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2 Begrifflich-methodische Grundlagen

Die in den beiden ersten Kapiteln angesprochenen Fragen haben deutlich


gemacht, daß die Entwicklung einer explikativ-definitionalen Theorie der
Wahrheit nur dann möglich ist, wenn einige fundamentale begrifflich-me-
thodische Fragen formuliert und geklärt werden. Es handelt sich im we-
sentlichen um drei Fragenkomplexe: Erstens um das Verfahren der Expli-
kation/Definition und um die zu diesem Umfeld gehörenden Fragen; zweitens
um das Verhältnis von Theorie der Wahrheit und Sprache; drittens um die
Einführung und Klärung einiger methodischer Metaprinzipien. Um Miß-
verständnisse zu vermeiden, sei angemerkt, daß die Ausdrücke .linguistisch'
und .sprachlich' in diesem Buch, wenn nicht anders vermerkt, synonym
verwendet werden.

2.1 Was ist eine explikativ-definitionale Theorie?

Ziel des vorliegenden Werkes ist es, die Grundlagen für eine explikativ-
definitionale Theorie der Wahrheit zu erarbeiten. Zu diesen Grundlagen
gehört insbesondere die Klärung der Begriffe „Explikation" und „Defini-
tion". Wie sich zeigen wird, ist diese Aufgabe eines der zentralen Desiderata
der Theorie der Wahrheit. Der hier zu unternehmende Versuch einer Klärung
wird zur Einführung und Charakterisierung des Begriffs bzw. des Verfahrens
der rational-systematischen Rekonstruktion führen. Doch zunächst muß auf das
Problem und auf die heutige Diskussionslage eingegangen werden.

2.1.1 Das „Paradox der Analyse"

Als Ausgangspunkt für die Erörterungen dieses Kapitels bietet sich ein
berühmt gewordenes Problem an, das unter dem Titel „Paradox der Analyse"
von C. H. Langford im Jahre 1942 so formuliert wurde:
„Let us call what is to be analyzed the analysandum, and let us call that
which does the analyzing the analysans. The analysis then states an appro-

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priate relation of equivalence between the analysandum and the analysans.


And the paradox of analysis is to the effect that, if the verbal expression
representing the analysandum has the same meaning as the verbal expression
representing the analysans, the analysis states a bare identity and is trivial;
but if the two verbal expressions do not have the same meaning, the analysis
is incorrect.'"

Anstelle der Ausdrücke ,analysandum — analysans' wird auch — ja heute


meistens — .explicandum — explicans bzw. explicatum' gesagt. Es ist leicht
zu sehen, daß dieses Paradox auch — und besonders — im Fall des Expli-
kations- und Definitionsverfahrens auftritt, denn auch hier gibt es die von
Langford beschriebene Äquivalen2relation, nämlich die Relation zwischen
„explicandum" und „explicans/explicatum" bzw. „definiendum" und „defi-
niens". Man kann daher mit Recht vom Paradox der Erklärung, d. h. vom
Paradox der Explikation/Definition, sprechen, wobei es klar ist, daß es sich
im letzten Fall nur um die sogenannte „feststellende", nicht um die „fest-
setzende (stipulative) Definition" handelt.
Folgende Sätze sind Beispiele:
(1 a) Der Begriff Bruder ist identisch mit dem Begriff Bruder
(1 b) Der Begriff Bruder ist identisch mit dem Begriff männliches Geschwister.

Analoge Beispiele sind natürlich bekannt, wie:


(2 a) Der Morgenstern = der Morgenstern
(2 b) Der Morgenstern = der Abendstern.

Beispiele der Form (2), also der Form a = a und a = b, werden normaler-
weise nicht unter dem hier interessierenden Gesichtspunkt, sondern eher im
Hinblick auf die Probleme, die das mit der Identität erlaubte Verfahren der
Substitutivität aufwirft, behandelt. Dieses Problem ist heute bekannt unter
dem Titel „Freges Rätsel". 2 Mit Recht weist A. Churcb allerdings darauf
hin, daß es sich hier nicht nur um eine Analogie handelt; vielmehr ist das
„Paradox der Analyse" als ein spezieller Fall des Fregeschen Rätsels zu
sehen; denn Freges Rätsel entsteht aus dem Umstand, daß a = b ein infor-
mativer Satz ist, in dem, wenn er wahr ist, ,b' durch ,a' ersetzt werden kann,
woraus sich zu ergeben scheint, daß a = a und a = b dieselbe „Bedeutung"
haben. Freges Lösung des Rätsels bestand in der Einführung der Unter-
scheidung zwischen „Sinn" und „Bedeutung": a = a und a = b haben nicht
denselben Sinn, wohl aber dieselbe Bedeutung (das Wort .Bedeutung' hier

1 Vgl. Langford [1942] S. 323.


2 Vgl. u. a. Salmon [1986],

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im spezifischen Sinn, in dem Frege diesen Ausdruck verwendet). Nach


A. Church ist diese Lösung korrekt und sie ist als die Lösung des Paradoxes
der Analyse zu betrachten.3
Um die genaue Fragestellung zu umschreiben, muß auf eine weitere Form
des Paradoxes der Analyse hingewiesen werden, die aus der Anwendung
epistemiscber Operatoren entsteht. Ein gutes Beispiel ist das folgende:4
(3 a) χ weiß, daß alles, was ein Kreis ist, eben ein Kreis ist.
(3 b) χ weiß nicht, daß alles, was ein Kreis ist, der geometrische Ort aller Punkte
ist, die von einem festen Punkt die gleiche Entfernung haben.
(3 c) Ein Kreis ist der geometrische Ort aller Punkte, die von einem festen Punkt
die gleiche Entfernung haben.

Es scheint klar zu sein, daß (3 a) und (3 b) gleichzeitig wahr (erfüllbar) sein


können; obwohl (3 c) wahr ist, enthält die Konjunktion von (3 a) und (3 c)
die Negation von (3 b), was zu einem Paradox fuhrt. Doch auf diese
epistemische Form des Paradoxes soll hier nicht eingegangen werden. So
wichtig diese und ähnliche Formen auch sind, sie sind für das hier verfolgte
Ziel nicht von primärer Bedeutung.
Das Paradox der Analyse wurde oft behandelt und viele Autoren haben
sich bemüht, eine Lösung dafür zu finden.5 Auf diese Lösungsvorschläge
soll hier nicht im einzelnen eingegangen werden. Vielmehr soll versucht
werden, eine selbständige systematische Klärung im Hinblick auf die The-
matik dieses Werkes zu erzielen.
Als erstes muß man sehen, daß Langfords oben angeführte Formulierung
des Paradoxes der Analyse auf dem zentralen Begriff der Bedeutung (,mean-
ing') basiert. Bekanntlich dürfte es in der heutigen philosophischen Sprache
kaum einen Terminus geben, der so kontrovers und vage ist wie der
Terminus .Bedeutung'. In der genannten Formulierung wird nicht nur ein
etwas massiver, aber völlig ungeklärter „Begriff' von Bedeutung explizit in
Anspruch genommen, sondern es wird auch und besonders im Anschluß
daran der Begriff der Synonymie („same meaning") benutzt. Die Analyse
erzeugt ein Paradox nur, wenn diese beiden Voraussetzungen gemacht
werden. Zwar könnte man auf dieser Basis immer noch versuchen, das

3 Vgl. Church [1946] S. 133.


4 Vgl. dazu Bealer [1982] S. 69 ff.
5 Hier eine Auswahl wichtiger Beiträge (chronologisch geordnet): Langford [1942],
Moore [1942], White [1943], White [1945 a], Black [1945], White [1945 b], Black
[1946], Church [1946], Carnap [1947], White [1948], Hanna [1968], Bealer [1982],
Fumerton [1983],

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Paradox zu vermeiden, indem man etwa sagt: Langfords Formulierung des


Paradoxes basiert auf einer mangelhaften Analyse der Äquivalenzrelation,
insofern sie zwei verschiedene Fälle der „Selbigkeit der Bedeutung" nicht
auseinanderhält: die verbalen Ausdrücke, die das Analysandum repräsentie-
ren, und die verbalen Ausdrücke, die das Analysans repräsentieren, können
schlechthin dieselben oder verschieden sein, kurz: a = a oder a = b, ohne
daß sich dadurch die Identität der Bedeutung ändert. Man könnte dann
etwa die Begriffe „tautologische oder nichtssagende Synonymität" und
„nichttautologische Synonymität" einführen, um den ersten bzw. zweiten
Fall einer Identität der Bedeutung zu charakterisieren. Gegen Langford
könnte man dann geltend machen, daß die Analyse nur dann eine „bloße
Identität" behaupten würde und „trivial" wäre, wenn sie die Identität der
Bedeutung in der Form der Repetition derselben verbalen Ausdrücke behauptete,
keine „bloße" (im Sinne einer leeren oder nichtssagenden) Identität hingegen
implizierte die Analyse, wenn sie als Analysans andere Ausdrücke verwen-
dete als diejenigen, die im Analysandum vorkommen; aus diesem Grunde
wäre die Analyse in diesem Fall als nicht trivial zu bezeichnen. Doch ein
solcher Rettungsversuch beruht seinerseits auf einer sehr fragwürdigen Vor-
aussetzung, nämlich auf der Annahme, daß „Bedeutung" eine „Entität" ist,
die von Sprache (sprachlicher Gestalt) völlig unabhängig ist; „Bedeutung"
wäre eine — mentalistische oder platonistische — Entität, die erst nachträg-
lich in äußerlicher Weise in eine „sprachliche Gestalt" gekleidet würde. Aber
eine solche Annahme ist gänzlich unplausibel. Abgesehen davon, daß die
Art von „Entität", mit welcher die „Bedeutung" identifiziert wird, geklärt
werden sollte, ist diese Konzeption besonders aus dem Grunde abzulehnen,
weil sie Sprache zum rein äußerlichen Vehikel für die Mitteilung von Bedeu-
tungen macht. Wird Sprache aber so aufgefaßt, so lassen sich eine Reihe
von zentralen Phänomenen nicht mehr erklären. Doch es ist hier nicht der
Ort, diese Diskussion weiterzuführen. Hier soll diese Annahme nicht ge-
macht werden; damit wird hier auch die sehr bequeme Lösung mittels
Rekurs auf die in dieser Weise erklärte Synonymität nicht übernommen.
Läßt sich aber die „Identität der Bedeutung" in anderer Weise erklären?
Versuche, die dieses Ziel verfolgen, sollten klären, was „Bedeutung" ist und
ob „Analyse" als ein Verfahren zu verstehen ist, das die „Identität" der
„Bedeutung" beinhaltet oder impliziert.
Bevor einiges zu diesen Fragen ausgeführt wird, sind im Hinblick auf die
auf das Wahrheitsproblem angewandten Begriffe explikativ-definitional einige
Hinweise auf ungenügende Ausdrucksweisen und Problemstellungen zu
geben. Bekanntlich werden im Rahmen einer ausgedehnten wahrheitstheo-

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2.1 Was ist eine explikativ-definitionale Theorie? 67

retischen Literatur viele ungeklärte und daher vage bleibende Ausdrücke


verwendet, um sowohl das Verfahren als auch die „Sache" zu bezeichnen.
Es handelt sich insbesondere um die Verfahrensausdrücke: .Analyse', ,Ex-
plikation', ,Erklärung', .Definition', ,Paraphrasierung', .Charakterisierung',
.Verdeutlichung', .Interpretation' (.Auslegung'), .Erhellung' u. ä. (Im Eng-
lischen gibt es einige zusätzliche, oft verwendete Ausdrücke, wie ,to account
for' u. a.) Die „Sache", auf die das durch solche Ausdrücke angezeigte
Verfahren angewandt wird bzw. werden soll, wird mit Termini wie den
folgenden angegeben: .Bedeutung', .Begriff, .Funktion', ,Wesen', ,Natur',
.Verwendung' (.Gebrauch'), .Extension', .Intension' u. ä. Für einige dieser
Ausdrücke sind natürlich genaue Definitionen vorhanden, wie ζ. B. für den
Ausdruck ,Extension' (wenn auch hinzuzufügen ist, daß sogar in diesem
Fall mehrere Erklärungen zu unterscheiden sind). Es wird in diesem Buch
davon ausgegangen, daß eine relevante Theorie der Wahrheit auf dieser
ungeklärten Basis nicht entwickelt werden kann. Sowohl die Verwendung
vager Ausdrücke wie ,Bedeutung', .Begriff u. a. wie auch die Verwendung
zu restriktiver Ausdrücke wie ζ. B. .Extension' läßt sich heute nicht mehr
rechtfertigen. Was kann bzw. muß getan werden, um einen entscheidend
neuen Ansatz zu erarbeiten?

2.1.2 Aspekte eines semantischen Grundrahmens

In diesem Abschnitt werden einige Aspekte einer semantischen Gesamtkon-


zeption eingeführt und kurz erläutert, die später (im Kapitel 3) ausführlicher
dargestellt und begründet wird. Die Thesen und Ausführungen dieses Ab-
schnittes nehmen die Ergebnisse des nächsten Kapitels vorweg und sind
insofern gewissermaßen provisorisch. Aus diesem Grunde wird die Dar-
stellung in gewisser Hinsicht einen eher thetischen Charakter haben. Den-
noch ist es unumgänglich, im Kapitel über die begrifflich-methodischen
Grundlagen diese Ergebnisse vorwegzunehmen, da sie für eine Klärung der
Aufgabe und des Verfahrens der hier anvisierten Theorie der Wahrheit
erforderlich sind. Das Ziel der nachfolgenden Ausführungen ist die Klärung
der Frage, was es heißt, den „Begriff" (die „Bedeutung") von ,,Wahr(heit)"
zu „erklären" („explizieren", „definieren"). Negativ formuliert: das Ziel ist
die Überwindung jener Vagheiten, die die Verwendung solcher Ausdrücke
in der wahrheitstheoretischen Literatur kennzeichnen.

[1] Als erstes erweist es sich als zwingend, die fraglichen Ausdrücke solange
zu vermeiden, bis sie als einigermaßen geklärt gelten können. Zu diesem

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Zweck sei eine neue Terminologie eingeführt. Teile dieser Terminologie und
einige damit verbundene Grundeinsichten und -thesen werden von jener
semantischen Richtung übernommen, die oft Theorie der direkten Referenz
genannt und mit den Namen D. Kaplan, S. Kripke, S. Soames, N. Salmon,
Η. Weitstein u. a. verknüpft wird. Doch muß gleich betont werden, daß
andere Thesen, die für diese Richtung zentral und unaufgebbar sind, in
dieser Arbeit explizit abgelehnt werden. Dazu gehört vor allem eine der
Hauptthesen dieser Richtung, nämlich die These von der direkten Referentia-
lität der Namen (singulären Terme) und der indexikalischen Ausdrücke,
insofern unter .direkter Referentialität' insbesondere der nicht-deskriptive
(oder nicht-begriffliche) semantische Status dieser Ausdrücke verstanden wird. 6
Hier wird im Sinne der gemachten Einschränkung insbesondere an
N. Salmon und S. Soames angeknüpft.
Der semantische Grundbegriff lautet: „semantischer Wert". Damit ist jenes
X gemeint, auf welches ein Sprachzeichen abgebildet wird, wenn das sprach-
liche Zeichen „verstanden" oder in „signifikanter Weise" verwendet wird;
anders gesagt: die minimale Bedingung, die erfüllt sein muß, damit von
einer „semantischen Tätigkeit" oder von einem „semantischen Phänomen"
u. dgl. gesprochen werden kann, ist, daß mit dem verwendeten Ausdruck
ein „semantischer Wert" verknüpft wird bzw. gegeben ist. Damit sind noch
(fast) alle semantisch-theoretischen Wege offen.
Eine zentrale These der hier zu vertretenden semantischen Konzeption
betrifft eine fundamentale Unterscheidung zwischen zwei unverzichtbaren
Arten des semantischen Wertes sprachlicher Ausdrücke: die erste Art kann
man den semantisch-informationalen Wert, die zweite den semantisch-funktionalen
Wert nennen. Die Begriffe „Information" und „Funktion" (im strengen
mathematisch-philosophischen Sinne, wie zu zeigen sein wird) sind für die

6 In seinem Aufsatz „Substitutivity" weist allerdings S. Soames mit Recht darauf


hin, daß der Ausdruck .direkt referentiell' hauptsächlich in zwei verschiedenen
Bedeutungen verwendet wurde und wird: (i) im Sinne der These: „Der proposi-
tionale Gehalt von Namen und indexikalisierten Ausdrücken, relativ zu einem
Kontext, ist der Referent dieser Terme im Kontext" („propositionaler Gehalt"
heißt hier: der einem Ausdruck [hier dem Namen und dem indexikalisierten Term]
eigene semantische informationale Gehalt, insofern er in die Struktur der durch
einen Satz ausgedrückten Proposition eingeht); (ii) im Sinne der Äquivalenz „direkt
referentiell = nicht-deskriptiv (nicht-begrifflich)" (vgl. Soames [1987] S. 103,126,
Anm. 6). Soames vermerkt mit Recht, daß (i) und (ii) verschiedene Thesen sind,
die daher nicht vermengt werden dürfen. Er selbst verwendet im angeführten
Aufsatz den Ausdruck .direkt referentiell' im Sinne der These (i).

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2.1 Was ist eine explikativ-definitionak Theorie? 69

Erklärung des „semantischen Wertes" von ausschlaggebender Bedeutung.


„Information(sgehalt)" kann man in einer bestimmten Hinsicht als primitiven
Begriff einführen und verstehen. Doch läßt sich einiges zur Erläuterung
und Motivation sagen. Es sei zunächst vermerkt, daß sich in diesem Aus-
druck ein Grundcharakteristikum der oben genannten (neuen) semantischen
Richtung artikuliert. Werden sprachliche Ausdrücke in signifikanter Weise
verwendet, so wird damit auf „etwas" Bezug genommen. Man kann sagen:
die Ausdrücke bezeichnen „etwas", sagen „etwas" aus (im Falle des Satzes).
Um dieses sonderbare „etwas" geht es hier. Der heute dafür oft verwendete
(neutrale) Ausdruck heißt „Information(sgehalt)". Sprache ist grundsätzlich
— zumindest auch — „informativ", sprachliche Ausdrücke haben grund-
sätzlich einen informationalen semantischen Wert. Würde man diesen Wert
von der Sprache wegdenken, so erhielte man eine „Sprache" bar jeder
Bezugnahme auf Welt, Inhalte usw. Eine solche „Sprache" wäre nicht unsere
Sprache. Dieser semantische Wert sprachlicher Ausdrücke, der Informations-
wert, soll terminologisch als der direkte semantische Wert bezeichnet werden.
Der primäre Informationswert ist der semantisch-informationale Wert des
(deklarativen) Satzes, ist doch der (deklarative) 7 Satz die primäre linguistische
Einheit. 8 Die fundamentale semantische Rolle, die dem Satz eigen ist, besteht
darin, daß der Satz Information codiert. 9 Der zentrale, wirklich signifikante
Informationsausschnitt („piece of information") ist der Informationswert
des Satzes, nämlich die Proposition. Die oben genannten Autoren führen hier
den Begriff der singulären Proposition ein, worunter sie eine Entität verstehen,
die — im Unterschied etwa zum „Gedanken" Freges — ein Komplex ist,
der aus einem realen Individuum (Objekt) (bzw. einem Tupel von realen
Individuen/Objekten) und einem Attribut besteht (etwa: „Peter ist groß")
und als geordnetes Paar formalisiert werden kann: : <ist groß, Peter) oder
verallgemeinert: « O j , ...o n >, F*>. Hier soll die Frage noch offen bleiben,
welchen Stellenwert diesem Begriff zuzumessen ist.
Gemäß den genannten Autoren sind die Informationswerte der anderen
sprachlichen Ausdrücke Entitäten, die im Hinblick auf die Entität „Propo-
sition" bestimmt werden. So ist der Informationswert des Prädikats das
Attribut, das mit dem Prädikat semantisch assoziiert wird, d. h. die Eigen-

7 Wenn im folgenden der Ausdruck ,Satz* ohne weitere Qualifikation verwendet


wird, so ist darunter immer der .deklarative Satz' zu verstehen.
8 Diese These soll weiter unten ausführlich dargestellt und begründet werden (vgl.
3.3).
9 Vgl. Salmon [1986] S. 13.

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Schaft (im Falle eines 1-stelligen Prädikats) und die n-stellige Relation (im
Falle des n-stelligen Prädikats). Nach der Theorie der direkten Referenz ist
der semantische Informationswert des singulären Terms einfach der Referent
des Terms. Ein logisches Satzkonnektiv (Junktor) wird in Analogie zum
Prädikatsmodell erklärt: der semantisch-informationale Wert eines Konnek-
tivs ist ein Attribut, nicht aber ein Attribut eines Individuums (wie „Sokra-
tes"), sondern das Attribut eines (des zentralen) Informationsgehalts, nämlich
der Proposition. Beispielsweise ist der Informationswert des Konnektivs
„dann und nur dann, wenn" mit der binären Äquivalenzrelation zwischen
Propositionen identisch, die denselben Wahrheitswert besitzen. Der Infor-
mationswert eines (objektual verstandenen) Quantors in einer Sprache erster
Stufe kann mit einer Eigenschaft von Eigenschaften von Individuen iden-
tifiziert werden; der Allquantor „alle" wäre demnach die Eigenschaft (zweiter
Stufe) „eine universale Eigenschaft (erster Stufe)", d. h. die Eigenschaft
„eine von allen (im Bereich des Quantors situierten) Individuen besessene
Eigenschaft". Entsprechendes ist von den anderen Operatoren bzw. den
anderen Ausdrücken der Sprache zu sagen.

[2] Wollte man die Semantizität der Sprache, also den semantischen Wert
sprachlicher Ausdrücke, nur auf den Informationswert (im erläuterten Sinne)
reduzieren, so würde man der Sprache, wie sie real vorhanden ist und
gehandhabt wird, nicht gerecht. Die „reale" Sprache enthält semantische
Werte, die mit den Informationswerten nicht identifiziert werden können.
Diese Behauptung läßt sich leicht erhärten. „Konkrete" sprachliche Aus-
drücke werden, zumindest oft, indexikalisch verwendet und sie kommen
prinzipiell immer in bestimmten Kontexten der Äußerung vor. Nur eine
abstrakte (sozusagen völlig objektivierte oder, um einen Ausdruck Quines
zu gebrauchen, „eternalisierte") Sprache ist kontext- und indikatorenfrei.
Werden nun sprachliche Ausdrücke kontextuell (und indexikalisch) verwen-
det, so ist nicht (immer) klar bzw. gegeben, welchen semantisch-informatio-
nalen Wert sie haben.
Zu dieser ersten Feststellung kommt eine ^weite, nicht minder wichtige
hinzu: Es ist ein Faktum, daß auch ohne eindeutige Zuordnung semantisch-
informationaler Werte zu sprachlichen Ausdrücken, diese (doch) verstanden
werden (können). Und was verstanden wird (werden kann) hat gemäß den
oben getroffenen Feststellungen und Festlegungen einen semantischen Wert.
Dieser kann also im hier besprochenen Fall nicht einfach der semantisch-
informationale Wert sein. Man muß einen anderen semantischen Wert aner-
kennen und herausarbeiten. Ein Beispiel mag diese Zusammenhänge illu-

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2.1 Was ist eine explikativ-definitionale Theorie? 71

strieren. Wenn der Satz ,Ich sitze am Computer' geäußert wird, so daß ein
Hörer des Satzes die mit ,Ich' gemeinte Person nicht identifizieren kann, so
„versteht" der Hörer dennoch den Satz, genauer und vorsichtiger formuliert:
der genannte Umstand schließt nicht aus, daß im Hörer ein (gewisses)
Verständnis des Satzes vorhanden ist. Der Hörer — von dem vorausgesetzt
sei, daß er des Deutschen mächtig ist, — weiß nämlich mit dem Satz vieles
anzufangen: er kann bestätigen, daß der Satz grammatikalisch korrekt ist;
er kann annehmen, daß entsprechend den Regeln und der Semantik der
deutschen Sprache der Satz von einer Person geäußert wurde; er kann mit
dem Satz bestimmte Schlüsse formulieren usw. Das alles zeigt, daß der Satz
einen semantischen Wert hat, obwohl der semantisch-informationale Wert
nicht eindeutig (bzw. nicht bekannt bzw. nicht gegeben) ist. Wie ist dieser
andere semantische Wert zu bestimmen?
Hier muß der Umstand beachtet werden, daß zwar auch ein anderer
semantischer Wert als der semantisch-informationale anzuerkennen ist, daß
er aber auf den letzten, den semantisch-informationalen, „hingeordnet" ist,
und zwar in dem genauen Sinne, daß er ihn voraussetzt, um sich selbst zu
bestimmen. Daraus folgt, daß der semantisch-informationale Wert der fun-
damentalere) ist. Der neue Wert kann sich nämlich nur funktional im Hinblick
auf den fundamentalen semantischen Wert definieren. In der Tat wird er aus
diesem Grunde am besten semantisch-funktionaler Wert genannt. Man könnte
ihn auch als den linguistischen Wert sprachlicher Ausdrücke bezeichnen. Und
man kann hinzufügen, daß dieser semantische Wert im allgemeinen oder
hauptsächlich gemeint ist, wenn gewöhnlich von .Bedeutung' die Rede ist.
Dieser zweite semantische Wert ist genauer als eine Funktion zu charak-
terisieren, die für jeden (möglichen) Kontext k (der Äußerung) eines Ausdrucks
den semantisch-informationalen Wert bestimmt, der dem Ausdruck in k zugeordnet
wird. Oder anders: der semantisch-funktionale Wert ist eine Funktion von
Kontexten k (der Äußerung) sprachlicher Ausdrücke in semantisch-infor-
mationale Werte, die diesen Ausdrücken in k zugeordnet werden. Das oben
angeführte Beispiel ,Ich sitze am Computer' läßt sich jetzt so deuten: dieser
Satz hat einen semantisch-funktionalen Wert im Sinne einer Funktion, die
dem Ausdruck ,Ich' im Kontext k einen semantisch-informationalen Wert
zuordnet, etwa das Individuum L. B. P., und entsprechend für das Prädikat
,sitze am Computer' ebenfalls einen bestimmten semantisch-informationalen
Wert festlegt, nämlich das auf das genannte Individuum „zutreffende" At-
tribut, das mit dem Prädikat,...sitze am Computer' assoziiert ist.

[3] Der herausgearbeitete semantisch-funktionale Wert sollte präziser als der


funktional-linguistische Wert bezeichnet werden. Der Grund dafür ist, daß es

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sich als notwendig erweist, eine zweite Art des semantisch-funktionalen


Wertes anzuerkennen und einzuführen, die nicht-linguistischen Charakter
hat. Bisher war von Kontexten der Äußerung sprachlicher Ausdrücke die
Rede. Aber man kann, ja muß jene Kontexte berücksichtigen, die die
Semantik der möglichen Welten eben mögliche Welten nennt10. Am besten
könnte man solche Kontexte „metaphysische" Kontexte und den entspre-
chenden semantischen Wert „funktional-metaphysischen" Wert nennen.
Doch nicht alle Vertreter einer Semantik der möglichen Welten würden
einen solchen Ausdruck akzeptieren, schon deshalb nicht, weil viele Philo-
sophen, die mögliche Welten annehmen, diese nicht als metaphysische,
sondern als sprachliche Entitäten auffassen.11 Aus diesem Grunde soll hier
ein anderer Ausdruck eingeführt werden, um den den angesprochenen
Kontexten entsprechenden semantischen Wert zu bezeichnen, nämlich den
(etwas künstlichen) Ausdruck funktional-systematischer (semantischer) Werf.
Damit soll besonders der Umstand hervorgehoben werden, daß es sich um
bolistische Kontexte handelt.
Der funktional-systematische semantische Wert sei unter Bezugnahme auf
allgemeine Einsichten der Semantik der möglichen Welten als die Intension
des direkten (informationalen) semantischen Wertes sprachlicher Ausdrücke
erklärt, wobei allerdings darauf hinzuweisen ist, daß dieser Ausdruck (und
der korrelative Ausdruck,Extension') eine lange und verwickelte Geschichte
gehabt hat und heute in sehr verschiedenen Bedeutungen verwendet wird.
Intension und Extension können, da sie korrelative Begriffe sind, nur zusam-
men erklärt werden. Die Extension stellt neben dem semantisch-direkten und
dem semantisch-funktionalen (mit den beiden Formen: dem funktional-linguisti-
schen und dem funktional-systematischeri) den dritten semantischen Wert dar;
um ihn auch terminologisch von den beiden anderen zu unterscheiden, sei
dafür die Bezeichnung semantisch-dimensionaler Wert eingeführt (es handelt
sich dabei ja um eine „Dimension").
Auszugehen ist vom fundamentalen, d. h. dem semantisch-direkten (dem
semantisch-informationalen) Wert.12 Die Intension und Extension sprachlicher
Ausdrücke haben gegenüber der Intension und Extension der jeweiligen
semantischen Werte derivativen Charakter.13 Das Verhältnis von Intension

10 Einige Autoren sprechen lieber etwa von „Umständen" („circumstances"). Vgl.


ζ. B. Soames [1985] und [1987].
11 Vgl. ANHANG 6.2.5.
12 Vgl. zu den folgenden Ausführungen Salmon [1986] S. 14 f.

" Vgl. dazu S. Soames [1989] S. 414.

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2.1 Was ist eine explikativ-definitionale Theotie? 73

und Extension ist dadurch grundlegend charakterisiert, daß die Extension


durch die Intension bestimmt wird. Die genannten Autoren erklären diese
Begriffe in bezug auf die Einzelkomponenten der Proposition und auf die
Proposition selbst folgendermaßen: Die Intension eines n-stelligen Attributs
ist eine Funktion von möglichen Welten in Mengen von n-Tupeln von
Individuen, die das Attribut in der (zugehörigen) Welt instantiieren. Die
Intension eines Individuums ist eine konstante Funktion von der Menge der
möglichen Welten in dieses Individuum. Die Intension einer 1-stelligen pro-
positionalen Funktion g ist eine Funktion von möglichen Welten Ε in Mengen
von Individuen in E, denen g Propositionen zuordnet, die in £ wahr sind.
Damit sind auch die entsprechenden Extensionen bestimmt. Interessant ist
nun die (von den genannten Autoren) vorgelegte Bestimmung der Intension
und Extension der Proposition. Um diese Konzeption richtig einzuordnen,
ist daran zu erinnern, daß die zitierten Autoren Proposition im Sinne der
schon erläuterten singulären Proposition verstehen. Demnach ist die Extension
der Proposition relativ zu einer Welt (zu einem „Umstand") der Wahrheitswert
der Proposition in der (entsprechenden) Welt und die Intension der Pro-
position ist die Menge von (möglichen) Welten („Umstände"), in denen die
Proposition wahr ist; angefügt wird, daß letztere Bestimmung äquivalent ist
der Auffassung, derzufolge die Intension der Proposition die charakteristische
Funktion der genannten Menge, also der Menge von (möglichen) Welten
(Umstände), in denen sie wahr ist, darstellt.14 Die Bestimmung der Intension
und Extension des Satzes ergibt sich entsprechend.

[4] Der kurz beschriebene semantische Grundrahmen wird in diesem Buch


nur in einer bestimmten Hinsicht übernommen, nämlich nur hinsichtlich
der allgemeinen und fundamentalen Gesichtspunkte, nicht aber hinsichtlich
der näheren Erklärung dieser Gesichtspunkte. Im einzelnen heißt das: Ver-
treten wird hier die Auffassung, daß ein sachangemessener semantischer
Rahmen den Begriff des semantischen Wertes und die Unterscheidung
zwischen (direktem) Informationswert und funktionalem Wert ausdrücklich
enthalten muß; ferner darf er den direkten Informationswert nicht mit dessen
Intension und Extension identifizieren und damit verwechseln. Auf die
Terminologie kommt es nicht entscheidend an (die Ausdrücke .funktional-
linguistischer semantischer Wert' [= linguistische Bedeutung], .funktional-
systematischer semantischer Wert' [= Intension] und .dimensionaler seman-

14 Vgl. ζ. B. Soames [1987] S. 74.

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74 2 Begrifflich-methodische Grundlagen

tischer Wert' [= Extension]) werden hier zum ersten Mal eingeführt. Aber
der hier zu entwickelnde Ansatz unterscheidet sich grundlegend von der
Konzeption, deren Einzelaspekte von den in diesem Abschnitt genannten
Autoren allmählich ausgearbeitet wird, hinsichtlich der näheren Bestimmung
der Proposition, der Intension und damit des Wahrheitswertes. Dies ausführlich
zu zeigen, wird die Aufgabe und der Inhalt des Kapitels 3 sein. Für die
Zielsetzung des vorliegenden Kapitels dürfte die kurze Beschreibung des
allgemeinen semantischen Grundrahmens ausreichend sein.
Zur allgemeinen Orientierung sei der entscheidende Unterschied kurz
charakterisiert. Die oben genannten Verfechter der Theorie der direkten Refe-
renz vertreten eine kompositional orientierte Semantik, d. h. eine Semantik,
die sich vom Kompositionalitätsprin^ip leiten läßt. Dieses Prinzip besagt, daß
der semantische (informationale) Wert eines komplexen sprachlichen Aus-
drucks (besonders des Satzes) vom semantischen (informationalen) Wert der
einzelnen Komponenten des Ausdrucks (besonders des Satzes) funktional
abhängig ist. Der semantische Wert des Satzes baut sich demnach aus den
semantischen Werten der einzelnen Satzkomponenten auf. Damit ist vor-
ausgesetzt, daß der semantische Wert der einzelnen Komponenten des Satzes
gegenüber dem semantischen Wert des Satzes primär ist. Dieses Prinzip
beherrscht fast die ganze semantische Tradition seit Frege. Dem Komposi-
tionalitätsprinzip diametral entgegengesetzt ist das Kontextprinqip, das Frege
(allerdings nur in den Grundlagen der Arithmetik) folgendermaßen formuliert
hat:
„Nur im Zusammenhange eines Satzes bedeuten die Wörter etwas."15

Aber gerade dieses Kontextprinzip, und zwar gemäß einer starken Version,
bildet den semantisch-ontologischen Grundansatz für die in diesem Buch zu
entwickelnde Konzeption. Mit dem Kontextprinzip befaßt sich der ganze
Abschnitt 3.3.

2.1.3 Ergebnisse für die Klärung


der begrifflich-methodischen Grundlagen

Ungeachtet des Umstands, daß nur einige zentrale Aspekte eines semanti-
schen Grundrahmens skizziert werden konnten, dürfte es doch möglich sein,
einige fundamentale begrifflich-prozedurale und begrifflich-sachliche Fragen

15 Frege [1884] § 62.

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2.1 Was ist eine explikativ-definitionale Theorie? 75

ausreichend zu klären. Es dürfte nämlich jetzt möglich sein, Ausdrücke wie


,Begriff, .Bedeutung' u. ä. bzw. .Analyse', .Erklärung', .Explikation', .De-
finition' u. ä. in Kontexten wie ,den Begriff X' oder ,die Bedeutung des
Ausdrucks ,X' analysieren' (.erklären', .explizieren', .definieren' u. ä.) genau
zu bestimmen.
Die Ausdrücke .Begriff, .Bedeutung' u. ä., wenn sie in Kontexten wie
den zuletzt genannten verwendet werden, sind nach der hier entwickelten
Konzeption dahingehend zu verstehen, daß sie den mit einem (d. h. dem
betreffenden) Ausdruck verknüpften semantischen Wert dieses Ausdrucks „be-
zeichnen". Gemeint ist hier der gesamtsemantische Wert eines Ausdrucks gemäß
der durchgeführten Analyse, also unter Einschluß der drei Arten des se-
mantischen Wertes: des semantisch-informationalen, der beiden Formen des
semantisch-funktionalen und des semantisch-dimensionalen Wertes. Den so
verstandenen gesamtsemantischen Wert eines sprachlichen Ausdrucks könnte
man kurz den semantischen Status des Ausdrucks nennen. Unter „Begriff
(einer „Sache") oder „Bedeutung" 16 (eines sprachlichen Ausdrucks) ist der
semantische Status (im soeben definierten Sinne) des betreffenden sprachlichen
Ausdrucks zu verstehen. Natürlich haben die Ausdrücke .Begriff und .Be-
deutung' jeweils verschiedene Konnotationen: .Begriff betrifft (eher) eine
Sache, .Bedeutung' (eher) einen sprachlichen Ausdruck. Diese Konnotatio-
nen müssen nicht unbedingt als etwas Falsches, Inadäquates u. ä. angesehen
werden; inadäquat, falsch u. ä. werden sie (meistens) dann, wenn man sie
nicht präzisiert, wenn man sie nicht im Rahmen einer Gesamtkonzeption
klärt. Man nehme den angeführten·Ausdruck .Begriff. In Klammern wurde
.einer Sache' angefügt. Beide Ausdrücke gehören zusammen im Sinne einer
gewissen, zunächst sehr vagen und allgemeinen, aber deswegen nicht fal-
schen oder schlechterdings inadäquaten Vorstellung. Es ist bekannt, daß
Ausdrücke wie ,der Begriff einer Sache', ,der Begriff der Wahrheit', ,der
Begriff der Welt' usw. im Sinne eines genitivus subjectivus zu verstehen sind:
der Begriff, der diese Sache ist; der Begriff, der Wahrheit usw. heißt. Daher
wird im Deutschen auch ,der Begriff «Wahrheit»', ,der Begriff «Welt»' (oder
auch, weniger präzis: ,der Begriff Wahrheit') u. ä. gesagt. Zieht man den
eingeführten Begriff des semantischen Wertes heran, so wird deutlich, daß
die zuletzt genannten Ausdrücke den scmanüsch-in/ormationaien Wert eines

16
Hier wird der Ausdruck .Bedeutung' in einem umfassenderen Sinne gebraucht als
oben im Haupttext, wo die Bemerkung gemacht wurde, daß unter .Bedeutung'
gewöhnlich der funktional-linguistische semantische Wert eines Ausdrucks ver-
standen wird.

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76 2 Begrifflich-methodische Grundlagen

sprachlichen Ausdrucks „anzeigen". Anders der gewöhnlich verwendete


Ausdruck ,Bedeutung': wie schon bemerkt, wird dieser Ausdruck meistens
— vorsichtig formuliert: in etwa — mit dem funktional-linguistischen seman-
tischen Wert des betreffenden Ausdrucks „assoziiert".
Um Mißverständnisse zu vermeiden, könnte man daran denken, diese
Ausdrücke, wenn sie verwendet werden, mit einem präzisierenden Index zu
versehen, etwa .Begriffs/ für: .«Begriff» wird hier verstanden im Sinne des
«semantischen Status»'; aber dies wäre eine unnötige Pedanterie. Nachdem
geklärt wurde, in welchem Sinne solche Ausdrücke wie ,Begriff (der) Wahr-
heit', .Bedeutung von «Wahr(heit)»' u. ä. zu verstehen sind, ist auch klar,
daß sie in diesem Buch so verstanden und verwendet werden.
Aus dem skizzierten semantischen Grundrahmen lassen sich auch ent-
scheidende Folgerungen im Hinblick auf jene Prozedur(en) ziehen, auf die
in der wahrheitstheoretischen Literatur mit Hilfe einer ganzen Reihe von
Ausdrücken, wie .Analyse', .Explikation', .Erklärung' u. ä. Bezug genom-
men wird. Allerdings stellt sich hier die Aufgabe als ungleich komplexer
und schwieriger dar. Hier müssen nämlich einige subtile Gesichtspunkte
und Differenzierungen beachtet werden, die im einzelnen herauszuarbeiten
und in ein kohärentes Gesamtkonzept einzubringen sind. Das Ergebnis des
Versuchs einer Klärung der genannten Thematik und gleichzeitig die Be-
zeichnung für das zu entwickelnde Gesamtkonzept ist der Titel: „Begriff
und Verfahren der rational-systematischen Rekonstruktion". Dieser Aufgabe
wendet sich der nächste Abschnitt zu.

2.1.4 Begriff und Verfahren der rational-systematischen Rekonstruktion


(= RSR)
2.1.4.1 Das Problem
Bis jetzt wurde ein Grundrahmen erarbeitet, der es ermöglicht, die seman-
tischen Begriffe „semantischer Wert", „Begriff", „Bedeutung" u. ä. grund-
sätzlich zu klären. Ein weiteres, schwieriges Problem entsteht, wenn versucht
wird, diesen semantischen Grundrahmen für die Klärung der semantischen
Verfahren der „Analyse", „Explikation", „Definition" u. ä. in Anschlag zu
bringen. Dieses Verfahren wurde im übrigen bisher immer schon in An-
spruch genommen, denn die Aufgabe, mit der sich dieses Buch von Anfang
an befaßt, ist die „Klärung" oder eben „Analyse" usw. gewisser Grundbe-
griffe. Insofern ist das hier praktizierte Verfahren selbstreferentiell. Doch
was heißt das genau?

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2.1 Was ist eine explikativ-definitionaU Theorie? 77

In einer Hinsicht ist es auf der Basis des erarbeiteten semantischen


Grundrahmens leicht zu sagen, worin das genannte Verfahren besteht,
nämlich in der Angabe des semantischen Wertes bzw. im Aufzeigen des
semantischen Status eines Ausdrucks. Doch diese — jetzt mögliche, grund-
sätzlich verständliche und gut begründete — Charakterisierung wirft große
Probleme auf. Der entscheidende Punkt ist der Umstand, daß das Verfahren
der Explikation/Definition den semantischen Status eines Ausdrucks dadurch
„verdeutlicht", daß andere Ausdrücke eingeführt und benutzt werden. Wie
kann der semantische Status eines Ausdrucks dadurch angegeben werden,
daß andere Ausdrücke verwendet werden? Diese anderen Ausdrücke haben
entsprechend dem erarbeiteten Grundrahmen natürlich auch ihren semanti-
schen Status. Wie ist dann das Verhältnis zwischen den beiden Arten von
Ausdrücken zu verstehen? Wie sich zeigt, handelt es sich um das Verhältnis
von „Analysandum" und „Analysans" bzw. „Explicandum" und „Explicans"
bzw. „Definiendum" und „Definiens". Da davon auszugehen ist, daß jeder
dieser Ausdrücke einen eigenen semantischen Wert/Status hat, läßt sich das
Problem, das das Verfahren der Analyse/Explikation/Definition aufwirft,
jetzt so präzisieren: Wie ist das Verhältnis oder der Zusammenhang zwischen
dem gesamtsemantischen Wert oder Status, der Ausdrücken mit der Quali-
fikation „Analysandum/Explicandum/Definiendum" eigen ist, und dem ge-
samtsemantischen Wert oder Status, der Ausdrücke mit der Qualifikation
„Analysans/Explicans/Definiens" charakterisiert, zu verstehen? Daß ein po-
sitives Verhältnis bzw. ein positiver Zusammenhang besteht und bestehen
muß, dürfte außer Frage sein, sonst hätte es keinen Sinn, von Analyse/
Explikation/Definition zu reden. Aber wie ist dieses Verhältnis bzw. dieser
Zusammenhang genau zu bestimmen?

2.1.4.2 Ungenügende Lösungen


Es ist im Rahmen dieser Arbeit weder sinnvoll noch möglich, auf die vielen
Konzeptionen einzugehen, die in der einen oder anderen Weise Lösungen
für das formulierte Problem anbieten. Hier sei vielmehr die Darstellung der
zu vertretenden Position dadurch vorbereitet, daß %wei extreme entgegen-
gesetzte Richtungen kurz idealtypisch dargelegt werden.

[1] Die eine extreme Position minimalisiert oder ignoriert gar die Seite der
Sprache. Analyse/Explikation/Definition (im folgenden abgekürzt als: A/E/
D) wird als eine Operation oder als ein Zusammenhang ausschließlich
zwischen „Begriffen" verstanden, wobei „Begriff" irgendwie als etwas Ob-

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78 2 Begrifflich-methodische Grundlagen

jektives, Nichtsprachliches aufgefaßt wird. Gemäß dem oben eingeführten


semantischen Grundrahmen könnte man sagen, daß hier so etwas wie der
„reine" semantische Wert/Status von Ausdrücken unter vollständiger Ab-
sehung der Ausdrücke selbst betrachtet wird.
Eine solche Position scheint von G. E. Moore vertreten worden zu sein.
In seiner Antwort auf den Artikel, in dem C. H. Langford das „Paradox
der Analyse" formuliert hatte17, betont et, daß er „Analysis" ausschließlich
als ein Verfahren versteht, das es mit „Idee oder Begriff oder Proposition"
(„idea or concept or proposition"), nicht aber mit einem Ausdruck („verbal
expression") zu tun hat: „Analysandum" und „Analysans" sind dementspre-
chend keine sprachlichen Ausdrücke, sondern „Ideen oder Begriffe oder
Propositionen".18 Immerhin erkennt Moore den Umstand an, daß verbale
Ausdrücke erforderlich sind, um „Ideen oder Begriffe oder Propositionen"
„auszudrücken" („to express"). Aber daraus zieht er keine nennenswerten
Konsequenzen für die Formulierung seiner Position. Im Gegenteil: Moore
betont, daß er lange Zeit nicht klar genug zwischen der Definition eines
verbalen Ausdrucks und der Definition eines Begriffs unterschieden habe; unter
„Analyse" habe er nur immer ausschließlich diese zweite Art von Definition
verstehen wollen.
Angesichts der fehlenden Berücksichtigung der sprachlichen Seite ist es
nicht verwunderlich, daß Moore offen bekennt, er wisse nicht, wie das
„Paradox der Analyse" gelöst werden könne. Ihm zufolge sind (1 a) und
(1 b) verschiedene Aussagen („statements"); oder anders: diese Sätze drücken
verschiedene Propositionen aus:
(1 a) Der Begriff Bruder ist identisch mit dem Begriff Bruder
(1 b) Der Begriff Bruder ist identisch mit dem Begriff männliches Geschwister.

Hier gesteht er doch ein:


„...one must suppose that both statements are in some sense about the
expressions used as well as about the concept of being a brother. But in
what sense they are about the expressions used I cannot see clearly; and
therefore I cannot give any clear solution to the puzzle."19

Es verdient aber hervorgehoben zu werden, daß Moore die wichtige Fest-


stellung trifft, daß (1 a) und (1 b) nicht dieselbe Proposition ausdrücken.

17 Vgl. Langford [1942].


18 Vgl. Moore [1942], bes. S. 661, 663 und passim. Dabei ist zu bemerken, daß Moore
streng zwischen .Proposition' und ,Satz (sentence)' unterscheidet.
19 A. a. O. S. 666.

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2.1 Was ist eine explikativ-definitionale Theorie? 79

Diese Feststellung wird, wie sich zeigen wird, eine zentrale Rolle in der hier
zu entwickelnden Konzeption spielen.

[2] Die entgegengesetzte extreme Position vernachlässigt oder ignoriert gar


vollständig die Seite des semantisch-informationalen Gehalts (Werts) der zu
analysierenden/explizierenden/definierenden Ausdrücke. A/E/D reduziert
sich auf ein rein innersprachliches Verfahren in dem Sinne, daß es sich nur
darum handelt, aus Gründen der Praktikabilität, der Bequemlichkeit und
der Klarheit bestimmte sprachliche Ausdrücke durch andere zu ersetzen.
In diesem Kontext sei auf einige zentrale AussagenQuines über Explikation
eingegangen, ohne damit die Behauptung zu verbinden, daß Quines Ge-
samtposition mit der soeben idealtypisch charakterisierten Richtung identi-
fiziert werden kann. Einige bedeutsame Behauptungen Quines weisen aller-
dings eindeutig in diese Richtung. Quine hat den Slogan geprägt: „Expli-
kation ist Elimination."20 Um Quines Verständnis dieser These zu explizie-
ren, muß man seine in diesem Kontext gemachten negativen und positiven
Aussagen beachten sowie auch ein berühmt gewordenes Beispiel erläutern.
Quines negative Aussagen sind bekannt: Wenn wir als Philosophen eine
„Analyse" oder „Explikation" vornehmen, so ist dies zunächst negativ so zu
verstehen:
„Synonymie nehmen wir nicht in Anspruch. Und wir beanspruchen auch
nicht, deutlich und explizit zu machen, was denjenigen, die den unklaren
Ausdruck gebrauchen, immer schon unbewußt vorgeschwebt hat. Wir brin-
gen keine verborgenen Bedeutungen ans Licht (wie die Wörter .Analyse'
und .Explikation' vielleicht suggerieren), sondern wir füllen Lücken aus.
Wir halten uns an die besonderen Funktionen des unklaren Ausdrucks, um
derentwillen sich das Kopfzerbrechen lohnt, und dann denken wir uns einen
Ersatz aus, der klar und in uns genehmen Begriffen formuliert ist und jene
Funktionen erfüllt." 21

Quine merkt an, daß das „Paradox der Analyse" deswegen entstehen konnte,
weil man den obskuren Begriff der Synonymität in das Verfahren der Analyse
hineinbrachte. Tut man das nicht, so taucht ein solches Paradox Quine
zufolge gar nicht auf.
Was vernünftigerweise unter „Analyse"/„Explikation" positiv verstanden
werden kann bzw. muß, wird von Quine in einigen wenigen markanten
Sätzen formuliert:

20 Quine [1960] bes. § 53. Zum folgenden vgl. auch Quine [1953] S. 24 £f.
21 Quine [I960] S. 445 f.

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80 2 Begrifflich-methodische Grundlagen

„Zunächst haben wir es mit einem Ausdruck oder einer Ausdrucksform zu


tun, die uns irgendwie Kopfzerbrechen bereitet. Dieser Ausdruck verhält
sich teilweise, aber nicht hinreichend, wie ein Terminus, oder er ist auf
beunruhigende Weise vage, oder er schlägt Dellen in eine Theorie oder legt
die eine oder andere Verwechslung nahe. Andererseits dient er bestimmten
Zwecken, die wir nicht aufgeben wollen. Dann finden wir eine Möglichkeit,
dieselben Zwecke auf anderem Wege zu erreichen, indem wir andere, weniger
störende Ausdrucksformen verwenden. Damit sind die früheren Verwirrun-
gen beseitigt."22
„In allen diesen Fällen werden die Probleme dadurch aufgelöst, daß man —
im wichtigen Sinne von .zeigen' — zeigt, daß sie rein verbal sind, und zwar
in jenem wichtigen Sinne ,rein verbal', daß sie sich aus Sprachverwendungen
ergeben, die man zugunsten solcher Verwendungen vermeiden kann, die
keine derartigen Probleme aufkommen lassen".23

Um diese These zu illustrieren, verweist Quine auf Wittgensteins Lehre,


daß die Aufgabe der Philosophie nicht darin besteht, Probleme zu lösen,
sondern Probleme in dem Sinne aufzulösen, daß gezeigt wird, daß keine
Probleme vorhanden (gewesen) seien. Diese Lehre kann zwar nach Quine
nicht für die Philosophie als ganze angenommen werden, sie trifft aber auf
die Explikation zu, und zwar in dem Sinne, daß die Explikation ein Problem
dadurch zum Verschwinden bringt, daß sie zeigt, daß es in einem wichtigen
Sinne „irreal" ist, und zwar in dem Sinne, daß es ausschließlich aus ver-
meidbaren Verwendungen sprachlicher Ausdrücke entstehe.
Quines berühmt gewordenes Beispiel ist der Begriff des geordneten Paares.
Das (philosophische) Problem, das sich in der Frage niederschlägt „Was ist
ein geordnetes Paar?", kann nach Quine dadurch aufgelöst werden, daß man
auf geordnete Paare in irgendeinem problematischen Sinn verzichtet zugun-
sten anderer, klarerer Begriffe. Ausdrücke wie .geordnetes Paar' und Aus-
drücke der Form ,<x, y ) ' sowie das Postulat
(2) Wenn y ) = <z, w ) , dann χ = ζ und y = w

sind „defektive Nomina, die gewöhnlich nur in speziellen Kontexten vor-


kommen, in denen sich Postulat (2) anwenden läßt"24. Aber die (zumindest
mathematischen) Zwecke, denen dieser Begriff dienen soll, können nicht
erreicht werden, wenn man nur bei der Verwendung der genannten Aus-
drücke bleibt. Andere Ausdrücke müssen eingeführt werden. Dies ist im
genannten Fall auch geschehen, was Quine als ein außerordentlich interes-

22 A. a. O. S. 448.
23 A. a. O. S. 450.
24 A. a. O. S. 444.

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2.1 Was ist eine explikativ-definitionale Theorie? 81

santes Phänomen hervorhebt. Und zwar kann man verschiedene Versionen


entwickeln, ohne daß man, wenn man von bestimmten Zwecken absieht,
sagen könnte, nur eine sei „die richtige". Die erste dieser Versionen wurde
1914 von Wiener vorgeschlagen: danach wird <x, y ) mit der Klasse {{x},
{y, Λ}} identifiziert, d. h mit der Klasse, deren Elemente die Einerklasse {x}
(mit χ als einzigem Element) und die Klasse {y, Λ} (mit den Elementen y
und der leeren Klasse A) sind. Später hat Kuratowski eine andere, jetzt
allgemein verwendete Version eingeführt, derzufolge <x, y ) mit {{x}, {x,y}}
identifiziert wird.
Quines Konzeption enthält zweifellos einige sehr einleuchtende Aspekte.
Aber läßt sich das Verfahren der A/E/D25 adäquaterweise als eine so beschrie-
bene problemauflösende Prozedur auffassen? Nicht daß Quines Konzeption
falsch wäre; sie ist ungenügend, weil sie nicht zeigt, was bei dieser Prozedur
wirklich vor sich geht. Quine konzipiert A/E/D von der Zielsetzung her,
versäumt es aber, die Prozedur selbst in ihrer Struktur zu erklären.

2.1.4.3 Zum Verhältnis von „Analysandum/Explicandum/Definiendum"


und „Analysans/Explicans/Defmiens"
[1] Ein zentrales Ergebnis der obigen Ausführungen ist die These, daß
„Analysandum/Explicandum/Definiendum" (= Am/Em/Dm) und „Analy-
sans/Explicans/Definiens" (= As/Es/Ds) — bzw., wenn zusammengenom-
men, „Analysandum-Analysans" (= Ams), „Explicandum-Explicans" (=
Ems) und „Definiendum-Definiens" (= Dms) — weder nur als sprachliche
Ausdrücke (sprachliche Entitäten) noch nur als nicht-linguistische semanti-
sche Werte (nichtlinguistische Entitäten) aufzufassen sind; vielmehr sind
Ams/Ems/Dms linguistisch-nichtlinguistische Komplexe (komplexe Entitäten).26

25 Es muß allerdings angefügt werden, daß Quine die Rolle der Definition im Rahmen
formaler Systeme anders charakterisiert. Vgl. dazu bes. Quine [1953] S. 26 f.
26 Fumerton [1983] konstatiert richtig, daß es aufs Ganze gesehen zwei Typen von
philosophischer Analyse gibt (bzw. gegeben hat): „Bedeutungsanalyse" (linguisti-
sche Analyse) und „ontologische Analyse" (a. a. O. S. 182). Er selbst will unter
.Analyse' nur den ersten Typus verstehen, allerdings kommt er selbst zu folgendem
Ergebnis:

„...earlier I distinguished meaning analysis from ontological analysis: I have argued


that meaning analysis involves nonlinguistic thinking. This nonlinguistic thinking
can vary in degrees of complexity and can (and should) itself become the object
of an ontological analysis. The ideal philosophical meaning analysis will involve,
though not be reducible to, ontological analysis, for meaning analysis involves
nonlinguistic entertaining of propositions or states of affairs (however we analyse

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82 2 Begrifflich-methodische Grundlagen

Semantisch aufgefaßte sprachliche Ausdrücke „enthalten" nicht-linguistische


„Werte"; nicht-linguistische Werte, die von uns in welcher Weise auch immer,
„verstanden", „begriffen", „erreicht", „artikuliert" usw. werden, sind sprach-
abhängig. Diese letzte These ist noch zu erläutern (begründet werden kann
sie im gegenwärtigen Zusammenhang nicht hinreichend). Die These besagt,
daß jede nicht-linguistische Entität nur insofern für uns relevant ist, als sie
prinzipiell sprachlich artikulierter ist. Sprachabhängigkeit besagt hier prin-
zipielle Artikulierbarkeit durch Sprache. Freilich ist zu betonen, daß diese
These nur dann als erläutert und begründet gelten kann, wenn man eine
wirklich umfassende Theorie von Sprache entwickelt, wobei unter „umfas-
send" auch ontologisch-systematische Gesichtspunkte zu verstehen sind.
Einiges darüber wird im Kapitel 3 auszufuhren sein.27 Hier möge dieser
kleine Hinweis genügen.

[2] Konzipiert man Ams/Ems/Dms als solche linguistisch-nichtlinguistische


Komplexe, so läßt sich zeigen, daß %wei verbreitete Konzeptionen über das
Verhältnis von Am/As bzw. Em/Es bzw. Dm/Ds nicht akzeptiert werden
können. Die erste versteht das genannte Verhältnis so: eine nichtlinguistische
Entität (der semantisch-informationale Wert) wird durch zwei verschiedene
Ausdrücke „bezeichnet"; die nichtlinguistische Entität bleibt schlechthin
identisch in jedem Verhältnis, das zwischen zwei (oder mehreren) sie „be-
zeichnenden" sprachlichen Ausdrücken formuliert werden mag; sie bleibt
daher auch identisch beim „Vorgang" der „Ersetzung" des einen sprachlichen

that), a state which if complex should be broken down in thought into its ultimate
categorical constituents (ontological analysis)" (a. a. O. S. 491).
Diese Ausführungen decken sich — global gesehen — weitgehend mit einigen im
Haupttext dargelegten Thesen. Allerdings trägt Fumerton der herauszuarbeitenden
Differenz von Sprachebenen und den damit gegebenen Problemen und Aufgaben
nicht (genug) Rechnung. Seine Charakterisierung der philosophischen Analyse
lautet:
discovering a correct analysis is essentially becoming explicitly conscious of a
different-level meaning rule" (S. 491).
Fumerton unterscheidet zwischen zwei Typen von Bedeutungsregeln: „same-level
and different-level meaning rules". Der erste Regeltypus regelt das Verhältnis von
sprachlichen zu sprachlichen Ausdrücken, der zweite regelt das Verhältnis der
Sprache zu nicht-sprachlichen Entitäten. Es ist klar, daß diese Charakterisierung
dem Umstand nicht Rechnung trägt, daß die Analyse einen Unterschied zwischen
Sprachebenen voraussetzt.
27 Vgl. bes. 3.6.3.

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2.1 Was ist eine explikativ-definitionale Theorie? 83

Ausdrucks durch einen anderen. A/E/D wird als ein solcher rein sprachlicher
Vorgang aufgefaßt. Auf die unüberwindlichen Probleme, denen eine solche
Konzeption begegnet, ist schon mehrmals hingewiesen worden. Kurz gesagt:
diese Konzeption verstößt gegen die nicht aufgebbare These von der un-
zertrennlichen Einheit von Sprache und semantischem Wert.
Die %weite Konzeption erklärt Am/As bzw. Em/Es bzw. Dm/Ds als jeweils
zwei verschiedene sprachliche Ausdrücke, denen jeweils zwei von einander
völlig verschiedene semantische Werte (nicht-linguistische Entitäten) zuge-
ordnet werden. Also: der semantische Wert des Am (bzw. Em bzw. Dm)
und der semantische Wert des As (bzw. Es bzw. Ds) sind (völlig) verschieden;
„Analyse" („Explikation"...) wird als ein „Über-gang" von einer Sprach-
ebene-mit-ihrem-spezifischen-semantischen-Wert zu einer ganz anderen
Sprachebene-mit-ihrem-spezifischen-seman tischen-Wert aufgefaßt. Der
Über-gang wird genauer als „Ablösungsvorgang" verstanden. Gegen eine
solche Konzeption spricht vor allem der Umstand, daß sie dem intuitiven
Verständnis von A/E/D nicht gerecht wird.
Wenn man daran festhält, daß A/E/D eine Prozedur ist, die linguistische-
nichtlinguistische komplexe Entitäten betrifft, so könnte der Gedanke auf-
kommen, daß sie als eine Art „Transformation" des einen Komplexes in den
(oder einen) anderen Komplex zu erklären ist. Auf der rein sprachlichen
Seite könnte man vielleicht mit dem Gedanken der „Transformation" etwas
anfangen. Aber wie wäre „Transformation" auf der nichtlinguistischen Seite
des betreffenden Komplexes zu konzipieren? Was hieße es, daß eine nicht-
linguistische Entität sich in eine andere nichtlinguistische Entität „transfor-
miert"? Dieser Gedanke scheint nicht nachvollziehbar zu sein.
Nachdem mehrere Möglichkeiten der Erklärung jenes durch A/E/D an-
gezeigten „Verhältnisses" sich als nicht akzeptabel herausgestellt haben, ist
zu fragen, ob überhaupt noch eine Erklärungsmöglichkeit besteht. Die Frage
ist zu bejahen.

[3] Alle Schwierigkeiten und Probleme, die bis jetzt dargestellt und erörtert
wurden, scheinen eine gemeinsame Wurzel zu haben, die Voraussetzung
nämlich, daß es sich bei den mit einem semantischen Status versehenen
sprachlichen Ausdrücken Am/Em/Dm um wohlbestimmte linguistische-nicht-
linguistische Entitäten handelt. D. h.: es wird wie selbstverständlich ange-
nommen, daß Am/Em/Dm Ausdrücke/Entitäten sind, denen mit Eindeutig-
keit Relationen zugeschrieben und/oder mit denen logische Operationen
vorgenommen werden können, die (sofort) semantisch interpretiert werden
(„dieselbe Bedeutung", „semantisch äquivalent", „synonym"). Solche mit so

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84 2 Begrifflich-methodische Grundlagen

starken semantischen Konnotationen verwendeten logischen Relationen/


Operationen lassen sich aber sinnvollerweise nur auf semantisch wohlbestimmte
sprachliche/nichtsprachliche Entitäten anwenden; dazu gehören vor allem
„Identität", „Äquivalenz", „Implikation" u. ä. Die genannte Voraussetzung
ist höchst fragwürdig, widerspricht sie doch einem fundamentalen Aspekt
des intuitiven Verständnisses von A/E/D, nämlich dem Umstand, daß durch
das Verfahren der A/E/D ein sprachlich-nichtsprachlicher Komplex gerade
„analysiert", „expliziert", „definiert" werden soll. Darin ist die Vorausset-
zung enthalten, daß Am/Em/Dm eben nicht bestimmt oder zumindest nicht
hinreichend bestimmt sind. Wären sie hinreichend bestimmt, so hätte das
genannte Verfahren keinen Anlaß, keine Struktur und keinen Zweck. Am/
Em/Dm sind Komplexe, die soz. „so nicht stehen gelassen werden können";
es sind Komplexe, die einem Verfahren — welcher Art auch immer — zu
unterziehen sind. Der vielleicht allgemeinste und neutralste Ausdruck, den
man in diesem Zusammenhang verwenden kann, ist der Ausdruck ,unbe-
stimmt' (für den semantischen Status der als Am/Em/Dm qualifizierten
Ausdrücke) und ,Bestimmung für die Prozedur der A/E/D.
Daraus ist eine fundamentale positive Einsicht zu gewinnen: Das durch A/
E/D angezeigte Verhältnis ist ein Verhältnis zwischen „etwas (zumindest
teilweise) semantisch Unbestimmtem" und „etwas (zumindest teilweise) se-
mantisch Bestimmtem". Und das entsprechende Verfahren ist konsequen-
terweise als Übergang von (zumindest relativ) semantisch Unbestimmtem
zu (zumindest relativ) semantisch Bestimmtem zu deuten; kurz: es handelt
sich um ein semantisches Bestimmungsverfahren. Doch was heißt semantische
„Unbestimmtheit" bzw. „Bestimmtheit" bzw. „Bestimmung" hier?

[4] Um herauszuarbeiten, was semantische Bestimmtheit/Unbestimmtheit/


Bestimmung im jetzigen Zusammenhang genau bedeutet, kann man zunächst
eine Relation des „Bestimmens" (oder „Bestimmungsrelation") Β einführen
und sie — teilweise — formal charakterisieren. Eine solche Relation ist
irreflexiv, transitiv und asymmetrisch. Seien ,x', ,y', ,z' Variablen, deren
Werte sprachliche Ausdrücke mit einem semantischen Wert oder Status (im
oben definierten Sinne) sind. Dann gilt:
(i) Die Bestimmungsrelation Β ist irreflexiv, d. h.: der sprachlich-semantische
Ausdruck χ bestimmt nicht sich selbst.
Symbolisch: (Vx) ~Bxx.
(ii) Die Bestimmungsrelation Β ist asymmetrisch, d. h.: wenn der sprachlich-
semantische Ausdruck χ den sprachlich-semantischen Ausdruck y bestimmt,
so gilt: y bestimmt nicht umgekehrt x.
Symbolisch: (Vx)(Vy)(Bxy => ~Byx).

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2.1 Was ist eine explikativ-definitionale Theorie? 85

(iii) Die Bestimmungsrelation Β ist transitiv, d. h. wenn der sprachlich-seman-


tische Ausdruck χ den sprachlich-semantischen Ausdruck y bestimmt und
y den sprachlich-semantischen Ausdruck ζ bestimmt, so bestimmt χ auch z.
Symbolisch: (Vx)(Vy)(Vz)(Bxy Λ Byz) Bxz.

Die konverse Relation des Bestimmtwerdens BW ergibt sich unmittelbar daraus:


(iv) BW ist die konverse Relation von Β genau dann, wenn
(Vx)(Vy)(BWxy s Byx).

Widerspricht nicht diese Zuschreibung von formalen Merkmalen zur Be-


stimmungsrelation der oben gemachten Aussage, derzufolge solche formalen
Eigenschaften und Operationen sinnvollerweise nur auf sprachliche Aus-
drücke mit vollbestimmtem semantischem Status angewandt werden kön-
nen? Dazu ist zu sagen, daß besagte Aussage nur die Anwendung von
logischen Relationen und Konstanten mit (direkter oder indirekter) stark
metasemantischer Interpretation betraf (also etwa der Interpretation von: , = '
als: ,hat dieselbe Bedeutung'). Die in (i)—(iv) vorkommenden logischen
Zeichen werden nicht mit dieser stark metasemantischen Interpretation
verwendet.
Was ist damit gewonnen? Sicher wenig, wenn auch nicht nichts. Ein
weiterer Schritt in Richtung auf eine Bestimmung der Bestimmungsrelation
zwischen Am/As bzw. Em/Es bzw. Dm/Ds ist dadurch vollzogen, daß der
Gesichtspunkt der Sprach^«* eingeführt wird. Man könnte auch von ver-
schiedenen „Sprachen" oder „Spracherweiterungen" sprechen, was in be-
stimmten Kontexten, vor allem hinsichtlich formaler Sprachen, zumindest
empfehlenswert wäre. Aber im Hinblick auf die hier verfolgte Thematik
wäre damit dem Umstand nicht Rechnung getragen, daß das Verfahren der
A/E/D doch innerhalb eines Sprachgan^en erfolgt. Was ist mit „Sprachigere"
gemeint? „Sprachebene" impliziert, daß das Sprachganze, innerhalb dessen
Aussagen jeder Art gemacht werden, ein schichtenmäßig strukturiertes Ganzes
ist. Bildlich gesprochen: Sprache (als ganzes) ist nicht nur horizontal, sondern
auch vertikal strukturiert. Es gibt Zusammenhänge oder Verhältnisse inner-
halb des Sprachganzen, die einen ganz besonderen semantischen Charakter
haben. Einige Ausdrücke sind von anderen abhängig, insofern sie von diesen
„bestimmt" werden. So ist jeder logische Operator in diesem Sinne ein
„Determinator", ein Ausdruck, der einen anderen Ausdruck bestimmt. Dies
geschieht aber innerhalb eines „Sprachausschnitts" oder „Sprachsegments",
das sozusagen in sich selbst besteht und eine eigene innere Strukturiertheit
besitzt. Aber Sprache als ganze ist gerade dadurch charakterisiert, daß sie
eine Pluralität solcher Sprachausschnitte besitzt, die nicht in einer Art

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86 2 Begrifflich-methodische Grundlagen

Juxtapositionsverhältnis zueinander stehen, sondern so, daß das eine Sprach-


segment als ganzes von einem anderen Sprachsegment als ganzem abhängig
ist, d. h. von ihm bestimmt wird. „Sprachebenen" sind solche Sprachseg-
mente, die als ganze in einem bestimmten Abhängigkeits-, d. h. Bestim-
mungsverhältnis zueinander stehen. Jedem sprachlichen Ausdruck eignet
eine Strukturiertheit und diese soz. „individuelle" Strukturiertheit ist nur
Anzeige einer allgemeineren Strukturiertheit, d. h. der Strukturiertheit des
Sprachsegments, der Sprachebene. Ein sprachlicher Ausdruck ist bestimmt
(oder strukturiert) in dem Maße, in dem die Sprachebene, zu der er gehört,
bestimmt ist. Eine Sprachebene hat eine eigene syntaktisch-semantisch-
pragmatische Strukturiertheit. Die heute in der Philosophie vielbeschwore-
nen „conceptual schemes" (Begriffssysteme, Begriffsschemata) stellen so
etwas wie die begrifflich-kategoriale Strukturiertheit einer Sprachebene dar.
Wie ausgeführt wurde, stehen Sprachebenen in einem Meta-Objekt-Ver-
hältnis zueinander. Dieser Gesichtspunkt wurde in einer bestimmten Hinsiebt
besonders von Tarski im Rahmen der Unterscheidung von Objektsprache
\ind Metasprache gedeutet. Es ist aber hervorzuheben, daß das Verhältnis
zwischen Sprachebenen im hier gemeinten Sinne nicht adäquaterweise nur
im Rahmen und mit allen Konnotationen der genannten Unterscheidung,
so wie sie meistens verstanden wird, zu erklären ist. Die von vielen Philo-
sophen eingeführte und benutzte Unterscheidung zwischen Vordergrund-
sprache und Hintergrundsprache entspricht eher dem hier angesprochenen
Verhältnis zwischen Sprachebenen.
Aus dem Ausgeführten ist für die hier behandelte Thematik das wichtige
Ergebnis zu verbuchen, daß die Bestimmungsrelation, als welche A/E/D zu
verstehen ist, jetzt weiter bestimmt werden kann: Sie ist eine Relation
zwischen sprachlichen Ausdrücken, die einen semantischen Status haben
und zu verschiedenen Sprachebenen gehören. Dieses Resultat stellt einen ent-
scheidenden Schritt in Richtung auf eine grundsätzliche Klärung der A/E/
D dar. Denn jetzt wird klar, daß die (teilweise) semantische „Unbestimmt-
heit" (und damit Analyse-, Explikations- und Definitionsbedürftigkeit) sprach-
licher Ausdrücke ein relativer Faktor ist: ein sprachlicher Ausdruck ist
(teilweise) semantisch unbestimmt relativ zu einer anderen Spracbebene. Die
Überwindung der semantischen Unbestimmtheit ist die A/E/D und diese ist
die „Übersetzung" des semantisch qualifizierten sprachlichen Ausdrucks in
eine andere Sprachebene (genauer: in einen semantisch qualifizierten sprach-
lichen Ausdruck, der zu einer anderen Sprachebene gehört).
Daraus ist zu folgern, daß die Analyse-, Explikations- und Definitions-
bedürftigkeit semantisch qualifizierter sprachlicher Ausdrücke nur dann über-

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2.1 Was ist eine explikatw-definitionale Theorie? 87

haupt aufkommen kann, wenn eine andere Sprachebene schon, wenn nicht
verfügbar, so doch zumindest anvisierbar ist. Das „Bedürfnis" bzw. das
Problem der A/E/D ist in dieser Hinsicht nichts anderes als die Anzeige des
Umstands, daß das Sprachganze nicht auf das eingeschränkt wird, was oben
(eine) Sprachebene genannt wurde.

[5] Wie ist die Bestimmungsrelation zwischen sprachlichen, mit einem se-
mantischen Status versehenen Ausdrücken, die zu zwei verschiedenen
Sprachebenen gehören, näher zu bestimmen? Man könnte zunächst versu-
chen, eines von %wei bekannten Verfahren für diesen Zweck in Anspruch zu
nehmen.
(i) Das erste Verfahren besteht in der Einführung metasprachlicher Namen
für semantisch qualifizierte Ausdrücke der Objektsprache. Als Illustration
sei auf Tarskis „allgemeines Schema" (der Wahrheit) hingewiesen:
(Τ) χ ist eine wahre Aussage dann und nur dann, wenn p.28

Dieses Schema ist so zu verstehen, daß an die Stelle von ,x' der individuelle
Name für einen Satz und an die Stelle von ,p' dieser Satz selbst gesetzt
werden kann. Tarski erwähnt zwei Möglichkeiten, solche Namen zu kon-
struieren. Die erste rekurriert auf Anfuhrungszeichen und das Ergebnis sind
„Anführungsnamen". Ein Beispiel für die Ersetzung von ,x' durch einen so
gebildeten Namen in (T) ist folgender Satz:
(Ta) ,Es schneit' ist eine wahre Aussage dann und nur dann, wenn es schneit.

Eine zweite Möglichkeit besteht in der Bildung „strukturell-deskriptiver


Namen": diese Namen „beschreiben" sowohl die Wörter, aus denen der
durch den Namen denotierte Ausdruck besteht, als auch die einzelnen
Zeichen, aus denen jedes einzelne Wort zusammengesetzt ist, sowie auch
die Reihenfolge, in der diese Zeichen und Wörter auftreten. Unter Anwen-
dung dieser Methode sieht (Ta) so aus:
(Tb) Ein Ausdruck, der aus zwei Worten gebildet ist, von denen das erste aus
den zwei aufeinander folgenden Buchstaben: E, Es, das zweite aus den
sieben aufeinander folgenden Buchstaben: Es, Ce, Ha, En, Ε, I, Te besteht,
ist eine wahre Aussage dann und nur dann, wenn es schneit.29
Es ist bekannt, daß diese Methode der Bildung von Namen ein Problem im
Hinblick auf das Schema (T) aufwirft: Ist ,p' als Übersetzung des Satzes in

28 Tarski [1935] S. 450.


29 Vgl. a. a. O. S. 452.

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88 2 Begrifflich-methodische Grundlagen

die Metasprache anzusehen, für den ein (an die Stelle von ,x' einsetzbarer)
Anführungsname oder ein deskriptiv-struktureller Name gebildet wurde?
Wenn festgelegt ist, daß die Metasprache die Objektsprache enthält, so ist
die Antwort positiv.30 Es ist aber anzumerken, daß damit nur eine notwen-
dige, noch nicht eine hinreichende Bedingung für die Rede von Übersetzung
semantisch qualifizierter Ausdrücke der Objektsprache in solche der Meta-
sprache genannt wird. Noch weniger ist damit schon gesagt, wie die Über-
setzung genau zu verstehen ist. Aber auch wenn dies gesagt werden könnte,
wäre damit nicht das erreicht, was das Verfahren der A/E/D intendiert; denn
eine „Übersetzung" objekt-sprachlicher Ausdrücke in solche der Metaspra-
che tangiert nicht das Problem der (teilweisen) Unbestimmtheit der ersten;
die im Rahmen dieses Verfahrens gemeinte „Übersetzung" setzt nämlich
schon voraus, daß beide Arten von Ausdrücken semantisch eindeutig be-
stimmt sind.

(ii) Das zweite Verfahren besteht in der Einführung einer Metasprache mit
substitutionellem Quantor und substitutioneilen Variablen.31 Aber auch dieses
Verfahren kann nicht dazu dienen, die Bestimmungsrelation zwischen Am/
As bzw. Em/Es bzw. Dm/Ds zu erklären; denn auch dieses Verfahren setzt
voraus, daß die Substitutionsklasse der Ausdrücke der Objektsprache se-
mantisch eindeutig ist. Man könnte auch sagen: mit dem Problem der
Unbestimmtheit sprachlich-semantischer Ausdrücke befaßt sich dieses Ver-
fahren nicht.

[6] Im folgenden soll versucht werden, die Relation zwischen Am/As bzw.
Em/Es bzw. Dm/Ds auf der Basis des Begriffs der semantiscben Strukturiertbeit
der entsprechenden Ausdrücke zu erklären. Der Ausdruck ,semantische
Strukturiertheit' wird in Ermangelung eines besseren gewählt und soll hier
ausschließlich gemäß folgender Charakterisierung verwendet werden: Die
semantische Strukturiertheit eines Ausdrucks bemißt sich (i) an der Eindeu-
tigkeit des Gegebenseins des semantischen Wertes, (ii) an der Anzahl der
semantischen „Teil-Werte" (Arten von semantischen Werten), (iii) an der
Aufeinanderabgestimmtheit (Kohärender einzelnen semantischen „Teil-Werte".
Alle drei Faktoren lassen Grade zu, da man von einer geringen, größeren
oder totalen Eindeutigkeit, von einer kleineren oder größeren oder voll-

30 Tarski nimmt das an (vgl. seine Formulierung der „Konvention W" in Tarski
[1935] S. 476 f.).
31 Vgl. dazu ζ. B. Kripke [1976].

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2.1 Was ist eine explikativ-definitionak Theorie? 89

ständigen (An)Zahl und von einer schwächeren oder stärkeren oder totalen
Aufeinanderabgestimmtheit (Kohärenz) sprechen kann. Dementsprechend
ist es angebracht, von einer geringen oder größeren (stärkeren) oder totalen
semantischen Strukturiertheit zu sprechen.
Die drei genannten Faktoren dürften für die hier verfolgte Zielsetzung
als ausreichend klar angesehen werden. Dies dürfte insbesondere für den
zweiten und dritten Faktor gelten. Was den ersten Faktor anbelangt, sei eine
kurze Präzisierung angefügt. Als negatives Kriterium für ein nicht total
eindeutiges Gegebensein des semantischen Wertes eines sprachlichen Ausdrucks
kann man den Umstand betrachten, daß hinsichtlich des betreffenden Aus-
drucks vernünftige Fragen wie „Was heißt (der Ausdruck) A?" auftauchen.
Solche Fragen können allerdings in einer bestimmten Hinsicht auch die
beiden anderen Faktoren betreffen.
Die Bestimmungsrelation Β kann jetzt so präzisiert werden: Ein Ausdruck
ei B-bestimmt einen Ausdruck e2 dann und nur dann, wenn ei hinsichtlich
e2 eine stärkere semantische Strukturiertbeit als e2 aufweist. Damit ist auch
möglich, die Begriffe bzw. Verfahren der Analyse/ Explikation/Definition zu
präzisieren. Ein Ausdruck, der als Analysans/Explicans32 verstanden wird,
ist ein solcher, der einen anderen Ausdruck, ein Analysandum/Explicandum,
in dem Sinne bestimmt, daß er hinsichtlich des letzteren eine stärkere seman-
tische Strukturiertheit als letzterer aufweist. Entsprechendes ist von den
Ausdrücken zu sagen, die als Definiendum bzw. Definiens bezeichnet wer-
den.

[7] Man kann jetzt die Frage stellen, ob es sich im Falle der beiden Aus-
drücke Analysandum/Analysans bzw. Explicandum/Explicans und Definien-
dum/Definiens nicht vielleicht doch um eine Identität des semantischen
Wertes handelt. Dazu ist zu sagen, daß die Ausdrücke .Identität', .Äquiva-
lenz' u. ä. völlig ungeeignet sind, um das hier obwaltende Verhältnis zu
charakterisieren. Der semantische Wert des Analysandum bzw. Explicandum
bzw. Definiendum ist keineswegs identisch oder äquivalent mit dem seman-
tischen Wert des Analysans bzw. Explicans bzw. Definiens, wenn man Identität
und Äquivalent im strengen Sinne nimmt. Das Verhältnis ist anders charak-
terisiert. Man kann auch nicht sagen, daß der stärker strukturierte seman-
tische Wert etwa des Explicans aus dem Explicandum sozusagen „heraus-
geschält" wird, was voraussetzen würde, daß er im Explicandum sozusagen

32 Diese beiden Ausdrücke werden als synonyme Ausdrücke genommen, wie sich
aus den weiteren Ausführungen ergeben wird.

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90 2 Begrifflich-methodische Grundlagen

„verborgen" enthalten war. Solche Bilder sind völlig ungeeignet und daher
irreführend. Was beim „Übergang" etwa vom Explicandum zum Explicans
wirklich geschieht, läßt sich negativ bestimmen, indem man falsche und
inadäquate Vorstellungen abweist. Versucht man, dieses Verhältnis positiv
zu bestimmen, so dürfte es kaum möglich sein, mehr zu sagen, als oben
ausgeführt wurde.
Entgegen der Auffassung Quints wird jetzt auch klar, daß die das Verfahren
bzw. den Begriff der Analyse/Explikation bzw. der Definition charakterisie-
rende B-Relation · keineswegs eine rein verbale Angelegenheit ist — wenn
auch betont werden muß, daß sie dies auch ist.

[8] An dieser Stelle ist ein Hinweis auf das oben dargelegte Paradox der
Analyse am Platz. Man betrachte die Sätze
(a) (Der Begriff) Bruder = (der Begriff) Bruder
(a') (Der Begriff) Bruder = (der Begriff) männliches Geschwister.

Haben (a) und (a') dieselbe „Bedeutung"? Drücken sie dieselbe „Proposition"
aus? Im Lichte der dargelegten Konzeption ist die Frage so zu stellen: Haben
(a) und (a') denselben semantischen Wert/Status? Darauf kann jetzt eine
differenzierte und fundierte Antwort gegeben werden. Es wurde schon
vermerkt, daß die Antworten, die bisher auf diese Fragen gegeben wurden,
dem Umstand nicht Rechnung tragen, daß zwar (a) ohne (a'), nicht aber
relativ oder in Verbindung mit (a') als bestimmt aufgefaßt werden kann, (a)
und (a') gehören zu verschiedenen Sprachebenen, so daß einfache Aussagen
über Bestimmtheit, Identität, Äquivalenz u. ä. nicht möglich sind. Schon
aus diesem Grund ist zu sagen, daß sie verschiedene Propositionen ausdrücken.
Der Hinweis darauf, daß nur (a') informativ ist, ist korrekt, aber dies zeigt,
daß (a') zu einer anderen Sprachebene als (a) gehört.

2.1.4.4 Grundmotivation und Grundgedanke


der rational-systematischen Rekonstruktion (= RSR)
[1] Bisher war vom Verhältnis von Analysandum und Analysans bzw.
Explicandum und Explicans bzw. Definiendum und Definiens auf nicht
weiter differenzierte Weise die Rede. Dies ist absichtlich geschehen, weil
eine zentrale Aufgabe bis auf den jetzigen Kontext der Darstellung aufgespart
werden mußte: die Aufgabe, terminologische, normative und sachliche Fest-
legungen zu treffen. Das Problem läßt sich so umschreiben: Die B-Relation
ist bis jetzt wie eine Relation auf einer nach unten und nach oben offenen

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2.1 Was ist eine explikatw-dtfinitionale Theorie? 91

Skala charakterisiert worden; was hat es damit auf sich? Das Verfahren des
Bestimmens bzw. des Bestimmtwerdens ist so etwas wie ein kontinuierlicher
Prozeß von einem gegebenen Ausgangspunkt bis zu einem bestimmten
Endpunkt. Man kann im Prinzip einen solchen Prozeß in verschiedene
diskrete Einheiten durch „Setzung" einteilen. Hinsichtlich des Prozesses des
B-Bestimmens eines Analysandum/Explicandum/Definiendum ist der An-
fang dadurch gegeben, daß die entsprechenden Ausdrücke uns von der
natürlichen Sprache, die wir sprechen und gebrauchen, eben vor-gegeben
ist. Hat aber der B-Bestimmungsprozeß ein Ende? Dies kann wohl gesagt
werden: Das Ende ist dort gesetzt, wo es nur noch zwei semantische
Möglichkeiten gibt: die positive und die negative Bestimmtheit. Beispiels-
weise ist eine Definition eines Prädikatausdrucks dann in dem genannten
Sinne das Ende eines (B-Bestimmungs-)Prozesses, wenn das Definiens nur
noch zwei „Fälle" kennt oder zuläßt: die positiven und die negativen; d. h.:
im Hinblick auf jedes Objekt überhaupt besagt das Definiens im strengen
Sinne, daß jedes Objekt unter das so definierte Prädikat „fällt" (positive
Bestimmtheit) oder „nicht fällt" (negative Bestimmtheit).
Wie soll man aber die Einteilung des Prozesses in einzelne diskrete
Einheiten zwischen dem „natürlich-sprachlichen" Ausgangspunkt und dem
„vollbestimmten" Endpunkt im erläuterten Sinne konzipieren? Soll man den
„semantischen Raum" zwischen dem so aufgefaßten Ausgangspunkt und
dem vollbestimmten Endpunkt ignorieren? Dies würde bedeuten, daß man
auf der einen Seite nur Ausdrücke der weitgehend unpräzisen und unbe-
stimmten natürlichen Sprache und auf der anderen Seite nur Ausdrücke einer
(oder der) absolut bestimmten, d. h. — im strengen soeben erläuterten Sinne
— woh\definterten (wissenschaftlichen) Sprache hätte. Ist dies empfehlenswert
und realisierbar? Dies ist schon deswegen zu verneinen, weil man dann einen
erheblichen, ja den größten Teil der wissenschaftlichen (und philosophi-
schen) Arbeiten gar nicht mehr anerkennen könnte, denn die allermeisten
wissenschaftlichen und philosophischen Konzeptionen sind dadurch charak-
terisiert, daß sie weder nur naiv-natürliche noch nur schlechthin total defi-
nierte Ausdrücke verwenden. Will man diesem Gesichtspunkt Rechnung
tragen, so muß man Festlegungen treffen, d. h. hier: den genannten (B-
Bestimmungs-)Prozeß sozusagen in bestimmte Abschnitte einteilen. Eine
solche Einteilung beinhaltet einen wesentlich normativen Aspekt. Dies ist die
Grundmotivation und der Grundgedanke der rational-systematischen Rekon-
struktion (= RSR).

[2] In der für theoretische Zwecke strukturierten und reglementierten Spra-


che kann man eine ganze Reihe von Ausdrücken ausfindig machen, die

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92 2 Begrifflich-methodische Grundlagen

sozusagen Punkte auf der genannten Skala des (B-Bestimmungs-)Prozesses


markieren. So etwa: .Paraphrasierung', .Erläuterung', .Erhellung', .Verdeut-
lichung', .Analyse', .Erklärung', .Explikation', .Definition'... Soll man alle
diese — und noch andere nicht genannte — Ausdrücke in dem Sinne ernst
nehmen, daß man sie als Anzeige jeweils einer anderen Marke auf der
genannten Skala auffaßt? Das dürfte ausgeschlossen sein, nicht nur weil die
meisten der genannten Ausdrücke sehr vage sind, sondern auch weil dadurch
die theoretische Arbeit erheblich beeinträchtigt würde. Es empfiehlt sich
nicht, allen Nuancen und Stufen der in der natürlichen Sprache in irgendeiner
Weise gegebenen „Bedeutung" eines Ausdrucks Rechnung zu tragen.
Auf der Basis solcher und ähnlicher Überlegungen erscheint es sinnvoll,
zwei und nur zwei Stufen einzuführen und anzuerkennen: eine sozusagen
mittlere und eine endgültige. Auf die mittlere sollen die Aufgaben und Lei-
stungsmöglichkeiten all jener Verfahrensausdrücke reduziert werden, die
diesseits der durch (positive und negative) Vollbestimmtheit charakterisierten
Stufe verbleiben. Für diese letzte durch semantische Vollbestimmtheit ge-
kennzeichnete Stufe des Bestimmungsprozesses soll der Ausdruck Definition
( = D), für die andere mit Nicht-Vollbestimmtheit behaftete Stufe der Aus-
druck Explikation ( = E) verwendet werden. Der Ausdruck Erklärung (=
ER) soll den ganzen semantischen Bestimmungsprozeß undifferenziert be-
zeichnen; das heißt: Erklärung wird verwendet, wenn es bei der Charakte-
risierung des semantischen (B-Bestimmungs-)Prozesses nicht auf die Unter-
scheidung zwischen den Stufen der Explikation und der Definition ankommt.
Eine Erklärung ist also gegeben, wenn eine Explikation oder eine Definition
oder beides vorliegt. Identifiziert man Erklärung, Explikation und Definition
mit jeweils einer Menge von prozeduralen Schritten oder von Strukturmo-
menten, so ist Erklärung die Vereinigungsmenge, bestehend aus Explikation
und Definition:

ER = Ε (J D.

Hingegen ist die rational-systematische Rekonstruktion das geordnete Paar, beste-


hend aus Explikation und Definition:

RSR = <E, D>.

[3] Um den Begriff bzw. das Verfahren der RSR näher zu charakterisieren,
ist vom Begriff des semantischen Status eines sprachlichen Ausdrucks auszu-
gehen. Wie aus den obigen Ausführungen ersichtlich ist, besteht der seman-
tische Status eines Ausdrucks darin, daß dem Ausdruck der oben (Abschnitt

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2.1 Was ist eine explikativ-defimtionaU Theorie? 93

2.1.2) herausgearbeitete dreifach strukturierte oder dreischichtige semantische


Wert zugeordnet wird. Hier ist nun der weitere Schritt zu tun, indem
festgestellt bzw. festgelegt wird, daß diese Zuordnung in einer dreifachen
Hinsicht erfolgt: in positiver, negativer und unbestimmter Hinsicht. Am einfach-
sten und einleuchtendsten sind diese drei Hinsichten im Hinblick auf den
rein extensionalen semantischen „Teil-Wert" eines Ausdrucks zu charakterisie-
ren. Im Falle etwa eines Prädikats Ρ fuhrt man eine Interpretation s über
dem Objektbereich D ein, die jedem r-stelligen Ρ ein Tripel Ρ;, P?>,
bestehend aus dem Positivbereich (der Extension), dem Negativbereich (der
Anti-Extension) und dem Unbestimmtheitsbereich von Ρ bei s, zuordnet,
wobei

p,+ υ Ρ, U P? = Dr.
Um den allgemeinen semantischen Status eines Ausdrucks zu bestimmen, muß
man freilich nicht nur den extensionalen Teil-Wert, sondern auch die beiden
anderen Teil-Werte, den direkt informationalen und den funktionalen, be-
rücksichtigen, d. h.: man muß eine den drei semantischen Teil-Werten ent-
sprechende dreifache Interpretationsfunktion einführen. Wie dies technisch zu
bewerkstelligen ist, kann in diesem Buch weder gezeigt noch durchgeführt
werden.
Auf der Basis des allgemeinen semantischen Status läßt sich ein dreifacher
spezifischer semantischer Status unterscheiden:
— der vorsystematische
— der programmatisch-systematische
— der bestimmt-systematische.

Der vorsystematische semantische Status ist charakteristisch für Ausdrücke der


natürlichen Sprache, insofern und weil sie reine Kandidaten für eine Erklärung
bzw. rational-systematische Rekonstruktion sind. Einen programmatisch-syste-
matischen Status haben Ausdrücke, die als Explikate (Explicantia) fungieren.
Schließlich ist der bestimmt-systematische Status den Ausdrücken zuzuschrei-
ben, die als Definientia im strengen Sinne gelten (können). Im folgenden ist
dieser dreifache Status informell-intuitiv näher zu charakterisieren. Damit
wird auch das Verfahren der Explikation und der Definition näher bestimmt.
Zu diesem Zweck wird auf den Gesichtspunkt des Vorkommens oder der
Verwendungsweise eines Ausdrucks rekurriert.

[4] Der vorsystematische semantische Status eines Ausdrucks der natürlichen


Sprache ist dadurch charakterisiert, daß die Gesamtheit der Verwendungs-

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94 2 Begrifflich-methodische Grundlagen

weisen des Ausdrucks im Prinzip (wenn auch nicht immer — vielleicht auch
nicht meistens — in der Praxis) eine semantische Interpretation zuläßt, die
nicht nur die positive, die negative und die unbestimmte „Angabe" (oder Ge-
gebenheit) des (dreifachen) semantischen Werts, sondern auch „Mischfor-
men" oder „Kombinationen" dieser drei Hinsichten beinhaltet. M. a. W.: im
Falle eines Ausdrucks der natürlichen Sprache mit einem vorsystematischen
semantischen Status sind Verwendungsweisen (des Ausdrucks) zumindest im
Prinzip nicht ausgeschlossen, die einen positiv-negativen (d. h. inkonsistenten),
einen positiv-unbestimmten und einen negativ-unbestimmten semantischen
Status haben. Dies läßt sich im Falle des extensionalen semantischen Teil-
Werts eines Prädikats Ρ so präzisieren: Für den vorsystematischen (extensio-
nalen) semantischen Status von Ρ gilt nicht (im Prinzip):
p+ η Fx = p,+ η p? = ρ, η p ? = 0.

Es ist zu betonen, daß die genannten „Kombinationen" von Verwendungs-


weisen im Falle eines Ausdrucks mit vorsystematischem semantischem Status
im Prinzip nicht ausgeschlossen sind. Es ist ferner zu beachten, daß diese
Bestimmung des semantischen Status der Ausdrücke der natürlichen Sprache
auf einer sehr starken Annahme beruht, auf der Annahme nämlich, daß die
natürliche Sprache hoffnungslos und vielfaltig vage, unpräzise, ja in vielfäl-
tiger Weise inkonsistent ist. Damit reiht sich der hier verfolgte Ansatz in
die Reihe derjenigen Konzeptionen ein, die die natürliche Sprache gerade
nicht zum Maßstab für Philosophie und Wissenschaft erheben, sondern sie
im Gegenteil als für diesen Zweck unbrauchbar; weil schlechterdings kor-
rekturbedürftig, betrachten. Daß moderne Logiker wie Frege, Quirn u. a.
diese Auffassung vertreten, ist bekannt: Sie versuchen ja, eine „reglemen-
tierte Sprache" einzuführen und zu verwenden.33 Aber auch ein systematisch-
spekulativer Philosoph wie Hegel bekundet dieselbe Einstellung gegenüber
der natürlichen Sprache.34 Andere Logiker und Semantiker allerdings ver-

33 Vgl. u. a. G. Frege, „Logik (zwischen 1879 und 1891)" in Frege [1983] S. 7:


„Es ist also...das Geschäft des Logikers ein fortwährender Kampf gegen das
Psychologische und zum Teil gegen die Sprache und Grammatik, insofern sie das
Logische nicht rein zum Ausdruck bringen." Vgl. auch Quine [1960] Kap 5:
„Reglementierung".
34 Vgl. Hegel [1816] S. 130:
„Die Philosophie hat das Recht, aus der Sprache des gemeinen Lebens, welche
für die Welt der Vorstellung gemacht ist, solche Ausdrücke zu wählen, welche
den Bestimmungen des Begriffs nahe ς« kommen scheinen. Es kann nicht darum zu
thun seyn, fur ein aus der Sprache des gemeinen Lebens gewähltes Wort zu erweise»,

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2.1 Was ist eine explikativ-dtfinitionale Theorie? 95

treten eine andere Auffassung. So entwickelt U. Blau eine dreiwertige Logik


der Unbestimmtheiten (L3), die andere Annahmen macht. Er führt den
Begriff einer Kontextsprache Κ ein, worunter er ein Tripel (N, S, T} mit
einer natürlichen Sprache N, einer Menge S von Sprechern und einem
Zeitraum Τ (mit einschränkenden Bedingungen) versteht. Das dreiwertige
formale Gegenstück zu Κ ist die formale Sprache von L3 zusammen mit
einer Interpretation φ über dem Objektbereich D von K, die jedem r-
stelligen Prädikatparameter Ρ ein Tripel <Ρφ» P^>, P£> zuordnet, wobei Blau
die oben genannten Mischformen im Falle der Kontextsprache nicht aner-
kennt, d. h.: nach ihm gilt für eine solche Sprache:35

p j η ρ , = p j η ρ ; = p„ η ρ ; = 0.
Aber nach Blau ist die Auffassung, daß zwischen dem Positiv-, dem Negativ-
und dem Neutralbereich im Falle einer natürlichen Sprache wie des Gegen-
wartdeutschen scharfe Grenzen bestehen, völlig unplausibel; demnach sind
Mischformen wie die oben genannten in einer solchen Sprache nicht aus-
zuschließen. Im Gegensatz zu der im folgenden darzustellenden Konzeption,
dergemäß im Fall einer in bezug auf Vagheit „geläuterten" Sprache nur
noch der Positiv- und der Negativbereich gegeben sind, bleibt Blau allerdings
dabei, daß der Neutralbereich auch für einen allwissenden36 (vollkommen
rationalen, idealisierten) Sprecher nicht ausschaltbar ist.
Es ist hier nicht der Ort, in eine Auseinandersetzung mit letzterer Kon-
zeption einzutreten. Es sei nur vermerkt, daß man ohne die Annahme der
erwähnten Mischformen das ganze Unternehmen der Erklärung, d. h. der
Explikation und Definition, der (Bedeutung der) Ausdrücke der natürlichen
Sprache, schwerlich genau bestimmen und in den Griff bekommen kann.

[5] Der programmatisch-systematische semantische Status charakterisiert Aus-


drücke, die als ExplicantiajExplicata einzustufen sind. Dieser Status ist ein
mittlerer Status zwischen dem semantischen Status der der rein natürlichen
Sprache zuzurechnenden Ausdrücke und dem semantischen Status der eine

daß man auch im gemeinen Leben denselben Begriff damit verbinde, für welchen
es die Philosophie gebraucht, denn das gemeine Leben hat keine Begriffe, sondern
Vorstellungen, und es ist die Philosophie selbst, den Begriff dessen zu erkennen,
was sonst blosse Vorstellung ist. Es muß daher genügen, wenn der Vorstellung
bey ihren Ausdrücken, die für philosophische Bestimmungen gebraucht werden,
so etwas ungefähres von ihrem Unterschiede vorschwebt...".
35
Vgl. Blau [1985] S. 372.
36
Vgl. a. a. O. S. 371.

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96 2 Begrifflich-methodische Grundlagen

vollständig bestimmte, d. h. definierte (wissenschaftliche) Sprache charak-


terisierenden Ausdrücke. Er besitzt also weder die Perfektion der letzteren
noch die „Chaotizität" der ersteren. Wie mehrmals betont wurde, ist es bis
zu einem gewissen Punkt eine Sache der Konvention, wie man diesen mittleren
Status genau bestimmt. Hier wird folgender Vorschlag gemacht: ein Aus-
druck, der als Explicans/Explikat dient, ist dadurch charakterisiert, daß
Verwendungsweisen ausgeschlossen sind, die einen rein unbestimmten und
einen inkonsistenten semantischen Status des Ausdrucks beinhalten; nicht
ausgeschlossen sind hingegen Verwendungsweisen, die einen positiv-unbe-
stimmten und einen negativ-unbestimmten semantischen Status des Aus-
drucks voraussetzen. Dies läßt sich im Falle des extensionalen semantischen
Teil-Wertes eines als Explicans/Explikat qualifizierten Prädikats Ρ formal so
präzisieren:
(p.+ π P?) υ (F. η P?) Φ 0.
[6] Der (voll)bestimmt-systematiscbe semantische Status ist der für Definientia
charakteristische Status. Im Lichte der vorhergehenden Ausführungen ist er
leicht anzugeben: Die als Definientia dienenden Ausdrücke sind nur durch
Verwendungsweisen charakterisiert, die einen positiven und einen negativen
semantischen Status des Ausdrucks beinhalten. Jede Unbestimmtheit, in
welcher Form auch immer, und alle oben genannten Mischformen des
semantischen Status sind ausgeschlossen. Diese Kategorie von Ausdrücken
besitzt also als einzige einen vollbestimmten semantischen Status. Im Falle des
extensionalen semantischen Teil-Werts (bzw. Status) von Ρ gilt:
P+ U P , = D'.

[7] Jetzt können auch die Begriffe bzw. Verfahren der Explikation und der
Definition genauer charakterisiert werden. Explikation ist die B-Bestimmung
eines Ausdrucks mit vorsystematischem semantischem Status durch die
Einführung eines Ausdrucks mit programmatisch-systematischem Status.
Definition ist jenes Verfahren, durch welches ein Ausdruck mit program-
matisch-systematischem Status durch einen Ausdruck mit bestimmt-syste-
matischem Status bestimmt wird.
Drei Bemerkungen sind hier am Platze.
[i] Die oben vorgelegte Charakterisierung der Definition ist nicht dahinge-
hend zu verstehen, daß damit die Definition in jeder — ζ. B. in formaler —
Hinsicht genau bestimmt worden ist. Die obige Charakterisierung erfolgte
nur in einer Hinsicht, nämlich insofern die Definition eine (die zweite) Stufe

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2.1 Was ist eine explikativ-definitionale Theorie? 97

im Rahmen des Verfahrens der RSR darstellt. Nichts wurde gesagt über andere
(formale) Merkmale der Definition, besonders über die bekannten zwei
Grundmerkmale der Nicht-Kreativität und der Elimiiiierbarkeit (des Defi-
niendum). Darauf einzugehen ist nicht Aufgabe des vorliegenden Werkes.
Es sei nur angemerkt, daß die im Sinne der zwei genannten Merkmale
aufgefaßte Definition den semantischen Status des Definiendum nur insofern
thematisiert, als eine (definitorische) Identitätsrelation zwischen ihm und
einem anderen Ausdruck eingeführt bzw. artikuliert wird. Diese Identitäts-
relation wird ihrerseits nur durch die genannten Merkmale näher bestimmt.
Die so aufgefaßte Definition macht die Voraussetzung, daß jener Ausdruck,
der den Status eines Definiendum hat, semantisch vollständig bestimmt ist,
denn genau dies soll ja das Definiens „zum Ausdruck bringen". Im Lichte
der hier vertretenen Konzeption ist diese Voraussetzung weder falsch noch
willkürlich; vielmehr ist sie so zu deuten: die Definition im hier gemeinten
„formalen" Sinne betrachtet einen Ausdruck, das „Definiendum", nur im
Hinblick, auf seine einen positiven und einen negativen semantischen Status beinhaltenden
Verwendungsweisen. Vollkommen außer Betracht bleibt dabei die Frage, ob
dieser Ausdruck auch Verwendungsweisen hat, die nicht nur einen positiven
bzw. negativen semantischen Status beinhalten; m. a. W.: nicht thematisiert
wird dabei der Umstand, daß er in der natürlichen (oder Bildungs-)Sprache
vorgegeben ist. Gerade diese Thematik versucht die Charakterisierung der
Definition als der ^weiten Stufe des Verfahrens der rational-systematischen
Rekonstruktion zu klären.

[ii] Das Verfahren der RSR ist ein idealisiertes Verfahren. In der Praxis wird
es selten vorkommen, daß die beiden Stufen der Explikation und der
Definition gemäß der vorgelegten (teilweise normativ bestimmten) Deutung
und in der angegebenen Reihenfolge berücksichtigt werden. RSR ist so
etwas wie ein regulativer Grundrahmen, dessen Zweck darin besteht, daß er
grundsätzliche und programmatische Klarheit über das verwickelte Unter-
nehmen der Erklärung schafft: bzw. ermöglicht. Welche Schritte man im
gegebenen Fall tatsächlich unternimmt oder unternehmen soll, hängt von
konkreten (und oft sehr kontingenten) Faktoren ab. So ist es oft unbedenk-
lich, ja empfehlenswert, die Zwischenstufe Explikation einfach zu übersprin-
gen und gleich eine Definition (der Bedeutung) eines in der natürlichen
Sprache vorkommenden Ausdrucks vorzulegen. Dies ist dann der Fall, wenn
sich etwa zeigt, daß der fragliche Ausdruck in der natürlichen Sprache etwa
von Inkonsistenzen gänzlich und von Unbestimmtheiten weitgehend frei
ist, und/oder daß seine Explicantia/Explikate (im hier erläuterten Sinne) in

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98 2 Begrifflich-methodische Grundlagen

der Philosophie bzw. in der Wissenschaft unnötig, unwichtig oder uninter-


essant sind (beispielsweise aus dem Grunde, weil es sich als möglich erweist,
für den Ausdruck eine klare und überzeugende Definition vorzulegen).
Wichtig ist allerdings dann, daß vollständige Klarheit hinsichtlich des Ver-
fahrens besteht. Wie sich im Kapitel 4 zeigen wird, sind etwa Explicantia/
Explikate des Wahrheitsbegriffs nur im konkreten Fall einer philosophischen
Arbeit interessant.
[iii] Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß die obige teilweise formale
Bestimmung der RSR bzw. der Explikation und der Definition von seman-
tischen Mitteln Gebrauch gemacht hat, die sich später in einer bestimmten
Hinsicht als fragwürdig oder zumindest als stark präzisierungs- und korrek-
turbedürftig herausstellen werden. Insbesondere handelt es sich um die
Erklärung (des semantischen Werts) des Prädikats Ρ in der angegebenen
Weise. Später wird sich zeigen, daß damit die umfassende Bedeutung des
Kontextprin^ips in seiner starken Version nicht beachtet wurde. Dennoch
erschien dieses Vorgehen als legitim, da es einerseits nicht möglich ist, gleich
in diesem Kapitel die späteren Resultate eingehend zu berücksichtigen, und
andererseits die nötigen Korrekturen im Lichte der späteren Ausführungen
durch den Leser selbst leicht nachgeholt werden können. Hier war es vor
allem um möglichst große Verständlichkeit der Darstellung zu tun.

2.2 Zum Verhältnis von Theorie der Wahrheit


und Sprache

2.2.1 Die zentrale Stellung der Sprache

In diesem Abschnitt soll das Verhältnis von explikativ-definitionaler Theorie


der Wahrheit und Sprache nur in einer bestimmten Hinsicht geklärt werden.
Man kann diese Hinsicht eine begrifflich-methodologische nennen und sie
in eine dreifache Frage kleiden: Erstens: Aus welcher Sprache wird der
Ausdruck/Begriff ,,Wahr(heit)" entnommen? Zweitens: Für welche Sprache
wird der Ausdruck/Begriff ,,Wahr(heit)" expliziert/definiert? Drittens: In
welcher Sprache wird die Theorie der Wahrheit dargestellt? Es ist somit klar,
daß in diesem Abschnitt nicht andere, ebenfalls zentrale Aspekte des Ver-
hältnisses von Theorie der Wahrheit und Sprache behandelt werden.

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2.2 Zum Verhältnis von Theorie der Wahrheit und Sprache 99

Diese dreifache Problemstellung ist nur dann verständlich und relevant


bzw. von kaum zu überschätzender Bedeutung, wenn man der Sprache eine
zentrale Rolle in der Philosophie und damit auch in der Theorie der Wahrheit
einräumt. Diese Annahme wird hier in aller Deutlichkeit gemacht. Daß sie
gerechtfertigt ist, wird sich aus dem ganzen Duktus der hier darzustellenden
Konzeption ergeben. Im gegenwärtigen Kontext möge eine grundsätzliche
Überlegung genügen, deren Tragweite auch in anderen Zusammenhängen
deutlich werden wird.
Es gibt einen Umstand, von dem kaum ein Philosoph wird absehen
können und aus dem sich die absolut zentrale Stellung der Sprache zwingend
ergibt. Dies ist die Unvermeidlichkeit der sprachlichen Darstellung philo-
sophischer Theorien, wobei auch formale Systeme als Sprachen begriffen wer-
den (müssen). Es ist nicht denkbar, daß eine Philosophie vertreten und
mitgeteilt werden kann, ohne daß sie sprachlich dargestellt wird. Man mag
dabei Sprache sogar zunächst als reines Medium der Darstellung konzipieren.
Dies genügt, um zu zeigen, daß Sprache nicht nur irgendwie unentbehrlich
ist, sondern daß ihre Struktur eine bestimmende Rolle hinsichtlich aller
philosophischen (Einzel-)Theorien spielt. Dies läßt sich leicht zeigen: Auch
wenn Sprache als reines Medium oder Vehikel für die Mitteilung von
Gedanken (was immer das sein mag) charakterisiert wird, hat sie als solches
Medium/Vehikel eine bestimmte Struktur, die analysierbar, verbesserbar und
korrigierbar ist. Ist nun die Sprache als Medium/Vehikel im angegebenen
Sinne unentbehrlich, so ergibt sich daraus, daß alle Gedanken, Theorien
usw. durch die Struktur der Sprache sozusagen „hindurchgehen" oder der
Struktur der Sprache zugeordnet werden müssen und auch tatsächlich zu-
geordnet werden.
Trifft man diese grundlegende Feststellung und zieht man aus ihr die
genannte grundlegende Folgerung, so können prinzipiell drei Sichtweisen
bezüglich der Sprache vertreten werden, die sich gegenseitig ausschließen,
so daß man von einem Trilemma sprechen kann: (i) Entweder ist die Sprache
unfähig, die Gedanken (noch einmal: was immer das sein mag) zur Dar-
stellung zu bringen, (ii) oder sie entstellt oder misrepräsentiert die Gedanken,
(iii) oder schließlich ist sie geeignet, die Gedanken zu artikulieren. Entscheidet
man sich für (i), so begeht man eine Inkohärenz und nimmt eine völlig
unplausible Konsequenz in Kauf. Die Inkohärenz ist darin enthalten, daß
man doch Sprache benutzt, um den in (i) enthaltenen oder eben: ausgespro-
chenen Gedanken zu formulieren. Die unplausible Konsequenz ist eine totale
Dichotomie zwischen Philosophie und sprachlicher Darstellung. Wenn je-

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100 2 Begrifflich-methodische Grundlagen

mand eine solche Einstellung hat, wird er in der Regel an „verborgene",


„große" Gedanken appellieren, die aber unaussprechbar seien. Die „Sprach-
not" ist aber kein überzeugendes Argument in der Philosophie.
Eine analoge Inkohärenz und unplausible Konsequenz kann auch im Falle
der Konzeption (ii) nachgewiesen werden. Denn auch hier wird Sprache
benutzt, um die These zu vertreten, daß Sprache die Gedanken entstellt;
ferner ergibt sich daraus eine trübe Aussicht: wenn Philosophie nur durch
ein ihre Gedanken entstellendes Medium mitgeteilt weden kann, welchen
Sinn hat es überhaupt, Philosophie zu betreiben? Wo und wie werden die
(angeblich) „reinen" (d. h. sprachlich nicht entstellten) Gedanken gewonnen
bzw. artikuliert? E s bleibt nur Alternative (iii). Aber aus ihr ergibt sich eine
bedeutsame, überaus wichtige Konsequenz: Wenn die Sprache ein unent-
behrliches und geeignetes Mittel für die Mitteilung von Gedanken ist und
wenn sie eine deutliche und detaillierte Struktur besitzt, dann können die
Struktur der Gedanken und die Struktur der Sprache nicht schlechterdings
auseinanderklaffen. An der Sprache ist die Struktur der Gedanken (und
allgemein all dessen, was man behauptet und annimmt) ablesbar. O b man
etwa mentale, reale — im Sinne von „geistunabhängige" — oder ideale oder
transzendente oder wie auch immer geartete Entitäten annimmt, deren
Strukturiertheit kann nicht völlig verschieden von der sprachlichen Struk-
turiertheit sein. Die Ablehnung dieser These muß eine Konsequenz behaup-
ten und in Kauf nehmen, deren Inakzeptabilität auf der Hand liegt, die
Konsequenz nämlich, daß eine Dichotomie zwischen Erfassung bzw. Dar-
stellung von Gedanken und Sprache angenommen wird. Aber eine solche
Dichotomie kann sich selbst gar nicht verständlich machen.
Was die explikativ-definitionale Theorie der Wahrheit angeht, so kommt
das Verhältnis von Wahrheitsbegriff bzw. Theorie der Wahrheit und Sprache
in den drei oben formulierten Fragen eben „zur Sprache". Diese sind in den
nun folgenden drei Abschnitten zu behandeln und zu beantworten.

2.2.2 Aus welcher Sprache wird ,,Wahr(heit)" entnommen?

Die erste Frage dürfte die am leichtesten zu beantworten sein: ,,Wahr(heit)"


wird aus der Sprache bzw. aus den Sprachen entnommen, in der/denen der
Ausdruck ,Wahr(heit)' vorkommt. Das ist in jedem Fall unsere natürliche,
historisch gewachsene, durch eine große literarische Produktion angerei-
cherte und sich als Teil einer bedeutsamen Bildungs- und Theoriegeschichte

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2.2 Zum Verhältnis von Theorie der Wahrheit und Sprache 101

verstehende Sprache. Sie ist in einem Umgangssprache, Bildungssprache,


(zumindest Teil einer ganzen Reihe von) Fachsprache(n). In dieser Sprache
bzw. in diesen Sprachen gebührt dem Ausdruck ,Wahr(heit)' eine herausra-
gende Stellung. Die Kehrseite der Medaille muß allerdings gleich genannt
werden: dieser außerordentlich intensive Gebrauch des Ausdrucks
,Wahr(heit)' hat es mit sich gebracht, daß die Bedeutung dieses Ausdrucks
extrem breit und extrem vage ist. Darauf ist hier nicht im einzelnen einzu-
gehen.
Eine andere Frage muß hier in aller Kürze angesprochen werden: Ist der
Ausdruck ,Wahr(heit)' für alle Sprachen relevant? Dies ist weitgehend eine
empirische Frage. Von philosophischem Interesse ist die Frage dann, wenn
man sie dahingehend präzisiert, ob unser Ausdruck ,Wahr(heit)' in andere
bzw. in alle Sprachen übersetzbar ist. Eine Antwort auf diese Frage wäre nur
dann als gut fundiert anzusehen, wenn man das grundsätzliche Überset-
zungsproblem behandeln würde. Aus den weiteren Ausführungen dieses
Buches werden sich einige wichtige Einsichten für die Beantwortung dieser
Frage ergeben. Aber die Frage gehört, strenggenommen, in den Bereich der
am Anfang von 2.2.1 formulierten zweiten Frage.
An dieser Stelle ist auf ein außerordentlich wichtiges „Phänomen" in der
Geschichte der Wahrheitstheorie hinzuweisen, das in den gewöhnlichen
Behandlungen der hier anstehenden Problematik symptomatischerweise
kaum oder überhaupt nicht gesehen und behandelt wird. Der für die
abendländischen Sprachen charakteristische Ausdruck bzw. Begriff
,,Wahr(heit)" hat nicht nur lateinische, sondern besonders auch griechische
und hebräische Wurzeln. Es wird nun in der bibelexegetischen, theologie-
und philosophiehistorischen Literatur allgemein angenommen, daß dem
Ausdruck ,Wahr(heit)' im Hebräischen das Wort ,Emet' und im Griechischen
das Wort .Aletheia' entspricht. Auf der Basis dieser Annahme wird dann
von einigen Theologen und Philosophen ein grundlegender Unterschied
zwischen dem (angeblichen) (hebräisch-)biblischen, dem griechischen und
dem neuzeitlichen .Wahrheitsverständnis' (und Wirklichkeitsverständnis)
festgestellt.1 Der gängigen Auffassung zufolge besagt ,Emet' soviel wie: die
Verläßlichkeit, die unverbrüchliche Tragfähigkeit einer Sache oder eines
Wortes. Daß dies eine Bedeutung ist, die wenig zu tun hat mit dem, was
wir heute allgemein unter „Wahr(heit)" verstehen, dürfte leicht einleuchten.
Aber auch die Inbezugsetzung der (modernen) „Wahr(heit)" zur griechischen

1 Vgl. dazu: Boman [1952], Müller [1964], bes. Teil C, Kap. IV und V (vgl. speziell
S. 228 ff.).

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102 2 Begrifflich-methodische Grundlagen

Aletheia erscheint vielen Philosophen höchst problematisch. So stellte Hei-


degger am Ende seines Lebens fest:
„Die Frage nach der Aletheia, nach der Unverborgenheit als solcher, ist
nicht die Frage nach der Wahrheit. Darum war es nicht sachgemäß und
demzufolge irreführend, die Aletheia im Sinne der Lichtung Wahrheit zu
nennen."2

Es kann daher nicht fraglos davon ausgegangen werden, es gäbe so etwas


wie eine von der Vielfalt der Sprachen und von der geschichtlichen Ent-
wicklung nicht tangierbare universale Frage nach der Wahrheit und eine
identisch bleibende, nur sich in verschiedenen „Gestalten" konkretisierende
„Bedeutung" von ,,Wahr(heit)". Eine solche Annahme erscheint höchst
fragwürdig, was sich u. a. darin zeigt, daß sie zu unhaltbaren (u. a. weil
unverständlichen) Behauptungen fuhrt, wie den folgenden: ,Emet' und
.Aletheia* sind Terme, die „dasselbe" bedeuten, nur mit dem Unterschied,
daß sie ein jeweils radikal anderes („hebräisches" bzw. „griechisches") „Wahr-
heitsverständnis" indizieren. Die sowohl historisch als auch philosophisch
(und theologisch) sehr interessante Frage ist im jetzigen Kontext die fol-
gende: Wie ist es zu erklären, daß in der in Alexandrien im 3./2. Jahrhundert
v. Chr. entstandenen Übersetzung des Alten Testamentes (der sog. „Septua-
ginta") das hebräische Wort ,Emet' durch .Aletheia' wiedergegeben wird?
War dies eine Übersetzung oder eine Interpretation oder ein Mißverständnis?
Es sollte in diesem Abschnitt nur soviel gezeigt werden: eine Theorie der
Wahrheit entnimmt den Ausdruck, mit dem sie sich beschäftigt, aus einer
außerordentlich reichen Sprach- und Kulturgeschichte. Wie immer die Pro-
bleme bezüglich anderer Sprachen und die Aporien der Übersetzung usw.
zu lösen sind, es bleibt bestehen, daß die gegenwärtige philosophische
Theorie mit dem zentralen Ausdruck ,Wahr(heit)' in vielfaltiger Weise kon-
frontiert ist. Wie sich aus dem eingeführten Begriff der rational-systemati-
schen Rekonstruktion ergibt, kann die philosophische Aufgabe einer philoso-
phischen Theorie der Wahrheit nicht darin bestehen, den Begriff der Wahrheit
in dem Sinne zu rekonstruieren, daß der ganze unabsehbare Umfang der
historischen Tradition und der weitgehend nicht ganz eindeutigen Verwen-
dungsweisen dieses Wortes wirklich erfaßt wird. Rational-systematische Re-
konstruktion besagt Klärung auch — und in gewisser Weise besonders —
in dem Sinne, daß die Vielfältigkeit und Nicht-Eindeutigkeit reduziert, ja
eliminiert wird.

2 M. Heidegger [1969] S. 77.

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2.2 Zum Verhältnis von Theorie der Wahrheit und Sprache 103

2.2.3 Für welche Sprache(n) wird die Theorie der Wahrheit entwickelt?

[1] Es ist ein Charakteristikum der schlechterdings zentralen Stellung, die


die meisten gegenwärtigen Philosophen der Sprache zuweisen, daß in der
Theorie der Wahrheit — zumindest wenn sie sorgfaltig elaboriert wird —
das Verhältnis von „Wahr(heit)" und Sprache explizit behandelt wird. „Wahr-
heit überhaupt", d. h. unabhängig von jeder Sprache bzw. von Sprache
überhaupt, erscheint sinnlos. Im Lichte der bisherigen Ausführungen ist
diese Annahme nicht nur als verständlich, sondern auch als voll gerechtfer-
tigt, ja als unabdingbar richtig zu betrachten.
Ist also der Versuch, „Wahr(heit) überhaupt" (im Sinne von „unabhängig
von Sprache überhaupt") zu definieren, ein sinnloses Unternehmen, so ist
der Versuch, ,,Wahr(heit)" nur für eine bestimmte, sehr eng aufgefaßte
Sprache zwar für bestimmte spezielle Zwecke sinnvoll, für allgemeine phi-
losophische (und wissenschaftliche) Zwecke allerdings unzureichend. Im
allgemeinen wählt man eine bestimmte Sprache, die man dann — explizit
oder implizit — für geeignet hält, alle relevanten wissenschaftlichen und
philosophischen Fragen zu artikulieren". Am häufigsten wird die Prädikaten-
logische Sprache erster Stufe (mit Identität) gewählt. Dies ist auch die
Sprache, für die am klarsten ein Wahrheitsbegriff (seit Tarski) explizit
eingeführt (definiert) wurde. Aber auch andere Sprachen bzw. Logiken
wurden entwickelt und für sie ein Wahrheitsbegriff eingeführt, so beispiels-
weise eine klassische intensionale Sprache (Logik) zweiter Stufe (mit sog.
„maximalen Propositionen").3 Solche Versuche werfen mehrere Fragen auf,
auf die im folgenden einzugehen ist.

[2] Eine erste Frage lautet: Für welche Sprache und aufgrund welcher
Kriterien soll sich der Wahrheitstheoretiker entscheiden? Wenn Quine bei-
spielsweise für eine Quantorensprache erster Stufe („kanonische No-
tation"4) plädiert und sie mit äußerster Konsequenz anwendet, so macht er
vor allem zwei Kriterien geltend: erstens leiste diese Sprache alles, was zu
leisten ist; zweitens sei sie äußerst einfach und daher zu empfehlen. Freilich
ist sich Quine des Umstands bewußt, daß die Annahme und Anwendung

3 Vgl. insbesondere: Freeman/Daniels [1978]. Der in dieser Arbeit dargelegten


Kohärenztheorie der Wahrheit legen die beiden Autoren eine von ihnen entwickelte
intensionale Logik zweiter Stufe zugrunde (vgl. Freeman/Daniels [1977].
4 Vgl. Quine [1960] Kap.V.

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104 2 Begrifflich-methodische Grundlagen

einer solchen Sprache besonders bedeutsame ontologische Konsequenzen


hat.
In diesem Buch wird eine diesbezügliche Entscheidung besonders auf-
grund des folgenden Kriteriums getroffen: jene Sprache soll gewählt (bzw.
ins Auge gefaßt werden) werden, die in einer Hinsicht als Bedingung, in
einer anderen Hinsicht als Ergebnis einer (relativ-)maximalen Kohärenz von
logischen, semantischen, epistemologischen und ontologischen Einsichten
erscheint. Um welche Sprache es sich handelt, wird sich im nächsten Kapitel
zeigen. Allerdings ist schon jetzt darauf hinzuweisen, daß es in diesem Buch
nicht möglich sein wird, die gewählte Sprache im einzelnen zu entwickeln.

[3] An ^weiter Stelle ist zu fragen, wie die Sprache, für die die Theorie der
Wahrheit entwickelt wird, sich zur sog. natürlichen oder Umgangssprache
verhält. Diese Frage betrifft besonders drei Aspekte, nämlich: erstens die
logisch-semantische Klarheit und Präzision, zweitens den kategorial-ontolo-
gischen Status, drittens die Problematik der semantischen Geschlossenheit,
d. h. der Selbstreferentialität. Darauf ist nun im einzelnen einzugehen.
[i] Der an erster Stelle genannte Faktor macht sofort deutlich, daß die
Sprache, für die in diesem Buch eine Theorie der Wahrheit entwickelt werden
soll, nicht einfach mit der natürlichen oder Umgangssprache identisch ist.
Denn letztere Sprache ist alles andere als klar und präzis, wie dies im
Rahmen der Ausführungen über den Begriff und das Verfahren der rational-
systematischen Rekonstruktion gezeigt wurde. Vielmehr muß es sich um
eine, wenn man will, zur Klarheit und Präzision „geläuterte" natürliche
Sprache handeln, also nicht um die Sprache, wie sie tatsächlich verwendet
wird, sondern um die Sprache, wie sie unter Anwendung der genannten
Kriterien verwendet werden sollte. Wie man nun diese Sprache bezeichnet,
ist eine sekundäre Frage. Wichtig ist, daß man die beiden folgenden Ge-
sichtspunkte nicht aus dem Auge verliert: erstens knüpft die „neue" Sprache
an die natürliche Sprache an und in dieser Hinsicht kann sie als eine
Extension dieser Sprache betrachtet werden: zweitens beinhaltet die „neue"
Sprache eine — teilweise sehr einschneidende — Korrektur der natürlichen
Sprache und in dieser Hinsicht stellt sie doch eine Art Bruch gegenüber der
natürlichen Sprache dar. In jedem Fall wird in diesem Buch nicht versucht,
eine Theorie der Wahrheit für die natürliche Sprache ut jacet zu entwickeln,
wie dies einige Autoren zu intendieren scheinen, so z. B. D. Davidson. In
einer anderen Hinsicht kann man das Charakteristikum der hier anvisierten
Sprache dadurch angeben, daß man sie als zur Konzeption des späten

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2.2 Zum Verhältnis von Theorie der Wahrheit und Sprache 105

Wittgenstein diametral entgegengesetzt bezeichnet. Wittgenstein zufolge gilt


nämlich:
„Wenn die Philosophen ein Wort gebrauchen — .Wissen', .Sein', .Gegen-
stand', ,Ich', ,Satz', ,Name' — und das Wesen des Dings zu erfassen trachten,
muß man sich immer fragen: Wird denn dieses Wort in der Sprache, in der
es seine Heimat hat, je tatsächlich so gebraucht? — Wir führen die Wörter
von ihrer metaphysischen, wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück."5

Was findet man aber, wenn man auf die „alltägliche Verwendung" der
sprachlichen Ausdrücke zurückkehrt? Hat man irgend etwas erklärt? Der
Hinweis auf „Sprachspiel" und „Lebensform" beseitigt nicht, sondern ver-
schärft das Bedürfnis nach einer Erklärung.
[ii] Jede Sprache ist Ausdruck einer bestimmten Ontologie; so entspricht
der natürlichen Sprache eine natürliche Ontologie. Dies kommt darin zum
Vorschein, daß die Sprache einen bestimmten begrifflich-kategorialen Rah-
men beinhaltet, von welchem alle ontologisch relevanten Aussagen der
betreffenden Sprache bestimmt werden. Diese „natürliche" Ontologie kann
beschrieben werden und sie wurde und wird oft und von vielen Philosophen
in vielerlei Weisen beschrieben.6 Welchen Status hat sie? Ist sie akzeptierbar
oder gar unaufgebbar? Die Antwort darauf hängt davon ab, ob es gelingt,
eine andere oder zumindest eine geläuterte und korrigierte Sprache zu
entwickeln, der dann eine andere Ontologie entsprechen würde. Was sind
hier die Kriterien, auf die man sich berufen kann, wenn man versucht, das
eine oder das andere zu tun? Wie im Abschnitt 2.3 und im Kapitel 3 zu
zeigen sein wird, gibt es letzten Endes ein einziges wirklich überzeugendes
Kriterium, nämlich: die Frage, ob die „natürliche" Sprache bzw. Ontologie
wirklich unser „Intelligibilitätspotential" erfüllt oder befriedigt oder ob
dieses Potential nicht über die natürliche Sprache/Ontologie hinausführt. Es
ist letzten Endes aussichtslos, Intelligibilitätsfragen verbieten oder in ir-
gendeiner Weise disqualifizieren zu wollen. Die Philosophie und die Wis-
senschaft stützen sich ja auf das Intelligibilitätspotential. Wenn ζ. B. die
natürliche Ontologie, die in vielen Varianten auch der gegenwärtigen Phi-
losophie weiterwirkt, uns sagt, daß es eine Welt gibt und daß diese Welt
aus Objekten besteht, die Eigenschaften haben und in Relationen zueinander

5 Philosophische Untersuchungen § 116, in Wittgenstein [1969] S. 343.


6 Um nur ein Beispiel zu nennen: Strawson [1959] unternimmt den Versuch einer
deskriptiven Metaphysik, wobei dieser Ausdruck bei Strawson im großen und ganzen
das bezeichnet, was im Haupttext .natürliche Ontologie' genannt wird.

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106 2 Begrifflich-methodische Grundlagen

stehen, so entspricht es dem menschlichen Intelligibilitätspotential zu fragen,


was das genau heißt, ob das hierbei im Spiel stehende Denkschema (nämlich:
Substratum plus Universalien) nicht ein zu einfaches Vorstellungsschema ist,
das einem höheren, intelligibleren und kohärenteren Denkschema Platz
machen sollte. Das macht deutlich, daß und warum die in diesem Buch
anvisierte Sprache nicht identisch ist mit der natürlichen Sprache.

[4] Der dritte Aspekt betrifft einen Faktor, der in der Geschichte der
wahrheitstheoretischen Diskussionen eine bedeutende und explizite Rolle
gespielt hat und spielt. Es handelt sich um die Problematik der Selbstreferen-
tialität der Sprache. Tarski hielt die Aufgabe, einen Wahrheitsbegriff für die
natürliche Sprache zu entwickeln, aus dem Grunde fur undurchführbar; weil
die natürliche Sprache eine „semantisch geschlossene", d. h. eine selbstre-
ferentielle Sprache ist. Damit ist der Umstand gemeint, daß diese Sprache
auch über sich selbst sprechen kann, was dazu führt, daß etwa die Antinomie
des Lügners in dieser Sprache konstruiert werden kann. Tarski sah die
Hauptursache für den antinomischen Charakter der natürlichen Sprache in
deren Universalität.7 So entwickelte er eine Definition des Wahrheitsbegriffs
nur für formalisierte Sprachen, die nach ihm nicht universal (im angegebenen
Sinne) und daher auch nicht selbstreferentiell sind bzw. sein können. Konkret
entwickelt er eine Definition des Wahrheitsbegriffs für die Sprache des
Klassenkalküls. Eines der wichtigsten Strukturmerkmale der Tarskischen
Wahrheitsdefinition ist seine klar getroffene und strikt eingehaltene Unter-
scheidung von Objektsprache und Metasprache.
Es kann in der Tat nicht im Ernst bestritten werden, daß die natürliche
Sprache selbstreferentiellen Charakter hat. Heißt das nun, daß die „andere"
Sprache, für die in diesem Buch ein Wahrheitsbegriff zu entwickeln ist, sich
auch in dieser Hinsiebt von der natürlichen Sprache unterscheiden muß?
M. a. W.: Schließt jede Sprache mit selbstreferentiellem Charakter eine Theo-
rie der Wahrheit aus? Es wird in diesem Buch die These vertreten, daß diese
Frage zu verneinen ist. Diese Thematik, wie unter 1.1 gezeigt, bildet den
Gegenstand des dritten Teils der umfassenden Theorie der Wahrheit. In der
hier interessierenden Perspektive sei dazu an dieser Stelle nur soviel gesagt:
Gegenüber der geschilderten grundlegenden These Tarskis haben sich in
der nachtarskischen Zeit zwei Tendenzen herausgebildet: die eine rekurriert
explizit auf die Hauptaspekte der Tarskischen Wahrheitsdefinition und wen-

7 Vgl. Tarski [1935] § 1.

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2.2 Zum Verhältnis von Theorie der Wahrheit und Sprache 107

det sie auf die Erklärung ausgerechnet der natürlichen Sprache an, ohne
sich explizit um das von Tarski aufgezeigte Antinomienproblem zu küm-
mern; Hauptrepräsentant dieser Tendenz ist zweifelsohne D. Davidson.8 Die
andere Tendenz sucht intensiv nach einer Lösung der Wahrheitsparadoxie.
Der allergrößte Teil der wirklich wichtigen wahrheitstheoretischen Arbeiten,
die etwa in den letzten fünfzehn Jahren publiziert wurden, beschäftigt sich
mit dem, was in diesem Buch die evalmtiv-extensionale (Sub-) Theorie der
Wahrheit genannt wird. Dabei ist es wichtig zu sehen, daß eine positive
Lösung fur die Wahrheitsparadoxie sowohl im Bereich der natürlichen
Sprache als auch im Bereich anderer (formaler) selbstreferentieller Sprachen
gesucht wird. Angesichts dieser immensen Bemühungen, auf die im nach-
folgenden Exkurs teilweise eingegangen wird, kann man heute kaum be-
gründeterweise behaupten, daß jede selbstreferentielle Sprache inkonsistent
ist und daß es daher sinnlos sei, einen Wahrheitsbegriff für eine solche
Sprache zu entwickeln. An dieser Stelle wird also die Annahme gemacht,
daß die Sprache, für die hier eine Theorie der Wahrheit anvisiert wird,
Selbstreferentialität nicht ausschließt.
Damit sind einige, besonders negativ orientierte, Bestimmungen der Spra-
che genannt worden, für die hier der Wahrheitsbegriff zu explizieren/defi-
nieren ist. Natürlich ist dies sehr wenig; aber es ist darauf aufmerksam zu
machen, daß es sich in diesem Buch zunächst (nur) darum handelt, die
Grundlagen für die Entwicklung einer Theorie der Wahrheit zu erarbeiten.
Es muß einem weiteren Werk vorbehalten bleiben, die Einzelheiten einer
solchen Theorie zur Darstellung zu bringen.

2.2.4 EXKURS: Bemerkung zu Tarskis „Theorem der Undefinierbarkeit


der Wahrheit" und zu einigen neuen Ansätzen

Der oft verwendete Ausdruck „Theorem der Undefinierbarkeit der Wahrheit


von Tarski" (= UWT) ist ein leicht mißverständlicher Ausdruck. Im folgen-
den soll dazu einiges im Hinblick auf das Vorhaben des gegenwärtigen
Buches gesagt werden. Worum handelt es sich? Welches ist die Tragweite
des Theorems?

[1] Wie oben dargelegt, war Tarski in seinem berühmten Werk Der Wahr-
heitsbegriff in den formalisierten Sprachen der Auffassung, daß die natürliche

8 Vgl. bes. „Wahrheit und Bedeutung" in Davidson [1984] S. 40—67 (vgl. bes.
S. 55 ff.).

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108 2 Begrifflich-methodische Grundlagen

Sprache inkonsistent ist und daß daher ein Wahrheitsbegriff für diese Sprache
nicht entwickelt werden kann. 1939 bewies Tarski in dem Aufsatz „On
Undecidable Statements in Enlarged Systems of Logic and the Concept of
Truth"9 u. a. jenes Theorem, das als „Theorem der Undefinierbarkeit der
Wahrheit" bekannt wurde. Etwas genauer sollte es heißen: Theorem der
(syntaktischen) Nichtausdrückbarkeit (der Extension) der Wahrheit. Dieses
Theorem ist in einer bestimmten Hinsicht nur eine andere Formulierung
der These, daß eine semantisch geschlossene Sprache zu Inkonsistenzen
führt. In der eher allgemein verständlich ausgerichteten Schrift aus dem
Jahre 1944 „Die semantische Konzeption der Sprache und die Grundlagen
der Semantik"10 legt Tarski in äußerst konziser Form eine Argumentation
vor, als deren Ergebnis man das genannte Theorem bezeichnen kann:
„Das [die Konstruktion der Antinomie des Lügners in der natürlichen
Sprache, L. B. P.] kann grob in folgender Weise geschehen. S sei eine
Aussage, die mit den Wörtern Jede Aussage' beginnt. Wir bringen mit S
die neue Aussage S* in Wechselbeziehung, indem wir S den folgenden
beiden Modifikationen unterwerfen: wir ersetzen in S das erste Wort Jede'
durch ,Die' und fugen an das zweite Wort ,Aussage' die ganze Aussage S
in Anführungszeichen. Wir wollen vereinbaren, die Aussage S ,(auf sich
selbst) anwendbar' oder .nicht (auf sich selbst) anwendbar' zu nennen, und
zwar in Abhängigkeit davon, ob die in Wechselbeziehung zu ihr stehende
Aussage S* wahr oder falsch ist. Betrachten wir nun die Aussage: Jede
Aussage ist nichtanwendbar'. Es kann leicht gezeigt werden, daß die eben
aufgestellte Aussage anwendbar und nichtanwendbar sein muß, also eine
Kontradiktion." 11

Was Tarski hier nur andeutet, sei im folgenden nach %wei Darstellungsver-
fahren gezeigt. Das erstefindetsich bei R. Gramfy12. In äußerst vereinfachter
Form läßt es sich folgendermaßen wiedergeben: Es geht um den Versuch
einer Formalisierung einer Wahrheitsdefinition für eine Theorie oder ein
System Η im Rahmen einer Sprache der Quantorenlogik erster Stufe Q. Die
Definition eines Prädikates W (für ,wahr') für Η kann nicht in der Weise
durchgeführt werden, daß eine Liste (Aufzählung) aller wahren Sätze von
Η angefertigt wird, da feststeht, daß die Klasse der wahren Sätze der Sprache
der Quantorenlogik erster Stufe Q nicht rekursiv aufzählbar ist, so daß
Wahrheit auf diese Weise in keiner effektiv gegebenen Extension von Q

9 Tarski [1939],
10 Tarski [1944],
" Tarski [1944] S. 66 Anm. 13.
12 Grandy [1977] Kap. IX.

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2.2 Zum Verhältnis von Theorie der Wahrheit und Sprache 109

repräsentiert werden kann. Eine andere Defmitionsmöglichkeit könnte darin


gesehen werden, daß versucht wird, ein Prädikat W in der Weise zu defi-
nieren, daß für jeden Satz von Η — abhängig von der Logik des Konditionals
— die Äquivalenz W(,A') <-• Α bewiesen werden kann. Allerdings muß die
Theorie, die das Prädikat W in dieser Weise definiert, konsistent sein. Man
kann nun folgenden Sachverhalt als Tarskis Bedingung für Η bezeichnen: Alle
Sätze der Form W(,A') <-• Α sind Konsequenzen der Theorie und die Theorie
ist konsistent. Das Theorem der Undefinierbarkeit der Wahrheit besagt, daß
im geschilderten Fall einer Theorie Η diese Bedingung nicht erfüllt werden
kann. Man kann es in vereinfachter Form so formulieren (wobei hier eine
ganze Reihe von an sich nötigen Präzisierungen nicht erwähnt werden
können):
(UWT) Wenn die Annahme gemacht wird, daß eine Sprache (der genannten Art)
ihre eigene Syntax adäquat repräsentiert, dann gibt es keine Definition der
Wahrheit in dieser Sprache, die Tarskis Bedingung erfüllt.

Der von Grandy in äußerster Kürze skizzierte Beweis entspricht der Be-
weisskizze im obigen Zitat von Tarski: Man nehme an, es gäbe eine Theorie
der Wahrheit(sdefinition), die Tarskis Bedingung erfüllt; d. h. man nehme
an, es gäbe einen Prädikatausdruck W mit einer freien Variablen, so daß
W(,A') <-• Α für jedes Α in der Sprache beweisbar ist. Sei nun ν die freie
Variable von W; mit ihr bilde man einen neuen Ausdruck, indem man ν in
W durch den Funktionsausdruck Subst(v, ,ν',ν) ersetzt und indem man den
daraus resultierenden Ausdruck negiert; es ergibt sich also die Formel
~ W(Subst(v, ,ν',ν)). Diese Formel werde repräsentiert durch einen Term t.
Nun betrachte man die Formel ~W(Subst(,t', ,v', ,t')), die durch Ersetzung
von ν durch ,t' entsteht. Diese Formel werde repräsentiert durch einen Term
s. Nun ist aber die Formel s das Ergebnis der Ersetzung von ν in der
Formel t durch den Term, der ,t' repräsentiert, so daß gilt:
I- s = Subst(,t', ,v', ,t'). Da die Annahme gemacht wurde, daß die Theorie
Tarskis Bedingung erfüllt, ergibt sich: h W(s) ~ W(Subst(,t', ,v', ,t') und
damit I— W(s) <-• ~ W(s), also eine (syntaktische) Inkonsistenz.13 Damit ist
bewiesen, daß die genannte Sprache eine Definition ihres eigenen Wahr-
heitsprädikats nicht leisten kann.
W. Stegmüller und M. Varga von Ktbed haben eine äußerst einfache Dar-
stellung des Tarskischen Theorems vorgelegt, ohne allerdings auch nur ein

13 Bei Grandy ist dieses letzte Ergebnis (vermutlich infolge eines Druckfehlers) falsch
angegeben: h T(s) T(s) (wobei er ,T für ,W' verwendet) (vgl. a. a. O. S. 87).

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110 2 Begrifflich-methodische Grundlagen

einziges Mal Tarski selbst zu zitieren.14 Dabei wenden sie nicht das von
Tarski benutzte und in der obigen Darstellung angewandte Verfahren der
Diagonalisierung15 an; vielmehr rekurrieren sie auf das ingeniöse Verfahren
der Normbildung, das R. Smullyan entwickelt hat. 16 Auf die Einzelheiten
kann hier nicht eingegangen werden.
Stegmüller/Varga konstruieren im Anschluß an Smullyan mehrere Mini-
malsysteme mit zunehmender syntaktischer und semantischer Stärke. Das
System S' P ist ein äußerst einfaches semantisches System mit Ρ als semanti-
schem Korrelat des einzigen deskriptiven Zeichens ,Φ', eines 1-stelligen
Prädikatzeichens, des Systems; ein Satz in diesem System entsteht aus der
Konkatenation von ,Φ' mit einem S'-Namen. Die Miniaturform des Theorems
von Tarski wird so formuliert:
(UW'T) Die Menge der wahren Sätze von S'p ist nicht in S'P definierbar.17

[2] Es ist nun die Frage zu stellen, worin die eigentliche Bedeutung, der
Stellenwert und die Tragweite dieses Theorems zu sehen sind.
Man muß richtig verstehen, was „Undefinierbarkeit der Wahrheit" gemäß
dem genannten Theorem genau besagt. Es handelt sich um rein extensionale
Systeme und um eine rein extensional verstandene „Definition" der Wahr-
heit, d. h. es handelt sich darum, daß die Menge der wahren Sätze eines
Systems nicht in diesem System „definierbar" ist.
Nach der in diesem Buch vertretenen Konzeption ist Explikation/Defi-
nition mehr als nur die Angabe der Extension. Explikation/Definition ist die
Bestimmung des semantischen Wertes eines sprachlichen Ausdrucks, wobei
der vollständige semantische Wert sowohl einen semantisch-informationalen
als auch einen semantisch-funktionalen Wert einschließt. Die Extension ist
ein semantischer Teilwert.18 Daraus folgt, daß die Unmöglichkeit der Angabe
(d. h. der Beweisbarkeit) der Extensionalität des Wahrheitsbegriffs fur (das
genannte) System in diesem System selbst eine Beschneidung des ganzen

14
Vgl. Stegmüller/Varga [1984] Kap. 13.
15
Unter der Diagonalisierung eines Ausdrucks Ε ist das Ergebnis der Einsetzung
(Substitution) der Anführung von Ε für alle Vorkommnisse einer Variablen der
Umgangssprache ,ζ' in Ε zu verstehen (vgl. Stegmüller/Varga [1984] S. 399).
16
Vgl. Smullyan [1957]. Nonnbildung ist die Operation der Verkettung oder Kon-
katenation zweier Ausdrücke, d. h. das Hintercinanderschreiben dieser Ausdrücke,
die dann als tin Ausdruck gelesen werden.
17
Vgl. a. a. O. S. 386.
18
Vgl. dazu Abschnitt 2.1.2.

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2.2 Zum Verhältnis von Theorie der Wahrheit und Sprache 111

Umfangs der Explikation/Definition darstellt, da zur vollständigen Expli-


kation/Definition auch die Angabe der Extension gehört.
Es ist interessant zu sehen, wie Stegmüller/Varga in ihrer Darstellung
verfahren. Bei der Konstruktion der Minimalsysteme, aus denen Tarskis
Theorem ableitbar ist, führen sie „die Wahrheitsregel für SP" ein und fugen
erläuternd hinzu: „d. h. die Definition von ,wahr in S P ' D i e Wahrheitsregel
bzw. -definition lautet:
Wenn Ei Name von E2 ist, dann ist ΓΦΕι"1 wahr in SP gdw E2 € P.19
Dieser „Wahrheitsbegriff wird folgenderweise auf negierte Sätze verallge-
meinert:
r—ι X"1 ist wahr in S'P gdw X nicht wahr ist in SV 20
Die obige Wahrheitsregel bzw. -definition (bzw. der obige Wahrheitsbegriff)
hat in diesem Kontext einen eigenartigen Status: auf der einen Seite ist sie
nicht-extensional, wenn ,extensional' verstanden wird wie in der Formulie-
rung des Theorems von Tarski, denn diese Definition „definiert" nicht
extensional die Menge der wahren Sätze des Systems SP. Was tut sie dann?
In dieser Hinsicht müßte man sagen, daß sie nicht-extensional ist und,
wenn man „intensional" als KomplementbegrifF zu „extensional" nimmt,
eine Rahmenbedingung für eine „intensionale" Definition von Wahrheit
(also für das, was intuitiv eben als „Begriff der Wahrheit" verstanden wird)
setzt. Aber in einer anderen Hinsiebt ist zu sagen, daß die obige Definition
doch als eine extensionale zu verstehen ist, insofern das eigentliche Definiens,
nämlich das semantische Korrelat der syntaktischen „Konkatenation" von
,Φ' mit einem S'-Namen, als Elementschaftsrelation interpretiert wird: das
durch E2 denotierte Objekt gehört zur Klasse P, d. h. zur Klasse derjenigen
Objekte, auf die das semantische Korrelat von ,Φ', nämlich P, Anwendung
findet.

[3] Es drängt sich jetzt die Frage auf: Um welche Systeme handelt es sich
genau, wenn das Theorem der Undefinierbarkeit der Wahrheit angenommen
wird bzw. gelten soll? Man kann die Frage so präzisieren: Ist durch das
Theorem von Tarski wirklich bewiesen, daß für keine selbstreferentielle
(semantisch geschlossene) Sprache ein Wahrheitsbegriff im angegebenen
Sinne — also auch extensional — definiert werden kann? Es scheint, daß

19 Stegmüller/Varga [1984] S. 382.


30 Vgl. a. a. O. S. 386.

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112 2 Begrifflich-methodische Grundlagen

die Frage zu verneinen ist. Im folgenden seien einige Beispiele angeführt,


die zeigen, daß man anders als Tarski verfahren kann.
[i] F. B. Fitch hat schon vor längerer Zeit die Möglichkeit einer selbstre-
ferentiellen Sprache (für die Philosophie) aufgezeigt. 21 Er formuliert Tarskis
Kriterium folgendermaßen:
(TK) (x e Wr) genau dann, wenn ρ

wobei ,Wr' die Klasse aller wahren Sätze der Objektsprache anzeigt und die
Definition von ,Wr' in der Metasprache erfolgt. Nach Fitch ist das so
formulierte Kriterium unnötigerweise restriktiv und sollte durch das schwä-
chere Kriterium
(TK') (x e Wr) C ρ

ersetzt werden, wobei ,C' ein dem Konditional ähnliches Satzkonnektiv ist,
das reflexiv, symmetrisch und transitiv ist und das eine Regel ähnlich wie
modus ponens erfüllt, nämlich die Regel: für alle Sätze Si und s2, wenn s, und
Sj C S2 beweisbar sind in der Metasprache MS, so ist auch s 2 beweisbar. Fitch
entwickelt ein System, das sein eigenes Wahrheitsprädikat in Entsprechung
zu (TK'), nicht aber zu (TK), definieren kann. Es handelt sich um das
System CA. 2 2 Da in diesem System aus der Äquivalenz einer Proposition
mit ihrer Negation nicht auf beliebige Sätze geschlossen werden kann, ist
es möglich zu sagen, daß einige Propositionen in CA mit ihren Negationen
äquivalent sind, ohne daß dieses Ergebnis zu einem Widerspruch fuhrt.
Auf die Einzelheiten kann hier nicht eingegangen werden. Hervorzuheben
ist der Umstand, daß Fitch zwischen Satv^ und Proposition streng unterscheidet
und zeigt, daß in CA die Klasse der wahren Propositionen leicht definierbar
ist; auf dieser Basis ist auch die Klasse der wahren Sät^e ebenfalls definierbar.
[ii] In seiner außerordentlich wichtigen Abhandlung „Truth and Paradox"23
kommentiert A. Gupta die oben zitierte Stelle aus Tarskis Schrift „Die
semantische Konzeption der Wahrheit" und speziell Tarskis Behauptung,
daß semantisch geschlossene Sprachen, für welche die Gesetze der klassi-
schen Logik beansprucht werden, inkonsistent sind, mit den Worten:
„This is a surprising result because the syntactic resources necessary for a
language to qualify as semantically closed are minimal. The only requirement

21 Vgl. Fitch [1946], [1952], [1963] und [1964],


22 Vgl. Fitch [1963].
23 Gupta [1982].

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2.2 Zum Verhältnis von Theorie der Wahrheit und Sprache 113

is that it have names for its own expressions. It is not at all obvious that
such names allow us to construct the sort of selfreference that is responsible
for the Liar paradox."24

Gupta zufolge findet Tarskis Argument nur auf Sprachen Anwendung, die
genug Ausdrucksmittel haben, um die syntaktische Funktion ,*' (vgl. oben
Satz ,S*' bei Tarski) auszudrücken; es sei nicht bewiesen worden, daß diese
Funktion in allen semantisch geschlossenen Sprachen ausdrückbar ist. Gupta
selbst legt dann einen formalen Beweis dafür vor, daß semantisch geschlos-
sene Sprachen (in einem abgeschwächten Sinne), für welche die klassische
Logik gilt, konsistent sein können.25 Der Leser sei darauf verwiesen.

[iii] In den letzten Jahren wurden viele Versuche unternommen, das Problem
der Selbstreferentialität der Sprache und der Antinomien zu lösen. Eine
Sammlung einiger der wichtigsten Arbeiten findet sich in dem schon zitierten
Band Recent Essays on Truth and the Liar Paradox,26 Hingewiesen sei besonders
auf die in dem genannten Band nicht berücksichtigten Arbeiten von Ulrich
Blau27, Gary R. Mar28, J. Barwisej J. Etchemendy29 und M. Varga von Kibed30.
Die Bedeutung der Arbeit von Barwise/Etchemendy besteht u. a. darin, daß
sie zeigt, daß durch den Rekurs auf Propositionen das Problem der Wahr-
heitsparadoxie nicht automatisch gelöst wird, da Propositionen so zu mo-
dellieren sind, daß sich zirkuläre Propositionen ergeben, was zur Konsequenz
hat, daß die Wahrheitsparadoxie auf der Ebene der Propositionen wieder
auftaucht.
Vielleicht wurde der umfassendste und ehrgeizigste Versuch in diesem
Bereich von M. Varga von Kibed in seiner oben genannten Habilitations-
schrift unternommen. Varga von Kibed entwickelt ein System MRL (für:
Minimale Reflexionslogik), das auf der Reflexionslogik von U. Blau und
dem selbstreferentiellen System SELF von R. Smullyan aufbaut. Dieses
System stellt einen nichtpräventiven Lösungsansatz in dem Sinne dar, daß
die syntaktische Repräsentierbarkeit selbstreferentieller Ausdrücke und
Strukturen nicht eingeschränkt wird (bzw. werden muß).

24 A. a. O. S. 183.
25 Vgl. a. a. O. S. 184 ff.
26 Martin [1984].
27 Blau [1985].
28 Mar [1985],
29 Barwise/Etchemendy [1987].
30 Varga [1987],

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114 2 Begrifflich-methodische Grundlagen

[4] ,,Wahr(heit)" hat eine implizit selbstreferentielle Struktur. Damit ist


schon gesagt, daß dieser Ausdruck/Begriff nur dann adäquat expliziert/
definiert werden kann, wenn die Sprache, für die die Explikation/Definition
gedacht ist, als selbstreferentiell aufgefaßt wird. In dieser Hinsicht könnte
diese Sprache die natürliche Sprache sein. Weil aber diese Sprache schwer-
wiegende Mängel wie Vagheit, Unbestimmtheit, Mehrdeutigkeit u. ä. hat,
muß die selbstreferentielle Sprache, für die der Wahrheitsbegriff expliziert/
definiert wird, eine „andere" Sprache sein, die allerdings an die natürliche
Sprache „anknüpft", so daß sie als deren Präzisierung und Extension an-
gesehen werden kann.

2.2.5 In welcher Sprache wird die Theorie der Wahrheit dargestellt?

Es dürfte klar geworden sein, daß die Sprache, für welche ein umfassender
philosophisch relevanter Wahrheitsbegriff entwickelt wird, eine selbstrefe-
rentielle Sprache ist. Damit ist auch eine prinzipielle Antwort auf die Frage
gegeben, in welcher Sprache die Theorie der Wahrheit dargestellt werden
soll. Es ist „dieselbe" Sprache, aus der auch ,,Wahr(heit)" entnommen wird
bzw. zu der ,,Wahr(heit)" gehört. Damit ist nicht nur nicht ausgeschlossen,
sondern eingeschlossen, daß diese Sprache „Ebenen" hat, wie aus den
bisherigen Ausführungen schon klar geworden sein dürfte. Auf weitere
Aspekte dieses Gesamtzusammenhangs wird an den geeigneten Stellen ein-
gegangen.

2.3 Zwei methodische Leitprinzipien

[1] Jeder ernstzunehmenden Beschäftigung mit einer philosophischen The-


matik liegen bestimmte Leitprinzipien zugrunde, die allerdings meistens gar
nicht explizit angegeben werden. Die gegenwärtige Lage der Philosophie
ist besonders dadurch gekennzeichnet, daß die meisten Philosophen gewissen
Standards folgen, ohne selbst die Frage zu prüfen, ob sie begründet und
sachangemessen sind. Man schließt sich eher bestimmten Denktraditionen
— heute insbesondere: der analytischen, der transzendentalen, der dialekti-
schen usw. — an und denkt dann konsequent in dem entsprechenden
Rahmen.
Es dürfte klar sein, daß eine einigermaßen befriedigende Klärung der eine
bestimmte philosophische Arbeit bzw. Konzeption bestimmenden Leitprin-

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2.3 Zwei methodische Leitprinzipien 115

zipien nur im Rahmen eines Werkes, das sich mit dieser hochkomplexen
Thematik ausschließlich und systematisch befaßt, möglich ist. Diese Fest-
stellungen werfen ein großes Problem für diejenigen philosophischen Ar-
beiten auf, die sich einerseits mit einer begrenzten Thematik beschäftigen
und sich andererseits nicht den — implizit angenommenen oder explizit
ausgearbeiteten — methodischen Prinzipien und Standards einer der be-
kannten großen Denktraditionen zuordnen lassen wollen: Entweder lassen
solche Arbeiten die sie leitenden methodischen Prinzipien unexpliziert mit
der Konsequenz, daß sie methodische Klarheit und Begründetheit vermissen
lassen; oder sie thematisieren ihre methodischen Grundlagen, wobei sie sich
dann zu regelrechten Traktaten über die (eigene) Methode entwickeln und
kaum zu einer angemessenen Behandlung der anvisierten speziellen The-
matik gelangen können. Was kann in dieser Situation getan werden?
Was das vorliegende Werk anbelangt, so thematisiert es auch einige me-
thodische Grundlagen, was besonders — aber nicht ausschließlich — in den
beiden ersten Abschnitten des vorliegenden Kapitels deutlich wird. Die
Klärung methodisch-begrifflicher Grundlagen der Theorie der Wahrheit
stellt ja eine der zentralen Aufgaben der vorliegenden Arbeit dar. Freilich
handelt es sich um spezielle, d. h. eine besondere Thematik betreffende
methodische Grundlagen, wenn auch zu betonen ist, daß ihnen eine weit-
gehend universale Bedeutung für die Philosophie als ganze nicht abgespro-
chen werden kann. Was aber jene methodischen Leitprinzipien, die einen
noch prinzipielleren und allgemeineren Stellenwert haben, anbelangt, so soll
ein Mittelweg eingeschlagen werden: In diesem Abschnitt sollen zwei solche
Leitprinzipien eingeführt und erläutert werden: ein methodisches Grund-
prinzip und ein methodisches Begründungsprinzip.

[2] Zumindest in einer Hinsicht ist das wichtigste methodische Prinzip, von
dem sich die Überlegungen und Argumentationen dieses Buches im Hinblick
auf die aufgestellten zentralen Thesen leiten lassen, das Prinzip der maximalen
Intelligibility (PMI). Bevor es explizit formuliert wird, müssen einige Erläu-
terungen gegeben werden. Das Prinzip basiert auf der Annahme, daß wir
Menschen ein Intelligibilitätspotential besitzen, dessen genaue Leistungsfä-
higkeit, Modalitäten, Reichweite und Grenzen wir nicht von vornherein
kennen. Die konkrete und sichtbare Weise, in der es sich äußert, sind
vorwiegend die Begriffssysteme oder -paradigmata. Diese ihrerseits sind in
den Intuitionen enthalten, die jeder expliziten diskursiven Arbeit zugrunde
liegen, und zwar in der Weise, wie Fragen gestellt, in den Kriterien, die für
eine philosophisch vertretbare Konzeption geltend gemacht werden, und in

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116 2 Begrifflich-methodische Grundlagen

vielen anderen Faktoren. Eine bestimmte Konzeption, beispielsweise die


„natürliche" Ontologie, ist Ausdruck und Resultat einer bestimmten Weise
oder Gestalt des Intelligibilitätspotentials. Wird die „natürliche" Ontologie
in Frage gestellt (wie in diesem Buch), so heißt das, daß eine andere Form
des Intelligibilitätspotentials (etwa ein anderes Begriffssystem) in Anschlag
gebracht wird.
Wie vermerkt, kennen wir die Reichweite und die Formen unseres Intel-
ligibilitätspotentials nicht vollständig.1 Wir können daher nicht so etwas
wie den Begriff der absolut maximalen Intelligibility bestimmen. Es erscheint
aber möglich, den Begriff einer relativ maximalen Intelligibilität anzugeben,
zumindest in partieller Weise. Dies kann durch die Artikulation einiger
(pragmatischer) Kriterien im Sinne einiger notwendiger Bedingungen er-
reicht werden. So kann man beispielsweise sagen: Eine (relativ) maximale
Intelligibilität hinsichtlich einer bestimmten Sache wird so lange nicht er-
reicht, wie vernünftige Fragen hinsichtlich dieser Sache nicht beantwortet
werden. Welche Fragen sind aber als vernünftige Fragen einzustufen? Dies
ist nicht leicht zu zeigen. Man könnte aber sagen: Vernünftige Fragen sind
solche Fragen, die konsistent und klar formulierbar sind (d. h. u. a. Fragen,
die verständlich gemacht werden können und deren Ausdrucksmittel effektiv
angebbar sind), eine deutliche Relevanz für die Gesamtheit der menschlichen
Fragen aufweisen, deren Beantwortung mit theoretischen Darstellungsmit-
teln nicht ausgeschlossen ist u. a. m. Zu dieser Kategorie von Fragen sind
sicher Warum-Fragen, Wie-Fragen, Was-Fragen und ,Was-für-ein'-Fragen zu
rechnen. Wie-, Was- und ,Was-für-ein'-Fragen spielen eine ganz besonders
wichtige Rolle, da sie das Intelligibilitätspotential in einer besonderen Weise
zur Geltung bringen, nämlich in der Weise, daß sie ein neues Paradigma
induzieren und fordern (können).
Ein Beispiel soll diesen Sachverhalt illustrieren. Nehmen wir an, die
Wahrheit des Satzes ,Fa' wird so expliziert: Der Satz ,Fa' ist wahr genau
dann, wenn das durch das Prädikat ,F' bezeichnete Attribut F* auf das durch
den singulären Term ,a' denotierte Objekt a* zutrifft. Ist diese in der heutigen

1 Vielleicht kann man sagen, daß der radikalste Versuch einer Systematisierung der
Grundgestalten dessen, was hier das Intelligibilitätspotential genannt wird, von
Hegel in seiner Wissenschaft der Logik unternommen wurde. Dieses Werk unter-
nimmt es ja, alle „Denkbestimmungen" zu erfassen und in ein geschlossenes
System einzuordnen. Wäre dieses Unternehmen geglückt, so müßte man sagen,
daß alle philosophischen Fragen in einer grundsätzlichen Hinsicht als geklärt zu
betrachten wären. Doch Anspruch und Wirklichkeit klaffen weit auseinander. Vgl.
dazu Puntel [1982].

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2.3 Zwei methodische Leitprinzipien 117

wahrheitstheoretischen Literatur oft anzutreffende Charakterisierung von


„Wahr(heit)" (eines atomaren Satzes) angemessen und akzeptierbar? Akzep-
tiert man das Prinzip der (relativ) maximalen Intelligibilität als Kriterium,
so ist die Frage dahingehend zu präzisieren: Erfüllt die genannte Formulie-
rung dieses Prinzip? Dies kann nicht gesagt werden, da sofort folgende
vernünftige Fragen sich aufdrängen: Wie ist „zutreffen" zu verstehen? Was
heißt „zutreffen"? Welches Begriffsschema wird hier vorausgesetzt und
angewandt? Ist ein solches Begriffschema akzeptierbar? Entspricht es der
höchsten uns möglichen Intelligibilität? Es wird kaum zu bestreiten sein,
daß solche Fragen vernünftige Fragen im angegebenen Sinne sind. Werden
sie nicht gestellt oder beantwortet, so werden die Forderungen eines erheb-
lichen Teils unseres Intelligibilitätspotentials einfach ignoriert. Es ist leicht
zu sehen, daß in einem solchen Fall eine Konzeption vertreten wird, die
nicht den Anspruch auf relativ maximale Intelligibilität erheben kann.
Es ist in manchen philosophischen Kreisen häufig üblich, auf bestimmte
Fragen in der Weise zu reagieren, daß „geantwortet" wird, man verstehe
die Frage(n) nicht. Eine solche Reaktion ist zweideutig: Sie kann berechtigt
oder sie kann Ausdruck einer unhaltbaren „Immunisierungsstrategie" sein.
Gänzlich berechtigt ist sie dann, wenn die gestellte Frage keine vernünftige
Frage ist. Ausdruck einer Immunisierungsstrategie ist die Reaktion dann,
wenn sie Ausdruck eines absoluten Festhaltens an einem bestimmten, fi-
xierten Denkschema ist bzw. Ausdruck der Weigerung, andere Intelligibili-
tätspotentialitäten anzuerkennen und zu entwickeln.
Nach diesen Erläuterungen kann das methodische Grundprinzip so for-
muliert werden:
(PMI) Eine philosophische Theorie/Konzeption kann nur dann Anspruch auf volle
Akzeptabilität erheben, wenn sie das Merkmal der (relativ) maximalen
Intelligibilität aufweist.

[3] Philosophisches Denken, wie es hier verstanden wird, ist diskursives


oder argumentatives Denken. Bekanntlich besteht keine Übereinstimmung
darüber, wie dieser diskursiv-argumentative Charakter der Philosophie zu
bestimmen ist. Im folgenden soll nicht versucht werden, ein Prinzip für die
Philosophie als ganze zu formulieren, sondern nur für jenen Themenbereich,
der in diesem Buch abgehandelt wird. Wie ist im Bereich der wahrheits-
theoretischen Thematik zu argumentieren? Können Argumentationen in
diesem Bereich einen Schlüssigkeitsstatus beanspruchen? Kurz: Kann es hier
„Beweise" geben?
Zunächst ist zu betonen, daß es sich hier nicht um formale Korrektheit
handelt. Man kann leicht eine solche Korrektheit herstellen, indem man

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118 2 Begrifflich-methodische Grundlagen

Axiome und logische Regeln einführt und so Theoreme ableitet. Die Frage
ist vielmehr, mit welcher Begründung man überhaupt zu Axiomen gelangt.
Eine Berufung auf irgendwelche unmittelbaren Evidenzen (Fundamentalis-
mus) dürfte ausgeschlossen sein; solche Evidenzen sind einfach nicht gege-
ben. Was bleibt übrig? Die hier vertretene Alternative ist das methodische
Prinzip der holistischen Kohärenξ (PHK).
(PHK) Eine philosophische Theorie gilt als argumentativ abgesichert oder begrün-
det nur dann, wenn sie das Merkmal der holistischen Kohärenz aufweist.

Dieses Prinzip sei im folgenden intuitiv und informell erläutert.


Das argumentative Denken, wie es hier verstanden und praktiziert wird,
hat die Aufgabe, eine bolistische Kohärenζ hinsichtlich der vorliegenden „Da-
ten" herauszuarbeiten. Damit ist eine Feststellung und eine Aufgabe ver-
bunden. Die Feststellung betrifft das Faktum, daß sich jede philosophische
Unternehmung in der Regel mit einer Vielzahl von divergierenden Daten,
Aspekten, Standpunkten, Lösungsansätzen, Perspektiven u. dgl. konfron-
tiert sieht. Die Aufgabe besteht darin, in diesem Bereich „Ordnung zu
schaffen", d. h. einen vertretbaren maximalen Zusammenhang unter den
vorliegenden Daten herauszuarbeiten. Der Ausdruck .Kohärenz' steht für
diese „Ordnung" bzw. diesen „Zusammenhang".2 Es handelt sich um eine(n)
außerordentlich komplexe(n) Prozedur bzw. Begriff, die/der sinnvollerweise
gar nicht einer allgemeinen Definition unterzogen werden kann. Es gibt
nämlich so viele Kohärenzen wie es „Kontexte" gibt.
Die anvisierte Kohärenz muß eine bolistische Kohärenz in einer zweifachen
Hinsicht sein. Erstens muß sie alle (verfügbaren, vorhandenen) „Elemente"
(Daten, Gesichtspunkte usw.) explizit berücksichtigen und verarbeiten; zwei-
tens muß sie jeder anderen (Form von) Kohärenz überlegen sein. „Holi-
stisch" meint also hier sowohl das Merkmal des Umfangs (vollständiges
Erfasssen aller Elemente) als auch das Merkmal der „Intensität" (die holi-
stische Kohärenz muß stärker oder eben intensiver als andere Formen der
Kohärenz, genauer: sie muß maximale Kohärenz relativ zu anderen Formen
der Kohärenz sein).
Entscheidend ist der letzte Aspekt, die größere (relativ maximale) Intensität
der Kohärenz. Was ist damit gemeint? Man kann mehrere Merkmale oder
Kriterien nennen: eine höhere Intensität der Kohärenz der „Elemente" wird
erreicht, wenn mehr und „innigere" Beziehungen zwischen den Elementen

2 Eine der besten Untersuchungen über diese „Kohärenzmethodologie" findet sich


in Rescher [1973].

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2.3 Zwei methodische Leitprinzipien 119

expliziert werden, so daß das betreffende Ganze als feiner strukturiert


erscheint bzw. begriffen wird. Ein Beispiel einer solchen intensiveren Kohärenz
wurde oben bei der Einführung und Erläuterung des Begriffs der Bestim-
mungsrelation zwischen Analysandum/Explicandum/Definiendum und Ana-
lysans/Explicans/Definiens vorgeführt (vgl. 2.1.4.3).
Argumentation bzw. Begründung wird also nach der hier vertretenen
Konzeption und angewandten Methode als die Herausarbeitung oder das
Aufzeigen einer holistischen Kohärenz verstanden und durchgeführt.

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