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DIE KONSTITUTION DER BEGRIFFE

NICHTS UND SEIN DURCH PARMENIDES


von Joachim Klowski, Hamburg

Was ich unter einer Konstitution, genauer: einer Konstitution ontologisAer


Begriffe verstehe, läßt sich recht gut umreißen, wenn ich zunächst die Ge-
danken von E. Stenius skizziere, die er bei der Erörterung von Wittgensteins
logischen Sätzen entwickeltl.
Unter logischen Sätzen versteht Wittgenstein bekanntlich tautologische Sätze.
Als solche, so folgert Wittgenstein, sagen sie alle dasselbe aus, nämlich nichts. Die-
sen Schluß hält Stenius mit Recht einerseits für zwingend, andererseits für ab-
surd; denn aus dem Begriff der Tautologie folgt, daß sie nichts aussagen, hinge-
gen haben verschiedene Tautologien, also etwa die Sätze: ,Es regnet oder es regnet
nicht* und ,Wenn es regnet, regnet es', doch einen verschiedenen ,Sinn', sagen
also nicht dasselbe aus. Daher gelangt Stenius zu dem Ergebnis, daß die obigen
Sätze zwar nichts über das Wetter aussagen und insofern keinen deskriptiven In-
halt haben, daß ihnen jedoch eine ,modale Bedeutung* zukommt. Die tautologi-
schen Sätze lenken die Aufmerksamkeit des Zuhörers nicht auf äußere, sondern
auf logische Tatsachen, und die Logiker können durch die Bildung verschiedener
tautologischer Sätze mit verschiedenen modalen Bedeutungen über die interne
Struktur der Wirklichkeit informieren.
Geht ein Logiker in der Weise vor, wie Stenius es vorschlägt, so konstituiert
er mit Hilfe des alltäglichen Sprachmaterials einen neuen Bereich, nämlich den der
Logik, indem er das alltägliche Sprachmaterial anders verwendet, als es im Alltag
verwandt wird, nämlich zur Konstruktion von Tautologien.
Ähnlich ist, wie im folgenden gezeigt werden soll, Parmenides vorgegangen;
nur mit dem Unterschied, daß es sich — ungeachtet dessen, daß dies vielfach be-
hauptet wird — bei ihm nicht um Tautologien handelt und er primär nicht den
logischen, sondern den ontologischen Bereich konstituiert.
Wollen wir genau eruieren, wie Parmenides vorgegangen ist und was er kon-
stituiert hat, so dürfen wir uns nicht von den uns geläufigen Begriffen des Nichts
und des Seins und den damit verbundenen Denkgewohnheiten bestimmen las-
sen; vielmehr muß als Ausgangsbasis das vorparmenideische Sprachmaterial dienen,
von dem Parmenides ausging, um es anders als üblich zu verwenden und somit
einen neuen Bereich, nämlich die Ontologie zu konstituieren.
1
Wittgensteins Traktat, Frankfurt am Main 1969, S. 274 ff.

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Kommen wir zur eigentlichen Argumentation, so wollen wir von den Ver-
sen ausgehen, mit denen Parmenides seine Lehre beginnt und zugleich auch fun-
diert:
B 2, l ει δ* αγ' έγών έρέω, κόμισαι δε συ μΰδον άκουσας,
αϊπερ οδοί μοΰναι διζήσιός εϊσι νοήσαι·
ή μεν όπως εστίν τε και ως ουκ εστί μη είναι,
Πειθούς εστί κέλευΟος (Άληοείη γαρ όπηδει),
5 ή δ' ως ουκ εστίν τε και ως χρεών εστί μη είναι,
την δη τοι φράζω παναπευϋέα εμμεν όταρπόν
ούτε γαρ αν γνοίης το γε μη έόν (ου γαρ άνυστόν)
ούτε φράσαις.
Beginnen wir der besseren bersicht halber mit einer ganz allgemeinen Cha-
rakterisierung, so darf man wohl sagen, da es den Interpreten dieses Fragments,
die bersehen, da in diesem Fragment Begriffe konstituiert werden, mit ihm
so ergeht wie mit einem Elementarteilchen, das der Heisenbergsdien Unsicherheits-
relation unterliegt: Bestimmt man einen Aspekt des Fragmentes genau, so darf
man den komplement ren anderen Aspekt nicht bestimmen wollen, und umgekehrt.
Akzeptiert man, da es sich um eine Argumentation handelt, so mu man —
h lt man an der bisherigen Grundkonzeption fest — einen Weg finden, um dem
εστίν in Vers 3 ein anderes Subjekt als το έόν zuschreiben zu k nnen. Denn
man-kann nicht anerkennen wollen, da Vers 3 die tautologische Aussage: ,Das
Sein ist* enthalte, da man in diesem Falle einer Tautologie eine Begr ndung zu-
schriebe.
So meint etwa G. E. L. O wen: <cDiels understood το έόν s the subject ...
But there is a conclusive reason why the subject will not do. The reason is that
it turns the εστίν into a mere tautology and the ουκ εστίν correspondingly
into a flat contradiction, whereas Parmenides thinks it necessary to argue for
εστίν and against ουκ εστίν." Owen sucht dann nach einem anderen
Subjekt, und zwar obwohl er wei , da Diels letztlich recht hat: "... first this
general point must be guarded against misunderstanding. No one will deny that,
s the argument goes, το έόν is a correct description of the subject" 2.
Geht man hingegen davon aus, da vom Sinn her kein anderes Subjekt als
το έόν m glich ist, so ist es einem — h lt man an der bisherigen Grundkonzep-
tion fest — verwehrt, gleichzeitig zu akzeptieren, da die Verse 3 und 5 begr n-
det werden, weil man sonst wiederum Tautologien Begr ndungen beilegte.
So meint etwa L. Taran in seinem Kommentar zu diesem Fragment: "It has
been asserted ... that Parmenides bad to demonstrate what he states in fr. II

1
Eleatlc Questions, CL Quarterly 10, 1960, 90. Die verschiedensten Parmenidesinter-
pretationen sind bereits von mir Ardi. f. d. Gesch. d. Philosoph. 49, 1967, 126 ff. dis-
kutiert worden. Um mich nicht zu wiederholen, zitiere ich daher nach M glichkeit nur
Arbeiten, die entweder erst nadi dem Absdilu des obigen Aufsatzes erschienen sind
oder die ich damals bersehen habe.

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3 and 5" s. Dann versucht er — offensichtlich, weil nicht sein kann, was nicht sein
darf — zu zeigen, da ein Beweis f r diese beiden Zeilen nicht erforderlich sei,
ohne im geringsten zu ber cksichtigen, da Parmenides, wie man u. a. deutlich
dem γαρ am Anfang von Vers 7 entnehmen kann, seine Ausf hrungen be-
gr ndet.
Erstrebt man aus diesem Dilemma einen Ausweg dadurch, da man eine ver-
mittelnde Position einnimmt, da man, um im Bilde zu bleiben, sowohl den Im-
puls als auch den Ort des Teilchens zu ermitteln sucht, so wird alles unscharf
und man erh lt berhaupt kein Ergebnis. Dies zeigt zum Beispiel W. K. C. Guthries
Behandlung dieses Fragments. Er meint n mlich einerseits: "... here in fr. 2 it
seems too much to say that ,It is* is proved or argued for". Wenn jedoch anderer-
seits Gorgias ,bewiesen* habe, da Nichtsein sei, "then sureley at the same stage
of thought, or slightly earlier, it could seem both possible and necessary to
argue the tautology" 4.
Kommen wir nach dieser bersicht zu den Einzelheiten, so sei zun chst das
Problem der Argumentation diskutiert. Denn l t sich auch auf den ersten Blick
erkennen, da 2,5 durch 2,7 f. begr ndet wird, so erschlie t sich der Argumen-
tationszusammenhang im ganzen nicht sofort. Daher ist es auch erst vor kurzem
gelungen, das Problem im Prinzip zu l sen; denn erst J. Mansfeld hat gesehen,
da das Fragment einen disjunktiven Syllogismus enth lt5.
Da sich in B 2 eine zusammenh ngende Argumentation findet, ergibt sich aus
μοΰναι ... εισι νοήσαι (2,2) und der folgenden Gliederung ή μεν ... ή δ*
(2,3 und 5). Nimmt man n mlich an, Parmenides argumentiere in diesem
Fragment berhaupt nicht, sondern die Aussagen in 2,3 und 5 galten ihm als
selbstevident richtig bzw. falsch, so bleiben die W rter μοΰναι ... είσι νοήσαι
und die folgende Gliederung ganz unverst ndlich. Denn als selbstevidente Aus-
sagen m ten sie f r sich stehen, d. h. μοΰναι ... είσι νοήσαι und ή μεν ... ή δ9
m ten fehlen. Der Ausweg n mlich, da es sich um eine einfache Auf-
z hlung handelt, da also Parmenides der bersicht halber die ,Wege' aufz hlen
wollte, die er im folgenden zu diskutieren gedachte, ist versperrt. In diesem Falle
h tte er auch den sogenannten dritten Weg erw hnen m ssen. Auf diesen kommt
Pannenides jedoch erst B 6,4 zu sprechen, und zwar in einer Weise, da man
schlie en mu , er werde hier zum ersten Male eingef hrt."
Da die Argumentation jedoch die Form eines disjunktiven Syllogismus hat,
darauf weist folgendes: Parmenides' Auffassung gem ist der ,Weg' des ουκ εστίν
in keiner Weise denkbar. In v lligem Gegensatz dazu behauptet er B 2,2, da
dieser ,Weg* denkbar, ja, da er zusammen mit dem ,Weg' des εστίν allein
denkbar sei. Hiermit mu Parmenides folglich etwas Besonderes haben sagen,
etwas Besonderes haben bezwecken wollen. Der Zweck kann jedoch nur darin be-
standen haben, eine solche Argumentation zu beginnen, die wir Sp teren als
8
Parmenides, Princeton 1965, S. 38. Hervorhebung von mir.
4
A History of Greek Philosophy, Bd. 2, Cambridge 1965, S. 16 f.
5
Die Offenbarung des Parmenides und die menschliche Welt, Assen 1964, 45 ff.

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disjunktiven Syllogismus bezeichnen. Wenn es nämlich in einem solchen Zu-
sammenhang heißt: ,Zu denken allein A und B', so bedeutet das nicht, daß A und
B auch /wirklich' zu denken sind. Denn die Fortsetzung des Syllogismus kann
ja etwa lauten: ,Nicht zu denken ist B', also: ,Nur A ist zu denken3.
Durchmustern wir die Argumentation etwas genauer, so läßt sie sich wie
folgt skizzieren:
Zu denken nur der erste und der zweite ,Weg' (2,2)
Der erste ,Weg' (2,3)
Der erste ,Weg' ist wahr (2,4)
Der zweite ,Weg', der kontradiktorisdie Gegensatz des ersten (2,5)
Der zweite ,Weg' ist falsch (2,6 ff.).
Sieht man von der übereilten Versicherung, daß der erste ,Weg* der wahre sei,
ab und hält es dem pädagogischen Übereifer zugute, daß mit dieser Fest-
stellung nicht bis zum Schluß gewartet wurde, so haben wir einen regelrechten mo-
dus tollendo ponens vor unse.
Wie eingangs erwähnt, bildet die Grundlage der Konstitution die Umgangs-
sprache. Von dieser interessiert in unserem Zusammenhang vor allem ein Wort,
nämlich das Verb . Die Grundbedeutung dieses Verbs entspricht, wie ich zu
7
zeigen versucht habe , den deutschen Verben »vorhanden sein, sich befinden* in
ihrer ursprünglichen lokativen Bedeutung als ,vor-den-Händen-sein* und ,irgend-
wo-gefunden-werden*. Dieser Tatbestand ist keineswegs ungewöhnlich, vielmehr
reiht sich damit das Griechische in die große Gruppe der Sprachen, deren Verben
für ,sein, existieren* ursprünglich eine lokative Bedeutung hatten: "In considering
what one may loosely call the expression for existence in a number of non-Indo-
European languages ... I was struck by the fact that many (though not all)
such expressions involve some allusions to place or location"8. Ähnlich verhält
es sich, wie Kahn betont, bei den indogermanischen Sprachen, und zwar nicht
nur beispielsweise beim Englischen, Italienischen, Deutschen, Russischen und
Lateinischen, sondern auch beim Griechischen. Bezeichnet er so auch die lokative
Bedeutung des griechischen Verbs "äs a distinct and fundamental use of
c
to be*", so gilt es ihm doch nur als eine von zweien und nicht als die Grund-
bedeutung.
Ich vermag zwar Kahn in diesem Punkte nicht zuzustimmen, möchte diese
Frage aber hier ganz auf sich beruhen lassen, da sie unsere augenblickliche Argu-
mentation nicht tangiert; denn sdion bei Homer finden sich Verbindungen mit
Formen von , die sich so weit von der Grundbedeutung gelöst haben, daß
man ihnen eine besondere Bedeutung zuerkennen muß. So läßt sich z. B.
c. inf. sehr oft nicht mehr auf die Grundbedeutung zurückführen, und man muß
Zu den Einzelheiten vgL meinen Aufsatz, Das Entstehen der logischen Argumentation,
Rh. Mus. 113, 1970.
* Ardi. f. G. d. Ph. 49, 1967,136 ff.
8
Ch, H. Kahn, The Greek Verb ,To Be* and the Concept of Being, Foundations
of Language 2, 1966, 257.

407
daher schon f r die Zeit Homers ,ist m glich' als selbst ndige Bedeutung von
Εστίν gelten lassen. Folglich ist, selbst wenn es uns gegen Kahn nachzuweisen
gelingt, da ,vorhanden sein, sich befinden* die einzige Grundbedeutung sei, damit
noch nicht gezeigt, da Parmenides auch von der Grundbedeutung ausgegangen ist.
Denn die sprachlichen Vor berlegungen verm gen lediglich die Hypothese zu
liefern, die sich dann in der Interpretation zu bew hren hat. Diese M glichkeit
wird dadurch, da Kahn die lokative Bedeutung nicht f r die einzige Grundbedeu-
tung, sondern f r eine von zweien h lt, nicht im mindesten beschnitten.
Bevor wir zu Parmenides zur ckkehren, seien zwei Beispiele f r eine Form
dieses Verbs zitiert, der besondere Bedeutung zukommt, n mlich τα έόντα. Die-
se Form, die sich in mehreren Fragmenten der Vorsokrariker findet, ist auch schon
bei Homer anzutreffen, und zwar //. 1,70. Dort wird von dem Seher Kalchas ge-
sprochen, δς ζδη τα τ* έόντα τα τ* έσσδμενα προ τ* έόντα, „der das Vorhandene,
das, was vorhanden sein wird, und das, was fr her vorhanden war, kannte".
W hrend also die gew hnlichen Menschen allenfalls das kennen, was jetzt vorhan-
den ist und was vorhanden war, kennt Kalchas auch das, was vorhanden sein
wird. Sind bei Homer unter dem Vorhandenen vor allem Sachverhalte und
Sachlagen, also etwa Kriegssituationen, Heimsuchungen durch Seuchen u. a., zu
verstehen, so meint etwa Heraklit mit dem Vorhandenen die Dinge. In De sensu
5, 443 a 23 f hrt n mlich Aristoteles folgenden Satz als Beleg daf r an, da Hera-
klit die Ansicht vertrat, Rauch — und nicht feuchte Ausd nstungen — sei die
Ursache des Geruchs: ει πάντα τα οντά καπνός γένοιτο, φίνες αν διαγνοΐεν (Β 7).
„W rden alle Dinge zu Rauch, so w rde man sie mit der Nase unterscheiden
k nnen." /
Wie bereits angedeutet, enthalten das entscheidende Argument die Verse 2,7 f..
Von ihnen wollen wir daher ausgehen, um schrittweise das ganze Fragment zu
erschlie en: .

ούτε γαρ δν γνοίης το γε μη έόν (ου γαρ άνυστόν)


ούτε φράσαις.
„denn das Nichtvorhandene9 k nntest du weder erkennen (ου γαρ άνυστόν)
noch beschreiben*°".
9
W. Br dker, Die Geschichte der Philosophie vor Sokrates, Frankfurt a. M. 1965,
meint S. 57, das το beziehe sich nicht auf μη έόν, sondern entspredie emem τούτο.
In dem uns berlieferten Text gibt es jedoch kein Beziehungswort, das von τούτο
aufgenommen werden k nnte; denn auf το έδν kann es sich nur dann beziehen, wenn
man mit Br cker meint, es sei am Anfang von B 2 eine Zeile ausgefallen, in der sich
dieser Ausdruck befunden haben m sse.
10
Zu φράζω vgL Arch. f. G. d. Ph. 49, 1967, 226. A. P. D. Mourelatos, φράζω
and its Derivatives in Parmenides, Cl. Philology 60, 1965, 262, bersetzt: "nor could
you point the way to it". Da . φράζειν to point hei en kann, ist richtig; dennoch
sdieint es deswegen — audi wenn das Bild des Weges in diesem Kontext von eminen-
ter Bedeutung ist — nodi nidit bereditigt, ,the way to it' einfach hinzuzusetzen. Ebenso
wenig besteht m. E. ein Anla , φράζω in dem Vers davor nicht wie bisher blich mit
,ich sage, ich verk nde* wiederzugeben.

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Jeder, der Parmenides' .Werk auch nur etwas kennt, wei , da Parmenides
mit obiger Aussage meint, das μη έόν sei schlednihin nicht erkenn- und beschreib-
bar11 und es d rfe demgem von ihm nicht einmal ausgesagt werden, da es
war, da es existiert bat. Folglich hat Parmenides in und durch obigen Satz einen
neuen Begriff konstituiert; denn das Nichtvorhandene, so wie es etwa Homer
versteht, ist erkennbar, von ihm lassen sich Aussagen machen. Kalchas kennt ja
das Nichtvorhandene, d. h. das, was bezogen auf den Zeitpunkt, den Homer imagi-
niert, f r Kalchas noch nicht bzw. nicht mehr vorhanden ist. Das gilt indes nicht
nur f r Kalchas, weil er ein Seher war; vielmehr kann jeder ber etwas, das
lediglich zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort nicht vorhanden ist,
Aussagen machen, zumindest die, da es zu einer bestimmten Zeit an einem
bestimmten Ort vorhanden war. Scheint es angemessen, ein so aufgefa tes Nicht-
vorhandenes ein relativ Nichtvorhandenes zu nennen, so d rfte Parmenides' Be-
griff treffend als das absolut Nichtvorhandene bezeichnet werden. Da Parmenides
sich au erdem mit den Ausdr cken το μηδέν (Β 8,10) oder μηδέν (Β 6,2) auf es
bezieht, kann man auch von ihm als dem Nichts sprechen. Um sich jedoch durch
diese Bezeichnung nicht den Zugang zu den Gedanken des Parmenides versperren
zu lassen, mu man sich bewu t sein, da — wie noch gezeigt wird — mit dem
Begriff des Nichts im allgemeinen Vorstellungen verbunden werden, die ver-
schieden sind von denen, die Parmenides mit dem μη έόν verband.
Uminterpretiert ist von dem eben zitierten griechischen Satz noch der Einschub:
ου γαρ άνυστόν. Zu diesem meint Mourelatos: "When the goddess says
ου γαρ άνυστόν she means, quite literally, that το γε μη έόν is out of reach";
dementsprechend lautet seine bersetzung: "for there is no getting to it" (S. 262).
Wird Mourelatos' Interpretation im ganzen m. E. auch zu sehr von dem Gedanken
bestimmt, da die G ttin einem Reisenden Informationen ber den Weg (road
instructions) gebe (vgl. Anm. 10), so treffen seine obigen Feststellungen ins
Schwarze; denn in dem Vers davor, also in 2,6, hei t es, da dieser Weg ganz
und gar unerkundbar (παναπευθέα) sei, da es also keinen Weg zum ab-
solut Nichtvorhandenen, genauer: zur Erkenntnis des absolut Nichtvorhandenen
gebe.
Um die Eigenart von Parmenides* μη έόν etwas genauer zu erfassen, seien kurz
drei M glichkeiten, wie man das Sein aufheben und so zu dem Begriff des Nichts
kommen k nnte, skizziert:
Versteht man das Seiende kollektiv und meint damit das Seiende als Ganzes,
so mu das Nichts als totale Negation dieses Seienden gleichsam eine unendliche
Leere darstellen — vorausgesetzt, diese gedankliche Aufhebung l t sich durch-
f hren 12.

11
Genau m te es nat rlidi hei en, da sich vom μη έόν keine Aussagen m chen
lassen, abgesehen von soldien, die mit der Aussage, da es nidit erkenn- und besdireib-
bar sei, quivalent sind.
12
E. Fink, Alles und Nichts, Den Haag 1959, bestreitet dies S. 195. Anders dagegen
W. Br dcer, Philos, Rundschau 8, 1960, 67 f.

409
Meint dagegen das Seiende in distributivem Sinne jedes Seiende, so bliebe nach
der Aufhebung des so verstandenen Seienden ein Seinsfeld brig, das man dann
in einem zweiten Schritt versuchen m te zu nichten.
Schlie lich kann man unter einem Seienden auch einen beliebigen Gegenstand
verstehen und zuerst diesen in Gedanken aufheben, um dann zu versudien, in
gleicher Weise mit der Umgebung des Gegenstandes zu verfahren.
Alle diese Konzeptionen sind grundverschieden von der des Parmenides. Ein-
mal findet sich bei Parmenides nichts, was berechtigt, das μη έόν als das Leere
zu verstehen13. Vor allem aber versto en sie gegen Parmenides* Grundprinzip.
In allen drei F llen ist das Nichtsein aus dem Sein »hervorgegangen', in allen drei
F llen kann gesagt werden, da das Nichtsein einmal war. Parmenides hat indes
dies Prinzip nicht nur aufgestellt, sondern sich auch danach gerichtet14. Denn das
absolut Nichtvorhandene kann nicht als eine Aufhebung des absolut Vorhandenen
angesprochen werden. Mit Parmenides' μη έόν ist n mlich berhaupt keine Vor-
stellung zu verbinden, auch nicht in dem Sinne, da man die Vorstellung nur als
den Leitfaden benutzt f r die gedanklichen Aufhebungen, die zur Konzeption des
Nichts f hren. Auf Parmenides' Nichts beziehen sich vielmehr lediglich Aussagen,
und zwar die Aussagen, die mit der Aussage, da es nicht erkenn- und besAreib-
bar sei, da kein ,Weg' zu ihm f hre, quivalent sind. Diese Aussagen lassen sich je-
doch, ohne die geringste Kenntnis von Parmenides' έόν zu haben, sowohl for-
mulieren als auch verstehen. Sie setzen lediglich die Kenntnis der damaligen
griechischen Spradie und damit speziell der Bedeutungen der Formen von είναι
voraus.
Die Verstellungen, die durch das Weiterdenken der Begriffe το έόν und
το μη έόν w hrend der langen Denktradition entstanden sind, die uns mit
Parmenides sowohl verbindet als auch uns von ihm trennt, sind, wie idi glaube,
jetzt so weit ausger umt, der Weg ist jetzt so weit frei, da wir mit der Interpre-
tation des ganzen Fragmentes von Anfang an beginnen k nnen.
Nach der Aufforderung zur Aufmerksamkeit stellt Parmenides — genauer: die
G ttin — fest, da prinzipiell nur zwei Wege der Forschung denkbar seien. Dies
scheint plausibel15; denn es sind dies die Wege des ,ist vorhanden' und des ,ist
nicht vorhanden'. Dinge sind jedoch entweder vorhanden oder nicht vorhanden,
eine dritte M glichkeit gibt es nicht.
Der erste Weg wird wie folgt eingef hrt: ή μεν όπως εστίν τε και ως ουκ εστί
μη είναι. Die oft in spekulativer Form diskutierte Frage, ob εστίν (sc. das erste)
13
„Del κενόν manca in Parmenide e il termine e l'idea", G. Calogero, Parmenide e
la genesi della logica classica, S. 173 Anm. l, in: Ann. d. Scuola Norm. Sup. di Pisa.
S. II, 5, Bologna 1936.
14
Fraglich scheint, ob Parmenides das entsprechende Prinzip in umgekehrter Richtung
beachtet hat, da er zuerst das μη έόν (2,7) und dann das έόν (6,1) konstituiert. Recht
wahrscheinlich ist jedoch, da es sich nicht wirklidi um eine sachliche Abh ngigkeit, son-
dern um die Notwendigkeit handelt, der jede Darlegung unterliegt, n mlich da sie
das eine zeitlich fr her erw hnen mu als das andere.
15
Zum Problem des sogenannten dritten Weges vgl. S. 414 f.

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eine Kopula sei oder nicht, scheint mir ohne Sinn, da dies eine syntaktische und
nicht eine semantische Frage ist. Daher läßt sie sich nur durch Hinsehen, nicht
durch komplizierte Spekulationen entscheiden. Diese vermögen nämlich an der
Tatsache, daß kein Prädikatsnomen vorhanden ist, nichts zu ändern. Denn auch
wenn Parmenides* Sprachgebrauch vom alltäglichen abweicht, so kann, da
einzig und allein durch das Prädikatsnomen zur Kopula wird, er dennoch nicht
erwarten, daß man in einem ohne Prädikatsnomen eine Kopula sieht.
Die Frage nach dem Subjekt von muß dagegen gestellt werden, da diese
Konstruktion ungewöhnlich ist. Deswegen ist allerdings noch nicht gesagt, daß
ein Subjekt zu ergänzen sei; denn prinzipiell Neues läßt sich nur dadurch konsti-
tuieren, daß das Material der Alltagssprache in neuer Weise verwandt wird.
Ins Schwarze trifft m. E. die bereits zitierte Feststellung von O wen: "No one will
deny that, äs the argument goes, is a correct description of the subject."
Er irrt indes, wenn er meint, Parmenides habe den Ausdruck hier deshalb nicht
bringen können, weil er eine petitio principii vermeiden wollte. Er setzt dabei irr-
tümlicherweise voraus, daß der Begriff des bereits konstituiert ist, als ob es
schon vor Parmenides einen ontologischen Denker gegeben habe16. Parmenides
hat vielmehr den Ausdruck deshalb hier noch nicht verwandt, da er andern-
falls gröblichst mißverstanden werden mußte, hätte nämlich als das Vor-
handene im Sinne von ,das Ding* aufgefaßt werden müssen, da man in diesem Aus-
druck nur den Singular von = das Vorhandene, die Dinge hätte sehen
können. Man wäre also veranlaßt worden zu verstehen, Parmenides wolle zum
Ausdruck bringen, daß ,das Ding vorhanden sei'.
Stünde das in einem Hauptsatz, so wäre es m. E. am besten mit ,ist
vorhanden* wiederzugeben. Durch das fehlende ,es* würde die deutsche Kon-
struktion genauso ungewöhnlich wie die des Parmenides, würde die Erwartung
genauso auf das Subjekt gespannt, das den nicht gesättigten Ausdruck erfüllen soll.
Da es sich jedodi um einen daß-Satz handelt, erhielte man den unverständlichen
Satz: ,der eine (sc. Weg), daß vorhanden ist'; folglich empfiehlt es sich, ein ein-
geklammertes ,es* hinzuzufügen: ,der eine (sc. Weg), daß (es) vorhanden ist*.
Im zweiten Teil des Verses ist mit dem Infinitiv konstruiert; es wird
also die Bedeutung ,ist möglich* haben. Auch hier muß man, um verständlich
zu bleiben, ein eingeklammertes ,es* bei der Übersetzung hinzufügen. Demgemäß
lautet die Übersetzung der ganzen Zeile: ,der eine (sc. Weg), daß (es) vorhanden
ist und es nicht möglich ist, daß (es) nicht vorhanden ist.* Der zweite Teil des
Verses sagt also in verneinter Form dasselbe aus wie der erste, da man nicht an-
nehmen kann, daß Parmenides solch feine Unterscheidungen intendierte, wie sie
in der modalen Logik vorkommen.
Der zweite Weg wird 2,5 — von Geringfügigkeiten abgesehen — als negatives
Spiegelbild des ersten eingeführt: ,der andere (sc. Weg), daß (es) nicht vorhariden
ist und es notwendig ist, daß (es) nicht vorhanden ist*. Unmittelbar darauf wird

16
Zu diesem Problem vgl. Ardi. f. G. d. Ph. 49, 1967, 142 ff. und 226 ff.

411
dieser Weg als unerkundbar bezeichnet, und dieses Urteil erh lt dann in den
folgenden anderthalb Zeilen seine Begr ndung. Sind diese Verse auch schon dis-
kutiert worden, so m ssen wir dennoch im jetzigen Zusammenhang noch ein-
mal auf sie eingehen.
W hrend Parmenides h tte mi verstanden werden m ssen, wenn er von dem
Ausdruck το έόν ausgegangen w re, ist das beim το μη έόν nicht der Fall; denn
dieser Ausdruck d rfte schwerlich jemandem so oder in der Pluralform τα μη
έόντα in der Umgangssprache begegnet sein, da man im Alltag sidi ber die Dinge
und nicht ber die Nicht-Dinge verst ndigt. Der Ausdruck zwingt also zum Um-
denken und erscheint so aufs beste geeignet, den H rer bzw. Leser zu veranlassen,
den neuen Gedankengang und so die Konstitution der neuen Begriffe mitzuvoll-
ziehen. Dabei m te, wenn man korrekt dem Text folgt, der gedankliche Nachvoll-
zug von drei Faktoren bestimmt werden: von dem Bild des Weges, von der Fest-
stellung, da es keinen Weg gebe, um das Nichtvorhandene zu erkunden, und es
so weder erkenn- noch beschreibbar sei, und schlie lich von der Struktur der Wen-
dung το μη έόν, die durch den Artikel, das eingeschobene μη und die Singularfonn
έόν gekennzeichnet ist. Durch diese Faktoren sollte deutlich werden k nnen, da
es sich weder um zwar jetzt nicht Vorhandenes, das jedoch fr her vorhanden war,
noch um zwar jetzt nicht Vorhandenes, das jedoch in Zukunft vorhanden sein
wird, handelt, sondern um das schlechthin Nichtvorhandene, um das absolut Nicht-
vorhandene. Ist das erkannt, so sollte sich auch das Subjekt von εστίν (2,3) erfassen
lassen, da 2,5 die fast spiegelbildliche Negation von 2,3 ist, so da sich Vers 5 zu
Vers 3 verh lt wie το μη έόν zu το έόν.
Ist somit das έόν implizit konstituiert, so ist das wesentlichste getan. Es be-
darf allerdings noch der nominellen Konstitution, um das Ergebnis festzuhalten;
Dies geschieht, in B 6,1 f.17:
χρή το λέγειν τε νοεΐν τ* έόν εμμεναι· εστί γαρ είναι,
μηδέν δ* ουκ εστίν τα σ* εγώ φράζεσθαι δνωγα.
Wie dem γαρ zu entnehmen, begr ndet der zweite Satz den ersten. Wir wollen
daher von ihm als dem grundlegenderen ausgehen: είναι k nnte man als In-
finitiv auffassen und dann den ersten Teil des zweiten Satzes mit ,denn vorhanden
sein ist m glich* bersetzen. Das είναι jedoch nur als m glich zu bezeichnen,
widerspricht ganz und gar der Parmenideischen Auffassung. Au erdem schriebe
man ihm einen logischen Fehler zu, n mlich da er die Wirklichkeit von etwas
schon durch deren blo e M glichkeit f r erwiesen hielte.
Sieht man in είναι ein Substantiv, so ergeben sich, wenn man der bisher
blichen Grundkonzeption folgt, zwei M glichkeiten: Meint man, έόν und

17
Von den Fragmenten B 3—5 l t sich B 3 wohl in die Argumentation einf gen
(vgl. Ardi. f. G. d. PL 49, 1967, 233); f r B 4 und 5 sehe idi jedodi keine M glidikeit.
Folglich m ssen uns entweder noch gr ere Zusammenh nge, die vor B 6 standen, fehlen
oder — was mir mehr f r sidi zu haben scheint — B 4 und 5 falsdi eingeordnet sein.
Ohne sie konnten n mlich B 2, 3 und 6 eine gesdilossene Einheit bilden.

412
είναι seien identisch, so mu man zugeben, da es sich um eine Tautologie han-
delt. Will man diese Folgerung dagegen vermeiden, so mu man annehmen, die Exi-
stenz des έόν werde durch die Existenz des είναι begr ndet. Indes, auch diese
Position ist nicht zu halten; denn es l t sich nicht erkennen, wie man einen so
gro en Unterschied zwischen έόν und είναι aus dem Werk des Pannenides in
plausibler Weise konstruieren will, da die Begr ndung des έόν durch das εΐναι
verst ndlich erschiene.
Diesen Schwierigkeiten entgeht man, wenn man mit uns in 6,1 f. den Abschlu
der in Fr. 2 begonnenen Konstitution des έόν sieht. Denn in diesem Fall stellt
der zweite Satz eine mit Hilfe der Ausdr cke είναι und μηδέν vorgenommene
Raffung der in Fr. 2 gewonnenen Ergebnisse dar, also der Aussage, da der
erste Weg begehbar sei, der zweite aber nicht: ,Vorhandensein ist vorhanden, nidits
aber ist nicht vorhanden/ Das είναι unterscheidet sich demgem vom έόν nur
insofern, als έόν — mit oder ohne Artikel — der Ausdruck desjenigen Begriffes
. ist, der konstituiert werden soll, um der zentrale Begriff von Parmenides* Lehre
zu werden, w hrend dem Ausdruck είναι lediglich eine Hilfsfunktion zukommt.
Die Hilfsfunktion besteht einmal darin, da der Ausdruck είναι auf Grund
seiner anderen Quantit ten an anderen Stellen im Hexameter eingesetzt werden
kann. Kommt ihm daher eine stilistische Funktion zu, so besteht doch der Unter-
schied zwischen beiden nicht nur darin. Um das deutlich zu machen, sei zun chst
auf das vergleichbare Wort im zweiten Teil unseres zweiten Satzes eingegangen,
n mlich auf μηδέν; denn dieser Ausdruck hat im Verh ltnis zum Ausdruck μη έόν
eine hnliche Funktion wie είναι im Verh ltnis zu έόν. Der Ausdruck, der im
Mittelpunkt steht und von dem aus das Denken bestimmt wird, ist n mlich
der des μη έόν, w hrend vom Ausdruck μηδέν — mit oder ohne Artikel —
das Denken nicht bestimmt wird und der Ausdruck so nur eine Hilfsfunktion
erf llt, d. h. o/i, aber nicht immer den Ausdruck μη έόν ersetzen kann18. So
l t sich ohne betr chtliche Ver nderungen des Inhalts vor allem in 2,7 το μη
έόν nicht durch το μηδέν ersetzen; einmal, weil man das Gegenteil von το μηδέν
nicht implizit konstituieren kann; denn auf Grund der Struktur der Wendung
το μη έόν l t sich, ohne da es einer Explikation bedarf, ersehen, da der ent-
sprechende positive Begriff το έόν ist. Hingegen sind schon etymologische Kennt-
nisse erforderlich, um το εν als den entsprechenden Gegenbegriff zu το μηδέν
zu eruieren. Folglidi erg ben sich gr ere inhaltliche Verschiebungen; denn Par-
menides m te statt vom έόν vom εν oder vom τι.als dem zentralen Begriff
ausgehen19.
Was f r das μηδέν gilt, trifft auch f r das είναι zu. Audi durch diesen Aus-
druck kann — vom Metrum ganz abgesehen — der Ausdruck έόν oft, aber nicht
immer ersetzt werden. So ist vor allem das έόν in 6,1 nicht austauschbar;

18
Ein sch nes Beispiel f r die Austauschbarkeit der Ausdrucke findet sidi in B 8:
εκ μη έόντος (8,7) — του μηδενός άρξάμενον (8,10) — εκ μη έόντος (8,12).
» Vgl. Ardi. f. G. d. Ph. 49, 1967, 227 f..

413
denn der noch zu konstituierende Gegenbegriff des μη έόν hei t έόν und nicht
είναι. Dies ist jedoch, auch wenn es auf den ersten Blick so scheinen mag,
letztlich kein formaler Grund, da der Unterschied zwischen beiden Ausdr cken sich
nicht im formalen Unterschied ersch pft. W re das der Fall, so m te man — ganz
abgesehen vom Metrum — in 2,7 το μη έόν durch το μη είναι ersetzen und dem-
entsprechend in 6,1 verfahren k nnen. T te man das jedoch, so entz ge man der
Konstitution der Begriffe die Basis. Denn der Ansatzpunkt f r die Konstitution
besteht ja darin, da το έόν als Singular von τα έόντα = das Vorhandene, die
Dinge verstanden werden kann und so το μη έόν als ein ,Ding', zu dem kein Weg
f hrt, von dem sich berhaupt keine Aussagen machen lassen. Ginge man dagegen
von το μη είναι aus, so w te ich nicht, welche schon in der griechischen Umgangs-
sprache entwickelten Vorstellungen Parmenides mit το είναι evozieren k nnte,
um dann mit dem Bild des nichtexistierenden Weges die Konstitution einzuleiten.
Ist auch gezeigt, da im ersten Satz έόν stehen mu und είναι nicht stehen
darf, so ist damit nat rlich nicht erwiesen, da είναι im zweiten Satz stehen
mu ; denn Parmenides h tte die Ergebnisse auch anders rekapitulieren k nnen,
etwa indem er den ganzen dritten Vers von B 2, sinngem verwandelt, wieder-
holt h tte. Es ist jedoch wohl das gezeigt, was sich zeigen l t, n mlich da Par-
menides die gew hlte Abbreviatur mit der Hoffnung, verstanden zu werden, be-
nutzen konnte.
Da wir auf den ersten Satz schon bei der eben abgeschlossenen Behandlung des
zweiten mit eingegangen sind, verbleibt vor der abschlie enden bersetzung von
6,1 f. nur noch ein Hinweis, und zwar der, da das έόν insofern parallel zum
μη έόν konstituiert wird, als dem ούτε αν γνοίης ούτε φράσαις hier die Wendung
λέγειν τε νοεΐν τε entspricht: ,Notwendig ist, dies zu sagen und zu denken, da
das Vorhandenseiende 20 vorhanden ist; denn das Vorhandensein 21 ist vorhanden,
nichts aber ist nicht vorhanden; das hei e ich dich einzusehen22 (genauer: das
fordere ich dich auf, dir selbst zu zeigen)/
Nach der expliziten Konstitution des έόν wendet sich Parmenides unmittel-
bar dem sogenannten dritten Weg zu. F r diesen Weg ist es kennzeichnend, da

20
Im Deutsdien ist der Artikel deshalb erforderlich, weil wir bei diesen Neutraformen
nidit wie die Griechen den Singular vom Plural abheben k nnen und weil so der Aus-
druck ,Vorhandenes' in irref hrender Weise als Plural mi verstanden werden m te.
21
Im Gegensatz zu Arch. f. G- d. Ph. 49, 1967, 234 scheint mir jetzt dieser Ausdruck
die passendste bersetzung darzustellen, da die deutsche Wendung uns so ungewohnt
ersdieint, wie den Griechen zur Zeit des Parmenides die griechische. Auch uns entl t
das Wort nicht in vertraute, aber falsche Denkbahnen, vielmehr m ssen auch wir uns —
wie das oben versucht wurde — den Zusammenhang, also die Beziehung zu B 2,3, er-
schlie en.
22
W. Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, Berlin 196l10, bersetzt φράζεσθαι
mit »beherzigen*. Diese Wiedergabe ersdieint mir unangemessen, da die Darlegungen keine
moralischen Regeln sind, die man sich einpr gen, sondern eine Argumentation dar-
stellen, die begriffen werden soll. W rtlich hei t φράζεσθαι ,sich zeigen': Man soll
also den Weg der Konstitution und deren Ergebnis sich selbst zeigen, d. h. nachvoll-
ziehend sich bewu t machen.

414
er von Menschen beschritten wird. Es wird zwar verschiedentlich angenommen, da
dies auch f r den Weg des ουκ εστίν zutrifft, es existiert jedoch meines Wissens
keine St tze im Text, die diese Annahme rechtfertigt. Vor allem aber: Welcher
Denker, welcher Dichter, ja berhaupt: welcher Mensch sollte vor Parmenides seine
Gedanken konsequent dem Nichtvorhandenen zugewandt oder zumindest solche
Gedanken ge u ert haben, da Parmenides sie als eine konsequente Erforschung
des Nichtvorhandenen deuten konnte? Da jedoch angenommen wird, dieser
Weg werde von Menschen begangen, erscheint angesichts der bisherigen Aus-
gangsposition vollauf verst ndlich: Meint man, der Begriff des Seins sei Par-
menides schon vorgegeben gewesen, so erscheint der sogenannte zweite Weg ohne
Funktion, falls man nicht annimmt, Parmenides bek mpfe in ihm eine schon von
einem anderen vertretene Position. Unter dieser Voraussetzung bedarf es n mlidi
nicht der Begriffskonstitution. Folglich vermag man nicht zu erkennen, da der Be-
griff des absolut Vorhandenen mit Hilfe des kontradiktorischen Gegensatzes kon-
stituiert wird und Parmenides dazu sich des Bildes der entgegengesetzten Wege
bedient.
Der sogenannte zweite und der sogenannte dritte Weg unterscheiden sich also
in grundlegender Weise. Der erstere ist ein prinzipiell denkbarer, aber vor
Parmenides noch nie beschrittener Weg, w hrend der letztere zwar von den
Menschen besdiritten wird, Parmenides in ihm aber keinen denkbaren Weg
sieht, insofern man darunter einen Weg der Forschung versteht, dessen M g-
lichkeit konsequentes Denken nahelegt23.
Demgem bleibt nur der Weg des ,ist vorhanden*. Diesen betritt Parmenides
auch gleich anschlie end nach der Behandlung des sogenannten dritten Weges, um
die Aussagen, die sich im einzelnen ber das absolut Vorhandene machen lassen,
zu ermitteln. Scheint es auch nicht sinnvoll, diese Abschnitt f r Abschnitt durchzu-
gehen, da sich durch unsere Interpretation im gro en und ganzen in diesem
Bereich kaum Ver nderungen ergeben, so m dite ich doch auf einen Punkt etwas
n her eingehen, und zwar auf die Verse 8,35 f., um einerseits an diesem schwierigen
Zusammenhang die Brauchbarkeit unseres Ergebnisses unter Beweis zu stellen und
andererseits unser Ergebnis vor einem Mi verst ndnis zu bewahren:
ου γαρ άνευ του έόντος, εν φ πεφατισμένον εστίν,
εύρήσεις το νοεΐν.
„Denn nicht ohne das Vorhandene, in dem es ausgesprochen ist,
:
wirst du das Denken finden."
Dieser Satz bereitet der Interpretation deshalb Schwierigkeiten, weil sich die
Frage stellt, wie das Denken im Sein ausgedr ckt sein k nne — eine Frage, die un-
l slich ist, sofern man das Sein realistisch versteht als etwas r umlich Gegebenes.
Eine solche Auffassung liegt unserem Denken zwar nahe und vielleicht, be-
*s Vgl. B 2,2 und andererseits die Ausdr cke ber die Dummheit der Mensdien, die
den sogenannten dritten Weg eingeschlagen haben und etwa B 6,4 als βροτοί είδότες
ουδέν apostrophiert werden.

415
sonders dann, wenn man mit uns die Konstitution vom έόν als dem Vorhandenen,
dem Ding ihren Ausgang nehmen l t. Dennoch w re es ein Mi verst ndnis unserer
Ausf hrungen; denn die Konstitution nimmt lediglich ihren Ausgang von dem
Sprachvorverst ndnis, das der Ausdruck έόν in der Wendung το μη έόν
bereitstellt. Das Ergebnis der Konstitution, also Pannenides' έόν, darf je-
doch keineswegs als ein r umliches ,Ding* verstanden werden. Diese Feststellung
impliziert allerdings nicht die Bejahung der gegenteiligen Aussage. Denn der
r umliche Aspekt erscheint zwar nicht wesentlich f r Parmenides* Konzeption,
dennoch ist sie nicht frei von r umlichen Assoziationen, wie das etwa der Ver-
gleich mit der wohlgerundeten Kugel zeigt (B8,42 ff.).
Am angemessensten scheint es, das absolut Vorhandene als ein sprachlich-
ontologisches Ph nomen anzusprechen, mit dem sich r umliche Assoziationen
verbunden finden und das sich so nicht unseren Kategorien f gt. Wo wir n m-
lich zwischen r umlichen, ontologisdien und sprachlichen Aspekten trennen, da
sieht Parmenides eine Einheit, ein 2v (8,6). Dies l t sich recht gut mit Hilfe
des obigen Satzes belegen. Er l t sich von unseren Kategorien her nur deuten,
wenn man annimmt, der Relativsatz beziehe sich auf das έόν im Sinne des Wor-
tes έόν. Denn das Denken, und das hei t hier das Ausschreiten des ersten We-
ges, kommt ja zu dem Ergebnis, da das absolut Vorhandene ungeworden, un-
verg nglich usw. sei. Diese Ergebnisse finden sich aber alle bereits in dem Wort
,das absolut Vorhandene' ausgesprochen. Man mu nur auf das Wort έόν h ren,
um die Ergebnisse des Denkens zu kennen, um zu wissen, da absolut Vorhandenes
eo ipso ungeworden, unverg nglich usw. sei, weil es andernfalls nicht das absolut
Vorhandene w re. Es w re jedoch ein Fehlschlu , dem die Verabsolutierung unserer
Kategorien zugrunde l ge, zu folgern, da die Wendung, auf die sich das Rela-
tivpronomen bezieht, deshalb ,das Wort έόν* bedeuten m te. Denn ,das Wort
έόν* kann zwar in griechischer bersetzung το έόν hei en, und es ist gewi nicht
von geringer Bedeutung f r das Denken des Parmenides, da der Ausdruck
το έόν auch diesen Inhalt haben kann, dennoch mu die Wendung άνευ του έόντος
im Zusammenhang des Hauptsatzes ontologischen Sinn haben; das έόν mu in
diesem Zusammenhang das ontologisdie Korrelat sein, ohne das man das Denken
nicht finden wird.
Das absolut Vorhandene ist also eine sprachlich-ontologische Einheit, der man
nicht gerecht w rde, wenn man sie in Analogie zu den Dingen verst nde, wenn
man sich nicht bewu t w re, da der Ausgang von der Umgangssprache dort seine
Grenze finden mu , wo die Konstitution der neuen Begriffe und damit des on-
tologischen Bereiches beginnt.
Sind die Begriffe το μη έόν und το έόν auch verschieden von den entspre-
chenden sp teren Begriffen und verstellt man sich den Zugang zu ihnen, wenn
man sie als das Nichts und das Seiende bersetzt, so beginnt dennoch die
griechisch-europ ische Ontologie mit Parmenides und daher sind dennoch mit
der Konstitution der Parmenideisdien Begriffe die Begriffe des Nichts und des
Seins konstituiert, weil diese letztlich in Parmenides* Konstitution wurzeln.

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