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Prof. Dr. Taha Badri

Deutschabteilung (3. Studienjahr)


Sommersemester 2022/2023
Fach: Deutsche Literatur
2

Heinrich von Kleist: Der zerbrochene Krug

1. Leben und Werke Heinrich von Kleists

Heinrich von Kleist ist ein deutscher Dichter und besitzt eine besondere Stellung in der
deutschen Literatur, nicht nur in seiner Zeit, sondern auch in den folgenden Zeiten bis
heute. Er ist der Dichter der Wende vom Weltbild des 18. Jahrhunderts (Klassik und
Romantik) zur Gegenwart. Er ist kein Pathetiker und kein Idealist; man kann sagen: er
ist fast Realist. Für ihn haben Welt und Leben keinen bestimmten oder bestimmbaren
Sinn mehr, sie sind seiner Meinung nach zerbrechlich, ein Rätsel, eine Verführung. Kurz
und treffend hat Curt Hohoff den Charakter Kleists beschrieben, er sagt:
„Kleist war sich selbst ein Rätsel. Ein groß angelegter Charakter und Künstler
wurde von Skrupeln und Zweifeln langsam zersetzt. Eine Doppelanlage von
Keuschheit und Lüsternheit, von Härte und Weichheit, von märchenhafter
Verträumtheit und gewaltsamen Entschlüssen hat dazu geführt, dass man
seinen Charakter pathologisch genannt hat.“1
Weiter erklärte Hohoff, dass Kleist jedoch kein Zyniker und kein Nihilist geworden sei,
denn er habe sich ein tiefes Gefühl dafür bewahrt, dass es irgendwo Wahrheit und
Reinheit geben müsse.2 Alle Helden Kleists, der Kern seiner Dichtungen, widerspiegeln
die Gebrechlichkeit der Welt, und dass der Mensch als Verursacher verworrener
Zustände steht und demnach für diese Gebrechlichkeit verantwortlich ist (das sieht man
am klarsten in seinem Lustspiel Der zerbrochene Krug). Kleist war weder Klassiker
noch Romantiker, sondern eine sozusagen literarische Bewegung in sich selbst; er war
mehr Realist.

Aus Gründen der Familienüberlieferung war Heinrich von Kleist anfangs Soldat, wandte
sich dann der Literatur zu, denn er war sehr ehrgeizig, er wollte immer das Höchste
erreichen, um der größte Dichter zu werden. Das Durchschnittliche konnte seine
Wünsche und Träume nicht befriedigen. Einmal sagte er:
„Die Hölle gab mir meine halben Talente, der Himmel schenkt dem Menschen
ein ganzes oder gar keins.“3

So war das Selbstzerstörische (wahrscheinlich) lebendig in Kleist, es verführte ihn 1803


in Paris zu Gedanken an Vernichtung seiner Werke zuerst, und dann an Selbstmord.
Schließlich hat er sich schmerzvoll erschossen.

1
Heinrich von Kleist in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg
1958, S. 7.
2
Ebd., S. 8.
3
Aus einem Brief an seine Schwester Ulrike am 5. Oktober 1803.
3

Am 18. Oktober 1777 ist Heinrich von Kleist als Sohn einer weitverzweigten, altadligen
preußischen Offiziersfamilie in Frankfurt an der Oder (Provinz Brandenburg) geboren.
Die Familie stammt aus Pommern, sie ist ursprünglich wohl slawischer Herkunft. Sie ist
auch eine der größten Offiziersfamilien in Preußen geworden und hatte schon zur Zeit
Heinrich von Kleists etwa zwanzig Generäle und Marschälle hervorgebracht. Der Vater,
Joachim Friedrich von Kleist, war selbst ein Major. Als Heinrich im zehnten
Lebensjahre war, verlor er den Vater; fünf Jahre später die Mutter Juliane Ulrike von
Pannwitz. Über die Kindheit Kleists weiß man nur wenig; sie soll ihm im Kreis seiner
Geschwister heiter und gut vergangen sein. Mit seiner Stiefschwester Ulrike von Kleist
verband ihn zeitlebens eine sehr gute Beziehung.

Nach dem Tod seines Vaters wurde Heinrich zu dem Prediger aus der französischen
Kolonie, namens Catel, nach Berlin in Pension geschickt, wo er dort seine Schulzeit
abschloss. Entsprechend der Familientradition trat er mit vierzehn Jahren in das
vornehme Garderegiment in Potsdam ein, und zwar als Fahnenjunker. Hier diente er
sieben Jahre lang (1792 ─ 1799), und ab 1797 wurde er Leutnant. Nur als seine Mutter
starb, erhielt er Urlaub zur Beerdigung.

Kleist war aber nie mit vollem Herzen Soldat. Der eintönige Militärdienst konnte seinen
lebhaften Geist auf die Dauer nicht befriedigen. Er stieß sein von neuen humanen Ideen
beherrschtes Gemüt ab. So begann Kleist, wissenschaftliche Werke über Mathematik,
Philosophie und alte Sprachen intensiv zu studieren und die Musik eifrig zu treiben.
Schließlich entschloss er sich, den Militärdienst zu verlassen. Sein Abschied wurde im
April 1799 bewilligt. Als Zweck seines Abschieds hatte er Studium und späteren
Zivildienst angegeben. Damals schrieb er über seine Studienpläne:
„Ich habe mir ein Ziel gesteckt, das die ununterbrochene Anstrengung aller
meiner Kräfte erfordert, wenn es erreicht werden soll.“1

Die Familie wies ihn auf Jura und Kameralia (Volkswirtschaft) hin. Kleist sieht aber sehr
viel, er suchte einen weiteren Weg: er glaubte, in Mathematik und Logik die beiden
Grundlagen allen Wissens finden zu können. Zu dieser Zeit, im Herbst 1799, studierte er
an der Universität in Frankfurt/Oder die beiden Disziplinen. Gleichzeitig lernte er durch
seine Schwestern Wilhelmine von Zenge, die Tochter eines Generalmajors, kennen. Sie
war ein konventionell gebildetes, hübsches Mädchen. Schnell war er entflammt und
verlobte sich mit ihr. Im Sommer 1800 reiste er nach Berlin. Er wünschte eine Stellung
als Volkswirtschaftler im preußischen Wirtschaftsministerium, um sich weiter auf den
Zivildienst vorzubereiten. Er bekam zwar diese Stellung, klagte aber seiner Braut bald,
es sei ihm unmöglich, Beamter zu werden. Damals schrieb er:
„Ich soll tun, was der Staat von mir verlangt, und doch soll ich nicht
untersuchen, ob das, was er verlangt, gut ist. Zu seinen unbekannten Zwecken
soll ich ein bloßes Werkzeug sein ─ ich kann es nicht.“2

1
Zitiert nach Karl Brinkmann: Erläuterungen zu Kleists Der zerbrochene Krug. 6. Aufl., C. Bange
Verlag, Hollfeld/Obfr. 1963, S. 8.
2
Aus einem Brief an Wilhelmine von Zenge, November 1800.
4
Und so unterbrach er, nach weniger als einem Monat, die Tätigkeit, ließ sich vom
Ministerium beurlauben und machte eine Reise nach Würzburg. Über die Motive dieser
Reise hat Kleist sich stets geheimnisvoll geäußert. Man nimmt heute ziemlich allgemein
an, dass er in Würzburg durch einen operativen Eingriff Heilung von einem alten Leiden
suchte. Manche Kritiker behaupten, dieses Leiden müsste ihn eheuntauglich gemacht
haben.1

Damals schlug Kleist seiner Braut vor, mit ihm gemeinsam zu leben. Er wollte die
vornehme Lebensart aufgeben und sein Brot durch Unterricht verdienen, er wollte auch
mit ihr in die Schweiz ziehen, wo er vom Unterricht der deutschen Sprache leben zu
können glaubte. Außerdem glaubte er, die Franzosen hätten in der Schweiz ein großes
Interesse an der neuesten Philosophie Kants, mit der er sich besonders befasste. Da seine
Braut aber damit nicht einverstanden war, unter bescheidenen Verhältnissen mit ihm zu
leben, reiste Kleist wieder nach Berlin und beschäftigte sich intensiv mit dem Studium
Kants. Davon hat C. Hohoff gesprochen:
„Sein [Kleists] Eros richtete sich auf die Wissenschaften statt auf die Braut; ein
Liebhaber konnte nicht stürmischer bei der Werbung um ein Mädchen
verfahren als Kleist um die Wissenschaften warb.“2

Bereits in Würzburg erkannte Kleist, dass seine Bestimmung die Literatur war. Er
begann dort zu schreiben, und zwar nicht mehr Aufsätze und Tagebücher, sondern
Poesie. Man weiß jedoch nicht, was er damals geschrieben hat, denn er tat das ganz
heimlich. Kleist liebte sozusagen das Versteckspiel und die Übertreibung, so dass
manche Kritiker3 behaupteten, dass sein Leiden nicht peinlicher Natur war, und dass er
infolgedessen in Würzburg Heilung von einer seelischen Hemmung suchte, die sich auch
auf seinen Körper auswirkte. Die Natur und die Liebe sind nach Kleists Meinung Mittel
zur Sittlichkeit, d.h. der natürliche Mensch ist gut, der Mensch der Gesellschaft ist aber
böse usw.

Obwohl seine Reise nach Würzburg ihn der Literatur zuwandte, erfüllte sie ihm seine
ganzen Wünsche aber nicht. Deshalb entschloss er sich, nach Paris zu fahren, um
Rettung vor seiner inneren Wirrnis zu suchen. Im April 1801 fuhr er mit seiner
Schwester Ulrike über Straßburg nach Paris, jedoch im November desselben Jahres
verließen sie diese Stadt. Während Ulrike in die Heimat (nach Preußen) zurückkehrte,
reiste Kleist rheinaufwärts in die Schweiz, wo er von einem ganz naturnahen Landleben
träumte. Davon erzählte Ulrike 1828 aus der Erinnerung:
„Wir richteten uns in Paris auf ein Jahr ein. Es gefiel aber Heinrich das ganze
französische Wesen so schlecht, dass er nicht länger als vier Monate aushielt,
und dann nach [!] der Schweiz ging, wo er sich auf einer kleinen einsamen

1
Siehe das Vorwort der arabischen Übersetzung des Zerbrochenen Kruges von Mustafa Maher. Kairo
1971, S. 7.
2
H. von Kleist in Selbstzeugnissen ..., S. 19.
3
Ebd., S. 22.
5
Insel [...] niederließ, [...]. Ich kehrte nach Frankfurt zurück.“1
In Bern gewann Kleist neue Freunde, nämlich Heinrich Zschokke, Ludwig Wieland und
Heinrich Geßner; sie beschäftigten sich ganz mit der Literatur. Hier wurde Kleist die
Berufung zum Dichter endgültig bewusst, und sie beherrschte ihn seitdem. Als erstes
Drama entstand schon in Bern sein Werk Die Familie Schroffenstein (1801). Gleich
nachher schrieb er sein zweites Drama Robert Guiskard (1802), in dem es um den
Untergang des Normannenfürsten Robert Guiskard geht, der das kaiserliche Byzanz
erobern wollte. In diesem Augenblick brach aber die Pest in seinem Heer aus.

Im August 1802 erkrankte Kleist in Bern. Daher eilte seine Schwester Ulrike zu ihm;
fand ihn aber gesund vor. Kleist blieb jedoch in der Schweiz nicht mehr, denn die neue
Regierung dort wies seinen Freund Wieland aus, dann folgte er ihm freiwillig. Und so
ging Kleists Aufenthalt in der Schweiz, von dem er eine neue Richtung für sein Leben
erwartet hatte, zu Ende. Er verließ also die Schweiz und reiste nach Weimar, wo er im
großen Dichter Christoph Martin Wieland, dem Vater seines Freundes, den
verständnisvollsten Menschen seines dichterischen Wollens fand. In dieser Zeit bemühte
sich Kleist eifrig und fieberhaft um die Gestaltung seines zweiten Dramas Robert
Guiskard. Von diesem Drama sagte Christoph M. Wieland:
„Wenn der Geist des Aischylos, Sophokles und Shakespeare sich vereinigten,
eine Tragِdie zu schaffen, so würde das sein was Kleists Tod Guiskards des
Normannen, sofern das Ganze demjenigen entspräche, was er mich damals
hören ließ. Von diesem Augenblick an war es entschieden, Kleist sei dazu
geboren, die große Lücke in unserer Literatur auszufüllen, die meiner Meinung
nach wenigstens, selbst von Schiller und Goethe noch nicht ausgefüllt worden
ist.“2

Um die Zeit von 1803 und 1804 reiste Kleist in verschiedene Städte umher, er weilte in
Leipzig und Dresden, dann fuhr er weiter noch einmal in die Schweiz. Unterwegs, in
Paris, hatte er, verzweifelnd an seiner Fähigkeit, das Manuskript des Dramas Robert
Guiskard ins Feuer geworfen. Im Juni 1804 reiste er wieder nach Berlin, nachdem er
sich von dieser schweren Krise, nämlich der Verzweiflung an seiner Fähigkeit, erholt
hatte. Hier in Berlin suchte er einen Beruf im Zivildienst, endlich konnte er als Diätar bei
der Handelskammer arbeiten, wobei es eine verhältnismäßig ruhige Zeit in seinem
Leben folgte. Damals vermag er die endgültige Fassung seiner Lustspiele Der
zerbrochene Krug und Amphitryon zu gestalten. Darüber hinaus entdeckte er in
Königsberg, dass auch die Novelle als die zweite Form, neben dem Drama, steht, die
seiner schöpferischen Eigenart entspricht. Obwohl die harte Arbeit bei der
Handelskammer ihm die Gesundheit angriff, konnte er doch großartige Erzählungen und
Dramen schaffen, nämlich: Die Marquise von O..., Michael Kohlhaas, Das Erdbeben in
Chile und Penthesilea.

Im Januar 1807 wanderte Kleist mit ein paar Freunden wieder nach Berlin, obwohl es zu
dieser Zeit von den Franzosen besetzt war. Daher glaubten sie in ihm einen Spion oder

1
Biedermann: Kleists Gespräche. Leipzig 1912, S. 56. Zitiert nach C. Hohoff: Heinrich von Kleist in
Selbstzeugnissen ..., S. 39.
2
Hohoff, S. 55 f.
6
Agenten, sie verhafteten ihn und verschleppten ihn nach Frankreich, wo er über ein
halbes Jahr Gefangener war. Erst im August wurde er entlassen, und dann kam er nach
Dresden. In Dresden gab er zusammen mit seinem Freund Adam Müller den Phöbus
eine Zeitschrift für Kunst, heraus. Diese Zeitschrift spielte eine sehr große Rolle dabei,
dass man die Werke Kleists, die er darin veröffentlicht hatte, erhalten konnte. 1 Der
Phöbus konnte dennoch auf die Dauer nicht mehr bleiben. Das Neuartige,
Ungewöhnliche an den Schriften Kleists störte und verwirrte die Leser, dazu kam auch
Goethes zurückhaltende Kritik an dieser Zeitschrift, und dass Kleists Beiträge so
revolutionäre Züge hatten. Aus diesen Gründen zusammen ging Phöbus nach einem Jahr
ein. In dieser Zeit entstanden jedoch in Dresden Kleists Dramen Käthchen von
Heilbronn und Die Hermannsschlacht.

Kleist belebte sich durch den österreichischen Krieg gegen Napoleon vom Jahre 1809
mit neuer Hoffnung auf eine allgemeine Volkserhebung gegen den verhassten Tyrannen.
Damals fuhr er nach Prag, das zu dieser Zeit eine deutsche Stadt war. Hier beschäftigte
er sich fieberhaft mit der Arbeit für Germania, eine patriotische Zeitschrift, die
vermutlich aus negativen Folgen gar nicht veröffentlicht wurde. Gleichzeitig erhielt
Österreich die Niederlage in seinem Krieg gegen Napoleon, so dass Kleist selbst für
einige Zeit in völliger Verzweiflung und Zurückgezogenheit lebte, denn so war die Lage
hoffnungslos, und seine großen Pläne waren demnach gescheitert. Im Februar 1810
begann Kleist in Berlin seine letzte Lebensepoche. In diesem Jahr schuf er sein Drama
Der Prinz von Homburg, das jedoch vom Hof abgelehnt wurde. So erfüllte Kleist seine
Hoffnungen nicht, die er auf dieses Drama setzte.

Als letzter Versuch gab Kleist die Zeitung Berliner Abendblätter heraus. Darin arbeitete
er leidenschaftlich gegen Napoleon. Die Regierung unterband aber seine Angriffe durch
rücksichtslose Zensur und unterdrückte auch seine Theaterkritik und Kunstkritik, so dass
die Zeitung zur Bedeutungslosigkeit verurteilt wurde. Damit wurde sie für die Leser
uninteressant, so dass sie schließlich einging. Und so hat Kleist alle seine Hoffnungen
verloren. Jetzt schlug über ihn die ganze Verzweiflung, immer mehr stieg seine Not
zusammen mit der Einsamkeit. In dieser schweren Situation fand er in dem Selbstmord
den einzigen Ausgang. Im letzten Brief schrieb er damals an seine Schwester Ulrike:
„Ich kann nicht sterben, ohne mich, zufrieden und heiter, wie ich bin, mit der
ganzen Welt, und somit auch, vor allem andern, meine teureste Ulrike, mit Dir
versöhnt zu haben. [...] Wirklich, Du hast an mir getan, ich sage nicht, was in
Kräften einer Schwester, sondern in Kräften eines Menschen stand, um mich
zu retten: die Wahrheit ist, dass mir auf Erden nicht zu helfen war. Und nun
lebe wohl; möge Dir der Himmel einen Tod schenken, nur halb an Freude und
unaussprechlicher Heiterkeit dem meinigen gleich: das ist der herzlichste und
innigste Wunsch, den ich für Dich aufzubringen weiß.“2

Und so am 20. November 1811 fuhr er zusammen mit seiner Freundin Henriette Vogel

1
Das Vorwort der arabischen Übersetzung des Zerbrochenen Kruges von Mustafa Maher. S. 13.
2
Kleists letzter Brief an seine Schwester Ulrike am Morgen seines Todes.
7
in ein Gasthaus am Wannsee, sie speisten zusammen, tranken Kaffee, schrieben darauf
in ihren Zimmern Briefe und gingen anschließend zur Ruhe. Am nächsten Tag, dem
21.11.1811 bezahlten sie ihre Rechnung bei dem Wirt, aßen und tranken Kaffee, und
gingen dann zusammen am Seeufer ungefähr 50 Schritte weit fort. Man hörte in diesem
Augenblick zwei Schüsse. Die hinzueilende Wärterin des Gasthauses fand beide am
Boden. Kleist hatte seine Freundin durch die linke Brust ins Herz geschossen, dann sich
selbst durch den Mund in den Kopf. Beide waren gleich tot. Beide wurden an derselben
Stelle in ein Grab gelegt. Auf seinem Grabstein am Wannsee in Berlin steht:
„Er lebte sang und litt
in trüber schwerer Zeit;
er suchte hier den Tod,
und fand Unsterblichkeit.“
8

2. Die Ironie im Lustspiel Der zerbrochene Krug

2.1 Adams Listen und Täuschungen


Das Interesse gilt bisher der Ironie bei Kleist als Ausdruck seines schöpferischen
Vermögens und seiner ethischen Betrachtung gewisser Gegenstände. Das Lustspiel Der
zerbrochene Krug ist tatsächlich ein ironisches Stück; das bedeutet aber nicht, dass nur
sein Verfasser Ironie hat, sondern auch, dass die Ironie in diesem Lustspiel objektiviert
ist. Hohoff meinte, der Zerbrochene Krug sei ein Ausspruch offenen Hohns und
beißender Ironie Kleists gegenüber den seinem Ideal entgegengesetzten Typen.1

Unbestreitbar und zweifellos gehört Kleists Zerbrochener Krug durch die Fülle seiner
ironischen Züge zu den theaterwirksamsten Stücken, und wie Hebbel es nannte, es ist
das einzige Lustspiel, das die Literatur aufzuweisen hat.

Kaum scheint es nötig, sich zum Verständnis dieses Lustspiels und der Äußerung Kleists
über seine theoretischen Einsichten in das Wesen des Ironischen zu vergewissern, so
offen tritt die Ironie in jeder Szene dieses Werkes zutage.2

Die Komik Adams in diesem Lustspiel wurde durch das für ihn zufällige Erscheinen des
Gerichtsrats Walter noch gesteigert, und so hat sich Adam in der Verhandlung noch dazu
über seine richterlichen Fähigkeiten ausgewiesen. Dieser Dorfrichter ist von Kleist zum
Teil nicht als Bösewicht gemeint; offensichtlich geht es ihm (Kleist) um die
Lächerlichkeit, die die Hauptgestalt des Stückes ausstrahlt. Und je erbarmungsloser dann
im Verlauf des Stückes die Jagd auf Adam wird, je enger sich die Schlingen um seinen
Hals zusammenzogen.

Fast alle Personen des Zerbrochenen Kruges sind durch ihre Beschränkung auf ein
subjektives Interesse an der Wahrheit geprägt. In dieser Beschränkung besteht
wahrscheinlich ein wesentlicher Teil der Ironie dieses Lustspiels. Diese Ironie enthält
schon befremdende Züge, dass der Dorfrichter Adam von Anfang an an diese Be-
schränkung seiner Partner einkalkulieren konnte, und so versuchte er mit verschiedenen
Lügen und Listen, die ganze Gerichtsverhandlung zu einem Spiel mit der Wahrheit zu
verfälschen. Er benutzte die verschiedenen Eigenschaften seiner Partner in diesem
Stück, wie ihren Ehrgeiz, ihren Aberglauben, ihre Dummheit oder Liebe, um die
Wahrheitsfindung zu verhindern.3

Die Unmittelbarkeit, mit der der Dorfrichter Adam seine Erfindungen und Listen
improvisiert vorträgt, widerspricht aber der Vorstellung eines absichtsvoll planenden

1
Hohoff: Komik und Humor, S. 40.
2
Vgl. Manfred Schunicht: Heinrich von Kleist Der zerbrochene Krug. In: Zeitschrift für deutsche
Philologie. Hrsg. von Hugo Moser, Wolfgang Stammler und Benno von Wiese. 84. Band, Erich
Schmidt Verlag, Berlin 1965, S. 550.
3
Ebd., S. 557.
9
Lügens unter einem unausweichlichen Zwang der fatalen Situation. Adam hat sicherlich
ein nächtliches Abenteuer zu verbergen und plant einen Betrug, der das Lebensglück
zweier junger Menschen, nämlich Eve und Ruprecht, an den Rand der Zerstörung
bringen konnte. Der Dorfrichter Adam ist durch sich selbst lächerlich, und zwar durch
sein Alter, seine Leiblichkeit bzw. sein Aussehen. Er ist daher ein Objekt des Lustspiels,
zu dessen ironischen Wirkungsmitteln die Verkehrung und Verschleierung des richtigen
Verhältnisses gehören. Man meint hier mit der Verkehrung des richtigen Verhältnisses
in diesem Lustspiel den Widerspruch Adams zu den Normen der erotischen
Beziehungen.

Der Fall Adams in diesem Lustspiel sieht so aus wie ein Schwank. Dieser Schwank hatte
jedoch ein für Adam sehr gröblich missglücktes Resultat, das ihn zum Geprellten und
schwer Verprügelten gemacht hatte. Dieses Resultat kehrt wahrscheinlich das moralisch
Anstößige ins Lächerliche um, das heißt, es verwandelt die verwerfliche Situation in eine
komische Lustspielsituation, die sich im großen und ganzen an Adams Leiblichkeit und
Listen abzeichnet. Kleist wollte mit diesem Lustspiel den Zuschauer bzw. Leser aus der
tragischen Last des Lebens in die Komödie vollendeter Überlegenheit verwandeln.

Kleists Ironie gegenüber dem Dorfrichter Adam liegt in der Tat darin, dass er die
Dialogstellen, an denen Adam seine Ausreden, seine Listen und Falschdarstellungen
geführt hatte, vorbrachte und vor den Beginn des eigentlichen Prozesses, nämlich der
Verhandlung, verlegte. Im ersten Auftritt des Stückes erzählte Adam seine angebliche
Geschichte vom Straucheln auf glattem Boden, vom Fallen aus dem Bett, vom Gefecht
mit dem Ziegenbock an der Ofenecke; im zweiten Auftritt die seltsame und zugleich
komische Geschichte von seiner Perücke, die man kaum glauben kann.
„LICHT: Ei, was zum Henker, sagt, Gevatter Adam!
Was ist mit Euch geschehn? Wie seht Ihr aus?
ADAM: Ja, seht. Zum Straucheln braucht's doch nichts, als Füße.
Auf diesem glatten Boden, ist ein Strauch hier?
Gestrauchelt bin ich hier; denn jeder trägt
Den leid'gen Stein zum Anstoß in sich selbst.“1

So gab Adam an, dass er auf dem glatten Boden gestrauchelt sei, um damit die Wahrheit
zu verbergen, obwohl diese angebliche Geschichte vom Straucheln nichts mit der
Wirklichkeit zu tun hat; sie ist vielmehr eine seiner Listen und Täuschungen dieser
Wirklichkeit gegenüber. Noch setzte Adam seine Lüge fort, als ihn sein Schreiber Licht
fragte:
„LICHT: Wann trug sich die Begebenheit denn zu?
ADAM: Jetzt, in dem Augenblick, da ich dem Bett
Entsteig. Ich hatte noch das Morgenlied
Im Mund, da stolpr' ich in den Morgen schon,
Und eh ich noch den Lauf des Tags beginne,
Renkt unser Herrgott mir den Fuß schon aus.“2

1
Der zerbrochene Krug. Erster Auftritt, S. 115.
2
Loc. cit.
10
Kleist lässt den Richter Adam, als Zeichen seiner Ironie ihm gegenüber, diese Täu-
schungsgeschichten in Situationen und Augenblicken vorbringen, die sie als Täu-
schungen, als Lügen und Listen durchsichtig machen, so dass sie ─ wie wir später
erfahren werden ─ in einem Widerspruch mit sich selbst geraten müssen, als Täu-
schungen zumindest sehr verdächtig, die man ganz leicht entlarven kann. Indem Kleist
den Richter Adam als Lügner vorführt, lässt er jedoch erkennen, dass er gar nicht lügen
kann, obwohl er sich sehr bemühte, sich dahinter zu verstecken. Hier lässt sich Kleists
Ironie gegenüber dem Richter Adam zweifellos erkennen: Kleist spricht ganz deutlich
gegen Adam, wie er sich wiederholt, wie in Geistesabwesenheit, in sich selbst versunken
und verwirrt, verraten will. Das erweist sich in seinem Verhalten gegenüber seinem
Schreiber Licht, gegenüber den zwei Mägden, in seinem Ausweich- und
Abwehrversuchen, in seiner Erregung und seiner Angst angesichts des nahenden
Besuchers, nämlich des Gerichtsrats Walter, noch in dem Bündnisangebot an Licht, sich
einander zu helfen vor dem Gerichtsrat, am klarsten in dem selbstvergessenen
Eingeständnis seines Traumes, den er selbst vor Licht erzählte. Auch in diesem Traum
steckte Adam eine List, indem er angab, dass das Verhängnis so scheint, auch Licht als
Partner in die Gefährdung einzuschließen. Die List in diesem Traum finden wir im
nächsten Dialog zwischen Adam und seinem Schreiber Licht:
„LICHT: Die Kläger stehen vor der Türe schon.
ADAM: ─ Mir träumt', es hätt ein Kläger mich ergriffen,
Und schleppte vor den Richtstuhl mich; und ich,
Ich säße gleichwohl auf dem Richtstuhl dort,
Und schält' und hunzt' und schlingelte mich herunter,
Und judiziert den Hals ins Eisen mir.
LICHT: Wie? Ihr Euch selbst?
ADAM: So wahr ich ehrlich bin.
Drauf wurden beide wir zu eins, und flohn,
Und mussten in den Fichten übernachten.“1

Wir sehen also hier, wie Adam nach Worten sucht und in der Rede seine Täu-
schungsgeschichten aus dem Augenblickseinfall aufbaut.

Adams Charakter scheint als ein großartig unbekümmertes Schalten und Walten mit der
Wirklichkeit. Das führt uns zum Beweis, wie dicht ihm diese Wirklichkeit an den Füßen
sitzte, so dass er sich am Ende von ihr nicht entfernen konnte; und das ist:
„... nicht nur, weil sein leiblicher Zustand ihn widerlegt, sondern weil er sich
selbst im Wechsel von Augenblick zu Augenblick immer wieder unbewusst
verrät und über die eigenen Worte hinfällt.“2

Die durchschaubare und sich selbst bestreitende Lüge Adams ist also keine Lüge; sie ist
vielmehr eine Fiktion innerhalb seines Spiels mit der Wirklichkeit, der er nicht
weglaufen konnte, obwohl er es mehrmals versuchte. Die Gestaltung Adams ist

1
Ebd. Dritter Auftritt, S. 126.
2
Martini: Lustspiel, S. 170.
11
demnach „gemäß dem Gesetz des Lustspiels gerichtet.“1 Das heißt, er ist eine komische,
jedoch zur Lächerlichkeit führende Person. Die Spielfigur Adams ist davon bestimmt,
dass sie in allen Täuschungen und Listen diese Täuschungen für den Zuschauer
durchsichtig macht, so dass er sie schnell entlarven kann. Die Lüge Adams hatte also
kurze Beine, ließ ihn selbst ins Garn laufen und ihr Opfer werden und schlug ihn mit
einer Blindheit, dass er nicht mehr wusste, was er sagen und wie er verhalten sollte.

Die Durchsichtigkeit der Täuschungen Adams führte ihn zur ersichtlichen Ohnmacht, so
dass er die Wirklichkeit erfolgreich nicht verstellen konnte. Seine Lügen äußern sich als
eine Unmittelbarkeit der Improvisation des überraschenden Einfalls, als eine
Unmittelbarkeit des Spiels eines raschen Wechsels zwischen Verstecken und Entlarven.
Mit anderen Worten: das ganze Verhalten Adams ist nicht durch sorgfältige Überlegung
bestimmt, sondern durch die Improvisation.

Die Lächerlichkeit Adams liegt, nach F. Martini, darin, wie er die Rolle des Richters
entgegen ihrer Bestimmung auszuspielen bemüht ist, wie er mit allen Registern von
Bitten und Beschwörungen, von Überlistungen und Verdrehungen, von Gewaltsam
keiten und Mehrdeutigkeiten wie ein Regisseur die Gerichtsverhandlungen zu seinen
privaten Gunsten entgegen seiner Richterrolle zu lenken sucht, obwohl er zugleich
Subjekt und Objekt dieses Spiel, der Richter und der Täter, ist.2

Hier scheint sich auch die ironische Distanz Kleists gegenüber dem Richter Adam. Diese
Distanz liegt eigentlich darin, wie Kleist das rollenhafte Spiel dadurch akzentuierte, dass
er Adam immer wieder aus seiner gespielten Wirklichkeit gegenüber seinen Partnern in
seine Spielwirklichkeit fallen ließ, und zwar in seinen Dialogen mit den anderen.

Kleist, der Ironiker, ließ den Dorfrichter Adam in seine Spielwirklichkeit fallen, um ihn
Schritt für Schritt zu entlarven, und zwar mal monologisch mit wenigem Bewusstsein,
mal dialogisch mit zielender Absicht. Er spricht z.B. zu Eve (oder Evchen!) mit
zweideutigen Worten, um sie zwecks Verdeckung der Wahrheit als Hilfsgenossin
festzuhalten, indem ihn der Gerichtsrat Walter ermahnt, sein Geschwätz zu lassen:
„ADAM:
Sprich, Evchen, hörst du, sprich jetzt, Jungfer Evchen!
Gib Gotte, hörst du, Herzchen, gib, mein Seel,
Ihm und der Welt, gib ihm was von der Wahrheit.
Denk, dass du hier vor Gottes Richtstuhl bist,
Und dass du deinen Richter nicht mit Leugnen,
Und Plappern, was zur Sache nicht gehört,
Betrüben musst. Ach, was! Du bist vernünftig.
Ein Richter immer, weißt du, ist ein Richter,
Und einer braucht ihn heut, und einer morgen.
Sagst du, dass es der Lebrecht war: nun gut;
Und sagst du, dass es Ruprecht war: auch gut!
Sprich so, sprich so, ich bin kein ehrlicher Kerl,
Es wird sich alles, wie du's wünschest finden. ...

1
Loc. cit.
2
Ebd., S. 175.
12
WALTER: Wenn Ihr doch Eure Reden lassen wolltet.
Geschwätz, gehauen nicht und nicht gestochen.“1
Die komische Spannung im Zerbrochenen Krug erwächst daraus, dass der Richter Adam
aus dem heilen Rahmen der menschlichen Welt herausfiel und dadurch der
Lächerlichkeit preisgegeben wurde. Das heißt:
„Eine harmlosere Art der Irreführung, der verfälschenden Beziehung zur
Wirklichkeit finden wir in der Lügenhaftigkeit Richter Adams.“2

Adam gewinnt also komische Züge dadurch, dass er mit so viel Phantasiereichtum und
Bauernschläue die Entlarvung hinauszuzögern weiß; er erscheint aber grotesk, weil er
sich selbst dabei droht. Er war verwirrt, und das führte ihn zum trügerischen Ausweichen
vor der Wirklichkeit. Die paradoxe Situation, dass der Übeltäter hier Recht sprechen und
damit die Menschenwürde schützen soll, weist darauf hin, dass Adam sich selbst
widerspricht und dass die Ordnung verkehrt ist und auf dem Kopf steht.3

Der Richter Adam geriet also, wegen seiner bösen Taten, in eine Klemme, durch die er
gezwungen war, mit Listen, Täuschungen und viel Phantasie immer neue Ausflüchte zu
finden versuchte und den Verdacht auf die anderen Personen (vor allem auf Ruprecht) zu
lenken. Das zeigt schon die schwache gebrechliche Natur des Menschen überhaupt.
Adam bediente sich hier des Verhörs, um die Wahrheit zu verbergen; seine Gebärden
stehen jedoch immer im komisch-lächerlichen Kontrast zu seiner Angst. Diese Angst
widerlegt seine Lügen und Täuschungen gegenüber der Wirklichkeit und den anderen
Personen im Stück. Da er nichts gewinnen konnte, schaltete und waltete er willkürlich
mit Fakten und Figuren zugleich, wo er immer durch zweideutige Worte sich selbst
verriet. Die falsche Beziehung Adams zur Wirklichkeit erscheint immer komisch. Diese
Komik beruht auf dem Kontrast zwischen dem betrügerischen Schein und den wahren
Verhältnissen dieser Wirklichkeit. Adam wurde durch seine eigenen körperlichen
Indizien überführt, nämlich durch seine Wunden, seinen Klumpfuß und schließlich
durch seine Perücke: durch diese Indizien wurde er entlarvt und damit wurde auch der
von ihm geplante Justizirrtum verhindert.

Die unaufhaltsame Enthüllung der Wahrheit im Zerbrochenen Krug bildet das Komische
und demnach das Ironische in diesem Lustspiel, in dessen Mittelpunkt der Dorfrichter
Adam steht.4 Das Besondere an diesem Werk liegt darin, dass Adam, indem er seine
Schuld zu verschleiern versucht, sich selbst als den Schuldigen, den Täter, entlarvt. Er
versuchte ständig, sich aus dem Netz der Wahrheit zu befreien, aber vergeblich! Diese
Wahrheit ließ sich gegen seinen Willen erkennen und ihn als den Übeltäter entlarven;

1
Der zerbrochene Krug. Neunter Auftritt, S. 157.
2
Elmar Hoffmeister: Täuschung und Wirklichkeit bei Heinrich von Kleist. H. Bouvier und Co. Verlag,
Bonn 1968, S. 22.
3
Ebd., S. 23.
4
Siehe Heinrich von Kleist: Dramen. Hrsg. von Eike Middell, Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig 1977,
S. 36.
13
das war also das Resultat seiner Lügen und Täuschungen.

Der Dorfrichter Adam hatte, durch die Mehrdeutigkeit seiner Reden, mit dem Recht, mit
den anderen Personen im Stück und dadurch auch mit der Wahrheit auf geistreiche
Weise gespielt.1 Er ist dabei komisch. Da jede Komödie der Gesellschaft bedarf, muss
das Innerliche nach außen gekehrt werden. Dieses Innerliche wurde aber im
Zerbrochenen Krug (durch Adam) im Negativen aufgezeigt, so dass die Nichtinner-
lichkeit lächerlich gemacht wurde. Hohoff ist der Meinung, der tragische Held sei
tragisch auch ohne Gesellschaft, er könne tragisch untergehen, ohne dass ein anderer es
zu sehen braucht; der komische Held hingegen braucht, um komisch zu werden, diesen
anderen, nämlich den Betrachter; d.h., die Komik geht erst einem sie entdeckenden auf,
der dieser Komik transzendent ist.2

Der Richter Adam will etwas Bestimmtes erreichen, wo dieses Ziel aber ganz außerhalb
seines Vermögens steht, denn es ist unrichtig und widerlegt die Normen der heilen
Gesellschaft. Adam verhielt sich zu sich selbst, so konnte er nicht richtig planen, was er
zu erreichen versuchte. Daraus ergibt sich, dass er sich hier aus dem Gegenteil seiner
echten Natur verhält, und zwar aus der Lüge, die alle seine Taten zu äußerlich macht.
Wir meinen mit seinen Taten die Taten der Bosheit. Diese Umkehrung der menschlichen
Natur ist der Kernpunkt des Zerbrochenen Kruges.

Adam verhält sich also aus den Lügen und Täuschungen. Er ist absolut und will diese
von ihm angemaßte Absolutheit nicht aufgeben, denn er glaubt, die Dinge von sich aus
meistern und kontrollieren zu können, während sich am Ende die Notwendigkeit als
objektiv erweist. Er glaubt auch, die Welt nach den persönlichen Lüsten und Launen
beherrschen zu können, so läuft er ins Garn und in heillose Konfusion, denn es entstehen
durch seine Lügen und Täuschungen immer neue Widersprüche, die zur Lächerlichkeit
führen. Er erfindet immer wieder Ausreden und Listen, um sich freizumachen. In der Tat
treibt ihn aber jede seiner Bewegungen, die ihn, wie er glaubt, befreien soll, tiefer ins
Netz, das er endlich selbst kaum noch überschaut; er kann nicht alles behalten, denn er
widerspricht sich, die Welt, die er sich baute. Das bedeutet, dass er nicht mehr
bewältigen kann, weil die Notwendigkeit der Dinge ihn stark erdrückt.3

Die Naivität der Komik Adams, die in diesem Lustspiel vorhanden ist, scheint nach der
Meinung Hohoffs einer echten Naivität zu entspringen, die Adam selbst nicht als
Naivität erkennt, denn seine Bewusstheit bezieht sich nur auf seine Schuld und den
Versuch, sie zu verhüllen. In diesem Nichterkennen besteht die Echtheit der Naivität.
Adam ist zwar naiv, aber an einer ganz anderen Stelle, als er es zu sein glaubt: Dieser
Widerspruch macht eigentlich seine Komik aus, bis er am Ende entlarvt wurde. Diese
von ihm ungewollte Entlarvung weist hin auf die Ironie Kleists diesem Dorfrichter
gegenüber.

1
Vgl. Victor Lange: Das klassische Zeitalter der deutschen Literatur. 1740 ─ 1815. Winkler Verlag,
München 1982, S. 278.
2
Komik und Humor, S. 32.
3
Ebd., S. 35.
14
Die Ironie Kleists gegenüber Adam zeigt sich in der direkten Affektäußerung dieses
Richters, im Missverstehen oder Misshören eines ihm zugesprochenen Satzes oder
Wortes in den verschiedenen Dialogen. Dadurch befähigt Kleist den Zuschauer, Adams
Täuschungsspiel, seine Listen und Lügen, zu entlarven. So konnte der Zuschauer ─ dank
dem Autor ─ früher als die Partner Adams im Stück erkennen, wie Adam selbst im
Geständnis der Wahrheit vorauseilte und sich demaskierte, bevor er wirklich demaskiert
wurde. Mit anderen Worten: Der Zuschauer konnte durch Adam selbst eine überlegene
Einsicht haben. Adam verteidigt sich gegen die Anklage, bevor sie vorgebracht wird; er
gesteht, jedoch indirekt bevor seine Partner an ihn als den Schuldigen denken. So ist die
komische Spannung des durchsichtigen Widerspruchs in seine Figur eingelegt und
vergegenwärtigt, so dass er sich doch nicht verstellen kann, wenn er sich immer zu
verstellen versucht.

Der folgende Dialog zwischen Adam und seinem Schreiber Licht zeigt uns, wie sich
Adam ins Netz führt und damit einen Weg zur Entlarvung der Wahrheit macht:
„ADAM für sich:
Verflucht! Ich kann mich nicht dazu entschließen ─!
─ Es klirrte etwas, da ich Abschied nahm ─
LICHT ihn aufschreckend:
Herr Richter! Seid Ihr ─?
ADAM: Ich? Auf Ehre nicht!
Ich hatte sie behutsam drauf gehängt,
Und müsst ein Ochs gewesen sein ─
LICHT: Was?
ADAM: Was?
LICHT: Ich fragte ─!
ADAM: Ihr fragtet, ob ich ─?
LICHT: Ob Ihr taub seid, fragt ich.
Dort Seiner Gnaden haben Euch gerufen.
ADAM: Ich glaubte ─ ! Wer ruft?
LICHT: Der Herr Gerichtsrat dort.“1

Und so demaskiert Adam sich selbst, ohne es zu wissen. Er ist ganz verwirrt und gerät in
eine sehr kritische Situation, so dass er sich selbst nicht kontrollieren kann. Er weiß nicht
mehr, was er sagen soll oder wie er sich verhält. Das bemerkte schon der Gerichtsrat
Walter und sprach daher zu ihm:
„Ihr seid ja sonderbar zerstreut. Was fehlt Euch?“2

Ein Großteil der komisch-lächerlichen Wirkung des Zerbrochenen Kruges liegt


wahrscheinlich darin, dass es Adam immer wieder gelingt, neue Ausreden zu erfinden
und damit den Gang der Aufhellung zu verwirren und die meisten seiner Partner zu
täuschen. Er verfällt dabei seiner Phantasie, so dass er seine eigenen Lügen rasch

1
Der zerbrochene Krug. Siebenter Auftritt, S. 136 f.
2
Ebd., S. 137.
15
vergisst und immer neue Geschichten erfindet, wenn er eine Ausrede braucht. Er erklärt
z.B. zum Verlust seiner Perücke einmal, sie sei ihm unter das Bett gefallen und seine
Katze habe hineingejungt. Später behauptet er gegenüber dem Gerichtsrat Walter, die
Perücke sei ihm in Flammen aufgegangen, als er am Abend noch gelesen habe.
Nachdem die Perücke in Frau Marthes Spalier gefunden wurde, gibt er selbst zu, dass
diese Perücke ihm wirklich gehört, und er beschuldigt Ruprecht, sie nicht nach Utrecht
getragen zu haben, um sie reparieren zu lassen. Noch später will er wieder leugnen, dass
die Perücke ihm gehört; er wird aber von Licht widerlegt, indem er ihm diese Perücke
auf den Kopf stülpt. Hier zeigt sich auch die Ironie Lichts dem Richter Adam gegenüber.
Daraus ergibt sich, dass Richter Adam dabei völlig aus dem Augenblick lebt und sich
verhält. Er findet immer Ausflüchte, die ihm nur ein kleines Stück weiterhelfen können.
Obwohl er bei diesem Verhalten kurzsichtig ist und sich immer neue Schlingen
verwickelt, gelingt es ihm aber immer wieder, fast alle seiner Partner mehr oder weniger
durch seine Listen zu täuschen.1

Der Dorfrichter Adam wurde gegen seinen Willen zur Gerichtsverhandlung gezwungen;
es war ihm ungewollt. Je tiefer er sich darin verstrickte, um so deutlicher enthüllte sich
in ihm der Angeklagte. Durch diesen Kontrast kann man die großartige Technik der
ironischen Wirkung dieses Lustspiels erkennen. Diese Technik hat Kleist in
ungewöhnlicher Weise sublimiert. Der Richter Adam, der das lächerliche Bild des
Zerbrochenen Kruges ist, kennt schon die Wahrheit, will sie trotzdem verbergen.
Deshalb währt er sich gegen die Gerichtsverhandlung. Dieses Verhalten scheint aber
keinen Erfolg zu haben; daher ist ihm jetzt jedes Mittel recht, die Entlarvung der
Wahrheit zu vereiteln. Indem er aber die Wahrheit verbergen will, verhilft er ihr immer
wieder dazu, sich zu zeigen, so dass er schließlich im „Richter der Schuldige“ nicht mehr
verbergen kann. Eckehard Catholy hat davon gesprochen, wenn er sagte:
„Adam versucht, sich mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln, von denen
die Lüge das Kunstvollste ist, aus den Schlingen des Gerichts zu retten; aber er
verfängt sich darin nur immer tiefer.“2

Adam neigt sich also der Lüge und der Täuschung zu, damit die anderen (die Partner im
Stück) die Wahrheit, seine bis jetzt unbekannte Geschichte mit Eve, nicht entlarven
können. Seine Lügen und Täuschungen lassen sich jedoch durch ihn selbst demaskieren,
und zwar weil diese Lügen und Täuschungen dem Zuschauer ganz durchsichtig und
erkennbar sind, und so
„... kann der Zuschauer die Lügenhaftigkeit Adams nicht nur entlarven, weil er
sie ─ im Besitze des besseren Wissens ─ durchschaut. Er entlarvt sie vor allem
lachend, weil sie durch ihre Form nicht mehr der Realität, sondern der Sphäre
des Spiels angehört.“3

1
Siehe: Zwischen Klassik und Romantik. Hrsg. vom Kollektiv für Literaturgeschichte, volkseigenen
Verlag Volk und Wissen. (Reihe: Erläuterungen zur deutschen Literatur.) Leipzig 1965, S. 168 f.
2
Das deutsche Lustspiel. Von der Aufklärung bis zur Romantik. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart ─
Berlin ─ Köln ─ Meinz 1982, S. 178.

3
Loc. cit.
16

Catholy meint hier mit dem Spiel vor allem das Spiel mit der Sprache, wodurch sich die
Improvisationskunst Adams enthüllt. Das bedeutet, Adam erfindet, wie es bereits erklärt
wurde, immer wieder neue Ausreden, wenn sie ihm nötig sind. Ein Dialog zwischen
Adam und Licht am Beginn des ersten Auftritts erklärt uns diese Lügen und
Improvisationskünste Richter Adams, und zwar als Licht einen Spiegel brachte, damit
Adam seine Wunden sehen kann:
„LICHT bringt einen Spiegel:
Hier! Überzeugt Euch selbst!
Ein Schaf, das, eingehetzt von Hunden, sich
Durch Dornen drängt, lässt nicht mehr Wolle sitzen,
Als Ihr, Gott weiß wo? Fleisch habt sitzen lassen.
ADAM: Hm! Ja! 's ist wahr. Unlieblich sieht es aus.
Die Nas hat auch gelitten.
LICHT: Und das Auge.
ADAM: Das Auge nicht, Gevatter.
LICHT: Ei, hier liegt
Querfeld ein Schlag, blutrünstig, straf mich Gott,
Als hätt ein Großknecht wütend ihn geführt.
ADAM: Das ist der Augenknochen. ─ Ja, nun seht,
Das alles hatt ich nicht einmal gespürt.
LICHT: Ja, ja! So geht's im Feuer des Gefechts.
ADAM:
Gefecht! Was! ─ Mit dem verfluchten Ziegenbock,
Am Ofen focht ich, wenn Ihr wollt. Jetzt weiß ich's.
Da ich das Gleichgewicht verlier, und gleichsam
Ertrunken in den Lüften um mich greife,
Fas ich die Hosen, die ich gestern abend
Durchnässt an das Gestell des Ofens hing.
Nun fass ich sie, versteht Ihr, denke mich,
Ich Tor, daran zu halten, und nun reißt
Der Bund; Bund jetzt und Hos und ich, wir stürzen,
Und häuptlings mit dem Stirnblatt schmettr' ich auf
Den Ofen hin, just wo ein Ziegenbock
Die Nase an der Ecke vorgestreckt.
LICHT lacht: Gut, gut.“1

Hier erzählt Adam seinem Schreiber Licht, der alle Lügen zu verstehen scheint, eine
seltsame und kaum zu glauben scheinende Geschichte, die gar nichts mit der Wirk
lichkeit zu tun hat. Er nimmt jedoch klugerweise einen Bezug auf Lichts Ausdruck. „...
So geht's im Feuer des Gefechts“: er greift nämlich diese Wendung auf und verwendet
sie, wie es sein unmittelbares Interesse gebietet, indem er mit der Mehrdeutigkeit der
Sprache spielt: „Am Ofen focht ich, wenn Ihr wollt. Jetzt weiß ich es.“ Die Ironie Kleists
gegenüber Adam liegt also, wie es scheint, darin, dass derjenige, der alle
Zusammenhänge kennt, nämlich der Richter Adam, sich durch sich selbst enthüllt,
indem er sich verbergen will. So entsteht die Ironie des Werkes als Ganzes, und vor

1
Der zerbrochene Krug. Erster Auftritt, S. 116 f.
17
allem gegenüber dem Richter Adam im Besonderen.

Der Dorfrichter Adam will den Prozess gerne niederschlagen, um nicht entlarvt zu
werden. Er muss ihn aber durchführen, weil zum Unglück gerade der Gerichtsrat Walter
zur Visitation eingetroffen ist. Deshalb gibt sich Adam bei dem Verhör alle Mühe, die
Schuld auf andere (mal auf Ruprecht, mal auf Lebrecht) abzuwälzen. Dabei fängt er sich
aber in seinen eigenen Fragen und Reden, so dass er schließlich als Übeltäter dasteht.

Die ironische Handlung, die Kleist in diesem Lustspiel angelegt hat, verkörpert sich also
im Charakter des listigen und verlogenen Richters Adam. In diesem Stück, und ohne
Unterbrechung ─ eilt diese Handlung dem Ende zu, nämlich der Entlarvung Adams, um
den sich die Netze der eigenen Lügen immer enger zusammenziehen, so dass er sich
daraus nicht freimachen kann. Das zeigt uns die ironische Dimension Kleists dem
Dorfrichter Adam gegenüber.

Nach Kleists Meinung hat Richter Adam seine Mitte verloren, d.h. er ist aus dem
Gleichgewicht geraten; er konnte sich deshalb nicht beherrschen. Adam hat wahr-
scheinlich verschiedene (meist boshafte) Eigenschaften:
„Kleist zeichnet in dem Dorfrichter Adam einen Menschen, der verschlagen ist,
listig und schlau. [...] Er ist überlegen und beschränkt zugleich, gutmütig und
niederträchtig. Er ist unterwürfig und grob, feige und lüstern, körperlich
unansehnlich und gleichzeitig zudringlich verführerisch. Kurz: Er ist der
'gefallene Mensch'. Er weiß, dass er sich schuldig gemacht hat, missbraucht
aber sein Richteramt, um die Schuld auf andere abzuschieben und diese statt
seiner zu bestrafen. [...] Sein ungebrochener Lebenstrieb lässt ihn immer neue
Kabinettstücke der Erfindungskunst und der Improvisation ablegen. Aber es ist
im Grunde die nackte kreatürliche Angst, die ihn antreibt: die Angst um den
Verlust seines Amtes, seiner Ehre, [und demnach] seiner Existenz.“1

Daraus ergibt sich, dass Richter Adam neben seinen negativen Zügen noch auch positive
Eigenschaften hat: er ist z.B. gutmütig und unterwürfig. Aus diesem Grund breitet Kleist
über diesen Menschen eine Atmosphäre des Mitgefühls, des Mitleides und des
Verstehens, denn
„Nicht nur der Dorfrichter Adam, sondern jeder Mensch leidet an seiner
Selbstentzweiung und bekundet in Grenzsituationen, in denen Schuld und
schlechtes Gewissen ihn in die Enge treiben, einen naiven, unbändigen, für ihn
und die Umwelt allerdings zerstörerischen Lebenswillen.“2
Adams Komik entspringt seinem Unvermögen, geistige Werte in der Seite der
empirischen Wirklichkeit anzuerkennen. Sein Versagen entspringt aber, im Gegensatz
zu Frau Marthe Rull, nicht der Unfähigkeit, geistige Werte zu erkennen, sondern seinem
Unwillen, sich der Ordnung dieser Werte zu unterwerfen: er ist absolut und
opportunistisch. So ist er sozusagen die treibende Kraft der äußeren Handlung des

1
Prospekt zur Krug-Aufführung an der deutschen evangelischen Oberschule (DEO)/Kairo, März 1987, S.
4.
2
Loc. cit.
18
Zerbrochenen Kruges.

Der Lügner versucht immer durch genaue Selbstkontrolle, die von ihm beabsichtigte
Situation zu beherrschen und zu bestimmen, bis seine Lüge aufgedeckt und demaskiert
wird. Der Richter Adam hingegen erschien während des ganzen Verhörs als der immer
wieder durch sich selbst Überrumpelte, und zwar durch seine unkontrollierten und
durchsichtigen Listen und Täuschungen. Wegen seiner großartigen komischen Wirkung
hat ihn Kleist als den Kernpunkt seines Lustspiels vorgestellt. Es wird noch
ausführlicher über den Dorfrichter Adam gesprochen, und zwar im dritten Kapitel bei
der Behandlung der Hauptpersonen des Zerbrochenen Kruges.

2.2 Frau Marthe Rull bei ihrer Krugbeschreibung

Frau Marthe Rull: sie ist Eves Mutter und die Besitzerin des Kruges. Sie spielt auch eine
Rolle bei der komisch-lächerlichen Wirkung dieses Lustspiels, und zwar durch die
Beschränkung ihres Geistes, die sich in der Krugbeschreibung am klarsten erkennen
lässt.

In der Tat hat Kleist einen drastischen Kunstgriff benutzt, um das Unverständnis und
diese Beschränkung Frau Marthes zu unterstreichen. Er hat nämlich in ihrem Hirn, in
ihrem Geist eine sozusagen hoffnungslose Verwirrung zwischen den Verhaltungsweisen
angestiftet, die für den materiellen und den bilderlichen Bereich des zertrümmerten
Kruges gültig sind.1 Der Grund der komisch-lächerlichen Wirkung in Frau Marthes
Erzählungen bei ihrer Krugbeschreibung ist tatsächlich unverkennbar; er ist uns
durchsichtig, denn in der Geschichte des Kruges sind die Grenzen ihres
Begriffsvermögens, ihres Verständnisses bloßgelegt. Sie machte großen Lärm vor dem
Gerichtshof (Anfang des sechsten Auftritts), und zwar um einen Krug, der in Trümmern
gegangen ist. Dieser Krug ist alles für sie, weil er, wie sie behauptet, eine Geschichte
enthält und damit einen besonderen Wert für sie hat. Dass dieser Krug in Trümmern
gegangen ist, ist ihr die ganze Welt kaputt gegangen.2

Dann im siebenten Auftritt begann Frau Marthe ihre Klage vorzubringen, indem sie
Dinge und Geschichten erzählte, die zum Hauptprozess nicht mehr gehören:
„ADAM: Das Reden ist an Euch.
FRAU MARTHE:
Seht ihr den Krug, ihr wertgeschätzten Herren?
Seht ihr den Krug?
ADAM: O ja, wir sehen ihn.
FRAU MARTHE:
Nichts seht ihr, mit Verlaub, die Scherben seht ihr;
Der Krüge schönster ist entzweigeschlagen.
Hier grade auf dem Loch, wo jetzo nichts,

1
Siehe Heinrich von Kleist. Aufsätze und Essays. Hrsg. von Walter Müller-Seidel, Wissenschaftliche
Buchgesellschaft, Darmstadt 1967, S. 278 f.
2
Vgl. Arnzten: Die ernste Komödie, S. 183 ff.
19
Sind die gesamten niederländischen Provinzen
Dem span'schen Philipp übergeben worden.
Hier im Ornat stand Kaiser Karl der Fünfte:
Von dem seht ihr nur noch die Beine stehn.
Hier kniete Philipp, und empfing die Krone:
Der liegt im Topf, bis auf den Hinterteil,
Und auch noch der hat einen Stoß empfangen.
Dort wischten seine beiden Muhmen sich,
Der Franzen und der Ungarn Königinnen,
Gerührt die Augen aus; wenn man die eine
Die Hand noch mit dem Tuch empor sieht heben,
So ist's, als weinete sie über sich.
Hier im Gefolge stützt sich Philibert,
Für den den Stoß der Kaiser aufgefangen,
Noch auf das Schwert; doch jetzo müsst er fallen,
So gut wie Maximilian: der Schlingel!
Die Schwester unten jetzt sind weggeschlagen.
Hier in der Mitte, mit der heil'gen Mütze,
Sah man den Erzbischof von Arras stehn;
Den hat der Teufel ganz und gar geholt,
Sein Schatten nur fällt lang noch übers Pflaster.
Hier standen rings, im Grunde, Leibtrabanten,
Mit Hellebarden, dicht gedrängt, und Spießen,
Hier Häuser, seht, vom großen Markt zu Brüssel,
Hier guckt noch ein Neugier'ger aus dem Fenster:
Doch was er jetzo sieht, das weiß ich nicht.
ADAM: Frau Marth! Erlasst uns das zerscherbte Paktum,
Wenn es zur Sache nicht gehört,
Uns geht das Loch ─ nichts die Provinzen an,
Die darauf übergeben worden sind.“1

Frau Marthes Krugbeschreibung kennzeichnet hier ihre beschränkte Wahrnehmungs-


weise, indem sie nun das Bild auf dem Krug und die historischen Ereignisse, die mit
diesem Krug zu tun haben, beschreibt. Dabei gerät sie in ein hoffnungsloses Durch-
einander, das sich in verschiedenen Seiten ausdrückt, und zwar durch ihren ständigen
Gebrauch von Umstandswörtern der Zeit und des Ortes wie hier, hier grade, noch, jetzo
(jetzt) u.ä. Durch diese ausführliche Beschreibung beschränkt sie sich auf die zeitliche
und räumliche Dimension, in welcher ihr Krug seine Existenz hat. Während ihrer
Schilderung erwähnt sie nicht ein einziges Mal die Tatsache, dass sie ein Bild beschreibt.
„Indem Frau Marthe diese ihre Bedeutung bestreitet und konsequent auf den
konkreten Sinn ihrer Grundbestandteile beharrt, verrät sie eine eigentümliche
geistige Beschränkung. Sie ist, so scheint es, unfähig, den materiellen und den
rechtlichen Aspekt eines Problems, die Dinge selbst von ihrer Bedeutung zu
unterscheiden; in der Tat scheint sie unfähig zu sein, irgendeine Art von
Wirklichkeit jenseits der greif- und sichtbaren der materiellen Welt in sich
aufzunehmen.“2

1
Der zerbrochene Krug. Siebenter Auftritt, S. 140 f.
2
Heinrich von Kleist: Aufsätze, S. 277.
20

Frau Marthe klammert sich in ihrer Verwirrung an die einzige greifbare Wirklichkeit,
nämlich an ihren zertrümmerten Krug. Sie klammert sich hartnäckig noch daran, diesen
Krug ganz ausführlich zu beschreiben, und zwar wegen seines großen Wertes für sie.
Dieses Verhalten von Frau Marthe lässt uns erkennen, dass es die grundlegende
Beschränkung ihres Geistes spiegelt. Es spiegelt auch ihre Unfähigkeit, irgend etwas
jenseits der unmittelbaren empirischen Wirklichkeit zu begreifen. Auf der gedanklichen
Ebene äußert sich dieser enge Horizont in Frau Marthes ausschließlicher Beschäftigung
mit den materiellen Eigenschaften ihres Kruges und in ihrem Unvermögen, die geistige
Dimension dieses Prozesses zur Kenntnis zu nehmen. Durch Frau Marthes ausführliche
Krugbeschreibung weist Kleist auf die Geistesbeschränkung und die Unfähigkeit dieser
Frau hin und lässt damit seine ironische Distanz ihr gegenüber erkennen.

Die Schilderung des zertrümmerten Kruges durch Frau Marthe ist humorvoll, wie es
Kleist selbst sieht, denn seine Freude an dieser komischen Wirkung Marthes scheint zu
groß und zunehmend zu sein.

Nach Kleist ist die an Frau Marthe und ihrer Krugbeschreibung, sowie auch in ihrem
Verhalten zu ihrer Tochter Eve exemplifizierte Beschränktheit auf das nur Empirsch-
Materielle nicht nur bäuerlich-naiv, sondern sie steigert sich zum Komisch-Absurden,
sie führt zum Komischen und demnach zum Ironischen.1

Noch weiter und ganz ausführlich erzählt Frau Marthe vor dem Gericht Geschichten und
Schwatze von ihrem Krug und erklärt dabei, wie sie diesen Krug endlich bekam:
„FRAU MARTHE:
Erlaubt! Wie schön der Krug, gehört zur Sache! ─
Den Krug erbeutete sich Childerich,
Der Kesselflicker, als Oranien
Briel mit den Wassergeusen überrumpelte.
Ihn hatt ein Spanier, gefüllt mit Wein,
Just an den Mund gesetzt, als Childerich
Den Spanier von hinten niederwarf,
Den Krug ergriff, ihn leert', und weiter ging.
ADAM: Ein würd'ger Wassergeuse.
FRAU MARTHE: Hierauf vererbte
Der Krug auf Fürchtegott, den Totengräber;
Der trank zu dreimal nur, der Nüchterne,
Und stets vermischt mit Wasser aus dem Krug.
Das erstemal, als er im Sechzigsten
Ein junges Weib sich nahm; drei Jahre drauf,
Als sie noch glücklich ihn zum Vater machte;
Und als sie jetzt noch funfzehn (!) Kinder zeugte,
Trank er zum dritten Male, als sie starb.
...
WALTER:
Gut denn. Zum Schluss jetzt. Was geschah dem Krug? ...

1
Ausführlicher dazu siehe Martini: Lustspiele, S. 170 f.
21
FRAU MARTHE: Was ihm geschehen?
Nichts ist dem Krug, ich bitt euch sehr, ihr Herren,
Nichts Anno sechsundsechzig ihm geschehen.
Ganz blieb der Krug, ganz in der Flammen Mitte,
Und aus des Hauses Asche zog ich ihn
Hervor, glasiert, am andern Morgen, glänzend,
Als käm er eben aus dem Töpferofen.“1

Man bemerkt hier, dass sich Frau Marthe übermäßig mit ihrem Krug befasst, während
sie z.B. dem wirklichen Streitpunkt gegenüber, nämlich Eves Glück und Ehre,
verschlossen scheint. Man bemerkt auch offensichtlich, dass der Erweis von Eves
Unschuld am Ende dieses Lustspiels keinen Eindruck auf Frau Marthe gemacht hat.
Auch trotz dieses Erweises ihrer Tochter denkt sie noch an den zertrümmerten Krug, und
nicht an etwas anderes. Der Krug ist ihr Hauptanliegen und deshalb fragt sie den
Gerichtsrat Walter in der letzten Szene:
„FRAU MARTHE: Sagt doch, gestrenger Herr, wo find ich auch
Den Sitz in Utrecht der Regierung?
WALTER:
Weshalb, Frau Marthe?
FRAU MARTHE empfindlich: Hm! Weshalb? Ich weiß nicht ─
Soll hier dem Kruge nicht sein Recht geschehn?
WALTER: Verzeiht mir! Allerdings. Am großen Markt,
Und Dienstag ist und Freitag Session.
FRAU MARTHE: Gut! Auf die Woche stell ich dort mich ein.“2

So hat uns Kleist Frau Marthe vorgestellt, und zwar durch ihre Unzulänglichkeit, ihre
Verhaltensweise und durch die Beschränkung ihres Geistes. Nach Kleist ist die
Ungeistigkeit Marthes total. Trotz all ihrer Schwatzhaftigkeiten scheint sie stillschwei-
gend zu sein, und zwar in Situationen, die ein geistiges Differenzierungsvermögen
voraussetzen. Frau Marthe scheint unzulänglich bei ihrer Reaktion. Sie hat die totale
Sturheit allem gegenüber außer der sichtbaren Wirklichkeit. Durch all diese Züge Frau
Marthes unterbreitet uns Kleist eine neue Distanz seiner Ironie gegenüber seinen
Gestalten im Zerbrochenen Krug.

2.3 Schilderung des ländlichen Milieus


Kleists Zerbrochener Krug richtet sich mit der Ironie einer ländlichen Gerichtsver-
handlung gegen das Gerichtswesen und die Rechtsprechung auf dem Dorf. Fast alle
Landleute, die in diesem Lustspiel auftreten, sind schon von Kleist durch ihre
Verhaltens- und Ausdrucksweise als saftige Bauern gekennzeichnet. Kleists unausge-
sprochene, jedoch anschauliche und überzeugende Kritik an dem Gerichtswesen auf dem
Dorf impliziert eine ironische Distanz den Dorfbewohnern gegenüber.

1
Der zerbrochene Krug. Siebenter Auftritt, S. 141 ff.
2
Ebd. Letzter Auftritt, S. 187.
22

In den Dienst der komischen Grundidee hat Kleist viele geistige Möglichkeiten und
Wendungen gestellt, die seinem Lustspiel die Atmosphäre des Handgreiflichen und des
Realistischen geben. Dazu gehört das Milieu des saftigen Dorfes. Kleist unterbreitet uns
das derbe und grobfärbige Leben auf dem Land, sowie auch die Bauernschläue und
tölpische Dummheit der Leute von Huisum, worin die Ereignisse des Zerbrochenen
Kruges passierten. Die Sehnsüchte, die Ängste und Beschränktheiten dieser
Dorfbewohner sind in dieser Komödie gezeigt worden.1

Hohoff wies auf die ironische Distanz Kleists gegenüber den Dorfbewohnern hin, wenn
er sagte:
„Mit großer Wichtigkeit und ironischem Ernst wird die Gerichtsverhandlung
mit ihren Umständlichkeiten und retardierenden Momenten aus Zufällen und
Berechnung geschildert. Aus Nichts wird ein Spektakelspiel gemacht. Die
'Indizien' werden nach allen Seiten ihrer Möglichkeit erwogen und ausprobiert.
Um eine Perücke entsteht eine neue Mär voll drolliger Einzelheiten: erst hat
eine Katze hineingejungt, nachher ist sie verbrannt.“ 2

Die Art und Weise, mit denen Kleist sein Lustspiel vorgezeigt hat, schildert die Naivität
der Bewohner von Huisum. Diese Naivität zeigt sich vor allem in Frau Marthe Rull, also
Eves Mutter, die um einen Krug eine gleichsam wütende Revolution geführt hat. Dieser
Krug war ihr mehr wertvoll und wichtiger als das Glück und die Ehre ihrer Tochter.

Nicht nur auf Frau Marthe hat Kleist aber seine Ironie konzentriert, sondern auch auf die
meisten ländlichen Personen, die sich in diesem Werk befinden, nämlich auf den Richter
Adam, auf Ruprecht und seinen Vater und schließlich auf Frau Brigitte, Ruprechts
Tante. Nach Kleist sind diese Personen verschiedener Weise grob, saftig manchmal
schlau; sie sind geistig beschränkt und naiv.3

1
Siehe Hohoff: Komik und Humor, S. 42.
2
Loc. cit.
3
Über die Personen dieses Lustspiels wird im dritten Kapitel ausführlicher gesprochen.
23

3. Interpretation und Analyse des Lustspiels


Der zerbrochene Krug

3.1 Überblick über die Begriffsbestimmung von Lustspiel

Der Begriff Lustspiel wird seit Gottsched meist gleichbedeutend mit Komödie
verwendet, und zwar für jedes Schauspiel mit heiterem Ausgang. Jedoch bezeichnet das
Lustspiel im engeren Sinn ein Schauspiel, das in der Tat nicht bloße Lächerlichkeit
durch die Aufdeckung der Unzulänglichkeiten der Menschen bezweckt, sondern reines
Lachen der Heiterkeit, das aus der Überlegenheit des Wissens um menschlich-irdische
Bedingtheit entstanden und von einer fröhlich-verzeihenden und zu Mensch und Natur
verstehenden Liebe getragen ist.1

Diese (meist) gleichbedeutende Bestimmung von Lustspiel und Komödie bestätigt Alma
Rogge, wenn sie sagt:
„In den meisten Theorien werden sie [Lustspiel und Komödie] unterschiedslos
für alle Arten des heiteren Dramas gebraucht und nur die niederen Gattungen,
wie Schwank und Posse, sondert man davon ab.“2
Was versteht man denn unter Komödie, die im Sinne des Lustspiels steht?

Komödie (ein griechisches Wort) ist die wichtigste dramatische Gattungsform neben der
Tragödie. Die Komödie erregt Heiterkeit entweder durch Spott über menschliche
Schwächen und Torheiten, über Missstände der Zeit und die Fragwürdigkeit ihrer Ideale
oder sie triumphiert mit Gelächter über die Unzulänglichkeit des Menschen. Sie steht
also im Gegensatz zur Tragödie. Die Komödie setzt wahrscheinlich eine einheitliche
Kultur mit verbindlichen ethischen und ästhetischen Normen und einheitlichem Denken
und Empfinden voraus.3

Aus dieser Bestimmung heraus lässt es sich erkennen, dass es kaum einen Unterschied
zwischen Lustspiel und Komödie gibt.

In der Literatur kennt man zwei Grundtypen der Komödie, nämlich die
Charakterkomödie und die Situationskomödie. In der Charakterkomödie werden
bestimmte Charaktereigenarten, wie z.B. Geiz, Eitelkeit u.ä., verspottet; in der
Situationskomödie wird aber die komische Wirkung durch Zufall, Verwechslung oder
Intrige hervorgebracht (zu der Situationskomödie gehört Kleists Der zerbrochene Krug).

Geschichtlich geht die Komödie, wie die Tragödie, auf die griechische Zeit zurück.
Aristophanes und Menander sind die Meister der griechischen Komödie und zugleich
Vorbilder für die Römer Plautus und Terenz. In der Neuzeit, durch Shakespeare und
1
Grundbegriffe der Poetik und der Literaturgeschichte, S. V 29.
2
Das Problem der dramatischen Gestaltung im deutschen Lustspiel. Diss., Hamburg 1926, S. 9.
3
Op. cit., S. V 28.
24
Moliére, von denen Kleist stark beeinflusst wurde, erreichte die Komödie neue
Höhepunkte.

Zurück zum Lustspiel:


Das Lustspiel erwächst aus der Haltung des Humors,1 worin die Tiefe der Entzweiung
von Idee und Wirklichkeit aufgenommen wird, jedoch aber von einer höheren Warte
gesehen, mit dem einzigen Bestreben, die Umstände möglichst zu verbessern. Das erste
Lustspiel in deutscher Dichtung, das diese Bestimmung enthält, ist Die stumme
Schönheit von Johann Elias Schlegel im Jahre 1747. Davon erzählte Fritz Martini:
„Erst Johann Elias Schlegel hat das Formprinzip des Witzes zum Inhalt und zur
Darstellungsweise, zum Strukturprinzip und zum Wirkungsprinzip des
Lustspiels gemacht. Er hat in 'Die stumme Schönheit' solche Möglichkeiten der
Spielgestaltung im begrenzten Rahmen des Einakters in vollkommener Weise
verwirklicht.“2

Im folgenden erkennen wir fünf Arten des Lustspiels:3

1. Romantisches Lustspiel

Diese Art von Lustspiel nahm theatralische Elemente der italienischen Komödie auf: wie
z.B. Pantomime und Improvisation. Ihr Vertreter ist vor allem Ludwig Tieck mit seinen
Stücken Der gestiefelte Kater 1797 und Verkehrte Welt 1799. Weitere Lustspiele dieser
Art sind z.B. Büchners Leonce und Lena 1836, Grabbes Scherz, Satire, Ironie und tiefere
Bedeutung 1827, Grillparzers Weh dem, der lügt 1840. Darüber hinaus finden wir unter
dieser Art die Märchenlustspiele von Hebbel wie: Der Diamant 1847 und Der Rubin
1851. Diese Stücke haben Shakespeares Lustspiele als Vorbild, sind jedoch ohne deren
Leichtigkeit und erreichen dadurch keine künstlerische Einheit zwischen realistischer
und idealistischer Welt.

2. Comédie larmoyante (Rührstück bzw. weinerliches Lustspiel)

Es ist das Lustspiel der französischen Literatur des 18. Jahrhunderts. Es wirkte stark auf
die deutschen Lustspiele, besonders auf Gellerts Rührstücke: Die Betschwester 1745,
Das Loos in der Lotterie 1746 und Die zärtlichen Schwestern 1747. Starker rührseliger
Einschlag der Comédie larmoyante befindet sich auch bei Lessing, und zwar in Miß Sara
Sampson 1755 und Minna von Barnhelm 1767.

3. Unterhaltungslustspiel

Stücke dieser Art beherrschten den Spielplan des Weimarer Theaters unter Goethes
Leitung in der Zeit von 1791 bis 1817: wie z.B. Ifflands Die Hagestolzen 1793, und

1
Braak: Poetik ..., S. 280.
2
Zitiert nach Braak, S. 281.
3
Die Arten des Lustspiels sind hier erwähnt nach Braak, S. 281 f.
25
Kotzebues Die deutschen Kleinstädter 1803. Das Unterhaltungslustspiel hat Ähnlichkeit
mit der Unterhaltungsliteratur im epischen Raum, nämlich mit dem Trivialroman, und
wird demnach in den allgemeinen künstlerischen Maßstäben nicht gerecht. Das
Unterhaltungslustspiel zeichnet sich durch vordergründige Stofflichkeit und
Problemarmut aus; sein Hauptziel scheint also die bloße Unterhaltung zu sein.

4. Konversationslustspiel (Boulevard-Komödie)

Das gehobene Konversationslustspiel fand zu Beginn des 20. Jahrhunderts den ihm
eigenen Boden in der österreichischen Neuromantik, z.B. mit den Werken von
Schnitzler, Bahr, Fontana und vor allem Hofmannsthal, dem die Wiederbelebung der
Wiener Lustspieltradition in Der Rosenkavalier 1911 gelang. Sein Lustspiel Der
Schwierige, das während des ersten Weltkrieges entstanden ist, ist die höchste Leistung
der Boulevard-Komödie.

Moderne deutsche Beispiele dieses Genres sind von Goetz: Hokuspokus 1928, Dr. med.
Hiob Praetorius 1934 und Das Haus in Montevideo 1953.

5. Dramatischer Schwank

Das ist eine Lustspielart mit übertriebener, vordergründiger Situations- und Typen-
komik. Ihr einziges Ziel ist auch die Unterhaltung wie das Unterhaltungslustspiel.
Sorgfältiger Aufbau, spritziger Dialog und witzige und treffsichere Situationen sind bei
dieser Art erforderlich. Sie verbleibt im Bereich des verhältnismäßig Harmlosen, worin
die Behaglichkeit des Zuschauers durch Gesellschaftskritik und individuelle Problematik
gestört wird.

Ganz allgemein kann man sagen: Das Endergebnis des Lustspielkampfes ist der Sieg
einer sympathischen Kraft über eine zumeist in komischem Licht erscheinende
Schwäche. Das Lustspiel ist also letzten Endes die allgemeine Artbezeichnung des
heiteren Dramas.1 Die wichtigsten deutschen Lustspiele sind Lessings Minna von
Barnhelm, Kleists Der zerbrochene Krug und Amphitryon, Büchners Leonce und Lena,
Grillparzers Weh dem, der lügt, Hauptmanns Der Biberpelz, sowie auch Raimunds
Zauberpossen und Nestroys Volkskomödien. Das war also ein allgemeiner Überblick
über den Begriff Lustspiel, insbesondere in der deutschen Literatur.

1
Weiteres dazu siehe Alma Rogge: Das Problem der dramatischen ..., S. 10 ff., sowie auch Gerhard
Kluge: Spiel und Witz im romantischen Lustspiel. Zur Struktur der Komödiendichtung der deutschen
Romantik. Diss., Köln 1963, S. 9 – 24.
26

3.2 Entstehungsgeschichte des Lustspiels Der Zerbrochene Krug


zwischen Le Veau, Sophokles, Shakespeare und Kleist
Die Geburtsstunde des Planes zum Zerbrochenen Krug ist uns eigentlich zwiefach
überliefert: einmal durch Heinrich Zschokke, Kleists Freund, in dessen Berner Wohnung
in der Schweiz das Ereignis sich vollzog, zweitens durch Kleist selbst in einer Vorrede,
die er der Buchausgabe des Lustspiels zugedacht hatte, dann jedoch unterdrückte. Was
ist aber die Geschichte dieser Geburtsstunde vom Zerbrochenen Krug?

Von Dezember 1801 bis Oktober 1802 lebte Kleist, mit mannigfältigen persönlichen und
dichterischen Plänen beschäftigt, in der Schweiz. Er fand viel Anregung in der
Freundschaft mit Heinrich Zschokke, mit Ludwig Wieland, dem Sohn des Dichters
Christoph Martin Wieland, und mit dem Verleger Heinrich Geßner, dem Schwiegersohn
Wielands. Bei einem fröhlichen Treffen, einer Zecherei, im Januar 1802 wurden die vier
Freunde auf einen Kupferstich, betitelt: Le juge ou la cruche cassée (= Der Richter oder
der zerbrochene Krug) aufmerksam. Dieser Kupferstich hing in Zschokkes Zimmer, und
über den berichtete Zschokke:
„Wir vereinten uns auch, wie Virgils Hirten, zum poetischen Wettkampf. In
meinem Zimmer hing ein französischer Kupferstich, 'La cruche cassée'. In den
Figuren desselben glaubten wir ein trauriges Liebespärchen, eine keifende
Mutter mit einem zerbrochenen Majolika-Kruge, und einen großnasigen
Richter zu erkennen. Für Wieland sollte dies Aufgabe zu einer Satire, für Kleist
zu einem Lustspiele, für mich zu einer Erzählung werden. ─ Kleists
'Zerbrochener Krug' hat den Preis davon getragen.“1

Dieser Kupferstich wurde also Anlass zu einem poetischen Wettkampf, dem man heute
eines der schönsten und bedeutendsten Lustspiele der Weltliteratur verdankt. Die vier
Freunde beschlossen, wie es sich aus Zschokkes Bericht erkennen lässt, einen
literarischen Wettkampf, so dass sie eine bestimmte Summe Franken zusammenwarfen,
die der von ihnen haben sollte, dem die beste literarische Behandlung der auf dem Stich
dargestellten Szene gelingt. Was wir aber außer Zschokkes Bericht erfahren, ist es, dass
der vierte Freund Heinrich Geßner „eine nach der Art der Dichtung seines Vaters
Salomon Geßner in Hexametern abgefasste Idylle“2 liefern wollte. Am Ende bekam
Kleist den Preis.

Auch Kleist selbst schrieb dem Lustspiel Der zerbrochene Krug eine Vorrede, die in der
Handschrift enthalten ist, in der er aber diesen literarischen Wettstreit gar nicht erwähnte,
und eine andere, viel entscheidendere Wurzel bloßlegte. Er schrieb damals:
„Diesem Lustspiel liegt wahrscheinlich ein historisches Faktum, worüber ich
jedoch keine nähere Auskunft habe auffinden können, zugrunde. Ich nahm die

1
Heinrich Zschokke: Eine Selbstschau. 1842. Zitiert nach Helmut Sembdner: Erläuterungen und
Dokumente. Heinrich von Kleist: Der zerbrochene Krug. Reclam 8123 [2], Philipp Reclam jun.
Stuttgart 1973, S. 84 f.

2
Brinkmann: Erläuterungen..., S. 8.
27
Veranlassung dazu aus einem Kupferstich, den ich vor mehreren Jahren in der
Schweiz sah. Man bemerkte darauf einen Richter, der gravitätisch auf dem
Richterstuhl saß, vor ihm stand eine alte Frau, die einen zerbrochenen Krug
hielt, sie schien das Unrecht, das ihm [dem Krug] widerfahren war, zu
demonstrieren. Beklagter, ein junger Bauernkerl, den der Richter als
überwiesen andonnerte, verteidigte sich noch, aber schwach; ein Mädchen, das
wahrscheinlich in dieser Sache gezeugt hatte (denn, wer weiß, bei welcher
Gelegenheit das Deliktum geschehen war) spielte sich, in der Mitte zwischen
Mutter und Bräutigam, an der Schürze; wer ein falsches Zeugnis abgelegt hätte,
könnte nicht zerknirschter dastehn; und der Gerichtsschreiber sah (er hatte
vielleicht kurz vorher das Mädchen angesehen) jetzt den Richter misstrauisch
zur Seite an, wie Kreon bei einer ähnlichen Gelegenheit den Ödip, als die Frage
war, wer den Lajus erschlagen. Darunter stand: Der zerbrochene Krug. ─ Das
Original war, wenn ich nicht irre, von einem niederländischen Meister.“1

Als Quelle bleibt also hier ein Bild, auf das sich Kleist später nur unklar besinnen
konnte. Er deutete die Symbolik dieses Bildes um und verfasste daraus einen pikant
lüsternen Inhalt in einer breit beschriebenen, derb urwüchsigen Darstellung des alten
niederländischen Lebens. Aus beiden Berichten heraus, nämlich Zschokkes Bericht und
Kleists Vorrede, lässt es sich erkennen, dass ein glücklicher Zufall in der Schweiz die
Veranlassung zum Zerbrochenen Krug gab; mit anderen Worten: Die Entstehung dieses
Lustspiels ist an einen rein äußerlichen Anlass geknüpft.

Der allererste Weg, der uns zum Zerbrochenen Krug führt, ist also dieser Kupferstich. Er
ist in der Tat eine von J.J. Le Veau, einem Franzosen, verfertigte Reproduktion eines
Bildes von Louis Philibert Debucourt (1755 ─ 1832), einem Maler Pariser
Sittenschilderungen. Debucourt seinerseits wurde durch ein Gemälde seines Freundes
Jean Baptiste Greuze (1735 ─ 1805) angeregt. Das Gemälde Debucourts, betitelt auch
Der zerbrochene Krug, befand sich im Louvre (dem bekannten Museum in Paris). Es
zeigt ein vornehm gekleidetes junges Mädchen vor einem antikisierten Brunnen, der aus
einer Dämonenfratze Wasser spendet. In der Schürze trug dieses Mädchen mit beiden
Händen offenbar Blumen. Am Arm hing ihm der Krug, der ein großes Loch aufwies.
Das Mädchen kam wahrscheinlich von einem Liebesabenteuer, und der zerbrochene
Krug am Arm wies darauf hin, dass dieses Mädchen dabei die Unschuld verloren hatte.2

Scheinbar war die Symbolik von Le Veaus Gemälde Kleist und seinen Freunden schon
fremd. Auch der ursprüngliche Sinn des Kruges war Kleist wahrscheinlich unbekannt,
oder mindestens uninteressant. So kam es vor, dass Kleist und ebenso sein Freund
Heinrich Zschokke der Mutter den Krug zur Hand gaben, während er doch dem jungen
Mädchen, als der Hauptperson, gehörte. Kleist verwechselte also unbewusst die Dinge,
die er auf dem Kupferstich gesehen hatte. Darüber hinaus schrieb er das Bild einem
Niederländer zu, wo es aber in Wirklichkeit von einem Franzosen war. Das scheint sich
zu erklären, dass das niederländische Milieu, wie es Kleist von den Bildern Teniers

1
Ebd., S. 12 f.
2
Vgl. Brinkmann, S. 13, sowie auch das Vorwort der arabischen Übersetzung des Zerbrochenen
Kruges von M. Maher, S. 25.
28
kannte, das Original mit dem traurigen Pärchen, der keifenden Mutter und dem
gravitätisch auf dem Richterstuhl sitzenden Richter mitsamt der zweideutig lüsternen
Symbolik dieses Originals verdrängt hatte. Dieser Punkt lässt sich durch das folgende
Zitat erklären:
„Kleists [...] Lustspiel 'Der zerbrochene Krug' ist nun ganz aus niederdeutscher,
ja märkischer Umwelt erwachsen. Kleist war sich dessen bewusst, schrieb er
doch selbst an Fouqué, dass dieses durch eine Wette mit Zschokke und Ludwig
Wieland in der Schweiz einst angeregte, aber erst in Königsberg beendete
Stück ganz nach dem niederländischen Genremaler Teniers, [...], gearbeitet sei.
Das die Wette auslösende Bild war tatsächlich ein Gemälde des Franzosen
Debucourt, der von dem Maler Pariser Sitten Greuze angeregt war. Ein davon
von Le Veau angefertigter Kupferstich hing im Zschokkes Zimmer in Bern.“1

Scheinbar hat Kleist sein Lustspiel schon während seines Aufenthalts in der Schweiz
begonnen. Später, im Jahre 1803, als sein Freund Ernst von Pfuel in Dresden meinte, er
(Kleist) habe kein Talent zur komischen Dichtung, diktierte ihm Kleist aus dem
Gedächtnis die ersten drei Szenen in die Feder. Erst im Jahre 1806 wurde dieses heitere
Werk in Königsberg vollendet. 1808 erschienen in der von Kleist und Adam Müller
herausgegebenen Dresdener Zeitschrift Phöbus drei Stücke aus diesem Lustspiel als
Fragmente aus dem Lustspiel: Der zerbrochene Krug.

Kleists Beschreibung der auf dem Kupferstich dargestellten Personen weist auch darauf
hin, dass er sich von Sophokles Drama König Ödipus beeinflussen ließ. In seiner später
unterdrückten, nur im Phöbus veröffentlichten Vorrede vergleicht Kleist selber das
Verhältnis des Gerichtsschreibers Licht zum Richter Adam mit dem Verhältnis Kreons
zu Ödipus, womit Kleist also darauf hinweist, dass dieses antike Drama sein formales
Vorbild geworden ist, jedoch aber wenn man den Richter Adam, der seine eigene Schuld
aufgedeckt hat, nicht als eine bloße Parodie auf Ödipus versteht.

Kleist hatte im Juni 1803 in Dresden Sophokles Drama eingesehen und ließ sich durch
den analytischen Aufbau des König Ödipus anregen: Der zweideutige Spruch des
delphischen Orakels könnte Kleist die Idee des unheilkündenden Traumes eingegeben
haben. Diesen schlechten Traum hatte Adam, im dritten Auftritt, seinem Schreiber Licht
vertrauensselig erzählt, womit es uns zeigt, dass Adams Lügen und Listen aus der
jeweiligen Situation spontan hervorgehen.

Kleists Darstellung enthält als Bildbeschreibung nicht nur eine ausführliche Charak-
terisierung der Personen, sondern sie versucht sogleich der dargestellten Szene als einer
Gerichtsszene ihre Stellung in einem juristischen Gesamtprozess zuzuweisen, d.h. von
der einzelnen Szene auf den Prozessverlauf und die Vorgeschichte dieses Prozesses zu
schließen. Der Prozess ist ein zerbrochener Krug; der Streitpunkt ist die Frage, wer den
Krug zerbrach. Um den Schuldigen herauszufinden, muss der Prozess die Gelegenheit
rekonstruieren, bei der der Vorfall geschehen war. Also, der Schuldige muss den
Schleier lüften über einem Geschehen, das ihm selbst verhängnisvoll werden muss.

1
Kurt Gerlach: Heinrich von Kleist. Sein Leben und Schaffen in neuer Sicht. I. Teil, hrsg. v. Alfons
Perlick. Dortmund 1971, S. 172.
29
Diesen analytischen Aufbau hat auch, mehr oder weniger, das Drama König Ödipus.
Freilich ist Ödipus Spielball eines unentrinnbaren Schicksals, wo Adam aber dagegen
das Pech hat, der Angeklagte, seinen Willen wider, zu sein. Dieser Angeklagte hat sich
seines Amtes wegen zu entlarven. An die Stelle des Schicksals tritt hier wahrscheinlich
der Zufall, der mehrmals den Richter Adam neckt und überrascht, obwohl ihm dieser
Zufall auch hilft, jedoch vorläufig, die Schlinge, die sich jeden Augenblick um seinen
Hals zu schließen scheint, wieder zu lockern. Ein Lustspiel hat notwendig aber andere
Züge als eine Tragödie. Es ist also deshalb klar zu verstehen, warum der Zerbrochene
Krug ein happy end hat, im Gegenteil von Sophokles Tragödie König Ödipus. Der
Einfluss dieser Tragödie auf dem Zerbrochenen Krug, hinsichtlich des analytischen
Aufbaus, lässt sich durch die Technik der beiden Werke erkennen. Davon hat A. Rogge
in ihrer Dissertation gesprochen:
„Neben shakespearischer Lebensfülle und der Realistik niederländischer
Malerei zeigt der 'Zerbrochene Krug' in der Enthüllung eines vergangenen
Geschehnisses die Technik der antiken Tragödie, wie sie uns besonders im
König Oedipus des Sophokles entgegentritt. Man hat das Stück [der
'Zerbrochene Krug'] deshalb zu den analytischen Dramen gerechnet, eine
Auffassung, die schon Goethe vertrat.“1

Von hier aus wird also der in der Vorrede Kleists merkwürdige Vergleich mit dem
Ödipus des Sophokles verständlich. Wahrscheinlich sind gewisse Parallelen zwischen
beiden Dramen bewusste Absicht: Adam z.B. ist in die Rolle des Ödipus gedrängt.
Darüber hinaus gibt Kleists Hinweis auf die Tragödie König Ödipus Aufschluss über
sein Kompositionsschema. Die Verknüpfung des Eindrucks, den der Kupferstich
hinterließ, mit der Sophokles-Lektüre brachte Kleist auf die geniale Idee, die
rücksichtslose Wahrheitssuche des Ödipus in das verleumderische Versteckspiel des sein
Amt missbrauchenden Dorfrichters zu verkehren. Der analytische Aufbau der Tragödie
dient hier einem komischen Zweck. Oidipous heißt auch Schwellfuß, und der
Dorfrichter Adam hat einen Klumpfuß, der von Frau Brigitte, der Zeugin, als Pferdefuß
gedeutet wurde:
„... Was finde ich euch für eine Spur im Schnee?
Rechts fein und scharf und nett gekantet immer,
Ein ordentlicher Menschenfuß,
Und links unförmig grobhin eingetölpelt
Ein ungeheurer Klotz'ger Pferdefuß.“2

Die Umkehrung des Motivs aus Sophokles König Ödipus besteht darin, dass Richter
Adam um seine Schuld weiß und bewusst täuscht; Ödipus hingegen weiß um seine
Schuld nicht, und bei seiner Wahrheitssuche täuscht er gar nicht. In seinem angeblichen
Angsttraum wird sich Adam seiner Lage dunkel bewusst, er sieht sich als Richter selbst
den Hals ins Eisen judizieren. Diese Umkehrung belehrt uns jedoch über das spezifische
Interesse Kleists an jenem Motiv des Richters, der sich selbst zu richten hat.3
1
Das Problem der dramatischen ..., S. 51.
2
Der zerbrochene Krug. Elfter Auftritt, S. 178.
3
Siehe Hansgerd Delbrück: Kleists Weg zur Komödie. Untersuchungen zur Stellung des Zerbrochenen
30

Wie es also zwischen Kleists Der zerbrochene Krug und Sophokles König Ödipus
Ähnlichkeiten gibt, gibt es auch Unterschiede. Als Ödipus z.B. zu Beginn der Tragödie
des Königsmordes beschuldigt wurde, so meinte Delbrück,1 wusste er nichts von seiner
Tat, suchte deshalb die Beschuldigung guten Glaubens zu widerlegen und forschte nach
dem wahren Täter. Das heißt, nur im uneigentlichen Sinne ist Ödipus Richter und
wahrer Angeklagter in einer Person, da er erst am Ende der Tragödie seine Identität mit
dem gesuchten Täter erkannte. Bei Richter Adam verhält es sich genau umgekehrt: Im
Gegensatz zu Ödipus wusste er schon, was er getan hatte. Trotzdem versuchte er
mühselig, die Wahrheit zu verbergen, aber vergeblich! Am Ende hat er sich widerwillig
entlarvt.

Im zweiten Auftritt könnte uns Kleist auf die Beziehung zwischen seinem Zerbrochenen
Krug und Sophokles König Ödipus hinweisen, nämlich in der Szene, in der statt des
erwarteten Gerichtsrats Walter zunächst dessen Bedienter kommt, um dem Richter
Adam zu melden, dass der Wagen des Gerichtsrats umgeworfen sei:
„DER BEDIENTE: Je, nun! Wir sind im Hohlweg umgeworfen.
ADAM: Pest! Mein geschundner Fuß! Ich krieg die
Stiefeln ─
LICHT: Ei, du mein Himmel! Umgeworfen, sagt Ihr?
Doch keinen Schaden weiter ─?
DER BEDIENTE: Nichts von Bedeutung.
Der Herr verstauchte sich die Hand ein wenig.
Die Deichsel brach.“2

Adams Ausruf „Pest! Mein geschundner Fuß!“ signalisiert gleich doppelt den Bezug
zum König Ödipus, und zwar durch den geschundnen Fuß. Das ist einerseits;
andererseits entspricht der Sturz Walters zum Teil dem Sturz des Lajos, Ödipus Vater,
da ihm Ödipus, ohne es zu wissen, dass er sein Vater war, einen einzigen Schlag
versetzte, von dem er (Lajos) rücklings sogleich vom Wagen taumelte. Im Gegensatz
zum Sturz des Lajos handelt es sich bei Walter jedoch um einen bloßen Unfall, d.h.,
niemand stürzte ihn vom Wagen. Darüber hinaus beging Ödipus einen Mord; Richter
Adam aber nicht. Worin liegt denn die Beziehung? Die Beziehung könnte darin liegen,
dass der Gestürzte in beiden Werken dem Täter (Ödipus bzw. Richter Adam) im Weg
stand. Deshalb beharrte Adam darauf (Fortsetzung der erwähnten Szene), dass Walter
den Doktor brauche, weil er hoffte, dass der Revisor auf diese Weise gehindert wird, da
dessen Ausübung auf seine Entlarvung hinauszulaufen droht. Ödipus wollte auch den
Lajos von der Straße wegtreiben. Adam wünschte sich auch nichts anderes, als dass
Walter bei seinem Sturz aus dem Weg geräumt wäre. Ödipus vollführte jedoch aber das,
was er wünschte; Richter Adam aber nicht.

Kruges in einer Typologie des Lustspiels. Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1974, S. 19.
1
Loc. cit.
2
Der zerbrochene Krug. Zweiter Auftritt, S. 122.
31
Hinweisend auf die Beschäftigung der Forscher mit der Beziehung zwischen Kleists Der
zerbrochene Krug und Sophokles König Ödipus schrieb Delbrück:
„Die Forschung ist Kleists Hinweis auf die Parallelität seiner Komödie zur
Tragödie des Sophokles wiederholt nachgegangen und hat den Beziehungen
zwischen diesen beiden Dramen sogar eigene Untersuchungen gewidmet.“1

Neben Le Veau und Sophokles hat Kleist sich auch in seinem Zerbrochenen Krug von
dem großen englischen Dichter Shakespeare beeinflussen lassen, und zwar durch das
Drama Mesure for Mesure (Maß für Maß). Dieses Drama gehört zu den Dramen
Shakespeares, die weder ein reines Lustspiel noch eine volle Tragödie darstellen. In
diesem Werk hat Shakespeare das tragische und das komische Weltgefühl, nicht nur
jedes in seiner eigenen Form gestaltet, sondern auch in einem und demselben Werk
zusammengespannt. Der zerbrochene Krug umspannte auch die beiden Pole des
Tragischen und des Komischen; dadurch erscheint Kleist in einer Verwandtschaft mit
Shakespeare verbunden. Kleists Gestalten entstehen in widerspruchsvoller Lebendigkeit,
denen in manchen Zügen nur Shakespeares Menschen blutsverwandt sind. 2 Stärkere
motivische Entlehnungen, aus dem Drama Maß für Maß stammend, findet man
besonders im Zerbrochenen Krug.

Bei der starken stofflichen Berührung zwischen Maß für Maß und dem Zerbrochenen
Krug wäre es möglich, wie es M. Corssen sieht, dass bei der Gestaltung der Fabel im
Zerbrochenen Krug Shakespeares Drama mit als Vorbild gewirkt hat: Der Richter Adam
als der Schuldige entspricht dem Angelo, dem Stellvertreter des Herzogs Finsniteo, in
Maß für Maß scheint Angelo auch als der schuldige Richter zu sein. Ruprecht und Eve
im Zerbrochenen Krug scheinen sogar auch den beiden Geliebten Claudio und Julia in
Maß für Maß zu entsprechen. Es ist nun möglich, dass Kleist durch Shakespeare, bei
dem der Richter zum Schuldigen wurde, darauf gekommen ist, den Stoff so zu wenden,
besonders da man bei der Komödie Der zerbrochene Krug noch verschiedene
Übereinstimmungen mit Maß für Maß erkennen kann. Kleist machte zum Beispiel aus
der Verführung, indem er sie auf den Richter übertrug, einen erfolglosen Versuch, wie
bei Angelo und Isabella, Claudios Schwester. Das Mittel, durch das der Verführer die
Bereitwilligkeit des Mädchens (Eve bzw. Isabella) erzwingen wollte, ist bei Adam ein
ähnliches wie bei Angelo: Adam ängstigte Eve durch Vorspiegelung einer tödlichen
Gefahr für ihren Bräutigam Ruprecht, wie Isabella ihren Bruder Claudio vom Tode
retten sollte. Kleist scheint hier also, das Hauptmotiv seines Lustspiels aus Shakespeares
Maß für Maß übernommen zu haben, nämlich das Motiv des schuldigen Richters. Der
Zusammenhang zwischen beiden Dramen ist jetzt also klar zu verstehen, besonders
wenn man erfährt, dass sich Kleist in seinem Zerbrochenen Krug an anderen Stellen mit

1
Delbrück: op. cit., S. 18. Vgl. dazu auch Wolfgang Schadewaldt: Der zerbrochene Krug von Heinrich
Kleist und Sophokles' König Ödipus. In: Heinrich von Kleist. Aufsätze und Essays. Hrsg. v. Walter
Müller-Seidel, Darmstadt 1967, S. 317-325.
2
Weiteres dazu siehe Meta Corssen: Kleist und Shakespeare. Verlag von Alexander Duncker, Weimar
1930, S. 207 f.
32
Maß für Maß berührt hat.1

Darüber hinaus wurde Kleist in seinem Zerbrochenen Krug von Shakespeares


Dialogsweise in Maß für Maß beeinflusst, nämlich durch einige Ausdrücke im siebenten
Auftritt wie „Da sagt ich“, „Na, sagt er“, „sag ich“ u.ä. Das bedeutet, Kleist ließ sich von
Shakespeare beeinflussen, nicht nur durch das Motiv, sondern auch durch die Sprache.
Dieses enge Verhältnis Kleists zu Shakespeare erklärt uns ein Zeitgenosse von ihm,
wenn er sagt:
„Er kommt mir wie ein werdender Shakespeare vor, der sich in den tragischen
Formen des Sophokles bewegen möchte.“2

Das waren also die Umstände, in denen der Zerbrochene Krug entstanden war: Le Veaus
Kupferstich Le juge ou la cruche cassée, Sophokles König Ödipus und Shakespeares
Mesure for Mesure.

In diesem Lustspiel offenbarte sich jedoch vor allem Kleists leidenschaftlicher Gestal-
tungswille. Wie genial hat er den Knoten geschürzt, besonders durch den Dorfrichter
Adam, der so Richter und Übeltäter war. Wie geschickt ließ Kleist die Fäden der
Handlung immer dichter sich kreuzen und verschlingen, indem jede der beiden
Hauptpersonen, Adam und Eve, Richter und Opfer zugleich war: Adam hat Eves und
Ruprechts Schicksal in der Hand und über ihm selbst schwebt die Absetzung; Eve hat
auch Adams Schicksal in ihrer Hand und muss für ihre Ehre und ihre Liebe zu Ruprecht
fürchten.

Mit dem Zerbrochenen Krug vollbrachte Kleist eine großartige Leistung, wo er einfache
Menschen eines Dorfes auf die Bühne stellte, ohne in die Mode des Schäferspiels zu
verfallen oder zur bloßen Parodie abzusinken. Diese Schaffung aus dem Nichts konnte
nur einem begnadeten Genie wie Kleist gelingen.

Abschließend erwähnen wir die Meinung des großen Kleist-Biographs Otto Brahm, dass
Kleist als Grundgedanken des Zerbrochenen Kruges gewissermaßen ausrufen würde:
„Seht, was das für eine Welt ist, in der ihr lebt! Ihr hadert um ein Nichts, und wenn ihr
Recht sucht vor der bestellten Instanz, findet ihr den ärgsten Sünder als euren Richter.“3

3.3 Inhalt des Lustspiels Der zerbrochene Krug


ZUR VORGESCHICHTE
In der Tat ist alles Wesentliche schon geschehen, wenn sich der Vorhang hebt. Die
Handlung läuft demnach gewissermaßen rückwärts ab, sie wird im Gerichtsverfahren
1
Ebd., S. 29 f.
2
Ebd., S. 207.
3
Zitiert nach Brinkmann: Erläuterungen ..., S. 15.
33
Schritt für Schritt abgewickelt.

Nicht weit von Utrecht, einer niederländischen Stadt, liegt das Dorf Huisum, in dem die
Handlung spielt. Hier lebt der Dorfrichter Adam, der wegen seiner körperlichen
Deformation Junggeselle blieb, ohne jedoch den Neigungen zum weiblichen Geschlecht
abzuschwören. Er sieht Eve, die Tochter seines verstorbenen Freundes, mit anderen
Augen an. Sie ist aber mit Ruprecht verlobt. Listig schwindelt ihr Adam deshalb vor,
dass die Aushebung der militärischen Truppen, zu denen auch Ruprecht gehört, für
Ostindien mit seinem mörderischen Klima bestimmt sei. Eve ist jetzt bereit, alles zu tun,
um ihren Bräutigam vor dem sicheren Tod zu retten. Adam verspricht ihr, ein
Krankheitsattest für Ruprecht zu besorgen, das ihn vom Militärdienst befreit. Sie ist gern
bereit, das Zeugnis am folgenden Morgen abzuholen, wobei aber Adam ihr weiter
vorschwindelt, dass er am nächsten Morgen früh verreisen müsse; er kann ihr deshalb
das Zeugnis am Abend bringen.

So erscheint Adam am späten Abend bei Eve, deren Mutter, Frau Marthe Rull, bereits in
ihrem Schlafzimmer ist. Er hat das angebliche Zeugnis mit sich. Da Eve nicht lesen
kann, ist es ihm jetzt leicht, ihr vorzulesen, was er will. Auf dem Zeugnis fehlt noch der
Name Ruprechts, aber es ist unterschrieben und untersiegelt; der Platz für den Namen ist
freigelassen. Tinte und Schreibzeug hat Adam schon in der Tasche, und er braucht also
nur zwei Minuten mit Eve auf ihr Zimmer zu gehen, und die Sache ist geschehen. Als
Adam aber erst auf ihrem Zimmer ist, hängt er die Perücke über den Krug, der auf dem
Fenstersims steht, und dann versucht er zu der Sache zu kommen, die seinem verliebten
Herzen besonders wichtig ist, womit Eve jedoch gar nicht einverstanden ist.
Ruprecht kommt in dieser Zeit vorbei, und als er den Lärm hört, springt er die Tür mit
Gewalt auf. Im dunklen Zimmer Eves sieht er aber nur, wie ein Kerl aus dem Fenster
springt. Im Weinspalier unter dem Fenster bleibt er hängen, wobei Ruprecht mit der
Türklinge kräftig zuhaut. Dann hat sich aber der Fremde aus dem Spalier befreit; er
streut Ruprecht eine tüchtige Ladung Sand in die Augen und verschwindet. Adam kam
demnach ohne seine Perücke zerkratzt nach Hause zurück, wo eine seiner Mägde ihm
das Blut vom Gesicht und Kopf abwaschen musste.

Bei Frau Marthe ist aber der Teufel los. Sie ist fest davon überzeugt, dass Ruprecht den
Krug zerbrochen hat, und als er es ableugnet, beschließt sie, ihn am nächsten Tag bei
Richter Adam zu verklagen.

Das alles ist geschehen, wenn sich der Vorhang hebt. Jetzt am frühen Morgen setzt die
Handlung des Zerbrochenen Kruges an.

ERSTER AUFTRITT

In seiner Gerichtsstube, die gleichzeitig seine Wohnstube ist, sitzt der Dorfrichter Adam
und verbindet sich das verletzte Bein. Der Gerichtsschreiber Licht tritt auf und fragt ihn
nach dem Ursprung der Verletzung. Adam erzählt ihm eine seltsame Geschichte von
einem bösen Fall, den er aus dem Bett heraus erlebt hat. Dabei verrenkte er sich den Fuß.
Er wollte sich am Ofen halten, zerschlug sich dabei am Ornament des Ofens das Gesicht
34
und den Hinterkopf. Licht lacht zu Adams Geschichte; er scheint seinem Vorgesetzten
nicht zu glauben. Er ist aber erschienen, um Adam eine unangenehme Nachricht zu
bringen. Er hörte, dass der Gerichtsrat Walter heute in Huisum eintreffen werde, um eine
Revision vorzunehmen. Nun fassen den Richter Adam die eigenen Sorgen. Er schlägt
seinem Schreiber vor, dass er schweigen soll, und ihm jetzt in die Registratur begleitet,
um dort Ordnung zu schaffen.

ZWEITER AUFTRITT

Im gleichen Augenblick meldet ein Bedienter die nahe Ankunft des Gerichtsrats Walter.
Nun ist Adams Ruhe zu Ende. Er sucht eine Perücke. Da erinnert ihn eine seiner Mägde
daran, dass er am Abend um elf Uhr ohne Perücke blutend heimgekommen sei, und dass
sie selbst ihm das Blut abwaschen musste. Licht wird jetzt aufmerksam; Adam
versichert ihm aber, dass er die Perücke am Abend mitgebracht und mit dem Hut
abgenommen habe. Eine andere Magd wird zum Küster geschickt, um von ihm eine
Perücke auszuborgen. Adam behauptet, dass in seine Perücke die Katze gejungt habe: er
habe sie auf einen Stuhl vor seinem Bett gehängt und sie im Schlaf heruntergestoßen. Da
nahm sie die Katze, trug sie unter das Bett, um darin zu jungen. Adam weiß sogar die
Farbe der fünf Jungen. Licht ist noch misstrauischer geworden; an diese seltsame
Geschichte scheint er nicht zu glauben.

DRITTER AUFTRITT

Die aufgeregte Stimmung Adams wurde jetzt in einer Art Pessimismus, er ist unsicher.
Heute ist auch Gerichtstag und die Parteien warten schon vor der Tür. Deshalb ahnt er
unangenehme Dinge voraus. Darüber hinaus hatte er in der vergangenen Nacht einen
merkwürdigen Traum, der auch nichts Gutes verspricht. Er träumte davon, dass ihn ein
Kläger ergriff und vor den Richterstuhl schleppte, wo er selbst gleichwohl auf diesem
Richterstuhl saß und ihm selbst den Hals ins Eisen judizierte. Licht versucht jetzt, ihn zu
beruhigen und ihm die Furcht auszureden. Adam soll nur, so schlägt ihm Licht vor, den
Parteien vorschriftsmäßig Recht geben, wenn der Gerichtsrat gegenwärtig ist.

VIERTER AUFTRITT

Jetzt tritt der Gerichtsrat Walter mit freundlichem Gruß in die Gerichtsstube. Adam
begrüßt ihn ebenfalls. Walter erklärt, dass er kommt, um die Dorfgerichte zu inspizieren.
Missbrauch muss mit strenger Weisung bestraft werden. Walters Revision ist aber nicht
zu strafen; er will nur sehen, wie es bei den Gerichten geht: er wird zufrieden sein, wenn
es nur erträglich ist. Vorsichtig bereitet Adam den Gerichtsrat darauf vor, dass er bei ihm
nicht alles nach Wunsch finden wird. Walter erkundigt sich nachher nach den Leuten,
die er auf dem Flur vor der Tür gesehen hat. Als er erfährt, dass es die Parteien sind, die
zum Gerichtstag erschienen, befiehlt er Adam, schnell mit der Verhandlung zu beginnen,
damit er sehen kann, wie sich ein Gerichtsgang in Huisum abwickelt.
35

FÜNFTER AUFTRITT

Bevor die Parteien hereingerufen werden, kommt die Magd zurück, die Adam zum
Küster schickte, um eine Perücke zu entleihen. Sie meldet aber, dass der Küster seine
Perücke selbst braucht. Adam findet hier eine Chance, um den Prozess hinauszuziehen.
Deshalb entschuldigt er sich beim Gerichtsrat, dass er den Gerichtstag kahlköpfig nicht
halten kann. Walter fragt nach der Möglichkeit, beim Prediger eine Perücke auszuleihen.
Adam steht aber schlecht mit diesem Prediger, und deshalb kann er seine Perücke nicht
entleihen. Da erklärt sich Walter damit einverstanden, dass Adam den Gerichtstag ohne
Perücke hält. Adam wird von Walter nachher nach seinen bösen Verletzungen befragt.
Er täuscht Walter durch dieselbe Lüge, die er Licht bereits erzählte. Dann befiehlt Adam
dem Büttel, die Parteien hereinzurufen.

SECHSTER AUFTRITT

Jetzt betritt eine aufgeregte Gesellschaft die Gerichtsstube. Frau Marthe hält den
zertrümmerten Krug sorgfältig in den Händen und beschimpft Ruprecht, der jetzt seinem
Vater Veit Tümpel versichert, dass es Frau Marthe gar nicht so sehr um den Krug geht,
sondern um die Verlobung, die nun auseinandergeht.

Eve bleibt bisher völlig schweigsam und versucht, sich Ruprecht zu nähern, aber
vergeblich! Frau Marthe fordert hartnäckig, dass der Krugzertrümmerer bestraft werden
muss.

SIEBENTER AUFTRITT

Adam kommt nun im Ornat. Als er sieht, wer die Parteien sind, fährt ihm der Schreck in
die Knochen. Vorsichtig fragt er Licht, worum es geht. Da antwortet ihm Licht, dass es
um einen zerbrochenen Krug geht. In seiner Angst bittet Adam jetzt seinen Schreiber
darum, für ihn den Prozess zu führen, denn er fühlt sich krank und muss ins Bett gehen.
Licht lehnt es aber ab. Adam droht Eve noch mit dem Attest, das Ruprecht von dem
Kriegsdienst in Ostindien befreien kann, wobei ihm Walter befiehlt, vor der Sitzung
keine Unterhaltung mit den Parteien zu führen.

Licht hat das Protokoll zu führen. Frau Marthe bestätigt, dass der Krug Gegenstand der
Klage ist und behauptet, dass Ruprecht ihn zerschlagen habe. Das genügt Adam: der
Krug und Ruprecht sollen ins Protokoll. Walter wird ärgerlich und befiehlt Adam, die
Verhandlung von neuem zu beginnen. Frau Marthe wird aufgefordert, ihre Klage
vorzubringen, wo sie es ganz ausführlich tut bei ihrer Krugbeschreibung. Schließlich
wird Adam ärgerlich, sowie auch der Gerichtsrat Walter. Endlich kommt sie zu dem
Schluss, dass Ruprecht ihr den Krug zerbrochen habe. Ruprecht protestiert aber noch
und bestätigt, dass ihn ein anderer zerschlug. Adam entschließt sich, Eves Schweigen als
Bestätigung zu nehmen und Ruprecht demnach als Täter festzulegen. Walter tadelt
dieses Vorgehen noch einmal.
36
Endlich darf Ruprecht aussagen. Er bestreitet Frau Marthes Anklage und erzählt
ausführlich den Hergang, den wir in der Vorgeschichte erfahren haben.

Frau Marthe verlangt nun, dass ihre Tochter vernommen werden muss, damit Ruprechts
Schuld endlich klar wird. Das befriedigt Adam aber nicht; er behauptet deshalb, dass
man daran nicht glaubt, was Eve sagen wird.

ACHTER AUFTRITT

Adam lässt sich hier durch eine seiner Mägde ein Glas Wasser bringen, weil ihm die
Zunge trocken geworden ist. Er bietet dem Gerichtsrat Walter Wein an, jedoch dieser es
höflich ablehnt.

NEUNTER AUFTRITT

Adam schlägt nun vor, die Sache durch einen Vergleich beizulegen, wobei aber Walter
es ablehnt, denn der Fall ist noch völlig verwirrt. Der Gerichtsrat verlangt, dass Adam
Eve vernehmen muss. Licht, der längst die Zusammenhänge erkannt hat, bricht sich
erwartungsvoll ein neues Blatt für das Protokoll der Vernehmung.

Statt auszusagen, bittet Eve Ruprecht noch einmal darum, ihr Vertrauen zu schenken,
auch wenn sie jetzt schweigen muss, wobei aber Ruprecht in seine Eifersucht verrannt
bleibt. Sie verspricht ihm, dass er einmal die volle Wahrheit erfahren wird; das akzeptiert
er aber nicht.

Eve erklärt dann entschieden, dass Ruprecht den Krug nicht zerschlagen hat, und bringt
gleichzeitig die volle Entlastung für den anderen Verdächtigten Leberecht. Damit liegt
der Fall wieder ganz offen. Damit ist Frau Marthe nicht einverstanden, sie benennt
deshalb eine weitere Zeugin dafür, dass um die fragliche Zeit Ruprecht und niemand
anderer bei Eve war, nämlich Frau Brigitte, Ruprechts Tante. Darüber hinaus behauptet
Frau Marthe, dass Ruprecht desertieren und dabei Eve entführen wollte.

Walter befiehlt nun, Frau Brigitte zu holen. Daher schickt Adam den Büttel ab, um sie
ins Gericht zu laden. Walter wird jetzt ganz neugierig, die Wahrheit zu erkennen.

ZEHNTER AUFTRITT

Jetzt tritt eine Pause im Prozess ein, bis Frau Brigitte kommt. Der Gerichtsrat Walter
fordert Adam auf, ihm ein Glas Wein zu geben, und in dieser gemütlichen Stimmung
befragt er ihn nach seinen Wunden, worauf Adam antwortet, dass die Wunden am Kopf
vom Ofen stammen, wie er Licht bereits erzählte, und dass seine Perücke in der vorigen
Nacht an Feuer der Kerze fing. Walter bleibt jetzt misstrauisch und erwähnt, dass der
Zertrümmerer des Kruges leicht an seinen Wunden entdeckt werden könnte. Beide, auch
die Parteien, warten nun auf Frau Brigittes Ankommen.
37
ELFTER AUFTRITT

In diesem Augenblick kündigt der Schreiber Licht Frau Brigitte an. Adam schärft Eve
noch einmal ein, dass sie nichts verraten darf. Hier bemerkt Walter aber, dass Frau
Brigitte eine Perücke mitbringt, die sie im Weinspalier unter dem Fenster Eves gefunden
hat. Da wird es Walter klar, dass nur Adam der Täter gewesen sein kann. Um die Ehre
des Gerichts zu wahren, fragt er ihn heimlich, ob er ihm nichts anzuvertrauen hat. Adam
erkennt zwar an, dass die Perücke seine eigene ist, behauptet aber, dass er sie dem
Ruprecht gegeben habe, um sie zum Perückenmacher in Utrecht zu tragen. Nun beginnt
Frau Brigitte ihre Aussage. Sie ist sicher, dass es Ruprecht nicht war. Als sie von dem
zerschlagenen Krug erfuhr, untersuchte sie sorgfältig die Spur. Sie entdeckte dabei, dass
immer ein Mensch- und ein Pferdefuß nebeneinander herliefen, und zwar genau bis zum
Hause des Richters Adam. Walter versucht jetzt, Adam durch seinen Klumpfuß zu über-
führen; Adam hält ihn aber sorgfältig unter den Tisch.
Schließlich verurteilte Adam Ruprecht als überführten Täter zum Pranger. Eve, die jetzt
erkennt, dass ihr Opfer umsonst war, erklärt nun, dass Richter Adam der Täter war. Nur
die Flucht rettet Adam vor der Wut Ruprechts.

ZWÖLFTER AUFTRITT

Ruprecht wird mühsam gebändigt. Jetzt naht er sich Eve und bittet sie um Vergebung.
Eve fällt aber dem Gerichtsrat zu Füßen und bittet ihn darum, Ruprecht vor der
drohenden Gefahr in Ostindien zu retten. Sie zeigt Walter den Brief, den Adam ihr als
strengstes Geheimnis anvertraute. Dem Rat ist jedoch nichts davon bekannt. Licht
entlarvt den Brief als eine Täuschung Adams. Nun klärt Eve auf, wie Adam ihren
Bräutigam Ruprecht durch ein gefälschtes Krankheitsattest retten wollte, sich dabei in
ihr Zimmer schlich und Schändliches von ihr forderte.

Walter versichert ihr aber, dass Ruprecht nur zur Landmiliz nach Utrecht eingezogen
wird.

Abschließend entscheidet der Vater Ruprechts, dass die Hochzeit gefeiert wird, wenn
Ruprecht vom Heer zurückkehrt. Walter hat Mitleid mit Adam und bittet daher den
Schreiber Licht, ihn zurückzuholen.

LETZTER AUFTRITT

Frau Marthe fragt jetzt den Gerichtsrat Walter, wann in Utrecht die Sitzungen des
Obergerichts stattfinden und wo dessen Sitz ist.
„Am großen Markt, und Dienstag ist und Freitag Session“, antwortet ihr Walter. Sie
entschließt sich dann dazu, sich pünktlich zur nächsten Session in Utrecht einzustellen,
damit ihrem Krug sein Recht geschehen kann.
38

3.4 Politische und patriotische Gedanken in diesem Lustspiel


Kleists Lustspiel Der zerbrochene Krug trägt eigentlich sowohl politische als auch
patriotische Gedanken, die wahrscheinlich in dem Kupferstich nicht enthalten waren.
Der Verfasser hatte das Motiv, wie bereits erwähnt, während seines Aufenthalts in der
Schweiz empfangen, worin die bürgerliche Staatsumwälzung, wie vorher die Revolution
in Frankreich, von einer Befreiung der Bauern begleitet war. Das sollte bedeuten, Kleist,
wie sein Freund Zschokke, hat nicht ganz zufällig ein Motiv aus dem Bauernleben zu
einem poetischen Werk gemacht. Auch aus der Übereinstimmung zwischen dem
Lustspiel Kleists und der Novelle Zschokkes kann man vielleicht entnehmen, dass sie
dem Vorgang damals einen politischen Sinn unterlegten, der in dem Bild Le Veaus nicht
zu erkennen war.1

Solch ein politischer Sinn mag darin bestehen, dass Kleist mit dem Zerbrochenen Krug
das Gerichtswesen auf dem Dorf kritisieren wollte. Der Dorfrichter Adam im
Zerbrochenen Krug behauptet jedoch, nach Kleists Meinung, die Position eines
sozusagen Miniaturtyrannen, dem das Schicksal der Dorfbewohner in die Hand gegeben
ist. Er hat seine Stellung als Dorfrichter nach seiner eigenen Herzenslust missbraucht.

Mit der Charakterisierung Adams wollte Kleist in der Tat einen Ausschnitt aus der
Wirklichkeit seiner Zeit vorbieten. Dadurch zeigt sich die moralische Korruption in den
Vertretern der Justiz. Adam hat sich ein egoistisches Verhältnis zum Leben bewahrt,
obwohl sich bei ihm auch das bäuerliche Leben auf dem Dorf in seiner urwüchsigen
Lebenskraft positiv auswirkte. Kleist wollte auch sagen, dass die Gebrechen und
Fragwürdigkeiten der Gesellschaft auf den Dorfrichter Adam beeinflusst und ihn damit
korrumpiert haben.

Kleists Meinung nach sind die Vertreter der Justiz also mehr oder weniger korrupt. Es
geht ihnen nicht um Recht und Gerechtigkeit, sondern um den Vorteil, entweder um
ihren eigenen Vorteil oder um den der Obrigkeit: Adam will sich mit unverschämten
Lügen und Täuschungen aus der Schlinge ziehen, sei es auch auf Kosten anderer
unschuldigen Menschen; Licht strebt möglicherweise danach, sich an Adams Stelle zu
setzen. Für den Gerichtsrat Walter ist der beherrschende Gesichtspunkt, dass Ansehen
und Würde des Gerichts gewahrt bleiben. Die Bauern dagegen stellt Kleist einfach und
beschränkt vor, jedoch aber ohne Hinterhalt. Diese Meinung Kleists scheint mit der
Gesellschaftsauffassung Rousseaus übereinzustimmen. In einem seiner Werke schrieb
Rousseau:
„Das Volk zeigt sich, wie es ist, und es ist nicht liebenswürdig; aber die
Weltleute haben alle Ursache, sich zu verstellen; zeigten sie sich, wie sie sind,
so würden sie wahrlich Grauen und Abscheu erregen.“2

1
Heinrich Deiters: Heinrich von Kleist und die politischen Kämpfe seiner Zeit. In: Beiträge zum neuen
Geschichtsbild. Rütten und Loening Verlag, 1956. Erwähnt nach dem Buch: Zwischen Klassik und
Romantik, S. 167.

2
Zwischen Klassik und Romantik, S. 174.
39

Einer der wichtigen Hintergründe, auf denen Kleists Realismus im Zerbrochenen Krug
erwächst, ist also die Korruption der Justiz zu seiner Zeit.

Durch die folgende Aussage Frau Marthes, in der sie behauptet, dass Ruprecht
desertieren und dabei ihre Tochter Eve entführen wollte, bietet uns Kleist noch einen
militärisch-politischen und zugleich auch patriotischen Gedanken seines Lustspiels vor:
„Da ich jedoch
Hier den Beweis noch anders führen kann,
[...],
So bringt die Lust, es kurzhin abzuschwören,
Mich noch auf einen schändlichen Verdacht.
Die Nacht von gestern birgt ein anderes
Verbrechen noch, als bloß die Krugverwüstung.
Ich muss Euch sagen, gnäd'ger Herr, dass Ruprecht
Zur Konskription gehört, in wenig Tagen
Soll er den Eid zur Fahn in Utrecht schwören.
Die jungen Landessöhne reißen aus.
Gesetzt, er hätte gestern nacht gesagt:
Was meinst du, Evchen? Komm. Die Welt ist groß.
Zu Kist' und Kasten hast du ja die Schlüssel.
Und sie, sie hätt ein wenig sich gesperrt:
So hätt ohngefähr, da ich sie störte,
─ Bei ihm aus Rach, aus Liebe noch bei ihr ─
Der Rest, so wie geschehn, erfolgen können.“1
Frau Marthe äußert hier den (angeblichen) schändlichen Verdacht, dass der Bräutigam
ihrer Tochter heimlich desertieren wollte. Das bedeutet nach Kleist ganz allgemein und
ausdrücklich, dass die jungen Menschen des Landes ausreißen, besonders dass solche
Desertion in allen Kontonierungsgebieten Preußens üblich und selbstverständlich war.

Frau Marthes Ausdruck „... auf einen schändlichen Verdacht“ enthält Kleists patriotische
Auffassung, dass die Desertion Schande bringt, und dass die Verteidigung des
Vaterlandes für den jungen Mann mehr als eine Willkür des Staates ist; sie ist ihm eine
heilige Verpflichtung.

Diese heilige Verpflichtung dem Heimatland gegenüber bestätigte Eve in der erweiterten
Fassung des zwölften Auftritts, als der Gerichtsrat Walter zu ihr sagte, dass sich
Ruprecht nicht weigern soll, das Land zu verteidigen. Da sagte sie:
„Er denkt nicht daran,
Gestrenger Herr, und Gott behüte mich,
Dass ich in seiner Sinnesart ihn störte.
Wohl uns, dass wir was Heil'ges, jeglicher,
Wir freien Niederländer, in der Brust,
Des Streites wert bewahren: So gebe jeder denn
Die Brust auch her, es zu verteidigen.

1
Der zerbrochene Krug. Neunter Auftritt, S. 163 f.
40
Müsst er dem Feind im Treffen selbst begegnen,
Ich spräche noch: zieh hin, und Gott mit dir;
Was werd ich jetzt ihn weigern, da er nur
Die Wälle, die geebneten, in Utrecht,
Vor Knaben soll und ihren Spielen schützen?“1
Eve, die ihr Heimatland liebt und verehrt, weiß wohl, dass es etwas Heiliges ist, das
Vaterland zu verteidigen, und dass jeder ehrenhafte junge Mann bereit sein muss, sein
Leben für dessen Freiheit zu wagen.

An dieser erwähnten Stelle aus dem Zerbrochenen Krug spielen solche patriotischen
Wendungen eine erhebliche Rolle und zeigt uns zugleich das patriotische Denken
Kleists. Durch Eves Worte will Kleist erklären, dass es ein freiwilliges Eintreten für die
Verteidigung des Vaterlandes gilt, solange der Zweck heilig ist. Unter diesem
Gesichtspunkt wird Adams Verhalten aber noch verwerflicher, anders gesagt: es wird
Landesverrat. Er verdächtigt z.B. die Regierung, dass sie die jungen Landessöhne, die
zum Schutz des Vaterlands aufgeboten worden sind, nach Ostindien schicken will:
„... Folgt er [Ruprecht] einmal der Trommel,
Die Trommel folgt dem Fähndrich, der dem Hauptmann.
Der Hauptmann folgt dem Obersten, der folgt
Dem General, und der folgt den vereinten Staaten wieder
Und die vereinten Staaten, hols der Henker,
Die ziehen in Gedanken weit herum.
Die lassen trommeln, dass die Felle platzen.“2

Erst der Betrug des Vaterlandes, den der Dorfrichter Adam Eve täuschend mitgeteilt hat,
rechtfertigt, nach Kleists Meinung, ihr Bemühen, Ruprecht freizubekommen, sei es auch
um den Preis eines gefälschten Krankheitsattestes.

Noch weiter, und an einer ganz unverfänglichen Stelle aus dem


Zerbrochenen Krug, kann Kleist einen patriotischen Gedanken anbringen, der heute den
Deutschen wie eine Redensart erscheinen könnte. Dieser Gedanke lässt sich erkennen
durch einen Dialog zwischen dem Gerichtsrat Walter und dem Dorfrichter Adam am
Anfang des zehnten Auftritts, als sich Walter entschloss, mit Adam ein Glas Wein zu
trinken:

„WALTER Laut: Herr Richter Adam, wisst Ihr was?


Gebt ein Glas Wein mir in der Zwischenzeit.
ADAM: Von ganzem Herzen gern. [...]
Ihr macht mich glücklich, gnäd'ger Herr. [...]
Was befehlt Ihr? ─ [...]
Franz? ─ [...]. ─ Oder Rhein?
WALTER: Von unserm Rhein.“1

1
Ebd. Zwölfter Auftritt (Variant).
2
Ebd. Zwölfter Auftritt (Variant).
41

Walters Antwort „Von unserm Rhein“ könnte eine politische, und vor allem patriotische
Forderung nach dem deutschen Rhein gegen die französischen Ansprüche zu dieser Zeit
enthalten. Erst mit solcher Forderung wurde der Rhein auch zum Weinstrom, und da
begann man den Wein vom Rhein zu besingen. Vorher sprach man ganz allgemein von
dem sogenannten Moselwein, und differenzierte die rheinischen Weine nur nach der
Lage.2 Jetzt spricht man aber ausdrücklich von dem Rhein-Wein, wo das nicht anders
heißen könnte als eine verkappte politische Forderung des Patrioten Kleist.3

Es passt hier schließlich zu erwähnen, dass zwischen der Konzeption des Zerbrochenen
Kruges, seiner Fortsetzung in Königsberg und seiner Vollendung einige Jahre liegen, die
durch eine entscheidende Wandlung des politischen und patriotischen Denkens Kleists
bestimmt sind. Als die Dresdner Zeitschrift Phöbus einging, da wendete sich Kleist
entschieden der Politik zu, wobei er zum Rufer und Vorbereiter des Aufstandes gegen
Napoleon wurde. Mit dieser Wandlung entstanden seine politische Lyrik, sowie auch
seine patriotischen Gedanken, die man in einigen seiner Werke, vor allem aber im
Zerbrochenen Krug, spüren kann.

3.5 Charakteristik der Hauptpersonen

1. DER DORFRICHTER ADAM

Fast das ganze Spiel im Zerbrochenen Krug geht um den Dorfrichter Adam, der wegen
seiner eigenen Lüsten sein Amt missbrauchte. Kleist hat aus dieser Figur eine
Zentralfigur, einen beständigen Beziehungspunkt der komischen Wirkungen während
des ganzen Stückes gemacht. Die Komik Adams liegt darin, dass er ein hemmungsloser
Lügner ist, der sich unbedenklich über alle Wirklichkeit und Wahrheit hinwegsetzen
will; dabei ist er von einem fast schrankenlosen Willen zur Lüge, zur List und
Täuschung beherrscht. Schon am Anfang des Stückes, als ihn sein Schreiber Licht fragte
„Wann trug sich die Begebenheit denn zu?“, antwortete Adam:
„Jetzt, in dem Augenblick, da ich dem Bett
Entsteig. Ich hatte noch das Morgenlied
Im Mund, da stolpr' ich den Morgen schon,
Und eh ich noch den Lauf des Tags beginne,
Renkt unser Herrgott mir den Fuß schon aus.“4

1
Ebd. Zehnter Auftritt, S. 167.
2
Vgl. den achten Auftritt des Lustspiels!
3
Weiteres dazu siehe Brinkmann: Erläuterungen ..., S. 78 f.
4
Der zerbrochene Krug. Erster Auftritt, S. 115.
42
So entwickelte Adam gleich in diesem ersten Auftritt seine besondere Fähigkeit, aus der
Improvisation heraus zu lügen und seine Erfindungen so phantasievoll auszumalen, dass
sie dem Zuhörer plastisch vor Augen stehen. Damit kann er zwar bei seinem Schreiber
keinen Glauben wecken, aber er erzeugt bei ihm ein Vergnügen, eine Art von
Bewunderung für diese lügnerische Erfindungsgabe. Dadurch besitzt Adam, jedoch auf
negative Weise, die Fähigkeit der Verfertigung der Gedanken beim Reden im höchsten
Maß.

Dass Adam den Krug zerschlagen hat und damit der wahre Täter war, ist für den
Zuschauer bald klar. Alle Aufmerksamkeit konzentriert sich auf die Listen und
Täuschungen, mit denen er sich aus dem Prozess, in dem er Richter und Angeklagter
zugleich ist, herauszuwinden versucht. Deshalb hat Kleist diesen Charakter von den
verschiedensten Seiten ausgeleuchtet: in ihm schuf Kleists Erfindungsgabe eine Gestalt
von großartiger Lebendigkeit und Komik. Adams Bewusstheit bezieht sich nur auf seine
Schuld und den Versuch, sie zu verhüllen. Für seine Komik hingegen ist er nicht
verantwortlich, er verhält sich naiv zu ihr: er hat die Komik, ohne es zu wissen, dass er
komisch ist.

Schon sein Äußeres bildet einen wirkungsvollen Gegensatz zu seinem nächtlichen


Abenteuer. Er ist gewichtig am Körper, kahlköpfig und überdies an Jahren vorgerückt.
Sein Klumpfuß und seine frischen Wunden, die er aus dem Abenteuer der Nacht
mitgebracht hat, verstärkten den Verdacht, dass er der Schuldige war. Trotzdem sieht
Brinkmann in ihm einen „ganzen Kerl voller Lebenskraft und Sinnenfreude,
bauernschlau und ohne Gewissenslast.“1 Er gebraucht sein Amt als Richter dazu, sich
das Leben leichter zu machen und es zu genießen.

Die Unordnung vollzieht sich im Dorfrichter Adam. In seiner Registratur z.B. befinden
sich Würste, Schinken, Weine und ähnliche Sachen. Um die Akten kümmert er sich
wenig. Die Justiz übt er mit souveräner Gewalt und nach seinen persönlichen Interessen.
Mit diesen Zügen kommt in seinen Charakter etwas Verwerfliches, etwas
Unverzeihliches. Kurz: Adam versucht, das Leben mechanisch zu bestimmen. 2

So unordentlich wie in seiner Registratur sieht es auch in seinem Kopf aus. Er imponiert
seinen Bauern durch gelehrte Phrasen und streut gelegentlich lateinische Ausdrücke in
seine Rede. Doch sind ihm diese Phrasen und Ausdrücke in Wirklichkeit Worte ohne
Inhalt, d.h. vom Wesen des Rechtes hat er keine Ahnung; die Justiz steht ihm nur nach
feststehenden Gebräuchen. Er entdeckte die Heiligkeit des Rechtes nur einmal, als er
Eve veranlassen wollte, ihn nicht durch ihre Aussage zu belasten. Da setzte er seinen
Richterstuhl mit Gottes Richterstuhl gleich:
„Sprich, Evchen, hörst du, sprich jetzt, Jungfer Evchen!
Gib Gotte, hörst du, Herzchen, gib, mein Seel,
Ihm und der Welt, gib ihm was von der Wahrheit.

1
Brinkmann: op. cit., S. 56.
2
Weiteres zum Charakter Adams siehe Hohoff: Komik und Humor ..., S. 36 ff.
43
Denk, dass du hier vor Gottes Richterstuhl bist ...“1

Adam ist im Grunde trotzdem gutmütig. Er liebt z.B. die Tiere: Seine Hühner sind ihm
wie seine Kinder. Sein Hauptproblem ist es, dass sich sein Herz nach Zärtlichkeit sehnt,
die ihm die beschwerliche Last des Ehestandes nicht bringt. Zusammengefasst ist er
überlegen und beschränkt zugleich, gutmütig und niederträchtig, unterwürfig und grob:
er ist der Mensch.

2. DER GERICHTSSCHREIBER LICHT

„LICHT: Ihr stammt von einem lockern Ältervater,


Der so beim Anbeginn der Dinge fiel,
Und wegen seines Falls berühmt geworden;
Ihr seid doch nicht ─?
ADAM: Nun?
LICHT: Gleichfalls ─?“2

So wird es bereits im ersten Auftritt, dass der Schreiber Licht um die Zusammenhänge
weiß, oder zumindest so viele Anhaltspunkte hat, dass er die richtigen Spuren von
Anfang an verfolgt. Darauf deutet schon sein Name hin Licht, der, wie alle im Stück,
von Kleist mit Beziehung und Absicht gewählt wurde. Er macht seinen Namen Ehre: er
ist ein Licht, er merkt alles und bringt Licht in die verworrenen Dinge. Er spielte hier in
dieser Szene auf Adams Namen und den Sündenfall an, als er ihn verletzt vorfand. Er
meinte gerissenerweise, dass die Wunde an Adams Auge auf einen Schlag hindeute, als
ob ein Großknecht ihn wütend geführt hätte:
„ Ei, hier liegt
Querfeld ein Schlag, blutrünstig, straf mich Gott,
Als hätt ein Großknecht wütend ihn geführt.“3

Kleist charakterisiert damit das Verhältnis Lichts zu seinem Vorgesetzten Richter Adam:
Licht, der schon neun Jahre im Justizdienst steht und noch immer ein armseliger
Schreiber ist, freut sich darauf, wenn er sich ein wenig für die Zurücksetzung rächen
kann, und vergnügt sich daher, Adam in einer so misslichen Situation zu sehen.

Während der Zuschauer die dreisten Lügen und Listen des Dorfrichters Adam mit
Behagen und Vergnügen verfolgt, empfindet aber beim Verhalten Lichts, der wie eine
Spinne sein Opfer umgarnen will, ein eiskaltes Unbehagen. Kleist zeigt uns, dass Licht
als Diener der Justiz nicht besser als Adam ist: er missbraucht auch sein Amt zum
eigenen Vorteil. Bei ihm „stellt sich sehr schnell heraus, dass er keineswegs die Reinheit
des Rechts repräsentiert, das sich offensichtlich auch sehr unsauberer Hände bedienen

1
Der zerbrochene Krug. Neunter Auftritt, S. 157.
2
Ebd. Erster Auftritt, S. 115.
3
Ebd. Erster Auftritt, S. 116.
44
kann, um zum Ziel zu kommen.“1

Der Schreiber Licht hat als erster der Mitspieler im Stück die Lage durchschaut. Mit
hämischer Freude sucht er nun unter dem Vorwande der Freundschaft, den Dorfrichter
in die Enge zu treiben. Nur der Ehrgeiz leitet ihn, selbst einmal Dorfrichter zu werden.
Jetzt sieht er die Stunde gekommen, Adam von seinem Amt zu verdrängen.
Gerechtigkeit und Moral sind ihm ebenso fremd wie seinem Vorgesetzten Adam. Er ist
aber, so sieht Brinkmann,2 klüger, sachverständiger als Adam, und darum kann er über
ihn emporsteigen. Er verpasst z.B. keine Gelegenheit, sich beim Gerichtsrat Walter in
den Vordergrund zu spielen, er gibt sich bei ihm so bieder und bescheiden, als ob die
Gerechtigkeit sein Hauptanliegen wäre. Er versucht damit, seine Stelle, seinen
Karrierismus etwas aufzubessern, nämlich ein Dorfrichter zu werden.

Durch scheinbar harmlose Fragen und Bemerkungen trieb Licht seinen Vorgesetzen
Adam in immer neue schwierige Lagen. Es ist der ironische Spott des Überlegenen,
anders gesagt: es ist das Spiel, das die Katze mit der Maus treibt. 3 Hier zeigt sich die
ironische Dimension Lichts gegenüber dem Dorfrichter Adam.

Am Ende des Stückes trat er ganz aus seiner Zurückhaltung, indem er die entscheidende
Zeugin, Frau Brigitte, auf den rechten Weg setzte. So erreichte er, jedoch vorläufig, sein
Ziel: Walter übertrug ihm das Amt des Dorfrichters bis auf weitere Verfügung. Sein Sieg
am Ende ist also ein trügerischer und vorübergehender Sieg. Er fügte sich am Ende
sozusagen in die Reihe derjenigen ein, die in die Grube fallen, die sie anderen gegraben
haben, denn Adam mag wieder zu seinem Amt kommen. E. Catholy beschreibt den
Schreiber Licht negativ, wenn er sagt: „Obwohl er zur Aufklärung von Adams Fall
beiträgt, ist Licht die einzige 'unsympathische' Figur des Stücks.“4

3. DER GERICHTSRAT WALTER

Der Gerichtsrat Walter ist ein gutmütiger, korrekter und wohlwollender Mann: er ist ein
Beamter nach Vorschrift.5 Was er zu tun und zu lassen hat, bestimmen seine
Vorgesetzten. Persönlich neigt er zur Milde. Seine Laune scheint allerdings schwer zu
trüben. Nur zweimal zeigte er etwas wie Erregung: das erste Mal, als Adam das äußere
Dekorum verletzen und ohne Perücke die Gerichtshandlung halten wollte: „Wo Teufel
auch, wo ließt Ihr die Perücken?“6 und das zweite Mal, als mit Hilfe Frau Brigittes der
Teufel als Krugzertrümmerer entlarvt wurde. Da verlor er seine Selbstbeherrschung:
1
Catholy: Das deutsche Lustspiel ..., S. 181.
2
Brinkmann: Erläuterungen ..., S. 59.
3
Ebd., S. 60.
4
Catholy: op. cit., S. 175.
5
Brinkmann: Loc. cit.
6
Der zerbrochene Krug. Fünfter Auftritt, S. 130.
45
„Blödsinnig Volk, das!“1

Walter handelte immer als ein Studierter, stets war er sich bewusst, was seine geistige
Überlegenheit und sein hohes Amt als Gerichtsrat von ihm verlangten. Er liebte es
immer, gehobene Sprache anzuwenden und dabei das unstudierte Volk zu belehren. Er
ist gewiss die durch Amt und Stand, Bildung und Charakter überlegene Figur; er
bestimmt für den Zuschauer die kritische gesellschaftlich-moralische Perspektive, von
der Adam beurteilt werden soll. Aus Pflichtbewusstsein lehnte er das Frühstück ab, das
ihm Richter Adam anbot, denn er wollte unpersönlich, Amtsperson bleiben, ehe die
Revision beendet ist, obwohl er später sich darauf eingelassen hat, mit Adam ein Glas
Wein zu trinken.

Kleist hat jedoch viel getan, diese Überlegenheit Walters nicht zu ernsthafter Bedrohung
des Dorfrichters Adam werden zu lassen: Lange durchschaute Walter die Situation nicht;
Adam konnte ihn lange verwirren. Obwohl er sich lange von Adam täuschen ließ, gelang
es ihm auch nicht, mit Adam zusammen das Ansehen und die Würde des Gerichts zu
schützen. Er wurde bis zum Schluss durch Adam überspielt, der noch in voller Aktivität
bleibt, obwohl alle seine Chancen verloren sind.2

Walter wollte, als er die Sachlage begriff, die Fortsetzung des Verhörs abbrechen und
beendigen, damit die Würde des Gerichts nicht verletzt zu werden. Adam ergriff diese
Chance aber nicht, er trieb das Spiel weiter bis in die Katastrophe hinein. So konnte
Adam den Gerichtsrat Walter fast bis zum Ende des Stückes täuschen, denn Walter
„ist nicht einfach der allwissende Vertreter einer höheren Macht, der von
Anfang an weiß, worum es geht und worauf alles hinauslaufen wird.“3

Der Gerichtsrat Walter scheint sich also, die Wahrung der Ehre des Gerichts zu fordern
und zu schützen. Dabei kommt es ihm weniger auf Gerechtigkeit als auf das Dekorum,
den äußeren Schein und die Form an. Sein Sachverstand hinderte ihn, irgendwie
gewalttätig vorzugehen. Von einer tieferen sittlichen Auffassung der Gerechtigkeit und
der Heiligkeit der Rechtspflicht ist bei ihm ebenso wenig zu finden wie bei Adam oder
Licht. Alle sind aus Bäumen geschnitzt, die nicht so weit auseinander stehen. Er ist
jedoch Studierter und beherrscht die Justiz besser als sie. Am Ende ließ er den flüchtigen
Dorfrichter zurückholen, d.h. er wird für ihn noch einen Weg finden. Die Tatsache bleibt
aber noch, dass Walter als der Gegenspieler Adams in seinem Kampf um das Richteramt
während der Handlung war.

4. EVE
Eve, oder „Evchen“, ist der eigentliche Gegenspieler Adams. Sie gab zunächst, aus
reiner Liebe für ihren Ruprecht, den ersten Versuchungen Adams nach, wehrte sich dann

1
Ebd. Elfter Auftritt. S. 177.
2
Siehe Martini: Lustspiele ..., S. 180.
3
Catholy, S. 181.
46
jedoch dagegen, sobald sie seine niedrigen Absichten durchschaut hatte. Im Gegensatz
zu dem Anschein, den sie erweckte, verkörpert Eve die reine und echte Liebe, das tiefe
natürliche Gefühl eines vollkommenen Menschen gegenüber den tierisch niedrigen
Instinkten und Trieben des Dorfrichters Adam. Ihr Unglück ist es aber, dass sie durch
Adams egoistischen Listen und Täuschungen in eine Situation gebracht wurde, in der
alles gegen sie sprach.

Aus Sorge um das Schicksal ihres geliebten Bräutigams nahm Eve alle Gefahr der
Entehrung, des trügerischen Verdachts und der Beschimpfungen durch den Bräutigam
und die Mutter auf sich, und zwar um ihre Liebe zu retten. Adams List und Täuschung,
die Eve dazu brachten, beruhen darauf, Eve einzureden, dass Ruprecht nicht auf die
Festungswälle nach Utrecht eingezogen, sondern nach Ostindien in die Kolonien
verschickt werde. Auf diese fragwürdige Lüge ließ sich Eve aus Angst um das Leben
des Geliebten ein. Die Liebe hat sie blind gemacht, so dass sie den Erpressungsversuch
Adams nicht durchschauen konnte. Wenn sie erklärte, dass es Ruprecht war, der den
Krug zerbrach, log sie dabei wissentlich, wenn auch in bester Absicht, und machte sich
damit eine Irreführung des Gerichts schuldig, die ihr selbst gefährlich zu werden drohte.1

Eve forderte im Bewusstsein ihrer leidenden Unschuld und ihres reinen Wollens für sich
unbedingtes Vertrauen. Dafür war sie bereit, ihre Liebe jedes Opfer zu bringen, selbst
auch die Schande, die jenes nächtliche Abenteuer auf ihre Ehre werfen musste. Sie
dachte immer nur an Ruprechts Rettung. Sie versuchte dabei, nach zwei Seiten zu
spielen: Sie wollte den Richter Adam nicht verärgern, aber auch die Gefahr für Ruprecht
abwenden. Noch vor dem Gericht weigerte sie sich mit selbstverleugnender Liebe, die
Vorgänge der vergangenen Nacht aufzuklären. Auch die harten Worte ihres Bräutigams
und ihrer Mutter machten sie in ihrer Absicht nicht wankend.

Sie blieb aber, trotz aller Schwierigkeit und aller Not, ihrer Liebe zu Ruprecht sicher. Als
sich aber die Sache aufklärte, als Adam entlarvt wurde und ihr Bräutigam sich ihr mit
der Bitte um Verzeihung näherte, war sie nicht böse, sondern warf sie sich dem
Gerichtsrat Walter flehend zu Füßen, um Ruprecht zu retten:
„Herr! Wenn Ihr jetzt nicht helft, sind wir verloren.“2

Da stellt es sich heraus, dass Eve die Liebe zu Ruprecht gar nicht aufgegeben hat, sie
liebte ihn und liebt ihn noch, bis ihre reine Liebe am Ende über alles triumphierte.

5. RUPRECHT

Ruprecht ist ein offener, treuherziger Mensch, er ist ja ein Bauernbursche ohne jede
Bosheit: er gibt sich immer natürlich, gutgläubig und zuverlässig. Er ist das Objekt der
Täuschungen und Rücksichtslosigkeiten des Dorfrichters Adam, der ihm mit Gewalt und

1
Siehe das Buch Zwischen Klassik und Romantik, S. 157 f., sowie auch Catholy, S. 182.
2
Der zerbrochene Krug. Zwölfter Auftritt, S. 185.
47
gegen alles Recht den Hals ins Eisen judizieren wollte, um den eigenen Hals aus der
Schlinge zu retten. Wenn der Gerichtsrat Walter nicht anwesend wäre, erginge es diesem
armen Ruprecht gewiss schlecht, weil er gegen Adams Lügen nichts zu setzen hat als die
Wahrheit, an deren Sieg er mit der ganzen Treuherzigkeit des jungen, unbefangenen und
unverdorbenen Menschen glaubte, die aber bei Adams Praktiken wenig zu wiegen
vermag.1

Im Namen dieses Bauernburschen Rup-recht klingt die Beziehung zum Recht an,
obwohl er doch derjenige war, der unter dessen Beugung besonders zu leiden hatte. Der
Name Ruprecht weist in seinem ersten Bestandteil auf die ruppige Komponente seines
Wesens hin, in seinem zweiten Teil auf die Geradheit und die Aufrichtigkeit seiner
Natur.2 Beide Eigenschaften konnten ihm jedoch nicht zu seinem Recht verhelfen, das
ihm erst der Gerichtsrat Walter, als Vertreter einer höheren Instanz, verschaffen konnte.
Der Name Ruprecht ist also eine Spielanweisung, eine Charakteristik von Kleist.

In der Tat fällt es dem Ruprecht schwer, sich mit der ungewohnten Situation abzufinden.
Sein Denken verläuft in den vorgeformten Bahnen; er ist zu eifersüchtig. Die
Enttäuschung, seine Geliebte Eve, zu der er noch in einer späteren Abendstunde geeilt
war, mit einem anderen zu finden, machte ihn blind. In seiner Wut kennt er keine
Besinnung, denn
„Für seine bisherige Erfahrung sind alle Verhältnisse einfach geordnet und
klar. Seine Empfindungen lösen die entsprechenden Handlungen aus. Aber sie
sind zu irritieren. Er handelt nach einfachen, nüchternen Schlussfolgerungen.
Wenn ein anderer Mann in Eves Zimmer war, wenn sie nicht durch
entschiedenes Auftreten verhindert hat, dass er als Täter von Frau Marthe Rull
angeklagt wird, so kann er Eve nicht mehr vertrauen, so muss er sie wie eine
Nichtswürdige behandeln.“3

Was geschah, entsprang also seiner großen Liebe zu Eve, seiner leidenschaftlichen
Eifersucht. Alle seine heftigen Ausfälle sind im Grunde nur Zeugnisse seiner tiefen und
herzlichen Liebe, die noch, trotz dieser heftigen Ausfälle, bleibt. Als er am Ende
erfahren hat, was es mit dem zerschlagenen Krug auf sich hatte, hat er seine Stimmung
sofort umgeschlagen und seine Eve um Verzeihung gebeten. Die Liebe, die er
unterdrücken zu müssen glaubte, brach umso stärker wieder durch. Damit ist Ruprecht
von Kleist als ein unkomplizierter Naturbursche angelegt: er ist einfach, etwas grob im
Empfinden, aber gerade und sauber.

1
Brinkmann: Erläuterungen ..., S. 62.
2
Siehe Catholy: op. cit., S. 176.
3
Zwischen Klassik und Romantik, S. 174.
48
6. FRAU MARTHE RULL

Der Richter Adam charakterisierte Frau Marthe Rull kurz und treffend, als ihn der
Gerichtsrat Walter fragte, ob er sie kennt. Da antwortete er:
„Sie wohnt hier um die Ecke, Euer Gnaden,
Wenn man den Fußsteig durch die Hecken geht;
Witw' eines Kastellans, Hebamme jetzt,
Sonst eine ehrliche Frau, von gutem Rufe.“1

Als alleinstehende Witwe mit einer hübschen jungen Tochter ist ihr der gute Ruf, die
Ehre ihres Hauses alles. Wenn sie dafür irgendeine Gefahr wittert, so wird sie wie ein
Geier mit Krallen, und dann ist ihr jedes Mittel recht, um diese Ehre zu schützen und die
Gefahr abzuwenden. Es war natürlich nicht allein der zerbrochene Krug, der sie in
solche Wut versetzte und ins Gericht eilen ließ. In der Tat geht es ihr in erster Linie um
den guten Ruf ihrer Tochter und damit die Ehre ihres Hauses. Sie hat das ausdrücklich
gesagt, dass der gute Name Evchens in diesem Topf lag.

Frau Marthe ist aber geschwätzig. Sie führte ihren Prozess mit aller Leidenschaft, sie tat
es mit allem Behagen und dabei ersparte sie sich und dem Gericht keine Kleinigkeit,
auch die belangloseste nicht.

Frau Marthe hat eine dem Richter Adam verwandte Phantasie, jedoch verwendet sie
diese Phantasie nicht zu Lügen und Täuschungen wie Adam. Sie stellt aber Spekula-
tionen und Kombinationen auf, die sie dann sofort behandelt, als ob sie Tatsachen
wären. Solche Spekulationen und Kombinationen zeigen sich deutlich in ihrer
Behauptung, dass Ruprecht und kein anderer ihren Krug zerbrochen habe. Jedoch
entspringen diese Verdächtigungen einem ganz anderen Grund als Adams Lügen und
Täuschungen. Sie kommen wahrscheinlich aus dem Drang, die Zusammenhänge und die
Wahrheit zu ergründen. Im Gegensatz zu Adam will sie nichts verschleiern, sie ist bereit,
ihre Tochter Eve aus dem Haus zu weisen, wenn sich ihre Schuld bestätigen sollte. Frau
Marthes Fehler ist es, dass sie zu voreilig auf augenscheinliche Indizien baut, wie
Ruprecht, und Zusammenhänge konstruiert, bei denen nur die Unzulänglichkeit solchen
Verfahrens und der enge Horizont deutlich werden.

Die große Leidenschaft Frau Marthes ist das Reden, und sie besorgt es mit Gewandtheit
und großem Wortschatz, vor allem an derben Ausdrücken und Schimpfworten. Dabei ist
sie unerschöpflich, sie liebt das Reden um seiner selbst Willen. Frau Marthes
Eigenschaften lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:
„Frau Marthe jedenfalls steht als ein Stück Wirklichkeit, abgelauschter Natur
vor uns, derb, hartnäckig, ein wenig engstirnig, bauernschlau und
bauerndumm. Ihre Ehre gilt ihr alles, natürlich meint sie damit nur das äußere
Ansehen, den Ruf. Wortgewandt weiß sie in unendlicher Rede ihr Recht zu
verteidigen, aber sie ist 'sonst eine ehrliche Frau von gutem Ruf'.“2

1
Der zerbrochene Krug. Siebenter Auftritt, S. 138.
2
Brinkmann, S. 67.
49
7. FRAU BRIGITTE

Nur kurz gegen Ende, ab 11. Auftritt, tritt Frau Brigitte auf. Sie ist aber die ent-
scheidende Zeugin. Bei ihr wird die Beschränktheit deutlicher und bestimmend, da sie
den Teufel als Täter bestätigen will; sie ist dabei abergläubig, vor allem naiv
teufelsgläubig. Jedoch konnte sie später erfassen, dass der Teufel nicht in Perücke
erscheinen kann.

Als sie den Teufel persönlich als Täter erkannte, brachte sie dem Dorfrichter Adam so
große Hoffnungen darauf, sich aus der Schlinge zu ziehen. Hier bestätigte Frau Brigitte:
„Da ich vom Vorwerk nun zurückkehre,
Zur Zeit der Mitternacht etwa [...],
Huscht euch ein Kerl bei mir vorbei, kahlköpfig,
Mit einem Pferdefuß, und hinter ihm
Erstinkt's wie Dampf und Pech und Haar und Schwefel.“1

Darauf erwiderte Adam später: „Verflucht! ─ hat sich der Schelm vielleicht erlaubt,
verkappt des Teufels Art ─?“

So scheint sich Frau Brigitte als die wahre Dorfzeitung: sie ist neugierig und redefreudig.
Überall, wo man sie nicht wünscht und wo ihre scharfe Zunge gefährlich werden kann,
taucht sie auf; in alles, was sie nichts angeht, steckt sie die Nase. Bei ihren Aussagen ist
sie jedoch nicht eigentlich dumm, da sie die Perücke nicht mit der Erscheinung des
Teufels zusammenbringt, sondern sie ist auf der richtigen Spur, die Wahrheit zu
entlarven. Und so mit Hilfe Frau Brigittes ist der wahre Täter am Ende entlarvt worden.

3.6 Literarische Bedeutung des Lustspiels Der zerbrochene Krug

Am 31. Juli 1807 hatte Adam Müller, Kleists Freund, ein Manuskript des Zerbrochenen
Kruges an Goethe als den Direktor des Weimarer Hoftheaters gesandt. Und obwohl
Goethe das Werk nicht billigte und es „ein problematisches Zeitstück“ nannte, nahm er
es zur Aufführung an der Weimarer Bühne an. Über dieses Lustspiel schrieb Goethe
damals:
„Der zerbrochene Krug hat außerordentliche Verdienste, und die ganze
Darstellung dringt sich mit gewaltsamer Gegenwart auf. Nur schade, dass das
Stück auch wieder dem unsichtbaren Theater angehört. Das Talent des
Verfassers, so lebendig er auch darzustellen vermag, neigt sich doch mehr
gegen das Dialektische hin; wie er es denn selbst in dieser stationären
Prozessform auf das wunderbarste manifestiert hat. Könnte er mit eben dem
Naturell und Geschick eine wirklich dramatische Aufgabe lösen und eine
Handlung vor unsern Augen und Sinnen sich entfalten lassen, wie er hier eine
vergangene [Handlung] sich nach und nach enthüllen lässt, so würde es für das

1
Der zerbrochene Krug. Elfter Auftritt, S. 177.
50
deutsche Theater ein großes Geschenk sein.“1

Der Zerbrochene Krug war das einzige dramatische Werk Kleists, zu dem Goethe ein
gewisses Verhältnis fand. Er entschloss sich zur Aufführung dieses Werkes, weil er sich
für verpflichtet hielt, dem jungen Kleist eine Gelegenheit zu geben und die Wirksamkeit
seines Lustspieles zu erproben, besonders weil es das erste Stück Kleists war, das auf die
Bühne kam und zugleich auf die erste des damaligen Deutschlands. Im Hinblick auf
seine Hilfsbereitschaft konnte Goethe wirklich sagen, dass er Kleist geliebt und gehoben
habe.

Am 2. März 1808 ging die Aufführung vor sich; sie war jedoch ein unerhörter
Misserfolg. Die Hauptursache dieses Misserfolgs liegt darin, dass Goethe, als Regisseur,
das Stück in drei Akte einteilte. Das zerstörte die Einheit und hemmte den Fluss des
Geschehens, so dass es bei den Zuschauern den Eindruck langweilender Darstellung
hervorrief. Als andere Ursache dieses Misserfolgs steht vor uns auch ein Fehler des
Autors Kleist: das Werk hatte, in der Goethe vorliegenden Fassung, am Schluss eine
gefährliche Länge, nämlich der zwölfte Auftritt, der sich so weit dehnte.2

Aber wie man sagt: „Gott allein ist ohne Fehler.“ Deshalb gab Kleist später zu, dass die
Schuld an diesem Misserfolg wesentlich bei ihm selber lag. In der im Jahre 1811
erschienenen Buchausgabe dieses Lustspiels strich er den 12. Auftritt zusammen von
514 Versen auf 56. Die ursprüngliche Fassung ließ er als „Variant“ im Anhang drucken.
Das zeigt uns, wie es Kleist notwendig erschien, an dem Werk noch Verbesserungen
vorzunehmen.

Ostern 1811 wurde das Stück in Berlin neu gedruckt, indem die doppelte Fassung der
12. Szene zum ersten Mal erschien. Nach dem Tod Kleists sagte Ludwig Tieck, einer
seiner Freunde, als erster voraus, dass dieses Lustspiel den Siegeszug über die deutschen
Bühnen antreten würde, und er lobte das absolut Neuartige der Lustspieltechnik Kleists
in diesem Werk. So begann der Siegeszug des Zerbrochenen Kruges. Das war zuerst mit
der Bühnenaufführung des Hamburger Theaterdirektors Friedrich Ludwig Schmidt am
28. September 1820. Schmidt selbst spielte die Rolle Adams und gab damit das Vorbild,
das für alle Schauspieler, die diese Rolle übernommen haben, bis heute gültig geblieben
ist.3

Seitdem hat eine Reihe von Erfolgen der Krugaufführung auf der Bühne begonnen. Im
Jahre 1822 z.B. wurde das Lustspiel sehr erfolgreich in Berlin gespielt. 1844 wurde es
wieder aufgegriffen, so dass es auf dem Programm des königlichen Schauspielhauses
blieb. Im Jahre 1850 war mit Hebbels Hilfe eine Aufführung am Wiener Hofburgtheater,
dem berühmten Theater Wiens, zustande gekommen. 1854 ging noch in München eine

1
Goethe an Adam Müller. Karlsbad, 28. August 1807 (Sembdner, Lebensspuren, S. 159). Erwähnt
nach Katharina Mommsen: Kleists Kampf mit Goethe. Lothar Stiehm Verlag, Heidelberg 1974, S. 36.
2
Ausführlicher dazu siehe Mommsen: Kleists Kampf ..., S. 37 ff.
3
Brinkmann, S. 10 f.
51
mustergültige Aufführung des Zerbrochenen Kruges vor sich, und zwar im Rahmen
eines Gesamtgastspieles der prominentesten Schauspieler der Zeit. Seit dieser Zeit
gehört der Zerbrochene Krug dem Programm aller deutschen Bühnen an, und bald fand
dieses Stück auch seinen Weg in die Weltliteratur. In der neueren Zeit ergriff auch der
Film das Werk: 1937 wurde der ganz dem Original folgende Film mit dem Schauspieler
Emil Jannings in der Rolle Adams gedreht. Dieser Film stellte einen der
schauspielerischen Höhepunkte des deutschen Filmschaffens dar.

Es soll hier auch erwähnt werden, dass eine Aufführung des Zerbrochenen Kruges im
März 1987 in der Aula der deutschen evangelischen Oberschule in Kairo stattfand, eine
Woche später im Schweizer Club in Alexandria.

Über den Zerbrochenen Krug sagten die Schriftsteller:

Friedrich Hebbel: „'Der zerbrochene Krug' gehört, um es gleich voranzuschicken, zu


denjenigen Werken, denen gegenüber nur das Publikum durchfallen kann. Der
ergötzlichste Einfall und das farbigste Sittengemälde ist hier zum Genialen gesteigert,
sich organisch verbindend wie Wurzel und Frucht. Seit dem Falstaff [bei Shakespeare]
ist im Komischen keine Figur geschaffen, die dem Dorfrichter Adam auch nur die
Schuhriemen auflösen dürfte.“1

Ludwig Speidel: „Im 'Zerbrochenen Krug' hat Kleist mit Moliére nichts weiter
gemeinsam als den offenen Blick für die Welt und die lebensvolle Sprache, welche die
Dinge gerne mit dem entsprechenden Worte bezeichnet. Die Komposition ist ganz
Kleists Eigentum, jene im Lustspiel unerhörte analytische Methode, wie sie die antike
Tragödie liebt.“2

Johannes R. Becher: „Einer der schönsten Triumphe der Dichtung erscheint mir immer
wieder von neuem Kleists 'Zerbrochener Krug'.“3

Nun, der Zerbrochene Krug zeigt die für die Komödie charakteristischen Gestal-
tungselemente, vereinigt dabei aber tiefere dramatische Werte mit einer spannungs-
reichen äußeren Handlung und zugleich einer ungeheuren mimischen Komik. In der
Technik der Handlung zeigt sich der Zerbrochene Krug als ein Kriminallustspiel, wie
man es in der deutschen Literatur nannte. Hier, in diesem Stück, wurde ein unbekanntes
Ereignis von seinen Folgen rückschreitend bis zu seinen Anfängen aufgerollt. Kurz
gesagt: neben Lessings Minna von Barnhelm gilt das Lustspiel Kleists Der zerbrochene
Krug als das beste Lustspiel der deutschen Literatur überhaupt.

1
Aus seinem Artikel Der zerbrochene Krug. Erwähnt nach Brinkmann, S. 11.
2
Aus seinem Artikel Der zerbrochene Krug im Wiener Burgtheater. In: Schriftsteller über Kleist. Eine
Dokumentation. Hrsg. v. Peter Goldhammer, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1976, S. 408.
3
Aus dem Artikel Ein Gebilde von filigranhafter Zartheit. In: Schriftsteller über Kleist, S. 418.

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