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Synchronische Sprachwissenschaft.
K a p i t e l I.
Allgemeines.
Die Aufgabe der allgemeinen synchronischen Sprachwissen-
schaft ist es, die Grundprinzipien eines jeden idiosynchronischen
Systems, die gestaltenden Grundfaktoren eines jeden Sprach-
zustandes, festzustellen. Vieles, was im Vorausgehenden schon
auseinandergesetzt worden ist, gehört eigentlich der Synchronie
an; so können die allgemeinen Eigenschaften des Zeichens als
wesentlicher Bestandteil der Synchronie gelten, obwohl sie uns
dienlich waren bei dem Beweis dafür, daß es nötig ist, die beiden
Arten von Sprachwissenschaft zu unterscheiden.
Der Synchronie gehört alles an, was man „allgemeine Gram-
matik" nennt; denn nur vermöge der Sprachzustände treten
die verschiedenen Verhältnisse auf, welche das Gebiet der Gram-
matik bilden. Im Folgenden fassen wir nur gewisse wesentliche
Grundwahrheiten ins Auge, ohne die man speziellere Probleme
der Statik nicht in Angriff nehmen, noch einen Sprachzustand
im einzelnen erklären könnte.
Ganz allgemein ist es viel schwerer, statische Sprachwissen-
schaft zu treiben als Sprachgeschichte. Die Entwicklungs-
tatsachen sind etwas Faßbareres, sie regen die Phantasie stärker
an; die Beziehungen, die man da beobachtet, verknüpfen auf-
einanderfolgende Glieder, die man ohne Mühe fassen kann; es
ist leicht, oft sogar unterhaltsam, eine Reihe von Umgestaltun-
gen zu verfolgen. Dagegen bietet die Sprachwissenschaft, die
sich mit Werten und gleichzeitigen Verhältnissen befaßt, viel
größere Schwierigkeiten.
Allgemeines. 121
Kapitel II.
b)
a' ß' y' ...
Sagen wir etwa im Französischen sizlapra. Kann man diese
Kette nach dem Z abteilen und sizl als eine Einheit hinstellen ?
Nein: man braucht nur die Vorstellungen in Betracht zu ziehen,
um zu erkennen, daß diese Einteilung falsch ist. Die Gliederung
in Silben: siz-la-prä hat ebenfalls von vornherein nichts Sprach-
liches an sich. Die einzig möglichen Gliederungen sind: 1. si-z-
la-pra (si je la prends) und 2. si-z-l-apra (si je l'apprends), und
diese sind bestimmt durch den Sinn, der an diese Wörter ge-
knüpft ist.
Um das Ergebnis dieses Vorgangs zu bestätigen und sich
zu vergewissern, daß man es wirklich mit einer Einheit zu tun
hat, genügt es, daß man beim Vergleich einer Anzahl von Sätzen,
in denen dieselbe Einheit angetroffen wird, in jedem Falle diese
von dem übrigen Text lostrennen und feststellen kann, daß der
Sinn diese Abgrenzung rechtfertigt. Nehmen wir also die zwei
Methode und Schwierigkeit der Abgrenzung. 125
Kapitel III.
K a p i t e l IV.
Die Sprache hat also dem Denken gegenüber nicht die Rolle,
vermittelst der Laute ein materielles Mittel zum Ausdruck der
Gedanken zu schaffen, sondern als Verbindungsglied zwischen
dem Denken und dem Laut zu dienen, dergestalt, daß deren
134 Synchronische Sprachwissenschaft.
^Bezeichnete.s\
(Bedeutung)
Bezeichnendes;
Sie ist, wie die Pfeile in der Figur zeigen, nur das Gegen-
stück zum Lautbild. Es dreht sich alles nur um die Beziehung
zwischen Lautbild und Vorstellung innerhalb des Wortes selbst,
das dabei als ein selbständiges, für sich bestehendes Ganzes
betrachtet wird.
Nun zeigt sich aber noch eine ganz unvorhergesehene Seite
der Sache: einerseits nämlich erscheint uns innerhalb des Zeichens
die Vorstellung wie das Gegenstück des Lautbildes und anderer-
seits ist das Zeichen selbst, d. h. die Beziehung, welche die beiden
Bestandteile verbindet, ebenfalls und ebensosehr das Gegenstück
der andern Zeichen der Sprache.
Da die Sprache ein System ist, dessen Glieder sich alle
gegenseitig bedingen und in dem Geltung und Wert des einen
Wert und Bedeutung. 137
wie kommt es da, daß der so definierte Wert sich mit der Be-
deutung vermischt, d. h. also mit dem Gegenstück des Laut-
bildes ? Es ist offenbar unmöglich, die Beziehungen, die hier
durch wagrechte Pfeile dargestellt sind, denjenigen gleichzu-
setzen, die oben durch senkrechte Pfeile angedeutet sind. Mit
andern Worten — um den Vergleich mit dem Blatt Papier,
das zerschnitten wird, wieder aufzunehmen (vgl. S. 134) —: es
ist nicht einzusehen, warum die Beziehung, die zwischen den
verschiedenen Stücken A, B, C, D usw. festgestellt wird, nicht
verschieden sein sollte von derjenigen, welche besteht zwischen
der Vorderseite und der Rückseite eines und desselben Stückes,
also A/A', B/B' usw.
Zur Antwort auf diese Frage wollen wir zunächst feststellen,
daß auch außerhalb der Sprache alle Werte sich von diesem
Grundsatz beherrscht zeigen. Sie sind immer gebildet:
1. durch etwas U n ä h n l i c h e s , das a u s g e w e c h s e l t werden
kann gegen dasjenige, dessen Wert zu bestimmen ist;
2. durch ä h n l i c h e Dinge, die man v e r g l e i c h e n kann
mit demjenigen, dessen Wert in Rede steht.
Diese beiden Faktoren sind notwendig für das Vorhanden-
sein eines Wertes. So muß man zur Feststellung des Wertes
von einem Fünfmarkstück wissen: 1. daß man es auswechseln
kann gegen eine bestimmte Menge einer andern Sache, z. B.
Brot; 2. daß man es vergleichen kann mit einem ähnlichen Wert
des gleichen Systems, z.B. einem Einmarkstück, oder mit einer
Münze eines andern Systems, z. B. einem Franc. Ebenso kann
ein Wort ausgewechselt werden gegen etwas Unähnliches: eine
Vorstellung; außerdem kann es verglichen werden mit einer
Sache gleicher Natur: einem andern Wort. Sein Wert ist also
nicht bestimmt, wenn man nur feststellt, daß es ausgewechselt
138 Syachronische Sprachwissenschaft.
Bezeichnetes
„urteilen"
„urteilen"
Bezeichnendes,
einer politischen Grenze, und das gilt erst recht von dem be-
zeichnenden Element in der Sprache; seinem Wesen nach ist
es keineswegs lautlich, es ist unkörperlich, es ist gebildet nicht
durch seine stoffliche Substanz, sondern einzig durch die Ver-
schiedenheiten, welche sein Lautbild von allen andern trennen.
Dieser Grundsatz ist so wesentlich, daß er auf alle ma-
teriellen Bestandteile der Sprache Anwendung findet; auch auf
die Phoneme selbst. Jedes Idiom setzt seine Wörter auf Grund
eines Systems von Lautelementen zusammen, deren jedes eine
klar abgegrenzte Einheit darstellt und deren Zahl völlig bestimmt
ist. Was diese charakterisiert, ist also nicht, wie man glauben
könnte, die ihnen eigentümliche positive Qualität, sondern
schlechthin die Tatsache, daß sie unter sich nicht zusammen-
fließen. Die Phoneme sind in erster Linie Dinge, die einander
entgegengesetzt, relativ und negativ sind.
Der Beweis dafür ist der Umstand, daß die Individuen bei
der Aussprache der Laute einen gewissen Spielraum haben,
wobei aber innerhalb der Grenzen dieses Spielraumes die Laute
doch voneinander unterschieden bleiben. Daß z. B. im Fran-
zösischen nach allgemeinem Brauch das r mit dem Zäpfchen
gesprochen wird, hindert nicht, daß viele Leute es doch rollen;
die Sprache gerät dadurch nicht in Verwirrung; sie erfordert
nur Verschiedenheit und verlangt nicht, wie man es sich vor-
stellen könnte, daß der L a u t eine unveränderliche Qualität habe.
Ich kann sogar das französische r wie deutsches ch in Bach,
doch usw. aussprechen, während ich im Deutschen nicht r für ch
anwenden könnte, weil diese Sprache beide als Elemente an-
erkennt und sie unterscheiden muß. Ebenso gibt es im Russi-
schen keinen Spielraum von t zu t' hin (palatalisiertes t), weil
das Ergebnis wäre, daß zwei durch die Sprache differenzierte
Laute zusammengeworfen würden (vgl. govorit' „sprechen" und
govorit „er spricht"). Dagegen kann es dort einen größeren
Spielraum von t zu th hin (aspiriertes t) geben, weil dieser L a u t
nicht im Lautsystem des Russischen vorgesehen ist.
Da man die gleichen Verhältnisse in einem andern Zeichen-
system, nämlich dem der Schrift, feststellen kann, nehmen wir
dieses als Vergleichspunkt zur Aufklärung dieser Frage. In der
T a t sind
Das Zeichen als Ganzes. 143
K a p i t e l V.
erstreckung getragen; ihr Sitz ist im Gehirn; sie sind Teile jenes
inneren Schatzes, der bei jedem Individuum die Sprache bildet.
Wir wollen sie a s s o z i a t i v e B e z i e h u n g e n nennen.
Die syntagmatische oder Anreihungsbeziehung besteht in
praesentia: sie beruht auf zwei oder mehreren in einer be-
stehenden Reihe neben einander vorhandenen Gliedern. Im
Gegensatz dazu verbindet die assoziative Beziehung Glieder in
absentia in einer möglichen Gedächtnisreihe.
Unter dieser doppelten Betrachtungsweise ist eine sprach-
liche Einheit vergleichbar mit einem bestimmten Teil eines Ge-
bäudes, z. B. einer Säule; diese steht einerseits in einer gewissen
Beziehung mit dem Architrav, den sie trägt. Diese Gruppierung
zweier gleichermaßen gegenwärtigen Einheiten im Raum er-
innert an die syntagmatische Beziehung; andererseits, wenn eine
Säule von dorischer Ordnung ist, dann ruft sie im Geist einen
Vergleich mit andern Stilarten (jonisch, korinthisch usw.) her-
vor, welche im Räume nicht vorhandene Bestandteile sind: die
Beziehung ist assoziativ.
Jede dieser beiden Arten von Zuordnung erfordert einige
besondere Bemerkungen.
§ 2. Die Anreihungsbeziehungen.
Unsere Beispiele auf S. 147 geben schon zu verstehen, daß
der Begriff der Anreihung nicht nur auf Wörter Anwendung
findet, sondern auch auf Gruppen von Wörtern, auf zusammen-
gesetzte Einheiten von jedem Ausmaß und jeder Art (zusammen-
gesetzte Wörter, Ableitungen, Satzglieder, ganze Sätze).
Es genügt nicht, die Beziehung zu berücksichtigen, die die
verschiedenen Teile einer Anreihung unter sich verbindet (z. B.
für und uns in für uns; für und Bitte in Fürbitte); man muß
auch diejenige Beziehung berücksichtigen, welche das Ganze mit
seinen Teilen verbindet (z. B. für uns gegenüber für einerseits
und gegenüber uns andererseits, oder Fürbitte gegenüber für
und Bitte).
Man könnte hier einen Einwand machen. Der Satz ist der
Haupttypus der Anreihung, aber er gehört dem Sprechen an
und nicht der Sprache (siehe S. 16); folgt daraus nicht, daß
Syatagmatische Beziehungen. 149
Man muß jedoch zugeben, daß auf dem Gebiet der An-
reihungen es keine vorgezeichneten Grenzen zwischen sprach-
lichen Tatsachen, deren Kennzeichen der allgemeine Gebrauch
ist, und Erscheinungen des Sprechens gibt, die von der indi-
viduellen Freiheit abhängen. In vielen Fällen ist es schwer,
eine Anreihung der Sprache oder dem Sprechen zuzuordnen,
weil sowohl der eine als der andere Faktor mitgewirkt hat,
sie hervorzubringen, und zwar in einem Verhältnis, das man un-
möglich näher bestimmen kann.
1
) Dieser letzte Fall ist selten und kann als anormal gelten, denn der
Geist schaltet von selbst solche Assoziationen aus, die geeignet sind, das
Verstehen zu stören; aber ihr Vorkommen wird bewiesen durch Wortspiele,
die auf lächerlichen Verwechslungen beruhen und sich aus dem bloßen Gleich-
klang ergeben können, wie wenn es etwa heißt: „Der Bauersmann haut seine
Gattin; / die Magd sieht ihnen spöttisch zu. / Es haut der Neger die Mulattin; /
in meinem Herzen, da hausst Du." Dieser Fall muß unterschieden werden
von demjenigen, wo eine Assoziation, obwohl sie zufällig ist, sich auf einen
Vergleich von Vorstellungen stützen kann (vgl. franz. ergot : ergoter, deutsch
blau : durchbläuen); es handelt sich um eine neue Interpretation eines der
Assoziative Beziehungen. 151
U.S.W.
'.W. U.S.W. U-S.W. U.S.W.
Glieder der Verbindung; es sind Fälle von Volksetymologie (s. S. 207); der
Fall ist interessant für die Bedeutungsentwicklung, aber für die synchronische
Betrachtung fällt er ganz einfach unter die oben erwähnte Kategorie: en-
seigner : enseignement. (Hrsg.)
152 Synchronische Sprachwissenschaft.
gruppiert der Grammatiker sie lieber auf die eine als auf die
andere Weise; für das Bewußtsein der sprechenden Personen
ist der Nominativ keineswegs der erste Fall der Deklination und
die Glieder können je nach der Sachlage in dieser oder jener
Reihenfolge sich einstellen.
K a p i t e l VI.
ab - reißen
154 Synchronische Sprachwissenschaft.
ab - reißen
abbrechen reißen
abschneiden zerreißen
afyriehmen entreißen
u.s'.w. durchreißen
/' u äV^
quadru - p/ex
quadrupes simpjex
quaärifrons iripiex
quaäraginta centbplex
u. sw.
*
u. s^iv. \
Kapitel VII.
§ 2. Bationale Einteilung.
Die gegenseitige Durchdringung der Formenlehre, der Syntax
und der Lexikologie erklärt sich aus der im Grunde gleichartigen
Natur aller synchronischen Erscheinungen. Es kann zwischen
ihnen keine von vornherein gezogene Grenze geben. Nur die
oben aufgestellte Unterscheidung zwischen syntagmatischen und
assoziativen Beziehungen liefert eine Einteilung, die sich von
selbst aufdrängt, die einzige, die man zur Grundlage des gram-
matischen Systems machen kann.
Alles, was einen Sprachzustand bildet, muß auf eine Theorie
der Anreihungen und auf eine Theorie der Assoziationen zurück-
geführt werden können. Dann scheinen sich gewisse Teile der
traditionellen Grammatik mühelos einem dieser beiden Gesichts-
punkte unterzuordnen : die Flexion ist offensichtlich eine typische
Art der Assoziation von Formen im Geist der sprechenden
Individuen; andererseits fällt die Syntax, d. h. gemäß der ge-
läufigsten Definition, die Theorie der Wortanordnung, in das
Gebiet der Anreihungen, weil diese Anordnung immer mindestens
zwei im Raum verteilte Einheiten voraussetzt. Nicht alle An-
reihungen gehören zur Syntax, aber alle syntaktischen Tatsachen
sind Erscheinungen der Anreihung.
Kation aie Einteilung; abstrakte Tatsachen. 163
Kapitel VIII.
Sprechende nicht nur die Teile, sondern stellt auch eine gewisse
unter ihnen bestehende Reihenfolge fest. Der Sinn des deutschen
schmer z-lich oder des lat. signi-fer hängt von der gegenseitigen
Stellung der Untereinheiten a b : man könnte nicht lieh,-schmerz
sagen oder fer-signum. Ein Wert braucht nicht einmal ein
konkretes Element (wie -lieh oder -fer) als Grundlage zu haben
und kann sich aus der bloßen Reihenfolge der Glieder ergeben;
wenn z. B. im Deutschen die beiden Gruppen eine Flasche Wein
und eine Wein-flasche verschiedene Bedeutung haben, so kommt
das nur von der Anordnung der Wörter. Eine Sprache drückt
manchmal durch die Reihenfolge der Glieder einen Gedanken
aus, den eine andere durch ein oder mehrere konkrete Glieder
wiedergibt. Das moderne Französisch drückt in dem syntagma-
tischen Typus vin de groseilles (Johannisbeerwein), moulin ä vent
(Windmühle) durch die Präpositionen Beziehungen aus, die das
Deutsche durch die bloße Ordnung der Glieder bezeichnet; das
Französische seinerseits drückt die Bedeutung des direkten Ob-
jektes einzig durch die Stellung des Substantivs nach dem transi-
tiven Verbum aus (je cueille une fleur), während das Lateinische
und andere Sprachen es durch den Gebrauch des Akkusativs
tun, der durch besondere Endungen bezeichnet ist.
Aber obwohl die Anordnung der Wörter unzweifelhaft eine
abstrakte Tatsache ist, so gilt darum nicht minder, daß sie ihre
Existenz nur den konkreten Einheiten verdankt, in denen die
Reihenfolge enthalten ist und die immer in einer einzigen Di-
mension verlaufen. Es wäre irrig, zu glauben, daß es eine un-
körperliche Syntax außerhalb dieser im Raum verteilten ma-
teriellen Einheiten gäbe. Im Englischen finden wir in the man
I have seen („der Mann, den ich gesehen habe") etwas Syn-
taktisches, das durch Null dargestellt zu sein scheint, während
das Deutsche dasselbe durch den wiedergibt. Aber es ist nur
der Vergleich mit der deutschen Syntax, was den Eindruck
erweckt, daß ein Nichts etwas ausdrücken könne; in Wirklich-
keit bringen nur die materiellen Einheiten, die in einer gewissen
Ordnung aufgereiht sind, diesen Wert hervor. Mangels einer
Summe konkreter Glieder könnte man nichts über eine syn-
taktische Erscheinung aussagen. Übrigens ist durch die bloße
Tatsache, daß man einen sprachlichen Komplex versteht (z. B.
166 Synchronische Sprachwissenschaft.