
ihm auch die ganze Entwicklung zustrebe, ewig in un-
endlicher Feme bleiben.
400. Diese Antwort klingt ganz scheinbar. Fast möchte
einer über die großen Naturforscher sich verwundern,
denen ein so naheliegender Gedanke, der alle ihre Pro-
phezeiungen zunichte mache, entgangen sei. Aber der,
welcher den Einwurf näher überlegt, stößt alsbald auf
die große Schwierigkeit, die für ihn aus dem Gesetze ,der
Gravitation erwächst. Ein Universum, das nach Masse
und Raum unendlich wäre, würde, sagt WuNDT mit
Recht, da die Gravitation jeden Körper mit jedem in
Beziehung setzt, nirgends einen Schwerpunkt haben.
Aber einen Schwerpunkt verlangen die Grundgesetze der
Mechanik unbedingt für jedes System sich bewegender
Massen. Also scheint es schlechterdings unmöglich, die
Körperwelt der Masse und dem Raum nach unendlich zu
denken.
401. So einfach also entrinnt man den Schlüssen aus
dem CARNOTschenGesetze nicht.
III. Durch eine kompliziertere Hypothese versuchte es
derselbe WUNDT, indem er zwei Auswege vorschlug, ohne
sich unbedingt für einen zu entscheiden:
l. sagt er, könne man, obwohl heutzutage die Physik
gemeiniglich das Gegenteil lehrt, annehmen, daß die
398 Beweis des primus motor

•Wirkung der Schwere, ähnlich der des Lichtes oder der


Wärme, einer gewissen Zeit bedürfe, um von einem Orte
zum andern zu gelangen. Und in diesem Falle sei der
gemeinsame Schwerpunkt für die Bewegungen der Welt-
körper entbehrlich.
2. Aber wenn man sich zu dieser Abweichung von den
hergebrachten Anschauungen über die Gravitation nicht
entschließen wolle, bleibe die Annahme möglich, daß die
Welt zwar der Ausdehnung nach unbegrenzt und unend-
lich, der Masse nach aber endlich sei. ,venn dann auch
der Kraftvorrat nicht unendlich erscheine, so genüge
doch die Unendlichkeit des Raumes dazu, es zwischen
den entfernteren Orten nie zu einem vollkommenen Aus-
gleiche der Wärme, zu dem von THoMSONgeweissagten
Weltende kommen zu lassen. Dabei könne die endliche
Masse, an einem Orte dichter gehäuft, wirklich einen
Sch:werpunkt besitzen.
Wir wollen jede dieser beiden Hypothesen einer kurzen
Erwägung unterziehen.
402. Vor allem also die erste. Die Gravitation soll
nach ihr zu ihrer Fortpflanzung einer gewissen Zeit be-
dürfen und das Universum infolgedessen des einheitlichen
Schwerpunktes entbehren können. Und warum dies 1
Weil, meint WuNDT, in diesem Falle die Wirkung von
einem Körper noch nicht zu· allen andern gelangt sein
müsse. Wohl sei die Zeit anfanglos, aber die Unendlich-
keit der Vergangenheit werde durch die Unendlichkeit
der räumlichen Ausdehnung aufgewogen. So könnten
denn Bewegungen der Massen auch ohne einen letzten
einheitlichen Schwerpunkt des Universums stattfinden.
Diese Hypothese ist, glaube ich, leicht verständlich.
Aber fast ebenso leicht zu widerlegen. Wie1 Wenn
die Gravitation sich zeitlich fortpflanzt, soll trotz einer
anfanglos unendlichen Vergangenheit die Wirkung der
Schwere noch nicht von einem Punkte des Raumes bis
zu einem andern hingelangt sein 1 - Das hieße offenbar
nicht sowohl, daß der endlose Raum die anfanglose Zeit,
aus dem Energie- und Entropiegesetz 399

sondern daß eine Strecke zwischen zwei Punkten, also eine


Strecke, die Anfang und Ende hat, die anfanglose Zeit
aufwiege, ja überwiege. Das aber ist handgreiflich ab-
surd. Und so ist denn diese erste Hypothese von \Vc:irnT
innerlich widersprechend und schlechterdings unmöglich.
403. Sehen wir, ob der zweite Ausweg, den WuNDT
in Vorschlag bringt, gangbarer ist. Er nimmt hier an,
daß das Weltall seiner Ausdehnung nach unbegrenzt und
unendlich, seiner Masse nach aber endlich sei, daß also
eine endliche Masse einen allseits unendlichen Raum er-
fülle. Aber wie? Eine endliche Masse soll einen unend-
lichen Raum erfüllen? Schon beim ersten Anhören klingt
die Behauptung paradox. Doch \¾ 1::-NDT sucht den Vor-
0

wurf der Absurdität durch eine mathematische Be-


trachtung abzuwehren.
Die Mathematik kennt fortschreitende Reihen, bei denen
die Summe der Glieder, auch wenn man sie ins Unend-
liche fortgesetzt denkt, eine bestimmte endliche Größe
. 1 1 1 1
nicht überschreitet. Die Reihe
2 4 8+
+ + 16
usw.,
bei welcher jedes folgende Glied die Hälfte des voraus-
gehenden beträgt, ergibt, auch ins Unendliche fortgesetzt,
nie eine größere Summe als 1. Auf ähnliche \\;'eise, meint
WUNDT, werde es möglich sein, daß auch eine endliche
Masse, die von einem bestimmten Mittelpunkte aus nach
allen Seiten hin ins Unendliche sich verdünne, einen
allseits unbegrenzten, unendlichen Raum zu erfüllen ver-
möge, so zwar, daß sie an jedem bestimmten Punkt noch
eine gewisse endliche Dichtigkeit behalte, an keinem un-
endlich dünn geworden sei. (\Vas ja auch ohne Absur-
dität nicht angenommen werden kann und die Ver-
nichtung der Materie selbst bedeuten würde.) Und so
glaubt WuNDT trotz der Bedenken des sog. gesunden
Menschenverstandes seine Hypothese als annehmbar er-
wiesen zu haben.
404. Dennoch ist auch dieser Versuch ganz und gar
unmöglich. Abgesehen von allem Gesuchten und Korn-
400 Beweis des primus motor

plizierten, was diese Hypothese von vornherein unwahr-


scheinlich macht, abgesehen ferner von den Schwierig-
keiten, in welche sie der Atomtheorie gegenüber geraten
muß, bleibt nämlich trotz allem, was WuNDT sagt, die
Behauptung absurd, daß eine endliche Masse den un-
endlichen Raum erfülle. In seiner mathematischen Er-
örterung verwendet er den Begriff der Unendlichkeit
anders, als die Mathematik es erlaubt, und der Kalkul
wird darum zu einer sophistischen Schlinge. Daß es in der
Tat nicht bloß paradox, sondern schlechterdings wider-
sprechend ist, den unendlichen Raum in der Weise der
von WUNDTverlangten Verteilung mit endlicher Masse er-
füllt zu denken, möge folgende einfache Betrachtung deut-
lich machen. Wenn man einen kleinen Vorrat von Nah-
rungsmitteln so unter eine Menge verteilen will, daß jeder
etwas Nennenswertes empfängt, wie wird man dies am
besten erreichen 1 - Offenbar so, daß man ihn gleichmäßig
verteilt. Gibt man dem einen mehr als den Durchschnitts-
betrag, so muß dies Plus auf der einen Seite notwendig
durch ein Minus auf der andern kompensiert werden.
Wenden wir das Gesagte auf die Verteilung einer end-
lichen Masse im unendlichen Raume an. Diejenige Ver-
teilung, welche noch am meisten Hoffnung gäbe, daß
jedem Teil des Raumes eine Materie von bestimmter
endlicher Dichtigkeit zukäme, wäre offenbar die gleich-
mäßige Verteilung. Bei jeder ungleichen müßte das Plus
an einer Stelle durch ein Minus an einer andern kompen-
siert werden. Aber die gleichmäßige Verteilung einer end-
liohen Masse im unendlichen Raume ist anerkanntermaßen
unmöglich, da die Materie überall unendlich dünn sein
müßte, d. h. ihre Dichtigkeit um keine auch noch so geringe
Größe von dem Nichts sich unterscheiden würde. Also ist
es überhaupt unmöglich, mit einer endlichen Masse einen
unendlichen Raum vollkommen erfüllt sich zu denken.
So schließt denn auch dieser zweite Versuch von WUNDT
eine widersprechende Annahme ein. Es war aber in der
Tat der letzte, den man hier machen kann.
aus dem Energie- w1d Entropiegesetz 40 I

405. Es bleibt demnach nichts übrig, als THOMSON,


HELMHOLTZund den andern großen Naturforschern zu-
zugestehen, daß sie aus dem CARNOTschen Gesetz mit
Recht die Folgerung ableiteten, daß die sich selbst über-
lassenen Weltkräfte sich einmal vollständig in gleich
verteilte Wärme auflösen werden und der Weltstillstand
unausbleiblich sei.
Die Perspektive in die Zukunft, welche uns die neuesten
Forschungen der Naturwissenschaft damit eröffnen,
scheint keine sehr erfreuliche zu sein. Die Natur, wenn sie
sich selbst überlassen ist, kommt mit allen ihren Pro-
zessen in einer endlichen Zeit zu einem ewigen Tode.
Wenden wir noch einmal den Blick von der Zukunft in
die Vergangenheit. Vielleicht werden die physikalischen
Gesetze, welche uns zeigten, was der Natur, wenn sie
völlig sich selbst überlassen bleibt, droht, hier zeigen,
daß wir nicht annehmen müssen, daß sie wirklich ganz
sich selbst überlassen bleiben wird.
In der Tat, wenn unser Schluß auf einen Endzustand
notwendig war, so war auch unsere andere wichtige
Folgerung unvermeidlich. Die Weltentwicklung muß, wie
sie einmal zu einem Ende führt, auch einmal einen Anfang
genommen haben.
Denken wir, der ganze Kraftvorrat der Welt, der jetzt
schon in bedeutendem Maße dem Endzustande, der völ-
ligen Umwandlung in Wärme sich genähert hat, bestände
in einer Form, die möglichst weit von diesem Abschlusse
entfernt ist, so zwar, daß noch nicht der kleinste Teil da-
von Wärme wäre. überall sei die Temperatur der Materie
das, was die mechanische Wärmetheorie als äußerste
Grenze der Kälte bezeichnet, 270° unter Null, was würde
geschehen? - Sofort würde der Prozeß der Entropie,
wie man ihn genannt hat, beginnen und in allmählichem
Verlaufe zu dem Zustande völliger Auflösung der Kraft
in gleichmäßig verteilte Wärme hinführen.
Die Zeitperiode, die dazu nötig wäre, würde, mit
unserem Leben, ja mit dem Leben des ganzen mensch-
402 Beweis des primua motor

liehen Geschlechtes verglichen, eine sehr lange, aber


immerhin eine begrenzte sein. \Vir können sie algebraisch
als eine Periode von n-Jahren bezeichnen. Wie es nun
offenbar ist, daß von heute ab, weil wir bereits dem End-
zustande näherstehen, in weniger als n-Jahren der Unter-
gang der sich selbst überlassenen Welt sich vollzogen
haben wird, so ist es offenbar, daß auch vorn-Jahren die
Weltentwicklung noch nicht begonnen haben konnte.
Denn sonst ständen wir heute schon an ihrem Abschlusse.
Aber die Weltentwicklung hat begonnen, sobald über-
haupt wirkungsfähige Kräfte in der Welt vorhanden
waren, die ja sofort in ein \Vechselspiel miteinander
treten mußten. So bleibt es denn bei unserem für die
:Metaphysik hochwichtigen Ergebnis, daß vor n-Jahren,
also vor einer endlichen Zeit der in der Welt befindliche
Kraftvorrat überhaupt noch nicht vorhanden war.
406. Es war im Wintersemester 1868/69, als ich, damals
Privatdozent in \Vürzburg, in einem akademischen Vor-
trag diese Folgerung aus dem CARNOT-CLAUSrusschen
Gesetze darlegte. Um dieselbe Zeit, oder doch nur um
wenige Tage später, geschah es, daß an derselben Uni-
versität der Physiologe FICK am Schlusse einer Reihe
von Vorträgen über die Wechselwirkung der Naturkräfte,
unabhängig von mir, zu demselben Resultate gelangte.
Und als ich kurze Zeit später nach England kam, zeigte
es sich, daß dort der berühmte Physiker TAIT dieselbe
Konsequenz gezogen hatte, gewiß ein Zeichen, wie nahe
Hie liegt und wie vollkommen unabweislich sie sich auf-
drängt.
So ist denn auch heutzutage, man kann wohl sagen,
die Erkenntnis allgemein geworden, daß, wenn das Ende,
auch der Anfang der Weltentwicklung nicht mehr ge-
leugnet werden könne. Hören Sie, als einen Beleg dafür,
wie WuNDT selbst darüber sich ausspricht. ,,CLAusms",
sagt er, ,,ist zu dem Satze gelangt ,Die Entropie der Welt
strebt einem Maximum zu', welcher Satz zusammen mit
dem andern ,Die Energie der Welt ist konstant' not-
aus dem Energie- und Entropiegesetz 403

wendig den Gedanken in sich schließt, daß die Entwick-


lung des W eltganzen zwischen einem Anfangs- und End-
punkte sich bewegt, welche beide in einer endlichen Zeit-
ferne gelegen sind." So spricht sogar WUNDT_ Sein
Zeugnis ist hier um so wichtiger, als es das Zeugnis eines
Mannes ist, der wegen gewisser metaphysischer Vorurteile
sich mit aller Macht dagegen sträubt, einen Weltanfang
zuzulassen. Gerade das trieb ihn zu den, wie wir sahen,
verzweüelten Hypothesen, durch welche er auch der An-
nahme eines Weltendes entrinnen will.
407. Also die Weltentwicklung hatte so sicher einen
Anfang, als sie ein Ende haben wird, und von dem Kraft-
vorrat des Universums war einmal nichts vorhanden.
Fragen wir nun, woher der Natur die Kraft, die sie einst
nicht besaß, seitdem gekommen ist, so gibt es darauf
nur eine Antwort:
Aus sich selbst hat sie sie sicher nicht erhalten. Denn
nach dem Gesetz der Erhaltung der Kraft kann ja die
Natur,' sich selbst überlassen, ebensowenig den kleinsten
Teil von Kraft gewinnen als verlieren. Wir sind also
schlechterdings gezwungen, anzunehmen, daß die Menge
von Kraft, über die die Welt verfügt und mit der sie den
Bau des Sternengewölbes aufgeführt und alle die zarten
Gestalten des pflanzlichen und tierischen Lebens und
allen Zauber menschlicher Anmut gewoben hat, um dann
die verschlungenen Fäden wieder zu lösen und die Steine
des Gebäudes auseinander zu reißen, vor einer endlichen
Zeit von einem überweltlichen Prinzip ihr verliehen
worden ist. Seine Wirksamkeit ist das A und O der
ganzen Weltgeschichte_
Das ist die metaphysische Konsequenz, zu welcher die
neuesten Entdeckungen der Naturwissenschaft nötigen.
Und wer vorurteilslos forscht, wer nicht von vornherein
das Ziel bestimmen will, welches ja immer erst als Lohn
der Mühen der Forschung sich zu erkennen gibt, der wird
auch diese Konsequenz wie die früheren unbedenklich
ziehen.
404 Beweis des primus motor aus dem

408. Den Folgerungen aus dem CAR::NOTschenSatze


läßt sich auf keine Weise entgehen, es wäre denn durch
<lie Ausflucht, daß er sich vielleicht doch noch als un-
richtig erweisen werde, eine Behauptung, die allerdings
noch nicht vollständig widerlegt werden kann, denn das
CAR~WTscheGesetz hat nicht jenen Grad von Sicherheit,
wie er den bestbe,viesenen Sätzen der Physik, wie etwa
dem Trägheitsgesetz, zukommt. Doch gibt es wenige
Naturforscher, die in betreff seiner Zweifel hegen, nament-
lich seit einige merkwürdige Tatsachen, die man aus ihm
vorhersagte, später durch Versuche bestätigt worden sind.
\Vie dem nun aber auch sei, ein gewisser l\Iangel
bleibt bis zur vollständigen Erweisung des CARNOTschen
Gesetzes diesem Beweise noch anhaftend.
2. Beweis für den ersten Beweger aus dem
Widerspruch im Begriffe einer anfanglosen
Bewegung
409. Um so willkommener muß uns die Möglichkeit
einer noch weiteren Vereinfachung und Abstraktion von
den Resultaten der Naturwissenschaft sein. Diese be-
steht in der Tat, so zwar, daß der Beweis für Jen Anfang
der Bewegung in der Natur sich dem Charakter eines
mathematischen Beweises annähert, indem er a priori
aus dem Begriffe einer anfanglosen Bewegung argumen-
tiert.
Wir wollen der Deutlichkeit und Anschaulichkeit wegen
von der Betrachtung <les einfachen Spezialfalls einer
gleichmäßigen, geradlinigen Bewegung ausgehen.
\Vir sagen also: es ist absolut unmöglich, daß ein
Körper in einer gleichmäßigen, geradlinigen Bewegung
anfanglos begriffen sei. Und dies darum, weil ein Körper,
der in einer solchen Bewegung anfanglos begriffen wäre,
in keinem Augenblick einen bestimmten Terminus, einen
bestimmten Punkt in der Linie erreicht haben würde.
Er würde also z. B. jetzt ,veder in dem Punkt A, noch
in dem Punkt B, noch in irgendeinem anderen bestimm-
\Viderspruch im Begriff anfangloser Bewegung 405

ten Punkte der Linie sein. Andernfalls müßte ja ein


Grund dafür dasein, daß der Körper hier und nicht viel-
mehr dort oder an einem von unzähligen anderen Punk-
ten der Linie wäre, der aber gänzlich mangelt.
Eine kurze Erläuterung wird dies deutlich machen.
Bei einer endlichen Bewegung sind die Bedingungen,
aus welchen hervorgeht, wo ein gleichmäßig, geradlinig
fortschreitender Körper sich jetzt befindet, folgende vier:
Richtung, Geschwindigkeit, Zeit, Ausgangspunkt der Be-
wegung. Bei anfangloser Bewegung dagegen tritt an die
Stelle des vierten :Momentes die Anfanglosigkeit der Bahn.
Aber diese Anfanglosigkeit gilt von dem ersten wie von
dem letzten Orte des bewegten Körpers, so weit sie
auch voneinander abstehen mögen, und wenn eine Reihe
von Körpern hintereinander sich bewegen, von dem ersten
wie vom letzten in gleicher Weise. Jeder hat die gleiche
Bahn in gleicher Richtung, in gleicher Zeit, mit gleicher
Schnelligkeit durchlaufen; warum also ist der eine hier,
der andere dort?
410. Noch deutlicher läßt sich in anderer Weise die
Unmöglichkeit zeigen. Es sei - nach der Behauptung
des Gegners - ein Körper in gleichmäßiger, geradliniger
Bewegung anfanglos begriffen. Offenbar bewegt er sich
mit einer bestimmten Geschwindigkeit c, befindet sich
jetzt an einem bestimmten Punkte N, nachdem er eine
anfanglose Linie durchlaufen. Denken wir uns, er habe
sich unter sonst gleichen Bestimmungen halb so schnell,
also mit der Geschwindigkeit :;, bewegt. Auch dann
befände er sich an einem bestimmten Orte. Wäre es
aber derselbe Ort? Nein, wenn er auch nur in der letzten
Stunde seine Geschwindigkeit auf die Hälfte herabgesetzt
hätte, so hätte er im gleichen Zeitpunkte, jetzt, nicht an
denselben Ort gelangen können.
In derselben Zeit, in welcher er mit halber Geschwin-
digkeit erst den Punkt M erreicht hätte, hat er jetzt, mit
der vollen Geschwindigkeit c, schon den Punkt N er-
reicht. Da nun in gleichen Zeiten mit doppelter Geschwin-
406 Beweis des primus motor aus dem

digkeit doppelt solange Wege zurückgelegt werden, so


entspricht die Strecke MN seinem halben 'Wege, sie wäre
also die Hälfte des ganzen Weges - N, d. h. die anfang-
lose Linie -M = MN.
Also wäre zwischen zwei Punkten eine Linie, die gleich
groß ist wie eine unendliche Linie, und eine gerade Linie,
die Anfang und Ende hat, wäre gleich einer anfanglosen,
was widerspricht.
Aber aus möglichen Annahmen kann nichts Absurdes
folgen; ergo war die Annahme einer anfanglosen Bewegung
absurd 119 ).
411. Ich habe dieses Argument häufig besprochen,
auch mit Mathematikern. Viele fanden es zwingend, nur
neigten die Mathematiker anfangs zu einem Bedenken:
eine anfanglose Linie usw. dürfe man nicht annehmen,
und wenn sie mit Unendlichem rechneten, sei etwas ganz
anderes gemeint. Darauf konnte ich erwidern: nicht ich,
der Gegner mache die Annahme einer anfanglosen Be-
wegung, indes ich vielmehr deren Unmöglichkeit dar-
zutun suche. War ihnen dies klar, so folgten sie ohne
Schwierigkeit.
412. Verallgemeinerung. Es sei statt der oben be-
trachteten anfanglosen Bewegung irgendwelche beliebige
anfanglose Folge von Umwandlungen, mit oder ohne
Unterbrechungen, gegeben. Irgendein Zustand (Uz) sei
jetzt erreicht. Denken wir nun, die Umwandlung habe
in allen ihren Teilen doppelt so langsam stattgefunden,
oder die Pausen hätten doppelt solange gedauert; wäre sie
jetzt schon bei demselben Zustand angelangt 1 Nein, also
bei einem anderen (Uy), der nun in einem früheren Zeit-
punkte erreicht ist. In einer um wie viel kürzeren Zeit?
In halb so langer. Somit wäre die Zeit, in welcher der
Zustand Uz erreicht ist, gleich der seit jenem Zeitpunkte
(der Erreichung des Zustandes Uy) verflossenen Zeit.
Also eine anfanglose Zeit gleich einer Zeit, die Anfang
und Ende hat. In Wahrheit aber besteht zwischen einer
anfanglosen Zeit und einer Zeit, die Anfang und Ende
Widerspruch im Begriff anfangloser Bewegung 407

hat, dasselbe Verhältnis wie zwischen einer anfanglosen


Linie und einer solchen, die Anfang und Ende hat. Also
muß die anfanglose unendlich größer sein. Also das
unendlich Größere gleich dem unendlich Kleineren, was
widerspricht.
So enthält die Annahme einer anfanglosen Folge von
Umwandlungen eine Absurdität.
413. Auf alle Bewegungen und Veränderungen, seien
es ununterbrochene, seien es unterbrochene, läßt sich
dieses Argument anwenden, außer auf die Zeit, weil bei
dieser kein Unterschied der Geschwindigkeit denkbar ist.
Also hat es einmal einen Moment gegeben, vor dem
keinerlei Art anderer Veränderungen, außer etwa dem
steten Wechsel der Zeit selbst, bestand.
Entweder gab es vor ihm gar keine veränderlichen
Dinge oder sie waren wenigstens in anfangloser, absoluter
Ruhe. In beiden Fällen verlangt das Gesetz der Kausali-
tät ein wirkendes Prinzip, in dem ersten Falle ein schöpfe-
risches, in dem anderen einen ersten Beweger, der nicht
selbst wieder von einem anderen bewegt wird.
414:. In beiden Fällen muß die wirkende Kraft als
eine mit Bewußtsein wirkende gedacht werden; denn für
eine blind wirkende wäre kein Grund erdenklich, warum
sie nicht schon anfanglos gewirkt habe 120 ).
415. Allerdings gilt nach dem Kausalgesetz für jede
Kraft, auch für eine bewußte, daß sie in dem Augen-
blicke zu wirken beginnt, wo keine der dafür erforder-
lichen Bedingungen fehlt. Aber für das erste Prinzip,
wenn wir es als denkendes fassen, läßt sich eine Er-
klärung für den Beginn seines Wirkens zu einer bestimm-
ten Zeit ausdenken, wenn man nämlich annimmt, daß
es anfanglos denkend und in ewigem Entschluß einen be-
stimmten Zeitpunkt aus der unendlichen Zeit als den
dafür geeignetsten bevorzugt habe.
416. Natürlich dürfte man sich dann die Zeitpunkte
nicht vollkommen gleich denken, was befremdlich klingt,
aber selbstverständlich ist, da sie ja viele sind und darum
408 Beweis des primus motor aus dem

voneinander verschieden sein müssen. (Ähnlich wie die


Orte; das Befremden aber rührt von der Gewohnheit her,
daß wir es in der Anschauung immer nur mit relativen
Orten und Zeiten zu tun haben, während die absoluten
uns transzendent bleiben.)
417. Ferner dürfte man sich das erste Prinzip nicht,
wie es der Begründer des Bewegungsbeweises, ARISTO-
TELES, tat, absolut wechsellos denken. Denn wenn es
wechsellos in dem Gedanken, einen künftigen Moment
zum Beginne seines Wirkens zu machen, verharrt wäre,
so hätte es sich auch in dem Augenblicke, wo dieser zur
Gegenwart geworden, in nichts von sich, wie es anfanglos
früher war, unterschieden. Mit anderen Worten, es hätte
gar nicht erkannt, daß der Moment, den es anfanglos als
einen künftigen erwartet hatte, nun herangekommen sei,
und ihn weiterhin als einen künftigen erwartet. Begönne
nun gleichwohl in diesem Augenblicke sein Werk, so
fehlte dafür jede Erklärung, und wir stünden um nichts
besser gerüstet da, als wenn wir den Beginn desselben
aus einem unbewußten Prinzip erklären wollten.
Wir können also nicht umhin, anzunehmen, es habe
den Zeitpunkt vordem als einen künftigen, aber suk-
zessive als einen an die jeweilige Gegenwart näher und
näher herankommenden und so denn auch jetzt als gegen-
wärtig gewordenen erkannt.
418. Dann macht uns der Eintritt seines Wirkens zu
einem bestimmten Zeitpunkte keine Schwierigkeit, aber
vielleicht scheint dann erst recht manchem das Beweis-
ziel des Bewegungsbeweises verfehlt. Dieser wollte ja
für jede Umwandlung dartun, daß sie einen Anfang ge-
nommen haben müsse, und daraus auf ein anfangloses,
bewegendes Prinzip schließen. Wenn aber, wie sich jetzt
herausstellte, auch dieses selbst nicht wechsellos gedacht
werden darf, müßte es ebenfalls einen Anfang genommen
haben, und so ergäbe sich die Notwendigkeit, auch dafür
nach einem wirkenden Prinzip zu suchen und so ins Un-
endliche.
Widerspruch im Begriff anfe.ngloser Bewegung -!09

Dieses Bedenken würde vornehmlich denen nahe liegen,


die unter dem Einfluß des ARISTOTELESden Beweis für
den primus motor als solchen für einen absolut wechsellosen
Beweger sich denken. Doch trifft dies nicht auf die Art
zu, wie wir ihn hier geführt haben. Wir sind ausgegangen
nicht von der Tatsache des Wechsels schlechthin, sondern
solcher Veränderungen, bei denen ein Wechsel ihrer Ge-
schwindigkeit denkbar ist. Das trifft auf den Wechsel,
den auch im ersten Beweger zuzulassen wir uns genötigt
sahen, nicht zu. Bei ihm erscheint vielmehr ein solcher
ebenso ausgeschlossen wie beim temporalen Wechsel als
solchen.
419. Auf dem Nachweise, daß das erste Prinzip die
Bewegung bewußt gewirkt habe, ruhen alle weiteren
Folgerungen des Beweises. Daß es ein schöpferisches
Prinzip sei, ergibt sich analog wie im teleologischen Be-
weise. Es konnte den Stoff nicht in Bewegung gesetzt
haben, ohne eine Erkenntnis von ihm zu besitzen, dies
aber nicht ohne Kausalzusammenhang mit ihm. Doch
nicht so, als wirkte der Stoff auf das erste Prinzip, das
vielmehr leidlos 121 ) gedacht werden muß; also umgekehrt
so, daß es den Stoff bewirkt, d. h. schöpferisch hervor-
gebracht hat.
Der Beweis aus der Kontingenz
420. Der Beweis aus der Kontingenz 122 ) ist noch ein-
facher als der Bewegungsbeweis, doch manchem weniger
dienlich zur Überzeugung, und zwar aus dem schon an-
gegebenen Grunde, weil die Begriffe so abstrakt sind,
daß man sich wegen der Leichtigkeit der Täuschung durch
Homonymie selbst nicht recht traut.
\Velches sind die Prämissen, auf denen er beruht 1
421. Ein allgemeines Gesetz und eine Tatsache.
I. Die Tatsache ist die, daß es in der Welt Dinge gibt,
denen nicht unmittelbar notwendig Existenz zukommt,
sondern die ebensogut auch nicht sein könnten, und
zwar nicht bloß in der \Veise nicht sein könnten, wie z.B.
\Vasserstoff und Sauerstoff, wenn sia in \Vasser ver-
wandelt sind, nicht mehr in Wirklichkeit bestehen, son-
dern auch in der \Veise, daß sie auch nicht virtuell in
anderen Stoffen enthalten sein müssen. Also wie wenn
z.B. ein Tropfen Wasser, der jetzt ist, nicht bestände
und auch nichts anderes statt seiner existierte, sondern
nur die Dinge, die jetzt außer ihm Existenz haben.
Das ist die Kontingenz, welche die Erfahrungsgrund-
lage des Beweises bildet, und von der er seinen Namen hat.
422. Man findet die Menschen geneigt, eine solche
Kontingenz für viele Dinge, die in das Bereich unserer
Erfahrung fallen, ohne weiteres zuzugestehen. Darum
unterläßt man es gewöhnlich, einen ausdrücklichen Nach-
weis dafür zu erbringen. (Man findet es schwieriger, ein
Wesen anzunehmen, wie Gott, das nicht kontingent, als
ein Wesen, das kontingent, weil man eben alle Gegen-
stände der Erfahrung für solche hält.) Aber wenn unser
Die Körper sind nicht unmittelbar notwendig 411

Argument wirklich stringent sein soll, dürfen wir uns die


Untersuchung nicht ersparen, um eine klare und volle
Einsicht in diese Tatsache zu gewinnen.
423. Leicht bieten sich vor allem Gründe dar für die
Kontingenz der Körper.
Ganz klar ergibt sie sich schon daraus, daß von ein
und derselben Art eine Vielheit von Individuen besteht;
ich glaube wenigstens, daß kaum einer, der unter unserem
Gesichtspunkte auf diese Tatsache hinblickt, noch einen
ernsten Zweifel hegen werde.
Nicht einmal die Korruptibilität gewisser Substanzen,
auf die man ebenfalls als ein Zeichen der Kontingenz
hingewiesen hat, läßt sich in ihrer Bedeutung damit ver-
gleichen. Und sie hat insbesondere auch den Vorzug, daß
auch Atomisten, die sich gegen die Annahme einer Kor-
ruption der Substanzen sträuben, sie ohne weiteres gelten
lassen. Es gibt ja unzählig viele Exemplare von gleicher
Art, z.B. von der Art des Sauerstoffs, so zwar, daß jedem
einzelnen Exemplar der Spezies ganz die gleichen Eigen-
tümlichkeiten wie den anderen zukommen.
Offenbar gehört zu diesen Eigentümlichkeiten auch die,
daß die Existenz eines Individuums die Existenz anderer
von derselben Art und Eigentümlichkeit nicht ausschließt,
da ja tatsächlich Millionen und Billionen vorhanden sind.
Wer wollte nun behaupten, es bestehe in dieser Beziehung
eine Schranke, so etwa, daß wenn etwas die Existenz
von neunhundertneunundneunzig ihm gleichen Individuen
nicht ausschließt, es doch die von 1000 ausschlösse? Viel-
mehr ist offen bar, daß wenn überhaupt in einer Art eine Viel-
heit von Individuen denkbar ist, keine bestimmte Menge
mehr eine unüberschreitbare Grenze bilden kann. Gäbe es
doppelt so viele, so wäre dadurch offenbar ebensowenig
etwas Unmögliches gegeben als jetzt, da die Hälfte existiert.
Ist nun aber dies vernünftigerweise nicht zu leugnen,
so erhellt, daß die Individuen dieser Art sämtlich kon-
tingent sind, und somit ist die Erfahrungsbasis für
unsern Beweis gewonnen 123 ).
412 Kontingenz beweis

424. Wie eine aktuell unendliche Menge von Körpern


zu keiner Zeit gegeben sein kann, so auch nicht ein un-
endlich großer Körper. Auch eine aktuell unendliche
Ausdehnung widerspricht. Es kann darum auch das
Kontinuum der Orte, soweit es in einem einzelnen Mo-
mente verwirklicht ist, nicht unendlich groß gedacht
werden: Die Lehre, daß es einen unendlich großen Raum
gebe, ist absurd. Das gilt vom erfüllten Raume ebenso
wie von einem mit Körpern ganz oder teilweise besetzten.
Somit sind auch die Orte von der Art, daß sie ebenso-
wohl verwirklicht als nicht verwirklicht sein könnten.
Mit anderen Worten jeder Ort ist etwas Kontingentes.
Da nun kein Körper sein kann, ohne einen Ort zu haben,
so ergibt sich auch unter diesem Gesichtspunkte die
Kontingenz der Körper, so wahr der Satz gilt: Wenn
etwas nicht ohne etwas sein kann, was kontingent ist, so
muß es selbst kontingent sein. Wie der Ort, so sind auch
Ruhe und Bewegung kontingent, und wiederum kann
ein Körper ohne das eine oder andere nicht gedacht
werden. Wir sehen die Körper einen Ort verlassen und
einen anderen einnehmen, von Ruhe zur Bewegung,
von Bewegung zur Ruhe, von einer bestimmten Ge-
schwindigkeit zu einer anderen übergehen. Kein Zweifel
also, daß kein Körper unmittelbar notwendig ist.
425. Beide Argumente lassen sich auch vereinigen.
Was ist beim Körper Prinzip der Individualität und
numerischen Verschiedenheit? Der Ort, und da dieser
kontingent ist, so ist es auch der Körper.
426. Der Kern des Argumentes, womit wir die Kon-
tingenz alles Dreidimensional- Räumlichen nachgewiesen
haben, war die Einsicht, daß immer unendlich mehr
Orte bloß möglich als verwirklicht und erfüllt sind. Es
fußt auf dem Gegensatz zwischen der Unendlichkeit mög-
licher und der Endlichkeit der jeweils verwirklichten
Raumdinge. Darum läßt sich dieser Beweis ebenso
zwingend für eine Welt von beliebiger Zahl der Dimen-
sionen führen. Er stützt sich ja nicht auf die besondere
Körper und Seelen nicht unmittelbar notwendig 413

Zahl Drei, vielmehr wäre er, falls wir statt im Raume in


einem Topid von vier, fünf, n-Dimensio:uen lebten, für
die dann in der Erfahrung gegebenen Steroiden (Ana-
loga der Körper) ebenso anwendbar.
427. Um ihn freilich so inne zu haben, daß allen Ein-
wänden begegnet werden kann, muß man einige Ver-
trautheit mit den Grundlehren der Megethologie (all-
gemeine Größenlehre) und der Synechologie (Lehre vom
Kontinuum) haben. Man wird dann leicht den Begrüf
eines „krummen Raumes" (oder krummen Topides von
einer anderen Zahl von Dimensionen, als unser Raum sie
aufweist) als absurd erkennen. Dieser aber spukt heute
vielfach in den Köpfen der Naturforscher und hat sie dazu
verleitet, die verläßlichsten Gesetze und so insbesondere
auch die Endlichkeit des Raumes in Frage zu stellen.
In Wahrheit ist der Gedanke, daß der Raum kein
ebener, sondern gekrümmt sei, ebenso widersinnig wie
der einer krummen Zeit. Damit Raum den Raum, Zeit
die Zeit fortsetze, müssen sie in allen Teilen homogen
sein, d. h. es müssen alle Richtungen, die in einem Punkte
koinzidieren, in jedem (inneren) Teile des Kontinuums
sich finden 12 ~).
Eine Bewegung kann in krummer Richtung gehen, eben-
so eine Grenze (Linie, Fläche), nicht aber ein Raum oder
eine Zeit, welche keine Grenzen eines mehrdimensionalen
Kontinuums sind. Die Bewegung aber ist nicht wie Raum
und Zeit ein primäres Kontinuum, sondern sekundär
kontinuierlich (zeitlich-räumlich). Das Räumliche er-
scheint dabei in unvollkommener Teleiose 125 ) sich erhal-
tend, es grenzt aber zeitlich ein eben-räumliches Drei-
dimensionales an ein Eben-Räumliches an, und so zeigt
auch hier, was in Kontinuität steht, die sämtlichen
gleichen Richtungen.
Eben auf dieser Homogenität des Raumes beruht es,
daß ein Raumteil ebensogut wie jeder andere mit der
Natur des Körpers sich verträgt, daß also statt der je-
weils verwirklichten Körper beliebige andere ohne Ab-
414 Kontingenz beweis

surdität denkbar sind. So ist denn kein Körper unmittel-


bar notwendig.
428. Auch von unserem seelischen Leben ist es leicht
nachweisbar, daß es nicht unmittelbar notwendig ist.
Bei jedem Schluß bemerken wir, daß er durch das Denken
der Prämissen verursacht ist, bei jeder Wahl, daß sie
durch die Motive gewirkt wird. Auch erhält sich wie
unser Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen, so
jeder andere psychische Akt nicht in Analogie zum Ge-
setz der Trägheit, sondern nur durch eine beständig sich
erneuernde Verursachung. Und was das Subjekt dieser
Tätigkeiten anlangt, so denken die einen es körperlich, und
in solchem Falle wäre der Beweis mangelnder unmittel-
barer Notwendigkeit bereits von uns erbracht, und wenn
andere es unkörperlich denken, so müssen sie doch zu-
geben, daß mit einer indefiniten Vervielfältigung der
physiologischen Bedingungen seines Auftretens es auch
selbst indefinit vervielfältigt gedacht werden könnte.
Da nun aber eine aktuell unendliche Vielheit wie auf
körperlichem, so auf geistigem Gebiete unmöglich ist,
so zeigt sich, daß auch hier die unmittelbare Notwendig-
keit geleugnet werden muß.
429. Wie ist nun aber dasjenige, was unmittelbarer Not-
wendigkeit ermangelt, zu denken? Zwei Annahmen er-
geben sich als allein möglich. Entweder es entbehrt
jeglicher Notwendigkeit, auch der mittelbaren, die es
hätte, wenn es von etwas Notwendigem gewirkt wäre;
dann ist es absolut zufällig zu nennen - oder es ist kon-
tingent bloß in dem Sinne, daß es nur sein kann, wenn es
von einem anderen gewirkt ist.
Um darüber zu entscheiden, müssen wir untersuchen,
ob denn ein absolut Zufälliges überhaupt möglich sei.
II. Wir kommen damit zu der Erörterung des allge-
meinen Gesetzes, von dem wir oben gesagt haben, daß es
ebenfalls eine Prämisse für unseren Beweis bilde.
430. Die Unmöglichkeit eines absolut Zufäl-
ligen ergibt sich auf Grund folgender Erwägungen.
Unmöglichkeit absoluten Zufalls 415
Alles, was ist, ist gegenwärtig, wie alles, was war,
gegenwärtig war, und was sein wird, gegenwärtig sein
wird.
Auch ist alles, was ist, mit allem anderen, was ist, zu-
gleich, und nur der eine Unterschied besteht, daß von
dem, was gegenwärtig ist, das eine als Anfang, das andere
als Ende eines Verlaufes ist, während das dritte als
innere Grenze eines Verlaufs sich darstellt und das, was
von ihm bereits verlaufen ist, mit dem, was erst verlaufen
wird, verbindet. In jedem Falle, auch in dem, wo man
von unverändertem Fortbestand spricht, hat man es,
genau besehen, mit einem kontinuierlichen zeitlichen
Wechsel zu tun, ohne welchen die Unterscheidung von
kürzerer und längerer Zeitdauer keinen Sinn hätte.
431. Wir haben in dem Gesagten anerkannt, daß nicht
alles, was ist, einem zeitlich kontinuierlichen Verlauf
angehören müsse, der sowohl nach der Seite der Vergangen-
heit vorbestanden hat als nach der Seite der Zukunft
fortbestehen wird. Allein der eine oder andere Zu-
sammenhang kann nicht fehlen. Es ist unmöglich, daß
etwas in demselben Augenblick abrupt anfange und en-
dige, nur etwa das ist denkbar, daß es, wie es jetzt ab-
rupt anfängt, in einem späteren Augenblick abrupt en-
digen werde, oder daß es, wie es jetzt abrupt endet, in
einem früheren Augenblick abrupt angefangen habe.
Immer finden wir eine Zwischenzeit, die, so klein man
sie denken möge, als Kontinuum indefinit viele Momente
unterscheiden läßt, welche Augenblicke bloß infinitesi-
malen Wechsels gewesen sind oder sein werden.
432. Es fragt sich nun, ob ein solcher bloß infinitesi-
maler Wechsel ohne Widerspruch denkbar sei, wenn er
als etwas absolut Zufälliges gegeben sein soll. Und
wir müssen diese Frage aufs entschiedenste verneinen,
denn einerseits müßte im Falle absoluten Zufalls in
jedem Augenblick, für sich genommen, ein abrupter
Wechsel ebenso wahrscheinlich, wenn nicht noch wahr-
scheinlicher sein als ein Fall kontinuierlicher Fortsetzung;
416 Kontingenz beweis

andererseits müßten, nach dem Gesagten, doch der Fälle


kontinuierlicher Fortsetzungen unendlich mehr sein als
der Fälle abrupten Wechsels, da immer zwischen je zwei
Fällen abrupten Wechsels unzählige kontinuierlicher Fort-
setzung liegen müssen, was widerspricht.
433. So ist denn der Beweis erbracht, daß nichts, was
ist, absolut zufällig sein kann. Da wir nun von den
Dingen der Erfahrung, den Körpern und den Seelen
nachgewiesen haben, daß sie auch nicht als unmittelbar
notwendig gelten dürfen, so ergibt sich, daß sie mittelbar
notwendig sind.
Wenn aber dies, so ist es unzweifelhaft, daß es etwas
anderes geben muß, was unmittelbar notwendig ist und
als erste, schöpferische Ursache von allem, was in unsere
Erfahrung fällt, betrachtet werden muß.
434. Vielleicht meint einer, dieser Schluß sei unstatt-
haft, genüge es doch, wenn irgend etwas das mittelbar
Notwendige in unserer Erfahrung notwendig mache, das
selbst nur mittelbar notwendig ist. Natürlich werde es
dann selbst wied3r ein anderes zur Vorbedingung haben,
aber auch dies könne vielleicht nur mittelbar notwendig
sein und so ins Unendliche.
Allein er widerlegt sich leicht, würde doch in solchem
Falle die ganze Reihe von dem, was man mittelbar not-
wendig nannte, als zufällig erscheinen und alles von uns
gegen die Möglichkeit des absoluten Zufalls Gesagte
bliebe in Kraft. (Man denke z. B. eine Aufeinanderfolge
von Körpern, deren einer den andern produzierte. Könnte
eine solche irgendwo, so könnte sie in gleicher Weise
auch an einem beliebigen andern Punkte des Raumes
stattfinden, aber nicht an allen, somit erschiene jede zu-
fällig.)
Der psychologische Beweis
435. \Vir kommen zum vierten Beweise für das Dasein
eines Schöpfers. Es ist der, den wir den psychologischen
genannt haben, der aber nicht mit demjenigen, welchen
DESCARTESso bezeichnete, und den ·wir früher als fehler-
haft nachgewiesen haben, verwechselt werden darf.
Er geht von der Tatsache aus, daß das Subjekt unserer
Bewußtseinszustände nicht der Leib oder ein Teil des-
selben, sondern eine ausdehnungslose Substanz ist. Da
die Materialisten dieser Auffassung widersprechen und
andererseits die, welche die Geistigkeit lehren, nicht in
der Art der Begründung übereinstimmen, seien hier kurz
die Gründe dargelegt, die mir entscheidend scheinen 128 ).
436. Mit Unrecht haben manche die Geistigkeit daraus
erschließen wollen, daß wir unsere Bewußtseinszustände
in evidenter innerer \Vahrnehmung und doch nicht als
etwas, was einen Ort habe und ausgedehnt sei, erfassen.
Der Schluß wäre bündig, wenn wir sicher sein könnten,
daß uns die innere Wahrnehmung unser Selbst in voll-
ständiger Bestimmtheit zeige. Denn ihre Evidenz be-
sagt zwar, daß alles, was sie uns zeigt, auch wirklich vor-
handen ist, nicht aber auch schon, daß sie uns keinen
Zug daran unterschlägt.
In der Tat läßt sich leicht erkennen, daß sie der Voll-
ständigkeit, der vollen Bestimmtheit entbehre.
Vor allem der individuellen. Sie zeigt uns nämlich
nichts, was nicht gleichzeitig auch an einem andern Sub-
jekte vorgehen könnte. Keine der psychischen Tätig-
keiten, die wir in uns erleben, ist so beschaffen, daß nicht
zahllose andere Subjekte sie in gleicher \Veise üben könn-
418 Psychologischer Beweis

ten. Es können aber, nach dem Grundsatze der Identität


des Ununterscheidbaren, nicht zwei Dinge einander in
jedem Betracht gleichen. Zum mindesten müssen sie
individuelle Differenzen haben, wenn sie schon in allen
andern Stücken übereinstimmen.
Diese individuelle Differenz, das was unser Ich im
eigentlichsten Sinne ausmacht, zeigt uns die innere Wahr-
nehmung nicht, es bleibt uns transzendent. Wir können
nur sagen, daß es nicht in der Art der Tätigkeiten liegen
kann, da diese bei vielen Individuen die gleichen sein
können, sondern innere Differenz des Subjektes selbst
sein muß.
Es verhält sich damit ähnlich wie mit den Gegen-
ständen der äußeren Wahrnehmung. Der Qualität nach
können zahllose gleich sein, aber am selben Orte kann
immer nur eines sich finden. So ist es hier der Ort, der
die Indiyidualität ausmacht. Von ihm aber wissen wir
nicht, was er in individuo ist. Absolute Ortsbestim-
mungen fallen nicht in unsere Anschauung, sondern nur
relative. Wir schauen nicht an, wo ein Sehding ist, son-
dern bloß, wie weit und in welcher Richtung es von
anderen absteht.
Immerhin genügt dies, um uns den Begriff des Ört-
lichen im allgemeinen gewinnen zu lassen. Wenn wir
auch nicht erkennen, worin ein körperliches Subjekt
sich in individuo von jedem andern körperlichen Sub-
jekte unterscheidet -- das wäre der absolute Ort -,
so wissen wir doch, was körperliches Subjekt im allge-
meinen ist.
Hingegen irren diejenigen, die glauben, daß wir uns
in innerer Wahrnehmung als ausdehnungslose Sub-
stanzen erfaßten. Die Unbestimmtheit ist hier noch
größer als in äußerer Wahrnehmung. Jeder nimmt sich
eben nur als ein Subjekt wahr, das gewisse Bewußtseins-
zustände hat, ohne der individuellen oder auch nur der
gattungsmäßigen Bestimmtheit dieses Subjektes un-
mittelbar inne zu werden.
aus der Geistigkeit der Seele 419
Daraufhin aber erscheint, obwohl wir uns nicht als
körperlich wahrnehmen, die Körperlichkeit nicht ohne
weiteres ausgeschlossen*).
437. Ja, die Hypothese der Körperlichkeit bietet sich
als die nächstliegende dar, da die äußere Wahrnehmung,
wenngleich auch sie uns die individuellen Differenzen
der Dinge (z.B. der Sehdinge) unterschlägt, sie uns doch
als körperliche Substanzen zeigt. ·wo wir also Sub-
stanz nicht in äußerster Unbestimmtheit, nicht nur als
Substanz anschai;.en, schauen wir sie als ausgedehnte
Substanz an.
438. So ergibt sich denn die Notwendigkeit, das, was
die innere Wahrnehmung uns zeigt, genau zu studieren
und mit dem, was uns über das Körperliche am zuver-
lässigsten festgestellt erscheint, zu vergleichen und darauf-
hin zu entscheiden, ob die Annahme der Körperlichkeit
der Seele irgendwie haltbar ist. Wenn sie es wäre, so
würde sie gewiß sofort als die vor allem wahrscheinliche
sich ergeben.

*) Wäre uns das innerlich Erfaßte in seiner individuellen


Differenz anschaulich, so wäre nichts leichter, als über die
Frage, ob es körperlich sei, zu entscheiden, und die Ent-
scheidung würde negativ ausfallen. Müßten doch in diesem
Falle unsere Bewußtseinszustände uns lokalisiert erscheinen,
so wahr der Ort das individualisierende Moment des Körper-
lichen ist, ja in bezug auf diese Lokalisation den rapidesten
Wechsel zeigen, so wahr wir einen solchen mit der bewegten
Erde mitmachen würden. - Damit, daß man sich über den
Mangel individueller Bestimmtheit des innerlich Wahrge-
nommenen täuschte, hängt es auch zusammen, daß manche
den Beweis der Unkörperlichkeit sich als etwas ganz Leichtes
vorstellen. So CICERO, wenn er darauf hinwies, daß kein
Urteil rund oder viereckig sei. Und vielleicht auch PASCAL,
wenn er fragt: ,,Was denkt in uns, der Daumen oder irgend-
welches andere Glied 1 - Man sieht, daß es etwas Unkörper-
liches sein muß." Dennoch erkennt derselbe PASCAL an
anderer Stelle sehr wohl und hebt es mit Nachdruck hervor,
daß wir nichts namhaft machen könnten, wodurch die eine
menschliche Seele sich von der anderen individuell unter-
scheidet.
420 Psychologischer Beweis

439. Was uns hinsichtlich der Natur des Körperlichen


feststeht? Trotz der großen Erfolge, die man der Natur-
wissenschaft nachrühmt, fast nichts. Schier in allen
wichtigen Punkten herrscht Uneinigkeit darüber und
in neuester Zeit mehr noch als früher.
Wir sagten schon, daß uns die Vorstellung dessen, wo-
durch sich ein absoluter Ort vom andern unterscheide,
abgeht. Sie fehlt uns aber auch von den Qualitäten,
welche die wirklichen Orte erfüllen. Wir besitzen keine
Vorstellung von ihren spezifischen, noch auch nur von
ihren generischen Differenzen. In dieser Beziehung ist
die Psychologie der Naturwissenschaft weit überlegen.
Sie schöpft aus innerer Erfahrung eine große Fülle von
Begriffen, so den allgemeinen Begriff des Bewußtseins
nicht nur, sondern auch weniger allgemeine, wie die des
Vorstellens, Urteilens, Interessenehmens und noch spe-
ziellere, wie die des anerkennenden und verwerfenden,
blinden und evidenten Urteilens, des Liebens und Has-
sens und Vorziehens usw.
440. Daß die Natur der Körperwelt ein Problem für
den menschlichen Geist sei, kam ihm erst spät zum Be-
wußtsein, weil er ursprünglich, durch einen natürlichen
Instinkt geführt, in blindem Vertrauen alles das für wirk-
lich nimmt, was die äußere Wahrnehmung zeigt. Allein
mit der Zeit fand er sich dadurch auf Widersprüche ge-
führt, und heute ist das naive Weltbild des primitiven
Menschen längst widerlegt.
441. Es folgt eine Theorie, nach welcher alles Körper-
liche nur Differenzen von Ort, Ausdehnung, Gestalt, Ruhe
und Bewegung zeigen sollte und alle körperlichen Pro-
zesse rein mechanisch verliefen. Gesetze der Undurch-
dringlichkei t, Trägheit, Gleichheit von Wirkung und
Gegenwirkung, Komposition der Kräfte sollten alles
Körperliche beherrschen.
442. Bei solcher Anschauung wäre die Unkörperlich-
keit des Denkenden leicht darzutun, denn die innere
Wahrnehmung zeigt uns evident solches, was jedenfalls
Die Natur des Körperlichen 421
nicht in Differenzen räumlicher Natur sich auflösen läßt.
Doch auch diese extrem mechanistische Auffassung er-
wies sich mehr und mehr als unhaltbar, und nun trat ein
sogenannter Alsobismus an die Stelle. Einzelne gingen
darin so weit, daß sie sich nicht einmal erlauben wollten,
zu sagen, daß überhaupt eine körperliche Außenwelt be-
stehe, vielmehr nur, die Erscheinungen verliefen so, als
ob sie bestehe. Wieder andere bezweifelten die räumliche
Kontinuität. Doch die große Mehrheit erkennt an, daß
die Existenz einer körperlichen Außenwelt durch die Er-
fahrungen unendlich wahrscheinlich gemacht und auch
die Kontinuität in Raum und Zeit genügend gesichert
ist. Alles, was wir von Naturgesetzen festgestellt glau-
ben, käme zu Fall und müßte durch die kompliziertesten
und darum unwahrscheinlichsten Hypothesen ersetzt
werden.
443. Allein diese extravaganten Meinungen beiseite
gelassen, bleibt des Zweifelhaften genug. Vor allem, was
die Struktur der Materie anlangt. Der lange Zeit fest-
gehaltene starre Atomismus ist heute verlassen. Man hat
erkannt, daß die Atome keine letzten Einheiten sind
(Elektronen, Atomzertrümmerung).
Eine andere Streitfrage hat den Äther und sein Ver-
hältnis zur schweren Masse zum Gegenstande. Die einen
fassen ihn als Menge von Partikelchen auf, ähnlich den
Atomen, die andern als eine unbewegte kontinuierliche
Substanz, welche die schwere Masse durchdringt und die
Elektronen durchdringt und sich nach allen Seiten ins
Unendliche ausdehnt.
Man könnte den Äther aber auch als die eigentlich
alleinige Substanz auffassen und die Körper, inklusive
der Elektronen, als deren Modi, welche von einem Teile
der Substanz auf den andern übergehen und selbst wie-
der Eigenschaften unterliegen. Ähnlich wären auch die
Lichtstrahlen, elektrischen Strahlen als Modi, die von
einem Teile des Äthers zum andern sich fortpflanzen, zu
fassen, und auch von noch andern Strahlen, welche die
422 Psychologischer Beweis

Gravitation erklären sollen, würde dasselbe gelten. Der


Äther selbst, der zu einer einheitlichen, kontinuierlichen
Substanz würde, könnte dann auch, statt unendlich, im
Raume begrenzt gedacht we:::den, was die sonst zu fürch-
tende Dissipation der Modi ins Unendliche und so den
Untergang der Welt durch Auflösung verhinderte 127 ).
444. Bei solcher Divergenz der Meinungen droht für
uns bei der Untersuchung, ob die Seele körperlich sein
könne, jeder Anhalt zu fehlen. Doch können wir an dem
einen wenigstens als genugsam gesichert festhalten, daß
das Körperliche dreidimensional ausgedehnt oder, wenn
•es nur eine körperliche Grenze 128 ) ist, als solche einem
dreidimensional Ausgedehnten zugehörig ist.
445. Blicken wir nun auf das Psychische. Solches liegt
uns, wie gesagt, mit unmittelbarer Evidenz in der sog.
inneren Wahrnehmung vor. Und wir können hier auch von
absoluter Kenntnis spezifischer Bestimmungen sprechen.
446. Sehen wir näher zu, so erfaßt jeder nur seine
eigenen psychischen Modi. Glauben wir an ein uns frem-
des Seelenleben, so erschließen wir es in Analogie zu den
Modis, die wir als uns eigen finden.
44 7. Dieses „uns eigen" verlangt eine besondere Er-
klärung. Was wir von psychischen Tätigkeit:m unmittel-
bar wahrnehmen, zeigt sich sehr kompliziert, aber trotz
aller Komplikation zu einer realen Einheit gehörig 129 ). Es
handelt sich ganz unverkennbar um ein Ding mit vielen
Eigenschaften. Wäre, wenn wir sehen und hören, das
Sehen die Eigenschaft eines Dinges und das Hören die
Eigenschaft eines andern, wie könnte es dann zu einem
Vergleich von Farben und Tönen kommen 1 Er wäre so
wenig möglich, wie bei einem Paar von Menschen, von
denen der eine die Farbe sähe und der andere den Ton
hörte usw. Dies ist die Tatsache der Einheit des Bewußt-
seins. Von keinem der beteiligten Dinge könnte auch
mehr als der auf es fallende Teil innerlich und mit Evi-
denz wahrgenommen sein, alle andern nur etwa wie
Objekte äußerer Wahrnehmung.
Semimaterialismus des Am:BTOTELES 423
448. So sicher die Einheit des Dinges feststeht, zu
welchem alles Psychische, das wir wahrnehmen, gehört,
so ist doch, wir schon gesagt, unsere Erkenntnis seines
Wesens zunächst ohne alle nähere Bestimmtheit. Den-
noch haben schon die großen Denker des Altertums
Gründe erbringen wollen, weshalb es nicht als drei-
dimensional ausgedehnt und überhaupt nicht als körper-
lich gedacht werden könne. Das bedeutendste Argument
war das des ARISTOTELES. Dieser ging von dem Ge-
danken aus, daß alles, was Eigenschaft eines Körpers sei,
so wie der Körper selbst dreidimensional ausgedehnt sein
müsse. Denken wir, die Bewegung und die Ruhe seien
Eigenschaften von Körpern, so muß auch die Bewegung
und die Ruhe dreidimensional ausgedehnt sein. Und das-
selbe gilt von Farbe, Kälte und andern Qualitäten. So
müßte denn jede unserer psychischen Tätigkeiten drei-
dimensional ausgedehnt sein, wenn sie einem Ding zu-
käme, das ein Körper ist. Nun könnte einer vielleicht
sagen, unser Sehen lasse in der Tat kontinuierliche Teile
unterscheiden, denn man könne so viele Teile des Sehens
unterscheiden als des gesehenen Bildes. Allein es gibt
andere Tätigkeiten, bei welchen das Gegenteil vorliegt,
wie z. B. wenn wir den Begriff „ein Ding", ,,eine Eigen-
schaft", ,,eine Relation", ,,ein Urteil" u. dgl. denken.
Wenn ein Körper diese Tätigkeit als Eigenschaft an sich
trüge, so könnte sie sich nicht auf seine Teile verteilen
und ebensowenig auf die Teile eines seiner Teile. Wir
müßten also annehmen, daß sie ihm als Ganzes nur
einem Punkt nach zukommt oder, wenn nicht dies,
sondern seinem ganzen Kontinuum oder einem ausge-
dehnten Teil seines Kontinuums nach, daß er nicht bloß
einmal, sondern in unencllichmaliger Wiederholung, also
unendlich vielmal zugleich die Tätigkeit übe. Das erstere
ist unmöglich, bezüglich des zweiten meint aber ARISTO-
TELES,es sei ungereimt, an eine solche unendliche Verviel-
fältigung zu glauben. Und so glaubt er sich vollberechtigt
zu dem Schlusse, daß das, was in uns jene höheren, be-
4Z4 Psychologischer Beweis

grifflichen Denktätigkeiten übe, unkörperlich und über-


haupt unausgedehnt, also etwas Geistiges sei.
449. Es lohnt sich wohl, noch einiges hinzuzufügen,
um zu zeigen, wie sich daraufhin die ganze Lehre von
der menschlichen Seele bei ARISTOTELES höchst eigentüm-
lich gestaltet hat. ARISTOTELEShält es ebenso für un-
möglich, daß eine unausgedehnte Substanz einen aus-
gedehnten Modus, wie daß eine ausgedehnte Substanz
einen unausgedehnten Modus habe. Nun sahen wir, daß
beim Sehen die Tätigkeit eine gewisse Kontinuität zeigt,
und Ähnliches gilt auf andern sinnlichen Gebieten; folg-
lich glaubte ARISTOTELES,für diesen Teil unserer Seelen-
tätigkeit ein körperliches Organ als Subjekt denken zu
müssen und die Behauptung der Geistigkeit des Sub-
jekts auf die sog. übersinnlichen Tätigkeiten beschränken
zu sollen. So war denn seine Lehre von der menschlichen
Seele sozusagen semimaterialistisch, wie es, nebenbei be-
merkt, auch schon die von PLATO war.
450. Diese Lehre ist aber aus mehrfachen Gründen
zu beanstanden.
Richtig allerdings ist, daß eine Seelentätigkeit, die
keine Teile hat, sich auch nicht auf die Teile eines Kör-
pers Stück um Stück verteilen läßt, und wieder, daß sie
ihm auch nicht einem einzigen seiner Punkte nach zu-
kommen kann, während alle andern nicht die gleiche,
noch auch eine bloß infinitesimal von ihr verschiedene
Tätigkeit üben. Dagegen ist es nicht ohne weiteres so
ungereimt, wie ARISTOTELESglaubt, daß diese Seelen-
tätigkeit sich in einem Kontinuum in stetiger Wieder-
holung Punkt für Punkt wiederfinde, wie ja auch andere
Eigenschaften, z. B. rot, wenn eine ganze Fläche rot ist.
Auf der andern Seite ist auch die Behauptung nicht
richtig, daß einem unausgedehnten Ding kein kontinuier-
licher Modus zukommen könne. Es gilt dies ähnlich wie
bei der Frage von Einheit und Vielheit. Mit der Vielheit
der Subjekte müssen sich auch die Modi vervielfältigen.
Dagegen kann recht wohl einem einzigen Subjekt eine
Einzig diskutable Form des Materialismus 425

Vielheit von Modis zukommen, und wenn eine Vielheit


überhaupt, so wohl auch eine kontinuierliche Vielheit
(Vorstellung einer Zeit in einem Augenblicke). Es fehlt
daher viel daran, daß wir die an und für sich so befremd-
liche Anschauung des ARISTOTELESuns eigen machen
müßten 130 ).
Vielmehr werden wir in gewisser Beziehung sie als ent-
schieden irrig ablehnen, in anderer aber zunächst unent-
schieden bleiben, welche von zwei denkbaren Annahmen
wir bevorzugen sollen.
451. Entschieden verwerflich ist der Unterschied, den
ARISTOTELESzwischen den sinnlichen und den sog. über-
sinnlichen psychischen Funktionen macht, indem er die
ersteren, Teil für Teil, verschiedenen Teilen eines Subjekts
zukommen läßt. Es würde dies der Einheit des Bewußt-
seins entgegen sein 131 ). Auch die Lehre von einer teil-
weise geistigen, teilweise körperlichen Seele würde schon
durch diese Zweiheit mit der Einheit des Bewußtseins
unverträglich sein. Das also ist der entschieden zu ver-
werfende Lehrsatz.
462. Der Punkt, der zunächst zweifelhaft bleibt, ist
aber der, ob das, was in uns denkt, ein Geist oder etwas
körperlich Ausgedehntes ist, dem in der Art unser ganzes
Denken (Sehen, Hören, Lust, Schmerz, Phantasie, be-
griffliches Vorstellen, Glauben und Leugnen, Lieben
und Hassen, Hoffen und Fürchten, Begehren und Fliehen,
Vorziehen und Nachsetzen usw. usw.) zukommt, wie das
Rote einer Fläche, über die es gleichmäßig ausgebreitet
ist1 32 ), oder ein Violett, das in infinitesimaler Variation
von einer ihrer Grenzen zur andern übergeht. In beiden
Fällen würde es vermieden, eine Grenze isoliert bestehen
zu lassen, was sich schlechterdings mit ihrer Natur nicht
vertrüge.
453. Welche der beiden Annahmen ist nun richtig1 -
Vielleicht meint einer die Frage einfach dadurch zu-
gunsten der Geistigkeit entscheiden zu können, daß unter
Annahme der Körperlichkeit nicht bloß von einer Seele,
426 Psychologischer Beweis

sondern. von einer Vielheit, ja indefiniten Vielheit von


Seelen in demselben Leib zu sprechen wäre, von denen
keine etwas. von der andern wüßte, und die sich darum
in ihrer Herrschaft über den Leib fort und fort stören
müßten.
Allein bei völliger Gleichheit wäre dies nur dann der
Fall, wenn man an einen Indeterminismus glaubte 133).
Und es könnte einer meinen, die Zerlällungserschei-
nungen bei niederen Tieren 134 ) machten zunächst für
diese wenigstens den Gedanken 136 ) sehr wahrscheinlich.
Wir müssen also die Frage, und insbesondere mit Bezug
auf die menschliche Seele, in noch sorgfältigere Er-
wägung ziehen, und hier werden wir die Forschungen auf
dem Gebiete der Physiologie des Nervensystems und ins-
besondere des Gehirns zur Hilfe zu nehmen haben.
454. Das Vorurteil DESCARTES',das auch noch von
HERBART geteilt wurde, und dem unzweifelhaft auch
LEIBNIZ seine Zustimmung gegeben hatte, war, daß die
Seele in einem Organ sein müsse, das nur einmal und
nicht paarig im Gehirn vorkomme. Er entschied sich
für die Zirbeldrüse, HERBARTfür die Brücke; beide An-
nahmen sind vollständig widerlegt. FLOURENSglaubte
als Sitz der Seele den von ihm sog. nreud vital gefunden
zu haben. Wird er durchstochen, so fällt der mächtigste
Stier ohne jede Zuckung tot zu Boden. Allein auch diese
Hypothese ist längst widerlegt; wenn man, statt durch
einen brüsken Schnitt, in langsamer Weise verfährt, so
kann man bei Kaninchen den sog. Lebensknoten ganz
herausschneiden und das Tier noch tagelang am Leben
erhalten. Auch hat noch FLOURENSselbst später nach-
gewiesen, daß der Lebensknoten ebenso paarig ist wie
das Großhirn, und daß jede Hälfte für sich entfernt wer-
den kann, ohne daß die Fortsetzung des Lebens unmöglich
gemacht wird. Weit entfernt davon, im Lebensknoten
den Sitz des Denkens zu vermuten, ist man heute viel-
mehr allgemein davon überzeugt, daß, wenn überhaupt
das Denken ein körperliches Organ zum Subjekt hat,
Einzig diskuta.ble Form des Materialismus 427

dies nichts anderes als das Großhirn sein könne. Dieses


müssen wir also anatomisch und physiologisch ins Auge
fassen.
455. Anatomisch steht fest, daß es zwei Hemisphären
unterscheiden läßt, die einander in der Art entsprechen,
daß keine derselben mehr als die andere Anspruch darauf
hat, als Subjekt des Denkens angesehen zu werden. "'·ir
müßten also beide gleichmäßig dafür erklären, was dann
soviel hieße, wie daß, wenn wir denken, sich in der
einen wie andern Punkt für Punkt das gleiche Denken
in Vollständigkeit wiederholt. Und recht gut würde
dazu stimmen, daß jeder nicht allzu große Teil des Ge-
hirn exstirpiert werden kann, ohne daß in dem, was
bleibt, die Kontinuität mit dem früheren Denken ver-
loren wird. Allein etwas anderes tritt der Annahme hin-
dernd in den Weg. Die völlige Gleichheit des Denkens
und Wollens würde eine Gleichheit des Subjekts und
seiner Zustände verlangen, wie sie für die beiden Hemi-
sphären gar nicht denkbar ist. Man erwäge nur die
Unterschiede im Grade der Erwärmung oder im Falle
einer elektrischen Affektion oder gar im Falle ein-
seitiger krankhafter Entartung. So ist denn hier ein
klarer Beweis gegen die Hypothese erbracht.
456. Es muß noch hinzugefügt werden, daß, wenn wir
das Gehirn als Subjekt des Denkens betrachteten und,
wie es dann notwendig wäre, ihm Teil für Teil und
Punkt für Punkt dieselbe Denkfunktion zuschrieben,
wir durchaus dem widersprechen würden, was die
Materialisten unter den Physiologen vermeinen. Sie
glauben nämlich, spezielle Denkfunktionen als Funk-
tionen verschiedener Teile des Gehirns nachgewiesen zu
haben, so z.B. für die Gedächtniserscheinungen, ja für
ganz spezialisierte durch die merkwürdigen Erschei-
nungen der Amnesie. MEYNERTwollte es sogar plausibel
machen, daß jede andere Vorstellung eine andere Gang-
lienzelle des Gehirns zum Subjekte habe; mit einer
solchen besetzt, sei diese zur Aufnahme jeder andern
428 Psychologischer Beweis

unfähig. Nervenfäden, die sie verbinden, sollten dann es


möglich machen, die eine von der andern zu prädizieren.
Indem er die Ganglienzellen zählte, hielt er es auch bei
ihrer ungeheuren :Menge für ausgemacht, daß ihre Zahl
für alle Vorstellungen, die einer sich je im Leben bildete,
ausreichend sei. Das alles ist im Hinblick auf die aus
der Einheit des Bewußtseins sich ergebenden Folgerungen
ganz und gar absurd, und alles das, was dafür spricht, daß
verschiedene Teile des Gehirns uns bei unserem Denken
verschiedene Dienste leisten, ergibt darum aufs neue einen
Beweis, daß ihr Dienst nicht darin besteht, daß sie selbst
das Subjekt des Denkens sind, sondern es in einem andern
Subjektmitbedingen. Und so ist es denn nunmehr wirk-
lich mit aller Strenge erwiesen, was DESCARTESund
andere vorschnell angenommen hatten, daß, was in uns
denkt, nicht etwas Körperliches ist, daß es vielmehr für
etwas Geistiges gehalten werden muß.
457. Als solches kann es dann, obwohl selbst unaus-
gedehnt, in der Art in einem Ausgedehnten, wie unser
Gehirn es ist, gegenwärtig gedacht werden, daß es nicht
bloß von einem Punkte aus Einwirkungen empfängt,
sondern von allen Teilen eines ausgedehnten Organs, und
daß es ebenso auf alle Teile desselben eine Einwirkung
übt, ganz im Einklang mit dem negativen Resultat der
Forschung nach einem punktuellen Seelensitz.
Verweilen wir noch einen Augenblick, um uns noch
mehr davon zu überzeugen, daß die Verschiedenheit der
Dienste, welche die Physiologen verschiedenen Teilen
des Gehirns für unsere psychischen Funktionen zu-
schreiben, vollständig gesichert ist. Man würde sie sogar
annehmen müssen, wenn man die so merkwürdigen Be-
obachtungen der Aphasie und anderer partieller psychi-
scher Störungen infolge von lokalen Verletzungen des
Gehirns nicht gemacht hätte. Die psychischen Tätig-
keiten, wie wir sie in einem Augenblick üben, stellen sich
als ein sehr kompliziertes Ganzes dar, so schon durch
die Vielheit gleichzeitiger Empfindungen und Affekte
Geistigkeit der Seele 429
und noch viel mehr durch das begriffliche Denken und
die Urteile und Gemütsbewegungen, die sich daran
knüpfen. Und dieses Ganze ist nicht etwa, wie die Ge-
stalt, die ein Körper angenommen hat, etwas, was an
und für sich beharrt, bis es einmal durch Umwandlung
zu einer andern Form geführt wird, sondern muß, um
fortzubestehen, in jedem Moment neu verwirklicht wer-
den. \Vie könnte nun das Gehirn dies leisten ohne ein
sehr mannigfaches Funktionieren der einzelnen Teile,
von denen jeder einen eigentümlichen Beitrag liefert.
Nicht aus der komplizierten Struktur des Gehirns, sondern
aus einer ganz unermeßlichen Komplikation, die in jedem
einzelnen Punkt gegeben wäre, würde die Fülle und Ord-
nung, die in unserem psychischen Denken gegenwärtig
besteht, als \Virkung begriffen werden müssen. Ganz
anders, wenn die Funktionen verschiedener Teile des
Gehirns, welche uns bei unserer psychischen Betätigung
dienen, verschieden sind und unsere Seele mit jedem
dieser verschiedenen Teile gleichmäßig in unmittelbarer
Kausalbeziehung steht. Dann begreift es sich, daß sie
entsprechend der komplizierten Struktur des in mannig-
facher Weise dienenden Organs ein Ganzes von Denk-
tätigkeit aufweist, welches selbst so außerordentlich
kompliziert ist. Die Entdeckungen PFLÜGERS136 ) und
anderer unserer Physiologen entsprechen also ganz dem,
was wir erwarten mußten, und so finden wir denn auch,
daß PFLÜGER sich in aller Entschiedenheit zugunsten
der Geistigkeit der Seele, die von allen den verschie-
denen Organen her unmittelbar verschiedene Einflüsse
empfängt, ausspricht. Auch FLOFRE:NS war von ihr
überzeugt.
458. Noch etwas anderes stimmt zu dem aul solchem
\Vege gefundenen Resultat. Unsere Erinnerungen stellen
uns eine Kette von Ereignissen dar, an welche wir mit
einem instinktiven Drang zuversichtlich zu glauben ge-
neigt sind, obwohl dieser Glaube sowenig als der an die
körperliche Außenwelt durch unmittelbare Evidenz ge-
430 Psychologischer Beweis

rechtfertigt erscheint. Und diese Kette von Erlebnissen


betrachten wir mit derselben instinktiven Zuversicht als
etwas, was ein und dasselbe Individuum angeht. Damit
hängt zusammen, daß wir auf gewisse frühere Taten als
von uns erworbene Verdienste mit Befriedigung zurück-
blicken, während wir uns anderer vor uns selbst schämen
und sie bitterlich bereuen. Wir sind gar nicht imstande,
uns von dieser Auffassung loszumachen. Allein nur,
wenn das Subjekt der Denktätigkeit ein geistiges ist,
kann sie richtig genannt werden. Wäre es körperlich, so
wäre das Subjekt jener Erlebnisse, von denen das Ge-
dächtnis erzählt, gar nicht mit dem Subjekt der Denk-
tätigkeiten, welche die innere Wahrnehmung uns zeigt,
id.::ntisch. Dies ergibt sich sowohl, wenn man auf den
steten Stoffwechsel im Gehirn achtet, als auch, und noch
einfacher, wenn man mit dem Nachweis bekannt ist, daß
schon mit der bloßen Dislokation jeder Körper ein indi-
viduell anderer wird*).
So wahr also keiner aufhören kann, sich mit dem in
dem Gedächtnis Erscheinenden individuell identisch zu
denken und auch ein in der irdischen Geschichte daran
sich knüpfendes Zukünftiges als sein Selbst zu betrachten
und sich für sein Glück und Wehe als sein eigenes zu inter-
essieren, so wahr ist es auch, daß er konsequentermaßen
das, was in ihm denkt und fühlt, nicht für etwas Körper-
liches haltc.n kann, sondern als etwas Geistiges ansehen
muß. Es ist zuzugestehen, daß dieses Argument nicht
so wie das früher erbrachte geradezu evident genannt
werden kann, allein, daß es aller Wahrscheinlichkeit ent-
*) Zwei Dinge müssen in irgendwelcher Beziehung von-
einander verschieden sein nach dem Principium identitatis
indiscernibilium. Das völlig Unterschiedlose ist identisch.
Nun können aber zwei Körper in jedem Betracht (Gestalt,
Größe, Qualität) einander völlig gleichen, nur nicht in bezug
auf den Ort, den sie einnehmen. Somit ergibt sich dieser
als dasjenige, was die Individualität des Körpers ausmacht.
Von zwei Atomen Sauerstoff, die den Platz vertaueohen, wäre
jedes in das andere verwandelt.
Geistigkeit der Seele 431
behrte, wird man kaum behaupten können, und so kommt
es denn auch, nachdem die frühere Erörterung in exakter
Weise den Beweis erbracht hat, immerhin als eine will-
kommene Verifikation hinzu.
459. Gewiß könnte auch noch manches weitere vor-
gebracht werden, was in seiner Art als eine neue Veri-
fikation für die Geistigkeit erschiene. So z. B. könnte
darauf hingewiesen werden, daß sich nie eine erworbene
Vorstellung und ein erworbenes ·wissen von den Eltern
auf die Kinder vererbt, was durch seinen Gegensatz gegen
andere sich vererbende Eigentümlichkeiten im Fall,
daß die Seele ein leibliches Organ wäre, befremdlich ge-
nannt werden müßte. Hier müßte ich aber auf ganz neue
langwierige Erörterungen eingehen, ich müßte den ganzen
Streit über die Möglichkeit der Vererbung einer im Leben
neu erworbenen Eigenschaft, der mit Heftigkeit zwischen
WEISMANN, der sie leugnet, und der Mehrheit anderer
Darwinianer, die sie behaupten, entbrannt ist, darlegen.
Ich müßte zeigen, wie WEISMANNauch von seinem Stand-
punkt die allmähliche Herausbildung der erstaunlichsten
Instinkte durch Vererbung erklären will, um schließlich
erkennen zu lassen, daß vom Standpunkt aller darwi-
nistischen Parteien die allgemeine Tatsache mangelnder
Vererbung von sinnlichen Vorstellungen, Verstandes-
begriffen und Wissen das Gegenteil von dem ist, was
man unter Voraussetzung der Körperlichkeit der Seele
zu erwarten hätte. Dadurch würde ich Ihnen neue An-
strengungen zumuten, welche zu dem daraus sich er-
gebenden Gewinn in keinem Verhältnis ständen. Als
einen neuen strengen Beweis könnte man ja ihr Er-
gebnis nicht betrachten, während in unseren schon durch-
laufenen Erörterungen ein strenger Beweis wirklich ge-
geben ist, der darum selbst genügend genannt werden
muß.
460. Der Nachweis der Geistigkeit der Seele ist der
schwierigere Teil des psychologischen Beweises für den
Schöpfer. Der letzte Schritt ergibt sich leicht.
432 Psychologischer Beweis

Die ausdehnungslose Seelensubstanz kann nicht durch


Zeugung von den elterlichen Organismen abstammen,
muß also entweder vorher bestanden haben oder in einem
bestimmten Zeitpunkte der embryonalen Entwicklung
entstanden sein.
Gegen die erste Annahme spricht, daß in nichts und
bei keinem sich die geringste Spur solcher Präexistenz
zu erkennen gibt, während doch andererseits die Seele
von der Art ist, daß die früheren Erlebnisse auf alle
folgenden Zeiten Einfluß üben.
So verdient denn die zweite den Vorzug 137 ). Dann
aber zeigt sich womöglich noch deutlicher als für die
Körper, daß sie durch ein bewußt wirkendes Prinzip
schöpferisch hervorgebracht sein müssen. Denn daß
ein Geist einen Körper wirken könne, wenn er eine
Vorstellung von ihm hat, ist leichter annehmbar, als
daß umgekehrt aus bewußtlosen Prinzipien etwas, was
Bewußtsein hat, hervorgehe. (Ähnlich, wie eher Be-
wegung zur Ruhe, als Ruhe zur Bewegung führen
kann 138).)
461. Freilich müssen wir, wenn wir die Seelen durch
Schöpfung entstanden denken, mit einer Sukzession von
Schöpfungsakten rechnen, während viele doch die Schöp-
fung mit einem einzigen Akte abgeschlossen denken.
Aber nichts berechtigt sie dazu. Im Gegenteil, der opti-
mistische Gedanke, welcher den größten Theisten als
Konsequenz des Gottesglaubens galt, scheint eine solche
Folge von neuen Schöpfungsakten geradezu zu fordern.
Eine voll realisierte Unendlichkeit nach Menge und Aus-
dehnung ist ja in keinem Zeitpunkte erreichbar.
Wird man einwenden dürfen, daß damit das Wunder
in Permanenz erklärt wäre 1 Keineswegs, wofern wir nur
das schöpferische Wirken der ersten Ursache nicht regel-
los willkürlich denken, sondern als Ausfluß eines einheit-
lichen und unverbrüchlich festgehaltenen Weltplanes.
Was speziell die Schöpfung der Seelen anlangt, so ist
es als ein Gesetz anzusehen, daß eine solche immer und
Geistigkeit der Seele 433
notwendig entsteht, sobald ein Organismus zur Auf-
nahme der Wechselwirkung mit ihr reif geworden ist.
462. Aber ist eine solche überhaupt denkbar zwischen
zwei so verschiedenen Dingen, wie es ein Organismus und
eine ausdehnungslose, unkörperliche Substanz ist? Und
wie erklärt sich dann, daß meine Seele nur auf diesen
meinen Körper unmittelbar einzuwirken vermag, während
sie ihm, als etwas, was überhaupt keinen Ort hat, nicht
räumlich näher stehen kann als irgendeinem andern?
Man hat in der Tat diese beiden Fragen in der Tendenz
aufgeworfen, die Annahme der Geistigkeit als unmög-
lich darzutun.
Allein bezüglich der ersten hat schon DESCARTESdar-
auf hingewiesen, daß wir auch nicht sagen könnten, wie
Körper auf Körper wirken, und sich anheischig gemacht,
dem, welcher ihm dies zeige, auch jene Frage zu beant-
worten. Wie treffend die Bemerkung war, erkennt man,
wenn man sieht, wie noch heute niemand die Tatsache
der Gravitation zu erklären vermag. Auch die Tatsache
der Trägheit, der Fortdauer einer Bewegung von unge-
minderter Geschwindigkeit in der Richtung der Tan-
gente, ist ao wenig selbstverständlich, daß Jahrtausende
sie verkannt haben. Selbst der große ARCHIMEDESahnte
von ihr noch nichts. Ihr Grund aber ist noch heute eine
qualitas occulta und wird eine solche wohl für immer
bleiben.
463. Nichtsdestoweniger wollte sich die Welt nicht bei
DESCARTES'Bemerkung beruhigen. Die mannigfachsten
Hypothesen: Okkasionalismus, prästabilierte Harmonie
(LEIBNIZ), Mehrheit der göttlichen Attribute mit durch-
gängig sich korrespondierenden Modi (SPINOZA)wurden
ausgedacht; man kam aber dabei auf keinen grünen
Zweig, vielmehr nur zu Ungereimtheiten. Fragt man
aber nach dem Warum eines solchen Benehmens, dem,
wie man meinen sollte, der Gedanke an unsere Unkennt-
nis der Natur unserer Seele in ihren spezifischen Diffe-
renzen hätte vorbeugen müssen, so ist zu antworten, daß
434 Psychologischer Beweis

man diese sich nicht genugsam klargemacht hatte. Nahm


doch DESCARTES selbst das Denken nicht für eine Eigen-
schaft, sondern geradezu für die Substanz der Seele 139 ).
Dazu kam die Meinung, daß nur Ähnliches Ähnliches
wirken könne, aber so heterogene Substanzen wie Geist
und Körper homogener Eigenschaften nicht fähig seien.
Die Behauptung war ein Vorurteil, ja geradezu der Er-
fahrung entgegen, z.B. der, daß der Wille durch Vor-
stellungen und Urteile bestimmt wird. Auch ist es ja
offenbar, daß auch, wenn ein Körper das Subjekt des
Denkens wäre, ein nichtdenkender Körper, der es be-
wirken würde, immer noch eine Eigenschaft hervorriefe,
die seinen eigenen unähnlich ist. Ja, man könnte sagen,
eine solche Unähnlichkeit stimme besser dazu, daß er
auf etwas wirke, was ihm der Natur nach ungleich, als
auf etwas, was ihm der Natur nach gleich sei.
Man erkennt also die vollständige Hinfälligkeit dieses
Einwands, der so viel Staub aufgewirbelt hat.
464. Und ganz Analoges ist dann auch bezüglich des
andern Einwands, der die Beschränkung der Verbindung
auf einen einzigen Leib rätselhaft findet, zu sagen. Auch
hier wird auf die Unvollkommenheit unserer Kenntnis
der Natur der Seele und der wirklichen Eigenschaften
der Körper ganz vergessen. Wohl ist es gesichert, daß
die menschliche Seele mit mehr als einem Punkt des
Gehirns und auch mit Teilen von verschiedener Be-
schaffenheit in unmittelbarer Wechselwirkung steht.
Allein ihre Verschiedenheit braucht doch nicht so weit
zu gehen, daß ihnen keine einzige gemeinsam wäre und
für diese Teile gleichmäßig die Möglichkeit der Kommuni-
kation mit dieser individuellen Seele zur Folge hätte.
Wenn es aber daraufhin auch von vornherein nicht als
geradezu absurd ausgeschlossen werden kann, daß die-
selbe Beschaffenheit auch in einem zweiten Gehirn ge-
geben wäre und so dieselbe Seele gleichzeitig zwei Leiber
beseelte, so erscheint dies doch durchaus nicht geboten.
Leicht erkennt man, wie dies höchst nachteilige Folgen
Geistigkeit der Seele 435
haben müßte. Die größte Verwirrung würde eintreten.
Nun sehen wir aber jeden Organismus in einer Weise
geordnet, welche den Schein wunderbarster Teleologie
erweckt. Es kann uns also in keiner Weise befremden,
wenn auch in dieser Beziehung etwas, was so ganz zweck-
widrig wäre, soweit unsere Erfahrung reicht, gänzlich
ausgeschlossen ist1 40 ).
VoHendung des Beweises für das Dasein
Gottes 141
)

466. Das Resultat, zu welchem wir auf verschiedenen


Wegen gleichmäßig geführt wurden, war: das Dasein
eines ewigen, schöpferischen und das, was er schafft,
schöpferisch erhaltenden Prinzips (Verstandes). Es fehlt
uns daher zum Beweise des Daseins Gottes nur noch der
Nachweis, daß dieses schöpferische Prinzip (Verstand)
ein unendlich vollkommenes Wesen und daß es (er) ein
einziges (einer) ist.
Sehen wir, wie wir imstande sein werden, auch dies aus
den Ergebnissen der bisherigen Untersuchung darzutun.
Wie werden wir seine allumfassende Vollkommenheit, wie
werden wir seine Einheit zu erweisen vermögen 1
466. Zeigen wir vor allem seine unendliche Voll-
kommenheit. Aus ihr wird sich dann seine Einheit leicht
ergeben.
Wie bei dem Nachweis eines weltordnenden Verstan-
des, eines ersten unbewegten Bewegers 142 ), eines Schöp-
fers der Seele und schöpferischen Erhalters kontingenter
Substanzen überhaupt sind wir auch hier wieder an
seine Wirkungen gewiesen.
Wenn es uns gelingt zu zeigen, daß die schöpferische
Kraft, wenn sie auch nicht ein unendliches Werk hervor-
bringt, doch durch die Weise, wie sie wirkt, einem end-
lichen Ding unendlich überlegen ist, so wird uns dies
instand setzen, ihre unendliche Vollkommenheit zu er-
schließen.
467. Dies aber ist uns, und zwar in mehrfacher Weise
möglich.
Schöpferkraft fordert unendliches Sein 437

Vor allem: Je schneller etwas gewirkt wird, desto


größer ist die wirkende Kraft. So ist ein Feuer um so
stärker, je schneller es die ~Tärme einer gewissen Wasser-
masse von O Grad auf den Siedepunkt erhöhen kann; so
ist ein Stoß um so kräftiger, je schneller dadurch eine
bestimmte Körpermasse von einem Orte zum andern
fortbewegt wird.
So kann die zur Hervorbringung einer gewissen Wir-
kung erforderliche Zeit sehr verschieden sein, je nach-
dem die Größe der wirkenden Kraft verschieden ist.
Immerhin aber wirc! sie, wenn anders die Kraft eine
endliche ist, einer gewissen Zeitdauer bedürfen; bedarf
sie gar keiner Zeit, sondern bringt ein wirkendes Prinzip
ein Werk, wie klein es auch sein mag, in einem Augen-
blick hervor, so steht, wie der Zeitpunkt zur Zeitlänge,
auch diese wirkende Kraft zu den endlichen Kräften,
deren Wirken uns die Erfahrung zeigt, in keiner Pro-
portion, sie muß ihnen unendlich überlegen sein 143 ).
So aber ist es bei dem schöpferischen Wirken. Augen-
blicklich wird die ganze Wirkung gesetzt. Nicht frei-
lich, als ob nicht auch die schöpferische Kraft eine Zeit-
lang wirkte. Im Gegenteil, sie muß während des Be-
stehens ihres Geschöpfes fort und fort erhaltend tätig
sein, und das Aufhören dieses erhaltenden Wirkens würde
Vernichtung bedeuten.
Die Erhaltung der Geschöpfe ist ein fortgesetztes
schöpferisches Wirken, und kein Geschöpf kann schöpfe-
risch gewirkt werden, das nicht eine Zeitlang, sei es in
Ruhe oder Bewegung, auch schöpferisch erhalten wird 144 ).
Aber trotzdem hebt dies nicht den Unterschied auf,
den wir geltend gemacht haben. Denn wenn auch die
schöpferische Kraft eine Zeit hindurch wirkt, so wirkt
sie doch von Anfang an und in jedem Zeitmoment wäh-
rend der Erhaltung das Ganze.
Und so muß denn die schöpferische Kraft den Kräf-
ten, die innerhalb des Bereichs unserer Erfahrung wir-
ken, unendlich überlegen sein.
438 Vom Verstand zum Gott

468. Noch in einer andern Weise: Je weniger etwas


disponiert ist, eine bestimmte Wirkung zu empfangen,
um so größer muß die Kraft sein, von welcher sie hervor-
gebracht werden soll. Würde also etwas für eine Wir-
kung unendlich schlecht disponiert sein, wie etwa, wenn
ein Körper unendlich weit von einer gewissen Stelle ent-
fernt wäre, so müßte in einem solchen Falle die wirkende
Kraft eine unendliche sein.
Dies aber gilt da, wo dem wirkenden Prinzip keinerlei
Stoff, der für die Wirkung empfänglich wäre, gegenüber-
steht. Denn ein Nichts von Fähigkeit steht zu jeder auch
noch so schlecht disponierten Fähigkeit in gar keiner
Proportion (wie auch ein Nichts von wirklichem Sein
zu einem wirklichen Sein) 145 ).
Somit ist die Kraft, die rnhöpferisch etwas hervor-
bringt, notwendig unendlich. Und aus der unendlichen
Kraft folgt dann das unendliche Sein und die unendliche
Vollkommenheit.
Wir sehen also, das, was wir als schöpferisch dargetan
haben, müssen wir auch als unendlich vollkommen an-
nehmen 1 u).
469. Und dies findet denn auch seine Bestätigung in
allem dem, was der teleologische Beweis, schon ehe er
zum Schöpfer führte, über die Erkenntnis und Macht
des ordnenden Prinzips enthüllte.
Seine Ordnung setzte eine Kenntnis voraus, die mit
der unsern völlig unvergleichbar ist.
Wenn wir nur auf die Mannigfaltigkeit der Verwick-
lung schauen, welche die Gravitation in den Bewegungen
der Gestirne gegeneinander hervorbringt, so stehen wir
hoffnungslos vor dem Problem, ihre Bahnen mit allen
ihren Störungen mathematisch zu berechnen. Nicht ein-
mal, wo drei Körper gegeneinander gravitieren, sind wir
dies wegen des Übermaßes der Verwicklung mit den bis-
her von der Mathematik gebotenen Mitteln zu tun im-
stande. Wieviel mehr, wo jedes der unzählbaren Ge-
stirne auf jedes seinen anziehenden Einfluß ausübt. Nur
Unendliche Erkenntniskre.ft 439
indem wir, von kleineren Störungen absehend, una mit
einem Ungefähr begnügen, erreichen wir das, was allein
für uns erreichbar ist.
Viel verwickelter aber würde noch das Problem sein,
den Bewegungen, welchen wir die auf der Erde befind-
lichen Körper infolge der Gravitation und anderer mecha-
nisch wirkender Kräfte unterworfen sehen, durch Be-
rechnung zu folgen. Die Form der Rauchwolke, die aus
einem Schornstein oder auch aus einer Pfeife aufsteigt,
oder die Form, welche eine Welle im Strome annimmt,
wäre keiner, auch wenn ihm alle Umstände genau ge-
geben wären, ohne eine unendliche Steigerung seiner
Erkenntniskraft mit voller Genauigkeit zu berechnen
imstande. Was soll man nun sagen, wenn man auf
die Gesamtheit der mechanischen Wirkungen blickt,
die sich an jeder einzelnen Stelle der irdischen Sphäre
kreuzen!
Und doch, wenn nur die Gravitation und die mecha-
nischen Kräfte wirkten, so wäre das Problem gegen das,
was wirklich vorliegt, noch vergleichsweise äußerst ein-
fach zu nennen.
Es kommt die Tätigkeit aller andern physikalischen
Kräfte, der Wärme, des Lichtes, der Elektrizität und
anderer hinzu. Und zu den physikalischen Veränderungen
gesellen sich die chemischen Umwandlungen in unorga-
nischen sowohl als in den noch weit verwickelteren orga-
nischen und physiologischen Prozessen. Und in die Ge-
setze, welche die physiologischen Prozesse bestimmen,
greifen bei dem bewußten Leben die Gesetze der psychi-
schen Phänomene und steigern nochmals die Verwicklung.
Wenn einer das so unscheinbare Problem sich stellt,
wie hoch bei einem bestimmten Pferde, das jetzt an
einer bestimmten Stelle seines Körpers von einer Mücke
mit einer bestimmten Kraft gestochen wird, ein bestimmtes
Haar seines zur Abwehr bewegten Schweifes gehoben wer-
den wird, so hat er ein Problem, bei welchem von den
mechanischen Gesetzen angefangen bis hinauf zu den
440 Vom Verstand zum Gott

psychischen alle miteinander konkurrieren und eine solche


Verwicklung erzeugen, daß der bloße Gedanke, daß man
eine vollkommen genaue Lösung geben solle, einen
schwindeln macht. Und doch hängt jedes folgende Er-
eignis im V er lauf der Weltentwicklung in etwas auch von
diesem ab, und· von den Gestirnen bis an die Grenzen
des Weltraumes ist keines, das nicht irgendwie in seinem
Lauf davon beeinflußt würde, wenn das Haar auch nur
um den billionsten Teil einer Linie höher oder minder
hoch sich höbe.
Wie unfähig würde sich unser Ver6i;and, auch wenn
alles, was jetzt besteht, von ihm geschaut würde, zur
genauen Berechnung auch nur des nächsten Augen-
blickes erweisen! Und wenn ihm eine beliebige Zeit und
eine beliebige Zahl von Mitarbeitern gegeben wäre, er
würde nicht die Aufgabe zu lösen imstande sein.
Aber der weltordnende Verstand sieht nicht bloß in
dieser Weise den nächsten Zustand, sondern auch alle
folgenden durch ungemessene Zeiten vorher.
Und nicht die mindeste Abweichung kann zwischen
seinem Gedanken und der Wirklichkeit sein. Denn würde
dies geschehen, so würde er, da er wegen seiner Impas-
sibilität nicht imstande ist, durch die Erfahrung den
Fehler seines Vorhersehens zu berichtigen, im Verlaufe
der Entwicklung vollständig die Herrschaft über die
Dinge verloren haben. Parvus error in principio, maximus
in fine. Und würde er einmal eine solche, wenn auch noch
so kleine Schwäche zeigen, so würden in der folgenden
Zeit neue unendlich kleine Fehler sich einschleichen,
und sein Werk würde nun, indem einer den andern ver-
stärkte, zu ganz anderen als zu den von ihm beabsich-
tigten Zielen hingeführt und in einem Chaos verschlungen
werden.
So sehen wir denn den Schluß auf die unendlich über-
legene Kraft und. Vollkommenheit, den wir aus der
schöpferischen Wirksamkeit gezogen, auch durch diese
Betrachtungen bestätigt.
Unendliche Vollkommenheit 441
470. Und dennoch scheint ein Einwand möglich zu
bleiben. Man könnte sagen, allerdings hätten wir die
unendliche Überlegenheit des schöpferischen Prinzips über
unsere Kraft und andere endliche Kräfte und somit seine
unendlich größere Vollkommenheit dargetan. Allein, eine
göttliche Vollkommenheit sei damit nicht erwiesen. Denn
da der Mathematiker unendliche Größen niederer und
höherer Ordnungen unterscheidet, so sei mit dem Nach-
weis, daß etwas ein endliches Wesen unendlich an Voll-
kommenheit übertreffe, noch nicht seine absolute Voll-
kommenheit dargetan, die doch allein eine göttliche ge-
nannt werden könne.
471. Der Einwand ist scharfsinnig und spitzfindig
genug. Doch, glaube ich, sind wir sogar in mehrfacher
Weise ihn zu beantworten imstande.
Vor allem ist es, wenn man genau auf die vorher-
gegangene Beweisführong achtet, nicht schwer zu er-
kennen, wie sie für das schöpferische Prinzip nicht
bloß eine unendliche, sondern eine unendlichmal un-
endliche Überlegenheit, ja eine Überlegenheit, ,,unend-
lich in der unendlichsten Ordnung" nachzuweisen dien-
lich ist.
Wir sagten, die endlichen Kräfte, die wir kennen, wir-
ken das Geringste, das sie wirken, nur allmählich; die
schöpferische Kraft schafft momentan. Da nun ein Mo-
ment zur kleinsten Zeitdauer in keiner Proportion mehr
steht und wie der Punkt in der Linie unendlichmal in
ihr enthalten ist, so folgt, daß die schöpferische Kraft
eine unendlich größere sein müsse.
Nun wohl! Nicht bloß nicht bloß unendlichmal, un-
endlichmal unendlichmal ist ein Punkt in einer Linie
enthalten, ja jede Ordnung der Unendlichkeit wird bei
diesem Verhältnis, wenn man es überhaupt so nennen
darf, überschritten.
Denn ein Punkt ist eine Null von Länge, und O in 1
dividiert gibt nicht etwa, wie eine unendlich kleine
Größe erster oder zweiter Ordnung, wenn man sie als
442 Vom Verstand zum Gott

Divisor setzte, eine unendliche Zahl erster oder zweiter


Ordnung, sondern offenbar die absolute Unencllichkeitm).
472. Aber auch noch in einer andern Weise können
wir das absolut vollkommene Wesen dartun, nämlich
indem wir zeigen, daß die Macht des schöpferischen
Wesens, dessen Dasein wir erwiesen haben, nicht bloß
unendlich weiter als unsere Macht, sondern so weit reicht
als die logische Möglichkeit1' 8 ).
473. Um dies zu erweisen, müssen wir aber zuerst die
Einheit des ersten Prinzips und seine universelle Wirk-
samkeit dartun.
In dieser Beziehung ist vor allem klar, daß das schöpfe-
rische Prinzip, dessen Dasein wir erwiesen haben, Schöpfer
von allem ist, was zur Welt gehört oder einen Einfluß
aul sie hat oder haben kann UD). Kann es doch - wir
haben dies sowohl bei den Erörterungen des teleologischen,
als auch beim Bewegungsbeweis gesehen - nur in diesem
Fall davon Kenntnis haben. Und ohne diese Kenntnis zu
besitzen, kann es nicht wissen, ob und inwieweit auch
das, was es schafft und als Schöpfer erkennt, eine Ver-
änderung erleidet. Ist es ja doch leidenslos und infolge-
dessen unfähig, auch von dem, was es geschaffen hat,
irgendwelchen Eindruck zu empfangen 160 ).
Infolgedessen würde sein Werk ein sehr unsicheres
werden und, wenn die störende Einwirkung auch nur eine
einmalige und an und für sich unbedeutende wäre, im
Verlauf der Zeit ganz anders als beabsichtigt sich ent-
wickeln. Völlig hilflos stände er da. Wir können, wo
etwas störend unser Werk berührt, gar oft die Störung
ausgleichen, wie z. B. wenn ein Windstoß das Blatt weg-
geweht, das wir beschreiben, er aber, der leidensunfähige,
er, der schöpferische und, wie wir schon gezeigt haben,
unendlich vollkommenere Verstand, er würde in einem
solchen Fall ahnungslos ruhig auf dem nackten Pulte
weiterschreiben.
Wenn also dies nicht angenommen werden kann, so
muß seine schöpferische Tätigkeit aul alles, was die Welt
Einzigkeit, <lcs schöpferischen Prinzips 443

enthält oder was mit ihr in ursächlichem Zusammenhang


steht, ausgedehnt gedacht werden.
Und nicht bloß als Schöpfer von allem, was zur
Welt gehört, auch als seine alleinige erste Ursache wird
der schöpferische Verstand zu betrachten sein. Denn
dies ist in jenem enthalten 151 ).
474. Hiemit ist a.ber auch nahegelegt, daß es überhaupt
nur ein einziges durch sich selbst notwendiges Wesen
gibt, das, was immer außer ihm besteht, schöpferisch
hervorgebracht hat.
Oder nehmen wir an, es bestehe etwas außer ihm und
unabhängig von seinem Wirken. In welcher Weise sollen
wir es uns denken 1 Vielleicht ebenfalls mit schöpferi-
scher Kraft ausgestattet 1 Dann erhebt sich die Frage,
was es denn zu schaffen fähig sein werde. Offenbar ent-
weder die gleichen Wesen wie unser Schöpfer oder höhere
oder niedrigere.
Aber das erste unmöglich. Denn das eine 152 ) müßte das
andere stören. Eines würde dem andern dieselben Dinge
,,vor der Nase" wegschaffen.
Aber auch das zweite; denn wenn es sogar Höheres zu
schaffen vermag, um wieviel mehr das Gleiche 153 ).
Das dritte also! Dies möchte wohl am ehesten annehm-
bar und eine willkommene Ausflucht sein, wenn nur
dann nicht umgekehrt von unserem Schöpfer •gelten
würde, daß er das Höhere und somit auch das Gleiche
wie jener zu schaffen imstande sei.
Mit schöpferischer Kraft können wir jenes Wesen also
nicht wohl begabt denken. Aber wenn nicht schöpferisch,
so wird es doch sicher irgendwie zu irgendeinem Wirken,
sei es auf sich, sei es auf etwas anderes, fähig gedacht
werden müssen. Und da es, wie schon gezeigt worden,
auf diese Welt keinen Einfluß üben kann, so ergibt sich,
daß auch außer ihr 1Virken und Leiden und Verände-
rung möglich ist.
Aber jede Veränderung verlangt als Vorbedingung einen
Schöpfer. Also haben wir wieder das Früherem).
444 Vom Verstand

Sollte es daher wirklich ein Wesen geben, das unge-


schaffen von der ersten Ursache dieser Welt bestünde,
so müßten wir es jeder Fähigkeit zu wirken bar und
ledig denken. Das aber ist wohl unmöglich, und am
allerwenigsten ließe sich annehmen, daß ein so außer-
ordentlich unkräftiges und unvollkommenes Sein durch
sich selbst notwendig wäre. Die schöpferische Kraft, die
soviel Vollkommeneres erzeugt, würde gewiß auch dieses
schwächste Sein in seiner Machtsphäre begreifen.
475. Somit ist das von uns erwiesene erste und
schöpferische Prinzip die einzige primäre Ursache von
allem, was außer ihm existiert.
Und hieraus folgt, daß es allmächtig ist 165 ).
Was heißt dies1 Es kann alles, was möglich ist. Von
einem Möglichen aber wird in einem doppelten Sinn
gesprochen. Man nennt erstens das „möglich", wozu
die Bedingungen gegeben sind, zweitens das logisch
Mögliche. (Das, dessen Begriff keinen Widerspruch,
keine Absurdität einschließt.)
Daß der Schöpfer das erste kann, ist klar; denn außer
ihm und seinen Geschöpfen gibt es nichts; und er kann
alles, was diese können, und natürlich, was er selbst kann.
Aber dieses würde nicht genügen.
Allein er kann auch alles, was logisch möglich ist. Denn
angenommen, er könne etwas logisch Mögliches nicht,
so ist dies entweder unbedingt oder bedingt möglich.
Wenn das erste, so könnte es wirklich sein, ohne von
ihm geschaffen zu sein; was nach dem Gesagten unmög-
lich. Also nur etwa das zweite, indem vielleicht die
nötigen Bedingungen fehlen.
Aber wenn das zweite, so fragt sich, ob alle seine Be-
dingungen, die näheren und die entfernteren, möglich
seien. Dann wäre es mit ihnen zusammen unbedingt
(von jedem andern) möglich. Also könnte auch es wirk-
lich sein, ohne von ihm gewirkt zu sein.
Ist aber eine seiner notwendigen Bedingungen unmög-
lich und widersprechend, dann es selbst.
zum Gott 445
So also vermag das erste Prinzip dei.' Welt alles, was
logisch möglich ist, es ist also allmächtig. Also unend-
liches Sein, absolut vollkommen, nicht bloß unendlich
vollkommener als wir. Also Gott. Denn das war der
Begriff Gottes, dessen Realität wir erweisen wollten: ein
absolut vollkommenes Wesen, welches der einzige Schöpfer
aller Dinge ist, die außer ihm ein Bestehen haben.
GEDANKENGANG BEIM
BEWEISE FÜR DAS DASEIN
GOTTES
(1915j
Erster T eH: Von der Notwendigkeit aHes Seienden
I. Es gibt nichts absolut ZufäUiges
1. So wie kein Urteil möglich ist ohne Qualität, ist
auch kein Vorstellen möglich ohne Temporalmodus, und
dies hat zur Folge, daß auch kein Urteilen ohne Tem-
poralmodus möglich ist.
2. Hieraus ersieht man, daß es kein Ding geben kann,
welches nicht der Zeit angehört. Wenn es überhaupt
ist, so ist es gegenwärtig 2).
3. Die Gegenwart aber ist eine Grenze innerhalb eines
kontinuierlichen Verlaufs und als solche nichts für sich.
Somit muß alles, was ist, eine Zeitlang unverändert fort-
bestehen oder einer nur infinitesimalen Veränderung
unterliegen.
4. Hieraus erhellt, daß es nicht zufällig sein kann,
denn wäre ein zufälliges Sein möglich, so wäre auch ein
zufälliges Anfangen und Endigen möglich (ein ewiger
Zufall könnte nur als ein anfanglos sich wiederholender
gefaßt werden)*) und für jeden einzelnen Augenblick
*) DE:'rlOKRIThat gesagt, bei dem, was von Ewigkeit be-
steht, habe man nach einem Grunde des Bestandes nicht zu
fragen. So hielt er zwar kein zufälliges Beginnen, wohl aber
ein zufälliges Sein von Ewigkeit für denkbar. Bei diesem
bestände offenbar durchwegs eine relative Notwendigkeit für
den späteren Bestand gegenüber dem früheren. Allein, eine
absolute Notwendigkeit käme dem Bestande weder seinem
Ganzen nach, noch einem Teil nach zu•). Weder eine unmittel-
bare, noch eine mittelbare 6 ). Die letzte kann ja ohne die
Gedankengang beim Gottesbeweise 447

ein Wechsel zwischen Sein und Nichtsein mindestens


ebenso wahrscheinlich als ein völlig unverändertes oder
infinitesimal weiter verlaufendes Sein oder Nichtsein.
Andererseits aber wäre doch schlechterdings notwendig 3),
daß die Fälle des Fortbestandes oder infinitesimalen
Verlaufs unendlich häufiger wären als die eines solchen
Wechsels. Dies widerspricht*).
erste nicht bestehen, und die erste kann einem Ganzen,
das Teile hat, als Ganzem nur zukommen, wenn sie jedem
seiner Teile zukommt. So wäre denn zwar jeder Teil relativ
notwendig, aber absolut zufällig, das Ganze aber weder rela-
tiv notwendig zu etwas anderem, noch absolut notwendig.
Es wäre also absolut zufällig.
Daß auch dieser Fall, wo für alles, was ist, war und sein
wird, eine relative Notwendigkeit in Rücksicht auf alles Vor-
angegangene angenommen wird, nicht frei von innerem Wider-
spruch sei, läßt sich am leichtesten und faßlichsten zeigen,
wenn man die Konsequenzen untersucht, die diese Annahme
für die Wahrscheinlichkeit der Erfüllung oder Nichterfüllung
von Räumen haben würde. (Siehe die Paragraphen 6-8.)
*) Die Folgerung der Absurdität der Lehre eines absolut
zufälligen Seins und Geschehens, die ich hier ziehe, ist ähn-
lich derjenigen, zu der einst BOLTZMANNgelangte, als wir
gemeinsam gewisse Ausführungen von BERTRA.NDeiner Prü-
fung unterworfen hatten. Diese beziehen sich auf die Frage,
welches Maß der Wahrscheinlichkeit sich dafür ergebe, daß
die Sehne eines Kreises, für die mir alle weiteren Angaben
fehlen, größer oder kleiner als die Seite des in den Kreis ein-
zuschreibenden gleichseitigen Dreiecks sei. BERTRANDhatte
nachweisen wollen, daß man mit gleichem Rechte drei Ant-
worten geben könne, deren eine die relative Wahrscheinlich-
keit, daß die Sehne größer als jene Dreieckseite sei, als 1 : 1,
die andere als 1 : 2 und die dritte als 1 : 3 bestimmte. BER-
TRANDhält dafür, daß das paradoxe Resultat dreier durch
fehlerfreies Verfahren gewonnener, sich widersprechender
Lösungen darauf zurückzuführen sei, daß die Frage schlecht
gestellt sei: ,,La question est mal posee." Warum sie schlecht
gestellt sei, sagt er aber nicht, und sollte er wie CzuBER sie
darum für schlecht gestellt halten, weil nichts über die Weise
angegeben wird, wie die Sehnen entstanden seien, so wäre
dies eine schlechte Ausrede. Der Entfall einer solchen Angabe
vergrößert die Unbestimmtheit, allein es ist nicht abzusehen,
warum bei solch größerer Unbestimmtheit nicht auch ein
448 Unmöglichkeit e.bsoluten Zufalls

5. Somit ist alles, was ist, notwendig*).


6. Was wir so für alles Seiende gezeigt haben, läßt sich
speziell für das Körperliche nachweisen, indem man in
analoger Weise wie auf die Kontinuität der Zeit auf die
bestimmter Wahrscheinlichkeitsbruch sich ergeben sollte, der
aber dann natürlich nur ein einziger sein kann. PoINCARE,
der auf die Untersuchung BERTRANDSRücksicht nimmt,
schließt darum auch im Gegensatz zu ihm nicht auf einen
Fehler in der Fragestellung, sondern auf einen Mangel, an
dem die ganze Wahrscheinlichkeitsrechnung leide, den näm-
lich, daß ihre ersten Annahmen willkürlich seien. Und darauf-
hin hören wir auch seine Abhandlung über die Wahrschein-
lichkeiten mit der Wiederholung der trostlosen Worte
schließen, daß wir nur das eine wüßten, daß wir nichts wissen.
BOLTZMANN, der wohl erkannte, daß hier weder die Meinung
BERTRANDS,noch die von PoINCAREgebilligt werden könne,
aber ebensowenig als diese beiden in dem einen oder anderen
von BERTRANDeingeschlagenen Verfahren einen Fehler ent-
deckte, wurde dadurch konsequent zu dem Schlusse geführt,
daß in den Voraussetzungen, welche zu drei einander wider-
sprechenden Ergebnissen führten, selbst schon ein Wider-
spruch enthalten sein müsse, und dieser könne dann nur in
der Annahme eines Kontinuums überhaupt liegen. So be-
trachtete er dies als eine kräftige Bestätigung seiner schon
aus anderen Gründen gewonnenen Überzeugung, daß der
Gedanke eines Kontinuums mit unlöslichen Widersprüchen
behaftet sei 8 ).
So machte er denn hier einen Schluß, ganz analog, wie
den wir im Texte gemacht haben. Und in der Tat könnte man
ihn auch in seinem Fall nicht ablehnen, und die BERTRAND•
sehe Erörterung wäre gegen die Möglichkeit eines Kontinuums
entscheidend, wenn sich in Wahrheit in keine der drei Aus-
führungen ein Fehler eingeschlichen hätte 7).
*) Hier scheint die Behauptung HUMEs, die auch KANTsich
eigen macht, daß nichts absolut notwendig sein könne, zu
berücksichtigen. Er beruft sich darauf, daß nur die Unmög-
lichkeit von Kontradiktorischem a priori einleuchte, und daß,
wer nur einfach etwas leugne, nicht in dem Falle dessen sei,
der ein und dasselbe anerkenne und verwerfe, da er ja gar
nichts anerkenne.
Nun gibt es viele, welche im Gegensatz zu dem, was HUMB
sagt, behaupten, daß außer der Unmöglichkeit von Kontra-
diktorischem auch noch die von anderem einleuchte, und sie
führen als Beispiele die Unmöglichkeit gewisser positiver
Gedankengang beim Gottesbeweise 449
Kontinuität des Raumes sich stützt. Wären die Raum-
erfüllungen absolut zufällig, so würde schon für eine
einzelne gerade Linie gesagt werden müssen, daß für jeden
einzelnen Punkt ein abrupter Wechsel gleich wahr-
Oppositionen an. So sei es unmöglich, daß ein Dreieckiges
als solches ein Denkendes oder auch nur, daß es als solches
ein W armes sei; ferner daß ein Rotes keine species specialissima
sei, daß ein Farbiges species specialissima sei, daß ein Reales
als solches kein summum genus sei; ferner, daß es einen
schwarzen Schimmel gebe und anderes mehr. Auch daß etwas
eine komparative Relativbestimmung zukomme, ohne daß
ihm eine absolute Bestimmung zukomme; ferner, daß solches
aufeinanderwirke, was zeitlich oder örtlich getrennt sei; ferner,
daß sich körperliche Substanzen räumlich durchdrängen.
Andere aber halten allerdings mit HuME daran fest, daß nur
die Unmöglichkeit kontradiktorischer Bestimmungen uns apo-
diktisch einleuchte, indem sie nachweisen wollen, daß in allen
den angegebenen Fällen für den, welcher die betreffenden Be-
grüfe gehörig analysiert habe, ein Merkmal hervorgetreten
sei, zu welchem das Attribut in kontradiktorischer Beziehung
stehe. So bemerke man, wenn man einen ein Dreieckiges als
solches Vorstellenden mit einem ein Denkendes als solches
Vorstellenden vergleiche, daß der eine als solcher von dem
andern verschieden sei, daß er als solcher nicht der andere
sei, und daraufhin liegt der Widerspruch in der Behauptung
dessen, welcher sagt, ~in Dreieckiges als solches sei ein Den-
kendes, klar zutage. Ähnlich wird gesagt, wer behaupte, ein
Warmes habe als solches ein Farbiges zur Gattung, verfalle
einem Widerspruch, weil er erkenne, daß in dem Begriff des
Warmen der Begriff des Farbigen nicht eingeschlossen sei,
was zum Verhältnis der Düferenz zur Gattung gehört. Ähn-
liches gilt von den andern angeführten Fällen und noch wei-
teren, wie z. B. von dem Satz, daß ein evidentes Urteil nicht
wahr, daß eine Bevorzugung der Erkenntnis als solcher vor
dem Irrtum nicht richtig, daß etwas, was ist, nicht gegen-
wärtig sei u. dgl.
Wir wollen darum, ohne tiefer auf die Streitfrage ein-
zugehen, die Behauptung HUMEs, daß nichts als die Unver-
einbarkeit kontradiktorischer Bestimmungen uns apodiktisch
einleuchte, unbeanstandet lassen. Dagegen müssen wir darauf
hinweisen, daß die Behauptung, daß uns nichts als die Un-
möglichkeit der Vereinigung kontradiktorischer Bestim-
mungen apodiktisch einleuchte, nicht mit der .identisch ist,
daß nichts als die Unmöglichkeit solcher Vereinigungen apo-
450 Unmöglichkeit absoluten Zufalls

scheinlich oder doch nicht minder wahrscheinlich sein


würde als der :Mangel eines solchen, und daß doch un-
endlich mehr Punkte sein müßten, in welchen kein ab-
rupter Wechsel, als in welchen ein abrupter Wechsel
stattfände, was widerspricht.

diktisch einleuchten könne 8). Es liegt kein Widerspruch in


der entgegengesetzten Behauptung, und so müssen wir
gerade, wenn wir daran festhalten, daß uns nur die Unmög-
lichkeit von \Vidersprechendem einleuchtend sei, anerkennen,
daß der Satz nur als Erfahrungssatz sich empfehlen könne.
Im Bereich unserer Erfahrung liege keine Ausnahme vor. Ja,
noch mehr, HUME selbst ist entschiedener Determinist, und
dies steht im Zusammenhang mit der Annahme von Ge-
setzen der Aufeinanderfolge, welche unmöglich als Fälle des
Kontradiktionsgesetzes gefaßt werden können 9 ). Da hätten
wir also Unmöglichkeiten anzunehmen, die keine Fälle von
Kontradiktion wären, und so könnte es denn auch recht wohl
sich finden, daß positive Notwendigkeiten bestehen, und daß,
wenn sie uns nicht unmittelbar apodiktisch einleuchten, ihr
Bestand auf Grund von evidenten Erfahrungstatsachen mit
Evidenz erwiesen werden kann.
Bei der berührten und hier nicht voll erledigten Frage, ob
alle Axiome Fälle des Satzes des \Viderspruchs seien, kommt
alles darauf an, ob man gewisse Vergleichserkenntnisse als
evident zugesteht, welche das eine Verglichene als different
und so in gewissem Betracht kontradiktorisch zum anderen
bestimmen, und ob man diese Vergleichsbestimmungen selbst
nicht als apodiktisch, sondern assertorisch erkannt be-
trachtet. Denn ohne solche Vergleichsbestimmungen fehlten
ja die kontradiktorischen Merkmale als Vorbedingung für
die Behauptung nach dem Typus des Satzes des Wider-
spruchs 1°). Sagt man, jene Vergleichserkenntnisse selbst seien
apodiktisch, dann ist offenbar, daß man apodiktische Er-
kenntnisse lehrt, welche selbst nicht Fälle des Satzes des
Widerspruchs sind. Im entgegengesetzten Fall kommt man
zur entgegengesetzten Folgerung.
Was ist nun hier vorzuziehen 1 - Dafür, daß es nicht als
apodiktisch zu bezeichnen sei, scheint zu sprechen, daß das
komparative Urteil die Affirmation des Subjekts enthält,
welche sicher bloß assertorisch ist 11). Auch gilt allgemein der
Satz: ,,Ich denke" als ein evidenter assertorischer Satz, und
so auch der Satz, daß ich mich mit Evidenz anerkenne, -
woran die apodiktische Behauptung sich knüpfen kann, daß,
Gedankengang beim Gottesbeweise 451

Daß dieses .Argument, wie auf die räumlichen Dinge,


auf die unräumlichen, die zu unserem Erfahrungsbereich
gehören, Anwendung finden könne, zeigt die indefinite
Vermehrbarkeit der Seelen infolge der indefiniten Ver-
mehrbarkeit der Zeugungen.
7. Der Nachweis gegen die Zufälligkeit auf dem Ge-
biete der räumlichen Ausdehnung könnte auch so ge-
führt werden, daß einerseits für jede Stelle des unend-
lichen möglichen Raumes eine Erfüllung durch einen
Körper von vornherein ebenso wahrscheinlich oder
wenigstens nicht weniger wahrscheinlich als seine Nicht-
erfüllung und doch im ganzen unendlich mehr Raum
nicht erfüllt als erfüllt sein müsse. Die Gesamtheit der
Dinge, so sicher sie von begrenzter Zahl sein muß, ist
notwendig auf einen Teil des Raumes beschränkt, der, mit
wer sich so anerkennt, wie ich mich anerkenne, unmöglich
irrig urteilen kann 12 ).
Vielleicht könnte man zwischen den beiden Parteien ver-
mitteln, indem man darauf aufmerksam machte, daß bei den
komparativen Bestimmungen eine Mehrheit von Urteilen zur
Einheit gebracht seien, wie überhaupt in den Fällen, wo
positiv oder negativ prädiziert wird unter Anerkennung des
Subjekts 13 ). So sei denn das Urteil sicher nicht rein apodik-
tisch. Dagegen möge es einen teilweise apodiktischen Cha-
rakter haben 14 ). Die Axiome hätten dagegen einen rein apo-
diktischen Charakter und seien auch keine Doppelurteile,
sondern einfach.
DESCARTEShat gesagt: Was in dem Begriff einer Sache
klar und deutlich enthalten ist, kann mit Sicherheit von ihr
ausgesagt werden. - Hier wäre vielleicht an die Stelle des
,,Was" im Vordersatze zu setzen: ,,Was auf Grund von evi-
denten Vergleichsbestimmungen von mir selbst." Insofern ich
etwas unter einem Begriffe und unter einem anderen Begriffe
denke, kann ich sicher als apodiktisch behaupten, daß ein
unter den einen Begriff fallendes Ding nicht ohne eine gewisse
relative Bestimmung sein könne, z.B. wenn ich vergleichend
erkenne, daß ich, indem ich etwas als Rotes vorstelle und
etwas als Farbiges vorstelle, unter dem ersteren etwas vor-
stelle, was das zweite spezifisch determiniert enthält, kann
ich daraufhin sagen, daß kein Rotes sein könne, welches
nicht ein spezifisch determiniertes Farbiges istn).
452 Unmöglichkeit absoluten Zufalls

den völlig leer gebliebenen Teilen verglichen, indefinit


klein erscheint 16 ).
Aus der Möglichkeit indefiniter Vervielfältigung der
physiologischen Vorbedingungen der Beseelung folgt die
Möglichkeit indefinit vieler Seelen, und aus dieser würde,
falls eine Seele zufällig von Ewigkeit sein könnte, folgen,
daß von vornherein einerseits von jeder Seele ebenso
wahrscheinlich zu erwarten wäre, daß sie sei, als daß sie
nicht sei, und doch andererseits notwendig sei, daß un-
endlich mehr von den möglichen Seelen nicht seien als
seien, was widerspricht.
8. Man kann aber zu diesen Erwägungen"'), welche
die Unmöglichkeit des Zufalls ex:kennen lassen, auch noch
andere fügen, welche ihr Ergebnis bestätigen 17 ).
Existierte ein Körper unmittelbar zufällig an einem
Ort, so könnte an einem beliebigen andern Ort ebenso
unmittelbar zufällig ein Körper existieren, und fragte
"') Gegen den hier dargelegten Beweis der Unmöglichkeit
zufälligen Anfangs und Endes könnte man einwenden, es
bleibe die Annahme denkbar, daß die Möglichkeit solcher
Zufälle nur in gewissen einzelnen Zeitmomenten bestehe,
während :in allen anderen der Zufall unmöglich sei. Doch
diese Annahme setzt einen Unterschied gewisser Augenblicke
als solcher gegenüber der unendlichen Mehrheit aller an-
deren voraus, welcher mit aller Erfahrung kontrastieren würde.
Und wie sollte man sie sich erklären 1 Wir müßten annehmen,
daß es etwas Reales gäbe, welches uns völlig transzendent,
in stetem infinitesimalem W ech8el begriffen sei und alle zeit-
lichen Dinge beeinflusse. Dieser Einfluß gebe ihnen perioden-
weise Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit des Verlaufs. An
der Grenze der Periode aber für einen Augenblick die Ent-
hebung von jedem Gesetz und 80 die Zufälligkeit, während
nach diesem Zeitpunkt eine neue Periode der Notwendigkeit
eintreten würde. Der Zustand der Gesetzlosigkeit, der zu
dem Vorangehenden und Nachfolgenden in 80 starkem Kon-
traste steht, wäre ohne alle Dauer. Schon dies scheint unzu-
lässig, und auch das ließe ihn mit Widerspruch behaftet er-
scheinen, daß er gewirkt würde durch ein Moment im Ver-
lauf jenes transzendenten Realen. Dieses determinierte es so,
daß es nun undeterminiert wäre, nachdem es vorher deter-
miniert gewesen ist.
Gedankengang beim Gottesbeweise 4!53

man daraufhin, ob die Möglichkeit des einen die Mög-


lichkeit des andern erschwere, so müßte man dies ver-
neinen. Jeder Ort könnte mindestens ebenso leicht er-
füllt als leer sein. Die Wahrscheinlichkeit seiner Er-
füllung wäre nicht geringer als einhalb. Allein wegen
der Unmöglichkeit unendlich vieler Körper 18 ) müßte es
unendlich mehr leere als erfüllte Räume geben. Und so
hätten wir einen Widerspruch 19 ). Wie hier, was in sensu
diviso möglich ist 20 ), auch in sensu composito möglich
sein müßte, so auch in andern Fällen, wenn von mehreren
positiv Entgegengesetzten jedes für sich zufällig sein und
nicht sein und werden und nicht werden könnte. So
wahr positiv Entgegengesetztes nicht zusammensein kann,
so wahr kann es also nicht bloß zusammen, sondern auch
jedes für sich allein nicht unter den gleichen Umständen
werden und nicht werden.
9. Mit dem Nachweis, daß alles, was ist, notwendig ist,
ist aber nicht gesagt, daß es unmittelbar notwendig sei.
Auch eine mittelbare Notwendigkeit genügt, und sie ist
dann gegeben, wenn etwas von einem andern verursacht
und so notwendig gemacht wird 21 ).

II. Nichts, was in unsere Erfahrung fäUt, ist unmittelbar


notwendig
10. Die Erfahrung zeigt, daß etwas ist. Aus dem, was
wir eben dargetan, folgt, daß es notwendig ist. Wir
müssen nun fragen, ob es nicht bloß notwendig, sondern
auch unmittelbar notwendig sei. Und unschwer erkennt
man, daß diese Frage zu verneinen ist.
11. So können die Körper nicht unmittelbar not-
wendig sein. Für jeden ist die Lokalisation wesentlich.
Wie ein Ort, so ist aber auch jeder andere im einzelnen
ebensowohl leer als erfüllt zu denken. Nur die aktuelle
Erfüllung aller Teile möglicher Räume ist undenkbar.
Das aktuell unendlich Ausgedehnte widerspricht 22 ). Man
kann dies aufs leichteste anschaulich machen, wenn man
sich eine Stange denkt, die einen Anfang, aber kein Ende
454 Kontingenz der Welt

hätte. Würde eine solche nach der Richtung ihrer Länge


verschoben, eo daß sie bis zu einem Punkte reichte, der
früher einen Meter von ihr entfernt lag, so würde sie
sich mit sich selbst, wie sie früher lag, durchwegs decken
und noch um einen Meter darüber hinausragen. Sie wäre
also um einen Meter größer als früher, ohne vergrößert
worden zu sein. Dächte man sich den Durchschnitt der
Stange quadratisch und dächte man sie sich durch solche
quadratische Durchschnitte in lauter kongruente Würfel
geteilt und dann von diesen Würfeln den ersten, dritten,
fünften usw. ausgeschaltet, so könnte man alle die übrig-
bleibenden Würfel in der Art sich verschiebend denken,
daß der erste in einer Stunde den leer gewordenen Platz
vor ihm einnähme, der zweite aber doppelt so schnell,
der dritte dreimal so schnell, der vierte viermal so
schnell usf. in derselben Zeit, in derselben Richtung eich
bewegte. Offenbar würden sie nach einer Stunde sich
alle wieder einander anschließen, dann wären also durch
die Hälfte der Würfel alle die Plätze eingenommen, welche
früher von der GesamthP,it der Würfel eingenommen
worden waren, und so würde sich zeigen, daß zwei Größen,
die sich deckten, nicht gleich wären.
12. Auch von unserem seelischen Leben ist es leicht
nachweisbar, daß es nicht unmittelbar notwendig ist.
Bei jedem Schluß, bei jeder Wahl bemerken wir die
Verursachung durch die Prämissen oder vielmehr durch
das Denken derselben und durch die Motive, die uns zur
Wahl bestimmen 23 ). Auch erhält sich wie unser Hören,
Riechen, Schmecken, Fühlen, so jeder andere psychische
Akt nicht in Analogie zum Gesetz der Trägheit, sondern
nur durch eine beständig sich erneuernde Verursachung 24 ).
Und was das Subjekt dieser Tätigkeiten anlangt, so
denken die einen es körperlich, und in solchem Falle ist
der Beweis mangelnder unmittelbare: Notwendigkeit
bereits von uns erbracht, und wenn andere es unkörper-
lich denken, so ist es doch unleugbar, daß mit einer
indefiniten Vervielfältigung der physiologischen Be-
Gedankengang beim Gottesbeweise 455

dingungen seines Auftretens es auch selbst indefinit ver-


vielfältigt gedacht werden könnte. Da nun aber eine
aktuell unendliche Vielheit wie auf körperlichem so auf
geistigem Gebiet unmöglich ist, so zeigt sich, daß auch
hier die unmittelbare Notwendigkeit geleugnet werden
muß.
Es ergibt sich also, daß, wie immer das, was in unsere
Erfahrung fällt, notwendig, doch nichts von allem, was
wir durch Erfahrung kennen, unmittelbar notwendig ist.
Somit muß es mittelbar notwendig genannt werden.

Z weiter T eif: Von der ersten, unmitte1bar not"'


wendigen Ursache
I. Das unmittelbar Notwendige ist transzendent
13. Die Kontingenz der Erfahrungswelt zeigt, daß es
etwas anderes geben muß, was unmittelbar notwendig
ist und das, was in unsere Erfahrung fällt, mittelbar
notwendig macht.
14. Vielleicht meint einer, dieser Schluß sei unstatt-
haft, genüge es doch, wenn irgend etwas das mittelbar
Notwendige in unserer Erfahrung notwendig mache, das
selbst nur mittelbar notwendig sei. Natürlich werde es
dann selbst wieder ein anderes zur Vorbedingung haben,
aber auch dies könne vielleicht nur mittelbar notwendig
sein und so ins Unendliche. Allein er widerlegt sich leicht,
würde doch in solchem Fall die ganze Reihe von dem,
was man mittelbar notwendig nennt, als zufällig er-
scheinen, und alles von uns gegen die Möglichkeit des
Zufalls Gesagte bliebe in Kraft. Man denke z.B. eine
Aufeinanderfolge von Körpern, deren einer den andern
produzierte. Könnte eine solche irgendwo, so könnte sie
in gleicher Weise auch an einem beliebigen andern
Punkte des Raumes stattfinden, aber nicht an allen, und
somit erschiene jede zufällig 20 ).
456 Das unmittelbar Notwendige als schöpferisches Prinzip

II. Das unmittelbar Notwendige ist ein schöpferisches


Prinzip
15. Daß es außerhalb unserer unmittelbaren Erfah-
rung noch etwas gebe, was im Gegensatz zu den Er-
fahrungsdingen unmittelbar notwendig sei und als erste
Ursache für sie betrachtet werden müsse, ist streng er-
wiesen. Und nicht bloß dadurch, daß es unmittelbar not-
wendig ist, sondern auch dadurch, daß es etwas aus
nichts bewirken kann, erscheint es mächtig von allem,
was in unsere Erfahrung fällt, verschieden. Es ist wahr,
daß auch die Verursachungen, die in unsere Erfahrung
fallen, von doppelter Art sich zeigen. Die einen führen
zu einer Umwandlung, wie wenn etwas Eckiges abge-
rundet wird; die andern zu einer bloßen Aktualisierung
ohne Aufhebung einer früher bestandenen Aktualität,
wie z. B. wenn einer aus einem Nichthörenden durch den
mittelbaren Einfluß der Schallwellen zu einem Hörenden
wird. Allein auch im letzteren Falle ist außer der wir-
kenden Kraft ein Subjekt gegeben, welches die Wirkung
aufnimmt. Zu dem Wirken jenes unmittelbar Notwen-
digen ist auch ein solches nicht erfordert. Es wirkt auch
in diesem Sinne, was es wirkt, aus nichts. Mag nun sein
,virken als ein anfangendes oder als ein anfangsloses
gedacht werden, ein Subjekt als vorgängige Mitbe-
dingung des von ihm verursachten Seins ist nicht vor-
handen *) 26 ).
16. Wir sagten eben, das, was wir über die Eigen-
tümlichkeit des Wirkens des unmittelbar Notwendigen
*) Hiergegen könnte man einwenden, daß es nicht er-
wiesen sei, daß das unmittelbar Notwendige wirke, ohne auf
ein Subjekt zu wirken, vielmehr nur, daß auch das Subjekt
ein unmittelbar notwendiges sein müsse. Allein hierauf wäre
zu erwidern, daß das Örtliche als solches letztes Subjekt sein
muß, da es sonst nicht durch den Ort individualisiert sein
könnte. Gerade von dem Örtlichen als solchem ist aber nach-
gewiesen worden, daß es nicht unmittelbar notwendig sein
könne.
Gedankengang beim Gottesbeweise 457

gesagt, gelte gleichmäßig für den Fall, daß es die Wir-


kung von einem gewissen Zeitpunkt an oder anfangslos
setze. Die Unterscheidung dieser beiden Möglichkeiten
könnte müßig erscheinen, denn wenn keine der nötigen
Mitbedingungen fehlt, so tritt die Wirkung einer Ursache
sofort ein, wenn sie selbst gegeben ist. Das unmittelbar
Notwendige scheint aber selbst von Ewigkeit bestehen
zu müssen, und eine unentbehrliche Mitbedingung seines
Wirkens kann darum nicht fehlen, weil es ja keiner Mit-
bedingung bedarf. Allein man übersieht, daß das un-
mittelbar Notwendige, so wahr es ist, auch in der Zeit
ist. Und daß es zunächst ebensogut als ein unmittelbar
notwendiger Verlauf wie als ein unmittelbar notwendiger
unveränderter Fortbestand gedacht werden kann, ähn-
lich wie von dem mittelbar Notwendigen neben dem
ruhenden Körper auch ein in gewisser Richtung mit
gewisser Geschwindigkeit sich fortbewegender denkbar
ist. Ja, es ließe sich vielleicht nachweisen, daß seine
Fortdauer in der Zeit selbst schon als eine gewisse reale
Veränderung angesehen werden muß 27 ).

III. Das unmittelbar Notwendige ist nicht wechseUos


17. Doch ohne jetzt hierauf Rücksicht zu nehmen,
können wir aufs einleuchtendste dartun, daß das un-
mittelbar Notwendige nicht ohne allen Wechsel gedacht
werden kann. Wir haben es erschlossen aus dem, was
uns in der Erfahrung vorliegt. Es ergab sich als Ursache,
die dieses mittelbar notwendig macht. Nun zeigt sich
aber, was uns in der Erfahrung vorliegt, nicht ohne
Wechsel, und es ist schlechterdings unmöglich, daß
etwas, was selbst ohne allen Wechsel ist, Ursache eines
Wechsels werde. In diesem Sinne hat TRENDELENBURG
ganz richtig gesagt, es sei denkbar, daß Bewegung zur
Ruhe, nicht aber, daß Ruhe zur Bewegung führe. Frühere
Philosophen hatten dies nicht ebenso erkannt und darum
das erste, durch sich selbst notwendige Prinzip voll-
kommen wechsellos gedacht. Dennoch hatte wenigstens
468 Wechsel im l!lchöpferisohen Prinzip

der Bedeutendste unter ihnen, ARISTOTELES,das Be-


denkliche, das in dieser Behauptung liegt, sehr wohl
empfunden und sich daraufhin bemüht, durch Annahme
einer besonderen Natur des ersten von dem Unbewegten
erzeugten Wechsels den Hervorgang von Bewegung aus
Unbewegtem begreiflich zu machen. Die erste Bewegung
sollte die völlig gleichmäßige Kreisbewegung einer Him-
melssphäre sein, und so bei dem Wechsel immer Gleiches
an die Stelle von Gleichem treten. Sei dies der Fall, so
erscheine auch das anfangslose Wirken des ersten, un-
bewegten Bewegers immer gleich. Die bewegte Sphäre
sollte dann auf andere Sphären und mit ihnen und durch
sie auf die irdische Welt wirken und vermöge der Sterne,
die an ihr und den andern Himmelssphären haften, den
ganzen Verlauf der Veränderung durch Generation und
Korruption zur Folge haben. Die Astronomie hat den
Wahn, als gäbe es solche Sphären, längst zerstört, und
vielleicht wäre es nicht allzu schwer zu zeigen, daß sie
auch nicht das leisten würden, was ARISTOTELESsich
von ihnen versprochen hatte 28 ).
18. Außerdem hält ARISTOTELESfür nötig, sein erstes
unbewegtes Prinzip als einen Verstand zu denken, welcher
ein Gut denkt, zu welchem alles als zu seinem Zwecke
geordnet ist. So ist es nach ihm allwissend und all-
bestimmend. Wenn es nun allwissend ist, so muß es alle
Wahrheit erkennen, und da nicht alles, was wahr ist, immer
wahr ist, nicht immer erkennen, was es einmal erkennt.
Wenn es jetzt erkennt, daß etwas nicht ist, aber sein wird,
so erkennt es später, daß es ist, und noch später, daß es
gewesen ist. Ähnlich wird es einmal wollen, daß etwas
sein werde, ein anderes Mal, daß es sei, und wieder ein
anderes Mal wird es ihm gefallen, daß es gewesen sei.
Somit kann ARISTOTELESnicht ohne Widerspruch be-
haupten, daß sein erstes Prinzip völlig unveränderlich
sei. Die Behauptung, daß es ein zwecktätiger Verstand
sei, erschien aber ARISTOTELESdarum geboten, weil er
gefunden hatte, daß in dem ganzen Bereich der Er-
Gedankengang beim Gottesbeweise 459

fahrung sich nichts anderes findet, das, selbst unbewegt,


bewegt. Nun zeigt sich, daß auch sein Verstand nicht
bewegt, indem er selbst ganz unbewegt ist, also ist es
ganz ausgeschlossen, daß das erste Prinzip eines Wechsels
selbst ganz wechsellos zu denken sei 29 ).
19. Wenn ARISTOTELESin dieser Beziehung irrte, so
müssen wir fragen, ob er vielleicht auch nicht recht ge-
habt habe, da er lehrte, das erste, durch sich selbst not-
wendige Prinzip müsse ein Verstand sein. Der Grund,
den wir ihn eben dafür anführen hörten, nämlich, daß
das erste Prinzip wechsellos sein müsse, ist ja entfallen.
Aber andere Argumente bieten sich dar, die in diesem
Punkt seiner Lehre zur Sicherung dienen.

IV. Das unmittelbar Notwendige: ist ein Verstand


Vier Beweise dafür
20. Wir haben gesehen, daß die Körper aus nichts
hervorgebracht sind. Nehmen wir nun an, sie seien durch
ein blindes Wirken hervorgebracht, so hieße dies an-
nehmen, daß es etwas unmittelbar Notwendiges gebe,
welches einen gewissen Raum blind wirkend erfülle und
erfüllen müsse, daß es aber kein unmittelbar Notwendiges
gebe noch geben könne, welches ähnlich einen gewissen
anderen von den unzähligen zu unterscheidenden Teilen
des Raumes blind wirkend zu erfüllen vermöchte. Bei
der Gleichgültigkeit der örtlichen Lage wird jeder eine
solche Annahme zurückweisen. Sie wäre ebenso paradox
wie die Annahme, daß die Erfüllung gewisser Räume
unmittelbar notwendig und die aller andern nicht un-
mittelbar notwendig gewesen wäre. Nicht ebenso un-
gereimt erscheint es, wenn einer sagt, ein Verstand, der
die Vorstellung aller möglichen Räume gehabt habe,
habe von ihnen einen Teil ausgewählt. Eine solche Aus-
wahl ist so gewiß denkbar, als jeder Ort vc :, andern
irgendwie verschieden ist, wenn auch die Unterschiede
keine solchen sind, daß es ohne Ungereimtheit ange-
460 Vier Beweise für den Verstand

nommen werden kann, den einen seien durch sich selbst


notwendige Wesen, die sie blind verwirklichten, zuge-
ordnet, den andern aber nicht 30 ).
21. Noch mehr! Wenn die ersten unmittelbar not-
wendigen Prinzipien das, was sie wirken, aus nichts
wirken, so scheinen sie, wenn sie blind wirken, so viel-
teilig sein zu müssen, als das von ihnen Gewirkte. Inso-
weit sie einheitlich sind, können sie, da sie keine Mit-
bedingungen des Wirkens haben, welche in ihrer Mannig-
faltigkeit die Verschiedenheit der Wirkungen erklären,
auch nur eine einheitliche Wirkung zur Folge haben*).
So müßte denn das unmittelbar Notwendige, welches die
Körperwelt hervorbringt, wenn es blind wirkte, so viel-
teilig sein als die Körperwelt selbst, und es müßte darum
in drei Dimensionen ausgedehnt sein. Dann aber würde
alles das, was gegen die unmittelbare Notwendigkeit der
Körper spräche, auch gegen seine unmittelbare Not-
wendigkeit sprechen, ja man würde dazu geführt werden,

*) Schon ARISTOTELESrührt an diesen Gedanken. Im


XII. Buch der Metaphysik wirft er ANAXAGORAS vor, daß er
bei der Annahme einer einheitlichen Materie es nicht begreif-
lich erscheinen lasse, wie infolge der Einwirkung eines ein-
heitlichen Prinzips vieles entstanden sei. Daß er dabei die
Lehre des ANAXAGORAS frei deutet, da dieser seinen Ver-
stand nicht blind wirkend und auch das, worauf er wirkte,
nicht ohne irgendwelche Vielheit dachte, ändert nichts an
der Kraft des Gedankens, auf wahrhaft entsprechendes Über-
tragen. (Nach ARISTOTELEShätte ANAXAGORAS das Chaos
nicht auf den vov, wirken lassen und diesen es auch nicht
a priori erkennen lassen dürfen, da er nicht sein Schöpfer
sein sollte. Auch hätte er das Chaos als bloße Fähigkeit zu
allem fassen müssen. Dann aber hätte man auf der Seite
des Leidenden so wenig als auf Seite des Wirkenden ein die
Vielheit der Wirkungen erklärendes Prinzip.)
Ganz deutlich kehrt der Gedanke bei CLARKE in seiner
Abhandlung „Über das Dasein und die Attribute Gottes"
wieder und wahrscheinlich ganz unabhängig von ARISTOLES.
Er gehört zu den bedeutendsten Bemerkungen des auch sonst
nicht gering zu schätzenden Werkes, das von HUME, wie
auch von KANT berücksichtigt worden ist.
Gedankengang beim Gottesbeweise 461

es selbst für körperlich zu halten. Jedenfalls würde die


Annahme, es habe noch mehr als drei Dimensionen,
wenn sie überhaupt bei der Charakteristik von etwas,
was zu Dreidimensionalem in ursächlicher Beziehung
steht, zulässig wäre, die Sache nicht bessern. Dagegen
besteht für den, welcher einen Verstand_ als das erste
Prinzip einer Körperwelt denkt, auch diese Schwierig-
keit nicht, indem das Denken eines Ausgedehnten in
voller Einheitlichkeit die ganze Mannigfaltigkeit des-
selben zum Gegenstande hat und so auch sein Wollen
die ganze Mannigfaltigkeit einheitlich berühren kann.
22. Zu diesen beiden Argumenten gesellt sich ein
drittes. Wir haben im Vorausgehenden erkannt, daß die
erste, durch sich selbst notwendige Ursache eines Wech-
selnden selbst nicht wechsellos sein könne. Diese Lehre
erscheint aber zunächst nicht wenig erstaunlich, sollte
man doch meinen, daß etwas, was unmittelbar notwendig
ist, von aller Ewigkeit her, so wie es ist, gewesen sein
müsse, und nun soll dies so wenig der Fall sein, daß es
vielmehr, wie es jetzt notwendig, vormals unmöglich
war und wie es vormals unmittelbar notwendig war, jetzt
unmittelbar unmöglich ist 81). So begreift es sich denn
recht gut, warum die größten Philosophen aller Zeit jeden
Wechsel in dem schlechthin Notwendigen für schlechter-
dings ausgeschlossen hielten. In der Tat wird er nur
dann denkbar sein, wenn es sich um einen solchen Wechsel
handelt, welcher weit davon entfernt, das Frühere und
Spätere im Gegensatz zu zeigen, vielmehr geradezu ver-
langt ist, um jeden Gegensatz zwischen dem Späteren
und Früheren auszuschließen. Das aber ist der Fall
bei dem allwissenden und allbestimmenden Verstande.
Wenn er, was er früher, auch später noch als erst in hun-
dert Jahren stattfindend glaubte und zu bewirken sich
vorsetzte, so würde er ebenso mit sich in Disharmonie
sein wie einer, der nach einem Jahr heiraten wollte, wenn
er nach Ablauf des Jahres immer noch den Willen hätte,
in einem Jahr zu heiraten.
462 Vier Beweise für den Verstand

23. Zu allen diesen Argumenten kommen auch noch


die vielen Erfahrungen, welche eine Zweckordnung in
der Natur anzudeuten scheinen, die alles, was mensch-
liche Kunst in ihren Werken zeigt, weitaus übertrifft.
Man hat nun allerdings gesagt (D. HuME}, dieser Schein
von Ordnung lasse sich ebenso wie auf einen Verstand
auch auf eine in der blind wirkenden Natur vor bestehende
Ordnm{g zurückführen, erzeuge doch blind wirkend
Pferd das Pferd und Löwe den Löwen. Gerade die voll-
kommeneren Ordnungen, welche die Erfahrung zeige, er-
schienen nicht von einem Verstand, sondern blind durch
solche Ordnung hervorgebracht. Dabei glaubte man dem
Einwand, daß eine solche Erklärung nicht als endgültige
genüge, dadurch begegnen zu können, daß man darauf
hinwies, wie man bei der Rückführung der Ordnung
auf einen Verstand in diesem ebenfalls die Ordnung
vorbestehend denken müsse und so hinsichtlich der Kom-
plikation der Hypothese in keiner Weise im Vorteil sei.
Allein diese Entgegnung genügt nicht. Einmal wegen
jener Einheitlichkeit bei aller Mannigfaltigkeit des Ge-
dankens, welcher wir früher schon, da wir vom Ursprung
der Raumerfüllung gehandelt, Erwähnung getan, dann
aber und ganz besonders, weil bei der Rückführung auf
eine frühere natürliche Ordnung die hauptsächliche Be-
dingung einer endgültigen Erklärung verletzt ist, indem
das als erste Ursache Bezeichnete so wenig unmittelbar
notwendig sein kann als die zu erklärende Ordnung selbst.
Bei der Rückführung auf ein denkendes Prinzip ist dies
anders 32 }.
So ist denn die Lehre des ARISTOTELESin betreff des
ersten unmittelbar notwendigen Prinzips, so gewiß sie in
der Behauptung seiner gänzlichen Unveränderlichkeit ver-
fehlt ist, insoweit als unzweifelhaft richtig fest zu halten,
als dieses Prinzip nicht als ein blind, sondern als ein mit
Verstand wirkendes gefaßt werden muß.
Gedankengang beim Gottesbeweise 463

Einwand gegen das teleologische Argument


24. Dieser Satz ist von solcher Wichtigkeit, daß wir
nichts unberücksichtigt lassen dürfen, wodurch man ver-
sucht hat, den Eindruck der dafür erbrachten Argu-
mente zu schwächen. Insbesondere war es das vierte
Argumer.t, das dem Denken des gemeinen i,fannes am
nächsten liegt, gegen welches sich solche Versuche rich-
teten. Der Darwinismus wollte die scheinbare Zweck-
ordnung in dem Bau der Organismen und in den In-
stinkten der Tiere, in der Korrespondenz von Bewegung
und Wille, sowie in den intellektuellen und moralischen
Veranlagungen des Menschen als notwendige Folge der
exklusiven Erhaltung und Anhäufung solcher zufällig
eintretenden Veränderungen begreifen, welche ein Indivi-
duum gegenüber dem andern in Vorteil setzten. Hißr-
mit schien dann der weitaus bedeutendste Teil der
scheinbaren Teleologie auf blinde Notwendigkeit zurück-
geführt und nach einem so weitgehenden partiellen Erfolg
der Gedanke nicht ausgeschlossen, daß auch der Rest
sich einmal als Produkt blinder Notwendigkeit werde be-
greifen lassen.
Doch der Darwinismus hält der Kritik nicht stand.
Die Lehre DARWINSläßt zwei Teile unterscheiden. Der
eine lehrt die Fortbildung der Arten zu andern Arten.
Diesen hat DARWIN mit früheren gemein. Man kann
darum DARWINnur das Verdienst zuschreiben, Tatsachen,
welche dafür sprechen, in reicherer Fülle erbracht und
so der früher fast allgemein abgelehnten Lehre Ein-
gang verschafft zu haben. Der andere Teil ist ein ihm
origineller Beitrag, nämlich ein Erklärungsversuch der
allmählichen Umbildung, welcher die von LAM.ARCK und
andern erdachten und als hinfällig erwiesenen ersetzen
sollte. Dieser Teil ist für unsere Frage vorzüglich von
Bedeutung. Von ihm aber gilt, daß er ebenso unhaltbar
ist wie die von LAMARCKgemachten Versuche. Ohne auf
anderes einzugehen, wie z. B. auf Lord KELVINS Unter-
464 Vier Beweise für den Verstand

suchung über die Länge der Zeit, in welcher die Erde


fähig war, Organismen zu beherbergen, sei nur darauf
verwiesen, daß sich die darwinistische Erklärung weder
auf die Bildung neuer Organe und ihre Entwicklung bis
zur ersten Brauchbarkeit, noch auf die Vervollkomm-
nung schon hoch entwickelter und sozusagen exquisiter
anwenden läßt. Auf die letzteren nicht, weil in solchen
Fällen das Zahlenverhältnis der möglichen günstigen
und ungünstigen zufälligen Abänderungen die letzteren
in stets wachsender Majorität erscheinen läßt. Der Dar-
winismus erweist sich diesem seinem zweiten Teil nach
als ein oberflächlicher Anthropomorphismus. Der Blick
auf die Entwicklung so verschiedener Organe wie Holz,
Blatt, Blüte, Wurzel, wenn die Pflanze anderen äußeren
Einflüssen ausgesetzt wird; ferner auf die Entwicklung
der beiden Geschlechter aus gleichem Keim; ferner auf
die Fälle der Heterogenese; und wiederum auf die in
plötzlichem Ruck sich vollziehende Anpassung, die teils
beobachtet, teils experimentell bewirkt worden ist, läßt
uns erkennen, daß die Natur über ganz besondere Mittel
zur Fortbildung der Arten verfügt, welche den Schein
der Teleologie, weit entfernt ihn zu mindern, nur ver-
mehren. Was von der Ontogenie, muß aut)h von der Phy-
logenie gesagt werden*). Zudem ist es nicht richtig, daß
der Darwinismus, wenn haltbar, nur unscheinbare Reste
von Zweckordnung unerklärt zurückla.;;sen würde. Er
setzt, um eines zu erwähnen, die Möglichkeit der Fort-
pflanzung voraus, und diese ist eine Leistung, die aller
menschlichen Kunstwerke spottet. Auch ist nichts
irriger, als die Behauptung KANTS, welcher den Schein
der Teleologie auf die organische Welt beschränken
*) Die Weise, wie bei der Ontogenie die Entwicklung mit
einem Zellenhaufen beginnt, der bei Gleichheitlichkeit der
Zellen, je nach der Lage im Mutterschoß, die einen zur Bil-
dung des einen, die andern zur Bildung des andern Organs
gelangen läßt, zeigt in großartigster Weise die Tatsache viel-
facher teleologischer Entwicklungsanlagen, auf welcher auch
die Phylogenie beruht 33 ).
Gedankengang beim Gottesbeweise 465

wollte. Wer den Atomismus für gesichert hält, wird mit


MAXWELL als etwas Staunenswertes erkennen, daß
Billionen und Trillionen von Atomen genau gleich und
wie aus einer Form gegossen sind. Wer aber nicht an den
Atomismus glaubt, dem wird die Tatsache ähnlich
staunenswert sein, daß trotz einer Zerteilbarkeit in
jedem rationalen und irrationalen Verhältnis die che-
mischen Mischungen nur in wenigen fixierten und in ge-
nauen multiplen Verhältnissen stattfinden. Zu dieser
allgemeinen Bedingung der natürlichen Ordnung kom-
men noch eine große Zahl anderer, welche, wenn sie nicht
schon auf dem Gebiet der unorganischen Welt erfüllt
wären, die organische jeder Möglichkeit des Entstehens
und Bestehens beraubten 34 ).

Physische Sicherheit der vier Beweise für den


schöpferischen Verstand
25. Noch in einer andern Weise hat man versucht,
den Beweis dafür, daß das erste, durch sich selbst Not-
wendige ein Verstand sein müsse, minder eindrucksvoll
zu machen. Man hat gesagt, der Beweis sei ein bloßer
Wahrscheinlichkeitsbeweis, und wenn man einen solchen
in einem Fall, wo die erwiesene Wahrscheinlichkeit eine
unendlich große sei, auch einem streng zwingenden Be-
weis so gut wie gleich erachten könne, so doch nicht in
einem, bei welchem keine Berechnung die Unendlichkeit
der Wahrscheinlichkeit ergeben habe. Und so sei denn
durch das, was wir gesagt, die Lehre von einem unmittel-
bar notwendigen Verstande als erstem Prinzip der Er-
fahrungswelt keineswegs gesichert.
26. Demgegenüber wird es gut sein, vor allem darauf
hinzuweisen, daß die Naturwissenschaft, die in so hohem
Ansehen steht, in keinem einzigen Falle eine ihrer all-
gemeinen Hypothesen mit einer geradezu unendlichen
Wahrscheinlichkeit erwiesen hat. Nicht einmal das
Gravitationsgesetz, ja vielleicht auch nicht das Gesetz
der Trägheit ist mit geradezu unendlicher W ahrschein-
466 Physische Sicherheit der vier Beweise

lichkeit festgestellt. Die inductio per enumerationem


simplicem gibt nach dem Gesetz der großen Zahlen wohl
eine ins Unendliche wachsende Wahrscheinlichkeit für
einen angrenzenden neuen Fall, und bei einer Kontinuität
von Beobachtungen würde infolge davon die Wahrschein-
lichkeit einer solchen Folgerung eine unendlich große
werden. Allein von dem Schluß auf einen folgenden Fall
oder auch eine endliche Zahl derselben ist der auf eine
Unendlichkeit von neuen Fällen, wie sie die Aufstellung
eines allgemeinen Gesetzes involviert, wohl zu unter-
scheiden. Die Wahrscheinlichkeit nimmt dann eben nach
dem Gesetz der großen Zahlen in dem Maß wieder ab, als
die Fälle, aul die man schließt, sich vermehren. Und
so kann denn hier von einer unendlichen W ahrschein-
lichkeit, ja vielleicht überhaupt von einer überwiegenden
Wahrscheinlichkeit gar nicht mehr die Rede sein. Daher
kommt es denn, daß tieferblickende Naturforscher zu der
Überzeugung gelangt sind, daß wir hinsichtlich der Natur
überhaupt nie zur Erkenntnis von Gesetzen, sondern
nur von Tatsachen, welche für die nächste Zeit mit
großer, ja unendlicher Wahrscheinlichkeit als gleich-
mäßig eintretend zu erwarten sind, gelangen können,
was uns für die Praxis des Lebens genüge. Würden sie
für ein wirkliches Gesetz einen großen, wie auch immer
endlichen Wahrscheinlichkeitsbruch erlangen, so würden
sie glauben, dies sei eine Leistung, die alles bis jetzt Er-
rungene überböte. Vergleichen wir nun damit unseren
Fall, wo es sich darum handelt, ob etwas unmittelbar Not-
wendiges ein Verstand sei. Hier gilt der Schluß nicht
einem momentanen Fall, sondern einer ewigen, unmittel-
bar notwendigen Wahrheit, die darum als feststehendes
Gesetz zu bezeichnen ist. Und würde darum die Schluß-
folgerung wirklich nicht eine geradezu unendliche Wahr-
scheinlichkeit, sondern nur eine solche haben, bei welcher
sich die Chancen pro und contra wie Billion oder Trillion
zu l verhielten, so würde die wissenschaftliche These
doch hinsichtlich ihrer Sicherheit als ganz hervorragend
Gedankengang beim Gottesbeweise 467

erscheinen und eine Besorgnis, sie möge falsch sein und


wir täten nicht gut, uns im Gedanken an sie zu trösten
und sie, wie für unser Gefühl, auch für all unser Handeln
maßgebend zu machen, ausschließen 36 ).
27. Doch sehen wir zu, ob die Wahrscheinlichkeit des
Schlusses hier wirklich nur eine endliche ist. Wir müssen
bei dieser Untersuchung auf jedes der vier erbrachten
.Argumente im besonderen Rücksicht nehmen.
Das erste stützte sich darauf, daß eine unendliche Viel-
heit, als aktuell gegeben, ausgeschlossen, der Möglichkeit
nach aber unLugbar sei. Für Körperliches und Seelisches
wurde dies mit jener Sicherheit nachgewiesen, mit welcher
wir überhaupt an eine Außenwelt glauben. Und hier
dürften wir mit verschwindenden Ausnahmen die ganze
Menschheit für uns haben. Alles Weitere ergab sich aber
mit einer Wahrscheinlichkeit, für deren Ausdruck kein
endliches Zahlenverhältnis genügt. Es ist also, was dies
.Argument anlangt, nicht richtig, daß die Wahrschein-
lichkeit nur eine endlich große ist.
Das zweite .Argument machte geltend, daß, wenn das
erste wirkende Prinzip blind wirkend sei, es ebenso ~el-
teilig als das Gewirkte sein müsse. Daraus ließ sich
folgern, daß in solchem Fall das erste Prinzip eines Kör-
pers selbst drei Dimensionen haben müsse, und daß der
frühere Beweis gegen die unmittelbare Notwendigkeit
eines Körpers auch die Unannehmbarkeit seiner un-
mittelbaren Notwendigkeit dartue. Auch hier hatten wir
es also nicht mit einem bloß endlichen Wahrscheinlich-
keitsbeweis zu tun.
Wir kommen zum dritten .Argument. Dasselbe stützte
sich darauf, daß das erste Prinzip einer Veränderung und
kontinuierlichen Bewegung nicht selbst ganz wechsellos
sein könne, daß aber Wechsel und Bewegung in der Er-
fahrungswelt gefunden werde. Wenn nun hieraus sich der
Schluß ergab, daß das unmittelbar Notwendige selbst
einem Wechsel unterliege, so ergab sich die Aufgabe, zu
zeigen, wie dies ohne Widerspruch gegen seine unmittel-
468 Physische Sicherheit der vier Beweise

bare Notwendigkeit denkbar sei. Zunächst erscheint die


Behauptung ja sehr paradox, und dafür zeugt die Zahl
der Denker ersten Ranges, welche die Aufgabe für
geradezu unlöslich hielten und darum mit aller Ent-
schiedenheit die Ansicht vertraten, das Erste, unmittel-
bar Notwendige müsse schlechterdings wechsellos sein.
Indem wir nun die Sache erwogen, fanden wir, daß sie
Recht haben würden, wenn nicht eine Ausnahme sich
böte, in welcher in wundersamer Weise das Wechselnde
mehr als mit sich im Einklang und mehr als konstant
erscheint, als das, welches den betreffenden Wechsel
ausschließen würde. Und dieser einzige Fall, der sich
denken läßt, ist der Fall eines die ganze Geschichte nach
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft konstant er-
kennenden Wesens. Ein stetig gleichmäßiger Wechsel
der Temporalmodi für die verschiedenen Ereignisse, da
jed~s ja mit einem stetig anderen Temporalmodus anzu-
erkennen ist, mußte seinem Erkennen eigen sein 38 ). So er-
gab sich denn aufs neue der Schluß, daß das Erste, un-
mittelbar Notwendige ein erkennendes Wesen sein müsse.
Fragen wir nun, ob dieser Schluß nur ein Wahrscheinlich-
keitsschluß und einer mit nur endlicher Wahrscheinlich-
keit sei, so scheint es, daß man seiner vollen Kraft nicht
gerecht würde, wenn man ihm eine so geringe Sicherheit
zuschriebe, da es ja schlechterdings unerfindlich ist, wie
die schmerige Aufgabe, an deren möglicher Lösung die
größten Denker verzweifelten, außer der genannten noch
eine zweite zulassen sollte. Vielleicht teilen hier alle,
welche den Fall genügend erwägen, meine Überzeugung.
Andernfalls werden sie darin doch eine neue, sehr ein-
drucksvolle Verifikation des durch die früheren Argu-
mente bereits Erwiesenen anerkennen müssen.
28. Es bleibt noch das vierte Argument, das populärste
von allen, welches sich auf den Schein der Teleologie in
der Erfahrungswelt beruft.
Daß dieser Schein ein unermeßlich großer sei, wird
kaum von einem Verständigen geleugnet. Aber für uns
Gedankengang beim Gottesbeweise 469
unermeßlich groß heißt doch noch nicht so viel als ge-
radezu unendlich groß sei. Es ist gewiß wahr, daß, wenn
einer die sämtlichen Buchstaben der Ilias blindlings aus-
gestreut denkt, die Annahme, daß sie sich zu der Ordnung,
in der sie bei Homer sich finden, gruppieren werden, ihm
wegen ihrer Unwahrscheinlichkeit für so gut wie unmög-
lich gilt. Allein der Wahrscheinlichkeitsbruch wäre doch
durch endliche Zahlen auszudrücken. Nur könnten wir,
ähnlich wie schon an einer früheren Stelle, hervorheben,
daß, wenn nur eine Wahrscheinlichkeit von derselben
oder einer nicht geringeren Größe auch zugunsten des
Scheins der Teleologie in der Natur sich nachweisen
ließe, der Satz von der Verständigkeit des unmittelbar
Notwendigen in einer unser Gemüt befriedigenden Weise
gesichert wäre. Allein wir können mehr tun als dieses.
Der Wahrscheinlichkeitsbruch für die Frage, ob der
Schein der Teleologie als wirkliche Teleologie zu begreifen
sei, ergibt sich aus dem Vergleich der Zahl der gleich
denkbaren Fälle, welche eine so ausgezeichnete schein-
bare Ordnung zeigen, mit jenen, die sie nicht zeigen.
Forscht man danach, so ergibt sich eine unendliche
Majorität der Fälle der Unordnung. BOLTZMANNhat
daraufhin die Entropie in ihrem Grunde verständlich
machen wollen und allgemeinen Beifall geerntet. Frei-
lich steht seine Lehre von der Destruktion der Ordnung
durch sich häufende Zufälle in einem bemerkenswerten
Gegensatze zu der Behauptung DARWINS, nach welcher
auf einem gewissen Gebiete wenigstens die sich häufen-
den Zufälle mit höchster Wahrscheinlichkeit zum Aufbau
einer immer vollkommeneren Ordnung führen würden.
Allein wir legten bereits dar, welchen Bedenken die DAR-
wrnsche Hypothese unterliege, und außerdem, wie groß
der Schein der Teleologie bei gewissen für ihn unentbehr-
lichen Voraussetzungen sei. Wenn sie wirklich zur Folge
hätten, daß, statt der von BOLTZMANNnachgewiesenen
unendlichen Wahrscheinlichkeit der Destruktion jedes
Scheins von Ordnung, eine Herausbildung eines solchen
4 70 Physische Sicherheit der vier Beweise

Scheins mit unendlich großer, ja auch nur mit endlich


großer Wahrscheinlichkeit einträte, so würden sie selbst
nicht ohne unendliche Unwahrscheinlichkeit auf etwas
anderes als auf eine Zweckordnung zurückgeführt werden
können 37 ).
29. Verfänglicher könnte ein anderer Einwand erschei-
nen. Man hat darauf hingewiesen, daß, was in einer end-
lichen Zeit nur mit einer unendlich kleinen Wahrscheinlich-
keit zu erwarten wäre, in einer unendlichen Zeit mit un-
endlich größerer Wahrscheinlichkeit eintreten könne. Und
so habe man sich unter der Annahme, daß die Welt an-
fangslos bestehe, über jene Fälle einer scheinbaren erstaun-
lich vollkommenen Teleologie nicht mehr zu verwundern.
Allein, einmal gibt es unendlich große Wahrscheinlich-
keiten verschiedener Ordnung, und wenn man erwägt,
daß es sich um Ordnungen handelt, welche im dreidimen-
sionalen Raum bestehen, so erkennt man leicht, daß die
Berufung auf eine unendliche, eindimensionale Zeit nicht
genügt, um den Wahrscheinlichkeitsbruch, der unendlich
klein war, zu einem Bruch von endlicher Größe zu er-
heben 38 ).
Und außerdem ist es klar, daß, wenn der Übergang von
Unordnung zu scheinbarer Ordnung ohne Zweckordnung
sich von Zeit zu Zeit vollzöge, dies ungleich leichter und
öfter in kleinen Partien und kurzen Perioden als in
großen Partien und langen Perioden geschehen würde.
So würde denn die Tatsache, daß wir in einer Periode
ausnahmsloser Entropie leben, nicht mehr durch BOLTZ-
MANN erklärt sein.
30. Diese allgemeine Betrachtung kann noch ausdrucks-
voller gemacht werden, wenn man auf einzelnes eingeht.
So z.B., wenn man die Wahrscheinlichkeit vergleicht,
daß bei der Unendlichkeit des leeren Raumes in jeder
seiner drei Dimensionen auch nur zwei Körperparti.k.elchen
sich in solcher relativer Lage zueinander befinden, daß
sie eine Wirkung auszuüben vermögen. Es ist unendlich-
mal unendlich unwahrscheinlich, daß auch nur zwei sich
Gedankengang beim Gotteabeweise 471

beisammenfinden, oder wenn jedes in Bewegung ist, daß


ihre Bahnen sich schneiden und daß sie, wenn dieselben
sich auch schneiden sollten, in dem Kreuzungspunkt sich
begegnen würden. Nur vermöge einer unseren Natur-
forschern fremden Auffassung, nach welcher eine einheit-
lich ausgedehnte Substanz den physikalischen Prozessen
als akzidentellen unterläge 39 ) und diese infolge davon an
der Grenze der Substanz eine Umkehr erlitten, könnte
man den eben erbrachten Nachweis zu entkräften suchen.
Allein genau erwogen, wäre der Versuch kein glücklicher;
denn die zugrunde liegende einheitliche Substanz würde
als eine Vielheit aufzufassen sein, von welcher jede Ein-
heit ihren unabhängigen Bestand hätte 40 ), und der Kon-
takt aller dieser Einheiten zeigte uns dieselbe Unwahr-
scheinlichkeit, welche sich früher für die Berührung ver-
schiedener Partikelchen ergeben hatte.
Wir wollen noch einen anderen Punkt im besonderen
berühren. MAXWELL, welcher auf dem Boden des Atomis-
mus stand, hob hervor, daß die sämtlichen Atome einer
Spezies wie aus einer Form gegossen erschienen. Man
erkennt leicht, daß ein so hoher Grad der Übereinstim-
mung auch nur von zweien von vornherein unendlich
unwahrscheinlich erscheinen muß. Sie ist aber eine
scheinbar höchst teleologische, da ohne ein solches un-
endlich harmonisches Material die Vorbedingung für
die organische Welt fehlen würde. Verwirft man aber
den Atomismus, so beraubt man sich der Möglichkeit,
die Lehre von den chemischen Äquivalenten als not-
wendig zu begreifen, und die Regelmäßigkeit, die dann
in ihr für die gesamte Körperwelt gegeben ist, erscheint
dann wieder als ein Fall gegenüber unendlich vielen
gleich denkbaren, wobei der wirklich gegebene der schein-
bar wundersam teleologische ist 41 ).
31. So könnte man noch weiter ins einzelne gehen und
immer neu würde sich ein Wahrscheinlichkeitsbruch er-
geben, der nicht als endlicher gefaßt werden könnte.
Habe ich doch in den beiden Punkten, die ich besprach,
472 Erhabenheit des Urverstandes

nur solches berührt, was Unorganischem wie Organischem


gemeinsam ist, während spezielle Erscheinungen des
organischen· Gebietes in dem Maße auffallender eine
Teleologie uns zeigen, daß, wie ich schon sagte, selbst
KANT eine solche nur hier zu erblicken vermc,chte.
Hier stößt man dann auch auf die Zusammenordnung
des Unbewußten mit dem Bewußten, das ohne Rück-
gang auf einen bewußten Urgrund einem LOCKE so un-
unglaublich schien, daß er in der Tatsache des Verstandes
den unwiderleglichsten Beweis für die Annahme eines
göttlichen Verstandes erblickte ' 2 }.
Nach allem Gesagten haben wir also sicher einen mehr
als endlichen Wahrscheinlichkeitsbeweis dafür, daß das
erste, unmittelbar Notwendige als ein erkennendes Prinzip
angesehen werden müsse.
Und sehr wohl stimmt es dazu, daß, wie sich gezeigt
hat, dieses erste unmittelbar Notwendige unmöglich aus-
gedehnt gedacht werden kann, da nachweisbar auch unser
Verstand unausgedehnt ist. Wohl sind wir in unserem
Denken von körperlichen Organen bedingt, allein kein
körperliches Organ ist Subjekt unseres Denkens, muß
doch dieses für die Gesamtheit unseres Denkens ein und
dasselbe sein, während die körperlichen Organe, die uns
dabei dienen, dies in sehr verschiedener Weise tun, so daß
eine Störung, die in dem einen und anderen eintritt, sich
in ganz anderer Art bemerklich macht 43 ). Das unmittelbar
Notwendige hat natürlich keine Organe nötig, da es ja als
unmittelbar notwendig schlechterdings unbedingt ist.

V. Gegensatz des Urverstandes zu aUen empirischen.


Geistern
32. Aus dem Gesagten erhellt nicht bloß die Existenz
eines Verstandes, von dem wir keine unmittelbare Er-
fahrung haben, als eines ersten, unmittelbar notwendigen
Prinzips, sondern auch ein Gegensatz und Abstand von
ihm zu jedem Verstand, den die Erfahrung zeigt. Jener
ist unmittelbar notwendig, dieser ist es nur mittelbar,
Gedankengang beim Gottesbeweise 473

jener hat die Macht, etwas ohne jede Mitbedingung zu


wirken, dieser verlangt ein Subjekt, das seine Wirkung
aufnimmt oder durch sie ungewandelt wird, ohne daß
das Maß des Realen dabei wächst; jener ist, wenn nicht
ohne Veränderung, doch nur in der Art wechselnd, daß
der Wechsel ihn nicht zu sich in Gegensatz bringt, viel-
mehr das ist, was ihn im vollen Einklang mit sich erhält;
dieser dagegen wechselt zwischen Ignoranz und Wissen,
Irrtum und Erkenntnis, habituellem und aktuellem Den-
ken. Bei jenem ist denn auch der Wechsel ein infinitesi-
mal gleichmäßiger, der sich ohne jede Kausalität vollzieht,
denn durchwegs besteht die unmittelbare Notwendigkeit
gleichmäßig. Bei diesem ist er bald größer, bald kleiner
und zeigt keine Änderung ohne Ursache. Bei jenem wäre
ein Augenblick geminderten oder gar völlig entfallenden
wirklichen Denkens eine Absurdität; dieser könnte trotz
allem, was DESCARTESbehauptete, als im Zustand voller
Bewußtlosigkeit gedacht werden").
33. Fragen wir daraufhin, ob bei jenem Urveratand
ähnlich wie bei dem, welchen wir aus unmittelbarer Er-
fahrung kennen, von einer Zusammensetzung aus Sub-
stanz und Akzidenz gesprochen werden könne, so ist die
Frage zu verneinen. Um dies unzweifelhaft zu machen,
müssen wir an das denken, was das Kriterium dafür ist,
ob eine Bestimmung als substantiell oder akzidentell zu
betrachten sei. Zu den substantiellen Bestimmungen
gehört jede, ohne welche ein Ding schlechterdings nicht
sein könnte. Und so ist es denn, so gewiß eine körperliche
Substanz nicht ohne räumliche Ausdehnung sein kann,
sicher, daß Ausdehnung und Lokalisation substantielle
Bestimmungen des Körpers sind. Dies aber selbstver-
ständlich nicht bloß im allgemeinen, sondern auch in
specie, da ja ein Universale als Universale in Wirklichkeit
undenkbar ist. Wenn wir also finden, daß ein Körper
sich örtlich fortbewegt, so müssen wir im Gegensatz zu
der gewöhnlichen Meinung die Veränderung, die er erfährt,
nicht als eine bloß akzidentelle, sondern als eine sub-
474 Erhabenheit des Urverstandes

stantielle betrachten. Eher könnten andere Veränderungen


die er erleidet, als bloß akzidentelle gefaßt werden, wo
dann, insofern sie mit lokaler Fortpflanzung verbunden
sind, auch diese nicht als eine Verrückung von Substanz,
sondern als eine Übertragung akzidenteller Modifika-
tionen von Substanz auf angrenzende Substanz zu deuten
wäre 45 ). Ebenso erscheint unser Denken und Wollen,
so gewiß die Seele ohne sie erhalten bleiben kann, als
akzidentell. Dagegen führt uns dasselbe Kriterium dazu,
zu erkennen, daß bei dem unmittelbar notwendigen Ver-
stand sein Denken zu seinen substantiellen Bestimmungen
gehört. Es kann ja schlechterdings nicht entfallen. Der
stetige infinitesimale Wechsel im Denken des unmittelbar
notwendigen Verstandes ist also ein substantieller Wechsel.
34. Auch noch eine andere Erwägung dient dem zur
Bestätigung. Das Denken des unmittelbar notwendigen
Prinzips sollte in der Mannigfaltigkeit, die es zeigt, die
Vielheit der Wirkungen und in der Ordnung, die es zeigt,
die Zweckordnung in der Welt begreiflich machen. Wäre
nun aber dieses Denken nur akzidentell, so würde etwas
anderes als früher und allein als ursachlos erscheinen,
nämlich die Substanz, welche als solche ja dann eine
Ordnung nicht einschließen würde. Jede Substanz er-
scheint ja als Ursache für die ihr innewohnenden Akzi-
denzien, und so wäre denn in dieser Substanz allein das
unmittelbar Notwendige und somit ein solches zu sehen,
welches, so wahr es kein Denkendes ist, dessen entbehrt,
was wir eben als notwendige Eigenheit des unmittelbar
Notwendigen nachgewiesen haben 46 ).
36. Wir erkennen auch, daß der unmittelbar notwendige
Verstand vollkommen impassibel sein müsse. Er kann
der Substanz nach nicht leiden, weil er als verursacht
nicht unmittelbar, sondern mittelbar notwendig sein
würde, und er kann nicht akzidentell durch eine Ursache
modifiziert werden, weil er keine Akzidentien hat, viel-
mehr alle ihm zukommenden Bestimmungen, auch sein
Denken und Wollen, substanziell genannt werden müssen.
Gedankengang beim Gottesbeweise 475

VI. Das unmittethar notwendige Prinzip ist ein einziges


36. Durch die Entscheidung dieser Frage ist die einer
anderen vorbereitet, diejenige nämlich, ob der unmittel-
bar notwendige Verstand als einer und einziger und ein-
ziges unmittelbar notwendiges Prinzip zu betrachten sei.
Daß nichts dahin drängt, eine Vielheit anzunehmen, ist
leicht einzusehen, und schon dies könnte nach dem Prin-
zip: entia non surrt multiplicanda praeter necessitatem
uns geneigt machen, die Frage negativ zu entscheiden.
Doch es stehen uns kräftigere Argumente zu Gebote.
Vor allem ist es klar, daß, wenn es ein zweites unmittel-
bar notwendiges Wesen gäbe, dieses von jenem ver-
schieden sein müßte; denn nach dem principium iden-
titatis indiscernibilium kann eine Mehrheit ohne Unter-
schied nicht sein. Wie wäre es aber dann zu denken 1
Als ein Verstand, der anderes denkt und will und wirkend
erstrebt 1 Dann würde ein Wirken das andere stören,
zumal bei der beiderseitigen Impassibilität eine Ver-
ständigung ganz ausgeschlossen ist. Und aus demselben
Grunde kann neben dem einen unmittelbar notwendigen
Verstand kein blind wirkendes, unmittelbar notwendiges
Prinzip und somit überhaupt kein unmittelbar notwen-
diges Wirkendes angenommen werden. Es bliebe also
nur übrig, es als ein unmittelbar Notwendiges zu denken,
das keinerlei Wirkung übte. Ich denke, daß keiner diese
Annahme für irgendwie würdig erachten werde, sie in
Betracht zu ziehen, da eine absolute Kraftlosigkeit, wie
sie selbst von den bloß mittelbar notwendigen Wesen
keinem einzigen zukommt, um so weniger einem unmittel-
bar notwendigen zugeschrieben werden dürfte.
Auch müßte der unmittelbar notwendige Verstand,
wenn es außer ihm unmittelbar notwendige, verständige
oder nichtverständige \Vesen gäbe, davon Kenntnis
haben, da ja sonst auch seine Kenntnis von der Er-
reichung seiner Absichten unmöglich wäre. Natürlich
hätte er sie a priori, auf Grund bloßer Vorstellung, aber
476 Vollkommenheit der Erkenntnis und Liebe

ohne daß diese Vorstellung in der Erkenntnis seiner


selbst mit dem Umfang seiner Macht gegründet wäre,
was doch gefordert scheint, und diese Erkenntnis könnte
ihm wohl auch für die völlig untätigen unmittelbar Not-
wendigen ohne Ungereimtheit weder zu- noch abge-
sprochen werden 47 ).

VII. UnendHche VoHkommenheit der Erkenntnis und


Liebe
37. So wäre denn das unmittelbar Notwendige als ein
einziges intelligentes Wesen erwiesen, und leicht ist zu
ersehen, daß es als unendlich vollkommener Verstand
gedacht werden muß. Seine Erkenntnis ist allumfassend
und fehlerlos. Sie umspannt die ganze Vergangenheit
und Zukunft, obwohl diese keine Grenzen haben !l8). Es
erkennt das unmittelbar Wahre und Notwendige in un-
mittelbarer Einsicht und das mittelbar Notwendige aus
seinem ersten Grunde, was die vollkommenste Weise des
Erkennens ist. Vergleicht man sein Wissen mit dem
menschlichen Wissen, so zeigt sich der unendliche Ab-
stand schon in einem einzelnen Punkte, wie es z.B. für
uns unmöglich ist, das Verhältnis eines Quadrats zu einem
Kreise anders als annähernd zu bestimmen. Keiner kann
bei einer Rauchwolke mit voller Genauigkeit vorher
sagen, welche Gestalt sie in einer Sekunde annehmen
werde. Jener erste Verstand erkennt aber sie und jede
andere Fortentwicklung mit voller Genauigkeit bis hin zu
den fernsten Zeiten.
38. Eine andere Frage aber bleibt zu untersuchen,
diejenige nämlich, ob jenem ersten Verstande wie die
höchste Vollkommenheit des Erkennens der Wahrheit
auch die höchste Vollkommenheit der Liebe des Guten
zugeschrieben werden müsse.
Daß ihm wie Denken auch Lieben und Wollen zu-
komme, steht außer Zweifel, da ja sonst kein verstän-
diges Wirken und keine Zweckordnung darauf zurück-
geführt werden könnte. Daß aber dann ein Wesen, das
Gedankengang beim Gottesbeweise 4 77

seinem Verstand nach unendlich vollkommen, seinem


Gemüte nach unvollkommen sei, dürfte schon von vorn-
herein nicht annehmbar erscheinen. Und je mehr man es
erwägt, um so mehr wird man in dieser Überzeugung be-
stärkt werden. Wie es alles andere erkennt, so erkennt
es auch, was gut und schlecht ist, und kein Vorzug des
Besseren vor dem minder Guten ist ihm verborgen.
Würde es unter solchen Umständen das minder Gute dem
Besseren vorziehen, so würde dies eine Disharmonie sein.
Sein eigenes Urteil würde es verdammen. Die Erkenntnis,
daß etwas besser sei, ist ein Motiv es vorzuziehen, und
ohne eine Verdunkelung dieser Erkenntnis kann es zu
einem entgegengesetzten Vorziehen nicht kommen. Bei
uns ist eine solche Verdunkelung möglich, wie im Zu-
stand des Affekts; bei jenem unendlich intelligenten Wesen
nicht. Fragen wir nach dem, was bei uns zum unrichtigen
Vorziehen führe, so zeigt sich, daß unverhältnismäßige
Selbstliebe, Affekt, schlechte Gewohnheit die Ursachen
sind. Es ist aber klar, daß von alledem bei dem ersten
Prinzip nicht geredet werden kann. Es selbst kann ja
nichts gewinnen oder verlieren. Affekt ist ihm ebenso-
wenig als instinktiv blindes Urteil_ eigen, und ebenso-
wenig kann eine Gewohnheit in ihm entstehen. Uns hat
es so gemacht, daß wir ohne Einfluß von Irrtum oder
Unwissenheit nie das Schlechte vorziehen, es gelbst ist aber
notwendig so, daß jede Bevorzugung des minder Guten
bei Erkenntnis des Besseren ausgeschlossen ist 49 ).

VIII. AHmacht und GlückseHgkeit des schöpferischen


Verstandes
39. So wäre denn das erste Prinzip nicht bloß als all-
wissend und in vollkommenster Weise, nämlich aus dem
ersten Grunde alles erkennend, sondern auch als allgütig,
in seiner Liebe alles nach seinem wahren Werte bevor-
zugend erwiesen. Aber auch, daß es allmächtig zu
nennen sei, kann nicht bezweifelt werden. Natürlich
besagt dies mehr, als daß es uns unendlich an Macht
478 Allwissenheit, Allgüte, Allme.cht

übertrüft, denn auch Unendliches könnte noch einem


anderen Unendlichen gegenüber als kleiner, ja unendlich
kleiner erscheinen. Und auch das würde uns noch nicht
berechtigen, das erste Prinzip der Welt allmächtig zu
nennen, wenn es zwar alles, was wirklich in eines anderen
Macht gelegen wäre, in seiner Macht begriffe, aber doch
etwas an und für sich ohne Absurdität Denkbares nicht
in seine Machtsphäre fiele. Allein nichts ist leichter dar-
zutun, als daß auch dieses gänzlich undenkbar ist. Ist
es doch klar, daß, wo nichts unabhängig von ihm sein
und werden kann, ja, der Gedanke, daß etwas sei, ohne von
ihm verursacht zu sein, a priori ausgeschlossen, also ab-
surd ist, seine Macht auf alles sich erstreckt, dessen Exi-
stenz ohne Absurdität angenommen werden kann. Es
deckt sich die Sphäre des für das erste Prinzip Möglichen
mit der Sphäre des logisch Möglichen überhaupt.
Freilich hat man diese nicht immer richtig bestimmt,
indem man nur das, was eine Kontradiktion einschließt,
zu dem logisch Unmöglichen rechnete. Dann würde
positiv Entgegengesetztes ohne Verstoß gegen die Logik
vereinigt gedacht werden können, und eine species wie
Rot noch einer weiteren Spezifikation unterliegen können;
ja, auch die Nichtexistenz des ersten Prinzips selbst
wäre etwas, was logisch möglich wäre, da sie, wie HmdE
und nach ihm KANT treffend sagen, keine Kontradiktion
einschließt. Es muß also hier der Begriff des logisch Mög-
lichen in der Art reformiert werden, daß, wie der Absur-
dität der Vereinigung kontradiktorischer Bestimmungen
a-uch jeder anderen Absurdität Rechnung getragen wird 60 ).
40. Mit dem Nachweis, daß, wie die unendliche Voll-
kommenheit der Erkenntnis und der Liebe, auch die un-
endliche Vollkommenheit der Macht dem ersten Prinzip
eigen ist, ist dann auch seine unendliche Glückseligkeit
außer Zweifel gesetzt, beruht doch die Freude darauf, daß
mit der Liebe das Bewußtsein von der Wirklichkeit
dessen verbunden ist, was man liebt. Und dieses hat in
vollstem Maße jenes erste Prinzip, das sich selbst und
Gedankengang beim Gottesbeweise 4 79

alles, was außer ihm ist, seiner Liebe entsprechend ver-


wirklicht weiß. So konnte denn ARISTOTELESmit Recht
sagen, daß es uns, wie wir in den höchsten und seligsten
Augenblicken unseres Lebens sind, vergleichbar sei, aber
freilich auch damit nicht als etwas Gleichwertiges, son-
dern in seiner Analogie unendlich Überlegenes.

Dritter Teil: Zur Theodizee


41. Doch so einleuchtend die unendliche Vollkommen-
heit des ersten Prinzips nach Erkenntnis, Liebe, Macht
und infolge davon auch nach der Glückseligkeit dargetan
ist, so scheint dem doch die Tatsache im Wege zu stehen,
daß die Welt an Übeln reich ist. Wir finden Leiden, Irr-
tum und Unwissenheit und schändliche Verbrechen.
Auch scheinen Leid und Lust nicht der Gerechtigkeit
entsprechend verteilt. Oft wurde hervorgehoben, daß die
Zahl der Tugendhaften relativ gering sei, und viele be-
haupten, daß es des Schmerzes viel mehr gebe als der
Lust, ja man wollte dies nicht bloß durch Induktion, son-
dern auch dadurch feststellen, daß es zu einer Lust nur
infolge von Unlust komme, wenn dieselbe verschwinde.
Die letzte Behauptung ist freilich durchaus der Er-
fahrung entgegen, aber die erste hat, wenn man die Er-
scheinungen höchster Schmerzerregung mit denen der
Lusterregung der Intensität nach vergleicht und sieht,
wie viel leichter jene als diese geweckt werden, viel Schein
für sich. Aber davon abgesehen hat man behauptet, daß,
wenn auch nur irgendein Leid und irgendeine sittlich
schlechte Handlung oder irgendeine Geistesstörung oder
ein Fehlschuß in der Welt vorkomme, dieselbe nicht als
die denkbar beste und darum auch nicht als das Werk
eines seiner Macht nach unbeschränkten, allerkennenden
und schlechterdings das Bessere vor dem minder Guten
bevorzugenden Wesens erscheinen könne 61 ).
42. Doch daß dieser Einwand nicht stichhaltig sei,
wurde selbst von Denkern, welche das Dasein eines un-
480 Zur Theodizee

endlich vollkommenen Prinzips nicht als erwiesen gelten


lassen wollten, ja gerade von den eminentesten unter ihnen,
wohl erkannt. So erklärt DAVIDHuME mit aller Bestimmt-
heit, daß, wenn das Dasein eines solchen Wesens einmal
wirklich erwiesen wäre, aller Hinweis auf eine für uns
scheinbare Dysteleologie uns nicht mehr beirren könnte,
es sei ja von vornherein einleuchtend, daß unser Verstand
die Motive, die einen unendlich höheren im einzelnen be-
stimmen, nicht zu erkennen vermöge. Auch KANT, der so
wenig wie H UME einem Versuch Gottes Dasein zu erweisen
wahre Beweiskraft zuerkennen wollte, fand doch, daß
nichts in der Welt sei, was mit der Annahme eines gött-
lichen Wesens unverträglich genannt werden könne 62).
43. Außer jenem allgemeinen Gedanken HUMES mögen
noch folgende Bemerkungen dies klarmachen:
1. Ein zweifacher Wert kann einem Ding zukommen.
Der eine kommt ihm zu, insofern es in sich selbst gut, der
andere, insofern es zu etwas anderem nützlich ist. Wir
scheuen uns nicht, etwas seinem inneren Wert nach zu
verringern, um es brauchbarer zu machen, und so kann es
Fälle geben, wo selbst ein an sich Schlechtes, an Nützlich-
keit ein an sich Gutes übertreffend, vorzuziehen scheint,
wie die Verhängung des Gefängnisses der Freilassung und
die Pein der Schläge der Gewährung eines Lieblings-
wunsches. So mag denn, wie immer tausendfach etwas
in sich Übles in der Welt besteht, nichts in ihr sein, was
sich, wenn sein Zusammenhang mit dem Weltganzen
durchschaut wird, wegen seiner überwiegenden Nützlich-
keit nicht völlig gerechtfertigt zeigt.
2. Wenn wir nicht bloß Lust sondern auch Leid in der
Welt finden, so begreift sich dies leicht als der Fort-
entwicklung dienlich. Die Lust wirkt als anziehende, die
Pein als abstoßende Kraft, und es ist klar, daß das Vor-
handensein beider Arten von Kräften wirksamer sein
muß, als wenn nur eine Art gegeben wäre.
3. Wenn die Welt die bestmögliche sein soll, so kann
dies nur sein, wenn sie indefinit fortschreitend 1?edacht
Gedankengang beim Gottesbeweise 481

wird. Dann mag sie jede denkbare Stufe von Vollkom-


menheit übersteigen. Wer sie also ins Auge faßt, wie sie
gegenwärtig ist, faßt etwas ins Auge, was hinter dem, was
Gott als Bestmögliches um seiner selbst willen bevorzugt
hat, unvergleichlich zurücksteht. Nur wenn wir auf noch
frühere Stadien der Entwicklung zurückblicken, wird die
Gegenwart relativ hochstehend erscheinen. Aber auch
sie steht diesen unvollkommeneren Stadien unvergleich-
lich näher als solchen, die zu erwarten sind. Gerade diese
Fortentwicklung zu immer höheren und höheren Stufen
läßt aber das Werk Gottes in allen seinen Teilen ganz
besonders bewundernswert erscheinen.
4. Wenn wir finden, daß die Menschen unwissend sind
und irren und vielfach sittlich Fehler begehen, so ist das
die Folge davon, daß wie der Makrokosmos auch der
menschliche Mikrokosmos nicht von Anfang an fertig ge-
stellt, sondern durch Fortentwicklung zu höherer Voll-
kommenheit geführt wird. Die Tugend soll erworben
werden und eben darum ist sie von Anfang an nicht da.
So kommt es denn zu Handlungen, welche der Norm nicht
entsprechen. Aber gerade die Entstehung der Tugend
durch Erziehung und Selbstfortbildung hat einen beson-
deren Wert.
44. DAVID HUME, indem er nach den Ursachen der
Übel in der Welt forschte, glaubte zu finden, daß sie sich
auf einen dreifachen Grund zurückführen ließen. Einmal
darauf, daß alles nach allgemeinen Gesetzen verlaufe,
wo dann das Bedürfnis des einzelnen Falles nicht allein
in Betracht komme; dann daß die Natur mit der Anwen-
dung der Mittel sparsam sei; endlich, daß bald ein Zuviel,
bald ein Zuwenig gegeben erscheine. Erwägt man den
ersten und zweiten Grund, so ist es leicht, den schein-
baren Mangel als einen hohen Vorzug zu erkennen. Wo-
hin käme es mit unserem Wissen, wenn es keine all-
gemeinen Tatsachen gäbe 1 Und ebenso erscheint die Lö-
sung einer Aufgabe am meisten bewundernswert, mit je
wenigeren Mitteln der Zweck erreicht wird. Was aber den
482 Zur Theodizee

dritten Grund anlangt, die Überschreitung oder Nicht-


erreichung des rechten Maßes, so ist es klar, daß nur der
über das Zuviel oder Zuwenig richten kann, welcher alle
Rücksichten kennt, die bei der einzelnen Maßbestimmung
in Betracht kommen. Da gerade bei der vollkommensten
Weltordnung alles zu allem in irgendeiner Zweckbezie-
hung steht, so kann über das Zuviel oder Zuwenig im
einzelnen Fall nicht allein mit Rücksicht auf das Nächst-
liegende, sondern erst in Rücksicht auf alles und jedes bis
zum Entferntesten hin mit Sicherheit entschieden werden.
Der Maßstab ist nicht in unserer Hand, wie also könnten
wir messen 153 )
45. Wir haben, um die Einwände gegen die Güte der
Weltordnung als unkräftig zu erweisen, wiederholt auf die
Zukunft verwiesen, und natürlich müssen wir dies auch
tun, wenn man auf die Verteilung von Leid und Lust
sich beruft, die, wie sie jetzt ist, gar wenig der Gerech-
tigkeit zu entsprechen scheint. Aber da es eine Zukunft
gibt, die kein Ende hat, und unsere Seele selbst als etwas
in seinem Bestand vom Körper Unabhängiges und darum
in seinem Tode nicht Inbegriffenes erwiesen werden kann,
so besteht nicht die geringste Schwierigkeit, zu denken,
daß das Verlangen nach gerechter Vergeltung sich in
einem Jenseits befriedigt sehen werde 64 ).
46. Man hat allerdings dagegen geltend gemacht, daß
die Erfahrungen, die wir machen, für das, was künftig
zu erwarten sei, maßgebend sein müßten. Und so sei
denn, wenn hier die Gerechtigkeit verletzt erscheine,
auch für dort keine gerechte Verteilung von Leid und
Lust zu hoffen. Und ähnliches gelte gegenüber jeder
anderen Vertröstung auf ein besseres Jenseits. Allein,
wenn der Weltbau des schöpferischen Verstandes auch
nur irgendwie den Bauten, welche die Natur in einem
Organismus aufführt, und denen, welche eine mensch-
liche Kunst herstellt, zu vergleichen ist, so spricht die
Analogie aufs klarste dafür, daß die Vorbereitung Stadien
durchschreitet, welche nichts oder wenig von jenem in
Gedankengang beim Gottesbeweise 483

sich selbst Gutem zeigen, zu dem sie als Zweck geordnet


sind. HuME hat gesagt, daß man zwar, wenn man ein im
Bau begriffenes Haus sehe, das noch unwohnlich ist,
darauf schließen könne, daß es trotzdem einmal wohnlich
sein werde, aber nur darum, weil man schon andere
Häuser zu solcher Wohnlichkeit habe gelangen sehen 65 ).
Und so würden wir denn aus dem Weltgang, wie wir
ihn erfahren, auch nur auf künftige befriedigendere Zu-
stände schließen können, wenn wir den Verlauf schon an-
derer Weltentwicklungen erfahren und gefunden hätten,
daß bei diesen sich solches zugetragen habe. Allein
HUME übersieht hier, daß ein Analogieschluß nicht bloß
innerhalb der engen Grenzen einer Art, sondern oft in
sehr überzeugender Weise auch bei solchem, was nur
allgemeiner verwandt ist, stattfinden kann. CuVIER
hat Tiergerippe gefunden, die von denen der jetzt
lebenden Tiere sich mächtig unterschieden, und doch
hatten seine Analogieschlüsse für den Bau und die Funk-
tionen jener Tiere volle Bedeutung. Und so kann es
denn auch in unserem Falle sein. Ja, wir hatten beim
Nachweis der Vollkommenr,eit des unmittelbar not-
wendigen Wesens Schritt für Schritt dargetan, daß es
nicht anders denn als alles in der vollkommensten Weise
erkennend und alles mit richtiger Bevorzugung wertend
gedacht werden könne. Und daraus ergab sich dann der
Schluß auf die bestmögliche Weltordnung mit voller
Strenge und so denn auch jene endlose Fortentwicklung
zu höheren und immer höheren Stufen, in welcher das, was
die frühere noch vermissen läßt, im Verlauf der späteren
verwirklicht wird.
47. Vielfach sind auch jene, welche der Seele des
Menschen die Unsterblichkeit zugestehen, nicht ebenso
geneigt, sie den Tieren zuzuerkennen, und infolge davon
werden sie versucht, der weltordnenden Macht wegen
der Leiden, die in überwiegendem Maß manchen Tieren
zuteil werden, einen Mangel an Güte vorzuwerfen. Allein
abgesehen davon, daß komparative zoologische Studien
484 Zur Theodizee

erwiesen haben, daß die Tiere im Vergleich mit dem


Menschen ungleich mehr für sinnliche Lust und ungleich
weniger für sinnliches Leid empfänglich sind, ist auch die
Ansicht, welche der Tierseele im Gegensatz zur Menschen-
seele die Unsterblichkeit abspricht, nicht haltbar. Wer
nicht mit gewissen Cartesianern den Tieren die Seele
ganz abspricht und sie als bloße Maschinen faßt, wird
die ihnen zugestandene Seele, so wie LEIBNIZ es getan,
auch als unvergänglich gelten lassen müssen.
48. Indes könnte, was ich eben von dem Unterschied
von Mensch und Tier in bezug auf das relative Maß von
sinnlicher Lust und sinnlichem Leid gesagt habe, als ein
neues Paradoxon erscheinen. Der Mensch ist doch höher
zu werten als das Tier, und warum sollte er von der Vor-
sehung mit so viel minderer Liebe behandelt werden 1
Diese scheinbare Ungereimtheit wird aber bei Erwägung
der eigentümlichen höheren Aufgabe des Menschen leicht
erklärlich. Schon bei den geringeren sinnlichen Genüssen,
deren die menschliche Spezies fähig ist, zeigt es sich, daß
manche, die in höherem Maß als andere ihrer teilhaft
werden, durch sie gesättigt, dem geistigeren Leben sich
nicht widmen. Wie würde es sein, wenn die sinnlichen
Genüsse noch gesteigert würden 1 Begreift sich aber so
das geringe Maß von Lust, so auch das stärkere Maß von
Schmerz. Lust und Schmerz sind ja für uns die instink-
tiven Triebe, und je weniger stark der eine bewegt, um so
mehr fällt dem anderen die Aufgabe zu, als bewegende
Kraft für ihn einz-utreten.
49. So könnten sorgsame Erwägungen noch gar man-
che andere Rätsel der Teleologie lösen. An der hierzu
erforderlichen Sorgfalt haben es aber die allermeisten in
auffallendster Weise fehlen lassen. Und so ist es zu der
halb lächerlichen, halb empörenden Kritik gekommen,
die nicht bloß ein VOGTan dem so wunderbaren Bau des
Auges, sondern sogar ein LITTRE an der Teleologie des
Fortpflanzungstriebes geübt hat, indem er ihn mit dem
Drang eines wütenden Hundes zu beißen zu vergleichen
Gedankengang beim Gottesbeweise 485

wagte. Auch ALBERTLANGEhat sich bei seinen Versuchen,


die scheinbare Teleologie in den Werken der Natur als
unvergleichlich hinter der menschlicher Kunstwerke zu-
rückstehend nachzuweisen, die auffallendsten Blößen ge-
geben 66).
50. ARISTOTELES hat diejenigen, welche nicht erkannten,
daß die Schönheit und Ordnung in der Natur sie als das
Werk eines Verstandes erweisen, als Leute bezeichnet,
die ohne alle Überlegung schwatzten, und LOCKE und
LEIBNIZ waren noch der Ansicht, daß der Beweis des
Daseins Gottes leicht faßlich und vollkommen sicher sei.
Doch tauchten schon bei CLARKE67 ), wo er die Beweise fürs
Dasein Gottes behandelt, irrige Meinungen auf, welche
die Vorboten von weiter gehendem Abiall von der Wahr-
heit genannt werden können. Und dieser ist dann teils
in HuME, teils in KANT, der, wie alle wissen, von HUME,
und wie es weniger bekannt ist, auch von CLARKEstark
beeinflußt war, vollzogen worden. CLARKEhatte nämlich
von allen Gottesbeweisen nur den für genügend erklärt,
welcher ein leerer Paralogismus ist: nämlich den ontolo-
gischen, da die Teleologie in der Welt, endlich wie sie sei,
w.cht ausreichen könne, eine unendlich vollkommene
Ursache als ihre notwendige Voraussetzung erkennen zu
lassen. Das also hat KANT von ihm, den Nachweis des
ontologischen Paralogismus aber von DAVID HuME über-
nommen. Es fehlt aber, wenn man seine Darlegung der
Gottesbeweise, wie er sie gibt, mit dem vergleicht, was
wir in den vorstehenden Erörterungen gegeben, gar viel dar-
an, daß sie als mustergültig angesehen werden könnte 68),
und doch wagt KANT, ohne den Vorwurf der Anmaßung
zu fürchten, sich jeden Versuch einer ferneren Beweis-
führung für diese hohe Lehre zu verbitten, und die Welt,
wie sie überhaupt in KANT das Ideal eines Philosophen er-
blickte, hat ihm dieses absprechende Urteil so wenig übel
genommen, daß man es vielmehr noch heute ihm nach-
spricht. Dabei hatte KANT in seiner Aufstellung von sog.
synthetischen Erkenntnissen a priori mit ihrer auf das
486 Zur Theodizee

Phänomenale beschränkten Gültigkeit noch besondere


Bedenken gegen die Möglichkeit eines Gottesbeweises ge-
schaffen, die aber sofort zunichte werden, wenn man ent-
deckt, wie die ganze Lehre von den synthetischen Er-
kenntnissen a priori als einsichtsloser, aber unentbehr-
licher Grundlage aller Wissenschaft und von der Unmög-
lichkeit, zu einer mehr als phänomenalen Wahrheit zu
gelangen, unhaltbar ist. KANT war nichts weniger als ein
Bahnbrecher für eine gedeihliche philosophische For-
schung 59 ). Dafür dient als anschauliche:i: Beweis die Tat-
sache, daß die Philosophie unmittelbar nach ihm mehr in
Verfall geraten und zu den ungeheuerlichsten Absurdi-
täten geführt worden ist. Er selbst war schon eine Er-
scheinung der Verfallszeit und hat wie REID 60 } und mit
analogen unnatürlichen Mitteln wie dieser die voraus-
gegangene Skepsis zu überwinden gesucht. Der Zweck
war löblich, aber die Mittel waren so verkehrt, daß sie
die bestehenden Übelstände nur in neue und schlimmere
verkehrten. Wer dies erkennt, wird, wie in anderen
Stücken, so auch hinsichtlich der Gottesbeweise nicht
an ihn, sondern an die Philosophen der aufsteigenden
Zeit anknüpfen, bei denen er Wertvolles findet, was
dann durch neue und noch genauere Untersuchungen
zu noch höherer Vollkommenheit wird geführt werden
können.
51. Daß mit der Gotteslehre die Lehre von einer best-
möglichen Welt notwendig zu verknüpfen sei, wurde
schon früh erkannt. ARISTOTELEShat es mit aller Klar-
heit und Entschiedenheit gelehrt 61 ). LEIBNIZ hat also
diesen Gedanken keineswegs, wie unter anderem HUME
behauptete, als der erste und einzige ausgesprochen*).

*) Wenn andere Theisten, wie z.B. THOMASVON AQUIN,


bestreiten, daß die Welt die bestmögliche sei oder auch nur
sein könne, so behaupten sie doch, daß sie in ihrer Art völlig
tadellos sein müsse; ähnlich wie von den Werken eines emi-
nenten Künstlers, von denen das eine in der Größe seiner
Aufgabe das andere übertrifft, doch jedes in seiner Art tadel-
Gedankengang beim Gottesbeweise 481
Weder ihn noch ARISTOTELES haben die unleugbaren Übel
beirrt, und wir sahen ja auch, daß sie zur Widerlegung
nicht ausreichen. Schon daß jede Generation zugleich als
Korruption erscheint und daß bei der vfolseitigen Ver-
wendbarkeit immer die Aktualität mit Privation ver-
bunden ist, die bald Privation niederer Formen, bald aber
auch höherer und der höchsten sein wird, da ja sonst die
ganze Vielfältigkeit der Anlage vergeblich wäre, erklärt

los erscheinen könnte. Seltsam ist aber dann, warum die


Analogie nicht noch weiter geführt und behauptet werden
soll, daß Gott sich nicht auf die Schöpfung einer Welt be-
schränke, sondern wie jener Künstler viele, von denen jede
in ihrer Art vollkommen ist, verursachen möge. Diesen
Gedanken weist man zurück, weil die einheitliche Zusammen-
ordnung von allem mit allem gegenüber einer völligen Isolie-
rung eines Teils von einem anderen Teil der Geschöpfe als
etwSB Vorzüglicheres erscheint. Allein hat man da nicht wie-
der dSBPrinzip geltend gemacht, daß das erste Prinzip immer
dSB Vorzüglichere vorziehen müsse, welches konsequent fest-
gehalten, zum Optimismus führt1 Ja, muß man nicht zuge-
stehen, daß die zu der einen in ihrer Art vollkommenen Welt
hinzukommende andere in ihrer Art vollkommene eine Summe
von Gutem ergäbe, welche ein größeres Gut genannt werden
müßte, als jeder einzelne Summand 1 - Hier ist also viel-
fach die Konsequenz verletzt. Und dies nicht minder auch
noch bei einem anderen Denker, der zwischen den streng
optimistischen Theisten wie ARISTOTELESund LEIBNIZ und
jenen Leugnern des Optimismus wie THOMASVONAQUIN in
einer eigentümlichen Mitte steht. SuAREZwagt zu behaupten,
daß, wenn auch die Welt nicht die schlechthin bestmögliche
sein mi:sse, sie doch von jeder Art und Ordnung möglicher
Güte irgendein Exemplar enthalten müsse, so zwar, daß man,
wenn man mit der bloßen natürlichen Vernunft hätte er-
kennen können daß die hypostatische Vereinigung einer
geschöpflichen Natur mit der Natur der Gottheit in einer
Person möglich sei, man auch mit bloßer natürlicher Ver-
nunft hätte erkennen können, daß eine solche hypostatische
Union zwischen Geschöpf und Schöpfer wirklich in der Welt-
geschichte sich irgendeinmal vollziehe. DBB sind gewiß bei
allem Widerspruch gegen den streng optimistischen Ge-
danken deutliche Zeichen dafür, daß vom theistischen Stand-
punkt aus er folgerichtig genannt werden muß.
488 Zur Theodizee

genugsam, warum, ohne Erweiterung des Gesichtskreises,


der Schein entstehen muß, daß tausendfach das minder
Gute vor dem Besseren bevorzugt werde.
52. Schwieriger scheinen gewisse Fälle, wo die Bevor-
zugung zwischen solchem stattgefunden zu haben scheint,
wovon das eine dem anderen völlig gleichwertig zu nennen
ist. Ein solcher ergibt sich z. B. beim Vergleich der räum-
lichen Welt mit ihrem Spiegelbilde, den schon Aru:sTOTELES
ohne Erfolg in Untersuchung gezogen hat 62 ). Auch die
Frage, in welchem Zeitpunkt die Welt ihren Anfang zu
nehmen habe, um die bestmögliche zu sein, hat Schwierig-
keiten bereitet und hat LEIBNIZzu der absurden Behaup-
tung verleitet, daß nur zwischen einer anfanglosen Welt
und einer, die einen Anfang habe, nicht aber zwischen
einer, die in anderem und anderem Zeitpunkte beginne,
unterschieden werden könne. Bei der Lösung gilt es,
daran festzuhalten, daß, wo immer es sich um Ungleich-
heit handelt, auch wenn unser Verstand kein Besser und
Mindergut unterscheiden kann, eine solche Unterschei-
dung für den unendlichen Verstand nicht fehlen könne 83).
Dann aber scheint auch das zu beachten, daß die best-
mögliche Welt wie überhaupt jede denkbare Welt nicht
als die Gesamtheit des Bestehenden erscheint, da viel-
mehr dieses Gott selbst inbegreift, und so kann denn auch
die bestmögliche Welt nur in dem Sinne als vor allen zu
bevorzugende gedacht werden, daß sie nur als zu dem
Dasein Gottes hinzukommend, nicht aber für sich isoliert
ein Gut ergibt, dem kein anderes gleichkommt. Dieses
Gut mag größer sein, wenn die Welt, weil sie anfängt, ihr
Verhältnis zu Gott als dem unendlich größeren Gut und
dessen Bedürlnislosigkeit der Welt gegenüber deutlicher
offenbart, als wenn sie anfanglos geschaffen worden wäre 64 ),
und unter solchem Gesichtspunkt, wozu noch andere
hinzukommen werden, mag auch die Wahl eines späteren
Zeitpunkts vor der eines früheren als die bessere be-
greülich werden, obgleich bei sonstiger Gleichheit der
Entwicklung und der Wahl des früheren Anfangsmomen-
Gedankengang beim Gottesbeweise 489

tes die Weltordnung in jedem Moment eine weiter vor-


geschrittene sein würde.
53. Unleugbar bleibt für den Theisten vieles im Dunkeln,
für den Atheisten aber sicher nicht weniger, und zu dem
Dunkeln kommt das Absurde, mit dem seine Lehre be-
haftet ist; nur dies aber ist schlechterdings unzulässig,
während die Dunkelheit für unseren unendlich zurück-
stehenden Verstand bei dem Werk eines unendlich höheren
von vornherein zu erwarten sein mußte.
ANMERKUNGEN
DES HERAUSGEBERS
VOM DASEIN GOTTES

1. (S. 1.) Den Gegenstand dieser einleitenden Vorlesung


hat B. später in besonderen Abhandlungen zur Religions-
philosophie behandelt, -von denen einige unter dem Titel
,,Religion und Philosophie" im ersten Jahrgang der Zeit-
schrift „Philosophie und Leben" erschienen sind. Auf sie
sei der Leser nicht nur zur Ergänzung des hier Skizzierten,
sondern auch darum verwiesen, weil dort B.s Stellung zur
positiven Religion klar gekennzeichnet ist. Die Religionen
gelten ihm als volkstümliche Antizipationen und Surrogate
der Weisheit im aristotelischen Sinne, d. h. der höchsten
aller theoretischen Wissenschaften. Doch trage nicht alles,
was Religion genannt wird, den Namen im gleich hohen
Sinne. Als typische, weil dem theoretischen Gehalt und den
praktischen Segnungen der Weisheit am nächsten kommende
Religion ist die christliche anzusehen. Diese hohe Wert-
schätzung hindert B. nicht an einer Kritik ihres Wahrheits-
gehaltes und Anspruches auf den Charakter unmittelbarer
göttlicher Offenbarung. (Vgl. Die Lehre Jesu und ihre blei-
bende Bedeutung, Leipzig, Meiner, 1922.) Der Stellung B.s
zum positiven Christentum wird P. Anton Stonner S. J.
(Im Kampf um die Kirche, in der Zeitschrift Schönere Zu-
kunft, 1. Jahrg.) nicht ganz gerecht, wenn er es so darstellt,
als lehne B. die Dogmen nur darum ab, weil sie nicht ein-
leuchten. Er hält sich vielmehr bei ihrer Beurteilung an
den Satz des Widerspruchs und ist mit Thomas v. A. der
Ansicht, daß der Nachweis eines Widerspruchs vernünf-
tiges Glauben unmöglich mache. Auch ist er überzeugt,
soiche Widersprüche gefunden zu haben, und nur dies hat
ihn zur Trennung von der Kirche, der er gleichwohl immer
Ehrfurcht und Dankbarkeit bewahrte, bestimmt. Er pflich-
tet den katholischen Theologen bei, wenn sie auf die Unter-
scheidung zwischen der Tatsache und dem Inhalt der Offen-
barung Nachdruck legen und für jene, als praeambulum fidei,
einen Beweis verlangen, aber ein solcher könnte, als geschicht-
licher, höchstens Wahrscheinlichkeit erreichen, während vom
Gläubigen doch gefordert werde, daß er aufs vollkommenste
überzeugt zustimme. Schon dies mache die Lehre von der
494 Anmerkungen des Herausgebers

Glaubenspflicht unannehmbar, abgesehen von den Bedenken,


daß Gott es aus verborgenen teleologischen Gründen für gut
finden konnte, Falsches in die Offenbarungslehre aufzu-
nehmen (etwa provisorisch und erzieherisch). Gott selbst
würde weder irren noch lügen, vielmehr stünde auch diese
Fügung, wie alles in sich betrachtet Üble, im Dienste der Voll-
kommenheit des Weltganzen.
Von dem vornehmen Ton des genannten katholischen Theo-
logen sticht unerfreulich ein Pamphlet Waldemar Meurers
(Gegen den Empirismus, Leipzig, Meiner, 1925) ab, der es
fertigbringt, den genialen Kritiker religiöser und wissen-
schaftlicher Dogmen als einen Geist hinzustellen, der, im
Banne autoritativer Diktate geblieben, sich jede Gedanken-
freiheit versagte! Da das Buch auch sonst ganz konfus ist,
wird kein Leser über den Grund eines so krassen Fehlurteiles
im unklaren bleiben. Was für eine Art von Philosophie
darin geboten wird, dafür diene als Beispiel die schöne Stelle
auf S. 136, wo es vom Satze des Widerspruchs heißt: ,,Zu
den Vernunftwahrheiten, die unmittelbar durch den Begriff
einleuchten, zählt jene, welche der Satz des Widerspruchs
heißt, daß zwei einander entgegengesetzte Urteile über
dasselbe Ding nicht gleichzeitig wahr sein können, das heißt,
jedes Urteil ist eine Erkenntnis, beide zusammen
aber heben sich auf, eine Erkenntnis ist unmög-
lich." Das ist, um mit B. zu reden, wohl mehr, als woran
ein Weiser genug hat.
2. (8. 2.) Positive Wahrheiten, d. h. solche, welche die
Existenz des Dinges, über das geurteilt wird, behaupten.
So die Sätze des Physikers und Psychologen. Sie anerkennen
gewisse Dinge als existierend, und der Metaphysiker führt
diese auf die in sich notwendige erste Ursache alles Seienden
zurück. Dagegen stellt z. B. der Mathematiker in seinen
Sätzen a priori keine positiven Behauptungen auf. Die Frage,
ob es irgendwo eine Kugel gibt, dem Physiker überlassend,
beschränkt er sich darauf, das Gesetz festzulegen, daß keine
ungleiche Radien haben kann. Diese Unmöglichkeit aber
ist kein Ding und geht nicht auf das göttliche Prinzip als
Ursache zurück. Vgl. S. 251 und Anm. 46.
3. (S. 7.) Brentano, Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis.
Phil. Bibl. Bd. 55 (zitiert „Ursprung").
4. (S. 9.) Auch der Stüter und die ersten Verkünder der
christlichen Religion standen im Banne eschatologischer Er-
wartungen, deren Bedeutung für das geschichtliche Verständ-
nis des Christentums besonders klar Albert Schweitzer (Das
Messianitäts- und Leidensgeheimnis. Eine Skizze des Lebens
Anmerkungen des Herausgebers 495
Jesu, Leipzig 1901) erkannt und für seine geniale Konzeption
des Jesus- und Paulusbildes verwertet hat.
5. (S. 9.) Hermann Helmholtz, Über die Entstehung des
Planetensystems (Populäre Vorträge, Braunschweig, Vieweg,
1876).
6. (S. 10.) Um das Problem des Verhältnisses von Welt-
anschauung und Ethik ringt in seinem Werke Kulturphilo-
sophie (München, Beck, 1923) der schon genannte Albert
Schweitzer, eine erhabene Persönlichkeit, deren Maße
unsere Zeit überragen. Näheres über ihn bietet die aus-
gezeichnete Studie von 0. Kraus, Albert Schweitzer. Z\11'
Charakterologie der ethischen Persönlichkeit und der philo-
sophischen Mystik (Berlin 1929). Kraus fußt in seiner Aus-
einandersetzung mit der mystischen Wendung, die Schweitzer
dem Problem gibt, auf den hier skizzierten GBdanken Bren-
tanos.
Statt des Absatzes 4b stehen im Vorlesungshefte Bren-
tanos nur die Worte: ,,So wenig es vielleicht zuzugeben ist,
daß die Erkenntnis der höchsten Moralprinzipien von der
Erkenntnis Gottes abhängt, so sehr muß man, scheint es,
zugestehen, daß eine sichere Ableitung der wichtigsten
spezielleren Bestimmungen ohne sie unmöglich wird. Pessi-
mismusfrage. Hamlet: tobe or not tobe, that is the question."
Kein Zweifel, daß B. den wichtigen Gegenstand im
mündlichen Vortrag ausführlicher behandelt hat. Ich habe
mich an meine N aehscbrift nach Vorlesungen meines Lehrers
Anton Marty gehalten, der hier zweifellos Brentanos GB-
danken wiedergegeben hat.
7. (S. 20.) Vgl. Überweg, Grundriß der Geschichte der
Philosophie der patristischen und scholastischen Zeit, 10. Aufl.
Berlin 1915, S. 269ff.
8. (S. 24.) Hume, 'l'reatise on human nature, book 1, part II,
sect. VI und Appendix.
9. (S. 26.) Hier ist der Text der reifsten Gestalt der Lehre
B.s angepaßt, wie sie uns in Psychologie II, Anhang, vor-
liegt. Über die frühere Phase, da B. das Wort Existierendes
noch zu den Namen gezählt hatte, vgl. Martys Auseinander-
setzung mit Humes und Kants Lehre vom Existentialsatz
(GBs. Schriften II, 189ff., Halle 1918). Später erkannte B.,
daß es sich um ein Wort ohne selbständige Bedeutung handle.
Vgl. S. 106 und Anm. 12.
• 9 a. (S. 26.) Auch hier ist der Text des Kollegienheftes
sehr knapp. Für 23 Abs. 3 nur die Worte: ,,Der Glaube sei
ein GBfühl; wieso 1 ist er Lust oder Schmerz 1 Liebe oder
Haß 1 Weder diese noch ein andere Modus des Fühlens."
496 Anmerkungen des Herausgebers

10. (S. 23.) B.s Urteilstheorie in Psychologie I und II.


Phil. Bibl. 192/3.
11. (S. 28.) Die Schule von Johann Christian Wolff (1679
bis 1754).
12. (S. 31.) Marty a. a. 0. wie Anm. 9.
13. (S. 36.) Glaubt einer, im Gegensatz zu S. 26, daß es
sich bei Existierendes um einen Namen, d. h. um ein Wort,
handle, das einen Begriff bedeutet, so muß man fragen,
worin der Inhalt dieses Begriffes bestehe. Soll das Wort
soviel bedeuten wie „etwas, was mit Recht anerkannt wird" 1
Das hieße, das Dasein der Dinge abhängig denken vom
Glauben an sie. Also wohl: ,,etwas, was mit Recht anerkannt
werden kann". Aber es wäre eine Täuschung zu glauben,
daß dies ein Begriff sei. Heißt es doch nichts anderes als
„etwas, wovon es nicht unmöglich ist, daß einer es mit
Recht anerkenne". Es würde also im sog. Existenzbegriff
der Begriff der Unmöglichkeit eingeschlossen sein. Was aber
soll dessen Inhalt sein 1 Wiederum nicht: ,,etwas, was einer
mit Recht apodiktisch verwirft", sondern: ,,etwas, wovon
es nicht unmöglich ist, daß es einer mit Recht apodiktisch
verwerfe", woran man erkennt, daß der sog. Existenzbegriff
eine unendliche Komplikation aufwiese, also ein unausdenk-
barer Begriff, d. h. kein Begriff ist.
14. (S. 39.) Wer schwört, daß er falsch schwöre, begeht
er einen :Meineid oder nicht 1 Beides scheint auf Widersprüche
zu führen. B. hat in einer noch nicht veröffentlichten Ana-
lyse des Russelschen Paradoxons (von den Klassen, die von
sich prädikabel und nicht prädikabel sind) folgende Lösung
gegeben. Dazu, daß einer falsch schwöre, ist es nicht not-
wendig, daß j eglichesfalschist, was er uns bei seinem Schwure
versichert, sondern es genügt, wenn es in einem Punkte
falsch ist. Da nun, wer schwört, daß er falsch schwöre, ein
Doppeltes sagt, nämlich, daß es wahr sei, was er schwöre,
(denn das sagt jeder, der schwört), und daß es falsch sei,
was er schwöre, so ist klar, daß er falsch geschworen hat,
obwohl es ebenso klar ist, daß nicht jegliches falsch ist, was
er schwört.
Ha. (S. 48.) Über Kant8 Fehler bei der Definition des
analytischen Urteils vgl. S. 91.
1-l b. (S. 52.) Vom Zufälligen sprechen viele, stimmen aber
bisweilen nur im Wort, nicht in der Sache überein. Manche
meinen, es könne solches geben, was weder mittelbar noch
unmittelbar notwendig ist, und nennen es „absolut zufällig";
andere lassen Zufälliges nur in dem Sinne zu, daß es unmittel-
barer Notwendigkeit entbehrt, und nennen dieses mittelbar
Anmerkungen des Herausgebers 497
Notwendige zufällig im Sinne des Kontingenten. Das erste
lehnt B. als widersprechend ab. (Vgl. S. 410ff. und Anm.
122.)
Hessen (Kausalprinzip, Augsburg 1928, S. 114) irrt, wenn
er bei B. das Kausalgesetz mit dem Satze vom ausgeschlosse-
Zufall zusammenfallend glaubt. Dieser Satz spricht von
jeglichem Seienden, indem er leugnet, daß darunter irgend
etwas sich finden könne, was sowohl der unmittelbaren als
der mittelbaren Notwendigkeit ermangle; jenes spricht bloß
von dem, was nicht unmittelbar notwendig ist, und leugnet,
daß darunter irgend etwas sich finden könne, was nicht ge-
wirkt ist. Um das Kausalgesetz auf etwas anzuwenden,
muß man sicher sein, daß dieses nicht zum unmittelbar Not-
wendigen gehöre. Vgl. Brentano, Versuch über die Erkenntnis
(in der Folge zitiert: ,,Versuch"), S. 196 (wo es Z. 8 v. u. statt
,,widerspricht" natürlich „entspricht" heißen sollte).
Wie man den, der etwas notwendig nennt, fragen muß, ob
er es damit als unmittelbar oder bloß als mittelbar notwendig
bezeichnen wolle, so hat man auch darauf zu achten, ob
einer, der etwas möglich nennt, damit bloß sagen wolle, es
sei nicht in sich selbst betrachtet absurd (wie ein eckiger
Kreis), oder ob er sagen wolle, es sei auch unter den gegebenen
Umständen nicht unmöglich, d. h. es fehle an keiner der zu
seiner Verwirklichung erforderlichen Voraussetzungen.
Beachtet man diese Unterscheidung, so ergibt sich das Ur-
teil über Langes generellen Schluß von der Möglichkeit
auf die Wirklichkeit von selbst. Er gilt (von Gott abgesehen)
nur für das Mögliche im zweiten Sinne. Nichts, wofür alle Be-
dingungen gegeben sind, kann die kleinste Zeit auf sich
warten lassen; nichts, wofür eine fehlt, kann werden. Eine
indeterministische Freiheit wäre nichts als absoluter Zufall.
Vgl. unten Kontingenzbeweis, S. 415ff. und Zukunft der Philo-
sophie, S. 180 (Phil. Bibl. Bd. 209).
15. (S. 57.) Die Paragraphen 50-53 nach meinen Auf-
zeichnungen über Gespräche mit B. Florenz 1908, Innsbruck
1914.
16. (S. 71.) Vgl. oben S. 56f_.
17. (S. 81.) Vgl. dieKritikderLehrenHumesundKantsin
Brentanos „Versuch".
18. (S. 84.) Das gilt heute leider nicht mehr; im Gegenteil,
wir erleben eine Hegel-Renaissance, die aber B.s Urteil über
den Wert der deutschen idealistischen Philosophie nicht
aufhebt, sondern nur aktuell macht für die Gegenwart.
19. (S. 84.) Über Wissen und Glauben an die Wissen-
schaft vgl. Brentano, Religion und Philosophie (Phil. u.
498 Anmerkungen des Herausgebers

Leben 1925). Dort wird ausgeführt, daß die Gebildeten an


den Ergebnissen anderer Wissenschaften als Gläubige teil-
nehmen und damit auch an deren Segnungen, daß aber dafür
in der Philosophie die Zeit noch nicht gekommen ist, solange
es keine einheitliche philosophische Lehre gibt und der Streit
der Philosophen ihre Autorität bei den Laien nicht aufkom-
men läßt oder doch alsbald wieder erschüttert.
20. (S. 85.) Vgl. Brentano, Die vier Phasen der Philo-
sophie, Phil. Bibl. 195.
21. (S. 89.) Von einem „wahren Urteil" spricht man nicht
immer im _selben Sinne. Zuweilen deckt sich der Sinn mit
,,evidentes Urteil". Will man es aber davon unterscheiden,
so denkt man an einen, der ebenso urteilt, wie ein evidenter
über eine gewisse Sache urteilt, nur eben blind.
Leuchtet mir etwas ein, so sage ich, in dieser zweiten Be-
deutung des Wortes, von einem, der dasselbe bloß glaubt,
er urteile wahr, und von einem, der mir widerspricht, er
urteile falsch. So wird mir meine Einsicht zum Maßstabe
für den Glauben der anderen.
lfanche, die die Homonymie nicht merkten, suchten nach
einer Eigenschaft, die dem evidenten Urteilund dem damit har-
monierenden blinden in gleicher Weise zukomme und derent-
wegen eben beide „wahr" genannt würden. Das hat viel
Verwirrung in der Erkenntnistheorie gestiftet. So kam man
zu einer ganz falschen Auffassung vom Wesen der Evidenz,
als sei sie am Urteil ein von dessen eigener Wahrheit ver-
schiedenes und jener als Kennzeichen dienendes Merk.mal.
Obwohl B. ausdrücklich vor diesem Mißverständnis, als
hielte man sich bei jedem evidenten Urteil an ein Kriterium,
gewarnt hat (Ursprung, 1. Aufl. 1889), begegnet man ihm
bei Anhängern und Gegnern der Evidenzlehre immer wieder.
Zu diesen zählen Konventionalisten wie Dingler und Del
Negro. Das erkenntnistheoretische Fundament von Dinglers
geistvollem und im einzelnen wertvolle Anregungen bietendem
Buche Der Zusammenbruch der Wissenschaft besteht
eigentlich in nichts als in diesem Mißverständnis. Del Negros
Arbeiten über das Wahrheitsnroblem teilen den konventio-
nalistischen Standpunkt Dinglers auf Grund des gleichen
)fangels an Verständnis für den Sinn der Evidenzlehre.
22. (S. 91.) Wenn B. hier von analytischen Existential-
sätzen spricht, so meint er negative Existentialsätze, d. h.
solche, die etwas auf Grund der Begriffe als unmöglich
verwerfen. (Ein eckiger Kreis ist nicht.) Ein positives ana-
lytisches Existentialurteil würde nur einer fällen können,
der über den ausreichenden Begriff des unmittelbar not-
Anmerkungen des Herausgebers 499
wendigen Wesens verfügte. Für ihn wäre „Gott ist" ein
ani;.lytisches Urteil. Vgl. S. 58.
23. (S. 96.) Wir besitzen nicht absolute Begriffe von ein-
zelnen Orten oder Zeitpunkten. Die lokalen oder tempo-
ralen Positionen der Dinge, die wir denken, denken wir darum
immer durch relative Bestimmungen, wie z. B. etwas stehe
von einem anderen in einer gewissen Entfernung und .in
einer gewissen Richtung ab. Es ist darum von vornherein
mit Sicherheit zu sagen, daß alle Versuche, die Geometrie
ohne den Richtungsbegriff aufzubauen, nur darauf beruhen
können, daß sie ihn versteckterweise, ohne Bewußtsein
davon, verwenden.
24. (S. 101.) Nämlich vom synthetischen Urteil a priori.
25. (S. 102.) Vgl. Marty, Raum und Zeit, Halle 1926.
26. (8. 94 u. 102.) Nach Brentano sind unsere Anschau-
ungen universell, und zwar sowohl äußere als innere, jene weil
darin keine speziellen, absoluten Ortsbestimmungen erschei-
nen, diese weil sie nichts enthält, wodurch sich mein Ich als
solches von jedem andern unterscheidet Vgl. S. 418f. und
Psych. II, S. 199f.
27. (S. 104.) Auch nach B. sind alle Sinnesqualitäten loka-
lisiert, sein Widerspruch wendet sich nur dagegen, daß Kant
diese Behauptung a priori wagt.
28. (S. 104.) Man vergleiche den Unterschied, wie wir die
Bewegung des Sekundenzeigers und die des Minutenzeigers
gewahren. Jene sehen, diese erschließen wir.
29. (S. 105.) Vgl. Anm. 26. Die§§ 90b, 91-94 nach späte-
ren Diktaten.
30. (S. 107.) Vgl. B.s Psychologie II, 158ff. - Ein selt-
samer Widerspruch ist es, wenn Kant die Kategorien Be-
griffe a priori nennt und Existenz darunter aufzählt, aber
gleichwohl gelegentlich der Analyse des Existentialsatzes
(vgl. oben S. 35) lehrt, daß Existenz gar kein Begriff sei.
31. (S. 109.) B. denkt hier an das Verhältnis der den Ort
erfüllenden Qualität zum Ort. Der Qualität nach Gleiches
kann so oftmal existieren, als es Orte gibt. Der Ort ist das
individualisierende Mom·ent der Qualität. Der Körper, in-
sofern er spezifische Ortsdifferenzen enthält, ist Substanz
(ein substanzielles Kontinuum), die Qualitätsunterschiede
der Körper sind akzidenteller Natur (und sekundär konti-
nuierlich, indem sie das primär Kontinuierliche erfüllen).
Vgl. S. 419, 430 und Anm. 127.
32. (S. 110.) Unter diesen unendlichen Urteilen versteht
Kant bejahende Urteile mit negativem Prädikat. Dagegen
B., Psych. II, S. 158ff.
500 Anmerkungen des Herausgebers

33. (S.110.) Zur Klassifikation der Urteile vgl. B., Psych. II,
Anhang.
34. (S. 112.) Vgl. S. 65f.
36. (S.123.) Nach Hume gibt es keine Impression, aus·
der der Kausalbegriff geschöpft sein könnte. Auch nicht
durch Zusammensetzung von Elementen, die "'lerschiedenen
Impressionen entstammen, ist die Bedeutung dieses ,vortes
gebildet. Es ist - so müßte man, um der Tendenz seiner
Lehre ganz gerecht zu werden, sagen - gar kein Name,
sondern ein bloß mitbedeutender Ausdruck; ,,Ursache" für
sich allein hat auf diesem Standpunkte keinen Sinn, wohl
aber „ein etwas als Ursache Auffassender", was nichts anderes
heißt als „einer, der etwas denkt und daraufhin ein anderes,
dem jenes des öfteren vorangegangen ist, erwartet".
B. lobt (S. 126 und 129) die Methode und Sorgfalt, mit
der Hume in innerer und äußerer Wahrnehmung nach der
Quelle des angeblichen Kausalbegriffes gesucht habe, doch
enthält sein Referat nichts Näheres darüber. Vgl. Hume
a. a. 0., S. lOlff.
36. (S. 125.) Gemeint ist der Satz, daß der Flächeninhalt
eines Parabelsegments gleich ist zwei Dritteln des Parallelo-
grammes von gleicher Grundlinie und Höhe. Vgl.Versuch, S. 93.
37. (S. 128.) Versuch S. 35ff. wird auch noch auf einen
vierten Fall verwiesen, auf die durch Begriffe motivierte
(als richtig charakterisierte) Liebe und Bevorzugung. Einen
fünften nennt Psych. III/1, S. 34, das Entspringen der Apper-
zeption aus innerer Wahrnehmung. - B. unterläßt es, bei
der Kritik Humes darauf aufmerksam zu machen, daß Wir-
kendes und Gewirktwerdendes gleichzeitig sein müssen,
worauf seine eigene Metaphysik Nachdruck legt.
38. (S. 130.) Versuch S. 194f.
39. (S. 134.) Ein metaphysisches Ganze ist ein Akzidentel-
les (z. B. ein Denkendes), das als Teil die Substanz (das Ich)
einschließt. Ein logisches ist ein Speziesbegriff (Rotes), der
als Teil den Gattungsbegriff (Farbiges) einschließt. Über den
Unterschied s. S. 108.
40. (S.135.) Eine Fiktion aus doppeltem Grunde, weil
es keine Farben gibt, und wenn es solche gäbe, der Übergang
von einer einfachen Qualität zur andern über MiAchfarben
gehen müßte. Vgl. B., Untersuchungen zur Sinnespsychologie,
Leipzig 1907 (2. Aufl. in Vorbereitung als Psych. Bd. lll/2,
Phil. Bibl.).
41. (S. 134.) S. Anm. 40.
42. (S. 134.) Vielleicht wendet einer ein, solche „Tat-
sachen", wie die 1-9 angeführten, würde Hume eben rela-
Anmerkungen des Here.UBgebers 501
tiona nennen, nicht mattere of fact. Daa wäre ein Wortstreit;
worauf es sachlich ankommt, ist, daß sie auch auf dem Er-
fahrungswege festzustellen sind. Zudem beziehen sich die
Punkte 1-5 doch für jeden unverkennbar auf Reales. Wo
man dies aber, wie für 6 (Schluß von der Existenz von etwas
auf die Nichtexistenz des Entgegengesetzten), bezweifeln
könnte, liegt die Versuchung dazu nur in der Ausdrucksweise.
Nicht ein nichtreales Negativum wird erkannt, sondern ein
Reales wird in einem verwerfenden Urteil erkannt, d. h.
evident verworfen.
43. (8. 135.) Auch der Schluß von der Wirklichkeit auf
die Möglichkeit ist kein Schluß auf ein Nichtreales, sondern
ein durch ein evidentes Anerkennen eines Dinges moti-
viertes Verwerfen desjenigen, der daaselbe evident apodik-
tisch leugnen würde. Ein solcher wird als unmöglich er-
kannt.
44. (8. 135.) Auch Wahrscheinlichkeit kann man nicht
eine Tatsache im Sinne eines Realen nennen, man kann sie
aber überhaupt nicht zum Objekte machen, wohl aber einen,
der vergleichend beurteilt, was er über gewisse Dinge weiß
und nicht weiß. Vgl. Versuch, S. 160.
45. (8. 136.) ebenda III, Das Problem der Induktion.
46. (8. 136.) Auch Gesetze sind nicht Dinge und können
nicht zum Objekt des Denkens gemacht werden. Man drückt
sich aber, wenn man verwerfend apodiktisch etwas erkennt,
auch so aus, als habe man anerkennend die Unmöglichkeit
davon erkannt. Auch die Mathematiker urteilen über Dinge,
z.B. über Würfel und Kugeln, kümmern sich aber nicht
darum, ob sie irgendwo vorhanden sind, sondern begnügen
sich mit der negativen, apodiktischen Erkenntnis, daß jene
nicht sein können, ohne gleiche Seiten, diese nicht, ohne gleiche
Radien zu haben, worauf sie dann sagen, es bestehe das
Gesetz, daß jeder Würfel gleiche Seiten, daß jede Kugel
gleiche Radien habe. Hier handelt es sich um analytische
Urteile, hingegen erkennt der Chemiker nicht a priori, daß
H und 0, in einem gewissen Verhältnis verbunden, Wasser
ergeben, erschließt aber aus der Erfahrung (auf induktivem
Wege), daß es einer, der die Natur dieser Elemente so gut
kennen würde wie der Mathematiker die der geometrischen
Gebilde, aus deren Begriffe erkennen würde. Abgekürzt
sagt er dann, er hätte induktiv „ein Gesetz" erkannt. Vgl.
Anm. 48 und 78.
47. (8.137.) Vgl. Versuch ü. d. E., S. 88ff. und 93ff.
48. (8.137.) Wenn man sagt, ein Gesetz bedinge ein anderes
Gesetz oder eine konkrete Tatsache, so ist dies natürlich
502 Anmerkungen des Herausgebers

auch im uneigentlichen Sinne gesagt. Was nicht ist, be-


dingt nicht und wird nicht bedingt. Gemeint ist, daß wir
etwas evident erkennen (sei es unmittelbar, sei es mittelbar,
sei es apodiktisch, sei es assertorisch) und daraus mit Not-
wendigkeit ein anderes apodiktisches Urteil oder ein Urteil,
das etwas assertorisch anerkennt, ableiten. Vgl. Anm. 78.
Obwohl B. die Funktion solcher Ausdrücke wie Notwen-
digkeiten, Möglichkeiten, Gesetze klargelegt hatte, werden
sie noch immer wie Namen behandelt, die etwas nennen,
was kein Ding ist, sondern ein „idealer Gegenstand". Statt
den Unterschied auto- und synsemantischer Sprachzeichen
zu beachten, scheidet man zwei „wesensmäßig verschiedene
Welten", die des Ontologischen und die des Logischen, des
Realen und Idealen, stellt der „dynamischen Welt des realen
Seins und Geschehens" eine „statische Welt des Logischen
und der zeitlosen Region des idealen Seins" gegenüber. So
neuestens wieder Hessen (Kausalprinzip), der diesen Sprach-
fetischismus so weit treibt, daß er für diese beiden „Welten"
zwei „wesensmäßig verschiedene" Prinzipien annimmt, für
die reale das Kausalgesetz, für die ideale den „Satz vom Er-
kenntnisgrund''.
49. (S. 157.) Vgl. Anm. 48.
60. (S.137.) Z.B. wenn eine Fläche Punkt für Punkt mit
dem gleichen Rot, eine Zeitstrecke Moment für Moment mit
demselben unverändert fortbestehenden Dinge erfüllt ist.
61. (S.157.) Vgl. das Beispiel auf S.135. Einseitig wäre der
Übergang bei einem Rechteck, wenn er nur zwischen den
beiden Schmalseiten von Rot zu Blau statthätte, doppel-
seitig, wenn es zugleich zwischen den beiden Breitseiten
von Weiß infinitesimal zu Schwarz variierte. Nichtfiktive
Beispiele bieten Bewegung oder ruhiger Fortbestand. Dort
die Variation nach Ort und Zeit, hier nur die temporale.
62. (S. 137.) Versuch, S. 119.
63. (S. 158.) Versuch III, Das Problem der Induktion .
. 64. (S. 138.) Ebenda 160ff. - ,,Empirische Gesetze" sind
wahrgenommene oder erschlossene Regelmäßigkeiten, die
auf Gesetze hindeuten. Das Wort „Gesetz" ist hier also im
übertragenen Sinne verwendet, wie auch sonst oft der Name
des Bezeichneten für das Zeichen selbst dient (z.B. das Por-
trät eines Menschen mit seinem Namen bezeichnet wird).
Wenn B. im§ 121 gegen Schluß sagt, die Natur kenne keine
Sprünge, so meint er, daß nirgends ein räumlicher und zeit-
licher Zusammenhang fehlt, was einen abrupten Wechsel in
dem auf S. 137 gemeinten Sinn nicht ausschließt.
66. (S. 140.) Weil ohne Kausalzusammenhang keine räum-
Anmerkungen des Herausgebers 503
liehe oder zeitliche Nachbarschaft von ganz Gleichem oder
infinitesimal Verwandtem zustande käme.
66. (8. 141.) Vgl. Anm. 55.
57. (8. 142.) Wenn z.B. eine Seele jetzt ursachlos werden
könnte, ohne Konkurrenz mit etwas anderem. Kein Körper
wäre am selben Orte mit einem andern verträglich.
58. (8. 142.) Wenn z.B. plötzlich auf der schwarzen Tafel
ein weißer Fleck ursachlos entstehen könnte, ebenso aber
auch statt seiner ein beliebig anders gefärbter (eine aus un-
endlich vielen möglichen Nuancen), oder wenn eine rollende
Kugel ursachlos zur Ruhe kommen, ebenso aber auch in
beliebiger Richtung von der geraden abweichen könnte.
69. (8. 142.) Wenn z.B. ein bisher mit nichts erfüllter
Ort plötzlich ursachlos rot würde, oder eine bewußtlose Seele
eine bestimmte Zahl (eine unter unendlich vielen denkbaren)
dächte. Das ursachlos Entstehende würde hier nicht an die
Stelle eines vorherbestandenen positiven Gegensatzes treten.
60. (8. 144.) Versuch, S. 122.
61. (8. 146.) Hier sind versehentlich folgende Worte aus-
gefallen: ,,Nun gehört aber zum Werden ebenso wesentlich
wie ein früheres Nichtbestehen ein späteres Bestehen, also
erscheint auch sein Werden unmöglich''.
62. (8. 146.) Z.B. die unendlich vielen Variationsmöglich-
keiten einer Bewegung nach Richtung und Geschwindig-
keit.
63. (S. 149.) Man sieht, es ist eine starke Übertreibung,
wenn Hessen (Kausalproblem, S. 118) diesen Beweis „mit
der ganzen Problematik der Wahrscheinlichkeitslehre be-
lastet" findet. Ebenso könnte man sagen, daß ein Physiker,
der die Materie bewegt glaubt, sich damit mit Zenos Aporien
belaste. Vgl. Versuch, S. 160.
64. (8. 150.) Mit Unrecht glaubt Hessen diesen Beweis
vernachlässigen zu können, weil er „kein Wahrheits- sondern
nur ein Wahrscheinlichkeitsbeweis" sei; denn der unendliche
Grad der erreichten Wahrscheinlichkeit ist der vollen Sicher-
heit äquivalent (vgl. unten S. 364, 368), und der analytische
Charakter des Argumentes gestattet das Gesetz über die
Grenzen aller Erfahrung anzuwenden. Übrigens hat B.
unten S. 415 und 446f. den Widerspruch in der Verbindung
von Seiend und Zufällig nachgewiesen.
65. (8. 151.) Vgl. Versuch III.
66. (S. 153.) Verschiedene Ursachen können die gleiche
Wirkung haben, aber natürlich nur, wenn die zum Wirken
erforderlichen Mitbedingungen andere sind. Wo keine andere
als die erste Ursache alles Seienden in Betracht kommt,
504 Anmerkungen des Herauagebers

schwindet der Rest von Unsicherheit, der aus jenem Grunde


sonst unseren Kausalschlüssen anhaften kann.
67. (S.154.) Versuch, S. 160ff.
68. (S.154.) Vgl. S. 115ff.
69. (S. 155.) B. konnte hinzufügen: und die es auch nir-
gends gibt, denn farbige Dinge, tönende Dinge, warme, kalte
Dinge sind nicht. Man beachte den Doppelsinn des Wortes
transzendent, das zuweilen bloß solches bezeichnen will,
wovon wir keine unmittelbare Wahrnehmung haben, dann
wiederum solches, das wir nicht anschaulich vorzustellen
vermögen. Die Farben sind es nur im ersten Sinne, die .Atome
in jedem.
70. (S. 156.) Transzendent ist uns auch unser Ich, soweit
es sich als Substanz von jeder andern denkenden Substanz
unterscheidet. Vgl. S. 419 und Psychologie II, S. l99f.
71. (S. 157.) Vgl. S. 77 und 123.
.. 72. (S. 158.) Über die Bedeutung der .Assoziation nach
Ahnlichkeit für das künstlerische Schaffen vgl. Brentarn.os
Vortrag über das Genie (Leipzig 1892). Eine in seinem Sinne
vorgenommene Korrektur der üblichen Lehre von den .Asso-
ziationsgesetzen bietet Marty, Untersuchungen zur Grund-
legung der allgemeinen Grammatik und Sprachphilosophie,
S. 521 (Halle 1908).
73. (S. 160.) Vgl. das Fragment „Auguste Comte und die
positive Philosophie", wiederabgedruckt in Vier Phasen, Phil.
Bibl. 195.
74. (S.162.) Diese Unterscheidung der.Art, wie ein Mathe-
matiker und ein Naturforscher erklärt, bedarf keiner Er-
läuterung. Doch sei erwähnt, daß heute unter dem Titel
Erklären und Verstehen eine weitere Unterscheidung ver-
sucht wird, wobei man den Naturwissenschaften die Geistes-
wissenschaften als verstehende gegenüberstellt. Richtig
daran ist, was man immer schon wußte: von Psychischem
haben wir adäquate Vorstellungen, von der Materie nicht.
Um aber für einen Vorgang die nicht wahrgenommene Ur-
sache zu finden, müssen wir uns auf beiden Gebieten der-
selben induktiven Methode bedienen. Vgl. dazu die klärenden
Ausführungen von 0. Kraus, Verstehen und Erklären, Eupho-
rion 1928.
76. (S. 165.) Mill, Logik III 14/4.
76. (S. 165.) Vgl. Versuch, S. 58ff.
77. (S.167.) In einem anderen Sinne als Mill hatte Newton
eine vera causa gefordert. Vgl. darüber Versuch S. 104.
78. (S.168.) Vgl. oben Anm. 46 und 48. Die Fiktion,
daß die Wahrheit, welche den Inhalt eines mathematischen
Anmerkungen des Herausgebers 505
Axioms bildet, die Wahrheit des Lehrsatzes bedinge, ist
nichts als eine Umschreibung dafür, daß beim Erkennen a
priori die Einsicht in das Axiom Ursache der mittelbaren
Einsicht in den Lehrsatz ist. Das Kausalverhältnis besteht
zwischen den Urteilen. Die Rede von einem Bedingungs-
verhältnis zwischen den „Wahrheiten" (Bolzanos Sätzen
an sich) ist eine bildliche, ähnlich wie wenn man von dem
Helden einer Dichtung sagt, sein Charakter habe seinen
Untergang verursacht, während unbildlich gesprochen zu
sagen wäre, der Dichter habe sich in ein gewisses Charakter-
bild vertieft, und diese seine Analysen hätten die Konzeption
der Umstände des Unterganges seines Helden zur Folge ge-
habt.
79. (8. 171.) Vgl. oben S. 90 und lllff.
80. (8.174.) Der letzte Absatz von 146 ist vom Heraus-
geber im Einklang mit Brentanos Lehre „Von den wahren
und fiktiven Objekten" (Psych. II, 158 ff.) hinzugefügt.
80a. (8. 186.) Wie oben S. 55 ist der Text auch hier,
von Zeile 7 angefangen, der späteren Lehre Brentanos ent-
sprechend vom Herausgeber geändert worden. Das Kollegien-
heft enthält an beiden Stellen Ausführungen, die dem Stand-
punkte der sog. negativen bzw. analogischen Theologie ver-
wandter sind.
81. (8. 188.) Es fragt sich, ob hier der Unvollkommenheit
unseres Gottesbegriffes genugsam Rechnung getragen wird.
Brentano selbst hat diese ja immer wieder hervorgehoben
und insbesondere betont, daß er nicht ausreiche, uns auch nur
die Möglichkeit seines Gegenstandes erkennen zu lassen.
Dies gilt aber gewiß auch von manchem der Teilbegriffe, aus
denen wir unsern Gottesbegriff zusammensetzen, denn wie
immer derjenige, dem die Anschauung Gottes beschieden
wäre, darin etwas Einfaches, nicht aus Bestandteilen Zu-
sammengesetztes, gegeben haben mag, so läßt sich doch nicht
verkennen, daß unser Begriff ein zusammengesetzter ist.
Nicht gerade ein unendlich komplizierter, wie es der von
Brentano mit Recht abgelehnte Begriff eines allrealen Wesens
wäre, aber doch ein solcher, der gebildet wurde, indem wir
die Begriffe „unmittelbar notwendig", ,,unendliche Schöpfer-
kraft", ,,unendliche Erkenntniskraft", ,,unendliche Güte"
synthetisch vereinigen. Es verhält sich damit ähnlich, wie
wenn einer vor aller Erfahrung die verschiedenen Eigenschaf-
ten, die einem gewissen chemischen Elemente notwendig
zukommen, von denen er dies aber nicht weiß, miteinander
zu einem Begriff verbände; er könnte nicht umhin, anzuer-
kennen, daß dieser Begriff ein komplizierter ist. Daß diese
506 Anmerkungen des Herausgebers

Bestimmungen in Wirklichkeit voneinander untrennbar sind,


schließt also den komplizierten Charakter seines Begriffes
nicht aus.
Dieses Bedenken scheint um so größer an Bedeutung, je
wichtiger die Folgerungen sind, die. Brentano zieht. Sie be-
stehen in nichts Geringerem als in dem Vertrauen, daß sich
aus dem Beweise für den Schöpfer, als ein Wesen von un-
endlicher Kraft und Realität, ohne weiteres die unendliche
Vollkommenheit in jeder Beziehung deduzieren lasse, so
daß es nur dieses kurzen und selbstverständlichen Schrittes
bedürfte, um den auf vier Wegen erreichten Schöpferbeweis
zum vollständigen Gottesbeweise zu ergänzen. (Vgl. S. 436f.)
In Brentanos Papieren findet sich aber manches, was auf
eine spätere Revision hinweist. Im Gegensatze zu der S. 208
ausgesprochenen Ansicht, daß jedes der vier Argumente ein
vollkommen ausreichender Gottesbeweis sei, der einer Veri-
fikation durch die anderen nicht bedürfe, heißt es später,
der Schritt vom Schöpfer zum Gott erfolge nicht ohne teleo-
logische Erwägungen (vgl. Vier Phasen, S. 84, Phil. Bibl.
195); ja in einer kleinen Abhandlung „Die sittliche Voll-
kommenheit der ersten Ursache aller nicht durch sich not-
wendigen Wesen" heißt es geradezu, der einzige Weg,
diese zu erweisen, sei ein solcher auf Grund uns zugänglicher
Erfahrungstatsachen, worunter B., wie sich alsbald zeigt, den
Vergleich mit der Sittlichkeit der Menschen in Verbindung
mit einer Analyse der diese beeinträchtigenden Momente ver-
steht. (Ursprung, Anhang VII, Phil. Bibl. 55), vgl. unten
Anm.146).
In diesem Bande findet sich der Schluß vom Schöpfer auf
das unendlich vollkommene Wesen, auf Gott, in beiden
Fassungen, die ältere S. 436f., die spätere in der Schluß-
abhandlung S. 457ff.
Was die Konsequenz dieser Revision für die Antwort auf
den Vorwurf unendlicher Komplikation des Gottesbegriffs
anlangt, so genügt wohl, wenn man daran festhält, daß dieser
nicht mit dem des allrealen Wesens zusammenfalle.
Jede Komplikation aber kann nicht geleugnet werden.
Hat jedes der Merkmale, aus denen wir ihn zusammensetzen,
die Wahrscheinlichkeit einhalb, so ergibt sich die des Ganzen
durch Multiplikation. Man wird S. 355 finden, daß es genügt,
wenn die Gotteshypothese nicht vorgängig unendlich un-
wahrscheinlich ist.
82. (8. 191.) Das ist, wenn von einem „Attribut" Gottes
die Rede ist, immer zu ergänzen, und zwar in dem Sinne, daß
dem unmittelbar Notwendigen nichts in der Weise einer ak-
Anmerkungen des Herausgebers 507
zidentellen Bestimmung zukommen kann, wie etwa unseren
Seelen das Denken zukommt, vielmehr alles sein Wesen ist
(vgl. S. 473). Da wir von einem substanziellen Denken keine
anschauliche Vorstellung haben, wissen wir nicht von vorn-
herein, ob ein solches möglich ist.
83. (S. 201.) Vgl. S. 441, 470 sowie für den folgenden Ab-
satz S. 444 und 478.
84. (S. 203.) Vgl. Brentano, Zukunft der Philosophie.
84a. (S. 209.) Später hat B. selbst einen einheitlichen,
alle Motive zusammenfassenden Beweisgang bevorzugt. Siehe
die Abhandlung „ Gedankengang beim Beweise für das Dasein
Gottes" am Schlusse dieses Bandes. (Zitiert: Gedankengang.)
Es handelt sich darnach also nicht eigentlich um selbständige
Beweise, sondern um mehrere Abschnitte innerhalb eines
Beweises, dessen Fundament der sog. Kontingenzbeweis
bildet.
85. (S. 216.) Hans Driesch in seinem bedeutsamen, für
das Studium der Teleologiefrage sehr förderlichen Werke:
Philosophie des Organischen (4. Aufl. 1928) lehnt den Ver-
gleich der Organismen mit Maschinen ab, weil die beste
Maschine nicht leisten könne, was schon der einfachste Orga-
nismus leistet. Was ihn zu diesem Urteile bestimmt, ist
insbesondere die Beobachtung, daß man Keime zerschneiden
und aus jedem der so gewonnenen Teile ein ganzes Tier, nur
in verkleinertem Maßstabe, erzielen kann. Jeder Teil des
Keimes trägt die Anlage zu jedem beliebigen Organ des in
Entwicklung begriffenen Tieres in sich, was aber tatsächlich
aus ihm wird, ist eine Funktion seiner Lage im Ganzen.
Wird diese z. B. durch einen willkürlichen Eingriff des ex-
perimentierenden Biologen geändert, so entwickelt er sich
zu einem andern Bestandteil des reifen Organismus. Eine
solche Vertretbarkeit jedes Teiles durch jeden andern, eine
solche Art der Restitution, sei bei einer Maschine schlechthin
ausgeschlossen.
Auch B. gebraucht den Ausdruck Maschine nicht gern;
nur gelegentlich, wo er im Geiste zu solchen spricht, ,,die
gering vom Organismus denken", bedient er sich des Bildes,
daß „schon die niedrigsten wie Maschinen seien, die alle
von menschlichem Scharfsinn ersonnenen Maschinen un-
endlich hinter sich zurücklassen". •
Um sowohl das Gemeinsame als das Unterscheidende zum
Ausdruck zu bringen, die durchdachte Ordnung und die
Unvergleichlichkeit der Leistung, könnte man vielleicht
besser von „Übermaschinen" sprechen. Doch wäre auch
damit noch nichts Endgültiges zur Klärung getan, denn es
508 Anmerkungen des Herausgebers

ist hier noch Raum für Meinungsverschiedenheiten, die nicht


durch ein terminologisches Auskunftsmittel verschleiert
werden sollten. Die Frage ist: Sind die Kräfte, die innerhalb
des Keimes walten, durchwegs physikalisch-chemische oder
sind außer ihnen noch besondere, elementare Lebenskräfte,
bzw. eine Lebenskraft, im Spiele1
B. gehört zu den Vertretern der ersten Ansicht, ohne des-
halb denen zuzustimmen, die glauben, daß alles physische
Geschehen nur räumlich-quantitativ sei, vielmehr denkt
er die materiellen Teilchen auch mannigfach qualitativ
differenziert und dementsprechend mit Kräften begabt
(vgl. S. 421). Daran aber zweifelt er nicht, daß die mit
diesen mannigfachen, uns zum Teile, vielleicht zum großen
Teile unbekannten Kräften begabte Körperwelt damit aus-
reichend ausgestattet sei, um infolge der ursprünglichen,
schon auf diesen Zweck berechneten Kollokation ihrer
Bestandteile, sich selbst überlassen, ohne nachbesserndes
oder regulierendes Eingreifen psychischer oder paychoi-
der Faktoren als ein echtes Automaton den ganzen, weit-
verzweigten Stammbaum der lebendigen Wesen hervorzu-
treiben.
Wer zu behaupten wagte, daß ein solches Automaton
mit dem elementaren Materiale unserer Körperwelt nicht zu
konstruieren sei, würde sich mehr Kenntnis der Natur zu-
muten, als einem Menschen zukommt, und wer vollends
keine Scheu trüge, zu bestreiten, daß ein unendlicher, schöpfe-
rischer Verstand einer solchen Konstruktion gewachsen sein
könne, würde sich in einem unzulässigen Anthropomorphis-
mus befani~en zeigen.
86. (8. 219.) Die großen Fortschritte, welche die Gehirn-
physiologie seither gemacht hat, lassen gleichwohl alle feine-
ren Zusammenhänge mit dem seelischen Leben im Dunkeln.
87. (8. 230.) B. will natürlich nicht sagen, die physika-
lischen oder chemischen Gesetze als solche seien teleo-
logisd}h, was ebenso verkehrt wäre, als wollte einer es
zweckmäßig finden, daß ein Dreieck drei Seiten hat: wohl
aber ist es die Tatsache, daß genügend viele und genügend
verwandte Dinge vorhanden sind, in denen diese Gesetze ins
Spiel treten.
88. (S. 232.). Hier könnte auch die Zertrümmerung des
komplizierten Moleküls in einfachere Teile herangezogen
werden. Assimilation ist ohne Dissimilation, Reduktion
ohne Oxydation, exothermische Vorgänge sind ohne endo-
thermische im Naturwalten nicht zu finden, eine eminent
teleoide Erscheinung, die, nebenbei bemerkt, auch beim Stu-
Anmerkungen des Herausgebers 509
dium der Beziehungen des Unorganisc}ien zum Organischen
verwertet wird (S)*).
89. (S. 234.) Um kein Mißverständnis aufkommen zu
lassen, sei daran erinnert, daß wie .Aristoteles auch Brentano
weder eine aktuell unendliche diskrete Vielheit noch ein
aktuell unendlich großes Kontinuum für möglich hält. Da-
gegen mag man sich das eine oder andere beliebig groß den-
ken, nie ist eine Grenze erreicht, über die hinaus nicht ein
noch Größeres möglich wäre. Auch der Raum, das Konti-
nuum der Orte, ist in jedem Augenblick endlich groß, aber
nie so groß, daß er nicht noch größer sein könnte. Für die
Lokalisation der Körper ergeben sich darum unendlich mehr
Möglichkeiten als denkbare Fälle der Berührung (vgl. S. 454
und Anm. 127).
89 ~- Die Einwände des fingierten Gegners sind zum Teile
an .Außerungen Albert Langes, Geschichte des Materialis-
mus (2. Aufl. II, S. 236-238, Leipzig 1919) angelehnt.
Wörtlich folgende Stellen unseres Bandes: S. 244, Z. 13 bis
S. 245, Z. 19; S. 245, Z.12 v. u. bis Z. 3 v. u. und S. 249, Z. 2
v. u. bis S. 250, Z. 10.
90. (S. 256.) Die sog. Psychisten verlegen in die Pflanze
und in den tierischen Organismus ein Streben im eigentlichen
Sinne, oder sie sprechen von einem unbewußten Streben.
Dies ist ein Widerspruch; jenes würde, da es doch immer nur
auf das Unmittelbare und Zunächstliegende gerichtet sein
könnte, den Schein der Teleologie nicht aufklären, sondern
nur steigern. Es wäre so, als wollte einer sich den Text eines
Gedichtes, das ihm gedruckt vorliegt, daraus erklären, daß
jedes Wort von einem anderen Setzer gesetzt sei, ohne daß
dem jeweils an die Reihe gekommenen die vorausgehenden
Worte vorgelegen wären. Der Zusammenhang des Werkes
schiene vollkommen rätselhaft trotz der dabei beteiligten
Intelligenzen.
91. (S. 265.) Die männlichen und weiblichen Keime sind
nicht völlig gleich. Die Ergebnisse gewisser Versuche (z.B.
Bryoniaversuche von Correns) nötigen zur Annahme von
geschlechtsbestimmenden .Anlagen. In vielen Fällen sind
die Keimzellen auch in ihrem wesentlichen Bestandteile,
dem Zellkerne, morphologisch-strukturell deutlich ver-
schieden. (Man spricht von Geschlechtschromosomen.) Doch
erweisen die Verweiblichungs- und Vermännlichungsver-
*) Die mit (S) bezeichneten Anmerkungen war mein Kol-
lege Prof. Sperlich, Vorstand des botanischen Instituts in
Innsbruck, so freundlich, beizustellen.
510 Anmerkungen des Herausgebers

suche Steinacha die große gemeinsame Basis beider Keim-


zellen, und noch deutlicher sprechen für diese Versuche von
Goldschmidt, der durch Rassenkreuzung beim Schwammspin-
ner verschiedengradige „Intersexe"erzielt hat, bei denen die
geschlechtsbestimmende Kraft der Keimzellen geradezu
quantitativ faßbar ist. - Den Hauptvorteil der Trennung
der Geschlechter sehen wir heute darin, daß sie die Kreuzung
und damit unübersehbar. zahlreiche Kombinationen von An-
lagen ermöglicht (S).
Der Grundgedanke Brentanos, daß die Fülle teleologischer
Anlagen überall schon am Anfang sich finde, wird durch
diese Forschungen nicht alteriert, sondern bekräftigt.
92. (S. 267.) Stimmt nicht allgemein. Die Faunen und
Floren wechseln oft sehr beträchtlich an einer bestimmten
Lokalität in aufeinanderfolgenden Zeiten. Diese Verände-
rungen sind geologisch sehr wertvoll, weil Vernichtung, Ab-
und Zuwanderung, Relikte manche Erscheinungen im Wandel
der Erdkruste verdeutlichen (S).
93. (S. 291.) Brentano, Vom Ursprung, Phil. Bibi. 55.
94. (S. 300.) Versuch III: Das Problem derlnduktion und
S. 132ff. dieses Bandes.
95. (S. 301.) Daß keine vierte Hypothese logisch zulässig
ist, konnte nicht verhindern, daß infolge von Unklarheit über
diese einfache Disjunktion doch andere versucht worden sind.
Natürlich nur lebensunfähige Mischformen, auf Grund un-
möglicher Unterscheidungen, wie es etwa die von Schopen-
hauer gewagte ist, der einen Willen ohne Verstand in die
Natur verlegt. Er hätte ebensogut von einem Zweck ohne
Willen reden können, und es fehlt in der Tat nicht an solchen,
die auch hier nicht den Widerspruch bemerken. Ja, ihre Zahl
mehrt sich, wie gewisse Erneuerungsversuche der alten En-
telechienlehre beweisen, die in unseren Tagen unter ver-
schiedenen Namen in die Erscheinung getreten sind.
Ich habe hier solche Arbeiten nur insofern im Auge, als
sie sich von dem Wahne nicht freihalten, auf diese Weise
zwischen den logisch allein denkbaren drei Hypothesen zu
vermitteln oder ihnen allen auszuweichen, und möchte
nicht das viele Wertvolle, das sie sonst an Beiträgen zur
Sicherung des Scheines der Teleologie enthalten, in Frage
stellen. Auch das soll nicht bestritten werden, daß jeder das
Recht hat, diese Tatsachen in der Form teleologisch klingen-
der Also-Ob-Sätze auszusprechen. Solange man nichts an-
deres beansprucht als dies, tritt man nicht in Wettbewerb
mit den Versuchen einer ernstgemeinten Erklärung für den
Schein der Zweckordnung in der Natur. Fiktionen sind nicht
Arunerkungen des Herausgebers öll

Hypothesen. Sie sprechen nur Tatsachen in einer Form aus,


die zugleich den Mangel einer Erklärung zum Ausdruck
bringen will.
Leider scheinen mir aber nicht alle, die hier das Wort er-
griffen haben, darüber im klaren, und so wäre manche Arbeit
zu nennen, die ihren zweifellosen Wert im Dienste der Tat-
sachenforschung durch Übergriffe in das Gebiet metaphysi-
scher Hypothesen beeinträchtigt. Eine neue Art von Mystik
ist da aufgekommen, die jeden Organismus, den tierischen
und pflanzlichen, zu einem kleinen Gott macht, indem sie
ihn beseelt und in dieser Seele das letzte zwecksetzende
und seine Funktionen, ja seinen Aufbau und seine Entwick-
lung regulierende Prinzip, sehen möchte.
96. (S. 320.) Ob eine unter andere Bedingungen ge-
brachte Form (hier die ins Mittelmeer gebrachten Austern
aus der Nordsee) wirklich eine neue Art im strengen Sinne
wird, ist eine Frage, die nach den heutigen Erfahrungen erst
auf Grund langwieriger Vererbungsversuche unter gleichen und
veränderten Außenfaktoren beantwortet werden kann. Die
Variationsweite bei gleichbleibender Anlage ist für jedes
Merkmal oft sehr groß und mit ein Kennzeichen der Anlage
\Johannsen). So wie es gleiche Phänotypen (Erscheinungs-
formen) bei verschiedener genotypischer Struktur gibt (z. B.
rote Löwenmäulchen, die nur die Anlage für Rot haben, und
ganz gleich rote Löwenmäulchen, die auch die Anlage für Weiß
haben (E. Baur), gibt es auch unter dem Einfluß der Außen-
welt im weitesten Sinne verschiedene Phänotypen gleicher
genotypischer Struktur (S). - Die von B. hervorgehobene
Tatsache, daß künstliche Zuchtwahl keine Unterschiede er-
zeugt, die so groß sind wie die auf anderem Wege in der Natur
entstandenen bzw. ausgelösten, bleibt dadurch unberührt.
97. (S. 323.) Die Vererbung erworbener Eigenschaften
wird heute von der Mehrzahl der Biologen abgelehnt. Für
eine solche Vererbung sprechen sich aus Roux, Fick u. a. (S).
98. (S. 324.) Die in diesem Absatz angeführten Tatsachen
erscheinen auf Grund der neuen Vererbungsforschung in
anderm Liebte. Auch sind sie zur Erläuterung darum nicht
geeignet, weil ihnen viele entgegengesetzte gegenübergestellt
werden können (S).
99. (S. 338.) Vgl. E. Becher, Die fremddienliche Zweck-
mäßigkeit der Pflanzengallen und die Hypothese eines über-
individuellen Seelischen. Leipzig 1917.
99a. (S. 339.) Über neuere Berechnungen, deren Ergeb-
nisse zwischen 200 und 800 :Millionen Jahren schwanken,
vgl. E. Kayser, Lehrbuch der Geologie, 6. Aufl. I, 75f. (1921).
512 Anmerkungen des Herausgebers

100. (S. 346.) Die von Brentano vor nunmehr sechzig


Jahren als allein zum Ziele führend erkannte Richtung
hat den Sieg davongetragen. Der Anfang, so zeigte sich
immer deutlicher, war nicht ein Chaos, sondern ein Kos-
mos. Alle Anlagen stecken schon in den Keimen.
Was die artbildenden und umwandelnden Faktoren an-
langt, steht heute der Gedanke der Kombination von Erb-
anlagen beider Geschlechter durch die Befruchtung im
Vordergrunde. .
101. (S. 348.) Vgl. Anm. 91. - Über den heutigen Stand
der Einsicht in die Geschlechtsbestimmung und Vererbung
unterrichtet R. Goldschmidt, Mechanismus und Physiologie
der Geschlechtsbestimmung. Berlin, Bornträger 1920 (S).
102. (S. 348/9.) Vgl. Anm. 96 (S).
103. (S. 351.) Dazu bietet neues Material in lehrreicher
Analyse Driesch, Philosophie des Organischen, S. 58ff.
104. (S. 352.) Was die Variabilität und Vererbung
anlangt, so hat der Ausbau der Versuchsergebnisse Gregor
Mendels erst ermöglicht, sie ge~etzmäßig zu erfassen. Im
Jahre 1900 sind, voneinander unabhängig, De Vries,
Correns, E. Tschermak zu gleichen Resultaten gelangt,
wie der bis dahin unbeachtet gebliebene Augustinermönch.
Seither sind wir berechtigt von Vererbungsgesetzen zu spre-
chen, die mit Recht als Mendelsche Gesetze bezeichnet
werden dürfen, weil sie in ihren Grundzügen von diesem
erkannt worden sind. Der Kern unserer heutigen Ergebnisse
ist die Tatsache, daß der Organismus nichts anderes zeigen
kann, als was in der befruchteten Eizelle (bzw. in der des
Befruchtungsaktes nicht bedürftigen Ausgangszelle) als An -
lage schon vorhanden ist. Alle Erscheinungsformen der
Nachkommenschaft ergeben sich aus der Kombination der
elterlichen Anlagen und aus deren gegenseitiger Beeinflussung,
die allerdings noch nicht in allen Punkten aufgeklärt ist,
besonders was die Unterdrückung des Auswirkens einer An-
lage des einen der Eltern durch die entsprechende Anlage des
andern, ferner die Koppelung von Anlagen, die Unmöglich-
keit der Auswirkung gewisser Kombinationen, deren letalen
Effekt anlangt.
Da auf Grund der erfaßten Gesetze schon bei relativ
wenigen verschiedenen Anlagen der beiden Eltern eine un-
gemein mannigfaltige Nachkommenschaft entsteht, die teil-
weise äußerlich von den Eltern sehr verschieden sein kann,
ist es begreiflich, daß trotz der noch lange nicht faßbaren
Modalitäten, unter denen eine lebensfähige Kreuzung mög-
lich ist, von mancher Seite (Lotsy) die Meinung geäußert
Anmerkungen des Herausgebers 513
werden konnte, etwas wirklich Neues entstünde überhaupt
nicht, alles Neue sei nur ein neues Mosaikbild aus den alten,
unveränderlichen Steinen, den von Geschlecht zu Geschlecht
gesetzmäßig übertragenen Anlagen. Der Gegensatz zu Dar-
wins Annahme von kleinen primären Veränderungen und
deren Verstärkung durch entsprechende Kreuzung tritt hier
aufs deutlichste hervor. Die Möglichkeit der Ausles~ der
entstandenen „nova" durch das Walten des Zufalls und durch
den Kampf ums Dasein bleibt natürlich bestehen. (Die
sekundäre Rolle, die Darwins Faktoren bei der Evolution ge-
spielt haben, läßt ja auch B. unangetastet.)
Die (freilich noch nicht ganz geklärte) gesetzmäßige Er-
fassung der Variationsweite eines bestimmten Merkmals und
des ganzen Organismus auf Grund seiner Anlagen und der
Einwirkung der Umwelt verdanken wir J ohannsen .. Varia-
tionen, die bei gleichen Anlagen durch die Umwelt (im
weitesten Sinne des Wortes) bewirkt worden sind, werden
fluktuierende Variationen oder Modifikationen ge-
nannt.
Als Brentano diese Vorlesung entwarf, stand die Ver-
erbungsforschung erst in den Anfängen. Doch hatten sich auf
Grund von Befunden und freier Intuition einige Forscher,
wie z.B. die von ihm zitierten Nägeli und Weismann (als
exakte Zellenforscher sind insbesondere die beiden Hertwig
zu nennen), schon vor der experimentellen Bestätigung durch
Mendel und seine Nachfolger dafür ausgesprochen, daß alle
Anlagen schon in den Keimen vorhanden sein müßten, und
haben dadurch den Boden für die Wertung der Mendelschen
Ergebnisse vorbereitet.
Was die Veränderlichkeit der Anlage anlangt, so
konnte auch sie erst auf Grund der Mendelschen Vererbungs-
gesetze und ihrer weiteren Auswirkung experimentell ge-
prüft werden. Sie ist veränderlich. Variationen auf Grund
veränderter Anlagen werden mit De Vries Mutationen
genannt. Über die Ursache der Mutation sind wir trotz vieler
experimenteller Erfolge nicht befriedigend aufgeklärt. Manche
sind geneigt, die Darwinsche Annahme kleiner Veränderungen
auf die Anlage selbst zu beziehen. Die Diskusaion ist in
vollem Flusse. Die Annahme, daß etwas weitgehend Ver-
schiedenes neu entstünde, wie dies De Vries bei seinen
mutierenden Nachtkerzen annimmt, findet heute wenig Zu-
stimmung. Ebensowenig die Beeinflussung der Keimzelle
und ihrer Anlagen durch somatische Einflüsse. Doch sind
gewisse Biologen morphologischer Richtung dieser Annahme
geneigt. Hierher gehört die von R o u x gelehrte „ blastogene
5U Anmerkungen des Herausgebers

Infektion" oder keimumbildende Einfügung der neuen Deter-


mination an die geeignete Stelle des Keimes. Es handelt sich
da um die Übertragung Lamarckscher Gedanken auf die
Variation der Anlagen in der Keimzelle. Genügend beweis-
kräftige Versuche liegen dafür noch nicht vor.
Literatur: Eine gute Einführung in die hier dargelegten
Probleme bietet I. P. Lots y, Vorlesungen ü her Deszendenz-
theorien. Jena 1906/8, ein Werk, das freilich teilweise über-
holt ist. Die einzelnen Teilfragen sind nicht genügend scharf
erfaßt, die Ausdrucksweise nicht immer glücklich. (Der Ver-
fasser ist Holländer.)
In die moderne Vererbungswissenschaft führt am besten ein :
E. Baur, Einführung in die experimentelle Vererbungslehre,
Berlin 1919. Über die Struktur der Keimzellen orientiert
Th. H. Morgan, Die stoffliche Grundlage der Vererbung,
autoris. Übersetzung von H. Nachtsheim, Berlin 1921. Zu
nennen wäre auch Dürken, Allgemeine Abstammungslehre.
Zugleich eine gemeinverständliche Kritik des Darwinismus
und Lamarckismus. Berlin 1923 (S).
105. (S. 352 Z. 7 v. u.) ,,Mechanisch" heißt hier soviel wie
,,ohne unmittelbaren teleologischen Eingriff vor sich gehend".
106. (S. 355.) Vgl. S. 191.
107. (S. 355.) Versuch, S. 162. Über den Unterschied
zwischen vorgängiger Wahrscheinlichkeit und Erklärungs-
wert einer Hypothese s. Versuch, S. 86f.
108. (S. 356.) War die ursprüngliche Kollokation, aus
der sich diese Welt notwendig entwickeln mußte, gegeben,
so erklärt sich alles weitere aus ihr mit voller Sicherheit.
109. (S. 358.) Vgl. oben S. 231.
110. (S. 375.) Was von dem S. 372 gemeinten unbestimm-
ten Urteil, daß irgendeine taugliche Materie existiert habe,
nicht gilt. Dieses wäre nicht unendlich unwahrscheinlich,
würde aber wegen seines Mangels an Bestimmtheit nicht
ausreichen.
111. (S. 378.) Ein (fiktives) Beispiel: eine Bewegung, bei
der jeder folgende Zustand nicht nur durch Umwandlung
aus dem vorhergegangenen entstünde, sondern diesen auch
zur wirkenden Ursache hätte. Vgl. § 387.
112. (S. 382.) Nämlich die im § 372 unterschiedenen An-
nahmen über das Verhältnis des Verstandes zu der von ihm
erkannten Materie.
113. (S. 384.) B. nennt diesen Beweis auch den Beweis
aus der ewigen Energie.
114. (S. 384.) Vgl. Brentano, Aristoteles und seine Welt-
anschauung. Leipzig 1911.
Anmerkungen des Herausgebers 515
ll5. (S. 385.) Weiter unten (S. 407) wird eine Einschrän-
kung vorgenommen. Nicht jede Art des Wechsels dient d.em
Argument zur Grundlage, sondern nur solche Veränderungen,
die verschiedene Geschwindigkeit zulassen. Also nicht der
temporale Wechsel als solcher, sondern nur einer, der in der
Zeit, und zwar in der Weise verläuft, daß in gleichen Zeit-
strecken verschieden große Differenzen erreicht werden kön-
nen. Diese Einschränkung ist wichtig, weil, "\\ie B. später
nachweist, auch der erste Beweger von einem absolut gleich-
mäßigen Wechsel nicht frei gedacht werden kann.
ll6. (S. 387.) Auch Gesetz der Entropie genannt.
117. (S. 387.) Das erste Argument zum Teil (390-394,
398--407) nach einem Vortrag, ,,Das Gesetz der Wechsel-
wirkung der Naturkräfte und seine Bedeutung für die Meta-
physik", den B. 1868 in Würzburg und 1879 in Wien ge-
halten hat. Daher im Paragraph 405 die Wiederholung von
etwas, was bereits in 397 festgestellt war.
118. (S. 392.) Das Gesetz von der Erhaltung der Kraft
gilt für ein geschlossenes physisches System. Die Welt des
Physikers kann praktisch als solches gelten, denn für seine
Berechnungen sind die Abweichungen, die sich aus der gegen-
seitigen Einwirkung von Physischem und Psychischem er-
geben, nicht von Bedeutung. Ganz verkehrt war es, wenn
manche, als wäre die Geschlossenheit des Systems bewiesen,
von vornherein die Wechselwirkung auf Grund des Energie-
gesetzes für unmöglich hielten. Vgl. dazu Ludwig Busses
(Geist und Körper, Seele und Leib, Leipzig 1903) ausgezeich-
nete Kritik des psychophysischen Parallelismus.
119. (S. 406.) Das Kollegienheft enthält diesen Beweis
auch noch in folgender Fassung: ,,Nachweis, daß keine
kontinuierliche Veränderung, die eines '\Vechsels
ihrer Geschwindigkeit fähig ist, einen Anfang
haben kann.

I. Nach weis für gleichmäßige, geradlinige


Bewegungen
a) Ein Körper, der in anfangloser, gleichmäßiger, gerad-
liniger Bewegung begriffen wäre, würde in keinem
Augenblick an einem bestimmten Punkte der Linie sein,
in welcher er sich bewegt.
Bei endlicher Bewegung sind die Bedingungen, aus
welchen die augenblickliche wirkliche Bestimmtheit her-
vorgeht: l. Ausgangspunkt; 2. Richtung; 3. Anfangs-
moment; 4. Geschwindigkeit.
516 Anmerkungen des Hemusgebers

Bei der anfanglosen, gleichmäßigen, geradlinigen Be-


wegung tritt an die Stelle des Anfangsmomentes An-
fangslosigkeit, an die Stelle des Ausgangspunktes Mangel
eines AUBgangspunktes. Beides ist ja solidarisch ver-
knüpft, denn, angenommen, eine anfanglose Bewegung
habe einen Ausgangspunkt, war sie einmal (in einem ge-
wissen Zeitteil) in dem ersten Schuh der Bahn 1 Wenn,
so wäre genau anzugeben, bei bekannter Geschwindigkeit,
vor wieviel Zeit jenseits des Punktes, d. h. die Bewegung
hat einen Anfang; wenn nicht, so gehört die Strecke
nicht zur Bahn.
Hierin sind sämtliche Bestimmungen einer anfang-
losen, gleichmäßigen, geradlinigen Bewegung enthalten,
und doch bleibt sie so unbestimmt, daß sie für den An-
fangs- und Endpunkt des Körpers dieselbe bleibt. Das
Resultat könnte also auch nur ein ganz vages, unbe-
stimmtes sein, was unmöglich ist.
b) Wenn ein Körper sich anfanglos, gleichmäßig, gerad-
linig bewegte, so müßte er dies mit einer gewissen Ge-
schwindigkeit tun. Wenn ein Körper, so könnte es
jeder. Wenn mit einer Geschwindigkeit, so mit jeder,
oder, wenn man bezüglich einer größeren Bedenken hätte,
obwohl unbegründet, die Bahn möge nicht ausreichen,
wenigstens mit jeder geringeren, z.B. mit der halben.
Es ist also, sobald es logisch möglich ist, daß ein Kör-
per sich anfanglos, gleichmäßig in einer gewissen ge-
raden Richtung bewegt, auch logisch möglich, daß noch
ein anderer sich ebenso mit einer kleineren Geschwindig-
keit bewege.
Denken wir einen Körper mit der Geschwindigkeit c
und einen andern mit i. Jetzt sei jeder Körper irgendwo.
Sind sie beisammen 1 Wenn, so haben sie in derselben
Zeit dieselbe Bahn durchlaufen, also gleich schnell; also
sind sie nicht beisammen, sondern unendlich weit aus-
einander, denn in einer Stunde stehen sie um f von-
einander ab, in unendlicher Zeit um 00 i,
Genau bestimmt, ist die Distanz gleich der Bahn des
langsameren Körpers (wenn die Geschwindigkeiten wie
c zu i sich verhalten). Aber schon das ist unmöglich, daß
eine Linie, die Anfang und Ende hat, unendlich ist; doch
wenn auch, dann, daß eie gleich der anfa.nglooen ist.
Anmerkungen des Herausgebers 517
c) In derselben Weise kann man auch, indem man, ähnlich
wie hier Raum mit Raum, Zeit mit Zeit vergleicht, die
Absurdität einer solchen Bewegung erweisen.
Eine anfanglose, gleichmäßige, geradlinige Bewegung
habe stattgefunden. Man denke sich, sie habe mit der
halben Geschwindigkeit stattgefunden. Der Körper
würde dann noch nicht sein, wo er jetzt ist, sondern in
einem andern Punkt der Bahn, wo er einmal früher ge-
wesen, und zwar wegen seiner doppelten Geschwindigkeit
vor der Hälfte der Zeit seiner Bewegung. Somit läßt
sich ihre anfanglose Zeit in einem gewissen Moment in
zwei Hälften zerlegen: von ihm an bis jetzt = anfangslos
bis zu ihm. Was absurd geradeso wie beim Raum.

II. Verallgemeinerung für jede Veränderung mit


variabler Geschwindigkeit
Die erste und dritte der eben geführten Argumentatio-
nen haben nicht bloß für die gleichmäßige, geradlinige
Bewegung Kraft, sie passen vielmehr auf jede Art kon-
tinuierlicher Veränderung, sie sei regelmäßig oder un-
regelmäßig, und sie sei homogen oder inhomogen in den
einzelnen Teilen, in gleicher Weise. Auf nichts braucht
man sich zu stützen, was nicht a priori einleuchtet,
außer auf die einfache Beobachtung einer Veränderung,
wie sie uns mit unmittelbarer Evidenz die innere Wahr-
nehmung zeigt.
Keine kontinuierliche Veränderung, von welcher Art
sie auch sei und mit welcher Regelmäßigkeit oder Un-
regelmäßigkeit sie verlaufe, wenn sie nur überhaupt
eines Wechsels ihrer Geschwindigkeit fähig ist, kann
anfanglos sein.
Angenommen, es sei eine solche anfanglos, so verliefe
sie mit einer gewissen Geschwindigkeit in jedem ein-
zelnen Teile, die größer oder kleiner sein könnte, denn
dies gilt bei der gleichmäßigen wie ungleichmäßigen
Veränderung•).
Es könnte somit auch eine andere gedacht werden, die
in allen ihren Teilen ihr entspräche und in allen homo-

•) Brentano hat hier nur sekundär kontinuierliche Varia-


tion im Auge. Primär kontinuierliche Variationen sind not-
wendig konstant im Variationsgrad. Es handelt sich also
um Veränderungen in der Zeit, nicht um die Geschwindig-
keit des zeitlichen Verlaufes als solchen.
518 Anmerkungen des Herausgebers

logen Teilen mit proportionaler Geschwindigkeit ver-


liefe, z. B. überall mit der halben.
Man denke nun, die Veränderung habe in allen homo-
logen Teilen mit der halben Geschwindigkeit statt-
gefunden, dann würde sie bei einem Entwicklungs-
moment stehen, das sie jetzt früher erreicht hat. Die
Zeit zwischen dem .Augenblick, in welchem sie es erreicht
hat, und der Gegenwart wäre gleich der anfanglosen,
was unmöglich.
Somit ist klar, daß keine kontinuierliche Veränderung")
anfangloa sein kann."
Das .Argument ließe sich auch so fassen: Es sei ein Körper
in gleichmäßiger, geradliniger Bewegung anfanglos begriffen .
.Aus dem Begriffe der Bewegung überhaupt folgt zunächst,
daß sich der Körper mit einer gewissen Geschwindigkeit be-
wegt, und daß sich sein Schwerpunkt in einem gewissen
Zeitpunkte t an einem gewissen Punkt M des Raumes be-
findet, d. h. an einem Punkt, der von jedem andern Punkt
des Raumes einen endlichen .Abstand hat.
Wir betrachten nun denselben Körper unter sonst gleichen
Um'Btänden das eine Mal mit einer Geschwindigkeit v = c,
das andere Mal v2 = { . Wo befindet sich der Schwerpunkt
unseres Körpers im selben .Augenblick t = -c, wenn v = c
·t , un d wo, wenn v = c.ti1a .
1s 2
Beide Male muß er sich nach Voraussetznng an einem
bestimmten Punkt der Bahn M = M 1 und M = M 2 be-
finden, was nichts anderes heißt, als daß M 1 und M 2 stets
einen endlichen, wenn auch noch so großen .Abstand haben.
Dies folgt aus dem Begriff der Bewegung überhaupt .
.Andererseits folgt aus dem Begriff der anfanglosen Be-
wegung und aus der Formel für die Geschwindigkeit (v = f)
für v1 = ~ , v2 = ~ die Gleichung B1 = 8 2 = oo, da sowohl
t '
v1 als v2 endliche Geschwindigkeiten sind, was sie für ein un-
endlich großes t (d. h. bei anfangloser Bewegung) nur dann
sein können, wenn auch 81 und 8 2 unendlich groß werden.
Für gleichest folgt aber aus v1 = 2 v2 die Gleichung 8 = 2 8 2 ,
was so viel heißt, als daß die Strecke M 1 M 2 gleich sein muß 8 1 .
.Also müßte M 1M 1 unendlich groß sein (E. Foradori).
120. (S. 407.) Die §§ 414-418 enthalten nicht den Text

*) Ergänze „in bezug auf die Geschwindigkeit variable".


Anmerkungen des Herausgebers 519
des Kollegienheftea, sondern die spätere Lehre Brentanos.
Zunächst hatte B. die aristotelische Überzeugung von der
absoluten Wechsellosigkeit des ersten, unmittelbar not-
wendigen Prinzips geteilt. Zwar erscheint schon im Beweis
gegen die anfanglose Bewegung Rücksicht auf den Aus-
nahmefall einer keiner variablen Geschwindigkeit fähigen
Veränderung genommen, aber damals hatte B. dabei nur
an die Zeit gedacht, ohne zu berücksichtigen, daß auch das
göttliche Sein temporal verlaufe.
121. (S. 409.) Die Leidlosigkeit, d. h. Unmöglichkeit, eine
Einwirkung zu erfahren, ergibt sich aus der unmittelbaren
Notwendigkeit der ersten Ursache, also durch eine Anleihe
beim Kontingenzbeweise. Auf dem alten, aristotelischen
Standpunkte aber war sie aus der absoluten Unveränderlich-
keit gefolgert. Vgl. S. 474.
122. (S. 410.) Der Kontingenzbeweis steht hier an dritter
Stelle, doch weisen ihm spätere Überlegungen Brentanos
die erste an, indem der Schluß auf die Existenz einer ersten,
unmittelbar notwendigen, schöpferischen Ursache der Welt
zum Fundament für den ganzen weiteren Aufbau des Theis-
mus wird. Vgl. Gedankengang S. 146ff.
Die im Zusammenhange der großen Vorlesung gebotene
Fassung des Kontingenzbeweises verwendet zum Teile Arbei-
ten Brentanos aus späterer Zeit. So sind die §§ 426 und 427
teils einem Briefe an Christian v. Ehrenfels, teils einem kleinen,
undatierten Fragment entnommen, 430---432 einer Ab-
handlung: ,,Die Unmöglichkeit eines schlechthin Tatsäch-
lichen" (1904), die schon im Versuch über die Erkenntnis
veröffentlicht worden ist. Dort auch andere Varianten des
Beweises gegen den absoluten Zufall und Berücksichtigung
von Einwänden.
412, 413, 415 aus meinen Aufzeichnungen über ein Gespräch
mit B. Innsbruck 1915. Der Schlußabhandlung dieses Bandes
,,Gedankengang" sind 414 und 435 entnommen.
Interessant ist die Fassung des Kontingenzbegriffes in
einem kleinen Fragment, das, nach der Handschrift der Sekre-
tärin zu schließen, aus der Zeit 1906-1908 stammt.
l. ,,Kontingent im eigentlichen Sinne nennt man das,
was weder notwendig noch unmöglich ist, also sowohl
sein als nicht sein kann. Denn was nicht unmöglich ist,
kann sein, und was nicht notwendig ist, kann nicht sein.
Man meint aber hier mit dem Ausdruck „notwendig"
nicht soviel wie sicher, mit dem Ausdruck „unmöglich"
nicht soviel wie sicher nicht. Sonst hieße kontingent
soviel wie etwas, wovon ich weder weiß, daß es ist, noch
520 Anmerkungen doo Herausgebers

weiß, daß es nicht ist, und es könnte dasselbe für


den einen kontingent und zugleich für den andern nicht
kontingent sein, dann nämlich, wenn dieser jenen an
tatsächlichem Wissen übertrifft.
Vielmehr ließe sich sagen, unmöglich sei das, dessen
Begriff von der Art ist, daß wer den Gegenstand an-
erkennt, absurd urteilt; notwendig, dessen Begriff von
der Art ist, daß, wer den Gegenstand leugnet, absurd
urteilt.
2. Indessen ist, genau besehen, in diesem Sinne nichts
kontingent. Es gibt keinen absoluten Zufall. Alles was
ist, ist, wann es ist, notwendig, alles, was nicht ist, wann
es nicht ist, unmöglich. Der einzige Unterschied, der ge-
macht werden kann, ist der, daß von dem, was ist, einiges
ursachlos, anderes durch eine Ursache bestimmt not-
wendig ist, so daß es ohne diese nicht notwendig wäre
und nicht wäre; und von dem, was unmöglich ist, einiees
unmittelbar, anderes mittelbar unmöglich ist, d. h.
darum, weil eine dafür unentbehrliche Ursache fehlt,
während es, wenn diese wäre, selbst als Folge davon ge-
geben sein würde.
Kontingent ist also in diesem Sinne alles Verursachte.
3. Doch auch wenn wir den Begriff kontingent in dem
Sinne von „weder notwendig noch unmöglich" fest-
halten, kann er uns dienen. Wenn wir zeigen, daß ihm
nichts entspricht, so konstatieren wir dadurch eine Wahr-
heit, welche von hoher Wichtigkeit ist. Gerade dieser
Nachweis kann zum Ausgangspunkt eines Gottesbe-
weises gemacht werden, den man dann freilich statt Kon-
tingenz beweis besser Nichtkontingenzbeweis nennen
könnte."
123; (S. 411.) Es fällt auf, daß sich B. dieses Argumentes
aus der Vielheit nicht auch zum Nachweis der Einz.igkeit
Gottes bedient. Es scheint, daß er recht daran tut; denn
das für den Charakter der Kontingenz Entscheidende ist
nicht die Vielheit als solche, sondern Vielheit innerhalb
einer Gattung, die ihrer Natur nach beliebig viele Indi-
viduen zuläßt. Wir dürfen darum aus der Tatsache der Viel-
heit nur dort auf Kontingenz schließen, wo, wie:.bei den Orten,
keine jeweils zu erreichende Zahl eine natürliche und un-
überschreitbare Grenze bildet. So bei allem Räumlichen
und bei jedem Topoid, was wieder mit der Homogeneitä.t
aller Punkte zusammenhängt (vgl. Anm. 124). Da die Viel-
heit der Körper nur vermöge einer Vielheit von Teilen des
Raumes möglich ist, ist hier der Schluß aus der Vielheit auf
Anmerkungen des Herausgebers 521
die Kontingenz berechtigt. Weil das gleiche von Null-
dimensionalem nicht gilt, läßt sich weder direkt bei den
Seelen von ihrer Vielzahl auf ihren Mangel an unmitte].
barer Notwendigkeit schließen, noch umgekehrt aus der
unmittelbaren Notwendigkeit des ersten Prinzips auf dessen
Einzigkeit.
124. (S. 413.) Eine krumme Linie ist dadurch gekenn-
zeichnet, daß sie Punkt für Punkt ihre Richtung ändert.
Hingegen bleibt beim zeitlichen Verlauf als solchem selbst-
verständlich in allen Momenten die gleiche Richtung ge-
wahrt. Jeder innere Moment muß hier Grenze nach zwei
entgegengesetzten Richtungen sein, und mehr als diese
beiden sind garnicht denkbar. Ebenso muß jeder innere
Punkt des Raumkontinuums und jedes Topoids Grenze nach
so vielen Richtungen sein, als darin überhaupt möglich sind.
Weil aber immer alle Richtungen zusammen realisiert sein
müssen, ist jede Richtungsvariation des Raumes (Topoids)
und damit natürlich jede Krümmung ausgeschlossen.
125. (S. 413.) Unter den Graden der Teleiose versteht B.
den Unterschied in der Dehnung eines sekundär Kontinuier-
lichen über das davon erfüllte primäre Kontinuum. Jede
Bewegung bietet ein Beispiel. Wird der gleiche Weg in
doppelter Zeit zurückgelegt, so nimmt der Körper sukzessive
jeden Punkt der Bahn in höherem Grade von Teleiose ein,
als wenn die Bewegung schneller verliefe. In voller hat ihn
der ruhende.
126. (S. 417.) Das Kollegienheft enthält nur eine kurze
Skizze des psychologischen Beweises, die aus der Würz-
burger Zeit stammt, da B. noch den semimaterialistischen
Standpunkt des Aristoteles geteilt hatte. Ich habe den Text
nach Diktaten aus den letzten Lebensjahren Brentanos zu-
sammengestellt. Eine dieser Abhandlungen „Von der Un-
sterblichkeit der menschlichen Seele" hat B. im Jahre 1916
für einen kleinen Kreis philosophisch interessierter Freunde
in Zürich verfaßt. Sie wird in anderem Zusammenhange
vollständig veröffentlicht werden.
127. (S. 422.) Der Raum, das Kontinuum der Orte, ist
nicht unendlich groß, denn ein actu infinitum widerspricht,
wie B. nicht müde wird zu betonen; aber wie groß immer er
in einem gegebenen Momente sein möge, er könnte noch
größer sein, es wäre niemals absurd, daß über seine momentan
gegebenen Grenzen hinaus Orte zuwachsen, wodurch die
vordem nur nach innen gerichteten Grenzen (Grenzen in
unvollständiger Plerose, wie B. sagt) nun Grenzen nach allen
denkbaren Richtungen würden.
522 Anmerkungen des Herausgebers

Nur dies ist gemeint, wenn B. vom unendlichen möglichen


Raume spricht.
Es sind aber nach ihm die beiden Sätze: ,,Gewisse Orte
sind nicht wirklich, aber sie sind möglich, d. h. sie können
unter Umständen verwirklicht werden" und „Gewisse Orte
sind verwirklicht, aber nicht mit Qualität (Materie) erfüllt",
wohl zu unterscheiden. Denken wir uns, was vom möglichen
Raume in einem bestimmten Zeitpunkte verwirklicht ist,
von der Gestalt und Größe der Parmenideischen Weltkugel,
so bliebe nach B. zunächst die Frage offen, ob jeder Punkt
dieser Kugel (also jeder wirkliche Ort) mit einer Qualität
erfüllt sei, oder ob es darunter auch Lücken im Sinne leerer
Orte gebe. Es wäre aber auch noch in einem anderen Sinne
„leerer Raum" innerhalb des Umfanges der Raumkugel
denkbar, insofern nämlich nicht alle Orte, die innerhalb
ihrer Oberfläche möglich wären, auch tatsächlich verwirk-
licht sind.
Weder in dem einen noch andern Sinne ist eine Unter-
brechung der räumlichen Kontinuität absurd. Wenn man
sich gegen solche Lücken im einen oder andern Sinne aus-
spricht, so muß man dies empirisch begründen. (Z.B. mit
Rücksicht auf die Unentbehrlichkeit eines Mediums für die
Schwerkraft.)
Da zwei Qualitäten (Körper), die spezifisch gleich sind,
sich nur durch ihre Orte unterscheiden, erscheint der Ort
als das, was die Qualität individualisiert, und somit als
das Substantielle am Körper, die qualitativen Unterschiede
der Körper aber als akzidentelle. (Vgl. S. 430.)
Denkt man sich, um auf das Beispiel der Parmenideischen
Weltkugel zurückzukommen, darin alle Orte verwirklicht,
so kann man den ganzen existierenden Raum eine einzige
Substanz nennen. Ein Raumding, von wie immer großem,
so doch endlichem Umfang, ganz oder teilweise mit Qualität
erfüllt.
Ob der sog. Äther diese Raumsubstanz selbst ist oder eine
sie lückenlos erfüllende Qualität, di3 selbst wieder teilweise
mit sekundären Qualitäten, den schweren Körpern, erfüllt
ist, ist eine Frage der physikalischen Erfahrung. (Vgl. S. 471.)
Über die Unmöglichkeit eines unendlich Ausgedehnten vgl.
s. 454.
128. (S.422.) D.h., wenn es sich nicht um ganze Körper,
sondern um Punkte oder Flächen derselben handelt.
129. (S. 422.) Eine Folge der Loslösung der Psychologie
von der Philosophie ist es, daß die Lehre von der Einheit
des Bewußt.seins in Verwirrung geraten konnte. Immer wieder
Anmerkungen des Herausgebers 523
hört man die Psychologen so reden, als nähmen wir in der
sog. inneren Wahrnehmung nicht ein Ding, das denkt (im
weitesten Descartesschen Sinne von res cogitans), wahr,
sondern Denken (Sehen, Hören, Glauben, Begehren statt
eines Denkenden, Sehenden usw.). Das ist unmittelbar ab-
surd, weil damit etwas, was nicht ein Ding ist, zum Gegen-
stande gemacht wird. Abstracta sunt ficta.
Eher ließe sich hören, daß uns die innere Wahrnehmung
zwar Denkendes, aber nicht ein Denkendes, sondern viele
Denkende (einen Sehenden und einen Hörenden und einen
Glaubenden und einen Liebenden usw.) zeige. Doch wider-
spricht dies der unmittelbaren Wahrnehmung. Sie zeigt uns
alles das als einem Dinge zugehörig (womit wegen ihrer Un-
vollständigkeit noch gar nichts über die Natur dieses Dinges,
insbesondere ob es ein Körper oder ein Geist sei, ausgemacht
ist).
Demjenigen, der an dieser u:!1mittelbar gegebenen Tatsache
der Einheit des uns jeweils gegebenen denkenden Dinges irre
geworden ist, hat Brentano in einem anderen Zusammen-
hange (Psych. III/1, S. 4ff., S. 12ff.) zu zeigen gesucht, daß
man sie nicht leugnen könne, ohne mit einer Folgerung in
Widerspruch zu geraten, die sich aus der Natur evidenter
Tatsachenerkenntnis ergibt. Wie immer eine solche eine
bloß tatsächliche und keine Erkenntnis als notwendig ist,
so muß doch die relative Notwendigkeit gesichert sein, daß,
wenn das Erkennen, auch das Erkannte sei. Dies aber ist
nur dann der Fall, wenn die IJ.entität des Erkennenden mit
dem Erkannten miterkannt wird. Wäre also z. B. ein kompli-
zierter Bewußtseinszustand, der sich aus einem Sehakt,
einem Hörakte und einem dritten Akte, der die beiden ersten
evident apperzipiert und vergleicht, zusammensetzte, der-
art auf verschiedene Teile des Gehirns verteilt, daß der eine
davon das sehende, der andere das hörende, ein dritter •:las
apperzipierende Ding wäre, so könnte diese Apperzeption
nicht unmittelbar evident sein, weil räumlich distinkte Teile
nicht ein und dasselbe Individuum sind. (Nennt man ein
in sich geschlossenes, lückenloses Raumkontinuum eine
Substanz, so will man damit nicht sagen, es sei ein Indivi-
duum, sondern ein Kontinuum von Individuen. Vgl. Anm.
127, Schluß.)
Meint einer, es ließe sich auch etwas unmittelbar als Tat-
sache erkennen, was unmittelbar Ursache des Erkennens ist,
wofern dieses nur auch tatsächlich als Wirkung des Erkannten
wahrgenommen wird, so käme er auch damit dem :Materialis-
mus des Subjektes nicht zu Hilfe. Denn unmittelbar können
524 Anmerkungen des Herausgebers

voneinander abstehende Körper nicht aufeinander wirken.


So könnte denn das Sehen und ebenso das Hören sich nicht
in Subjekten finden, die irgendwelchen räumlichen Abstand
von dem Subjekte ihrer evidenten Apperzeption hätten;
sie müßten vielmehr alle drei demselben Raumpunkte an-
gehören. Auch bloße Berührung genügte nicht, weil ja doch
der ganze Sehakt unmittelbar apperzipiert wird, während
unmöglich der ganze sehende Körper unmittelbar auf jeden
Teil des apperzipierenden Körpers wirken könnte, man möge
beide noch so klein denken.
130. (S. 425.) Vorstellung der Zeit in einem Augenblick.
Es handelt sich um ein Kontinuum von Temporalmodis des
Vorstellens. Vgl. Psych. III/1, S. 37ff.
131. (S. 425.) Verschiedene Teile des Körpers sind ja
individuell voneinander verschieden, sie können die gleichen,
aber nicht dieselben Eigenschaften haben.
132. (S. 425.) D. h., es würde nicht die Gemeinschaft aller
Punkte zusammen eine einheitliche, komplizierte Tätigkeit
üben, sondern jeder Punkt würde die ganze für sich üben,
aber in Gesellschaft aller andern, gleich beschäftigten Punkte.
133. (S. 426.) Brächte Gleiches unter gleichen Umständen
verschiedene Wirkungen hervor, so wären diese unerklärlich.
Sie erschienen nicht mittelbar notwendig, und, da sie, als
Wirkungen, auch nicht unmittelbar notwendig sein können,
vielmehr absolut zufällig. Da der absolute Zufall unmöglich
ist, ist es auch der Indeterminismus. Vgl. Zukunft der Philo-
sophie, S. l 78f.
134. (S. 426.) Vgl. Anhang zu Zukunft der Philosophie,
S. 174.
135. (S. 426.) Daß nämlich im selben Leibe mehrere Seelen
sich fänden.
136. (S. 429.) Neuere Literatur zu der Frage gibt Fröbes,
Lehrbuch der experimentellen Psychologie II, S. 2.
137. (S. 432.) Denkt man sich die Seelen seit Ewigkeit be-
stehend, aber bis zur Vereinigung mit dem Leibe bewußtlos,
so müssen aie, da kontingent, gleichfalls von Gott gewirkt
sein. Da aber niemals unendlich viele zugleich sein können,
wäre entweder keine endlose Vermehrung ihrer Zahl möglich,
oder man müßte doch wieder zur Annahme einer Seelen-
schöpfung greifen.
138. (S. 432.) Vgl. S. 408 und S. 457, 461.
139. (S. 434.) Mit anderen Bedenken gegen die Wechsel-
wirkung, wie z.B. dem, daß sie dem Gesetze der Erhaltung
der Kraft im allgemeinen und speziellen Untersuchungen
über den Energieverbrauch im menschlichen Organismus
Anmerkungen des Herausgebers 525
widerspreche, setzt sich B. anderen Ortes auseinander. Die
betreffenden Abhandlungen werden in der Folge der Bände
seiner Psychologie Platz finden. Brentanos Argumentation
zugunsten dieser Lehre gegenüber allem Materialismus,
Spiritualismus, psychophysischen Parallelismus nähert sich
Carl Stumpf, Leib und Seele, Leipzig 1903.
HO. (S. 435.) Gegen diese Annahme könnte man ein-
wenden, daß die Erfahrung kaum etwas zu .ihrer Stütze zu
bieten scheine. Das Gehirn baut sich auf und erhält sich im
steten Flusse des Stoffwechsels; wie sollten alle diese vom
Ungefähr zusammengetragenen Stoffe eine spezifisch gleiche
und von allem, was außerhalb des Verbandes des betreffen-
den Gehirnes ist, scharf unterschiedene Beschaffenheit haben 1
Sowohl jene Gemeinsamkeit, die sich ja offenbar auf jedes
Atom innerhalb erstrecken müßte, als diese Verschiedenheit
gegenüber den im übrigen völlig gleichen Stoffen der Um-
gebung scheine in hohem Grade rätselhaft, ja völlig unbegreif-
lich. Zumal wenn man sich frage, ob denn diese qualitas
occulta den im Stoffwechsel ausgeschiedenen Stoffen bleibe
oder ihnen mit dem Austritte aus dem Organismus wieder
verlorengehe; ferner ob es sich um eine physikalische oder
um eine chemische Beschaffenheit handle, und wie es sich
erkläre, daß sie sich gleichwohl so gänzlich der Beobachtung
entzieht. Je mehr man auf die Sache eingehe, um so mehr
ecscheine die Hypothese, welche die Tatsache des speziellen
Zusammenhanges einer Seele mit nur einem Leibe erklären
soll, eine bloß ad hoc gemachte Annahme.
Um zu diesen Bedenken die richtige Stellung zu gewinnen,
müssen einige Unterscheidungen gemacht werden. Vor allem,
ob sich die Vorwürfe damit begnügen, auf einen Rest un-
gelöster Rätsel hinzuweisen, oder ob damit Widersprüche
und Komplikationen, welche die Hypothese der Geistigkeit
von vornherein besonders unwahrscheinlich machen, auf-
gedeckt werden sollen.
Das zweite scheint mir nicht erreicht. Um aber über
den Umfang des Rätselhaften, das da zurückbleibt, einen
klaren Überblick zu bekommen, muß die Frage, wie es zu denken
sei, daß ein Schöpfungsakt eine bestimmte Seele mit einem
bestimmten Leibe in Kausalzusammenhang treten lasse,
von der weiteren Frage unterschieden werden, wie es denkbar
sei, daß sich dieser Zusammenhang während des ganzen Lebens
in dieser Beschränkung aufrechterhalte.
Über der ersten liegt das ganze Rätsel des Schöpfungsaktes.
Uns muß genügen, daß jede Seele von jeder andern substan-
tiell verschieden gedacht werden muß, und daß das Gehirn
526 Anmerkungen des Herausgebers

in jedem Momente, also auch in dem, wo die Seele in den


Kausalzusammenhang mit ihm hineingeschaffen werden soll,
lokal von allen andern Dingen, insbesondere von allen anderen
Gehirnen, verschieden ist. So ist von beiden Faktoren jedes
ein Unikum.
Schwieriger könnte es scheinen, zu entacheiden, ob nicht
die zweite Forderung, daß nämlich dieser unmittelbare Kau-
~alzusammenhang während des Lebens erhalten bleibe, auf
Widersprüche od3r krasse Unwahrscheinlichkeiten führe.
Ich glaube nicht. Vor allem darf man nicht außer acht
lassen, daß uns überhaupt jede anschauliche Vorstellung
von den qualitativen Beschaffenheiten der Materie fehlt.
Klar ist nur, daß sie vorhanden sein müssen, so wahr etwas
dasein muß, was die wirklichen Orte erfüllt und sich bewegt.
Ferner, daß die Natur der Einwirkung, welche ein Ding von
dem andern erfährt, von der Natur des einwirkenden Dinges
abhängt. Wie sollen wir nun in der Lage.~ein, uns eine klare
Vorstellung von jener eigentümlichen Anderung, die sich
in allen Teilen eines Gehirns infolge des Kausalzusammen-
hanges mit einer Seele vollziehen muß, zu machen, wenn wir
doch überhaupt außerstande sind, die absoluten qualitativen
Differenzen sowohl der körperlichen Dinge als die beson-
dere Natur der Seele zu erkennen 1 Diese muß, da der Kau-
salzusammenhang mit dem bestimmten Organismus auch
im traumlosen Schlafe nicht unterbrochen wird, offenbar
schon vermöge ihrer substantiellen Bestimmtheit eine, und
zwar ständige, Einwirkung auf das Gehirn üben und auch
von ihm empfangen. Die infolge dieser Einwirkung erhaltene
und natürlich allen Teilen des Großhirns in gleicher Art zu-
kommende Beschaffenheit darf man sich nicht als eine die
Einwirkung überdauernde Qualität denken, etwa wie eine
Bewegung sich auch nach erfolgtem Impuls (nach dem Gesetze
der Trägheit) weitererhält, sondern vielmehr nach der Art,
wie die psychischen Akte sich erhalten, die nur so lange
dauern, als die auf ihre Erzeugung gerichtete Einwirkung
des physiologischen Reizes anhält. Als „Erleidung" im
aristotelischen Sinne, nicht als Qualität im engeren Sinne,
eine Annahme, von der man nicht sagen kann, daß sie als
neue Komplikation zur Seelenhypothese hinzukomme, da
sie sich vielmehr mit Notwendigkeit aus ihr ergibt.
So finden wir, glaube ich, keine einzige ad hoc ersonnene
Annahme. Die Schöpfung jeder Seele ergibt sich als ein
Spezialfall des Gesetzes, daß nichts Kontingentes, ohne schöpfe-
risch verursacht zu werden, entstehen kann. Ihr Eintritt
in den Kausalverband mit einem bestimmten Gehirn fordert
Anmerkungen des Herausgebers 527
nur die selbstverständliche Voraussetzung, daß jede Seele
von jeder andern singulär verschieden ist, und daß nicht zwei
Gehirne am selben Orte sein können.
Das Aufrechtbleiben des Zusammenhanges während des
Lebens hängt mit der auch sonst gesicherten Tatsache zu-
sammen, daß es Wirkungen gibt, deren Fortdauer an die
der Verursachung selbst geknüpft ist. Die qualitative Ver-
änderung, die alle in den organischen Zusammenhang des
Gehirns eintretenden Stoffteilchen erfahren, erklärt sich,
was ihren homogenen Charakter anlangt, aus der Einheit
der einwirkenden Seelensubstanz, ihr Beharren aus der
Natur der Erleidungen (passiones), ihr Verlust daraus, daß
mit dem Austritt eines Stoffteilchens aus dem Gehirn auch
die Einwirkung der Seele darauf ein Ende nehmen muß.
141. (S. 436.) Dieses Kapitel, den ältesten Teilen des Kol-
legienheftes angehörend, ist zum Teile durch die Ausführungen
der Schlußabhandlung dieses Bandes, Gedankengang beim
Beweise für das Dasein Gottes, 1915, überholt. Gleichwohl
konnte ich mich nicht entschließen, es zu unterdrücken,
weil dadurch der Grundriß des Kollegs verwischt worden
wäre. Auch ist es gewiß von Interesse, die ersten V ersuche
Brentanos, noch vor der Trennung vom Kirchenglauben,
mit der reifsten Gestalt, die sein Denken über die religiöse
Grundfrage, über das Problem aller Probleme, angenommen
hat, zu vergleichen. Das Denken über Gott war diesem Weisen
„Leben" im höchsten Sinne bis zum letzten Atemzug und
ist es, so dürfen wir, die von ihm das Licht der Gotteserkennt-
nis bekommen haben, vertrauen, auch dort geblieben, wo-
hin er uns vorausgegangen ist.
H:2. (S. 436.) Bei Aristoteles ist das erste Prinzip „un-
bewegt" in doppeltem Sinne, leidlos, d. h. unfähig, eine Ein-
wirkung zu empfangen, und absolut wechsellos. Nach Bren-
tano nur das erste; das zweite nicht, aus den schon S. 408
angedeuteten und S. 457 ausgeführten Gründen.
143. (S. 437.) Zur Begründung der These, daß ein schöpfe-
risches Wirken unendliche Kraft erfordere, wird hier ein
schon oben S. 197 verwendetes Argument angeführt: es
erziele in einem Moment eine Wirkung von endlicher Größe.
Das reicht aber wohl nicht aus, denn von jedem abrupten
Wechsel gilt, daß er, obwohl endlich groß, momentan ent-
steht. So wenn eine Bewegung abrupt ihre Richtung ändert
oder zum Stillstand kommt; noch deutlicher vielleicht,
wenn an unserer Seele ein Akt begrifflichen Denkens beginnt.
Da ein solcher keine Teile hat, kann bei ihm auch nicht Teil
um Teil werden.
528 Anmerkungen des Hera.Ulllgebers

In allen diesen Fällen momentanen Werdens rekumeren


wir nicht unmittelbar auf die erste, schöpferische Ursache,
sondern auf sekundäre Ursachen. Wir denken uns eine Be-
wegung von einer anderen, einen Denkakt durch physio-
logische Vorgänge verursacht.
Andererseits ist ein sukzessiv-kontinuierliches Entstehen
denkbar, das nicht ohne unmittelbaren Schöpfungsakt zu
erklären wäre. So wenn sich ein völlig isolierter Körper
nicht in einem Medium, sondern „im Nichts" bewegte.
Es wäre dies eine substantielle Umwandlung, indem jeweils
neue Orte statt solcher, die eben wirklich gewesen, entstünden.
Die Ursache, aus welcher eine solche Bewegung erklärt
werden müßte, wäre einerseits Orte vernichtend, andererseits
Orte schaffend. Der Unterschied, der uns dort auf eine sekun-
däre, hier auf eine schöpferische Ursache schließen läßt,
hängt also nicht mit dem Gegensatz infinitesimalen oder
stückweisen und momentanen Entstehens der Wirkung zu-
sammen, wenigstens nicht mit diesem an und für sich. Bren-
tano hat denn auch später (vgl. Gedankengang) keinen Ge-
brauch davon gemacht, weder zum Beweis für eine schöpfe-
rische Ursache noch für die unendliche Kraft einer solchen.
Das entscheidende Moment ist ihm vielmehr das Fehlen eines
die Wirkung empfangenden Subjekts. Vgl. zu dieser Frage
die Ausführungen von Kraus in seinen Anmerkungen zu
Brentanos Habilitationsthesen: Über die Zukunft der Philo-
sophie, S. 169f., Phil. Bibl. Bd. 209.
144. (S. 437.) Vgl. a. a. 0., S. 170.
145. (8. 438.) Vgl. Zukunft der Philosophie, S. 170.
146. (S. 438.) Vgl. die oben Anm. 81 erhobenen Beden-
ken gegen diese unvermittelte Folgerung universeller un-
endlicher Vollkommenheit aus der Schöpferkraft. Der im
folgenden Paragraphen (468) angestellten Überlegung fiele
also die Aufgabe eines selbständigen Argumentes, nicht einer
bloßen Bestätigung zu. Vgl. Kraus, Anmerkungen zu den
Habilitationsthesen, Zukunft der Ph. S. 172.
147. (S. 442.) Vgl. S. 201.
148. (S. 442.) Vgl. S. 48f., S. 444 und Anm. 122 über
den Sinn des Wortes möglich. Logisch möglich ist, deBBen
Nichtsein sich nicht aus seinem Begriffe ergibt, wobei
dieser Begriff als ein vollständiger und die analysierende
Kraft als eine ausreichende zu denken ist. Hume und Kant
gegenüber hat Brentano wiederholt betont, daß nicht alles, was
nicht widerspricht, schon als möglich gelten darf. Vgl. S. 449.
149. (S. 442.) Vielleicht findet man es befremdlich, wie
denn überhaupt von etwas, was nicht zur Welt gehöre, ge-
Anmerkungen des Herausgebers 529
sprochen werden könne, da man unter „Welt" doch alles
zu verstehen pflegt, was außer ihrem Schöpfer existiert.
Allein die Frage Brentanos ist die, ob alles, was existiert, von
einem und demselben Schöpfer geschaffen ist, oder ob außer
dem einen noch andere unmittelbar notwendige Wesen an-
genommen werden können, von denen jedes sich eine be-
sondere Welt geschaffen habe. (Daß etwas, was nicht un-
mittelbar notwendig ist, ungeschaffen bestehen könne, darf,
als bereits widerlegt, außer Betracht bleiben.)
Um den Gedanken deutlicher zu machen, fingiere man,
daß der Schöpfer der dreidimensionalen Welt, in der wir
leben, nur diese und die mit ihr in Wechselwirkung tretenden
Seelen geschaffen hätte, während außer ihr noch eine vier-
und eine fünf- und vielleicht noch mehrdimensionale Welten
existierten, jede von einem andern Schöpfer hervorgebracht.
Diese Möglichkeit verneint Brentano, weil, wie er S. 475
ausführt, es dann vorkommen könnte, daß unsere Welt von
einer der anderen Welten her eine Störung erführe. Eine solche
könnte aber, wegen der Impassibilität unseres Schöpfers,
diesem in keiner Weise zur Kenntnis kommen, und er in-
folgedessen die Ordnung darin nicht aufrecht halten. A priori
aber kann, was nicht unmittelbar notwendig ist, auch von
Gott nicht erkannt werden.
Das letzte ist zweifellos, wenn das nicht unmittelbar Not-
wendige absolut zufällig ist; aber könnte man nicht sagen,
daß, wenn auch keine dieser Welten, so doch jeder ihrer
Schöpfer unmittelbar notwendig wäre, sohin a. priori von
unserem erkannt werden könnte, womit diesem auch das
Werk des konkurrierenden Schöpfers als Folge erkennbar
werden müßte 1 So wäre er also trotz seiner Impassibilität
in der Lage, jede Störung von außen her in Evidenz zu halten
und zu korrigieren.
B. selbst deutet S. 475 diesen Einwand an, bemerkt aber,
daß man Gott eine solche apriorische Erkenntnis von solchem,
was außer ihm notwendig wäre, ohne Ungereimtheit weder
zu- noch absprechen könne. Worin diese Ungereimtheit
besteht, wird aber nicht gesagt. Dagegen findet sich in einem
Fragment vom 5. März 1908 eine Stelle, die sich darauf be-
zieht. Unser Schöpfer, heißt es dort, könne keine solche Er-
kenntnis a priori von einem fremden Wesen haben, weil
diese aus Begriffen gewonnen, also verursacht wäre, während
doch in Gott, als dem unmittelbar notwendigen Wesen,
nichts verursacht sein könne.
Befriedigend scheint mir auch diese Bemerkung nicht.
Müßte man Gott aus demselben Grunde nicht jede Erkennt-
!'>30 Anmerkungen des Herausgebers

nis a priori absprechen 1 Wie aber sollte dem Allwissenden


die Kenntnis davon fehlen, was in sich möglich und was in
sich unmöglich ist 1
150. (S. 442.) Die Leidenslosigkeit folgt aus der unmittel-
baren Notwendigkeit. Vgl. auch S. 474.
151. (S. 434.) Das Gegenteil wäre der Fall, wenn zum ein-
heitlichen Werke dieser Welt mehrere schöpferische Werk-
meister zusammenwirkten.
152. (S. 443.) Ergänze: schöpferische Wesen.
153. (S. 443.) Wenn ein Wesen mit unendlicher Schöpfer-
kraft unmittelbar notwendig ist, wie sollte ein anderes, das
sich von ihm durch verminderte Schöpferkraft unterschiede,
gleichwohl noch als unmittelbar notwendig gelten dürfen 1
Schon darum könnte einer die Konkurrenz mit anderen un-
mittelbar notwendigen Wesen ausgeschlossen denken. Vgl.
Anm.150.
154. (S. 443.) Jenes unmittelbar notwendige, aber der
Schöpferkraft entbehrende, wenn auch wirkungsfäbige Wesen
würde nur auf etwas wirken können, was von dem schöpfe-
rischen Wesen geschaffen ist, also auf dessen Welt, was aber
Brentano bereits als widerlegt erachtet.
155. (S. 444.) Das folgende Argument (vgl. auch S. 478)
läßt sich knapper so fassen: These: Was nicht in Gottes
Machtbereich fällt, ist absurd. Beweis: Was nicht absurd
ist, muß entweder schon sein oder noch nicht sein. Wenn es
schon ist, so ist es durch Gott gewirkt, fällt also in seinen
Machtbereich. Wenn es noch nicht ist, so könnte nur einer,
der die Absurdität absolut zufälligen Werdens verkennt,
glauben, daß es werden könnte, ohne von Gott geschaffen
zu werden. So ist es denn entweder unmöglich, daß es werde,
d. h. es ist absurd, oder es fällt in Gottes Machtbereich.
Also fällt alles, was nicht absurd ist, in diesen.

GEDANKENGANG BEIM BEWEISE FOR DAS


DASEIN GOTTES
1. (S. 446.) Diese Abhandlung hat mir Brentano in Zürich
im Jahre 1916 übergeben, doch mit dem Bemerken, daß er
die Absicht habe, sie nochmals zu überarbeiten. Dazu ist
es, da er wenige Monate darauf starb, nicht mehr gekommen.
Ich habe den Text unverändert gelassen, bis auf eine Um-
stellung, die B. selbst gewünscht hat, indem ich nämlich
die §§ 6 und 7 aus der Anmerkung zu S. 446, § 4, wo sie im
Diktat ihren Platz haben, in den Text aufnahm. Ferner strich
Anmerkungen des Herausgebers 531
ich zwei Stellen, die eine aus derselben Anmerkung, die ein
später fallen gelassenes Argument gegen die Möglichkeit
einer unendlichen Reihe sekundärer Ursachen enthielt, die
andere in der Anmerkung zu S. 447 mit näheren Erörterun-
gen zur Lösung von Bertrands Sehnenproblem. Die Zwi-
schentitel, welche den Gang der Beweisführung
übersichtlicher machen, habe ich eingefügt.
2. (8. 446.) Daß alles, was ist, gegenwärtig und als solches
entweder Beginn oder Ende oder Zwischenmoment eines
zeitlichen Verlaufes ist, leuchtet unmittelbar ein. Über den
Zusammenhang dieser Einsicht mit dem Gesetze, daß kein
Vorstellen ohne Temporalmodus möglich ist, vgl. Psych. II,
S. 143 und 221. (Die Temporalmodi lehrte B. schon 1899,
also vor Husserl.)
3. (8. 447.) Nach „notwendig" ergänze man: ,,und un-
mittelbar als notwendig einleuchtend, d. h. sicher". Den
Gegensatz zur Wahrscheinlichkeit bildet ja die Sicherheit,
nicht die Notwendigkeit.
4. (8. 446.) Das heißt: es leuchtete nicht ein, daß das Spätere
sein müsse, weil das :Frühere ist, sondern nur - negativ -,
daß das Frühere nicht sein kann, ohne das Spätere nach sich
zu ziehen. Ein apodiktisches, positives Urteil wäre selbst
für den, der in die innere Natur der Vorgänge Einblick hätte,
nicht evident, weder über das Ganze, noch über einen seiner
Teile.
ö. (8. 446.) Zu der vorhin gemachten Unterscheidung
von absoluter und relativer Notwendigkeit gesellt sich hier
die von mittelbarer und unmittelbarer. Zur Erläuterung
diene: Wenn Gott die unmittelbar notwendige, schöpferische
Ursache von allem ist, so ist jedes Ding und Geschehen in der
Welt absolut notwendig, aber keines unmittelbar notwendig.
Ist die Welt zufällig, so könnte jeder vorangehende Zustand
den nachfolgenden bedingen und so relativ notwendig machen,
aber absolut notwendig wäre nichts in ihr, weder mittelbar
noch unmittelbar, vielmehr alles absolut zufällig.
6. (8. 448.) Über das Bertrandsche Sehnenproblem vgl.
Czuber, Wahrscheinlichkeitsrechnung, S. 116, Leipzig-Berlin
1914.
7. (8. 448.) Das ist aber nach Brentano nicht der Fall.
Mit der :Feststellung des Fehlers in der Rechnung Bertrands
beschäftigen sich mehrere Versuche Brentanos, die an passen-
der Stelle veröffentlicht werden sollen.
8. (8. 450.) Ohne die von Brentano hier gemachte Unter-
scheidung der beiden Fragen: 1. ob andere Axiome als solche
nach dem Typus des Kontradiktionsgesetzes überhaupt mög-
532 Anmerkungen des Herausgebers

lieh seien, und 2. ob wir Menschen solche haben, käme Ver-


wirrung in diesen wichtigen Punkt der Erkenntnislehre.
Die erste hat B. immer bejaht und gezeigt, daß man ihre
Möglichkeit nicht bestreiten könne, ohne sich selbst zu wider-
sprechen. Was die zweite anlangt, ist er nicht dazugekom-
men, seine wiederholten, sorgfältigen Untersuchungen des
Pro und Kontra zu einem ihn selbst befriedigenden Abschluß
zu bringen. An dieser Stelle verrät sich einige Neigung, alle
dem Satz des Widerspruchs zu unterordnen. Im einzelnen
sei zur Erläutemng bemerkt: Der Satz „ein Rotes ist nicht
ein Blaues", den man gerne als Beispiel eines Axioms der
positiven Opposition, im Gegensatz zur Kontradiktion
Rotes-Nichtrotes, anführt, ist nach Brentano mehrdeutig.
Man kann damit sagen wollen, ein Rotes als solches sei nicht
ein Blaues; man kann aber auch meinen, in einem und dem-
selben Ding (am selben Orte) könne nicht Blaues und Rotes
vereinigt sein. Will man beide als Fälle des Kontradiktions-
gesetzes fassen, so muß dies für jeden in einer besonderen
Weise geschehen.
Daß Rotes eine species specialissima sei, nicht aber ebenso
Farbiges, besagt, daß sich zwar dieser Begriff in Rot, Blau usw.
differenziere, daß sich aber eine Unterscheidung des einen
(reinen) Roten vom andern (reinen) Roten nicht mehr in
derselben linea praedicamentalis, die vom Begriff des Quali-
tativen über den des Farbigen zum Roten geführt hat, voll-
ziehen lasse, sondern nur durch Abspringen in eine andere
Prädikationslinie, z. B. in die, welche vom Substanziellen
zum Örtlichen im Allgemeinen und von diesem zum Hier oder
Dort führt.
„ Schwarzer Schimmel" wird• nicht als unmittelbar klarer
Fall von Kontradiktion, sondern als solcher der positiven
Opposition gefaßt. Ein Widerspruch wäre „ein Schimmel, der
weiß ist und zugleich weiß nicht ist". Ein schwarzer Schim-
mel dagegen wäre ein Pferd, das zugleich weiß und schwarz
(nicht weiß) ist. Ein Weißes als solches ist natürlich nicht
ein Schwarzes als solches; ob aber ein Ding am selben Ort
zugleich weiß und schwarz sein kann, ist eine Frage, die
mit dem Hinweis auf das Gesetz der Undurchdringlichkeit
der Qualitäten zu negieren ist, von dem zu untersuchen wäre,
ob es selber dem Typus des Kontradiktionsgesetzes an-
gehöre.
Daß Reales summum genus sei, d. h. der denkbar all-
gemeinste aller Begriffe, werden nur diejenigen bestreiten,
die verkennen, daß Worte wie „ein Mangel", ,,eine Unmög-
lichkeit", ,,ein Gewesenes", ,,ein Gedachtes" keine Namen
Anmerkungen des Herausgebers 533
sind, die etwas nennen, sondern synsemantisch funktionieren.
So kommen sie dazu, etwas zu fingieren, was von diesen Wor-
ten genannt werde, also ein Etwas, das kein Reales ist, worin
dann natürlich die Versuchung liegt, dem Begriff des Realen
einen vermeintlich davon verschiedenen und noch allge-
meinem übergeordnet zu denken, der Dinge und Undinge
umfasse. Vgl. Brentano, Psych. II, S. 158ff.
Daß ein evidentes Urteil wahr sein müsse, ist entweder
ein klarer Fall von Axiom nach dem Typus des Kontradik-
tionsgesetzes, wenn man nämlich unter „wahr" nichts anderes
versteht als „evident". Häufig versteht man darunter aber
auch ein Urteil, das mit einem evidenten in Harmonie ist.
Dann besagt der Satz nichts anderes, als daß einem evidenter.
Urteil ein evidentes nicht widersprechen könne.
Näheres zur Frage der Axiomstruktur in einem andern
Bande der Ausgabe, der erkenntnistheoretische Probleme, als
Einleitung in die Metaphysik, behandeln wird.
9. (8. 450.) Der Satz des Widerspruchs sagt, daß ein
und dasselbe nicht zugleich sein und nicht sein könne.
Wer das Frühere anerkennt und das Spätere verwirft, wider-
spricht sich nicht.
10. (S. 450.) Es soll hier z. B. die Einsicht, daß etwas
Rotes als solches nicht blau sein könne, auf die Einsicht
zurückgeführt werden, daß etwas Rotes als solches nicht ein
Nichtrotes als solches sei; also muß vorher erkannt sein, daß
ein Blaues als solches nicht ein Rotes ist. Diese Erkenntnis
ist ein Beispiel für die evidenten Vergleichsbestimmungen,
von denen hier die Rede ist.
11. (S. 450.) Ein evidentes Anerkennen mit apodiktischer
Modalität könnte nur ein unmittelbar notwendiges Wesen
zum Objekte haben, d. h. nur Gott. Außer diesem ist aber
auch kein anderes Wesen als Subjekt dieser Anerkennung
<ienkbar, denn eine dafür ausreichende Vorstellung, bzw.
Wahrnehmung hat nur er, indem er sich selber wahrnimmt.
12. (S. 451.) Jede Wahrnehmung und Apperzeption hat
assertorischen Charakter, kann aber zur Grundlage für ein
negatives, analytisches Urteil dienen. Vgl. Psych. III, Ein-
leitung und Versuch, S. 80.
13. (S. 451.) Es handelt sich um sog. Doppelurteile, d. h.
echte Prädikationen, wie z.B. ,,Diese Blume ist eine Rose",
worin ein Ding anerkannt ist (Subjektsurteil) und diesem
anerkannten Dinge etwas zuerkannt wird (Prädikatsurteil).
Das Prädizieren ist vom Anerkennen unablösbar, d. h. es
kann nicht isoliert vorkommen. Die Worte „ist eine Rose"
ergeben für sich allein keinen Sinn. Dagegen drückt „Diese
534 Anmerkungen des Herausgebers

Blume" ein vollständiges Urteil, das ein bestimmtes Ding


anerkennt, aus.
U. (S. 451.) Daß das Prädikatsurteil anderer :Modalität sein
könne als das zugehörige Subjektsurteil, wird von B. sonst
nirgends ausgesprochen; es hat wohl nur den Charakter eines
zum Nachdenken anregenden Einfalles.
15. (S. 451.) Zur Deutung des hier erwähnten Grund-
satzes von Descartes vgl. Psych. III/1, S. 22ff.
16. (S.452.) Vgl. Anm.127.
17. (S. 452.) Varianten des Beweises siehe in Brentanos
Versuch über die Erkenntnis. Dort (S. 167) auch B.s Ant-
wort auf das Bedenken, ob nicht umgekehrt die Anwendung
der ·wahrscheinlichkeitsrechnung voraussetze, daß es keinen
Zufall gebe. Hessen scheint sie übersehen zu haben, denn
er wiederholt (Kausalproblem S. 116) den Einwand in seiner
dem Argument gewidmeten Polemik, die weniger eine auf
den Kern der Sache eingehende Untersuchung als ein Referat
über die Aufnahme ist, die das Argument in B.s Schule
gefunden habe (nebenbei bemerkt, ein von chronologischen
Unmöglichkeiten nicht freies).
Ein gründliches Studium des „Versuches" würde diesen
Philosophen wohl erkennen lassen, daß ihm der Nachweis
der Unmöglichkeit eines apriorischen Beweises für das Kau-
salgesetz nicht gelungen ist, und daß sein Genügen daran,
als an einem Postulate und einer apriorischen Voraussetzung,
auf dasselbe hinausläuft wie Kants ganze Lehre von den sog.
synthetischen Erkenntnissen a priori: auf eine Philosophie
der Vorurteile.
18. (S. 453.) Vgl. S. 454 und Versuch über die Erkennt-
nis S. 207f.
19. (S. 453.) Es wäre von jedem Orte gleich wahrschein-
lich, daß er leer, wie daß er erfüllt wäre, und doch zugleich
unendlich wahrscheinlicher.
20. (S. 453.) In sensu diviso möglich ist, daß von den
möglichen Orten entweder die einen oder die andern erfüllt
~eien. Vgl. Versuch S. 204.
21. (S. 453.) Wer von einem solchen bloß mittelbar Not-
wendigen eine isolierte, wie immer adäquate, Vorstellung
hätte, könnte aus ihr nicht entnehmen, ob ihr Gegenstand
existiere. So erschiene er als nicht unmittelbar notwendig
und in diesem Sinne des ·wortes als „zufällig", was das-
selbe besagt wie „kontingent". Vgl. oben S. 410ff. und
Anm. 122.
Was, wenn es ungewirkt existierte, absolut zufällig wäre,
ist, wenn es ist, gewirkt. Darum läßt sich mit ganz analogen
Anmerkungen des Herausgebers 535
Argumenten, wie sie gegen die absolute Zufälligkeit der
Körper (und Seelen) geführt worden sind, auch zeigen,
daß sie nicht unmittelbar notwendig sein können (§§ 11
und 12).
22. (S. 4.53.) Vgl. Versuch S. 207.
23. (S. 4.54.) Ebenda S. 35ft.
24. (S. 454.) Weil, wenn der zugehörige physiologische
Prozeß, auch der psychische Akt selbst verschwindet.
25. (S. 4.5.5.) Das oben (S. 378) geführte, an Aristoteles
angelehnte Argument gegen das Genügen einer unendlichen
Reihe sekundärer Ursachen gewinnt erst volle Kraft, wenn
es, wie dies hier geschieht, mit dem Nachweise der Unmög-
lichkeit absoluten Zufalls in Verbindung gebracht wird.
26. (S. 4.56.) Das oben S. 197 und 437 geführte Argument
aus dem momentanen Entstehen der Wirkung ist hier fallen
gelassen. Vgl. Anm. 143.
27. (S. 4.57.) Jede Dauer ist eine Größe, und was Größe
hat, hat Teile, und natürlich solche, die irgendwie vonein-
ander verschieden sind. Ist dasjenige, was eine Zeit hindurch
dauert, in jedem andern Betracht wechsellos, so muß es doch
den Wechsel der Zeitpunkte mitmachen. So· wie eine kör-
perliche Substanz nicht dreidimensional ausgedehnt sein
kann, ohne daß sie Punkt für Punkt, d. h. Ort für Ort, variic-rt,
so kann sie auch keine Dauer haben, ohne daß sie sukzessivP
spezifisch andere und andere Zeitpunkte erfüllt.
28. (S. 4.58.) Vgl. Brentano, Die Weltanschauung des
Aristoteles. S. 70, S. ll6f.
29. (S. 4.59) Wenn wir etwas, was wir zuerst als künftig
erwartet, dann als gegenwärtig wahrgenommen habPn, jetzt
als vergangen beurteilen, so haben wir nach Brentano nicht
etwa drei verschiedene Objekte, sondern dasselbe, aber jedes-
mal mit einem andern Temporalmodus des Vorstellens und
Urteilens. Die Objekte selbst würden allerdings differieren,
wenn wir imstande wären, die absoluten Zeitpunkte vor-
zustellen, aber gleichwohl würden auch unsere Denkakt.e
als solche variieren, da ja der gleiche Zeitpunkt bald mit dem
Temporalmodus der Gegenwart, bald mit denen der Ver-
gangenheit vorgestellt und beurteilt würde.
Ein Gott, der zwar alle absoluten Zeitpunkte des Welt-
verlaufes zugleich vorstellte, aber nicht jeden davon suk-
zessive als künftig, näher der Gegenwart, noch näher usw.,
dann als gegenwärtig, dann als vergangen, ferner ver-
gangen, noch ferner vergangen usw. erkennen würde, würde
zwardie ganze Weltgeschichte in jeder Einzelheit kennen,
aber doch nicht ·wissen, wie weit sie jeweils gediehen ist.
536 Anmerkungen des Herausgebers

30. (S. 460) Man sieht, es ist nicht richtig, wenn manche
meinen, der Kontingenzbeweis führe zwar zu einem unmittel-
bar notwendigen Wesen, aber noch nicht zu einem solchen
Verstand. Auf die Verwandschaft dieses Arguments mit
einem, dessen Leibniz, in seines Theodizee sich bedient, hat
B. hingewiesen. (Über Kants Kritik der Gottesbeweise,
vier Phasen S. 84. Phil. Bibi. Bd. 195.)
31. (S. 461.) Was einem Notwendigen zukommt, kommt
ihm notwendig, was ihm nicht zukommt, kommt ihm un-
möglich zu. Vgl. S. 50.
32. (S. 462.) Vgl. Hume, DialogeüberdienatürlicheReligion,
deutsch von Paulsen, 2. Aufl. 1894 (Phil. Bibl. Bd. 36, S. 64).
33. (S. 464.) Vgl. Anm. 103.
34. (S. 465.) Dieser Paragraph enthält eine knappe Über-
sicht des in der vorausgehenden Vorlesung „Vom Dasein
Gottes" ausgeführten Beweises, daß der Darwinismus weder
den Schein der Teleologie überhaupt noch die Evolution im
besondem zu erklären vermag. Dort findet der Leser zu
jedem Satze dieser Übersicht die nähere Ausführung.
36. (S. 457.) Vgl. S. 15lf.
36. (S. 468.) Anm. 29.
37. (S. 470.) Ludwig Boltzmann, Vorlesungen über Gas-
theorie, Leipzig 1896/8. Ferner dessen Vortrag „Der zweite
Hauptsatz der mechanischen Wärmetheorie" (Populäre
Schriften, 3. Aufl., Leipzig 1925, S. 34ff.). Vgl. auch Czuber,
Die philosophischen Grundlagen der Wahrscheinlichkeits-
rechnung, S. 330ff., Leipzig-Berlin 1923.
38. (S. 470.) Vgl. oben S. 358f.
39. (S. 471.) Die Substanz, von der hier gesprochen wird,
wäre nichts anderes als der einheitliche, endlich ausgedehnte
Raum: die darin befindlichen Körper wären ao „darin", wie
sich die Qualität am Orte befindet, d. h. jeder Körper würde
den ihm zugehörigen Teil des Raumes als seinen substanziellen
Träger einschließen. Vgl. Anm. 127.
40. (S. 471.) Von der eben (in Anm. 39) erwähnten end-
lich ausgedehnten Raumsubstanz wurde schon gesagt, daß
sie beliebig kleiner oder größer gedacht werden könne, nie
aber unendlich groß. So besteht sie weder im Ganzen noch
einem ihrer Teile nach unmittelbar notwendig, und eben-
darum bedarf der Zusammenhang ihrer Teile einer Erklä-
rung.
41. (S. 471.) Vgl. S. 465.
42. (S. 472.) John Locke. Versuch über den menschl.
Verstand Bd. II, S. 290f. (Phil. Bibi. 76.)
43. (S. 472.) Vgl. S. 426.
Anmerkungen des Herausgebers 537
44. (S. 473.) Descartes' Lehre, daß das Wesen des Geistes
im Denken bestehe.
45. (S. 474.) Wenn ein isoliertes, von nichts umgebenes
Raumding sich bewegte, so wäre das nach B. eine substan-
zielle Veränderung, insofern damit Orte, die früher waren,
vernichtet würden und neue dafür zuwüchsen. Anders ist
die Bewegung zu deuten, wenn innerhalb eines Raumkon-
tinuums (Raumdinges) sich eine Qualität von einem Teil
der Substanz auf einen andern verschiebt. Dann erleidet
Substanzielles, nämlich die Orte, eine akzidentelle Verände-
rung. Vgl. Anm. 143.
46. (S. 474.) Nämlich die der Vielheit der Teile der Welt
entsprechende Fülle in der Einheit des göttlichen Denkens.
47. (S. 476.) Vgl. Anm. 149.
48. (S. 476.) Da B. einen zeitlichen Anfang der Welt
lehrt, kann mit dieser Bemerkung nur gemeint sein, daß die
Zukunft keinen Abschluß hat, während die abgelaufene
Dauer der Welt ins Unendliche an Ausdehnung wächst.
Weder dies noch jenes widerspricht der Unmöglichkeit
eines vollendet unendlich Ausgedehnten, denn diese betrifft
solches, was ist, d. h. was jeweils gegenwärtig ist. Was war
und was sein wird, ist nicht.
49. (S. 477.) Dieses Argument ausführlicher im Anhang zum
Ursprung S. 97ff. Vielleicht ließe sich auch so argumentieren:
Wenn ein unmittelbar notwendiges Wesen überhaupt eine
Wahl trifft, so könnte diese nur entweder auf das Beste unter
allem möglichen oder auf etwas fallen, was hinter diesem in
irgendeinem Maße zurückbleibt. Wie groß oder klein man
sich diesen Abstand denken mag, wie sollte man vermeiden,
damit ein Moment des Zufalls in das unmittelbar Notwendige
hineinzutragen 1
50. (S. 478.) Vgl. S. 449. Jlumes hier erwähnte Lehre
findet sich im Dialoge: über die natürliche Religion. Phil.
Bibl. Bd. 36, S. 93.
51. (S. 479.) Vgl. S. 62f.
52. (S. 480.) Hume a. a. 0. S. 117. Vgl. auch Bren-
tanos Abhandlungen über Sehopenhauer und über Kant»
Kritik der Gottesbeweise, im Anhange zu Vier Phasen, Phil.
Bibl. 195, S. 87 und 94.
53. (S. 482.) Hume a. a. 0. S. 111.
54. (S. 482.) Vgl. S. 426ff.
55. (S. 483.) Hume a. a. 0. S. 44.
56. (S. 485.) Vgl. S. 278f.
57. (S. 485.) Samuel Clarke, A demonstration of thc being
and attribution of God. London 1705.
538 Anmerkungen des Herausgebers

58. (S. 485.) Vgl. Anm. 52.


59. (S. 486.) Vgl. S. 85ff. und Vier Phasen.
60. (S. 486.) Vgl. Vier Phasen. Über Thomas Reitl finden
sich in B.s Nachlaß zwei größere Studien.
61. (S. 486.) Vgl. Brentano, Aristoteles und seine Welt-
anschauung, München 1911. S. 97ff. S. 114ff.
62. (8. 488.) Ebenda. S. 119.
63. (8. 488.) Vgl. S. 408.
64 .. (S. 488.) Vgl. S. 61.
SACHREGISTER
SACHREGISTER

Äther 421. Aristoteles, Begriff des Wissens


Aquivokationen 40ff. und des Beweises 168.
Akademie, neuere 73. 86. - Seiendes im logischen Sinne
Alexander Alensis 19. 174.
Allbeseelung 17. - über die Kraft der Gottes-
Allgemein und notwendig 103f. beweise 203.
- bejahende Aussagen mit ne- - einheitlicher Gedanken-
gativer Bedeutung 42ff., 47. gang beim Beweise für das
All.macht Gottes 444, 478. Da.sein Gottes 209.
Allrea.les Wesen 53, 57, 333. - auch ewiger Bestand be-
Analogieschlüsse 175, 483. darf einer Ursache 309.
Ana.logische Theologie 53 f. -über den Ursprung der Kün-
Analytisches Urteil 29, 92, 118, ste und Wissenschaften 333.
449. - gegen Pistons Ideenlehre
Analytischer Charakter der 377.
Mathematik 93ff., 97. - eine unendliche Kette se-
Ana.xa.gora.s 68, 176, 460. kundärer Ursachen macht
Ana.xima.nder 392. die primäre nicht entbehr-
Anaximenes 392. lich 377, 381.
Anfang aller (variablen) Be- - Beweis des primus motor
wegung 387, 395, 401, 404f. 384f.
Anneliden 351. - Wechsellosigkeit des ersten
Anschauung, ihre Rolle bei der Prinzips 408, 457.
mathematischen Erkennt- - Schluß auf den göttlichen
nis 93f. Verstand 458.
-, weder innere n0ch äußere - Optimismus 486ff.
individuell bestimmt 418. Arithmetik, ihr analytischer
- Gottes 59. Charakter 93f.
Ansel.m von Ca.nterbury 19f. Artfremde Zweckdienlichkeit
Antinomien Kants 119. 336f.
Anthropomorphismus 175. Atheistisches Interesse an der
A priori sind Urteile, aber Gottesfrage 11.
weder Anschauungen noch Auge, seine Teleologie 246, 259,
Begriffe 102. 282.
Archimedes 137. Aussagen, positive mit nega-
Aristoteles über die Erkennt- tiver Bedeutung 42, 47.
nis Gottes 2. Axiome 29, 92, 97, 449.
- über Aquivoka.tionen 40.
- über Gottes Wirken 68. Ba.ad.er 172.
- über Gottes Denken 70f. Bacon 11, 75.
- gegen den allgemeinen Ba.in, A. 166.
Skeptisizmus 72. Beisammensein der Körper im
- Stellung in der Philo- Raume, teleologisch 233,
sophie 84, 86. 357, 363, 470.
542 Sachregister

Beißinstinkt des wutkranken Ding an sich 99, lllf., 114,


Hund es 242, 262. 117.
Berkeley 75. Driesch, H. 507.
Bernouilli 133. Duns Scotus 86.
Bertrand 44 7. Du Boys-Reymond 354.
Bewegungsbeweis 385.
Beweis im aristotelischen Sinne Einheit der Ähnlichkeit und
168. Kraftbeziehung 227 f, 358.
Bewußtsein, Einheit des 423. - des Bewußtseins 423.
Boltzmann 44 7. - Gottes 443, 4 75.
Brou 348. Empedokles 302.
Endlichkeit der Welt 63, 412,
Carnot-Clausiussches Gesetz 453.
393, 397, 404. Energiegesetz 386, 388.
Chemische teleoide Erschei- Entropie 387, 401.
nwigen 231, 235, 358. Entwicklung ins Unendliche
Chromasie des Auges 285. 62, sprunghafte der Organis-
Clarke, S. 485. men 349.
Claus 323, 384. Erkenntnisbegriff Kants 89,
Commonsens philosophy 87. des Aristoleles 169.
Comte, A. 160, 175. Erkenntnisse, Humos Eintei-
Cudworth 23. lung 124, Kants Bescm-än-
Cuvier 220, 285, 352. kwig ihrer Gültigkeit 115.
Erkenntnisgrund 168.
Dalton 54. Erklären 161, 504.
Darwinismus, Prinzip 303, er- Erläuterwigsurteile 92.
klärt weder die Erstbildwig Erworbene Eigenschaften 431.
326, noch die weitere Ver- Ethik und Kampf 335.
vollkornrnnwig der Organe Evolutionstheorien 340.
330, rechnet mit einer Ent- Existenz 26, 31, 496.
wicklungszeit von unmög- Existenzialsatz 25, 31, 34, 37.
licher Länge 339, ist die ein-
fachste Form der Hypothese Fechner 329.
blinder Notwendigkeit 343 Fermat 133.
und dennoch voll von An- Fernwirkung 233.
leihen bei Teleologie oder Flourens 426, 429.
Zufall 344, 353, Gruppen
seiner Anhänger 345, von Gawiilo 20.
der Evolutionstheorie zu Gauss 137.
unterscheiden 463f., ober- Gehirn und Seele 426, 434,
flächlicher Anthropomor- 525.
phismus 464. Gesetze sind kein Seiendes
De Maistre 6. im eigentlichen Sinne 173,
Demokritos 309. 501.
Descartes, echter Klassiker 86, -, empirische 136, logische
mißglückte Gottesbeweise 170, kosmologische 152.
21, 39, 45, 203, 208, über den Gleichheit von Wirkung und
Gottesbegriff 23, Seelensitz Gegenwirkung 69.
426, Wechselwirkung von Goethe über den Gottesglau-
Leib und Seele 433. ben 3, über Naturerkennen
Deszendenztheorie 266, 346. 167f.
Sa.chregister 543
Gott, unser Gottesbegriff ist Heraklit 398.
nicht anschaulich 2, nicht Herbart 84, 426.
klar 57, unvollständig 55, Hessen, J. 497, 502, 503.
aber doch kein bloß analogi- Heterogenese 349, 464.
scher 53, weder widerspre- Homogeneität des Raumee
chend 60, noch unendlich 413, 521.
kompliziert 187, nicht iden- Hume, D., über Existenz 24,
tisch mit „allreales Wesen" 26, Kausalität 76, Eintei-
52. lung der Erkenntnis 122,
Gottes Allmacht 444, 477, 124, gegen das ontologische
Einheit 437, 442, 475, Er- Argument 24ff., gegen das
kenntnis der Welt 375, 438, teleologische 462, gegen
4 76, Freiheit 172, Glück- transzendente Schlüsse 77,
seligkeit 4 77, Leidlosigkei t 185, über das wunittelbar
474, sittliche Vollkommen- Notwendige 28, 55, über das
heit 476, reiner Geist (Sub- Urteil 25, 27, über Optimis-
stanz ohne Akzidenz) 70, mus 480f.
4 74, unendlich vollkommen Hypothese, Wahrscheinlich-
57, 61, 200, 437, 439, keit einer 179.
Schöpferkraft 196, keine
Ausnahmevon den logischen Identitätsgesetz 91.
Gesetzen 170, notwendiger Induktion beruht auf Wahr-
Wechsel in Gott 408, 457. scheinlichkeitBrechnung 133
Gottesbeweise, Übersicht über Instinkt 224, 242, 262.
die gültigen 207, ein miß-
lungener V ersuch 202, das Kampf umsDa.sein295, 303,334.
ontologische Argument ein Kant, analytisches Urteil 92,
Paralogismus 39, teleologi- Antinomien 119,Apriori 103,
scher Beweis 214ff., 462ff., Ding an sich 112, 117,
Beweis aus dem Anfange Beschränkungen der Er-
der Bewegung 384ff., Kon- kenntnis 111, 115, Erkennt-
tigenzbeweis 4l0ff., psy- nisbegriff 88f., Existenz 31
chologischer Beweis 417. innere Wahrnehmung 113,
Gotteshypothese, vgl. Gottes- transzendentaler Idealismus
beweise, ihre Wahrschein- 77f., Kategorien 80, 105,
lichkeit 183, 192, 355, 362ff., Kausalität 81, 116, Wider-
ihre Vorgeschichte 176. sprüche in der Kosmologie
Gottesglaube nicht angeboren 118, mathematische Er-
16, schließt Wunderglauben kenntnis 93.ff, Raum- und
mcht ein 67, sein Verhältnis Zeitanschauung 104ff., Sub-
zur Moral 5 ff .. stanz 107, Synthesis a priori
Gottes Möglichkeit 50ff. 79, 81, Stellung in der Ge-
Gravitation 161, 233, 398. schichte der Philosophie 82.
Gut, Begriff des Guten, unab- Theismus 67, Kritik der
hängig vom Gottfflbegriff 7. Gottesbeweise 30, 370, Ur-
teilstheorie 110.
Häckel 267, 306, 343. Kausalbegriff 126, 129.
Heer 348. Kausalbeziehungen feststell-
Hegel 83f. bar, aber nicht begreifbar
Helrnholtz 9, 87, 140, 167, 285, 162, nach Kent zwischen
313. Phänomenen 81, 116.
544 Sachregister

Kausalgesetz, allgemeines, Be- Nägeli 348.


weis dafür 139, 142, 415, Naturerklärung nach Helm-
W olffs mißglückter Be- holtz, Goethe, Mill 166f.
weisversuch 141, Helmholtz Neuplatoniker und Neupytha-
hält es für ein Postulat 140. goreer 87.
Kausalgesetze, besondere 138, Newman, Kardinal 98.
151, 162. Newton 203, 233.
Kausalität und Notwendigkeit Nicolaus Cusanus 87.
130, und Ding an sich 117. Notwendig, unmittelbar 28,
Kausalschlüsse 137. 51, 58, 455.
Keller Gottfried 4. Notwendigkeit und Kausalität
Kölliker 339, 345, 353. 130.
Kontingenz der Welt 412, 453. N otwendigkeitshypothese zur
Konstruktion, symbolische Erklärung des Scheines der
und ostentive nach Kant Teleologie 300, 343.
117.
Kontinuum 135, 413. Occam 19.
Kontradiktionsgesetz 92, 449. Offenbarung 67.
Kosmologische Gesetze 152. Ontogenese und Phylogenese
Krummer Raum 413. 348, 464.
Ontologischer Gottesbeweis
Lamarck 266, 343, 352. 19ff., Fehler darin 39ff.,
Lange, Albert 93, 271, 278. Wahrheitskern 47.
Laplacesche Hypothese 3ll. Optimismus 8, 487.
Leibniz 3, 23, 67, 80, 86, 203, Ordnender Verstand und
426, 433. Schöpfer .371
Lewes 83. Organe, Neubildung 326.
Leverrier 166. Organismen, Entstehung 310,
Littre 240, 242. 312.
Locke, J. 67, 86, 113, 203, 210,
334. Parallelismus, psychophysi-
Logische Gesetze 93, 170. scher 71.
Logisches Teilverhältnis 134. Pasteur 310.
Lotze 170. Perpetuum mobile 392.
Lullus Raymund 87. Pessimimus 293.
Pflüger 429.
Malebranche 7 5. Phänomen und Ding an sich
Materie 422, 522, 526. 99, und Kausalität 116.
Mathematische Erkenntnis 93, Phänomenale Wahrheit 113ff.
97. Physische Sicherheit 178.
Maxwell 4 7 l. Platon 333, 377.
Metaphysisches Teilverhältnis Poincare 448.
134. Postulate der Geometrie 97.
Meurer, • W. 494. Protagoras 113.
Meynert 472. Psychisten 509.
:Mill J., St. 164.
Mimikry 329. Rätimeyer 348.
Mivart 348. Räumliches Beisammensein
Mögliches 48, 50, 414. der Körper 233, 259.
Müller, Fr. 267. Raum- und Zeitanschauung
-, Max 176. 104, 106, 114, 115, 470.
Sachregister 545
Raum, krwnmer 413. Thomson 339, 394.
Raymund von Sabunde 19. Tierseelen 483.
Reale und nominale Bestim- Trägheitsgesetz 97, 385.
mungen 43ff. Transzendente Schlüsse 154,
Reid, Th. 87. l64ff.
Religion und Philosophie 493. Transzendentes in der Mathe-
Richtungsaxiome 96. matik 116.
Rudimentäre Glieder 265. Trendelenburg 457.
Russel, B. 496.
Obel in der Welt, s. Theodizee.
Schelling 84, 87, 236. Ulrici 165.
Schöpfer, Vom Verstand zum Unendliches 234, 412, 454.
371. Unendliche Vollkommenheit
Schöpferisches Wirken 69, 197, 53, 61, 187ff., 438ff., 476.
432, 437, 438, 456, 506, 527. - Wahrscheinlichkeit 132,
Schopenhauer 83. 363, 368, 465.
Schweitzer, A. 495. Unmöglichkeit und Wider-
Scotus Duns 79. spruch 29, 478.
Seele und Leib 419. Unsterblichkeit 3, 9, 483.
Seelensitz 426. Urteil 25, 27, 42, 47, llO.
Seelensubstanz 418. Ursache, s. Kausalbeziehung
Sehnenproblem Bertrands 44 7. usw.
Sein im Sinne der Wahrheit -, s. Ähnlichkeit mit der Wir-
173. kung 112, sekundäre 377.
Semimaterialismus des Aristo-
teles 424. Variabilität, Beschränkungen
Skeptizismus 72ff., 75ff., 87. der 324.
Spencer, H. 304. Vera causa 164.
Spinoza 47, 75, 433. Vererbung 512.
Sprunghafte Entwicklung 349. - erworbener Eigenschaften
Stonner, A. 493. 323.
Stumpf, Carl 170, 525. Vergeudung vonLebenskeimen
Substanzbegriff 87, 134. in der Natur 244, 270, 278.
Suso Heinrich 87. Verfallszeiten der Philosophie
Synthetische Erkenntnis a pri- 85ff.
ori 8lf., 88f., 100, 115. Vier Phasen der Philosophie
85ff.
Tatsachenschlüsse 133ff. Vitalismus 17, 510.
Tauler, Johannes 87. Vollkommenheit der Schöp-
Thales 17, 176, 392. fung 289, v. Theodizee.
Telelologie, Schein der 215ff., Voltaire 75.
Einwändedagegen239f.,Lö- Vorstellungen, nicht vererbbar
sung 252. 431.
Teleologischer Beweis 214 ff., - a priori 102.
463ff.
Theodizee 62, 290, 292, 479. Wärmeäquivalent, mechani-
Theologie, negative und ana- sches 391.
logische 53f. Wahrheit,Begriffder498, Sein
Theophrast 54. im Sinne der 174, phänome-
Thomas von Aquino 21, 86, nale 113.
196, 487. Wahrnehmung, innere! 13,417.
546 Sachregister

Wo.hrncheinlichkeit von Hypo- Wirkung und Ursache, ein-


thesen 179, 366, und Induk- ander nicht notwendig ähn-
tion 133, der Gotteshypo- lich 65, 69, 112, und Gegen-
these 465, Wabl'l!cheinlich- wirkung 69.
keit:Brechnung 448, s. auch Wolff, Ch. 141.
Unendliche. Wunder 6.
Walace 224. Wundt, Th. 397.
Wechsel in Gott 408, 457.
Wechselwirkung von Leib und Zöllner 313.
Seele 433, 434. Zuchtwahl 319.
Welt, Einheit der 442. Zufall 414, 464ff.
Welterkenntnis Gottes 373. Zufallshypothese zur Erklä-
W eismann 323, 343. rung der scheinbaren Teleo-
Widerspruch, Satz des 449, logie 356, 361.
und Unmöglichkeit 29, 478. Zweck und Aufgabe 253, 288.
Wiesner 348. Zweckdienlichkeit, artfremde
Wirken, unbegreiflich 163. 336.

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