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III.

Die Konzeption der poetischen Einheit


durch Friedrich Schlegel

Während August Wilhelm Schlegel mit seiner Theorie der Poesie


bei der Sprache und dem Mythos einsetzte, ist Friedrich Schlegel
historisch vorgegangen. Er hat das Wesen der Dichtkunst zu-
nächst von Shakespeare und Goethe aus entwickeln wollen, sich
dann aber abrupt der klassischen griechischen Literatur zuge-
wandt, um die Poesie dort zu erforschen, wie er es formuliert,
„wo sie einheimisch ist" (KFSA 23, 180). Friedrich Schlegel war
vier Jahre jünger als sein Bruder und durch ein ganz anderes
Naturell gekennzeichnet. Von den gesellschaftlichen, akademi-
schen oder literarischen Verbindungen des älteren Schlegel findet
sich bei ihm fast nichts, höchstens eine lebhafte Abneigung gegen
sie. Dagegen zeigte sich schon früh ein Hang zur Introspektion
und Selbstreflexion, der sich mit Ansätzen zu Melancholie und
suizidalen Tendenzen verband. Er wurde am 10. März 1772 als
siebtes und jüngstes Kind der Pastorenfamilie Schlegel in Han-
nover geboren und erweckte bei dem bereits gealterten Ehepaar
nur Befürchtungen, was aus diesem Kind wohl werden solle.
In seiner Jugendzeit weilte Friedrich Schlegel häufig bei seiner
Schwester Charlotte („Lottchen") in Dresden, die dort mit Lud-
wig Emmanuel Ernst, dem Hofmarschall des sächsischen Königs
verheiratet war. Schlegel war ein häufiger Besucher der Dresdner
Antikensammlung, wo er sich im Gästebuch als „Schlegel aus
Hannover" einzutragen pflegte. Zu dieser ausgezeichneten
Sammlung griechischer und römischer Kunstgegenstände gehörte
auch eine einzigartige Kollektion von 833 Gipsabgüssen antiker
Skulpturen, die Anton Raphael Mengs über einen langen Zeit-
raum hin in Rom und Madrid aufgebaut hatte, und die unter
anderem den belvederischen Apollo, die Patroklos-Menelaos
Gruppe, Laokoon, Venus Medici, Amor und Psyche und Venus
Calipiga enthielt. Der sächsische König hatte diese Sammlung

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92 Die Konzeption der poetischen Einheit durch F. Schlegel

erworben, die Dresden zu einem Zentrum für die Aufnahme der


klassischen Antike in Deutschland machte, und sie zuerst auf der
Brühischen Terrasse, später in der Renaissancehalle im Unter-
geschoß des früheren Galeriegebäudes aufstellen lassen. Eine der
Lieblingsbeschäftigungen des jungen Friedrich Schlegel war es,
sich dort abends einschließen zu lassen, um sich ungestört diesen
Anschauungen und seinen von Winckelmann und Platon ge-
nährten Gedanken hinzugeben. Den Geisteszustand dieser Jahre
hat er später als „gänzlichen absoluten Skeptizismus (theoretisch
und moralisch)" bezeichnet. Seinem Bruder schrieb er, „daß ich
gegen meinen Vater Religion und gegen meine Familie Achtung
heuchle, die ich nicht habe" (KFSA 23, 72). In diesem Zustand
war nun das einzige, in Schlegels eigenem Wortlaut, „woran ich
mich damals festhielt, die intellektuelle Begeisterung, als das
göttlich Positive des geistigen Lebens, was demselben allein einen
positiven Wert verleihen könnte; und welches ich in der Kunst
und dem klassischen Altertum besonders noch in dem Ideal einer
intellektuellen Freundschaft erblickte".1
Im Alter von 15 Jahren wurde der frühreife Schlegel beim
Bankier Schlemm in Leipzig in die Lehre gegeben und antwortete
darauf mit tiefster Melancholie und inständigen Bitten, ihm
diesen Beruf doch zu erlassen. Auf Fürsprache der Mutter erhielt
er die Erlaubnis, sich für ein Universitätsstudium vorzubereiten,
was er als ein wahres Sprachgenie, mit seinem Bruder als Lehrer,
in kürzester Zeit vollzog. Im Sommersemester 1790 ging er mit
seinem Bruder nach Göttingen, um dort das juristische Studium
aufzunehmen, das ihn auf eine administrative Laufbahn vorbe-
reiten sollte. Aber das in Göttingen verbrachte Studienjahr wurde
keine glückliche Zeit. Im Schatten des bewunderten älteren Bru-
ders stehend hatte Schlegel sich ganz in sich selbst und sein
Studium zurückgezogen und seine Lebensweise als „beständig
mit dem Verstande zu genießen ohne zu handeln" bezeichnet
(KFSA 23, 43). Als August Wilhelm Schlegel im Mai 1791 nach
Amsterdam ging, setzte Friedrich Schlegel sein Studium in Leipzig
1
Diese Selbstdarstellung findet sich in einem Fragment, das als Nr. 825
in dem Heft Studien des Altertums in Bd. 15 der KFSA im Jahre 1993
erscheinen wird.

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Die Konzeption der poetischen Einheit durch Friedrich Schlegel 93

fort. Von diesem Zeitpunkt an datieren die erhaltenen Briefe an


seinen Bruder, deren bemerkenswerter Charakter in einem direk-
ten Sich-selbst-Aussprechen besteht. Friedrich Schlegel war sich
dessen bewußt und teilte seinem Bruder am 4. Oktober 1791
mit: „Es ist mir beinahe ein Bedürfnis geworden, mich Dir ganz
mitzuteilen" (KFSA 23, 23). Freilich war sich ein Schriftsteller
wie Friedrich Schlegel auch über das Performative eines solchen
Briefschreibens im klaren und wies seinen Bruder selbst auf das
in dieser direkten Mitteilung angelegte Mißverständnis, auf die
damit verbundene Unwahrheit, ja Lüge hin, als er am 21. No-
vember 1791 mit leichter Hand schrieb: „Die Lügen hoffe ich
verteidigen zu können. Stoße Dich nur nicht an der Ecke des
Worts" (KFSA 23, 71).
Friedrich Schlegel hatte eine ganze Reihe enger Freunde in
Leipzig, unter denen der junge Jurastudent Friedrich von Har-
denberg (Novalis) bald besondere Bedeutung gewann. Liebesaf-
fairen, Schulden, frivole Abenteuer brachten die beiden Freunde
bald in eine tiefe Krise, die für Novalis dadurch beendet wurde,
daß sein alter Herr persönlich nach Leipzig reiste und den un-
gefügigen Sohn mit eiserner Hand nach Wittenberg versetzte, wo
dieser tatsächlich sein Studium zu Ende führte. Schlegel dagegen
gab seinem Leben von sich selbst aus einen Ruck. Er entschloß
sich, beinahe auf den Tag datierbar, das Studium der Poesie zu
seinem Lebensberuf zu machen (KFSA 23, 96). Zu diesem Zweck
zog er sich, damals 21 Jahre alt, völlig zurück. Durch die Ver-
mittlung seiner Schwester fand er in der Moritzstraße in Dresden
beim Postsekretär Neumann, einer befreundeten Familie, „drei
Treppen hoch" (KFSA 23, 178), eine Wohnung. Hier hat er
ununterbrochen „gesammelt, gedacht, geordnet, und von neuem
gesammelt", um „eine Geschichte der Griechischen Dichtkunst
zu bilden" (KFSA 23, 179). Am 9. Mai 1794 schrieb er seinem
Bruder: „Du fragst nach der Einteilung meines Tages? — Diese
ist folgende: wenn ich aufwache fange ich an, an meinem Werke
zu arbeiten, und ich höre auf, wenn ich mich niederlege. Im
Wechsel des Schreibens, Denkens, Lesens, Exzerpierens habe ich
keine feste Regel" (KFSA 23, 195). Als ihn der Bruder mißver-
stand und seine Arbeit auf das historische Fach einer bloßen
Literaturgeschichte reduzieren wollte, protestierte Schlegel und

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erklärte: „das Werk ist aber noch von größerm Umfange, als Du
angibst. - Die Geschichte der Griechischen Poesie ist eine voll-
ständige Naturgeschichte des Schönen und der Kunst, daher ist
mein Werk — Ästhetik. Diese ist bisher noch nicht erfunden, sie
ist das philosophische Resultat der Geschichte der Ästhetik und
auch der einzige Schlüssel derselben" (KFSA 23, 188). Wilhelm
Dilthey sagte über diese Zeit Schlegels in Dresden: „Er kommt
ganz ohne Geld; lebt in einer Einschränkung, die an Dürftigkeit
grenzt, von aller Gesellschaft zurückgezogen: nur mit Körner
begann allmählich ein literarischer Verkehr. Dies war die Epoche,
in welcher die Arbeiten niedergeschrieben wurden, durch die er
mit einem Schlage eine Stellung in der literarischen Welt gewann"
(DI l, 238).
Lediglich mit Johann Christian Körner, dem Freund Schillers,
und Wilhelm Gottlieb Becker, dem Inspektor der Antikensamm-
lung, unterhielt Schlegel geistigen Verkehr. Sein Schwager, der
Hofmarschall, hatte in Pillnitz, der Sommerresidenz des Königs,
ein zusätzliches Haus, in dem Schlegel gelegentlich wohnte, um
seine Arbeiten weiterzuführen. Manchmal lebte er auch in der
Umgebung von Pillnitz am Elbeufer in einem „kleinen Bauern-
hause am Fuße eines Berges, mit Aussicht auf eine freundliche
Fläche" (KFSA 23, 203), um die griechische Literaturgeschichte
aus den Quellen zu erarbeiten. Die ersten Manuskripte erschienen
in ziemlich zufällig gewählten Journalen der Zeit. Als Schlegel
für ein größeres, hauptsächlich theoretisch ausgerichtetes Manu-
skript über das Verhältnis der Griechen zur Moderne von Körner
an Salomon Michaelis in Neustrelitz verwiesen wurde, war mit
einemmal sein Erfolg als Schriftsteller gemacht. Michaelis er-
kannte gleich den Wert der übersandten Schrift und suchte den
jungen Autor für seinen Verlag zu gewinnen, indem er seine
beträchtlichen Schulden übernahm (KFSA 23, 301). Als Michaelis
im Mai 1796 mit F.A. Wolf und Johann Friedrich Reichardt, dem
Herausgeber der Zeitschrift Deutschland, in Leipzig zusammen-
traf, zeigte er diesen die ausgedruckten Bogen der Abhandlung
Über das Studium der Griechischen Poesie, um sie auf die Potenz
des gerade von ihm gewonnenen Autors aufmerksam zu machen.
Reichardt riß ihm den Text geradezu aus den Händen (KFSA 23,
302) und veröffentlichte Vorabdrucke daraus in seiner Zeitschrift

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Die Konzeption der poetischen Einheit durch Friedrich Schlegel 95

Deutschland, um seinen Lesern „einen kleinen Vorgeschmack"


von diesem Schriftsteller zu geben, der nun der prominenteste
Autor seiner eigenen Zeitschrift wurde. Damit hatte Schlegel als
Autor Fuß gefaßt.
Die Verbindung mit Reichardt hatte freilich für Friedrich
Schlegel auch nachteilige Konsequenzen. Wegen seines dezidier-
ten Republikanismus stand Reichardt in Konflikt mit der Klassik
von Weimar. Seine Zeitschrift Deutschland hatte er bewußt in
einen Gegensatz zu den von Schiller geleiteten Hören gestellt.
Nach Schillers Programm sollten die Hören eine Zeitschrift dar-
stellen, die sich über alle Tagesangelegenheiten „strenges Still-
schweigen" auferlegte und allein „Wohlanständigkeit und Ord-
nung, Gerechtigkeit und Friede" zum Ausdruck bringen sollte.
Vom ersten Stück der Zeitschrift Deutschland an fühlten Schiller
und Goethe sich herausgefordert und nahmen sich deshalb dieses
Organ und seine Mitarbeiter, Friedrich Schlegel unter ihnen, zur
Zielscheibe für ihre satirischen Xenien. Nachdem er Reichardt
Ende Juli 1976 in Leizig auch persönlich kennengelernt hatte,
stellte Friedrich Schlegel mit Unbehagen bei diesem „eine Art
Haß" gegen Goethe und Schiller fest (KFSA 23, 324), was ihm
um so unangenehmer war, als er sich auf dem Wege nach Jena
befand. Er bat deshalb seinen Bruder, in Weimar zu versichern,
daß er sich mit Reichardt in „keine Fakzion" einlassen würde,
um damit zu verhindern, daß er bei Goethe und Schiller auf die
„Liste der gens suspects" gerate. Aber das war durch seine
Zusammenarbeit mit Deutschland bereits geschehen. Schiller
richtete eine beträchtliche Anzahl seiner Xenien im Musenal-
manach von 1796 auf den jungen Schriftsteller.
Friedrich Schlegels Besprechung von Schillers Musenalmanach
muß in diesem Zusammenhang verstanden werden. Es kann als
sicher gelten, daß die Stelle darin über das Rückwärtslesen der
Strophen von Schillers Die Würde der Frauen von August Wil-
helm Schlegel stammt, der damals bei seinem Bruder weilte
(KFSA 2, 6). Friedrich Schlegel fügte diesem „Frevel" noch „eine
sehr starke Stelle über die Unwürde der Frauen" hinzu (KFSA
23, 302). Unter diesem Vorzeichen vollzog sich seine Übersiede-
lung nach Jena. Er wohnte dort im „Döderleinschen Haus auf
der Leitergasse" (KFSA 23, 348) und war vor allem an einer

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näheren Bekanntschaft mit dem Philosophen Fichte interessiert,


die auch das große Erlebnis dieses ersten Jenaer Aufenthaltes
wurde. Als er in Jena seine berüchtigte Rezension von Schillers
Hören veröffentlichte (KFSA 2, 9-25), kam es zum Bruch mit
Schiller. Da sich dieser nicht an Friedrich Schlegel direkt rächen
konnte, kündigte er dessen Bruder alle weitere Mitarbeit an den
Hören auf (FS 29, 80). Die Brüder Schlegel behandelten Schiller
von da an, als ob er nicht existierte und erwähnten ihn in ihren
Schriften mit keinem Wort. In dieser Rezension hatte Friedrich
Schlegel auch den Beitrag von Karl Ludwig Woltmann Theode-
rich, König der Ostgoten als ein Plagiat aus Edward Gibbon,
The Decline and Pall of the Roman Empire nachgewiesen, wobei
ihm sein Bruder wahrscheinlich wieder die Hand geführt hatte.
Woltmann war ungefähr gleichaltrig mit Friedrich Schlegel und
durch die Protektion Goethes und Schillers nach Jena gebracht
worden. Er bezeichnete die an ihm geübte Kritik in einer Erklä-
rung in der ALZ als „eine unverschämte Lüge". Schlegel durch-
brach daraufhin die damals geübte Anonymität beim Rezensieren
und ließ in der ALZ unter seinem Namen einrücken: „Ich bin
der Verfasser dessen, was im XII. Stück des Journals Deutschland
in einer Anzeige der Hören über den Theoderich des Hrn. Prof.
Woltmann gesagt worden ist" (KFSA 2, 420). Er sah damit die
Sache als erledigt an, schrieb aber schon wenige Tage danach in
tiefer Betroffenheit an Novalis: „In acht spätestens 14 Tagen reise
ich nach Berlin, und lebe da vors erste so weiter" (KFSA 23,
370). Goethe, der keine Zwistigkeiten liebte, opferte den jungen
Schriftsteller, indem er ihn zum Verlassen Jenas aufforderte. In
Berlin erweiterte Friedrich Schlegel den Kreis der Frühromantik
um Wackenroder, Tieck, Schleiermacher und Dorothea Veit, die
später seine Frau wurde, und begründete die Zeitschrift Athe-
näum. Als er im Herbst 1799 nach Jena zurückkehrte, folgten
ihm diese neuen Freunde mit Ausnahme Wackenroders, der
bereits verstorben war, und Schleiermachers, der wegen seines
Predigeramtes Berlin nicht verlassen konnte. Zu diesem Zeit-
punkt war die frühromantische Schule von Jena am vollständig-
sten versammelt und stand auf dem Höhepunkt ihrer Wirksam-
keit.

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Die Theorie des dichterischen Verknüpfens 97

1. Die Theorie des dichterischen Verknüpfens

Der Ausgangspunkt für Friedrich Schlegels Theorie der Dicht-


kunst war das Prinzip der poetischen Einheit im Sinne einer von
äußeren Bedingungen (Gattungen, Regeln, Normen) unabhän-
gigen Struktur des Dichtwerks, die Schlegel mit dem „Gesetz"
umschrieb: „das Mannigfaltige muß zu innerer Einheit notwendig
verknüpft sein. Zu Einem muß alles hinwirken, und aus diesem
Einen, jedes andren Dasein, Stelle und Bedeutung notwendig
folgen. Das, wo alle Teile sich vereinigen, was das Ganze belebt
und zusammenhält, das Herz des Gedichtes, liegt oft tief ver-
borgen" (KFSA 23, 97). Man könnte auf Grund dieser Äußerung
auch sagen, daß Friedrich Schlegel einen strukturalistischen Dich-
tungsbegriff aufstellte, wobei das Phänomen der Struktur freilich
nicht aus einem formalen Zusammenwirken von Zeichen er-
wächst, sondern aus einer ästhetischen Integration der Teile zu
einem Ganzen, das mehr ist als seine Teile. Es handelt sich mit
anderen Worten ganz deutlich um den von Aristoteles aufgestell-
ten Begriff der Struktur. 2 Dies Zurückgehen auf alte Quellen
erschien in diesem Fall umso angebrachter, als Aristoteles nach
der Meinung der Frühromantiker ganz zu Unrecht für die klas-
sizistische Theorie der Literatur nach Gattungen, Regeln und
Normen verwandt worden war.
Zu diesem Zeitpunkt, es handelt sich um die Jahre von 1793 -
1795, war Friedrich Schlegel noch überzeugt von der „Möglich-
keit eines objektiven Systems der praktischen und theoretischen
ästhetischen Wissenschaften" (KFSA l, 358). Er gründete seine
Erwartung auf die Überwindung des „ästhetischen Skeptizismus"
durch die Kritik der Urteilskraft sowie die Aufstellung der Wis-
senschaftslehre durch Fichte, womit seiner Ansicht nach „das
Fundament der kritischen Philosophie" erstellt worden war
(KFSA l, 357). Dieser systematische Ansatz der Schlegelschen
Poetik und Ästhetik kommt in einigen Entwürfen von 1795 mit
dem Titel „Von der Schönheit in der Dichtkunst" zum Ausdruck,
die in den Briefen auch als „poetischer Euklides" bezeichnet

2
Poetik, VII, 4.

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98 Die Konzeption der poetischen Einheit durch Friedrich Schlegel

werden und im Ausgang von Kants erster Kategorie das Wesen


der dichterischen Schönheit aus den Begriffen Einheit-Vielheit-
Allheit spekulativ abzuleiten suchen (KFSA 16, 5 — 31).
Das Schema dieser systematisierenden Entwürfe läßt sich fol-
gendermaßen umreißen. An die historische Darstellung der „mo-
dernen Ästhetik" als „stetes Fortschreiten im Streben nach einer
allgemeingültigen Wissenschaft" (Prolegomena) sollten sich an-
schließen: die Aufstellung des „richtigen Begriffs des Schönen"
(Ästhetik), die „Theorie der Beurteilung des Schönen" (Kritik)
und die „Lehre von den Arten der Kunst" (Technik). Daraus
sollte hervorgehen die Poetik als Lehre „von dem eigentümlichen
Charakter der Poesie; von ihren Arten der dramatischen, lyri-
schen, epischen Poesie. Vom tragischen und komischen. Von
ihrem Stoff; Sitten und Leidenschaften. Von ihren Organen, der
Phantasie und Sprache. Von ihrer Verbindung mit ändern Kün-
sten, mit Musik und Orchestik oder Mimik. Von den Bedingun-
gen ihrer Bildung oder Philosophie der Kunstgeschichte der Poe-
sie" (KFSA 16,5). Die ontologische Grundlage dieser Poetik und
Ästhetik war für Friedrich Schlegel die „Anthropologie", die
ihrerseits zusammengesetzt war aus „Psychologie sowie Physio-
logie" und aus „Bildungslehre", also aus einer naturwissen-
schaftlichen und aus einer humanistischen Disziplin. „Mensch-
heit" war ihr erster Begriff (ib.).
In einem anderen Entwurf deduzierte Schlegel die Ästhetik
aus einer Enzyklopädie der Wissenschaften (KFSA 16, 17 — 31).
Keiner dieser Entwürfe hat aber zu bleibenden Resultaten ge-
führt. Diese systematisierenden Versuche wurden bald aufgege-
ben und sind für Schlegels ästhetisches Denken auch nicht cha-
rakteristisch geworden. Dennoch werden sie hier angeführt, weil
sie anzeigen, daß Schlegel derartige Versuche unternommen hat
und er erst nach ihnen zu der für ihn fruchtbareren Methode
geführt wurde, die Theorie der Dichtkunst aus ihrer Geschichte
zu erforschen. Von nun an wird alles, selbst wenn es sich um
Ordnungsgesetze und Wesensbestimmungen der Dichtung han-
delt, in der historischen Diskursordnung artikuliert. Offenbar
hat er die systematisierenden Projekte deshalb fallen lassen, weil
ihn die historische Verschiedenheit der Kunsterscheinungen (alte
und moderne Poesie), sowie Sprache, Phantasie, Darstellungs-

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Die Theorie des dichterischen Verknüpfens 99

formen und Mitteilungsarten der Poesie (Ironie) nicht davon


überzeugten, daß die Theorie der Dichtkunst auf spekulative
Weise zu gewinnen sei. Wie sie sich aber auf historische Weise
erzielen läßt, geht aus der oben zitierten Briefstelle an August
Wilhelm Schlegel hervor 3 , die beinahe wörtlich in einem Brief
an Novalis vom Juli 1794 wiederkehrt: „die Geschichte der
Griechischen Dichtkunst ist eine Naturgeschichte des Schönen
und der Kunst; ich schmeichle mir, ja ich bin fest überzeugt, das
Schöne ganz ergriffen zu haben. Ich lege hierauf einigen Wert,
denn diese Kenntnis ist wichtig, und bis jetzt gab es noch keine
wahre Theorie des Schönen" (KFSA 23, 204).
Um die Poetik des frühen Friedrich Schlegels zu ergründen,
muß man den Autor also beim Wort nehmen und sie aus seinen
Studien des klassischen Altertums herausarbeiten, wo sie im
Zusammenhang mit der griechischen Literaturgeschichte entwik-
kelt worden ist. Wendet man sich diesen Schriften mit theoreti-
schem Interesse zu, dann zeigt sich, daß ihre Aussagen wegen
des paradigmatischen Charakters der griechischen Literatur für
den frühen Friedrich Schlegel über den historischen Rahmen
hinausgehen und zugleich einen allgemeinen theoretischen An-
spruch erheben. Das gilt nicht allein für den Zentralbegriff der
poetischen Einheit und die damit verbundene Theorie des dich-
terischen Verknüpfens, sondern ebenfalls für die Ideen über den
Ursprung der Poesie, über die Nachahmung, die verschiedenen
Arten der Dichtung und viele andere Grundbegriffe, die Schlegel
im Medium der griechischen Literatur spezifiziert hat.
Der Ursprung der Poesie wird von Schlegel bereits im ersten
Satz seiner Geschichte der Poesie der Griechen und Römer als
unwißbar, als ein retrogradierendes Kulissengeschiebe von An-
fängen bezeichnet (KFSA l, 397). F.A. Wolf hat diesen ersten
Satz wegen seiner unverständlichen Konstruktion freundschaft-
lich gerügt, aber selbst schon vermutet, daß die „erste Periode"
Schlegels „zur Malerei des historischen Dunkels bestimmt war"
(KFSA 24, 136 — 37). Die ältesten Gesänge der Hellenen „treten
nur wie einzelne helle Gestalten aus der Nacht des Altertums

3
Siehe S. 94.

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100 Die Konzeption der poetischen Einheit durch Friedrich Schlegel

hervor" und stehen meist da „wie Bruchstücke einer untergegan-


genen Welt" (KFSA l, 397). Unter den verschiedenen Theorien
über den Ursprung der griechischen Dichtung, die wir nun als
Theorien über den Ursprung der Dichtung überhaupt zu verste-
hen haben, greift sich Schlegel insbesondere jene heraus, nach
der es „unter den Hellenen eine eigne, dem Glauben nach uralte,
mystische Poesie" gegeben habe, „als deren Haupt eine allge-
meine Sage den Orpheus nennt, den Vater der Poesie, den Stifter
der Mysterien" (KFSA l, 399). Wollte man diese orphische Theo-
rie über den Ursprung der Poesie in eine für Schlegel zeitgenös-
sische Theorie übertragen, dann böte sich dafür innerhalb der
Transzendentalphilosophie Schellings Theorie vom unbewußten
Schaffen an. Es geht also letztlich darum, ob die Poesie ein
Produkt der Natur oder der Kunst ist.
Ausschweifung, „Orgiasmus" und „festliche Raserei" waren
wesentliche Bestandteile dieser orphischen Poesie nach den von
Schlegel ausgiebig konsultierten alten Quellen. Besonders Platon
legte Wert auf die Herleitung der Poesie aus dieser alten Tradi-
tion. Hier fand sich auch die später vielfach ausgebildete Mei-
nung der Hellenen ausgesprochen, „die Poesie komme von den
Göttern, die Begeisterung des heiligen Poeten sei eine eigentliche
Besessenheit und höhere Eingebung" (KFSA l, 403). Platon hat
dieser Herleitungshypothese verschiedentlich Ausdruck gegeben,
die bis zu Cicero nachwirkte, zu dessen Zeit es allgemeine
Meinung war, „daß niemand ein guter Dichter sein könne, ohne
eine Entzündung der Lebensgeister und einen gewissen Anhauch
von Raserei" (KFSA l, 405). Schlegel war sich natürlich darüber
im klaren, daß die Darstellung dieser Theorie bei Platon der „oft
erwähnten alten Feindschaft der Poesie und Philosophie und der
Platonischen Eifersucht" sehr angemessen war, wobei er freilich
empfahl, diese Stellen nicht so eindeutig wie gewöhnlich, sondern
im Geiste der „Sokratischen Ironie" zu lesen, die „das Heiligste
mit dem Fröhlichen und Leichtfertigen zu verweben pflegt", d. h.
im Sinne „jener Sokratischen Mischung von Scherz und Ernst,
welche für viele geheimer und dunkler ist, als alle Mysterien"
(KFSA 1,404-05).
Die Platonische Aussage über den göttlichen Ursprung der
Poesie hat für Schlegel also eine gewisse Wahrheit, wenn man

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Die Theorie des dichterischen Verknüpfens 101

diese nur nicht als Doktrin konstruiert und stattdessen mit einem
gehörigen Schuß von Ironie zu nehmen weiß. Was gar den
orphischen Kern dieser Theorie von der „höhern Besessenheit"
anbetrifft, so war hier sogar ein wichtiger Punkt in Schlegels
eigener Theorie berührt, für den der dichterische Schaffensprozeß
aus dem Antagonismus der aufschäumenden Begeisterung und
der gegenwirkenden Skepsis, aus „Selbstschöpfung" und „Selbst-
vernichtung" hervorging (KFSA 2, 149, 151, 172, 217). Damit ist
im wesentlichen die von Schlegel formulierte dichterische Ironie
umschrieben. Im Medium der griechischen Literaturgeschichte
sagt er entsprechend, daß „die erste Ahndung des Unendlichen"
den „Sohn der Natur", den „plötzlich erwachten Geist nicht mit
frohem Erstaunen, sondern mit wildem Entsetzen" erfüllt und
fährt dann mit einem deutlicheren Hinweis auf die dichterische
Ironie fort: „Die höchste Leidenschaft verletzt sich gern selbst,
um nur zu wirken, und sich der überflüssigen Kraft zu entledi-
gen." (KFSA l, 402-03).
Was jedoch den orphischen Ursprung der Poesie anbetrifft, so
vertrat Schlegel die Meinung, daß hier die „Zeitbestimmung"
nicht richtig sei und in ihr die Tendenz der Hellenen zum Aus-
druck komme, das auf ältere Zeitalter zu übertragen, „was dem
späteren angehört" (KFSA l, 406). Vor allem die „geheimen
Gesellschaften" neigten dazu, „sich für uralt auszugeben".
Schließlich waren es Priester, „welche die angeblich uralten my-
stischen Gedichte aufbewahrten und verbreiteten", und dies ist
ein „Geschlecht, welches immer und überall in frommen Verfäl-
schungen groß war". Aristoteles nennt diese Gedichte sogar die
„sogenannten orphischen Lieder" und behauptet, „daß es nie
einen Dichter Orpheus gegeben habe". Ähnlich äußern sich an-
dere Autoritäten der klassischen Antike (KFSA l, 407). Für
Schlegel war vielmehr die Homerische Poesie „die älteste Ur-
kunde der Hellenischen Geschichte", und diese muß „im Ver-
gleich mit den Priestermärchen über Orpheus" als „Grundlage
und Leitfaden aller Untersuchungen über das hellenische Alter-
tum" dienen. Diese Poesie kennt aber „weder Orgien noch En-
thusiasmus in dem Sinne der späteren Priester, Dichter und
Denker". Der Homerische Sänger ist „nicht leidenschaftlich be-
sessen und voll von Gott". Sein Charakter ist „stille Besonnen-

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102 Die Konzeption der poetischen Einheit durch Friedrich Schlegel

heit, nicht heilige Trunkenheit" (KFSA l, 408-09). Schlegel


versetzte die orphische Poesie mit einem Wort in eine spätere,
nachhomerische Zeit. Auf eine ähnliche Weise spricht er sich an
anderen Stellen gegen die Herleitung der Poesie aus bacchischen
Kulten zu Ehren des Dionysos aus. 4 Er verwies die Götter, die
wie Dionysos und Demeter in den die unendliche Lebenskraft
feiernden Kulten im Zentrum standen, in eine spätere Epoche
und charakterisierte sie als tiefgreifend verschieden von den
Göttern der Homerischen Gesänge. Die historische Korrektheit
derartiger Ursprungstheorien steht hier nicht zur Debatte und
läßt sich auch wahrscheinlich nicht ausmachen. Doch charakte-
risiert es Schlegel als Theoretiker der Dichtkunst und profiliert
ihn gegenüber einer prominenten, vornehmlich deutschen Tra-
dition von Hölderlin über Schelling zu dem frühen Nietzsche
und Rilke, daß er den Ursprung der Poesie nicht in „mystischen"
Traditionen ansetzt, was ihm als schwärmerisch erschien, son-
dern in den Homerischen Gesängen suchte.
Erst nachdem sich der Dichter vom Seher getrennt hatte, „weil
ihr ungleichartiges Geschäft nicht mehr in derselben Brust Raum
hatte", läßt sich für Schlegel von wirklicher Dichtkunst sprechen
(KFSA l, 429 — 30). Diese Trennung fand in der „vorhomerischen
Periode des epischen Zeitalters" statt und ging mit der Kultivie-
rung des Ackerbaus und der Herausbildung politischer Gemein-
schaften um einen Heroen Hand in Hand. Hier wurde der Sänger
zu einem eigenen Stand, seine Kunst wurde „ein bestimmtes
Gewerbe", das erlernt wurde, wobei „der Vortreffliche aber das
Erfundene und Eigne darin von dem Erlernten unterschied und
darauf stolz war" (KFSA l, 432-33). Ein „eigentliches Gedicht"
ergibt sich jedoch erst, „wenn der Dichter unter dem Stoff, der
seinen Sinnen gegeben, oder seinem Gedächtnis überliefert wird,
schon wählen, und das Gewählte für den sinnlich schönen Genuß
nach Gesetzen des menschlichen Gemüts frei mischen, ordnen
und schmücken kann". Dies ist ein Akt der „Selbsttätigkeit",
und die „Darstellung dieser Selbsttätigkeit, die sich freilich nur

Siehe hierzu meine Abhandlung „Die Auffassung des Dionysischen


durch die Brüder Schlegel und Nietzsche", Nietzsche-Studien 12
(1983), 335-354.

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Epische, lyrische und dramatische Verkn pfungen 103

noch an das Gegebne anschlie en mu ", wird zum „eigentlichen


Gedicht" (KFSA l, 445). Alle denkbaren Eigenschaften eines
Gedichts vereinigen sich hier in der freien dichterischen Ver-
kn pfung, in der „Gestalt der Erz hlung", der μορφή έπέων, in
der „Ma und bereinstimmung" des Gedichts zum Ausdruck
kommen (KFSA l, 451). In dieser „Gestalt und Ordnung", die
sich nach Schlegel in dem kleinsten Teil wie im gro en Ganzen
der Poesie finden mu , rundet sich „die freie F lle der Einbil-
dungskraft in klaren Umrissen und einfachen Massen zu einer
leichten Einheit" (KFSA l, 452). Die Herausarbeitung dieses
Einheitsprinzips ist deshalb ein prim res Erfordernis f r die
Theorie der Dichtung.

2. Epische, lyrische und dramatische Verkn pfungen und


die Verkn pfungsart des Romans

Dieser f r die Dichtungstheorie Friedrich Schlegels charakteri-


stische Begriff der Verkn pfung wurde offensichtlich von Aristo-
teles bernommen (ή των πραγμάτων σύστασις)5, aber durch
ein modernes Verst ndnis abgewandelt. Auch in der Schrift des
Pseudo-Longinus ber das Erhabene besteht ein wesentliches
Erfordernis f r die Erschaffung des Erhabenen in der Wahl der
konstitutiven Elemente und der F higkeit, diese in ein organi-
sches Ganzes zu integrieren.6 Der Begriff der Verkn pfung bringt
sehr deutlich den k nstlichen, k nstlerischen Charakter der poe-
tischen Sch pfung, ihre Absichtlichkeit im Gegensatz zum or-
ganischen Gewachsensein zum Ausdruck. Bei Aristoteles war
dieser Begriff freilich nach Schlegels Ansicht entstellt, insofern
er nach den verschiedenen Gattungen nicht gen gend spezifiziert
wurde. So hat seine Poetik der richtigen Erkenntnis von poeti-
scher Verkn pfung und Einheit jahrtausendelang im Wege ge-
standen. Sie beruhte auf der „Verwechslung der epischen und
tragischen Dichtart", obgleich Aristoteles einsah, „da im epi-

5
Poetik VI, 12 (1450a).
6
ber das Erhabene, X, 1.

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104 Die Konzeption der poetischen Einheit durch Friedrich Schlegel

sehen Gedicht die tragische Einheit unmöglich, und die epische


Zusammenfügung in der Tragödie äußerst fehlerhaft sei" (KFSA
l, 463-64). Aber der „Begriff einer eigentümlichen poetischen
Einheit" fehlte bei ihm durchaus (KFSA l, 488), und aus dieser
Diskrepanz ergeben sich die „auffallenden und harten Wider-
sprüche seiner Kunstlehre" (KFSA l, 449). Schlegel verwendet
für dies Phänomen eine sehr sorgfältig gewählte Terminlogoie,
in der neben Verknüpfung auch Wörter wie „Gliederbau", „Or-
ganisation", „Gebilde" erscheinen, die alle die Eigenschaft der
Wahl und Absichtlichkeit bei der künstlerischen Gestaltung ver-
mitteln.
Das vollkommenste Kunstwerk wird nach Friedrich Schlegels
Ansicht in der Poesie gebildet, weil hier die Aufgabe einer Inte-
grierung von umfangreichster Mannigfaltigkeit und größtmög-
licher Einheit am vollendetsten gelingen kann. Die Poesie ist
ohne Grenzen, ohne Beschränkungen in dieser Hinsicht, weil sie
„durch keinen Stoff weder im Umfange noch in der Kraft be-
schränkt ist" (KFSA l, 294). Dies bezieht sich natürlich auf die
Sprache als das Medium der Poesie. An dieser Stelle scheint sich
eine für Schlegels Kunstanschauung sonst fremde Hierarchisie-
rung der Künste einzufügen, die sich zudem nach ihrem Material,
ihrem Werkzeug, ihrem Ausdrucksmedium richten würde und
die Plastik am untersten Ende stehen ließe. Schlegel hat die
Unangemessenheit eines solchen Schemas auch gleich selbst emp-
funden und sich hinzuzufügen beeilt, daß bei einer Vergleichung
der Kunstarten „nicht von dem größern oder geringern Wert des
Zwecks" die Rede sein könne, was ungefähr so wäre wie die
Frage: „Ob Sokrates oder Timoleon tugendhafter gewesen sei"
(KFSA l, 294). Aber er hielt dennoch daran fest, daß in der
Vollkommenheit der Verknüpfung Stufen stattfinden, ein „Mehr
oder Weniger" bestehen könne und die Poesie hier die absolut
höchste Stelle einnehme (KFSA l, 294-95). Diese besondere
Einheit gilt es auf jeder Stufe der Poesie in Sinne der „epischen
Einheit", der lyrischen und der tragischen Einheit aufzusuchen
und nach den Gesetzen ihrer inneren Übereinstimmung mit sich
selbst zu spezifizieren, insofern „jede Kunstart ihren eignen Bau
und innre Gesetze hat" (KFSA l, 469).

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Epische, lyrische und dramatische Verknüpfungen 105

Der besondere „Bau" des epischen Gedichts wurde von Schle-


gel damit bestimmt, daß es „kein durchaus vollständiges, in sich
selbst schlechthin vollendetes Ganzes" ist, daß es „nicht durch-
gängig bestimmt und vollkommen begrenzt" ist. Der Zusam-
menhang ist hier überall „lose" (KFSA l, 472-73). Schlegel hat
diesen Charakter des epischen Gedichts auch mit den Bildern
vom unaufhörlichen „Strom" des Erzählens oder des „fließenden
Gemäldes" umschrieben (KFSA l, 124), wobei sich „alle Teile zu
einer Hauptbegebenheit" (KFSA l, 472) vereinen und „zufällige
Begebenheiten" als „Glied einer großen Reihe", als „Folge frü-
herer und Keim künftiger Begebenheiten" erscheinen und der
Umfang durchaus unbegrenzt ist (KFSA l, 474). An einer anderen
Stelle bezeichnet Schlegel das epische Gedicht auch als „poeti-
schen Polyp, wo jedes kleinere oder größere Glied [...] für sich
eigenes Leben, ja auch ebensoviel Harmonie als das Ganze hat"
(KFSA l, 13l).7 Die Analyse der besonderen poetischen Einheit
des Epos wird noch mit Untersuchungen über das Zeitbewußtsein
des Epos (KFSA l, 478), das fehlende „Hervortreten des Dichters"
(KFSA l, 480), die „Eigentümlichkeiten der epischen Sprache"
(KFSA l, 482-84) und Metrik (KFSA l, 485), sowie die Urteile
der alten Kunstrichter über das Epos (KFSA l, 487-509) weiter
ausgeführt.
Die Lyriker und Musiker schaffen ihre Einheit durch „Gleich-
artigkeit einiger aus der ganzen Reihe der zusammenhängenden
Zustände herausgehobnen" Zustände (KFSA l, 295). Im Gegen-
satz zur „beziehungslosen und ruhigen Äußerlichkeit des alten
Epos" besteht das Wesen der griechischen Lyrik im „Beziehungs-
vollen", „Gegenwärtigen", „Wirklichen", „Leidenschaftlichen"
und in konzentrierter „Innerlichkeit" (KFSA l, 561). Schlegel
verweist auf die „Wut des Archilochos", die „Zärtlichkeit des

Diese Äußerungen entstammen einem Aufsatz Über die Homerische


Poesie, Mit Rücksicht auf die Wolfischen Untersuchungen von 1796
(KFSA l, 116-132), der zeitlich vor der Geschichte der Poesie der
Griechen und Römer liegt und bereits deren Konzeption enthält.
Schlegels „Kunsturteil" über das klassische Epos ist die ausführlichste
seiner frühen kritischen Leistungen, obgleich seine ganze Arbeit auf
die Tragödie hin orientiert war.

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106 Die Konzeption der poetischen Einheit durch Friedrich Schlegel

Mimnermos", die „Glut der Sappho" oder den „lieberasenden


Ibykos". Hier ist nicht mehr die große Vergangenheit mit ihren
Helden und Taten der Stoff der Dichtung, „sondern die Schönheit
der Jünglinge, die Blüte des Genusses, der Gipfel der Sehnsucht
und jedes lebendigste Gefühl des Augenblicks". Es geht nicht
mehr darum das „Unsterbliche mit sterblichen Worten" zu be-
zeichnen, sondern das Vergängliche zu verewigen, wie etwa das
Haar des Smerdis und die Augen des Kleobulos in den Gedichten
des Anakreaon, oder die „weichen Gaben der Aphrodite" in den
Gesängen Pindars (ib.)· Während sich im epischen Zeitalter der
dichterische Geist ganz nach außen gewandt und „sich im dar-
gestellten Stoff gleichsam verloren" hatte, wird er nun durch die
äußere Lage und die erwachende Eigentümlichkeit und Leiden-
schaft dazu veranlaßt, „in sich selbst zurückzukehren, sich selbst
zu beschränken und liebevoll zu betrachten, und die darstellende
Natur selbst [d. h. den Dichter] zum Gegenstand ihrer Darstel-
lung zu machen" (KFSA l, 555-56).
Der höchste Grad an „Vollständigkeit der Verknüpfung" ist
dem tragischen Dichter möglich. Schlegel sagt: „Nur der Tragi-
ker, dessen eigentliches Ziel es ist, den größten Umfang und die
stärkste Kraft mit der höchsten Einheit zu verbinden, kann
seinem Werke eine vollkommene Organisation geben, dessen
schöner Gliederbau auch nicht durch den kleinsten Mangel, den
geringsten Überfluß gestört wird" (KFSA l, 296). Schlegel kommt
hier zu einer Verabsolutierung der griechischen Tragödie als
Gipfel der Kunst, die für seine frühe Sehweise der Poesie cha-
rakteristisch ist, aber bereits im Jahre des Erscheinens seines
Studium-Aufsatzes von ihm preisgegeben wurde (KFSA 2,
146 — 47). Im griechischen Drama fand für ihn die „Freiheit des
Dichters" ein bislang nicht dagewesenes Ausmaß. Während
„selbst die kunstmäßigsten epischen und lyrischen Gedichte der
alten Hellenen noch einen Halt und Boden" hatten, indem sie
entweder im Mythos oder in der Wirklichkeit gründeten, wird
die Poesie mit dem Drama „wie völlig losgerissen von der wirk-
lichen Welt" (KFSA l, 502). Dies zeigt sich nicht allein in den
Änderungen vorgegebener Mythen, die jetzt „auffallender und
plötzlicher" werden, sondern bereits in der fundamentalen Auf-
gabe der dramatischen Darstellung, „in der das Entfernteste als

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Epische, lyrische und dramatische Verknüpfungen 107

unmittelbar gegenwärtig erscheinen" soll (ib.). Die Handlung


zum Beispiel gewinnt jetzt eine solch eigene Bedeutung, daß
Schlegel das Wort „aus der Erklärung des Epos durchaus" ent-
fernen möchte (KFSA l, 473). Ähnliches gilt für den Charakter
der poetischen Einheit, die sich erst mit dem Drama als „durchaus
vollständiges, in sich selbst schlechthin vollendetes poetisches
Ganzes" zeigt, während im Epos diese „Herleitung aller Fäden
des Werks aus einem Anfangspunkte, die Hinleitung auf einen
Endpunkt fehlt" (KFSA l, 472).
Schlegel illustriert diesen Charakter der griechischen Tragödie
mit Sophokles, der seiner Meinung nach bestimmte „harte" Züge
in den Werken des Aischylos abmilderte und den zügellosen
Luxus noch nicht kannte, in den die Dramen des Euripides
übergingen.8 Die eigentliche Vortrefflichkeit des Sophokles be-
stand für ihn aber wieder in seiner besonderen Art der „Ver-
knüpfung", des Zusammenwebens, der Organisation, der Ge-
staltung seines Gliederbaus. Bei Sophokles ist diese Komposi-
tionsweise sozusagen „kanonisch" geworden, „wie etwa die Pro-
portion des berühmten Doryphorus vom Polyklet" (KFSA l, 297).
Schlegel sagt: „Die reife und ausgewachsene Organisation eines
jeden Ganzen ist bis zu einer Vollständigkeit vollendet, welche
auch nicht durch die geringste Lücke, nicht durch einen über-
flüssigen Hauch gestört wird. Notwendig entwickelt sich alles
aus Einem, und auch der kleinste Teil gehorcht unbedingt dem
großen Gesetz des Ganzen" (ib.). Der folgende Teil in der Cha-
rakteristik des Sophokles besteht aus Variationen dieser grund-
legenden Qualität der Einheit auf der Grundlage von Vielheit
und unendlichen Differenzen. Der zentrale Begriff ist Struktur,
den Schlegel mit Gliederbau, Organisation, Verknüpfung, Ge-
bilde wiedergibt. Die Gesetzmäßigkeit des Zusammenhanges ist
Freiheit, Spiel. Ein anderer Gesichtspunkt, der hier von Interesse
ist, wird mit den Worten „Stellung" oder „Gruppierung" bezeich-
net: „Das größere Ganze, wie das Kleinere ist in den reichsten

8
Siehe hierzu meinen Essay „A.W. Schlegel and the Nineteenth-Cen-
tury Damnatio of Euripides", Greek- Roman- and Byzantine Studies
27 (1986: The Nineteenth-Century Rediscovery of Euripides. Her-
ausgegeben von William M. Calder), 335-367.

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108 Die Konzeption der poetischen Einheit durch Friedrich Schlegel

und einfachsten Massen bestimmt geschieden, und angenehm


gruppiert" (KFSA l, 298). Schlegel betont ferner einen eigenen
ästhetischen Rhythmus, der das Werk belebt, und charakterisiert
diesen als einen Wechsel von „Kampf und Ruhe, Tat und Be-
trachtung, Menschheit und Schicksal" (ib.). Dieser Wechsel ist
von großer Bedeutung für die erschreckenden, schockierenden
Ereignisse in der Tragödie, die durch Momente der „Rührung"
ausgeglichen werden. Bloßer Schrecken würde das Bewußtsein
in Stillstand versetzen, durch ihn „würden wir bis zur Bewußt-
losigkeit erstarren". Sophokles wußte „Schrecken und Rührung
im vollkommensten Gleichgewicht wohltätig zu mischen" und
hinterläßt einen versöhnlichen Eindruck (KFSA l, 298-99).
Schlegel fand ebenfalls in der Sprache des Sophokles den Hö-
hepunkt des „Attischen Zaubers" und die „Vollendung der grie-
chischen Sprache" im allgemeinen (KFSA l, 279). Er gibt uns
keinen Titel, aber wir wissen, daß das Werk, das er hier be-
schreibt, die Oedipus-Trilogie des Sophokles ist, insbesondere
die abschließende Tragödie Oedipus auf Kolonos.
Aber bereits in seinem Studium-Aufsatz hatte Schlegel mit
Shakespeares Hamlet das Beispiel eines durch und durch orga-
nisierten, gebildeten und verknüpften Werks der modernen Poesie
vorgeführt, das „an vollendetem Zusammenhang des Ganzen bis
jetzt das vortrefflichste seiner Art ist" (KFSA l, 246-49). Na-
türlich ist bei dieser frühen Schrift Schlegels darauf zu achten,
daß Sophokles im Bereich der alten, objektiven, natürlichen
Poesie das „Maximum" (KFSA l, 218) war, wogegen Shakespeare
der Höhepunkt und „Gipfel" der modernen, subjektiven, künst-
lichen Poesie ist, so daß ihre Qualitäten wie in einem symmetri-
schen Gegensatz zueinander stehen. Während der Haupteindruck
der Tragödie des Sophokles Harmonie und Versöhnung war, ist
der Hamlet die vollkommenste Darstellung der „unauflöslichen
Disharmonie", des Mißverhältnisses „der denkenden und tätigen
Kraft". Das Gemüt trennt sich und ist „wie auf der Folterbank
nach entgegengesetzten Richtungen auseinandergerissen". Der
„Totaleindruck" ist ein „Maximum der Verzweiflung", und das
„letzte, einzige Resultat allen Seins und Denkens" erscheint hier
als die „ewige kolossale Dissonanz, welche die Menschheit und
das Schicksal unendlich trennt" (KFSA l, 247 — 48). Trotz dieses

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Epische, lyrische und dramatische Verknüpfungen 109

fundamentalen Unterschiedes ist das Prinzip der poetischen Ein-


heit bei Sophokles und Shakespeare aber genau dasselbe. Die
„einzelnen Teile" im Hamlet entwickeln sich mit derselben Not-
wendigkeit „aus einem gemeinschaftlichen Mittelpunkt, und wir-
ken wieder auf ihn zurück": „Nichts ist fremd, überflüssig, oder
zufällig in diesem Meisterstück künstlerischer Weisheit" (KFSA
1,247).
Ein weiterer wichtiger Schritt in der Ausbildung der frühro-
mantischen Theorie der Poesie Friedrich Schlegels tritt in seiner
Rezension von Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre von
1798 zutage. Hier ist es ein Prosawerk aus der Gattung des
Romans, das als Gegenstand für eine Analyse der differentiellen
Einheit der Dichtung gewählt wird. Schlegel war sich über das
Problem, das hier für den klassischen und klassizistischen Poe-
siebegriff gegeben war, durchaus im klaren und thematisierte es
sogar direkt in seinem Text, als er über Goethes Roman auf
emphatische Weise sagte, daß hier „alles Poesie, reine hohe
Poesie" sei. Alles sei so gedacht und gesagt „wie von einem, der
zugleich ein göttlicher Dichter und ein vollendeter Künstler wäre"
(KFSA 2, 132). Schlegel hebt diesen dichterischen Charakter des
Romans besonders hervor, wenn er sagt: „Überall werden uns
goldne Früchte in silbernen Schalen gereicht." An anderer Stelle
heißt es: „Was fehlt Werners und Wilhelms Lobe des Handels
und der Dichtkunst, als das Metrum, um von jedermann für
erhabne Poesie anerkannt zu werden?" (KFSA 2, 133). In dieser
Weise fährt er dann fort: „Diese wunderbare Prosa ist Prosa und
doch Poesie", womit sich das Problem, um das es hier geht, gar
nicht als ein gattungstheoretisches, sondern als ein sprachtheo-
retisches herausstellt. Es geht überhaupt nicht darum, daß der
Roman nach der klassizistischen Theorie nicht in die Gattungen
der Poesie aufgenommen war, weil die Brüder Schlegel diese
Theorie gar nicht teilten und ihnen eine solche Annahme gleich-
gültig oder sonderbar erschienen wäre. Die Romane des Cervan-
tes und dessen Prosa waren für sie höchste Poesie. Das Problem
lautet vielmehr, wie sich in einer Sprache, die der „gebildeten
Sprache des gesellschaftlichen Lebens" entstammt (KFSA 2, 133),
ein Kunstwerk gestalten läßt, das jenen hohen Ansprüchen von
„Vollständigkeit der Verknüpfung", „Gliederbau" und poetischer

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110 Die Konzeption der poetischen Einheit durch Friedrich Schlegel

Gruppierung entspricht, die gerade mit Sophokles und Shake-


speare erläutert worden war. Schlegel macht eigens darauf auf-
merksam, daß man Goethes Wilhelm Meister auf keinen Fall so
nehmen dürfe, „wie er gewöhnlich auf dem Standpunkt des
gesellschaftlichen Lebens genommen wird: als einen Roman, wo
Personen und Begebenheiten der Endzweck sind". Wer dieses
„schlechthin neue und einzige Buch" nach einem zufällig ent-
standenen Gattungsbegriff beurteilen wolle, handle ungefähr so,
„als wenn ein Kind Mond und Gestirne mit der Hand greifen
und in sein Schächtelchen packen will" (ib.).
Um diesem Problem zu begegnen, geht Schlegel auf die Sprache
des Wilhelm Meister ein und weist darauf hin, daß die „Grund-
fäden dieses Stils im ganzen" zwar der modernen Bildungswelt
entstammen, aber „vielsagend" in ihrer „hohen und zarten Aus-
bildung" sind. Wenn der Dichter sich mit irgendeiner „Merk-
würdigkeit aus diesem oder jenem ökonomischen Gewerbe, und
was sonst von den öffentlichen Gemeinplätzen der Poesie am
entlegensten scheint", beschäftigt, dann verwendet er „seltsame
Gleichnisse", die dem „Höchsten und Zartesten" der Poesie nahe
kommen. Schlegels Hauptargument stützt sich aber auf den
eigentümlichen Modus der Verknüpfung in Goethes Erzählweise.
Er meint, daß die „gewöhnlichen Erwartungen von Einheit und
Zusammenhang" durch diesen Roman ebenso oft enttäuscht wie
erfüllt werden. Damit will er sagen, daß hier eine andere, neue
Art der poetischen Einheitsbildung am Werk ist, die an die bislang
erörterte oft erinnert, aber dennoch von ihr verschieden ist.
Tatsächlich fährt er auch fort, daß derjenige, der „systematischen
Instinkt" besitzt, „je tiefer er forscht, je mehr innere Beziehungen
und Verwandtschaften, je mehr geistigen Zusammenhang" in
dem Werk entdeckt (KFSA 2, 134). Wie ist dies zu verstehen?
Zu Anfang seiner Rezension sagt Schlegel, daß sich die Ge-
schichte entfalte „wie die Bildung eines strebenden Geistes"
(KFSA 2, 126). Später spricht er von dem „angebornen Trieb des
durchaus organisierten und organisierenden Werks, sich zu einem
Ganzen zu bilden" (KFSA 2, 131). Bei der näheren Beschreibung
der „Organisation des Werks" hebt er hervor, daß der „Zusam-
menhang", durch den sich die verschiedenartigen Teile „zu einem
in sich vollendeten Ganzen runden", und die „Mittel der Ver-

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Das „historische System" 111

knüpfung" dadurch gegeben sind, daß Erwartungen geweckt


werden, Interessen sich regen, neue Szenen und Welten sich
auftun, die alten Gestalten verjüngt wiederkehren, die einzelnen
Bücher sich gegenseitig wiederspiegeln und so eine ganz eigen-
tümliche Art der „Fortschreitung" entsteht (KFSA 2, 135).
Diese Fortschreitung läßt sich auf verschiedenen Ebenen ver-
stehen. Sie zeigt sich in der „grenzenlosen Bildsamkeit" Wilhelms
(KFSA 2, 129) und damit als „Stufengang der Lehrjahre der
Lebenskunst" (KFSA 2, 136). In einem mehr formalistischen Sinn
kommt diese Fortschreitung in Goethes innovativer Erzählweise
zum Ausdruck, die durch Vorahnungen, Antizipationen, Korre-
spondenzen, Spiegelungen, Symbolisierungen und Ironisierungen
eine neue Art der von der Einbildungskraft geschaffenen Einheit
hervorbringt. Sodann bekundet sich der besondere Charakter des
Werkes darin, daß es sich sozusagen selbst darstellt, daß es eins
von den Büchern ist, „welche sich selbst beurteilen und den
Kunstrichter sonach aller Mühe überheben" (KFSA 2, 133 — 134),
oder sogar, noch darüber hinausgehend, Leser und Kritiker in
diese Fortschreitung einbeziehen und diese veranlassen, das Werk
zu „ergänzen, verjüngen" und neu zu gestalten (KFSA 2, 140).
Das ist angemessen, weil ein Werk wie der Wilhelm Meister
„mehr weiß als es sagt, und mehr will als es weiß" (ib.).

3. Das „historische System"


Hier wird deutlich, wie direkt die Theoriebildung Friedrich
Schlegels auf die Geschichte bezogen ist und mit der historischen
Wirklichkeit in einem unlösbaren Zusammenhang steht. Das
Verhältnis des „reinen Denkens" oder der „Theorie a priori" zur
Geschichte hatte seit Beginn seines philosophischen Nachdenkens
ein entscheidendes Problem für Schlegel gebildet, aus dem seine
Geschichtsphilosophie erwuchs. Im Jahre 1795 vertrat er die
Auffassung, daß im reinen Denken, wie tief es auch die Erkennt-
nis des eigenen Selbst vollendet habe, „dennoch eine Lücke"
bleibe, „so lange das menschliche Leben, ja der empirische
Mensch selbst, völlig unbekannt sind". Die „Kenntnis des reinen
Menschen" erschien ihm „von unbedingtem Werte", aber ebenso

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112 Die Konzeption der poetischen Einheit durch Friedrich Schlegel

„die des zusammengesetzten - die Geschichte der Menschheit".


Diese war aber noch „roh", d. h. in einem unentwickelten Zu-
stand, so daß man den Zusammenhang zwischen „der denkenden
und tätigen Kraft", zwischen Theorie und Geschichte bislang
noch nicht wahrnehmen konnte. Aber der Mensch „ist kein reines
Wesen", so argumentiert Schlegel, und um die Kluft zwischen
Erfahrung und Theorie zu überbrücken, war für ihn nichts
notwendiger als eine wissenschaftliche Aufklärung der Erfah-
rung, d. h. das Studium der Geschichte (KFSA l, 627 — 28).
Das waren für einen Fichteaner erstaunliche Gedankengänge.
Tatsächlich mußte sich Schlegel auch von seinem philosophischen
Meister sagen lassen, als er diesem die Idee einer historisch
entwickelten Ästhetik vortrug, er wolle „lieber Erbsen zählen,
als Geschichte studieren" (KFSA 23, 333). Als er Fichte später
sein Gespräch über die Poesie übersandte, in dem dieser histo-
rische Gesichtspunkt dadurch zum Ausdruck gebracht wurde,
daß man sich durch ein historisches Studium „jede andre selb-
ständige Gestalt der Poesie" aneignen solle (KFSA 2, 284), wurde
ihm die Anwort erteilt, er, Fichte, habe mit „der innigsten Freude
an der sichtbaren Entwicklung" seines Talentes teilgenommen.
Dann fuhr der Vater der Transzentendalphilosophie aber fort:
„Ihr System über Poesie, über welches wir uns vorigen Winter
zu Jena überredeten, glaube ich nun durch die beiden letzten
Stücke des Athenäums ganz zu verstehen. Es ist Ihres Geistes,
und Ihrer Liebe zu Fleiß, und historischer Forschung würdig;
ohnerachtet ich für meine Person es nur für vorläufig, und bloß
auf die Zeit passend halte. Etwas am Stoffe der Poesie ist aller-
dings individuell; aber was die Hauptsache an ihr ist, ihre Form,
ist durchaus allgemein: und ich würde in dieser Rücksicht im
Gegensatze mit Ihnen sagen: so wie es nur Eine Vernunft gibt,
gibt es auch nur eine wahre Poesie. Wir sollen durch Studium
uns die Werke großer Künstler der Vorzeit aneignen? — Es kann
sein, daß wir in unsern ausgetrockneten Zeitaltern nichts besseres
tun können: aber woher entfloß denn die Quelle dem ersten
Künstler, der keine vor sich hatte? Sollte denn dieser Urquell nun
zu ewigen Zeiten ganz vertrocknet sein? O, hätten wir doch erst
eine reine Ästhetik!" (FI 4, 282-83).

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Das „historische System" 113

Bei Friedrich Schlegel macht sich ein eigenständiges Ge-


schichtsdenken bemerkbar, das von fortschreitender Kontinuität
gleicherweise entfernt ist wie von dialektischer Zielstrebigkeit
und utopischer Versöhnung. Alle anderen ganzheitlichen Kon-
zeptionen der Geschichte blieben für ihn hinter dem Denken in
Wechselwirkungen zurück, sowohl in den antiken wie in den
modernen Geschichtsauffassungen. Bei Homer zum Beispiel bil-
dete sich die Geschichte „zu einem Ganzen", aber ihre Ein-
heit erzeugt „allein die Natur, nicht die Freiheit". Herodot ver-
knüpfte „das Einzelne zwar zu einem vollständigen Ganzen",
aber durch die „Einmischung eines neidischen Schicksals" ver-
letzte er die Rechte des Verstandes. Thukydides war nach der
Denkart seines ganzen Zeitalters dem „System eines endlosen
Kreislaufs" ergeben. Xenophon vermochte deshalb nicht zu be-
friedigen, „weil er Absichten für Ursachen gibt, Dichtung und
Wahrheit mischt, und die Tatsachen der Erfahrung gewalttätig
nach seinem Zwecke schmiegt". Platon schließlich hat mit „sei-
nem Entwurf eines vollkommenen Staats und Volks" das Be-
dürfnis der praktischen Vernunft sehr richtig empfunden, aber
„durch das Ungeheuer einer stillstehenden vollendeten Vollkom-
menheit in der Zeit, den Verstand und die theoretische Vernunft
beleidigt" (KFSA l, 628-29).
Auch in den modernen Theorien der Geschichte, denen eine
„menschliche Ordnung" zugrundeliegt, fand Schlegel keine be-
friedigenden Prinzipien für die Erklärung des historischen Ge-
dankens angegeben, obwohl sie alle interessante Gesichtspunkte
anführten. Er dachte hauptsächlich an die Geschichtsphilosophie
der deutschen Aufklärung, in denen der Gedanke einer Erziehung
des Menschengeschlechts vorherrschend ist. Herder ist der Ver-
treter jenes Systems, „welches Tradition und Erziehung als den
Zusammenhang und die Einheit der Geschichte" aufstellt (KFSA
l, 629). In seiner Verteidigung des Eigenrechts, der „Isonomie"
jeder Epoche, ist Herder „vortrefflich", insofern sein historisches
Denken, sein Historismus, „vieldurchdachte Erfahrung gegen
einseitige Vernunft aufs schönste in Schutz nimmt" (KFSA l,
640). Über diesem Eigenwert der Nationen und Epochen geht
bei Herder aber die Geschichte als „unbedingte Einheit eines in
sich vollendeten Ganzen" verloren, und die von ihm beschriebene

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114 Die Konzeption der poetischen Einheit durch Friedrich Schlegel

Progression hat nur „die Einheit einer Kette oder einer sich in
allen Teilen berührenden Masse" (ib.). In Kants Universalge-
schichte wird dagegen alles in die Zukunft verlagert. Sein System
ist für Schlegel dasjenige, welches die teleologische Beurteilung
als den einzig möglichen Leitfaden a priori für die Universalge-
schichte aufstellt (ib.). In einer ausführlichen Anmerkung ver-
weist Schlegel auf Kants Abhandlung Idee zu einer allgemeinen
Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in der die Ansicht ver-
treten wird, daß „keine gesetzmäßige Geschichte des Menschen"
möglich sei und die „Hoffnung einer unendlichen Vervollkomm-
nung der Gattung" durch Redewendungen wie „Zwecke der
Vorsehung" oder die „Natur handle nie zwecklos" aufrechter-
halten wird (KFSA l, 630). Auch die Überzeugung, daß „alles
im großen aus Torheit und Bosheit zusammengewebt sei", wird
von Kant als Argument für die progressive Vervollkommnung
der Gattung verwandt, womit in seinem System der Geschichte
eine zu starke Vorherrschaft der Natur über die Freiheit be-
merkbar wird.
Alle diese unzureichenden Erklärungen der Geschichte bestä-
tigen für Schlegel aber nur, daß allein die „Deduktion der un-
endlichen For-tschreitung aus den Gesetzen der Wechselwirkung
der Freiheit und Natur" eine überzeugende Gesamtsicht der
Geschichte gewähren kann (KFSA l, 630). Eine solche Sehweise
erlaubt weder eine Verabsolutierung der Vergangenheit (Klassik)
noch der Zukunft (Utopie) und richtet sich gleicherweise gegen
die „beständige Rücksicht aber auf das hohe Urbild hinter uns,
das höhere Ziel vor uns". Schlegel geht davon aus, „daß es nicht
unsre Bestimmung sei, wie Bettler für die Nachwelt zur Fron zu
arbeiten", und begründet seine Ansicht mit der Folgerung: „denn
wie jeder einzelne Mensch nicht um der Gattung willen vorhan-
den ist, sondern als Zweck an sich, so kann auch ein Zeitalter
durch bedingte Hinaufsetzung seine unverlierbaren Rechte an
Isonomie nicht verlieren" (KFSA l, 640), In systematischer Hin-
sicht läßt sich Schlegels Ansicht über das Verhältnis von Freiheit
und Natur oder das „Dasein der Freiheit in der Natur" in die
Thesen zusammenfassen, die Freiheit in der Natur sei immer „1)
beschränkt in Stärke, Umfang und Dauer; 2) unterbrochen in
seiner Folge; 3) getrennt im Zusammenhange — zerstückelt"

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Das „historische System" 115

(ib.). Wenn es aber zutrifft, so folgert er, daß die Freiheit in der
Geschichte des Menschen „nicht ohne Natur, d. h. ohne Schran-
ken sein kann" oder, anders ausgedrückt, daß „das Ich ein Nicht-
Ich notwendig setzt", dann läßt es sich als die „Bestimmung des
Menschen" bezeichnen, daß „Freiheit ohne Schranken" weder
von der Gattung noch von den einzelnen je vollständig erreicht
werden kann. Anders ausgedrückt: „Freiheit nach dem Maß
seiner Schranken" kann jeder ohne Ausnahme als seine „Bestim-
mung" erreichen. In diesem Sinne erfüllt „jede noch so be-
schränkte Wirksamkeit der Freiheit ein positives moralisches
Infinitum" (ib.).
Bis zu diesem Punkt war Schlegel gekommen, als sich im
Sommer 1795 mit dem Entwurf einer historischen Darstellung
der Fortschritte des menschlichen Geistes von Condorcet eine
neue Quelle für seinen Versuch erschloß, „einen Leitfaden a priori
für die Universalgeschichte zu finden" (KFSA l, 629). Was diesen
geschichtsphilosophischen Entwurf für ihn so attraktiv machte,
bestand darin, daß hier das Ziel der Bewegung nicht prädeter-
miniert war wie in den Geschichtsphilosophien der deutschen
Aufklärung oder des deutschen Idealismus und sich somit das
Modell einer wahrhaft unendlichen, dezentrierten Bewegung er-
gab. 9 Schlegel hat dieses Konzept zu seinem eigenen Modell der
progressiven Universalpoesie weiterentwickelt. Von diesem Mo-
dell aus war jede Theorie auf Geschichte angewiesen, ja von hier
aus erhob sich das kunsttheoretische Motto der Brüder Schlegel
erst in seinem vollen Gewicht: die beste Theorie der Kunst ist
ihre Geschichte; was die Kunst sei, lehrt erst die Geschichte.10
Das bezieht sich aber gerade nicht auf die Tatsache, daß sich die
Theorie im Verlauf der Geschichte ausformuliert und an einen

9
Siehe hierzu Ernst Behler, Unendliche Perfektibilität. Europäische
Romantik und Französische Revolution (Paderborn: F. Schöningh
1989).
10
Siehe hierzu meinen Aufsatz ,„The Theory of Art is its Own History':
Herder and the Schlegel Brothers", Herder Today. Contributions
from the International Herder Conference, Stanford University, No-
vember 1987. Edited by Kurt Mueller-Vollmer (Berlin: de Gruyter
1990), 246-267.

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116 Die Konzeption der poetischen Einheit durch Friedrich Schlegel

Punkt gelangt, an dem sie komplett und perfekt wäre. Das wäre
wiederum das idealistische Gedankenmodell, das Schlegel nicht
teilte. Für ihn gilt vielmehr, daß die Phänomene der geistigen
Welt „durch keine Theorie erschöpft werden" können, weil ihr
Werden ein unendliches ist (KFSA 2, 183).
Schlegel hat diesem Gedanken auch auf indirekte, ironische
Weise durch das Projekt eines „historischen Systems" Ausdruck
gegeben. Dabei handelt es sich um ein Gebilde, das durch und
durch historisch, aber ebenfalls durch und durch systematisch
wäre, in dem sich der historische wie der systematische Teil
absolut entsprechen würden. Es ist hiermit der Standpunkt ab-
soluten Wissens beschrieben, ein „Gesichtspunkt, aus dem die
Eigenheit eines Metrums und Caesars Taten gleich wichtig schei-
nen" (KFSA 18, 96). So haben sich manche idealistische Philo-
sophen die Entwicklung tatsächlich vorgestellt, indem sie sagten,
wie Schlegel es im Athenäum formuliert, „die Geschichte sei eine
werdende Philosophie, und die Philosophie eine vollendete Ge-
schichte" (KFSA 2, 221). Aber das war nicht der Standpunkt
Friedrich Schlegels. Er sah sich in bezug auf die historische
Wirklichkeit in einem Zustand, den er mit Wendungen wie „noch
nicht" oder „solange noch" umschrieb. In diesem Sinne recht-
fertigte er fragmentarisches Schreiben, solange wir das vollendete
Erkenntnissystem noch nicht aufgestellt haben, oder er forderte
Ironie, solange in „mündlichen oder geschriebenen Gesprächen"
noch nicht „systematisch philosophiert wird" (KFSA 2, 152). Auf
ähnliche Weise argumentierte er, daß die Philosophie, so lange
sie noch nicht völlig systematisch ist und „in sichrer Methode
stetig fortschreiten kann", witzige Inspirationen und genialische
Einfalle nötig habe und knüpfte daran die rhetorische Frage:
„Aber sollen wir die einzigen noch vorhandenen Produkte des
synthesierenden Genies darum nicht achten, weil es noch keine
divinatorische Kunst und Wissenschaft gibt? Und wie kann es
diese geben, solange wir die meisten Wissenschaften nur noch
buchstabieren wie Quintaner, und uns einbilden, wir wären am
Ziel, wenn wir in einem der vielen Dialekte der Philosophie
deklinieren und konjugieren können, und noch nichts von Syntax
ahnden, noch nicht den kleinsten Perioden konstruieren kön-
nen?" (KFSA 2, 200). Wie hier deutlich wird, bezeichnen die

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Das „historische System" 117

Wendungen „solange noch" und „noch nicht" keine Übergangs-


zeit, die im vollendeten System oder von vollendeten Kunstwer-
ken überwunden wird, sondern den wahren Sachverhalt, die für
uns angemessene Erkenntnisweise. In diesem Sinne sagt Schlegel
auch über den Philosophen: „Man kann nur Philosoph werden,
nicht es sein. Sobald man es zu sein glaubt, hört man auf es zu
werden" (KFSA 2, 173).

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