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II.

Sprache, Mythologie und Dichtung in


August Wilhelm Schlegels Theorie

August Wilhelm Schlegel (1767—1845) war der ältere und im


literarischen Leben der Zeit am meisten etablierte Vertreter der
Frühromantik. Er kam aus einer alten Familie protestantischer
Pastoren, die sich bis in die Tage der Reformation zurückverfol-
gen läßt und aus Meißen in Sachsen stammte. Sein Vater, Johann
Adolf Schlegel, und sein Onkel, Johann Elias Schlegel, waren
selbst bedeutende Kritiker im literarischen Leben des achtzehnten
Jahrhunderts gewesen. Seine Mutter, Johanna Christiane Erd-
muthe, geborene Hübsch, war die Tochter eines Mathematik-
professors aus Schulpforta. August Wilhelm Schlegel erhielt eine
ausgezeichnete Ausbildung, besonders in der griechischen und
lateinischen Literatur. Von 1786 bis 1791 studierte er an der
Universität Göttingen bei dem berühmten Hellenisten Christian
Gottlob Heyne, mit dem er auch seine ersten Forschungen, unter
anderem über Homer, veröffentlichte.
Während dieser Jahre unterhielt Schlegel eine freundschaftli-
che Beziehung mit dem beträchtlich älteren Dichter Gottfried
August Bürger, der in Göttingen den Musenalmanach herausgab
und seit November 1789 auch als außerordentlicher Professor an
der Universität wirkte. Schlegel fand mit dem Dichter der Lenore
schnell einen engen persönlichen Kontakt, der sich in häufigen
Unterredungen über die Poesie, in gegenseitigen Gedichten auf-
einander, aber auch in gemeinsamen Projekten, z. B. der Über-
setzung von Shakespeares Mittsommernachtstraum äußerte. Als
Schiller eine vernichtende Kritik über Bürger in der ALZ (15.
und 17. Januar 1791) veröffentlichte, in der er Bürger das Fehlen
der „Idealisierkunst", ja „Versündigungen gegen den guten Ge-
schmack" vorwarf und diese sogar aus seiner „eigentümlichen
(und sehr undichterischen) Seelenlage", d. h. aus Bürgers un-
glücklichem Eheleben und seiner bohemiehaften Lebensweise

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62 Sprache, Mythologie und Dichtung in A. W. Schlegels Theorie

herleitete, lieh August Wilhelm Schlegel ihm literarische Hilfe


(AWS SW l, 9). Von nun an war sein Verhältnis zu Schiller sein
gesamtes weiteres Leben hindurch tief gestört, obwohl er für
einen kurzen, jedoch entscheidenden Zeitraum Mitarbeiter an
Schillers Hören wurde. Aber die bald ausbrechende Feindschaft
zwischen der Frühromantik und Schiller hat in diesem frühen
Vorfall eine erste Veranlassung. Es war August Wilhelm Schlegel,
der seinem jüngeren Bruder bei dessen satirischen Rezensionen
über Schiller die Hand führte und sogar die boshaften Stellen
selbst hineinschrieb, die dann bereits im Jahre 1797 zu einem
endgültigen Bruch führten. Rückblickend meinte Schlegel mit
Befriedigung über die von Schiller verfaßte Bürger-Rezension,
daß hier „eine Nemesis gewaltet" habe, insofern Bürger „die
vollständigste Genugtuung zuteil" geworden sei. Denn nun könne
man zwischen Bürgers Balladen und denen, die Schiller „gegen
den Willen der Minerva" dichtete, eine „Vergleichung" anstellen
(AWS SW 8, 71-72). Schlegel bezog sich dabei auf Balladen wie
Der Taucher und Fridolin. Während dieser Göttinger Jahre ver-
liebte er sich in Caroline Böhmer, die Tochter des Göttinger
Orientalisten Johann David Michaelis und junge Witwe eines
Arztes aus dieser Gegend, an die sich auch ein Teil seiner frühen
Lyrik richtet. Aber Caroline Böhmer war damals noch nicht
geneigt, auf sein Werben einzugehen.
Als Schlegel im Mai 1791 sein Studium mit dem Titel eines
„Rates" abschloß, der dem heutigen Magistertitel vergleichbar
sein dürfte, hatte er sich bereits als vielversprechender Dichter
und Gelehrter etabliert. Mangels einer anderen Position nahm
er die Stelle als „Hofmeister", d. h. als Erzieher, in dem Haus
des reichen Bankiers Henry Muilman in Amsterdam an und lebte
nun mehrere Jahre lang in einer Französisch und Holländisch
sprechenden Umwelt. Er erhielt eine großzügige Bezahlung, die
ihm große Unabhängigkeit gewährte, welche für sein ganzes
weiteres Leben charakteristisch blieb. Als Schiller im August
1791 die Neue Thalia plante, lud er Schlegel zur Mitarbeit ein,
aber dieser war wegen Schillers Attacke auf Bürger nicht dazu
bereit. Diese Situation hatte sich aber im Jahre 1794 geändert,
als Schiller erneut an ihn herantrat und zur Mitarbeit an den
Hören und dem Musenalmanach aufforderte. Bürger war am 8.

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Sprache, Mythologie und Dichtung in A. W. Schlegels Theorie 63

Juni 1794 gestorben, und Friedrich Schlegel und dessen Freund


Christian Gottfried Körner drängten ihn zur Annahme des An-
gebots. Für August Wilhelm Schlegel bedeutete dies die aktive
Teilnahme am literarischen Leben in Deutschland und darüber
hinaus einen wichtigen Schritt bei der geplanten Rückkehr in
dies Land, ja der Niederlassung in Jena, wo er tatsächlich durch
die Vermittlung Schillers eine Anstellung als außerordentlicher
Professor an der Universität fand. Er lieferte seine als sensationell
empfundene kommentierte Übersetzung Dante's Hölle (AWS SW
3, 169), die ihn zunächst als Schöpfer einer deutschen Divina
Commedia erscheinen ließ, von der damals noch wenig in
Deutschland bekannt war. Er wechselte aber diese Interessen-
richtung noch in Amsterdam und wandte sich Shakespeare zu.
Seine ersten Übersetzungen einzelner Szenen aus Romeo und
Julia sowie Der Sturm erschienen ebenfalls in den Hören. Unter
seinen theoretischen Schriften für diese Zeitschrift ragen drei
Stücke hervor: die Briefe über Poesie^ Silbenmaß und Sprache
(1795: AWS SW 7, 98); Etwas über William Shakespeare bei
Gelegenheit des Wilhelm Meister (1796: AWS SW 7, 324); und
Über Shakespeares Romeo und Julia (1797: AWS SW 7, 21).
Während der in Amsterdam verbrachten Jahre hatte August
Wilhelm Schlegel seinen Briefwechsel mit Caroline Böhmer auf-
recht erhalten. Im Juli 1795 kehrte er auf Drängen seines Bruders,
Schillers und anderer Zeitgenossen nach Deutschland zurück und
lebte eine Zeitlang in Braunschweig, wo Caroline bei ihrer ver-
witweten Mutter Aufenthalt genommen hatte. Hier gewann auch
das Projekt einer metrischen Shakespeare-Übersetzung genauere
Konturen, das von Caroline, aber auch von Johann Joachim
Eschenburg gefördert wurde, von dem die bis dahin erfolgreichste
deutsche Shakespeare-Übersetzung stammt und der seit 1777 als
Professor der schönen Literatur am Carolinum in Braunschweig
wirkte. Im April 1796 weilte er einen Monat lang bei seinem
Bruder Friedrich in Dresden, der dort tief in seine Arbeiten zur
griechischen Literatur versunken war, und gab unter anderem
dessen Rezensionen von Schillers Journalen eine scharfe satirische
Wendung. Schiller, der eine engere Verbindung Schlegels mit den
Hören herstellen wollte, drängte diesen, sich in Jena niederzu-
lassen und stellte ihm seine Unterstützung bei einer Anstellung

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64 Sprache, Mythologie und Dichtung in A. W. Schlegels Theorie

an der Universität in Aussicht. Von Dresden aus begab sich


Schlegel nach Jena, um seine Übersiedlung in die Universitäts-
stadt vorzubereiten, und wohnte vorübergehend „beim Kauf-
mann Beyer am Markte" (AWS Bl, 31). Am 1. Juli 1796 wurde
der „Herzogl. Sächsische Rath in Jena, Herr August Wilhelm
Schlegel, mit des verstorbenen Bergmedikus, Herrn Johann Franz
Wilhelm Böhmer hinterlassener Frau Witwe, geborene Michae-
lis" in der St. Katharinen Kirche in Braunschweig getraut (KFSA
23, XLIII) und ließ sich mit ihr unmittelbar danach in Jena
nieder. Sie erwarben bald das große Haus am Löbdergraben, das
zum Zentrum der „neuen Schule" wurde und dann als „Roman-
tikerhaus" bekannt blieb, bis es im Verlauf des Zweiten Welt-
krieges zerstört wurde.
Unter Mitarbeit seiner geistreichen Frau begann Schlegels
einflußreiche kritische Tätigkeit in Jena. Hier entstanden die
Shakespeare-Übersetzung und die großen Vorlesungen über phi-
losophische Kunstlehre (1798-1799: AWS V l, 1-177). Schle-
gel wurde bis zu seinem Bruch mit dieser Zeitschrift im Jahre
1799 der wichtigste Mitarbeiter an der ALZ, in der er über 300
Rezensionen der wichtigsten Dichtungen und Schriften auf dem
Gebiet der Literaturtheorie dieser Zeit veröffentlichte. Im Jahre
1798 gründete er zusammen mit seinem Bruder das Athenäum
als das wichtigste Mitteilungsorgan der Frühromantik. Im Jahre
1801 wandte er sich aber nach Berlin. Seine Ehe mit Caroline
ging zu Ende, nachdem diese sich Schelling angeschlossen hatte.
Hier begann er im Herbst 1801 die großen öffentlichen Vorle-
sungen über schöne Literatur und Kunst, die er bis zum Frühling
1804 in drei großen Zyklen als ein Resümee der Ideen der
frühromantischen Schule vortrug.1 An den letzten Vorlesungen
nahm Madame de Stael noch teil, die damals eine längere
Deutschlandreise unternahm. Von Schlegels Gelehrsamkeit tief
beeindruckt, veranlaßte sie ihn, in ihre Dienste zu treten. Von
nun an lebte er während der nächsten 13 Jahre auf ihrem Schloß
Coppet am Genfer See, im Französisch sprechenden Teil der
Schweiz. Eine gegenseitig vereinbarte Abmachung band die bei-

In den ersten beiden Bänden von AWS V ediert.

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Sprache, Mythologie und Dichtung in A. W. Schlegels Theorie 65

den bis zu dem Zeitpunkt aneinander, an dem einer von ihnen


sterben würde. Hier schuf er als sein wichtigstes Werk die Vor-
lesungen über dramatische Kunst und Literatur,2 die in alle
Sprachen der gebildeten Welt von damals übersetzt wurden. Als
Madame de Stael am 14. Juli 1817 starb, erhielt Schlegel verlok-
kende Angebote von den neugegründeten Preußischen Universi-
täten in Berlin und Bonn. Er entschied sich für Bonn, weil ihm
hier bessere Möglichkeiten für seine Sanskrit-Studien geboten
wurden. Er erwarb sein berühmtes großes Haus am Rheinufer
und ließ sich mehrspännig in der Kutsche zu seinen Vorlesungen
fahren. Er empfing die Koryphäen seiner Zeit, zum Beispiel
Coleridge und Wordsworth, und besuchte die wissenschaftlichen
Institute und Akademien in Paris und London. Schlegel unterhielt
eine außergewöhnlich reichhaltige Korrespondenz mit Dichtern
und Gelehrten seiner Zeit, unter anderem einen „linguistischen
Briefwechsel" mit Wilhelm von Humboldt. 3 In einer eigens dafür
eingerichteten Druckerei gab er die großen Werke der klassischen
indischen Literatur in der Originalsprache heraus, denen er zur
besseren Benutzbarkeit eigene lateinische Übersetzungen beigab.
Bis zu seinem Tod im Alter von 78 Jahren blieb er als Kritiker
tätig, obwohl bereits der scharfe Kampf gegen die Romantik in
Deutschland begonnen hatte, der sich bei den Vertretern des
Jungen Deutschland besonders heftig gegen ihn richtete. Dies hat
seit dieser Zeit in Deutschland zu einem fast völligen Vergessen
von Schlegels Leistungen geführt. In Frankreich, England und
Nordamerika hat sein Name dagegen stets einen besonderen
Nachhall gehabt.4

Im dritten Band von AWS V ediert.


Briefwechsel zwischen W. von Humboldt und A.W. Schlegel. Her-
ausgegeben von A. Leitzmann (Halle: Niemeyer 1908).
Eine Würdigung seiner Leistungen als Kritiker aus heutiger Perspek-
tive findet sich bei Rene Wellek, Geschichte der modernen Literatur-
kritik, Bd. 1: Das späte 18. Jahrhundert. Das Zeitalter der Romantik
(Berlin: de Gruyter 1978), 294-330.

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66 Sprache, Mythologie und Dichtung in A. W. Schlegels Theorie

1. Sprache als „wunderbarste Schöpfung des


menschlichen DichtungsVermögens"

Der besondere Ausgangspunkt der frühromantischen Theorie


kann darin erblickt werden, daß hier die Poesie ins Zentrum des
Interesses gerückt und zum vorherrschenden Thema gemacht
wurde. Das zeigt sich unter anderem darin, daß die Poesie
zunächst nicht im Zusammenhang einer umfassenden Ästhetik
oder einer Enzyklopädie aller Wissenschaften und Künste behan-
delt wurde, sondern spontan als eigener Gegenstand im Vorder-
grund stand. Man könnte eher sagen, daß das gesamte Denken
über die Kunst hier einen von der Dichtkunst geprägten Charak-
ter hatte und spätere Arbeiten zur Enzyklopädie und Ästhetik
ihren Ausgangspunkt in der Poesie fanden. Diese Beobachtung
gilt insbesondere für die Brüder Schlegel. Poesie war für diese
Kritiker der primäre Gegenstand ihrer Reflexionen, jedenfalls
während der von uns als Frühromantik bezeichneten Epoche.
Wie dies bei keinem anderen Vertreter dieser Zeit der Fall ist,
haben sie die Erforschung dessen, was die Poesie ist, zu ihrem
Lebensberuf gemacht und in der Aufhellung dieser Frage den
besonderen Beitrag gesehen, den sie zu leisten suchten. Daraus
ist dann das frühromantische Projekt der universalen Poesie
hervorgegangen, in dem die Poesie nicht mehr isoliert, sondern
in ihrem Zusammenhang mit der Rhetorik, den anderen Künsten,
der Philosophie, Bildung, Gesellschaft und dem Republikanismus
bestimmt werden sollte, wobei dies Ganze als ein stets verän-
derlicher, aus einer Pluralität von Stimmen und Ansichten beste-
hender Reflexionszusammenhang aufzufassen ist.
Der Anfang dieser universalen Bemühung wurde jedoch mit
der Poesie in einem spezifischen Sinne gemacht und äußerte sich
zunächst in dem Projekt der Brüder vom Januar 1793, eine
gemeinschaftliche Korrespondenz, sogenannte Briefe „über die
Dichtkunst" (KFSA 23, 81) zu verfassen. Zwar ist der Plan nicht
zur Ausführung gelangt, aber in der uns erhaltenen Korrespon-
denz darüber zeichnen sich ihre verschiedenen Standpunkte deut-
lich genug ab. Friedrich Schlegel erscheint darin als ein Denker,
der nach seines Bruders Meinung leicht in Gefahr war, „einen

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Sprache als „Schöpfung des menschlichen Dichtungsvermögens" 67

Dichter nach Begriffen a priori konstruieren zu wollen" (KFSA


23, 129), wohingegen Veranlassung bestand, August Wilhelm
Schlegel gegenüber das „System", oder jedenfalls den „Geist des
Systems, der etwas ganz anderes ist als ein System", zu vertei-
digen (KFSA 23, 130). Hierin bekunden sich die verschiedenen
spekulativen und empirischen Ausgangspunkte der Brüder Schle-
gel.
August Wilhelm Schlegel verfolgte das Briefprojekt zu Anfang
ernsthafter als sein Bruder und verfaßte für diesen noch im
September 1793 seine Betrachtungen über Metrik in einer Folge
von Briefen (AWS SW 7, 155 - 196). Friedrich Schlegel hatte sich
in ihrem Briefwechsel in bezug auf den Reim als intolerant, ja
aufsässig gezeigt. Mit seinem an den Griechen geschulten Sinn
für Poesie ließ er als poetisches Formprinzip nur den Rhythmus
gelten und sah den Reim ziemlich geringschätzig als etwas „Un-
tergeordnetes" (KFSA 23, 155), als ein überflüssiges Ornament
an, das für die „ursprüngliche Künstlichkeit" der modernen
ästhetischen Bildung charakteristisch sei (KFSA 23, 233). In sei-
nem Studium-Aufsatz ließ er sogar öffentlich drucken, daß Dan-
tes Göttliche Komödie zwar aus einer urspünglichen poetischen
Kraft gequollen sei, „welche weder gelehrt noch gelernt werden
kann", daß wir aber die „eigensinnige Anordnung der Masse",
den „höchst seltsamen Gliederbau des ganzen Riesenwerks" nicht
einem „göttlichen Barden", noch einem „weisen Künstler", son-
dern dem „gotischen Begriff des Barbaren" verdanken. Das „Ver-
gnügen an der gesetzmäßigen Wiederkehr eines ähnlichen Ge-
räusches" mag zwar in der „Natur des menschlichen Gefühls-
vermögens" gegründet sein, so argumentiert er, aber doch nur
an einer untergeordneten Stelle. Gewisse Tierarten wiederholen
stets dasselbe Geräusch, „gleichsam um der Welt ihre Identität
bekannt zu machen — sie reimen". Wie dieser „fremde gotische
Zierrat zum notwendigen Gesetz" und dieses „kindische Behagen
an einer eigensinnigen Spielerei beinahe zum letzten Zweck der
Kunst" erhoben werden konnte, blieb Friedrich Schlegel unbe-
greiflich (KFSA l, 234).
Für August Wilhelm Schlegel, der sich darum bemühte, in
seinen Übersetzungen Dantes und Shakespeares Metrum und
Reim so gut wie möglich wiederzugeben, weil er den in Versen

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68 Sprache, Mythologie und Dichtung in A. W. Schlegels Theorie

gebundenen Stil für das im höheren Sinne Natürliche hielt, das


den „sinnlichen Schein der Wahrheit" zu erzeugen vermag (AWS
SW 7, 24), mußte eine solche Auffassung herausfordernd sein,
zumal sie von seinem Bruder kam. Er hatte gegenüber Wieland,
Lessing, Herder und Eschenburg gezeigt, was dem deutschen
Verständnis Shakespeares in dieser Hinsicht entgangen war und
sich auch mit jenen Theoretikern des Dramas und der poetischen
Rede auseinandergesetzt, die den Vers im Drama aus Gründen
der Natürlichkeit verworfen hatten (Diderot, Lessing, Engel).5
Für diese Impertinenz erhielt Friedrich Schlegel nun zur Strafe
eine gedrängte handschriftliche Abhandlung über Metrik und
Versbau mit eingehenden Sektionen über 1. Euphonie; 2. Euryth-
mie; und 3. Reim. Der Reim wurde an den Schluß gestellt, weil
er nach Schlegels Ansicht aus den beiden anderen Phänomenen
der Sprache hervorgeht.
Als August Wilhelm Schlegel dann für Schillers Hören seine
Briefe über Poesie., Silbenmaß und Sprache verfaßte, ließ er sich
dies Manuskript von seinem Bruder zurückgeben, um es bei der
Ausarbeitung zu verwenden. Was die Metrik in diesen Briefen
anbetrifft, so suchte Schlegel hinter seiner Ansicht nach vorder-
gründigen Erklärungen wie Gedächtnishilfe und Freude an der
Wiederkehr zurückzugehen und die menschliche Beziehung zum
Zeitmaß aus unserer Physiologie herzuleiten und auf Phänomene
wie Herzschlag und Atmung zu gründen. Hemsterhuis hatte das
Zeitgefühl für das menschliche Wesen als fundamental angesehen
und gesagt: „Die Vorstellung vom Zeitmaße ist vielleicht die erste
von allen unseren Vorstellungen, und geht sogar der Geburt
voraus; denn es scheint, daß wir sie einzig den aufeinander
folgenden Wallungen des Bluts in der Nachbarschaft des Ohrs
verdanken" (AWS SW 7, 135).6 Die menschliche Disposition für
das Zeitmaß führt uns somit in die „Labyrinthe der Physiologie
und Psychologie". Ein wichtiger Grund, warum der Takt auf

5
Siehe hierzu vor allem seinen Aufsatz „Etwas über William Shake-
speare bei Gelegenheit des Wilhelm Meister": AWS SW 7, 24-70.
6
A.W. Schlegel bezieht sich auf die Schrift von Hemsterhuis Lettre sur
l'homme et ses rapports, die er nach der Ausgabe Oeuvres philoso-
phiques de M..F, Hemsterhuis, Bd. l, 182-190 von 1792 benutzte.

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Sprache als „Schöpfung des menschlichen Dichtungsvermögens" 69

Ausdruck, Gebärde und Tanz Anwendung fand, liegt für Schlegel


noch darin, daß die Leidenschaften in ihrer ursprünglichen Natur
so gewaltig sind, daß sie durch das Maß moderiert werden
müssen, um die Selbstzerstörung des Menschen zu verhindern.
Das bezieht sich nicht allein auf den Ausdruck von Klage und
Schmerz, sondern ebenfalls auf den sinnlosen Taumel der Freude
(AWS SW 7, 137).7
Mit diesen Überlegungen war August Wilhelm Schlegel un-
gefähr bis zum Abschluß des dritten Briefes gekommen, der die
erste Lieferung für die Hören beschließt. Er hatte bei der Be-
gründung der Poesie im Innersten der menschlichen Natur an-
gesetzt, wo sich Körper und Geist berühren, erhielt aber nun
einen Brief von Schiller vom 10. Dezember 1795, der ihn für
seine Bevorzugung von physiologischen, natürlichen Gegeben-
heiten bei der Herleitung von Rhythmus und poetischer Sprache
kritisierte und stattdessen auf dem idealistischen Prinzip der
„Selbsttätigkeit" als Grundlage unserer autonomen moralischen
Natur insistierte (FS 28, 128 — 30). Schlegel gab Schillers Einwand
nach und verfaßte den abschließenden vierten Brief im Einklang
mit .dessen blasserer Bestimmung des Rhythmus als „das Be-
harrliche im Wechsel". Gegen Ende des dritten Briefes lesen wir
noch: „Die Seele, von der Natur allein erzogen und keine Fesseln
gewohnt, forderte Freiheit in ihrer äußeren Verkündigung; der
Körper bedurfte, um nicht der anhaltenden Heftigkeit derselben
zu erliegen, ein Maß, worauf seine innre Einrichtung ihn fühlbar
leitete" (AWS SW 7, 139). Der erste Satz des vierten Briefes lautet
aber nun: „Mit der Erfindung des Zeitmaßes treten wir sogleich
in ein ganz anderes Gebiet über" (ib.) — was heißt, daß wir jetzt
die Welt des Körperlichen und Natürlichen verlassen.
Wie hier deutlich wird, setzte August Wilhelm Schlegel mit
seinem Projekt einer Neubegründung der Poesie bei Gegeben-
heiten an, die von der poetologischen Reflexion gewöhnlich nicht
berücksichtigt werden. Hier geht es nicht allein um die Zurück -

Eine gründliche Studie dieser Briefe im Zusammenhang einer Ge-


schichte der lyrischen Poesie stammt von Wolfgang Kayser: Ge-
schichte des deutschen Verses; für Hörer aller Fakultäten (Bern:
Francke 1960).

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70 Sprache, Mythologie und Dichtung in A. W. Schlegels Theorie

Weisung des formalen Regelsystems des Klassizismus und auch


nicht nur, wie in der Auseinandersetzung mit Kant, um eine
spekulative Begründung der Poesie aus der Einbildungskraft,
sondern um die fundamentaleren anthropologischen und physio-
logischen Bedingungen der Poesie in der menschlichen Natur.
Schlegels Theorie der menschlichen Sprache hat denselben Cha-
rakter einer fundamentalen Reflexion über die letzten Grundla-
gen der Poesie und die anthropologischen Bedingungen ihrer
Möglichkeit. Diese Briefe entstanden in Amsterdam, weitab von
der idealistischen Spekulation in Deutschland, und bezogen sich
in einer für die damalige deutsche Literatur untypischen Art auf
Autoren wie Moritz, Herder und Hemsterhuis, also auf Vertreter
einer sensualistischen Ausrichtung. Daß dies aber nicht nur das
zufällige Resultat von Schlegels damaliger geistiger Umwelt war,
geht aus dem Briefwechsel hervor, den er mit seinem Bruder über
Fichtes Sprachphilosophie führte. 8 Friedrich Schlegel hatte ihn
für die Arbeit an den Briefen auf die 1795 von Fichte in Niet-
hammers Philosophischem Journal erschienene Abhandlung Von
der Sprachfähigkeit und dem Ursprung der Sprache (FI 3,
91 - 127) hingewiesen (KFSA 23, 263), die August Wilhelm Schle-
gel aber wohl als unter seinem Niveau liegend zurückgewiesen
haben muß. Tatsächlich korrigierte sich Friedrich Schlegel schon
kurz danach und bezeichnete diese Schrift einlenkend als „ein
dürftiges Ding" (KFSA 23, 281). Zwar steht in Fichtes Text mit
Nachdruck der zwischenmenschliche Mitteilungscharakter der
Sprache im Vordergrund, was der Schlegelschen Sprachtheorie
entsprach, wogegen Herder eher ein monologisches Sprachmo-
dell im Sinne eines Dialogs der Seele mit sich selbst aufgestellt
hatte (HE 5, 47). Aber Fichte bezog die sprachliche Entwicklung
einzig auf die Vernunft, genauer auf das menschliche Bestreben,
daß alles mit der Vernunft übereinstimmen soll, und leitete auch

8
Von diesem Briefwechsel sind mit wenigen Ausnahmen nur die Briefe
Friedrich Schlegels erhalten, weil A.W. Schlegel die seinen nach dem
Tod seines Bruders vernichten ließ. Siehe den Editionsbericht zu
KFSA 23. A.W. Schlegels Stellungnahmen müssen daher aus F. Schle-
gels Briefen an diesen erschlossen werden, was wegen der langen
Ausführungen darüber oft möglich ist.

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Sprache als „Schöpfung des menschlichen Dichtungsvermögens" 71

die sich in der sprachlichen Mitteilung äußernde Solidarität unter


den Menschen aus dem damit verbundenen Ziel her, die „feind-
selige Natur zu bezwingen" (FI 3, 100 — 02). Sprache war für
Fichte der Vernunft gegenüber sekundär, ein bloßes Mittel der
Gedankenmitteilung, oder umgekehrt: die Gedanken und die
Vernunft genossen für ihn die Priorität einer sprachfreien Zone
des Menschen. Er sagt darüber: „Die Sprache ist meiner Über-
zeugung nach für viel zu wichtig gehalten worden, wenn man
geglaubt hat, daß ohne sie überhaupt kein Vernunftgebrauch
stattfinden kann" (FI 3, 103). Im Gegensatz dazu war die Sprache
für Herder bereits für den Menschen „so wesentlich, als — er
ein Mensch ist" (HE 5, 27). Menschsein und Sprache werden als
koexistent aufgefaßt, wenn Herder sagt: „Ich kann nicht den
ersten menschlichen Gedanken denken, nicht das erste besonnene
Urteil reihen, ohne daß ich in meiner Seele dialogiere oder zu
dialogieren strebe" (HE 5, 47).
Bei der Entwicklung seiner Sprachtheorie ging August Wilhelm
Schlegel aber beträchtlich über diese Quellen hinaus und stützte
sich darüber hinaus auf Rousseau, dessen Sprachtheorie er nicht
nur aus dem Diskurs über die Ungleichheit, sondern ebenfalls
aus dem erst aus dem Nachlaß veröffentlichten Essai über den
Ursprung der Sprachen kannte; auf Charles de Brosses9, der ihm
das Prinzip einer mechanischen Sprachbildung aus tierischen
Lauten vermittelte; und insbesondere auf Franz Hemsterhuis, vor
allem dessen Brief über den Menschen und seine Beziehungen.w
In seinen Briefen unterscheidet Schlegel selbst drei mögliche
Theorien der Sprachbildung: die Sprache ist entweder aus Nach-
ahmungen von Gegenständen durch Zeichen und deren ständige
Verbesserung oder aus „Tönen der Empfindung" oder aus beiden
Vermögen zusammen entstanden (AWS SW 7, 112). Bei der ersten
Theorie einer mechanischen Entwicklung der Zeichen handelt es
sich offensichtlich um die von Locke und Condillac vertretene
Ausbildung eines sich stets perfektionierenden Zeichensystems,
das von den ersten sinnlichen Eindrücken des Menschen bis in

9
Charles de Brosses, Traite de la formation mecanique des langues et
des principes de l'etymologic (anonym, Paris 1765).
10
Siehe die in Anmerkung 6 genannte Ausgabe.

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72 Sprache, Mythologie und Dichtung in A. "W. Schlegels Theorie

die komplizierteste Sprache der Mathematik geht und das vor-


herrschende Gedankenmodell für die Sprachformation in der
europäischen Aufklärung gewesen ist. Die Herleitung der Sprache
aus „Tönen der Empfindung" bezieht sich wohl auf Herder, der
den tönenden Charakter der Sprache als ein wesentliches Mo-
ment in ihrer Entwicklung gesehen hatte und darin die ursprüng-
liche Beziehung zwischen Sprache und Poesie erblickte (HE 5,
59). Man geht aber sicher nicht fehl, hier ebenfalls eine Bezug-
nahme auf Rousseau zu erblicken, der im Diskurs über die
Ungleichheit die erste Sprache des Menschen als „Schrei der
Natur" bezeichnet hatte11 und im Essai über den Ursprung der
Sprachen die Leidenschaften als die Ursache der ersten Wörter
und die ersten Sprachen als die der Dichter ansah.12 Die dritte
Theorie ist ein Mittelweg zwischen diesen beiden extremen Posi-
tionen, welche als sich perfektionierende Zeichentheorie „den
der menschlichen Organisation eignen Ausdruck der Empfindung
willkürlich zu enge" einschließt und als Rekurs auf die Empfin-
dung allein nicht erklären kann, wie die Sprache „so unendlich
hat erweitert und vervollkommnet werden können" (AWS SW
7, 118 — 119). Dieser dritte, zwischen Rationalismus und Sensua-
lismus vermittelnde Weg ist der Schlegels und wurde damals
ebenfalls von vielen anderen Sprachtheoretikern, auch von sei-
nem „Liebling" Hemsterhuis eingeschlagen. Worauf es Schlegel
aber im Unterschied zu diesen und auch zu Hemsterhuis an-
kommt, besteht darin, daß diese gewöhnlich den Spielraum der
Empfindung zu stark einengen, indem sie ihn auf ein „Zeitalter
der rohen Sinnlichkeit" oder der „ungezähmten Leidenschaft"
beschränken und mit dem Fortgang der Sprachentwicklung im-
mer mehr eliminieren. Schlegel hält demgegenüber an diesem
sinnlichen, empfindsamen, poetischen Element der Sprache bis
in die Ausbildung zur höchsten Wissenschaftlichkeit fest und
verwirft damit eigentlich das Gedankenmodell eines Ursprungs

11
Zitiert nach der zweisprachigen kommentierten Ausgabe von Hein-
rich Meier: Jean-Jacques Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit/
Discours sur l'inegalite. 2. Aufl. (Paderborn: F. Schöningh 1991), 123.
12
Rousseau, Essai sur l'origine des langues. Herausgegeben von Jean
Starobinski (Paris: Gallimard 1990), 66.

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Sprache als „Schöpfung des menschlichen Dichtungsvermögens" 73

der Sprache — oder er erklärt es bestenfalls zu einem heuristi-


schen Prinzip. Diese ständige sinnlich-poetische Präsenz in der
Sprache läßt sich „nicht an einzelnen Worten darlegen", noch
„in der ganzen Masse einer Sprache" sichtbar machen. Es handelt
sich um eine „geistige Gegenwart", die sich am besten mit dem
„sinnlich Schönen in den Sprachen" veranschaulichen läßt und
am deutlichsten in der Poesie einer Sprache zum Ausdruck
kommt (AWS SW 7, 120-21).
Ein Blick auf diese Ausführungen vermag einen Eindruck von
der frühromantischen Sprachtheorie in ihrem frühen Wurf zu
vermitteln.13 August Wilhelm Schlegel nennt die Sprache „die
wunderbarste Schöpfung des menschlichen Dichtungsvermö-
gens", das „große, nie vollendete Gedicht, worin die menschliche
Natur sich selbst darstellt" (AWS SW 7, 104). Sprache erscheint
in seiner Auffassung als eine Art Urpoesie der Menschheit, eine
ursprüngliche Kreativität des menschlichen Geistes, die allen
gebildeten Sprachen zugrundeliegt und unseren ersten, spontan-
sten Kontakt mit der Welt darstellt. Sprache ist das allgemeine
Verständnismedium der Menschheit und kein Produkt der Ver-
nunft allein, sondern einer umfassenderen Kraft, von der die
Vernunft nur ein Teil ist und die Phantasie gleicherweise einbe-
greift. Aus ihr gehen die gebildeten Sprachen hervor, die vom
Verstand bearbeitet werden, dabei an Brauchbarkeit und Genau-
igkeit gewinnen, aber an jener ursprünglichen Kraft verlieren. In
der Sprache der Wissenschaft wittern wir kaum noch etwas von
jener ursprünglichen Sprache. Hier erscheint die Sprache in der
Tat fast wie in der Theorie Condillacs als „eine Sammlung durch
Übereinkunft festgesetzter Zeichen". Dennoch liegt auch in ihr
noch die „unendliche Sprache der Natur" verborgen, ja sie muß
darin präsent sein. Denn nur dadurch werden Poesie und unser
Verständnis der Poesie immer wieder möglich. Schlegel sagt: „und

13
A.W. Schlegel hat diese Theorie in seinen Vorlesungen näher entwik-
kelt und spezifischer ausgestaltet, sowohl in den Jenaer Vorlesungen
über philosophische Kunstlehre (AWS V l, 14-33), als auch in den
Berliner Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst (AWS V l,
394-430).

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74 Sprache, Mythologie und Dichtung in A. W. Schlegels Theorie

der Grad von Klarheit, womit dies in einer Sprache geschehen


kann, bestimmt ihre poetische Stärke" (AWS SW 7, 105).
Die Frage nach dem Ursprung der Sprache wird von August
Wilhelm Schlegel als nicht zu beantworten beiseite geschoben
und hat für ihn dieselbe zweifelhafte Bedeutung wie die nach
dem Ursprung der Poesie und nach dem ursprünglichen Zustand
des Menschen. Wenn Theoretiker sich dieser Gedankenmodelle
bedienen, so tun sie dies, um Sachverhalte darzulegen, „ohne
den wirklichen Vorgang dieser Begebenheit nach Zeit, Ort und
Umständen erzählen zu wollen". Zwischen den älteren Urkun-
den, die uns zur Verfügung stehen, und jenen Urzuständen „ist
der Abstand so groß, daß man nur durch einen tödlichen Sprung
hinübergelangen kann". Viele haben einen solchen Sprung ge-
wagt, sind dabei aber verunglückt. Man hat sich „mit sinnreichen
Spielen oder schwerfälligen Grübeleien einer gewissen philoso-
phischen Etymologie" beschäftigt, die aber weder der „genaue
Sprachforscher noch der nüchterne Philosoph" anerkennt, oder
man hat sich bemüht, alle Sprachen von einem gemeinsamen
Stamm abzuleiten. Damit hat man aber nur die philosophische
Theorie suspekt gemacht, mit der sich allein über dies Problem
reden läßt (AWS SW 7, 111).
Damit kommt August Wilhelm Schlegel auf seine eigene Theo-
rie der Sprache zu sprechen. Wir erfahren es täglich, so führt er
aus, daß der Mensch für seine Empfindungen wie für seine
Gedanken Zeichen der Mitteilung verwendet. Diese bestehen im
„lebendigen Vortrag der Rede und in den Gebärden". In den
Gebärden redet das Gefühl und weiß sich unmittelbar mitzutei-
len. Ein inniges Band des Mitgefühls verknüpft die Menschheit,
das in einer unmittelbaren Mitteilungsfähigkeit und Mitteilungs-
aufnahme besteht und wichtiger für unsere Kommunikation ist
als alles, was uns die Vernunft zur Verfügung stellen kann. Sonst
würden wir „mitten in der Gesellschaft einsam", im „Leiden von
aller Teilnahme verlassen" und im Glück „zu den toten Freuden
des Egoismus verdammt sein" (AWS SW 7, 114-15). Diese
allgemeine Mitteilungs- und Verständnisfähigkeit reicht so weit,
daß sie jedes Kind, Menschen der entferntesten Zonen und selbst
aus „den entferntesten Jahrhunderten" einschließt, wenn wir
diese nur zurückholen könnten. Dies ist die „echte, ewige, all-

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Mythologie als menschlicher Erfahrungshorizont 75

gemein gültige Sprache des Menschengeschlechts" (AWS SW 7,


116). Sie macht in allen gebildeten Sprachen das Ursprüngliche
aus. Zur Erklärung dieses Zusammenhanges sind aber die beiden
genannten Systeme der Sprachphilosophie notwendig, die freilich
sofort falsch werden, wenn „sie ihr Grundgesetz der Sprache als
das einzige mit Auschließung des ändern behaupten" (AWS SW
7, 118).
August Wilhelm Schlegel verdeutlicht das Zusammenwirken
dieser beiden formativen Kräfte des menschlichen Geistes auch
mit dem „Ursprung der Poesie", von dem wir historisch genau-
sowenig wissen wie „von der Entstehung der Sprache". Wenn
die ältere Sprache „wirklich das Werk jener beiden vereinigt
wirkenden Anlagen der menschlichen Natur" war, dann war sie
auch „zuverlässig ganz Bild und Gleichnis, ganz Akzent der
Leidenschaften". Dies ist sicher gemeint, wenn in Übereinstim-
mung mit einer alten Tradition die älteste Sprache als „Poesie
und Musik" bezeichnet wird, wobei es sich selbstverständlich
aber nicht um eine nach technischen Gesetzen der äußeren Form
ausgebildete Poesie und Musik gehandelt haben kann. Es bezieht
sich auf den ursprünglich tönenden, rhythmischen, durch und
durch metaphorischen Charakter der Sprache als unseres ersten
Organs bei der Weltbegegnung. Es kommt Schlegel aber darauf
an, daß diese Sphäre der Sprache stets präsent ist und wir auch
auf den Stufen der gebildetsten Sprachen unsere Verbundenheit
mit ihr zeigen. Das findet immer dann statt, wenn der Sinn für
Poesie lebendig wird (AWS SW 7, 121-22).

2. Mythologie als menschlicher Erfahrungshorizont


Die Aspekte der Vernunftkritik und Philosophiekritik, die sich
aus August Wilhelm Schlegels frühen Ansichten über Poesie,
Silbenmaß und Sprache ergeben, treten noch schärfer in seiner
Theorie der Mythologie hervor, die mit seiner Theorie der Spra-
che unmittelbar zusammenhängt. Die menschliche Sprache war
von ihm als Grundlage unserer Weltbeziehung, die erste große
Schöpfung des menschlichen Dichtungsvermögens, eine Art Ur-
poesie bestimmt worden, an deren Ausbildung und Präzisierung

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76 Sprache, Mythologie und Dichtung in A. W. Schlegels Theorie

die Vernunft freilich teilnimmt. Die nächste Gelegenheit zur


weiteren Ausgestaltung dieser Gedanken ergab sich, als Schlegel
im Jahre 1797 eine Professur an der Universität Jena annahm
und im folgenden akademischen Jahr die Vorlesungen über phi-
losophische Kunstlehre anbot. Die Vorlesungen behandeln alle
Künste, einschließend Rhetorik, Musik, Architektur, Schauspiel-
kunst, Tanz und Oper, aber sie beschäftigen sich in erster Linie
mit der Poesie. Dabei vollzog Schlegel wieder eine Fundamen-
talreflexion über die Poesie, indem er sie aus leiblich-geistigen
Prinzipien der Menschennatur, aus Sinnlichkeit und Vernunft,
Einbildungskraft und Verstand herleitete. Ein bedeutender neuer
Schritt in diesen Vorlesungen ergibt sich aus der Beziehung, die
zwischen der Poesie und der Mythologie angesetzt wird (AWS
V l, 49 — 59). Diese''Beziehung wird in den aus diesen Jenaer
Vorlesungen hervorgegangenen Berliner Vorlesungen über schöne
Literatur und Kunst von 1801—02 noch eingehender entwickelt
und fügt der Schlegelschen Theorie der Poesie einen wichtigen
Aspekt hinzu.
Der grundlegende Gedanke für August Wilhelm Schlegels
Theorie der Mythologie kommt bereits im ersten Satz seiner
Jenaer Vorlesungen über diesen Gegenstand zum Ausdruck: „Der
Mythus ist, wie die Sprache, ein allgemeines, ein notwendiges
Produkt des menschlichen Dichtungsvermögens gleichsam eine
Urpoesie des Menschengeschlechts" (AWS V l, 49). Um diesem
Satz seine Entsprechung zu geben, muß man sich daran erinnern,
daß Schlegel den ersten Verkehr des Menschen mit der Welt als
einen poetischen, von der Einbildungskraft vermittelten ansah,
der seinen sprachlichen Ausdruck sowohl als tönendes Gefühl
wie auch als rationales Mitteilungszeichen fand. Die Vorlesungen
über die Mythologie -analysieren nun, wie sich die poetische
Wechselbeziehung mit der Welt, unsere sinnliche, imaginative
Beziehung mit ihr näher vollzieht. Schlegel sieht die Mythologie
als eine „Bildersprache der Vernunft und der verschwisterten
Phantasie", in der „alles Körperliche beseelt ist und das Unsicht-
bare zur Erscheinung gebracht wird" (ib.). Wie diese Formulie-
rungen bereits zum Ausdruck bringen, gehört für Schlegel die
Mythologie nicht zu einer frühen und vergangenen Phase der
Humanität, sondern bildet, wie die Sprache, eine ständige Be-

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Mythologie als menschlicher Erfahrungshorizont 77

gleiterscheinung des Menschlichen, ein Strukturales Prinzip seines


Geistes. Wie die Sprache kann die Mythologie im Prozeß der
Rationalisierung an Kraft und Farbe Einbuße erleiden. Aber
selbst im ausgebildeten Status der Vernunft mythologisiert der
menschliche Geist.
Besondere Mythologien, wie die griechische, zeigen Stufen der
Entwicklung und können als Glaube eines besonderen Volkes
aussterben. Selbst wenn sie, was den Glauben an sie betrifft, tot
sind, können sie aber wieder belebt werden, freilich nur auf
fragmentarische Weise und durch besondere Bilder, wenn zum
Beispiel moderne Künstler Gebrauch von ihnen machen. Ein
großer Teil der modernen Malerei und Dichtung beruht auf solch
willkürlichen Wiederbelebungen der alten, besonders der grie-
chischen und römischen Mythologien. Aber unabhängig von
diesen künstlerischen Bestrebungen hat unsere grundlegende Art
der Welterfahrung immer eine mythologisierende Tendenz, die
sich in einer metaphorischen Transformierung von allem bekun-
det, mit dem wir Kontakt haben. Diese Tendenz sollte nicht
mißverstanden oder minimalisiert werden als eine bloß allego-
rische Ausdruckweise für komplizierte Begriffe, wobei es sich
um die „besonnene und absichtlich erfundene bildliche Einklei-
dung eines Begriffes" handeln würde. Es geht nicht um das
Phantasiebild, das dem abstrakten Begriff zugegeben wird, son-
dern um „gegebene Ganze [Ganzheiten] der Anschauung", die
„nicht durch Bestimmung des Verstandes" gedacht, sondern
„sinnlich umgrenzt" sind (AWS V l, 50). In diesem Sinne ist
die mythologisierende Tendenz eine grundlegende Ausstattung
unserer Natur, ohne die eine menschliche Erfahrung nicht mög-
lich wäre. Sobald sie zu einem kohärenten Ganzen geformt ist,
kann eine besondere Mythologie, obgleich diese selbst nie wahre
Poesie ist, ein „Mittel zur Erreichung dichterischer Zwecke"
werden (AWS V l, 50). Zu diesem Zweck muß sie aber „le-
bendig und einheimisch" bei einem Volke sein. Schlegel sagt:
„sinnbildliche Anspielungen darauf setzen voraus, daß er [der
Mythus] der Phantasie geläufig und anerkannt sei" (AWS V l,
58). Wie die Sprache kann die Mythologie niemals die Erfindung
einer einzigen Person sein. Moderne Autoren wie Klopstock oder
Milton versuchten, eine Mythologie aus den heiligen Schriften

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78 Sprache, Mythologie und Dichtung in A. W. Schlegels Theorie

des Christentums zu bilden, zeigten aber nur, wie „ungeschickt"


derartige Bemühungen sind (AWS V l, 59).
In seinen Berliner Vorlesungen von 1801 gab Schlegel den
erkenntnistheoretischen und historischen Aspekten dieser Ge-
danken eine erweiterte Darstellung. Hier sind seine Ausführun-
gen über die mythologisierende Tendenz des menschlichen Gei-
stes und die metaphorische Bezeichnungsweise für die mensch-
liche Erfahrung von besonderem Interesse. Die Einbildungskraft
ist grundlegend für diese Beziehungen, so argumentiert Schlegel
in diesen Vorlesungen und folgert daraus: „Der ursprüngliche
Akt der Phantasie ist derjenige, wodurch unsre eigne Existenz
und die ganze Außenwelt für uns Realität gewinnt" (AWS V l,
440). Diese grundlegende Tätigkeit der Einbildungskraft muß
jedoch sorgfältig von ihrer künstlerischen, intentionalen Betäti-
gung unterschieden werden. Während die spontane imaginative
Erfahrung durch das Phänomen des Träumens illustriert werden
kann, läßt sich die Poesie in einem spezifischen, künstlerischen
Sinne als eine kunstmäßige Nachschöpfung jenes mythologischen
Zustandes, ein „freiwilliges und waches Träumen" bezeichnen
(AWS VO l, 441). Schlegel sagt: „Es ist, wie wir schon beim
Ursprünge der Sprachen bemerkt haben, dem kindlichen Men-
schen unmöglich, sich eine andre Wirkungsart vorzustellen als
die, welche er in sich fühlt" (AWS VO l, 443-44). Das mensch-
liche Wesen „vermenschlicht alle wahrgenommenen Natur-
kräfte", so könnte man diesen Sachverhalt ausdrücken. „Perso-
nifikation" ist die allgemeinste Form seiner natürlichen Sprache
(AWS VO l, 444). Was die Bezeichnungsart dieser ursprünglichen
Sprache anbetrifft, so ist sie tropisch (AWS VO l, 446).
Diese weite Bedeutung der Mythologie zeigte sich bereits bei
den Griechen, welche sie als den gemeinsamen Boden der Dich-
tung, Geschichte und Philosophie ansahen. Was die Poesie an-
betrifft, so liefert ihr die Mythologie einen weit mehr zubereiteten
Stoff als die Natur: „er ist eine Natur im poetischen Kostüm. Er
ist selbst gewissermaßen schon Poesie" (AWS VO l, 451). In
Wirklichkeit umfaßt die Mythologie alles, was für den mensch-
lichen Geist Gegenstand werden kann. Sie liefert ein vollständiges
Weltbild und ist deshalb auch die Grundlage aller Philosophie
(AWS VO l, 452). Auch die alte Naturphilosophie der Griechen

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Mythologie als menschlicher Erfahrungshorizont 79

hatte einen entschiedenen mythologischen Charakter, der in den


uns überlieferten Texten immer noch bemerkbar ist. Schlegel
nahm an, daß sich die jüngsten physikalischen Lehren seiner Zeit
ebenfalls leicht in mythologische Bilder übertragen ließen (AWS
VO l, 453).
Die mythologische Weltansicht macht nach Schlegel auch den
grundlegenden Unterschied zwischen der heidnischen und christ-
lichen Welt aus. „Empörung gegen die Götter" erscheint als der
höchste Triumph der heidnischen Religion, wogegen das „christ-
liche Ideal der Religiosität" ein „unbedingtes Hingeben und
Verlieren seiner selbst im Abgrunde der göttlichen Liebe" ist
(AWS VO l, 455). Dieser „Wendepunkt" war für Schlegel die
„merkwürdigste Revolution des menschlichen Geistes", der sich
auch mit dem Unterschied zwischen den heidnischen (Mäßigkeit,
Tapferkeit, Weisheit) und christlichen (Glaube, Liebe, Hoffnung)
Kardinaltugenden illustrieren läßt (AWS VO l, 456). Die alte
Mythologie strebte nach „Vergötterung der Menschheit", die
christliche nach „Menschwerdung der Gottheit". Daß sich aus
einer solchen Religion aber wieder eine neue Mythologie bilden
konnte, beweist, „wie mächtig die Phantasie als Organ der Re-
ligion" ist (AWS VO l, 457).
Auf diesem Hintergrund einer universalen mythologischen und
metaphorischen Organisation des menschlichen Geistes zeichnet
sich August Wilhelm Schlegels Begriff der Poesie im engeren
künstlerischen Sinn ab. Während die anderen Künste einen fest-
gesetzten Umkreis für ihre Darstellung haben, der durch ihr
Ausdrucksmedium bestimmt ist, ist das Medium der Poesie jenes,
„wodurch der menschliche Geist überhaupt zur Besinnung ge-
langt, und seine Vorstellungen zu willkürlicher Verknüpfung und
Äußerung in die Gewalt bekommt". Dies ist die Sprache. Schlegel
sagt über die Poesie: „Daher ist sie auch nicht an Gegenstände
gebunden, sondern sie schafft die ihrigen selbst; sie ist die um-
fassendste aller Künste, und gleichsam der in ihnen überall
gegenwärtige Universal-Geist. Dasjenige in den Darstellungen
der übrigen Künste, was uns über die gewöhnliche Wirklichkeit
in eine Welt der Phantasie erhebt, nennt man das Poetische in
ihnen; Poesie bezeichnet also in diesem Sinne überhaupt die
künstlerische Erfindung, den wunderbaren Akt, wodurch die-

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80 Sprache, Mythologie und Dichtung in A. W. Schlegels Theorie

selbe die Natur bereichert; wie der Name aussagt, eine wahre
Schöpfung und Hervorbringung" (AWS VO l, 387).
Bei dieser Konzpetion der Poesie ist es jedoch von entschei-
dender Bedeutung, daß bei jeder „äußern materiellen Darstel-
lung" eine „innre im Geiste des Künstlers" vorangeht, „bei wel-
cher die Sprache immer als die Vermittlerin des Bewußtseins
eintritt". Schlegel sagt: „Die Sprache ist kein Produkt der Natur,
sondern ein Abdruck des menschlichen Geistes, der darin die
Entstehung und Verwandtschaft seiner Vorstellungen, und den
ganzen Mechanismus seiner Operationen niederlegt. Es wird also
in der Poesie schon Gebildetes wieder gebildet, und die Bildsam-
keit ihres Organs ist ebenso grenzenlos, als die Fähigkeit des
Geistes zur Rückkehr auf sich selbst durch immer höher poten-
zierte Reflexionen. Es ist daher nicht zu verwundern, daß die
Erscheinung der menschlichen Natur in der Poesie sich mehr
vergeistigen und verklären kann als in den übrigen Künsten, und
daß sie bis in mystische und geheimnisvolle Regionen eine Bahn
zu finden weiß" (AWS VO l, 387-88).
Unter diesem Gesichtspunkt hat die frühromantische Konzep-
tion der Poesie, die von vielen als eigenartig und unverständlich
angesehen worden war, nichts Paradoxes. Jedem, der von dem
„innern Organismus des geistigen Daseins" einen Begriff hat,
sollte es nach Schlegel einsichtig sein, „daß dieselbe Tätigkeit,
durch welche zuerst etwas Poetisches zustande gebracht wird,
sich auf ihr Resultat zurückwendet". „Ja, man kann ohne Über-
treibung und Paradox sagen," so fährt er fort, „daß eigentlich
alles Poesie, Poesie der Poesie sei; denn sie setzt schon die Sprache
voraus, deren Erfindung doch der poetischen Anlage angehört,
die selbst ein immer werdendes, sich verwandelndes, nie voll-
endetes Gedicht des gesamten Menschengeschlechts ist" (AWS
VO l, 388). In den frühen Stadien ihrer Ausbildung schafft die
Sprache „ebenso notwendig und unabsichtlich" als sich selbst
eine „dichterische Weltansicht", in welcher die Phantasie herrscht
und die Mythologie ist. Dies ist die „höhere Potenz" der ersten
Schöpfung (Sprache). Die „freie, selbstbewußte Poesie", die den
Mythus als Stoff verwendet, indem sie ihn „dichterisch behandelt,
poetisiert", steht deshalb „noch um eine Stufe höher". So geht
es immer weiter fort, meint Schlegel, „denn die Poesie verläßt

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Poesie im Medium von Sprache und Mythologie 81

den Menschen in keiner Stufe seiner Ausbildung": „und wie sie


das Ursprüngliche ist, die Ur- und Mutterkunst aller übrigen, so
ist sie auch die letzte Vollendung der Menschheit, der Ozean, in
den alles wieder zurückfließt, wie sehr es sich auch in mancherlei
Gestalten von ihm entfernt haben mag" (ib.). Schlegel sagt auch:
„Eben weil die Poesie das allergegenwärtigste, das alldurchdrin-
gendste ist, begreifen wir sie schwerer, so wie wir die Luft, in
welcher wir atmen und leben, nicht insbesondere wahrnehmen"
(ib.). Diese Gedanken der Frühromantik treten in einem größeren
kulturphilosophischen und bildungstheoretischen Zusammen-
hang in Friedrich Schlegels Rede über die Mythologie wieder
auf. 14 Sie sind darüber hinaus für den Ansatz von Nietzsches
Denken von großer Bedeutung gewesen, dem die frühromanti-
sche Sprachtheorie bei seiner Beschäftigung mit der Rhetorik
und dem tropischen, metaphorischen Charakter unserer Sprache
bekannt geworden war. 15

3. Poesie im Medium von Sprache und Mythologie und


das Thema der dichterischen Einheit

August Wilhelm Schlegel war der Meinung, daß echte Poesie


deswegen so selten begriffen wird, weil der spezifische Gebrauch
der Einbildungskraft denen „unnatürlich" erscheint, „die keinen
Funken davon besitzen" (AWS SW 7, 93). Wird uns ein Gegen-
stand im Medium der Poesie gezeigt, so muß jeder Teil „durch
dieses Medium gefärbt sein". Im Drama zum Beispiel wird das
Dichterische als „historisch", d. h. als eine wirkliche menschliche
Begebenheit gezeigt, obwohl „deren Unwahrheit gar nicht ver-
hehlt wird" und wir von Anfang an wissen, daß es sich um
Fiktion handelt. Dennoch bringt die poetische Darstellung dieser
Begebenheit das „Wesentliche der Sache" klarer und deutlicher
zur Anschauung, als es das „gewissenhafteste Protokoll" ver-

14
Siehe den Abschnitt IX, 3 der vorliegenden Darstellung.
15
Siehe Ernst Behler, „Friedrich Nietzsche et la philosophic du langage
du romantisme d'Iena", Philosophie 27 (1990), 57-75.

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82 Sprache, Mythologie und Dichtung in A. W. Schlegels Theorie

möchte. Der Dramatiker erreicht dies, indem er seinen Personen


ein „vollkommeneres Organ der Mitteilung" gibt als Menschen
es natürlicherweise haben. Während im wirklichen Leben das
„Vermögen der Äußerung" oft durch die „Gewalt der Leiden-
schaft" oder andere Erregungen gehemmt und gefesselt ist, kann
der Dichter solches „Hindernis aus dem Wege räumen". Als Julia
in Shakespeares Romeo und Julia nach ihrem Erwachen vom
Mönch das ganze Unglück in größter Eile geschildert wird und
dieser sie zur Flucht ermahnt, sagt sie lediglich: „Geh nur, ent-
weich! denn ich will nicht von hinnen" (ib.: V, 3, 165).
Schlegel will damit zum Ausdruck bringen, daß wir mit der
Poesie eine Welt mit eigenen Gesetzen, Proportionen, Beziehun-
gen und Maßen betreten, die sich von der wirklichen Welt auf
eine höchst sinnvolle Weise abhebt. Er verweist auf Circe in
Calderons Über allen Zauber Liebe, die sagt, daß für sie die
Sterne Buchstaben auf dem blauen Blatt des Himmels wären
(AWS VO l, 719). Schlegel übersetzte auch Circes Gesang, in
dem dieser poetische und ursprünglich imaginative Bezug zur
Welt plastischen Ausdruck findet:
Ich versteh' der Vögel Singen,
Und der wilden Tiere Schreien,
So daß sie für mich vernehmlich
Warnen oder prophezeien.
Wie viel durch die Luft Gefieder
Gleich lebend'gen Sträußen eilen,
So verkündend, daß sie bringen
Mit sich allen Schmuck des Maies:
Lauter Zeilen sind's für mich,
Ohne Schrift und ohne Zeichen.
Dann die Harmonie der Blumen,
Die natürlich und erscheinet
In anmut'gen Labyrinthen,
Daß sie künstlich sei, wohl weiß ich:
Ein Gepräg, worin der Himmel
Sprüche seltnen Rats erteilet.
(AWS VO l, 719-20.)
Ein besonders deutliches Beispiel für dies poetische, imagi-
native Verhältnis zur Welt ist der Diskurs der Liebe. Diese
Sprechweise kann sich nicht ohne Bilder vollziehen, aber sie

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Poesie im Medium von Sprache und Mythologie 83

erhebt sich „über die ganze übrige Welt", als hätte sie „den
Maßstab des Wirklichen" verloren und schwärmte bis an die
Grenzen der Dinge, „soweit die Flügel der Phantasie sie nur
tragen wollen, ohne sich einer Verirrung bewußt zu werden"
(AWS SW 7, 94). Schlegel bezieht sich zur Illustrierung der
poetischen Sprache der Liebe wieder auf Julia in Shakespeares
Schauspiel Romeo und Julia, in dem er einen lyrischen Typ des
Dramas erblickte. Er meint über die Sprache der Liebe: „Je
entferntere und ungleichartigere Bilder sie herbeiruft, desto sinn-
reicher müssen ihre Gleichnisse scheinen" (AWS SW 7, 95). Denn
die Liebe kennzeichnet sich ihrem Wesen nach durch „unbegrif-
fene Widersprüche", sie ist etwas, das den Verstand transzendiert,
von diesem nicht begriffen werden kann. Auch bei der „schönsten
Erwiderung" könne Liebe sich „nicht in vollkommene Harmo-
nie" auflösen. Sie sei deshalb ihrer ganzen Natur nach geneigt,
„sich antithetisch zu äußern" (ib.). Bei dieser Äußerung des
Eigenlebens und der Eigengesetzlichkeit der Phantasie ist das
„Wortspiel" in der Poesie und vor allem in der Lyrik für Schlegel
von großer Bedeutung gewesen.16 Sein Plädoyer für das Wortspiel
ergibt sich wieder aus der Eigengesetzlichkeit der Phantasie und
ihrer energiespezifischen Verfahrensweise, die sich auch darin
äußert, daß sie „mit Ähnlichkeiten der Töne ahndungsvoll spie-
len" kann. Wortspiel ist für Schlegel „eine Vergleichung zwischen
dem Sinne der Wörter und ihrem Klange". Er verweist auf seinen
Lieblingsdichter in der Lyrik, Petrarca, auf „dessen wunderbare
Bilder und Gleichnisse, immer wiederkehrende Gegensätze und
leise mystische Anspielungen", die sich ebenfalls in keine Sprache
der Vernunft oder des Verstandes übertragen lassen, aber unmit-
telbar verständlich sind. Eine weitere Veranschaulichung der
Sprache der Phantasie wäre die „kühne Bildlichkeit und antithe-
tische Wortfülle beim Schmerz über den Verlust oder Tod des
Geliebten" (AWS SW 7, 96).
August Wilhelm Schlegel hat seine Vorstellungen vom Ver-
hältnis zwischen Verstand und Phantasie noch einmal auf sehr

16
Siehe Peter C. Simpson, The Critique of Wordplay During Early
German Romanticism: Critical Construction of a Literary Style (Diss.
Cornell University 1985).

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84 Sprache, Mythologie und Dichtung in A. W. Schlegels Theorie

bildhafte Weise in seiner Kritik der Aufklärung aus den Berliner


Vorlesungen ausgeführt und dabei den Vergleich angeboten, daß
das menschliche Gemüt wie die äußere Welt „zwischen Licht
und Dunkel" geteilt ist und der „Wechsel von Tag und Nacht"
ein „sehr treffendes Bild unsers geistigen Daseins" wäre (AWS
VO l, 524).17 Während wir im Sonnenschein der Vernunft an
die „Bedingungen der Wirklichkeit" gebunden sind, werden diese
während der Nacht suspendiert, mit einem „wohltätigen
Schleier" umhüllt, und es eröffnet sich die „Aussicht in die Räume
der Möglichkeit". In diesem Sinne sind Vernunft und Phantasie
die „gemeinschaftliche Grundkraft unsers Wesens": die Vernunft
„unbedingt auf Einheit" dringend, die Phantasie in „grenzenloser
Mannigfaltigkeit ihr Spiel" treibend. Dieses „Dunkel", in dem
sich „die Wurzel unsers Daseins verliert", ist für Schlegel der
„Zauber des Lebens", die „Seele aller Poesie". Um ihr von der
Vernunft völlig unabhängiges Eigenleben zu illustrieren, verweist
er auf Träume, in denen die Phantasie ebenfalls „von allem
Zwange entbunden spielt" (AWS VO l, 527). Natürlich weiß
man die Träume auch rationalistisch zu erklären, so fährt Schle-
gel auf sarkastische Weise fort. Aber schon die Homerischen
Griechen waren in bezug auf Träume klug genug, „bedeutsame
und bloß zufällige" zu unterscheiden, und „wem nicht in seinem
Leben Träume vorgekommen sind, die aufs wenigste gesagt, von
einer höchst wunderbaren bizarren Freitätigkeit der Phantasie
zeugen, der wird gewiß nicht von übermäßiger Poesie beschwert"
(ib.).
Die spezielle Frage, die sich aus alledem ergibt, lautet natür-
lich, wie es sich mit der Beziehung zwischen Poesie und Wirk-
lichkeit, der mimetischen Natur der Dichtung verhält. August
Wilhelm Schlegel hat dies Problem dadurch zu klären versucht,
daß er den von Aristoteles in der Poetik aufgestellten Satz, „die

17
Gesondert erschienen unter dem Titel Über Literatur, Kunst und
Geist des Zeitalters. Einige Vorlesungen in Berlin, zu Ende des Jahres
1802, gehalten von A.W. Schlegel in: Europa. Eine Zeitschrift. Her-
ausgegeben von Friedrich Schlegel (Frankfurt a.M.: F. Wilmans 1803).
Erster Band, zweiter Teil, 3-95; AWS VO 2, 197-252.

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Poesie im Medium von Sprache und Mythologie 85

schönen Künste seien nachahmend" 18 , zum Ausgangspunkt nahm


und ihn noch durch die klassizistische These verschärfte: „die
schöne Kunst soll die Natur nachahmen" (AWS VO l, 257).19
Es kann hier nicht darum gehen, ob Aristoteles und Boileau von
Schlegel richtig ausgelegt werden; allein sein eigener Nachah-
mungsbegriff ist von Interesse. Wenn man Natur nicht in einem
engen und subjektiven Sinne, sondern als „Inbegriff aller Dinge"
nimmt, so entwickelt Schlegel sein Argument, dann ist es un-
mittelbar einsichtig, „daß die Kunst ihre Gegenstände aus der
Natur hernehmen muß; denn es gibt alsdann eben nichts andres"
(AWS VO l, 257): „Die Bestandteile ihrer Schöpfungen, wie sie
auch durch ihre wunderbare Tätigkeit verwandelt sein mögen,
müssen immer aus einer vorhandenen Wirklichkeit entlehnt
sein." Von hier aus betrachtet braucht man also der Kunst gar
nicht vorzuschreiben, die Natur nachzuahmen^ da sie es von
selbst schon tut, und der Aristotelische Satz wäre lediglich da-
durch zu modifizieren, daß man sagte: „die Kunst muß Natur
bilden" (ib.).
Konzentriert man sich auf den von der Phantasie bestimmten
Bildens- und Schaffensprozeß, so führt Schlegel seine Argumen-
tation weiter aus, dann stellt sich schon bald heraus, daß es sich
dabei nicht um ein Kopieren von etwas schon Vorhandenem
handeln kann, wobei die Kunst immer nur den Kürzeren ziehen
würde, sondern um ein lebendiges Schaffen, Organisieren, leben-
dige Werke Bilden, wie man es sich vielleicht mit Prometheus
versinnbildlichen könnte, „als er den Menschen aus irdischem
Ton formte, und ihn durch einen von der Sonne entwandten
Funken belebte" (AWS VO l, 258). Auf diese Weise hat aber für
Schlegel unter den Kunsttheoretikern seiner Zeit nur einer den
künstlerischen Schaffensprozeß verstanden, nämlich Karl Philipp

18
Poetik IV, 2 (1448 b).
19
Dieser Teil der Vorlesungen ist ebenfalls gesondert erschienen unter
dem Titel Über das Verhältnis der schönen Künste zur Natur; Über
Täuschung und Wahrscheinlichkeit; Über Manier und Stil in: Pro-
metheus. Eine Zeitschrift. Herausgegeben von Leo von Seckendorf
und Josef Ludwig Stoll (Wien: Geistingers Buchhandlung 1808), 5.-
6. Heft, 1-28; AWS VO 2, 256-59.

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86 Sprache, Mythologie und Dichtung in A. W. Schlegels Theorie

Moritz in seiner Schrift Über die bildende Nachahmung des


Schönen von 1788. Freilich stand Moritz zu dieser Zeit keine
seinem „spekulativen Geist" entsprechende Philosophie zur Ver-
fügung, weshalb er sich leicht „einsiedlerisch in mystischen Irr-
gängen verlor" (AWS VO l, 259). Aber das Schöne war für ihn
das „in sich Vollendete, was als ein für sich bestehendes Ganzes
von unsrer Einbildungskraft umfaßt werden kann". Das einzig
wahre, für sich bestehende Ganze ist freilich der über das Maß
unserer Anschauung hinausgehende „große Zusammenhang der
ganzen Natur". Jedes „einzelne Ganze" ist wegen der „unauflös-
lichen Verkettung der Dinge" notwendigerweise „nur eingebil-
det". Dennoch muß es sich wie jenes große Ganze „nach eben
den ewigen festen Regeln bilden, nach welchen dieses sich von
allen Seiten auf seinen Mittelpunkt stützet, und auf seinem eignen
Dasein beruht". Jedes künstlerische Werk oder jedes Werk der
Kunst ist daher eine Bildung im Sinne dieses „höchsten Schönen
im großen Ganzen der Natur". Schlegel sagt zu dieser Theorie
von Karl Philipp Moritz: „Vortrefflich! sowohl die im Schönen
liegende Beziehung aufs Unendliche, als das Streben der Kunst
nach innerer Vollendung ist hierdurch aufs glücklichste ausge-
drückt" (ib.).
Schlegel ergänzt diese Theorie hauptsächlich dadurch, daß er
das Prinzip der schaffenden Natur im „Innern" des Menschen,
im „Mittelpunkte seines Wesens", in „geistiger Anschauung",
d. h. in der Phantasie ansetzt, oder in jenem inneren Punkt eines
ungeschiedenen Zusammenwirkens von Einbildungskraft und
Vernunft. Die Art und Weise, wie sich im Menschen die Natur
zeigt, kennzeichnet die künstlerische Tätigkeit. Anders ausge-
drückt, mit Schlegels eigenen Worten: „Die Klarheit nun, der
Nachdruck, die Fülle, die Allseitigkeit, womit sich das Weltall
in einem menschlichen Geiste abspiegelt, und womit sich wie-
derum dieses Abspiegeln in ihm spiegelt, bestimmt den Grad
seiner künstlerischen Genialität, und setzt ihn in den Stand, eine
Welt in der Welt zu bilden" (AWS VO l, 259). Damit dreht sich
das Prinzip der Naturnachahmung, welches die Natur zur Norm
der Kunst erhoben hatte, aber geradezu in sein Gegenteil um,
indem jetzt der Satz gilt: „der Mensch ist in der Kunst Norm
der Natur" (ib.).

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Poesie im Medium von Sprache und Mythologie 87

Um die Kunst noch schärfer von der Natur abzuheben, kommt


Schlegel gegen Ende dieser Vorlesung auch auf die damals häufig
diskutierten Begriffe Manier und Stil zu sprechen und zeigt dabei
seine Vorliebe für den Stil, den er z. B. mit dem Stil Shakespeares
erläutert: „ein System seines Kunstfachs, und zwar ein er-
staunenswürdig gründliches und tiefgedachtes, das in der An-
wendung nach Maßgabe der verschiedenen Gegenstände seiner
Dramen sich auf das mannigfaltigste abändert" (AWS VO l,
264). Die Manier dagegen ist eine zu persönliche, zu intime
Verfahrensweise, bei der sich die Natur unversehens wieder ein-
stellt. Schlegel drückt dies auch so aus, daß er maniera von
manus, „Führung der Hände", also der Person zugehörigen Or-
ganen ableitet, wobei sich leicht „körperliche Gewöhnungen
einschleichen" können. Stylus dagegen ist der „Griffel, womit
die Alten in Wachstafeln schrieben". Schlegel sagt: „dieser gehört
nicht mit zu uns, sondern er ist das Werkzeug unsrer freien
Tätigkeit. Die Beschaffenheit des Griffels bestimmt freilich die
unsrer Züge, aber wir haben ihn selbst gewählt, und könnten
ihn mit einem ändern vertauschen" (ib).
Wie dieser Phantasiebegriff mit der Bewußtheit und Reflexi-
vität der frühromantischen Poesiekonzeption zusammenhängt,
zeigt sich bei August Wilhelm Schlegel nirgends deutlicher als
gegen Ende seiner Vorlesungen über die Aufklärung, wo er aus
einem echten Gefühl des Epochenbruchs heraus den „Anfang
einer neuen Zeit" zu beschreiben sucht, den er und seine litera-
rischen Freunde auf mancherlei Art zu propagieren versucht
hatten (AWS VO l, 538). Er sieht dabei die „Keime des Werdens",
den Beginn einer „neuen Zeit", vor allem darin angekündigt, daß
sich ein „gesteigertes Bewußtsein", ein „Grad des Selbstverständ-
nisses" ausgedrückt hat, „wie es sich zuvor noch nie in philo-
sophischen Unternehmungen offenbart hat". Dies bekundet sich
darin, daß „der heutige Dichter über das Wesen seiner Kunst
mehr im klaren sein" müsse, als dies „ehemalige große Dichter
konnten", und diese „höhere Reflexion" nun wieder ins „Unter-
bewußtsein" untergetaucht werden müsse (AWS VO l, 540 — 41).
August Wilhelm Schlegels Konzeption der Poesie manifestiert
sich darüber hinaus in seiner Vorstellung von der differentiellen
Einheit eines dichterischen Kunstwerks, die er am deutlichsten

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88 Sprache, Mythologie und Dichtung in A. W. Schlegels Theorie

in seiner Shakespeare-Kritik entwickelte. Auf Grund dieser Kon-


zeption erhob er sich zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts
zum avanciertesten Shakespeare-Kritiker der damaligen Zeit,
nicht nur in England, sondern in allen Teilen der gebildeten
Welt.20 Doch ist diese Konzeption keineswegs auf Shakespeare
beschränkt, sondern bringt Schlegels generelles Strukturprinzip
der Poesie zum Ausdruck. Das berühmteste Beispiel dafür ist
sein Essay Über Shakespeares Romeo und Julia von 1797, in dem
Schlegel zu zeigen versucht, wie das Ineinanderspielen verschie-
dener Szenen, Charaktere, Traditionen, Spracharten usw. in
einem komplexen Werk des modernen Drama wirksam ist und
daß diese einzelnen Bestandteile so notwendig miteinander ver-
knüpft sind, daß es unmöglich wäre, auch nur eins zu ändern,
ohne die Struktur des Ganzen zu verwandeln. Als Übersetzer
dieses Dramas war Schlegel natürlich mit jeder Nuance des
Werkes vertraut. Er wandte sich insbesondere gegen Kritiker,
Dramaturgen und Schauspieler wie Samuel Johnson und David
Garrick, die aus Gründen der Aufführung oder auch mit kriti-
scher Argumentation bestimmte Szenen ändern oder gar elimi-
nieren wollten und, um eines pathetischen Effekts willen, Julia
kurz vor Romeos Tod, nachdem er das Gift genommen hatte,
aufwecken ließen. Schlegel bestand demgegenüber auf der „Voll-
ständigkeit" der tragischen Handlung, ihrem angemessenen Cha-
rakter im Sinne einer völligen Übereinstimmung mit sich selbst.
Freilich ist Shakespeare ein ungemein freigebiger Dichter, so
gestand er zu, dessen Kunst nicht „jene strenge Sonderung des
Zufälligen vom Notwendigen" kannte, „welche ein unterschei-
dendes Merkmal der tragischen Poesie der Griechen ausmacht"
(AWS SW 7, 89). Seine Art war Freigebigkeit, „Freigebigkeit mit
Allem, außer mit dem, was nur bei einem sparsamen Gebrauche
wirken kann". So sind einige kleinere Rollen „bloß nach dem
Gesetz der Zweckmäßigkeit mit wenigen, aber bestimmten Zü-
gen gekennzeichnet". In bezug auf das von einigen Kritikern
gewünschte pathetischere Ende meint Schlegel: „Es gibt ein Maß

20
Thomas G. Sauer, A.W. Schlegel's Shakespearean Criticism in Eng-
land (Bonn: Bouvier 1982).

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Poesie im Medium von Sprache und Mythologie 89

der Erschütterung, über welches hinaus alles Hinzugefügte ent-


weder zur Folter wird, oder von dem schon durchdrungenen
Gemüte wirkungslos abgleitet" (AWS SW 7, 91).
Um die bewußte, absichtliche Gestaltung dramatischer Einheit
auf möglichst effektvolle Weise zu zeigen, konzentriert sich Schle-
gel auf die Tatsache, daß Shakespeare den Stoff oder die Ge-
schichte von Romeo und Julia nicht selbst erfand, sondern der
Erzählung des Luigi da Porta entnahm und „die ganze Macht
seines Genius auf die Gestaltung wandte" (AWS SW 7, 71). Ihm
kam es nicht auf das „Was", sondern auf das „Wie" an. Alles,
was in dem Stück „ergötzt, rührt und hinreißt", findet sich nicht
in der Vorgabe, so daß man schon auf dem „Begriffe der Schöp-
fung aus Nichts" bestehen müßte, wenn man sein Werk nicht
als „eine wahre Schöpfung" gelten lassen wollte (AWS SW 7,
74 — 75). Um dieses Verhältnis zu bestimmen, ließe sich auch
sagen, daß der Dichter „mit gebundenen Händen, Buchstaben in
Geist ... umzuzaubern gewußt" (AWS SW 7, 75). Nur durch
dieses dramatische Bilden konnte das Werk jene Einheit erhalten,
die seine besondere Schönheit ausmacht.
Schlegel entwickelt diesen Gesichtspunkt hauptsächlich da-
durch, daß er den lyrischen Charakter des Dramas hervorhebt,
seine Stimmung von Liebe, Jugend, Frühling, Freiheit, sein Her-
austreten aus den künstlichen Verhältnissen der Gesellschaft und
seine Nähe zur Natur. Dies zeigt sich in der Szene unter dem
freien Himmel, in der Romeo die Augen Julias mit Sternen
vergleicht, und die Liebenden von Bäumen umgeben sind, „deren
Wipfel der Mond mit Silber säumt" (AWS SW 7, 81). Auf
entsprechende Weise wird in der Abschiedsszene die Nacht durch
die Nachtigall und die Ankunft des Tages nicht durch einen
Glockenschlag, sondern durch die „Stimme der Lerche" ange-
kündigt (ib.).
Jedoch hat dieses lyrische Zentrum des Dramas eine doppelte
Struktur, insofern das Stück, wie Schlegel hervorhebt, „durchhin
eine große Antithese ist, wo Liebe und Haß, das Süßeste und
das Herbeste, Freudenfeste und düstre Ahndungen, liebkosende
Umarmungen und Totengrüfte, blühende Jugend und Selbstver-
nichtung unmittelbar beisammen stehen" (AWS SW 7, 87). All
diese Beobachtungen, einschließlich der bereits früher angeführ-

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90 Sprache, Mythologie und Dichtung in A. W. Schlegels Theorie

ten über die poetische Diktion und die Wortspiele, dienen dazu,
die kohärente Einheit des Werks von verschiedenen und mit
Notwendigkeit ineinandergreifenden Aspekten aus deutlich zu
machen und das Werk selbst als „ein harmonisches Wunder" zu
bestimmen, „dessen Bestandteile nur jene himmlische Gewalt so
verschmelzen konnte" (AWS SW 7, 97).

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