Sie sind auf Seite 1von 30

Der Begriff der Welt in der phänomenologischen Philosophie

Author(s): Stephan Strasser


Source: Phänomenologische Forschungen , 1976, Vol. 3, Phänomenologie und Praxis
(1976), pp. 151-179
Published by: Felix Meiner Verlag GmbH

Stable URL: https://www.jstor.org/stable/24360128

JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide
range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and
facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact support@jstor.org.

Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at
https://about.jstor.org/terms

Felix Meiner Verlag GmbH is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access
to Phänomenologische Forschungen

This content downloaded from


134.147.63.75 on Thu, 08 Apr 2021 14:12:28 UTC
All use subject to https://about.jstor.org/terms
Der Begriff der Welt
in der phänomenologischen Philosophie

Von Stephan Strasser, Nijmegen

Die von Edmund Husserl geforderte Rückkehr „zu den


Sachen selbst" hat eine ungeheuere Erweiterung des the
matischen Bereiches zur Folge gehabt. Dies festzustellen
fällt dem Historiker der Philosophie nicht schwer. Da
bei ist die Zunahme der gegenständlichen Fülle nicht auf
die strikt phänomenologischen Autoren beschränkt ge
blieben. Sie hat vielmehr zur Folge gehabt, daß in wei
ten Kreisen ein konkreterer Stil des Philosophierens
maßgebend wurde. Wenn heute die Erde und die Land
schaft, das Wohnen und das Bauen, das Spiel und der
Tanz, das Lachen und das Weinen, die Angst und der
Ekel Themen philosophischer Erörterung geworden sind,
wenn niemand mehr die Behandlung derartiger Gegen
stände unwürdig oder lächerlich findet, dann ist dies dem
Auftreten phänomenologischer Denker zu verdanken.
Die Rückkehr zu den Sachen selbst hat der phänomeno
logischen Bewegung Schaden zugefügt. Der naive Glau
be, es gelte lediglich schlicht und getreu zu beschreiben,
was in der Erfahrung als selbstgegeben hervortrete, hat
die Aufmerksamkeit von dem Problem des sprachlichen
Ausdrucks abgelenkt. Die Schwierigkeiten des Sagens als
adäquaten Aussagens wurden unterschätzt. Die Vertre
ter des Neupositivismus sowie die der englischen sprach
analytischen Bewegung haben dort angesetzt, wo Phä
nomenologen versagt haben.
Da aber Sprechen und Denken unlöslich ineinander ver
webt sind, hatte jene intuitionistische Naivität noch eine

151

This content downloaded from


134.147.63.75 on Thu, 08 Apr 2021 14:12:28 UTC
All use subject to https://about.jstor.org/terms
andere Folge: die Unklarheit der phänomenologischen
Grundbegriffe. Natürlich hat Eugen Fink recht, wenn er
darauf hinweist, daß die ,operativen Begriffe' aller Den
ker mit einer gewissen Unklarheit behaftet sind (Fink
1959, 214 ff.). Die Tatsache, daß kein Philosoph über
seinen Schatten zu springen imstande ist, mag manchem
Phänomenologen zu einem schmalen Trost gereichen.
Wer sich jedoch die Mühe gibt, schärfer hinzusehen, wird
bemerken, daß die phänomenologische Philosophie in
dieser Flinsicht von anderen Strömungen ungünstig ab
sticht. Dies sollte aber Anlaß zu Kritik und Selbstkritik
geben. Denn es handelt sich nicht nur um terminologische
Sorglosigkeit, die das Verstehen vieler phänomenologi
scher Autoren erschwert. Auch der Umstand, daß jene
Unklarheiten zur Zersplitterung der phänomenologi
schen Bewegung in kleine Gruppen und Einzelpersön
lichkeiten beigetragen hat, sollte nicht allzu tragisch auf
genommen werden. Was hier einzig interessiert und ernst
genommen wird, ist die Frage, ob die unzulängliche Um
reißung der phänomenologischen Grundbegriffe nicht zu
einer mehrdeutigen, zwitterhaften Formulierung der
Grundprobleme geführt hat. - Daß dies tatsächlich der
Fall gewesen ist, soll an einem der Fundamentalproble
me der Phänomenologie gezeigt werden: an dem Pro
blem der Welt.
Die Frage nach dem Wesen der Welt ist das Zentral
problem der Phänomenologie Edmund Flusserls. Dies
geht aus seinen Schriften deutlich hervor. Wenig ver
ständnisvolle Schüler, Anhänger und Mitläufer wurden
im Jahre 1933 von Eugen Fink mit großer Schärfe dar
auf hingewiesen. Bekannt ist sein Wort, daß sich die
Grundfrage der Phänomenologie als die Frage nach dem
Ursprung der Welt fassen lasse (Fink, 1933/66, 101).
Auch darüber, wie jenes Ursprungsproblem aufzufassen

152

This content downloaded from


134.147.63.75 on Thu, 08 Apr 2021 14:12:28 UTC
All use subject to https://about.jstor.org/terms
sei, ließ jener von Husserl ausdrücklich gebilligte Arti
kel Finks keinen Zweifel walten. Die für Husserls Den
ken entscheidende Frage war, woher der blindlings ver
trauende Weltglaube stamme, der den Boden aller the
matischer Akte - nicht nur der Erkenntnisleistungen -
bildet. Es war Husserl darum zu tun, dem Subjekt auf
die Spur zu kommen, für das und durch das Welt für
alle in Geltung ist. Er betrachtete es als seine Aufgabe,
die konstitutiven intentionalen Leistungen zu beschrei
ben, denen die mundane Wirklichkeit ihr Wirklich-sein
verdankt. Um diese tiefschürfenden Untersuchungen
verrichten zu können, mußte man die radikale Ände
rung der philosophischen Grundhaltung vollziehen, die
Husserl die transzendental-phänomenologische Reduk
tion nannte. Ohne jenes „Abenteuer der Erkenntnis"
- Fink erinnerte nochmals daran - gab es keine phäno
menologische Philosophie. Durch die Reduktion sollte der
massive Weltglaube inhibiert und so erst die Möglichkeit
für transzendentale Forschung geschaffen werden.
Aus all dem geht hervor, daß die Begriffspaare „Welt
und Reduktion", „Welt und konstitutive Intentionali
tät", „Welt und transzendentale Phänomenologie" un
tereinander in einem Verhältnis funktionalen Zusam
menhanges stehen. Ist daher der Weltbegriff mehrdeu
tig, dann muß auch der der Reduktion und der Konsti
tution einen schillernden Charakter aufweisen.
Tatsächlich beschreibt Husserl das, was jeweils unter
„Welt" zu verstehen ist, in seinen Schriften auf recht
verschiedene Weise. Umfassende Untersuchungen wä
ren erforderlich, um alle von ihm explizit ausgedrückten
oder implizit vorausgesetzten Bedeutungen und Bedeu
tungsnuancen wiederzugeben. Wir begnügen uns damit,
drei voneinander wesentlich abweichende Begriffe der
„Welt" hervorzuheben und zu vergleichen.

153

This content downloaded from


134.147.63.75 on Thu, 08 Apr 2021 14:12:28 UTC
All use subject to https://about.jstor.org/terms
1. Zunächst kann Husserl mit dem Ausdruck „Welt" die
Allheit der konkreten Seienden andeuten. „Ist alles
Seiende, konkret sachhaltig bestimmt und bestimmbar
gedacht, nicht wesensmäßig Seiendes in einem Seinsuni
versum, in einer Welt?", lautet eine rhetorische Frage
(FtL, 134). Damit stimmt überein, daß der logisch inter
essierte Husserl die Welt als die Gesamtheit der Urteils
substrate betrachtet und sie das „Allseiende" und „All
etwas" nennt (EU, 157). Die Welt, so versichert Husserl
auch, ist nicht nur eine bloße Sachenwelt, sondern ebenso
eine Wertewelt, Güterwelt, praktische Welt (Hua III,
59). Daß dieselbe Welt, die ich als einen „Gesamtbe
stand" von „positiven Geltungen" (Hua VIII, 151) ver
meine, in Wahrheit ein Gesamtbestand von intentiona
len Polen, von konstituierten Objekten ist, soll ich nach
dem Vollzug der Reduktion einsehen. Auch dieser Ge
danke schmiegt sich in die Gesamtauffassung, derzufolge
die Welt die Totalität von allem ist, was für mich
- gleichgültig wie - Seinsgeltung erlangt hat. Die Worte
„für mich" sind allerdings bedeutungsvoll. Die Welt, von
der Husserl spricht, ist niemals die „summa rerum" oder
das „Universum" im rationalistischen Sinn. Sie hat im
mer den Sinn einer „Welt für mich", „für uns", „für
eine Gemeinschaft von Monaden" und niemals die Be
deutung einer an sich bestehenden Allheit von Seienden.
Das subjektive Moment ist für diesen Begriff der Welt
wesentlich.
2. Auf eine andere Sichtweite stoßen wir, wenn Husserl
die Welt nicht mehr als ein summatives „All-etwas" be
trachtet, sondern als eine strukturierte Ganzheit. Der
negativen Feststellung unseres Autors, daß „die'Welt
nicht ein Haufen von Dingen" ist (Ms A VII 20 bei
Diemer, 195), entspricht seine positive Forderung, „die
Struktur der als seiend geltenden Welt selbst" zu stu

154

This content downloaded from


134.147.63.75 on Thu, 08 Apr 2021 14:12:28 UTC
All use subject to https://about.jstor.org/terms
dieren (Hua VIII, 151); und er fügt hinzu, daß „wie
immer im einzelnen die Seinsüberzeugungen wechseln
- aus schlechthin geltender Wirklichkeit nichtiger Schein
wird u. dgl. - doch immer seiende Welt in ihrer allge
meinen Strukturgestalt verharrt..(ibid.)· Der soeben
entwickelte Strukturbegriff rechtfertigt auch Husserls
Unterscheidung zwischen Umwelt und Welt (eine Unter
scheidung, die von der Scheler'schen völlig verschieden
ist). Was zunächst konkret vorgegeben ist, das „worin"
wir leben, handeln, werten, streben, ist strenggenom
men „Umwelt" und nicht „Welt". Die Umwelt entspricht
dem Erfahrungsbereich eines konkreten Wir, einer hi
storisch und sozial so und so gearteten Lebensgemein
schaft (Hua IX, 496 ff.). Hiervon muß streng unterschie
den werden „die durch alle Umwelten aller vergemein
schafteten und in sich geschlossenen Lebensgemeinschaf
ten (oder Sondermenschheiten) hindurchgehende absolut
objektive Weltstruktur, die jedermann in bedingter All
gemeinheit erfassen kann und erfassen muß können, da
mit überhaupt Menschen füreinander da sein . . . kön
nen" (ibid. 498).
Auf den ersten Blick scheint der Unterschied zwischen
diesem und dem zuerst charakterisierten Begriff der Welt
nicht so groß zu sein. War anfangs die Rede von einer
Totalität, so wird jetzt eine strukturierte Totalität ins
Auge gefaßt. Eine derartige Erklärung erweist sich je
doch als unzureichend, da sie der ausdrücklich erwähn
ten Möglichkeit nicht Rechnung trägt, daß die Seins
überzeugungen des erlebenden Subjektes wechseln, daß
„aus geltender Wirklichkeit" nichtiger Schein werden
kann. Es ist bekannt, daß Husserl diese Möglichkeit bis
zu ihren äußersten Konsequenzen durchdacht hat. „Nicht
nur, daß Einzelerfahrenes die Entwertung als Sinnen
schein erleiden kann, auch der ganze Erfahrungszusam

155

This content downloaded from


134.147.63.75 on Thu, 08 Apr 2021 14:12:28 UTC
All use subject to https://about.jstor.org/terms
menhang kann sich als Schein erweisen ..heißt es in
den „Cartesianischen Meditationen" (Hua I, 57). Wenn
aber der Wechsel der Seinsgeltungen solch einen totalen
Charakter annehmen kann, während sich Welt durch
allen Umsturz hindurch behaupten soll, dann drängt
sich eine Folgerung auf: Die Welt, von der jetzt die Rede
ist, muß in ihrem Wesen unabhängig sein vom jewei
ligen Bestand der mundan Seienden. Sie ist m. a. W. keine
Sachenwelt, Wertewelt, Güterwelt mehr. Sie ist Struk
tur und nichts als Struktur. Denn daß die Struktur der
Erfahrung bei allem Wechsel des Erfahrungsinhaltes
dieselbe bleiben kann, ist allgemein bekannt. - In die
sem zweiten Sinne spricht Husserl von der Welt als eine
„für alle Menschen geltende Identitätsstruktur" (Hua
IX, 496); und in den „Ideen" heißt es: „... ein leerer
Nebel der dunkeln Unbestimmtheit bevölkert sich mit
anschaulichen Möglichkeiten oder Vermutlichkeiten und
nur die ,Form' der Welt, eben als ,Welt' ist vorgezeich
net" (Hua III, 58 f.). Es scheidet sich demnach ein for
maler Begriff der Welt von dem zuerst entwickelten
materialen. Beide Begriffe stehen in einem dialektischen
Verhältnis zueinander, doch ist der erstere essentiell vom
letzteren verschieden.
3. Doch beschreibt der Gründer der Phänomenologie
Welt auch noch auf eine dritte, völlig abweichende Wei
se. Er zeigt in veröffentlichten und unveröffentlichten
Schriften, daß Welt der universale Horizont aller er
fahrenden Intentionen, ja aller Intentionen überhaupt
ist. In diesem allgemeinsten Sinne versichert Husserl,
daß „ständig ein Geltungshorizont, eine Welt in Seins
geltung" ist, die über das jeweils in Einzelheit und rela
tiver Bestimmtheit Ergriffene „hinausreicht" (EU, 30).
Der letztgenannte Begriff der Welt wird auch von Hus
serls prominentesten Schülern und Interpreten als der

156

This content downloaded from


134.147.63.75 on Thu, 08 Apr 2021 14:12:28 UTC
All use subject to https://about.jstor.org/terms
für sein Philosophieren charakterische betrachtet. „Mit
dem Ingangbringen der phänomenologischen Analyse
.. . fällt der Universalhorizont ,Welt'", heißt es bei Eu
gen Fink (Fink, 1966, 9); und Ludwig Landgrebe erläu
tert die Auffassung seines Lehrers mit den folgenden
Worten: „Welt ist kein Gegenstand unter anderen Ge
genständen, sondern das alle Gegenstände der Erfah
rung Umschließende, der Boden jeder Einzelerfahrung"
(Landgrebe, 54). Hermann Leo van Breda vergleicht in
seiner unveröffentlichten Dissertation die Welt, so wie
Husserl sie sieht, mit einem „universalen Receptaculum"
(van Breda, 11/12). - Natürlich kann dieses Denkmotiv
Husserls auch in anderem terminologischen Gewand
auftreten. Wenn etwa in den „Ideen" die Welt als die
„Generalthesis der natürlichen Einstellung" bezeichnet
wird (Hua III, 63), dann wird damit implizite die Ge
neralthesis dieser Einstellung von allen besonderen The
sen unterschieden. Dies besagt aber nichts anderes, als
daß die Generalthesis der „Grund" ist, auf dem alle an
deren Thesen beruhen und aus dem sie erwachsen. — Es
wird nun unsere Aufgabe sein, festzustellen, welche
philosophische Bedeutung der Rede derPhänomenologen
vom „Boden" und vom „Horizont" zukommt.

Das erstgenannte Bild ist leicht zu deuten. Der „Boden"


ist das, worauf alles ruht, das aber selbst keiner Stütze
bedarf. In diesem Sinne ist der Weltglaube der Boden
aller Intentionen und die Welt der Boden aller intentio
nalen Objekte. Das heißt, daß alles, was intentional er
kannt, gewertet, erstrebt, erwirkt wird, im vorhinein als
ein „etwas in der Welt" apperzipiert ist. Auch alles, was
affiziert, hebt als ein Affizierendes vom Hintergrund der
Welt ab. In diesem Sinne ist Welt - beziehungsweise der
Weltglaube - der universale Boden aller Aktivitäten

157

This content downloaded from


134.147.63.75 on Thu, 08 Apr 2021 14:12:28 UTC
All use subject to https://about.jstor.org/terms
und Passivitäten1. Hierbei ist allerdings noch das Fol
gende zu beachten: Der Boden der Welt unterscheidet
sich von keinem anderen vergleichbaren Boden. Da er
die Basis ist, auf der alle Unterscheidungen und Be
stimmungen vorgenommen werden, kann er selbst nicht
mehr näher bestimmt und von etwas Vergleichbarem
unterschieden werden. Auch in diesem zweiten Sinne ist
der Boden der Welt - respektive der Glauben an eine
Welt - ein alles tragendes, alles stützendes, absolut letz
tes Fundament.
Der zuletzt skizzierte Gedanke wird von Husserl nicht
im Zusammenhang mit „Boden" entwickelt. Er bedient
sich dann des anderen Bildes: er spricht von einem „Ho
rizont". Zahlreich sind die Texte, in denen er seinen
Horizontbegriff entwickelt, erläutert, anwendet.
Denken wir etwa an eine erfahrende Intention. Sie gip
felt in einer bestimmten Erkenntnis, die befriedigt. Das
heißt in Husserls Terminologie, daß die zu erfahrende
Sache schließlich im Modus des „Selbst da" anwesend
ist. Das Subjekt der Erfahrung wird nun wahrscheinlich
keine weiteren Schritte erforschenden Kennenlernens
unternehmen. Trotzdem besitzt es die Wesensmöglich
keit, über das Gegebene hinauszufragen, um neue Be
stimmungen desselben Gegenstandes in Erfahrung zu
bringen. Dies hat zur Folge, daß sich um den Kern des
tatsächlich Gegebenen ein Umkreis möglicher neuer Er
fahrungen bildet, die nur ihrem allgemeinen Stil nach
bekannt sind. Einen derartigen „Hof" antizipierender
Intentionen, die denselben Gegenstand betreffen, nennt
Husserl einen Innenhorizont (EU, 28).

1 Vgl. EU, 23-26. - In welchem Sinne im Rahmen einer transzen


dentalen Phänomenologie von Passivität die Rede sein kann, wird
noch erörtert werden.

158

This content downloaded from


134.147.63.75 on Thu, 08 Apr 2021 14:12:28 UTC
All use subject to https://about.jstor.org/terms
Eine andere Wesensmöglichkeit besteht darin, über den
anfänglich intendierten Gegenstand hinaus zu anderen
Gegenständen hinzumeinen. In einer visuellen Wahr
nehmung etwa erfassen wir ein bestimmtes Ding, wäh
rend wir das Zimmer, worin es sich befindet, nur als
vagen Hintergrund auffassen. Nichts hindert uns, in
einem folgenden Akt diesen Raum wahrnehmend zu er
forschen. Wir sind uns dabei irgendwie auch des Um
standes bewußt, daß sich das betreffende Zimmer in ei
nem Haus befindet. Das Haus und die Lage des Zimmers
in ihm sind natürlich nicht wahrnehmungsmäßig gege
ben. Sie sind lediglich in der Form einer unbestimmten
Antizipation vermeint. Doch können wir nicht vermei
den, jeweils zu solchen Antizipationen überzugehen.
Husserl spricht in derartigen Fällen von einem Außen
horizont. - Wesensmäßig gibt auch das Zeitbewußtsein
- sowohl das der Vergangenheit wie das der Zukunft -
Anlaß zu analogen Horizontbildungen (Hua III, 58).
Husserl spricht von einem historischen Horizont, einem
wertlichen und praktischen Horizont des Handelnden
(Hua VI, 324). (Wenn Martin Heidegger seinen Begriff
der Welt an der Hand der Verweisungen pragmatischer
Bewandtnisganzheiten entwickelt, dann darf dies als
eine Weiterbildung und FJmbildung Husserlscher Denk
motive angesprochen werden. Heidegger, 83 ff.) Es
kommt in diesem Zusammenhang nicht auf eine Auf
zählung aller erdenklicher mundaner Horizonte an.
Wichtig ist die Frage, was all diese Horizonte gemein
haben bzw. welche Wesensmerkmale alle Formen von
Horizontbewußtsein aufweisen.
Die Antwort auf diese Frage kann, so scheint es, an
Hand der Husserl-Texte unschwer erteilt werden. Ein
Horizont, so wird man sagen, entsteht immer dann,
wenn das Bewußtsein von einer faktischen Gegebenheit

159

This content downloaded from


134.147.63.75 on Thu, 08 Apr 2021 14:12:28 UTC
All use subject to https://about.jstor.org/terms
dieses Faktische transzendiert. Es ist z.B. Bewußtsein
der Tatsache, daß einem S die Prädikate ρ und q zu
kommen, zugleich aber auch Bewußtsein der Möglich
keit, ihm noch andere Prädikate zuzuerkennen. Es ist
Bewußtsein einer Gegenwart und Antizipation einer
Zukunft. Es ist Bewußtsein eines Hier und vage Vermu
tung eines Dort. Es ist Bewußtsein einer endlichen Reihe,
aber auch Bewußtsein der Fähigkeit, die Reihe im Mo
dus des Undsoweiter „ins Unendliche" fortzusetzen
(EU, 257). Husserl spricht auch häufig von einem „offe
nen Horizont". Diese Offenheit besagt, daß der Hori
zont ein immer neues Transzendieren des tatsächlich Er
faßten zuläßt. - Alle diese Beschreibungen erwecken den
Eindruck der Eindeutigkeit und Klarheit.
Dem steht die Tatsache gegenüber, daß Husserl sich,
wenn es sich um den Horizont der Welt handelt, durch
aus nicht so einfach und unzweideutig ausdrückt. Er
spricht dann etwa von einem „dunkel bewußten Hori
zont unbestimmter Wirklichkeit" (Hua III, 58), von
einem „Hof unbestimmter Bestimmtheiten" (Hua III,
160), von einem „Leerhorizont der Unklarheit und
Undeutlichkeit" (Hua VIII, 163), von einer „Struktur
der Bekanntheit und Unbekanntheit" (EU, 33). In ei
nem wichtigen Fragment, in dem Husserl den Versuch
unternimmt, die Eigenart des sich strömend zeitigenden
transzendentalen Lebens zu charakterisieren, sagt er, daß
dieses Leben „seine lebendige, aber strömend sich än
dernde Reichweite hat - ohne eigentliche Grenze und
doch begrenzt, und veränderlich begrenzt" (Hua VIII,
467). Was zunächst auffällt, das sind die zahlreichen
Widersprüche, die durch die Begriffspaare „unbegrenzt
begrenzt", „unbestimmt-bestimmt", „unbekannt-be
kannt" hervorgerufen werden. Natürlich handelt es sich
nicht um „logische Fehler". Husserl bedient sich schein

160

This content downloaded from


134.147.63.75 on Thu, 08 Apr 2021 14:12:28 UTC
All use subject to https://about.jstor.org/terms
barer Widersprüche, um das zu beschreiben, was aller
Beschreibung spottet: den Horizont der Welt.
Damit ist bereits zum Ausdruck gebracht, daß der Ho
rizont der Welt sich nicht ohne weiteres mit mundanen
Horizonten vergleichen läßt. Er ist Gesamthorizont,
Universalhorizont, absoluter Horizont. - Was besagen
diese Epitheta? Bei allen bisher beschriebenen Horizont
bildungen stach jeweils ein Bestimmtes von einem relativ
Unbestimmten, ein Gemeintes von einem Mitgemein
ten, ein Faktisches von einem Möglichen ab. Überdies
waren die Intentionen mit den ihnen entsprechenden
Formen von Horizontbewußtsein untereinander ver
schieden. Ein temporaler Horizont etwa war leicht von
einem räumlichen zu unterscheiden. Der Horizont der
Welt überwölbt alle diese Gegensätze, und zwar in dop
pelter Hinsicht: Einerseits hebt sich das innerhalb des
Horizont Gemeinte in seiner Totalität von nichts Mit
gemeintem ab. Andererseits ist der Horizont der Welt
der Horizont von allen mundanen Horizonten. Was
bereits im Zusammenhang mit dem Begriff des „Bodens"
gesagt wurde, ist darauf anwendbar. Da alle Vergleiche
innerweltlich Seiende oder Beziehungen zwischen mun
danen Seienden zum Gegenstand haben, ist die Welt
selbst unvergleichbar. Sie ist der Horizont aller Hori
zonte. In diesem Sinne ist sie der absolute Horizont
schlechthin.
Muß dann der Horizont der Welt als eine absolute
Grenze betrachtet werden? Solange wir an dem Bild des
Horizontes festhalten, werden wir geneigt sein zu sa
gen, daß der Horizont in der Tat mit einer Grenze ver
glichen werden kann. Wir denken dann an unsere wahr
nehmende Erfahrung. Wenn wir z.B. eine Landschaft
überblicken, dann sehen wir das Nahe deutlich, das Fer
ne undeutlich, und schließlich sehen wir nichts mehr. Die

161

This content downloaded from


134.147.63.75 on Thu, 08 Apr 2021 14:12:28 UTC
All use subject to https://about.jstor.org/terms
Fülle des visuell Gegebenen nimmt immer mehr ab, bis
sie zuletzt in absolute Leere übergeht. Der Florizont, so
scheint es, begrenzt unser Gesichtsfeld. Diese Grenze ist
zwar veränderlich; unser Gesichtsfeld erweitert sich zum
Beispiel, wenn wir einen Turm oder einen Berg erstei
gen. Doch wie wir uns auch bemühen, unser Blickfeld
auszudehnen, es ist und bleibt endlich. Der Horizont, so
würden wir im täglichen Leben sagen, ist die „Linie",
die unser Gesichtsfeld „begrenzt". Aber auch im Leben
des Alltags wären wir sehr verlegen, wenn man uns
fragte, wo sich diese Linie eigentlich befinde. Ist eine
Linie, die sich grundsätzlich nicht lokalisieren läßt, über
haupt denkbar?
Es ist daher begreiflich, daß Husserl seine Zuflucht zu
der widersprüchlichen Formel nimmt: „ohne eigentliche
Grenze und doch begrenzt". Warum ist ein Horizont
keine eigentliche Grenze? Die Antwort kann nicht zwei
felhaft sein. Ein Horizont ist keine Grenze, weil eine
Grenze „gezogen" wird. Sie ist das Resultat einer Be
stimmung, einer Setzung, einer realen oder idealen De
termination. Die Grenze eines Grundstückes etwa ist im
intersubjektiven ökonomischen Handeln von Menschen
festgestellt worden; die Grenze eines Landes hängt mit
dem politischen Geschick seiner Bewohner und des Nach
barvolkes zusammen. Beide Fälle haben das gemein, daß
beim Ziehen der Grenze zumindest implizite ein Jenseits
der Grenze ins Auge gefaßt wird. Der Grundbesitzer
weiß, daß jenseits einer bestimmten Linie das Eigentum
eines anderen beginnt. Die Bewohner des Landes wis
sen, daß jenseits des Grenzsteines Menschen wohnen, die
einer anderen Nation angehören. Kurzum, der Begriff
der Grenze kann als ein Musterbeispiel dialektischen
Denkens betrachtet werden. Indem das Bewußtsein die
Grenze setzt, überschreitet es sie und hebt sie dadurch

162

This content downloaded from


134.147.63.75 on Thu, 08 Apr 2021 14:12:28 UTC
All use subject to https://about.jstor.org/terms
wieder auf (Hegel 1932,1. Tl. 110 f. ; Hegell963, 245 f.).
Legen wir uns nun nochmals die Frage vor, ob ein Ho
rizont eine Grenze ist, dann werden wir sagen müssen:
offenbar nicht. Ein Horizont ist keine Schranke, die wir
errichten, keine Linie, die wir ziehen, keine Determina
tion, deren Urheber wir sind. Dies gilt schon für den
Horizont unseres wahrnehmenden Lebens: er gleicht
nicht einer Barriere, die „die Welt mit Brettern verna
gelt". Im Gegenteil: der ferne Horizont lädt uns ein,
weiter und immer weiter um uns her zu blicken. Er ist,
wir wiederholen es, ein „offener Horizont". Dennoch
geht der Reichtum des von uns Erschauten auf eine un
erklärliche Weise in Armut und schließlich ins Leere
über. Faktisch können wir nicht weiter sehen. Ein Wort
Spinozas abwandelnd könnte man sagen: der Horizont
ist zwar, wenn er thematisch wird, eine Negation, aber
keine Determination.

Für andere Formen des Horizontbewußtseins gilt Ana


loges. Das reine Denken bildet dabei keine Ausnahme.
Wählen wir eine Zahlenreihe, eine algebraische oder geo
metrische Reihe als Beispiele. Husserl nennt derartige
Denkgebilde „konstruktive Unendlichkeiten". Sie ver
danken ihr Entstehen einer iterierenden Denkleistung.
Eine derartige Iteration ist wesensmäßig endlich; nur
das Bewußtsein des „Undsoweiter" oder des „Man kann
immer wieder" täuscht den Denkenden über ihre fakti
sche Beschränktheit hinweg. Husserl macht in diesem
Zusammenhang die wichtige Bemerkung: „Es [das ,Man
kann immer wieder'] ist eine offenbare Idealisierung, da
de facto niemand immer wieder kann" (FtL, 167). Dar
aus geht hervor, daß die konstruktiven Unendlichkei
ten des menschlichen Geistes de facto endlich sind. Sie
münden in die Leere eines möglicherweise Denkbaren,
aber nicht wirklich Gedachten.

163

This content downloaded from


134.147.63.75 on Thu, 08 Apr 2021 14:12:28 UTC
All use subject to https://about.jstor.org/terms
Dazu kommt noch die anfangs bereits angestellte Über
legung hinsichtlich der Vergleichbarkeit der mundanen
Horizonte. Es fällt uns nicht schwer festzustellen, daß
etwa eine ideale Verweisungsganzheit keine reale, eine
theoretische keine pragmatische ist. Doch fragen wir uns
zumeist nicht, auf welchem Boden wir stehen, wenn wir
derartige vergleichende Urteile fällen. Welcher Horizont
umgibt uns, wenn wir real Seiendes mit ideal Seiendem
vergleichen? Was gestattet uns, relative Unendlichkei
ten in Beziehung zueinander zu setzen?
Derartige Erwägungen lassen auch nicht zu, den univer
salen Horizont der Welt als eine „Form" zu bezeichnen.
Eine Form hebt sich jeweils von etwas relativ Unge
formten ab: von einem Hintergrund, einem Unbestimm
ten, einem Ungeordneten, einem Chaos. Eine Form ist
ferner wesensmäßig mit einer anderen Form vergleich
bar. Der Horizont der Welt dagegen ist unvergleichbar.
Er hebt sich von nichts ab. - Eine Form, so könnte man
auch sagen, ist ein ens rationis, ein ideal Seiendes. Der
Horizont der Welt dagegen gestattet uns erst, Seiende
zu denken, sie zu vergleichen, zu bestimmen, zueinander
in Beziehung zu setzen. Welt als universaler Horizont
ist offenbar weder ein Seiendes noch die Allheit der
Seienden, noch eine Struktur von Seienden.

Dieser dritte Begriff der Welt erlaubt es, gewisse Phä


nomene zu deuten, die Husserl seit jeher beschäftigt
haben. Wir denken dabei an die eigenartige „Vorbe
kanntheit jedes einzelnen Gegenstandes der Erfahrung"
(EU, 26). Sie findet letztlich ihre Erklärung in der Tat
sache, daß der universale Erfahrungshorizont der Welt
alle erfahrbaren Seienden zu einer Einheit zusammen
faßt. In der Welt fühlen wir uns heimisch. Soweit geht
unsere Vertrautheit mit den innerweltlich Seienden, daß

164

This content downloaded from


134.147.63.75 on Thu, 08 Apr 2021 14:12:28 UTC
All use subject to https://about.jstor.org/terms
eventuelle Unstimmigkeiten der Erfahrung uns im all
gemeinen nicht beängstigen. Sie bieten sich uns in der
Form eines „Problems" dar; sie sind mit einem weißen
Flecken auf der Landkarte vergleichbar. Sie ändern nichts
an der Vorbekanntheit aller mundan Seienden und des
Stiles ihrer grundsätzlichen Erfahrbarkeit (FtL, 208).
Die prinzipielle Erfahrbarkeit der syntaktischen Stoffe
bildet letztlich auch die Grundlage für das logische Den
ken. Ausgehend von dem Problem der Vollziehbarkeit
des Urteils, beweist Husserl, daß jedes ursprüngliche
Urteil seinen Zusammenhang der synthetischen Einheit
der Erfahrung verdankt, auf deren Boden es steht (FtL,
194). Der universale Boden aller Erfahrung ist, wie wir
bereits wissen, der Boden der Welt. - In Husserls Geist
weiterdenkend könnte man sich vielleicht fragen, ob die
absolute Einheit der Welt nicht das verhüllte Urbild ist,
dem unser Weltdenken die Norm seiner Einheitlichkeit
verdankt; ob die absolute Identität der Welt mit sich
selbst nicht die verborgene Richtschnur ist, die unsere
identifizierenden Leistungen ermöglicht. Die formalen
Regeln der Logik - die „angeborenen Prinzipien" der
Ratio - hätten dann einen mundanen Boden; nur daß in
Husserls Geist dieser Boden seinerseits einer transzen
dentalen Aufklärung bedarf.
Husserl operiert also tatsächlich mit zumindest drei we
sentlich voneinander abweichenden Begriffen von Welt.
Um sie näher zu charakterisieren und zu situieren, ist
es vielleicht nützlich, sie mit anderen in der vorphilo
sophischen und philosophischen Sprache mit dem Aus
druck „Welt" verbundenen Bedeutungen zu verglei
chen. Was kann man unter „Welt" alles verstehen?
1. Wenn man von der Welt als „Kosmos" oder „mun
dus" spricht, meint man das wohlgeordnete Ganze, das
die Erde zusammen mit den Himmelskörpern bildet.

165

This content downloaded from


134.147.63.75 on Thu, 08 Apr 2021 14:12:28 UTC
All use subject to https://about.jstor.org/terms
2. Als „orbis terrarum" ist die Welt die sublunare Rea
lität, d. h. die Erde mit ihren fünf „Weltteilen".
3. In der philosophischen Fachsprache bezeichnet man
gewöhnlich die Allheit aller endlichen Wirklichseienden
als Welt. Alexander Baumgarten etwa bestimmt die Welt
(„mundus") als „series (multitudo, totum) actualium fi
nitorum, quae non est pars alterius" (Baumgarten § 534).
In dieser Bedeutung ist der Ausdruck „Welt" beinahe
synonym mit „Universum".
4. Es ist aber möglich, den Nachdruck auf die Ver
knüpfung der endlich Seienden zu dem Ganzen der Welt
zu legen. Dies ist u. a. bei Leibniz der Fall. Bekannt
lich ist die Welt in seinen Augen dasjenige der voll
ständigen und kompossibelen Systeme, das Gott in seiner
Weisheit realisiert hat (Leibniz, Theod. II, §§ 414
bis 416). ;
5. Eine Sonderstellung nimmt Kants Weltbegriff ein.
Bekanntlich beweist Kant in seinen Antinomien, daß
die Durchdenkung des synthetischen Ganzen der Welt
zu unauflöslichen Widersprüchen führt (Kant 1781, 2.
Buch, 2. Hauptst.) Ihm gilt die Welt als eine regulative
Idee, die die Erkenntnis eines Ganzen der Erfahrung
nach Prinzipien möglich macht (Kant 1783, § 56). Dabei
fällt einerseits der Akzent auf das formale Element der
Erkenntnis. Andererseits darf nicht übersehen werden,
daß Kant als erster den Begriff der Welt im Zusam
menhang mit dem erkennenden, erfahrenden, denkenden
Subjekt bestimmt.
6. Sowohl in der Sprache des Alltags als in der wissen
schaftlichen und philosophischen Sprache ist es möglich,
eine Vielheit endlicher Wirklichkeiten, die ein relativ
geschlossenes Ganzes bildet und eine typische Gesetz
mäßigkeit aufweist, eine „Welt" zu nennen. Nicht nur
physische Systeme werden so genannt (ζ. B. die Welt

166

This content downloaded from


134.147.63.75 on Thu, 08 Apr 2021 14:12:28 UTC
All use subject to https://about.jstor.org/terms
der Atome, der Spiralnebel, der Mikroorganismen), son
dern auch metaphysische Regionen („mundus sensibilis",
„mundus intelligibilis"), Gebiete der Erfahrung („In
nenwelt-Außenwelt") und des Denkens („die Welt der
Zahlen"). In diesem Sinne kann also von einer Viel
heit von Welten gesprochen werden.
7. Ein Sektor der Wirklichkeit, der von einer bestimm
ten Art Subjekten auf eine typische Weise erfahren wird,
kann sowohl im vorwissenschaftlichen als im wissen
schaftlichen Sprachgebrauch „Welt" genannt werden
(ζ. B. die „Merkwelt und die Wirkwelt von Lebewesen",
„die Welt des Kleinkindes", „des primitiven Menschen"
usw.).
8. Im Rahmen einer theistischen Philosophie und Theo
logie ist die Welt die Allheit der erschaffenen Wirklich
keit. Diese Wirklichkeit zeugt von Gott, ist aber selbst
nicht göttlich.
9. Die christliche Theologie lehrt, daß die erschaffene
Wirklichkeit infolge des Sündenfalls die tragische Mög
lichkeit, ja selbst die Neigung besitzt, sich gegen ihren
Schöpfer zu wenden. Infolge dieser Auffassung wird
mit den Ausdrücken „Welt", „weltlich", „mondän" eine
peiorative Nebenbedeutung verbunden. Der Kosmos
verwandelt sich in das „saeculum", wie Karl Löwith be
merkt (Löwith, 22).
Wenn wir nun die drei verschiedenen Begriffe von Welt,
mit denen Husserl operiert, mit jener Ubersicht ver
gleichen, dann wird uns klar, daß die beiden erstge
nannten nicht originell sind. Der materiale Begriff der
Welt ist dem dritten und sechsten der besprochenen
verwandt. Bei dem Begriff der Weltform wäre vielleicht
an Leibniz zu denken. Husserl erörtert wiederholt das
Problem der kompossibelen Welten, wobei er ausdrück
lich auf Leibniz hinweist (Hua I, 167). Auch nennt er

167

This content downloaded from


134.147.63.75 on Thu, 08 Apr 2021 14:12:28 UTC
All use subject to https://about.jstor.org/terms
die Welt mitunter ein Apriori, wodurch er kritizistische
und vor allem neokritizistische Reminiszenzen wachruft
(Hua I, 165). - Originell ist lediglich der dritte der von
uns charakterisierten Weltbegriffe Husserls. Er deckt
sich mit keinem der in unserer Übersicht genannten, son
dern durchkreuzt alle gebräuchlichen Einteilungen. Dies
sollte begriffen werden. Wenn sich etwa ein Metaphy
siker das Platonische Reich der Ideen vorstellt oder ein
christlicher Theologe die Chöre der Engel, dann sind
dies vom phänomenologischen Standpunkt mundane
Vorstellungen. Dies hat mit einer vorchristlichen Sicht
ebensowenig zu tun wie mit einer nachchristlichen. Der
phänomenologischen Auffassung zufolge sind alle Son
derwelten, Umwelten, Heimwelten, Lebenswelten, in
dividuelle Welten umschlossen von ein und demselben
universalen Horizont; und die Frage, die Edmund Hus
serl stellt, ist die nach dem konstitutiven Ursprung jenes
einzigartigen Horizonts.
Damit sind wir zur typischen Husserlschen Problematik
zurückgekehrt und zu unserer Husserl-Kritik. Wir haben
behauptet, daß die Vieldeutigkeit des Weltbegriffes eine
Vieldeutigkeit mancher anderer Denkmotive Husserls
zur Folge hat. Es genügt in diesem Zusammenhang an die
Idee der Reduktion zu denken, die den Schlüssel bildet
zum Verständnis der transzendentalen Phänomenologie.
Hier tritt der Doppelsinn deutlich zutage. Ist Welt die
Allheit des endlich Seienden, weist diese Allheit eine
bestimmte ontologische Struktur auf, dann ist es mög
lich, sie gewissermaßen „schichtenweise" abzubauen. Tut
man dies, dann folgt man grundsätzlich dem Vorbild
der „Meditationes de prima philosophia" des René Des
cartes. Dies ist offenbar der Weg, den Husserl in den
„Ideen" beschritten hat. Die Reduktion, so wie sie
dort beschrieben wird, hat zur Folge, daß das bewußt

168

This content downloaded from


134.147.63.75 on Thu, 08 Apr 2021 14:12:28 UTC
All use subject to https://about.jstor.org/terms
seinstranszendente Sein der Epoche verfällt, so daß das
dem Bewußtsein immanente Sein als ein Absolutum
übrigbleibt (Hua III, 100 ff.)· Im Rahmen dieser Sicht
ist es sinnvoll, von einem „phänomenologischen Resi
duum" als einer „prinzipiell eigenartigen Seinsregion"
zu sprechen (Hua III, 72). Ist dagegen Welt ein univer
saler Horizont oder ein alles tragender Boden, dann
ist die Reduktion eine Außergeltungssetzung, die alle
Seinsregionen in gleich radikaler Weise und zugleich
betrifft: die bewußtseinsimmanenten wie die transzen
denten, die erfahrenen wie die gedachten, die realen
wie die idealen. Alle Seinsthesen setzen ja die General
thesis des Weltglaubens voraus. Wird dieser Glaube
erschüttert, dann können auch die die verschiedenen
Seinsregionen betreffenden Einzelthesen nicht mehr auf
rechterhalten werden. Es gibt, versichert Husserl, „ein
radikales Mittel, um alle Geltungen in eins außer Kraft
zu setzen, die das strömende Leben als Konstituierendes
in sich birgt, und dieses Mittel geben uns gerade die
zuletzt durchgeführten Nachweisungen über das bestän
dige Horizontbewußtsein."2
Damit ist die Idee der transzendental-phänomenologi
schen Reduktion in den Bereich unserer kritischen Be
trachtungen eingerückt. Zu dieser Kritik überzugehen
ist eine schmerzliche Notwendigkeit. Denn, wie der
Eingeweihte bereits wußte, alles was bisher über diq
Unvergleichlichkeit, Allumfassendheit, Einzigartigkeit
der Welt gesagt wurde, gilt dem transzendentalen Phä
nomenologen nur als eine vorbereitende Betrachtung,
eine Einleitung, ein „praeambulum fidei". Der Inhalt

2 Landgrebe 184; vgl. Fink 1966,134. Auf die Abweichung Husserls


vom .cartesianisdien Weg' macht auch Rudolf Boehm aufmerksam.
Vgl. Einleitung des Herausgebers zu Hua VIII, XXX ff.

169

This content downloaded from


134.147.63.75 on Thu, 08 Apr 2021 14:12:28 UTC
All use subject to https://about.jstor.org/terms
jener „fides", das eigentliche Glaubensbekenntnis aber
lautet: Jene Welt mit ihren Seienden, ihren Seinsregio
nen, ihren Seinsstrukturen verdankt ihre Seinsgel
tung - nicht mir, diesem Menschen, aber der auch in mir
und an mir am Werk seienden transzendentalen Sub
jektivität. Ja, die Welt ist, was sie ist ausschließlich in
folge der konstituierenden Leistungen jener Subjekti
vität. Auch darüber, was der Ausdruck „konstituieren"
in diesem Zusammenhang besagt, kann kein Zweifel
herrschen. Hier kommt nur die vierte der von Eugen
Fink unterschiedenen Bedeutungen, die transzententale
Bedeutung von Konstitution in Frage. In diesem Sinne
ist „Konstitution" soviel wie „Produktion". „Das Le
ben der transzendentalen Subjektivität ist als ein pro
duktives Leben' charakterisiert" stellt Fink fest (Fink
1959, 227f.); und dies stimmt mit der von Husserl ge
prüften und ausdrücklich gutgeheißenen Formulierung
überein: „... die konstitutive Interpretation desselben
(des transzendentalen Lebens) weist es als Kreation aus.
Wie hart auch immer und doktrinär eine Bestimmung
des Wesens der Konstitution als produktive Kreation
klingen mag, so ist zumindest die Gegensätzlichkeit zum
rezeptiven Erfahrungsleben angezeigt" (Fink 1966,143).
Wir müssen Fink für seine harte und doktrinäre Bestim
mung dankbar sein; sie schafft zumindest Klarheit. Was
hier gefordert wird, ist der Glaube an ein Leben, das das
Leben von niemanden ist und von nichts; das sich aus
schließlich aktiv, produktiv, kreativ verhält und nie
mals empfangend oder passiv; das auch mich, diesen
Menschen als ein Objekt unter unzähligen anderen Ob
jekten kreiert, aber doch wieder so, daß ich, das Pro
dukt des Kreierens, Einblick in das Walten des Creators
gewinnen kann.
Man fügt dann freilich hinzu, daß wenn ich bereit bin,

170

This content downloaded from


134.147.63.75 on Thu, 08 Apr 2021 14:12:28 UTC
All use subject to https://about.jstor.org/terms
jenen „Gewaltstreich der phänomenologischen Reduk
tion" zu vollführen, ich die Wirksamkeit jenes anony
men Lebens in mir selber entdecken werde. Ich werde
dann imstande sein, die verborgenen konstitutiven Lei
stungen der absoluten Subjektivität zu enthüllen, ver
sichert man; ich werde dann zum Subjekt transzenden
taler Selbsterfahrung werden. Dann werde sich mein
bloßer Glaube in Einsicht verwandeln.
Es wäre jedoch auch hier wieder genau zu erwägen,
was eigentlich behauptet wird. Der transzendentale
Phänomenologe spricht einerseits von den Evidenzen
transzendentaler Selbsterfahrung. Andererseits versi
chert er, daß die transzendentale Subjektivität alles,
was Seinsgeltung hat, produziert. Die Frage muß ge
stellt werden, ob ein Subjekt Erfahrungen von einer
Wirklichkeit haben kann, die es ausschließlich selbst
hervorbringt. Betont Fink nicht mit Recht den unüber
brückbaren Gegensatz zwischen dem Begriff des trans
zendentalen Lebens und dem des Erfahrungslebens? -
Ganz abgesehen also von dem Umstand, daß jenes Denk
motiv im höchsten Maße gewagt, „sachferne", speku
lativ ist - Fink gibt dies einigermaßen zu (Fink 1966,
149) -, muß bezweifelt werden, ob es überhaupt bruch
los, widerspruchsfrei gedacht werden kann.
Das entscheidende Argument gegen den Transzendenta
lismus soll jedoch dem phänomenologischen Begriff der
Welt entnommen werden. - Fragen wir uns, wie jene
transzendeintal-phänomenologische Reduktion voll
zogen werden soll. Sie besteht, wie man versichert, in
einer Art doppelter Ich-Spaltung. Ich, sofern ich ein
transzendentales ego bin, reflektiere auf mich, sofern
ich mundan Seiende als meine Objekte in Seinsgeltung
habe; unter diesen Seienden entdecke ich dann auch eine
Objektivierung von mir selbst, sofern ich ein Mensch in

171

This content downloaded from


134.147.63.75 on Thu, 08 Apr 2021 14:12:28 UTC
All use subject to https://about.jstor.org/terms
der Welt bin. Oder, wie Husserl es in seinen „Pariser
Vorträgen" ausdrückt: „Mit der phänomenologischen
Reduktion vollzieht sich eine Art Ich-Spaltung. Der
transzendentale Zuschauer stellt sich über sich selbst,
sieht sich zu und sieht sich auch als den vordem welt
hingegebenen Menschen, findet also in sich als cogitatum
sich als Menschen und findet an den zugehörigen cogi
tationes das (das) gesamte Weltliche ausmachende Le
ben" (Hua I, 57). Hier ist also von drei sehr verschie
denen ego's die Rede: von einem ego, das nur zusieht, von
einem, das in seinem transzendentalen Leben Welt kon
struiert, und von einem dritten, das lediglich Produkt
dieser konstituierenden Aktivität ist (Fink 1966, 122).
Die Seinsweise der drei genannten „Instanzen" ist sehr
verschieden: die eine verhält sich erkennend und regi
strierend; die zweite ist mit schöpferischen Kräften be
gabt, die dritte ist von jenen Kräften fortgebracht. -
Die Tatsache aber, daß sich die verschiedenen Seinswei
sen der drei ego's - wenn auch auf unvollkommene
Weise — kontrastierend beschreiben lassen, beweist be
reits, daß sie untereinander vergleichbar sind. Es ist
auch klar, daß die drei genannten Iche als in einem ganz
bestimmten Zusammenhang zueinander stehend gedacht
werden. Und jetzt wird die bange Frage laut, auf wel
chem „Boden" sich jene Vergleichung, Unterscheidung
und In-Beziehung-Setzung abgespielt haben. Wie ist ein
derartiges „dividere" und „componere" möglich? Was
ist das für ein Sinneshorizont, innerhalb dessen die radi
kale Reflexion vollzogen wird? Sollte es etwa allem
Radikalismus zum Trotz der Horizont der Welt sein?
- „Jeder Akt ist im weitesten Sinne ein Thematisieren
und setzt ,vorgegebene Welt' als unthematischen Hin
tergrund voraus" stellt Fink mit Recht fest (Fink 1966,
117). Ist der Vollzug der Reduktion etwa kein Akt?

172

This content downloaded from


134.147.63.75 on Thu, 08 Apr 2021 14:12:28 UTC
All use subject to https://about.jstor.org/terms
Sollen durch sie nicht bestimmte konstitutive Leistungen
thematisiert werden? Und wenn ja, warum sollte ge
rade in diesem Falle der unthematische Untergrund zum
Verschwinden gebracht werden? Wird er nicht vielmehr
stillschweigend vorausgesetzt?
Das Ergebnis dieser kritischen Überlegung ist zunächst
ein negatives. Wir haben uns davon überzeugt, daß sich
die Welthaftigkeit der Welt durch keinerlei scharfsin
nige Methoden ausschalten läßt. Ihr gegenüber erweisen
sich alle Gewaltstreiche der Erkenntnis als Spiegel
gefechte. Unerschütterlich überdauert sie alle Abenteuer
unseres unruhigen Geistes.
Es ist allerdings leicht vorherzusehen, was ein über
zeugter transzendentaler Phänomenologe auf unsere
Kritik erwidern wird. Er wird sich darauf berufen, daß
„der mitteilende Phänomenologe keine anderen als die
weltlichen Wortbegriife zur Verfügung hat, daß er sich
in der Sprache der natürlichen Einstellung ausdrücken
muß" (Fink 1966, 154). Es sei uns aber gestattet, dieses
Argument nicht allzu ernst zu nehmen. Eine Philosophie
ist ein in Worten und Sätzen ausgedrücktes Denken. Sie
ist wesentlich Gedicht, Rede, Dialog, Disputation, Be
lehrung, Deutung, Betrachtung. Gerade der Phänome
nologe wird den Begriff eines philosophischen Denkens
ablehnen, das ohne die Sprache oder gegen die Sprache
denkt. Sprache ist jedoch wesensmäßig Sprache in der
Welt. Dann ist aber offensichtlich, daß die Anstrengung
des Philosophen, philosophierend die Welt zu über
springen, nicht nur de facto zu nichts führen wird. Ein
derartiges Abenteuer muß vielmehr notwendig mißlin
gen, da sein Zweck einen Widerspruch in sich birgt.
Unsere Kritik des phänomenologischen Transzendenta
lismus mag vermessen scheinen. Glücklicherweise kön
nen wir uns dabei auf einen Denker berufen, dessen

173

This content downloaded from


134.147.63.75 on Thu, 08 Apr 2021 14:12:28 UTC
All use subject to https://about.jstor.org/terms
Autorität auf dem Gebiet der phänomenologischen Phi
losophie unbestreitbar ist: auf Edmund Husserl. Der hi
storische Husserl war nämlich hinsichtlich der Möglich
keit einer „Weltvernichtung" seiner Sache durchaus
nicht so sicher wie allgemein angenommen wird. Sein
Schwanken kommt unter anderem in der Beantwortung
der Frage zum Ausdruck, ob das Sein der Welt als apo
diktisch evident anzusprechen sei. In den „Cartesiani
schen Meditationen" etwa wird ein vorsichtiger, sehr
nuancierter Zweifel in bezug auf den apodiktischen
Charakter jener Evidenz ausgesprochen (Hua I, 57).
In unveröffentlichten Schriften spricht Husserl jedoch
von der Weltgewißheit als einer „apodiktischen Prä
sumption". Dies scheint zunächst eine „contradictio in
adjecto" zu sein. Eine Präsumption kann ja nie eine
selbstgegebene Sache zum Gegenstand haben. Wir müs
sen aber auch hier mit der Möglichkeit rechnen, daß sich
hinter scheinbaren Widersprüchen tiefe Einsichten ver
bergen. Als „apodiktisch" gilt Husserl eine Evidenz, die
„nicht bloß Seinsgewißheit der in ihr evidenten Sachen
und Sachverhalte ist, sondern sich durch eine kritische
Reflexion zugleich als schlechthinnige Unausdenkbarkeit
des Nichtseins derselben enthüllt" (Hua I, 56). Die kri
tische Reflexion auf den Horizont der Welt setzt diesen
Horizont aufs neue voraus; dies glauben wir soeben ge
zeigt zu haben. - Ein wichtiges Manuskript Husserls,
das vermutlich aus dem Jahr 1933 stammt, trägt den
Titel: „Zur apodiktischen Präsumption der Welt."
Hierin schreibt Husserl: „Andererseits ist der Zweifel
an dem Sein der Welt lächerlich. Es ist klar, daß die
Dignität der Welterfahrung von einer höheren Dignität
der Evidenz ist wie diejenige der Einzelerfahrung ...
Die Weltexistenz hat etwas von Apodiktizität an sich,
es ist nicht richtig, daß dies für mich, der ich sie in Er

174

This content downloaded from


134.147.63.75 on Thu, 08 Apr 2021 14:12:28 UTC
All use subject to https://about.jstor.org/terms
fahrung habe, bezweifelbar ist."3 In einem anderen
Manuskript heißt es sogar: „Die Welt ist und bleibt die
mir geltende - daran ändert die Reduktion nichts."4
Daß Husserl dies in einem Augenblick seines Lebens
gedacht hat, ist ebenso gewiß wie die Tatsache, daß er in
einem anderen Augenblick Eugen Finks für die „Kant
studien" bestimmten Text als Ausdruck seines eigenen
Denkens bezeichnet hat.
Kehren wir zu unserer Problematik zurück. Legen wir
uns die Frage vor, welche Rückwirkung das Wieder
ernst-Nehmen der Weltlichkeit der Welt auf das Philoso
phieren des Phänomenologen haben müßte? Wird sie da
durch in eine oberflächliche Common-sense-Philosophie
verwandelt oder kommen vielmehr die ursprünglichen
Anliegen der Phänomenologie erst dann zu ihrem Recht?
Alles hängt davon ab, ob aus der „apodiktischen Prä
sumption" der Welt mit philosophischer Strenge die
unausweichlichen Konsequenzen gezogen werden. Drei
dieser Folgerungen wollen wir hier flüchtig skizzieren.
1. Wenn Welt der universale Horizont aller Seienden
ist, dann sind diese Seienden endlich; dann trifft dies
auch auf alle Geistig-Seienden, Bewußt-Seienden, In
tentional-bezogen-Seienden zu. Das Problem, wie sich
der Geist verendlicht - eine Frage, die Eugen Fink in
ähnlicher Weise beschäftigt wie Jean-Paul Sartre (Fink
1966, 14. Sartre, 361 ff.) -, erweist sich dann als Schein
problem. Die Rede von dem Bewußtsein, dem Geist,
dem intentionalen Leben muß als irreführend vermie
den werden. Die Phänomenologie beginnt als eine Phi
losophie der Endlichkeit. Die Endlichkeit kann, genau

3 Stenographiertes Manuskript, Signatur Β I 13/11 des Husserl


Archivs, S. 18 der Transkription.
4 Stenographiertes Manuskript 1930, Signatur Β I 5 IX des Husserl
Archivs, S. 27, zitiert bei Brand, 32.

175

This content downloaded from


134.147.63.75 on Thu, 08 Apr 2021 14:12:28 UTC
All use subject to https://about.jstor.org/terms
genommen, nicht als das zuerst sich aufdringende de
skriptive Merkmal bezeichnet werden; sie ist vielmehr
eine Bedingung der Möglichkeit jedweder echten De
skription.
2. Wenn der Horizont der Welt die Bedingung für die
intentionalen Leistungen der Identifizierung, Einheits
bildung, Widerspruchslosigkeit bildet, dann geht die
intentionale Sinngebung nicht ausschließlich von einem
autonomen Bewußtsein oder einer Gemeinschaft auto
nomer geistiger Wesen („Monaden") aus. Dem Bewußt
sein eines endlich Seienden kommt diese Selbstherrlich
keit offenbar nicht zu. Es muß sich vielmehr auch emp
fangend, passiv, leidend verhalten können.
3. Wenn der Horizont der Welt /d&iisch nicht trans
zendiert werden kann, dann muß die Faktizität und,
was damit unmittelbar zusammenhängt, die Kontingenz
der endlichen Wesen - mit Inbegriff der bewußten We
sen - wieder ernstgenommen werden. Dann erst kann
die phänomenologische Philosophie zur philosophischen
Anthropologie unserer Zeit beitragen, ohne ihr Wesen
zu verleugnen. - In der transzendentalen Phänomenolo
gie dagegen werden, wie Fink feststellt, die weltliche
„Endlichkeit, Hinfälligkeit, Ohnmacht" des Menschen
als „konstituierter Sinn" gedeutet „und damit zurück
genommen in das unendliche Wesen des Geistes" (Fink
1966). Ein derartiges Deuten ist aber im Grunde ein
Weginterpretieren. Die „Unvollkommenheiten" mensch
lichen Daseins werden, kaum daß sie in den Blick ge
kommen sind, mit dem Hobel eines „konstitutiven
Idealismus" geglättet, getilgt, weggefegt. Die Dramatik
und Tragik menschlichen Daseins und menschlicher Ge
schichte entschwinden damit aus dem Blickfeld des Phi
losophen. Die transzendental-phänomenologische Re
duktion kommt, wie Eugen Fink mit Recht feststellt,

176

This content downloaded from


134.147.63.75 on Thu, 08 Apr 2021 14:12:28 UTC
All use subject to https://about.jstor.org/terms
einer „Entmenschung" gleich (Fink 1966, 13). Was bei
jener entmenschten Betrachtungsweise einzig zu betrach
ten übrigbleibt, ist das unbegreifliche Spiel eines Geistes
mit sich selbst. - Wenn daher die phänomenologische
Philosophie sich den Weg zu einer philosophischen An
thropologie nicht versperren will, dann wird sie sich von
jenem transzendentalen Idealismus lösen müssen.
Hier aber werden jedoch abermals Bedenken laut. Wird
nicht mit dem Wegfallen der Reduktion die Phänome
nologie ihres entscheidenden philosophischen Ethos be
raubt? Wird sie nicht „verharmlost", in eine halb lite
rarische Beschreibungskunst verwandelt? Zeigt uns die
Geschichte der phänomenologischen Bewegung nicht den
enttäuschenden Charakter einer derartigen Entwick
lung?
Wer aber spricht von einem Wegfallen der Reduktion?
Unsere Kritik richtete sich gegen den Transzendenta
lismus, gegen die Idee einer kreativen Konstitution und
gegen andere transzendental-phänomenologisch genann
ten Spekulationen. Ihnen gegenüber muß auf die ur
sprüngliche Bedeutung des reduktiven Denkmotivs hin
gewiesen werden. Reduktion ist, wie Michael Theunis
sen mit Recht bemerkt, „Rückführung" (Theunissen,
27 ff.). Sie ist, wie jede Rückführung, gleichzeitig auch
Hinführung. Sie ist Rückführung von der vorgegebenen
Umwelt, in die jeder mit Selbstverständlichkeit hinein
lebt, und Hinführung zu dem einen allumfassenden Ho
rizont der Welt. Sie ist Rückführung von den konstruk
tiven Sonderwelten der Wissenschaften und Hinführung
zu der ursprünglichen Welt. Sie ist Rückführung von
dem naiven Universalismus der Ratio und Hinführung
zu der von uns erlebten Welt. Sie ist Rückführung von
dem formalbeziehenden Denken und Hinführung zu
dem ursprünglichen Denken der Welt. - Das Denken

177

This content downloaded from


134.147.63.75 on Thu, 08 Apr 2021 14:12:28 UTC
All use subject to https://about.jstor.org/terms
in der natürlichen Einstellung ist Denken von gewach
senen Umwelten und konstruierten Sonderwelten, ist
Denken von Relativem und Relationen im Modus nai
ver Bejahung. Das Denken des Phänomenologen ist
Denken des absoluten Horizontes; das heißt aber, daß
es Denken des Absoluten ist im Modus des „nicht".
Wenn es eine Wissenschaft des Absoluten gäbe, müßte
sie nicht so beginnen?

Literaturverzeichnis

Baumgarten, G. Α.: Metaphysica, Halle 1739.


Brand, Gerd: Welt, Ich und Zeit, Den Haag 1955.
van Breda, Leo: De Transcendenteel Phaenomenologische
Reductie in Husserls laatste période (1920-1938), Manu
skript Löwen 1941 (Diss.).
Fink, Eugen: Die phänomenologische Philosophie Edmund
Husserls in der gegenwärtigen Kritik. Mit einem Vorwort
von Edmund Husserl, in: Kant-Studien 38 (1933), S. 319
bis 383.
-: siehe auch in: Studien zur Phänomenologie (1930-1939),
(Phaenomenologica 21), Den Haag 1966, S. 79-156.
-:Les concepts opératoires dans la Phénoménologie de Hus
serl, in: Husserl - Cahiers de Royaumont, Philosophie
Nr. III, Paris 1959, S. 214-241.
Diemer, Alwin: Edmund Husserl. Versuch einer systemati
schen Darstellung seiner Phänomenologie, Meisenheim
1956.
Hegel, G. W. F.: Wissenschaft der Logik. Hrsg. von G. Las
son, Leipzig 21932.
-: System der Philosophie, Jubiläumsausgabe Bd. VIII, Stutt
gart 1963.
Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Halle 1927, Tübingen
71953.
Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, Riga 1781 (A),
21787 (B).
-: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als
Wissenschaft wird auftreten können, Riga 1783.

178

This content downloaded from


134.147.63.75 on Thu, 08 Apr 2021 14:12:28 UTC
All use subject to https://about.jstor.org/terms
Landgrebe, Ludwig: Der Weg der Phänomenologie, Güters
loh 1963.
Leibniz, G. W.: Essais de Theodizee sur la bonté de Dieu,
la liberté de l'homme et l'origine du mal, Amsterdam 1710.
Löwith, Karl: Der Weltbegriff in der neuzeitlichen Philo
sophie, Heidelberg 1960.
Sartre, Jean-Paul: L'être et le néant, Paris 1943, 3β1950.
Theunissen, Michael: Der Andere, Berlin 1965.

179

This content downloaded from


134.147.63.75 on Thu, 08 Apr 2021 14:12:28 UTC
All use subject to https://about.jstor.org/terms

Das könnte Ihnen auch gefallen