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IV.

Antike und Moderne, Klassik und


Romantik

Die Unterscheidung der klassischen und romantischen Literatur


zählt zu den berühmtesten Leistungen der Brüder Schlegel, die
unter verschiedenen Gesichtspunkten von Wichtigkeit ist. Wie
dies bereits im Zusammenhang des Streites zwischen den Befür-
wortern der klassischen und der modernen Literatur zum Aus-
druck gekommen ist, war erst mit dieser Unterscheidung die
Grundlage für ein Bewußtsein literarischer Modernität gegeben
und die Selbstbehauptung der Moderne gegenüber der Antike
auch im Bereich der Literatur gewährleistet. In diesem Sinne
haben sich Generationen von Romantikern in vielen Teilen Eu-
ropas und Nordamerikas in dieser Unterscheidung wiederer-
kannt. Vor allem in den mediterranen Ländern verband sich mit
der Bezeichnung Romantiker das Bewußtsein modern zu sein
und der Zukunft anzugehören. 1 Hier wurde die Bezeichnung
Romantiker als Selbstbezeichnung verstanden. Nicht minder
wichtig war aber diese Unterscheidung für die Entdeckung der
romantischen Literaturen, d. h. der spätmittelalterlichen und
nachmittelalterlichen Poesien Italiens, Spaniens, Portugals, der
proven£alischen Sprachen, wobei die Brüder Schlegel Pionierlei-
stungen vollzogen. Dies zeigt sich auch darin, daß die Geschichte
der Nationalliteraturen in den genannten Ländern gewöhnlich
bei den Entdeckungen der beiden Brüder ansetzt und diese weiter
ausführt. 2 Auch hier verband sich die Unterscheidung des Ro-
mantischen ganz entschieden mit dem neuen Literaturbewußt-

1
Siehe Olga Ragusa, „Romantico, Romanticismo", Romantic and its
Cognates. The European History of a Word (Toronto: University of
Toronto Press 1972), 297-98, 310-11.
2
Hans Juretschke, Origen doctrinal y genesis del romanticistno es-
panol (Madrid 1954).

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Antike und Moderne, Klassik und Romantik 119

sein, das in Europa vorherrschend wurde. Denn die bis dahin


größtenteils unbekannt gebliebenen Literaturen, die damit vor-
drangen, führten zu einer beträchtlichen Revision oder sogar zu
einer völligen Umgestaltung des literarischen Kanons, wie er
unter dem Einfluß des Klassizismus gültig gewesen war. Aber
auch für die Kenntnis der klassischen Literatur war die Schle-
gelsche Unterscheidung von großer Bedeutung, die sich bis in die
Ausbildung der Altphilologie im neunzehnten Jahrhundert be-
merkbar macht. 3 Denn sie bedeutete eine beträchtliche Akzent-
verlagerung von der im Klassizismus und vorher schon in der
Renaissance vorherrschenden römischen Literatur zur griechi-
schen Literatur. Selbst die von den Brüdern Schlegel vorgenom-
mene Bewertung einzelner griechischer Dichter, besonders in der
Tragödie, mit der sich eine scharfe Kritik des Euripides verband,
hat die geistige Anschauung der griechischen Antike in den
altphilologischen Disziplinen bis hin zu Nietzsche bestimmt. 4
Die Unterscheidung der klassischen und romantischen Lite-
ratur ist demnach ein wichtiger Schritt in der Formation der
frühromantischen Theorie. Sie ist eine Gemeinschaftsleistung der
Brüder Schlegel, insofern die grundlegende Arbeit in Friedrich
Schlegels Studium-Aufsatz von 1795 vorgenommen wurde, die
dann in August Wilhelm Schlegels Berliner Vorlesungen weitere
Ausführung fand, bevor ihr der ältere Schlegel in den Wiener
Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur die autori-
tative Formulierung gab, in der sie dann in viele Sprachen über-
setzt wurde. Zur Zeit des Studium-Aufsatzes wurde die Bezeich-
nung romantisch von Friedrich Schlegel noch wenig gebraucht.
In diesem Text operiert er meist mit den Bezeichnungen alt und
modern oder die Alten und die Modernen. Modern und roman-
tisch kommen nie zu einer völligen Deckung bei diesen Unter-
scheidungen. Nachdem sich der Begriff romantisch aber durch-

3
Siehe Conrad Bursian, Geschichte der klassischen Philologie in
Deutschland von den Anfängen bis zur Gegenwart (München-Leipzig
1883).
4
Siehe den Sammelband The Nineteenth-Century Rediscovery of Eu-
ripides. Herausgegeben von William M. Calder. Sonderband der
Greek-Roman- and Byzantine Studies 27 (1986).

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120 Antike und Moderne, Klassik und Romantik

gesetzt hatte, erscheint das Moderne oder der moderne Geist der
Literatur als eine neben dem romantischen Stil bestehende Aus-
drucksform, die reflektiert, im hohen Maße kritisch ist, aber den
Schmelz des Romantischen nicht hat, der aus der Beziehung zum
Unendlichen und der Vermischung des Realen und Idealen her-
vorgeht. In diesem Sinne ist Goethe auf eminente Weise modern,
aber überhaupt nicht romantisch. 5 Während der moderne Stil
epochengebunden und zeitlicher Natur ist, sprengt das Roman-
tische gelegentlich jeden zeitlichen Rahmen und wird gleichbe-
deutend mit dem höchsten Poetischen.6 Diese Nuancen sind bei
einer Erörterung der Schlegelschen Unterscheidung von Antike
und Moderne, Klassik und Romantik zu berücksichtigen.
Bei der Herausarbeitung dieser Unterschiede durch Friedich
Schlegel macht sich noch ein besonderes Gedankenmodell be-
merkbar, das für den Ansatz von Wichtigkeit zu sein scheint und
der Unterscheidung eine zusätzliche philosophische Dimension
verleiht. Dieser Punkt läßt sich am besten auf der Grundlage des
Athenäum-Fragments 149 entwickeln, das Winckelmann und
dem Projekt einer „materialen Altertumslehre" gewidmet ist. Das
Fragment beginnt mit der Feststellung: „Der systematische Win-
ckelmann, der alle Alten gleichsam wie Einen Autor las, alles im
ganzen sah, und seine ganze Kraft auf die Griechen konzentrierte,
legte durch die Wahrnehmung der absoluten Verschiedenheit des
Antiken und Modernen, den ersten Grund zu einer materialen
Altertumslehre" (KFSA 2, 188-89). Worauf es hier ankommt,
ist die „Wahrnehmung der absoluten Verschiedenheit des Antiken
und Modernen" als erster Schritt einer sich aufbauenden Lite-
raturwissenschaft. Erst nachdem diese Wahrnehmung so scharf
wie möglich vollzogen ist, läßt sich der letzte Schritt, nämlich
die „absolute Identität des Antiken und Modernen" konzipieren,
womit „der Kontur der Wissenschaft fertig" ist (KFSA 2, 189).
Wie bei dem Projekt einer Vereinigung von Poesie und Philoso-

5
KFSA 16, 108, 113, 133; 3, 138.
6
Am emphatischsten im Athenäum-Fragment 116: „Die romantische
Dichtart ist die einzige, die mehr als Art, und gleichsam die Dicht-
kunst selbst ist: denn in einem gewissen Sinn ist oder soll alle Poesie
romantisch sein" (KFSA 2, 183).

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Der Gegensatz von klassischer und romantischer Literatur 121

phie oder der Verbindung von Realität und Idealität, kommt es


also zunächst darauf an, die Pole in diesem Verhältnis der Wech-
selwirkung in ihrer absoluten Eigenheit und Gegensätzlichkeit
aufzufassen, bevor daraus die symmetrischen Beziehungen zwi-
schen ihnen und dann sogar deren „Identität" im Sinne ihrer
Auswechselbarkeit sichtbar werden können. Der erste Schritt,
die Herausarbeitung des scharfen Unterschiedes zwischen der
klassischen und modernen Literatur wurde aber mit Friedrich
Schlegels Studium-Aufsatz in Angriff genommen.

1. Der Gegensatz von klassischer und romantischer


Literatur

In der Vorrede zu seinem Studium-Aufsatz (Über das Studium


der Griechischen Poesie) macht Friedrich Schlegel die zunächst
verblüffend klingende Feststellung, daß die Abhandlung mehr
vom Modernen rede, als die Überschrift erwarten lasse (KFSA
l, 207). Kurz danach sagt er auf nicht weniger überraschende
Weise: „Dies ist der kürzeste Weg, den eigentlichen Charakter
der modernen Poesie zu entdecken, das Bedürfnis einer klassi-
schen Poesie zu erklären, und endlich durch eine sehr glänzende
Rechtfertigung der modernen überrascht und belohnt zu werden"
(KFSA l, 208). Die Verblüffung und Überraschung bei der Lek-
türe dieser Feststellungen rührt daher, daß die Abhandlung mit
ihrem scheinbar rückhaltlosen Lobpreis der Alten und ihrer
unnachsichtigen Kritik der ästhetischen Richtungslosigkeit der
Modernen zunächst wie ein Plädoyer für die klassische Poesie
erscheint. Liest man aber durch die verwirrenden rhetorischen
Anläufe dieser Studie hindurch, dann zeigt sich bald, daß ihr
Schwergewicht tatsächlich auf der Seite der Modernen liegt. Die
Beschäftigung mit der Antike nimmt nicht halb so viel Raum ein
wie die mit der Moderne. August Wilhelm Schlegel nannte die
Abhandlung in einem Brief an Schiller vom 23. April 1796 „Be-
trachtungen über das Verhältnis der modernen zur antiken Bil-
dung" (FS 36, 190). Friedrich Schlegel ist hier offensichtlich nicht
von einem antiquarischen Interesse geleitet, sondern will der

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modernen Poesie eine Richtung geben, einen „Sinn" anweisen


(KFSA l, 224).
Die Beschäftigung mit der modernen Poesie konnte sich aber
nicht ohne Einbeziehung der antiken vollziehen, insofern Schle-
gels Ansicht nach die moderne Literatur aus der der Alten
herausgewachsen war und dadurch ihre charakteristischen Ei-
genschaften erlangt hatte. Er begründete die Verzahnung der
Antike und Moderne mit den Abfolgegesetzen zwischen der
natürlichen (Antike) und der künstlichen (Moderne) Bildung
(KFSA l, 231). Die hier angenommene natürliche Dichtung der
Griechen ist so zu verstehen, daß sie „nicht erlernte Fertigkeit,
sondern ursprüngliche Natur" war, freilich nicht physische Na-
tur, sondern menschliche Natur, ja „reinmenschlich" (KFSA l,
276 — 77). Schlegel variiert in immer neuen Wendungen den Ge-
danken, daß die Natürlichkeit der griechischen Dichtung gleich-
bedeutend mit ihrer tiefen Humanität war und meinte, daß bei
den Griechen „das Ganze der menschlichen Natur" zur Entfal-
tung komme: „Ihre Eigentümlichkeit ist der kräftigste, reinste,
bestimmteste, einfachste und vollständigste Abdruck der allge-
meinen Menschennatur" (KFSA l, 306).
Die Natürlichkeit der griechischen Dichtung ist gleichzeitig
die Bedingung dafür, daß in dieser Welt das „höchste Schöne"
möglich werden konnte, das uns im „goldenen Zeitalter" der
griechischen Literatur mit der Tragödie des Sophokles als ein
„gewordenes organisches gebildetes Ganzes" entgegentritt (KFSA
l, 293). Natürlich wissen wir von Schlegels perfektibilistischer
Denkweise, daß dies nur das höchste Schöne der natürlichen
Bildung ist und keineswegs ein Schönes, „über welches sich nichts
Schöneres denken ließe" (KFSA l, 288). Auch werden die Mo-
dernen an „einzelnen Vollkommenheiten und Schönheiten" die
Alten „sehr weit übertreffen" (KFSA l, 293). Dennoch ist in der
Welt der Alten die Schönheit an sich (l'art pour l'art) allein
wirklich geworden, ohne utilitaristischen Zweck oder theoreti-
sche Spekulation. Schlegel sieht diese Errungenschaft sogar als
ein „Kennzeichen echter Griechheit" an. Während allen Barbaren
nämlich die „Schönheit an sich selbst nicht gut genug" war, blieb
die Kunst bei den Griechen „immer gleich frei". Für sie waren
„schöne Spiele heilig", und die Fähigkeit, „schön zu spielen" war

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Der Gegensatz von klassischer und romantischer Literatur 123

für sie charakteristisch (KFSA l, 275, 206). Diese Autonomie der


Kunst zeigt sich in ihrer Unabhängigkeit von der Sittlichkeit und
kommt recht eigentlich darin zum Ausdruck, daß „in diesem
Reiche der Schönheit und der Darstellung" letztlich „nur ästhe-
tische und technische Gesetze" gelten (KFSA l, 325). Alles andere
liegt „jenseits des ästhetischen Horizonts" (KFSA l, 328).
Alle diese Merkmale der natürlichen Bildung drängen sich für
Schlegel aber im Begriff der „objektiven Poesie" zusammen. Diese
„weiß von keinem Interesse", sie „macht keine Ansprüche auf
Realität", sondern „strebt nur nach einem Spiel" oder „nach
einem Schein, der so allgemeingültig und gesetzgebend sei, als
die unbedingteste Wahrheit" (KFSA l, 211). Im Homer erscheint
der Zusammenhang des Natürlichen mit dem Objektiven am
direktesten und äußert sich wiederum als das „Reinmenschliche"
oder „das echt Göttliche: die reinste Menschheit" (KFSA l, 279,
277). Aber auch in der lyrischen Gattung, die ihrem Wesen nach
auf „schöne Eigentümlichkeit" gerichtet ist, zeigt sich die „Ten-
denz zum Objektiven", indem sie sich immer wieder „dem rein
Menschlichen nähert" (KFSA l, 283). Was endlich die griechische
Tragödie anbetrifft, so stellt sie den Höhepunkt dieser Entwick-
lung als symbolisierten Kampf des Menschen mit dem Schicksal
dar (KFSA l, 296 — 301). In diesem Sinne ist für Schlegel „die
Griechheit nichts andres als eine höhere, reinere Menschheit"
(KFSA l, 284). In ihrer Geschichte der Poesie ist der „ganze
Kreislauf der organischen Entwicklung der Kunst abgeschlossen
und vollendet", ja diese Geschichte ist „eine ewige Naturge-
schichte des Geschmacks und der Kunst" (KFSA l, 307-08).
Freilich müssen hier die Bezeichnungen „natürliche Poesie",
„Kreislauf der organischen Entwicklung" und „Naturgeschichte"
entsprechend akzentuiert werden, um Schlegel nicht als einen
bloßen Fürsprecher der Alten erscheinen zu lassen und seinem
Versuch, die Gegensätze zwischen der alten und modernen Poesie
herauszuarbeiten, die richtigen Konturen zu belassen. Denn der
Preis, der für diese natürlichen Errungenschaften der alten Poesie
zu zahlen ist, besteht in deren Abhängigkeit von den fundamen-
talsten Gesetzen des natürlichen Lebens: Geburt, Wachstum und
Tod. Nachdem die „Gunst der Natur die Hellenen auf jene Höhe"
geführt hatte, „ergriff sie aber der eherne Arm des unerbittlichen

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124 Antike und Moderne, Klassik und Romantik

Schicksals, und zwang sie wieder abwärts zu gehn auf der vor-
gezeichneten Bahn, nach ewigen Gesetzen eines großen Kreis-
laufs" (KFSA l, 537). Dieser Absturz von der höchsten Höhe der
Kunst und dieses Zurücksinken in sich selbst ist für Schlegel
völlig „natürlich, notwendig", denn der Trieb, „welcher die Grie-
chische Bildung lenkte, ist zwar ein mächtiger Beweger, aber ein
blinder Führer". Allein auf dies Prinzip angewiesen, mußte der
„Versuch der natürlichen Bildung mißglücken" (KFSA l, 316,
231). Der Fall der griechischen Literatur manifestiert sich in der
„Leidenschaftlichkeit der entarteten Tragödie", im „Leichtsinn
der Komödie" und in der „Üppigkeit der späteren Lyrik" (KFSA
l, 324). Diese „verunglückte natürliche Bildung" war die Vor-
bedingung und bildete die direkte Veranlassung für die Moderne,
d. h. die künstliche Bildung. Denn wenn der Mensch auf dem
Wege der Natur sein Ziel hätte erreichen können, „so wäre ja
die Hülfe der Kunst ganz überflüssig", und man vermöchte nicht
einzusehen, „was ihn bewegen sollte, einen neuen Weg einzu-
schlagen" (KFSA l, 231).
Im Gegensatz zur kreisförmigen Bewegungsrichtung der na-
türlichen Bildung ist die künstliche Bildung der modernen in
einer unendlichen Progression auf ein höchstes und unerreich-
bares Ziel hin begriffen. Dieser unendliche Strebenscharakter
erscheint in Schlegels Darstellung literarischer Modernität als ihr
grundlegender Wesenszug und wird nach den im Studium-Auf-
satz jeweils vorherrschenden rhetorischen Nuancen entweder im
Vergleich mit den Alten als ein Mangel7 oder als der große
Vorzug ihnen gegenüber hingestellt.8 Der eigentliche Grund aber,
warum diese ästhetische Bildung von Schlegel im Gegensatz zur
natürlichen der Alten eine künstliche genannt wird, besteht darin,
daß hier die Theorie den Primat vor der poetischen Praxis hat
und der Verstand ein „oberstes lenkendes Principium ist" (KFSA
l, 231). Auch dies Phänomen wird von Schlegel je nach seiner

7
KFSA l, 223: „Das Faß der Danaiden bleibt ewig leer."
8
KFSA l, 255: „Die erhabne Bestimmung der modernen Poesie ist also
nichts geringeres als das höchste Ziel jeder möglichen Poesie, das
Größte was von der Kunst gefordert werden, und wonach sie streben
kann."

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Der Gegensatz von klassischer und romantischer Literatur 125

Absicht entweder mit einer negativen 9 oder mit einer positiven


Betonung vorgetragen. 10
Beispiele für diesen künstlichen oder unnatürlichen Charakter
der modernen Poesie erblickt Schlegel in dem „gotischen Zierrat"
des Reims oder in der „Phantasterei der romantischen Poesie"
(KFSA l, 233). Die „Scheidung und Mischung" aller vorgegebe-
nen poetischen Materien ist ein weiteres Merkmal literarischer
Modernität, das aus der „Willkür der lenkenden Bildungskunst"
hervorgeht und von Schlegel zunächst negativ als Charakterlo-
sigkeit und Zerstörung der Natur eingeführt wird (KFSA l, 238),
dann aber, wenn es um ein lyrisches Drama wie Shakespeares
Romeo und Julia geht, als „bezaubernde Mischung" erscheint
(KFSA l, 241). Ja die besondere poetische Einheit und der „voll-
endete Zusammenhang des Ganzen" in Shakespeares Werken
erscheint Schlegel auf eine solch feine und tiefsinnige Weise
gestaltet, daß sie auch durch die „scharfsinnigste kritische Ana-
lyse" nicht voll ergründet werden können (KFSA l, 247).
Als Ganzes betrachtet erscheint die moderne Poesie wie ein
großes Chaos, „wie ein Meer streitender Kräfte, wo die Teilchen
der aufgelösten Schönheit, die Bruchstücke der zerschmetterten
Kunst, in trüber Mischung sich verworren durcheinander regen"
(KFSA l, 223). Kurz zuvor sagt Schlegel: „Charakterlosigkeit
scheint der einzige Charakter der modernen Poesie, Verwirrung
das Gemeinsame ihrer Masse, Gesetzlosigkeit der Geist ihrer
Geschichte, und Skeptizismus das Resultat ihrer Theorie" (KFSA
l, 222). „Der Name der Kunst wird entweiht, wenn man das
Poesie nennt", heißt es in dem stark rhetorischen Einsatz dieses
Aufsatzes (KFSA l, 217—18). Dabei handelt es sich aber um
erste Eindrücke, die ebenso wie die „genialische Originalität",
die „interessante Individualität" und der isolierte Egoismus der
modernen Künstler (KFSA l, 223, 239) auf eine zugrundeliegende,
freilich völlig neuartige und ungemein komplexe Einheit des

9
KFSA l, 232: „das lenkende Prinzip der ästhetischen Bildung war
aber nicht der Trieb, sondern gewisse dirigierende Begriffe."
10
Ib.: „Daß aber der Mensch nach diesen Begriffen sich selbst be-
stimmte, den gegebnen Stoff ordnete, und die Richtung seiner Kraft
determinierte; das war ein freier Aktus des Gemüts."

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126 Antike und Moderne, Klassik und Romantik

modernen Zeitalters weisen, mit der die moderne Poesie schließ-


lich als ein „zusammenhängendes Ganzes" hervortritt. Damit
arbeitet Schlegel „merkwürdige Züge der modernen Poesie" her-
aus, „wodurch sie sich von allen übrigen Poesien, welche uns
die Geschichte kennen lehrt, aufs bestimmteste unterscheidet".
Er legt Wert darauf, daß „deren Grund und Zweck nur aus einem
gemeinschaftlichen innern Prinzip befriedigend deduziert werden
kann", wobei es sich um das Prinzip des unendlichen Fortschrei-
tens handelt (KFSA l, 225-27).
Eine andere, häufig als Vorwurf verstandene Feststellung
Friedrich Schlegels über den Charakter der modernen Poesie
lautet, daß für diese nicht das Prädikat der Schönheit gelten
könne, daß nicht das „Schöne", sondern das „Interessante" ihr
Ideal sei.11 Um diese Feststellung richtig zu sehen, muß man
zunächst berücksichtigen, warum Schlegel der klassischen Poesie
denn den Charakter der Schönheit eigentlich zugebilligt hatte.
Der Grund dafür lag in der begrenzten Sphäre der natürlichen
Bildung, in der die Gestaltung wirklicher Schönheit möglich
schien. In der modernen Poesie dagegen äußert sich nach Schlegel
das „Streben nach einem absoluten Maximum der Kunst". Das
„Interessante", das nie eine vollständige Befriedigung gewähren
kann, erweist sich als bloße „Vorbereitung des Schönen". Tat-
sächlich sagt Schlegel auch: „das letzte Ziel der modernen Poesie
kann kein andres sein als das höchste Schöne, ein Maximum von
objektiver ästhetischer Vollkommenheit" (KFSA l, 253). Somit
handelt es sich im Bereich der Moderne um einen ganz anderen
Schönheitsbegriff als er für die Antike angesetzt war. Schlegel
hat auch mit Nachdruck darauf bestanden, daß der absolute
Ästhetizismus, den er als „freies Spiel ohne bestimmten Zweck"
definiert hatte, nur für die Alten galt, während die „trefflichsten
und berühmtesten modernen Gedichte" eine Tendenz haben, die
er als „philosophisch" bezeichnete. Darunter ist jener Charakter
der Modernen zu verstehen, den Schlegel auch als Vorherrschen
des Verstandes, als Leitung der poetischen Praxis durch theore-
tische Begriffe, als Freiheit statt natürlicher Entwicklung be-

Siehe KFSA l, 208, 213, 219, 252'.

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Der Gegensatz von klassischer und romantischer Literatur 127

schrieben hatte. Von der Idee der Schönheit aus entwickelt stellt
sich der Unterschied zwischen der alten und der neuen Welt als
Differenz zwischen ästhetischer Haltung („freies Spiel ohne be-
stimmten Zweck") und „philosophischem Interesse" dar, so daß
das „philosophisch Interessante letzter Zweck" der modernen
Poesie ist (KFSA l, 241—45). Für diese besondere Natur der
modernen Poesie verwandte Schlegel auch den Begriff der „cha-
rakteristischen Poesie". Mit der Einfügung dieses Terminus hat
er auch versucht, die Unterschiede zwischen der alten und mo-
dernen Poesie parallel zu dem Begriffspaar „ästhetisch-philoso-
phisch" als „schön-charakteristisch" zu erfassen (KFSA l,
245 — 46). In der Vorrede zum Studium-Aufsatz hat er aber selbst
zugegeben, daß es sich hierbei nicht um eine sehr glückliche
Begriffsprägung handelte und diese dann durch den Gegensatz
„objektiv-interessant" zu ersetzen versucht (KFSA l, 215).
Es ist offensichtlich, daß sich in diesen wandelnden begriffli-
chen Formulierungen die Gegenüberstellung der klassischen und
romantischen Literatur anbahnt, die seit 1798 „ihren Siegeszug
durch die Welt antrat"12 und auch im Studium-Aufsatz schon
gelegentlich auftritt. Wie bereits hervorgehoben, ist der Begriff
der romantischen Poesie jedoch mit dem der modernen nicht
kongruent, sondern bildet die prominenteste Tradition in ihr, die
von der klassizistischen Theorie zurückgedrängt wurde. Mit der
Konzentration auf diese romantische Tradition ändern sich viele
der im Studium-Aufsatz noch stark kritisch klingenden Bezeich-
nungen für die Charaktereigenschaften der modernen Poesie. Der
ganze Entwurf gewinnt eine ausgeglichenere Balance im Sinne
der absoluten Ebenbürtigkeit bei absoluter Verschiedenheit der
klassischen und romantischen Literatur. Kurz nachdem er im
Spätsommer 1796 in Jena eingetroffen war, hatte Friedrich Schle-
gel das Gefühl, daß er in Dresden, wo er seinen Studium-Aufsatz
und den Großteil seiner griechischen Arbeiten ausgeführt hatte,
auf dem besten Wege gewesen war, „sich im Studium der Antiken
zu petrifizieren" (KFSA 23, 332).
Was den Begriff der Schönheit im modernen Zeitalter anbe-
trifft, so bleibt noch nachzutragen, daß für Friedrich Schlegel
12
Hans Eichner in KFSA 2, XLIX.

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128 Antike und Moderne, Klassik und Romantik

viele der vortrefflichsten Werke der modernen Poesie „ganz of-


fenbar Darstellungen des Häßlichen sind" (KFSA l, 219) und das
Häßliche „oft in ihrer Darstellung unentbehrlich" ist (KFSA l,
241). Kronzeuge hierfür ist wiederum Shakespeare, den er „ohne
Übertreibung den Gipfel der modernen Poesie" nennen möchte
und der in seinen Werken „wie die Natur" Schönes und Häßliches
miteinander erzeugt (KFSA l, 249-51). Friedrich Schlegel hat
in diesem Zusammenhang den „Versuch einer Theorie des Häß-
lichen" unternommen und die verschiedenen Elemente dieses
Phänomens wie in einem „ästhetischen Kriminalkodex" zusam-
mengestellt. Wie in den Spekulationen über das unerreichbare
„höchste Schöne" und das „absolute Maximum der Kunst" be-
schäftigt er sich hier mit der Idee eines „höchsten Häßlichen"
im Sinne eines „unbedingten Maximums der Negation" und der
Unerreichbarkeit derselben als Element der modernen Kunst
(KFSA l, 311-315).13

2. Die Theorie der romantischen Literatur


Seit seiner Übersiedlung nach Jena hatte sich Friedrich Schlegel,
wie er Christian Gottfried Körner nach Dresden beinahe ent-
schuldigend mitteilte, „fast nur mit den Neuern beschäftigt" und
war in „sehr unklassischen oder antiklassischen Schriftstellern
vergraben" (KFSA 23, 332). Seine Zuwendung zur modernen und
romantischen Literatur hatte begonnen. Im Lyceum der schönen
Künste von 1797 heißt es dann bereits: „Alle klassischen Dicht-
arten in ihrer strengen Reinheit sind jetzt lächerlich" (KFSA 2,
154). Von seinem Studium-Aufsatz meinte er nun, dieser sei ein
„manirierter Hymnus in Prosa auf das Objektive in der Poesie".
Das „Schlechteste" darin wäre „der gänzliche Mangel an Ironie"

13
Siehe hierzu Günter Oesterle, „Entwurf einer Monographie des
ästhetisch Häßlichen. Die Geschichte einer ästhetischen Kategorie
von Friedrich Schlegels Studium-Aufsatz bis zu Karl Rosenkranz'
Ästhetik des Häßlichen als Suche nach dem Ursprung der Moderne,"
Zur Modernität der Romantik. Herausgegeben von Dieter Bänsch
(Stuttgart: Metzler 1977), 217-297.

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Die Theorie der romantischen Literatur 129

und das „Beste" die „zuversichtliche Voraussetzung, daß die


Poesie unendlich viel wert sei", wobei er aber vorsichtig hinzu-
fügte: „als ob dies eine ausgemachte Sache wäre" (KFSA 2, 148).
Dies bedeutete jedoch nicht, daß die Griechen nun zurückgelassen
wurden. Vielmehr sahen sich die Brüder Schlegel stets im Kontext
einer umfassenden literarischen Entwicklung, die von den An-
fängen der griechischen Literatur bis in ihre eigene Zeit reicht
und darüber hinaus einer nicht bestimmbaren Zukunft entgegen-
eilt. Friedrich Schlegel fühlte sich aber nun in einem „liberalen
Verhältnis zum Altertum", d. h. er war „nicht mehr passiv und
aus Natur" heraus klassisch wie in der Zeit der Dresdner Studien,
sondern konnte sich nun „frei klassisch stimmen" 14 und, wie es
im Athenäum-Fragment 121 heißt, „sich willkürlich bald in diese,
bald in jene Sphäre wie in eine andre Welt, nicht bloß mit dem
Verstande und der Einbildung, sondern mit ganzer Seele verset-
zen" (KFSA 2, 185). Ganz ähnlich heißt es bereits im Lyceum-
Fragment 55: „Ein recht freier und gebildeter Mensch müßte sich
selbst nach Belieben philosophisch oder philologisch, kritisch
oder poetisch, historisch oder rhetorisch, antik oder modern
stimmen können, ganz willkürlich, wie man ein Instrument
stimmt, zu jeder Zeit und in jedem Grade" (KFSA 2, 154).
Aber die literarkritische und literartheoretische Arbeit kon-
zentriert sich nun zunehmend auf die romantische Tradition der
europäischen Literatur. Die Erforschung Dantes und Shake-
speares wird von einem ebenso intensiven Studium von Cervan-
tes, Boccaccio und Petrarca abgelöst. Im Sommer 1802 begann
August Wilhelm Schlegel seine Übersetzungen Calderons 15 , wäh-

14
Aus dem Heft „Studien des Altertums", Nr. 11: im Druck für Bd. 15
der KFSA.
15
A.W. Schlegel, Spanisches Theater, 2 Bde. (Berlin: Reimer 1803-09)
und A.W. Schlegel, „Über das spanische Theater", Europa. Eine
Zeitschrift, hg. von F. Schlegel (Frankfurt: Wilmans 1803-05) l, 2,
72 — 87. Diese Texte erschienen zusammen in der 2. Aufl. von A.W.
Schlegel, Spanisches Theater, 2 Bde., hg. von Eduard Böcking (Leip-
zig: Weidmann 1845). Siehe ebenfalls A.W. Schlegel, Blumensträuße
Italienischer, Spanischer und Portugiesischer Poesie (Berlin: Reimer
1804).

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130 Antike und Moderne, Klassik und Romantik

rend Friedrich Schlegel sich zu dieser Zeit der provenfalischen


Literatur zuwandte und in der portugiesischen Literatur sein
Interesse auf Camoes richtete (KFSA 3, 17 — 37). Zwei Bedeutun-
gen des Terminus „romantisch" werden dabei vorherrschend: die
historische, die sich auf jene Tradition der europäischen Literatur
bezieht, die auf ungerechte Weise vom klassizistischen Ge-
schmack unterdrückt worden war und für welche die Brüder
Schlegel die Entdecker wurden; und die normative, nach welcher
das Romantische ein „Element der Poesie" ist, „das mehr oder
minder herrschen und zurücktreten, aber nie ganz fehlen darf"
(KFSA 2, 335). Diese zweite Bedeutungsnuance verdient eine
genauere Klärung.
Wegen der Vorherrschaft des Romans in der romantischen
Tradition der europäischen Literatur und der semantischen Af-
finität zwischen der Bezeichnung „romantisch" und dem Gat-
tungsbegriff Roman haben Interpreten häufig die romantische
Theorie der Brüder Schlegel mit der Theorie des Romans gleich-
gesetzt. Es steht außer Frage, daß wenigstens Friedrich Schlegel
eine besondere Vorliebe für den Roman hatte und mehrere Fest-
stellungen über den Vorrang des Romans in der modernen,
romantischen Literatur machte, die berühmt geworden sind. 16
Aber er dehnte den Begriff Roman gleichzeitig so weit über
gattungsmäßige Begriffe aus, daß er beinahe mit der Bezeichnung
romantische Poesie identisch wurde und insofern wenig Hilfe bei
einer Klarstellung dieser Verhältnisse bietet. Ein besserer Zu-

16
Z. B. „Drei vorherrschende Gattungen: \. Tragödie bei den Griechen;
2. Satire bei den Römern; 3. Roman bei den Modernen" (KFSA 16,
88). - »Wie unsre Dichtkunst mit dem Roman, so fing die der
Griechen mit dem Epos an und löste sich wieder darin auf" (KFSA
2, 335). - Siehe Hans Eichner, Friedrich Schlegel (New York: Twayne
1970), 53 — 54: „aufgrund seiner Überzeugung von der dominierenden
Rolle des Romans in der Literatur der letzten tausend Jahre —
nämlich dem gereimten Epos in einer modernen Mundart, der Ro-
manze, dem Roman, und selbst bestimmten Formen des Dramas, die
alle als Varianten ein und derselben literarischen Form aufgefaßt
wurden - bezeichnete Schlegel das Wesen dieser Literatur als ,ro-
mantisch'".

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Die Theorie der romantischen Literatur 131

gangsweg zur romantischen Poesie bietet sich deshalb vom Ge-


sichtspunkt ihrer Aufgabe aus an, d. h. der Darstellung ihres
Gegenstandes, der Unendlichkeit des Lebens und der Natur sowie
der kunstmäßigen Gestaltung dieser Themen. In seiner Rezension
von Ludwig Tiecks Don Qui/ote- Übersetzung drückt Friedrich
Schlegel seine Befriedigung darüber aus, daß das deutsche Pu-
blikum Shakespeare nicht länger „für einen rasend tollen Sturm-
und Drangdichter", sondern bereits „für einen der absichtsvoll-
sten Künstler" hält, was Grund zu der Hoffnung gibt, daß auch
Cervantes „nicht bloß für einen Spaßmacher" angesehen werden
sollte, sondern man ihn, „was die verborgene Absichtlichkeit
anbetrifft", wohl als „ebenso schlau und arglistig" wie Shake-
speare nehmen wird (KFSA 2, 283). Schlegel fand diese hohe
artistische Qualität auch in der Prosa des Cervantes und vertrat
die Ansicht, es sei „die einzige moderne, welche wir der Prosa
eines Tacitus, Demosthenes oder Plato entgegenstellen können",
da sie „so durchaus modern, wie jene antik" ist und dabei die
gleiche kunstreiche Ausbildung zeigt (ib.).
Ein noch besseres Beispiel für diese Besonderheit des roman-
tischen Stils der Literatur bestand für Friedrich Schlegel aber in
der Prosa des Boccaccio, wie er sie in der Nachricht von den
poetischen Werken des Boccaccio aus dem Jahre 1801 beschrie-
ben hat. In diesem Essay schreibt er der romantischen Poesie die
höchste mögliche Aufgabe zu, nämlich die Schöpfung eines sym-
bolischen Bildes des Lebens und der Existenz. Während Cervan-
tes, Shakespeare und andere romantische Dichter diese Aufgabe
in Angriff nahmen, indem sie sich der objektiven Seite, d. h. der
Unendlichkeit des Lebens und der Natur zuwandten, wählte
Boccaccio, vor allem in den Novellen seines Decamerone, den
entgegengesetzten Weg und konzentrierte sich darauf, „das Sub-
jektive mit tiefster Wahrheit und Innigkeit rein ans Licht zu
stellen "und in „klaren Sinnbildern heimlich anzudeuten", d. h.
auf allegorische Weise darzustellen (KFSA 2, 393). Diese „indi-
rekte Darstellung des Subjektiven" scheint der besondere Charm
seiner Novellen zu sein, und dies „Indirekte und Verhüllte" gibt
seiner Darstellung einen noch höheren Reiz als ihn die „unmit-
telbare lyrische" Art der dichterischen Mitteilung zu verleihen
vermag (KFSA 2, 394). Die „indirekte und verborgene Subjekti-

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132 Antike und Moderne, Klassik und Romantik

vität" dieser Novellen schließt übrigens nicht eine Neigung zum


Objektiven aus, welche sich nicht nur im Anschluß an „das
Lokale und das Kostüm" zeigt, das die Novellen Boccaccios „mit
Genauigkeit bestimmt", sondern ebenfalls in der Sicht des Le-
bens, welche der Dichter durch seine wechselnden Stimmungen
gestaltet.
Schlegel findet diesen Charakterzug der Novelle aber bereits
in ihrem „ursprünglichen Charakter" angelegt. Ihrem Wesen
nach ist die Novelle „eine Anekdote, eine noch unbekannte
Geschichte, so erzählt, wie man sie in Gesellschaft erzählen
würde" (KFSA 2, 394). Das Interesse, das sie erweckt, bezieht
sich nicht „auf den Zusammenhang der Nationen, oder der
Zeiten, oder auch auf die Fortschritte der Menschheit und das
Verhältnis zur Bildung derselben". Die Novelle ist eine Ge-
schichte, die selbst „nicht zur Geschichte gehört, und die Anlage
zur Ironie schon in der Geburtsstunde mit auf die Welt bringt"
(ib.). Ihre hauptsächliche Funktion ist, daß sie „interessieren
soll", und um dies zu erreichen, entfaltet der Autor seine „Kunst
des Erzählens" auf eine solche Weise, daß er uns „mit einem
angenehmen Nichts, mit einer Anekdote, die, genau genommen,
auch nicht einmal eine Anekdote wäre, täuschend zu unterhalten
und das, was im Ganzen ein Nichts ist, dennoch durch die Fülle
seiner Kunst so reichlich zu schmücken weiß, daß wir uns willig
täuschen, ja wohl gar ernstlich dafür interessieren lassen" (ib.).
Eine andere Möglichkeit für einen „künstlichem Erzähler" be-
steht darin, daß er „bekannte Geschichten durch die Art, wie er
sie erzählt und vielleicht umbildet, in neue zu verwandeln
scheine". In jedem der beiden Fälle würden wir dem Autor wohl
nicht „lange mit Interesse zuhören, wenn wir uns nicht für ihn
selbst zu interessieren anfingen". Schlegel sagt: „Man isoliere
diese natürliche Eigenheit der Novelle, man gebe ihr die höchste
Kraft und Ausbildung, und so entsteht jene oben erwähnte Art
derselben, die ich die allegorische nennen möchte, und die we-
nigstens, mag man sie so oder anders bezeichnen sollen, sich
immer als der Gipfel und die eigentliche Blüte der ganzen Gattung
bewähren wird" (KFSA 2, 395).
Durch diese und andere Untersuchungen wurde der Begriff
des Romantischen immer mehr synonym mit dem wahrhaft

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Die Theorie der romantischen Literatur 133

Poetischen und setzte sich von dem früheren Begriff der moder-
nen Poesie ab, der den Gegensatz zur antiken Poesie bezeichnet.
Das Moderne drückt einen bestimmten Typ der Literatur aus,
der in seiner Komposition durchaus kunstvoll und in der Art
seiner dichterischen Gestaltung auch von Reflexion durchdrun-
gen ist, aber den dichterischen Schmelz des Romantischen ver-
missen läßt. Je mehr sich die Brüder Schlegel mit der Erforschung
der romantischen Tradition, insbesondere mit Autoren wie
Dante, Boccaccio, Petrarca, Cervantes, Shakespeare und Calde-
ron beschäftigten, desto anspruchsvoller und exklusiver wurde
ihr Begriff des wahrhaft Poetischen und desto schärfer wurde
die Grenzlinie zwischen dem Romantischen und dem Modernen
in einem allgemeinen Sinne gezogen. Die moderne Literatur
umschloß für sie nicht allein die Autoren des Klassizismus und
der tragedie classique, nicht nur Schriftsteller wie Voltaire und
Pope, sondern bald auch Lessing, wenigstens in seinen drama-
tischen Hervorbringungen (KFSA 2, 335) und sogar Goethe
(KFSA 16, 108, 113, 133; 3, 138).l7
Fragt man aber, worin denn das wahrhaft Romantische im
Gegensatz zum bloß Modernen für die Brüder Schlegel bestanden
hat, dann ist vielleicht keine Qualität bedeutender als ein gewisser
fluoreszierender, scheinender Charakter des literarischen Werkes,
mit dem es den notwendigerweise begrenzten Umkreis der
menschlichen Sprache transzendiert und einen Ausblick in das
Unendliche gewährt. Tatsächlich scheint dieser Bezug zum Un-
endlichen den Unterschied zwischen der romantischen und mo-
dernen Literatur zu bezeichnen, insofern die moderne in zwar
höchst kunstvoller Weise auf die Sphäre des menschlichen Sub-
jekts beschränkt ist, wogegen die romantische die bloß mensch-
liche Welt übersteigt und ein Bild „von dem unendlichen Spiele
der Welt" erschafft (KFSA 2, 324). Dies bedeutet kein Nachlassen
im strengen Gestaltungswillen strukturaler „Verknüpfung", wie
er im Rahmen der griechischen Poesie als Prinzip der Dichtung
aufgestellt worden war, sondern fügt diesem eine neue Dimension

Der Roman Heinrich von Ofterdingen des Novalis ist im Gcgenwurf


gegen diesen als unromantisch empfundenen Charakter des Wilhelm
Meister konzipiert: Siehe Kapitel VIII, 3.

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134 Antike und Moderne, Klassik und Romantik

hinzu. „Gebildet ist ein Werk," sagt Friedrich Schlegel, „wenn


es überall scharf begrenzt, innerhalb der Grenzen aber grenzenlos
und unerschöpflich ist, wenn es sich selbst ganz treu, überall
gleich, und doch über sich selbst erhaben ist" (KFSA 2, 215). Die
Charakterisierungen von Cervantes und Boccaccio haben dies
von der objektiven und von der subjektiven Seite völlig klarge-
stellt. Diese Beziehung zum Unendlichen ist auch nicht in einem
religiösen Sinne zu verstehen und verbleibt völlig innerhalb des
„ästhetischen Horizonts", der früher als einziger Horizont für
den Dichter bestimmt worden war (KFSA l, 328-29). Jedoch
verspürt man in diesen Ausblicken auf eine „absolute" oder
„reine" Poesie eine Tendenz, welche die Grenzen der traditio-
nellen Welt des Subjekts aufbricht und Züge einer Modernität
von bislang nicht gekannter Dionysischer Mächtigkeit einführt.

3. Die „Botschaft der deutschen Romantik an Europa"

Auf der Grundlage dieser Vorarbeiten hat August Wilhelm Schle-


gel die Unterscheidung des Klassischen und Romantischen zum
Gegenstand einer eingehenden Analyse gemacht, als er im Herbst
1803 in Berlin den dritten Zyklus seiner Vorlesungen über schöne
Literatur und Kunst aufnahm, der unter dem Titel Die roman-
tische Literatur steht. Indem er zu Anfang dieser Darlegungen
die Bezeichnungen moderne und romantische Literatur noch als
beinahe gleichbedeutend verwendet 18 , nennt er es als einen der
„Hauptpunkte" in seinen und seines Bruders kritischen Schriften,
den „verschiedenen Geist" der klassischen und der „eigentümlich
modernen Poesie", d. h. der romantischen, ja den „zwischen
ihnen obwaltenden Gegensatz" ins rechte Licht gesetzt zu haben
(AWS V 2, 3). Darunter versteht er, daß man bei der Beurteilung
der klassischen und romantischen Literatur „von anders modi-
fizierten Prinzipien ausgehen müsse, um jede ohne Beeinträchti-
gung der ändern anzuerkennen" (ib.).

18
Z. B. die „romantische, d. h. eigentümlich moderne" Literatur: AWS
V 2,4.

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Die „Botschaft der deutschen Romantik an Europa" 135

Auf ähnliche Weise behandelt August Wilhelm Schlegel diesen


Unterschied im ersten Zyklus seiner Berliner Vorlesungen, der
den Titel Die Kunstlehre trägt. Hier sieht er die „Anerkennung
des Gegensatzes zwischen dem modernen und antiken Ge-
schmack" als „wesentlich" für die gesamte Kunstgeschichte Eu-
ropas an. Im Zeitalter Ludwigs XIV („la bataille des anciens et
des modernes") stritt man lediglich um „Vorzüge" und hielt die
alte und die moderne Literatur „nur dem Grade nicht der Art
nach verschieden" (AWS V l, 195). Man verglich auch gewöhn-
lich „nur solche Autoren mit den Alten, die sich ganz nach dem
klassischen Altertum gebildet hatten" (Corneille, Racine, Mo-
liere) und überging jene Werke, „welche eigentlich in der Ge-
schichte der modernen Poesie Epoche machen, ihrer ganzen
Richtung, ihrem wesentlichen Streben nach mit den Werken des
Altertums im Kontraste stehen" (Dante, Boccaccio, Calderon,
Shakespeare). Erst „seit kurzem" hat man den „Charakter der
antiken Poesie mit der Benennung klassisch, den der modernen
romantisch bezeichnet" und damit die „große Entdeckung für
die Kunstgeschichte" vollzogen, „daß dasjenige, was man bisher
als die ganze Sphäre der Kunst betrachtete (indem man den Alten
uneingeschränkte Autorität zugestand), nur die eine Hälfte ist"
(ib.). Schlegel sieht es als die Aufgabe der „Theorie" an, diese
„große allgemeine Antinomie des antiken und modernen Ge-
schmacks" zu lösen, indem man zeigt, „daß entgegengesetzte
Dinge in gleicher Dignität stehen, gleiche Rechte haben sollen",
wie auch „unser ganzes Dasein auf dem Wechsel sich beständig
lösender und erneuernder Widersprüche beruht" (AWS V l, 196).
Bedeutende kritische Geister verkannten den eigentümlichen
Charakter der romantischen Poesie und bezweifelten, „ob es
denn wirklich eine romantische, d. h. eigentümlich moderne,
nicht nach den Mustern des Altertums gebildete, und dennoch
nach den höchsten Grundsätzen für gültig zu achtende, nicht
bloß als wilde Naturergießung zum Vorschein gekommene, son-
dern zu echter Kunst vollendete, nicht bloß national und tem-
porär interessante, sondern universelle und unvergängliche Poesie
gebe" (AWS V 2, 4). Das bezieht sich nicht nur auf die verschie-
denen klassizistischen Schulen im Europa des achtzehnten Jahr-
hunderts, sondern sogar auf Winckelmann, der die „eigentüm-

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136 Antike und Moderne, Klassik und Romantik

liehen Schöpfungen der modernen Malerei" verkannte, insofern


er „das Beste in ihr als unvollkommne Annäherung an die An-
tike" mißverstand und „in der bildenden Kunst jeden ändern
Weg, außer dem, welchen die Alten eingeschlagen", entschieden
verwarf. Für viele Schulen der klassizistischen Literaturtheorie
wurde die „Nachfolge und selbst Nachahmung der Klassiker"
als so verbindlich angesetzt, „daß es also keine romantische
Poesie geben sollte, wenn es auch etwas dergleichen gegeben
hätte" (ib.). Jene modernen Kritiker, die man wie Lessing zu den
„wärmeren Verteidigern" der modernen Literatur rechnen kann,
mußten sich wegen Mangels genauer Kenntnisse „hinter dem
unbestimmten Begriff des Genies und seiner Vorrechte zurück-
ziehn" (AWS V 2, 5). Schlegel gesteht zu, daß „unserem Geist
und Gemüt unstreitig die romantische Poesie näher als die klas-
sische" liegt (AWS V 2, 8). An einer anderen Stelle, an der er
von den zwei Hälften der europäischen Poesie, der klassischen
und der romantischen spricht, entwickelt er den Gedanken, daß
die romantische Poesie bislang „nur ein Übergang, ein Werden
sei" und somit „die Zukunft also erst das der antiken Poesie
entsprechende und ihr entgegengesetzte Ganze liefern werde"
(AWS V l, 196). Hier sind die Bestrebungen der Frühromantik
entschieden in die Entwicklung der romantischen Poesie einbe-
zogen.
Die Unterscheidung des Klassischen und Romantischen wurde
von August Wilhelm Schlegel dann in den Wiener Vorlesungen
Über dramatische Kunst und Literatur (1806) in jenen Wendun-
gen ausgeführt, die bald nach der Veröffentlichung dieser Vor-
lesungen und ihren zahlreichen Übersetzungen ein vorherrschen-
des Thema in den literarischen Debatten Europas wurde und
entscheidend zum Selbstverständnis der modernen Dichter bei-
trug. Die Bildung der Griechen war nach Schlegels Ausführungen
„vollendete Naturerziehung", Ausdruck einer „Poetik der
Freude", einer „Vergötterung der Naturkräfte und des irdischen
Lebens". Damit läßt sich ihrer Kultur freilich kein höherer Cha-
rakter zugestehen als der „einer geläuterten, veredelten Sinnlich-
keit" (AWS SW 5, 12-13). Hier war die menschliche Natur
„selbstgenügsam", empfand „keinen Mangel" und strebte „nach
keiner ändern Vollkommenheit, als die sie wirklich durch ihre

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Die „Botschaft der deutschen Romantik an Europa" 137

eigenen Kräfte erreichen konnte" (AWS SW 5, 15). Dieser Zu-


stand änderte sich tiefgreifend mit der Einführung des Christen-
tums, dem „lenkenden Prinzip in der Geschichte der neueren
Völker". Neben dem Christentum ist die Bildung Europas seit
dem Mittelalter durch die „germanische Stammesart der nordi-
schen Eroberer", das „Rittertum" und einen neuen „Geist der
Liebe" bestimmt worden, womit sich „eine begeisterte Huldigung
für echte Weiblichkeit" verband, „die nun erst als der Gipfel der
Menschheit verehrt wurde" (AWS SW 5, 14).19 Schlegel sagt:
„Rittertum, Liebe und Ehre sind nebst der Religion selbst die
Gegenstände der Naturpoesie, welche sich im Mittelalter in
unglaublicher Fülle ergoß, und einer mehr künstlerischen Bildung
des romantischen Geistes voranging" (AWS 5, 15).
In den folgenden Abschnitten arbeitet August Wilhelm Schle-
gel den Unterschied auf direkt kontrastierende Weise heraus. Es
heißt dort: „Die Poesie der Alten war die des Besitzes, die unsrige
ist die der Sehnsucht; jene steht fest auf dem Boden der Gegen-
wart, diese wiegt sich zwischen Erinnerung und Ahndung" (AWS
SW 5, 17). Oder: „Das griechische Ideal der Menschheit war
vollkommene Einheit und Ebenmaß aller Kräfte, natürliche Har-
monie. Die Neueren hingegen sind zum Bewußtsein der inneren
Entzweiung gekommen, welche ein solches Ideal unmöglich
macht; daher ist das Streben ihrer Poesie, diese beiden Welten,
zwischen denen wir uns geteilt fühlen, die geistige und die
sinnliche, miteinander auszusöhnen" (ib.). Oder: „In der grie-
chischen Kunst und Poesie ist ursprüngliche bewußtlose Einheit
der Form und des Stoffes; in der neueren, sofern sie ihrem
eigentlichen Geiste treu geblieben, wird die innigere Durchdrin-
gung beider als zweier Entgegengesetzten gesucht. Jene hat ihre
Aufgabe bis zur Vollendung gelöst; diese kann ihrem Streben ins
Unendliche hin nur durch Annäherung Genüge leisten, und ist
wegen eines gewissen Scheins von Unvollendung um so eher in
Gefahr verkannt zu werden" (AWS SW 5, 17). Schlegels eigene
Einstellung angesichts dieser Unterschiede ist die einer „vermit-

A.W. Schlegel bezieht sich dabei auf die Darstellung der Weiblichkeit
in der bildenden Kunst und der Poesie.

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138 Antike und Moderne, Klassik und Romantik

telnden Kritik" (AWS SW 6, 159), die im Konflikt stehende und


gegensätzliche Geschmacksrichtungen in ihrer Eigenart aner-
kennt und aller wahren Kunst zu ihrem Recht verhilft. In einer
praktischen „Anwendung" dieses Grundsatzes sagt er: „Das Pan-
theon ist nicht verschiedener von der Westminster-Abtei oder der
St. Stephanskirche in Wien, als der Bau einer Tragödie des
Sophokles von dem eines Schauspiels von Shakespeare. Die Ver-
gleichung zwischen diesen Wunderwerken der Poesie und Archi-
tektur ließe sich gar wohl noch weiter durchführen. Aber nötigt
uns denn wirklich die Bewunderung der einen zur Geringschät-
zung der ändern? Können wir nicht zugeben, daß jedes in seiner
Art groß und wunderwürdig, wiewohl dieses ganz etwas anders
ist und sein soll als jenes? Es gelte den Versuch. Die Vorliebe für
das eine oder das andere wollen wir niemandem abstreiten. Die
Welt ist weit, und es kann gar manches darin nebeneinander
bestehen. Aber die einseitige unwillkürliche Vorliebe macht kei-
neswegs den Kunstkenner, sondern im Gegenteil das freie Schwe-
ben über abweichenden Ansichten mit Verleugnung persönlicher
Neigungen" (AWS SW 5, 11 - 12).
In dem Abschnitt „Vom Geist des romantischen Schauspiels",
der aus der „Zusammenstellung der englischen und spanischen
Bühne", d. h. einem Vergleich Shakespeares und Calderons her-
vorgeht, ist August Wilhelm Schlegel noch einmal auf die Be-
stimmung des Romantischen zurückgekommen und hat diese
vom Gesichtspunkt des Dramas aus ergänzt. Hier vertritt er die
Ansicht, „daß der unvergängliche, aber gleichsam durch ver-
schiedne Körper wandernde Geist der Poesie, so oft er sich im
Menschengeschlechte neu gebiert, aus den Nahrungsstoffen eines
veränderten Zeitalters sich auch einen anders gestalteten Leib
zubilden muß" (AWS SW 6, 157-58). Kunstrichter, die von der
Annahme ausgehen, „daß in der Poesie wie in allen übrigen
Künsten kein Heil zu hoffen sei, außer auf dem Wege der Nach-
ahmung", müssen die dramatischen Schöpfungen Shakespeares
und Calderons konsequenterweise als „lauter regellose Werke"
ansehen, „die durch einzelne schöne Züge glänzen mögen, an
denen aber die barbarische Formlosigkeit des Ganzen immer
verwerflich bleibe" (AWS SW 6, 156). Selbstverständlich sollte
man zugeben, daß diese dramatischen Werke „im Sinne der Alten

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Die „Botschaft der deutschen Romantik an Europa" 139

weder Tragödien noch Komödien" sind. Man sollte aber ebenso


darauf bestehen, daß es eine „ganz unbefugte Anwendung von
dem Ansehen des klassischen Altertums" ist, wenn man „die
neuen Dichtarten mit den alten Gattungsnamen belegt". Schlegel
bezeichnet demnach die Werke der englischen und spanischen
Nation, die für ihn ein „durchaus originales, nationales, und in
seiner eigenen Gestalt zu einer festen Ausbildung gediehenes
Theater" darstellen (AWS SW 6, 155), als „romantische Schau-
spiele" (AWS SW 6, 158).
Die Eigenart dieser Werke besteht aber nicht allein „in der
kühnen Vernachlässigung der Einheiten von Ort und Zeit" oder
in der „Vermischung komischer und tragischer Bestandteile",
womit lediglich „verneinende Eigenschaften", d. h. nicht den
Regeln folgende Besonderheiten genannt wären. Vielmehr muß
der besondere Charakter dieser Dramen „weit tiefer im innersten
Gehalt dieser Dichtungen" erkannt werden, nämlich „im Geist
der romantischen Poesie, dramatisch ausgesprochen", so daß
„jene abweichende Form ein wahres Erfordernis wird, die mit
ihrer Gültigkeit zugleich ihre Bedeutung erhält" (AWS SW 6,
160). Diesen „Geist der romantischen Poesie" arbeitet Schlegel
wiederum auf kontrastierende Weise heraus, indem er ihn dem
Geist der alten Poesie entgegenstellt, wobei das Augenmerk aber
nun besonders auf das Drama gerichtet ist. Er sagt: „Die antike
Kunst und Poesie geht auf strenge Sonderung des Ungleicharti-
gen, die romantische gefällt sich in unauflöslichen Mischungen;
alle Entgegengesetzten: Natur und Kunst, Poesie und Prosa, Ernst
und Scherz, Erinnerung und Ahndung, Geistigkeit und Sinnlich-
keit, das Irdische und Göttliche, Leben und Tod, verschmelzt sie
auf das innigste miteinander" (AWS SW 6, 161). Die alte Kunst
und Poesie erscheint als „ein rhythmischer Nomos, eine har-
monische Verkündigung der auf immer festgestellten Gesetzge-
bung einer schön geordneten und die ewigen Urbilder der Dinge
in sich abspiegelnden Welt". Die romantische ist demgegenüber
„Ausdruck des geheimen Zuges zu dem immerfort nach neuen
und wunderbaren Geburten ringenden Chaos, welches unter der
geordneten Schöpfung, ja in ihrem Schöße sich verbirgt" (ib.).
Indem Schlegel näher auf das Drama eingeht, vergleicht er die
antike Tragödie mit einer Gruppe in einer Skulptur: „die Figuren

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140 Antike und Moderne, Klassik und Romantik

entsprechen dem Charakter, ihre Gruppierung der Handlung,


und hierauf ist, als auf das einzige Dargestellte, die Betrachtung
bei beiden Arten von Kunstwerken ausschließlich gerichtet". Das
romantische Schauspiel erscheint dagegen „als ein großes Ge-
mälde, wo außer der Gestalt und der Bewegung in reicheren
Gruppen auch noch die Umgebung der Personen mit abgebildet
ist" (AWS SW 6, 162). Der „eigentliche Zauber" dieser maleri-
schen Darstellungsweise liegt darin, „daß sie an körperlichen
Gegenständen sichtbar macht, was am wenigsten körperlich ist,
Licht und Luft". Das romantische Drama befriedigt damit „die
unbewußten Forderungen der Phantasie, vertieft uns in Betrach-
tungen über die unaussprechliche Bedeutung des durch Anord-
nung, Nähe und Ferne, Kolorit und Beleuchtung harmonisch
gewordnen Scheines, und leiht gleichsam der Aussicht eine Seele"
(AWS SW 6, 163). Aus dieser „theatralischen Perspektive" erge-
ben sich für Schlegel einige Besonderheiten im romantischen
Drama, die seiner Ansicht nach „nicht etwa bloße Lizenzen,
sondern wahre Schönheiten" sind. Diese bestehen im „Wechsel
der Zeiten und Örter", im „Konstrast von Scherz und Ernst"
und in der „Mischung der dialogischen und lyrischen Bestand-
teile, wodurch der Dichter es in der Gewalt hat, seine Personen
mehr oder weniger in poetische Naturen zu verwandeln" (ib.).
Als diese Vorlesungen 1811 in drei Bänden erschienen, stand
ihnen eine außerordentlich günstige Aufnahme vor allem im
Ausland bevor. Mit ihren geschmeidigen Formulierungen und
dem sich bewußt an ein größeres Publikum wendenden Stil
erschlossen sie die frühromantische Doktrin einem breiten Le-
serkreis weit über Deutschland hinaus, so daß man das Werk
ohne Übertreibung die „Botschaft der deutschen Romantik an
Europa" genannt hat. 20 1814 erschien die französische Überset-
zung, die zusammen mit Frau von Staels De l'Allgemagne ent-
scheidend zum Ausbruch der klassisch-romantischen Kontro-
verse in Frankreich beitrug. Im Journal des Debats las man bald
danach: „Voila la guerre civile decidement allumee dans tous les

20
Josef Körner, Die Botschaft der deutschen Romantik an Europa
(Augsburg: Filser 1929).

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Die „Botschaft der deutschen Romantik an Europa" 141

Etats d'Apollon. Les deux partis sont en presence."21 Schlegel


wurde als der „Domitian der französischen Literatur" bezeichnet,
der das Haupt des Klassizismus „mit einem einzigen Streiche
abzuschlagen" wünschte (AWS SW 7, XXIII). 1815 war die
englische Übersetzung auf dem Markte, die ebenfalls in Nord-
amerika Verbreitung fand. Coleridge lehnte sich in seinen Shake-
speare-Vorlesungen so eng an diese an, daß man ihn des Plagiats
bezichtigte22, James Mackintosh begrüßte Schlegel als „our Na-
tional Critic", (AWS SW 7, 286), und Edgar Allan Poe entwickelte
wichtige Gesichtspunkte seiner ästhetischen Theorie unter dem
Einfluß dieser Vorlesungen.23 Die italienische Übersetzung er-
schien 1817 in Mailand und wurde sofort ein wichtiger Bestand-
teil der dortigen klassisch-romantischen Debatte.24 In Spanien
und Portugal sind keine eigenen Übersetzungen erschienen. Hier
wurden aber die Schlegelschen Argumente durch Nikolaus Bohl
von Faber verbreitet. 25 Die holländische Übersetzung von 1810
kam nicht über den ersten Band hinaus. In den skandinavischen
Ländern wurden die Vorlesungen auf Deutsch nach einem Upp-
saler Nachdruck rezipiert. In den slawischen Nationen wirkten
sich Schlegels Vorlesungen nach Josef Körner aber „im höchsten
Sinne als epochemachend aus."26 Die polnische Übersetzung er-
schien 1830 in Warschau, kam aber nicht über den ersten Band
hinaus, nachdem der Text schon lange vorher in seiner deutschen

21
Rene Bray, Chronologie du romantisme (Paris 1932), 10.
22
Siehe Rene Wellek, A History of Modern Criticism, Bd. 2 (New
Haven: Yale University Press 1955), 152.
23
Margaret Alterton, Origins of Poe's Critical Theory (University of
Iowa Studies: Humanistic Studies II, 3, 1925).
24
Siehe die umfassende Einleitung von Giovanni Vittorio Amoretti zu
dessen Ausgabe von August Wilhelm von Schlegels Vorlesungen über
dramatische Kunst und Literatur, 2 Bde. (Bonn: Schroeder 1923),
Bd. l, IX-CVII.
15
Johann Dornhof, J.N. Bohl von Faber (Hamburg 1925); C. Pitollet,
La quereile Calderonienne de J.N. Bohl von Faber et ].]. de Mora
(Paris 1909); Josef Körner, „J.N. Bohl von Faber und A.W. Schlegel",
Die neueren Sprachen (1929).
26
Siehe zum folgenden Josef Körner, Die Botschaft der deutschen
Romantik an Europa, 73 — 74.

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142 Antike und Moderne, Klassik und Romantik

Fassung rezipiert worden war. Die russische Romantik steht nach


Körner „am stärksten unter der Einwirkung des Schlegelschen
Buchs". Puschkin benutzte 1824 die französische Übersetzung bei
der Erarbeitung seines Dichtungsbegriffs. Schewyrjew erklärte:
„Bei uns vollbrachte August Schlegel zum Teil dasselbe, was
Lessing in Deutschland tat, d. h. er befreite uns von der Herr-
schaft der Gallier." Der 1827 begründete Moskauer Bote sah
Schlegel in allen Fragen der Ästhetik als die eigentliche Autorität
an. 27

27
Siehe Josef Körner, 74.

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