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Heimwelt, Fremdwelt, die eine Welt

Author(s): Klaus Held


Source: Phänomenologische Forschungen , 1991, Vol. 24/25, Perspektiven und Probleme
der Husserlschen Phänomenologie: Beiträge zur neueren Husserl-Forschung (1991), pp.
305-337
Published by: Felix Meiner Verlag GmbH

Stable URL: https://www.jstor.org/stable/24360333

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Heimwelt, Fremdwelt, die eine Welt

Von Klaus Held, Wuppertal

Im Zeitalter des planetarischen Zusammenwachsens der


Menschheit gewinnt eine Reihe von Texten in Band XV
der Husserliana1 besondere Aktualität, die alle um die
Problematik der Konstitution der einen Welt in der Be
gegnung von Heimwelt mit Fremdwelt kreisen. Die Pro
blematik ist einerseits noch im Umkreis der 5. Cartesia
nischen Meditation angesiedelt, andererseits weist sie
aber auch schon voraus auf einen charakteristischen
Aspekt der Krisis. In der 5. Meditation geht es um die
Konstitution der intersubjektiven Welt als objektiver
Welt. Die objektive Welt ist eine für alle Menschen über
haupt. Tragender Gedanke der Krisis ist die teleologische
Perspektive auf die eine Welt einer vernünftig kommuni
zierenden Menschheit. So bildet die Frage nach der Kon
stitution der einen Welt systematisch die Brücke zwi
schen den Analysen der 5. Meditation und der Krisis.
Freilich springt zunächst ein Unterschied zwischen die
sen Analysen ins Auge. Nach der Konzeption der Krisis
vollzieht sich die Konstitution der einen Welt genetisch,
d.h. als Entwicklungsschritt der inneren Geschichte, in
der sich das Bewußtsein mit neuen Horizonten anrei
chert: Die historische Urstiftung von Philosophie und
Wissenschaft bei den Griechen stellt der Menschheit die
Aufgabe, die wahre, objektive Welt zu erforschen. Diese

1 Einfache Seitenzahlen im Text beziehen sich auf diesen Band der


Hua.

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eine Welt ist nichts Fertigkonstituiertes, sondern im Un
endlichen liegendes Telos für die in der Zeit verlaufende
Entwicklung der sich verwissenschaftlichenden Mensch
heit. Im Unterschied dazu setzen die Analysen der 5.
Meditation, wie Husserl in § 58 hervorhebt, statisch an.
Sie nehmen den eidetischen Gehalt von fertigkonstituier
ten Gegebenheiten - und so auch der Gegebenheit
„objektive Welt" - zum Leitfaden und fragen zurück
nach den gleichsam zeitlosen Motivationszusammenhän
gen, durch die sie dem Bewußtsein begegnen können.
Die innere Geschichte des Bewußtseins ist für diese Fra
gestellung irrelevant.
Die Konstitutionsanalyse in der 5. Meditation bleibt aber
nicht statisch. Zwar hat die erste der Konstitutionsstufen
intersubjektiver Lebenswelt (215, 437ff.), auf die sich die
erwähnte Feststellung in § 58 bezieht, statischen Charak
ter, nicht aber die darauf aufbauenden höheren Stufen.
Jene erste Stufe bildet die analogisierende Apperzeption,
mit der ich ausgehend von meiner Primordialität den
Andern als das an sich erste Fremde konstituiere; ich
transzendiere meine primordiale Welt, indem ich sie als
Erscheinungsweise einer Welt auffasse, die dem Andern
und mir gemeinsam ist. Meine primordiale Welt ist da
durch gekennzeichnet, daß sie ihre Bestimmtheit aus
schließlich meinen eigenen Apperzeptionsleistungen ver
dankt. Methodisch ist der Rückgang auf diese Welt eine
Abstraktion: Ich sehe künstlich davon ab, daß meine Le
benswelt „immer schon" eine gemeinsame, d. h. von den
Apperzeptionsleistungen der Mitsubjekte durchtränkte
Welt ist. Deshalb bildet die Konstitutionsleistung, durch
die mein Ich die primordiale Welt transzendiert, keinen
Entwicklungsschritt in der Genesis der Bewußtseinshori
zonte;2 die Erweiterung des primordialen Horizonts ist
keine „Urstiftung", wenn man unter „Urstiftung" die

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Erzeugung einer Apperzeptionsmöglichkeit versteht, die
es in der Geschichte des Bewußtseins vorher noch nicht
gegeben hatte.
Grundsätzlich anders steht es bei der zweiten Hauptstufe
intersubjektiver Konstitution, wie Husserl sie in § 58 der
5. Meditation im Umriß skizziert hat. Hier geht es um
die Überschreitung der ersten bereits konstituierten ge
meinsamen Welt, nämlich der Kulturwelt, in der eine
Menschengemeinschaft heimisch ist, durch die Begeg
nung mit einer fremden Kultur. Daß Menschen nur ihre
heimische Kulturwelt kannten, war geschichtlich durch
aus möglich und ist insofern kein bloßes Abstraktions
produkt des Philosophen. Entsprechend beruht die Öff
nung der heimischen für eine fremde Kulturwelt auf ei
ner Urstiftung, die den Horizont gemeinsamer Welter
fahrung geschichtlich erweitert. Husserl benutzt deshalb
in § 58 auch ausdrücklich den Begriff Genesis (vgl. 437).
Obwohl es sich bei der ursprünglichen Überschreitung
der Primordialsphäre nicht um eine Genesis handelt,
kann Husserl die geschichtliche Überschreitung einer
heimischen Kulturwelt doch damit vergleichen. Betrach
tet man diese Überschreitung nämlich im Stil statischer
Konstitutionsanalyse auf ihre Motivationsstruktur hin,
so zeigt sie einen parallelen Aufbau zur analogisierenden
Apperzeption des Anderen. An diese Strukturverwandt
schaft, die § 58 als Leitlinie vorgibt, möchte ich mich im
folgenden halten. Ich versuche auf dieser Grundlage zu
nächst die Systematik zu „rekonstruieren", die in den
schwierigen einschlägigen Texten von Band XV durch
scheint (I.). Die Analyse wird aber zu einem Punkt füh

2 Daß es sich bei der ursprünglichen Erfahrung des Andern aber im


Grunde doch um ein genetisches Problem handelt, habe ich zu begrün
den versucht: vgl. Held 1972.

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ren, an dem der genetische Charakter der Problematik
nicht länger ausgeklammert bleiben kann. Das genetische
Problem wird sich auf die Frage zuspitzen, in welchem
Sinne die griechische Urstiftung, die der Menschheit als
Entwicklungsziel die eine gemeinsame Welt vorzeichnet,
heute ihre Erfüllung finden kann (II.).

I.

Die Strukturparallelität beginnt damit, daß die heimische


Kulturwelt tatsächlich als eine Art Primordialsphäre
zweiter Stufe angesehen werden kann: So wie ich in der
abstraktiv vorausgesetzten reinen Primordialität nur von
mir selbst und meiner Welt weiß und „noch" nichts von
der Existenz eines anderen Ich und seiner Weltauffas
sung, ebenso ist den Angehörigen einer völlig abge
schlossenen kulturellen Heimwelt noch nichts von ande
ren Kulturen bekannt. Solange Menschen innerhalb einer
isolierten Kulturwelt leben, müssen sie das Bewußtsein
haben, sie seien „alle Menschen" (217), die Menschheit
überhaupt (140 f., 165, 176, 431). Es ist ja charakteri
stisch, daß die Selbstbezeichnung der Angehörigen vieler
Völker einfach „Mensch" lautet. Die geschlossene Tota
lität einer solchen Welt kann nicht einmal als heimische
oder heimatliche Welt empfunden werden; das Heimi
sche hebt sich als solches erst durch den Kontrast zum
„Fremden" ab (176). Erst nach der Bekanntschaft mit ei
ner „Fremdwelt" kann die eigene Welt, die bis dahin die
einzige Welt war, als das „uns Eigene", d. h. als „Heim
welt" erfahren werden; erst vor dem Hintergrund der
Begegnung mit dem Fremden erlebt man das Heimische
auch als das Heimatliche, als Zuhause.
Das „Fremde" sowohl bei der ursprünglichen Transzen

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dierung der Primordialität als auch bei der ersten Begeg
nung mit einer bis dahin fremden Kultur ist ein umfas
sender Verweisungszusammenhang von apperzeptiven
Gehalten, d.h. eine „Welt" als Horizont. Konkret er
fahrbar wird das umfassend Fremde an einer „Fremd
welt" allerdings immer nur in einzelnen Vorkommnissen
innerhalb dieser Welt; jedes solche Vorkommnis ist
gleichsam welthaltig und indiziert die Fremdheit der
Fremdwelt. So kommt die Fremdheit einer bis dahin un
bekannten Kultur in allen Bereichen von Vorkommnis
sen zum Vorschein, die sich innerhalb dieser Kultur be
obachten lassen: in erster Linie in den fremden Men
schen, den „Fremden", mit ihren Handlungsweisen, Ge
wohnheiten und Institutionen, dann in den fremdartigen
Gegenständen, die sie herstellen, aber auch in all dem,
was sie zwar nicht hergestellt haben, was ihnen aber
doch auf eine uns fremde Weise, als uns fremde Natur
begegnet.
Was eine bis dahin unbekannte Welt für „uns" in „unse
rer" Heim weit zur fremden Welt macht, ist der fremde
Apperzeptionszusammenhang, durch den die Fremden
sich selbst, ihre Verhaltensart, ihre Produkte, ihre Natur
und was es sonst an „Bestandteilen" ihrer Welt geben
mag, anders auffassen, als „wir" es tun. Die Weise, wie
ihnen die Vorkommnisse in ihrer Welt erscheinen - und
damit unthematisch das Ganze ihrer Welt selbst -,
stimmt mit der unsrigen nicht überein. Ihre Welterfah
rung verläuft in diesem Sinne, wie Husserl sagen würde,
nicht „einstimmig" mit der unsrigen. Dieses Fehlen der
Einstimmigkeit läßt uns ihre Welterfahrung als „anomal"
erscheinen.
Nun kennen wir auch innerhalb unserer Heim weit Ver
haltensmöglichkeiten und Vorkommnisse, die aus der
Einstimmigkeit der „vertrauten Typik" (221) des norma

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len Apperzeptionssystems herausfallen. Maßstab ist da
bei das durchschnittliche Auffassen des reifen Erwachse
nen (178, 231) zwischen Kindheit und Jugend auf der ei
nen und Alter auf der anderen Seite. Was diesem Maß
stab genügt, gilt für „jedermann" (142, 165); es ist das
Normale. Entscheidend ist, daß das heimische „System"
der Normalität so umfassend ist, daß es die Anomalie
mit einbegreift (142f., 154ff., 211 ff., 230f., 438). Das
Anomale mag zwar im Einzelfalle unerwartbar sein, aber
ihrem Typ nach sind die Abweichungen von der Norma
lität im heimweltlichen Erwartungshorizont gleichsam
vorgesehen. Die Normalität behauptet sich gegenüber
der Anomalie, indem sie ihr ihre Typik vorgibt.
Eine bisher unbekannte Kultur erweckt den Eindruck
umfassender Fremdheit, weil ihr gegenüber die heimi
sche Typik der Anomalie versagt. Das heimische Ano
male mochte uns „befremden", aber es war in letzter In
stanz nichts Fremdes, es hob die Einstimmigkeit der
Weltapperzeption im ganzen nicht auf. Eben dies tritt
nun ein, ein Bruch im gesamten Stil (198, 431 f.) der le
bensweltlichen Erfahrung, der uns die bislang unbekann
te Kultur als unverständlich (233), als etwas „unverständ
lich Fremdes" (432) erscheinen läßt, weil sie auf einem
eigenen System der Normalität unter Einschluß einer
entsprechenden Typik der Anomalie beruht.
Damit ist der eigentliche Grund dieser Verständnislosig
keit aber noch nicht aufgedeckt. Auch innerhalb unserer
Heimwelt können uns beim Eintritt in ungewohnte Le
bensverhältnisse in gewissem Umfange neue Systeme der
Normalität begegnen, etwa bei der Aufnahme in einen
Verein oder bei der Eheschließung. Vieles mag uns dann
unverständlich erscheinen, und auch die Typik der Ano
malie ist partiell eine andere. Trotzdem ist die Umstel
lung auf die neuen Verhältnisse möglich, weil es sich nur

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um partielle Modifikationen (136) innerhalb eines in Gel
tung bleibenden vorgegebenen Gesamtsystems normaler
Auffassungstypik handelt.
Die normale Typik enthält in sich bereits die Möglich
keit von Korrekturen usw., ohne daß sie im ganzen ge
fährdet wäre; sie ist eine „fließende Typik", wie Husserl
sagt (431). Deshalb erscheint keinerlei Neues, d.h. nichts
zunächst als anomal Erscheinendes, für dessen Aneig
nung wir unseren heimweltlichen Horizont erweitern
müssen, in ganz strengem Sinne als überraschend. Es be
gegnet nie als völlig unbekannt, sondern als „vorbe
kannt". So wird jede Erweiterung als Explikation von
Möglichkeiten erfahren, die schon in dem vorangegange
nen engeren Horizontbewußtsein beschlossen lagen.
Der Horizont der Heimwelt ist offen und geschlossen
zugleich. „Horizont" bedeutet „begrenzender Umkreis",
aber bildlich gesprochen liegt der Radius des Kreises
nicht fest. Der Horizont als Grenze macht die Heimwelt
endlich, aber die Endlichkeit ist eine „relative Endlich
keit" (198). Der Einzelne erfährt die Endlichkeit seiner
Heimwelt in Stufen der Um weltlichkeit, also als Kind
vielleicht zunächst darin, daß sich sein Leben im Um
kreis seiner Straße, seines Dorfes oder Stadtteils abspielt,
dann aber erweitert sich seine Lebensumwelt. Immer
bleibt diese Umwelt endlich, aber sie ist stets nur „relativ
geschlossen" (219); sie enthält in sich ein Potential der
Erweiterung (429), der Überschreitung (205) des jeweili
gen endlichen Umfeldes. So ist die Heimwelt im offenen
Prozeß einer fortdauernden „Aneignung" bewußt. Das
Eigene, das lebensweltliche Heim, der oikos als Eigenes,
als oikeion, bewährt sich als dieses Eigene durch die fort
schreitende Erweiterung seines Umfangs - eine Konzep
tion, die strukturell - nicht inhaltlich - an die stoische
Lehre von der oikeiosis erinnert.

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Die Heimwelt bleibt uns immerfort unaufhörlich zur
Explikation (202) aufgegeben. Sie ist ein „Erwerb, der
immerzu im Erwerben ist" (201), „ein Seinssinn, der für
mich wird" (201). Sie ist etwas, was uns jederzeit aufs
neue bevorsteht und was deshalb „immerzu Antizipa
tion" (202) ist. So ist uns der heimweltliche Horizont im
Modus der Zukünftigkeit bewußt. Aber zugleich besitzt
er den Charakter der Vergangenheit; denn alle Explika
tionen lagen als Möglichkeiten schon in der bisherigen
Erfahrung der Heimwelt beschlossen. Die Heimwelt ist,
um diesen Sachverhalt auf eine Formel zu bringen, ein
explicandum, dessen Zukunfts- und Vergangenheitscha
rakter eins sind: Nur indem wir den Horizont unserer
heimatlichen Umwelt in die offene Zukunft hinein expli
zieren, bewährt er sich als das immer schon „Vorgegebe
ne" (171), und nur indem wir uns an dieses Vorgegebene,
unvordenklich Alte halten, bringen wir das Zukünftige,
Neue zum Vorschein.
Als unabschließbar immer weiter explizierbare Vorgege
benheit gibt die Heimwelt unserem Leben Sicherheit.
Denn wenn alles Neue nur als Explikation des vorgege
benen Gesamtsystems normaler Auffassungstypik begeg
nen kann, darf ich mich darauf verlassen, daß dieses Sy
stem als Verständigungsgrundlage mit den Andern nie
ins Wanken gerät. Aber die Frage ist: Was gibt mir ei
gentlich von vornherein diese Sicherheit, und wie ist es
vor diesem Hintergrund möglich, daß das heimweltliche
Bewußtsein dann doch auf die Fremdheit der Fremdwelt
stoßen kann, deren Unverständlichkeit in der Kontinui
tät des unabschließbaren Explizierens einen Bruch her
vorruft?
Das Gesamtsystem der Normalität erscheint jedermann
als etwas, worauf man sich verlassen kann, weil es den
Charakter der jeweils schon eingespielten Gewohnheit

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(144) hat. Es stammt aus einer Vergangenheit, die unse
rer eigenen Erfahrung mit der Normalität, innerhalb de
rer wir sie partiell modifizieren oder erweitern können,
voraufgeht. Es verweist als Althergebrachtes unmittelbar
auf die Generation derer, die vor uns Heutigen gelebt
haben. Aber weil auch die Generation unserer Eltern
schon ein solches - von ihnen eventuell modifiziertes
oder erweitertes - System als Verständigungsgrundlage
voraussetzen mußte, reicht der Verweis mittelbar in die
vorvergangene Generation zurück und von da weiter in
eine Generationenkette, die „endlos offen" in die Ver
gangenheit zurückgeht (138, 168 f., 199 f.).
Der gegenwärtige Bestand der Normalität und ihrer Ty
pik ist also Resultat der Auffassungsarbeit ins Unendli
che zurückreichender Generationen. Normalität beruht
in diesem Sinne auf der „Generativität" (431), sie hat als
generativ gewachsene Gewohnheit wesenhaft eine histo
rische Dimension (139, 205). Die Menschen haben in
diesem Sinne im Unterschied zu den Tieren durch ihre
Heimwelt eine „generative, historische Welt" (160
Anm.).
Nun ist aber die Geschichte der Generationen, denen wir
die Normalität unserer Heimwelt verdanken (168 f.),
„unsere" Tradition. Es waren nicht beliebige Menschen,
die die Normalität über das Absterben der alten Genera
tionen hinweg (168 f.) weitergetragen und weiterentwik
kelt haben, sondern es waren „unsere" Eltern, deren
Voreltern usw. Diesen Aspekt der Generativität hat
Husserl in den Forschungsmanuskripten von Band XV
nicht eigens hervorgehoben, obwohl gerade er es ist, der
dem heimweltlichen System der Auffassungsnormalität
eigentlich seine Zuverlässigkeit und Vertrauenswürdig
keit verleiht. Der springende Punkt ist die Herkunft die
ses Systems aus einer exklusiv gerade „unserer" Heim

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welt zugehörigen Generativität; „unsere" Vorfahren sind
nicht gegen die einer Fremdwelt austauschbar. Mit dieser
Feststellung hat sich zugleich geklärt, worin die unver
ständliche Fremdheit der fremdweltlichen Auffassungs
normalität ihre letzte Wurzel hat. Das Fremde ist das
Nicht-Eigene; das nicht austauschbar Eigene jeder
Heimwelt sind die Vorfahren, auf deren Auffassungsar
beit das geltende System der Normalität beruht. Dieses
Eigene läßt sich nur generativ „erben", aber nicht von
außen „aneignen".
Wir haben damit den Punkt erreicht, an dem wir den ei
gentlichen Grund der Endlichkeit der Heimwelt aufdek
ken können. Husserl betont zwar in den Texten von
Band XV mehrfach, daß die Welt als Lebenswelt not
wendig endlich ist (171, 205, 431, 625), und diese End
lichkeit charakterisiert die Lebenswelt als Heimwelt.
Aber weil Husserl immer ebensosehr hervorhebt, daß es
sich um eine relative d.h. unabschließbar explizierbare
Endlichkeit handelt, entsteht der Schein, als sei die
Heimwelt entgegen Husserls Versicherung unendlich.
Man muß kritisch fragen: Bedeutet die unbeschränkte
Offenheit für kontinuierliche Erweiterung des Horizonts
durch vorbekannt Neues nicht doch Unendlichkeit? So
wie Husserl die heimweltliche Kapazität für die unbe
grenzte „Aneignung" von vorbekannt Neuem in Band XV
über weite Passagen beschreibt, könnte es so klingen,
als sei eine eigene Konstitution von Einstimmigkeit mit
der Fremdwelt gar nicht erforderlich, weil auch das
Neue der Fremdwelt nur Explikat des unvordenklich Al
ten der Heimwelt sein kann - und damit nichts wirklich
Uberraschendes. Was die Heimwelt eigentlich endlich
macht, muß dasjenige sein, wodurch das Neue an der
Fremdwelt für uns unverständlich ist und uns über
rascht.

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Das Überraschende ist das, worauf man nicht gefaßt war.
Nicht gefaßt ist man auf das, was einem nicht bloß als
unmöglich erschien, sondern was man wegen seiner Un
möglichkeit für die Interessen des Lebens gar nicht erst
in Rechnung gestellt und als irrelevant außer Betracht ge
lassen hatte (232). Das Überraschende überfällt uns so
aus einer Gegend, einer Dimension, die wir von vornher
ein lebenspraktisch abgeblendet hatten. Eine solche Ge
gend oder Dimension gibt es nun in der Tat für das
heimweltliche Bewußtsein. Es weiß - wenngleich nur
unthematisch -, daß es zur in sich unendlich explizierba
ren Umwelt der Normalität ein Außerhalb gibt. Wenn
nämlich alles Erwartbare nur Explikation sein kann,
dann besitzt die Heimwelt den Charakter eines umfas
senden Innenhorizonts. Als das „immer schon", aus un
vordenklicher Vergangenheit Vorgegebene ist die Heim
welt ein Drinnen, das Geborgenheit bietet. An dieses
vertraute Drinnen hält sich die Lebenspraxis; „das prak
tische Interesse ist im Drinnen" (431). Aber dem Drin
nen korrespondiert ein Draußen (431), der heimweltliche
Innenhorizont hat einen Außenhorizont zur Kehrseite
(219).
Weil der Innenhorizont das Drinnen umschließt und ge
gen das Draußen abgrenzt, kann Husserl die Heimwelt
mit einer Kugel vergleichen (430, 438). Der Umfang die
ser Kugel liegt allerdings - darin hinkt der Vergleich -
wegen der Relativität der Endlichkeit nicht fest. Mit ih
rer Selbstexplikation in der heimweltlichen oikeiosis setzt
die Kugel wie eine wachsende Zwiebel immer neue Scha
len (430) an, aber sie bleibt endlich, weil sie einen Au
ßenhorizont als ihr Anderes hat. Der Außenhorizont
aber ist deshalb ein Anderes, sein Inhalt also kein Expli
kat der Heimwelt, weil jedes Explikat in den Umkreis
des Erwartbaren gehört. Der Außenhorizont konstituiert

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sich demgegenüber gerade als die Dimension oder Ge
gend für das Nichterwartbare, und der Grundcharakter
der Konstitution dieser Gegend ist ihre praktische Ab
biendung.
Damit hat sich folgender Zusammenhang herausgestellt:
Letzter Grund für die Endlichkeit der Heimwelt ist ihre
Vorgegebenheit aus einer unvordenklichen generativen
Vergangenheit; denn deswegen erscheint alles Neue als
Explikat von „schon" Vorbekanntem. Eben dies aber
macht die Heimwelt zu einem Innenhorizont, einem ver
trauten Drinnen, und das heimweltliche Bewußtsein vom
Drinnen impliziert als praktisch interessiertes Bewußt
sein die Abbiendung eines irrelevanten Draußen. Durch
diese praktische Abbiendung des Außenhorizonts kon
stituiert sich das explicandum „Heimwelt" als notwendig
endlich.
Das Draußen, das Außerhalb ist der Bereich für das Auf
treten des Unerwartbaren. Als Bereich für ... muß es den
Charakter einer Dimension oder Gegend haben, die
durch das Auftreten des Unerwartbaren mit Vorkomm
nissen „besetzt" werden kann. Weil das Außerhalb aber
abgeblendet wird, bleibt es völlig unbesetzt, es wird ganz
leergelassen. Der Außenhorizont der Heimwelt ist des
halb ein Leerhorizont (216, 429) im strengsten Sinne von
„Leere". Trotzdem besitzt er eine rudimentäre Be
stimmtheit dadurch, daß er eine Dimension für Besetz
barkeit ist. Die jeder inhaltlichen Besetzung bare Dimen
sion von Besetzbarkeit ist die leere Raumzeitlichkeit
(139, 209, 216). Das praktisch abgeblendete Außerhalb
ist deshalb, wie Husserl einmal formuliert, die „Außen
raumzeitlichkeit" (429).
Die erste Begegnung mit einer Fremdwelt vollzieht sich,
indem in der bislang abgeblendeten und leergelassenen
Außenraumzeitlichkeit eine „Besetzung" (216, 232) statt

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findet. Das aber setzt eine Veränderung dieser leeren Di
mension selbst voraus. Wie mehrfach gesagt wurde, ist
jede Fremdwelt eine „Kultur". Damit ist gemeint, daß sie
als Apperzeptionssystem einen Gesamtbereich von Vor
gegebenheit überlagert, der dem apperzeptiven Auffas
sen-als unterliegt. Das Apperzipieren „besetzt", d.h.
überzieht oder durchsetzt diesen Vorgegebenheitsbereich
mit einem flexiblen Geflecht von Auffassungscharakte
ren, einer fließenden Normaltypik, ähnlich wie die erste
cultura den rohen Boden der Natur bearbeitet. Die leere
Außenraumzeitlichkeit bildet für die potentiellen apper
zeptiven Kultivierungen durch Fremdwelten die
„Natur", aber „Natur" allein als dasjenige Bestimmbare,
das sich in der Dimension der Raumzeitlichkeit er
streckt, also die reine res externa. Würde diese Natur
eine darüber hinausgehende Bestimmtheit aufweisen, so
wäre sie bereits ein Stück weit durch heimweltliche Auf
fassungscharaktere kultiviert. Damit aber wäre sie kein
völlig leerer Außenhorizont mehr. Die kulturelle Beset
zung verändert die reine raumzeitliche Natur.
Solange diese Natur als Außenhorizont gänzlich abge
blendet war, blieb sie für unbeschränkt viele Besetzun
gen offen, d.h. sie hatte den Charakter der Unendlich
keit. Die Kultivierung schränkt diese Unendlichkeit ein.
Dies kann nur so geschehen, daß aus der puren res exten
sa konkrete Natur wird, wie wir sie lebensweltlich als
„Lebensfeld" (177) erfahren: „Erdboden, Himmel,
Pflanzen, Tiere", wie Husserl einmal formuliert (177).
Um sich eine kulturelle Fremdwelt begegnen lassen zu
können, muß das heimweltliche Bewußtsein die unend
lich leere Dimension des Außerhalb einschränken (206)
auf eine endliche Gegend konkreter Natur. Erst damit
wird das Draußen durch eine bestimmte Fremdwelt mit
ihrer Endlichkeit kulturell besetzbar. Die durch Be

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schränkung der raumzeitlichen Unendlichkeit gewonne
ne Gegend konkreter Natur als Spielraum für eine be
stimmte kulturelle Besetzung nennt Husserl Territorium
(177, 206 u. ö.). Das Territorium ist also mehr als ein auf
der Landkarte abgegrenzter Bezirk; es besteht aus der
ganzen konkreten Natur in einem solchen Bezirk, wie
Husserl sie in der gerade angeführten Formulierung um
schreibt.
Nun können uns auch innerhalb unserer Heimwelt Stük
ke unkultivierter konkreter Natur begegnen, ohne daß
wir sie als Territorien für die mögliche Besetzung durch
eine fremde Kulturwelt auffassen. Sie sind für uns Leer
stellen, die uns geeignet - oder auch im Grenzfalle unge
eignet - erscheinen, um sie uns im Zuge einer weiteren
Explikation des heimweltlichen Innenhorizonts durch
Kultivierung anzueignen. Um in ihnen Territorien für
eine mögliche Fremdwelt zu erblicken, muß das heim
weltliche Bewußtsein die bereits beschriebene Erfahrung
der Unbrauchbarkeit seines ganzen normalen Apperzep
tionssystems machen. Erst in dieser Erfahrung wird das
„eigene", die zweite Primordialität „Heimwelt", mit dem
eigentlich „Fremden" zweiter Stufe konfrontiert.
Wie gelingt es nun dem heimweltlichen Bewußtsein, mit
diesem neuartig Fremden zu einer ebenso neuartigen
Einstimmigkeit zu kommen? Als Wurzel der Fremdheit
hatte sich der Abgrund zwischen den jeweils unaus
tauschbar eigenen Generativitäten herausgestellt. Auch
in der Motivationsstruktur der Intersubjektivitätskonsti
tution erster Stufe gab es ein unerreichbar Fremdes: das
absolute Hier des Leibes, worin der Andere „waltet".
Das Hier des Leibes des Anderen bleibt für mich unauf
hebbar das Dort jenes Körpers, welcher für den Anderen
sein Hier, das „Nullglied" seiner Weltorientierung bil
det. Jenes Dort kann ich nur in der Phantasie, im Be

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wußtsein „als ob ich dort wäre", nicht aber in position
ier Realität zu meinem leiblichen Hier machen. Das Wal
ten des Anderen im absoluten Hier seines eigenen Leibes
ist das für mich schlechthin Unzugängliche. Ebenso gibt
es bei der Intersubjektivitätskonstitution zweiter Stufe
ein prinzipiell Unzugängliches: die eigenen Vorfahren
der Angehörigen der Fremdwelt.
Die Überschreitung der Primordialsphäre war trotz der
Unzugänglichkeit des fremdleiblichen Hier möglich,
weil der Leib des Anderen nicht bloß Leib-für-ihn, son
dern ineins damit Körper-für-mich und damit Bestand
teil meiner primordialen Körperwelt ist. Auch zu dieser
Struktur der Intersubjektivitätskonstitution erster Stufe
gibt es eine Entsprechung in der zweiten Stufe. Die
fremde Generativität verleiblicht sich gleichsam, indem
das aus ihr erwachsende Apperzeptionssystem ein be
stimmtes Territorium kultiviert. Sofern wir die Möglich
keit haben, dieses Territorium in Abstraktion von seiner
kuturellen Besetzung als unkultivierte Natur aufzufas
sen, können wir es als einen Bestandteil unserer Heim
welt behandeln, so wie der Leibkörper des Anderen rein
als Körper zu meiner Primordialsphäre gehört. Jeder
Tourist, der die Natur einer Fremdwelt bereist, ohne
sich um die Kultur derer, die sie bewohnen, zu küm
mern, ist für diese Möglichkeit ein (freilich trauriger) Be
leg.
Für die analogisierende Apperzeption des Anderen ge
nügt es nicht, daß sich das Dort des Körpers in meiner
Primordialsphäre fiktiv, im Modus des „als ob ich dort
wäre", in mein Hier verwandelt. Damit die Konstitution
des Anderen wirklich stattfindet, brauche ich einen An
haltspunkt dafür, jenes Dort nicht bloß in der Phantasie
als absolutes Hier zu betrachten. Diesen Anhaltspunkt
bietet das bei dem Körper dort zu beobachtende „Geba

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ren". Es bestätigt in der Realität kontinuierlich die Mög
lichkeiten erwartbaren Verhaltens, die mein fiktives
„Walten" in jenem absoluten Hier vorzeichnet. Die kon
tinuierliche Deckung des realen Gebarens mit dem fiktiv
erwartbaren Verhalten läßt jenen Körper als Leib eines
anderen Ich erscheinen und bildet zugleich die Grundla
ge der Einstimmigkeit zwischen ihm und mir.3
Entsprechend braucht nun das heimweltliche Bewußt
sein einen Anhaltspunkt, einen „Kern der Bekanntheit"
(432), um ein Stück Natur real als fremdes Territorium,
d.h., als besetzt durch eine fremde Kultur zu erfahren.
Das „Gebaren" jenes Körpers dort gab auf der ersten
Stufe meiner Phantasie den Anstoß, in ihm als einem ab
soluten Hier zu walten. Ebenso muß auf der zweiten
Stufe das heimweltliche Bewußtsein im möglicherweise
fremden Territorium ein „Gebaren" antreffen, das ihm
den Anstoß gibt, darin das Walten einer aus fremder Ge
nerativität erwachsenen Normalität zu erblicken. Dabei
spielt es für den prinzipiellen Gang dieser Analyse keine
Rolle, ob jenes Gebaren unmittelbar als Verhalten von
Fremden oder mittelbar in Zeugnissen von Kultur in Er
scheinung tritt. Wesentlich ist nur, daß in dem direkt
oder indirekt erfahrenen Gebaren ein Hinweis auf Gene
rativität liegt; denn die unaufhebbare Fremdheit der Ge
nerativität macht die andere Kultur zur Fremdwelt.
Die Generativität trägt als anonymer geschichtlicher
Hintergrund die Normalität des geltenden Apperzep
tionssystems. Sie bleibt in der gegenwärtigen Geltung
dieses Systems als etwas Geschichtliches verborgen. Als
Geschichte der Generationenfolge mit den für das Nor

3 Daß Husserl sich die ursprüngliche Konstitution des Andern so


denkt, habe ich andernorts nachzuweisen versucht: vgl. Held 1972.

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malitätsbewußtsein entscheidenden Ereignissen tritt die
Generativität erst hervor, indem diese Ereignisse von
Generation zu Generation durch Erzählen (145) überlie
fert werden. Dieses den Generationswechsel überbrük
kende Erzählen ist für Husserl der Mythos (436 f., dazu
die Anmerkungen 432 ff.). Er gehört zu einer geschlosse
nen Heimwelt, weil er ihren Fortbestand als endlicher
Innenhorizont durch Bewahrung des uralten Eigenen
über Geburt und Tod hinweg sichert.
Nun ist der fremde Mythos aber - zumeist schon wegen
der Sprachbarriere - dem heimweltlichen Bewußtsein
zunächst ganz und gar unzugänglich. Wenn es also im
potentiell fremden Territorium direkt oder indirekt auf
ein Gebaren stoßen soll, das auf fremde Generativität
verweist, so kann diese Generativität zunächst nicht die
in ihrem geschichtlichen Charakter hervortretende my
thisch erzählte Generativität sein. Es muß sich um eine
Vorform der Generativität handeln, die zwei Bedingun
gen erfüllt: Ihr Geschichtscharakter bleibt noch verbor
gen, aber sie ist schon der Beginn der Verleiblichung des
fremden Apperzeptionssystems in der konkreten Natur
des fremden Territoriums.
Diese Vorform von Generativität nennt Husserl das
„Urgenerative" (432), und dieses Urgenerative gibt es:
Der Wechsel der Generationen vollzieht sich mit Geburt
und Tod, die kein „zufälliges Weltfaktum" sind (171).
Geborenwerden und Sterben sind nun aber nicht nur
Grenzstationen am Rande des Lebens, sondern melden
sich auch naturhaft innerhalb des Lebens. In allen Man
gelzuständen, die wir in unseren Bedürfnissen spüren,
droht am Ende der Tod, und in jeder Befriedigung sol
cher Bedürfnisse erleben wir ein Wiedergeborenwerden.
Das eigentlich - d. h. als Mythos erzählbare - Generative
ist in seiner Grundform der periodische Wechsel der Ge

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nerationen. Das „Urgenerative" ist der naturhafte perio
dische Wechsel von Bedürfnis und Bedürfnisbefriedigung
(432), die regelmäßige Regeneration der instinktiven Le
bensbedürfnisse (413). In seiner einförmigen Periodizität
braucht dieser urgenerative Wechsel nicht erzählt zu
werden, und wegen seines naturhaften Charakters ist er
die Weise, wie das fremde Apperzeptionssystem anhebt,
sich in der naturhaften Umwelt des Territoriums zu ver
leiblichen; vom Urgenerativen her „breitet sich Ver
ständlichkeit über die [im Territorium konkretisierte]
raumzeitliche Natur" (432). So bietet das indirekt oder
direkt erfahrene urgenerative Gebaren im fremden Terri
torium den Anhaltspunkt für die Entdeckung einer
Fremdwelt als Fremdwelt. Dieses Gebaren ist dem heim
weltlichen Bewußtsein einerseits wegen seiner Nahrhaf
tigkeit in einem „schlichten appräsentativen Verstehen"
(436) zugänglich und bildet so die Brücke zur Apperzep
tion der Fremden „als meinesgleichen" (135) und zum
Verständnis ihrer zunächst völlig unverständlichen frem
den Kultur. Andererseits enthält es als Vorform des ei
gentlich Generativen den Verweis auf eben dieses als das
niemals „anzueignende" Fremde.
In dieses eigentlich Fremde kann sich das heimweltliche
Bewußtsein nur im Modus des „als ob" hineinversetzen;
das „anschauliche Nachverstehen" der Fremde ist nur so
möglich, „als ob sie Heimat wäre" (625). So wie das leib
liche Hier des Andern nur fiktiv mein Hier sein kann, so
können wir uns an der Erzählung der Mythen der frem
den Generativität, wenn es uns gelingt, vermittels des
Urgenerativen in sie einzudringen, nur so beteiligen, „als
ob" die fremden Vorfahren auch die unsrigen wären. So
wie das primordial dortige absolute Hier nie mein abso
lutes Hier werden kann, so können wir die generative
Vergangenheit der „dortigen" Lebenswelt und ihrer

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Normalität nie als unsere Vergangenheit haben. So wie
meine Primordialsphäre sich nie die Primordialität des
Anderen von seinem Orientierungsnullpunkt aus aneig
nen kann, so bleibt der generative Orientierungsnull
punkt der fremden Kultur der Aneignung durch unsere
heimweltliche Primordialität entzogen.
Trotzdem kann die Fremdwelt annäherungsweise, in un
endlicher Approximation, verständlich werden; zunächst
im Verständnis der Urgenerativität mit ihrem Territo
rium, dann durch „historische Einfühlung" (233 Anm.)
im Nachverstehen des Mythos und der Geschichte der
fremden Kultur, schließlich im Sicheinleben in das frem
de Normalitätssystem auf der Grundlage dieser Ver
ständnishorizonte. In der Wechselseitigkeit dieser Ver
ständigung - denn aus der Perspektive der fremden
Heimwelt ist „unsere" Heimwelt die Fremdwelt - ent
steht eine neue Einstimmigkeit und damit eine gemeinsa
me Heimwelt höherer Stufe mit einer neuen gemeinsa
men Geschichte.
Es kann sein, daß es innerhalb dieser umfassenderen
Heimwelt um die Verständigung schlecht bestellt ist.
Vielleicht besteht die gemeinsame Geschichte lange Zeit
aus kaum mehr als einer einzigen Abfolge von Kriegen.
Und doch konstituiert sich auch in diesem Grenzfall
dann eine Heimwelt höherer Stufe, wenn die beiden
Grundbedingungen von Heimweltlichkeit erfüllt sind.
Erstens muß es wiederum eine Peripherie geben, an der
der Außenhorizont praktisch abgeblendet wird. Zwei
tens muß ein System übergreifender Auffassungsnorma
lität entstehen, das die Systeme der alten Heimwelten so
als Bestandteile enthält, wie schon jede dieser Heimwel
ten ihre apperzeptiven Teilsysteme - etwa die von Dör
fern oder Familiengeschlechtern - in sich einbegreifen
konnte. Im Grenzfall mögen diese Teilsysteme lange Zeit

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nur so koexistieren, daß sie sich wechselseitig unver
söhnlich als Anomalie denunzieren, und die übergreifen
de Auffassungsnormalität mag dann nur darin bestehen,
daß für den „Normalfall" geregelt ist, in welchen For
men man miteinander Krieg führt. Doch selbst dann ent
steht jenes Eigene, das eine Heimwelt als Innenhorizont
zusammenschließt: eine gemeinsame Generativität, deren
Mythos in diesem Falle hauptsächlich von den eigenen
und den feindlichen Helden jener unaufhörlichen Abfol
ge von Kriegen handeln mag.

II.

Da jede - ob friedliche oder feindliche - Öffnung von


ursprünglich einander fremden Heimwelten füreinander
den Beginn der gemeinsamen Geschichte einer Heimwelt
höherer Stufe markiert, ergibt sich an dieser Stelle eine
Signatur unseres Zeitalters. Heute ist absehbar, daß auch
der letzte Winkel abgeschiedener Heimwelt auf dieser
Erde seine Geschlossenheit verliert. So ist die „Welt
geschichte", einst eine bloße geschichtsphilosophische
Idee, zur Realität geworden. Eine neue, umfassende
Heimwelt ist im Entstehen begriffen: die der einen „tota
len ,irdischen' Menschheit" (139), der „irdischen Total
menschheit" (440), mit dem Erdball als Territorium und
einem alle heimweltlichen Normalitäten übergreifenden
Rahmen von Normalität für „jedermann" auf Erden
(233)"
Spätestens mit der unvermeidlichen Reflexion auf diese
geschichtliche Situation verliert die phänomenologische
Analyse der intersubjektiven Weltkonstitution ihren
gleichsam zeitlosen, statischen Charakter. Im Blick auf
die faktische Konstitution einer planetarischen Heimwelt

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der gesamten Menschheit muß sie die genetische Frage
stellen, durch welche Urstiftung es bewußtseinsge
schichtlich zur Erweiterung der alten heimweltlichen
Horizonte in Richtung auf das Ganze der Menschheit
und damit zu einer „einzigen Geschichte der Mensch
heit" (236) kommen konnte und ob oder wie sich diese
Urstiftung heute erfüllt.
Faktisch geschichtlich ist das planetarische Zusammen
wachsen der Menschheit unmittelbar oder mittelbar ein
Resultat des Ausgreifens der Europäer auf alle Länder
und Kontinente. Die grundlegende ideelle Vorbedingung
der realen Vergemeinschaftung der Menschheit, die sich
damit anbahnte, war die Urstiftung von Philosophie und
Wissenschaft bei den Griechen. In dieser Urstiftung war
nämlich der Gedanke einer Öffnung aller vorgegebenen
Heim weiten in Richtung auf die eine Welt der einen
Menschheit schon angelegt, weil sie dem menschlichen
Denken die Aufgabe stellte, die eine „wahre Welt", die
„Welt an sich" (215, 627) zu erkennen.
Das vorwissenschaftlich-vorphilosophische Bewußtsein
interessiert sich zwar auch schon dafür, was die Gegen
stände „an sich" sind, d. h. was jeweils das Identische ist,
das sich in seinen Erscheinungsweisen nur auf partikula
re, endliche Weise zeigt (175, 437). Aber es begnügt sich
damit, die Identität der Gegenstände ausschließlich im
Durchgang durch ihre endlichen Erscheinungsweisen zu
besitzen. Nach Husserls Interpretation vergegenständ
licht das beginnende philosophisch-wissenschaftliche Be
wußtsein bei den Griechen die bis dahin immer nur anti
zipierte Identität der Gegenstände, indem es diese Identi
tät als Polidee, als Fluchtpunkt einer Unendlichkeit von
Erscheinungsweisen auffaßt. Das philosophisch-wissen
schaftliche Bewußtsein tut damit so, als hätte es die un
endliche Menge aller möglichen Erscheinungsweisen

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durchlaufen und könnte nun vom Zielpunkt dieses
Durchlaufs her, dem Identitätspol selbst, gleichsam auf
die unendliche Mannigfaltigkeit zurück- und herabblik
ken. Diesen Schritt, mit dem das Bewußtsein die An
schaulichkeit der endlichen Erscheinungsweisen radikal
transzendiert, bezeichnet Husserl als Idealisierung (236).
Da alle Gegenstände durch den horizonthaften Verwei
sungszusammenhang ihrer Erscheinungsweisen ihren je
weiligen apperzeptiven Welthintergrund unthematisch
miterscheinen lassen, kann der identische Pol, auf den
die Idealisierungsaktivität ihre Aufmerksamkeit richtet,
letztlich nur einer sein: die eine und einzige Welt. In der
Idee der einen identischen Welt kommt dasjenige zum
Vorschein, was die Einstimmigkeit aller Erscheinungs
weisen überhaupt verbürgt. In diesem Sinne ist sie die
„an sich wahre Welt" (215). Zu erforschen, was diese
Idee impliziert, ist nach Husserl die Aufgabe, die sich
das philosophisch-wissenschaftliche Denken mit seiner
Urstiftung gestellt hat.
Die Grundlage der möglichen Einstimmigkeit von diver
gierenden Gegenstandsauffassungen ist die vorgängige
Identität des Gegenstandes, die wir durch Idealisierung
als Idee vergegenständlichen können. Indem wir die Idee
der einen Welt als Grundlage möglicher Einstimmigkeit
überhaupt auffassen, vergegenständlichen wir sie auf die
gleiche Weise. Das bedeutet aber: Die eine Welt als Idee
erscheint als ein Gegenstand, als ein „Selbiges" (210), das
sich in einer Unendlichkeit von endlichen Erscheinungs
weisen, Auffassungen, Apperzeptionen gleichsam per
spektivisch abschattet (217, 437). Zu beachten ist aber: In
diesen Erscheinungsweisen zeigt sich nun keiner der uns
vorwissenschaftlich vertrauten Einzelgegenstände, son
dern die Welt, der Horizont für diese Gegenstände.
Demnach müssen es Horizonte, Welten sein, in denen

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die Idee der einen Welt in Erscheinung tritt - „Sonder
welten", wie Husserl in der bekannten Kràzs-Beilage
XVII formuliert.
Zu diesen Sonderwelten gehören auch die Heimwelten.
Vor der Urstiftung von Philosophie und Wissenschaft
war die Einstimmigkeit zwischen ihnen nur auf eine
Weise denkbar: als der im I. Teil beschriebene Verstän
digungsprozeß, durch den sich zwei - oder jedenfalls
eine überschaubare Anzahl - bis dahin geschlossene
Heimwelten wechselseitig füreinander öffnen. Mit der
Urstiftung entsteht im Prinzip die Idee einer neuartigen
Einstimmigkeit, die solche partielle Verständigung tran
szendiert. Sie beruht auf der Einsicht, daß alle Heimwel
ten überhaupt vorab zu allen partiellen Verständigungs
prozessen bereits darin aufeinander bezogen sind, daß sie
„Erscheinungsweisen der einzigen Welt" (177) als Idee
sind. Damit aber ist in der Urstiftung die Vergemein
schaftung aller erdenklichen Heimwelten vorgezeichnet,
nämlich auf der Grundlage ihrer Zusammengehörigkeit
als „Abschattungen" der einen Welt. Das reale Zusam
menwachsen der kulturellen Sonderwelten aller vormals
getrennten „Sondermenschheiten" (217) dieser Erde ent
hüllt sich so als die faktische Einlösung einer ideellen
Vorgabe aus der griechischen Urstiftung. In jenem Zu
sammenwachsen hat „die Idee der identischen Welt sich
bewährt" (438) und sich damit als die „Wahrheit" (438)
bestätigt, auf die die Urstiftung abzielte.
In dieser Konzeption Husserls steckt eine Problematik,
die er selbst wohl gespürt hat, ohne sie deutlich zu ent
wickeln. Die Deutung der kulturellen Heimwelten als
Abschattungen der einen Welt impliziert die Vergegen
ständlichung dieser einen Welt; denn es ist das Wesen
des Gegenstandes, daß er sich als Identisches in Erschei
nungsweisen zeigt. Jene Deutung ist verführerisch, weil

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sie sich offenbar auf identische Gegenstände, die glei
chermaßen in verschiedenen Heimwelten auftreten kön
nen, leicht anwenden läßt: Dieser weiße Klumpen bei
spielsweise erscheint dem Europäer als Käse und eßbar,
dem Chinesen hingegen als verfaulte Milch und unge
nießbar. Aber die Welt ist kein Gegenstand, sondern
Horizont für die Erfahrung von Gegenständen.
Freilich kann die Welt vergegenständlicht werden. Ge
schieht dies, so erscheint sie als der niemals anschaulich
gegebene Pol, auf den wir uns beziehen, indem wir jede
erdenkliche Heimwelt, ob bekannt oder unbekannt, als
Abschattung der einzigen unendlichen Welt deuten. Als
das im Unendlichen liegende Telos dieser unendlichen
„Synthesis" aller erdenklichen Heimwelten ist die Welt
eine bloße Idee (181 ff., 207, 227, 236). Deshalb kann uns
die teleologische Vorzeichnung einer unendlichen „Syn
thesis aller Menschheiten" (140) zu einer „Allmensch
heit" (140, 668) mit der „unendlichen Natur als Territo
rium" (140, vgl. 181 Anm.) die faktische „Synthesis der
endlichen Umwelten" (209) nicht ersparen, und diese
faktische Synthesis darf man mit jener unendlichen Syn
thesis nicht verwechseln (207). Die faktische Synthesis
aber bilden die endlichen Verständigungsprozesse zwi
schen endlich wenigen Heimwelten, und das Gelingen
dieser Prozesse wird von der ganzen Faktizität des „Irdi
schen", von „Schicksal" und „Zufall" beeinflußt (181 f.
Anm.).
Weil die Idee der einzigen Welt impliziert, daß sie sich in
einer Unendlichkeit von heimweltlichen Abschattungen
zeigen kann, weist sie über das gegenwärtig zu beobach
tende faktische Zusammenwachsen der Menschheit auf
dieser Erde noch hinaus. Denn denkbar sind auch noch
Menschheiten jenseits unseres Planeten. Deshalb erfüllt
die umfassendste Vergemeinschaftung auf dieser Erde,

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die „irdische Totalmenschheit" (440), „noch nicht die
Idee der Menschheit im universalsten Sinne" (163). Diese
Idee verschafft uns, so schreibt Husserl pathetisch, „die
offene Möglichkeit weiteren Fortschreitens vermöge der
Unendlichkeit der Natur" (440). Und doch darf man
über diesem Unendlichkeitspathos nicht aus dem Blick
verlieren, daß die Idee einer unsere Erde transzendie
renden Allmenschheit mit der unendlichen Natur als Re
servoir aller erdenklichen Territorien nicht mehr ist als
eine gedankliche Extrapolation. Hier wird nur das ideale
Telos formuliert, in dessen Licht der historische Weg,
der faktisch zum Zusammenwachsen der irdischen
Menschheit geführt hat, von uns geschichtsmetaphysisch
als ein Fortschreiten auf ein im Unendlichen liegendes
Ziel hin interpretiert werden kann - als ein Fortschreiten,
das sich durch „eine fortschreitende Synthesis histori
scher Endlichkeiten" (233 Anm.) vollzieht. Die Vorstel
lung von diesem Telos ist, wie Husserl selbst gelegentlich
betont, nur ein „Denkgebilde" (227) und deshalb nicht in
konkreten interkulturellen Einstimmigkeitserfahrungen
anschaulich erlebbar. Wegen ihrer Unanschaulichkeit
bietet sie auch keine „wahre universale Weltanschauung"
(240). Anschaulich erlebbar sind nur die faktischen endli
chen Verständigungsprozesse, von denen die Rede war.
Trotzdem besitzt die Weltidee der unendlichen Synthesis
eine Faszination, die Husserl so in ihren Bann schlägt,
daß er die Endlichkeit der Verständigungsprozesse ge
genüber der Unendlichkeitsidee bedenklich vernachläs
sigt.
Der Grund für diese Faszination liegt darin, daß die Ver
gegenständlichung der unendlichen Welt als Idee für
Husserl die Grundlage der modernen Naturwissenschaft
bildet, und diese verdankt ihren überwältigenden Erfolg
dem Umstand, daß sie eben jene Vergegenständlichung

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ins Extrem treibt. Wenn wir die eine und einzige Welt
denken, die in den unendlich vielen Heimwelten er
scheint, dann geht das nicht ohne eine korrespondieren
de Idee: die Idee dessen, was sich in den Territorien all
dieser Heimwelten abschattet; denn zu jeder Heimwelt
gehört ein Territorium. Die gesuchte Idee kann nur die
Natur als res extensa in unendlicher Raumzeitlichkeit
sein; denn, wie im I. Teil erläutert, ist sie es, die in den
territorialen Einschränkungen erscheint, indem sie uns
als konkrete lebensweltliche Natur begegnet. Da jene
Natur als Idee nichts anderes ist als der Gegenstand der
modernen Naturwissenschaft, kann man sagen: Diese
Naturwissenschaft beschreibt den idealen Identitätspol
aller erdenklichen heim weltlichen Territorien - womit
u.a. gesagt ist: auch derjenigen Territorien, die mögli
cherweise außerhalb unseres Planeten liegen (163, 219,
226, 239, 440, 668).
Aber an eben dieser Stelle verführt die Naturwissen
schaft dazu, die Endlichkeit nicht ernst zu nehmen. Die
seriösen Naturwissenschaftler hüten sich, dieser Verfüh
rung nachzugeben. Doch die Science-fiction-Medien
plaudern es aus. Sie schwelgen in der Vorstellung, daß es
außerterrestrische Heimwelten auf unbekannten Territo
rien im Universum geben könnte und daß die Mensch
heit die Möglichkeit hätte, auf solche Territorien auszu
wandern. Das Spiel mit solchen Auswanderungsphanta
sien ist der unernste Widerschein der ernst zu nehmen
den Leichtfertigkeit, mit der die wissenschaftsgläubige
Moderne die Erde, das endliche Territorium der verge
meinschafteten Menschheit, behandelt hat. Was man in
dem Bewußtsein bewohnt, man sei wegen der Unend
lichkeit der Natur nicht definitiv daran gebunden,
braucht man nicht mit äußerster Sorge und Sorgfalt zu
pflegen.

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Gegen die Verführung, die im Unendlichkeitscharakter
der Welt als Idee liegt, gilt es, sich entschiedener als Hus
serl auf die Endlichkeit der Heimwelt zu besinnen. Mit
dieser Besinnung springen wir keineswegs aus der durch
die griechische Urstiftung begründeten Tradition heraus.
Im Gegenteil: Husserl unterschiebt der griechischen Ur
Stiftung bereits einen Gedanken der neuzeitlichen Wis
senschaft, wenn er unterstellt, die ursprüngliche Thema
tisierung der Welt im griechischen Denken habe den
Charakter einer Idealisierung gehabt, also einer Verge
genständlichung der Welt als einer im Unendlichen lie
genden Polidee. Im Rahmen der griechischen Urstiftung
wird die Welt, der kosmos, für ein vom Staunen getrage
nes Anschauen Thema, und als „Gegenstand" solcher
Anschauung kann die Welt nur endlich sein. Diese Kor
rektur stellt Husserls Interpretation des Anfangs von
Philosophie und Wissenschaft nicht grundsätzlich in
Frage: Indem das frühe Denken sich in einer mensch
heitsgeschichtlich neuartigen Weise für die eine Welt öff
net, stiftet es damit im Prinzip die Möglichkeit, alle
„Sonderwelten" und darunter auch alle bekannten oder
unbekannten Heimwelten durch den Rückbezug auf die
eine Welt, von der alle Sonderwelten nur Erscheinungs
weisen sind, zu „synthetisieren". Damit ist - auch ohne
die Bestimmung dieser einen Welt als unendlicher Idee -
in der Tat eine Vergemeinschaftung aller bisher isolierten
Menschheitskulturen vorgezeichnet.
Diese Vorzeichnung bedeutet nun freilich nicht, daß das
planetarische Zusammenwachsen der Menschheit, zu
dem es in der Neuzeit gekommen ist, als eine unmittel
bare Konsequenz aus der griechischen Urstiftung aufge
faßt werden dürfte. Die Entwicklung in der Neuzeit
wurde vielmehr faktisch erst dadurch möglich, daß Eu
ropa die moderne Technik, also eine ganz ungriechische

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Errungenschaft, mit ihren sozialen Begleiterscheinungen
in alle Welt exportierte. Diese Technik ihrerseits konnte
- um nun wieder Husserl zu folgen - gerade dadurch
entstehen, daß die neuzeitliche Naturwissenschaft die
eine Welt als Feld für einen unendlichen Forschungspro
zeß idealisierte. Der überwältigende Erfolg der so ent
standenen Forschung aber wurde mit einer Einstellung
zur Welt erkauft, die Husserl Objektivismus nennt. Der
Objektivismus treibt die Vergegenständlichung der Welt
ins Extrem, indem er von ihrem Horizontcharakter radi
kal absieht. Diese Neutralisierung des Horizontcharak
ters der einen Welt in der modernen Wissenschaft beruht
aber auf einer Vergessenheit derjenigen Einstellung zur
einen Welt, durch die sie bei den Griechen ursprünglich
überhaupt erst zum Thema werden konnte, und damit
auch der Endlichkeit als griechischer Grundbestimmung
der Welt. Wenn Husserl die objektivistische Ideali
sierung der einen Welt, ihre Auffassung als unendliche
Polidee, bereits in der griechischen Urstiftung beginnen
läßt, dann steht er selbst noch im Bann des Objektivis
mus.4

Das planetarische Zusammenwachsen der Menschheit im


technischen Zeitalter ist mit der Hypothek belastet, daß
es faktisch erst durch die Herrschaft einer Einstellung
zustande kommen konnte, worin die für die griechische
Urstiftung konstitutive Endlichkeit der Welt in Verges
senheit geraten war. Wegen dieser Vergessenheit droht
bei der heutigen Vergemeinschaftung der Menschheit die
Endlichkeit als traditionsbestimmte Eigenart der Heim
welten in einer weltweiten Uniformität technikbestimm

4 Diese Kritik an Husserls Griechendeutung und die im folgenden dar


aus gezogene Konsequenz einer Besinnung auf die Endlichkeit der
Welt habe ich genauer begründet und ausgeführt: vgl. Held 1989 a.

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ter Lebensorganisation unterzugehen.5 Dieser Gefahr
kann eine philosophische Besinnung entgegenwirken, die
daran erinnert, daß die grundlegende ideelle Vorbedin
gung jener Vergemeinschaftung, die griechische Urstif
tung, gerade auf einer Einstellung beruhte, in der die
Welt als endlich erschien. Die Phänomenologie bedeutet
keine restaurative Rückkehr zu dieser Einstellung, wohl
aber ihre Erneuerung unter den Bedingungen der Mo
derne. Den Ansatz dafür bietet der Husserlsche Gedan
ke, daß die Idee einer unendlich sich abschattenden einen
Welt, das Telos des modernen Forschungsprozesses, von
sich her eine komplementäre Einsicht fordert. Diese Ein
sicht besagt, daß die „Abschattungen", die Erschei
nungsweisen der einen Welt als Welt, nur endliche Son
derwelten sein können. Deshalb muß die eine Welt der
vergemeinschafteten Menschheit konkret jeweils als eine
kulturelle Heimwelt neben anderen erscheinen.
Wie im I. Teil gezeigt, liegt es an der praktischen Ab
biendung des Außenhorizonts, daß eine Heimwelt end
lich ist. Der Außenhorizont ist die offene Dimension für
mögliche fremde Territorien. Mit der praktischen Ab
biendung dieses Horizonts verzichtet das geschlossene
heimweltliche Bewußtsein von vornherein darauf, jene
Territorien in den Gesichtskreis seiner praktischen Inter
essen einzubeziehen. Es handelt sich hier um einen Ver
zicht, der allen bewußten Verzichtleistungen voraufliegt,
ein seiner selbst nicht bewußtes Absehen-von, das nicht
weiß, wovon es konkret absieht, und sich nur dessen si
cher ist, daß es sich auf das generativ gewachsene Eigene

5 Warum eine planetarisch durch die objektivistische Wissenschaft und


ihre Ableger uniformierte Welt nur eine pervertierte Gestalt von Heim
welt sein könnte, habe ich eingehender dargestellt: Held 1989 b.

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beschränken will und nicht bereit ist, sich auf das, was
jenseits seiner liegen könnte, das für alle lebensweltlichen
Interessen unbestimmt Irrelevante, einzulassen.
Inzwischen treten auch die letzten Residuen geschlosse
ner Heimwelt auf dieser Erde in Bekanntschaft mit den
außerhalb ihrer gelegenen Territorien und ihren kulturel
len Besetzungen. Der Verzicht, durch den sich die ur
sprünglich geschlossenen Heimwelten als endlich konsti
tuiert hatten, ist damit unwiederbringlich außer Kraft ge
setzt, die Introvertiertheit der heimweltlichen Innenhori
zonte ist definitiv aufgehoben. Das ändert nichts daran,
daß für die Endlichkeit der Heimwelt ein lebensprakti
sches Absehen-von und in diesem Sinne eine Selbstbe
schränkung konstitutiv ist. Eine solche Selbstbeschrän
kung kann heute im Unterschied zur früheren, naiven
Abbiendung des kulturellen Außenhorizonts nur ein be
wußter Verzicht sein, ein Verzicht, der nach der Aufhe
bung der ursprünglichen heimweltlichen Introvertiert
heit weiß, worauf er verzichtet. Der naive Verzicht war
eine Ausblendung der „draußen" antreffbaren Territo
rien aus dem eigenen praktischen Interessenhorizont.
Das praktische Interesse in bezug auf ein Territorium als
Territorium kann nur darin liegen, es durch Kultivierung
mit der heim weltlichen Normalität zu besetzen. Demge
mäß kann ein neuer, in der Bekanntschaft mit fremd
weltlichen Territorien bewußt vollzogener Verzicht nur
darin bestehen, jedes Interesse an der eigenkulturellen
Besetzung fremden Territoriums fallenzulassen.
Ein fremdes Territorium läßt sich auf gewaltsame oder
sanfte Weise mit dem eigenen System apperzeptiver
Normalität besetzen: Man kann die dort lebende Bevöl
kerung vernichten oder ihr mit physischer Gewalt die
Gewohnheiten aus ihrer Generativität austreiben und sie
so der eigenen Kultur unterwerfen. Man kann die fremde

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Kultur aber auch geistig so lange unterwandern, bis sie
ihr Eigenes zugunsten der dominierenden Kultur verges
sen hat. Alle diese Varianten sind aus der Geschichte
sattsam bekannt. Ein neuer praktischer Verzicht in bezug
auf fremde Territorien kann nur in dem habitualisierten
Entschluß bestehen, keine der genannten Möglichkeiten
wahrzunehmen. Ein solcher Verzicht ist um der Endlich
keit der Heimwelt willen gefordert; denn für sie ist die
besagte praktische Abbiendung konstitutiv. So hat die
phänomenologische Besinnung auf die Endlichkeit der
einen Welt eine politische Konsequenz. Sie verlangt, daß
alle Heimwelten niederer oder höherer Stufe der zusam
menwachsenden Menschheit, seien dies einzelne Völker
oder Völkergruppen wie „Europa" oder „die islamische
Welt", dem Interesse abschwören, andere Territorien auf
irgendeine Weise kulturell zu „besetzen". Das wäre die
eigentliche Grundlage des Friedens, nach dem sich die
Menschen heute so sehnen wie eh und je.
Der geforderte neue praktische Verzicht hat aber noch
einen weiteren Aspekt. Das Territorium der zusammen
wachsenden Menschheit ist die Erde. Im - zwar nicht
mehr ungebrochenen, aber doch weiterbestehenden -
Vertrauen auf die Erschließungskraft der modernen Na
turwissenschaft richtet die planetarische Menschheit ih
ren Blick über die Grenzen des Territoriums Erde hin
aus. In dieser Beziehung ist eine Variante der genannten
Selbstbeschränkung möglich: Sie besteht darin, mit Ent
schlossenheit zu akzeptieren, daß es gilt, sich ohne au
ßerterrestrischen Auswanderungsvorbehalt auf dem Ter
ritorium Erde einzurichten und das territoriale Interesse
der Gesamtmenschheit auf den pfleglichen Umgang mit
der konkreten Natur dieses Territoriums zu konzentrie
ren. Es ist anzumerken, daß dieser Verzicht eine prakti
sche Selbstbeschränkung ist. Er impliziert also nicht den

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Verzicht auf die theoretische Erforschung des „Weltalls"
mit den Mitteln der Astrophysik; ein solcher Verzicht
käme einer Aufhebung der Urstiftung-von-Wissenschaft
selbst gleich.
In den Texten seiner Spätzeit hat Husserl mehrfach be
tont vom Primat der Erde gesprochen (vgl. etwa 667f.).
In einem Manuskript vom Mai 1934 beschreibt er die
Erde mit dem biblischen Bild der Arche.6 Der Aufenthalt
in der Arche gibt uns Menschen den festen Halt, den wir
als das Ruhen des Erdbodens erleben, der uns lebens
weltlich trägt. Die biblische Arche ist ein Hausboot. Als
Haus, als oikos kann es Sinnbild für das lebensweltliche
Heim sein. Aber das Haus ist zugleich Boot. Es
schwimmt in der unendlichen Raumzeitlichkeit des Uni
versums. Die unabsehbare Flut, welche die biblische Ar
che umgibt, ist das Unheimische, aber auch Unheimli
che, vor dem man sich hüten muß. Die unbestimmte
Angst vor diesem Unheimlichen ist eine Weise archaisch
introvertierter Abbiendung des Außenhorizonts. Mit
dem Okular der modernen Naturwissenschaft späht der
moderne Mensch vielmehr wie Noah in die unheimische
Unendlichkeit hinaus und versucht so, ihr Lebenspen
dendes abzugewinnen oder sich gegen ihr Bedrohliches
zu wappnen. Noah allerdings hielt Ausschau nach Inseln
in der Flut, um die Arche wieder verlassen zu können.
An dieser Stelle kann die Besinnung auf die endliche Le
benswelt dem biblischen Mythos nicht mehr folgen.

6 Es handelt sich um das Manuskript mit der Archiv-Signatur D 17,


das zuerst in Philosophical Essays. In memory of Edmund Husserl,
hrsg. von M. Farber 1940, veröffentlicht wurde (Reprint New York:
Greenwood Press Publishers 1968).

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Literaturverzeichnis

Held, Klaus: Das Problem der Intersubjektivität und die Idee


einer phänomenologischen Transzendentalphilosophie, in:
U. Claesges und K. Held (Hrsg.): Perspektiven Transzen
dentalphänomenologischer Forschung. Ludwig Landgrebe
zum 70. Geburtstag (Phaenomenologica 49), Den Haag
1972,3-60.
-: Husserl und die Griechen, in: Phänomenologische For
schungen 22, Freiburg/München 1989 a, 137-176.
-: Husserls These von der Europäisierung der Menschheit, in:
Phänomenologie im Widerstreit, hrsg. von Chr. Jamme und
O. Pöggeler, Frankfurt a. M. 1989b, 13-39.

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