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DIE E I G E N S T Ä N D I G K E I T DER G R A M M A T I K

2.1 Von jetzt ab werde ich unter einer SPRACHE eine (endliche
oder unendliche) Menge von Sätzen verstehen, jeder endlich in seiner
Länge und konstruiert aus einer endlichen Menge von Elementen.
Alle natürlichen Sprachen — in ihrer gesprochenen oder geschrie-
benen Form — sind Sprachen in diesem Sinn, da jede natürliche
Sprache eine endliche Zahl von Phonemen (oder Buchstaben in
ihrem Alphabet) hat und jeder Satz als eine endliche Folge von
Phonemen (oder Buchstaben) dargestellt werden kann, obwohl es
unendlich viele Sätze gibt. Ähnlich kann die Menge von 'Sätzen'
irgendeines formalisierten Systems der Mathematik als eine Sprache
verstanden werden. Das grundsätzliche Ziel bei der linguistischen
Analyse einer Sprache L ist es, die GRAMMATISCHEN Folgen, die
Sätze von L sind, von den ungrammatischen Folgen, die nicht Sätze
von L sind, zu sondern und die Struktur der grammatischen Folgen
zu studieren. Die Grammatik von L wird deshalb eine Vorrichtung
sein, die sämtliche der grammatischen Folgen von L erzeugt und
keine der ungrammatischen. Eine Möglichkeit, die Angemessenheit
einer Grammatik, die für L vorgeschlagen wird, zu testen, ist es
festzustellen, ob die Folgen, die sie erzeugt, wirklich grammatisch
sind oder nicht, d.h., ob sie von einem, der sie von Hause aus spricht
usw., akzeptiert werden. Wir können gewisse Schritte in Richtung
auf die Bereitstellung eines Verhaltens-Kriteriums für Grammatika-
lität tun, so daß dieser Angemessenheitstest ausgeführt werden
kann. Für die Zwecke dieser Diskussion hier wollen wir jedoch
davon ausgehen, daß wir intuitive Kenntnis von den grammatischen
Sätzen des Englischen besitzen, und wollen fragen, welche Art von
Grammatik die Aufgabe erfüllen kann, diese Sätze in irgendeiner
wirksamen und klärenden Weise hervorzubringen. Wir stehen damit
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vor der bekannten Aufgabe, einen intuitiven Begriff zu erklären —


in diesem Fall 'grammatisch im Englischen', und noch allgemeiner:
den Begriff 'grammatisch'.
Zu beachten ist, daß es genügt, um die Ziele der Grammatik
sinnvoll zu setzen, eine Teilkenntnis von Sätzen und Nicht-Sätzen
anzunehmen. Das heißt, wir können für diese Diskussion an-
nehmen, daß gewisse Folgen von Phonemen eindeutig Sätze und
daß gewisse andere Folgen eindeutig Nicht-Sätze sind. In vielen
mittleren Fällen werden wir dann so weit sein, die Grammatik
selbst entscheiden zu lassen, wenn nämlich die Grammatik in der
einfachsten Weise aufgestellt ist, so daß sie die klaren Sätze ein- und
die klaren Nicht-Sätze ausschließt. Dies ist eine bekannte Eigen-
tümlichkeit beim Erklären.1 Eine bestimmte Anzahl von klaren
Fällen wird uns dann mit einem Kriterium der Angemessenheit für
jede Einzelgrammatik versorgen. Für eine einzelne Sprache —
isoliert betrachtet — liefert dies nur einen schwachen Test für
Angemessenheit, da viele verschiedene Grammatiken die klaren
Fälle angemessen behandeln können. Dies kann jedoch zu einer sehr
strengen Bedingung verallgemeinert werden, wenn wir nämlich
darauf bestehen, daß die klaren Fälle für JEDE Sprache angemessen
von Grammatiken gehandhabt werden, die alle durch dieselbe
Methode konstruiert sind. Das heißt: jede Grammatik ist in einer
im voraus für alle Grammatiken von einer gegebenen Theorie fest-
gelegten Weise bezogen auf die Sammlung von Sätzen der Sprache,
die sie beschreibt. Wir haben dann einen sehr strengen Angemessen-
heitstest für eine Sprachtheorie, die eine allgemeine Erklärung für
1
Vgl. beispielsweise N. Goodman, The structure of appearance (Cambridge,
1951), S. 5-6. Man beachte: um den Zwecken der Grammatik gerecht zu werden,
wenn eine Sprachtheorie schon vorliegt, genügt es, eine Teilkenntnis der Sätze
(d.h., eine Sammlung) der Sprache zu haben, da eine Sprachtheorie die Bezie-
hung zwischen der Menge beobachteter Sätze und der Menge grammatischer
Sätze bestimmt; d.h., sie wird 'grammatischer Satz' mittels 'beobachteter Satz'
definieren, gewisse Eigenschaften der beobachteten Sätze und gewisse Eigen-
schaften der Grammatiken. Um Quines Formulierung zu benutzen: eine Sprach-
theorie gibt eine allgemeine Erklärung für das, was in einer Sprache sein
'könnte' auf der Basis dessen, "was ist plus Einfachheit der Gesetze, durch die
beschrieben und extrapoliert wird, was ist". (W. V. Quine, From a logical point
of view, Cambridge, 1953, S. 54). Vgl. §6.1.
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den Begriff 'grammatischer Satz' mittels 'beobachteter Satz' zu


geben versucht, und für die Menge von Grammatiken, die in
Übereinstimmung mit solch einer Theorie konstruiert sind. Dies ist
darüber hinaus eine vernünftige Forderung, da wir nicht nur an
Einzelsprachen, sondern auch an der allgemeinen Natur der Sprache
interessiert sind. Es könnte noch viel mehr über diesen wesentlichen
Punkt gesagt werden, aber das würde uns zu weit vom Wege
abbringen. Vgl. § 6.

2.2 Auf welcher Basis gehen wir nun wirklich daran, grammatische
Folgen von ungrammatischen Folgen zu sondern? Hier will ich
nicht versuchen, eine vollständige Antwort auf diese Frage zu geben
(vgl. §§ 6,7), sondern ich möchte zeigen, daß verschiedene Antwor-
ten, die sich unmittelbar anbieten, nicht richtig sein können. Erstens
ist es offensichtlich, daß die Menge der grammatischen Sätze nicht
mit irgendeiner einzelnen Sammlung von Äußerungen identifiziert
werden kann, die der Linguist bei seiner Feldarbeit erhält. Jede
Grammatik einer Sprache wird die endliche und irgendwie zufällige
Sammlung von beoabachteten Äußerungen auf eine (wahrschein-
lich unendliche) Menge von grammatischen Äußerungen PROJI-
ZIEREN. In dieser Hinsicht spiegelt eine Grammatik das Verhalten
des Sprechers wider, der auf der Basis einer endlichen und zufälligen
Erfahrung mit Sprache eine unendliche Anzahl von neuen Sätzen
hervorbringen und verstehen kann. In der Tat kann jede Erläute-
rung des Begriffes 'grammatisch in L' (d.h., jede Charakterisierung
von 'grammatisch in L' mittels 'beobachtete Äußerung von L') als
eine vorgeschlagene Erklärung für diesen grundsätzlichen Aspekt
sprachlichen Verhaltens angesehen werden.

2.3 Zweitens darf der Begriff 'grammatisch' nicht mit 'bedeutungs-


tragend' oder 'sinnvoll' in irgendeinem semantischen Sinn identifi-
ziert werden. Satz (1) und (2) sind in gleicher Weise sinnlos, aber
jeder Sprecher des Englischen wird anerkennen, daß der erste sehr
wohl grammatisch ist.
(1) Colorless green ideas sleep furiously.
(2) Furiously sleep ideas green colorless.
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In ähnlicher Weise gibt es keinen semantischen Grund, Satz (3)


dem Satz (5), oder Satz (4) dem Satz (6) vorzuziehen, aber nur (3)
und (4) sind grammatisch Sätze des Englischen.
(3) Have you a book on modern music?
(4) The book seems interesting.
(5) Read you a book on modern music?
(6) The child seems sleeping.
Solche Beispiele legen uns nahe, daß jede Suche nach einer seman-
tisch begründeten Definition für Orammatikalität' vergeblich sein
wird. Wir werden in § 7 tatsächlich sehen, daß es Tiefenstruktur-
Gründe gibt, weshalb (3) und (4) von (5) und (6) zu unterscheiden
sind; doch bevor wir fähig sind, eine Erklärung für Tatsachen wie
diese zu finden, müssen wir die Theorie der syntaktischen Struktur
ein gutes Stück über die bekannten Grenzen hinaustreiben.

2.4 Drittens darf der Begriff 'grammatisch im Englischen' in


keiner Weise mit dem Begriff 'hoher Grad von statistischer An-
näherung ans Englische' identifiziert werden. Man kann wohl an-
nehmen, daß weder Satz (1) noch (2) (und sicher auch kein Teil
dieser Sätze) jemals in einer englischen Rede vorgekommen sind.
Deshalb würden in einem statistischen Modell für Grammatikalität
diese Sätze aus identischen Gründen als gleich 'entfernt' vom
Englischen ausgeschieden werden. Doch ist (1), obwohl sinnlos,
grammatisch, während (2) es nicht ist. Mit diesen Sätzen konfron-
tiert, wird ein Sprecher des Englischen (1) mit normaler Satzintona-
tion lesen, während er (2) mit auf jedem Wort fallender Intonation
lesen wird; nämlich mit genau dem Intonationsmuster, das man
jeder Folge von unbezogenen Wörtern gibt. Er behandelt jedes
Wort in (2) als selbständige Phrase. Außerdem wird er (1) viel
leichter behalten können als (2) und es viel schneller lernen, usw.
Dabei mag er niemals ein Wortpaar aus diesen Sätzen in wirklicher
Rede verbunden gehört oder gesehen haben. Um ein anderes Bei-
spiel zu wählen: im Kontext I saw a fragile —, dürften die Wörter
whale und of die gleiche (nämlich: null) Häufigkeit in der ver-
gangenen sprachlichen Erfahrung eines Sprechers haben, der aber
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unmittelbar erkennen wird, daß nur eine dieser Ergänzungen einen


grammatischen Satz abgibt. Wir können natürlich nicht an die Tat-
sache appellieren, daß Sätze wie (1) in einem genügend weit herge-
holten Kontext geäußert werden 'könnten', während (2) es niemals
würde, da die Grundlage für die Unterscheidung zwischen (1) und
(2) genau das ist, was wir bestimmen wollen.
Offensichtlich ist unsere Fähigkeit, grammatische Äußerungen
hervorzubringen und zu erkennen nicht auf Begriffe von statisti-
scher Annäherung und dergleichen gegründet. Die Sitte, grammati-
sche Sätze solche Sätze zu nennen, die 'vorkommen können', oder
solche, die 'möglich' sind, war hier für einige Verwirrung verant-
wortlich. Es ist nur natürlich, 'möglich' so zu verstehen, als sei
damit 'sehr wahrscheinlich' gemeint, und anzunehmen, daß die
scharfe Unterscheidung des Linguisten zwischen grammatisch und
ungrammatisch2 durch ein Gefühl motiviert ist, daß er sich, da die
'Realität' der Sprache für eine vollständige Beschreibung zu komplex
ist, mit einer schematischen Version zufrieden gibt, indem er 'die
Null-Wahrscheinlichkeit und alle extrem niedrigen Wahrschein-
lichkeiten durch unmöglich und alle höheren Wahrscheinlichkeiten
durch möglich" ersetzt.3 Wir sehen jedoch, daß diese Idee ganz
falsch ist und daß eine Strukturanalyse nicht als schematische Zu-
sammenfassung verstanden werden kann, die so entwickelt wird,
daß die verschwimmenden Ränder des vollen statistischen Bildes
scharf werden. Wenn wir Folgen von gegebener Länge zum Zwecke
statistischer Annäherung ans Englische aufreihen, werden wir
sowohl grammatische als auch ungrammatische Folgen über die
Liste verstreut finden; dort scheint es keine eigene Beziehung
zwischen dem Grad der Annäherung und der Grammatikalität zu
geben. Trotz des unleugbaren Interesses und der Wichtigkeit seman-
2
Unten werden wir vorschlagen, diese scharfe Unterscheidung zugunsten
des Begriffs der Grammatikalitäts-Ebenen zu modifizieren. Aber das ist für die
Fragestellung hier irrelevant. Damit stünden (1) und (2) auf verschiedenen
Ebenen der Grammatikalität, selbst wenn (1) ein niederer Grad von Grammati-
kalität zugeschrieben wird als — sagen wir — (3) und (4); aber sie werden auf
derselben Ebene statistischer Entfernung vom Englischen stehen. Dasselbe gilt
von einer unbestimmten Anzahl ähnlicher Paare.
3
C. F. Hockett, A manual of phonology (Baltimore, 1955), S. 10.
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tischer und statistischer Sprachstudien scheinen sie keine direkte


Bedeutung für das Problem zu haben, wie die Menge von gramma-
tischen Äußerungen zu bestimmen oder zu charakterisieren ist. Ich
glaube, daß wir zu dem Schluß gezwungen sind, daß Grammatik
autonom und unabhängig von der Bedeutung ist und daß Wahr-
scheinlichkeitsmodelle keine besondere Einsicht in gewisse Grund-
probleme der syntaktischen Struktur geben.4

4
Wir kehren zu der Frage der Beziehung zwischen Semantik und Syntax
in den §§ 8 und 9 zurück, wo wir argumentieren, daß diese Beziehung nur
untersucht werden kann, wenn vorher die Struktur der Syntax auf eigenem
Boden bestimmt wurde. Ich glaube, ziemlich dasselbe gilt von der Beziehung
zwischen syntaktischen und statistischen Sprachstudien. Wenn die Grammatik
einer Sprache vorliegt, kann man den Sprachgebrauch statistisch auf vielfältige
Weise untersuchen; und die Entwicklung von Wahrscheinlichkeits-Modellen
für den Sprachgebrauch (als von der syntaktischen Struktur der Sprache ver-
schieden) kann sehr lohnend sein. Vgl. B. Mandelbrot, "Structure formelle des
textes et communication: deux 6tudes", Word, 10 (1954), 1-27; H. A. Simon,
"On a class of skew distribution functions", Biometrika, 42 (1955), 425-440.
Man könnte versuchen, eine feinere Beziehung zwischen der statistischen und
syntaktischen Struktur zu entwickeln als das einfache Annäherungsgrad-Modell,
das wir zurückgewiesen haben. Ich würde mich sicher nicht um den Beweis be-
mühen wollen, daß solch eine Beziehung undenkbar ist, aber ich kenne keinen
Vorschlag in dieser Richtung, der nicht offensichtliche Mängel hätte. Man
beachte insbesondere, daß wir für irgendein n eine Kette finden können, deren
erste n Wörter als Anfang eines grammatischen Satzes Si auftreten können und
deren letzte n Wörter als Endung eines grammatischen Satzes $2 auftreten kön-
nen, wobei aber Si von Sz verschieden sein muß. Als Beispiel wollen wir die
Folge der Form the man who... are here betrachten, wobei... eine Verbal-
Phrase von beliebiger Länge sein kann. Man beachte außerdem, daß neue aber
vollkommen grammatische Folgen von Wortarten auftreten können, z.B., eine
Folge von Adjektiven, die länger ist als jede andere, die vorher im Kontext Isaw
a — house hervorgebracht wurde. Die verschiedensten Versuche, die Unter-
scheidung 'grammatisch-ungrammatisch* — wie im Falle von (1) und (2) —
auf der Basis der Häufigkeit des Satz-Typs, des Annäherungs-Grades von
Wortarten-Folgen usw. zu erklären, werden an zahlreichen Tatsachen wie
diesen scheitern.

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