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1
Siehe Hans-Joachim Mahl, Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk
des Novalis. Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen
Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen (Heidel-
berg: Winter 1965).
2
Georg Lukacs, Kurze Skizze einer Geschichte der neueren deutschen
Literatur (Neuwied: Luchterhand 1975), 79.
3
Hans Mayer, Von Lessing zu Thomas Mann. Wandlungen der bür-
gerlichen Literatur in Deutschland (Pfullingen: Neske 1959), 25.
4
Siehe Wilfried Maisch, ,Europa,. Poetische Rede des Novalis. Deu-
tung der französischen Revolution und Reflexion auf die Poesie in
der Geschichte (Stuttgart: Metzler 1965).
2. Absoluter Idealismus
Der Tod der Sophia von Kühn hatte den größten denkbaren
Einfluß auf die dichterischen und spekulativen Pläne des Novalis
und kann als der Zeitpunkt angesehen werden, an dem er seine
eigene Gedankenwelt in ihren eigentümlichen Konturen zu ent-
wickeln beginnt. An die Stelle der Subjekt-zentrierten Ichphilo-
sophie, die ihm von Fichte her vertraut war, treten philosophische
und theoretische Überlegungen, in denen er das Subjekt durch
das Objekt, den Menschen durch die Natur, diese Welt durch
das Jenseits zu ergänzen suchte. Er berichtete Friedrich Schlegel
zu dieser Zeit, daß Schellings Philosophie in ihm „einen neugie-
rigen Leser" gefunden hatte (NO 4, 226). Am 4. Juni 1797 schrieb
er: „Mit Schelling such ich je eher je lieber bekannt zu werden.
In einem Stücke entspricht er mir mehr, als Fichte. Ich will bald
wissen, was ich an ihm haben kann" (NO 4, 230). Die Bedeutung
Schellings war zweifellos groß für Novalis, aber sie äußerte sich
ähnlich wie der Einfluß von Fichte. Während er sich darum
bemühte, den grundlegenden Impuls und die für ihn fruchtbarste
Anregung Schellings, das Bestreben einer umfassenden Synthese
von Natur und Geist aufzunehmen, ließ er aber das fallen, was
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Blutenstaub heißt die Version die F. Schlegel im Athenäum mit einigen
editorischen Eingriffen veröffentlichte. Vermischte Bemerkungen ist
der Titel der umfangreicheren handschriftlichen Fassung, die in der
kritischen Ausgabe zusammen mit Blutenstaub als Spiegeldruck ver-
öffentlicht ist: NO 2, 412-470.
Man geht sicher nicht fehl, wenn man die vorher erwähnte, von
Novalis entwickelte „sehr große, sehr fruchtbare Idee" (NO 4,
254) in der Ausbildung dieses Idealrealismus der vollendeten
Übereinstimmung von Subjekt und Objekt erblickt, der mit der
dichterischen Anschauung der Welt durch Novalis identisch wird.
Ein beliebtes Beispiel, die Macht des Poetischen in unserem
Umgang mit der Welt zu beschreiben, ist für ihn die Sprache,
die der Dichter aber nicht im Sinne „allgemeiner Zeichen",
sondern als „Töne", als „Zauberworte" benutzt. Novalis ver-
gleicht die Sprache des Dichters auch mit den „Kleidern der
Heiligen", die „noch wunderbare Kräfte" besitzen. Wir können
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Wilhelm Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung, 306.
nicht sagen, daß die Sprache für den Dichter „zu arm" ist,
sondern höchstens, daß sie „immer zu allgemein" für ihn ist und
deshalb durch häufige Wiederholung der „Gebrauch ausgespiel-
ter Worte" verlebendigt werden muß: „Seine Welt ist einfach,
wie sein Instrument — aber eben so unerschöpflich an Melodien"
(NO 2, 533).
Eine andere Verfahrensweise, die besondere Natur der Poesie
zu illustrieren, besteht für Novalis darin, sie mit anderen Kün-
sten, besonders der Malerei und Musik zu vergleichen. Ähnlich
wie der Maler, der die sichtbaren Dinge dieser Welt mit anderen
Augen sieht als denen der gewöhnlichen Menschen, sieht der
Dichter die Ereignisse der inneren und äußeren Welt auf eine
andere als die gewöhnliche Weise. Keine Kunst kann jedoch
besser als die Musik die Besonderheit der Poesie verdeutlichen.
Novalis sagt:
Nirgends aber ist es auffallender, daß es nur der Geist ist, der die
Gegenstände, die Veränderungen des Stoffs poetisiert, und daß das
Schöne, der Gegenstand der Kunst uns nicht gegeben wird oder in
den Erscheinungen schon fertig liegt — als in der Musik. Alle Töne,
die die Natur hervorbringt sind rauh — und geistlos — nur der
musikalischen Seele dünkt oft das Rauschen des Waldes - das Pfeifen
des Windes, der Gesang der Nachtigall, das Plätschern des Bachs
melodisch und bedeutsam. Der Musiker nimmt das Wesen seiner
Kunst aus sich — auch nicht der leiseste Verdacht von Nachahmung
kann ihn treffen (NO 2, 573-74).
Diese besondere Qualität der Wahrnehmung gilt natürlich
auch für den Maler, mit dem einzigen Unterschied, daß er sich
„einer unendlich schwereren Zeichensprache bedient als der Mu-
siker, indem er mit dem Auge malt". Letztlich ist aber fast jeder
Mensch „in geringem Grad schon Künstler": „Er sieht in der Tat
heraus und nicht herein — Er fühlt heraus und nicht herein."
Der wichtigste Unterschied besteht nur in folgendem: „der Künst-
ler hat den Keim des selbstbildenden Lebens in seinen Organen
belebt — die Reizbarkeit derselben für den Geist erhöht und ist
mithin imstande Ideen nach Belieben — ohne äußre Sollizitation
— durch sie heraus zu strömen — Sie, als Werkzeuge, zu belie-
bigen Modifikationen der wirklichen Welt zu gebrauchen (NO
2, 574).
In unserem Gemüt ist alles auf die eigenste, gefälligste und lebendigste
Weise verknüpft. Die fremdesten Dinge kommen durch einen Ort,
eine Zeit, eine seltsame Ähnlichkeit, einen Irrtum, irgendeinen Zufall
zusammen. So entstehn wunderliche Einheiten und eigentümliche
Verknüpfungen — und eins erinnert an alles - wird das Zeichen
vieler und wird selbst von vielen bezeichnet und herbeigerufen.
Verstand und Phantasie werden durch Zeit und Raum auf das son-
derbarste vereinigt und man kann sagen daß jeder Gedanke, jede
Erscheinung unsers Gemüts das individuelle Glied eines durchaus
eigentümlichen Ganzen ist (NO 3, 650-51).
Wegen dieser engen Beziehung zwischen Gemüt und Poesie fällt
die Überlegung, ob „am Ende alles Poesie wird", mit der Frage
zusammen: „Wird nicht die Welt am Ende, Gemüt?" (NO 3,
654). Die Nachforschung über die Natur der Poesie bleibt jedoch
eine unendliche Aufgabe und kann nicht durch ein endgültiges
Resultat abgeschlossen werden: „Worin eigentlich das Wesen der
Poesie bestehe, läßt sich schlechthin nicht bestimmen. Es ist
unendlich zusammengesetzt und doch einfach. Schön, roman-
tisch, harmonisch sind nur Teilausdrücke des Poetischen" (NO
3, 690).
In diesem Zusammenhang formuliert Novalis seine avantgar-
distischen Ansichten über die Poesie. In einem dieser Fragmente
charakterisiert er die Poesie als „Gemütserregungskunst", als
„innere Malerei und Musik", die wie ein „mechanisches Instru-
ment" in der Lage ist, „innre Stimmungen, und Gemälde oder
Anschauungen hervorzubringen — vielleicht auch geistige
Tänze" (NO 3, 639). Bei einem solchen Verfahren verwendet der
Dichter „die Dinge und Worte, wie Tasten und die ganze Poesie
beruht auf tätiger Ideenassoziation — auf selbsttätiger, absicht-
licher, idealischer Zufallproduktion" (NO 3, 451). Einheit und
Zusammenhang scheinen in einer solchen Dichtung aufgehoben
zu sein. Novalis sagt: „Ein Märchen ist eigentlich wie ein Traum-
bild — ohne Zusammenhang — Ein Ensemble wunderbarer
Dinge und Begebenheiten — z. B. eine musikalische Phantasie —
die Harmonischen Folgen einer Äolsharfe — die Natur selbst"
(NO 3, 454). Er fügt hinzu: „Wird eine Geschichte ins Märchen
gebracht, so ist dies schon eine fremde Einmischung". Denn dann
entsteht „Verstand", „Zusammenhang", „Bedeutung" (NO 3,
454 — 55). An einer anderen Stelle heißt es:
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Siehe das Kapitel IX, 2.
Sie läßt uns die Natur, oder Außenwelt, als ein menschliches Wesen
ahnden — Sie zeigt, daß wir alles nur so verstehen können und sollen,
wie wir uns selbst und unsre Geliebten, uns und euch verstehn.
Wir erblicken uns im System, als Glied — mithin in auf und abstei-
gender Linie, vom Unendlich kleinen bis zum Unendlich Großen —
Menschen von unendlichen Variationen (NO 3, 429).
In dieser Erkenntnis, daß wir „alles Fremde nur durch Selbst-
fremdmachung — Selbstveränderung — Selbstbeobachtung" ver-
stehen, bestanden für Novalis die „Wahren Bande der Verknüp-
fung von Subjekt und Objekt". Damit wird deutlich, „daß es
auch eine Außenwelt in uns gibt, die mit unserm Innern in einer
analogen Verbindung, wie die Außenwelt außer uns mit unserm
Äußern und jene und diese so verbunden sind, wie unser Innres
und Äußres" (ib.). Deutlicher noch als in diesen theoretischen
und fragmentarischen Formulierungen kommen die Anschau-
ungen des Novalis über das wahrhaft Poetische in seiner Dich-
tung zum Ausdruck. 9
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Siehe die Kapitel VII, 2 und VIII, 3.