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Kanon

griech.: Richtschnur, Maßstab

Ein Kanon ist die als allgemeingültig und dauerhaft verbindlich gedachte Auswahl vorbildlicher
dichterischer oder rednerischer Werke bzw. die Auswahl mustergültiger Autoren.

Der Kanon – ein Phänomen, das in der Literaturwissenschaft vermehrt Beachtung findet. Er wird
einerseits analysiert: Was ist ein Kanon, wie entwickelt er sich, welche Funktionen übernimmt er?
Andererseits wird seine Gültigkeit hinterfragt: Brauchen wir heute noch einen Kanon? Ist der Kanon
nicht nur ein Machtmittel herrschender kultureller Klassen, um unliebsame Gedanken und Ideen von
der kulturellen Praxis auszuschließen?

Beginnen wir mit der Analyse: Den literarischen Kanon verstand man in der Gesellschaft und
Literaturwissenschaft lange als Durchsetzung zeitloser literarischer Qualität nach eigenen Gesetzen.
Diese Gesetze – so glaubte man - brachten eben gerade das qualitativ Hochwertige zur Geltung.
Wer den Kanon kannte, der kannte die "gute" Literatur, diejenige, die es wert war, gelesen zu
werden.

Von dieser Vorstellung hat man sich in der Germanistik mittlerweile verabschiedet. Heute wird der
Kanon als das Ergebnis eines Deutungs- und Selektionsprozesses begriffen, der nach bestimmten
Selektionskriterien funktioniert. Dies können literaturinterne Kriterien sein, aber auch
literaturexterne. Unter die literaturinternen Kriterien fallen ästhetische Programme,
Gattungstraditionen und die Freiheit oder Unfreiheit von diesen Programmen oder Traditionen. Was
dies für den Kanon bedeutet, wird deutlich, wenn man z.B. den Roman betrachtet. In einer Zeit, in
der vor allem die Tragödie hoch bewertet wird – wir denken z.B. an die Antike und Aristoteles'
Poetik, hätte ein Roman kaum Chancen gehabt, zum Kanon zu gehören, er hätte als ästhetisch
minderwertig gegolten; heute hingegen muß er noch nicht einmal besondere formale Kriterien
erfüllen, um kanonfähig zu werden. Er hat sich einerseits von Gattungstraditionen befreit und von
der damit verbunden Wertigkeit der einzelnen Gattungen sowie von verbindlichen ästhetischen
Programmen (Poetiken).
Wie schon erwähnt, gibt es jedoch nicht nur literaturinterne Kriterien, die einen literarischen Text
dem Kanon zuschlagen, sondern auch literaturexterne Gesichtspunkte. Darunter sind die politisch -
kulturellen Bedingungen zu verstehen, die in einer Gesellschaft vorherrschen. Diese können zu einer
Abwertung und Ausgrenzung einzelner Texte führen, z.B. mit den Mitteln der Zensur. Für den
Roman haben diese Ausschließungsmechanismen in der Vergangenheit unter anderem bedeutet,

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daß wir zwar die Romane der Romantiker von Tieck bis Eichendorff kennen, aber von Sophie
Mereau-Brentano, eine der bekanntesten AutorInnen ihrer Zeit, oder von Dorothea Schlegel und
ihrem Roman Florentin wissen nur SpezialistInnen.

Daß sich ein solcher Kanon überhaupt bildet, hängt natürlich damit zusammen, daß er wichtige
Funktionen übernimmt. Er sorgt für die Selbstdarstellung und Identitätsbildung einer Gruppe, indem
er ihre Normen und Werte repräsentiert. Dabei übt er eine Legitimationsfunktion aus und sorgt für
die Handlungsorientierung der Gruppenmitglieder. Der Bildungsbürger des 19. Jahrhunderts sieht
sich und seine Vorstellungen von Gesellschaft in der damals zum Kanon gehörenden Literatur
repräsentiert. Dies kann die patriarchalische Familienstruktur, aber auch der militärische Habitus
des Kaiserreichs nach 1870/71 sein. Sind im 19. Jahrhundert noch eindeutig die Deutungseliten –
vor allem das Bildungsbürgertum – am Werke, wenn es um die Kanonbildung geht, so hat sich die
Entstehung des Kanons heute zumindest tendenziell demokratisiert – vor allem wenn man an
diesen oder jenen Gegenkanon denkt (Frauenliteratur, Ökologische Bewegung, Esoterik, etc.).
Institutionen und Personen, die zur Kanonbildung beitragen, sind unter anderen Autoren, Kritiker,
Literaturwissenschaftler, Medien, Preisverleihungen, Lehrbuchkommissionen und die
Kultusbürokratie. Ablesen kann man den Kanon vor allem an Lehrplänen, Seminarangeboten,
Theaterspielplänen, erhältlichen Klassiker-Ausgaben und den Ihnen allen bekannten Leselisten für
Germanistik-Studenten.

Bleibt zum Schluß die Frage: Warum überhaupt noch ein Kanon? Die Universitäten haben schon
längst reagiert, indem sie auch die außerhalb des Kanons liegende Literatur in ihr Angebot integriert
haben. So begegnet man Seminartiteln wie: "Frauentrivialliteratur der Jahrhundertwende" oder "Der
Kriminalroman von Agatha Christie bis Amanda Cross".

Trotzdem gibt es immer noch gute Argumente für den Kanon. Viele Texte sind nur zu verstehen,
wenn man auch die sie umgebenden Texte berücksichtigt, die Texte, die der Autor kannte und mit
denen er arbeitete. Stichwort ist hier die Intertextualität. Ein anderes Argument wäre, daß ein
literaturwissenschaftliches Studium immer schwieriger wird, wenn es keine Texte gibt, die alle
kennen, und über die man sich verständigen kann. Trotzdem darf der kritische Rezipient keine
Sekunde den Konstruktionscharakter des Kanons aus den Augen verlieren. Der Kanon ist eine
Auswahl, die viele Texte vergißt, die nicht unbedingt vergessen werden sollten.

©rein

Sekundärliteratur

 A. Assmann /J. Assmann (Hg.): Kanon und Zensur. Archäologie der


literarischen Kommunikation, II, München 1987.
 R. Grübel: Wert, Kanon und Zensur, in: H.L. Arnold / H. Detering (Hg.):
Grundzüge der Literaturwissenschaft, München 1996, S. 601-622.

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 S. Winko: Literarische Wertung und Kanonbildung, in: H.L. Arnold / H.
Detering (Hg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft, München 1996, S.
585-600.
http://www.einladung-zur-
literaturwissenschaft.de/index.php?option=com_content&view=article&id=474%3A10-1-
kanon&catid=47%3Akapitel-10&Itemid=55

Gattungen

Unter der Kategorie ´Gattung´ werden in der Regel Texte künstlich zusammengefaßt, die
gemeinsame formale, strukturale oder inhaltliche Merkmale aufweisen. Für den deutschen
Sprachraum ist Goethes Bestimmung der Gattungen folgenreich geworden. Für ihn gibt es nur
"drei echte Naturformen der Poesie: die klar erzählende, die enthusiastisch aufgeregte und die
persönlich handelnde: Epos, Lyrik und Drama" (Goethe, S. 187) Problematisch an Goethes
Definition ist vor allem die Parallelisierung menschlicher Handlungen und literarischer Formen. Seine
Einteilung aber kann sich teilweise auf Aristoteles berufen. Wenn von Lyrik bei ihm auch nicht die
Rede ist, so hat er in seiner Poetik doch bereits eine wesentliche Unterscheidung zwischen dem
Drama und dem Epos ausgemacht.
Eine große Schwierigkeit bei der Einteilung der Literatur in Gattungen besteht häufig darin, daß
strikte Klassifizierungen vorgeschlagen werden, in denen bei weitem nicht alle konkreten Texte
ihren eindeutigen Platz finden. In der modernen Literaturentwicklung geht es zudem häufig darum,
eben diese künstlich errichteten Gattungsschranken kreativ zu überwinden, wie z.B. in Baudelaires
"poèmes en prose" ("Gedichte in Prosa") oder Brechts Konzept des "epischen Theaters".

Daraus, daß die konkreten Texte sich oft nicht ohne Gewalt einem einheitlichen Oberbegriff
zuordnen lassen, entspringt auch der Streit um die Gattungstheorien, der seit Jahrhunderten von
Literaturhistorikern und Literaturtheoretikern kontrovers geführt wird, aber bislang zu keinem
befriedigenden Ergebnis gekommen ist. Auf der einen Seite stehen die Befürworter, die Gattungen
als notwendige Grundmuster ansehen, die für die Beschreibung von Literatur und die
Unterscheidung der einzelnen Texte insgesamt von großer Bedeutung sind. Ihre Gegner bezweifeln
demgegenüber den Sinn und Zweck eines allgemeinen Begriffs, der neben oder über den konkreten
Texten steht.

Die drei großen Bereiche der Literatur - Epik, Dramatik, Lyrik - bilden natürlich auch vielfältige
Unterbereiche aus (auch ´Untergattungen´, manchmal auch ´Genre´). Im Bereich der erzählenden
Literatur ist von "einfachen Formen" die Rede gewesen, die in ihren Form- und
Ausdrucksmöglichkeiten relativ festgelegt sind (wie Schwank, Fabel, Parabel,
Kalendergeschichte, Kurzgeschichte, Legende, Sage, Märchen, Anekdote). Zu ihnen
gesellen sich die komplizierter strukturierten, damit aber auch wandlungsfähigeren "Großformen"
(Epos, Novelle, Roman).

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In der Dramatik begegnet uns die Grundunterscheidung zwischen Tragödie und Komödie, eine
Differenzierung, die noch sehr viele variable Gestaltungsmöglichkeiten birgt. Die verschiedenen
Untergattungen (Commedia dell’arte, bürgerliches Trauerspiel, Revolutionsdrama, lyrisches
Drama, Dokumentartheater, Parabeltheater usw.) schränken dann diese Möglichkeiten weiter
ein. Sie sind aber als historische Varianten ein Ausdruck für die Formenvielfalt und
Wandlungsfähigkeit der Dramatik.
Goethe bestimmt die Lyrik als "enthusiastisch aufgeregt" und bezieht sich damit auf den
subjektiven Ausdruckscharakter vieler Gedichte, also primär auf den Inhalt; zugleich ist die Lyrik in
ihrer historischen Entwicklung stärker als die anderen Gattungen geprägt von der
Auseinandersetzung mit tradierten Formelementen (Metrum, Vers, Strophe, Reim) und
Gedichtformen (Sonett, Ode, Ballade).

Wichtig ist, in Gattungen keine unveränderlichen, geradezu "natürlichen" Systeme zu sehen. Wie
die literarischen Formen selbst unterliegen sie einem Wandel, in dem sie entweder ihre Konstanz
bewahren und weiter ausbilden, oder aber auch ein Ende finden können (wie das Epos, das vom
Roman abgelöst wurde). Nicht zuletzt bringen die modernen Medien Bewegung in ein starr und
unhistorisch gedachtes Gattungsschema. Das Film- oder Fernsehdrehbuch oder auch der Internet-
Roman sind nur einige Beispiele dafür. Sicherlich ist es sinnvoll, von willkürlichen Setzungen
abzusehen (z.B. der Zusammenfassung aller Texte, in denen eine Katze vorkommt, zu einer
Gattung) und Werke anzuerkennen, die Merkmale mit mehreren Gattungen teilen können. Damit
wird das Gattungsgefüge ein offenes, das als eine hilfreiche Konstruktion des Literaturtheoretikers,
nicht aber als unhistorisches und quasi natürlich gegebenes Einteilungsschema von Literatur zu
nehmen ist.

© SR, rein und TvH

Quelle

 Johann Wolfgang von Goethe: Noten und Abhandlungen, in: J.W. v. Goethe:
Werke, hg. von E. Trunz, Band 2, Hamburg 1981.

Sekundärliteratur

 A. Horn: Theorie der literarischen Gattungen. Ein Handbuch für Studierende


der Literaturwissenschaft, Würzburg 1998.
 A. Jolles: Einfache Formen: Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus,
Memorabile, Märchen, Witz, Tübingen 1974.
 F. Martini: Literarische Form und Geschichte. Aufsätze zu Gattungstheorie
und Gattungsentwicklung vom Sturm und Drang bis zum Erzählen heute,
Stuttgart 1984.

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http://www.einladung-zur-
literaturwissenschaft.de/index.php?option=com_content&view=article&id=47
5%3A10-1-gattungen&catid=47%3Akapitel-10&Itemid=55

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