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erklärte: „das Werk ist aber noch von größerm Umfange, als Du
angibst. - Die Geschichte der Griechischen Poesie ist eine voll-
ständige Naturgeschichte des Schönen und der Kunst, daher ist
mein Werk — Ästhetik. Diese ist bisher noch nicht erfunden, sie
ist das philosophische Resultat der Geschichte der Ästhetik und
auch der einzige Schlüssel derselben" (KFSA 23, 188). Wilhelm
Dilthey sagte über diese Zeit Schlegels in Dresden: „Er kommt
ganz ohne Geld; lebt in einer Einschränkung, die an Dürftigkeit
grenzt, von aller Gesellschaft zurückgezogen: nur mit Körner
begann allmählich ein literarischer Verkehr. Dies war die Epoche,
in welcher die Arbeiten niedergeschrieben wurden, durch die er
mit einem Schlage eine Stellung in der literarischen Welt gewann"
(DI l, 238).
Lediglich mit Johann Christian Körner, dem Freund Schillers,
und Wilhelm Gottlieb Becker, dem Inspektor der Antikensamm-
lung, unterhielt Schlegel geistigen Verkehr. Sein Schwager, der
Hofmarschall, hatte in Pillnitz, der Sommerresidenz des Königs,
ein zusätzliches Haus, in dem Schlegel gelegentlich wohnte, um
seine Arbeiten weiterzuführen. Manchmal lebte er auch in der
Umgebung von Pillnitz am Elbeufer in einem „kleinen Bauern-
hause am Fuße eines Berges, mit Aussicht auf eine freundliche
Fläche" (KFSA 23, 203), um die griechische Literaturgeschichte
aus den Quellen zu erarbeiten. Die ersten Manuskripte erschienen
in ziemlich zufällig gewählten Journalen der Zeit. Als Schlegel
für ein größeres, hauptsächlich theoretisch ausgerichtetes Manu-
skript über das Verhältnis der Griechen zur Moderne von Körner
an Salomon Michaelis in Neustrelitz verwiesen wurde, war mit
einemmal sein Erfolg als Schriftsteller gemacht. Michaelis er-
kannte gleich den Wert der übersandten Schrift und suchte den
jungen Autor für seinen Verlag zu gewinnen, indem er seine
beträchtlichen Schulden übernahm (KFSA 23, 301). Als Michaelis
im Mai 1796 mit F.A. Wolf und Johann Friedrich Reichardt, dem
Herausgeber der Zeitschrift Deutschland, in Leipzig zusammen-
traf, zeigte er diesen die ausgedruckten Bogen der Abhandlung
Über das Studium der Griechischen Poesie, um sie auf die Potenz
des gerade von ihm gewonnenen Autors aufmerksam zu machen.
Reichardt riß ihm den Text geradezu aus den Händen (KFSA 23,
302) und veröffentlichte Vorabdrucke daraus in seiner Zeitschrift
2
Poetik, VII, 4.
3
Siehe S. 94.
diese nur nicht als Doktrin konstruiert und stattdessen mit einem
gehörigen Schuß von Ironie zu nehmen weiß. Was gar den
orphischen Kern dieser Theorie von der „höhern Besessenheit"
anbetrifft, so war hier sogar ein wichtiger Punkt in Schlegels
eigener Theorie berührt, für den der dichterische Schaffensprozeß
aus dem Antagonismus der aufschäumenden Begeisterung und
der gegenwirkenden Skepsis, aus „Selbstschöpfung" und „Selbst-
vernichtung" hervorging (KFSA 2, 149, 151, 172, 217). Damit ist
im wesentlichen die von Schlegel formulierte dichterische Ironie
umschrieben. Im Medium der griechischen Literaturgeschichte
sagt er entsprechend, daß „die erste Ahndung des Unendlichen"
den „Sohn der Natur", den „plötzlich erwachten Geist nicht mit
frohem Erstaunen, sondern mit wildem Entsetzen" erfüllt und
fährt dann mit einem deutlicheren Hinweis auf die dichterische
Ironie fort: „Die höchste Leidenschaft verletzt sich gern selbst,
um nur zu wirken, und sich der überflüssigen Kraft zu entledi-
gen." (KFSA l, 402-03).
Was jedoch den orphischen Ursprung der Poesie anbetrifft, so
vertrat Schlegel die Meinung, daß hier die „Zeitbestimmung"
nicht richtig sei und in ihr die Tendenz der Hellenen zum Aus-
druck komme, das auf ältere Zeitalter zu übertragen, „was dem
späteren angehört" (KFSA l, 406). Vor allem die „geheimen
Gesellschaften" neigten dazu, „sich für uralt auszugeben".
Schließlich waren es Priester, „welche die angeblich uralten my-
stischen Gedichte aufbewahrten und verbreiteten", und dies ist
ein „Geschlecht, welches immer und überall in frommen Verfäl-
schungen groß war". Aristoteles nennt diese Gedichte sogar die
„sogenannten orphischen Lieder" und behauptet, „daß es nie
einen Dichter Orpheus gegeben habe". Ähnlich äußern sich an-
dere Autoritäten der klassischen Antike (KFSA l, 407). Für
Schlegel war vielmehr die Homerische Poesie „die älteste Ur-
kunde der Hellenischen Geschichte", und diese muß „im Ver-
gleich mit den Priestermärchen über Orpheus" als „Grundlage
und Leitfaden aller Untersuchungen über das hellenische Alter-
tum" dienen. Diese Poesie kennt aber „weder Orgien noch En-
thusiasmus in dem Sinne der späteren Priester, Dichter und
Denker". Der Homerische Sänger ist „nicht leidenschaftlich be-
sessen und voll von Gott". Sein Charakter ist „stille Besonnen-
5
Poetik VI, 12 (1450a).
6
ber das Erhabene, X, 1.
8
Siehe hierzu meinen Essay „A.W. Schlegel and the Nineteenth-Cen-
tury Damnatio of Euripides", Greek- Roman- and Byzantine Studies
27 (1986: The Nineteenth-Century Rediscovery of Euripides. Her-
ausgegeben von William M. Calder), 335-367.
Progression hat nur „die Einheit einer Kette oder einer sich in
allen Teilen berührenden Masse" (ib.). In Kants Universalge-
schichte wird dagegen alles in die Zukunft verlagert. Sein System
ist für Schlegel dasjenige, welches die teleologische Beurteilung
als den einzig möglichen Leitfaden a priori für die Universalge-
schichte aufstellt (ib.). In einer ausführlichen Anmerkung ver-
weist Schlegel auf Kants Abhandlung Idee zu einer allgemeinen
Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in der die Ansicht ver-
treten wird, daß „keine gesetzmäßige Geschichte des Menschen"
möglich sei und die „Hoffnung einer unendlichen Vervollkomm-
nung der Gattung" durch Redewendungen wie „Zwecke der
Vorsehung" oder die „Natur handle nie zwecklos" aufrechter-
halten wird (KFSA l, 630). Auch die Überzeugung, daß „alles
im großen aus Torheit und Bosheit zusammengewebt sei", wird
von Kant als Argument für die progressive Vervollkommnung
der Gattung verwandt, womit in seinem System der Geschichte
eine zu starke Vorherrschaft der Natur über die Freiheit be-
merkbar wird.
Alle diese unzureichenden Erklärungen der Geschichte bestä-
tigen für Schlegel aber nur, daß allein die „Deduktion der un-
endlichen For-tschreitung aus den Gesetzen der Wechselwirkung
der Freiheit und Natur" eine überzeugende Gesamtsicht der
Geschichte gewähren kann (KFSA l, 630). Eine solche Sehweise
erlaubt weder eine Verabsolutierung der Vergangenheit (Klassik)
noch der Zukunft (Utopie) und richtet sich gleicherweise gegen
die „beständige Rücksicht aber auf das hohe Urbild hinter uns,
das höhere Ziel vor uns". Schlegel geht davon aus, „daß es nicht
unsre Bestimmung sei, wie Bettler für die Nachwelt zur Fron zu
arbeiten", und begründet seine Ansicht mit der Folgerung: „denn
wie jeder einzelne Mensch nicht um der Gattung willen vorhan-
den ist, sondern als Zweck an sich, so kann auch ein Zeitalter
durch bedingte Hinaufsetzung seine unverlierbaren Rechte an
Isonomie nicht verlieren" (KFSA l, 640), In systematischer Hin-
sicht läßt sich Schlegels Ansicht über das Verhältnis von Freiheit
und Natur oder das „Dasein der Freiheit in der Natur" in die
Thesen zusammenfassen, die Freiheit in der Natur sei immer „1)
beschränkt in Stärke, Umfang und Dauer; 2) unterbrochen in
seiner Folge; 3) getrennt im Zusammenhange — zerstückelt"
(ib.). Wenn es aber zutrifft, so folgert er, daß die Freiheit in der
Geschichte des Menschen „nicht ohne Natur, d. h. ohne Schran-
ken sein kann" oder, anders ausgedrückt, daß „das Ich ein Nicht-
Ich notwendig setzt", dann läßt es sich als die „Bestimmung des
Menschen" bezeichnen, daß „Freiheit ohne Schranken" weder
von der Gattung noch von den einzelnen je vollständig erreicht
werden kann. Anders ausgedrückt: „Freiheit nach dem Maß
seiner Schranken" kann jeder ohne Ausnahme als seine „Bestim-
mung" erreichen. In diesem Sinne erfüllt „jede noch so be-
schränkte Wirksamkeit der Freiheit ein positives moralisches
Infinitum" (ib.).
Bis zu diesem Punkt war Schlegel gekommen, als sich im
Sommer 1795 mit dem Entwurf einer historischen Darstellung
der Fortschritte des menschlichen Geistes von Condorcet eine
neue Quelle für seinen Versuch erschloß, „einen Leitfaden a priori
für die Universalgeschichte zu finden" (KFSA l, 629). Was diesen
geschichtsphilosophischen Entwurf für ihn so attraktiv machte,
bestand darin, daß hier das Ziel der Bewegung nicht prädeter-
miniert war wie in den Geschichtsphilosophien der deutschen
Aufklärung oder des deutschen Idealismus und sich somit das
Modell einer wahrhaft unendlichen, dezentrierten Bewegung er-
gab. 9 Schlegel hat dieses Konzept zu seinem eigenen Modell der
progressiven Universalpoesie weiterentwickelt. Von diesem Mo-
dell aus war jede Theorie auf Geschichte angewiesen, ja von hier
aus erhob sich das kunsttheoretische Motto der Brüder Schlegel
erst in seinem vollen Gewicht: die beste Theorie der Kunst ist
ihre Geschichte; was die Kunst sei, lehrt erst die Geschichte.10
Das bezieht sich aber gerade nicht auf die Tatsache, daß sich die
Theorie im Verlauf der Geschichte ausformuliert und an einen
9
Siehe hierzu Ernst Behler, Unendliche Perfektibilität. Europäische
Romantik und Französische Revolution (Paderborn: F. Schöningh
1989).
10
Siehe hierzu meinen Aufsatz ,„The Theory of Art is its Own History':
Herder and the Schlegel Brothers", Herder Today. Contributions
from the International Herder Conference, Stanford University, No-
vember 1987. Edited by Kurt Mueller-Vollmer (Berlin: de Gruyter
1990), 246-267.
Punkt gelangt, an dem sie komplett und perfekt wäre. Das wäre
wiederum das idealistische Gedankenmodell, das Schlegel nicht
teilte. Für ihn gilt vielmehr, daß die Phänomene der geistigen
Welt „durch keine Theorie erschöpft werden" können, weil ihr
Werden ein unendliches ist (KFSA 2, 183).
Schlegel hat diesem Gedanken auch auf indirekte, ironische
Weise durch das Projekt eines „historischen Systems" Ausdruck
gegeben. Dabei handelt es sich um ein Gebilde, das durch und
durch historisch, aber ebenfalls durch und durch systematisch
wäre, in dem sich der historische wie der systematische Teil
absolut entsprechen würden. Es ist hiermit der Standpunkt ab-
soluten Wissens beschrieben, ein „Gesichtspunkt, aus dem die
Eigenheit eines Metrums und Caesars Taten gleich wichtig schei-
nen" (KFSA 18, 96). So haben sich manche idealistische Philo-
sophen die Entwicklung tatsächlich vorgestellt, indem sie sagten,
wie Schlegel es im Athenäum formuliert, „die Geschichte sei eine
werdende Philosophie, und die Philosophie eine vollendete Ge-
schichte" (KFSA 2, 221). Aber das war nicht der Standpunkt
Friedrich Schlegels. Er sah sich in bezug auf die historische
Wirklichkeit in einem Zustand, den er mit Wendungen wie „noch
nicht" oder „solange noch" umschrieb. In diesem Sinne recht-
fertigte er fragmentarisches Schreiben, solange wir das vollendete
Erkenntnissystem noch nicht aufgestellt haben, oder er forderte
Ironie, solange in „mündlichen oder geschriebenen Gesprächen"
noch nicht „systematisch philosophiert wird" (KFSA 2, 152). Auf
ähnliche Weise argumentierte er, daß die Philosophie, so lange
sie noch nicht völlig systematisch ist und „in sichrer Methode
stetig fortschreiten kann", witzige Inspirationen und genialische
Einfalle nötig habe und knüpfte daran die rhetorische Frage:
„Aber sollen wir die einzigen noch vorhandenen Produkte des
synthesierenden Genies darum nicht achten, weil es noch keine
divinatorische Kunst und Wissenschaft gibt? Und wie kann es
diese geben, solange wir die meisten Wissenschaften nur noch
buchstabieren wie Quintaner, und uns einbilden, wir wären am
Ziel, wenn wir in einem der vielen Dialekte der Philosophie
deklinieren und konjugieren können, und noch nichts von Syntax
ahnden, noch nicht den kleinsten Perioden konstruieren kön-
nen?" (KFSA 2, 200). Wie hier deutlich wird, bezeichnen die