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VI.

Wackenroders und Tiecks Kunsttheorie

Wackenroder und Tieck waren Jugendfreunde, die beide aus


Berlin stammten und ihre Schulausbildung auf dem Werderschen
Gymnasium erhalten hatten. Tieck war der vielseitigste Dichter
und Erzähler der Frühromantik. Bereits im Jahre 1797, noch
ohne ihn zu kennen, hatte August Wilhelm Schlegel Tiecks Ritter
Blaubart und Der gestiefelte Kater, die unter dem Pseudonym
Peter Leberecht erschienen waren, in der ALZ mit großer An-
erkennung rezensiert. Gleich in den ersten Zeilen hatte er den
Autor als einen „Dichter im eigentlichen Sinne", als „dichtenden
Dichter" bezeichnet, der es vermochte, einen „unscheinbaren
Stoff zu einer ausführlichen dramatischen Darstellung zu entfal-
ten" und dem „luftigen Nichts eine örtliche Wohnung" zu geben
(AWS SW 11, 136). Tieck wurde am 31. Mai 1773 in Berlin als
Sohn eines Seilermeisters geboren. Die Mutter war von frommer
Gläubigkeit, der Vater durch einen praktischen Wirklichkeitssinn
bestimmt, aber Tieck setzte sich über all dies schnell hinweg, als
er mit neun Jahren auf das Friedrichs-Werdersche Gymnasium
ging und seine frühen Talente für das Schreiben, Theaterspielen
und Rezitiern entfaltete. Bereits in diesen Jahren las Tieck er-
staunlich viel Literatur und befaßte sich mit Goethe, Shakespeare
in der Eschenburgschen Übersetzung, Don Quijote in der Über-
setzung von Bertuch, den Lustspielen von Holberg, Schillers
Räubern und vielem mehr. Dazu trat eine große Theaterleiden-
schaft, als Tieck bei Johann Friedrich Reichardt eingeführt
wurde, in dessen Haus neben Musikern und Schriftstellern auch
die großen Schauspieler Berlins verkehrten. Bei gelegentlichen
Liebhaberaufführungen fiel Tiecks großes Schauspielertalent auf,
das sich unter anderem auch in der später vielfach gerühmten
Vortragsstimme äußerte. In Reichardts Haus begegnete Tieck
auch Amalie Alberti, einer jungen Schwester von Reichardts
Frau, die seine Jugendgeliebte wurde und die er 1799 heiratete.

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Wackenroders und Tiecks Kunsttheorie 165

Im Alter von sechzehn Jahren verfaßte Tieck nach dem Vorbild


Shakespeares dramatische Szenen unter dem Titel Die Sommer-
nacht und das Schauspiel Almaddin als Ausdruck reiner Phan-
tastik. Er schrieb auch eine große Anzahl melodramatischer
Schauergeschichten, oft als bloße Fortsetzungen von Folgen, die
seine Lehrer am Werderschen Gymnasium, Friedrich Eberhard
Rambach und August Ferdinand Bernhardi, in Zeitschriften be-
gonnen hatten, um sich zusätzliches Geld zu verdienen und zu
deren Weiterführung sie Tieck anheuerten. Durch diese Tätigkeit,
die wenig mehr als Textproduktion für ein an Unterhaltung
interessiertes Lesepublikum war, erlernte Tieck bereits in frühem
Lebensalter das geläufige Schreiben. Nachdem Tieck und Wak-
kenroder ihre Gymnasialzeit abgeschlossen hatten, sollte sich der
Freund auf Wunsch seines Vaters ein Jahr lang in Berlin auf das
juristische Studium vorbereiten, wohingegen Tieck bereits das
Studium in Halle bei F.A. Wolf aufnahm. Jedoch vermochte ihn
die trockene und pedantische Atmosphäre dieser Universität
nicht zu befriedigen, und er wechselte an die Universität Göttin-
gen über, die für das Studium der Literatur damals zweifellos
die beste Institution war. Hier befaßte er sich vor allem mit der
englischen Literatur (Shakespeare und Ben Jonson) und spani-
schen Autoren. Tieck wurde später ebenfalls ein bedeutender
Übersetzer, der die Shakespeare-Übersetzung August Wilhelm
Schlegels weiterführte und eine neue Übersetzung des Don Qui-
jote erstellte.
Als Wackenroder im Sommer 1773 seine Studien in Erlangen
aufnahm, folgte ihm Tieck nach, obwohl dies vom Gesichtspunkt
der Universität ein Abstieg für ihn war, der aber durch die
landschaftlichen und kunstgeschichtlichen Erfahrungen reichlich
aufgewogen wurde. Für Wackenroder wurde diese Zeit der Anlaß
zu den Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders,
während Tieck durch diese Erlebnisse zu dem Roman Franz
Sternbalds Wanderungen geführt wurde. Zum Wintersemester
gingen die beiden Freunde an die Universität Göttingen, wo Tieck
sein Studium Shakespeares weiterführte. Im Herbst 1794 waren
Tieck und Wackenroder wieder in Berlin. Wackenroder trat eine
Verwaltungslaufbahn an, und Tieck nahm die Tätigkeit als freier
Schriftsteller auf, die unter anderem zu dem Roman Geschichte

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166 Wackenroders und Tiecks Kunsttheorie

des Herrn William Lovell (1795 — 96), den Volksmärchen von


Peter Leberecht (1797), Prinz Zerbino, oder die Reise nach dem
guten Geschmack (Jena 1799), sowie den Romantischen Dich-
tungen (1799—1800) führte, die das Trauerspiel Leben und Tod
der heiligen Genovefa enthielt. Tieck war außerordentlich gut
belesen, besaß einen scharfen Geist und ein schnelles Verständ-
nisvermögen, hatte aber keine theoretischen Neigungen. Als er
im Sommer 1799 in den Jenaer Kreis der Frühromantiker eintrat,
schloß er sich am engsten an Novalis an. Er arbeitete sein Leben
lang an einem umfassenden Werk über Shakespeare, das er aber
nie abschloß.1 In seinem späteren Leben zog er nach Dresden,
wo er als Direktor des Hoftheaters seine einflußreiche Tätigkeit
als Erzähler, vor allem in der Gattung der Novelle, fortsetzte.
Unterstützt von seiner Tochter Dorothea und deren Mann Wolf
Graf von Baudissin vervollständigte er die Shakespeare-Überset-
zung August Wilhelm Schlegels, wobei er freilich die früheren
Fassungen seines Freundes veränderte. Tieck starb im Jahre 1853
im Alter von 79 Jahren.
Wilhelm Heinrich Wackenroder wurde 1793, im selben Jahr
wie Tieck, in Berlin als Sohn einer angesehenen Familie geboren.
Der Vater hatte sich im siebenjährigen Krieg Verdienste um die
Stadt erworben, als diese von den Russen besetzt war, und war
ein Bewunderer Friedrichs II., dessen Pflichtbewußtsein und
Staatsverehrung er teilte. Er legte Wert darauf, daß auch sein
Sohn in den Verwaltungsdienst eines Preußischen Beamten ein-
trat. Wackenroder zeigte schon früh eine musikalische Begabung,
und seine Neigung zu den Künsten wurde durch die Freundschaft
mit Tieck noch gefördert. Der Antagonismus von künstlerischem
und praktischem Leben ist in der Literatur häufig bei Wacken-
roder betont, ja überbetont worden, indem man sogar seinen
frühen Tod davon herleitete. Diese Ansicht läßt sich aber nur
schwer mit den Fakten seiner Biographie vereinbaren. Jedoch
hat Wackenroder diesen Konflikt, der ein beliebtes Thema der
Literatur des neunzehnten Jahrhunderts wurde und noch für den

1
Ludwig Tieck, Das Buch über Shakespeare. Handschriftliche Auf-
zeichnungen. Herausgegeben von Henry Lüdeke (Halle: Niemeyer
1920).

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Wackenroders und Tiecks Kunsttheorie 167

frühen Thomas Mann eine große Rolle spielte, in seinen Schriften


bereits deutlich zum Ausdruck gebracht.
Im Sommer 1793 nahm Wackenroder sein Studium gemein-
schaftlich mit dem Jugendfreund Tieck in Erlangen auf. Die
Bekanntschaft mit der bayerischen Landschaft, den Kunstgegen-
ständen und barocken Gebäuden dieser Gegend wurde die große
Erfahrung dieser Zeit und eröffnete den beiden Berlinern eine
neue Welt. Sie besuchten die Kathedrale von Bamberg, die Ge-
mäldegalerien von Schloß Pommersfelden, Nürnberg als ehe-
maliges Zentrum der altdeutschen Kunst, sowie die Gegenden
von Bayreuth, Böhmen und des Fichtel-Gebirges. Im Winterse-
mester setzten die Freunde ihr Studium in Göttigen fort, wo
Wackenroder neben der Jurisprudenz altdeutsche Literatur,
Kunstgeschichte bei Johann Dominique Fiorillo und Musikge-
schichte bei Johann Nikolaus Forkel studierte. Alle diese Studien
waren für die Herzensergießungen von Bedeutung. In Göttingen
studierte Wackenroder ebenfalls Giorgio Vasaris Leben der her-
vorragendsten Maler, Bildhauer und Architekten.
Wackenroder begann die Arbeit an seinem Manuskript kurz
nach seiner Rückkehr nach Berlin, als er in den Verwaltungs-
dienst eingetreten war. Niemand wußte davon, und von dieser
Zeit ist nur wenig bekannt. Er zeigte es Tieck, als sie sich auf
einer Reise nach Dresden befanden, aber es wurde erst nach
seinem Tod von Tieck herausgegeben. Als Friedrich Schlegel im
Sommer 1797 nach Berlin zog, schrieb er seinem Bruder, daß
Wackenroder ihm „der liebste aus dieser ganzen Kunstschule"
sei, wobei er hinzufügte: „Er hat wohl mehr Genie als Tieck;
aber dieser gewiß weit mehr Verstand" (KFSA 24, 41), was sich
auf das Fehlen der Welterfahrung bei dem einen und das Über-
maß davon bei dem anderen bezieht. Am 18. Dezember 1797
berichtete er seinem Bruder: „Wackenroder ist sehr krank ge-
wesen, aber jetzt wieder außer Gefahr" (KFSA 24, 66). Darauf
folgte am 17. Februar 1798 ziemlich unvermittelt" und zwischen
einer Fülle von anderen Nachrichten eingepreßt die knappe Mit-
teilung: „Wackenroder ist gestorben. Er hatte ein Faulfieber, ist
dann mehrere Monate melancholisch gewesen, oder wie andere
sagen rasend" (KFSA 24, 89). In Tiecks Lebenserinnerungen heißt
es darüber:

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168 Wackenroders und Tiecks Kunsttheorie

Er war zerfallen mit sich und seiner Art zu sein, der Gegenwart
überdrüssig, ohne Hoffnung für die Zukunft. Leicht würde eine zarte
Natur wie die seine Schwereres ertragen haben, wenn sie sich einig
geworden wäre; an diesem quälenden Widerspruch ging sie zu
Grunde. Seine Gesundheit wankte; er kränkelte, es entwickelte sich
ein Nervenfieber. Am 13. Februar 1798 starb er fünfundzwanzig Jahre
alt. Es war ihm gegeben, unter Kampf und Streit die höchsten Ent-
zückungen der Kunst in sich zu erleben, er hatte sie ausgesprochen,
dann war er gestorben. Sein Leben war ein kurzes, aber darum nicht
schmerzenfreies; doch war es still, rein und voll künstlerischen Glau-
bens gewesen, wie das jener alten Meister, von deren Bild seine Seele
erfüllt war.2

1. Der Begriff der Kunst in den Herzensergießungen

In den kritischen Schriften von Wackenroder und Tieck wird die


Kunst nicht wie bei den Jenaer Frühromantikern am Modell der
Poesie entwickelt, sondern ist vorherrschend durch das Vorbild
der Malerei und der Musik bestimmt. Diese Ausrichtung wurde
hauptsächlich durch Wackenroder eingeleitet, dem Tieck auf
diesem Gebiet bis zu einem gewissen Grade folgte und dann
dieser Tendenz am erfolgreichsten in seinem Roman Franz Stern-
balds Wanderungen Ausdruck gab. Ursprünglich kam dieser
Impuls von einem kleinen, anspruchslosen Buch mit dem son-
derbaren Titel Herzensergießungen eines kunstliebenden Klo-
sterbruders. Zur Zeit seines Erscheinens im Jahre 1797 war der
Autor, Wackenroder, bereits verstorben. Aus Respekt vor dem
Vater, der das Schriftstellertum seines Sohnes mißbilligt haben
würde, hatte Tieck den Text anonym veröffentlicht. Der Titel
wurde von Johann Friedrich Reichardt formuliert, als er einen
Vorabdruck daraus in seiner Zeitschrift Deutschland veröffent-

2
Ludwig Tieck. Erinnerungen aus dem Leben des Dichters nach dessen
mündlichen und schriftlichen Mitteilungen. Herausgegeben von Ru-
dolf Köpke, 2 Bde. (Leipzig: Brockhaus 1855) l, 224.

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Der Begriff der Kunst in den Herzensergießungen 169

lichte.3 Die erste Auflage enthielt auch einige Zusätze von Tieck,
wobei es sich um die Abschnitte An den Leser dieser Blätter,
Sehnsucht nach Italien, Ein Brief des jungen Florentinischen
Malers Antonio an seinen Freund Jacobo in Rom und Brief eines
jungen deutschen Malers in Rom an seinen Freund in Nürnberg
handelt.
Wenn man sich allein auf Wackenroders Text konzentriert
und die von Tieck stammenden Stücke nicht berücksichtigt,
zeigen die Herzensergießungen eine strukturierte Komposition.
Von den 14 einzelnen Abschnitten bildet der siebte, Ehrenge-
dächtnis unsers ehrwürdigen Ahnherrn Albrecht Dürers, das
Zentrum. Er wird von zwei Abschnitten umgeben, die ebenfalls
eine zentrale Stellung für die hier dargestellte Kunstwelt haben:
Einige Worte über Allgemeinheit, Toleranz und Menschenliebe
und Von zwei wunderbaren Sprachen, und deren geheimnisvoller
Kraft. Die erste Hälfte besteht hauptsächlich aus Erzählungen
über italienische Maler, die mit Raffael, dem Künstler höchsten
Grades, den Anfang machen. Die folgenden zeigen weitere Ver-
wirklichungen der Malerkunst. Unmittelbar vor dem Abschnitt
Einige Worte über Allgemeinheit, Toleranz und Menschenliebe
gibt Wackenroder zwei Gemäldebeschreibungen: Die heilige
Jungfrau mit dem Christuskinde; und der kleine Johannes und
Die Anbetung der drei Weisen aus dem Morgenlande. Offenbar
nimmt der Klosterbruder an, daß die Schönheit dieser Gemälde
durch eine Prosadarstellung beleidigt würde und verwendet des-
halb einfache Verse, die den Stil alter Chronikenschreiber nach-
zuahmen suchen. Nach der zentralen Sektion über Dürer fährt
der Text mit Erzählungen über italienische Maler fort, bei denen
diesmal Michelangelo eine ausgezeichnete Stellung einnimmt. Die
Bildnisse der Maler bringt einen Vergleich von Gemälden der
Künstler Leonardo da Vinci, Dürer, Michelangelo und Raffael,

3
Es handelt sich um den Vorabdruck des Abschnitts Ehrengedächtnis
unsers ehrwürdigen Ahnherrn Albrecht Dürers, den Reichardt mit
dem Zusatz veröffentlichte: Vo« einem kunstliebenden Klosterbruder.
Die Bezeichnung Klosterbruder wurde Lessings Nathan der Weise
entlehnt. Der Begriff Herzensergießungen wurde bei der Buchveröf-
fentlichung wahrscheinlich von Tieck hinzugefügt.

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170 Wackenroders und Tiecks Kunsttheorie

der wiederum in Versen verfaßt ist. Die Malerchronik beschließt


die Behandlung der Malerei und führt neben einer großen Anzahl
italienischer Maler den französischen Zeichner und Graphiker
Jacques Callot ein. Indem er sich den „gegenwärtigen Zeiten"
(WA, 130) zuwendet, zeigt der Klosterbruder mit Das merkwür-
dige musikalische Leben des Tonkünstlers Joseph Berglinger
einen neuen Aspekt der Kunst, die Musik. Man könnte die
Anordnung mit der Struktur eines alten Altaraufsatzes verglei-
chen. Der Hauptunterschied besteht darin, daß die Abfolge der
Heiligen und Propheten auf der linken und der rechten Seite hier
durch Künstler repräsentiert ist und das Zentrum nicht in Chri-
stus, sondern in Dürer besteht.
Bei der Ausarbeitung der einzelnen Teile benutzte Wacken-
roder die Lebensbeschreibungen berühmter italienischer Künst-
ler, die Giorgio Vasari im sechzehnten Jahrhundert zusammen-
gestellt hatte.4 Vasari lieferte das Material für die sieben Ab-
schnitte mit besonderen Ereignissen im Leben von Raffael, Fran-
cesco Francia, Pietro di Cosimo, Michelangelo und einigen we-
niger bekannten Künstlern, die in Die Malerchronik erscheinen.
Die Art und Weise, wie Wackenroder die Sammlung Vasaris
verwandte, ist höchst aufschlußreich. Von dem gewöhnlich sehr
umfangreichen Material zu einzelnen Künstlern konzentriert er
sich meist nur auf einen Punkt und läßt alles übrige aus. Er
übergeht auch die historischen Einrahmungen dieser Berichte wie
„Es wird berichtet", um eine größere Unmittelbarkeit zu erzielen.
Er vermeidet ferner biographische Darstellungen und zieht nur
sehr selten einzelne Kunstwerke in Betracht, die bei Vasari eine
große Rolle spielen. In den Abschnitten, die Dürer und der
deutschen Malerschule gewidmet sind, folgt Wackenroder der
Dürer-Biographie von Joachim von Sandrart. 5 Die Herzensergie-
ßungen erweisen sich in jeder Hinsicht als ein höchst bewußt
komponiertes literarisches Werk.

4
Giorgio Vasari, Vite de' piü eccelenti pittori, scultori ed architetti
(Florenz: Giunti 1550).
5
Joachim von Sandrart, Deutsche Akademie der edlen Bau-, Bild- und
Malerkünste, 2 Bde. (Nürnberg: Sandrart 1675-1679).

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Der Begriff der Kunst in den Herzensergießungen 171

Die zentrale Gestalt dieser Schrift, der Klosterbruder, ist im-


mer gern mit Wackenroder selbst identifiziert worden. In der
kritischen Literatur über die Herzensergießungen liest man von
Wackenroders „gläubigem Idealismus", seiner „reinen Begeiste-
rung", seinen „begeisterten Gefühlen für das Göttliche und
Schöne", seiner „reinen und keuschen Verehrung für die Kunst". 6
Man vergißt allzu leicht, daß man nicht von Wackenroder, son-
dern von seiner Schöpfung, dem Klosterbruder spricht. Die
Herzensergießungen werden auf diese Weise nicht als Mitteilung
eines Schriftstellers, sondern als „Glaubensbekenntnis", als
„Evangelium" genommen und als Wahrheitsverkündigung ver-
standen. Der Klosterbruder ist dann keine Maske Wackenroders,
sondern seine direkte Verkörperung. Tiecks Beiträge, so auch
bereits der einführende Abschnitt An den Leser dieser Blätter,
zeigen eine Reflexionshöhe, die mit der Schlichtheit der anderen
Teile im Kontrast steht und den Eindruck eines Stilbruchs ver-
mittelt. Die folgende Sektion, Sehnsucht nach Italien, ist mit
ihrem Übergang in lyrische Poesie so grundverschieden, daß
Tieck diese Diskrepanz selbst bemerkte und damit zu erklären
suchte, daß sie in der „frühen Jugend" des Klosterbruders nie-
dergeschrieben wurde (WA, 59). Der Brief des jungen Florenti-
nischen Malers Antonio an seinen Freund Jacobo in Rom gehört
bereits dem Kontext von Tiecks Roman Franz Sternbalds Wan-
derungen an und vermittelt mit der katholischen Atmosphäre,
der Messe und der Erhebung der Hostie einen fremdartigen
Eindruck. Diese Beobachtungen haben selbstverständlich ihr Ge-
wicht. Sie sollten aber nicht von der kunstvollen Anlage der
Herzensergießungen durch Wackenroder ablenken, für den dieser
Text eine bestimmte Perspektive auf die Kunst eröffnete, die
durch andere Perspektiven, wie die von Tieck gewählten, zu
ergänzen war, und für den der Klosterbruder eine bestimmte
literarische Funktion hatte.
Von besonderer Bedeutung für Wackenroders Kunstbetrach-
tung im Medium von Anekdoten und Besonderheiten im Leben
der Künstler ist die Marienvision, die Raffael an der Wand seines

6
Rudolf Haym, Die romantische Schule, 119-128.

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172 Wackenroders und Tiecks Kunsttheorie

Schlafzimmers gehabt haben soll. Der Klosterbruder erfuhr von


dieser Begebenheit, als er den „Schatz von Handschriften in
unserem Kloster" durchsuchte und dabei auf „einige Blätter von
der Hand des Bramante" 7 stieß, auf denen der Vorfall mitgeteilt
ist (WA, 56). Bramante berichtet in diesem Manuskript, wie
Raffael ihm „unter dem Siegel der Verschwiegenheit" anver-
traute, nach welchem Vorbild er seine „über alles schön gemalten
Madonnen" erschuf. Als er in seiner Jugend ein „Gemälde der
heiligen Jungfrau" angefangen hatte, aber von Zweifeln gequält
war, wie er „die Jungfrau Maria recht in ihrer himmlischen
Vollkommenheit" malen solle, sei er mitten in der Nacht von
einem hellen Schein an der Wand aufgewacht und sei gewahr
geworden, „daß sein Bild der Madonna, das, noch unvollendet,
an der Wand gehangen, von dem mildesten Lichtstrahle, und ein
ganz vollkommenes und wirklich lebendiges Bild geworden sei"
(WA, 57).
Die Göttlichkeit in diesem Bilde habe ihn so überwältigt, daß er in
helle Tränen ausgebrochen sei. Es habe ihn mit den Augen auf eine
unbeschreiblich rührende Weise angesehen, und habe in jedem Au-
genblick geschienen, als wolle es sich bewegen; und es habe ihn
gedünkt, als bewege es sich auch wirklich. Was das Wunderbarste
gewesen, so sei es ihm vorgekommen, als wäre dies Bild nun gerade
das, was er immer gesucht, obwohl er immer nur eine dunkle und
verwirrte Ahndung davon gehabt (WA, 57 — 58).
Von nun an war die Erscheinung seinem Gemüt und seinen
Sinnen fest eingeprägt gewesen und es sei ihm gelungen, „die
Mutter Gottes immer so, wie sie seiner Seele vorgeschwebt habe,
abzubilden" (WA, 58).
Mit dieser Begebenheit sollen offenbar die „Begeisterungen
der Dichter und Künstler" erklärt werden, die „von jeher der
Welt ein großer Anstoß und Gegenstand des Streites" gewesen
sind und von denen sich die Menschen die irrigsten Vorstellungen
gemacht haben, vor allem wenn sie diese „mit ihrer ekeln und
profanen Philosophasterei" deuteten. Die „ungläubigen und ver-

7
Bramante, genauer Donato d'Angelo (1444—1514), ein berühmter
italienischer Archtitekt, der ursprünglich ein Maler war.

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Der Begriff der Kunst in den Herzensergießungen 173

blendeten Spötter, welche das Himmlische im Kunstenthusiasmus


mit Hohnlachen gänzlich ableugnen", sollen durch dies Bekennt-
nis Raffaels eines besseren belehrt werden (WA, 55). Der Kunst-
begeisterung soll eine religiöse, christliche Deutung gegeben wer-
den. Jedoch ist darauf zu achten, daß das Religiöse, obwohl es
sich in Sinnbildern des katholischen Christentums ausspricht,
keine konfessionelle Form hat und eine Erfahrungszone bezeich-
net, die jenseits der Rationalität liegt.
Die Begebenheit von Raffaels Erscheinung wird aufschlußrei-
cher, wenn man sie auf ihren historischen und biographischen
Kern hin untersucht. Das zentrale Zitat:
Da man so wenig schöne weibliche Bildungen sieht, so halte ich mich
an ein gewisses Bild im Geiste, welches in meine Seele kommt (WA,
56)
ist nämlich eine Stelle aus einem Brief Raffaels an den Grafen
Castiglione.8 Dieser Brief und diese Stelle fanden in Deutschland
besondere Beachtung, als Johann Joachim Winckelmann in sei-
nen Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke
das Zitat brachte.9 In diesem Kontext bedeutet die Stelle aber,
daß Raffael bei seiner künstlerischen Arbeit nicht auf der Ari-
stotelischen Nachahmungstheorie, sondern der Platonischen In-
spirationstheorie fußte. Winckelmann wollte mit diesem Zitat
insbesondere zeigen, daß Raffael im wahren Geist der Antike
schuf und daß er ein Meister war, der die Ruhe und Stille der
antiken Künstler im modernen Zeitalter hervorzubringen wußte.
Winckelmann erkannte im Antlitz der Sixtinischen Madonna den
glücklichen und göttlichen Frieden antiker Physiognomien wie-
der. 10 Freilich bezieht sich Raffael in seinem Brief an den Grafen
Castiglione nicht auf eine Madonna, sondern auf eine Meeres-
göttin, eine Galatea, die er in der Farnesina, einer prominenten

8
Baldaserre Graf Castiglione (1448 - 1529), ein berühmter italienischer
Staatsmann dieser Zeit.
9
Johann Joachim Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung der
griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, in: Deutsche
Literaturdenkmale, Band 20 (Heilbronn: Henninger 1885).
10
J.J. Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung, 14.

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174 Wackenroders und Tiecks Kunsttheorie

römischen Villa, malte, wie sie in einem von Delphinen gezo-


genen Wagen den schäumenden Ozean durchquert. Das Zitat
besagt in diesem Zusammenhang, daß Raffael dies Bild nach
einem Vorbild, einem Modell zu malen hatte. Da er aber in der
Welt nur selten weibliche Schönheit finden konnte, bediente er
sich eines „gewissen Bildes im Geiste", als er diese Galatea schuf.
Dieser Hinweis erhielt nun durch Wackenroder eine religiöse
und christliche Wendung. August Wilhelm Schlegel erkannte bei
seiner Rezension der Herzensergießungen natürlich sofort diese
Fälschung. Er hatte Wackenroders christliche Neigungen als ge-
schickte Ausdrucksweise über die Kunst in einem Zeitalter in-
terpretiert, das dem künstlerischen Leben entfremdet worden
war, war jedoch der Meinung, daß es für diese Ausdeutung von
Raffaels Worten keinen Grund gäbe (AWS SW 10, 369).
Wackenroders Konzeption der Kunst kommt noch besonders
deutlich in dem Abschnitt Von zwei wunderbaren Sprachen und
deren geheimnisvoller Kraft zum Ausdruck. Dabei handelt es
sich im Gegensatz zu der „Sprache der Worte", die das „Unsicht-
bare, das über uns schwebt", nicht zu fassen vermag, um die
Sprache der Natur und die der Kunst, die beide auf spontane
Weise zu sprechen vermögen. Die erste kommt nur Gott zu, die
andere „nur wenigen Auserwählten unter den Menschen" (WA,
97). Gott hat um den Menschen „eine unendliche Menge von
Dingen umhergestellt, wovon jedes ein anderes Wesen hat, und
wovon wir keines verstehen und begreifen": „Wir wissen nicht,
was ein Baum ist; nicht, was eine Wiese ist, was ein Felsen ist;
wir können nicht in unserer Sprache mit ihnen reden; wir ver-
stehen nur uns untereinander". Hier tritt die Sprache der Kunst
in ihr Recht ein und kommt dem Menschen zu Hilfe. Die „Welt-
weisen", welche diese Geheimnisse aufdecken wollten, sind „irre
gegangen". Der Kunst aber ist „eine wunderbare Kraft auf das
Herz des Menschen eigen":
Sie redet durch Bilder der Menschen, und bedient sich also einer
Hieroglyphenschrift, deren Zeichen wir dem Äußern nach, kennen
und verstehen. Aber sie schmelzt das Geistige und Unsinnliche, auf
eine so rührende und bewundernswürdige Weise, in die sichtbaren
Gestalten hinein, daß wiederum unser ganzes Wesen, und alles, was
an uns ist, von Grund auf bewegt und erschüttert wird (WA, 98).

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Die Seh weise der Malerei 175

Um die Macht dieser Sprache zu illustrieren, verweist der Klo-


sterbruder an dieser Stelle auf ein Gemälde des heiligen Sebastian,
„wie er nackt an einen Baum gebunden steht, ein Engel ihm die
Pfeile aus der Brust zieht, und ein anderer Engel vom Himmel
einen Blumenkranz für sein Haupt bringt". Er sagt dazu: „Diesem
Gemälde verdanke ich sehr eindringliche und haftende christliche
Gesinnungen, und ich kann mir jetzt kaum dasselbe lebhaft
vorstellen, ohne daß mir die Tränen in die Augen kommen"
(WA, 99). Auf mehr theoretische Weise erklärt er diese Wirkung
der Kunstsprache mit den Worten:
Die Lehren der Weisen setzen nur unser Gehirn, nur die eine Hälfte
unseres Selbst, in Bewegung; aber die zwei wunderbaren Sprachen,
deren Kraft ich hier verkündige, rühren unsre Sinne sowohl als unsern
Geist; oder vielmehr scheinen dabei, (wie ich es nicht anders aus-
drücken kann,) alle Teile unsers (uns unbegreiflichen) Wesens zu
einem einzigen neuen Organ zusammenzuschmelzen, welches die
himmlischen Wunder, auf diesem zwiefachen Wege, faßt und begreift
(ib.)·

2. Die Sehweise der Malerei

Wenn man diese Texte auf eine Theorie der Malerkunst hin
durchgeht, kommt freilich herzlich wenig aus ihnen heraus. Meist
beschreibt Wackenroder seine Bewertungen der Kunst und be-
dient sich dabei der Malerei als dem bevorzugten Medium der
Darstellung. Die Perioden, die dabei hervortreten, sind die ita-
lienische Renaissance des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhun-
derts und die sogenannte altdeutsche Schule der Malerei, wie sie
von Albrecht Dürer während desselben Zeitraums repräsentiert
wurde. Wackenroder beschreibt diese Jahrhunderte aber so, als
lägen sie im Mittelalter, d. h. einer Epoche unbezweifelten Glau-
bens und einer ungebrochenen Beziehung mit dem Göttlichen.
Seine Beschreibungen des Ursprungs der Kunst in den großen
Malern dieser Periode nehmen deshalb einen stark religiösen Ton
an, wie dies bereits in seiner Behandlung von Raffaels Brief an
den Grafen Castiglione hervorgetreten ist. Was in den Theorien
der Jenaer Frühromantiker als gestaltende Kraft der schöpfen-

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176 Wackenroders und Tiecks Kunsttheorie

sehen Einbildungskraft erscheint, nimmt in den Darstellungen


des Klosterbruders den Charakter göttlicher Gnade und Offen-
barung an. Wir könnten diese Tendenz als eine Hinneigung zur
Theorie des unbewußten Schaffens a la Schelling interpretieren
und sie der Schlegelschen Konzeption eines künstlerischen, in-
tentionalen Schaffens entgegenstellen. Aber bei näherer Betrach-
tung stellt sich heraus, daß Wackenroders Kunstanschauung nicht
so einfach bestimmt werden kann und ebenfalls die entgegen-
gesetzte Inklination auf handwerkliches Können, Studium, Theo-
rie und Reflexion hin zeigt. Während Raffael den spontanen,
schöpferischen Aspekt der Kunst zu repräsentieren scheint, ste-
hen Michelangelo und noch mehr Leonardo da Vinci für den
gelehrten Künstler. Dürer scheint beide Aspekte zu vereinen. Eine
Anzahl anderer Künstler zeigen verschiedene Nuancen. Am be-
sten läßt sich Wackenroders Standpunkt mit einigen seiner Künst-
lerporträts erläutern.
Wackenroders erster Text, Raffaels Erscheinung, ist dabei von
größter Bedeutung, insofern er uns mit dem konfrontiert, was
der Klosterbruder die „Göttlichkeit der Kunst" (WA, 57) nennt,
d. h. eine Kunst ohne Reflexion, ohne Anstrengung, aber auch
ohne Selbstkritik. Jedoch weist er auch das moderne Gerede über
ein rein künstlerisches Schaffen zurück. Nachdem er die wahre
Bedeutung von Raffaels Worten über das Bild im Geiste enthüllt
hat, fragt sich der Klosterbruder: „Wird man, durch dieses of-
fenbare Wunder der himmlichen Allmacht belehrt, verstehen,
daß seine unschuldige Seele in diesen einfachen Worten einen
sehr tiefen und großen Sinn aussprach? Wird man nun nicht
endlich begreifen, daß all das profane Geschwätz über Begeiste-
rung des Künstlers, wahre Versündigung sei, — und überführt
sein, daß es dabei doch geradezu auf nichts anderes, als den
unmittelbaren göttlichen Beistand ankomme?" (WA, 58).
Leornardo da Vinci repräsentiert eine andere Möglichkeit der
Kunstausübung. Im Unterschied zum göttlichen Begnadetsein
Raffaels kann seine Haltung als „das Muster in einem wahrhaft
gelehrten und gründlichen Studium der Kunst, und als das Bild
eines unermüdlichen, und dabei geistreichen Fleißes" angesehen
werden (WA, 73). Sein Beispiel zeigt, „daß der Genius der Kunst
sich nicht unwillig mit der ernsthaften Minerva zusammen paart"

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Die Sehweise der Malerei 177

(ib.). Durch seine Arbeit zeigte er, daß ein „Maler sich allgemein
machen solle, und nicht alle Dinge nach einem einzigen ange-
wöhnten Handgriff, sondern ein jedes nach seiner besonderen
Eigentümlichkeit darstellen müsse" (WA, 75). Der „forschende
Geist der ernsthaften Wissenschaften" und der „bildende Geist
der Kunst" waren gleicherweise sein Genius (WA, 78). Wacken-
roder bezieht sich auf die „Vorstellung des heiligen Abendmales
in dem Refektorium der Dominikaner zu Mailand" und „das
Bildnis der Lisa del Giocondo" (WA, 79) und ist damit in diesem
Abschnitt spezifischer als in den meisten anderen. Gegen Ende
läßt er den Klosterbruder sich fragen, ob er Leonardo da Vinci
„als den vortrefflichsten, und als das Haupt aller Maler aufstel-
len" wollte (WA, 89). Die Antwort lautet natürlich, „man könne
Geister von sehr verschiedener Beschaffenheit, die beide große
Eigenschaften haben, beide bewundern". Jedoch ist die Antwort
nicht so leicht, weil wenn das „Losungswort Schönheit" ertönt,
unser Geist spontan und unwillkürlich reagiert. Wenn Leonardo
und jener andere Maler, den der Klosterbruder „der Göttliche"
nennt, in einen Vergleich treten, setzen sich spontane Bevorzu-
gungen in Bewegung. Der Abschnitt schließt mit den Worten:
„Dergleichen Phantasien, die uns in den Sinn kommen, verbreiten
oftmals auf wunderbare Weise ein helleres Licht über einen
Gegenstand, als die Schlußreden der Vernunft; und es liegt neben
den sogenannten höheren Erkenntniskräften ein Zauberspiegel
in unsrer Seele, der uns die Dinge manchmal vielleicht am kräf-
tigsten dargestellt zeigt" (WA, 81).
Der Abschnitt Einige Worte über Allgemeinheit, Toleranz und
Menschenliebe in der Kunst bestätigt dies Ergebnis aus einer
anderen Betrachtungsweise. Der Schöpfer dieser Welt vermag
mit einem Blick die unendlich verschiedenartigen Erscheinungen
in seiner Schöpfung zu umfassen. Er hört die Menschen „in
verschiedenen Zonen und in verschiedenen Zeitaltern verschie-
dene Sprachen reden, und hört, wie sie miteinander streiten und
sich nicht verstehen", wohingegen sich ihm „alles in Harmonie"
auflöst (WA, 86-87). Auch die Kunst erhebt sich auf der Erde
in „ewig wechselnder Gestalt", wobei dem himmlischen Schöpfer
„der gotische Tempel so wohlgefällig als der Tempel der Grie-
chen" und die „rohe Kriegsmusik der Wilden" genauso lieblich

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178 Wackenroders und Tiecks Kunsttheorie

ist wie „kunstreiche Chöre und Kirchengesänge". In der Welt


des Menschen aber zankt man sich und versteht sich nicht und
vermag man nicht „das in sich selbst gegründete Ganze mit
einem Blicke zu umspielen". Man betrachtet sein eigenes Gefühl
„als das Zentrum alles Schönen in der Kunst" und will „wie
vom Richterstuhle" entscheidende Urteile fällen. Wackenroder
fragt:
Warum verdammt ihr den Indianer nicht, daß er indianisch, und nicht
unsere Sprache redet?
Und doch wollt ihr das Mittelalter verdammen, daß es nicht solche
Tempel baute, wie Griechenland? (WA, 87)
Wenn es uns schon nicht gelingt, uns „in alle fremden Wesen
hine'mzufühlen, und durch ihr Gemüt hindurch ihre Werke zu
empfinden", so sollten wir wenigstens versuchen, „durch die
Schlußketten des Verstandes mittelbar an diese Überzeugung
heranzureichen". An dieser Stelle ergibt sich aber ein Konflikt
zwischen Gefühl und Vernunft, der dem aus dem vorigen Ab-
schnitt zwischen Leonardo da Vinci und Raffael analog ist. Die
Vernunft spinnt „durch Künste des Verstandes, ein strenges Sy-
stem" und will alle Menschen zwingen, nach „Vorschriften und
Regeln zu fühlen, - und fühlet selber nicht" (WA, 88). Der
Klosterbruder hat harte Worte für solch eine Haltung: „Wer ein
System glaubt, hat die allgemeine Liebe aus seinem Herzen
verdrängt! Erträglicher noch ist Intoleranz des Gefühls, als In-
toleranz des Verstandes; — Aberglaube besser als Systemglaube"
(WA, 89). Die Lösung des Konflikts besteht darin, „jedes sterb-
liche Wesen und jedes Volk unter der Sonne bei seinem Glauben
und seiner Glückseligkeit" zu lassen. Die Zeit, in welcher der
Klosterbruder und seine Zeitgenossen leben, ist ein begünstigtes
Jahrhundert und gibt ihnen das Gefühl, „daß wir auf dem Gipfel
eines hohen Berges stehen, und daß viele Länder und viele Zeiten
unsern Augen offenbar, um uns herum und zu unsern Füßen
ausgebreitet liegen". Die Aufgabe besteht darin, in den mannig-
faltigen „Werken der Empfindung immer das Menschliche her-
auszufühlen" (ib.).
Der nächste Abschnitt ist Albrecht Dürer gewidmet und bildet
den Mittelpunkt der Herzensergießungen. Der Klosterbruder

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Die Sehweise der Malerei 179

führt uns nun in die „krummen Gassen" Nürnbergs, als die


Stadt, welche die „lebendig wimmelnde Schule der vaterländi-
schen Kunst" war und in deren Mauern ein „fruchtbarer, über-
fließender Kunstgeist" lebte (WA, 90). Berücksichtigt man den
außerordentlichen Preis der italienischen Kunst auf den vorher-
gehenden Blättern, dann scheint nun ein neuer Konflikt aufzu-
kommen, den der Klosterbruder aber mit den Worten beschwich-
tigt:
Liegt Rom und Deutschland nicht auf einer Erde? Hat der himmlische
Vater Wege von Norden nach Süden, wie von Westen nach Osten
über den Erdkreis geführt? Ist ein Menschenleben zu kurz? Sind die
Alpen unübersteiglich? — Nun, so muß auch mehr als eine Liebe in
der Brust des Menschen wohnen können (WA, 90).
Der Klosterbruder vollzieht seine Betrachtungen über Dürer
draußen auf dem „Gottesacker" vor den Toren der Stadt, wo
die „Gebeine Albrecht Dürers" ruhen, unter zahllosen Grabstei-
nen, zwischen denen sich „hohe Sonnenblumen in Menge erhe-
ben" (WA, 91). Ein Wort Martin Luthers kommt ihm in den
Sinn, der gesagt hat, „daß nächst der Theologie, unter allen
Wissenschaften und Künsten des menschlichen Geistes, die Mu-
sik den ersten Platz einnehme". Die Kunst wird hier mit „tiefer
Verehrung" empfunden. Wenn aber die Kunst von solcher Wich-
tigkeit ist, dann ist es „unwürdig und leichtsinnig", sich von den
Kunstwerken Albrecht Dürers wegzuwenden, „weil sie nicht mit
der gleißenden äußern Schönheit, welche die heutige Welt für
das einzige und höchste in der Kunst hält, ausgestattet sind"
(WA, 92), oder weil er seine Menschenfiguren „nur so bequem
nebeneinander" hinstellt und über die Kunst der Tiefenstruktur
noch nicht verfügte (WA, 93).
Was Dürer gegenüber dem „Idealischen und der erhabenen
Hoheit eines Raffael" auszeichnete, war seine Fähigkeit, „uns
die Menschen zu zeigen, wie sie um ihn herum wirklich waren"
(WA, 94). Dieser ebenbürtige Wert Dürers und Raffaels wird
gegen Ende dieses Abschnitts durch ein Traumbild illustriert, in
dem Fiktion und Realität ineinander übergehen. Der Klosterbru-
der bezieht sich auf die Zeit seines Lebens, als er zuerst in
derselben Galerie Gemälde von Raffael und Dürer sah und den
Eindruck hatte, daß von allen in diesem Raum repräsentierten

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180 Wackenroders und Tiecks Kunsttheorie

Künstlern diese beiden den größten Eindruck auf ihn ausübten.11


Er war mit diesen Eindrücken so beschäftigt, daß sie nachts im
Traum wiederkehrten und ihn in das Schloß zurückbrachten,
wohin er sich den Weg mit einer Fackel suchte:
Als ich an die Tür kam, hörte ich drinnen ein leises Gemurmel; — ich
öffnete sie, — und plötzlich fuhr ich zurück, denn der ganze große
Saal war von einem seltsamen Lichte erleuchtet, und vor mehreren
Gemälden standen ihre ehrwürdigen Meister in leibhafter Gestalt da,
und in ihrer alten Tracht, wie ich sie in Bildnissen gesehen hatte.
Einer von ihnen, den ich nicht kannte, sagte mir, daß sie manche
Nacht vom Himmel herunterstiegen, und hier und dort auf Erden in
Bildersälen bei der nächtlichen Stille umherwankten, und die noch
immer geliebten Werke ihrer Hand betrachteten. Viele italienische
Maler erkannt' ich; von Niederländern sah ich sehr wenige. Ehr-
furchtsvoll ging ich zwischen ihnen durch; — und siehe! da standen,
abgesondert von allen, Raffael und Albrecht Dürer Hand in Hand
leibhaftig vor meinen Augen, und sahen in freundlicher Ruhe schwei-
gend ihre beisammenhängenden Gemälde an. Den göttlichen Raffael
anzureden hatte ich nicht den Mut; eine heimliche ehrerbietige Furcht
verschloß mir die Lippen. Aber meinen Albrecht wollte ich so eben
begrüßen, und meine Liebe vor ihm ausschütten; — allein in dem
Augenblick verwirrte sich mit einem Getöse Alles vor meinen Augen,
und ich erwachte mit heftiger Bewegung (WA, 95).
Der Klosterbruder bezieht sich auch auf die Schriften des
„alten Vasari", wo er lesen konnte, „wie die beiden herrlichen
Künstler auch bei ihren Lebzeiten wirklich, ohne sich zu kennen,
durch ihre Werke, Freunde gewesen, und wie die redlichen und
treuen Arbeiten des alten Deutschen von Raffael mit Wohlgefal-
len angesehen wären, und er sie seiner Liebe nicht unwert ge-
achtet hatte" (WA,95).
Der Abschnitt Die Größe des Michelangelo Buonarotti stellt
einen Maler vor, den Gott in die Welt gesandt hat, um ein
„Vorbild aufzustellen, was Vollkommenheit sei in der Kunst des
Zeichnens, der Umrisse, und der Lichter und Schatten". Als
Architekt zeigte er, „auf welche Weise man Gebäuden Festigkeit,

11
Wackenroder bezieht sich auf das Schloß Weißstein bei Pommersfel-
den in Oberfranken, wo er die Gemäldegalerie besichtigte, als er
Student an der Universität Erlangen war.

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Die Sehweise der Malerei 181

Bequemlichkeit, schöne Verhältnisse, Annehmlichkeit und Reich-


tum an allerlei Zierraten der Baukunst zu geben habe" (WA,
110). In diesem Abschnitt formuliert Wackenroder seine ästhe-
tischen Prinzipien direkter und mit seltener Präzision. Es genügt
nicht, von einem Kunstwerk zu sagen: „es ist schön und vor-
trefflich", weil diese allgemeinen Redensarten für die verschie-
densten Werke gelten. Wir sollen uns vielmehr dem großen
Künstler hingeben, „mit seinen Organen die Dinge der Natur
anschauen und ergreifen, und in seiner Seele sprechen können:
,Das Werk ist in seiner Art richtig und wahr," {WA, 110-11).
Die Malerei wird als eine „Poesie mit Bildern der Menschen"
bezeichnet. Wie in der Dichtung sind die Werke der Malerei von
verschiedenen Gefühlen belebt, welche der Künstler ihnen „ein-
gehaucht" hat. Von hier aus läßt sich die Verschiedenheit „zwi-
schen dem göttlichen Raffael und dem großen Buonarotti" be-
zeichnen. Wir könnten Raffael den Maler des neuen und Miche-
langelo den des alten Testamentes nennen. Der eine verkörperte
den „stillen göttlichen Geist Christi", der andere den der „inspi-
rierten Propheten". Michelangelo hatte die Neigung, das „Außer-
ordentliche und Ungeheure", eine „übermenschliche Kraft" aus-
zudrücken. Dies war das „Zeitalter der Maleroriginale". Der
Klosterbruder fragt sich: „Wer malte vor Correggio, wie Correg-
gio? vor Raffael, wie Raffael?" Aber es scheint so, „als wenn die
allzu freigebige Natur in dieser Zeit sich an Kunstgenie arm
geschenkt hätte". Die Meister späterer Zeiten „haben fast alle
kein anders Ziel gehabt, als irgendeinen der ersten Ur- und
Normalkünstler, oder auch gar mehrere zusammen, nachzuah-
men" (WA, 112).
Mit dieser naiven Erzählweise und dem geschickten Gebrauch
christlicher Bilder erreicht Wackenroder einen grundsätzlichen
Bruch mit dem System des Rationalismus und der Aufklärung.
In seinem Berliner Milieu wußte er nichts von der neuen Be-
hauptung der Vernunft und der systematischen Philosophie in
der Form der idealistischen Transzendentalphilosophie. Jedoch
zeigt er auf seine Weise recht erfolgreich, daß die Sprache der
Vernunft nur eine Form unseres Realitätsbezuges ist. Wie macht-
voll diese in der Unterwerfung der Welt zu unseren Zwecken
auch sein mag, so vermag sie dennoch nicht die tiefere Bedeutung

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182 Wackenroders und Tiecks Kunsttheorie

des Lebens jemals zu verstehen. In der Kunst besteht die mensch-


liche Fähigkeit darin, zu dieser göttlichen Sprache eine Beziehung
zu finden. Kunst hat einen anderen Ursprung als die Vernunft,
kann nicht auf die Vernunft reduziert werden und bekundet sich
in einer Vielzahl von Ansichten, die kein logisches System je zu
umspannen vermag.

3. Die Konzeption der Musik

Der letzte Teil der Herzensergießungen trägt den Titel Das


merkwürdige musikalische Leben des Tonkünstlers Joseph Berg-
linger und versetzt uns in die „gegenwärtigen Zeiten", d. h. in
die Zeit der „frühen Jugend" des Klosterbruders und seiner engen
Freundschaft mit einem Künstler, der sein Leben der Musik
weihte. Wir befinden uns in einer kleinen Stadt in Süddeutsch-
land, und der Name des Freundes ist Joseph Berglinger. Wegen
des unglücklichen Ausgangs dieser Geschichte und Wackenroders
eigenem frühen Tod sind diese beiden Ereignisse in sentimentalen
Literaturgeschichten des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhun-
derts immer wieder zusammengebracht worden. Darüber hinaus
wurde das Bild eines lebensbedrohenden Charakters der Kunst,
eines grundsätzlichen Antagonismus von Kunst und Leben, als
Thema dieser Geschichte gesehen. Nachwirkungen dieser Ansicht
finden sich in den Erzählungen E.T.A. Hoffmanns, der Deka-
denzliteratur des neunzehnten Jahrhunderts und Thomas Manns.
In Hoffmanns Novelle Rath Krespel von 1818 ertönt während
der Nacht aus einem skurril gebauten und vor den Toren der
Stadt gelegenen Haus die engelsgleiche Stimme einer jungen Frau,
die von dem kauzigen Rat ängstlich behütet wird. Sie verdankt
ihre überirdische Kraft des Gesanges einem organischen Fehler
und ist zum Tode verurteilt, wenn sie ihre Stimme benutzt. Dies
Schicksal ereilt sie, als sie eines Nachts zur Begleitung des von
ihr geliebten Komponisten auf einer besonders geschätzten Geige
in einen wunderschönen Gesang ausbricht, dem Krespel und der
Erzähler mit nie gefühlter Wonne und gleichzeitig mit großer
Angst lauschen. Diese Eigenschaften gaben der romantischen
Musiktheorie von Anfang an einen besonders prominenten Cha-

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Die Konzeption der Musik 183

rakter als Kunstform größter Verfeinerung, aber auch von größter


Gefahr.
Diese Geschichte stellt die Musik in den Mittelpunkt des
ästhetischen Interesses. Berglinger ist völlig davon überzeugt,
„daß er von Gott deshalb auf die Welt gesetzt worden sei, um
ein recht vorzüglicher Künstler in der Musik zu werden; und
zuweilen dachte er wohl daran, daß der Himmel ihn aus der
trüben und engen Dürftigkeit, worin er seine Jugend hinbringen
mußte, zu desto höherem Glänze hervorziehen werde" (WA, 136).
In einigen Gedichten, die er damals verfaßte, wandte er sich an
die hl. Cäcilie, die Schutzpatronin der Musik, und bat:
Laß mich in Gesang zerrinnen.
Der mein Herz so sehr entzückt (ib.).
Wegen seines Vaters, der sich dieser Vergnügung mit einem
strengen Pflichtbewußtsein entgegenstellt, gewinnen Musik und
Kunst die Anziehung einer verbotenen Frucht für Berglinger.
Eines Tages verläßt er das väterliche Haus und begibt sich in die
bischöfliche Residenz, wo er Kapellmeister wird und in großem
Glanz lebt. Er befindet sich aber nur in einem neuen Käfig,
insofern er nun im Konzertsaal Aufführungen geben muß, die es
ihm nicht erlauben, seinen Gefühlen einen freien Ausdruck zu
lassen. Angesichts seiner Zuhörerschaft sagt er: „Und für diese
Seelen arbeit' ich meinen Geist ab! Für diese erhitz' ich mich, es
so zu machen, daß man dabei was soll empfinden können! Das
ist die hohe Bestimmung, wozu ich geboren zu sein glaubte!"
(WA, 140). Als Künstler ist er bei Hofe in „ekelhaften Neid und
hämisches Wesen", in „widrig-kleinliche Sitten und Begegnun-
gen", sowie in die „Subordination der Kunst unter den Willen
des Hofes" verstrickt. Um ein Musikwerk aufzuführen, genügt
nicht der reine Gefühlsausdruck, sondern man braucht „eine
Menge Hände". Während er in seiner Jugend glaubte, „dem
irdischen Jammer zu entfliehen", fühlt er sich „nun erst recht in
den Schlamm hineingeraten" (WA, 141). Über den Wunsch seines
Vaters, er hätte ein Arzt werden sollen, um die Leiden anderer
zu mindern, denkt er jetzt: „Vielleicht war's besser gewesen!"
(WA, 143). Am Totenbett seines Vaters versöhnt Berglinger sich
mit diesem und gewinnt die Kraft, eine Passionsmusik zu kom-

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184 Wackenroders und Tiecks Kunsttheorie

ponieren, die nach den Worten des Klosterbruders „mit ihren


durchdringenden, und alle Schmerzen des Leidens in sich fassen-
den Melodien, ewig ein Meisterstück bleiben wird" (WA, 144).
Kurz danach stirbt Berglinger in der Blüte seiner Jugend. Der
Klosterbruder sucht eine Lektion von diesem Leben zu gewinnen
und fragt: „Warum wollte es der Himmel, daß sein ganzes Leben
hindurch der Kampf zwischen seinem ätherischen Enthusiasmus
und dem niedrigen Elend dieser Erde, ihn so unglücklich machen,
und endlich sein doppeltes Wesen von Geist und Leib ganz
voneinanderreißen sollte!" Die Antwort besteht darin, daß Raf-
fael, Reni, Dürer trotz aller Widerstände des Lebens großartige
Werke hervorbrachten, Berglinger, „in dessen harmonischen Wer-
ken so geheimnisvolle Schönheit liegt", jedoch „verschieden von
diesen allen" ist. Seine „hohe Phantasie" verzehrte ihn, und
vielleicht war er mehr dazu geschaffen, „Kunst zu genießen als
auszuüben". Die „unbegreifliche Schöpfungskraft" ist vielleicht
„überhaupt ganz etwas anderes", ja „etwas noch Wundervolleres,
noch Göttlicheres, als die Kraft der Phantasie" (WA, 144). Nach-
dem er diese Erinnerungen und seine Reflexionen darüber auf-
gezeichnet hat, beschließt der Klosterbruder sein Buch und
wünscht, „daß es einem oder dem anderen zur Erweckung guter
Gedanken dienlich wäre" (WA, 145).
Als Tieck 1799 die Phantasien über die Kunst aus dem Nachlaß
seines Freundes herausgab, fügte er einen größeren Teil eigener
Beiträge hinzu als bei den Herzensergießungen. Der erste Teil
der Phantasien, der hauptsächlich der Malerei und Malern ge-
widmet ist, stellt eine Fortsetzung im biographischen, legendären
Stil dar, den Wackenroder geschaffen hatte und stammt haupt-
sächlich, mit Ausnahme von zwei Stücken, von Tieck.12 Der
zweite Teil beschäftigt sich mit der Musik und hat Wackenroder
als Hauptautor, 13 wobei der Name Berglinger dominant wird.

12
Es handelt sich um die Stücke Schilderung wie die alten deutschen
Künstler gelebt haben: wobei zu Exetnpeln angeführt werden Al-
brecht Dürer, nebst seinem Vater Albrecht Dürer dem Alten und Die
Peterskirche.
13
Tiecks Beiträge bestehen in den letzten vier Abschnitten: Unmusi-
kalische Toleranz, Die Töne, Symphonien, Der Traum. Eine Alle-
gorie.

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Die Konzeption der Musik 185

Die Maske des Klosterbruders ist fallengelassen, und in den


einführenden Bemerkungen zu den „Phantasien über die Kunst
der Musik" wird der trauervolle Stil der Berglinger-Episode aus
den Herzensergießungen nicht fortgesetzt. Stattdessen lesen wir:
„Seine Gesinnungen von der Kunst stimmten mit den meinigen
gar wunderbar zusammen, und durch öftere gegenseitige Ergie-
ßungen unsers Herzens befreundeten unsre Gefühle sich immer
inniger miteinander" (WA, 199).
Der erste dieser Beiträge des zweiten Teils trägt den sonder-
baren Titel Ein wunderbares morgenländisches Märchen von
einem nackten Heiligen. Dabei handelt es sich um einen Einsied-
ler, der in den Wüsten des „Morgenlands" in einer abgelegenen
Felsenhöhle Unterkunft genommen hatte und in völliger Abge-
schlossenheit von der menschlichen Welt lebte. Die meisten der
Vorbeikommenden betrachteten ihn als Behältnis eines „höhern
Genius, der aus dem Reiche des Firmaments sich in eine mensch-
liche Gestalt verirrt hat, und sich nun nicht nach Menschweise
zu gebärden weiß" (WA, 201). Er war von dem Gefühl besessen,
„er höre unaufhörlich in seinen Ohren das Rad der Zeit seinen
sausenden Umschwung nehmen", und vermochte deshalb weder
zu ruhen, noch eine geordnete Arbeit auszuführen. Sobald etwas
zur Ruhe zu kommen schien, machte er verzweifelte Anstren-
gungen, dies zu verhindern. Wenn Leute ihn beobachteten, wurde
er böse, weil sie untätig dastanden. Wenn jemand Krauter oder
Holzstücke um seine Höhle herum sammelte, ergriff ihn die Wut
angesichts solcher müßiger Tätigkeiten. Dann pflegte er aus
seiner Höhle herauszuspringen und den Eindringling mit einem
Schlag zu töten. Er vermochte sich nicht wie andere menschliche
Wesen zu benehmen - eine Hand auszustrecken, einen Fuß vor
den anderen zu setzen - weil eine „zitternde Angst" durch alle
seine Nerven ging (WA, 202). Nur während der Nacht, wenn
der Mond vor seiner Höhle stand, sank er auf den Boden, weinte
bitterlich und fühlte „eine verzehrende Sehnsucht nach unbe-
kannten schönen Dingen". Offenbar suchte er „etwas bestimmtes
Unbekanntes" (WA, 203). Eines Abends nun kamen zwei Lie-
bende auf dem Boot den Fluß hinaufgefahren. Der Mond hatte
ihre Liebe entzündet, und aus dem Nachen „wallte eine ätheri-
sche Musik in den Raum des Himmels empor". Im selben Mo-

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186 Wackenroders und Tiecks Kunsttheorie

ment „war dem nackten Heiligen das sausende Rad der Zeit
verschwunden" und seine „unbekannte Sehnsucht war gestillt":
„Die Gestalt des Heiligen war verschwunden, eine engelsschöne
Geisterbildung, aus leichtem Dufte gewebt, schwebte aus der
Höhle, streckte die schlanken Arme sehnsuchtsvoll zum Himmel
empor, und hob sich nach den Tönen der Musik in tanzender
Bewegung von dem Boden in die Höhe" (WA, 204).
Um die „Wunder der Tonkunst" zu erklären, womit der näch-
ste Abschnitt überschrieben ist, verwendet Wackenroder eine
große Anzahl von Gleichnissen, aber das überzeugendste besteht
für ihn in der Überlegung des Tonmeisters, der fragt: „Ist nicht
das ganze Leben ein schöner Traum? eine liebliche Seifenblase?
Mein Tonstück desgleichen" (WA, 205). Eine andere Erklärung
dieses Wunders besteht in der Frage, wie der Mensch diese Kunst
erworben hat. Offensichtlich wollte der Mensch seine angeneh-
men Empfindungen aufbewahren und erschuf sich zu diesem
Zweck die schönen Künste. Die Musik ist aber die „wunderbarste
dieser Erfindungen, weil sie menschliche Gefühle auf eine über-
menschliche Art schildert". Alle „Bewegungen unsers Gemüts"
werden von ihr „unkörperlich" dargestellt. Sie spricht eine Spra-
che, „die wir im ordentlichen Leben nicht kennen". (WA, 207).
Damit ist sie auch die Kunst, welche „uns die echte Heiterkeit
der Seele einflößt" (WA, 208). In dem Abschnitt Von den ver-
schiedenen Gattungen in jeder Kunst, und insbesondere von
verschiedenen Arten der Kirchenmusik entwickelt Wackenroder
eine vergleichende Kunsttheorie und wendet sich verschiedenen
Kunstformen zu, wie sie in der Poesie, der Malerei und der
Musik zum Zwecke einer Verehrung des Göttlichen bestehen.
Seiner Ansicht nach kommen diese drei Künste in ihrem Wett-
streit dem göttlichen Thron so nah wie möglich. Die Musik ist
aber die „allerdreisteste und verwegenste im Lobe Gottes", weil
sie „in einer fremden, unübersetzbaren Sprache, mit lautem
Schalle, mit heftiger Bewegung, umd mit harmonischer Vereini-
gung einer ganzen Schar lebendiger Wesen, von den Dingen des
Himmels zu sprechen wagt" (WA, 211). Die Sektion Das eigent-
liche innere Wesen der Tonkunst, und die Seelenlehre der heu-
tigen Instrumentalmusik ist Wackenroders direktester Versuch,
die Natur und die besondere Anziehung der Musik zu bestimmen.

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Die Konzeption der Musik 187

Er untersucht dort die Physik und Mathematik der Töne und


erklärt auf der Grundlage dieses Mediums, warum die Musik
die jüngste aller Künste ist. Das wichtigste Charakteristikum der
Musik im Vergleich mit allen anderen Künsten ist jedoch, daß
sie menschliche Gefühle direkt auszusprechen vermag:
Im Spiegel der Töne lernt das menschliche Herz sich selber kennen;
sie sind es, wodurch wir das Gefühl fühlen lernen; sie geben vielen
in verborgenen Winkeln des Gemüts träumenden Geistern, lebendes
Bewußtsein, und bereichern mit ganz neuen zauberischen Geistern
des Gefühls unser Inneres (WA, 220).
Der Abschnitt Ein Brief Joseph Berglingers beschließt Wak-
kenroders Beiträge zu den Phantasien.14 Dieser Brief ist wieder
in jener düsteren, verzweifelten Stimmung auf Seiten des Künst-
lers verfaßt, der, um seinen Beruf auszuüben, sich vom Rest der
Menschheit durch einen großen Zwischenraum getrennt hat. Dies
schließt ein Fehlen von Geselligkeit, ja sogar Selbstsucht und
Narzismus ein: „Die Kunst ist eine verführerische, verbotene
Frucht; wer einmal ihren innersten, süßesten Saft geschmeckt
hat, der ist unwiederbringlich verloren für die tätige, lebendige
Welt" (WA, 225). Berglinger empfindet es mit Bitterkeit, daß er
unfähig ist, „ein wohltätiges, Gott gefälliges Leben zu führen".
Er spricht vom „tödlichen Gift, was im unschuldigen Keime des
Kunstgefühls innerlich verborgen liegt" (WA, 226). Selbst Ironie
hilft hier nicht weiter, da auch „dieses Spotten nur elendes
Spielwerk" ist. Das größte Elend besteht aber darin, daß der-
jenige, „der in Kunstgefühl ganz zerschmolzen ist, die Vernunft
und Weltweisheit, die dem Menschen so festen Frieden geben
soll, so tief verachtet, und sich sogar nicht hineinfinden kann".
Er sagt: „Der Weltweise betrachtet seine Seele wie ein systema-
tisches Buch, und findet Anfang und Ende, und Wahrheit und
Unwahrheit getrennt in bestimmten Worten. Der Künstler be-
trachtet sie wie ein Gemälde oder Tonstück, kennt keine feste
Überzeugung, und findet alles schön, was an gehörigem Orte

14
Tieck berichtet im Vorwort, daß er einen unvollendeten Aufsatz über
Rubens sowie eine Kantate nicht aufgenommen habe, mit denen
Wackenroder „selber unzufrieden war" (WA, 149).

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188 Wackenroders und Tiecks Kunsttheorie

steht." - Berglinger begnügt sich schließlich auf resignierende


Weise mit dem Gedanken: „Und so wird meine Seele wohl
lebenslang der schwebenden Aeolsharfe gleichen, in deren Saiten
ein fremder, unbekannter Hauch weht, und wechselnde Lüfte
nach Gefallen herumwühlen" (WA, 227).

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