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Interpretation: „Alles wie immer“ (2007) – Sibylle Berg

Tagträumerei… das kennt doch jeder! Die meisten Menschen behalten ihre
Gedanken für sich, doch Sibylle Berg bringt sie in ihrer Kurzgeschichte „Alles wie
immer“ aus dem Jahr 2007 in der Wochenzeitung „die Zeit“ aufs Papier. In diesem
Text wird ein gedanklicher Tagesablauf einer antriebslosen Frau beschrieben, die in
ihrer monotonen Alltagsroutine gefangen ist und den Sinn ihres langweiligen Lebens
in Frage stellt.
Lustlos wacht die Protagonistin morgens in ihrem Bett auf und durchdenkt den
bevorstehenden Tag. Das kann sie, denn jeder Tag gleicht dem anderen. Er besteht
aus ihrer morgendlichen Routine, dem Weg zur Arbeit, der Arbeit selbst mit
denselben Gesichtern wie jeden Tag sowie ihrer Mittagspause am Fluss. Nicht zu
vergessen sind der notwendige Einkauf am Abend und schlussendlich das pünktliche
Zubettgehen um 20:00 Uhr. Doch plötzlich gibt es einen Tag mit Veränderungen. Ihr
monotoner Alltag wird durchbrochen und die Protagonistin nimmt unerwartet Gefühle
wahr, die sie schon lange in ihrem Leben vermisst hat (ab Z. 44).

Die Kurzgeschichte ist in acht Abschnitte unterteilt, die man an den Absätzen
erkennen kann. Es gibt eine äußere Handlung (Rahmenhandlung), in der die Frau im
Bett liegt. Die innere Handlung (Binnenhandlung) sind all die Gedanken zu dem
bevorstehenden Tag. Das Besondere an dieser Kurzgeschichte ist, dass es zwar
einen Wendepunkt im Leben der Figur gibt, allerdings keine Steigerung beim
chronologischen Handlungsverlauf zu erkennen ist. Zudem liegt in diesem Text ein
Er-/Sie-Erzählern (Z. 15) vor, der eine gewisse Distanz zu der Hauptfigur erzeugt.
Der Erzähler ist somit kein Teil der Figurenwelt und nicht am Geschehen beteiligt.
Dem Leser kommt es so vor, als würde er von oben auf die Protagonistin
draufschauen und sie als Geist in ihrem Alltag begleiten. Durch die Zeitform, die in
der Kurzgeschichte verwendet wird, dem Präsens, wird allerdings wieder ein wenig
Nähe zu der Protagonistin im Text hergestellt. Man erlebt die Tagträumerei und den
Alltag direkt mit, das Erzählerwissen ist dabei gleich dem Figurenwissen – eine
interne Fokalisierung liegt vor.
Die Autorin beginnt ihren epischen Text mit elliptischen Gedankenblitzen, welche die
Antriebslosigkeit verdeutlichen. Die Protagonistin scheint nicht in der Verfassung zu
sein, vollständige und strukturierte Sätze zu denken. Bei dem Blick aus ihrem
Fenster erwähnt sie, dass dieses zu klein sei, um den Himmel zu sehen (Z.3-4: „Der
Blick aus dem Fenster. Das ist zu klein, da ist der Himmel nicht zu sehen.“). Diesen
Gedanken könnte man als Metapher verstehen. Das kleine Fenster spricht dafür,
dass die Protagonistin sich in ihrem Alltag gefangen fühlt und eine gewisse Freiheit
misst. Der Himmel steht für den „Lichtblick am Ende des Tunnels“, also für das
Sehnen nach einer Veränderung, die ihr Leben bereichern könnte und die Hauptfigur
aus ihrer Alltagsroutine reißt. Allgemein kann man sagen, dass viele Vergleiche in
den Text eingebaut wurden - schon die Überschrift „Alles wie immer“ ist einer. Dieser
Vergleich wird im ersten Abschnitt des Textes wiederholt. Damit wird betont, wie
eintönig und öde ihr Alltag doch sei. Sehr aussagekräftig ist auch der Vergleich „Nur
ein Haus gegenüber, es ist dasselbe wie gestern.“ (Z.4-5). Er spiegelt das wider, was
die Protagonistin beim Blick aus ihrem kleinen Fenster wahrnimmt und steht
symbolisch für ihren monotonen Alltag – keine neuen Eindrücke, nur kühle, mit
keinen Gefühlen verbundene Wahrnehmungen. Im weiteren Verlauf des Textes fällt
eine Inversion ins Auge: „dass sie unbedingt die Augen wieder schließen muss vor
Müdigkeit“ (Z.7-8). Die Betonung liegt dabei auf den beiden Wörtern „vor Müdigkeit“.
Somit wird in den Vordergrund gestellt, wie öde und ermüdend ihr Alltag sei. Die
Protagonistin scheint sehr oft müde und antriebslos zu sein. Das Aufstehen ist für sie
ein enormer Kraftaufwand, weil ihr die Freude auf den bevorstehenden Tag fehlt. Die
Autorin erzeugt durch Aufzählungen wie „Das Bewegen, Kaffee, ein Ei.“ (Z.10) oder
„den Schlüssel nicht vergessen, die Schuhe nicht, den Kopf“ (Z.11) und meist kurze
Sätze eine kühle, emotionslose Stimmung. Außerdem wird davon gesprochen, die
Frau in der Kurzgeschichte trage ein Kostüm (Z.10: „Ein kleines Kostüm, den
kamelhaarfarbenen Mantel.“). Dieses Symbol spricht dafür, dass die Hauptfigur sich
nicht nur in ihrer Umgebung unwohl fühlt, sondern auch in ihrem eigenen Körper. Sie
wirkt nicht besonders selbstsicher. Der Arbeitsweg der Frau wird mit einem
Gefängnishof gleichgesetzt (Z.15: „Die Frau folgt dem Weg wie auf dem
Gefängnishof“). Das zeigt wiederum, wie gefangen sich die Protagonistin fühlt,
obwohl sie doch eigentlich ihr Leben in Freiheit ohne Verpflichtungen verbringen
möchte. Sie selbst wünscht sich nichts sehnlicher, als den Tag im Café zu verbringen
(Z.17: „Einmal nicht weitergehen müssen, ins Café gehen, den ganzen Tag dort
sitzen, Leute anschauen, die an ihrer Stelle in ihr Leben gehen.“). Die Aussage
verdeutlicht, dass sie mit dem Leben, welches sie führt, aber vor allem auch mit ihrer
Arbeit unzufrieden ist. Den Gedanken an einen schönen Tag im Café verwirft sie
daraufhin allerdings schnell wieder mit der Redewendung „Nichts da“ (Z.19) und fährt
ihren Weg zur Arbeit fort. Auf der Arbeit angekommen, bekommt man einen Einblick
in das, was die Hauptfigur über ihre Arbeitskollegin bzw. ihren Chef denkt. Auffällig
ist der Satz: „Da ist die Kollegin, die immer Probleme mit ihren Fingernägeln hat, die
brechen ab, ansonsten keine Probleme.“ (Z.19-21). In diesem Fall liegt die
Aufmerksamkeit des Lesers auf der Wortgruppe „ansonsten keine Probleme“, da
dieser Satzteil durch ein fehlendes Prädikat unvollständig wirkt. Die Protagonisten
könnte damit Neid ausdrücken und stellt das Leben ihrer Kollegin so dar, als wäre es
nahezu perfekt. Damit verfällt sie ein wenig in Selbstmitleid und stellt die
Unzufriedenheit mit ihrem Leben in den Vordergrund. Die Aussagen „Dinge in den
Computer tippen, was für Dinge ist egal. Posten, dahinter sind Zahlen, die zeigen,
dass der Chef reich wird. Schön für ihn.“ (Z.22-24) zeigen, dass sie die Tätigkeiten in
ihrem Beruf als wenig sinnvoll empfindet – allerdings aus einer sehr egoistischen
Perspektive. Für die Frau spielt es keine Rolle, dass der Chef ihr einen Teil seines
„Reichtums“ als Lohn auszahlt. Sie denkt nur daran, dass der Chef reich werde. Er
sei somit ein ziemlicher Egoist und sie eine arme Angestellte. Dass die Hauptfigur
dabei allerdings egoistisch denkt, bemerkt sie selbst nicht. Die Protagonistin hat
keinen Spaß an ihrem eintönigen Beruf. Die Zeit vergeht nach ihrem Empfinden nur
in Zeitlupe, was das Paradoxon „Die Uhr, nach Stunden draufgeschaut, es sind zehn
Minuten vergangen.“ (Z.21-22) unwillkürlich belegt. Ein weiterer Beweis dafür ist die
Hyperbel „Nach Ewigkeiten“ (Z.24). Die Protagonistin wartet nur darauf, bis sie in die
Mittagspause gehen kann. Es wird so dargestellt, als würde sie extrem unter ihrer
Arbeit leiden (Z.24-25: „die Augen tränen“). Außerdem wird die Metapher vom Beginn
wieder aufgegriffen: „vor dem Fenster kein Himmel“ (Z.25) – der Himmel als Symbol
der Freiheit. Sie möchte endlich ihr Gefängnis verlassen. Als die Mittagspause vorbei
ist, „tönt innerlich eine Sirene“ (Z.29), d.h. die Arbeit bedeutet für die Protagonistin
eine Gefahr, denn die Sirene ist ein Alarm/eine Warnung. Das „schwere Herz“ (Z.30)
steht sinnbildlich für Kummer, Trauer um die vergeudete Zeit sowie die Arbeit als
eine seelische Belastung. Sie geht ohne das Herz zurück ins Büro (Z.30-31), ohne
Leidenschaft geht es an die Arbeit. Die Metapher „auch im Sommer kalt von
Neonlicht“ (Z.31) bekräftigt die negativen Gefühle, die sie mit der Arbeit verbindet. So
wirkt das Büro noch einmal mehr wie ein kaltes, dunkles Gefängnis, indem sie sich
sehr unwohl fühlt. „Geht sie, kauft tiefgefrorene Suppe, trägt sie in die ordentliche
Wohnung“ (Z.31-32) – hier liegen zwei ähnlich klingende Wörter vor, welche die
Handlungsstränge miteinander verknüpfen. Es wirkt wie eine festgelegte,
unveränderbare Abfolge der Handlungen, welche die Protagonistin alltäglich erlebt.
Nachdem die Hauptfigur den Tag vollkommen durchdacht hat, wird sie in die Realität
zurückgeholt. Die Personifikationen „Die Angst hält sie gerade, macht sie aufstehen,
in die Küche gehen.“ (Z.36-37) sorgen dafür, dass die Angst eine höhere
Machtstellung zugeteilt bekommt. Sie ist kein Zustand mehr, sie übernimmt
menschliche Eigenschaften. Dabei ist zunächst unklar, von welcher Angst sie spricht.
In dem nächsten Absatz geht die Protagonistin darauf ein: „Die Angst, zu sterben, im
Bett, vor lauter Langeweile.“ (Z.39). Damit übertreibt sie ihren Gefühlszustand. Es
liegt eine Hyperbel vor, denn sterben wird sie vor Langeweile nicht. Sie verliert die
Hoffnung auf eine Wendung in ihrem Leben, geht weiter durch die Straßen, „die
Häuser wie immer“ (Z.41) – ein Vergleich, der betont, wie langweilig sie ihre Heimat
mittlerweile findet. Sie entdeckt die roten Stühle des Kaffees, die Farbe Rot als
Zeichen von Wärme bildet einen extremen Kontrast zum Neonlicht im Büro. Diese
Sitzgelegenheiten wirken sehr anziehend auf die Frau. Das wird durch die
Personifikationen „die roten Stühle winken, sie lächeln“ (Z.42) verdeutlicht. Sie
schaffen für sie einen Zufluchtsort aus dieser kühlen Welt, eine Atmosphäre, in der
man sich wohlfühlen kann. Mit der darauffolgenden rhetorischen Frage „warum
wohl?“ (Z.42) verstärkt sie die Wirkung ihrer Gedanken. In der Kurzgeschichte tritt
eine Wendung auf. Die Frau schaut auf ihre Füße ohne Schuhe (Z.43). Sie könnten
die Freiheit symbolisieren. Die Protagonistin wird nicht mehr in eine Form gepresst,
sie ist frei. Die Angst habe sie auch zu Hause vergessen (Z.44). Ihr Alltag wird
durchbrochen und nun kann sie in ihrer monotonen, kühlen Welt endlich wieder
Wärme empfinden. Der rote Stuhl sei ein Thron für sie (Z.45) – der Thron, ein
Machtsymbol. Es ist nun nicht mehr die Angst, welche die Macht über sie hat. Die
Protagonistin allein hat die Macht, über sich selbst zu entscheiden. „Sie dreht das
Gesicht der Sonne zu“ (Z.45-46) bedeutet, dass sie sich voller Zuversicht auf die
positiven Dinge und auf das Glücklichsein fokussiert. Die Sonne gilt dabei als Symbol
für Wärme, Liebe, Zufriedenheit. Der Vergleich „Es wird ganz warm, so warm wie
noch nie ein Gesicht gewesen ist“ bekräftigt ihre Zufriedenheit im Hier und Jetzt. Die
Personifikation „ein Lächeln kommt über die Wärme“ bedeutet, dass sie inneren
Frieden gefunden hat, indem sie sich eine Auszeit von dem Alltag nimmt, und ihr
inneres Glück auch ausstrahlt. Die Alliteration „wenn ich weiß, wie es wird“ stellt eine
Bedingung dar, die sie nicht erfüllen wird, denn am Ende der Kurzgeschichte kommt
sie zu dem Endschluss, dass ein vorhersehbares Leben nicht lebenswert sei.
Nach eingehender Analyse der Kurzgeschichte kann die Aussage getroffen werden,
dass die Protagonistin definitiv von ihrem Leben gelangweilt ist. Das beweisen
zahlreiche Vergleiche und Metaphern, aber vor allem auch die Satzstruktur des
epischen Textes. Bereits 2001 veröffentlichte die Autorin Sibylle Berg eine
Kurzgeschichte „Nacht“, die ebenfalls von dem Identitätsverlust und dem Ausbruch
aus der Monotonie des Alltags handelt. Die Schriftstellerin ist für ihre Ehrlichkeit und
gnadenlose Direktheit bekannt. Beide Texte überbringen eine Botschaft an die Leser,
ihrem Alltag mehr Ausdruck zu verleihen, denn jede Sekunde im Leben ist ein
unbezahlbares Geschenk für uns. Manchmal sollte man aus seiner Komfortzone
treten, um zu spüren, wie wertvoll das Leben ist.

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