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V.

Novalis und der Entwurf der absoluten


Poesie

Novalis ist der Schriftstellername Friedrich von Hardenbergs und


stellt eine lateinische Nachbildung seines Familiennamens dar.
Novalis (mit der Betonung auf der zweiten Silbe) bezeichnet das,
was gepflügt oder gerodet werden muß, also einen Brachacker,
einen Hardenberg oder einen „Dürrenberg". Der Name wurde
von Friedrich von Hardenberg zum erstenmal im Jahre 1798
beim Erscheinen der Fragmente Blutenstaub im ersten Band des
Athenäum verwandt und mit dem Motto erläutert:
Freunde, der Boden ist arm, wir müssen reichlich Samen
Ausstreun, daß uns doch nur mäßige Ernten gedeihn.
(NO 2, 413).
Der Name hatte den Zweck, die Identität des Autors zu verber-
gen, wozu dieser sich aus Rücksichten gegenüber seiner Familie,
vor allem seinem Vater, und seinem Beruf veranlaßt sah. Friedrich
Freiherr von Hardenberg entstammte einem alten niedersächsi-
schen Adelsgeschlecht, das seine Ursprünge bis ins zwölfte und
dreizehnte Jahrhundert zurückverfolgte. Sein Vater war in der
Verwaltungsjurisprudenz des Salzminengewerbes tätig, und No-
valis folgte ihm in diesen Beruf. Beim Tode seiner ersten Frau
hatte der Vater ein pietistisches Erweckungserlebnis gehabt und
beschlossen, die „Laster", die sein früheres Leben bestimmt hat-
ten, auszurotten. Er trat der Brudergemeinde bei und war von
der Sündhaftigkeit des Menschen überzeugt, der es mit asketi-
scher Strenge zu begegnen galt. Von seiner zweiten Frau, Auguste
Bcrnhardine von Bölzig, hatte er insgesamt 11 Kinder, dessen
letztes sie gebar, als sie bereits über 45 Jahre alt war. Die meisten
von ihnen starben im Alter zwischen 20 und 30 Jahren. Novalis
war 29 Jahre alt, als er starb.
In einem Brief an Schiller vom 7. Oktober 1791 beschrieb
Novalis seine Welterfahrung auf eindrucksvolle Weise: „Ich leb'

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144 Novalis und der Entwurf der absoluten Poesie

und webe in der frischen Herbstluft, und neue Ströme von


Lebenslust fließen in mich mit jedem Atemzuge. Die schöne
Gegend, und eine gutmütige Harmlosigkeit, in die ich aufgelöst
bin, zaubern mich in die blühenden Reiche der Phantasie hinüber,
die ein ebenso magischer, dünner Nebel umschwimmt, als die
ferne Landschaft unter meinen Füßen: ich freue mich mit dem
letzten Lächeln des scheidenden Lebens der Natur und dem
milden Sonnenblick des erkaltenden Himmels. Die fruchtbare
Reife beginnt in Verwesung überzugehen, und mir ist der Anblick
der langsam hinsterbenden Natur beinah reicher und größer als
ihr Aufblühn und Lebendigwerden im Frühling. Ich fühle mich
mehr zu edeln und erhabenen Empfindungen jetzt gestimmt als
im Frühjahr, wo die Seele im untätigen, wollüstigen Empfangen
und Genießen schwimmt und anstatt sich in sich selbst zurück-
zuziehn, von jedem anziehenden Gegenstande angezogen und
zerstreut wird. Schon das Losreißen von so viel schönen, lieben
Gegenständen macht die Empfindungen zusammengesetzter und
interessanter. Daher fühl ich mich auch nie so reingestimmt und
empfänglich für alle Eindrücke der höhern, heiligen Muse als im
Herbst" (NO 4, 98-99).
Novalis wurde am 2. Mai 1772 in Oberwiederstädt in Thü-
ringen geboren. Er begann sein Studium der Rechtswissenschaf-
ten an der Universität Jena und setzte dies 1791 in Leipzig fort,
wo er eine enge Freundschaft mit Friedrich Schlegel aufnahm.
Als der Vater von ihrer frivolen Lebensweise vernahm — die
beiden Freunde hatten mit zwei Schwestern aus der höheren
Gesellschaft von Leipzig Liebesaffairen aufgenommen — kam er
persönlich nach Leipzig gereist, um die beiden zu trennen und
ließ seinen Sohn an der strengeren Lutheranischen Universität
Wittenberg weiterstudieren. Der Briefwechsel zwischen den zwei
Freunden gehört zu den besten Stücken frühromantischer Lite-
ratur und zeigt zwei leidenschaftliche, leicht entflammbare junge
Geister.
Bereits am 14. Juni 1794 legte Novalis sein juristisches Examen
ab und trat dann seinen Beruf als Aktuarius beim Kreisamt in
Bad Tennstedt im nördlichen Thüringen an. Nicht weit von Bad
Tennstedt lag Grüningen, wo der Hauptmann Johann Rudolf
von Rockenthien sich 1786 mit der Witwe Sophia Wilhelmine

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Novalis und der Entwurf der absoluten Poesie 145

von Kühn verheiratet hatte, deren dreizehnjährige Tochter Sophie


von Kühn damals die große Liebe des Novalis wurde. Trotz ihrer
Jugend verlobte er sich bereits am 15. März 1795 mit ihr. Der
besondere Reiz des jungen Mädchens bestand in einer spontanen
Natürlichkeit und einer außergewöhnlichen Frühreife, wobei die
letztere Eigenschaft wohl durch eine latente, im November 1795
aufbrechende Krankheit befördert wurde. Sie besaß nach den
erhaltenen Berichten „eine erstaunliche Selbstsicherheit, eine tref-
fende Schlagfertigkeit, eine heitere Unbekümmertheit, einen allen
Lagen gewachsenen Humor und eine wirkliche Heldenmütigkeit
im Ertragen fürchterlicher Schmerzen während der Behandlung
ihrer Krankheit durch drei Operationen, die in dieser Zeit wahre
Torturen waren" (NO 4, 123). Zwischen diesen Operationen hat
Novalis unter dem Titel Klarissa eine Charakterskizze der Sophia
von Kühn verfaßt, die durch ihre Vereinigung der heterogensten
Dinge in Erstaunen versetzt (NO 4, 24 — 25). Bei der Krankheit
handelte es sich wohl um eine Leberinfektion oder ein Leber-
abszeß. Im Sommer 1796 wurde Sophia dreimal in Jena operiert,
wobei die Wunde zu eitern begann und unter großen Schmerzen
gereinigt werden mußte. Im Dezember schienen sich aber Zeichen
einer Besserung einzustellen, und kurz vor Weihnachten wurde
Sophia von Jena nach Grüningen zurückgebracht.
In dieser Zeit erfolgte die erneute Annäherung Friedrich Schle-
gels an Novalis, die sich aus Schlegels Übersiedlung nach Jena
ergab. Novalis hatte Schlegel in seinem Einladungsbrief, ihn auf
der Reise nach Jena in Weißenfels zu besuchen, mitgeteilt: „Mein
Lieblingsstudium heißt im Grunde wie meine Braut. Sophie heißt
sie - Philosophie ist die Seele meines Lebens und der Schlüssel
zu meinem eigenen Selbst" (NO 4, 188). Friedrich Schlegel be-
suchte Sophia von Kühn mehrere Male im Krankenhaus von
Jena. Am 10. Januar 1797 schrieb Novalis an ihn: „kam ich um
Söffchen, so weiß Gott, was aus mir würde" (NO 4, 195). Sein
nächster Brief beginnt mit der lakonischen Feststellung: „Dein
Brief hat mich in einer trostlosen Lage getroffen. Ich bin aus
Thüringen mit der fast apodiktischen Gewißheit zurückgekom-
men, daß Sophie nur noch wenige Tage zu leben hat" (NO 4,
204). Sophia von Kühn starb am 19. März 1797, und seit dieser
Zeit ging eine tiefe Veränderung in Novalis vor. Anstatt wie

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146 Novalis und der Entwurf der absoluten Poesie

geplant nach Jena zu kommen, um im persönlichen Umgang mit


Fichte und den Brüdern Schlegel das Studium der 'Wissenschafts-
lehre fortzusetzen, wandte er sich nach Tennstedt, um in der
Nähe des Grabes der Geliebten in Grüningen das große Projekt,
ihr nachzusterben, auszuführen. Nur durch einen behutsamen
Briefwechsel und die vorsichtige Übersendung der wichtigsten
Neuerscheinungen vermochte Friedrich Schlegel wieder des
Freundes „Interesse an den Wissenschaften" zu erwecken. Am 7.
Mai 1797 sandte er ihm die gerade erschienene Übersetzung von
Romeo und Julia durch seinen Bruder. Der Band enthielt auch
die Übersetzung von A Midsummer Night's Dream, aus der sich
Novalis die berühmten Zeilen notierte:
Des Dichters Äug', in schönem Wahnsinn rollend,
Blitzt auf zum Himmel, blitzt zur Erd' hinab,
Und wie die schwangre Phantasie Gebilde
Von unbekannten Dingen ausgebiert,
Gestaltet sie des Dichters Kiel, benennt
Das luft'ge Nichts und gibt ihm festen Wohnsitz.
(5. Aufzug, 1. Szene.)
Novalis konzipierte in dieser Zeit seinen „magischen Idealismus",
seinen Idealrealismus der vollendeten Identität von Subjekt und
Objekt, Mensch und Welt. In dieser Auffassung des Zusammen-
hanges von Natur und Geist dachte er Schelling „weit zu über-
fliegen" (NO 4, 255) und die Welt als einen „Universaltropus"
oder ein „symbolisches Bild" des menschlichen Geistes zu den-
ken, wobei sich die diesseitige und die jenseitige Welt, Innen und
Außen, Mensch und Natur verschmelzen. Es handelt sich dabei
um die Ausformung jener „großen höchstwichtigen" und „alles
verändernden Idee" (NO 2, 595), von der auch in einem Brief
an Friedrich Schlegel vom 11. Mai 1798 die Rede ist und dort
auf dunkle Weise mit dem Unendlichkeitszeichen angedeutet ist:
oo (NO 4, 254).

1. Die Theorie der Revolution


Von allen Frühromantikern war Novalis am meisten für die
Zauberworte der revolutionären Geschichtsphilosophie: goldenes
Zeitalter und zukünftiges Reich der Vollendung aufgeschlossen

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Die Theorie der Revolution 147

und neigte von Natur aus am ehesten zum utopischen Denken.


Die Idee des „goldenen Zeitalters" ist überall in seinen Text
eingeschrieben, wobei Novalis diese Idee bald als zeitlos-mysti-
sches Erlebnis persönlicher Eschatologie, bald als „endliche"
Geschichtskategorie auffaßte, hier als ein in der Vergangenheit
liegendes Ideal, dort als futuristische Erwartung verstand, sie
sowohl als Bild wie als Begriff verwandte und gleicherweise in
der Dichtung wie im theoretischen Text zur Anwendung
brachte.' Mit dieser Idee des goldenen Zeitalters verbindet sich
bei Novalis die Idee der Revolution als dauernde Veränderung
unserer Denk- und Empfindungsweise.
Das wichtigste Dokument für diesen Gedankenkomplex ist
der kleine Essay Die Christenheit oder Europa von 1799. Nie-
mand wird diesen Text heute noch als „geschichtsphilosophische
Programmschrift der romantischen Reaktion" lesen, wie Georg
Lukacs dies Ende der vierziger Jahre tat 2 , oder als „Zurücknahme
des Realismus, der Aufklärung, der Reformation, der modernen
Naturwissenschaft, letztlich der bürgerlichen Emanzipation" an-
sehen, was Hans Mayer noch 1959 versuchte. 3 Der formale
Charakter dieses Textes besteht in seiner Eigenschaft als Rede,
in seiner rhetorischen Struktur. Vom Inhaltlichen her könnte man
ihn als eine Rede an das Zeitalter über die wichtigsten Aufgaben
der Epoche bezeichnen — Aufgaben, die sich nach der Franzö-
sischen Revolution vor allem in Deutschland ergaben. 4 Novalis
konzentriert sich auf den großen Umbruch in seiner Gegenwart
und glaubt sich der Tatsache bewußt zu sein, „daß die Zeit der

1
Siehe Hans-Joachim Mahl, Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk
des Novalis. Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen
Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen (Heidel-
berg: Winter 1965).
2
Georg Lukacs, Kurze Skizze einer Geschichte der neueren deutschen
Literatur (Neuwied: Luchterhand 1975), 79.
3
Hans Mayer, Von Lessing zu Thomas Mann. Wandlungen der bür-
gerlichen Literatur in Deutschland (Pfullingen: Neske 1959), 25.
4
Siehe Wilfried Maisch, ,Europa,. Poetische Rede des Novalis. Deu-
tung der französischen Revolution und Reflexion auf die Poesie in
der Geschichte (Stuttgart: Metzler 1965).

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148 Novalis und der Entwurf der absoluten Poesie

Auferstehung gekommen ist", daß die Geschichte des modernen


Unglaubens, die in der Französischen Revolution gipfelte, „der
Schlüssel zu allen ungeheuren Phänomenen der modernen Zeit"
sei (NO 3, 516). Er beschreibt diesen Anbruch einer neuen Zeit
auch unter dem Stichwort der Religion und kleidet seine gesamte
Argumentation in eine christliche Terminologie. In dieser Aus-
drucksweise lautet sein Projekt: „Daß die Zeit der Auferstehung
gekommen ist, und gerade die Begebenheiten, die gegen ihre
Belebung gerichtet zu sein schienen und ihren Untergang zu
vollenden drohten, die günstigen Zeichen ihrer Regeneration
geworden sind, dieses kann einem historischen Gemüte gar nicht
zweifelhaft sein" (NO 3, 517).
Nachdem Novalis in den einleitenden Abschnitten dieser Rede
mit Bildern eines idealisierten Mittelalters ein harmonisches po-
litisches Gemeinschaftsleben in Europa gezeichnet hatte, das im
wesentlichen auf Hierarchie und freiwilliger Unterwerfung be-
ruhte, wendet er sich mit dem Anbruch der Reformation dem
Zwiespalt der modernen Geschichte zu. Man könnte auch sagen,
daß er vom Mythos eines goldenen Zeitalters der Einheit in die
wirkliche Geschichte des modernen Europa eintritt, die man in
den Geschichtsphilosophien des frühen neunzehnten Jahrhun-
derts immer gern als einen großen Emanzipationsprozeß, einen
durch die Selbstbefreiung der Menschheit gekennzeichneten Ent-
wicklungsgang beschrieben hat. Novalis, der mit seiner Rede
von 1799 am Anfang dieses Geschichtsverständnisses steht, teilt
mit diesem Geschichtsbild viele Vorstellungen, die später zu
Klischees geworden sind. So sieht er zum Beispiel, um nur ein
Merkmal hervorzuheben, eine ungebrochene Linie von der Re-
formation über die rationalistische Aufklärung, die Französische
Revolution bis in das Innere der deutschen Philosophie hinein
— ein Liniendenken, das später durch Hegel, Heine und Marx
prominent wurde. Der Unterschied gegenüber diesen deutschen
Philosophen scheint bei Novalis darin zu bestehen, daß er all
diesen Phänomenen ein negatives Vorzeichen gibt, sie als Mani-
festationen der Geschichte des modernen Unglaubens ansieht.
Glauben und Liebe werden durch „Wissen und Haben" ersetzt
(NO 3, 510). Es entstand eine „höchst fremde irdische Wissen-
schaft" für Religionsangelegenheiten, die Philologie, welche zur

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Die Theorie der Revolution 149

„Vertrocknung des heiligen Sinns" führte (NO 3, 512). Eine „neue


Politik" löste den Universalismus mit dem Gefühl für individuelle
„körperliche Kraft auf Erden" auf (NO 3, 513). Auch die Ge-
genreformation der Jesuiten trug zu diesem Rationalisierungs-
prozeß bei, der sich dem „Zeitraum der triumphierenden Ge-
lehrsamkeit näherte", wo „Wissen und Glauben in eine entschie-
denere Opposition treten" (NO 3, 515). Novalis sagt: „Das
Resultat der modernen Denkungsart nannte man Philosophie
und rechnete alles dazu was dem Alten entgegen war, vorzüglich
also jeden Einfall gegen die Religion" (ib.).
Novalis beschreibt damit das siecle des lumieres, das Zeitalter
der französischen Aufklärung, das aber in seiner Darstellung
allen Glanz verloren hat. Diese Philosophie machte „die unend-
liche schöpferische Musik des Weltalls zum einförmigen Klap-
pern einer ungeheuren Mühle, die vom Strom des Zufalls getrie-
ben und auf ihm schwimmend, eine Mühle an sich, ohne Bau-
meister und Müller und eigentlich ein echtes Perpetuum mobile,
eine sich selbst mahlende Mühle sei". Kein anderer Enthusiasmus
war in dieser Zeit übriggeblieben als der für „diese herrliche,
großartige Philosophie und insbesondere für ihre Priester und
Mystagogen". Frankreich war „der Sitz dieses neuen Glaubens",
wo die Poesie verschrien war, das Heilige durch Sarkasmen
verleidet wurde und das Licht „wegen seines mathematischen
Gehorsams und seiner Frechheit" der neue „Liebling" geworden
war (NO 3, 516). In Deutschland suchte man ebenfalls „alles
Wunderbare und Geheimnisvolle" sorgfältig zu entfernen, was
sich hier vor allem darin äußerte, daß man „die Geschichte zu
einem häuslichen und bürgerlichen Sitten- und Familien-Gemälde
zu veredeln sich bemühte". Überall in Europa entstand diese
„neue europäische Zunft: die Philanthropen und Aufklärer" (ib.).
Was nun die Französische Revolution in diesem Entwicklungs-
gang anbetrifft, so bezeichnet sie die Krise in der allgemeinen
Geschichte des modernen Unglaubens. Als jene „große eiserne
Maske", die unter dem Namen Robespierre in der Französischen
Revolution umhergeht, „in der Religion den Mittelpunkt und die
Kraft der Republik suchte" (NO 3, 518), kam es zu deren erster
neuer Anerkennung, stieg der Geist der Religion aus der Mitte
ihrer Verneinung mit neuer Kraft hervor und manifestierte sich

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150 Novalis und der Entwurf der absoluten Poesie

von neuem trotz aller Bemühungen, sie auszulöschen. Novalis


bezieht sich hier auf das groteske Evangile de la Liberte. Adresse
a l'Etre supreme, par les Sans-Culottes de la Kepublique Fran-
faise, das Robespierre im Mai 1794 erließ und mit dem er, als
eine Art Hoherpriester der demokratischen Idee, seine absolute
Herrschaft zu konsolidieren suchte. Novalis empfand durchaus
den kalten Irrsinn, der in dieser Gestik zum Ausdruck kam, war
aber bereit, hier eines der Zeichen für den Umschwung anzuer-
kennen, den er sich freilich nicht mehr von Frankreich, sondern
von Deutschland erwartete.
In den Schlußabschnitten kommt Novalis dann zu seiner eige-
nen Interpretation der Zeitereignisse, bei denen er die Französi-
sche Revolution von einer Entwicklung viel größeren Ausmaßes
aufgenommen sieht. Kurz vorher hatte er die Frage erhoben:
„Soll die Revolution die französische bleiben, wie die Reforma-
tion die Lutherische war?" (NO 3, 518). Während sich von den
anderen europäischen Ländern erst nach dem „Frieden", das
heißt nach der Beendigung der von Frankreich ausgehenden
Unruhen, ein „neues höheres Leben" erwarten läßt, kann man
in Deutschland bereits „mit voller Gewißheit die Spuren einer
neuen Welt aufzeigen" (NO 3, 519). Sucht man diese Spuren
genauer zu bestimmen, dann zeigen sie sich als Arbeit zur Bildung
„einer höheren Epoche der Kultur", als „gewaltige Gärung in
Wissenschaften und Künsten", als „Vielseitigkeit ohne Gleichen".
Alle diese Anzeichen sind noch „unzusammenhängend und roh",
aber sie verraten bereits dem, der mit einem „historischen Auge"
ausgestattet ist, „eine universelle Individualität, eine neue Ge-
schichte, eine neue Menschheit" (ib.). Fragt man genauer nach
diesem sich im Gefühl des Epochenbruchs ankündigenden neuen
Zeitalter, dann fällt Novalis sofort in die mythische, poetische
Sprache zurück, mit der er zu Anfang das goldene Zeitalter der
Vergangenheit beschrieben hatte. Mit surrealistischer Note sagt
er:
Das Neugeborne wird das Abbild seines Vaters, eine neue goldene
Zeit mit dunklen unendlichen Augen, eine prophetische wundertätige
und wundenheilende, tröstende und ewiges Leben entzündende Zeit
sein — eine große Versöhnungszeit, ein Heiland, der wie ein echter
Genius unter den Menschen einheimisch, nur geglaubt nicht gesehen

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Absoluter Idealismus 151

werden kann, und unter zahlreichen Gestalten den Gläubigen sichtbar,


als Brot und Wein verzehrt, als Geliebte umarmt, als Luft geatmet,
als Wort und Gesang vernommen, und mit himmlischer Wollust, als
Tod, unter den höchsten Schmerzen der Liebe, in das Innre des
verbrausenden Leibes aufgenommen wird (NO 3, 519-20).
Auch in bezug auf den Zeitpunkt dieses Übergangs läßt uns
Novalis im Unklaren. Im rhetorischen Duktus seiner Rede ver-
sichert er seinen Zeitgenossen: „Wann und wann eher? darnach
ist nicht zu fragen. Nur Geduld, sie wird, sie muß kommen die
heilige Zeit des ewigen Friedens, wo das neue Jerusalem die
Hauptstadt der Welt sein wird; und bis dahin seid heiter und
mutig in den Gefahren der Zeit, Genossen meines Glaubens,
verkündigt mit Wort und Tat das göttliche Evangelium, und
bleibt dem wahrhaften, unendlichen Glauben treu bis in den
Tod" (NO 3, 524).

2. Absoluter Idealismus

Der Tod der Sophia von Kühn hatte den größten denkbaren
Einfluß auf die dichterischen und spekulativen Pläne des Novalis
und kann als der Zeitpunkt angesehen werden, an dem er seine
eigene Gedankenwelt in ihren eigentümlichen Konturen zu ent-
wickeln beginnt. An die Stelle der Subjekt-zentrierten Ichphilo-
sophie, die ihm von Fichte her vertraut war, treten philosophische
und theoretische Überlegungen, in denen er das Subjekt durch
das Objekt, den Menschen durch die Natur, diese Welt durch
das Jenseits zu ergänzen suchte. Er berichtete Friedrich Schlegel
zu dieser Zeit, daß Schellings Philosophie in ihm „einen neugie-
rigen Leser" gefunden hatte (NO 4, 226). Am 4. Juni 1797 schrieb
er: „Mit Schelling such ich je eher je lieber bekannt zu werden.
In einem Stücke entspricht er mir mehr, als Fichte. Ich will bald
wissen, was ich an ihm haben kann" (NO 4, 230). Die Bedeutung
Schellings war zweifellos groß für Novalis, aber sie äußerte sich
ähnlich wie der Einfluß von Fichte. Während er sich darum
bemühte, den grundlegenden Impuls und die für ihn fruchtbarste
Anregung Schellings, das Bestreben einer umfassenden Synthese
von Natur und Geist aufzunehmen, ließ er aber das fallen, was

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152 Novalis und der Entwurf der absoluten Poesie

er als die Begrenzung Schellings ansah: nämlich die systematische


Form. Schellings zentraler Idee gab er dann einen viel weiteren
Interpretationsrahmen als den einer bloß philosophischen Aus-
gestaltung. Als Novalis Friedrich Schlegel von seiner „Entdek-
kung der Religion des sichtbaren Weltalls" berichtete, fügte er
sofort hinzu: „Ich denke hier, Schelling weit zu überfliegen" (NO
4, 255) — als hätte die Formulierung „Religion des sichtbaren
Weltalls" dies nicht schon bereits angekündigt. Am 11. Mai 1798,
mehr als ein Jahr nach dem Tode Sophias, teilte er Friedrich
Schlegel mit, er hätte „eine sehr große, sehr fruchtbare Idee"
entwickelt, „die einen Lichtstrahl der höchsten Intensität auf das
Fichtische System wirft", und entschuldigte sich zu diesem Zeit-
punkt dafür, daß er des Freundes „Neugierde spanne, ohne sie
zu befriedigen". Er deutete diese Idee damals nur dadurch an,
daß er sie mit dem mathematischen Zeichen für die Unendlichkeit
bezeichnete oo (NO 4, 254).
Der wichtigste Text dieser Zeit ist die Sammlung von 114
Fragmenten, die Novalis unter dem Titel Blutenstaub im Athe-
näum veröffentlichen ließ (NO 2, 413 -463)5. Fragment 14 führt
die neue Denkweise in wechselbezogenen, oszillierenden Anti-
nomien ein, wenn Novalis darin das Leben als „Anfang des
Todes" bezeichnet und den Tod als „Endigung und Anfang
zugleich, Scheidung und nähere Selbstverbindung zugleich" (NO
2, 417). Das kompakteste dieser Fragmente ist die Nummer 16,
die folgenden Text bietet:
Die Phantasie setzt die künftige Welt entweder in die Höhe, oder in
die Tiefe, oder in der Metempsychose zu uns. Wir träumen von
Reisen durch das Weltall — Ist denn das Weltall nicht in uns? Die
Tiefen unsers Geistes kennen wir nicht - Nach Innen geht der
geheimnisvolle Weg. In uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren
Welten — die Vergangenheit und Zukunft. Die Außenwelt ist die
Schattenwelt - Sie wirft ihren Schatten in das Lichtreich. Jetzt

5
Blutenstaub heißt die Version die F. Schlegel im Athenäum mit einigen
editorischen Eingriffen veröffentlichte. Vermischte Bemerkungen ist
der Titel der umfangreicheren handschriftlichen Fassung, die in der
kritischen Ausgabe zusammen mit Blutenstaub als Spiegeldruck ver-
öffentlicht ist: NO 2, 412-470.

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Absoluter Idealismus 153

scheints uns freilich innerlich so dunkel, einsam, gestaltlos - Aber


wie ganz anders wird es uns dünken — wenn diese Verfinsterung
vorbei, und der Schattenkörper hinweggerückt ist - Wir werden
mehr genießen als je, denn unser Geist hat entbehrt (NO 2, 418).
Diese Ausdehnung und Umkehrung der gewöhnlichen Per-
spektiven führt zu den erstaunlichsten Annahmen. Das Leben
erscheint als Zufall, ein Spiel von Zufällen und Begebenheiten,
das wie alles Spiel Überraschung und Täuschung enthält. Viele
Omen der gemeinen Leute beziehen sich auf diesen „verkehrten
Zusammenhang": „So z. B. bedeuten böse Träume Glück; tot-
sagen langes Leben; ein Hase, der übern Weg läuft, Unglück.
Fast der ganze Aberglaube des gemeinen Volks beruht auf Deu-
tungen dieses Spiels". Jedoch behandelt die Einbildungskraft
eines großen Dichters wie Goethe die Dinge auf ähnliche Weise,
wenn er sich „auf poetische Weise mit einem mysteriösen Spiel"
beschäftigt (NO 2, 425). Dies ist sogar eine unserer wichtigsten
intellektuellen Aktivitäten: „Alle Zufälle unsers Lebens sind Ma-
terialien, aus denen wir machen können, was wir wollen. Wer
viel Geist hat, macht viel aus seinem Leben. Jede Bekanntschaft,
jeder Vorfall, wäre für den durchaus Geistigen erstes Glied einer
unendlichen Reihe, Anfang eines unendlichen Romans" (NO 2,
437 — 39). Zuletzt ist der breite Poesiebegriff des Novalis, der die
Mythologie, die Religion und die Philosophie umschließt, das
Resultat dieser sich stets ausweitenden Synthesen. Im Fragment
71 sagt er:
Dichter und Priester waren im Anfang Eins, und nur spätere Zeiten
haben sie getrennt. Der echte Dichter aber ist immer Priester, so wie
der echte Priester immer Dichter geblieben. Und sollte nicht die
Zukunft den alten Zustand der Dinge wieder herbeiführen? (NO 2,
441).
Am besten lassen sich die Konturen des neuen Ideal-Realismus
des Novalis verdeutlichen, wenn man seine Konzeption gegen
Schellings Exposition der Identitätsphilosophie projiziert. Es gibt
zwei Texte, die sich für eine solche Gegenüberstellung besonders
eignen: Schellings Einleitung zu seinem System des transzenden-
talen Idealismus von 1800 und eine Sektion aus den Fragmenten
des Novalis, welche den Titel Das allgemeine Brouillon (Mate-

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154 Novalis und der Entwurf der absoluten Poesie

nahen zur Enzyklopädistik 1798/99) trägt (NO 3, 242-478) und


einen Gedanken artikuliert, der zuerst in den Teplitzer Fragmen-
ten verzeichnet ist: „Die Welt ist ein Universaltropus des Geistes
- Ein symbolisches Bild desselben" (NO 2, 600). In seinem
System des transzendentalen Idealismus sucht Schelling ein Sy-
stem der Gesamtheit des Wissens aufzustellen (FWJS SW 3, 330),
und das beste Verfahren für ein solches Bestreben ist für ihn,
alle Teile der Philosophie in einer großen Kontinuität, d. h. als
eine fortschreitende Geschichte des Selbstbewußtseins darzustel-
len (FWJS SW 3, 331). Ein besonders wichtiger Aspekt in diesem
gradmäßigen Aufstieg, in dem das Ich sich zur höchsten Form
seines Selbstbewußtseins erhebt, ist für Schelling der Parallelis-
mus zwischen der Natur und der Intelligenz, der zwar schon
vorher vermutet worden war, aber weder in der Transzenden-
talphilosophie noch in der isolierten Naturphilosophie voll erfaßt
werden konnte, da er erst durch die Wechselwirkung dieser
beiden Wissenschaften voll zum Ausdruck kommen kann. Die-
selben Potenzen von Intuition, die im Ich wirksam sind, können
hier bis zu einem gewissen Grade auch in der Natur gezeigt
werden (FWJS SW 3, 332), und die letzte Grundlage der Har-
monie zwischen dem Subjekt und dem Objekt besteht dann
konsequenterweise in dem Prinzip der absoluten Identität zwi-
schen beiden (FWJS SW 3, 333).
In dem Abschnitt, der für eine Konfrontation mit Novalis
dienen soll, verfolgt Schelling nicht diesen langen und schwieri-
gen Weg einer graduellen Geschichte des Bewußtseins, sondern
den schnelleren Nachweis, daß in jeder Erkenntnis das Objektive
und Subjektive so instantan miteinander vereinigt sind, daß wir
nicht sagen können, welches von ihnen das erste ist (FWJS SW
3, 339). Der Beweis dieser Behauptung wird von Schelling mit
dem Nachweis geliefert, daß es wenig ausmacht, ob ich bei dem
einen oder dem anderen Pol ansetze, da ich schließlich vom einen
zum anderen getrieben werde. Dies ist die entscheidende Stelle
in Schellings systematischer Darstellung des absoluten Idealis-
mus, von der Hegel später in seinen Vorlesungen über die Ge-
schichte der Philosophie sagte: „Die Natur treibt sich zum Geist,
der Geist zur Natur fort" (HEG 20, 424). Schelling führt die
Demonstration einer Wechselwirkung zwischen diesen beiden

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Absoluter Idealismus 155

Polen dadurch aus, daß er den „Inbegriff alles bloß Objektiven"


Natur und den „Inbegriff alles Subjektiven" das Ich oder die
Intelligenz nennt und dann zeigt, daß in jedem Akt des Wissens
„ein wechselseitiges Zusammentreffen beider" notwendig ist.
Hierbei sind „Objektives und Subjektives so vereint, daß man
nicht sagen kann, welchem von beiden die Priorität zukomme".
Der eigentliche Beweis wird damit geliefert, daß zuerst „das
Objektive zum Ersten gemacht" und dann gefragt wird, „Wie
ein Subjektives hinzukomme, das mit ihm übereinstimmt?" (ib.),
sodann aber das „Subjektive zum Ersten gemacht" und gefragt
wird: „Wie ein Objektives hinzukomme, das mit ihm überein-
stimmt?" (FWJS SW 3, 41). Der erste Teil des Beweises kommt
mit dem Nachweis zustande, daß jedem Akt der Naturerkenntnis
das Bestreben zugrundeliegt, „in die Naturerscheinungen Theorie
zu bringen" und die „höchste Vervollkommnung der Naturwis-
senschaft" folglich in der „vollkommenen Vergeistigung aller
Naturgesetze zu Gesetzen des Anschauens und Denkens" besteht.
Optische Phänomene sind hiernach „nichts anderes als eine Geo-
metrie"; in den Phänomenen des Magnetismus „verschwindet
schon alle materielle Spur"; und von den Phänomenen der Gra-
vitation „bleibt nichts zurück als ihr Gesetz, dessen Ausführung
im großen der Mechanismus der Himmelsbewegungen ist".
Schelling sagt: „Das höchste Ziel, sich selbst ganz Objekt zu
werden, erreicht die Natur erst durch die höchste und letzte
Reflexion, welche nichts anderes als der Mensch, oder, allge-
meiner, das ist, was wir Vernunft nennen, durch welche zuerst
die Natur vollständig in sich selbst zurückkehrt, und wodurch
offenbar wird, daß die Natur ursprünglich identisch ist mit dem,
was in uns als Intelligentes und Bewußtes erkannt wird" (FWJS
SW 3, 340). Auf umgekehrte Weise ist in der Erkenntnis des
Subjekts die der Natur oder des Objekts mit Inbegriffen, wie in
der Transzendental-Philosophie offenbar wird, welche die um-
gekehrte Richtung verfolgt, „vom Subjektiven, als vom Ersten
und Absoluten, auszugehen, und das Objektive aus ihm entstehen
zu lassen" (FWJS SW 3, 342). Mit diesem Wechselbeweis hatte
sich Schelling, wie er sagt, „einen Blick in das ganze System der
Philosophie verschafft, das, wie man sieht, durch zwei Grund-
wissenschaften vollendet wird, die, einander entgegengesetzt im

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156 Novalis und der Entwurf der absoluten Poesie

Prinzip und der Richtung, sich wechselseitig suchen und ergän-


zen" (FWJS SW 3, 343).
In der betreffenden Sektion seines Allgemeinen Brouillon, auf
die es hier ankommt, geht Novalis ebenfalls von der sich gegen-
seitig durchdringenden Erkenntnis der Natur und des eigenen
Selbst aus, aber seine Gedanken bewegen sich weit aus der
disziplinären Enge der Philosophie hinaus und lassen ebenfalls
die systematischen Schranken aus Schellings „Beweisgang" zu-
gunsten einer freieren Gedankenentwicklung hinter sich zurück.
Der Bereich der Natur erscheint hier als das „Unbekannte, Ge-
heimnisvolle", das „Resultat, und der Anfang von allem". „Was
sich nicht begreifen läßt ist im unvollkommnen (Natur) Zu-
stande", sagt er oder: „Die Natur ist unbegreiflich per se. Ruhe
und gebildete Unbegreiflichkeit". Was unbegreiflich ist, soll aber
„allmählich begreiflich gemacht werden" (NO 3, 302). Das ge-
schieht im Falle der Natur durch ihr Begreifen als einen „Uni-
versaltropus des menschlichen Geistes, ein symbolisches Bild
desselben" (NO 2, 600). Denn wir „kennen nur eigentlich, was
sich selbst kennt", d. h. unser eigenes Selbst. Jedoch fügt Novalis
hinzu: „Die Erkenntnis ist ein Mittel, um wieder zur Nichter-
kenntnis zu gelangen" (ib.), was natürlich heißt, daß der feste
Punkt unserer Kenntnis und unseres Wissen im Selbst, der zur
Naturerkenntnis diente, von der Unbegreiflichkeit der Natur
absorbiert und aufgezehrt wird. Während Schelling in der Wech-
selwirkung seiner „zwei Wissenschaften" eine fortschreitende
Produktion des absoluten Wissens sah, richtet sich Novalis in
einer kritischen und subtileren Reflexion auf die Unbegreiflich-
keit und „Unendlichkeit" dieser Beziehung von Mensch und
Natur.
Wilhelm Dilthey machte die Interpretation dieses Abschnitts
zu einem wichtigen Teil seines Novalis-Essay und sah seinen
bedeutendsten Aspekt in seiner deutlichen Verschiedenheit von
Schellings Gesichtspunkt. Er charakterisierte die Perspektive des
Novalis als „dichterische Naturanschauung" und sagte: „Überall
aber durchdringt ein Geist dichterischer Gestaltung seine Theo-
rie."6 Indem er Wendungen aus dem gerade zitierten Text para-
6
Wilhelm Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing, Goethe,
Hölderlin, Novalis, 3. Aufl. (Leipzig: Teubner 1910), 304.

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Das wahrhaft Poetische 157

phrasiert, charakterisiert Dilthey den Gesichtspunkt des Novalis


folgendermaßen:
Wir kennen eigentlich nur das, was sich selbst kennt. Von diesem
tiefsinnigen Gedanken aus erscheint die Konsequenz natürlich: die
Natur ist unbegreiflich per se. Sie ist es gar nicht aus einem zufälligen
Grunde, sondern sofern das Licht des Bewußtseins sie nur von außen
trifft. Sie erscheint nun aber als ein Universaltropus des menschlichen
Geistes, d. h. als ein symbolisches Bild desselben. Demgemäß ist sie
durch diesen allein verständlich. Und wie nun Hardenberg in betreff
des innersten Geheimnisses unserer selbst in unaufhörlichen Vermu-
tungen begriffen ist: so sieht er auch das diesem entsprechende In-
nerste der Natur wie in den wechselnden Beleuchtungen solcher auf-
und absteigender letzter Konzeptionen.
Dilthey schließt seine Analyse des von Novalis vertretenen Stand-
punktes mit der Beobachtung:
Ganz deutlich ist nur die negative Erkenntnis, daß die Welt, wie wir
sie nicht anders als nach Analogie unseres Ich aufzufassen vermögen,
nicht aus der Vernunft, als dem Grundcharakter desselben erklärt
werden könne, sondern aus einer gärenden Tiefe dieses Ichs, welche,
uns selber Geheimnis, in Wille, Gemüt oder Einbildungskraft min-
destens ebenso primär hervorbreche. 7

3. Das wahrhaft Poetische

Man geht sicher nicht fehl, wenn man die vorher erwähnte, von
Novalis entwickelte „sehr große, sehr fruchtbare Idee" (NO 4,
254) in der Ausbildung dieses Idealrealismus der vollendeten
Übereinstimmung von Subjekt und Objekt erblickt, der mit der
dichterischen Anschauung der Welt durch Novalis identisch wird.
Ein beliebtes Beispiel, die Macht des Poetischen in unserem
Umgang mit der Welt zu beschreiben, ist für ihn die Sprache,
die der Dichter aber nicht im Sinne „allgemeiner Zeichen",
sondern als „Töne", als „Zauberworte" benutzt. Novalis ver-
gleicht die Sprache des Dichters auch mit den „Kleidern der
Heiligen", die „noch wunderbare Kräfte" besitzen. Wir können

7
Wilhelm Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung, 306.

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158 Novalis und der Entwurf der absoluten Poesie

nicht sagen, daß die Sprache für den Dichter „zu arm" ist,
sondern höchstens, daß sie „immer zu allgemein" für ihn ist und
deshalb durch häufige Wiederholung der „Gebrauch ausgespiel-
ter Worte" verlebendigt werden muß: „Seine Welt ist einfach,
wie sein Instrument — aber eben so unerschöpflich an Melodien"
(NO 2, 533).
Eine andere Verfahrensweise, die besondere Natur der Poesie
zu illustrieren, besteht für Novalis darin, sie mit anderen Kün-
sten, besonders der Malerei und Musik zu vergleichen. Ähnlich
wie der Maler, der die sichtbaren Dinge dieser Welt mit anderen
Augen sieht als denen der gewöhnlichen Menschen, sieht der
Dichter die Ereignisse der inneren und äußeren Welt auf eine
andere als die gewöhnliche Weise. Keine Kunst kann jedoch
besser als die Musik die Besonderheit der Poesie verdeutlichen.
Novalis sagt:
Nirgends aber ist es auffallender, daß es nur der Geist ist, der die
Gegenstände, die Veränderungen des Stoffs poetisiert, und daß das
Schöne, der Gegenstand der Kunst uns nicht gegeben wird oder in
den Erscheinungen schon fertig liegt — als in der Musik. Alle Töne,
die die Natur hervorbringt sind rauh — und geistlos — nur der
musikalischen Seele dünkt oft das Rauschen des Waldes - das Pfeifen
des Windes, der Gesang der Nachtigall, das Plätschern des Bachs
melodisch und bedeutsam. Der Musiker nimmt das Wesen seiner
Kunst aus sich — auch nicht der leiseste Verdacht von Nachahmung
kann ihn treffen (NO 2, 573-74).
Diese besondere Qualität der Wahrnehmung gilt natürlich
auch für den Maler, mit dem einzigen Unterschied, daß er sich
„einer unendlich schwereren Zeichensprache bedient als der Mu-
siker, indem er mit dem Auge malt". Letztlich ist aber fast jeder
Mensch „in geringem Grad schon Künstler": „Er sieht in der Tat
heraus und nicht herein — Er fühlt heraus und nicht herein."
Der wichtigste Unterschied besteht nur in folgendem: „der Künst-
ler hat den Keim des selbstbildenden Lebens in seinen Organen
belebt — die Reizbarkeit derselben für den Geist erhöht und ist
mithin imstande Ideen nach Belieben — ohne äußre Sollizitation
— durch sie heraus zu strömen — Sie, als Werkzeuge, zu belie-
bigen Modifikationen der wirklichen Welt zu gebrauchen (NO
2, 574).

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Das wahrhaft Poetische 159

An einer anderen Stelle nennt Novalis das künstlerische Ver-


mögen des Menschen bei seinem Namen und sagt: „Die Einbil-
dungskraft ist der wunderbare Sinn, der uns alle Sinne ersetzen
kann — und der so sehr schon in unsrer Willkür steht. Wenn
die äußern Sinne ganz unter mechanischen Gesetzen zu stehn
scheinen — so ist die Einbildungskraft offenbar nicht an die
Gegenwart und Berührung äußrer Reize gebunden" (NO 2, 650).
In einem anderen Fragment vergleicht er die künstlerische Tätig-
keit mit der Arbeitsweise des Instinkts und sagt: „Instinkt ist
Kunst ohne Absicht — Kunst, ohne zu wissen wie und was man
macht. Der Instinkt läßt sich in Kunst verwandeln — durch
Beobachtung der Kunsthandlung. Was man also macht, das läßt
sich am Ende kunstmäßig zu machen, erlernen. Kunst das Lä-
cherliche und Romantische hervorzubringen" (NO 3, 287). Von
hier aus betrachtet erscheint die Poesie als „willkürlicher, tätiger,
produktiver Gebrauch unsrer Organe", wenn wir darunter unsere
natürliche Ausstattung als Menschen, einschließlich der Organe
unserer Wahrnehmung und Erkenntnis verstehen. In der Tat sagt
Novalis auch, daß das „Denken selbst nicht viel etwas anders"
sei und „Denken und Dichten also einerlei" wären (NO 3, 563).
Der besondere Punkt in diesem Fragment besteht natürlich darin,
daß das Denken auf der Seite der natürlichen, unbewußten,
instinktiven Tätigkeiten des Geistes verzeichnet ist, während das
Dichten als intentionale, bewußte Aktion gesehen wird. Jedoch
sah Novalis die von den Brüdern Schlegel vertretene Intentio-
nalität der Kunst als viel zu radikal an, da sie seiner Ansicht
nach die natürliche Komponente eines instinktiven, unbewußten
Schaffens vermissen ließ. In einem Shakespeare gewidmeten Frag-
ment äußert er sich über diese Verhältnisse, wobei die Wahl
Shakespeares damit zu erklären ist, daß dieser Dramatiker für
August Wilhelm Schlegel das hervorragende Beispiel eines be-
wußten, intentionalen, durch und durch künstlerischen Schaffens
gewesen ist:
Schlegels übersehen, indem sie von der Absichtlichkeit und Künst-
lichkeit der Shakespearschen Werke reden — daß die Kunst zur Natur
gehört, und gleichsam die sich selbst beschauende, sich selbst nach-
ahmende, sich selbst bildende Natur ist. Die Kunst einer gut entwik-
kelten Natur ist freilich von der Künstelei des Verstandes, des bloß

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160 Novalis und der Entwurf der absoluten Poesie

räsonnierenden Geistes himmelweit verschieden. Shakespeare war


kein Kalkulator - kein Gelehrter — er war eine mächtige, bunt-
kräftige Seele, deren Erfindungen und Werke, wie Erzeugnisse der
Natur das Gepräge des denkenden Geistes tragen und in denen auch
der letzte scharfsinnige Beobachter noch neue Übereinstimmungen
mit dem unendlichen Gliederbau des Weltalls — Begegnungen mit
spätem Ideen, Verwandtschaften mit den höhern Kräften und Sinnen
der Menschheit finden wird. Sie sind sinnbildlich und vieldeutig,
einfach und unerschöpflich, wie jene und es dürfte nichts sinnloseres
von ihnen gesagt werden können, als daß sie Kunstwerke in jener
eingeschränkten, mechanischen Bedeutung des Worts seien (NO 3,
569).
Insgesamt betrachtet zeigen diese Fragmente über die Natur
des Poetischen ein Schwanken, Oszillieren und geschicktes Ge-
wichtverlagern, was die Hervorhebung der künstlerischen oder
natürlichen, der intentionalen oder instinktiven Tendenz der Poe-
sie anbetrifft. Einige dieser Fragmente betonen mehr die subjek-
tive Seite der Dichtungskraft, andere wie das über Shakespeare
neigen sich mehr der Seite der Natur zu. Indem er auf derart
schillernde Weise über diese Verhältnisse spricht, scheint Novalis
die Herausarbeitung einer systematischen Lösung und eines end-
gültigen Resultates vermeiden zu wollen, um die Reflexion für
weitere Entdeckungen offen zu halten.
Ein anderer charakteristischer Zugangsweg zur Natur der
Poesie besteht für Novalis in der Analogie mit dem Gemüt. Ein
Fragment, in dem dies Thema anklingt, lautet: „Poesie ist wahr-
hafter Idealismus — Betrachtung der Welt, wie Betrachtung eines
großen Gemüts - Selbstbewußtsein des Universums" (NO 3,
640). Daß die Poesie „Darstellung des Gemüts — der innern
Welt in ihrer Gesamtheit" ist, geht für Novalis bereits aus ihrem
„Medium", d. h. ihren Worten, ihrer Sprache hervor, die ja die
„äußere Offenbarung jenes innren Kraftreichs" sind (NO 3, 650).
Wie jedoch die Darstellung der Natur „selbsttätig, eigentümlich
allgemein, verknüpfend und schöpferisch" sein muß, so soll auch
die Darstellung des Gemüts nie so „wie es ist, sondern wie es
sein könnte, und sein muß" sein (ib.). In einem Fragment be-
schreibt Novalis die eigentümliche Weise des Verknüpfens, die
durch das Gemüt zustandekommt und damit das Vorbild des
Poetischen ist, auf genauere Weise:

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Das wahrhaft Poetische 161

In unserem Gemüt ist alles auf die eigenste, gefälligste und lebendigste
Weise verknüpft. Die fremdesten Dinge kommen durch einen Ort,
eine Zeit, eine seltsame Ähnlichkeit, einen Irrtum, irgendeinen Zufall
zusammen. So entstehn wunderliche Einheiten und eigentümliche
Verknüpfungen — und eins erinnert an alles - wird das Zeichen
vieler und wird selbst von vielen bezeichnet und herbeigerufen.
Verstand und Phantasie werden durch Zeit und Raum auf das son-
derbarste vereinigt und man kann sagen daß jeder Gedanke, jede
Erscheinung unsers Gemüts das individuelle Glied eines durchaus
eigentümlichen Ganzen ist (NO 3, 650-51).
Wegen dieser engen Beziehung zwischen Gemüt und Poesie fällt
die Überlegung, ob „am Ende alles Poesie wird", mit der Frage
zusammen: „Wird nicht die Welt am Ende, Gemüt?" (NO 3,
654). Die Nachforschung über die Natur der Poesie bleibt jedoch
eine unendliche Aufgabe und kann nicht durch ein endgültiges
Resultat abgeschlossen werden: „Worin eigentlich das Wesen der
Poesie bestehe, läßt sich schlechthin nicht bestimmen. Es ist
unendlich zusammengesetzt und doch einfach. Schön, roman-
tisch, harmonisch sind nur Teilausdrücke des Poetischen" (NO
3, 690).
In diesem Zusammenhang formuliert Novalis seine avantgar-
distischen Ansichten über die Poesie. In einem dieser Fragmente
charakterisiert er die Poesie als „Gemütserregungskunst", als
„innere Malerei und Musik", die wie ein „mechanisches Instru-
ment" in der Lage ist, „innre Stimmungen, und Gemälde oder
Anschauungen hervorzubringen — vielleicht auch geistige
Tänze" (NO 3, 639). Bei einem solchen Verfahren verwendet der
Dichter „die Dinge und Worte, wie Tasten und die ganze Poesie
beruht auf tätiger Ideenassoziation — auf selbsttätiger, absicht-
licher, idealischer Zufallproduktion" (NO 3, 451). Einheit und
Zusammenhang scheinen in einer solchen Dichtung aufgehoben
zu sein. Novalis sagt: „Ein Märchen ist eigentlich wie ein Traum-
bild — ohne Zusammenhang — Ein Ensemble wunderbarer
Dinge und Begebenheiten — z. B. eine musikalische Phantasie —
die Harmonischen Folgen einer Äolsharfe — die Natur selbst"
(NO 3, 454). Er fügt hinzu: „Wird eine Geschichte ins Märchen
gebracht, so ist dies schon eine fremde Einmischung". Denn dann
entsteht „Verstand", „Zusammenhang", „Bedeutung" (NO 3,
454 — 55). An einer anderen Stelle heißt es:

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162 Novalis und der Entwurf der absoluten Poesie

Erzählungen, ohne Zusammenhang, jedoch mit Assoziation, wie


Träume. Gedichte - bloß wohlklingend und voll schöner Worte —
aber auch ohne allen Sinn und Zusammenhang — höchstens einzelne
Strophen verständlich — sie müssen, wie lauter Bruchstücke aus den
verschiedenartigsten Dingen sein. Höchstens kann wahre Poesie einen
allegorischen Sinn im großen haben und eine indirekte Wirkung wie
Musik etc. tun - Die Natur ist daher rein poetisch - und so die
Stube eines Zauberers — eines Physikers — eine Kinderstube - eine
Folter und Vorratskammer (NO 3, 572).
Der nach außen und innen gerichteten Tendenz der Poesie
entsprechen auch zwei besondere Bewegungsrichtungen der Poe-
sie, die sich mit Friedrich Schlegels Rhythmus von „Selbstschöp-
fung" und „Selbstvernichtung" vergleichen lassen8, von Novalis
aber als „Romantisieren" und „Logarithmisieren", als „Erhö-
hung" und „Erniedrigung" bezeichnet werden. In der einen Be-
wegungsrichtung reicht der Geist in das Geheimnisvolle und
Unbekannte hinaus, in der anderen kehrt er in das Bekannte und
Gewöhnliche zurück. Das bekannteste Fragment zu diesem
Thema lautet:
Die Welt muß romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen
Sinn wieder. Romantisieren ist nichts, als eine qualitative Potenzie-
rung. Das niedre Selbst wird mit einem bessern Selbst in dieser
Operation identifiziert. So wie wir selbst eine solche qualitative
Potenzenreihe sind. Diese Operation ist noch ganz unbekannt. Indem
ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheim-
nisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem
Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisiere ich es —
Umgekehrt ist die Operation für das Höhere, Unbekannte, Mystische,
Unendliche — dies wird durch diese Verknüpfung logarithmisiert —
Es bekommt einen geläufigen Ausdruck. Romantische Philosophie.
Lingua romana. Wechselerhöhung und Erniedrigung. (NO 2, 545).
An einer anderen Stelle bezeichnet er die Wechselbeziehung zwi-
schen diesen beiden Bewegungen auch als „Umkehrungsme-
thode", d. h. als eine Verfahrensweise, „die uns beim Studium
der Natur auf uns selbst, auf innere Beobachtung und Versuch,
und beim Studium unsrer Selbst, auf die Außenwelt, auf äußre
Beobachtungen und Versuche verweist". Novalis sagt:

8
Siehe das Kapitel IX, 2.

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Das wahrhaft Poetische 163

Sie läßt uns die Natur, oder Außenwelt, als ein menschliches Wesen
ahnden — Sie zeigt, daß wir alles nur so verstehen können und sollen,
wie wir uns selbst und unsre Geliebten, uns und euch verstehn.
Wir erblicken uns im System, als Glied — mithin in auf und abstei-
gender Linie, vom Unendlich kleinen bis zum Unendlich Großen —
Menschen von unendlichen Variationen (NO 3, 429).
In dieser Erkenntnis, daß wir „alles Fremde nur durch Selbst-
fremdmachung — Selbstveränderung — Selbstbeobachtung" ver-
stehen, bestanden für Novalis die „Wahren Bande der Verknüp-
fung von Subjekt und Objekt". Damit wird deutlich, „daß es
auch eine Außenwelt in uns gibt, die mit unserm Innern in einer
analogen Verbindung, wie die Außenwelt außer uns mit unserm
Äußern und jene und diese so verbunden sind, wie unser Innres
und Äußres" (ib.). Deutlicher noch als in diesen theoretischen
und fragmentarischen Formulierungen kommen die Anschau-
ungen des Novalis über das wahrhaft Poetische in seiner Dich-
tung zum Ausdruck. 9

9
Siehe die Kapitel VII, 2 und VIII, 3.

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