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2.1 Von jetzt ab werde ich unter einer SPRACHE eine (endliche
oder unendliche) Menge von Sätzen verstehen, jeder endlich in seiner
Länge und konstruiert aus einer endlichen Menge von Elementen.
Alle natürlichen Sprachen — in ihrer gesprochenen oder geschrie-
benen Form — sind Sprachen in diesem Sinn, da jede natürliche
Sprache eine endliche Zahl von Phonemen (oder Buchstaben in
ihrem Alphabet) hat und jeder Satz als eine endliche Folge von
Phonemen (oder Buchstaben) dargestellt werden kann, obwohl es
unendlich viele Sätze gibt. Ähnlich kann die Menge von 'Sätzen'
irgendeines formalisierten Systems der Mathematik als eine Sprache
verstanden werden. Das grundsätzliche Ziel bei der linguistischen
Analyse einer Sprache L ist es, die GRAMMATISCHEN Folgen, die
Sätze von L sind, von den ungrammatischen Folgen, die nicht Sätze
von L sind, zu sondern und die Struktur der grammatischen Folgen
zu studieren. Die Grammatik von L wird deshalb eine Vorrichtung
sein, die sämtliche der grammatischen Folgen von L erzeugt und
keine der ungrammatischen. Eine Möglichkeit, die Angemessenheit
einer Grammatik, die für L vorgeschlagen wird, zu testen, ist es
festzustellen, ob die Folgen, die sie erzeugt, wirklich grammatisch
sind oder nicht, d.h., ob sie von einem, der sie von Hause aus spricht
usw., akzeptiert werden. Wir können gewisse Schritte in Richtung
auf die Bereitstellung eines Verhaltens-Kriteriums für Grammatika-
lität tun, so daß dieser Angemessenheitstest ausgeführt werden
kann. Für die Zwecke dieser Diskussion hier wollen wir jedoch
davon ausgehen, daß wir intuitive Kenntnis von den grammatischen
Sätzen des Englischen besitzen, und wollen fragen, welche Art von
Grammatik die Aufgabe erfüllen kann, diese Sätze in irgendeiner
wirksamen und klärenden Weise hervorzubringen. Wir stehen damit
16 DIE EIGENSTÄNDIGKEIT DER GRAMMATIK
2.2 Auf welcher Basis gehen wir nun wirklich daran, grammatische
Folgen von ungrammatischen Folgen zu sondern? Hier will ich
nicht versuchen, eine vollständige Antwort auf diese Frage zu geben
(vgl. §§ 6,7), sondern ich möchte zeigen, daß verschiedene Antwor-
ten, die sich unmittelbar anbieten, nicht richtig sein können. Erstens
ist es offensichtlich, daß die Menge der grammatischen Sätze nicht
mit irgendeiner einzelnen Sammlung von Äußerungen identifiziert
werden kann, die der Linguist bei seiner Feldarbeit erhält. Jede
Grammatik einer Sprache wird die endliche und irgendwie zufällige
Sammlung von beoabachteten Äußerungen auf eine (wahrschein-
lich unendliche) Menge von grammatischen Äußerungen PROJI-
ZIEREN. In dieser Hinsicht spiegelt eine Grammatik das Verhalten
des Sprechers wider, der auf der Basis einer endlichen und zufälligen
Erfahrung mit Sprache eine unendliche Anzahl von neuen Sätzen
hervorbringen und verstehen kann. In der Tat kann jede Erläute-
rung des Begriffes 'grammatisch in L' (d.h., jede Charakterisierung
von 'grammatisch in L' mittels 'beobachtete Äußerung von L') als
eine vorgeschlagene Erklärung für diesen grundsätzlichen Aspekt
sprachlichen Verhaltens angesehen werden.
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Wir kehren zu der Frage der Beziehung zwischen Semantik und Syntax
in den §§ 8 und 9 zurück, wo wir argumentieren, daß diese Beziehung nur
untersucht werden kann, wenn vorher die Struktur der Syntax auf eigenem
Boden bestimmt wurde. Ich glaube, ziemlich dasselbe gilt von der Beziehung
zwischen syntaktischen und statistischen Sprachstudien. Wenn die Grammatik
einer Sprache vorliegt, kann man den Sprachgebrauch statistisch auf vielfältige
Weise untersuchen; und die Entwicklung von Wahrscheinlichkeits-Modellen
für den Sprachgebrauch (als von der syntaktischen Struktur der Sprache ver-
schieden) kann sehr lohnend sein. Vgl. B. Mandelbrot, "Structure formelle des
textes et communication: deux 6tudes", Word, 10 (1954), 1-27; H. A. Simon,
"On a class of skew distribution functions", Biometrika, 42 (1955), 425-440.
Man könnte versuchen, eine feinere Beziehung zwischen der statistischen und
syntaktischen Struktur zu entwickeln als das einfache Annäherungsgrad-Modell,
das wir zurückgewiesen haben. Ich würde mich sicher nicht um den Beweis be-
mühen wollen, daß solch eine Beziehung undenkbar ist, aber ich kenne keinen
Vorschlag in dieser Richtung, der nicht offensichtliche Mängel hätte. Man
beachte insbesondere, daß wir für irgendein n eine Kette finden können, deren
erste n Wörter als Anfang eines grammatischen Satzes Si auftreten können und
deren letzte n Wörter als Endung eines grammatischen Satzes $2 auftreten kön-
nen, wobei aber Si von Sz verschieden sein muß. Als Beispiel wollen wir die
Folge der Form the man who... are here betrachten, wobei... eine Verbal-
Phrase von beliebiger Länge sein kann. Man beachte außerdem, daß neue aber
vollkommen grammatische Folgen von Wortarten auftreten können, z.B., eine
Folge von Adjektiven, die länger ist als jede andere, die vorher im Kontext Isaw
a — house hervorgebracht wurde. Die verschiedensten Versuche, die Unter-
scheidung 'grammatisch-ungrammatisch* — wie im Falle von (1) und (2) —
auf der Basis der Häufigkeit des Satz-Typs, des Annäherungs-Grades von
Wortarten-Folgen usw. zu erklären, werden an zahlreichen Tatsachen wie
diesen scheitern.