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Ruth Signer und Hubert Thüring

III.1.4 R
 oland Barthes: Von der Semiologie
zur Lust am Text
Nirgendwo in seinem Werk hat sich Roland Barthes einem spezifischen Begriff von
Poetik und Poetizität verpflichtet oder ein eigenes modellhaftes Konzept entwi-
ckelt. Seit den Anfängen seines wissenschaftlichen und publizistischen Schaffens
arbeitet er indes an und mit Instrumenten und Konzepten, die das Spezifische der
Literatur und das (potentiell) Literarische beziehungsweise Poetische jeder Rede
im Vermögen zur Polysemie, zur Transformation der Codes und zur Selbstreferenz
begreifen. Barthesʼ Analytik der poetischen Verfahren und Effekte setzt zunächst
in zwei kulturellen Feldern an, zum einen in der Kritik der zeitgenössischen franzö-
sischen Literaturwissenschaft und Literaturkritik (critique littéraire meint beides),
die ihn zu einem Hauptvertreter der nouvelle critique werden lässt (Le degré zéro
de l’écriture, 1953; Sur Racine, 1963; Critique et Vérité, 1966), zum anderen in der
Analyse der neuen massenmedialen Alltagskultur im Zeichen einer ideologiekriti-
schen Mythologie (Mythologies, 1957). Die Kapitalismus- (Karl Marx, Bertolt Brecht,
Jean-Paul Sartre) und Moralkritik (Friedrich Nietzsche), die Semiologie (Ferdinand
de Saussure, Roman Jakobson) und die Ethnologie (Claude Lévi-Strauss), die Psy-
choanalyse (Sigmund Freud, Jacques Lacan) und die Dekonstruktion (Jacques
Derrida, Julia Kristeva) (Barthes 2010a, 171), deren Gemeinsamkeiten Barthes im
Gebrauch des Strukturbegriffs ausmacht (Barthes 1996, 215–223), liefern die wis-
senschaftlichen und ideologischen Ansätze. Der Leitbegriff, der die theoretische
Haltung und die kritische Praxis zusammenführt, ist die écriture, deren zwischen
‚Schreibweise‘, ‚Schrift‘ und ‚Schreiben‘ oszillierende Bedeutung Barthes nach der
ersten wirksamen Prägung in Am Nullpunkt der Literatur stets neu formuliert.
Nach den literatur- und kulturkritischen 1950er Jahren steht das 1960er Jahr-
zehnt im Zeichen der ‚strengen‘ Wissenschaft. In Éléments de sémiologie (1964),
Système de la mode (1966) sowie in den Aufsätzen zur strukturalen und textuel-
len Narratologie (1966‒1973, in L’aventure sémiologique, 1985) und in S/Z (1970)
sammelt, ordnet und entwickelt Barthes die verschiedenen neueren formalis-
tischen und strukturalistischen Ansätze und Modelle, aber auch die Rhetorik
sowohl im Hinblick auf eine allgemeine Semiologie als auch in spezifischen Ana-
lysen der Erzählung, des Bildes, der Musik. In den 1970er Jahren nähert er mit Le
plaisir du texte (1973), Roland Barthes par Roland Barthes (1975) und Fragments
d’un discours amoureux (1977) Semiologie und Literatur einander zunehmend
an in einer vom Begehren und der Körperlichkeit des Subjekts durchdrungenen
Praktik des Schreibens, welche die diskursive Ordnung ständig befragt, unter-
läuft und auflöst (Barthes 1980, 23, 25).

https://doi.org/10.1515/9783110410648-015
330 Theorie der Poetizität – vom russischen Formalismus zur Dekonstruktion

1 Poetizität: Skizze einer Matrix


Zunächst soll eine für Barthesʼ Begriff von Poetizität relevante Matrix gezeichnet
werden, in der eine analytisch-deskriptive und eine kritisch-produktive Auf-
fassung sowie eine Zwischenstufe oder Transformationsphase unterschieden
werden können. Im ersten und engeren Sinn mit einer analytisch-deskriptiven
Metasprache, die auf die Frage „Wie ist das gemacht?“ ‒ im Unterschied zu den
Fragen nach der Bedeutung, der Geschichte und des Kontextes (Barthes 2006b,
198) ‒ antwortet, beschäftigt er sich vor allem in der mittleren, strukturalisti-
schen ‚Phase‘ der 1960er Jahre. Im Zuge der systematisierenden Aufarbeitung
der verschiedenen Ansätze für eine künftige Semiologie behandelt er in Elemente
der Semiologie im letzten Abschnitt des Kapitels „Syntagma und System“ (III.)
(neben „I. Langue und Parole“, „II. Signifikant und Signifikat“, „IV. Denotation
und Konnotation“) die „Übertretungen“ der „übliche[n] Teilung“ von Syntagma
und System (bzw. Paradigma) als Quelle „schöpferischer Phänomene“. Neben
verschiedenen Wortspielen führt er auch den Reim an: Diese „Aufhebung“ der
„strukturale[n] Zensur“ erzeuge eine „Spannung zwischen dem Affinitären und
dem Unähnlichen“ und stelle damit eine „Art strukturale[n] Skandal“ dar. Mit
Hinweis auf Jakobson und dessen Ausführungen zum Verhältnis von Syntagma
und Paradigma zu Metonymie und Metapher sei schließlich die „gesamte Rhe-
torik die Domäne dieser schöpferischen Übertretungen“ (Barthes 1979, 71–73).
Gleichzeitig erarbeitet er in exemplarischen Studien wie Die Sprache der Mode
und Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen deduktive Beschrei-
bungsmodelle im Hinblick auf eine allgemeine narrative „‚Grammatik‘“ (Barthes
1988a, 116). Ihre Anwendung in konkreten Analysen erweist sich für Barthes
jedoch recht schnell als mechanische Übung, die in den Texten nur das wie-
derfindet, was das Modell vorgibt. Auch wenn man als Gegenmittel die kate-
gorial-deskriptive Differenzierung bis ins Infinitesimale treibt, verliert sich das
spezifisch Poetische und Singuläre eines Textes. Deshalb führt Barthes schon
gegen Ende der „Einführung in die strukturale Analyse“ das „Charakteristikum“
von Erzählungen auf das „Zusammenspiel“ (und Widerspiel) zwischen den
beiden „grundlegenden Prozessen“ zurück, der (syntagmatischen) „Gliederung“
von „Einheiten“ (etwa in Distorsionen und Extensionen), was er mit Émile
Benveniste „Form“ nennt, und der (paradigmatischen) „Integration“ dieser
„Einheiten in ranghöhere[] Einheiten“, die er als „Sinn“ bezeichnet (Barthes
1988a, 131).
Dieses Zusammen- und Widerspiel von Form und Sinn entfaltet Barthes in
der „Textanalyse“, die er von der „strukturale[n] Analyse“ absetzt und in S/Z
sowie kürzeren Texten methodisch erläutert und praktisch vorführt. Diese Analy-
sen können als Transformation zwischen dem engeren, analytisch-deskriptiven,
Roland Barthes: Von der Semiologie zur Lust am Text 331

und dem weiteren, kritisch-produktiven Poetizitätsbegriff betrachtet werden.


„Die Textanalyse versucht nicht, die Struktur eines Werkes zu beschreiben […],
sondern vielmehr eine mobile Strukturierung des Textes zu produzieren“, die
„Signifikanz“ (Barthes 1988a, 266). Sie involviert das Subjekt als wertendes, und
zwar ausgehend von der Unterscheidung zwischen dem „schreibbaren“ und dem
„lesbaren“ Text, die sich in der „Praxis des Schreibens“ selbst vollzieht: Schreib-
bar sind Texte, von denen „ich akzeptieren [würde], daß sie [heute] geschrieben
(neu geschrieben) und begehrt werden“, während in einem lesbaren Text nur
die feststehenden Bedeutungen gefunden und der Sinn erraten werden können
(Barthes 1987, 8). Die Unterscheidung ist nur von der Seite des lesbaren, mit (ideo-
logischen) Kriterien des Signifikats (der Bedeutung, des Sinns) besetzten Textes
her kategorisch; die Praxis des Schreibbaren handhabt sie indes als quantita-
tives „Mehr oder Weniger“ an signifikanter Pluralität der Bewegungen und Öff-
nungen (Barthes 1987, 9), die als Gradmesser der (subjektiven und praktischen)
Poetizität verstanden werden kann: „Je pluraler der Text ist, um so weniger ist
er geschrieben, bevor ich ihn lese.“ (Barthes 1987, 14) Das Instrument dazu ist
die Konnotation, die, im klassischen System verwurzelt, als „absteckbare Spur
eines gewissen Pluralen im Text“ (Barthes 1987, 12), das heißt einer limitierten
Signifikanz erhalten bleibt. Die eigentliche (induktive) Methode besteht dann
darin, den Text im linearen Verlauf in beliebige „Lexien“ einzuteilen, „Schritt
für Schritt“ mögliche Konnotationen beziehungsweise ihre „Translation und […]
Wiederholung“ und die dabei sich herausbildenden oder wieder abgleitenden
Codes zu notieren (Barthes 1987, 17–19). In der performierten und methodologisch
reflektierten Textanalyse der Erzählung Sarrasine (1830) von Honoré de Balzac
liest Barthes fünf Codes, wodurch sich Text und Lektüre als beschränkt plural
beziehungsweise relativ klassisch erweisen. In diesen Codes lassen sich die in
der deduktiven Analyse etablierten Strukturen der Funktion, Handlung und Nar-
ration teils wiedererkennen, doch soll „bewußt nicht versucht werden, den Code
und die fünf Codes untereinander zu strukturieren, damit die Multivalenz des
Textes, seine partielle Umkehrbarkeit Aufnahme findet“. Die Zerstreuung des
Sinns führt vielmehr zu „weißen und unscharfen Stellen“, welche die „Flucht des
Textes signalisieren“ (Barthes 1987, 25). Diese Zonen der Unbestimmtheit kann
man als Produkt der Verwischung der Grenze zwischen Form und Sinn fassen,
die Barthes als ‚strukturalen Skandal‘ bezeichnet hat. Solche ‚skandalösen‘
Zonen des Bedeutungslosen, des Neutralen, der Leere werden Barthes zuneh-
mend interessieren, so in Lʼempire des signes (1970) oder dann in der 1977/1978
gehaltenen Vorlesung Le neutre. Ebenso tauchen in den ‚Textanalysen‘ bereits
Lust und Körperlichkeit als subjektive Kräfte auf, die nicht einem personal insti-
tuierten Subjekt entstammen, sondern nur in der Schreibpraxis selbst wirksam
werden. Die Lust am Text und die Erotik des Schreibens betont Barthes zuneh-
332 Theorie der Poetizität – vom russischen Formalismus zur Dekonstruktion

mend stärker, vornehmlich im gleichnamigen Die Lust am Text und in Fragmente


einer Sprache der Liebe.
Eine Art Summa der kritisch-produktiven Auffassung von Poetizität umreißt
Barthes in der als Lektion publizierten Antrittsvorlesung am Collège de France
vom 7. Januar 1977, in der er die verschiedenen Stränge seines Schaffens zu einer
weitreichenden Semio-Poetologie des Wissens und Schreibens zusammenzieht.
An die bereits in Kritik und Wahrheit behauptete Nähe von „Kritik und Werk“
anknüpfend (Barthes 2006a, 226), reformuliert er in der Annäherung von Litera-
tur und Semiologie die Unmöglichkeit einer stabilen Trennung von Objekt- und
Metasprache: Wenn „die menschliche Rede kein Außerhalb“ kennt (Barthes 1980,
21), so muss die Semiologie auch bei der Betrachtung nichtsprachlicher Zeichen
von der Sprache ausgehen (weshalb Barthes den Begriff der Semiologie dem der
Semiotik vorzieht) (Barthes 1985b, 7–10). Als „Sprache über die Sprachen“ (Barthes
1980, 55) verfährt sie weniger analytisch als demonstrativ und performativ: Sie ist
„keine Hermeneutik: sie malt mehr, als daß sie nachgräbt, via di porre eher als
via di levare“ (Barthes 1980, 59). Die Semiologie wiederholt das, was die Literatur
als Literatur tut, nämlich die Sprache „zu überlisten“, das heißt, die Konventio-
nen zu brechen, von der Seite der Wirkung her die dispersiven Effekte zu zeigen,
und erweist sich so als komplementäre Kraft der Literatur: „Dieses heilsame Über-
listen, dieses Umgehen, dieses großartige Lockmittel, das es möglich macht, die
außerhalb der Macht stehende Sprache [,langue‘] in dem Glanz einer permanenten
Revolution der Rede [,langage‘] zu hören, nenne ich: Literatur.“ (Barthes 1980, 23)
Indem die Semiologie das Literarische der Literatur aufnimmt und fortschreibt,
entspricht sie ‚nur‘ der Möglichkeit der Literatur zur Selbstreferenz und Selbstre-
flexion, ihre eigene Materialität, Medialität und ihre Prozeduren zu thematisie-
ren, zu performieren und zu reflektieren, die Barthes bereits in Am Nullpunkt der
Literatur als ein Kennzeichen der modernen Literatur herausstellt (Barthes 2006a,
34–36). Das Zusammenspiel von literarischem und wissenschaftlichem oder kriti-
schem Schreiben, von Produktion und Rezeption, radikalisiert Barthes in seiner
letzten Vorlesung über Die Vorbereitung des Romans (1978–1980), in der er die Ent-
stehung eines eigenen Romans im Modus des „Als ob“ poetologisch kommentiert
und dies bereits als Teil der „Produktion“ versteht (Barthes 2008, 57–58). Die Poe-
tizität der Literatur besteht für den späteren Barthes mithin nicht im Resultat oder
Effekt eines bestimmten Verfahrens, sondern, in einem erweiterten Sinn, in der
subjektiven Praxis der ambivalenten écriture: „den Code abgleiten zu lassen und
dabei so zu tun, als hielte man ihn ein“ (Barthes 2006b, 201).
Die gezeichnete Matrix des Barthes’schen Poetizitätsbegriffs lässt erkennen,
dass bereits in der analytisch-deskriptiven Anlage mit dem ‚strukturalen Skandal‘
ein subversiver Impuls steckt und dass die écriture in ihrer subversiven Selbstre-
ferenz den analytischen Anspruch aufrechterhält. Im Verhältnis zu dieser Matrix
Roland Barthes: Von der Semiologie zur Lust am Text 333

und mit Augenmerk auf Begriff und Praxis der écriture sollen in der Folge entlang
der wichtigen Werke ein paar weitere Referenzpunkte und -felder der Poetizität
skizziert werden.

2 Écriture am Nullpunkt
Der Nullpunkt der Schreibweise aus Barthes’ frühem Essay Le degré zéro de l’écri-
ture reagiert auf ein Dilemma der modernen Literatur, die entweder „das Thema
des Werkes naiv den Konventionen der Form“ ausliefert und damit blind für die
Gegenwart bleiben muss, oder aber „die weite Neuartigkeit der gegenwärtigen
Welt [erkennt] […], um von ihr zu berichten, [gleichwohl aber] nur […] eine glän-
zende, jedoch tote Sprache“ besitzt (Barthes 2006a, 68). Die Befreiung der écriture
und ihre Ethik vollziehen sich nach Barthes in der Reduktion, in der Bewegung
hin zu „einem Nullzustand oder einer gesprochenen Stufe der Schreibweise“, die
den „homogenen Zustand[] der Gesellschaft“ utopisch vorwegnehmen (Barthes
2006a, 69).
Erst die Moderne pluralisiert nach Barthes die Schreibweisen und zwingt
den Schriftsteller so zu einer Wahl, in der er eine Ethik der écriture erkennt
(Barthes 2006a, 67). Als Antwort auf Sartres Essay Qu’est-ce que la littérature?
(1947) schreibt Barthes hier an gegen die Verortung des Engagements im Gehalt
der Prosa, der damit letztlich immer instrumentell gedacht wird und die Form
zum reinen Dekor werden lässt (vgl. hierzu Brune 2003, 45–62). Vom Moment
an, in dem der „Schriftsteller aufhörte, Zeuge des Universellen zu sein und zu
einem unglücklichen Gewissen wurde (etwa um 1850)“ (Barthes 2006a, 10), ist
die Form der Literatur gemäß Barthes zerrissen. Und von diesem Augenblick an
wird sie zugleich zur Möglichkeit des Engagements (vgl. auch Ette 1998, 66–67).
Eine Möglichkeit, die alsbald zur Bedrängnis wird, wenn die Übernahme einer
vergangenen Schreibweise zwar eine „glänzend[e]“, aber „veraltet[e]“ Form gene-
riert, deren Zurückweisung jedoch immer dazu tendiert, „asozial[e]“ Schreib-
weisen hervorzubringen, die in der „Einsamkeit“ verharren (Barthes 2006a, 11).
Die neutralen Schreibweisen, die aus dem Dilemma folgen und zugleich führen,
findet Barthes bei Albert Camus, Maurice Blanchot oder Alain Robbe-Grillet. Ihre
Form der Abwesenheit steht als Sinnbild zugleich für „die Bewegung eines Negie-
rens“, „die Ohnmacht“ und den Verweis auf einen differenzlosen Zustand der
Gesellschaft (Barthes 2006a, 11–12). Gerade die zerrissene Form, die das harmo-
nische Verhältnis zu ihrem Inhalt verlassen hat, macht neue, gegenläufige und
innovative Übertretungen von Form und Sinn möglich. Und die écriture stellt die
Schreibbewegung als ‚Haltung‘ ins Zentrum des poetischen Schreibens.
334 Theorie der Poetizität – vom russischen Formalismus zur Dekonstruktion

Löst sich die Literatur ab von ihrem Bestreben „,Abdruck‘ der Welt“ (Barthes
1996, 217) zu sein, klaffen ihre tradierten Formen und die historische Situation
ihrer Entstehung auseinander; diagnostiziert man zudem einen „Verlust der Ver-
weisfunktion des sprachlichen Zeichens auf eine außersprachliche Objektwelt“
(Zaiser 2009, 10), so beginnt die Literatur – wie Barthes in seinem 1959 veröffent-
lichtem Essay Littérature et méta-langage schreibt – „à se sentir double: à la fois
objet et regard sur cet objet, parole et parole de cette parole, littérature-objet et
méta-littérature“ [sich doppelt zu empfinden: zugleich als Objekt und als Blick auf
dieses Objekt, als Objekt-Literatur und als Meta-Literatur] (Barthes 1964, 106; vgl.
Zaiser 2009, 8–10). Diese Janusköpfigkeit der Literatur, deren Objekt- und Meta-
sprache in diesem frühen Essay noch stärker unterschieden werden als in späte-
ren, führt direkt in Barthes’ Nachdenken über Poetizität, ohne dass der Begriff
selbst fallen würde. Barthes beschreibt skizzenhaft, wie die moderne Literatur,
beginnend mit Gustave Flaubert über Stéphane Mallarmé und Marcel Proust bis
zu den Surrealisten und Robbe-Grillet, zunehmend selbstreflexiv wird und sich
permanent die Frage stellt: „[Q]ui suis-je?“ (Barthes 1964, 107). In Auseinander-
setzung mit dieser Frage erschreibt sie sich. Bei Proust wird die Ankündigung
des Schreibens zum Schreiben selbst, gleichermaßen wie später auch Barthes’
Vorlesungen Die Vorbereitung des Romans (1978–1980) zum Substitut des Romans
werden sollen. In dieser zunehmenden Selbstbefragung gibt die Literatur vor, „de
se détruire comme langage-objet sans se détruire comme méta-langage, et […] la
recherche d’un méta-langage se définit en dernier instant comme un nouveau
langage-objet“ [sich als Objektsprache zu zerstören, ohne sich als Metasprache
zu zerstören, und […] die Suche nach einer Metasprache definiert sich letztlich
als neue Objektsprache] (Barthes 1964, 107). Die Zerstörung der eigenen Objekt-
sprache, die Reflexion auf ihr „être“ und die dafür notwendige Selbstspaltung
blieben dabei ein gefährliches Spiel mit der eigenen Auslöschung (Barthes 1964,
106–107).

3 Mythologie als Kritik


Die Mythologies bewegen sich noch in deutlichem Abstand zur kritischen Ausein-
andersetzung mit der Literaturkritik und der ethischen Bestimmung der écriture,
können aber dennoch als praktische und theoretische Parallelaktion betrachtet
werden. Die Praxis leistet die Sammlung von Zeitschriftenartikeln (1954–1956),
in denen Barthes Phänomene der wachsenden massenmedialen Alltagskultur
analysiert. Dabei kommen unter terminologischer Zurückhaltung Instrumente
der traditionellen Poetik und Rhetorik (Analogie, Kontiguität, Tautologie, Kon-
Roland Barthes: Von der Semiologie zur Lust am Text 335

trarität) zum Zug, gleichzeitig übt sich Barthes schon in den strukturalistischen
Operationen des Zerlegens und Zusammensetzens (Barthes 1996, 218–221; vgl.
Neumann 1979, 303) mittels jener semiologischen Unterscheidungen (aber eben-
falls, ohne sie zu benennen), die er dann nachträglich für den theoretischen Teil
zum Mythos als Mitteilungssystem in der Buchpublikation explizit aktiviert.
In der Betrachtung einer Ausstellung über „Die große Familie der Menschen“
zeigt er, wie der „Mythos“ durch die Unterscheidung und Verbindung von „zwei
Zeiten“ „funktioniert“, indem zunächst die „Unendlichkeit der Variationen“
zur Geltung kommt, und dann über die Darstellung des Lebensganges von der
Geburt zum Tod, mit besonderer Betonung der Arbeit in ihrer „Schicksalhaftig-
keit“, „auf magische Weise aus diesem Pluralismus eine Einheit“ der „‚Natur‘“
des Menschen gewonnen wird. Die Darstellungsweise, so schließt Barthes, sei
darauf angelegt, die „Unveränderbarkeit der Welt“ zu rechtfertigen (Barthes
2003, 16–19). Auch in den Artikeln wie Das Gesicht der Garbo (oder auch Der neue
Citroën) analysiert Barthes mittels De- und Rekomposition, wie Form und Sinn
sich verhalten. Die archetypische und essentielle Schönheit des Garbo-Gesichts
wirke nicht als „Addition von Linien“, sondern erscheine „gipsartig[]“ wie aus
„zugleich verletzliche[m] und kompakte[m] Schnee“ geformt, während das nun
aktuellere Gesicht Audrey Hepburns „nichts Essentielles“ mehr habe, sondern
„durch ein unendliches Gewebe morphologischer Funktionen gebildet“ werde
(Barthes 2003, 73–75).
Im theoretischen Teil bestimmt Barthes das „Prinzip“ des Mythos auf der
Ebene der Diskurse als Transformation von „Geschichte in Natur“ (Barthes 2003,
113) und zeigt, wie der Mythos als Rhetorik einer Ideologie begriffen werden
kann. Dabei bezieht er sich nicht auf die Beispiele der Artikel, sondern auf neue,
darunter die berühmte Fotografie des jungen Schwarzafrikaners in französischer
Uniform, der unter der Trikolore salutiert (Barthes 2003, 95–96). Relevant für
den Begriff der Poetizität ist indes die semiologische Modellierung mittels der
Unterscheidung von zwei ineinandergreifenden ‚semiologischen Systemen‘, der
„Objektsprache“ und der „Metasprache“ (Barthes 2003, 93), die Barthes dann in
Elemente der Semiologie mit der Unterscheidung von Denotation als primärer
Ebene und Konnotation sowie Metasprache als zwei Möglichkeiten einer sekun-
dären Mitteilung wirkungsmächtig terminologisiert: Bei der Konnotation wird
das aus Signifikant und Signifikat gebildete Zeichen zum Signifikanten eines
neuen Signifikats, deren Relation eine sekundäre Bedeutung erzeugt. Bei der
Metasprache wird das Zeichen zum Signifikat eines neuen Signifikanten, deren
Relation einen Begriff bildet. Beim Mythos wird der „Sinn“ des primären Systems
(d. h. die Bedeutung des denotierten Zeichens) mit einem „Begriff“ (Signifikat)
korreliert (Barthes 2003, 95–96), der den Sinn in „Form“ verwandelt (weswegen
Barthes von einer „Deformierung“ [Barthes 2003, 103] spricht). Diese Korrelation
336 Theorie der Poetizität – vom russischen Formalismus zur Dekonstruktion

bringt eine neue „Bedeutung“ hervor (so nennt das Barthes zur Unterscheidung
vom „Sinn“ des ersten Systems), welche die Aussage oder Botschaft des Mythos
ist (Barthes 2003, 96). Die Wirkungsweise des Mythos besteht darin, den primä-
ren geschichtlichen Sinn aus dem Zeichen zurückzudrängen zugunsten einer
begrifflichen Aussage, welche die sekundäre Bedeutung zur ‚Natur‘ erklärt. Die
mythische Aussage verdrängt den geschichtlichen Sinn aber nur so weit, dass sie
jederzeit auf seine ‚Realität‘ rekurrieren kann (Barthes 2003, 103–104).
Der mythische Bedeutungseffekt kommt durch ein fortdauerndes „Alternie-
ren“ von Sinn und Form zustande, das „gewissermaßen durch den Begriff zusam-
mengehalten“ wird. Der Begriff „bedient“ „sich seiner wie eines doppeldeutigen
Bedeutenden“, „das zugleich verstandsmäßig und imaginär ist, willkürlich und
natürlich“ (Barthes 2003, 104). Das Spiel von Sinn und Form kann mithin als poe-
tisches Moment des Mythos betrachtet werden. Die Poetizität im emphatischen
Sinn, das heißt als freies Spiel zwischen Sinn und Form mit selbstreferentiellem
Potential, wird jedoch vom Begriff mittels bildhafter Evidenz ideologiestrategisch
reguliert. In den gebräuchlichen Termini ausgedrückt könnte man sagen, dass
der Mythos eine konnotierte Bedeutung des primären Zeichens metasprachlich,
das heißt als Begriff, entwendet und diesen durch Rekurs auf das primäre Zeichen
naturalisiert, wie Barthes dann auch unter dem Titel des „Mythos als gestohlene
Sprache“ weiter ausführt (Barthes 2003, 115–123). Die poetische beziehungsweise
poetologische Selbstreflexivität, die Barthes dann mit dem schreibbaren Text
entwickelt, bestünde indes im offenen Spiel zwischen Konnotation und Metas-
prache. ‒ Dass Barthes den Mythos als manipulative Oszillation zwischen Kon-
notation und Metasprache denkt, ohne dies jedoch in diesem technischen Sinn
zu erfassen, darauf deutet der sonderbare (bislang unbemerkte?) Umstand hin,
dass das Diagramm zum semiologischen System des Mythos (Barthes 2003, 93)
nicht die Metasprache schematisiert (die er dann in Elemente der Semiologie auch
richtig darstellt) (Barthes 1979, 76–77), sondern die Konnotation.

4 A
 potheose der Zeichen
Barthes’ Japan in L’empire des signes (1970) zeichnet ein schwärmerisches Gegen-
bild zur Herrschaft eines (mythologischen) Systems, dessen Signifikate zu erstar-
ren neigen. Es ist ein Traum, der in der Logik der Differenz das Andere begehrt;
eine Möglichkeit, „mit der Idee eines unerhörten und von dem unsrigen gänzlich
verschiedenen Symbolsystems zu ‚liebäugeln‘“ (Barthes 1981, 13). Barthes’ Fas-
zination für Japan ist vor allem aber auch ein Blick auf eine fremde Sprache, die
den Blickenden sinnlich affiziert, jedoch diesseits des begrifflich Verstehbaren
Roland Barthes: Von der Semiologie zur Lust am Text 337

lässt. Dieser Blick sieht primär Zeichen und keine Bedeutungen, Formen und
keine Hierarchien. Sein Japan ist der schreibbare Text – „eine Galaxie von Sig-
nifikanten und nicht Struktur von Signifikaten“ (Barthes 1987, 10), wie Barthes
ihn in S/Z beschreibt. Die écriture betont ihre Materialität als Zeichen, die nur auf
sich selbst verweisen, als Formen, die sich über den Inhalt hinwegsetzen. Tokyo
als Stadt mit leerem Zentrum, das bewohnt ist von einem Kaiser, den „man nie
zu Gesicht bekommt“ (Barthes 1981, 50), um dessen unsichtbaren Wohnsitz der
Verkehr sich tagtäglich schlängelt, wird zum Sinnbild eines Systems ohne struk-
turierende Vereinheitlichung.
Die Poetik Japans ist die Poetik des modernen Textes: die Freistellung des
Sinns. In Roland Barthes par Roland Barthes reflektiert der Schreiber in der
dritten Person über sich selbst: „Er denkt offenbar an eine Welt, die vom Sinn
frei wäre (so wie man vom Militärdienst freigestellt ist). Mit dem Nullpunkt hat
es angefangen, wo die ‚Abwesenheit aller Zeichen‘ geträumt wird; dann unzäh-
lige, beiläufige Affirmationen dieses Traums (wenn vom Avantgarde-Text, von
Japan, von der Musik, vom Alexandriner usw. die Rede ist).“ (Barthes 2010b, 100;
vgl. auch Langer 2005, 242) Das Bestreben, das Signifikat, die Doxa, das System
aufzulösen und ihnen den Atopos entgegenzuhalten, bildet einen roten Faden
im Schreiben Roland Barthes’ (Oster 2006). „Die Bedeutungslosigkeit ist der Ort
der wahren Bedeutsamkeit. Das darf man nie vergessen.“ (Barthes 2002, 197) Die
Atopie ist skandalös, „der Utopie überlegen (die Utopie ist reaktiv, taktisch, lite-
rarisch, sie rührt vom Sinn her und setzt ihn in Gang)“ (Barthes 2010b, 54). Glei-
chermaßen wie im strukturalen Skandal der Abstand zwischen Syntagma und
System schwindet und sich als „schöpferische[] Übertretung[]“ (Barthes 1979, 73)
zeigt, wird hier die Durchkreuzung des Signifikats durch die Signifikanten insze-
niert. Als Poetik der Öffnung und der selbstreferentiellen Medialität befreit die
Atopie die Signifikanten von jeglichen Hypostasen.

5 Von der Lust zur Wollust


Das „Sinnverstehen[] zugunsten des Lustgenießens“ (Röttger-Denker 2004, 29)
zurückzustellen, ist der Appell von Le plaisir du texte, der in den darin versam-
melten, alphabetisch geordneten 46 Figuren selbst performativ umgesetzt wird.
Die Lust am Text provoziert nicht nur durch ihren fragmentarischen und spieleri-
schen Charakter, ihre Widersprüchlichkeit und Unabgeschlossenheit, womit der
Text jegliche Konventionen eines wissenschaftlichen Schreibens sprengt und sich
selbst seinem Objekt annähert (vgl. hierzu auch Brune 2003, 199–212; Schmidt
2010, 231). Auch inhaltlich rüttelt er auf und diagnostiziert einen herrschenden
338 Theorie der Poetizität – vom russischen Formalismus zur Dekonstruktion

„Obskurantismus der Lust“ (Barthes 1974, 69), wenn er bemerkt: „Die Idee der
Lust scheint niemandem mehr zu schmeicheln. Unsere Gesellschaft erscheint
zugleich als gesetzt und gewalttätig; auf jeden Fall: frigide.“ (Barthes 1974, 69)
Eine Theorie des Textes über den Begriff der Lust zu skizzieren, irritiert vor
allem auch die politische Linke – so auch die Reflexion in der Figur Droite/Rechte
(Barthes 1974, 34–35) –, denn die gesellschaftlichen Mythen begreifen die Lust
am Text als „Idee der Rechten“, während die Rechte alles, „was abstrakt, langwei-
lig, politisch ist“, der Linken zuweist (Barthes 1974, 34). Die Lust am Text entwirft,
entgegen dieser Mythologie, über den Charakter der Wollust eine Idee des Sub-
versiven, des Anstößigen, das immer von außen kommt und mit Konventionen
bricht. Gerade die Lust beziehungsweise die Wollust am Text löst das Erstarrte
auf, führt das Subjekt an seine Grenzen und lässt diese fluid werden. Sie ist nach
Barthes zugleich „revolutionär“, „asozial“ und „skandalös“ – und dies „nicht[,]
weil sie unmoralisch, sondern weil sie atopisch ist“ (Barthes 1974, 34–35), von
keinem Ort aus spricht.
Die Lust am Text ist nicht ausschließlich eine Reaktion der Leserin, sondern
ist gemäß Barthes gleichermaßen ein Moment der Textproduktion, die im Konzept
des schreibbaren Textes ohnehin mit der Lektüre verschmilzt. Doch primär – und
dies verbindet den Text mit Barthes’ strukturalen Analysen – hat die Lust am
Text ihren Impuls im Text selbst. Im französischen Titel tritt diese Leseweise
durch den bestimmten Artikel (plaisir du texte) und den Genitivus subjectivus
noch stärker hervor (vgl. Ette 2011, 116). In seinen Überlegungen zum Marquis
de Sade findet Barthes den Auslöser der Lust in der sprachlichen Kombination
sich widerstrebender Momente: „[D]ie Lust der Lektüre kommt offensichtlich von
bestimmten Brüchen (oder bestimmten Kollisionen): antipathische Codes (das
Erhabene und das Triviale zum Beispiel) stoßen aufeinander“ (Barthes 1974, 13).
In Flauberts Bouvard et Pécuchet (1881) entdeckt er seine Lust im Codewechsel,
wenn die „manische Genauigkeit“ der Beschreibung die literarische Sprache
erschüttert und transgrediert (Barthes 1974, 42). In diesen Codewechseln erkennt
man wiederum einen Aspekt dessen, was in Barthesʼ emphatisiertem Schreiben
als Poetizität verstanden werden muss.
Anders als in der ‚strukturalen Phase‘ steht das Begehren des Lesers und
Scriptors sowie die Materialität der Sprache im Mittelpunkt. Die Grundlagen
des Sinns findet Barthes in der Sinnlichkeit, wenn er fragt: „Was ist die Signifi-
kanz? Der Sinn, insofern er sinnlich hervorgebracht wird.“ (Barthes 1974, 90) Und
Le plaisir du texte will – in Referenz auf Kristeva – den Text selbst als Körper,
als Sinnlichkeit begreifen (vgl. Ette 1998; Röttger-Denker 2004) und die Trieb-
regungen erspüren, die durch die Dominanz des Sinns immer verdeckt werden:
„[D]ie mit Haut bedeckte Sprache, einen Text, bei dem man die Rauheit der Kehle,
die Patina der Konsonanten, die Wonne der Vokale, eine ganze Stereophonie der
Roland Barthes: Von der Semiologie zur Lust am Text 339

Sinnlichkeit hören kann: die Verknüpfung von Körper und Sprache, nicht von
Sinn und Sprache“ (Barthes 1974, 97–98).
Freiwerden meint hier Befreiung vom Sinn und damit auch eine radikale
Dispension von Einheit, Klarheit, Starrheit und Abgeschlossenheit. Die Atopie
des Textes sprengt Redeweisen, Fiktionen, Systeme, und genau dies bezeich-
net Barthes als die Signifikanz des Textes (Barthes 1974, 46). Der moderne Text
„löst […] jede Metasprache auf […]: keine Stimme […] steckt hinter dem, was er
sagt“ (Barthes 1974, 47), und damit auch keine Massenkultur, die Barthes in abso-
lutem Kontrast zum Text der Wollust als durch und durch kleinbürgerlich und
der Doxa verpflichtet bezeichnet (Barthes 1974, 58). Und doch braucht der Text,
um fruchtbar und schreibbar zu sein, seinen eigenen Schatten, das heißt: „ein
bißchen Ideologie, ein bißchen Darstellung, ein bißchen Subjekt“ (Barthes 1974,
49).
Der Text der Wollust ist ein „Gewebe“, ohne dabei ein originäres Produkt
zu sein, hinter dem sich „der Sinn (die Wahrheit)“ verbirgt. Er ist „ein ständi-
ges Flechten“ (Barthes 1974, 94), ein intertextuelles Konstrukt aus Strängen, die
sich selbst immer weiterspinnen, in dessen Netz bekanntlich jedes Subjekt und
jede Spinne aufgeht. Der Schreiber des Textes der Wollust (jouissance) ist jener
moderne Schreiber, von dem Barthes in Der Tod des Autors sagt, er „besitzt kei-
neswegs ein Sein, das vor oder über seinem Schreiben läge, er ist mitnichten das
Subjekt, dessen Prädikat sein Buch wäre“ (Barthes 2006b, 60). Die Poetik der
Lust beziehungsweise Wollust ist, indem ihre Texte mit dem Bekannten brechen,
eine Poetik des radikal Neuen, die jeglichen Schöpfer des Neuen außerhalb des
Textes negiert. Die Poetik der Lust ist überdies eine Poetik der Öffnung, die sub-
versiv Benennungen auflöst, eine Poetik des Begehrens, welche die Körperlich-
keit des Textes abhorcht, und sie bleibt dabei eine Poetik des Intransitiven, deren
Texte autonom sind und sich jeglicher Vereinnahmung entziehen.

6 Figur und Moment


Wenn die Lust am Text die Signifikanz der écriture bis zur Auflösung in der affek-
tiven Intensität treibt, so dass die poetisch-poetologischen Determinanten nicht
mehr begrifflich fassbar sind, so greift Barthes in Fragmente einer Sprache der
Liebe auf die Figur als Leitbegriff zurück, um durch einen minimalen Abstand
zwischen Meta- und Objektsprache eine analytische Erkenntnis zu ermöglichen,
ohne jedoch die Drift der Dissemination zu verraten: Die Zahl der Figuren ist, wie
er in seinem „Aide-mémoire“ der „alten Rhetorik“ (Lʼancienne rhétorique, 1970)
festgestellt hat, prinzipiell unbegrenzt (Barthes 1988a, 88). Die „Figuren“ des
340 Theorie der Poetizität – vom russischen Formalismus zur Dekonstruktion

Liebesdiskurses will er zwar nicht „im rhetorischen Sinne verstanden“ wissen,


„sondern eher im gymnastischen oder choreographischen“, als „Gebärde“ des
„Liebende[n] in Aktion“. Dennoch siedelt er sie in einer ,Quasitopik‘ an („als ob
es eine Topik der Liebe gäbe“), die nur „zur Hälfte codiert, zur anderen Hälfte
projektiv“ ist, so dass die Lesenden die Figur aufsuchen, sie „nach Maßgabe
[ihrer] eigenen Geschichte ausfüllen“, „sich ihrer bemächtig[en], sie ergänz[en],
sich […] zunutze mach[en] und sie anderen weiterreich[en]“ können (Barthes
1988b, 16‒17).
Mit der (negierten) rhetorischen Konstellation von Topik und Figur ist die
Transgressivität des Unterfangens poetologisch angelegt und wird vom Text in
allen Dimensionen ausagiert: Die achtzig alphabetisch angeordneten, eine bis
sieben Seiten umfassenden Fragmente unterlaufen als Textsorte und durch die
kontingente Anordnung eine kohärente, zielorientierte Argumentation. Literari-
sche Referenztexte (neben Johann Wolfgang Goethes Werther Texte von Platon,
Victor Hugo, Stendhal, Nietzsche, Rainer Maria Rilke, Proust u. a.), eigene Erfah-
rung und theoretische Texte (Freud, Lacan u. a.) interagieren auf derselben Dis-
kursebene. Die Modi des Referats und des Zitats, der Explikation und der Argu-
mentation, des Narrativen und des Szenischen folgen übergangslos aufeinander
oder fließen ineinander. Die Figuren, welche die Fragmente kurz umreißen,
werden in der Kopfleiste noch einmal überschrieben mit einem motto- oder titel-
artigen „Argumentum: ‚Darstellung, Bericht, Zusammenfassung, kleines Drama,
erfundene Geschichte‘“ (Barthes 1988b, 17–18); jeder der Texte der Fragmente ist
dann selbst noch einmal in Abschnitte gegliedert. Die Figuren selbst benennen
größtenteils typische Situationen, Emotionen, Vorstellungen, Gesten, Begriffe
der Liebe, enthalten aber jeweils überraschende Wendungen, Brechungen und
Verbindungen.
Das „Ich“, das die Figuren der Fragmente einer Sprache der Liebe durchspielt,
ist nicht psychologisch, sondern sprachlich-struktural konstituiert, und die
Figuren sind der „‚dramatischen‘ Methode“ gemäß „Sprachszene[n]“, so dass das
„Liebesgefühl“ und die ganze Affektivität hier ganz von der Sprache her gedacht
werden (Barthes 1988b, 15‒16). Daher erstaunt es, dass Barthes in La chambre
claire (1980), seinem letzten Buch, die ‚ontologische‘ Eigentümlichkeit der
Fotografie dies- oder jenseits ihrer sprachlichen und zeichenhaften Vermittelt-
heit zu erkunden sucht (Barthes 1985a, 11). Dieser Wende liegt die Beobachtung
des besonderen Verhältnisses der Fotografie zum „Referenten“ zugrunde, der
„haften“ bleibe und nicht wie in der Kunst in der Signifikanz des Bildes aufgehe,
was zum Scheitern der Theorien der Fotografie beigetragen habe. Die Insistenz
des Referenten ist zum einen in der subjektiven „Betroffenheit“ begründet, die
Barthes hier noch entschiedener zum Ausgangspunkt der Erkenntnis erhebt
(Barthes 1985a, 13–18), zum anderen im ‚Realismus‘ der Fotografie, die ein Objekt
Roland Barthes: Von der Semiologie zur Lust am Text 341

als singuläres Ereignis eines Ortes und einer Zeit festhält. Die Fotografie erscheint
als magische „Emanation des vergangenen Wirklichen“, ihr „Noema“ ist deshalb
das „‚Es-ist-so-gewesen‘“ (Barthes 1985a, 99, 87).
Diese doppelte Insistenz des subjektiven Affekts und des objektiven Dage-
wesenseins durchbricht die Codes, welche die Fotografie auch mit „anderen
Darstellungssysteme[n]“ (Barthes 1985a, 86) teilt und deren kulturelles und
technisches Wissen Barthes mit Bezug auf die drei Perspektiven vom operator,
spectator und spectrum zusammenträgt (Barthes 1985a, 17). Das Verhältnis von
Konventionalität der Lektüre, die etwa die „Kunst“ eines bestimmten Fotografen
erkennen lässt, und Singularität des Dagewesen- und Betroffenseins hat Barthes
in die berühmte Formel von studium und punctum gegossen: zum einen das kul-
turelle Interesse, „fast könnte man sagen, eine Dressur“, die „Hingabe an eine
Sache […], eine Art allgemeiner Beteiligung, beflissen zwar, doch ohne besondere
Heftigkeit“ (studium); zum anderen das Moment (punctum), „jenes Zufällige“ an
der Fotografie, das „wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor[schießt]“
und das studium „durchbricht“ und „mich besticht“ (Barthes 1985a, 35‒36). Damit
entwirft er eine Poetik, die das Prinzip der Struktur und der Semiose, auf das
auch noch die Dissemination rekurriert, nicht einfach nur transgrediert, sondern
transzendiert auf das irreduzible „‚Es-ist-so-gewesen‘“ hin, dessen Wahrneh-
mung den Betrachter der „Verrücktheit“ aussetzt (Barthes 1985a, 127‒128).

Weiterführende Literatur
Barthes, Roland (2010b). Über mich selbst. Aus dem Französischen von Jürgen Hoch. Berlin.
Brune, Carlo (2003). Roland Barthes. Literatursemiologie und literarisches Schreiben.
Würzburg.
Ette, Ottmar (1998). Roland Barthes. Eine intellektuelle Biographie. Frankfurt a. M.
Langer, Daniela (2005). Wie man wird, was man schreibt: Sprache, Subjekt und Autobiographie
bei Nietzsche und Barthes. München.
Röttger-Denker, Gabriele (2004). Roland Barthes zur Einführung. Hamburg.
Schmidt, Frauke (2010). „Roland Barthes (1915–1980)“. Klassiker der modernen Literatur-
theorie. Von Sigmund Freud bis Judith Butler. Hrsg. von Matías Martínez und Michael
Scheffel. München: 216–236.

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