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ARMAND N I V E L L E
FRÛHROMANTISCHE
DICHTUNGSTHEORIE
WALTER D E G R U Y T E R & CO
B E R L I N 1970
©
Ardiiv-Nr. 495670/1
Copyright 1970 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Gösdien'sche Verlagshand-
lung —• J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer -— Karl J. Trübner —•
Veit & Comp., Berlin 30 —• Printed in Germany — Alle Rechte des Nachdrucks, der
Ubersetzung, der photomechanischen Wiedergabe und der Anfertigung von Mikro-
filmen — auch auszugsweise — vorbehalten.
Satz und Drude: Thormann & Goetsch, Berlin
Fur André und Eveline
INHALT
Seite
Vorwort 1
Literaturverzeichnis 199
Namenregister 217
Sachregister 219
VII
VORWORT
1
1 Nivelle
VORWORT
Ebensowenig wie der erste erstrebt dieser zweite Band eine rein
geschichtliche Darstellung. Er bietet keine Rekonstruktion der Vergan-
genheit in ihrem chronologischen Ablauf. Nicht der Historiker kommt
hier zu Wort, sondern der poetisch und philosophisch Interessierte. Ich
weiß, daß ich mich mit solcher Einstellung und Arbeitsweise unausweich-
lich in die Polemik — die ich gerne vermeiden möchte — begebe.
Petersen, Schlagdenhauffen und manche anderen haben die Möglichkeit
einer Wesensbestimmung der Romantik, die nicht auf dem Weg der
historischen Darstellung gewonnen wäre, geleugnet. Freilich hat Petersen
recht, wenn er behauptet, die von den Frühromantikern aufgestellten
Definitionen der Romantik seien widerspruchsvoll und ziemlich willkür-
lich, und ihre Nebeneinandersetzung ergebe nur eine unzusammenhän-
gende und unzuverlässige Vorstellung. Es stimmt auch, daß der Forscher
mehr Aussicht hat, ein richtiges Gesamtbild zu bekommen, wenn er den
historischen Werdegang der Anschauungen verfolgt. Es wäre töricht,
diese Tatsache in Frage stellen zu wollen. Nur die angebliche Allein-
berechtigung der historischen Sehweise erweckt meine Bedenken und
fordert meine Ablehnung heraus. Auch diese Arbeit will ein kohärentes
Romantikbild herausstellen, und dafür kann sie sich tatsächlich nicht nur
auf die romantischen Definitionen der Romantik stützen. Sie verzichtet
aber nicht a priori darauf, diese noch so widerspruchsvollen Bestimmun-
2
VORWORT
1 Prosaische Jugendsdiriften, hg. v. Minor, I, S. VI. In allen Zitaten sind die Ortho-
graphie modernisiert und die Abkürzungen ausgeschrieben worden.
3
1*
VORWORT
Die Poetik der Frühromantik ist ein eifrig bearbeitetes Feld. Ich
erhebe keinerlei Anspruch auf unbedingte Originalität. Es hat sich in
ihrer Darstellung eine Art Tradition gebildet, und manche Ansichten und
Urteile sind landläufig geworden. In dieser Hinsicht besteht ein wirkliches
Gemeingut der Forschung. Man kann es in Frage stellen — was ich öfters
nicht unterlasse; wegleugnen und übersehen läßt es sich nicht. Ein je-
weiliger Hinweis darauf erübrigt sich. Das würde die Lektüre unnötig
erschweren und dem Kenner nichts Neues bringen.
Ich möchte die Anschauungen darstellen, die mir das Wesentliche an
der Poetik der Frühromantik zu sein scheinen. Dafür eignet sich eine
enzyklopädische Bestandsaufnahme nicht. Diese Arbeit ist eine synthe-
tische. Es gibt eine frühromantische Stellungnahme zu den Problemen
der Ästhetik und der Poetik: so könnte meine Arbeitshypothese lauten.
Auf die Heraushebung dieser charakteristischen Position kommt es mir
an.
In der ersten Rede über die Religion erläutert Schleiermacher mit
bemerkenswerter Klarheit, wie eine menschliche Begebenheit unter zwei
grundverschiedenen Gesichtspunkten betrachtet werden kann: einmal
von ihrem „Mittelpunkt" aus, nach ihrem „inneren Wesen", anderer-
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VORWORT
seits von ihren „Grenzen" her, nach der „bestimmten Haltung und Ge-
stalt, die sie hie und da angenommen hat". Das eine Mal erscheint sie
als ein „Produkt der menschlichen Natur", das andere Mal als ein „Er-
zeugnis der Zeit und der Geschichte". Mich interessiert vor allem der
erste Gesichtspunkt, und ich halte ihn bis auf weiteres — den Ansprüchen
des Historismus zum Trotz — für fruchtbarer als den zweiten. Schelling
mag in dieser Hinsicht keine Autorität sein — was liegt aber an Autori-
tät? Ein Zitat aus seiner Betrachtung der Göttlichen Komödie möchte ich
jedoch anbringen, weil es mir Gelegenheit gibt, meinen Blickwinkel
genauer zu definieren. Er meint: „Unsere Absicht ist es nicht, (das
Gedicht) in seiner unmittelbaren Zeitbeziehung, sondern vielmehr in
seiner Allgemeingültigkeit und Urbildlichkeit... zu fassen"2. Es wäre
eine überhebliche Anmaßung meinerseits, wenn ich von der vorliegenden
Darstellung der romantischen Poetik auch nur Annäherndes zu schreiben
wagte. Die Versuchung liegt mir auch fem. Dennoch scheint mir der
Schellingsche Satz ganz besonders geeignet, die Tendenz dieser Studie
anzudeuten. Ich möchte nämlich an Hand der romantischen Dichtungs-
anschauung auf eine in ihrem Wesen zeitlose Art der menschlichen Ein-
stellung zur Kunst hinweisen.
Eine lebendige Romantik, wie sie um 1800 bestanden hat, in ihrer
Ganzheit zu rekonstruieren, ist trotz der äußerst zahlreichen Dokumente,
über die wir verfügen, unmöglich. Ausgerechnet für eine Bewegung, die
auf Geselligkeit so viel Wert legte und die dem mündlichen Austausch
von Ideen so Wesentliches verdankt, wäre ein solcher Versuch von vorn-
herein zum Scheitern verurteilt. Die Wirkung des gesprochenen Wortes,
durch das sich die Persönlichkeit direkter und ungehemmter ausdrückt
als durch bestimmten Moden und Imperativen unterworfene Schriften,
ist äußerst schwer einzuschätzen und angemessen zu würdigen. Abge-
sehen von ein paar allerdings sehr aufschlußreichen Zeugnissen sind wir
auf Geschriebenes angewiesen. Nun weiß jeder, daß die beste Schrift
unter Umständen nur ein blasser Abglanz der Persönlichkeit ist. Die
Tonalität des geistigen Austausches bleibt für Fremde und Nachkömm-
linge ein Geheimnis. Die Einsicht, die wir in die romantische geistige
Tätigkeit gewinnen können, ist eine Einsicht aus zweiter Hand. Die Um-
und Irrwege der Forschung beweisen es zur Genüge.
Ich habe mich also methodisch auf gedruckte und handschriftliche
Texte beschränkt und das Historisch-Biographische bewußt zurückge-
stellt. Mir kam es nicht darauf an, zu zeigen, was um 1800 in der litera-
rischen Welt vor sich ging; das haben andere getan. Mein Anliegen war
die Darstellung einer typischen kunsttheoretischen Gesinnung, die sich
5
VORWORT
6
VORWORT
7
VORWORT
Mir kommt es mehr auf die Darstellung einer poetischen Haltung als
auf terminologische Diskussionen an. Ob Novalis einer 'Romantik' oder
einem poetischen Idealismus' zuzuordnen ist, scheint mir gegenüber der
Darstellung seiner Poetik eine zweitrangige Frage. Mit dem Gebrauch
des Wortes Romantik soll jedoch keine Position zugunsten einer einheit-
lichen romantischen Bewegung bezogen, noch irgendwelche Abwertung
der Spätromantik verfochten werden. Daß die Lebenssphäre und das
Lebensgefühl der jüngeren Romantik von der geistigen Atmosphäre der
Jenaer Schule grundverschieden waren, steht fest. Daß die Jüngeren eine
Romantik „darlebten", während die Älteren sie nur als „geahntes Ideal"
anstrebten, dürfte — allerdings bei bedeutenden individuellen Unter-
schieden und ohne allzu enge Festlegung der Begriffe — großenteils zu-
treffen. Daß das Kunstwollen der beiden Generationen den veränderten
Umständen und Forderungen des Tages zufolge nicht gleich orientiert
war, unterliegt auch keinem Zweifel. Die Behauptung, daß die Früh-
romantik sich mehr durch Haltung und Gebärde, Wissen und Wollen als
durch Leben und Besitz charakterisiere, enthält viel Wahres. Aber das
sind Probleme, die, so interessant sie auch für eine Literatur- und Geistes-
geschichte sind, uns in diesem Zusammenhang nicht beunruhigen sollen.
Die 'sogenannte' Frühromantik soll hier in ihren poetischen Anschauun-
gen erhellt werden: darauf beschränkt sich meine Absicht.
8
VORWORT
sich auf gewisse Vorreden zu den ersten Gedichtzyklen des jungen Victor
Hugo, er holt Gedanken Jouberts aus seinem Gedächtnis hervor und er-
innert sich wieder, daß er vor Jahren für Rousseau geschwärmt hat.
Baudelaires Schatten dämmert auf, und von überallher spuken „corre-
spondances" in seiner Träumerei. Rimbaud winkt im Hintergrund, und
viel Dunkles, das der Fremde nur geahnt hatte, wird heller. Mallarmés
unverstandener Zauber öffnet ihm das Tor zur grauen Theorie. Und die
Sprachmagie der Surrealisten überwältigt ihn aufs neue. Der Fremde aus
der Romania wundert sich: steht er in der Frühromantik an der Quelle,
aus der sich die Macht des lyrischen Wortes in der französischen Dichtung
speist? Hat es denn in Frankreich eine 'dargelebte' Romantik gegeben,
zu der Deutschland das gedankliche Fundament hergab? Nicht alles
stimmt miteinander überein, beileibe nicht. Aber mancher Riegel ist weg-
geschoben, und der Weg ist freier, als man dachte.
Der Fremde begibt sich auf die Fahrt ins deutsche romantische Land.
Seit je haben ihn seine Erzieher gelehrt, daß eine klare Idee einen klaren
Ausdruck fordere, womöglich sogar eine Formel, die schön klinge und
den Gedanken bildlich zusammenfasse. Immer wieder hat er gehört, daß
die Formelfindung ein Zeugnis der geistigen Überlegenheit sei. Nun liest
er deutsche Bücher über die Romantik, wissenschaftliche, streng durch-
dachte, sorgfältig verfaßte, und findet darin praktisch keine Formel oder
nur solche, die zuviel zugleich sagen wollen und deshalb lang und schwer
sind. Er stutzt, liest sich tiefer ein, gewöhnt sich daran, denkt darüber
nach und lernt um: er sieht das Fragwürdige 'seiner' bildlichen und bün-
digen Formulierungen ein, wird ihnen gegenüber skeptisch, überskeptisch
sogar und bemüht sich, sie fortan zu meiden. Gefahr und Verführung
bedeuten sie ihm nun, und er zieht die schwerfälligere Differenzierung
vor. Es kann aber vorkommen, daß er in einem deutschen Buch auf eine
Formel der sonst ihm vertrauten Art stößt: Weite des Wunders, Wunder
der Weite. Da spitzt sich sein Ohr. Er hat Vertrauen in den Autor, den
er liest5. Er fühlt, daß dieser die frühromantische Poetik von innen er-
lebt hat, daß seine Darstellung ein tiefes Verständnis und einen aus-
geprägten Sinn für gedankliche Zusammenhänge bekundet. Er beneidet
fast den, der seine Einsichten dermaßen formelhaft zu sagen weiß; eine
so bündige Zusammenraffung des Wesentlichen imponiert ihm wieder.
Dann wird freilich die angelernte Skepsis wach, er fragt sich, ob der
Autor nach der Findimg der Formel nicht zum Gefangenen der Formel
geworden ist, ob sie ihm nicht die Sicht versperrt und den Weg verbaut,
ob sie seinen Blick nicht fälscht. Die Weite des Wunders präge vorzüglich
die Frühromantik; die jüngere sei eher dem Wunder der Weite verfallen.
s
B. Markwardt, Geschichte der deutschen Poetik, Bd. III, S. 198 ff.
9
VORWORT
10
I. DER NEUE GEIST
Uberblickt man die erste große Periode der deutschen Ästhetik, die
von Baumgarten bis Kant reicht, und vergleicht man sie mit dem Zustand
um die Jahrhundertwende, so fallen zunächst bedeutende Unterschiede
auf. Im Mittelpunkt der ästhetischen Bemühungen eines Baumgarten,
eines Winckelmann und auch noch Kants stand das Problem der S c h ö n -
h e i t . Entweder suchte man nach einer philosophischen Definition dieses
Begriffs, oder man war bestrebt, eine vom Zeitgeschmack bzw. von
individueller Vorliebe eingegebene Auffassung des Schönen kritisch zu
fundieren.
Ausgegangen war der Wunsch nach einer philosophischen Grund-
legung von Leibniz und seinen Schülern. Die berühmte Formel von der
Einheit in der Mannigfaltigkeit hatte die meisten Diskussionen ausgelöst:
bewußt lehnten sich die verschiedensten Denker an Leibniz an und trugen
sich mit der Absicht, ihn zu ergänzen und zu systematisieren. Baum-
gartens Grundbegriff der cognitio sensitiva, der bekanntlich den Aus-
gangspunkt und die materielle Grundlage der Aesthetica von 1750 bildet,
ist eine Leibnizische Vorstellung. Die Wesensbestimmung der Schönheit
als Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis oder besser des anschaulich
Wahrgenommenen wäre ohne Leibnizens grundsätzliche Unterscheidung
der Vorstellungen nicht denkbar gewesen. Aber auch die sonstigen For-
meln, die mehr ins Psychologische als ins Erkenntnistheoretische gehen,
rühren großenteils von Leibnizisdhen Erkenntnissen her.
Recht verschieden war die Einstellung der 'Kritiker'. Winckelmann,
Lessing, Herder und die Stürmer wollten nicht so sehr die Schönheit
philosophisch definieren, als sich mit der herrschenden Geschmacksrich-
tung, die sie durchweg leidenschaftlich ablehnten, auseinandersetzen. Sie
beriefen sich dabei auf alle möglichen 'Autoritäten und werteten —
manchmal sehr willkürlich — alle ihnen zur Verfügung stehenden
'Quellen' aus, gleichviel ob diese nun zur Kunsttheorie oder zur Kunst-
praxis gehörten. Die meisten ihrer Stichworte und Hinweise hatten pole-
mischen Charakter und sollten eine persönliche Auffassung der Kunst
und die Reaktion gegen den Zeitgeschmack unterstützen: das gilt für
die Plastik des Altertums genauso wie für Shakespeare, für Aristoteles
11
DER NEUE GEIST
und Ossian, für Raffael und Diderot oder etwa für Young und die Bibel.
Das schließt natürlich nicht aus, daß die 'Kritiker' ab und zu sehr zu-
sammenhängende Ansichten erarbeitet haben, deren innere Kohärenz ich.
in meinen Kunst- und Diditungstheorien zwischen Aufklärung und
Klassik herauszuheben versuchte, aber ihr Interesse lag nicht primär auf
dem Gebiet der objektiven Erkenntnis der Schönheit. Auf Grund ihrer
Überzeugungen verfochten sie vielmehr neue Ideale und predigten neue
Kunstwerte, d. h. sie wollten die herrschende Auffassung der Schönheit
durch eine andere ersetzen und neue Kunstregeln und -muster aufstellen.
Mit der Kantschen Urteilskraft werden die Grundanschauungen des
Jahrhunderts in einem System vereinigt, das nur mit Hilfe der Ergebnisse
vorhergehender Forschung Zustandekommen konnte. Im Kantschen Den-
ken erfahren die Schönheit und dementsprechend die Gemütskräfte, die
sie wahrnehmen und schaffen, eine gewaltige Steigerung und erlangen
eine Autonomie, die im Vergleich mit früheren Theorien viel systema-
tischer und fester begründet ist. Zwar bleibt die Kantsche Schönheitsidee
— im Gegensatz etwa zum Moralisch-Guten — im subjektiven Bereich;
durch den ihr beigemessenen Symbolwert erhebt sie sich jedoch auf eine
Ebene, zu der sie bis dahin — von spärlichen Ausnahmen abgesehen —
noch keinen Zugang gewonnen hatte.
Parallel zu diesen Bemühungen um die Festsetzung des Wertes der
Schönheit werden in der ganzen Periode Überlegungen angestellt über
die geistigen Organe des Menschen, die spezifisch auf den Genuß und die
Schöpfung von Schönheit gerichtet sind. Im allgemeinen hat man für
diese Organe Bezeichnungen benutzt, deren strenge und eigentliche Be-
deutimg sich erst allmählich entwickelt hat. Das Beurteilungsvermögen
hieß fast immer 'Geschmadc'; der Terminus war jungen Datums, hatte
sich aber schon um 1750 so gut wie eingebürgert. Das Schöpfungsver-
mögen hieß 'Genie', ein Wort, das jedoch erst später einigermaßen all-
gemeingültig wurde und das im Grunde bis in die Romantik hinein
Begriffe deckte, über die man sich nicht im klaren war. Auch hier hat
Kant Wesentliches zur Klärung der Terminologie beigetragen, wenn-
gleich seine Definitionen von seinen Nachfolgern wieder in Frage gestellt
wurden.
Mit dem Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus er-
klimmt die Idee der Schönheit plötzlich den höchsten Rang, greift ins
Gebiet des Objektiven über und wird zum Mittelpunkt des neuen Welt-
bildes. Mit diesem Vorgang beginnt eine neue Epoche der deutschen und
europäischen Ästhetik. Solch großartiger und folgenreicher intellektueller
Gewaltstreich darf indes nicht einfach als die endgültige Überwindung des
von der vorhergehenden Periode gestellten Problems aufgefaßt werden.
12
DER NEUE GEIST
13
DER NEUE GEIST
Tätigkeiten, und ein paar Jahre später wird sie sogar zu einem der
Grundelemente der Welt. Das wirklich Neue in der frühromantischen
Anschauung ist nicht die 'Schönheit', sondern die 'Poesie'.
Mit der Hervorhebung der sogenannten Schönheit als einer allen
andern überlegenen Idee ist jedoch eine wichtige Voraussetzung der
frühromantischen Dichtungstheorie gewonnen, nämlich die absolute
Autonomie der Kunst. Das ist freilich keine grundsätzlich neue Position.
Schon immer haben Dichter und Künstler in der praktischen Ausübung
ihrer schöpferischen Tätigkeit ein solches Prinzip implizite angenommen
und imbewußt angewandt. Auch der typisch klassische Dichter hat sich
beileibe nicht immer das prodesse et delectare vorgenommen, wenn er
sich an seinen Arbeitstisch gesetzt hat, und das lange Zögern eines Racine
zwischen „infortunés" und „misérables" hat bestimmt andere Gründe
gehabt als den Willen zur Belehrung und zur Besserung der Menschheit.
Erst die Theoretiker haben in diesem Problem Unfug gestiftet, indem sie
meistens Wirkung und Zweck miteinander verwechselten. So ist in ihren
glänzenden Epochen die Kunst schon immer eine von jedem fremden
Imperativ unabhängige Erscheinung gewesen, und nur ärmere Zeiten
haben sie bewußt einem fremden Zweck untergeordnet. Anders war es
aber mit der Reflexion über die Kunst bestellt, und bekanntlich hat die
Vormundschaft der Moral und der Logik die meisten Theorien bis in die
Mitte des 18. Jahrhunderts und sogar beträchtlich darüber hinaus be-
lastet. Ästhetiker wie Meier, teilweise auch Sulzer, sind die besten Be-
weise dafür.
Manchen Theoretikern der unmittelbar vorhergehenden Zeit hat
freilich der Begriff der Autonomie der Kunst vorgeschwebt, nur fehlte
ihnen die gedankliche Basis, auf der sie hätten bauen können. Ein guter
Teil ihrer Bemühungen galt eben der Suche nach einer philosopischen
Fundierung, der erst Kant mit Hilfe seines zusammenhängenden Systems
stabile Elemente beisteuern konnte. Vor ihm war alles gutgemeinter
Versuch und halbwegs richtige Ahnung. Wenn auch von Zeit zu Zeit ein
klares Denkbild zum Vorschein kam, das zu einer eingehenden Grund-
legung hätte verhelfen können, ermangelte es immer des begrifflichen Zu-
sammenhangs und konnte zu nichts Endgültigem führen.
Das, was also mit großer Mühe bis Kant erarbeitet wurde, ist den
frühromantischen Theoretikern eine Selbstverständlichkeit, ja sogar ein
Eckpfeiler ihrer Kunstanschauung. Die früheren Unterscheidungen zwi-
schen schöner, angenehmer, mechanischer Kunst sind ihnen gegenstands-
los geworden. Alles, was auf einen bestimmten Zweck ausgerichtet ist,
verdient nicht mehr die Bezeichnung Kunst, auch wenn seine Herstellung
Talent und 'Kunstfertigkeit' erfordert. Das 'Bedürfnis', d. h. die prakti-
14
DER NEUE GEIST
sehe Bestimmung, ist ein Element, das am eigentlichen Wesen der Kunst
gar keinen Anteil hat und das die Kunst als solche aufhebt, wenn es die
Absicht und die Arbeit des Urhebers bestimmt. Der Zweck eines Ge-
bäudes, seine Verwendung als Wohnhaus oder Kirche, darf in der ästhe-
tischen Beurteilung keine Rolle spielen. Solcher Zweck ist bloß die „be-
stimmte Form der Erscheinung", an die jede Kunst mehr oder weniger
gebunden ist und die transzendiert werden muß, wenn ein Werk von
Menschenhand zum Bereich des Ästhetischen gehören soll. Es muß in
diese Form „der Abdruck und das Bild der Schönheit" gelegt werden,
damit das Produkt ein Werk der Kunst wird2.
Dieses Beispiel aus dem Gebiet der Architektur zeigt deutlich, daß
man jetzt von vornherein bestrebt ist, das Kunstphänomen in seiner gan-
zen Reinheit zu fassen und die Grenzen scharf und endgültig zu ziehen.
Es wird nach dem Prinzip, nach dem Ewigen der Kunst gesucht unter
strenger Ausschaltung alles dessen, was zwar notwendiger Bestandteil
des Kunstwerks ist, aber nicht zum Ästhetischen gehört. Nach August
Wilhelm Schlegels Rezension der Tieckschen Volksmärchen zielt das früh-
romantische Interesse auf die Dichtung in der Dichtimg und nicht auf
die Zufälligkeiten der jeweiligen Erscheinung3. Die Kunst lehnt jeden
äußeren Zweck ab. Weder der Nutzen noch das Vergnügen, weder die
Moral noch das Wissen haben den geringsten Anteil an ihrem Wesen. Sie
ist in sich absolut, völlig autonom, rein, unabhängig von jeglicher fremden
Bestimmung.
Schon vor dem Ältesten Systemprogramm und vor jeder Darlegung
der idealistischen Kunstauffassung wußte der junge Friedrich Schlegel
um die Eigengesetzlichkeit der Kunst und den Eigenwert der Schönheit.
In einer Epoche, in der er noch völlig im Banne seiner Gräkomanie stand,
gab es für ihn schon kein Problem der Zugehörigkeit und der Unterord-
nung des Schönen und der Kunst mehr; die Frage scheint er als ein für
allemal gelöst zu betrachten. Das Schöne behält seine volle Selbständig-
keit neben dem Wahren und dem Guten; es ist „ein echtes erstgeborenes
Kind der menschlichen Natur und hat mit jenen ein gleiches vollgültiges
Recht, niemand zu gehorchen als sich selbst". Dieser eindeutige Aus-
spruch findet sich in einer seiner allerersten Schriften, im Aufsatz Vom
ästhetischen Werte der griechischen Komödie aus dem Jahr 17944. Um
die gleiche Zeit bekräftigt er seine Meinung in der Studie Über die
Grenzen des Schönen. Dort sieht er Aufgabe und Wesen der Kunst darin,
daß sie die unendliche Fülle der Natur mit der Freiheit und der Liebe
15
DER NEUE GEIST
16
D E R N E U E GEIST
keit, wäre sie nur Natur, so wäre sie nicht viel mehr als ein dürftiger
Behelf des Alters6." Nun hatte sida bis hin zu Kant das vorige Zeitalter
immer wieder mit diesem Problem auseinandersetzen müssen. Der Be-
griff der Naturnachahmung war bekanntlich in sehr auseinandergehenden
Bedeutungen verstanden worden, die sich ab und zu bei einem und
demselben Denker belegen lassen. Als extreme Auffassungen kann man
einerseits die treue Wiedergabe der 'Naturdinge' und andererseits das
der natura naturans so weit wie möglich folgende Prinzip einer organi-
schen Kunstschöpfung bezeichnen. Das eine und das andere wurden ver-
treten und dazu noch alle erdenklichen Zwischenstufen. Nie war der
Begriff eindeutig festgelegt und allgemein anerkannt worden, obgleich
jeder das Wort von der Natumachahmung im Munde geführt und als
einen Kanon der Kirnst hingestellt hatte. Aber schon Kant hatte das
Problem entschärft, und die Romantik widmet ihm nur noch eine zweit-
rangige Aufmerksamkeit. Wie ist das auf Grund der verkündeten Auto-
nomie der Kunst zu erklären? Auf diese Frage mag ein Hinweis auf den
bei den Frühromantikern beliebten Hemsterhuis einiges Licht werfen.
Der holländische Philosoph unterscheidet in der Welt der Dinge die
Naturelemente von den menschlichen Erzeugnissen. Daraus zieht er zwar
selbst keine ästhetischen Schlußfolgerungen, und von einem möglichen
Quellenwert für die Romantik kann keine Rede sein. Aber die Unter-
scheidung an sich ist aufschlußreich. Die Stelle befindet sich im Traktat
Aristée ou de la Divinité7. Dort heißt es, alles Menschenwerk sei nur
Mittel, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen, während das „Natur-
werk" an sich sei, unabhängig von seiner Wirkung. Seinen Gedanken
verdeutlicht Hemsterhuis am Beispiel der Uhr: ohne Bezug auf ihre Be-
stimmung als Zeitmessungsgerät ist sie nur ein sinnloser Haufen hetero-
gener Teile, während ein Baum nichts von seinem Wesen verliert, wenn
seine möglichen Wirkungen außer acht gelassen werden. Hemsterhuis
war weit davon entfernt, diese Unterscheidung als Grundlage für eine
Definition der schönen Kunst benutzen zu wollen, denn unter den an-
gegebenen Beispielen begegnen uns außerdem die Feile, deren Wesen
in ihrer Qualität als Werkzeug, also als Mittel, liegt, und das Gedicht, das
ebenfalls als Mittel zur Belustigung und zur Belehrung angesehen wird.
In Sachen Ästhetik bleibt er also in herkömmlichen Schablonen befangen,
aber seine Idee von der unterschiedlichen Beschaffenheit des Menschen-
werks und des Naturelements führt möglicherweise zur Lösung des Pro-
blems von der Naturnachahmung, insofern es vom Prinzip der Autonomie
der Kunst her gesehen wird. Die Kunst ist für die Romantiker nämlich
• Ebd., I, S. 23 f.
7 Œuvres philosophiques, Paris, 1792, II, S. 37 ff.
17
2 Nivelle
DER NEUE GEIST
nicht ein Werk von Menschenhand wie andere mehr, ihr Zweck liegt nicht
außerhalb ihrer selbst: sie hat ihren Zweck in sich und i s t voll und ganz,
unabhängig von ihrer möglichen Wirkung. Dadurch unterscheidet sie sich
grundsätzlich und wesentlich von den sonstigen menschlichen Produk-
tionen und stellt sich auf die Seite der Naturdinge. Wenn der Begriff der
Nachahmung der Natur für die Romantik noch irgendeinen Sinn hat, so
kann er nur darin liegen, daß die unbedingte Seinsweise der Kunst mit
derjenigen der Natur identisch ist. Die Kunst ist im 'Idealischen1 das
gleiche, was etwa der Organismus im natürlichen Bereich ist. Durch solche
Aufwertung erlangt die Kunst die gleiche Würde wie die andere rein
geistige Tätigkeit des Menschen, nämlich die Ausübung der praktischen
Vernunft, die 'Tugend', die ja auch ein Selbstzweck ist; sie geht sogar über
die Tugend hinaus, was aber erst später begründet werden kann.
Der Parallelismus von Kunst und Natur hat manchen Forscher dazu
verleitet, sich die Frage vorzulegen, ob die Jenaer in ihrer Ablehnung der
Naturnachahmung konsequent gewesen seien. Die Natur wird ja von
ihnen als ein Gedicht der Gottheit gedacht, und die Frage scheint be-
rechtigt, warum sie denn die Nachahmung eines göttlichen Gebildes
grundsätzlich verwerfen. Wieder einmal liegt hier eine Verwechslung vor.
Natur und Kunst sind zwei in ihrer Zwecklosigkeit wesensgleiche Schöp-
fungen, die eine von Gott, die andere vom Menschen. Die Natur ist Aus-
druck der Gottheit, die Kunst ist Offenbarung der vom Menschen ent-
deckten Urbilder, die auch göttlich sind. Der Umweg über die Natur-
nachahmung erscheint demnach als überflüssig und irreführend: sie würde
eine Mittelbarkeit zum Unendlichen verursachen, die dem Wesen der
romantischen Kunst und Dichtung grob widersprechen müßte. Nicht auf
die Widerspiegelung eines schon Geschaffenen kommt es den Jenaern
an, sondern auf die 'Einbildung' des Unendlichen ins Endliche, wobei
das Unendliche primär ist. Die Nachahmung der Natur kann wohl den
Stoff der Kunst liefern, macht aber weder ihren Geist noch ihr Wesen
aus. Es ist ja alles in der Natur Chiffre, Zeichen, Hieroglyphe, Figur,
Symbol des Unendlichen. Die Kunst erstrebt eine ähnliche Offenbarung
mit anderen Mitteln.
Die Aufwertung der Kunst als Gegenstand der Reflexion bringt eine
erhebliche Wandlung dieser Reflexion selbst mit sich. Die Perspektive
ändert sich beträchtlich. Trotz der zahlreichen Versuche, die seit Baum-
garten unternommen wurden, Kunst und Schönheit dem Stoff der philo-
sophischen Betrachtung anzugliedern, war man eigentlich doch bei einer
mehr oder weniger tiefgehenden phänomenologischen Beschreibung der
Kunst stehen geblieben, und zur Klarstellung des Schönheitsbegriffes
hatte man sich hauptsächlich auf psychologische und logische Grundlagen
18
DER NEUE GEIST
19
2'
DER NEUE GEIST
8
Fr. Schlegel, Philosophische Lehrjahre, Kritische Ausgabe seiner Werke (abgekürzt
KA), Bd. XVIII, S. 81, Nr. 618.
9
Ebd., S. 207, Nr. 132.
10
Ebd., S. 376, Nr. 675.
20
DER NEUE GEIST
zur Philosophie ist ohne sie unmöglich: „Ohne Poesie wird hinfüro nie-
mand den Eingang zu Spinoza und Plato finden und auch zu Böhme"11.
„Der Philosoph muß ebensoviel ästhetische Kraft besitzen als der Dich-
ter", heißt es im Systemprogramm; „die Philosophie des Geistes ist eine
ästhetische Philosophie". Zum echten Selbstverständnis der Menschen
verhilft nur die Poesie als „intellektuelle Anschauung der Menschheit"12.
Ähnliches gilt für die Natur und das Universum: „Das Universum ist nur
ein Gegenstand der Poesie, nicht der Philosophie"13. „Selbst über Ge-
schichte kann man nicht geistreich räsonieren — ohne ästhetischen Sinn"14.
Die Poesie ist das A und O der Welt und des Menschen. Diese
Novalis'sehe Formel drückt die tiefste Überzeugung der Frühromantiker
aus. Poesie ist Ursprung und Ziel, Voraussetzung und Endzweck jeder
geistigen Tätigkeit. Bildlich ausgedrückt: „Die Poesie ist die Sonne, in
die sich alle Planeten der Kunst und Wissenschaft auflösen"15. Sie ist der
Mittelpunkt, um den sich alles dreht, der einzige wahrhaft lohnende
Gegenstand menschlicher Bemühung, der alle anderen in den Schatten
stellt. Als Friedrich Schlegel 1802 in Paris an einer französischsprachigen
Darlegung seiner Philosophie arbeitete, überkam ihn der grundsätzliche
Zweifel an der Möglichkeit solcher Darstellung: „Es wird doch immer
Poesie vorausgesetzt, und es kann selbst nichts anders sein als Bildungs-
mittel zur Poesie. Was also sollte es hier?"18
Sonach zwingt sich die Poesie den Frühromantikern immer wieder
als das Zentrum ihrer Welt auf. Alles geht von Poesie aus und führt dahin
zurück. Die Theorie der Poesie ist demnach die Theorie vom gesamten
Menschen und vom tieferen Wesen des Universums. „Am Ende wird alles
Poesie", meint Novalis. Das ÖVTWC; ÖV, die Quintessenz, das absolutum
der Welt kann nur die Poesie enthüllen und darstellen17.
Solcher Blickpunktwechsel in der Ästhetik hat sich obendrein auch
auf die praktische Ausübung der Kunst ausgewirkt. Die Kunst und vor-
züglich die Dichtung wird zum „Schlüssel der Welt und des Lebens", zum
Spiegel, in dem sich die Lebensfragen abbilden, was sie befähigt, zur
Lösung der Existenzprobleme beizutragen. Nicht zufällig ist die roman-
tische Zeit zugleich die Epoche des Wiederauflebens des großen, umspan-
nenden Entwicklungsromans — Goethe hat hauptsächlich durch seinen
Wilhelm Meister die Romantik beeinflußt. Gerade die Suche nach dem
11 Ebd., S. 391, Nr. 348.
12 Ebd., S. 208, Nr. 146.
13 Ebd., S. 141, Nr. 231.
14 Systemprogramm.
15 Fr. Sdilegel, Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 569, Nr. 84.
18 Ebd., S. 487, Nr. 155.
17 Vgl. ebd., S. 345, Nr. 288.
21
DER NEUE GEIST
Sinn des Lebens und der Wunsch zur totalen Entfaltung des individuellen
Daseins haben die Romantiker angezogen. Nicht mehr Zeitvertreib der
gebildeten Gesellschaft, gelehrtes Spiel mit Formen oder etwa spontaner
Ausdruck der Leidenschaften darf die Dichtung sein. Sie bekommt eine
existenzbezogene Aufgabe, und sie schreckt sogar nicht vor abstrakten
Einschaltungen zurück, die eine Reflexion auf ihren Inhalt, d. h. auf das
Leben, zum Zweck haben. Das Buch, und besonders der Roman, wird zur
„Bibel", zur „Enzyklopädie", zur Gesamtschau des Lebens.
Und da die Kunst zum notwendigen und wesentlichen Lebenselement
geworden ist, wird sie auch zum Hauptthema der romantischen Kunst
selbst. Romantische Dichtung ist auch 'Poesie der Poesie'; der romantische
Dichter wird zum 'Dichter des Dichters', wie es Heidegger im Blick auf
Hölderlin formuliert hat. Das ist Dichtung in der zweiten Potenz; und
die Idee der Potenzierung ist aus der romantischen Dichtungsschau nicht
auszuklammern, auch wenn sie nur von Schelling mit strenger Konsequenz
dargelegt wurde. 'Reine' Dichtung ist in romantischer Sicht sehr oft Dich-
tung, die sich selbst zum Gegenstand hat. Vielleicht ein poetischer Irrweg,
aber eine unleugbare historische Tatsache.
22
II. PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN
23
PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN
meinten. So blieb eigentlich auf beiden Seiten nur die Zuflucht zur Ironie
und zur Satire übrig, und die Gegner haben es tatsächlich daran nicht
fehlen lassen. Solche negative Polemik konnte aber für die Festigung und
Grundlegung der romantischen Weltschau um so weniger fruchtbar wer-
den, als die beiden Parteien über ihren Fehden und Voreingenommen-
heiten die teilweise Ähnlichkeit zwischen ihren Bestrebungen völlig über-
sahen. Im Grunde kennzeichnet derselbe anspruchsvolle Optimismus die
beiden Bewegungen; beide wollen das Universum erkennen und „überall
zu Hause sein". Nur sind ihre Methode und ihre Geistesrichtung ver-
schieden. Während die Aufklärung die verstandesmäßige Eroberung des
Weltmechanismus und die rationale Gestaltung des menschlichen Schick-
sals anstrebt, versucht die Romantik die Errungenschaften und die Metho-
den der Vernunft auf die Erhellung des Irrationalen und des Unbewußten
anzuwenden. Sie erhebt den Anspruch, die „Nachtseiten" des Universums
und des Menschen an den Tag zu legen, d. h. sie in der Kunst und vor-
nehmlich in der Dichtung zu enträtseln. Beide Bewegungen entspringen
einem großen Vertrauen in die Macht des menschlichen Geistes.
Was den Widerspruch zur Klassik anbelangt, erweist sich der Sach-
verhalt als viel differenzierter. Von einem Gegensatz zur deutschen
Klassik kann — wenigstens am Anfang der romantischen Bewegung —
nicht die Rede sein. Freilich haben die Angriffe nicht übermäßig lange
auf sich warten lassen. Bis zu dem Augenblick jedoch, in dem Goethe von
Novalis der Antipoesie bezichtigt wurde und von August Wilhelm
Schlegel den Vorwurf hören mußte, er begehe immer wieder die Sünde
wider den heiligen Geist, haben sich die Frühromantiker vollkommen im
Einklang mit ihm gefühlt und ihn als einen Gipfel der 'romantischen'
Dichtung gefeiert. Und was die Jenaer Schule der Schillerschen Lehre
von der naiven und sentimentalischen Dichtung und den Schillerschen
Begriffen von Anmut und Würde verdankt, ist für die Romantik über-
haupt so grundlegend, daß man sich ernsthaft fragen darf, ob eine romanti-
sche Dichtungstheorie ohne Schillers Vorgang hätte entstehen können. Die
persönlichen Zerwürfnisse ändern nichts an diesem geschichtlichen Tatbe-
stand. Nicht nur mit Rücksicht auf Goethe haben die Frühromantiker
Schiller totschweigen wollen, sondern vor allem, weil sie nicht immer
genau wußten, wo der Hebel anzusetzen war. Ein etwas ungelenker Griff
hätte das eigene Gedankengebäude sehr beschädigt. Genau das gleiche
gilt, wie schon oben gesagt, für Herder. Jugendlicher Ubermut und
kleinstädtischer Klatsch waren nie die besten Wege zum angemessenen
Verständnis für anderer Verdienste.
Nicht die deutsche Dichtung ist also gemeint, wenn bei der Entste-
hung der Romantik von einem Widerspruch zur Klassik die Rede ist, son-
24
PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN
25
PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN
1 Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 4, Nr. 7. Das Wort „Unbegrenzt" ist
im Manuskript eine Randbemerkung.
2 Die idealistische Philosophie und das Christentum, S. 540.
26
PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN
27
PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN
Die Romantik geht also von einem festen Glauben an das Absolute
aus. Das Absolute ist der Ausgangspunkt ihrer Philosophie, das Element,
aus dem heraus sie eigentlich philosophiert, die Triebfeder ihrer Dyna-
mik, die ohne jede Skepsis hingenommene Grundlage ihrer Weltschau.
Bei Friedrich Schlegel heißt es bestätigend: „der Grund des Bewußtseins
= Ansicht des Unendlichen" 8 . Es gibt kein Bewußtsein, kein Denken und
auch kein Sein, das nicht auf dem Absoluten beruht. Im Grunde und
richtig verstanden ist jedes Ding und jeder Denkvorgang unendlichkeits-
haltig; es schlägt alles seine Wurzeln im Absoluten. Aufgabe der roman-
tischen Dichtung ist es, diese einzig 'wahre' Ansicht der Welt zu ver-
künden.
Die Enthüllung des Unendlichen wirft aber schwierige Probleme auf,
weil das Absolute eben kein Etwas ist, das man ein für allemal entdecken
und offenbaren könnte. Es ist im Gegenteil in jedem Etwas das, was
immer weiter weg liegt als das Faßbare, es ist das denkbar Innerlichste
jedes Phänomens, das sich der gewöhnlichen Erkenntnis auf immer ent-
zieht. Es kann wohl 'angedeutet' werden — und die Romantiker machen
von dem Wort Andeutung in diesem Zusammenhang einen ausgiebigen
Gebrauch —, aber ein Beweis ist unmöglich. Das Unendliche ist eben
das begrifflich unfaßbare Innerste jedes Beweises. Es kann nicht bewie-
sen werden, aber erst von ihm her hat jeder Beweis seine Kraft. Es kann
auch nicht gewußt werden, aber es ist die Voraussetzung jedes Wissens.
Es kann nicht einmal wirklich gedacht werden, denn das Denken setzt
schon eine Trennung von denkendem Geist und gedachtem Gegenstand,
von Subjekt und Objekt voraus, die es im Absoluten nicht geben kann.
Das Absolute ist gerade die Abwesenheit solcher Trennung; in ihm fallen
Objekt und Subjekt zusammen und bilden eine Identität, deren Er-
kenntnis dem diskursiv arbeitenden Verstand unzugänglich ist. Die Suche
nach dem Absoluten verlangt eine völlige Umkehr des normalen Denk-
verfahrens; sie führt nur dann zum Erfolg, wenn sie von jedem Objekt,
das außerhalb des Denkens selbst liegt, absieht und so das Denken selbst
in seiner reinsten Tätigkeit zum Gegenstand des Denkens erhebt. Das ist
die Quelle und das Prinzip der anschauenden Erkenntnis. Die Identität
von Subjekt und Objekt kann sich naturgemäß in keinem Ding, in keinem
seienden Etwas finden, denn solches Ding ist notwendigerweise Objekt
oder Subjekt der Erkenntnis. Sie kann nur in einer Tätigkeit, in einem
reinen Akt vorhanden sein. Dieser reine Akt ist die intellektuelle Anschau-
img, in der das Ich sich seiner selbst vergewissert, indem es sich produ-
ziert, und mit der es eigentlich zusammenfällt. Das Ich ist also in roman-
tischer Sicht nicht etwa ein bestehendes Etwas, eine tatsächliche Synthese
» Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 415, Nr. 1127 (eine Randbemerkung).
28
PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN
29
PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN
30
PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN
andern bestimmt die Auffassung des Geistes und seiner Funktion. Der
Mensch ist das Wesen, das sich an seinen unendlichen Ursprung dunkel
erinnert und das sich zugleich danach sehnt, diesen unendlichen Ursprung
wiederzufinden. So hängt er in einer ständigen Schwebe zwischen 'Er-
innerung' und 'Ahnimg'. Sein irdisches Leben, sofern es sich seines Sinnes
bewußt geworden ist, ist eine unaufhaltsame Bewegung von der Intuition
des Absoluten zu seiner Verwirklichung. Der menschliche Geist ist das
Mittelglied zwischen den beiden Polen, er ist wesentlich T e n d e n z
nach dem Absoluten, ein „ursprüngliches Wollen" 13 . Ahnen und Wollen
der Identität geschehen im Menschen uno actu; die intellektuelle An-
schauung ist, um mit Fichte zu reden, eine Tathandlung, die Wissen und
Handeln umgreift. Mit der Anschauung des Unendlichen wird zugleich
und mit ihr unzertrennlich verbunden der Wille zum Festhalten und zur
Verwirklichung dieses Absoluten geboren. Im bewußten Geist gibt es, so
meint Novalis, eine Identität von Wissen und Tun, von Erkennen und
Wollen. Darum ist der Geist in romantischer Sicht nicht etwa nur der
Spiegel des Universums oder ein reines Erkenntnisorgan. Das Wesen des
Menschen liegt nicht im Spekulieren, sagt Schelling, sondern im Han-
deln14. Schellings Schriften bieten eine Fülle solcher Formulierungen, in
denen der dynamische Charakter des Geistes zum Ausdruck kommt.
„Unser ganzes Dasein hängt an unserer Tätigkeit. Diese Tätigkeit aber
äußert sich in beständigen Produktionen" 15 ; „Das Wesen des Geistes [be-
steht] in Aktivität" 16 , er ist „nichts anderes als ein ewiges Werden" 17 .
Schon in ganz jungen Jahren war Schelling von dieser Idee durchdrungen,
und er wollte sie sogar in den ältesten Mythen der Menschheit entdecken,
deren symbolische Bedeutung er als „rastlose Begierde und ewige Unruhe"
auslegte18.
Der Geist ist demnach zugleich der Wille zur Wiederherstellung, zur
'Realisierung' des von ihm angeschauten Absoluten. Die Reflexion, und
insbesondere die Reflexion auf die eigene Erkenntnis, die Kritik des Er-
kenntnisvermögens, ist nur eine Teilfunktion des Geistes. Sie wird durch
das Bewußtsein der Spaltung ausgelöst und muß mit der Überbrückung
der Spaltung aufhören. Sie kann also kein Zweck an sich sein, sondern nur
ein Mittel zur Wiederentdeckung der Identität, aus welcher ja das wahre
31
PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN
19
Schelling, Ideen zu einer Philosophie der Natur, Bd. I, S. 663.
20
Vom Ich als Prinzip der Philosophie, Bd. I, S. 124.
21
Schelling, Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre,
Bd. I, S. 307.
22
Schelling, Stuttgarter Privatvorlesungen, Bd. IV, S. 325.
23
Schelling, Stuttgarter Privatvorlesungen, Bd. IV, S. 325. Nicht immer hat Schelling
das höchste Ziel der Selbstbildung mit dem Wort Bewußtsein bezeichnet. Das Be-
wußtsein überhaupt erschien ihm in seinen ersten Schriften als eine Tätigkeit des
Geistes, der schon aus der Identität herausgefallen ist. Die intellektuelle Anschauung
war ihm dann ein jedes Bewußtsein transzendierender Akt. Im System des transzen-
dentalen Idealismus und späterhin hat er aber beide Begriffe gleichgesetzt: intellek-
tuelle Anschauung und Selbstbewußtsein.
32
PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN
Die lebendige, dynamische Kraft des Geistes, die ihn zum Bewußt-
sein der irdischen Beschränktheit und dadurch zum Willen zur Transzen-
dierung des Endlichen anregt, nennt Schelling die Seele. In ihr liegt ein
„notwendiges Bestreben zum ewigen Produzieren"; sie treibt den Geist
dazu an, „in jedem einzelnen Moment ein Unendliches darzustellen",
d. h. sich durch keine Beschränkung beirren zu lassen, sondern sich in
allen Umständen als unendlich zu erweisen und jeder seiner Taten das
Gepräge des Absoluten aufzudrücken. Wie gesagt, ist dies in der irdischen
Existenz ein nie ganz erreichbares Ziel, weil dieser Existenz immer ein
Endliches anhaftet. Aber eben diese Unfähigkeit, immer und überall als
ein Unendliches zu handeln, ist ein weiterer Ansporn für die Seele: „so
strebt sie notwendig über jede Gegenwart hinaus, um das Unendliche
wenigstens sukzessiv, in der Zeit, darzustellen"24. Das Unendliche und
die Zeit sind selbstverständlich antinomische Begriffe, das Unendliche
übersteigt jede Zeit, die intellektuelle Anschauung befreit uns gerade
vom „Wechsel der Zeit". Aber das Streben der Seele über jede Gegen-
wart hinaus ist der Beweis, daß sie aus dem Unendlichen heraus handelt,
und die irdisch einzig mögliche Form einer Darstellung der Unendlich-
keit25.
Auch für Friedrich Schlegel ist die Seele „reizendes Leben, Regsam-
keit des Gemüts"". Wie Schelling faßt er sie als das dynamische Prinzip
auf, das den Geist dazu bewegt, über das jeweils gegebene Endliche
hinauszustreben, sich „über alles Bedingte unendlich zu erheben" 27 . Sol-
ches Streben, das die wesentliche Tätigkeit des geistigen Menschen aus-
macht, muß aufrechterhalten und unaufhörlich fortgesetzt werden, auch
wenn das letzte Ziel sich als unerreichbar erweist. In der Sprache der
Athenäumsfragmente heißt das: „Jeder gute Mensch wird immer mehr
und mehr Gott. Gott werden, Mensch sein, sich bilden sind Ausdrücke,
24 Schelling, Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre,
Bd. I, S. 308.
25 Solches Streben als Merkmal des Geistes hat übrigens zur landläufigen Auffassung
der romantischen „Unendlichkeit", wie sie von Strich als Antithese zur klassischen
„Vollendung" aufgestellt wurde, geführt. Das Wort ist leider nicht sehr glücklich
gewählt und hat tatsächlich durch die Homonymität mit der philosophischen Unend-
lichkeit, wie die Romantiker sie dachten, viel Verwirrung gestiftet. Die Betonung
der Unendlichkeit zählt vielleicht mit zu den Ursachen der angeblichen Nichtvollen-
dung mancher romantischer Werke, aber Vollendung und Unendlichkeit, im Geiste
der Urheber dieser Termini verstanden, liegen nicht auf derselben Ebene und können
einander nicht ohne weiteres als repräsentative Begriffe entgegengesetzt werden.
Der eine Begriff ist zunächst formal, wenn er auch, wie es selbstverständlich ist,
einer bestimmten Kunstanschauung entspricht; der andere ist philosophisch und
kann erst indirekt eine formale Gestaltungsweise andeuten.
28 Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 98, Nr. 831.
27 Vgl. Behler in KA, Bd. XVIII, S. XVII (Einleitung).
33
3 Nivelle
PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN
34
PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN
39 In seinem Schellingbuch vertritt Jaspers eine andere These, indem er das von
Schelling proklamierte universelle Werden zwar anerkennt, aber auf Gott als einzige
Ausnahme nicht beziehen will. Der Schellingsche Wortlaut ist jedoch so eindeutig,
daß eine Auseinandersetzung mit dieser mir unverständlichen Jasperssthen Position
sich wohl erübrigt. Erst der alte Schelling hat die Gottheit dem allgemeinen Werden
entzogen.
40 Stuttgarter Privatvorlesungen, Bd. IV, S. 327.
35
3'
PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN
41
KA, Bd. XVIII, S. 421, Nr. 1222. Eine Zeitlang hat Friedrich Schlegel das Werden
auf den Menschen beschränkt; auf Gott wollte er den Begriff der Veränderung nicht
anwenden. Vgl. Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 372, Nr. 624.
42
Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 152, Nr. 350.
43
Ebd., S. 301, Nr. 1277. Vgl. auch „Die Gottheit kann nur im Werden gedacht wer-
den", Transzendentalphilosophie, KA, Bd. XII, S. 53.
44
Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 217, Nr. 278.
45
Schelling, Die Weltalter, Bd. IV, S. 606 f.
48
Schelling, Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur, 3. Ergänzungsband,
S. 393 ff.
47
Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 152, Nr. 344.
48
Ebd., S. 157, Nr. 412.
36
PHILOSOPHISCHE G R U N D L A G E N
51 Die Begeisterung Fr. Schlegels für Fichte ist eindeutig und ausgiebig belegt, und es
nimmt einen wunder, wenn Schlagdenhauffen das Wort Tendenz als „pas nécessaire-
ment louangeur" auffaßt (Frédéric Schlegel et son groupe, im Kapitel „Berlin et la
première année de l'Athenäum"). Auch wenn Friedrich Schlegel sich tatsächlich von
Fichtes Anschauungen distanzierte — und das mag, wie Schlagdenhauffen behaup-
tet, schon vor 1798 geschehen sein — hat er ihn doch immer als den Anfang einer
neuen Epoche der Geistesgeschichte angesehen. Das ist lobend genug, und gerade
das meint das Wort Tendenz.
37
PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN
gebäudes, auch wenn dieses Gebäude nicht ganz nach seinen Plänen er-
richtet wurde.
Es entspricht nicht dem Zweck dieses Buches, den Wandlungen in
der Stellung der verschiedenen Frühromantiker zu Fichtes Lehre im ein-
zelnen nachzugehen. Nur der Zusammenhang dieser Lehre mit der früh-
romantischen Dichtungsschau soll hier erörtert werden, d. h. die Art und
Weise, wie die Frühromantik sie für die Kunst- und Dichtungstheorie
nutzbar gemacht hat. Nun erhellt diese dichtungstheoretisch relevante
Interpretation paradoxerweise besonders deutlich aus den Einwänden,
die Friedrich Schlegel und Novalis gegen Fichtes Positionen vorgebracht
haben.
52
Literatur, in DNL, Bd. 143, S. 301.
53
Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 397, Nr. 915.
54
Literatur, in DNL, Bd. 143, S. 300.
38
PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN
Punkten setzt er sich von Fichte ab und nähert sich einerseits Schelling
und der Naturphilosophie, andererseits Novalis und der mystischen Ten-
denz der Frühromantik.
Zum ersten Punkt wäre folgendes zu sagen: ein berühmtes Fragment
Schlegels drückt eine synthetische Vision der Philosophie aus, die für seine
Stellung zwischen Fichte und Schelling aufschlußreich ist. Die Philosophie
sei eine Ellipse, deren eines Zentrum das Selbstgesetz der Vernunft und
deren anderes Zentrum die Idee des Universums sei55. So möchte Schlegel
durch eine vielleicht geniale Intuition Fichtes rigorosen Idealismus und
Schellings idealistischen Realismus miteinander versöhnen. Der Weg, der
ihn zu diesem Einfall geführt hat, bleibt uns, vielleicht auch ihm, leider
dunkel. Darum spreche ich von einer Intuition, die m. E. ihren Ursprung
ebensowohl in Schlegels dichterischem Instinkt wie in einer philosophi-
schen Einsicht hat. In Fichtes Lehre störte ihn bekanntlich die negative
Vorstellung der Natur. Diese war für Fichte ein Nichtsein, wie etwa die
Materie bei Plotin: „tote Sinnenwelt und bloßer Niederschlag der Re-
flexion", „Hemmung und Schranke des sich ins Unendliche fortent-
wickelnden Geistes". Für Schlegel war sie im Gegenteil „durchaus be-
lebt und beseelt" und als solche „eine Darstellung der Gottheit" 58 , was
ziemlich deutlich an Schelling erinnert. Er hat ausführlich versucht,
Fichtes Anschauung mit Schellings Vorstellung der Natur in Übereinstim-
mimg zu bringen; dabei betonte er die Verschiedenheit des Naturbegriffs
bei den beiden Philosophen. Die Darlegung dieser Bemühungen wäre
von zweitrangigem Interesse und gehört nicht in diesen Zusammenhang,
denn das Entscheidende an Schlegels Reaktion gegen Fichte liegt nidit
auf philosophischem, sondern auf dichterischem Gebiet. Mit der Auffas-
sung der Natur als Nichtsein fällt ihm nämlich der „wesentlichste Teil der
Poesie und bildenden Kunst" weg, d. h. die Mythologie, die ja die Be-
lebung und Beseelung der Natur voraussetzt und von der noch zu reden
sein wird57. Dieses poetische Argument dürfte bei Schlegel von größerem
Gewicht gewesen sein als alle rein philosophischen Bedenken und auch
als die Entdeckung einer angeblichen Inkonsequenz in Fichtes Denken,
in das sich ein „Etwas" als Anstoß der Vorstellungen eingemischt haben
soll, nachdem anfangs alles aus dem Geiste abgeleitet worden sei58. Die
Unmöglichkeit einer Mythologie stellte für Schlegel eine abschreckende
Folge des Fichteschen Systems dar, die auf die Zerstörung der Kunst hin-
ausgelaufen wäre. Und er mußte aufmerken, als er bei Fichte eine Defini-
65
Ideen, KA, Bd. II, S. 267, Nr. 117.
56
Rezensionen aus den Heidelbergischen Jahrbüchern, in DNL, Bd. 143, S. 320.
57
Rezensionen aus den Heidelbergischen Jahrbüchern, in DNL, Bd. 143, S. 325.
58
Die Entwicklung der Philosophie in 12 Büchern, KA, Bd. XII, S. 147.
39
PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN
tion der Kunst als „Darstellung des vernünftigen Lebens" las, obschon
das im Grunde nichts anderes bedeutet als Darstellung des Unendlichen.
Aber er war nun einmal auf der Hut vor der Einseitigkeit in Fichtes
Denken und sah im „vernünftigen Leben" als Prinzip der Kunst eine
willkürliche und ungerechtfertigte Einschränkung; darum wollte er sicher
gehen und den Begriff 'Leben der Vernunft' weit aufgefaßt wissen, etwa
im Sinne von 'in der Idee leben'59.
Die „Idee des Universums" als das eine Zentrum der Philosophie ist
um 1800 eine unmißverständliche und unübersehbare Reminiszenz an
Spinoza. Mit Recht hebt Hirsch die Bedeutung Spinozas für die Entste-
himg der Romantik hervor60. Die Vorstellung der Allnatur, die im letzten
Drittel des 18. Jahrhunderts durch Lessing, Herder und Goethe in
Deutschland eindrang und die von Fichte ins Geistige erhoben wurde,
findet sich bei Schlegel in ihrem Urzustand wieder, wohl im Zusammen-
hang mit dem Ichbegriff, aber doch als zweiter gleichwertiger Pol des
Weltbildes davon wesentlich getrennt. Schlegel sehnte sich denn auch
nach einer Philosophie, die zugleich dem spinozistischen Pantheismus und
dem Idealismus gerecht würde, d. h. nach einer Ergänzung des Spinozis-
mus in idealistischer Richtung. Solches Wunschbild trat ihm nun trotz
etlicher Vorbehalte in Schelling entgegen, dessen „letztere Werke" (1804
bis 1805) ihm bezeichnenderweise als eine „Ergänzung des Spinozismus"
erschienen61. Schellings Lehre verkündet nämlich für Schlegel das Dasein
einer „Substanz", in der auf pantheistische Art Geist und Natur aufgehen.
Die Natur ist also hier als Bestandteil des Universums anerkannt und wird
nicht mehr dem Nichtsein gleichgesetzt. Verständlicherweise mußte Schle-
gel auf Grund dieser Einsicht zu Schelling hinüberneigen, obschon er sich
immer weigerte, sich dessen Ansichten ganz und ohne Vorbehalt anzu-
schließen. Denn als wirklichen Idealisten betrachtet Schlegel weder
Fichte noch Schelling, sondern nur sich selbst62. Auch nach der philosophi-
schen Rehabilitierung Schlegels durch J. Körner ist das allerdings eine
Behauptung, die eine ganze Anzahl von Bedenken erweckt, auf die hier
freilich wegen ihrer rein philosophischen Natur nicht eingegangen werden
soll63.
5' Rezensionen aus den Heidelbergischen Jahrbüchern, in DNL, Bd. 143, S. 325.
60 Die Romantik und das Christentum, S. 28 ff.
61 Die Entwicklung der Philosophie in 12 Büchern, KA, Bd. XII, S. 294.
62 Vgl. u. a. Die Entwicklung der Philosophie in 12 Büchern, Bd. XII, S. 341 f.
93 Es wird der Ehrfurcht vor Körners lebenslanger Beschäftigung mit Schlegel keinen
Abbruch tun, wenn der Meinung Ausdrude gegeben wird, daß er sich, so will es mir
scheinen, in zwei Punkten geirrt hat: einmal, indem er den Nachdruck auf Schlegels
40
PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN
rein philosophische Schriften legte; zweitens, indem er sich von der Entdeckung und
Veröffentlichung unbekannter Manuskripte eine wesentliche Bereicherung und Be-
richtigung des Schlegelschen Weltbilds versprach. Auch wenn Schlegels philoso-
phische Schriften rein mengenmäßig „wichtiger" sind als seine meist recht fragmen-
tarischen Kunstansichten, so hat er doch eben durch diese seine Kunstanschauung
und nicht durch seine Philosophie Epoche gemacht und geistesgeschichtliche Bedeu-
tung gewonnen. Die philosophischen Schriften erfüllen eigentlich ihre Funktion,
wenn sie zur Begründung und Erklärung seiner ästhetischen Ansichten heran-
gezogen werden; sie stellen manchen Begriff in den rechten Zusammenhang und
erhellen ab und zu Schlegels eigentümlichen Wortschatz. Wesentlich Neues für
Schlegels Bedeutung im Rahmen der Frühromantik bringen sie kaum.
04 KA, Bd. XVIII, S. 92, Nr. 752. Eingeklammerte Worte von mir.
85 Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 302, Nr. 1298.
41
PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN
M
„Unser Hauptunterschied besteht darin, daß bei mir die philosophische, moralische
und ästhetische Anschauung nur ein und dieselbe ist, da Fichte sie trennt", Philoso-
phische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S.433, Nr. 68.
67
„Er hat Idealität und Realität; aber beides steht isoliert und roh da in ihm", ebd.,
S. 37, Nr. 201.
68
Preitz, Friedrich Schlegel und Novalis, S. 140; vgl. Behler in KA, Bd. XVIII,
S. XXXIV.
69
Fragment 676 nach der Numerierung der Seelig-Ausgabe.
70
Rezensionen aus den Heidelbergischen Jahrbüchern, in DNL, Bd. 143, S. 337 ff.
42
PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN
Voraussetzung der Tätigkeit der Vernunft auf allen Gebieten. Heben wir,
sagt er, Denken und Handeln „versuchsweise" auf, so bleibt das Unend-
liche und eine Intuition des Unendlichen übrig, und dieser Rest, der das
Grundelement der Seele ist, heißt „Liebe" 71 . Sie tut sich im Menschen als
Streben und Sehnen kund, die somit zu elementaren Seelenkräften er-
hoben werden. Die Liebe ist das Positive im Wesen des Menschen, das
„dunkle Licht", das jede geistige Tätigkeit erst ermöglicht72. Der
mystische Ausdruck „das dunkle Licht" deutet schon die Riditung an, in
der die Erklärung dieser Anschauung zu finden ist: Jakob Böhme läßt
nach Schlegels Interpretation „alles [sich] aus Liebe und Gefühl er-
zeugen" 73 .
Der als Grundvermögen der Seele aufgefaßten Liebe gegenüber
spielt die Vernunft die Rolle eines bloßen Werkzeugs der Erkenntnis. Auf
sich selbst angewiesen und ohne die Führung der Liebe ist sie blind: sie
kann die Wahrheit „ausbilden", nicht aber „finden" 74 . Sie ist unfruchtbar
und unproduktiv; ihr müssen Anstoß und Richtung gegeben werden. W e r
sich ihr allein anvertraut, gleicht einem Schiffer, der, „ohne Kompaß auf
das stürmische Weltmeer" hinausgeworfen, nicht fähig wäre, „das Dun-
kel, welches das ferne Ziel und die Schranken gleich sehr umhüllt, zu
durchdringen und die Richtung des einzigwahren Weges zu entdecken" 75 .
Der richtungweisende Kompaß ist die Liebe.
Noch in den Wiener Vorlesungen aus dem Jahr 1812 wird Schlegel an
diesem Standpunkt festhalten. Das kommt besonders in seinem Urteil
über Kant zum Ausdruck. An Kants philosophischer Erneuerung lobt er
die Tatsache, daß der Kritizismus auf theoretischem Gebiet die Vernunft
in ihre Schranken zurückgewiesen hat: die theoretische Vernunft ist näm-
lich an sich „leer und ohne Inhalt" und mithin nur in ihrer Anwendung
auf die Erfahrung brauchbar und gültig. Kants großer Irrtum liegt für
Schlegel dagegen in der Kritik der praktischen Vernunft. Hier soll Kant
nicht konsequent gewesen sein, indem er der Vernunft nicht, wie es sein
sollte, eine „dienende Rolle" zuerkannt, sondern sie „unter der Maske
des Glaubens" wieder auf den Thron gesetzt habe. Auch auf praktischem
Gebiet hält Schlegel nicht die Vernunft für das Primäre, sondern die
„innere Wahrnehmung", aus der allein die Gotteserkenntnis entspringen
kann 7 '. Die Vernunft spielt dabei nur eine regulative, keine konstitutive
Rolle. Einen ähnlichen Vorwurf macht er Descartes, wenn er ihn darum
43
PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN
rügt, daß er durch den Erweis des Daseins Gottes aus der Vernunft Gott
von der Vernunft abhängig gemacht bzw. ihn der Vernunft gleichgesetzt
habe. Das Dasein der „ewigen Liebe", d. h. Gottes, fügt er hinzu, kann
unmöglich mit Argumenten aus dem Bereich der „abstrakten Begriffe"
bewiesen werden: es steht nur in Beziehung auf die „innere Wahrneh-
mung", das Gefühl und den Glauben".
Die Aufgabe, an der die Vernunft hauptsächlich scheitert, ist das Be-
wußtwerden der Totalität des Menschen. Sie erkennt eigentlich nur sich
selbst. Ohne Zweifel stimmt Schlegel der intellektuellen Anschauung als
Urhandlung zu; ihren Inhalt aber muß er in Übereinstimmung mit seiner
persönlichen Ansicht ändern: sie ist für ihn nämlich eine Anschauung nicht
im Sinne eines Selbstbewußtseins, sondern eines Selbstgefühls. Nicht das
Bewußtsein ist das Primäre, sondern die „innere Wahrnehmung", das
Gefühl, dessen Inbegriff und wahres Wesen die Liebe ist. „Das Wesen
des Bewußtseins überhaupt ist Liebe", schreibt er78. Nur das Gefühl setzt
uns instand, uns „des ganzen Menschen bewußt" zu werden 79 . „Nur durch
Liebe und durch das Bewußtsein der Liebe wird der Mensch zum Men-
schen"80; mit anderen Worten: „Nur durch Liebe wird man ein Indivi-
duum" 81 . Ohne sie ist der Mensch nur ein „Prätendent der Existenz", wie
Schlegel sich in einem Athenäumsfragment ausdrückt. Nur sie verhilft
zum Verständnis des Lebens, sie ist die „intellektuale Anschauung des
Lebens" 82 und „Konstitution des echten Lebens" 83 .
Ähnlich wie in Schlegels Auffassung der Seele erfüllt die Liebe in der
Gestalt der Sehnsucht eine primäre Funktion in seiner Kosmogonie. Diese
Anschauung hat Ernst Behler aus den von Windischmann veröffentlichten
Vorlesungen deutlich herausgearbeitet 84 . Am Anfang war die Sehnsucht,
sie erschuf die Welt in einer progressiven Mannigfaltigkeit von Formen,
die sich in unendlichen Ubergangsstufen vom mineralischen zum mensch-
lichen Bereich übersteigen. Das geistige Bewußtsein des Menschen ist der
Gipfel der Schöpfung, und in diesem Bewußtsein soll die Quelle der
schöpferischen Entwicklung, die liebende Sehnsucht, sich selbst offenbar
werden. Der Mensch als Teil und Gipfel der Natur ist seinem Wesen nach
die Offenbarungsstelle der universellen Liebe, der Punkt, an dem das
Wesen des Weltalls in sich selbst zurückkehrt, das Geschöpf, das den Kreis
44
PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN
schließt. Durch einen richtigen Sinn für seine tiefere Natur findet der
Mensch zur anfänglichen Liebe, zu Gott zurück. Denn Gott ist nicht Ver-
nunft, sondern Liebe, ein „Universum von Liebe" und ein „Roman von
Welten"85, das Immanente aller Reiche und Formen, das sich durch die
unendliche Entwicklung der Natur progressiv „realisiert"86.
Die Liebe ist also das Göttliche im Menschen, der Berührungspunkt
und das Verbindungsglied zwischen Mensch und Gott und die Partizipa-
tion des Menschen am Universum, dessen Quelle und Wesen Liebe ist.
Die Liebe ist die verbindende Mitte zwischen Gott, Welt und Ich.
Diese Auffassung hat Friedrich Schlegel zu einer entscheidenden Er-
kenntnis verholfen. „Wir sind ein Teil der Natur", meint er in den Philo-
sophischen Lehrjahren, und „daß wir uns von der Natur absondern, i s t . . .
nur Schein und Täuschimg der Individualität"87. Das Wesen des Men-
schen und der Natur ist identisch und beruht auf Liebe. Es gibt also kein
Nicht-Ich im eigentlichen Sinn, da die ganze Natur das große Ich darstellt,
von dem wir ein Teil sind. Ein Nicht-Ich als ein vom Ich ganz unabhän-
giges und dem Ich fremdes Wesen ist für Schlegel eine sinnleere Vorstel-
lung. Nicht-Ich und Ich lassen sich auf ein Ur-Ich zurückführen. „Nicht-Ich
ein leeres Wort; es sollte Etwas heißen. Ich ist sehr gut, weil es das Sich-
selbstkonstituieren so schön bezeichnet. Die Synthese wäre dann ein
Du" 88 ; und in einer Randbemerkung zum darauf folgenden Fragment
heißt es: „Ich + Etwas = Du". Die Bezeichnung „Etwas", die Friedrich
Schlegel vorschlägt, vermeidet das Trennende und die Betonung des
Andersartigen. Jedes Etwas ist, wie wir, Teil der Natur, und das Ganze
ist ein Du. Das Universum ist ein Du für jeden von uns, ein Verwandtes,
ein Brüderliches, ein Wesensgleiches. Ausdehnimg und Bedeutung des
Ich werden demgemäß auf das Individuelle eingeschränkt; das Ich ist nur
eine Stimme im Dialog des Universums. Die Synthese von Mensch und
Natur, die Schlegel „das große X, das ewig Unerreichbare" nennt8®, er-
scheint als ein weltweites Du, dessen sich der Mensch progressiv bewußt
werden soll. An diesem Punkt kann man kaum noch von einer Auseinan-
dersetzimg Schlegels mit Fichte reden; wir haben es mit einer einfachen
Umschwenkung in pantheistische Richtung zu tun. Nicht das absolute Ich
wie bei Fichte, sondern das Universum erscheint hier als das Umgrei-
fende. „Der christliche Gegensatz der Natur ist das Reich Gottes; im Uni-
versum beides vereinigt"90. Geist und Natur, Gott und Welt beruhen auf
85 Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 327, Nr. 23.
8» Ebd., S. 416, Nr. 1140.
87 Ebd., S. 377, Nr. 686.
89 Ebd., S. 299, Nr. 1253.
89 Ebd., S. 377, Nr. 686.
45
PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN
81
Ebd., S. 285, Nr. 1067.
»2 Ebd., S. 269, Nr. 897.
93
Ebd., S. 299, Nr. 1260.
94
Die Entwicklung der Philosophie in 12 Büchern, KA, Bd. XII, S. 355.
85
Literary Notebooks, Nr. 1500.
96
Transzendentalphilosophie, KA, Bd. XII, S. 53.
46
PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN
der Schöpfung. Sie ist das eigentliche Progressive im Menschen; als Stre-
ben und Sehnsucht löst sie das Werden im Sinne eines Fortschreitens,
einer „progressiven Bildung" aus. Das bildet wieder einen grundsätz-
lichen Unterschied zur Vernunft. Nicht nur in bezug auf die wahre Er-
kenntnis, sondern auch mit Hinblick auf die Produktivität des Geistes ist
die Vernunft unfruchtbar. Nur die Liebe hat Kausalität und ist schöpfe-
risch. Sie vermittelt nämlich zwischen der Phantasie als produktivem Den-
ken, als „Selbstschöpfung", „Begeisterung", „Erfindung", und der Ver-
nunft als verneinendem Denken, als „Selbstvernichtung", „Selbstbe-
schränkung""7. Sie vermittelt ebenfalls zwischen der Ahnung der unend-
lichen Fülle und Mannigfaltigkeit und der Erinnerung an die unendliche
Einheit der Welt98. Nur sie kann dem Menschen zur vollen Entfaltung
seines Wesens verhelfen. Dieses Wesen definiert Schlegel einmal als
„Fähigkeit ins Unbestimmte", und er fährt fort: „Im einzelnen Menschen
nimmt diese sogleich eine bestimmte Richtung, und das ist eben Fertig-
keit; durch Freiheit wird es Talent, durch Liebe werden viele Talente
zum Genie"".
Schlegels Charakter entsprechend mußte die von ihm heraufbeschwo-
rene Welt des Gefühls und der Liebe ihn fast zwangsläufig veranlassen,
aus dem Gebiet des rein Philosophischen herauszutreten und sich in den
Machtbereich der sogenannten 'Religion1 zu begeben. Schon sehr früh war
sein Interesse für die Religion wach geworden. Die Ideen im Athenäum
sind wohl der zeitlich erste massive Ausdruck dieses Interesses, aber schon
im Jahre 1798 wimmeln seine handschriftlichen Notizen von Gedanken
über Religion, und zwar nicht über Religion als kulturhistorische Erschei-
nung, sondern als persönliches Weltanschauungsproblem. In den Philoso-
phischen Lehrjahren heißt es Ende 1798: „Die Religion ist keine Art der
Bildung, kein Teil der Menschheit für sich, sondern der Mittelpunkt
aller"100. Etwas später: „Religion ist Element, Luft des höheren Men-
schen"101. Derartige Äußerungen ließen sich beliebig belegen. Nur noch
folgende aus derselben Zeit seien hier angeführt: „Die Religion hat keine
Grenzen, ist schlechthin in allen Rücksichten und in allen Richtungen un-
endlich"102; „Alle Kunst und Wissenschaft soll in Religion verwandelt
werden" 103 , was in einem historischen Prozeß geschehen soll, in dem die
47
PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN
Religion „sich selbst konstituiert", denn sie ist „unendlich progressiv" und
dehnt ihre Macht allmählich auf alle anderen Hoheitsgebiete aus104.
Nun muß man sich selbstverständlich fragen, was Schlegel um die
Jahrhundertwende mit Religion eigentlich meint. Daß es sich weder um
das Christentum in seiner historischen und dogmatischen Erscheinung
noch um irgendwelche positive Religion handelt, ist offensichtlich. Ohne
Zweifel ließen sich auf seinen Begriff der Religion Schleiermachersche
Denkschemata anwenden; Religion ist ihm tatsächlich mehr „Sinn und
Geschmack für das Unendliche" als Annahme irgendeines Dogmas und
Ritus, wobei allerdings, wie erwartet, die Bedeutung der Liebe stark be-
tont wird: „Die Liebe Gottes ist das Zentrum der Religion"105. Die Hand-
schriften der Philosophischen Lehrjahre erlauben jedoch eine genauere
Beschreibung und liefern das Schlüsselwort zur Erklärung der Schlegel-
schen Religion. Diese ist keine kirchliche Lehre, die der Philosophie ein-
fach den Rücken kehrt und ihre Richtlinien und Glaubensartikel von
irgendeiner dogmatischen Autorität bezieht. Sie ist vielmehr eine mit
Philosophie gemischte Religion, eine Religion, die sich erst aus philoso-
phischer Reflexion entwickelt. In den Beilagen zu den Philosophischen
Lehrjahren nach dem Aufenthalt in Paris im Jahre 1802 heißt es: „Reli-
gion + Philosophie = Theosophie. Dieses ist das Höchste und Grund
alles übrigen; einzige Basis aller Enzyklopädie — die ohne sie nur skep-
tisch sein könnte"10". So lautet der späte Ausdruck einer Intuition, die
Friedrich Schlegel jahrelang gehegt hatte und die sich bei ihm endgültig
festlegte, nachdem er mit der Theosophie', d. h. in diesem Fall mit
Jakob Böhme, näher vertraut geworden war. Die Pariser Handschriften
strotzen von Bemerkungen über Böhme. Sie fangen bekanntlich in der
zweiten Hälfte des Jahres 1802 an, d. h. nach dem gemeinsamen Aufent-
halt Schlegels und Tiecks in Dresden vom Januar bis zum Mai 1802. Aber
schon früher, nämlich 1799 in Jena, hatte Schlegel geschrieben: „Die Reli-
gion oder T h e o s o p h i e enthält die Prinzipien aller Kunst und Wissen-
schaft. Philosophie muß diese Prinzipien nur konstruieren, Poesie sie dar-
stellen"107. Dieses Fragment ist naturgemäß von grundlegender Bedeu-
tung für Schlegels Weltbild. Böhmes Theosophie erscheint ihm als auf den
gleichen Grundlagen aufgebaut wie seine eigene Weltschau; sie stellt die
Liebe als oberstes Prinzip auf, und zwar in der dreifachen Gestalt als
Sehnsucht der schöpferischen Natur, als Grundvermögen der menschlichen
Seele und als Wesen Gottes. Das ist die primäre, elementare Gegebenheit.
48
PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN
Alles andere ist sekundär, also auch die Philosophie und die Poesie. Die
Funktion der Philosophie in einem solchen Weltbild läßt sich dann genau
umreißen: mit Hilfe der geistigen Kräfte des Menschen, namentlich der
Vernunft, soll sie das „Urfaktum" der Liebe in rationale Prinzipien „kon-
struieren", d. h. gedanklich konsequent darlegen. Und in solchem Zusam-
menhang erscheint die Poesie als „Darstellung" dieses Urfaktums, als
Offenbarung der Liebe. „Philosophie ist die konstitutive Macht, die
Poesie die exekutive"108; die Philosophie konstituiert, bringt die Gegeben-
heiten der „inneren Wahrnehmimg" in einen strengen gedanklichen Zu-
sammenhang, die Poesie vertritt sie anschaulich nach außen. Die
Böhmesche Theosophie scheint also die Antwort auf die Frage nach der
Beschaffenheit der Schlegelschen Religion um die Jahrhundertwende zu
sein. Das wird in mehreren Fragmenten bestätigt, von denen ich nur zwei
anführen möchte: „ T h e o s o p h i e gleich statt Idealismus?" 109 und „Für
den höchsten Grad von Idealismus kein besserer Name als Theosophie"110.
Wieder einmal führt diese Auffassung der Religion unmittelbar zur
romantischen Poesie: „Religion haben, wie man das Wort bisher genom-
men hat, heißt Poesie leben"111.
Friedrich Schlegels spätere Ansichten über die Religion, die sich in-
folge seiner Bekehrung zum Katholizismus entwickelt haben, können uns
aus chronologischen Gründen für die unmittelbare Grundlegung der
romantischen Poetik nicht mehr interessieren. Wohl aber müssen wir uns
hier fragen, was der Theologe der Romantik, Friedrich Schleiermacher,
zur Auffassung der Religion als einer gedanklichen Grundlage der
Romantik beigesteuert hat.
Auch für Schleiermacher ist die Liebe die lebendige Quelle dessen,
was er Religion nennt. Adam verstand die Gottheit nicht, solange er allein
auf der Welt war. Der Sinn für die Welt wollte ihm nicht aufgehen, bis er
in Eva die „Menschheit" entdeckte und in der Menschheit die Welt. Erst
„von diesem Augenblick an wurde er fähig, die Stimme der Gottheit zu
hören". Die so gedeutete Genesis wiederholt sich in jedem von uns: „Um
die Welt anzuschauen und um Religion zu haben, muß der Mensch erst
die Menschheit gefunden haben, und er findet sie nur in Liebe und durch
Liebe"112.
Auch hier verhilft also erst die Gegenwart und das Gefühl eines Du
zum richtigen Verständnis der Welt, indem es den Menschen über seine
108
Ebd., S. 292, Nr. 1161.
108
Ebd., S. 429, Nr. 33.
110
Beilagen zu den Philosophischen Lehrjahren, KA, Bd. XVIII, S. 567, Nr. 75.
111 Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 383, Nr. 750.
112
Sdileiennacher, Über die Religion, 2. Rede.
49
4 Nivelle
PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN
50
PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN
Augenblick, der zwar unmitteilbar, aber unersetzlich ist, stellt eine voll-
kommene Kommunion mit dem Universum dar. Auf ihn kommt es an; er
wirkt als gefühlsträchtige Offenbarung des Unendlichen in jeder end-
lichen Gestalt. Eine solche Anschauung entsteht demnach vor jeder Re-
flexion und vor jeder bewußten Handlung. Sie ist die spontane Antwort
des religiösen Menschen auf das Universum. Sie veranlaßt kein Handeln,
sie schafft nur eine Stimmung, eine Bewegung des Gemüts, ein Staunen.
Offensichtlich läßt sich eine solche Religion weder lernen noch unterrich-
ten: „Das Universum bildet sich selbst seine Betrachter und Bewunde-
rer"115. Ein Gemüt, in dem sich keinerlei Ahnung des Unendlichen regt, ist
ein für allemal der Religion und daher auch der wahren Liebe verschlos-
sen. Echte Religion flieht Dogmen und Systeme, Glaubensartikel und
abstrakte Vorstellungen. Sie gehört nicht zum Bereich des Verstehens wie
die sonstigen Kenntnisse und Tätigkeiten des Menschen, sondern zu dem
des „Sinnes". Nur der „Sinn" vermag ein Ganzes zu fassen, während das
Verstehen alles „anatomiert" und den tiefen, übersinnlichen Zusammen-
hang verfehlt.
Eine so aufgefaßte Religion besteht einzig und allein in den Regun-
gen des Gemüts. Der Glaube z. B. hat keinen Anteil an ihrem Wesen. Der
Glaube an eine Gottheit ist eine einzelne religiöse Anschauungsart, neben
der es eine Unzahl anderer Anschauungsarten gibt; ob ein Mensch an Gott
glaubt oder nicht, hängt mit der Richtung seiner individuellen Phantasie
zusammen, ist aber in bezug auf echte Religion unwesentlich. Der christ-
liche Glaube an die Unsterblichkeit der individuellen Seele ist sogar irreli-
giös. Der wahre religiöse Sinn gebietet eine andere Haltung, nämlich die
Sehnsucht nach Erweiterung der Persönlichkeit über alles Individuelle
hinaus ins Unendliche. Ein solches Streben ist gerade das Charakteristi-
kum der religiösen Seele: diese will das Individuelle vernichten und im
Universum, im Einen leben, und zwar schon, so gut es geht, im Laufe des
irdischen Daseins. „Mitten in der Endlichkeit eins werden mit dem Un-
endlichen und ewig sein in einem Augenblick, das ist die Unsterblichkeit
der Religion"116. Ähnliches sagt übrigens auch Novalis, wobei er aller-
dings nicht von der Religion, sondern von der Poesie ausgeht.
Die Schleiermachersche Religion führt unmittelbar zur Poesie. In
diesem Zusammenhang soll aber nur betont werden, daß sowohl Schleier-
macher als auch Friedrich Schlegel die Unzulänglichkeit eines rein philoso-
phischen Idealismus, wie Fichte ihn dargestellt hatte, empfunden haben.
Der Entthronung der Vernunft durch die Liebe in Schlegels Anschauung
und seiner Hervorhebung des religiösen Moments entspricht bei Schleier-
115
Ebd., 3. Rede.
Ebd., 2. Rede (in fine).
51
4»
PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN
52
PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN
gestellt" sei11®. Als Philosophie der Kantschen Kritik sei die Wissenschafts-
lehre „so unvollständig wie die Kritik selbst"120; sie sei „angewandte
Logik — weiter nichts"121. In allen diesen Vorbehalten spielen, wie bei
Friedrich Schlegel, die jugendliche Forderung nach einer radikaleren Ab-
solutheit des Idealismus, das romantische Gebot der Universalität und
nicht zuletzt die Rücksicht auf das Ästhetische eine nicht geringe Rolle.
Ganz besonders diese Rücksicht kommt in manchem Fragment zum Vor-
schein, so z. B. wenn Novalis Kant und Fichte vorwirft, sie wüßten „nicht
mit Leichtigkeit und Mannigfaltigkeit zu experimentieren, ü b e r h a u p t
n i c h t p o e t i s c h " 1 2 2 . Aus ähnlichen Gründen hatte auch Friedrich Schle-
gel an Fichtes Naturauffassung allerlei auszusetzen.
Die zweite, tiefgreifendere Kritik richtet sich, wieder einmal wie bei
Friedrich Schlegel, gegen einen Grundbegriff des ganzen Systems, dies-
mal freilich nicht gegen die Funktion der Vernunft, sondern gegen die
Fichtesche Darstellung und Anschauung des Ich. Hier kommen Novalis'
persönliche Ansichten deutlicher zum Ausdruck, und es springt sofort in
die Augen, wie verschieden die Standpunkte der beiden Denker sind. Mit
der Kritik des Novalis verlassen wir den erkenntnistheoretischen Bereich
Fichtes, überspringen das Zwischengebiet der Lebensphilosophie und der
Religion Friedrich Schlegels und geraten in die Nähe des gnostischen
Wissens, das Jaspers dem späteren Schelling mit harten Worten vorgehal-
ten hat, indem er diesen Ubergang zur Gnosis als einen Grundirrtum des
menschlichen Geistes darstellte. Dem sei, wie ihm wolle; uns soll er hier
ausschließlich in bezug auf die frühromantische Dichtungstheorie interes-
sieren, für die er von beträchtlicher Bedeutung gewesen ist. Novalis' Kritik
an Fichte läßt sich mit den Worten zusammenfassen: Fichte glaubt nicht
an die Wirklichkeit des Ich. „Fichtes Ich ist ein Robinson — eine wissen-
schaftliche F i k t i o n zur Erleichterung der Darstellung und Entwicklung
der Wissenschaftslehre"123; anders gesagt: ein denktechnisches Mittel,
keine Grundrealität.
Wie versteht nun Novalis das Ich? Es ist an sich schon aufschlußreich,
daß er das Wort so gut wie nie als eine bequeme Bezeichnung für „In-
telligenz" verwendet, wie Fichte es in der Einleitung der Wissenschafts-
lehre tut. Wenn er einen anderen Ausdruck dafür gebraucht, dann mei-
stens Geist oder Individualität. Unter Individualität versteht er nicht
etwa das Trennende und Absondernde, wohl aber die innere Einheit,
den lebendigen Zusammenhang eines Wesens. Von seltenen Ausnahmen
119
Fragment 2093.
120
Fragment 2118.
121
Fragment 2642.
122
Fragment 2093 (Sperrung von mir).
123
Fragment 1894 (Sperrung von mir).
53
PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN
124
Fragment 891.
125
Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 88, Nr. 704.
126
Ebd., S. 90, Nr. 725.
127
Ebd., S. 134, Nr. 147.
128
Ebd., S. 134, Nr. 146.
129
Ebd., S. 348, Nr. 327.
130
Fragment 2521.
54
PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN
konsonierter" Geist ist131. Die Seele ist der Geist in seiner Gebundenheit
an die Körperlichkeit, die Endlichkeit, die Zeitlichkeit. Der Geist ist von
jeder solchen Bindung frei; er ist ewig, unendlich, und er bildet den Kern,
den Mittelpunkt des Menschen, das Fundament der Individualität. Der
so aufgefaßte Geist ist für Novalis das Ich.
Es stellt sich dabei sofort die Frage nach der Beziehung des Geistes
zum menschlichen Organismus. Hier treten wir aus der Fichteschen Philo-
sophie heraus und geraten in einen Vorstellungsbereich, der im Zeichen
des Geisterglaubens steht, nämlich in die Sphäre der Seelenwanderung.
Der Mensch ist für Novalis — und das ist ausgiebig belegt — ein Geist,
der für die Dauer des irdischen Lebens in einen Körper gebannt ist. Nach
dem Tod des Körpers geht er zurück in das Reich der Geister, der „Dä-
monen und Genien", in dem er schon vor der irdischen Geburt beheimatet
war. „Wenn ein Geist stirbt, wird er Mensch. Wenn der Mensch stirbt,
wird er Geist"132. Aufgabe des Menschen ist es, sich dieser seiner Bestim-
mung bewußt zu werden und demgemäß zu handeln, d. h. an der Ver-
vollkommnung seines Geistes zu arbeiten, indem er durch seine Tätigkeit
auf Erden die Loslösung des Geistes von der Bindung an den Körper be-
treibt. Wer in diesem irdischen Leben nicht zur Vollendung gelangt, d. h.
wem es auf Erden nicht gelingt, seine Natur in Geist aufgehen zu lassen,
der „gelangt vielleicht drüben oder muß eine abermalige irdische Lauf-
bahn beginnen" 13 '.
Man mag sich aus noch so tiefeingewurzelten Gründen gegen eine
solche Auffassung des Lebens sträuben, die Formulierungen des Novalis,
die man beliebig mehren könnte, sind in dieser Hinsicht klar und deutlich;
weder läßt sich daran herumdeuteln, noch kann man sie etwa in irgend-
einem übertragenen Sinn verstehen. Man mag solche Anschauungen als
Hirngespinste und Wunschträume oder auch als philosophisch verbrämte
Dichtung betrachten, man muß doch zugestehen, daß, wer einen solchen
Glauben nun einmal hat, ihn notwendigerweise zum Fundament seiner
Welt- und Lebensanschauung machen muß.
Übrigens war Novalis nicht der einzige Frühromantiker, der solche
Meinungen verfochten hat. Auch Friedrich Schlegel bekennt sich zu ähn-
lichen Uberzeugungen. In den Philosophischen Lehrjahren heißt es z. B.:
„Wir haben vor diesem Leben existiert, und nach dem Tode wird uns das
einfallen, wieder in unser Bewußtsein treten"134. Und im selben Zusam-
menhang begegnet auch die vorsichtigere Formulierung: „Die Wande-
131
Fragment 1728 und 1834.
132
Fragment 1377.
133
Fragment 1328.
134 Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 132, Nr. 127.
55
PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN
rang der Seele von Menschen und Tieren ist nach der wahren Philosophie
nicht ungereimt" 135 .
Wie Novalis zu solchen Ansichten gelangt ist, ist eine historische
Frage, die uns hier nicht beschäftigen soll. Er hat selbst mehrmals betont,
daß seine Überzeugung nicht auf philosophischen Schlüssen und religiösen
Dogmen, sondern auf persönlichen Erfahrungen beruht. Freilich mußte er
auf solche Erfahrungen vorbereitet sein. Vielleicht haben die herm-
hutische Erziehung, die Atmosphäre auf dem Grüninger Schloß — Sophie
glaubte bekanntlich an die Seelenwanderung — , das Interesse für Jakob
Böhme, die Begegnung mit Schelling und Baader und überhaupt ein ge-
wisser Zeitgeist, der sich in Gestalten wie Oetinger und Jung-Stilling
offenbarte, zur Bildung seiner Meinving beigetragen. Wenn man nach
geistesgeschichtlichen Anhaltspunkten suchen wollte, würden sich von
Plato bis etwa Lessing so viele Möglichkeiten bieten, daß nur Verwirrung
entstehen könnte. Zu den möglichen Quellen gehört m. E. die Lehre der
Rosenkreuzer. Manche Gedanken des Novalis sind einfach unverständlich,
wenn man das Rosenkreuzertum nicht zur Erklärung heranzieht. Ähn-
liches gilt auch für die Alchimie. Im Katalog von Novalis' Bibliothek 1 " 1
stößt man auf eine gewisse Anzahl von alchimistischen Traktaten, unter
denen zwei Bücher von Eckartshausen besonders auffallen. E s handelt
sich um die Entdeckungen über Licht, Wärme und Feuer und um die
Ideen über das affirmative Prinzip des Lebens und das negative des Le-
bens. Die Aufschlüsse zur Magie sind nicht aufgeführt. Novalis hat sie
aber zweifellos gekannt, wie die überzeugenden Parallelen, die von Klee-
berg aufgedeckt worden sind 137 , eindeutig zeigen. Unter den Übereinstim-
mungen befinden sich der Glaube an die Seelenwanderung, die Idee von
der Verkettung des Endlichen und des Unendlichen und die Anschauung
des Gefühls als des einzigen fundamentalen Sinnes des Menschen, von
dem die anderen Sinne nur Modifikationen sind. E s ist hier nicht meine
Absicht, alle in F r a g e kommenden Quellen anzudeuten; ich möchte nur
betonen, daß man sich in der Forschung viel zu oft mit der bloßen Erwäh-
nung dieser geistigen Zusammenhänge zufriedengegeben hat, ohne ihnen
den gebührenden Platz in Novalis' Werdegang anzuweisen.
Der Geist ist für Novalis zunächst das Prinzip der Identifikation: er
verwandelt „das Fremde in ein Eigenes"; Zueignung ist sein „unaufhör-
liches Geschäft". Solange er sich jedoch Fremdes aneignet, ist er ein
„Naturgeist", ein „Geist aus Instinkt". Er soll ein „Vernunftgeist" wer-
den, ein Geist aus Absicht, aus Besonnenheit, aus „Kunst", und zwar,
56
PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN
indem er „sich selbst fremd" wird oder sich selbst fremd macht, sich als
Objekt nimmt, um sich seiner selbst bewußt zu werden138. Das Selbst-
bewußtsein des Geistes ist der erste Schritt auf dem Wege zur Erkenntnis
der Welt und des Schidisais. Wie soll das geschehen? Durch die intellek-
tuelle Anschauung. Novalis bejaht diese Fichtesche und Schellingsche
Urhandlung, stellt sie aber in einem eigentümlichen Lichte dar: sie ist ihm
eine Ek-stasis, ein Heraustreten aus der Welt der Sinne, ein „inneres
Lichtphänomen"I39, das einer „echten Offenbarung des Geistes" gleich-
kommt. Die Beschreibung dieses „Phänomens" ist aufschlußreich: „es ist
kein Schauen, Hören, Fühlen; es ist aus allen dreien zusammengesetzt,
mehr als alles Dreies: eine Empfindung unmittelbarer Gewißheit, eine
Ansicht meines wahrhaftesten, eigensten Lebens" 140 . Nie hätte Fichte
solche Wendungen und Vergleiche gebraucht, um die intellektuelle An-
schauung zu beschreiben. Das Wort bleibt dasselbe, der Sinn ist ein an-
derer. Wir haben es bei Novalis mit einer richtigen Ekstase zu tun, in der
eine übersinnliche Wirklichkeit, eben der Geist, das Ich, geoffenbart wird,
und zwar der individuelle Geist (das „eigenste Leben") im Gegensatz
zum Fichteschen Vorgang, in dem das in der intellektuellen Anschauung
tätige Ich als überindividuell erscheint. Bei Fichte ergreift der Geist sich
selbst, bei Novalis begreift sich der Mensch als Geist: darin besteht die
„Offenbarung". Nur auf Grund so unterschiedlicher Auffassung des glei-
chen Vorgangs ist etwa folgendes Fragment zu verstehen: „Die Hypostase
[im scholastischen Sinn einer individuellen Substanz] versteht Fichte nicht;
darum fehlt ihm die andre Hälfte des schaffenden Geistes [gemeint ist
die Ekstase]. Ohne Ekstase, fesselndes, alles ersetzendes Bewußtsein ist
es mit der ganzen Philosophie nicht weit her"141. Es dürfte somit klar sein,
von welchem Gesichtspunkt aus Novalis kritisch an die Fichtesche Philo-
sophie herantritt: die ganze Philosophie ist ihm wertlos, wenn sie nicht
in der zwingenden, „fesselnden" Erfahrung des Geistes als einer indivi-
duellen Substanz ihren Ursprung hat.
Wenn der Mensch sich einmal als Geist erkannt hat, erwacht in ihm
das Gefühl für seine eigentliche Heimat, die Geisterwelt. Die Offen-
barung des eigenen Geistes ist zugleich der Zugang zur übersinnlichen
Welt, zum „Unendlichen". Auch dieses Wort hat bei Novalis eine andere
Tönung als bei Fichte. Das Unendliche ist ihm die Heimat des Geistes
und der Geister. Ob Friedrich Schlegel, der allem Anschein nach solchen
Vorstellungen ziemlich fremd gegenübersteht, etwas Ähnliches meint,
wenn er von einer „höheren Sphäre von Geistern" spricht, ist nicht mit
138 Fragment 1242.
139 Fragment 2065.
140 Fragment 22.
141 Fragment 2528 (eingeklammerte Worte von mir).
57
PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN
58
PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN
148
Fragment 800.
149
Fragment 33.
150
Fragment 1588.
151
Fragment 1326.
152
Fragment 1836.
153
Fragment 956 (eingeklammerte Worte von mir).
59
PHILOSOPHISCHE G R U N D L A G E N
60
PHILOSOPHISCHE G R U N D L A G E N
steht in der Abhängigkeit von äußeren Reizen, deren Inbegriff wir die
Natur oder die äußre Welt nennen. Dieses steht ursprünglich in der Ab-
hängigkeit eines Inbegriffs innrer Reize, den wir den Geist nennen oder
die Geisterwelt". Der Mensch soll die beiden Systeme, Natur und Geist,
in seiner Person in „ein vollkommenes Wechselverhältnis", in eine „freie
Harmonie" bringen160. Dazu muß das Ubergewicht des Körpers, die Passi-
vität, durch eine Steigerung des Willens, der Aktivität, aufgehoben wer-
den. Das freie, „idealische" Ich muß das unfreie, „wirkliche" Ich „er-
regen", damit es „sich besinnt" und „erwacht"161. Darin liegt das Geheim-
nis der „Selbstbesprechung"162, die zugleich ein „Akt der Selbstumar-
mung" ist: das freie Ich zeugt, das endliche Ich gebiert, und beide er-
ziehen den „Geist". Erst durch diese „glückliche Ehe" wird der Mensch
zum „vollständigen Ich"163.
Die geistige Aufgabe des Menschen beschränkt sich jedoch nicht auf
das innere Selbstgespräch. Das Verfahren, das der Mensch anwendet, um
sein unbewußtes, rezeptives Ich durch das freie Ich zu erwecken, soll er
auch auf die Welt beziehen. „Wir sollen alles in ein Du, in ein zweites Ich
verwandeln — nur dadurch erheben wir uns selbst zum großen Ich, das
Eins und Alles zugleich ist"164. Die Verwandlung des Nicht-Ich in ein Du
erinnert an Friedrich Schlegel und stellt einen bedeutenden Schritt über
Fichte hinaus dar. Zugespitzt formuliert erscheint diese Ansicht unter der
Feder des Novalis öfters als „Vernichtung des Nicht-Ich". Der Dichter
warnt jeweils vor dem Mißverständnis, das Nicht-Ich könnte „der sinn-
lichen Existenz nach" vernichtet werden; das erklärt er für unmöglich165.
Die Vernichtung des Nicht-Ich bezeichnet den Zustand des Menschen,
dem es gelungen ist, die Passivität zu überwinden und die Aktivität so zu
steigern, daß er den äußeren Reizen entzogen ist und nur noch von sich
selber affiziert wird168.
Mit der Verwandlung des Nicht-Ich in ein Du, d. h. mit der Integra-
tion der äußeren Welt in das Ich durch die Aufhebung der Passivität,
stehen wir mitten im sogenannten magischen Idealismus.
Was dieser Begriff genau bedeutet, läßt sich nicht so leicht auf eine
klare und einfache Formel bringen. Ein System im strengen Sinn des
160 Fragment 885.
161 Fragment 800.
182 Fragment 800 und 1183.
163 Ygj Fragment 849. Audi hier decken sich Novalis' Ansichten mit alchimistischen
Vorstellungen. Der Mensch als Bürger zweier Welten, dem Körper nach ein Höhe-
punkt der Natur, der Seele nach am untern Ende der Leiter stehend, ist ja eine
Grundanschauung Einartshausens (Vgl. Kleeberg, a.a.O.).
164 Fragment 1826.
61
PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN
187
Vgl. Fragment 3048.
188
Fragment 1152.
i«9 Vgl. Fragment 1184.
170
Fragment 1044.
62
PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN
171
Vgl. Fragment 1404.
172
Fragment 1768.
173
Vgl. Fragment 1992.
174
Fragment 1962.
175
Fragment 93.
176
Fragment 66.
177
Fragment 898.
178
Fragment 897.
63
PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN
Das ist eine andere Form der Vernichtung des Nicht-Ich: „Der Mensch
kann alles werden, worauf er reflektieren oder was er sich vorsetzen
kann"179; mit anderen Worten: „Was ich will, das kann ich. Bei dem Men-
schen ist kein Ding unmöglich"180.
Die Hervorhebung des Willens, die Behauptung der Allmacht des
Menschen gegenüber der Welt, die Auffassung des Menschen als des
Zweckes der Welt sind Positionen, die in der praktischen Vernunft grün-
den. Dank der Freiheit seines Willens ist der Mensch Sinn- und Form-
geber der Welt und des Lebens. Diese bei Novalis sehr beliebte Vorstel-
lung begründet die Funktion der Moral im magischen Idealismus und ihre
Eigenschaft als vorzüglicher Anwendungs- und Bewährungsbereich der
Lehre vom schöpferischen Geist. Insofern ist sie „das eigentliche Lebens-
element des Menschen"181. Diese Auffassung, die dem magischen Idealis-
mus seine Grenzen zu setzen scheint und ihn als im Grunde wenig neu
und umwälzend erscheinen läßt, bedarf jedoch einer Korrektur, die erst
bei der Interpretation des Begriffs Willkür erfolgen kann. Weil der mora-
lische Sinn uns dazu anregt, gut zu handeln, d. h. uns von keinem persön-
lichen Interesse bestimmen zu lassen, sondern dem kategorischen Impera-
tiv in seiner vollen Reinheit zu gehorchen, glaubt sich Novalis berechtigt,
unseren reinen Willen dem Willen Gottes anzugleichen: „Unser reiner
sittlicher Wille ist Gottes Wille"182. Durch den moralischen Sinn spricht
Gott zu uns und in uns; wir sind wahre Kinder Gottes, wenn die reine Sitt-
lichkeit in unserem Verhalten und Denken den Ausschlag gibt. „Indem
wir seinen Willen erfüllen, erheitern und erweitern wir unser eignes Da-
sein, und es ist, als hätten wir um unsrer selbst willen, aus innerer Natur
so gehandelt" 189 . Moralisch handeln heißt göttlich sein, das Irdische ab-
streifen, im reinen Geist leben, die Passivität ganz überwinden. Der
moralische Sinn ist der göttliche Kern unserer Individualität.
Der Wille als Werkzeug des moralischen Sinnes ist „nichts als magi-
sches, kräftiges Denkvermögen" 184 . Wollen und Denken sind ja der aktive
Aspekt des Ich im Gegensatz zu Fühlen und Vorstellen. Nun erweist sich
das Ich als aktiv und schöpferisch, magisch und wundertätig hauptsächlich
in der Moral: „Der Wunder höchstes ist eine tugendhafte Handlung, ein
Aktus der freien Determination" 185 . Darum werden wir „in dem Augen-
blick, wo wir vollkommen moralisch sind, Wunder tun können", aller-
179
Fragment 724.
180
Fragment 2988.
181
Fragment 3049.
182
Fragment 3049.
183
Fragment 3049.
184
Fragment 2537.
185
Fragment 1949.
64
PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN
65
S Nivelle
PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN
überzeugt, daß der Mensch den Triumph der „Kunst" über die „rohe
Masse" erringen wird. „Die Ideen erheben zu sich, sie lassen sich nicht
herab": darauf beruht das „Prinzip der Vervollkommnung in der Mensch-
heit" 184 . Der Geist soll jeden Einfluß der Natur auf die Bestimmungen der
Menschen ausschalten; dafür muß er den Körper vollkommen beherr-
schen. „Unser Körper soll willkürlich... werden" 195 ; „wir müssen den
Körper wie die Seele in unsre Gewalt bekommen" 196 . Der Geist soll den
Leib beeinflussen, nicht umgekehrt. Das tut er schon im Falle von Gefüh-
len wie Furcht, Trauer, Zorn, Neid, Scham, Freude, die sich alle auf den
augenblicklichen Zustand des Körpers auswirken. Auch wenn solche Ge-
fühle meist Reaktionen auf äußere Anlässe sind, so deuten sie doch min-
destens die Möglichkeit einer Modifikation des Körpers durch geistige
Regungen an. Es kommt darauf an, ähnliche Wirkungen mit bewußten
und gewollten geistigen Zuständen zu erzielen. Nun ist für Novalis „unser
ganzer Körper schlechterdings fähig, vom Geist in beliebige Bewegung
gesetzt zu werden" 197 . Herrschaft über den Körper bedeutet naturgemäß
auch Herrschaft über die Sinne, und zwar sowohl in ihrer Funktion als
Wahrnehmungs- und Vorstellungsmedien als auch in ihrer Rolle als
Werkzeuge unserer Wirkung auf die Welt. „Wir müssen also unseren
Körper zum allfähigen Organ auszubilden suchen. Modifikation unseres
Werkzeugs ist Modifikation der Welt" 198 . Die Unfähigkeit, die Sinne zu
beherrschen, die „NichtWirksamkeit auf das Gefäß meines Daseins" führt
zu einer Herrschaft der Natur über den Geist, die des geistigen Menschen
nicht würdig ist199. „Der Mensch soll ein vollkommnes und totales Selbst-
werkzeug sein" 200 . Wenn der Geist frei über die Sinne verfügt, produzie-
ren sie „die Gestalt, die er verlangt", und ermöglichen ihm, „im eigent-
lichsten Sinn in seiner Welt zu leben"; „er wird sehen, hören und fühlen,
was, wie und in welcher Verbindung er will" 201 . Solche Gedankengänge
bilden den unmittelbaren Übergang zu den „Visionen" und „Fiktionen",
die Novalis als charakteristisch für den Idealismus bezeichnet202, und
machen außerdem gewisse Äußerungen verständlich, etwa die berühmte
Briefstelle über die ersehnte Erscheinung Sophies203.
194 Ebd.
195 Fragment 846.
199 Fragment 1032.
107 Fragment 1023.
193 Fragment 1032.
199 Vgl. Fragment 1257.
200 Fragment 1751.
201 Fragment 1023.
202 Fragment 3110.
203 Gesammelte Werke, Bd. V, S. 132.
66
PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN
Aus alledem geht deutlich hervor, daß bei der Verwandlung des
Weltbildes nicht allein der Wille tätig ist, sondern auch die produktive
Einbildungskraft. Der mit der Einbildungskraft zusammenwirkende
Wille führt bei Novalis den Namen 'Willkür' 204 . Die Distanzierung von
der Kantschen Vernunft geschieht bei ihm nicht so eindeutig und systema-
tisch wie bei Schelling. In seiner Suche nach dem obersten Vermögen der
Seele schwankt er immer wieder zwischen der praktischen Vernunft als
moralischem Sinn und der produktiven Einbildungskraft. Bald wird das
eine, bald das andere Vermögen hervorgehoben. Dieses Hin und Her
stellt in philosophischer Hinsicht ohne Zweifel eine Schwäche dar, ermög-
licht es aber andererseits unserem Dichter, eine richtige Poetik zu ent-
wickeln. Wenn nämlich die Betonung auf die Einbildungskraft fällt, füh-
ren seine Überlegungen unmittelbar zu einer Dichtungstheorie. Der Ver-
such, die beiden Vermögen in der Willkür zusammenzufassen, ist vielleicht
eine Verlegenheitslösung, öffnet jedoch zugleich den Zugang zu einer
Kunstlehre, und gerade das soll uns hier besonders interessieren.
Die immer wieder hervorgehobene Notwendigkeit der Aktivität ist
nicht nur ein moralisches Gebot, sondern auch eine Wirkung der produk-
tiven Einbildungskraft. Der Idealismus läßt sich für Novalis als Sthenie,
d. h. als kräftige selbständige Tätigkeit, definieren; der Realismus er-
scheint ihm dagegen als Asthenie, ein Begriff, den er dem „Gefühl"
gleichsetzt205. Das Gefühl als passiver Aspekt des Ich ist uns bekannt; der
Gegensatz dazu sind eben die Visionen und Fiktionen, von denen auch die
Rede war und die doch nichts anderes bedeuten als eine freie Tätigkeit
der Einbildungskraft. Damit tut sich eine neue Dichotomie des Ich kund:
eine aktive Phantasie und ein passives Gefühl. Tätig sein, das Gegenteil
von „bloßem Mechanism", wird manchmal mit der Formel umschrieben:
„seine produktive Einbildungskraft brauchen" 206 . Der „tätige Gebrauch
der Organe", der das Genie kennzeichnet, besteht darin, „Geisterwelt be-
liebig darzustellen" 207 .
204 Über die Bedeutung des Wortes Willkür um 1800 schreibt Hans Eichner in der Ein-
leitung zum 5. Band der Kritischen Ausgabe von Friedrich Schlegels Werken
(S. XXXVII): „. . . das Wort Willkür darf nicht mißverstanden werden; es hatte
damals nicht immer die heutige negative Bedeutung. Schelling definiert Willkür als
,mit Bewußtsein freie Tätigkeit', als ,Freiheit zu wählen' und als .freie Wahl
zwischen entgegengesetzten Maximen, die sich wechselseitig ausschließen und in
einem und demselben Willen nicht bestehen können'. Schlegel definiert sie als
,absoluten Entschluß, als absolute Wahl einer Bestimmung aus unendlich vielen'
und als .absolutierte Freiheit'. Bei Kant ist jeder Willensakt Willkür, Freiheit
dagegen ,eine Willkür, die ihren Handlungen Vernunft zum Grunde legt'."
205 Fragment 3110.
208 Fragment 1900.
207 Fragment 1025.
67
5°
PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN
68
PHILOSOPHISCHE G R U N D L A G E N
im Novalis'schen Sinn. Ihr Wesen und Ziel ist die geistige Gliederung
einer „rohen Masse", das Ordnen eines „Chaos" und seine Verwandlung
in „eine freie Verbindung", in „eine mannigfaltige Welt" nach den Be-
stimmungen einer Idee217. In dieser Idee liegt das Schöpferische der
Kunst. Es kommt nicht darauf an, daß man etwas absolut Neues schafft" 8 ,
sondern daß man auswählt, ordnet, ausscheidet, gliedert, trennt und ver-
einigt nach einem schöpferischen Prinzip, das bei Novalis Idee heißt.
Diese Idee nun kommt nicht aus der Vernunft, sondern aus der Einbil-
dungskraft. „Hätten wir auch eine Phantastik, wie eine Logik, so wäre die
Erfindungskunst erfunden"21®. Die Erfindimg in diesem Sinn ist die freie,
beliebige, 'willkürliche' Schöpfung von Ideen. Von dieser Novalis'schen
Idee wird bei der Behandlung des romantischen Dichtungsbegriffs wie-
der die Rede sein. In diesem Zusammenhang soll sie nur als das schöpfe-
rische Merkmal des Geistes dargestellt werden. Insofern ist sie „magisch"
und „wunderbar" und erhebt die Geisteshandlungen, die sie hervor-
bringen, zu wunderbaren Tätigkeiten, wie z. B. die Mathematik220, die
„poetische Philosophie"221, den Witz222. Und diese Wunderbarkeit wurzelt
in der produktiven Einbildungskraft. Unter diesem Aspekt erscheint dem-
nach die Bildung der Phantasie als ein Gesetz des geistigen Menschen.
Dieser soll „Totalgenie" werden, d. h. schöpferisch in jeder Hinsicht.
Aus dieser Totalität des „Genies", auch hier das Wort in der allge-
meinsten Bedeutung gebraucht, ist sogar das Gefühl, das an sich den pas-
siven Aspekt des Ich darstellt, nicht ausgeschlossen. Es wird neben dem
„Selbstdenken" ein „Selbstempfinden" gefordert, das Novalis mit dem
Ausdruck „aktives Empfinden" umschreibt. „Man bringt das Empfin-
dungsorgan wie das Denkorgan in seine Gewalt"223. Nicht passiv soll sich
also der Mensch gegenüber den Empfindungen verhalten; die Kraft, die
von ihnen ausströmt und den Körper beeinflußt, soll er für sich in An-
spruch nehmen und mit ihr willkürlich verfahren, um gewollte Ziele zu
erreichen, um positiv zu wirken, statt negativ zu leiden. Leidenschaften,
Passionen, Affekte sind Zustände, die beim Totalgenie nicht denkbar
sind224. Solche Zustände gehören unserem „Beiwesen" an, das wir in dem
Maße ablegen, in dem wir tätig werden; wir nähern uns dann „dem
69
PHILOSOPHISCHE GRUNDLAGEN
durchaus reinen, einfachen Wesen unsers Ich"225, wir nähern uns dem Ab-
soluten. Denn „das einzig mögliche Absolute, was uns gegeben werden
kann", ist die „unendliche freie Tätigkeit in uns"226; frei im Sinne der
Willkür, d. h. der praktischen Vernunft und der produktiven Einbildungs-
kraft.
70
III. W U N D E R S C H R I F T DER E N D L I C H K E I T
Das Ich, als Identität, reiner Akt und Urgrund des Seins und des
Wissens betrachtet, bedingt eine bestimmte Einstellung zur Welt. Trotz
ihrer so gut wie einmütigen Weigerung, Fichte in seiner Auffassung der
Natur als Nichtsein zu folgen, suchen die Romantiker die Wirklichkeit der
Natur nicht in den Erscheinungen, sondern nur in ihrem Geist, in ihrer
„göttlichen Bedeutung". Das Wesen der Natur ist ihnen geistig und gött-
lich1 und im Grunde mit dem Wesen des Geistes identisch. Das Reale der
Natur und das Ideale des Geistes sind untergeordnete Formen desselben
Urwesens2, das die Substanz ist, in der sie miteinander verschmelzen wie
Objekt und Subjekt im Ich. Die intellektuelle Anschauung als die Urhand-
lung, durch die Gott oder das absolute Ich sich selbst als Subjekt und Ob-
jekt setzt, behält auch in der Betrachtung der Natur ihre grundlegende
Bedeutung.
Das Wesentliche, die Wahrheit der Natur ist für Schelling ihre
„werktätige Wissenschaft"; darunter versteht er wieder einmal die Identi-
tät von Wissen und Sein, von Begriff und Form, Seele und Leib, Entwurf
und Ausführung. Weder die Erscheinung noch die Idee machen das
Wesen der Natur aus, sondern erst das Band zwischen beiden, ihre Identi-
tät. Nur durch dieses Band, d. h. durch das Vorhandensein eines „Ver-
stands", einer „Wissenschaft" in den Erscheinungen, kann die Natur Ob-
jekt unserer Erkenntnis werden, denn „das, worin kein Verstand wäre,
könnte auch nicht Vorwurf des Verstandes sein, das Erkenntnislose selbst
könnte nicht einmal erkannt werden" 3 .
Aus solcher Stellung zur Natur ergeben sich zwei wichtige Positio-
nen: das Unendliche ist nur in der Endlichkeit zu finden, und es gibt eine
Analogie zwischen Mensch und Natur.
71
WUNDERSCHRIFT DER ENDLICHKEIT
der endlichen Erscheinungen eine Grundansicht der Alchimie darstellt. Dem Adep-
ten ist das Universum der siditbare Ausdrude göttlicher Gedanken, die Natur eine
mittelbar wirkende Kraft der Gottheit. Die Körperwelt besteht aus Expressionen
der Geisterwelt. Das alles haben die Jenaer mit Novalis u. a. bei Eckartshausen
nachlesen können (vgl. Kleeberg, a.a.O.).
10 Schelling, System des transzendentalen Idealismus, Bd. II, S. 628.
11 Schelling, Von der Weltseele, Bd. I, S. 446.
72
WUNDERSCHRIFT DER ENDLICHKEIT
Analogie des Unendlichen; die Natur ist das sichtbare Analogon des
Geistes. Durch die spekulative Physik gedeutet, also im Lichte der Natur-
philosophie, enthält sie die Grundlage einer neuen Mythologie, einer all-
gemeinen Symbolik12. In jedem Organismus ist etwas Symbolisches; jede
Pflanze ist sozusagen „der verschlungene Zug der Seele" 1 '. Nur muß man
dazu die Welt richtig verstehen, „lebendig fassen"14. Dem geübten Auge
erscheinen z. B. die regelmäßigen, stereometrischen Formen der Natur als
dem Reich der Begriffe zugehörig, sie sind etwas Geistiges im Materiel-
len15. Es gilt, eben dieses Geistige in der Natur zu entdecken, und so wird
sie zum Ausdruck des gleichen Bandes wie jenes, „das in der Vernunft ist",
nämlich „der ewigen Einheit des Unendlichen mit dem Endlichen"1". So-
mit erweist sich das Wesen der Natur als mit dem des Geistes identisch,
und daraus erhellt der symbolische Wert der Naturerscheinungen, die
herauszuheben und darzustellen dem Romantiker obliegt".
12
Sdielling, Philosophie der Kunst, Bd. III, S. 466.
15
Sdielling, Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre,
Bd. I, S. 310.
14
Schelling, Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur, 3. Ergänzungs-
band, S. 399.
15
Ebd., S. 400.
" Sdielling, Von der Weltseele, Bd. 1, S. 428.
17
Daß alle physischen Gesetze Gleichnisse geistiger Wahrheiten seien und daß eine
allgemeine Analogie zwischen Endlichem und Unendlichem walte, war bekanntlich
eine Uberzeugung der Alchimisten. „Was oben ist, ist unten. Was im Kleinen ist,
ist auch im Großen", heißt es bei Einartshausen. Es steht nidits einzeln da, alles
ist Glied und mit allem verbunden (vgl. Kleeberg, a.a.O.).
18
Schelling, Die Weltalter, Bd. IV, S. 583.
w
Sdielling, Ideen zu einer Philosophie der Natur, Bd. I, S. 697.
73
WUNDERSCHRIFT DER ENDLICHKEIT
20
Fr. Schlegel, Gespräch über die Poesie, KA, Bd. II, S. 323.
21
Fr. Schlegel, Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 156, Nr. 402.
22
Fr. Schlegel, Ideen, KA, Bd. II, S. 256, Nr. 2.
23
Fr. Schlegel, Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 155, Nr. 382.
24
Fr. Schlegel, ebd., S. 155, Nr. 383.
25
Fr. Schlegel, ebd., S. 233, Nr. 485.
2
« Fr. Schlegel, Ideen, KA, Bd. II, S. 266, Nr. 98.
27
Fr. Schlegel, Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 229, Nr. 418.
28
Fr. Schlegel, Ideen, KA, Bd. II, S. 266, Nr. 100.
28
Fr. Schlegel, Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 156, Nr. 397.
30
Schleiermacher, 1. Monolog.
74
WUNDERSCHRIFT DER ENDLICHKEIT
75
WUNDERSCHRIFT DER ENDLICHKEIT
42
Fragment 2924.
43
Fragment 1126.
44
Fragment 1606,1645.
45
Fragment 1606.
49
Fragment 1600.
" Ebd.
48
Fragment 1507.
4
» Fragment 2349.
50
Fragment 2370.
51
Fragment 1217.
52
Fragment 1396.
5S
Fragment 1210.
54
Fragment 2699.
55
Fragment 2694.
M
Fragment 2354,1878.
57
Fragment 1131.
76
WUNDERSCHRIFT DER ENDLICHKEIT
(Organsystem) unseres Innern werden" 58 . Alles, was der Mensch tut und
läßt, ist „symbolische Philosophie seines Wesens"5". Und Novalis pflichtet
Ritter bei, dessen Grundansicht er u. a. folgendermaßen umschreibt: „Alle
äußeren Prozesse sollen als Symbole und letzte Wirkungen innerer Pro-
zesse begreiflich werden" 60 . Extrem zusammengefaßt, lautet seine An-
schauung: „Ich — Nicht-Ich — höchster Satz aller Wissenschaft und
Kunst""1.
Im Symbolbegriff gründet die romantische Naturauffassimg und zu-
gleich die romantische Dichtungstheorie. Es zeigt sich aber im Gebrauch
des Wortes Symbol bzw. Sinnbild ein Sachverhalt, dem man in allen
ähnlichen Fällen der Geistesgeschichte begegnet. Gerade da, wo das Neue
sich herauszubilden und zu kristallisieren sucht, herrscht fast durchweg
eine große Unklarheit im Wortgebrauch, wobei Widersprüche und Ver-
wechslungen nicht selten sind. Ähnlich wie Lessing um einen passenden
Ausdruck für seine Dichtungstheorie gerungen hat und den Kern seiner
Anschauungen nicht mit der gewünschten Genauigkeit und Folgerichtig-
keit hat formulieren können, versuchen die Frühromantiker oft ver-
geblich, das erahnte und erfühlte Prinzip ihrer Poetik mit Worten zu
umreißen. Wie alles bei Lessing sich um den Begriff des Mitleids dreht,
auch dort, wo er das Wort nicht gebraucht oder es zu gebrauchen zögert,
so kreisen bei den Romantikern die meisten Bemühungen um den Begriff
des Sinnbilds. Wenn auch die größte Unordnung und Inkonsequenz im
Terminologischen herrscht, so ist doch die Richtung der Gedanken deut-
lich. Im Hinblick auf diese Inkonsequenz stört uns heute besonders die
häufige Verwendung des Wortes Allegorie für den Begriff Symbol, beson-
ders bei Friedrich Schlegel. Auch hier hat erst Schelling Klarheit geschaf-
fen, diesmal allerdings mit einer so extremen Konsequenz, daß sie zu-
nächst fragwürdig anmutet, bei genauerem Zusehen aber sich als typisch
für die ganze romantische Geisteshaltung erweist. Symbol ist für Schelling
ein Grenzbegriff, eine Grenzsituation des Geistes und des Fassungsver-
mögens. Die Definition, die er von diesem Begriff gibt, läßt sich auf die
Wirklichkeit der Natur und der Kunst nur äußerst selten anwenden, stellt
aber ein Ideal dar, dem nachzustreben man sich als Romantiker so gut
wie gezwungen fühlen mußte, auch wenn die Aussicht auf Erfüllung nur
gering war.
Das Absolute läßt sich im Besonderen nur symbolisch erkennen. In
Friedrich Schlegels Sprache: „man kann von Gott nicht anders als allego-
58
Fragment 1527.
" Fragment 1512.
60
Fragment 3035.
41
Fragment 858.
77
WUNDERSCHRIFT DER ENDLICHKEIT
lisch reden" 62 . Was ist aber ein Symbol? Schelling unterscheidet drei Er-
scheinungen, die auf den ersten Blick miteinander verwandt scheinen,
sich in Wirklichkeit jedoch als sehr verschieden erweisen. Er nennt sie:
Schematismus, Allegorie, Symbol. Unter Schematismus versteht er eine
Darstellung, in der das Allgemeine das Besondere bedeutet oder in der
das Besondere durch das Allgemeine 'angeschaut' wird. Als Beispiele
führt er an: die Begriffe des Denkens und die Geometrie. Allegorie ist
ihm eine Darstellung, in der das Besondere das Allgemeine bedeutet oder
in der das Allgemeine durch das Besondere 'angeschaut1 wird. Die Bei-
spiele, die er angibt, sind das Handeln und die Arithmetik.
Ausschlaggebend bei der Definition des Schematismus und der Alle-
gorie ist, daß die Darstellung eben nur ein Zeichen ist, daß sie also
etwas anderes als sich selbst bedeutet. Das Symbol unterscheidet sich
nun dadurch von Schematismus und Allegorie, daß es nichts außer sich
Bestehendes veranschaulichen will, sondern daß es zugleich ein Allge-
meines und ein Besonderes ist. Sein und Bedeutung fallen in ihm zusam-
men: „Die Bedeutung ist hier zugleich das Sein selbst, übergegangen in
den Gegenstand, mit ihm eins"63. Das konkrete Bild, das dem Symbol
zugrunde liegt, ist „in sich absolut", unabsichtlich, unbefangen, nach
außen unzweckmäßig, läßt aber die Bedeutung durchschimmern, ja ist
diese Bedeutung selbst. Das Bild ist ein Sinn-Bild, in dem Sinn und Bild
zur Einheit verschmelzen, in dem das Besondere zugleich das Allgemeine
ist. So aufgefaßt, erscheint in Schellings Augen das Symbol folgerichtig
als die Synthesis von Schematismus und Allegorie.
Wenn nun der Schematismus die Tätigkeit des Denkens und die
Allegorie das Gebiet des Handelns charakterisiert und wenn andererseits
das Symbol die Synthesis von Schematismus und Allegorie darstellt, so
muß es eine Kraft des Geistes geben, die geeignet ist, das Symbol zu
fassen, und die daher Denken und Handeln in sich vereinigt. Dieses gei-
stige Organ des Menschen ist die E i n b i l d u n g s k r a f t . Sie ist dem-
nach der Schlüssel zu einer richtigen Auffassung der Natur im romanti-
schen Sinn, weil erst sie die Natur als das, was sie ist, d. h. als ein all-
gemeines Symbol, begreifen kann.
Was ist nun für Schelling die Einbildungskraft? Die Kraft der „In-
einsbildung" der unendlichen Idealität und der endlichen Realität. „Sie
ist die Kraft, wodurch ein Ideales zugleich auch ein Reales, die Seele Leib
ist, die Kraft der Individuation, welche die eigentlich schöpferische ist"64.
62
Fr. Schlegel, Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 347, Nr. 315.
63
Schelling, Philosophie der Kunst, Bd. III, S. 431.
64
Schelling, Philosophie der Kunst, Bd. III, S. 406.
78
WUNDERSCHRIFT DER ENDLICHKEIT
79
WUNDERSCHRIFT DER ENDLICHKEIT
71
Schleiermacfcer, ebd., 2. Rede.
80
IV. KUNST
81
6 Nivelle
KUNST
und als „echte Zeugen der Wahrheit" angesehen 5 . Diese Gefühle und
Gesinnungen, „oder wie man es nennen mag", offenbaren das Unsicht-
bare, läutern das Gemüt und stimmen den inneren Sinn „tugendselig".
Die höchste Erkenntnis — und darunter versteht Wackenroder die
Erkenntnis Gottes und der „religiösen Tugend" — erfolgt also nicht etwa
auf dem Wege der „irdischen Beleuchtung", d. h. der wissenschaftlichen
Forschung und der philosophischen Reflexion, sondern mit Hilfe der
„dunklen Gefühle", an denen unser ganzes Wesen teilnimmt. In der
Sprache Schleiermachers ist die Tätigkeit des ungeteilten Gemüts eine
Funktion des „Sinnes". Das Wackenrodersche Gefühl für das Unsichtbare
scheint also mit Schleiermachers Sinn für das Unendliche eng verwandt.
Daneben erinnert es eindeutig an Wilhelm Schlegels Auffassung des Ge-
fühls, „insofern es nicht bloß sinnlich und leidend ist", d. h. an „unsern
Sinn, unser Organ für das Unendliche, das sich uns zu Ideen gestaltet" 6 .
Das Wort Ideen gebraucht Schlegel im Kantschen Sinn für das verstandes-
mäßig Unfaßbare, zu dem uns Gefühle und Ahnungen den Weg weisen;
in diesen scheint sich nämlich „das dunkle Rätsel unseres Daseins" auf-
zulösen7.
Gefühle, Gesinnungen, Ahnungen lassen sich nun in keine Verstan-
desbegriffe hineinzwängen und in keiner menschlichen Wortsprache voll
und angemessen ausdrücken. Sie müßten ewig im Labyrinth der Brust
befangen bleiben, wenn der Mensch nach Wackenroders Meinung nicht
über zwei Möglichkeiten verfügte, sie unter gewissen Umständen stärker
zu empfinden und indirekt auch auszudrücken. Diese beiden Möglich-
keiten sind die „zwei wunderbaren Sprachen" der Natur und der Kunst.
Die Natur ist für Wackenroder „das gründlichste und deutlichste Er-
klärungsbuch über [Gottes] Wesen und Eigenschaften" 8 , sie spricht zu
uns wie „abgebrochene Orakelsprüche aus dem Munde der Gottheit"'.
Die Kunst ihrerseits ist eine Hieroglyphenschrift, die das Übersinnliche
in sichtbare Gestalten hineinschmilzt10. Kunst und Natur erfüllen dem-
nach eine ähnliche Funktion in bezug auf die Erkenntnis des Höchsten.
Die Bedeutung der Natur für den Menschen liegt nach Wackenroder
darin, daß sie Gefühle für die Gottheit erweckt, die nun einmal bessere
Zeugen der Wahrheit sind als irgendwelche Vernunftschlüsse. Das Wie
solcher Erweckung bleibt notwendigerweise geheimnisvoll, da sie in
5
Ebd., S. 69.
6
A. W. Schlegel, Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, Bd. VI, S. 20 f.
7
A. W. Schlegel, An Fouque, Bd. VIII, S. 145.
8
Wackenroder, Herzensergießungen, S. 68.
» Ebd., S. 71.
10
Ebd., S. 69.
82
KUNST
menschlicher Sprache nicht voll sagbar ist. Wie das Säuseln in den Wip-
feln des Waldes und das Rollen des Donners „Dinge von Gott" erzählen,
wie „ein schönes Tal, von abenteuerlichen Felsgestalten umschlossen, oder
ein glatter Fluß, worin gebeugte Bäume sich spiegeln, oder eine heitere
grüne Wiese von dem blauen Himmel beschienen" den Geist mit der All-
macht und Allgüte Gottes innig erfüllen und die Seele erheben, ist ein
individuelles Erlebnis Wackenroders, das für ein verwandtes Gemüt viel-
leicht nachvollziehbar ist, sich jedoch nicht im ursächlichen Zusammen-
hang darlegen läßt11. Dabei handelt es sich nicht so sehr um wirkliche
Bilder, sondern eher, mit Friedrich Schlegels Worten, um Andeutungen
des Göttlichen. Ob nun die Bedeutung der Natur als das Göttliche oder
das Unsichtbare, das Unendliche, das Übersinnliche, das Himmlische, das
Absolute, das Unbedingte bezeichnet wird, ist im Grunde einerlei und
spielt jedenfalls für die Richtung des romantischen Geistes überhaupt
keine Rolle. August Wilhelm Schlegel hat alle diese Begriffe für gleich-
bedeutend erklärt, und in der Hinsicht kann man ihm vertrauen12. Nicht
das Objekt ist interessant, sondern die Richtung des Geistes auf das Uber-
natürliche und Uberbegriffliche hin. Wackenroder und den Jenaern
kommt es auf die „wunderbaren Regungen" der Seele an, denen ein
Objekt untergeschoben wird. Daß dieses Objekt bei Wackenroder Gott
heißt, hat trotz der Worte von der Allmacht und der Allgüte mit einer
streng religiösen Vorstellung nichts gemein. Es wird ganz einfach ein
herkömmliches Gottesdenken auf eine Erregung individueller Nerven-
zustände angewendet. Der Wackenrodersche Gott ist nichts anderes als
die romantische Poesie.
Die zweite wunderbare Sprache, die Wackenroder für fähig hält, das
Unsichtbare auszudrücken, ist die Kunst, eine Hieroglyphenschrift, die
Geistiges und Ubersinnliches in endliche Zeichen, in „sichtbare Gestal-
ten" bannt 13 . Mit dieser Definition ist die romantische Grundanschauung
der Kunst formuliert und die Funktionsverwandtschaft von Kunst und
Natur klar herausgestellt. Die Kunst erzielt auf ihren Betrachter eine ähn-
liche Wirkung wie die Natur auf ihren Liebhaber. Sie stellt das Unend-
liche symbolisch dar; sie bewirkt nach Schellings Worten eine „Darstel-
lung des Absoluten oder des Universums in einem Besonderen"14. Im
Kunstwerk fällt das Besondere des Gegenstandes mit dem Allgemeinen
der Idee zusammen, das Ding ist zugleich der Begriff, das Individuum
die Gattimg. Es vollzieht sich eine „Einbildung des Unendlichen ins End-
liche", und damit wird ein unendlicher Gegensatz in einem endlichen
11
Ebd., S. 68.
12
Vgl. A. W. Schlegel, Kunstlehre, S. 77.
13
Wackenroder, Herzensergießungen, S. 69.
14
Schelling, Philosophie der Kunst, 3. Ergänzungsband, S. 285.
83
6'
KUNST
15
Ebd., S. 231.
16
Sdielling, System des transzendentalen Idealismus, Bd. II, S. 627.
17
Schelling, Philosophie der Kunst, 3. Ergänzungsband, S. 403.
84
KUNST
85
KUNST
21
Vgl. Fr. Schlegel, Ansichten und Ideen von der christlichen Kunst, KA, Bd. IV,
S. 150 f.
22
Novalis, Fragment 989.
23
Schelling, Philosophie der Kunst, 3. Ergänzungsband, S. 402 und 404.
86
KUNST
87
KUNST
30
Ebd., S. 74 f.
31
Ebd., S. 75.
32
Ebd., S. 77.
33
Fr. Schlegel, Philosophische Vorlesungen (Windischmann), II, S. 439 f.
34
Fr. Schlegel, Ansichten und Ideen von der christlichen Kunst, KA, Bd. IV, S. 203.
35
Fr. Schlegel, Über Lessing, KA, Bd. II, S. 414.
38
Ebd.
37
Fr. Schlegel, Ansichten und Ideen von der christlichen Kunst, KA, Bd. IV, S. 150 f.
38
Ebd., S. 92.
88
KUNST
39 Ebd., S. 180.
40 Fr. Schlegel, in Schriften und Fragmente (Kröners Taschenausgabe), S. 136.
41 Vgl. Fr. Schlegel, Über das Studium der griechischen Poesie, S. 125 u. a.
89
KUNST
nicht ausmacht. Im Gegenteil, die konkrete Darstellung ist ein Vorzug der
Kunst gerade auch im Hinblick auf die unendliche Bedeutung. Liegt doch
das Wesen der Kunst im Gegensatz zur Philosophie nicht in der abstrakten
Darlegung eines Gedankensystems, sondern in der Entdeckung des Uber-
sinnlichen im Sinnlichen. Das Sinnliche, „die Natur und die Menschheit",
um mit Friedrich Schlegel zu sprechen, ist der „eigentliche" und „nächste"
Gegenstand der Kunst, ihr „körperlicher Boden", die „Hülle", der
„irdische Stoff", aus dem die höhere und geistige Welt hervorschimmert42.
Und diese übersinnliche Welt, die sich aus der konkreten Darstellung
ergibt, fällt nicht mit derjenigen zusammen, auf die die metaphysische
Reflexion sich richtet. Das Bildliche der Kunst eröffnet vielmehr Aussich-
ten in eine existenzbezogene geistige Welt, in das Geheimnis des indi-
viduellen Gemüts, in das Geranke der Seelenkräfte, deren Urgründigkeit
es offenbart. Nicht von ungefähr erscheint das Gefühl in romantischer
Sprache als der Sinn für Ideen. Das Unendliche, das die Kunst 'andeutet',
ist nicht etwa nur ein Begriff von Gott, sondern eine Ahnung der eigenen
Bestimmung, eine Offenbarung der eigenen Seele und der Urkräfte, die
sie beleben. Das Unendliche darf man sich nicht als eine Vorstellung
denken, die im Reiche der Theologie oder etwa der Kosmogonie behei-
matet wäre. Es ist viel eher die ewige Welt der Seelenkräfte, mit deren
Hilfe wir die Gegenständlichkeit des Universums wahrnehmen und auf
deren Entsprechungen in der äußeren Welt der Künstler sein Augenmerk
richtet. Am aufschlußreichsten ist in dieser Hinsicht das Märchen im neun-
ten Kapitel des Heinrich von Ofterdingen, in dem die Welt der Seele mit
den Kräften des Weltalls in Berührung gebracht wird, was die Neugeburt
des goldenen Zeitalters zur Folge hat.
Das Novalis'sche Märchen enthält insofern die Mythologie der
Romantik, als es den Sinn für die universelle Entsprechung der äußeren
und der inneren Welt bekundet und zu veranschaulichen sucht. Die allge-
meine Entsprechung zwischen den Kräften, die das Weltall beseelen, und
denen der menschlichen Seele bildet die Grundlage des romantischen
Symbolbegriffs und damit zugleich der romantischen Kunstauffassung.
Die Einzeldinge und Einzelerscheinungen der äußeren Welt sind endlich-
real, indem sie in Raum und Zeit existieren, und zugleich unendlich-ideal,
indem sie auf die Kräfte hinweisen, aus denen sie entstanden sind. Die
einzelnen Handlungen und Seelenzustände der inneren Welt sind end-
lich-real, insofern sie zu der Welt der Erscheinungen gehören, und zu-
gleich unendlich-ideal in dem Maße, in dem sie die ewigen Urkräfte der
Seele als ihre Auswirkungen nach außen hin konkretisieren. Da nun die
Kräfte des Weltalls und die der Seele einander entsprechen und sogar zu-
42 Fr. Schlegel, Geschichte der alten und neuen Literatur, KA, Bd. VI, S. 276.
90
KUNST
sammenfallen, kann ein Einzelding der äußeren Welt, das als Gegenstand
der Kunst, als Bild im Kunstwerk fungiert, das Unendlich-Ideale der Seele
symbolisieren. Insofern sind alle echten Bilder, die der Künstler schafft,
in der eigentlichen Bedeutung des Wortes Sinnbilder.
Die Symbolkraft der Bilder gibt der Kunst ihren Vorsprung vor der
Philosophie bei der Erhellung der inneren Welt. Während der Philosoph
gezwungen ist, in rationalen Kategorien zu denken und alles, was sich
nicht in Begriffe fassen läßt, im Dunkel zu lassen, drückt der Künstler
Ideen aus, die, um mit Wackenroder zu sprechen, in unser Herz ein-
dringen, d. h. er erweckt Vorstellungen, die nicht ausschließlich Gegen-
stand der Vernunft sind, sondern das ganze Gemüt angehen. Die Kunst
drückt das aus, „was nicht in einen Begriff zusammengefaßt werden
kann", sagt Friedrich Schlegel43. Darin besteht ihre spezifische Aufgabe;
sie stellt den symbolisch-anschaulichen Weg der Erkenntnis dar. So kann
sie mit Recht als Erkenntnis des philosophisch Unerkennbaren, als Ent-
hüllerin des begrifflich Unergründlichen, als Aussage des rational Unaus-
sprechlichen definiert werden. „Das Höchste kann man eben, weil es
unaussprechlich ist, nur allegorisch sagen", meint Friedrich Schlegel44,
wobei er wie gewöhnlich „allegorisch" schreibt, wo andere „symbolisch"
sagen würden. Die Kunst erscheint demnach als eine Steigerung der
Philosophie: ihre eigentliche Funktion fängt da an, wo die Philosophie
aufhört. Sie offenbart das Nichtbegriffliche, und zwar sowohl im Reiche
der Gefühle, der Ahnungen, der Gesinnungen als auch im Reiche des
Imaginären und Phantastischen, des Irrationalen und Unbewußten.
Die Andeutung der lebendigen Kräfte durch die Sinnbilder der
Kunst, die Offenbarung der 'Wahrheit des Ewigen' durch den 'Schein des
Endlichen' soll bis zur Enthüllung der Grundkraft reichen, die dem Welt-
all und der Seele gemeinsam ist und die Friedrich Schlegel als Liebe be-
zeichnet. Das Wort 'das Höchste' hat in seiner Sprache keine andere
Bedeutung als die Liebe, die ihm bekanntlich ein Synonym für Gott ist.
Die Liebe als Grundkraft ist das „überall Eine", das nur durch die Kunst
„in seiner ungeteilten Einheit" dargestellt werden kann. Die Offenba-
rung dieser Grundkraft ist das letzte und höchste Ziel der romantischen
Kunst. Alles Bildhafte im Kunstwerk, Personen, Begebenheiten, Situatio-
nen, Neigungen, Konflikte, ist „Hieroglyphe der einen ewigen Liebe und
der heiligen Lebensfülle der liebenden Natur" 45 . Liebe als Urgrund der
schöpferischen Natur entspricht der „höheren idealischen Ansicht der
Dinge", in welcher „unstreitig" das Wesen der Kunst gipfelt48. Wer also
43 Fr. Schlegel, Geschichte der europäischen Literatur, KA, Bd. XI, S. 9.
44 Fr. Sdilegel, Gespräch über die Poesie, KA, Bd. II, S. 324.
45 Ebd., S. 334.
48 Ebd., S. 323.
91
KUNST
fähig ist, die Welt als eine Schöpfung der göttlichen Liebe anzusehen und
in ihr die Spur des Schöpfers zu entdecken, hat die Anlage zum romanti-
schen Künstlertum. Die Welt erscheint ihm als eine Reihe von „Bruch-
stücken eines großen untergegangenen Dichters. Dieser Dichter ist
Gott"47. Und alle Kunstwerke als jeweilige Antworten des Menschen an
Gott (Wackenroder) sind „nur Bruchstücke der ersten Offenbarung des
Menschengeschlechts — Bestrebungen, dieses einzige, große, ursprüng-
liche Gedicht ganz auszusprechen und darzustellen" 48 . Der romantische
Künstler rekonstruiert das fragmentarisch auf ihn gekommene Weltge-
dicht. Ein wirklicher Nach- und Neuschöpfer, trägt er Überbleibsel der
ursprünglichen Offenbarung zusammen und ordnet sie nach seiner Idee.
Dem wahren künstlerischen Gefühl wird die Welt durchsichtig, ihm ent-
hüllt sie ihr inneres Leben. Mit Freude notiert sich Friedrich Schlegel eine
glückliche Formulierung dieser Grundanschauung in einem Gedicht
Lamartines: „Ce monde, qui te cache, est transparent pour moi"49.
Die künstlerisch angeschaute und dargestellte Welt verrät ihren un-
endlichen Sinn. Ihr wohnt dieser Sinn inne; es gilt nur, ihn zu entdecken.
Die sichtbare Natur und mit ihr der menschliche Körper sind nur Hüllen
des ewigen Sinnes; sie unterscheiden sich nicht wesentlich von der unsicht-
baren Welt, sie haben vielmehr an ihr teil. Das Unendliche findet sich nur
im Endlichen, das Jenseits ragt ins Diesseits hinein, das Unsichtbare ver-
quickt sich mit dem Sichtbaren. Es gibt nur eine Welt; zu Unrecht trennt
man sie in Dies- und Jenseits; es herrscht eine Grundeinheit im ganzen
Weltall50. Alles ist in allem und mit allem verbunden. Der Teil wird nur
durch das Ganze verständlich, jeder Gegenstand enthält das Prinzip des
Ganzen, das Ganze der sichtbaren Natur bekommt erst durch seine
geistige Bedeutung seinen vollen Sinn. Es hängt alles zusammen, und das
Prinzip dieses universellen Zusammenhangs ist für Friedrich Schlegel die
Liebe. Aus solchen Vorstellungen ergibt sich das Gesetz der allgemeinen
Entsprechung fast zwangsläufig. „Der wahre Mensch", schreibt Friedrich
Schlegel, „sieht in jedem Gegenstand ein Analogon der Welt" 51 . Das beste
Beispiel für den Weltzusammenhang ist jedoch der Mensch selbst. Er hat
an beiden Bereichen, dem sichtbaren und dem unsichtbaren, teil: „Denke
dir ein Endliches ins Unendliche gebildet, so denkst du einen Menschen"52.
Die bei allen Romantikern anzutreffende Idee des Mikrokosmos
weist auf eine ähnliche Anschauung. Sie besagt nämlich nicht nur, daß der
47
Fr. Schlegel, Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 156, Nr. 402.
48
Fr. Schlegel, Geschichte der europäischen Literatur, KA, Bd. XI, S. 136.
49
Fr. Schlegel, Über Lamartines religiöse Gedichte, in Concordia, S. 313.
50
Fr. Schlegel, Athenäums-Fragmente, KA, Bd. II, S. 173, Nr. 55.
51
Fr. Schlegel, Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 233, Nr. 485.
52
Fr. Schlegel, Ideen, KA, Bd. II, S. 266, Nr. 98.
92
KUNST
Mensch nach Novalis' Worten die Abbreviatur und die Welt die Elonga-
tur derselben Substanz sind, sondern zugleich, daß die im Universum
tätigen Kräfte, gleichviel ob es sich um geistige oder stoffliche handelt,
ihre genaue Entsprechung im Menschen haben. Das Universum ist ein ins
Größere übertragenes Individuum, ein Makroanthropos, dessen Unter-
suchung zur Erkenntnis des Menschen führt, wie die Erkenntnis des
Menschen Aufschlüsse über die Welt bewirkt. Der Glaube an diese große
Analogie ist in der Romantik allgegenwärtig. „Wir werden den Menschen
kennen", meint Friedrich Schlegel, „wenn wir das Zentrum der Erde
kennen" 53 . Und umgekehrt: „Willst du ins Innere der Physik dringen, so
laß dich einweihen in die Mysterien der Poesie"54.
Das Gefühl für den universellen Zusammenhang und die allseitigen
Entsprechungen (endlich-unendlich, stofflich-geistig, zeitlich-ewig und
Bruchstück-Ganzheit, Teil-Einheit) ist der poetische Sinn. In der eigent-
lichen Bedeutung des Wortes ist er der Sinn für das Umgreifende und die
dem trennenden Verstände unzugänglichen Verknüpfungen aller Art, der
Sinn für die Einheit und das Ganze. Man darf ihn sich nicht als ein beson-
deres Organ unserer Menschheit vorstellen wie etwa das moralische
Organ bei Hemsterhuis. Seine Tätigkeit geht nicht auf die Erfassung be-
stimmter Ideen wie Kants praktische Vernunft. Er setzt vielmehr alle ein-
zelnen Seelenkräfte voraus und bildet das Resultat ihres Zusammenwir-
kens. In ihm drückt sich die Einheit des menschlichen Wesens aus, die
sich als die Bedingung der einheitlichen Apperzeption des Ganzen er-
weist. Nur die ungeteilte Seele kann die Fülle und die Einheit in einem
fassen, nur sie vermag es, den Dingen eine höhere, allgemeinere Bedeu-
tung als die von Einzelerscheinungen abzugewinnen; mit einem Wort, sie
ist die einzige Möglichkeit, Symbole zu finden und zu verstehen. Als
Identität unserer Seelenkräfte ist der poetische Sinn der Sinn für das
Symbolische. Er wertet die Realien und Begebenheiten der Welt auf, in-
dem er ihnen eine symbolische Bedeutung verleiht.
Der so aufgefaßte poetische Sinn gibt den Romantikern das Mittel,
sich dem philosophischen Idealismus anzuschließen und ihre Kunsttheorie
auf dieser gedanklichen Grundlage aufzubauen. In den Vorlesungen über
Transzendentalphilosophie meint Friedrich Schlegel: „Das Wesentlichste
des Idealismus ist in der Annahme einer absoluten Intelligenz, die die
Realität in sich vereinigt und die wir nur symbolisch kennen" 55 . Die Er-
schließung der Sinnträchtigkeit der Realität, die Entdeckung des Absolu-
53
Ebd., S. 266, Nr. 100.
54
Ebd., S. 266, Nr. 99.
55
Fr. Schlegel, Vorlesungen über Transzendentalphilosophie, KA, Bd. XII, S.96.
93
KUNST
ten im Endlichen erfolgt im Bereich der Kunst auf dem Wege der symbo-
lischen Erkenntnis.
Diese Einsicht in das eigentümliche Wesen der künstlerischen All-
näherung an das Absolute veranlaßte die Frühromantiker, Jakob Böhmes
Bemühungen um eine symbolische Auslegung der irdischen Phänomene
als mit ihren eigenen Absichten verwandt zu empfinden. In Friedrich
Schlegels Sprache heißt das: „Böhme enthält die innersten Prinzipien
der Allegorie (und eben damit der Poesie)". Daher die zugespitzte For-
mulierung im gleichen Zusammenhang, nach der Böhme die Poesie er-
funden haben soll56. Für Schlegel gilt Böhme übrigens als „reiner Idea-
list" 57 .
Das romantische Kunstwerk ist also Symbol, materieller Hinweis auf
Geistiges, ein nach außen scharf begrenztes Ganzes, „innerhalb der Gren-
zen aber grenzenlos und unerschöpflich" 58 , und zwar weil es auf Ewiges
hindeutet, nämlich auf die rational nicht zu ergründenden Kräfte der
Seele, die zugleich die Kräfte des Weltalls sind. Jedes echte Kunstwerk,
enthält Bruchstücke vom Geheimnis der Schöpfung und zeigt nach
Friedrich Schlegels Worten „die tiefen Schmerzen der in die Sterblich-
keit eingeschlossenen . . . höchsten Liebe" 5 9 .
In der Kunsttätigkeit wird also der ganze Mensch aktiv. Seine sämt-
lichen Seelenkräfte von der irrationalen, unbewußten Intuition bis zur
genauesten Reflexion werden rege. Sein ganzer Mikrokosmos gerät in
eine schöpferische Handlung, und dadurch stellt sich die Verwandtschaft
zwischen dem schaffenden Künstler und dem Weltschöpfer her. Wacken-
roders Gedanke, wonach die Kunst die Antwort des Menschen an Gott
sei, findet auf Grund dieser schöpferischen Entsprechung eine noch
prägnantere Bedeutung im Sinne der frühromantischen Ästhetik.
Nicht alle Frühromantiker haben den gleichen Weg eingeschlagen,
um zu demselben Ziel zu gelangen. Bei Friedrich Schlegel und Novalis
hat das eigene Kunstgenie einen der philosophischen Spekulation min-
destens gleichwertigen Beitrag geliefert. Beim älteren Schlegel gab die
Reflexion über die Arbeit, die Einsichten und die fragmentarisch aus-
gedrückte Poetik der anderen Mitglieder der Schule den Ausschlag. Bei
Schleiermacher hat eindeutig die religiöse Intuition die größte Rolle ge-
spielt. Jedoch ist auch er trotz seines geringeren Interesses an der eigent-
lichen Kunstschöpfung zu ganz ähnlichen Formulierungen gelangt. Für
94
KUNST
95
KUNST
für die Tieck und Wackenroder so anfällig waren, und auch erst auf
Grund dieser Identitätswahrnehmungen vermag er es, sein schöpferisches
Selbst auszudrücken, indem er „die Natur nachahmt". Hier zeigt sich,
wie müßig es ist, sich immer wieder die Frage vorzulegen, ob die roman-
tischen Kunstschöpfungen subjektiv oder objektiv sind und sein wollen.
Die Subjektivität des Künstlers entspricht nun einmal im Selbstverständ-
nis der Romantik der Objektivität des Universums. Die Seele ist nach den
gleichen Prinzipien aufgebaut wie das Weltall. Es ist eine kurzsichtige
Deutung des romantischen Kunstwollens, wenn behauptet wird, es
gründe sich auf eine Verlagerung des Objektiven zum Subjektiven, und
romantische Kunst sei Ausdruck des subjektiven Selbst und nicht Wie-
dergabe des Äußeren. Es ließe sich mit ebenso viel Recht das Gegenteil
sagen. Zwar ist die Individualität stets eine unbedingte Forderung der
frühromantischen Kunsttheorie gewesen. Es hieße aber eine solche For-
derung gründlich mißverstehen, wollte man sie auf die bloße
Subjektivität zurückgeführt wissen. Die Romantik zielt auf eine poetische
Deutung des Universums. Ihr Charakteristisches liegt eben in der An-
nahme einer Identität von Ich und Universum. Dabei gehen die Jenaer
sowohl von der Analyse des Ich als auch von der Betrachtung des Univer-
sums aus. Das berühmte Fragment von Friedrich Schlegel mit dem Bild
der Ellipse besagt nichts anderes als diesen doppelten Ausgangspunkt
und drückt in seiner scheinbaren Paradoxie das Wesentliche der früh-
romantischen Ästhetik aus. Der Traum von der großen Einheit des Welt-
alls war der damalige Traum von großer Magie, dem sich jeder Roman-
tiker anheimgegegeben hat.
96
KUNST
sen. Was soll nun Plato nach Wilhelm Schlegels Ansicht mit diesem Ter-
minus gemeint haben? „Die Urbilder der Dinge im göttlichen Verstand,
in welchem Denken und Anschauen eins sind, denen allein wahres Sein
zukommt, und worin Allgemeines und Besonderes nicht, wie in der Er-
scheinungswelt Begriff und Individuum, getrennt, sondern unzertrennlich
verknüpft ist""5. Damit kommt Wilhelm Schlegel dem Wunschtraum der
Frühromantiker entgegen, der eben in der ungeteilten Erkenntnis nach
dem Muster der intellektuellen Anschauung besteht. Eine solche Er-
kenntnis ergreift die Ideen unmittelbar, die Wilhelm Schlegel an anderer
Stelle als „notwendige und ewig wahre Gedanken und Gefühle, die über
das irdische Dasein hinausgehen", umschreibt". Sie führen „in der in-
neren Anschauung unmittelbare Uberzeugung ihrer Notwendigkeit und
ewigen Gültigkeit" mit sich67. Wie das Licht im physischen Bereich setzen
sie „die äußerlichen Erscheinungen in ihr wahres Verhältnis unterein-
ander" 68 .
Den Frühromantikern hat das Ideal der ansdiauenden Erkenntnis
vorgeschwebt, obwohl alle eingesehen haben, daß es auf dem normalen
Weg der menschlichen Geistestätigkeit nicht zu erreichen ist. Aber genau
wie Fichte trotz seines Bewußtseins von dem Ausnahmecharakter und
der Schwierigkeit der intellektuellen Anschauung diese zur Grundlage des
menschlichen Handelns und Wissens gemacht hat, so suchen die Jenaer
sich dem praktisch unrealisierbaren Ideal der anschauenden Erkenntnis
durch die Kunst zu nähern. Das vollkommene Kunstwerk erscheint ihnen
tatsächlich als eine ungeteilte Einheit von Bild und Sinn, von Begriff und
Individuum, von Allgemeinem und Besonderem; es weist also die wesent-
lichen Merkmale der anschauenden Erkenntnis auf. Und was dem Kunst-
werk diese Einheit verleiht, ist eben die Idee, der „Geist", die „Poesie",
die der Künstler „in sich trägt" 6 '. In der Idee, wie sie vom Geiste des
Künstlers konzipiert wird, herrscht eine Identität von Denken und An-
schauen, die der ganzen menschlichen Tätigkeit ein unerreichbares, gött-
liches Vorbild ist. Die Idee in diesem Sinne ist nämlich „etwas, worauf
unser Geist mit einem unendlichen Bestreben gerichtet ist"70. Der Be-
trachter des Kunstwerks soll diese Idee anhand der künstlerischen Dar-
stellung rekonstruieren und nacherleben; sie erscheint ihm dann als das
zusammenhaltende Band heterogener Elemente.
65
Ebd.
66
A. W. Schlegel, Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, Bd. V, S. SO.
67
A. W. Schlegel, Geschichte der klassischen Literatur, S. 64.
88
Ebd.
«• A. W. Schlegel, Kunstlehre, S. 94.
70
Ebd., S. 39.
97
7 Nivelle
KUNST
98
KUNST
sein dieser Handlung und erscheint damit als ein Analogon der intellek-
tuellen Anschauung, wie sie von Fichte und Schelling dargestellt wird. Sie
wirkt auf den Betrachter wie eine Synthese zweier Momente, während sie
in Wirklichkeit e i n e Operation ist, die zwei in der Erscheinung getrennte
Elemente miteinander verbindet, also eine Identität von Anschauen und
Denken.
Nun fällt das Künstlertum mit der Fähigkeit zusammen, „Ideen nach
Belieben, ohne äußere Sollizitation durch [die Organe] herauszuströmen
— sie als Werkzeuge zu beliebigen Modifikationen der wirklichen Welt zu
gebrauchen" 77 . Die Kunst entspringt also aus der spontanen schöpferischen
Tätigkeit des Menschen und weist demnach einen apriorischen Charakter
auf, dessen Erkenntnis Novalis dazu bringt, den echten Künstler als
„durchaus transzendental" aufzufassen 78 .
Die Problematik der anschauenden Erkenntnis wiederholt sich in
noch stärkerem Maße im Bereich der Kunstpraxis. Auf Grund ihrer Ein-
heit von Anschauung und Bedeutung ermächtigt die Idee den Künstler
zur Entdeckung des Unendlichen im Endlichen; dafür aber erweist sich
ihre Darstellung im Kunstwerk als nicht ohne weiteres durchführbar. Ihr
angemessenstes Darstellungsmittel ist bekanntlich das Symbol; das
romantische Sinnbild ist jedoch, wie oben gezeigt wurde, ein Grenzbe-
griff, der dem Künstler große praktische Schwierigkeiten bereitet. Der
ausgiebige Wortreichtum der Frühromantiker, wenn es um die Aufstel-
lung von Prinzipien und Definitionen geht, und ihr sehr auffälliger Man-
gel an konkreten Beispielen sind an sich schon sehr aufschlußreich. Die
Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis, die gerade die Jenaer Schule
kennzeichnet, gibt ihr neben ihrer Eigentümlichkeit zugleich auch ihren
bleibenden Wert im Bereich der Ästhetik. Die Romantik stellt jeweils
ideale Grenzfälle auf, hinter denen die Praxis notwendigerweise zurück-
stehen muß. Ihre theoretische Bedeutung wird dadurch jedoch nicht im
geringsten geschmälert. Im Gegenteil, gerade durch ihre Undurchführbar-
keit hat diese Theorie eine große Unruhe gestiftet, die bis zum heutigen
Tag andauert; sie ist ein Ferment des Geistes geworden wie kaum eine
zweite. Der zeitgenössische Künstler hat sich immer noch, bewußt oder
unbewußt, mit der romantischen Ästhetik auseinanderzusetzen. Sie hat
der Kunstschöpfung ein anscheinend grundlegendes Ziel gesteckt, und bei
jeder Selbstbesinnung der Kunst wird sie zwangsläufig immer wieder auf
den Plan gerufen. Sie bildet den Kern aller Bestrebungen, die sich jeder
Form des sogenannten Realismus widersetzen und die je nach Zeit und
Raum unter verschiedenen Namen auftauchen.
99
7*
KUNST
Die Auffassung der Kunst als eines Wollens gemäß einer Idee er-
möglicht es Novalis, eine Klassifikation der Kunsttätigkeiten vorzuneh-
men, die einiges Licht auf seinen Begriff der Kunst werfen kann. Für ihn
gliedert sich diese zunächst in zwei wesensverschiedene Tätigkeiten: eine
bestimmte und eine unbestimmte. Das Wort „bestimmt" umschreibt er
mit dem Ausdruck „durch Begriffe determiniert"; unter „unbestimmter
Kunst" versteht er eine „freie", „selbständige", „reine Ideen realisie-
rende, von reinen Ideen belebte" 79 . Auf Grund dieser Zweiteilung er-
scheint die bestimmte Kunst als ein Mittel zum Zweck, die unbestimmte
als ein Selbstzweck. Innerhalb der bestimmten und der unbestimmten
Kunst unterscheidet Novalis wiederum eine „wirkliche" und eine „einge-
bildete". Die wirkliche, vollendete, durchgeführte ist in diesem Zusam-
menhang diejenige, die sich in Kunsterzeugnissen ausdrückt, während die
eingebildete sich nicht in konkreten Schöpfungen nach außen manifestiert,
sondern „in den inneren Organen" aufgefangen wird.
Bestimmte Kunst ist nun, wenn sie „wirklich" ist, das Gebiet des
Handwerkers, und wenn sie „eingebüdet" ist, der Bereich des Gelehrten.
Unbestimmte Kunst ist die Tätigkeit des Künstlers im eigentlichen Sinn,
wenn sie in konkreten Gestaltungen zum Ausdruck kommt, und die des
Philosophen, wenn sie sich nicht in Werken, sondern in gedanklicher
Spekulation ausdrückt. Demnach weisen für Novalis Künstler und Philo-
soph eine engere Verwandtschaft auf als für die übrigen Mitglieder der
Schule. Beide gehen von reinen Ideen aus, die sie entweder in einem
Kunstwerk oder in abstrakter Reflexion aussprechen, und entfernen sich
vom Reich der Begriffe, die den Handwerker in seiner Arbeit und den
Gelehrten in seiner Forschung leiten. Sie sind beide „unbestimmt", in-
sofern sie sich selbst bestimmen und sich ihr Ziel und ihren Weg nicht
durch von vornherein bestehende und „von anderwärts bestimmte" Be-
griffe aufzwingen lassen80. Der Künstler hebt sich vom Philosophen da-
durch ab, daß er fähig ist, Ideen nicht nur „nach Beheben" und „ohne
äußere Sollizitation" zu produzieren, sondern diese Ideen auch als
„Werkzeuge zu beliebigen Modifikationen der wirklichen Welt", d. h. zu
künstlerischen Schöpfungen, zu gebrauchen81.
Diese teilweise Angleichung von Künstler und Philosoph soll uns
hier nicht aufhalten. Vielmehr müssen wir uns fragen, was im Menschen
die für den Künstler in Betracht kommenden Ideen hervorbringt: nicht
die von Kant als grundlegend anerkannten Seelenvermögen, Verstand
und Vernunft, und zwar letztere weder als theoretisches Vermögen der
78
Fragment 1029.
80
Fragment 1028.
81
Fragment 1000.
100
KUNST
Ideen noch als praktisches Vermögen, d. h. als freier Wille82. Das Eigen-
tümliche der romantischen Ästhetik besteht darin, daß den beiden ge-
nannten Seelenkräfte eine dritte mit voller Ebenbürtigkeit an die Seite
tritt, nämlich die schöpferische Phantasie. Im endlichen Bereich herrscht
der die Gegebenheiten der Sinnlichkeit verarbeitende Verstand, im freien,
unendlichen Bereich herrschen Vernunft und Einbildungskraft.
Wesentlich ist zunächst für die Einbildungskraft als schöpferisches
Vermögen, daß sie die für die Romantik so wichtige Potenzierung ge-
währleistet. Sie stellt die Verbindung her zwischen dem Irrationalen und
dem Rationalen, zwischen Traum und Reflexion. Indem sie über den
Polen schwebt, bewerkstelligt sie die Synthese, die der Betrachter wahr-
nimmt, und zugleich die Identität von Anschauen und Denken im Geiste
des Künstlers. Darüber hinaus verquickt sie Theorie und Praxis, d. h. in
diesem Fall Denkkraft und künstlerische Schöpfung, miteinander und
büdet damit ein Grundkennzeichen des romantischen Künstlers, der ja
„die Synthese des Theoretikers und Praktikers" sein soll83. Die Phantasie
ist der Urquell der Ideen im ästhetischen Sinn, das Prinzip ihrer Produk-
tion und ihrer Darstellung. Ohne sie gibt es keine wahre Kunst. Wer sich
auf die bloße Wiedergabe von Gegebenheiten beschränkt, ohne ihre un-
endliche Bedeutung anzudeuten, ist ein Stümper. „Der Chronikschreiber
ist der Stümper in der Geschichte — er will alles geben und gibt nichts";
er liefert den Buchstaben und geht am Geist vorbei; er stellt „Tabellen
und Register" auf, wie es im Ältesten Systemprogramm heißt, und schafft
nicht aus der Idee heraus; er gibt Bilder ohne Sinn84.
In ihrem Lobpreis der Einbildungskraft konnten sich die Frühroman-
tiker kaum genug tun. Schleiermacher bezeichnet sie als „das Höchste und
Ursprünglichste im Menschen"85, und darin pflichten ihm alle Mitglieder
der Jenaer Schule bei. Novalis meint: „Das größte Gut besteht in der Ein-
bildungskraft" 88 , und Wilhelm Schlegel bestätigt diese Auffassung, indem
er die Phantasie als „die Grundkraft des menschlichen Geistes" um-
schreibt87. Es erübrigt sich wohl, auf parallele Äußerungen bei den son-
stigen Mitgliedern der Gruppe zurückzukommen. Das Lob ist so gut wie
einstimmig; die wenigen individuellen oder zeitweiligen Unterschiede
können an dieser Grundanschauung nichts ändern. Bedeutsamer ist hier
die Frage, wie sich die Frühromantiker Wesen und Funktion der Einbil-
dungskraft vorgestellt haben.
82
Vgl. A. W. Schlegel, Kunstlehre, S. 65.
83
Novalis, Fragment 2136.
81
Fragment 1057.
85
Schleiermacher, Über die Religion, 2. Rede.
89
Novalis, Fragment 373.
87
A. W. Schlegel, Kunstlehre, S. 282.
101
KUNST
Für Novalis fällt gewöhnlich die reine, d.h. durch keine äußeren
Reize affizierte Einbildungskraft mit der Vernunft zusammen88. Wie die
Vernunft zeichnet sie sich durch Freiheit aus: „Freiheit bezeichnet den
Zustand der schwebenden Einbildungskraft" 89 . Auch für Wilhelm Schlegel
bilden Vernunft und Phantasie, „aus einem höheren Gesichtspunkte be-
trachtet", eine gemeinschaftliche Grundkraft, die in der Freiheit und in
der Unendlichkeit beheimatet ist80.
Eine Grundkraft ist die Phantasie in mehrfacher Hinsicht. Zunächst,
weil ihr „ursprünglichster Akt" dahin zielt, „unserer eigenen Existenz
und der ganzen Außenwelt" Realität zu verleihen". Diese von der
idealistischen Philosophie übernommene Ansicht wird von der ganzen
Schule geteilt. Die Phantasie ist weltschöpferisch: außer ihr gibt es kein
Mittel, sich der Wirklichkeit der Welt zu vergewissern. Sie befreit uns von
der Solipsität unseres Wesens und versetzt uns in die Welt, indem sie uns
an deren Wirklichkeit teilhaben läßt.
Dank ihrer Freiheit verdient sie, wunderbar und magisch genannt zu
werden. Sie hat die Quelle ihrer Tätigkeit in sich und hängt in keiner
Weise von äußeren Reizen ab. Das meint Novalis, wenn er schreibt, sie
sei eine „außermechanische Kraft" 92 und stehe nicht unter mechanischen
Gesetzen93. Konsequent betont er den „Magismus der Phantasie" 94 .
Auf Grund der universellen Analogie sehen die Romantiker in der
Phantasie nicht nur die Grundkraft des menschlichen Gemüts, sondern
auch das schöpferische Prinzip der Welt, die sich ja für Novalis als eine
„sinnlich wahrnehmbare, zur Maschine gewordene Einbildungskraft"
definieren läßt95. Die schöpferische Freiheit hat sich in der von ihr ge-
schaffenen Welt zu mechanischen Gesetzen degradiert und will wieder
entdeckt werden. So entspricht die menschliche Einbildungskraft der Frei-
heit des Weltschöpfers, während die „endlichen" Vermögen des Men-
schen, Sinnlichkeit und Verstand, ihre Entsprechung in der Welt und
deren mechanischen Gesetzen haben.
Bekannt ist in dieser Hinsicht der etwas abseitige Weg, den Friedrich
Schlegel geht, indem er als Grundkraft des Universums und des Men-
schen nicht die Phantasie, sondern die Liebe nennt, ohne jedoch an der
poetischen Bedeutung der Einbildungskraft zu rütteln. Noch auffälliger
88
Novalis, Fragment 481.
89
Fragment 263.
90
A. W. Schlegel, Geschichte der klassischen Literatur, S. 45 und 65.
81
A. W. Schlegel, Kunstlehre, S. 282.
92
Novalis, Fragment 1996.
9J
Fragment 1252.
94
Fragment 1996.
95
Fragment 1528.
102
KUNST
sind gewisse Bemerkungen des Novalis, die den eben skizzierten An-
schauungen geradezu widersprechen und der Phantasie einen nur gerin-
gen Wert zuschreiben. Ob solche Aussprüche wohlüberlegte, endgültige
Stellungnahmen widerspiegeln oder vielmehr zeitweilige, durch augen-
blickliche Zustände eingegebene Palinodien darstellen, ist fraglich. Auch
wäre zu überprüfen, ob an solchen Stellen96 das Wort immer in der
gleichen Bedeutung genommen wird und inwiefern diese Äußerungen auf
entsprechenden Sinneswechseln beruhen. Neben der Fülle anderslauten-
der Uberzeugungen macht jedoch die geringe Anzahl der Rückzieher eine
derartige Prüfung überflüssig, wenn das Ganze der Novalis'schen und
überhaupt der frühromantischen Anschauungen und nicht etwa ihr
chronologischer Werdegang zur Diskussion steht.
Als schöpferischer Ursprung der Ideen wird die Phantasie von
Novalis „Erfindungkraft" genannt", und Wilhelm Schlegel bezeichnet den
Dichter als ein Geschöpf der dichtenden Phantasie98, wobei er meint, die
erfindungsreiche Einbildungskraft des Dichters sei die Quelle seiner
Kunst. Unter echter dichterischer Phantasie versteht Wilhelm Schlegel
nun nicht etwa nur die Erfindung des Wunderbaren, des Außerordent-
lichen, des vom gewöhnlichen Lauf der Natur Abweichenden. Er nimmt
das Wort „in höherem Sinn" und gibt ihm die Bedeutung einer „inneren
Anschauungskraft dessen, was nicht dem Grade oder der Zusammenset-
zung, sondern der Art nach, alle äußere Wirklichkeit übersteigt". Er um-
schreibt den Begriff mit den Worten: „Ein lichtvolles Träumen in der
stillen Nacht des inneren Sinnes, bei dem Künstler mit der Gabe verbun-
den, die geheimnisvollen, nie von der Seele, ihrer Geburtsstätte, ganz
abzulösenden Bilder durch eine ebenso zauberische Darstellung mitzu-
teilen". Die so aufgefaßte Einbildungskraft nennt er eine „Seherphanta-
sie". Dante habe sie im höchsten Maße besessen99.
Was meint aber die Formel „der Art nach"? Der Gegenstand der
dichterischen Phantasie soll jede äußere, endliche Wirklichkeit überstei-
gen. Nun ist das Endliche die Welt, in der alles isoliert besteht und für die
symbolische Deutung nicht durchsichtig ist. Die Einbildungskraft erfaßt
intuitiv „die große Wahrheit, daß eins alles und alles eins ist"; sie „ver-
senkt uns in das Universum, indem sie es als ein Zauberreich ewiger Ver-
wandlungen, worin nichts isoliert besteht, sondern alles aus allem durch
die wunderbarste Schöpfung wird, in uns sich bewegen läßt"100. Damit ist
96
Zwei in den Fragmenten (871 und 2972) und eine in den Briefen (Bd. V, S. 157).
07
Fragment 3048.
98
A. W. Schlegel, Briefe über Poesie, Silbenmaß und Sprache. Bd. VII, S. 98 f.
99
A. W. Schlegel, Rezension von Gries' Übersetzung des Rasenden Roland, Bd. XII,
S. 278 ff.
100
A. W. Schlegel, Kunstlehre, S. 83.
103
KUNST
104
KUNST
105
KUNST
106
KUNST
bricht den Wechsel zwischen Seele und Welt, innerem und äußerem
Reiz120, bringt aber eine „nähere Selbstverbindung" zustande121. In
dieser Uberzeugung fordert Novalis die „Aufhebung des Unterschieds
zwischen Leben und Tod" und die „Annihilation des Todes"122.
Die Einbildungskraft ermöglicht es also den Jenaern, die Einheit des
Menschen und der Welt zu erfassen. Sie bildet die Brücke zwischen den
Erscheinungen sowie zwischen Erscheinung und Idee. Nun sind, nach den
Worten Wilhelm Schlegels, die Phantasie, „wodurch uns erst die Welt ent-
steht, und die, wodurch Kunstwerke gebildet werden, dieselbe Kraft, nur
in verschiedenen Wirkungsarten" 123 . Die Phantasie enthüllt also den Sinn
der Welt — sie ist nämlich auch das Organ für die Religion124 — und be-
fähigt, diesen Sinn in symbolischen Kunstwerken auszusprechen.
107
KUNST
108
KUNST
der Absicht, der Freiheit und der Notwendigkeit" 132 . Das Genie hat zwar
einen „inneren Plural", ein „wahrhaft innerliches Du", mit dem es Um-
gang zu pflegen weiß; in Wirklichkeit ist es jedoch nicht dieser Plural
selbst, sondern „das Resultat eines solchen inneren Plurals", die Synthesis
von unbewußter Einbildungskraft und bewußter Selbstbeobachtung 1 ".
Mit anderen Worten: „Genie ist ein Verhältnis zwischen Seele und
Geist"134, also weder Seele noch Geist, sondern — eine echt Schellingsche
Vorstellung — schwebender Übergang vom einen zum anderen, Wieder-
herstellung der Identität, Rüdeeroberung der ungeteilten Menschheit. „Es
umfaßt den ganzen Menschen", schreibt Wilhelm Schlegel135, es besteht
in der „innigsten Eintracht" der selbständigen, unbeschränkten Vermö-
gen der Sinnlichkeit und der Geistigkeit, der Phantasie und der Vernunft.
Auf Grund des eben Ausgeführten erscheint ein anderer Ausdruck
des Novalis zur Definition des Genies geeigneter als der Begriff der Syn-
these, nämlich das „transsubstantiierende Prinzip"138. Wie im katholi-
schen Gottesdienst geschieht im Genie eine „Wandlung" der getrennten
Vermögen in eine lebendige Einheit, ein Vorgang, der auch an alchi-
mistische Prozesse erinnert. Und das Eigentümliche dieser Einheit ist,
daß sie die eigene Fassungskraft des Genies selbst geheimnisvoll über-
steigt. Wilhelm Schlegel bestätigt diese Ansicht, indem er schreibt: „Man
kann sagen, daß es ein charakteristisches Kennzeichen des dichtenden
Genies ist, viel mehr zu wissen, als es weiß, daß es weiß"137.
Das Genie bringt „lebendige Gedanken" hervor138. Das sind nicht
etwa nur Vorstellungen von besonderer Prägnanz, sondern Ideen zur
Deutung der Welt und des Lebens, die durch die künstlerische Darstel-
lung lebendig werden, d. h. eine konkrete Realität bekommen. Solche
Ideen wurzeln alle in der Grundidee, die dem Genie durch die Einbil-
dungskraft eingegeben wird, d. h. in der allgemeinen Analogie und der
Symbolhaftigkeit alles Endlichen. Das Genie besitzt eine „wunderbare
Fähigkeit, den Sinn der Natur zu treffen und in ihrem Geist zu han-
deln"139. Das Werk des Genies ist eine Offenbarung: es macht das Un-
mögliche möglich, das Mögliche unmöglich, das Unbekannte bekannt und
das Bekannte unbekannt140. Das „Unmögliche", d. h. das Irreale der
132
A. W. Schlegel, Kunstlehre, S. 75 f.
U3 Vgl, Novalis, Fragment 2962.
131
Fragment 1842.
135
A. W. Schlegel, Kunstlehre, S. 76.
Novalis, Fragment 1289.
137
A. W. Schlegel, Fragmente aus dem Athenäum, Bd. VIII, S. 15.
139
Novalis, Fragment 1263.
13
» Fragment 1421.
140
Fragment 1289.
109
KUNST
110
V. DICHTUNG
111
DICHTUNG
aus der unsichtbaren Urkraft der Menschheit hervor, wenn der erwär-
mende Strahl der göttlichen Sonne sie trifft und befruchtet"2. Ähnlich
meint sein Bruder: „Unser Dasein ruhet auf dem Unbegreiflichen, und
die Poesie, die aus dessen Tiefen hervorgeht, kann dieses nicht rein auf-
lösen wollen"®. Der Anfang der Poesie fällt für ihn mit der ersten
Regung des menschlichen Daseins zusammen4.
Die Poesie als Urkraft der Menschheit und als Emanation der unbe-
greiflichen Tiefen des Daseins steht in ständiger Wechselwirkung mit der
Poesie als kosmischem Element.
Die Poesie ist mithin allgegenwärtig, sowohl im Weltall als auch im
Menschen, und zwar einerseits als Fluidum, das in jede Erscheinung
dringt, und andererseits als geheimnisvolle Seelenkraft, die auf dieses
Fluidum reagiert. Sie entsteht in actu aus jeder wahrhaften Begegnung
der Seele mit der Welt; sie bildet die Mitte zwischen Ich und Welt, das
Band zwischen den verborgenen Kräften des Weltalls und der unruhigen
Seele, die sich nicht mit wissenschaftlicher Erkenntnis begnügt, sondern
sich nach einer mystischen Kommunion sehnt. Sie ist „durchaus Zentrum
in jeder Hinsicht"5, das wirklich Reale jeder Erscheinung, das Tiefgrün-
dige jedes Erlebnisses, der unsichtbar-fühlbare Kern jeder Tätigkeit. Jede
Handlung, die um ihrer selbst willen erfolgt und nicht auf einen fremden
Zweck gerichtet ist, ist poesieträchtig6. So sind die „innersten Mysterien
aller Künste und Wissenschaften" ein „Eigentum der Poesie" 7 . Solche An-
schauungen führen uns zum Ältesten Systemprogramm zurück, in dem die
Poesie als das A und O gepriesen wird. Fast wörtlich nimmt Wilhelm
Schlegel das Systemprogramm wieder auf, wenn er in seinen Berliner
Vorlesungen sagt, die Poesie sei das Ursprünglichste, die Ur- und Mutter-
kunst aller übrigen und auch die letzte Vollendung der Menschheit, der
Gipfel der Wissenschaft, die Dolmetscherin der himmlischen Offenba-
rung8. Sie erscheint ihm als das Unentbehrlichste, das Erste, das Ur-
sprünglichste in allem menschlichen Tun und Denken®, als das Allgegen-
wärtigste und das Alldurchdringendste10. Sie fließt „aus einer ursprüng-
lichen Hauptanlage des menschlichen Gemüts" hervor11. Das gleiche meint
2 Ebd.
3 A. W. Schlegel, Bürger, Bd. VIII, S. 77 f.
4 A. W. Schlegel, Kunstlehre, S. 231.
5 Fr. Schlegel, Literary Notebooks, Nr. 1827.
• Vgl. Fr. Schlegel, Gespräch über die Poesie, KA, Bd. II, S. 304; Literary Notebooks,
Nr. 1800.
7 Fr. Schlegel, Gespräch über die Poesie, KA, Bd. II, S. 324.
112
DICHTUNG
auch Friedrich Schlegel mit den einfachen Worten: „Jeder Mensch ist von
Natur ein Dichter"12. Der Urgrund unserer Menschheit ist poetisch. Nur
ist diese Poesie in uns durch die Kruste des Alltags verdeckt. Wenn es uns
gelänge, uns von den Hemmungen der Gewohnheit und der Trägheit zu
befreien, würde die Poesie hervorleuchten. „In einem idealischen Zu-
stande der Menschheit würde es nur Poesie geben"13.
Mit dieser Darstellung der „form- und bewußtlosen" Poesie ist der
Inhalt des Begriffs jedoch noch lange nicht erschöpft. Daneben zeigt sich
eine Auffassung, die die Beziehung zur Dichtung und zur Kunst in größe-
rem Maße berücksichtigt. Freilich ist auch diese Auffassung nicht im
Handumdrehen zu erläutern. Sie gliedert sich in zwei Hauptmomente,
deren Zusammenhang nicht immer deutlich ans Licht tritt.
Zunächst wird die Poesie „im allgemeinen Sinn" als das „allen
Künsten Gemeinsame, was sich nur nach der besonderen Sphäre ihrer
Darstellungen modifiziert", beschrieben14. Sie ist die „Repräsentantin
aller Künste und bildet sie gleichsam vor"15. Wo findet sich das Gemein-
same der Künste in dieser Beziehung? In der Produktion von Ideen durch
die Phantasie. In jeder Kunst, schreibt Wilhelm Schlegel, gibt es zwei
Teile: einen mechanisch-technischen, der je nach Kunstart und Gattung
verschieden ist, und einen „poetischen", der allen Künsten gemeinsam ist.
Dieser poetische Teil beruht auf der „freien schaffenden Wirksamkeit der
Phantasie", einer schöpferischen Tätigkeit, die mit dem Wort poiesis be-
zeichnet wird16. Den Begriff poiesis versteht Wilhelm Schlegel demnadi
im etymologischen Sinn als Hervorbringung, und zwar als Hervorbrin-
gung einer Phantasiewelt, die uns „über die gewöhnliche Wirklichkeit"
erhebt. „Poesie bezeichnet also in diesem Sinne überhaupt die künstle-
rische Erfindung, den wunderbaren Akt, wodurch dieselbe die Natur
bereichert"17. Eine Bereicherung der Natur im romantisdien Sinn kann
selbstverständlich nicht nur darin bestehen, daß ein Werk von Menschen-
hand zu den schon vorhandenen hinzukommt, sondern vielmehr darin,
daß durch die „wunderbare" künstlerische Erfindung die Natur einen
unendlichen Sinn bekommt, indem sie sich der symbolischen Deutung
durch die Einbildungskraft erschließt. Poesie wäre also das schöpferische
Moment der Einbildungskraft und als solches „gleichsam der in allen
Künsten überall gegenwärtige Universalgeist"18. Insbesondere bezeichnet
12
Fr. Sdilegel, Literary Notebooks, Nr. 255.
13
Fr. Schlegel, Gespräch über die Poesie, KA, Bd. II, S. 324.
14
A. W. Schlegel, Kunstlehre, S. 15.
15
A. W. Schlegel, Geschichte der klassischen Literatur, S. 14.
18
A. W. Sdilegel, Kunstlehre, S. 15.
" Ebd., S. 225.
18
Ebd.
113
8 Nivelle
DICHTUNG
19
Fr. Schlegel, Literary Notebooks, Nr. 445.
!0
Fr. Schlegel, Lyceums-Fragmente, KA, Bd. II, S. 149, Nr. 23.
21
Ebd., S. 156, Nr. 73.
114
DICHTUNG
115
8»
DICHTUNG
des Wesens, des Allgemeinen bei"25. Auf Grund der Art ihrer Zeichen
muß die Dichtung fast notwendigerweise Bild und Begriff zugleich mit-
teilen. Dieser Zwang ist manchmal als eine zusätzliche Belastung ange-
sehen worden. Novalis hat von einer rein musikalischen Dichtung ge-
träumt, in der die abstrakte Bedeutimg der Worte ausgeschaltet wäre. Im
großen und ganzen kommt aber dieser doppelte Aspekt der Sprache der
romantischen Poetik sehr entgegen. Behauptet doch Friedrich Schlegel,
die Sprache sei, „ursprünglich gedacht, identisch mit der Allegorie"26,
wobei noch einmal auf seinen eigenwilligen Sprachgebrauch, der Allego-
rie für Symbol setzt, hingewiesen sei. Sprache als Symbol ist „ihrer Natur
nach nichts anderes als die Bezeichnung des Unendlichen" und daher
„ihrer ursprünglichsten, natürlichsten Form nach Poesie"27. Als Identität
von endlichem Zeichen und unendlichem Sinn entspricht die Sprache dem
romantischen Symbolbegriff und stellt sich demnach als das geeignetste
Mittel heraus, das Unendliche anzudeuten. „Die Sprache, welche sich
bloß mit göttlichen Dingen beschäftigt, wäre die natürlichste des Men-
schen, und nicht die Sprache des gemeinen praktischen Lebens" 28 . Wil-
helm Schlegel nennt sie „die wunderbarste Schöpfung des menschlichen
Dichtungsvermögens" und faßt sie auf als „das große, nie vollendete
Gedicht, worin die menschliche Natur sich selbst darstellt" 28 .
Wie läßt sich, so könnte man fragen, die übergroße Diskrepanz
zwischen diesem begeisterten Zujubeln und der eindeutigen Verurteilung
der Sprache als Instrument des Unendlichen durch Wackenroder, der in
seiner abschätzigen Meinung auch noch von Schleiermacher unterstützt
wird, erklären? Die Antwort muß ganz einfach ausfallen: es geht nicht
um dieselbe Sprache. Die Sprache, die die schroff negative Stellungnahme
Wackenroders hervorlockt, ist das Verständigungsmedium „des gemeinen
praktischen Lebens", während hier ihre künstlerische Potenz betrachtet
wird. Einerseits wird sie als ein vom Verstand geprägtes zweckgebun-
denes Mitteilungsmittel angesehen; andererseits tritt sie in ihrer „ur-
sprünglichen Kraft" auf, „die im notwendigen Zusammenhang zwischen
den Zeichen der Mitteilung und dem Bezeichneten liegt"30. Das — wenn
auch unerreichbare — Ideal der Sprache als Ausdruck der Kunst wäre die
völlige Identität von Zeichen und Bedeutung, von Bild und Sinn. Das
Begriffliche stellt hier wie gewöhnlich das störende und hemmende Mo-
ment dar. Aufgabe des Dichters ist es, sich von der Sprache als einer
25
Schelling, Philosophie der Kunst, 3. Ergänzungsband, S. 282.
26
Fr. Schlegel, Gespräch über die Poesie, KA, Bd. II, S. 348.
27
Fr. Schlegel, Geschichte der europäischen Literatur, KA, Bd. XI, S. 113.
28
Ebd.
2
» A. W. Schlegel, Briefe über Philosophie, Silbenmaß und Sprache, Bd. VII, S. 104.
30
Ebd., S. 105.
116
DICHTUNG
Die dichterische Sprache, die sich dem Ideal der Anschaulichkeit und
der gleichzeitigen unendlichen Bedeutung nähert, fällt im Grenzfall aus
dem Bereich des Begrifflichen heraus und stellt somit einen ausgezeich-
neten Reflex des Unendlichen dar, wie er der romantischen Kunstdefini-
tion entspricht. Das dichterische Wort erhebt sich zum Symbol von Ideen
und erfüllt mithin die Aufgabe der poiesis als Ideenschöpferin. Noch
weniger als die übrigen Künste ist die Dichtung an die gegenständliche
Wirklichkeit gebunden; ihr Gebiet ist das des Möglichen. „Was poetisch
möglich ist, ist eben deswegen schlechthin wirklich, wie in der Philoso-
phie, was ideal — real"36. Die poetische Idee braucht keine Bestätigung
aus dem Reich des Wirklichen — ebensowenig wie der kategorische Im-
perativ. Ihre Wirklichkeit fällt mit ihrer Möglichkeit zusammen. Sie ge-
winnt schon dadurch Realität, daß sie in der Einbildungskraft entsteht.
„Je poetischer, je wahrer", sagt Novalis. Eine solche Anschauung stützt sich
unmittelbar auf die idealistische Philosophie, für welche die Idealität des
Ich mit seiner Realität identisch ist. Wer die Realität von der Idealität
abgesondert sieht, kann von Poesie nichts verstehen. Der Empirismus, der
nur das, was in der Erfahrung liegt, als wahr zu erkennen vermag, ist das
Prinzip der Unpoesie.
In Wilhelm Schlegels Sprache, die in dieser Hinsicht noch an die
traditionelle Terminologie gebunden erscheint, stellt sich die Dichtung
nicht die Nachahmung der Natur als Aufgabe, sondern sie will Schönheit
erschaffen. Die Poesie, „im weitesten Sinn genommen", ist für ihn „die
31
A. W. Schlegel, Kunstlehre, S. 83.
32
Ebd., S. 103.
33
Ebd., S. 231, 242.
34
Ebd., S. 84.
35
Vgl. ebd., S. 247.
38
Schelling, Philosophie der Kunst, 3. Ergänzungsband, S. 282 ff.
117
DICHTUNG
4 0 Ebd., S. 65,71.
4 1 Ebd., S. 52.
4 2 Ebd., S. 78.
4 3 Ebd., S. 52.
4 4 Ebd., S. 283.
4 5 Ebd., S. 87.
4 « Ebd., S. 282 f.
118
DICHTUNG
119
DICHTUNG
120
DICHTUNG
Kunst, die im Inneren der Seele aufgehalten wird und darum nicht zur
künstlerischen Gestaltung gelangt, die aber auf der gleichen Uroperation
wie die Dichtung beruht. Das besagt das Novalis'sche Fragment 2171:
„Der Philosoph wäre am Ende auch nur der innere Dichter."
Mit dem Verhältnis zwischen Poesie und Philosophie haben sich die
Frühromantiker ausgiebig befaßt. Obschon das Problem bereits im
Systemprogramm gelöst zu sein scheint, indem der Poesie der Vorrang
vor der Philosophie zugestanden wird, bleibt die Begründung dieser
vorläufigen Lösung eine ständige Sorge der Jenaer Schule. Der haupt-
sächlich von Friedrich Schlegel immer wieder benutzte Ausdruck „Trans-
zendentalpoesie" kann ein gewisses Licht auf die einschlägigen Gedan-
kengänge der Schule werfen. „Es gibt eine Poesie", schreibt Schlegel,
„deren Eins und alles das Verhältnis des Idealen und des Realen ist, und
die also nach der Analogie der philosophischen Kunstsprache Transzen-
dentalpoesie heißen müßte" 57 . In deutlicher Anlehnung an die idealisti-
sche Philosophie unterstreicht er hier eine Dichtungsauffassving, die
zweierlei voraussetzt: erstens ist der Gegenstand der Dichtung nicht das
Reale, das Gegebene, das Vorhandene, sondern ein Verhältnis zwischen
diesem Realen und dem dazu Gedachten, Gewollten, Erstrebten; zwei-
tens soll die Dichtung nicht nur einen Gegenstand darstellen, sondern
zugleich sich selbst und somit „Poesie der Poesie" werden.
Die erste Voraussetzung entspricht der Novalis'schen Idee und deren
Dialektik. Das Reale wäre im Wilhelm Meister der Kaufmannsstand, das
Ideale das Streben nach dem Höchsten, und das Verhältnis der beiden
die Synthese der „Wechselglieder". Da sich Schlegel spontan im Dich-
tungstechnischen bewegt und mehr in Dichtungskategorien denkt als
Novalis, kostet es ihn wenig Mühe, für das in Frage stehende Verhältnis
die Schillersche Dichtungstypologie zu übernehmen und drei Grundtypen
zu unterscheiden: die Satire, in der es eine „absolute Verschiedenheit
des Idealen und des Realen" gibt, weil der vorhandene Zustand oder die
gegebene Tatsache dem dazu Gedachten entgegengesetzt ist; die Elegie,
die „in der Mitte schwebt" und die Idylle, bei der eine „absolute
Identität" des Idealen und des Realen zu verzeichnen ist, weil in ihr der
dargestellte Zustand mit dem Willen und der Reflexion des Darstellers
vollkommen übereinstimmt58. Jedoch gilt das Verhältnis des Realen und
des Idealen nicht allein für das Ganze und die Gesamtkonzeption eines
Werkes, sondern auch für jeden einzelnen Teil desselben: „Nicht bloß
das Ganze in der modernen Poesie muß idealisch sein, sondern auch jeder
Teil, jeder Punkt muß noch aus dreien Bestandteilen konstruktibel sein",
57
Fr. Schlegel, Athenäums-Fragmente, KA, Bd. II, S. 204, Nr. 238.
58
Ebd.
121
DICHTUNG
wobei die Bedeutung des Wortes idealisch aus dem Zusammenhang er-
hellt 5 '.
Der zweiten Voraussetzung entsprechend soll sich die Dichtung „mit
der künstlerischen Reflexion und schönen Selbstbespiegelung" vereinigen,
damit am Ende eine „poetische Theorie des Dichtungsvermögens" ent-
steht*0. Mit anderen Worten: die Dichtung soll die in ihr tätige Dich-
tungskraft irgendwie widerspiegeln und zur Darstellung bringen. Poesie
der Poesie meint ja hauptsächlich die Dichtung, die sich selbst zum Gegen-
stand nimmt und eine Selbstoffenbarung anstrebt. Ein anderer Ausdruck
dafür ist „spekulative" 81 oder eben Transzendentalpoesie. Ob dieser
zweite Punkt in Schlegels Definition eine von vornherein gegebene Posi-
tion der romantischen Poetik ist oder aber erst auf dem Umweg über
Schlegels persönliche Anlage und sozusagen zufällig gewonnen wurde, ist
schwer zu entscheiden. Gewiß ist, daß diese Idee einer Poesie in der
zweiten Potenz sich auf die frühromantische Theorie fruchtbar ausgewirkt
und ihr ein eigentümliches Gepräge aufgedrückt hat; ihr Ursprung
könnte aber in Friedrich Schlegels poetisch-schöpferischer Schwäche lie-
gen. War doch die sogenannte Transzendentalpoesie für ihn das Mittel,
sich für einen Dichter zu halten, indem er mit diesem Begriff das ihm
vertraute Feld der kritischen Reflexion und der philosophischen Spekula-
tion mit scheinbarem Recht ins Reich der Poesie einbezog. Er war sich
seiner Grenzen bewußt und hat dies mehrmals ausgedrückt. Er schreibt
unter anderm: „Geschichte meines poetischen Gefühls. Sinn für negative
Transzendentalpoesie (für absolut Satirisch-Polemisches).. ."'2. Das Wort
negativ bezeichnet in diesem Zusammenhang einen Uberfluß an 'Ideal',
an Reflexion, an Geist und einen Mangel an 'Realem', an Stoff, an eigent-
lich dichterischer Substanz; daneben weist es auf die eine Seite der Poesie
hin, die Schlegel mit dem Begriff polemisch-satirisch umschreibt und die
bei einer vollgültigen Dichtung bloß das Pendant zur positiven Seite, zum
sogenannten 'Mystischen1 ausmachen sollte, von dem Schlegel wußte, daß
er es nicht genügend beherrschte".
Offenbar lauerte hinter einer solchen Position die Gefahr eines
Uberhandnehmens der Reflexion und einer dadurch verursachten Aus-
schaltung des Gefühls und eben des 'Mystischen'. Wilhelm Schlegel hat
diese Gefahr gesehen und davor gewarnt, indem er zu zeigen versuchte,
daß die Koexistenz von Gefühl und Reflexion einem ewigen Gesetz des
menschlichen Seins entspricht. „Es soll und darf nichts an unserem Gefühl
59
Fr. Schlegel, Literary Notebooks, Nr. 456.
60
Fr. Schlegel, Athenäums-Fragmente, KA, Bd. II, S. 204, Nr. 238.
61
Fr. Schlegel, Literary Notebooks, Nr. 556.
62
Ebd., Nr. 1043.
63
Vgl. ebd., Nr. 766.
122
DICHTUNG
selbst mit Willkür verändert werden", schreibt er, „sondern wir müssen
nur frei darüber reflektieren, unsere Empfänglichkeit selbst zum Gegen-
stande unserer Selbständigkeit machen"84. Diese Koexistenz von Sein und
Bewußtsein, Verlorensein im Objekt und Selbständigkeit der Distanz und
der Reflexion fließt notwendigerweise aus dem „beständigen Pulsieren"
unseres Daseins zwischen einer „nach außen hin sich verbreitenden" und
einer „in sich selbst zurückgehenden Tätigkeit", das sich schon in der
bloßen Sinneswahrnehmung zeigt und „in einer höheren Potenz" in der
Poesie aktiv werden soll65. Spekulation ist für Wilhelm Schlegel nichts
anderes als die Selbstanschauung des Geistes, das Selbstbewußtsein. Da-
mit bestätigt er die oben genannte Definition der spekulativen Poesie als
einer Dichtimg, die sich selbst zum Gegenstand nimmt". Mehrfach hat er
dieser Tätigkeit, „durch welche zuerst etwas Poetisches zustandegebracht
wird" und die sich dann „auf ihr Resultat zurückwendet", ihre Stellung
in dem „inneren Organismus" des Geistes angewiesen und sie auf allge-
meine Gesetze des geistigen Lebens zurückgeführt". Er nennt sie auch
Spekulation der Phantasie68 und versteht darunter die Handlung der Ein-
bildungskraft, die etwas schafft und sich auf das Geschaffene besinnt.
„Man hat vortreffliche Gedichte über die Dichtkunst", schreibt er, „allein
wie weit höher konnte ein Dichter sich schwingen, der sein eigenes Genie
gleichsam in der Werkstatt seiner Schöpfungen belauschte" 6 '. Der Produ-
zierende, hätte sein Bruder gesagt, muß mit dem Produkt zugleich dar-
gestellt werden.
Im Gebrauch des Wortes Transzendentalpoesie ist Novalis sparsamer
als Friedrich Schlegel; seine Dichtungsanschauung beruht jedoch gleich-
falls auf diesem Begriff, wenn es auch den Anschein hat, als spiele bei
ihm die erste Voraussetzung eine größere Rolle als die zweite. Im Reiche
der Dichtung unterscheidet Novalis zwischen Poesie und Nicht-Poesie.
Letztere umschreibt er gelegentlich mit dem Ausdruck „poetische Musik
und Malerei", und er warnt davor, sie mit echter Poesie zu verwechseln.
Einzelne „Schönheiten" machen aus einer Dichtung noch lange kein
poetisches Kunstwerk. Tieck verfalle immer wieder dieser Gefahr, und
auch Goethe gerate manchmal auf diese falsche Spur. Der Dichter, schreibt
Novalis, „hat bloß mit Begriffen zu tun", und alle Schönheiten in seinem
Werk haben als einzige Funktion, „Begriffszeichen" zu sein70. Was er hier
84
A. W. Schlegel, Kunstlehre, S. 26.
65
Ebd.
«« Ebd., S. 49.
" Ebd., S. 226.
«8 Ebd., S. 251.
99
A. W. Schlegel, Über die Künstler, ein Gedicht von Schiller, Bd. VII, S. 6.
70
Novalis, Fragment 3008.
123
DICHTUNG
unter Begriff versteht, ist nichts anderes als das, was er gewöhnlich Idee
nennt, allerdings in der schon bei Friedrich Schlegel festgestellten Bedeu-
tung des Wortes, die seine Anwendung auf einzelne Bestandteile der
Dichtung mit einbezieht. Daß es sich nicht um Begriffe im landläufigen
Sinn handelt, erhellt aus vielen ausführlicheren Fragmenten, in denen der
Begriff in der gewöhnlichen Bedeutung aus dem Reich der Poesie ver-
bannt wird. Ideen als Synthesen von Stoff und Reflexion „transzendieren"
die beiden „Wechselglieder" und erheben somit die Dichtung zur Trans-
zendentalpoesie im Schlegelschen Sinn.
Für das Verhältnis von Poesie und Philosophie läßt sich daraus
schließen, daß Reflexion und Synthese beiden Bereichen angehören und
daß der Dichter, der das „Denken" aufgibt, d. h. auf die Produktion von
Ideen verzichtet, der falschen, unechten Poesie zum Opfer fällt und als
Dichter versagt. „Die Trennung von Poet und Denker ist nur scheinbar
und zum Nachteil beider"; sie ist „das Zeichen einer Krankheit und krank-
haften Konstitution". „Dichter ist nur der höchste Grad des Denkers" 71 .
Dichtung ist anschauliches Denken, und Philosophie geht von einer
denkerischen Anschauung aus.
In Novalis'scher Sicht ist Dichtung gleichsam der Exponent der Philo-
sophie, ihre Vertreterin im Reiche des Realen, des Objektiven, ihr sicht-
barer Ausdruck, ihr „Held". Die Philosophie ist ihre Wurzel und ihre
Grundlage, die „Theorie", die sie „zum Grundsatz erhebt" und vor einer
Verzettelung in Zeitvertreibskünste und bloß angenehme Gesellschafts-
spiele schützt. Erst die Philosophie zeigt, „was die Poesie sei, daß sie eins
und alles sei"72, denn „die transzendentale Poesie ist aus Philosophie und
Poesie gemischt. Im Grunde befaßt sie alle transzendentalen Funktionen
und enthält in der Tat das Transzendentale überhaupt" 73 .
Nicht nur als Held und Exponent steht aber die Poesie mit der
Philosophie in Verbindung, sondern auch als deren „Zweck", „Bedeu-
tung", „Schlüssel"74 und paradoxerweise zugleich als ein Mittel zu ihrer
Mitteilung. Die Philosophie verhält sich zur Dichtung wie das Mögliche
zum Wirklichen; sie „bereitet die Welt zu dem wirksamen Einfluß der
Ideen", während die Poesie diesen Einfluß direkt ausübt. Letztere gibt
der Philosophie „anmutiges Leben"; sie führt sie ins konkrete Menschen-
dasein hinein, macht sie zugänglich und fruchtbar. Die Dichtung erweckt
den Sinn für das Ganze, das Universum; sie hebt das Individuum aus
71
Fragment 1894.
72
Fragment 1056.
73
Fragment 823.
74
Fragment 751, 807.
124
DICHTUNG
seiner stumpfen Isoliertheit heraus und stellt die Verbindung mit dem
Unendlichen her: „das Individuum lebt im Ganzen und das Ganze im
Individuum" 75 . Sie schafft „die höchste Sympathie und Koaktivität, die
innigste Gemeinschaft des Endlichen und des Unendlichen" 76 . In einer
solchen verbindenden, synthetisierenden Funktion bestehen das Wesen
und die Wirkung der Poesie77. „Der Dichter löst alle Bande auf", seine
Worte sind „Zauberworte, die schöne Gruppen um sich her bewegen" 78 :
das dichterische Wort ist eine Analogienquelle, seine evozierende Kraft
ist weltschöpferisch. Unter diesem Aspekt ist Dichtung gewissermaßen
ein technisches Mittel, die Philosophie lebendig und konkret zu machen,
sie ist „ein Teil der philosophischen Technik".
Freilich hat die Dichtung vor der Philosophie den Vorzug, daß sie
sich nicht ausschließlich wie diese auf die Vernunft bezieht; sie ist „unter
den Empfindungen, was Philosophie in Beziehung auf Gedanken ist"79.
Sie erreicht ihr philosophisches Ziel auf dem Umweg der Gemütserre-
gung. Sie ist „Gemütserregungskunst" 80 . Sie stimmt das Gemüt harmo-
nisch und bewirkt, daß in dem von ihr geschaffenen Gemütszustand
„jedes Ding seine gehörige Ansicht, alles seine passende Begleitung und
Umgebung findet". Sie erweckt Ahnungen und Erinnerungen, erweitert
die Seele, läßt uns mit allem in Kommunion geraten81, „löst fremdes Da-
sein in eignem auf"82, mutet natürlich und notwendig an und ist doch
wunderbar 83 . Sie öffnet allen magischen Zaubern die Tore des Gemüts,
und die eigentliche Einheit und Bedeutung eines dichterischen Kunst-
werks liegt in dem Seelenzustand, den es erweckt84. Sie versetzt das Ge-
müt „in ein mannigfaches Spiel von Bewegungen" 85 , bringt „innere Stim-
mungen und Gemälde oder Anschauungen" hervor86.
75
Fragment 807.
Fragment 751, 807.
77
Vgl. Fragment 1932.
78
Vgl. Fragment 808.
79
Vgl. Fragment 1955.
80
Vgl. Fragment 2907.
81
Vgl. Fragment 2638.
82
Vgl. Fragment 822.
83
Vgl. Fragment 2638.
84
Vgl. Fragment 3010.
85
Vgl. Fragment 2857.
8
» Vgl. Fragment 2907.
125
DICHTUNG
87
Vgl. Fragment 3083.
88
Ebd.
89
Ebd.
60
Novalis, Briefe, Bd. V, S. 294.
91
Novalis, Fragment 412.
92
Fragment 3069.
93
Vgl. Fragment 3066.
94
Vgl. Novalis, Briefe, Bd. V, S. 247 f.
95
A. W. Schlegel, Kunstlehre, S. 81 f.
98
Ebd.
126
DICHTUNG
87
Novalis, Fragment 873.
88
Novalis, Briefe, Bd. V, S. 249.
88
Novalis, Fragment 989.
100
Fragment 873.
101
Fragment 1247.
102
Fragment 1072.
103
Fragment 2555.
104
Novalis, Briefe, Bd. V, S. 294.
127
DICHTUNG
105
Novalis, Fragment 2674.
106
Fragment 2416.
107
Fragment 3028, 2053.
108
Fragment 3056.
128
DICHTUNG
,0
» Ebd.
110
Ebd.
1,1
Fragment 3050.
112
Fragment 2531.
113
Fragment 73.
114
Fragment 818.
115
Fragment 1820, 2715.
129
9 Nivelle
DICHTUNG
116 Fr. Schlegel, Ansichten und Ideen von der christlichen Kunst, KA, Bd. IV, S. 25.
117 Ebd., S. 54.
Iis Wackenroder, Herzensergießungen, S. 29.
Ebd., S. 87.
1 2 0 A. W. Schlegel, Über die Künstler, ein Gedicht von Sdiiller, Bd. VII, S. 5.
130
DICHTUNG
131
9»
DICHTUNG
Ähnlich wie die anderen Künste, die ja alle ein Unendliches in einem
Endlichen darzustellen haben, greift die Dichtung zum Symbol als dem
einzig angemessenen Mittel des künstlerischen Ausdrucks. Sie läßt es aber
nicht beim einzelnen Sinnbild bewenden, sondern schreitet weiter zur
Schöpfung eines symbolischen Weltzusammenhangs, der in der Sprache
der Frühromantiker M y t h o l o g i e heißt. Die Ideenwelt als eine Welt
der Götter anschaulich zu machen, ist eine Grundforderung Schellings135,
mit der Friedrich Schlegel vorbehaltlos übereinstimmt und die Novalis in
die Tat umzusetzen versucht.
Die Mythologie ist für Schelling der „allgemeine Stoff", in dem das
Symbol als Identität von Sinn und Bild verwirklicht ist. „In der Mytho-
logie ist [das Besondere] zugleich selbst das Allgemeine"136, heißt in
seiner Sprache, was Wilhelm Schlegel mit den Worten ausdrückt, die Gott-
heiten der Mythologie hätten die Allgemeingültigkeit von Ideen und die
lebendige Gegenwart von Individuen137. Im Gegensatz zur Allegorie ge-
währleistet die Mythologie die „poetische Unabhängigkeit" der Gestal-
ten und zugleich einen sinnvollen, unendlichen Gehalt. Unter den ganz
wenigen Beispielen, die überhaupt in der Frühromantik angeführt wer-
den, sei auf das von Schelling evozierte Bild der Magdalena hingewiesen,
das die Reue nicht nur bedeute, sondern selbst sei138. So aufgefaßt ent-
sprechen die mythologischen Figuren und Handlungen der romantischen
Definition der Kunst als Darstellung der Identität des Besonderen und des
Allgemeinen im Besonderen oder als „Darstellung des Absoluten in Be-
grenzung ohne Aufhebung des Absoluten". Konsequent kann dann Schel-
ling schreiben: „Mythologie ist die notwendige Bedingung und der erste
Stoff aller K u n s t . . . Sie ist die Welt und gleichsam der Boden, worin
allein die Gewächse der Kunst aufblühen und bestehen können"13". Der
135
Ebd., S. 104.
134
Ebd., S. 244.
135
Schelling, Philosophie der Kunst, Bd. III, S. 471.
138
Ebd., S. 429.
137
A. W. Schlegel, Kunstlehre, S. 288.
138
Schelling, Philosophie der Kunst, 3. Ergänzungsband, S. 206.
189
Ebd., Bd. III, S. 425 f.
132
DICHTUNG
Stoff der Kunst besteht ja aus Ideen, „sofern sie als real angeschaut wer-
den"140, d. h. sofern sie als mythologische Götter und Taten erscheinen.
Diese sind also das im Besonderen real oder objektiv angeschaute Abso-
lute141. Nur durdi ihre „bleibenden und bestimmten Gestalten" können
ewige Begriffe ausgedrückt werden142. Die Mythologie ist demnach die
urbildliche Welt, die erste allgemeine Anschauung des Universums, die
Grundlage der Philosophie145. Indem sie die Mythologie in ihren Werken
verwertet und mitgestalten hilft, erhebt sich die Kunst zu einem „magi-
schen und symbolischen Spiegel" des inneren Wesens der Philosophie144.
Auch für Wilhelm Schlegel erstreckt sich die Tragweite der Mythologie
„über alles, was Objekt des menschlichen Geistes werden kann", und er-
möglicht somit eine vollständige Weltansicht. Aus ebendem Grunde muß
sie als die Grundlage der Philosophie gedacht werden: sie hat die ersten
Denker zur Reflexion über den Sinn des Universums angeregt145.
Jeder echte Dichter steht vor der Aufgabe, sidi aus den Gegeben-
heiten seiner Zeit, seiner Lebensumstände, seiner Bildung eine Mytho-
logie zu schaffen, die seine geistige Welt in ihrem Zusammenhang er-
scheinen lassen soll. Er ist dazu berufen, die passende Mythologie für sein
Werk zu finden. Dante und Shakespeare sind deshalb groß und ewig, weil
sie sich ihren eigenen umfassenden mythologischen Kreis geschaffen
haben146.
Nach Friedrich Schlegel ist die Mythologie der poetische Ausdruck
des Idealismus. „Der Kern, das Zentrum der Poesie ist in der Mythologie
zu finden, und in den Mysterien der Alten". Zugleich mit diesem Glau-
bensbekenntnis gibt er seine Auffassung der Mythologie: „Sättigt das
Gefühl des Lebens mit der Idee des Unendlichen, und ihr werdet die
Alten verstehen und die Poesie"147. Mythologie soll also der adäquate
Ausdruck eines mit dem Bewußtsein des Unendlichen durchtränkten
Lebensgefühls, eines ideenhaltigen Gefühls des unendlichen Lebens sein.
Sie ist das Bild der ewigen Beseelung der Welt, des unendlichkeitsträch-
tigen Natur- und Geisteslebens, dessen Sinn so wenig wie die „Seele in
dem umgebenden Leib" rational zu fassen ist. Dieser Sinn „flieht das Be-
wußtsein" und muß indirekt aufgedeckt und dargestellt werden. Nun ist
er eben in der Mythologie „sinnlich geistig zu schauen und festgehal-
140
Ebd., S. 390.
141
Ebd., S. 390 und 417 f.
142
Ebd., S. 425 f.
"» Ebd., S. 436 f.
144
Ebd., S. 373.
115
A. W. Schlegel, Kunstlehre, S. 295.
149
Schelling, Philosophie der Kunst, Bd. Ili, S. 465.
147
Fr. Schlegel, Ideen, KA, Bd. II, S. 264, Nr. 85.
133
DICHTUNG
148
Fr. Schlegel, Gespräch über die Poesie, KA, Bd. II, S. 318.
"» Ebd., S. 318.
150
Ebd., S. 312.
151
Ebd., S. 313.
152
Fr. Schlegel, Literary Notebooks, Nr. 1695.
153
A. W. Schlegel, Kunstlehre, S. 231.
154
Ebd., S. 242.
155
Fr. Schlegel, Gespräch über die Poesie, KA, Bd. II, S. 350.
158
Ebd., S. 312.
134
DICHTUNG
und bildet einen Ersatz für Poesie, Philosophie, Ethik und Physik; die
neue Mythologie soll — mindestens anfangs — esoterisch sein und nur
den Eingeweihten ihren tieferen Sinn offenbaren 157 . In der Einschätzung
der altgriechischen Mythologie, die eine „realistische" gewesen sein soll,
pflichtet Wilhelm Schlegel seinem Bruder bei: in ihr habe sich der Mensdi
als bloß irdisches Wesen dargestellt, während die christliche und auch die
brahmaistische Mythologie den Menschen in seinem Streben nach Unab-
hängigkeit von Erde und Natur ausdrücken und darum 'idealistisch' sind.
Freilich haben sich auch die Griechen nach einer idealistischen Mytho-
logie gesehnt; einen Beweis dafür sieht Wilhelm Schlegel in ihren Orgien.
Und andererseits haben die Christen das Irdische als Bestandteil ihres
Wesens nicht übersehen: die von ihnen eingeführten Sakramente erin-
nern an die irdische Gebundenheit des Geistigen159.
Anders als die des Altertums kann die moderne Mythologie keine
naive Schöpfung sein, vielmehr muß sie „aus der tiefsten Tiefe des Geistes
herausgebildet werden; es muß das künstlichste aller Kunstwerke sein"15'.
Es wäre allerdings möglich, die alte Mythologie mit Hilfe der Begriffe der
modernen Wissenschaft und Philosophie neu zu beleben: „Versucht es
einmal", schreibt Friedrich Schlegel, „die alte Mythologie voll vom
Spinoza und von jenen Ansichten, welche die jetzige Physik in jedem Nach-
denkenden erregen muß, zu betrachten, wie euch alles in neuem Glanz
und Leben erscheinen wird"160. Friedrich Schlegel meint, es stecke alles so
„unendlich voll Mythologie", daß man keine neue Mythologie im eigent-
lichen Sinn schaffen könne; man könne nur „sichtbar machen die unsicht-
bare, befreien die gebundene" 161 . Die unsichtbare Mythologie in Schlegels
Zeiten ist das idealistische Weltbild; die neue poetische Mythologie, die er
fordert, soll dazu dienen, den Idealismus zu einem „neuen Realismus" zu
erheben162, den Idealismus als theoretische Weltschau durch poetische
Schöpfungen zu veranschaulichen.
Wenn die neue Mythologie sichtbar gemacht worden ist, wird der
Mittelpunkt und der Urquell der Poesie wieder entdeckt sein. Dann gilt
das gleiche Weltbild für alle. Die ganze moderne Poesie wird, wie die
alte, ein „einziges, unteilbares, vollendetes Gedicht" werden, in dem das
Höchste „wirklich gebildet", d. h. objektiv gestaltet, und alles zu allem
157
Vgl. Fr. Schlegel, Phüosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 336, Nr. 165.
158
A. W. Schlegel, Kunstlehre, S. 284.
15
» Fr. Schlegel, Gespräch über die Poesie, KA, Bd. II, S. 312.
100
Ebd., S. 319.
161
Fr. Schlegel, in Schriften und Fragmente (Kröners Taschenausgabe), S. 133.
162 Ygj Strohschneider-Kohrs, Die romantische Ironie, S. 57 f. Daß bei dieser Forde-
rung auch gewisse Vorstellungen aus der naturmystischen Tradition eine Rolle
spielen, hat Sorensen deutlich nachgewiesen (Symbol und Symbolismus...).
135
DICHTUNG
in Beziehung stehen wird 1 ". Die Einheit der geistigen Welt ist dann
wiederhergestellt.
136
DICHTUNG
137
DICHTUNG
nern178. Die Verquickung von Religion und Poesie bis zur Identität beider
gehört zu den Grundlagen der frühromantischen Poetik: dabei gibt die
Religion ihre dogmatische und moralische Komponente auf, und die
Poesie übernimmt die Rolle eines kosmischen Elements, sie wird zur
weltlichen Mystik 1 ".
Die allmähliche Poetisierung der Welt, die sich die Poesie der Früh-
romantik in ihrer Universalitätsforderung vornimmt, setzt ein weiteres,
hauptsächlich Schlegelsches Postulat voraus: die Progressivität. Dieser
Begriff stellt für Friedrich Schlegel einen Wesenszug der 'fortschreiten-
den' romantischen Dichtung dar im Gegensatz zur klassischen, die „regre-
dierend", „stillstehend", zyklisch sein soll. Das Ideal der klassischen ist
Einheit, das der romantischen Ganzheit180.
Es dürfte nicht viele Begriffe geben, die die Forschung zu gründ-
licheren Mißverständnissen verleitet haben als dieser Begriff der Pro-
gressivität. Die damit scheinbar zusammenhängende sogenannte 'Unvoll-
endung' ist fast durchgehend auf das einzelne dichterische Kunstwerk
bezogen worden, und so konnte die Illusion entstehen, als hätten die
Frühromantiker eine Art non finito als poetologisches Ideal aufgestellt
und verkündet. Es liegt auf der Hand, daß eine Auffassung der Poesie als
eines überall gegenwärtigen kosmischen Elements notwendigerweise
andere formale Imperative zur Folge haben muß als eine streng klassische
Anschauung. Es leuchtet ebenfalls ein, daß das dichterische Kunstwerk
jeweils Abbild eines im Geiste erschauten Urbilds ist und daß ein solches
Abbild immer vervollkommnungsfähig ist. Nicht weniger klar ist, daß die
frühromantische Poetik keine erschöpfende Definition der Poesie anhand
konkreter historischer Vorbilder und Muster bieten, sondern nur eine
Tendenz angeben konnte, weil es solche Vorbilder und Muster noch nicht
gab und weil sie sich gerade als theoretische Vorbereitung solcher Werke
verstand181. Nichts von alledem besagt jedoch, daß der Frühromantik die
Nicht-Vollendung des Kunstwerks als Ideal vorgeschwebt hätte. Die
Schlegelsche 'Unvollendung' bezieht sich nicht auf das einzelne Werk,
sondern auf die Poesie schlechthin, und d a s entspricht dem Gesetz der
Progressivität, das übrigens nicht nur für die Dichtung, sondern für alle
menschlichen Tätigkeiten relevant ist. Wenn Friedrich Schlegel schreibt:
„Die Unvollendung der Poesie ist notwendig. Ihre Vollendung = das Er-
178
A. W. Schlegel, Kunstlehre, S. 285.
179
A. W. Sdilegel, Geschichte der klassischen Literatur, S. 47.
180
Fr. Schlegel, Literary Notebooks, Nr. 144, 186 (comment.), 293, 309.
181
„Eine Definition der Poesie kann nur bestimmen, was sie sein soll, nicht was sie in
der Wirklichkeit war und ist", Fr. Sdilegel, Athenäums-Fragmente, KA, Bd. II,
S. 181, Nr. 114.
138
DICHTUNG
139
DICHTUNG
140
DICHTUNG
141
DICHTUNG
duums, das sich größer und'unendlicher weiß als sein Werk; die Ironie des
Rokoko erfaßt dagegen an erster Stelle den dargestellten Stoff und be-
wegt sich hauptsächlich im Reich der Begriffe.
Mit Recht unterscheidet Frau Strohschneider-Kohrs zwei Bedeutun-
gen des Wortes Ironie: einmal bezeichnet es eine psychische Verhaltens-
weise, zum andern die Stilphysiognomie literarischer Erscheinungen, d. h.
den dichterischen Ausdruck der ironischen Welthaltung 198 . Grundlage des
ironischen Stils ist die Distanz des Urhebers zu seinem Werk: „Um über
einen Gegenstand gut schreiben zu können, muß man sich nicht mehr für
ihn interessieren" 197 . Die stilistische Erscheinung der ironischen Haltung
ist die besonnene Mitteilung. Damit die Besonnenheit möglich wird, muß
die Begeisterung sich verflüchtigt haben, der Dichter muß sich beschrän-
ken und kontrollieren können. Damit zeugt er eben von seiner Schöp-
fungskraft. Hier könnten die Worte Wilhelm Schlegels über die Aufgabe
des Epikers herangezogen werden, nach denen der Dichter „eine solche
Herrschaft über den Stoff ausüben müsse, als wenn ihm die einzelnen
Teile desselben wirklich gleichgültig wären", was sich durch eine „ruhige
Besonnenheit" erweise198.
Die dichterische Schöpfungskraft tut sich also vorzüglich in der Disso-
nanz zwischen der dargestellten Leidenschaft und der nüchternen Dar-
stellung kund, in der Intensität der Gefühle und dem kühlen Ton und
auch darin, daß der Verfasser sich nicht vom Inhalt seines Werkes mit-
reißen läßt, daß er außerhalb der Geschichte steht und sie daher 'objektiv'
betrachten kann. Eine solche 'Objektivität 5 hat jedoch, entgegen der Mei-
nung M. Joachimi-Deeges, mit dem gleichlautenden Begriff im Studium-
aufsatz nichts gemein199, denn der letzte Begriff hat die ganz bestimmte
Bedeutung des Allgemeinmenschlichen und Universalen und nicht die
einer stilistischen Haltung. Mit Recht bemerkt übrigens Frau Stroh-
schneider-Kohrs, daß eine wirkliche Objektivierung in gegenständlicher
Darstellung dem Zweck der Schlegelschen Ironie widersprechen würde 200 .
Diese ist eher ein Spiel mit der Objektivität, wobei der Dichter immer
mitredet und nie ganz verschwindet. Sie hält die Kunst „in der Aner-
kenntnis der nur fernen Nachbildung eines Unendlichen, niemals voll
Aussagbaren" 201 . Das Streben nach Objektivität ist wichtiger als das
Resultat, die Tendenz wichtiger als das Ergebnis: der Leser muß das Ge-
fühl haben, daß das Kunstwerk mehr bedeuten soll, als es ausdrücken
142
DICHTUNG
kann, daß sein Sinn über die Einzeldarstellung hinausgeht, daß der Dich-
ter „sich über sich selbst erhebt aus Freiheit" 202 .
Mit der Ironie als Bewußtsein des allgemeinen Zwiespalts ist der
romantische W i t z verwandt. Beide Begriffe fallen jedoch nicht zusam-
men, und die Annahme liegt nahe, der Witz sei entweder das positive
Gegenstück der Ironie oder ihre Grundlage. Der herkömmlichen, im
18. Jahrhundert allgemein angenommenen Definition nach ist der Witz
das spezifische Vermögen des Geistes, das die Ähnlichkeiten zwischen den
Erscheinungen wahrnimmt, im Gegensatz zum Scharfsinn, der sein
Augenmerk auf die Verschiedenheit richtet. Schlegels Auffassung setzt
immer noch diese Bedeutung des Witzes voraus. So kann er zum Beispiel
schreiben, der Grund des Witzes sei der „Imperativ der Synthetik"203.
Der Witz vollzieht tatsächlich eine Synthese zwischen verschieden-
artigen Elementen. „In Beziehung auf das Wissen, oder überhaupt auf
alle anderen Tätigkeiten kann man den Witz als das Vermögen, die Ähn-
lichkeiten zwischen den Gegenständen aufzufinden, die sonst sehr unab-
hängig, verschieden und getrennt sind, und so das Mannigfaltigste, Ver-
schiedenartigste zur Einheit zu verbinden, den kombinatorischen Geist
nennen", ohne den alles menschliche Wissen „trocken, dürre und leer"
wäre. Im selben Zusammenhang schreibt Schlegel weiter: der Witz „ist
mit einem Wort die Kraft der Erfindsamkeit, das erfinderische Genie"204.
Als eine Kraft, die das Verschiedene zur Einheit kombiniert, er-
scheint der Witz nicht nur als das schöpferische Prinzip des Wissens, son-
dern auch als ein Ausführungsprinzip der romantischen Poesie205, die sich
durch „eine kühne, freie Versetzung aller jener Elemente, eine schöne
phantastische Unordnung" auszeichnet. Dies kann nur geschehen „durch
das Medium des Witzes". „Der Hauptcharakter des Witzes ist, daß er ein
Gedankenspiel, das Wissenschaftliche hingegen eine Gedankenarbeit ist".
Und worin liegt das Wesen des Spiels im Gegensatz zur Arbeit? In der
„absolut freien, von allen ängstlichen Regeln und Gesetzen unabhängigen
Tätigkeit" 208 .
Soll das heißen, daß der größten Willkür Tür und Tor offen sind und
daß im Kunstwerk kein Aufbauprinzip mehr anerkannt wird? Eine solche
Annahme wäre falsch, denn der Witz selbst ist ein Konstruktionsprinzip.
Nicht die „einzelnen Fälle" sind sein Anwendungsbereich, sondern die
„Konstruktion des Ganzen", die keine willkürliche Verwirrung, wohl aber
202 Ebd., S. 23.
803 Fr. Schlegel, Literary Notebooks, Nr. 537.
204 Fr. Schlegel, Philosophische Vorlesungen (Windischmann), Bd. II, S. 103 f.
205 Fr. Schlegel, KA, Bd. XI, S. 319 f. (Anmerkung 322).
206 Fr. Schlegel, Geschichte der europäischen Literatur, KA, Bd. XI, S. 147.
143
DICHTUNG
eine „künstlich geordnete Verwirrung" sein soll: kein Chaos von Gegen-
sätzen und verschiedenartigsten Elementen, sondern „eine reizende Sym-
metrie von Widersprüchen", ein „wunderbarer ewiger Wechsel von
Enthusiasmus und Ironie", von „naivem Tiefsinn" und „Schein des Ver-
kehrten und Verrückten oder des Einfältigen und Dummen" 207 . Gewiß
setzt dieses Konstruktionsprinzip eine viel freiere Auffassung der dichte-
rischen Form voraus als das Ideal der Klassik; die romantische Form soll
gerade das Bunte und sogar Chaotische der menschlichen Natur und der
Welt zur Anschauung bringen, „den Gang und die Gesetze der vernünftig
denkenden Vernunft aufheben" und uns in die Welt der Phantasie ver-
setzen208. Aber das geschieht alles nicht ohne Zweck; die schöne Unord-
nung lenkt die Aufmerksamkeit auf das Absolute, „aller wahre Witz be-
zieht sich auf das Spiel mit dem Absoluten"209.
In dieser Beziehung ist der Witz „die Erscheinung, der äußere Blitz
der Fantasie. Daher seine Göttlichkeit, und das Witzähnliche der
Mystik"210. „Die Fantasie strebt aus allen Kräften, sich zu äußern, aber
das Göttliche kann sich in der Sphäre der Natur nur indirekt mitteilen und
äußern. Daher bleibt von dem, was ursprünglich Fantasie war, in der
Welt der Erscheinungen nur das zurück, was wir Witz nennen" 211 . Der
Witz ist also die konkrete Erscheinungsform der Phantasie, und diese ist
das Organ für das Göttliche. In einem Kunstwerk deutet demnach der
Witz auf ein Höheres, das die Bedeutung und der Zweck des Werkes ist.
Richtig verstanden ist der Witz jeweils Mittel zum Zweck, nie Selbstzweck
der Dichtung — dies trotz gewisser früherer Behauptungen Friedrich
Schlegels212. Deshalb darf sein Wesen nicht etwa in der Nähe des Humors
gesucht werden, denn Humor ist für Schlegel ein „absolutierter, falsch
tendenzierter romantischer Witz", Witz als Selbstzweck und daher
falscher Witz213. Humor ist Spiel mit dem Witz, „unechter Witz", in dem
„bloß absolute Antithesen synthesiert werden, ohne daß etwas thesiert
wird"214. Nun muß bei jedem echten Witz etwas thesiert werden, nämlich
„ein erstes Ursprüngliches und Unnachahmliches, was schlechthin unauf-
löslich ist, was nach allen Umbildungen noch die alte Natur und Kraft
durchschimmern läßt"215. Ohne diese feste Voraussetzung ist der Witz
207
Fr. Schlegel, Gespräch über die Poesie, KA, Bd. II, S. 318 f.
208
Ebd., S. 319.
209
Fr. Schlegel, in Schriften und Fragmente (Kröners Taschenausgabe), S. 133.
21
® Fr. Schlegel, Ideen, KA, Bd. II, S. 258, Nr. 26.
211
Fr. Schlegel, Gespräch über die Poesie, KA, Bd. II, S. 334.
212
Wie z. B. in Lyceums-Fragmente, KA, Bd. II, S. 154, Nr. 59.
213
Fr. Schlegel, Literary Notebooks, Nr. 514.
211
Ebd., Nr. 540.
215
Fr. Schlegel, Gesprädi über Poesie, KA, Bd. II, S. 319.
144
DICHTUNG
nur Schein seiner selbst. Er ist nämlich in Wahrheit Spiel mit Ernst, nicht
Spiel mit Spiel. Der wahre Witz ist „échappée de vue ins Unendliche"21®;
darum kann er die „Kraft der Allegorie" genannt werden217. Wenn man
die Welt wie Friedrich Schlegel als eine Allegorie des Göttlichen auffaßt,
kann man meinen: „Alles ist Witz und überall ist Witz"218. „Der Witz hat
ein größeres Gebiet als Kunst und als Wissenschaft"21*.
216
Fr. Schlegel, Athenäums-Fragmente, KA, Bd. II, S. 200, Nr. 220.
217
Fr. Schlegel, Literary Notebooks, Nr. 1813.
2,8
Ebd., Nr. 782.
219
Ebd., Nr. 1030.
145
10 Nivelle
VI. DER ROMAN
1 Ähnlich erscheint auch in der Frühromantik der Unterschied zwischen Roman und
Novelle. Vgl. dazu Walter Bausch, Theorien des epischen Erzählens in der deut-
146
DER ROMAN
Es hält den Zuhörer nicht in Atem, sondern gönnt ihm die Muße und die
Freiheit der besonnenen Betrachtung, während die Tragödie ein auch von
der Vernunft zu lösendes Problem zum Gegenstand hat und deshalb auf
rigorose Motivierung und Vollständigkeit angewiesen ist. Die Tragödie
drängt das von ihr gestellte Problem dem Zuschauer geradezu auf und
erlaubt es ihm nicht, geistig und moralisch passiv zu bleiben. Das wird
von Schelling damit begründet, daß der tragische Konflikt in einem
Widerstreit zwischen der Freiheit des Individuums und der Notwendig-
keit des unter irgendeiner F o r m erscheinenden Schicksals besteht. E i n
solcher Konflikt ist im Epos ganz aufgehoben: Freiheit und Notwendig-
keit verschmelzen dort zur „Identität", so daß sogar die Idee des Schick-
sals aus dem Begriff des Epos ausgeschlossen ist. Nun kann ein dichte-
risches Werk, in dem dieser Streit nicht stattfindet, unmöglich an die Ver-
nunft appellieren; es wendet sich an die Phantasie 2 .
Die Aufhebung der vemunftmäßigen Implikationen hat eine be-
stimmte Haltung des Epikers gegenüber seinem Werk zur Folge. Wilhelm
Schlegel und Schelling beschreiben nämlich das Epos als eine „ruhige
Darstellung des Fortschreitenden". Alles Leidenschaftliche, Unruhige,
Vorwärtsdrängende wird in den Gegenstand der Erzählung, in die
sehen Frühromantik, S. 7 ff. Der Novelle ist wie der Tragödie — wenn audi aus
anderen Gründen — die Konzentration auf ein „Hauptfaktum" eigen; sie legt
größeren Wert auf die gedrängte und konsequente Entwicklung des Geschehens als
der Roman, der sich von ihr durch eine weiter ausholende und differenzierendere
Darstellungsweise abhebt und die Begebenheiten nicht primär um ihrer selbst
willen erzählt, sondern als „äußere Zurüstungen" hauptsächlich dazu verwendet,
die „inneren Verhältnisse", die Ideen, die Gesinnungen zu veranschaulichen und
zu entfalten. Die Hervorhebung des Charakters als Zweck und Sinn der Begeben-
heiten durch W. Bausch scheint mir allerdings der frühromantischen Theorie zu
widersprechen. Siehe unten.
2 Die Schicksalsfreiheit des Romans ermöglicht es dem Dichter, den Helden einer
Vollendung und Erlösung zuzuführen. Daß der typische Roman der Frühromantik,
Heinrich von Ofterdingen, der eine solche Entwicklung ins Auge gefaßt hatte, un-
vollendet geblieben ist, kann vielleicht ein Argument gegen die Durchführbarkeit
dieser Absicht abgeben, spricht aber nicht im geringsten gegen die so aufgefaßte
Absicht selber. Das Problem der „Vollendung" in bezug auf das romantische Kunst-
schaffen wirft schwierige Fragen auf, von denen einige im letzten Kapitel dieses
Buches erörtert werden. Sicher ist, daß der romantische Roman sich von einer tragi-
schen Weltanschauung radikal entfernt, um — nach Hans Heinrich Borcherdts
Worten — ganz „poetische Weltschau" zu sein. Mit Recht hat Borcherdt darauf
hingewiesen, daß der romantische Roman den innerseelischen Konflikten absagt und
in eine „phantasiemäßige Sphäre" hinüberspielt (Der Roman der Goethezeit,
S. 363). Eine theoretisch fundierte und problembewußte Analyse bringt der wäh-
rend der Druddegung dieses Buches erschienene Aufsatz Paul Böckmanns Der
Roman der Transzendentalpoesie in der Romantik.
147
10»
DER ROMAN
Helden und Taten hineingelegt, der Dichter aber bleibt davon unberührt
und ist Herr des Gegenstandes; er mischt sich nie in das Geschehen ein.
Darum heißt das Epos eine objektive Gattung. Der Dichter bleibt von
dem Strom der Aufeinanderfolge unbewegt, wie Schelling sagt, er beweist
seine Unparteilichkeit, indem er sich von vornherein weigert, einen teilneh-
menden Bezug zwischen sich und dem Erzählobjekt herzustellen. Er
schwebt über allem und tritt nie in den Kreis seiner Darstellung ein. Er
schaut ruhig auf alles herab, erscheint überhaupt nicht in der Erzählung
und behält ein ewiges Gleichgewicht der Seele, das bis zur Ironie gehen
kann. Er läßt sich von keinem Vorfall mitreißen, er verweilt umständlich
bei allem, was ihm des Erzählens wert scheint, überschlägt das für ihn
weniger Interessante oder gleitet flüchtig darüber hinweg, wenn es ihm
beliebt. Nicht die Größe eines Gegenstandes erfordert eine ausführliche
Behandlung, sondern das Interesse des Gegenstandes für die Erzählung.
Das Kleinste kann ebenso umständlich dargestellt werden wie das Größte,
das Unbedeutende erfährt mitunter eine ausführlichere Behandlung als
das Wichtige. Das nennt Schelling die „Stetigkeit" des Epos. Das Dau-
ernde kann zum Augenblick werden, während das Transitorische ganze
Gesänge in Anspruch nimmt. Die erzählte Zeit steht also nicht notwen-
digerweise im Verhältnis zur Erzählzeit. Die wirkliche Zeit wird zu-
gunsten der Zeitlosigkeit (Schelling) oder, was dasselbe ist, der ständigen
Gegenwart aufgehoben. Der Epiker will lebendige Gegenwart in jedem
Punkte der Erzählung, er eilt nicht fort, sondern verweilt beim Augen-
blick, wodurch dieser seinen vollen selbständigen Wert bekommt. Epische
Dichtung ist Gegenwartsdichtung, auch wenn sie das Tempus der Ver-
gangenheit benutzt. In ihr hat alles eine relative Autonomie: die Dialoge
verlieren ihre Spannung und werden episiert, die Gleichnisse haben ein
Leben in sich selbst, die zahlreichen Episoden, die die Handlung immer
wieder unterbrechen, beweisen die Gleichgültigkeit des Dichters gegen-
über dem Gegenstand der Erzählung. Wo diese Selbständigkeit der
einzelnen Teile, die Trenn- und Vermehrbarkeit des Ganzen (Schlegel)
aufgehoben wird, ist das Epos schon durch das Drama infiziert. Das ist
der Fall bei Virgil, der deswegen die Epiker der Neuzeit, wie Milton
und Klopstock, irregeleitet hat. Die tragische Verwicklung, die Teilnahme
am Gegenstand, die zweckgebundene Festsetzung von Anfang und Ende,
der lyrische Dialog kennzeichnen und entstellen das Epos des Virgil,
das dadurch den Neueren zum Verhängnis geworden ist.
148
DER ROMAN
tens und des Verweilens (Schelling). Er ist am besten geeignet, die „Be-
harrlichkeit" im Wechsel auszudrücken (Schlegel).
Die eigentlich romantische Form des Epos ist aber nicht Ariosts
Rasender Roland, sondern der Roman. Freilich werden von Schelling
und Wilhelm Schlegel nur zwei vollgültige Beispiele anerkannt: Don
Quijote und Wilhelm Meister. Zur Charakterisierung des Don Quijote
benutzt Schlegel fast dieselben Worte wie für das Epos: dieser Roman
biete nämlich eine harmonische Reihe von Erscheinungen, die die Phan-
tasie festhalte, und er sei aus lauter Episoden aufgebaut, wie ja über-
haupt im echten Roman alles Episode sein solle oder nichts. Dies nur
als Beispiel dafür, daß eine enge Verwandtschaft zwischen Epos und
Roman empfunden wird.
Zum Roman als typischer Form der romantischen Dichtung haben
sich so gut wie alle Frühromantiker geäußert. Die Beziehung des Romans
zum antiken Epos wurde allerdings vor allem von Schelling und Wilhelm
Schlegel herausgestellt. Roman und Epos sind Abarten derselben Gat-
tung, und die Gemeinsamkeiten zwischen beiden sind zahlreich, aber das
Epos ist charakteristisch für das klassische Altertum, der Roman ist
repräsentativ für die romantische Dichtung: er „tingiert die ganze mo-
derne Poesie", sagt Wilhelm Schlegel. Auch wenn Schelling — wohl mehr
aus Systemzwang als aus eigener Überzeugung — das Drama als Gipfel
in der Welt der Dichtung gelten läßt, ist es über allen Zweifel erhaben,
149
DER ROMAN
150
DER ROMAN
151
DER ROMAN
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lieh verschiedene Ansprüche auf den Menschen geltend. Mehr als für die
Antike jedoch gilt diese Ansicht für jede Form des „Antikischen", des
Klassizismus, d. h. der Nachahmimg der Antike. Die Trennung von
Leben und Poesie kennzeichnet also vorzüglich die Nachahmungen,
in denen die Kunst ein ganz unverbindliches Spiel geworden ist. Der
Klassizismus besteht für Schlegel in einem bloßen Spiel der Phantasie,
einem technischen, gelehrten Experiment oder auch in einer leblosen
Nachahmung gegebener Muster. Jede Flucht in eine allegorische Gedan-
kenpoesie, in die Darstellung einer sagenhaften und mythischen Vorzeit
als solcher oder in die Konstruktion einer künstlichen Welt gehört in die-
selbe Kategorie und hat in romantischen Augen keinen Wert.
Die romantische Poesie dagegen beruht „ganz auf historischem
Grunde, weit mehr als man es weiß und glaubt" 7 . Die Modernen haben
die Historie in die Poesie einbezogen, sagt Wilhelm Schlegel8. Die Dich-
tung bekommt für die Romantiker einen vorzüglich existenz- und wirk-
lichkeitsbezogenen Wert. Sie sagt dem bloßen Schein und Spiel ab und
begreift sich als Wahrheit und Ernst. Zu solchem Zweck erscheint ihr der
Roman als die angemessenste Gattung.
„Historisch" ist der Roman9, insofern er sich „an das Leben an-
schließt", und zwar an das persönliche Leben des Dichters. „Wahre Ge-
schichte ist das Fundament aller romantischen Dichtung" 10 ; persönliche
Erfahrungen und Reflexionen sind der eigentliche Inhalt des romantischen
Romans. Er läßt sich beschreiben als ein „mehr oder weniger verhülltes
Selbstbekenntnis des Verfassers", als die „Quintessenz seiner Eigentüm-
lichkeit"11. Mit anderen Worten: „Die meisten Romane sind nur Kom-
pendien der Individualität" 12 , bzw. „Enzyklopädien des ganzen geistigen
Lebens eines genialischen Individuums" 13 . Auch Schelling hat ähnliche
Ansichten geäußert. Friedrich Schlegel meint, jeder progressive Mensch
— und darunter versteht er einen Menschen, der gebildet ist und sich
bildet14 — trage „einen notwendigen Roman a priori in seinem Inneren,
welcher nichts als der vollständigste Ausdruck seines ganzen Wesens"
sei15. Deshalb erscheint es ihm als überflüssig, „daß man mehr als Einen
Roman schreibt"16.
7
Fr. Schlegel, Gespräch über die Poesie, KA, Bd. II, S. 334.
8
A. W. Schlegel, Geschichte der klassischen Literatur, S. 313.
9
Fr. Schlegel, Literary Notebooks, Nr. 339.
10
Fr. Schlegel, Gesprädt über die Poesie, KA, Bd. II, S. 337.
11
Ebd.
12
Fr. Schlegel, Literary Notebooks, Nr. 103.
13
Fr. Schlegel, Lyceums-Fragmente, KA, Bd. II, S. 156, Nr. 78.
14
Ebd.
15
Fr. Schlegel, Literary Notebooks, Nr. 572.
16
Ebd., Nr. 288.
153
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perativ: die Poesie soll gesellig und die Geselligkeit poetisch sein"21, wo-
bei die zweite Hälfte der Aussage als eine Folge der ersten aufgefaßt
werden muß. Fruchtbar sind die freundschaftliche Mitteilung und die
Gemeinsamkeit der Gefühle: „Das Höchste ist, wenn zwei Freunde zu-
gleich ihr Heiligstes in der Seele des anderen klar und vollständig er-
blicken und ihres Werkes gemeinschaftlich froh ihre Schranken nur durch
die Ergänzimg des anderen fühlen dürfen. Es ist die intellektuale An-
schauung der Freundschaft", und das steht viel höher als die Selbstbe-
trachtung22.
Dementsprechend spielt auch im Prozeß der dichterischen Schöp-
fung das Du eine entscheidende Rolle, freilich nicht notwendigerweise
als materielle Gegenwart des „Freundes", sondern eher als Vorstellung
des Lesers, an den sich das Werk wendet. Gerade das fruchtbare Vor-
handensein dieser Vorstellung unterscheidet den „synthetischen Schrift-
steller", der sich „einen Leser, wie er sein soll, konstruiert und schafft",
vom „analytischen", der nur einen Effekt auf das Publikum zu erreichen
sucht. Dieser Leser, wie er sein soll, wird nicht als „ruhend und tot" ver-
gegenwärtigt, sondern als „lebendig und entgegenwirkend", damit er
mit dem Dichter, der sich ihn vorstellt, „in das heilige Verhältnis der
innigsten Symphilosophie oder Sympoesie" treten kann23.
Die Sympoesie vermittelt die Fühlung mit dem „Genius des Zeit-
alters", der als der „höchste Genosse des Bundes, der Meister der Mei-
ster" bezeichnet wird24. Er „deutet leise an, was schicklich sei und was
nicht"25. „Niemand weiß, was er ist, wer nicht weiß, was seine Genossen
sind" 26 , und „niemand versteht sich selbst, der seine Genossen nicht ver-
steht"27. Die ganze Kraft der Dichtung kann sich nur ausdrücken, wenn
der Dichter die Gewißheit hat, daß er mit den Tendenzen seiner Zeit
und seiner Mitmenschen im Einklang steht. Erst dann wird die Poesie
zu dem, was sie eigentlich ist, zur Magie. „Zur Magie kann der isolierte
Mensch sich nicht erheben"; nur „in der Mitte der Freunde" fühlt man
den „geistigen Hauch" wehen, der magisch ist28. Erst die Sympoesie ent-
faltet die volle Kraft der Dichtung.
Nun ist die Form, in der die Sympoesie sich am besten verwirklichen
kann, wieder einmal der Roman. In ihm wird der doppelten Forderung
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des Ich als existenziellen Wesens und des Du als Zeitgeist am genauesten
entsprochen. Trotz seiner Anlage als ein zur einsamen und nach-
denklichen Lektüre bestimmtes Buch kann der Roman den besten Aus-
druck des Zeitalters in seiner Gesamtheit darstellen. Er soll „wie Homer
ein Inbegriff der ganzen Zeitbildung sein" 29 , und oft ist er „wie das
epische Gedicht, nicht bloß das Werk des Künstlers und seiner Absicht,
sondern das gemeinschaftliche Erzeugnis des Dichters und des Zeitalters,
dem er sich und sein Werk widmet" 30 . Der Roman ist also die literarische
Form, die, wie das Epos die Antike, das Ganze der modernen Welt am
besten repräsentiert. Damit ist er zugleich die Gattung, die das gemeine
Leben poetisiert und die dazu beiträgt, die „Geselligkeit" poetisch zu
machen. Unter seinem doppelten Aspekt als Poetisation des Lebens und
als Ausdruck des Zeitgeistes steht er obenan in der romantischen Wert-
skala.
Auch bei Novalis bildet der Roman den Mittelpunkt der Reflexionen
über die dichterischen Gattungen. Eine Gattungslehre hat Novalis freilich
nicht entwickelt, wenigstens nicht systematisch. Abgesehen von ein paar
allgemeinen Betrachtungen über den Gattungsbegriff selbst und ver-
streuten Ansichten über die Lyrik gilt seine Aufmerksamkeit hauptsäch-
lich dem Roman, daneben freilich auch dem Märchen.
Wie in allen Dichtungsarten sieht Novalis im Roman ein Mittel,
„Poesie hervorzubringen". Dazu benutzt der Roman Begebenheiten, Dia-
loge, Reflexionen und Schilderungen, während z. B. die Lyrik das gleiche
Ziel mit Empfindungen, Gedanken und Bildern zu erreichen sucht31.
Das Adjektiv zu Roman ist bei Novalis durchweg „romantisch", und
auch der Romandichter wird sehr oft Romantiker genannt, wie auch die
Romankunst mitunter Romantik heißt 32 . Merkwürdigerweise spricht sich
Novalis über die Ambivalenz dieser Termini nirgendwo aus, was vielleicht
für den Wert, den er in seiner Poetik dem Roman zuschreibt, das beste
Zeichen ist. Schon der Name scheint anzudeuten, daß der Roman im
Mittelpunkt der Bestrebungen der romantischen Schule steht.
Trotz der gemeinsamen positiven Bewertung des Romans gehen
Novalis' und Friedrich Schlegels Anschauungen über sein Wesen manch-
mal auseinander. Besser gesagt: der Schwerpunkt des Romans liegt für
jeden von ihnen an einer anderen Stelle.
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Friedrich Schlegel ist nicht der einzige, der sich am Märchen orien-
tiert, um Aufschlüsse über die Struktur des Romans zu gewinnen. Auch
Novalis hat darüber nachgedacht und das Problem konkret zu lösen ver-
sucht. Das Märchen schien ihm der beste Weg zur Aufstellung der roman-
54
Fr. Schlegel, Literary Notebooks, Nr. 1565.
56
Fr. Schlegel, Geschichte der europäischen Literatur, KA, Bd. XI, S. 160.
58
Fr. Schlegel, Literary Notebooks, Nr. 1804.
" Fr. Schlegel, Gespräch über die Poesie, KA, Bd. II, S. 336.
58
Ebd.
51
Fr. Schlegel, Literatur, in DNL 143, S. 308.
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tischen Urbilder der Welt zu sein. Es spielt sich von vornherein ganz im
Bereich der Freiheit der Phantasie ab, im Reich des Magischen, der von
jeder Notwendigkeit befreiten „Naturanarchie"®0. Es stellt „magische Be-
gebenheiten" dar81, hebt die Trägheit und den Mechanismus der Natur
auf, belebt sie und vermischt sie „auf eine wunderliche Art mit der ganzen
Geisterwelt"62. „In einem echten Märchen muß alles wunderbar, geheim-
nisvoll und unzusammenhängend sein — alles belebt" 63 . Dort herrscht
Chaos, Gesetzlosigkeit, Anarchie64. Es stellt die Welt der vollen Freiheit,
des „magischen Willens" dar65, es vergegenwärtigt den „Naturstand der
Natur", die „Zeit vor der Welt", in der die Züge der „Zeit nach der Welt",
des „ewigen Reiches" zerstreut, aber doch sichtbar sind. Die freigesetzte
Phantasie offenbart also die Urbilder, und der Märchendichter wird da-
durch zum Propheten, zum „Seher" der Zukunft und des Ewigen66. Auf
Grund einer solchen Auffassung des Märchens leuchtet ein, daß es auch
für Novalis das Muster des Romans und überhaupt der ganzen Dichtung
ist. Das Märchen ist „gleichsam der Kanon der Poesie — alles Poetische
muß märchenhaft sein"67. Diese Anschauung entspricht der produktiven
Freiheit der Einbildungskraft als des poetischen Grundvermögens. Und
es kann wenig wundernehmen, wenn man an zwei verschiedenen Stellen
in Novalis' Schriften liest: „Im Märchen glaube ich am besten meine Ge-
mütsstimmung ausdrücken zu können. Alles ist ein Märchen"68. „Alles ist
ein Märchen" bedeutet ja nichts anderes, als daß die Welt in Novalis'
Augen poetisiert ist und ihre Urbilder offenbart.
Nicht nur im Blick auf die Möglichkeit, Urbilder aufzufinden und
eine Mythologie zu schaffen, hat das Märchen Novalis interessiert, son-
dern auch in bezug auf die Gestaltung des romantischen Romans. Sein Be-
griff des Märchens als eines „Traumbildes ohne Zusammenhang" 69 hat
sich in seinen Anschauungen über die Form des Romans niedergeschlagen
und es ihm ermöglicht, auf diesem Umweg die Vorstellungen Schellings
und Schlegels zu Untergründen. Hier wird deutlich, daß er sich nicht der
Organismusästhetik verschrieben hat und daß das organische Wachsen
sich auf die Idee des Romans, nicht aber zugleich auf seine Darstellung
bezieht.
60
Novalis, Fragment 2060.
61
Fragment 1545.
62
Fragment 1698.
•» Ebd.
64
Ebd.
65
Fragment 1943.
68
Fragment 1698.
67
Fragment 2403.
88
Fragment 2281; vgl. Bd. V, S. 67.
•» Fragment 2447.
161
11 Nivelle
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dazu bewegt, die Einheit des Romans als eine mystische und nicht als eine
bloß poetische zu bezeichnen78. „Der Roman ist ein mystisches Kunst-
werk"77. Nicht die einzelnen Anschauungen und Lehren sind also das Ent-
scheidende an ihm78, sondern das Ganze, das „Band der Ideen", das Un-
endliche, das durch die Geschichte angedeutet werden soll. Dieses
Unendliche darf sich aber nicht nur als zufällige Konsequenz aus den
Begebenheiten ergeben, sondern es muß die erste Bewegung des Dichters
veranlaßt haben: „Der Roman strebt gar nicht nach dem Unbedingten,
sondern nur aus dem Unendlichen heraus"79.
In dem Sinn soll denn auch der Ausdruck verstanden werden, den
Schlegel mitunter benutzt, wenn er Goethes Romankunst charakterisiert:
„nach Ideen dichten"80. Es handelt sich dabei nicht etwa um eine Dich-
tung, die ein allegorisches Zweitprodukt wäre und nur dazu dienen soll,
eine Probe aufs Exempel zu liefern, sondern vielmehr um ein Werk,
dessen Mittelpunkt im Geistigen und nicht im Zusammenhang des Inhalts
Hegt.
Der Roman, mit dem sich Schlegel — neben dem Don Quijote, der
ihm aber als ein Muster der Gattung erscheint und den er daher diskus-
sionslos gelten läßt — auseinandergesetzt hat, ist der Wilhelm Meister.
An ihm hat er seine Theorie erprobt, und aus ihm hat er sie ergänzt und
berichtigt. Nicht immer hat er die gleiche Meinung über Goethes Roman
vertreten. Ähnlich wie Novalis ist er von einer hyperbolischen Bewunde-
rung ausgegangen, die später in harte Kritik umschlug, um schließlich
wieder zu einer positiveren Beurteilung zu gelangen. Anfangs hat er im
Meister das vollkommene Vorbild und den höchsten Gipfel der zeitgenös-
sischen Dichtung und der Dichtung überhaupt gesehen81. Noch im Ge-
spräch über die Poesie bezeichnete er das Werk als eine Schöpfung, an der
„alle Künstler ewig zu studieren haben werden"82, und auch im Meister-
aufsatz hat er ihm reichliches Lob gespendet.
Die Untersuchung von Goethes Roman hat Schlegel in seiner Ansicht
bestärkt, daß der Endzweck des Werkes nicht in den Personen und Be-
gebenheiten liege, sondern in der Darstellung einer vollständigen Kunst-
lehre anhand von Beispielen. Eine poetische Physik der Poesie hat er ihn
76 Fr. Schlegel, Literary Notebooks, Nr. 580.
77 Ebd.
78 „Sonst wäre die rhetorische Form ungleich vorzüglicher", Athenäums-Fragmente,
KA, Bd. II, S. 181, Nr. 111.
78 Fr. Schlegel, Philosophische Lehrjahre, KA, Bd. XVIII, S. 268, Nr. 876; vgl. Literary
Notebooks, Nr. 1378.
80 Fr. Schlegel, Gespräch über die Poesie, KA, Bd. II, S. 347.
81 Vgl. u. a. Lyceums-Fragmente, KA, Bd. II, S. 162, Nr. 120.
82 Fr. Schlegel, Gesprädi über die Poesie, KA, Bd. II, S. 344.
163
11*
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genannt83. In der Rezension von Goethes Werken aus dem Jahre 1808
äußert er sich noch einmal lobend über die poetische Darstellungsart 84 ,
den Reichtum der Erfindung, die Sorgfalt der Ausführung, die Fülle der
inneren Durchbildung 85 . Inzwischen hatte er sich jedoch weniger günstig
ausgesprochen, namentlich in den handschriftlichen Notizen, die von
Eichner herausgegeben wurden: Goethe habe eine „schlechte Idee" vom
Roman gehabt, er habe zu viel Wert auf die „analytische Intrige" gelegt
und sei „bei Aufsuchung des Geistes der Dichtarten empirisch zu Werke"
gegangen, während sich gerade der Charakter des Romans „empirisch
nicht vollständig und richtig auffinden" lasse86. Goethes Schöpfung sei
kein vollkommener Roman, denn ein solcher „müßte weit mehr romanti-
sches Kunstwerk sein als Wilhelm Meister; moderner und antiker, philo-
sophischer und ethischer und poetischer, politischer, liberaler, universeller,
gesellschaftlicher"87.
Übrigens habe Goethe „von der romantischen Ganzheit keine Idee
gehabt" 88 . Im Meister sei „weder Wollust noch Christentum genug für
einen Roman"88. In ihm sei „nur die Form der Bedeutsamkeit, aber keine
wirkliche poetische Bedeutung" 90 . Unter den möglichen Erklärungen
dieser Widersprüche scheint mir die ausschlaggebend zu sein, nach der
Schlegels hochgespanntes Ideal und literarischer Ehrgeiz ihn zeitweilig
zu abschätzigen Urteilen verleitet haben, die er dann während der Arbeit
an seiner Lucinde auf Grund einer besseren Einsicht in die Schwierigkeit
der praktischen Anwendung seiner Theorie und vielleicht auch in einem
gewissen Bewußtsein des eigenen Scheiterns gemildert hat. Er hat
Goethes Roman an seiner Vorstellung eines Universalkunstwerks gemes-
sen und ihn wahrscheinlich in einem ungünstigen Licht gesehen, solange
er selbst hoffen konnte, es besser zu machen. Später kam die Vernunft.
Als Offenbarer der Urbilder des Lebens und der Welt, als frei-
schwebend im Reich der Phantasie, als buntes Gefäß für alle Gattungen
und Stile mußte der Roman, das romantische Wunschbild, als die univer-
selle Dichtung par excellence und damit als das Ideal der romantischen
Poesie erscheinen. Schlegels Enttäuschung am Wilhelm Meister ist nur ein
Zeichen für seine hohe Bewertung der Gattung als solcher und für die
Hoffnungen, die er an den Roman überhaupt knüpfte.
63
Fr. Schlegel, Über Goethes Meister, KA, Bd. II, S. 132.
84
Fr. Schlegel, Goethes Werke, in D N L 143, S. 390.
85
Ebd., S. 389.
88
Fr. Schlegel, Literary Notebooks, Nr. 115.
87
Ebd., Nr. 289.
88
Ebd., Nr. 341.
89
Ebd., Nr. 575.
»» Ebd., Nr. 1703.
164
VII. ROMANTIK UND ROMANTISCH
Im Rahmen dieser Studie kann es nicht unsere Absicht sein, die Ge-
schichte des Wortes und des Begriffs „romantisch" zu schreiben. Andere
haben es vor uns getan, und das Wesentliche dürfte gesagt sein. Es sei
unter anderen auf die Arbeiten von Fr. Schultz, P. Kaufmann, R. Ullmann-
H. Gotthard und Lovejoy hingewiesen. Die Semantik des Wortes ist
jetzt bekannt. Man weiß, daß es aus England gekommen ist, wo es
schon am Ende des 17. Jahrhunderts vorzüglich einen 'romanhaften', d. h.
schwärmerischen, abenteuerlichen, unwirklichen Vorgang bezeichnete,
und daß sich etwas später die Bedeutung ausweitete und alles Phan-
tastische, Wunderbare, Ungewöhnliche einschloß. Bald wurde das Wort
auch auf Natur und Landschaft angewandt, und in dieser Beziehung
wurde es als besonders geeignet empfunden, die freie, ungekünstelte
Natur in ihren Schattierungen von der Wildheit bis zur Anmut zu evozie-
ren. Das war die Zeit, in der die englische Gartenkunst die französische
Regelmäßigkeit auf dem Kontinent zu verdrängen anfing und der Ge-
schmack sich vom Klassizistischen absetzte. Diese Bedeutung ist es, in
der Goethe das Wort im Werther gebraucht, wenn er die Terrasse mit den
Kastanienbäumen über dem lieblichen Tal und dem sanften Fluß als eines
der „romantischsten" Plätzchen, die er je gesehen habe, und als einen von
„allen Schauern der Einsamkeit" umschwebten Ort beschreibt1. Von da
war der Weg nicht weit zu der Ruine im Walde, der einsamen Schlucht,
dem Kreuz im Gebirge und dem Grab im Mondschein.
Die historische Untersuchung dieser populären Romantik, so inter-
essant sie an sich sein mag, würde zur Poetik der Jenaer Schule wenig neue
Elemente beisteuern, weil diese sich von vornherein auf eine andere
Ebene stellt. Sie sucht den Begriff 'romantisch' auf Grund von Theorien
und Reflexionen festzulegen und erst nachher auf historische Phänomene
anzuwenden. Der gedankliche Aufbau des Begriffs geht der Übernahme
einer landläufigen Bezeichnimg voran. Das schließt selbstverständlich
nicht aus, daß gewisse historisch bedingte Züge des Begriffs trotzdem ent-
scheidend auf die frühromantische Auffassimg gewirkt haben mögen;
prinzipiell haben sich die Jenaer jedoch zuerst darum bemüht, den Sinn
1
Brief vom 10. September.
165
ROMANTIK UND ROMANTISCH
166
ROMANTIK UND ROMANTISCH
2
Vgl. Schelling, Philosophie der Kunst, Bd. III, S. 442.
» Ebd., S. 450.
4
Ebd., S. 452.
5
Vgl. A. W. Schlegel, Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, Bd. V,
S. 14 ff.
6
Schelling, Philosophie der Kunst, Bd. III, S. 453; 3. Ergänzungsband, S. 187 f.
7
Ebd., Bd. III, S. 447.
167
ROMANTIK UND ROMANTISCH
Hinausstreben der Freiheit über Natur und Leben 8 , das eine innere Ent-
zweiung bewirkt und den Grund zum unerfüllten und den Menschen ewig
vorwärts treibenden Wunsch nach einer Aussöhnung des Sinnlichen und
des Geistigen in die Seele legt. Mit anderen Worten: in der Antike waltete
das Objekt, in der Moderne waltet das Subjekt vor. Der alte Künstler
brachte das Objekt mit einfachen, strengen und notwendigen Zügen zur
vollkommenen Anschauung; der moderne stellt nicht nur das Objekt,
sondern zugleich sich selbst dar, insofern er das Objekt im Spiegel seiner
Reflexion, seiner Wünsche, seiner Stimmung erscheinen läßt. Das Un-
endliche, die Freiheit seiner Individualität schimmert durch die Darstel-
lung hindurch, was zur Folge hat, daß diese Darstellung nie zur vollkom-
menen Anschauung gelangt®. Die Brechung des Objekts durch die indi-
viduelle Subjektivität idealisiert die Kunst, macht sie geistiger und ver-
hindert ihre ungetrübte Anschaulichkeit.
Daraus ergibt sich das die Moderne bezeichnende Merkmal der
Individualität und der damit verbundenen Originalität. Die Antike war
die Zeit der Gattungen, die Moderne ist die Welt der Individuen. Dort ist
alles „ewig, dauernd, unvergänglich"; hier ist „Wechsel und Wandel das
herrschende Gesetz", weil die Kunst nicht beim Endlichen haltmacht,
sondern die Funktion des Endlichen darin sieht, daß es das Unendliche zu
bedeuten hat und, sobald diese Funktion erfüllt ist, vergehen soll10. Der
Ausgangspunkt der modernen Kunst ist nicht die Allgemeinheit wie in der
Antike, sondern jeweils eine Besonderheit, die erst durch die Kunst all-
gemein gemacht werden muß".
In der Moderne ist das Individuum viel radikaler auf sich selbst an-
gewiesen als in der Antike. Es findet keine allgemeingültige Weltdeutung
vor, es muß die Welt oder mindestens den „ihm offenbaren Teil" davon
von seinem individuell-originellen Standpunkt aus deuten und zu einem
Ganzen bilden; mit anderen Worten: es muß sich seine Mythologie selbst
schaffen12. Das ist sein einzig möglicher Weg zur Universalität, einem
weiteren Gebot der modernen Kunst: „je origineller, desto universeller"15.
Die Moderne ist irrational und unbegrenzt, heißt es öfters bei Schelling14.
Die Moderne ist also die Zeit der Allegorie, in der das Besondere
nicht mehr zugleich das Allgemeine ist, sondern nur noch bedeutet, in der
das Ideale das Ubergewicht über das Reale in einem solchen Maße er-
8
A. W. Schlegel, Pamy, La Guerre des Dieux, Bd. XII, S. 94 f.
» Schelling, Philosophie der Kunst, Bd. III, S. 492 f.
10
Vgl. ebd., S. 464.
11
Schelling, Über Dante in philosophischer Beziehung, Bd. III, S. 573 f.
12
Ebd.
" Schelling, Philosophie der Kunst, Bd. III, S. 467.
14
Ebd., S. 437; 3. Ergänzungsband, S. 263, 320.
168
ROMANTIK UND ROMANTISCH
rungen hat, daß die Ineinsbildung, die im Altertum üblich war, unmög-
lich geworden ist. Nun wird von den Frühromantikern die Kunst jeweils
mit der Symbolik, nicht jedoch mit der Allegorie in Zusammenhang ge-
bracht. Wie findet die Moderne aus dieser Sackgasse hinaus? Wenn ihr
keine vollendeten Symbole mehr zur Verfügung stehen, muß sie zu sym-
bolischen Handlungen greifen. „Der ganze Geist des Christentums ist der
des Handelns. Das Unendliche ist nicht mehr im Endlichen, das Endliche
kann nur ins Unendliche übergehen; nur in diesem können beide eins
werden. Die Einheit des Endlichen und des Unendlichen ist also im
Christentum Handlung" 15 . Wenn die Moderne das richtige Verständnis
für ihre Eigentümlichkeit aufbringt und diesen ihren Weg findet, schafft
sie eine Kunst, die ebenso gültig ist wie die der Alten: sie ist 'romantisch'.
Das Romantische erscheint als die Potenzierung des Modemen, als dessen
Steigerung zu Bewußtsein und Einsicht und dessen Befreiung von der
unfruchtbaren Allegorie. Die Moderne ist blind und wertlos, solange sie
sich nicht zur Romantik erhebt.
169
ROMANTIK U N D ROMANTISCH
modernen Kunst vermißt, kann Schlegel sie nur negativ beurteilen, denn
sie erscheint dann als das entschiedene Gegenteil des Romantischen. Die
moderne Dichtung sucht nämlich „die Wirkung auf das Leben fälschlich
dadurch zu erreichen, daß (sie) sich ganz an die Gegenwart anschließt und
in die Wirklichkeit einengt, wodurch (sie) d e n n . . . der Herrschaft der
beschränkten Zeit und der Mode unvermeidlich anheimfällt" 19 .
Der Begriff des Modernen fällt auch manchmal mit dem des Klassi-
zistischen, des 'Antikischen' — nicht des Klassischen und des Antiken! —
zusammen. Insofern ist die moderne Dichtung „von der romantischen
wesentlich verschieden und wie durch eine große Kluft getrennt". Schlegel
begründet seine Meinimg mit zwei Hauptargumenten: die klassizistische
Dichtung steht für ihn unter der unbedingten Herrschaft der Regeln, sie
unterscheidet sich durch „ihr genaues Verhältnis zur Kritik und Theorie
und den bestimmenden Einfluß der letzteren"; andererseits ist sie nur
Nachahmung, und zwar falsche: „verfehlte Nachbildungen und irrige
Kombinationsversuche" nach dem allmächtigen Muster der Alten sind ihre
einzige Inspirationsquelle. Corneille und Racine gelten für Schlegel als
typische Vertreter dieser Moderne und müssen daher abgelehnt werden;
zu verurteilen sind aber auch die 'Abwege' der modernen Dichtung, die
sich von der „bloß grammatischen Poesie oder Verskunst", in der Sprach-
künstlichkeit und -künstelei für Dichtung gilt, bis zur sturm-und-dränge-
rischen Verwerfung aller Kritik und Theorie und der rohen Formlosigkeit
einer falschen Volks- und Naturdichtung erstrecken20.
Mitunter wird das Wort 'modern' in einer anderen, neutraleren Be-
deutung verwendet und bezeichnet dann einen bloßen historischen Zeit-
abschnitt bzw. die mit diesem Zeitabschnitt verbundene typische Er-
scheinungsform der Dichtung. So zum Beispiel: „Modern ist die transzen-
dentale, die abstrakte und die romantische Poesie. Antik die elementare,
systematische und absolute Poesie"21, wobei gleich darauf bemerkt wird:
„Transzendentalisiert sind schon viele Dichtungsarten bei den Modernen,
so wie auch romantisiert; abstraktisiert am wenigsten" 22 . Erst auf Grund
dieser chronologischen Einteilung der Kunstentwicklung kann eine teil-
weise Gleichsetzung der modernen und der romantischen Poesie erfolgen,
und in diesem Sinn ist das Fragment zu verstehen: „Die moderne Poesie
fängt an mit Dante" 23 . Dabei hat das Wort 'modern' eine rein historische
Bedeutung, denn Dante wird ziemlich allgemein als der Anfang der
romantischen Dichtung angesehen.
19
Fr. Schlegel, Geschichte der alten und neuen Literatur, KA, Bd. VI, S. 286.
20
Fr. Schlegel, Goethes Werke, in D N L 143, S. 399 ff.
21
Fr. Schlegel, Literary Notebooks, Nr. 1034.
22
Ebd., Nr. 1036.
28
Ebd., Nr. 1027.
170
ROMANTIK U N D ROMANTISCH
171
ROMANTIK UND ROMANTISCH
31
A. W. Schlegel, Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, Bd. V, S. 9 f.
32
Fr. Schlegel, Literary Notebooks, Nr. 214.
33
Vgl. u. a. Literary Notebooks, Nr. 188.
172
ROMANTIK U N D ROMANTISCH
34
Fr. Schlegel, Vorlesungen über Universalgeschichte, KA, Bd. XIV, S. 199.
35
Ebd., S. 162.
36
Ebd., S. 144.
37
Ebd., S. 143.
38
Vgl. Fr. Schlegel, Geschichte der europäischen Literatur, KA, Bd. XI, S. 85 f.
39
Vgl. Fr. Schlegel, Vorlesungen über Universalgeschichte, KA, Bd. XIV, S. 192.
40
Fr. Schlegel, Literary Notebooks, Nr. 973.
41
Ebd., Nr. 1655.
173
ROMANTIK U N D ROMANTISCH
174
ROMANTIK U N D ROMANTISCH
175
ROMANTIK U N D ROMANTISCH
teuerliche Phantasie] und Eros ist wohl die beste Erklärung des Roman-
tischen"58. Neben dem Ideal des Rittertums, das er auf eine Mischung
des Christentums mit germanischer Kultur zurückführt, erwähnt auch
Wilhelm Schlegel den „Geist der Liebe" als Hauptkomponente des Ro-
mantischen57. Sein Bruder bringt diese Liebe auch in Verbindung mit
dem Christentum: das Romantische beruht „vornehmlich auf dem mit
dem Christentum und durch dasselbe auch in der Poesie herrschenden
Liebesgefühle" 58 . Diese christlich begründete Liebe nimmt das Tragische
vom Leiden hinweg und bedingt damit einen wesentlichen Aspekt der
romantischen Kunst- und Lebensanschauung. Sie verwandelt das Leiden,
heißt es, in ein „heiteres Spiel der Phantasie". „Auch unter den äußeren
Formen der Darstellung und der Sprache" werden solche mit Vorliebe
gewählt, „welche jenem inneren Liebesgefühle und Spiel der Phantasie
entsprechen"59. Nicht nur die christliche Liebe, die er später betont hat,
sondern überhaupt das Erotische ist für Friedrich Schlegel „ein wesent-
licher Bestandteil der romantischen Gattung": „Die Notwendigkeit des
Erotischen im modernen Drama gehört zum romantischen Anstrich"60.
176
ROMANTIK UND ROMANTISCH
muß sich anhand dieses Begriffes eine neue Definition des Romantischen
aufstellen lassen, und zwar unter Heranziehung des ersten Merkmals,
der Phantasie. Diese Definition lautet: „Nach meiner Ansicht und mei-
nem Sprachgebrauch ist eben das romantisch, was uns einen sentimentalen
Stoff in einer fantastischen Form darstellt"63.
Da nun einmal das Wort sentimental gefallen ist, muß sich Schlegel
mit dem Begriff, wie er damals nach Schillers Vorgang landläufig ge-
worden ist, auseinandersetzen und ihn nötigenfalls "nach seinem Sprach-
gebrauch" umwandeln. Vor dem Gespräch über die Poesie -—• nämlich
in der berühmten Vorrede zum Studium-Aufsatz — hat er das Wort in
einem Schillerschen Sinn benutzt. Eine ganze Reihe von sinnverwandten
Aussagen haben sich dann in den Aufzeichnungen der Marburger Hand-
schriften angeschlossen. Das „charakteristische Merkmal" der sentimen-
talen Dichtung erscheint ihm in der Vorrede als die „Beziehung auf das
Verhältnis des Realen und des Idealen" 64 . Diese Beziehung wird dann
genauer ausgeführt mit den Worten: Interesse an der Realität des Ideals,
was noch völlig schillerisch klingt, und Reflexion über das Verhältnis des
Idealen und des Realen, was schon einen wesentlichen Bestandteil der
Schlegelschen Poetik ausmacht. Dieses Moment der Reflexion, das aus
Schlegels Gesichtskreis nicht mehr verschwindet, macht es mir unmöglich,
Lovejoys These anzunehmen, nach der die Schlegels lediglich den schon
festgelegten Begriff 'romantisch' ins Positive umgewertet hätten, und
das noch in Anlehnung an Schiller. Die Reflexion als inhärente Kompo-
nente der romantischen Dichtung scheint mir diese Ansicht zu wider-
legen, denn eine solche Einstellung geht in einem nicht zu übersehenden
Ausmaß über Schiller hinaus, zumal das Wort Reflexion das Adjektiv
'poetisch' als Epitheton bekommt. So heißt es zum Beispiel: „Das Wesen
des Sentimentalen besteht wohl in der poetischen Reflexion über sitt-
lichen Dualismus; das Fantastische in potenzierter Kombination und
Abstraktion"65. Bei diesem Begriff handelt es sich jeweils um das Bewußt-
werden einer Relation zwischen Real und Ideal, Objekt und Subjekt,
und somit gerät das Sentimentale in das Gebiet des Transzendentalen
und identifiziert sich mitunter mit dieser Idee. „Die absolute Unverein-
barkeit des Subjekts und Objekts wird selbst wieder Objekt und Subjekt
der Poesie in der romantischen Lyrik" 66 : romantische Lyrik ist also Dich-
tung in der zweiten Potenz, „potenzierte Kombination".
Es gehört viel guter Wille dazu, diese Auffassung des Sentimentalen
mit derjenigen, die es auf Gefühl und Liebe bezogen haben will, in
63 Ebd., S. 333.
64 Fr. Schlegel, Über das Studium der griechischen Poesie, S. 205 f.
65 Fr. Schlegel, Literary Notebooks, Nr. 1586.
66 Ebd., Nr. 726.
177
12 Nivelle
ROMANTIK UND ROMANTISCH
178
ROMANTIK U N D ROMANTISCH
Wortes war bei ihm kein bloßer glücklicher oder origineller Einfall; er
hat es durchdacht und in seinem vollen Sinn genommen. Darin sah er
nicht nur das Wesentliche, sondern auch die große Gefahr der romanti-
schen Dichtimg. Er nennt diese Gefahr „negativen Sinn", und sie ent-
steht, „wenn einer bloß den Geist hat, ohne Buchstaben". Dann gibt es
nämlich „reine Tendenzen, Projekte, die so weit sind wie der blaue Him-
mel, oder, wenn es hoch kommt, skizzierte Fantasien"; das geschieht,
„wenn einer immer wollen muß, ohne je zu können"76. Eine bessere
Rechenschaft gegenüber sich selbst dürfte es wohl kaum geben!
Zu gleicher Zeit weist jedoch diese Bemerkung Friedrich Sdilegels
deutlich darauf hin, daß die Nichtvollendung — entgegen der allgemeinen
Auffassung — nicht zum Evangelium der romantischen Poetik gehört,
sondern eher aus der persönlichen künstlerischen Schwäche des Dichters
abzuleiten ist. Schon im vorigen Kapitel wurde auf diesen Sachverhalt
aufmerksam gemacht. Das Gesetz des notwendigen Werdens hat nicht
zwangsläufig das Gebot des künstlerischen Nichtvollendetseins zur Folge.
Man könnte sogar mit Recht meinen, daß es die Frühromantik gewesen
ist, die unter allen literarischen Bewegungen das Totalitätsprinzip am
energischsten und konsequentesten ihrem Kunstwollen zugrunde gelegt
hat. Die Begriffe der Enzyklopädie, der Universalpoesie, die Forderung
nach einem Uberblick über das Ganze eines Werkes usw. machen es
deutlich, daß die Nichtvollendung der Absicht der romantischen Dichter
und Kritiker fremd war. Daß sie sich als kleineres Übel aus der Kluft
zwischen solcher Absicht einerseits, den Möglichkeiten der Dichtung
überhaupt und den Fähigkeiten der einzelnen Vertreter der Schule an-
dererseits ergab, besagt noch nichts über ihren programmatischen Cha-
rakter innerhalb der frühromantischen Poetik. Nicht jedes historische Er-
eignis gehört in den Heilsplan der Menschheit]
Dennoch ist die Meinung, daß das „Fragment" und das Unvollen-
dete überhaupt ein Wesensmerkmal des Romantischen sei, so verbreitet
und verwurzelt, daß es äußerst schwer sein dürfte, sie mit Gegenargu-
menten zu widerlegen. Erstaunlich ist es nur, wenn man eine solche An-
sicht bei eminenten Romantik- und Poetikforschern, wie zum Beispiel bei
Markwardt, wieder auftauchen sieht. Markwardt führt nämlich aus, daß
das hochgespannte Kunstwollen der Jenaer unmöglich in einem Kunst-
werk ganz aufgehen könne und daß der romantische Drang zur Totalität
notwendigerweise alle Formen sprengen müsse. Die Kluft zwischen Ab-
sicht und Möglichkeit rege die Frühromantiker zum „ungeduldigen Ab-
stoßen des Fragments" an und lasse kein Werk bis zur Vollendung aus-
179
12*
ROMANTIK UND ROMANTISCH
Man darf sich fragen, worauf die so landläufige Meinung, ein Ro-
mantiker sei naturgemäß ein Fragmentist, beruht. Und da fällt eine
gewisse Naivität der Forschung auf: weil die Jenaer manche Gedanken-
sammlung mit dem Wort 'Fragmente' überschrieben haben, glaubten
viele, der Pflicht überhoben zu sein, sich über den Unterschied zwischen
Fragment, Aphorismus, Maxime, Reflexion oder einfach Gedanken Rechen-
schaft zu geben. So wahr es ist, daß der Begriff Fragment das Unvollen-
dete und Nichtausgeführte impliziert, so evident ist es auch, daß nicht
alles, was Fragment heißt, auch Fragment ist. Um ein Unterscheidungs-
merkmal zu bekommen, braucht man bloß einen Blick in die von den
Frühromantikern selbst veröffentlichten und die nur handschriftlich vor-
gefundenen 'Fragmente 5 zu werfen. Wem fiele da nicht der Unterschied
auf? Die um 1800 herausgegebenen 'Gedankensplitter' tragen alle den
Charakter stilistisch vollendeter Einheiten, während die Handschriften,
die damals so wenig wie jetzt zur Veröffentlichung bestimmt waren, eine
180
ROMANTIK UND ROMANTISCH
181
ROMANTIK U N D ROMANTISCH
idi statt einer längeren Auseinandersetzung auf das Vorwort zum 2. Band
der jüngsten Ausgabe durch R. Samuel, in dem es heißt, das H a u p t -
e r g e b n i s der neuen Untersuchung des handschriftlichen Materials
sei, daß Novalis' philosophisches Werk „innerlich wie äußerlich weit zu-
sammenhängender und systematisch verflochtener ist, als bisher erkannt
wurde". Die Tradition vom 'fragmentarischen' Denker Novalis, bis heute
noch nicht überwunden, sei nicht länger haltbar77.
So wenig wie das romantische Kernthema des universellen Werdens
die Jenaer daran gehindert hat, philosophische Systeme zu entwerfen
und zu entwickeln, so wenig ist das Flüssige, Irrationale und Symbolische
ihrer Dichtung geeignet, dieser nun einmal als Ausdruck des Werdens
aufgefaßten Dichtung auf immer die künstlerische Vollendung vorzuent-
halten.
182
ROMANTIK U N D ROMANTISCH
83
Ebd., S. 165.
84
Fr. Schlegel, Literary Notebooks, Nr. 1555.
85
Vgl. Fr. Schlegel, Über die Homerische Poesie, Minor, I, S. 215 ff.
88
Fr. Schlegel, Geschichte der Poesie der Griechen und Römer, Minor, I, S. 290 ff.
87
Fr. Schlegel, Über Diotima, Minor, I, S. 65.
88
Schelling, Philosophie der Kunst, 3. Ergänzungsband, S. 185.
89
Ebd., S. 323.
183
ROMANTIK U N D ROMANTISCH
durch macht er sich zum „Herrn des Gegenstandes" 90 und stellt nicht nur
das Objekt, sondern zugleich auch sich selbst dar.
90
Ebd., S. 321 ff.
91
Ebd., S. 313.
92
Ebd., S. 332.
93
Ebd., S. 322.
94
Novalis, Fragment 1552.
95
Fragment 1624.
88
Fragment 879.
97
Fragment 1202.
184
ROMANTIK UND ROMANTISCH
185
ROMANTIK UND ROMANTISCH
186
ROMANTIK UND ROMANTISCH
nie ausreichen werden, den ganzen Menschen und alle Kräfte des Weltalls
zu ergründen. Deshalb hat sie sich der Aufklärung gegenüber differen-
zierter verhalten als der Sturm und Drang: auch in ihren schärfsten Zügen
gegen den Rationalismus hat sie die Ratio an sich nie verworfen. Eins aber
war ihr von vornherein klar: zur Enträtselung der Grundfragen der
menschlichen Existenz und des Universums, zur Erhellung der 'Nacht-
seite' des Menschen und der Natur ist der bis dahin so hochgepriesene
Verstand nicht fähig. Hier kann keine 'Aufklärung' Aufschlüsse geben.
Das soll jedoch nicht heißen, daß die Fortschritte des Verstandes für nichts
erachtet werden; im Gegenteil, die weitere Entwicklung der rationalen,
wissenschaftlichen Erkenntnis ist und bleibt wünschenswert. Nur dort
wird die Ratio abgelehnt, wo sie sich anmaßt, nicht nur alles erkennen zu
können, sondern auch alles als illusorisch und nichtexistent anzusehen, was
ihr unzugänglich ist. Verfemt ist nur ihr Ausschließlichkeitsanspruch und
ihr Vindizieren einer alleinseligmachenden Funktion des Gemüts. Der
Verstand muß wieder 'Stern Vinter Sternen' werden; ein privilegiertes In-
strument der Erkenntnis ist er nicht. Er lenkt und ordnet; wenn es aber auf
Enthüllung der Lebensgeheimnisse und Offenbarung der Welträtsel an-
kommt, versagt er völlig. Die tieferen Wurzeln des Menschseins und die
Kraft, die die Welt belebt, lassen sich nicht mit Hilfe von Verstandes-
begriffen bloßlegen. Jede begriffliche Erkenntnis ist unzureichend. Das
Leben geht über alle Begriffe hinaus.
Neben der Anerkennung der Ratio, sofern sie in ihren Schranken
bleibt, legen die Jenaer auch dem Irrationalen einen Erkenntniswert bei.
Darin liegt ihr Grundunterschied gegenüber dem Sturm und Drang: den
Enthusiasmus der Stürmer für das irrationale Leben stellen sie in den
Dienst der Erkenntnis. Der Blick ins dunkle Innere der Seele und der
Welt erschließt ihnen neue Perspektiven für die Entschlüsselung der Ge-
heimnisse des Lebens.
Deshalb kann man sagen, daß die Befreiung des Individuums durch
die Frühromantik nicht auf poetisch-sozialer Ebene geschieht, sondern
daß sie metaphysisch, d. h. zugleich mystisch und religiös, begründet wird.
Sie erfolgt mit der Einsicht, daß im Menschen und im Universum Kräfte am
Werk sind, die sich dem Zugriff und der Kompetenz der Vernunft ent-
ziehen, deren Untersuchung jedoch nichtsdestoweniger nottut, denn sie
ist vorzüglich dazu geeignet, den Menschen aus der anonymen Allmacht
der herrschsüchtigen Vernunft zu erlösen. Diese Kräfte entstammen dem
Unbewußten oder, wie Kleist sich ausdrückt, dem Uberbewußten. Sie
wollen im gleichen Maße wie die Kräfte des Bewußtseins erforscht sein.
Die Grundüberzeugung, die die frühromantische Welt- und Kunstan-
schauung unterwölbt, liegt in dem Satze Wilhelm Schlegels: „Unser Da-
187
ROMANTIK UND ROMANTISCH
sein ruhet auf dem Unbegreiflichen". Und die eigentümliche Haltung der
Generation um 1800 besteht darin, daß sie trotz ihrer deutlichen Einsicht
in die Schwierigkeit des Problems vor der Erklärung dieses rational un-
begreiflichen Daseins nicht resigniert, sondern leidenschaftlich und un-
ermüdlich nach entsprechenden Wegen der Erkenntnis sucht. Sie weiß,
daß angesichts der Gegebenheiten des Problems selbst jede begriffliche
Lösung unmöglich ist, und strebt ein un- bzw. überbegriffliches Erken-
nen an. Das Universum erscheint ihr nicht als eine Hervorbringung der
Ratio, sondern als ein lebendiger Organismus, dessen Prinzip die Welt-
seele ist. In dieser gründet die tiefere Einheit alles Bestehenden und
Werdenden, auf die alle Erscheinungen zurückzuführen sind. Die Welt
wird nicht mehr mechanistisch teilbar, atomistisch zerlegbar gedacht. Das
geringste Phänomen hat am Leben des Ganzen teil, spiegelt es wider und
stellt es auf eigene Weise dar. Die das Ganze belebende Weltseele ist die
wahre Wirklichkeit des Universums. Ihre Gegenwart tut sich sowohl in
den geistigen als auch in den stofflichen Erscheinungen kund. Zum Er-
fassen dieses Fluidums reichen die Kräfte des Verstandes, der ja nur zer-
legen und das Zerlegte wieder zusammenfügen kann, nicht aus. Andere
Vermögen müssen auf den Plan treten, denen die Aufklärung keinen Er-
kenntniswert beigemessen hatte, die aber in der Tradition des Irrationalis-
mus schon immer in hohem Ansehen gestanden hatten, und zwar im
Abendland von den Vorsokratikern über Plotin und die Gnosis bis zur
Alchimie, zur Mystik und zur Renaissance. Gemeint sind das Gefühl — in-
sonderheit die Liebe — und die Einbildungskraft.
Die Liebe als Quintessenz des Gefühls befähigt uns, die Einheit des
Universums zu erkennen und wiederherzustellen. Im Gegensatz zum Ver-
stand, der nur in oberflächlichen Relationskategorien denkt, hat sie echte
„Kausalität": sie ist schöpferisch, indem sie nicht nur eine Erkenntnis um
der Erkenntnis willen bewirkt, sondern eine intime Partizipation des
Erkennenden am Weltganzen veranlaßt. Sie entdeckt das Verbindende
der allgemeinen Dualität: Tag und Nacht, Licht und Schwere, Männlich
und Weiblich, Kraft und Stoff, usw. Erst die Liebe als Seelenvermögen
kann die Einheit dieser Polarität einsehen, denn diese Einheit heißt
„Sympathie". Sie ist im Weltall, was die Liebe in der Einzelseele ist. Da
der Mensch in romantischer Sicht nichts erkennen kann, wovon er nicht
das Entsprechende in sich hat, verhilft uns nur die Liebe zur Erkenntnis
der Welt und zur Teilnahme an ihr.
Wie die Liebe hinter den Phänomenen die Urkraft, die sie mitein-
ander verbindet, entdeckt, so spürt die Einbildungskraft die Urbilder der
Erscheinungen auf. Sie vermittelt damit die Erkenntnis des Unendlichen
im Endlichen, des Unbedingten in den Dingen, die Erkenntnis der Urge-
188
ROMANTIK UND ROMANTISCH
stalt, der Uridee; andererseits tritt sie als schöpferisches Vermögen auf,
indem sie, wie oben gezeigt, das Endliche und das Unendliche „in eins
bildet". Sie ist die große Deuterin und Schöpferin der universellen Sym-
bolik, denn nur sie vermag es, Ding und Idee vereint zu sehen.
Liebe und Phantasie als Vermögen der Seele, der anima, eröffnen
ein Verständnis der Welt, das vom rationalen Erkennen grundverschieden
ist. Während dieses sich unausweichlich in die Kategorien der Zeit, des
Raumes und der Kausalität einfügt, versetzen uns Liebe und Phantasie
in eine Welt, in der die zeitlich-räumlichen Bedingungen völlig fehlen und
das Kausalitätsgesetz, das unser ganzes bewußtes Denken beherrscht, auf-
gehoben ist. Die „Kausalität", die die Jenaer der Liebe und der Phantasie
zubilligen, hat eine andere Bedeutung als die einer unumgänglichen
Norm des Denkens, sie meint das schöpferische Moment dieser beiden
Vermögen, das den Erkenntnisvorgang erst in Gang bringt und auf Grund
dieses Vorgangs zu produktiven Initiativen veranlaßt. Liebe und Phan-
tasie befreien vom Zwang des Nacheinander und des ursächlichen Zusam-
menhangs und erschließen die Welt der ewigen Urbilder, der Archetypen,
der Mythen, der Märchen und der poetischen Schöpfung, die der Zeit
und den Gesetzen der Ratio enthoben sind. Nicht nur die Person sieht der
Liebende in der Geliebten, sondern ihre „individuelle Idee", die ewig
ist; nicht nur Dinge sieht der Phantasiemensch, sondern zugleich ihre Be-
deutung, ihren symbolischen Wert, ihre Urbilder, denen die Zeit nichts
anhaben kann. Deshalb sind die romantischen Symbole Sinnbilder des
Unbewußten, angefangen mit dem Traum von der blauen Blume. Das
Verlangen nach einer neuen Mythologie offenbart einen Willen zur Deu-
tung aller Erscheinungen auf Grund des Transrationalen, das ihnen anhaf-
tet und in dem sie gründen. Die Idee von der universellen Analogie steht
auf derselben Ebene: sie stellt einen Versuch des Unbewußten dar, das
Endliche und das Unendliche, das Ich und die Welt auf dieselbe Quelle
zurückzuführen, einen Versuch, der dann in den großen Systemen philo-
sophisch-kritisch ausgeführt wird.
Die Erfordernisse der Analyse zwingen dazu, die Funktionen des
Geistes von denen der Seele zu unterscheiden und sogar innerhalb der
beiden Untereinteilungen vorzunehmen. Ein solches Verfahren ist in
einer beschreibenden Untersuchung unumgänglich und wurde übrigens
von den Frühromantikern selbst durchgehend angewandt. Es muß aber
eindeutig klar sein, daß solche phänomenologischen Zerlegungen den An-
schauungen der Jenaer nur dann gerecht werden, wenn die von ihnen
postulierte Identität aller Seelenkräfte nicht aus den Augen verloren wird.
So wenig wie der lebendige Weltorganismus ist der Mensch teil- und
zerlegbar. Phantasie und Liebe sind demnach zwei Erscheinungsweisen
189
ROMANTIK UND ROMANTISCH
des einen und unteilbaren Gemüts. Und wenn die Romantiker zur Be-
zeichnung der gemeinsamen Wurzel von Gefühl und Einbildungskraft
nach Worten suchen, bietet sich ihnen gewöhnlich der Terminus „Sinn",
mitunter auch „innerer Sinn". Diese Ausdrücke meinen die einheitliche
Funktion des Gemüts in bezug auf Erkenntnis und Schöpfung. In der
dritten Rede über die Religion setzt Schleiermacher den Sinn dem „Ver-
stehen" entgegen und weist auf seine Fähigkeit hin, im Gegensatz zum
alles „anatomierenden" Verstand ein Ganzes zu erfassen. Darin liegt
denn auch seine spezifische Funktion: er ist es, der das Umgreifende, das
jede Polarität Uberbrückende und zur Einheit Zurückführende erschließt.
Er „schwebt" über allen Gegensätzen und Disparitäten und vereinigt
Vorstellungen, die sich als unversöhnlich erweisen, solange sie von den
Einzelvermögen betrachtet werden, in eine einzige Anschauung. Geist
und Seele, Bewußtes und Unbewußtes, Allgemeines und Besonderes, Bild
und Bedeutung usw. stellen sich für den Sinn als Attribute derselben Sub-
stanz heraus.
Unter der Vielzahl der Ausdrücke, die die Tätigkeit des Sinnes be-
zeichnen, drängt sich einer als besonders angemessen auf. Er stammt von
Novalis und lautet „Träumen und Nicht-Träumen zugleich". Das Wort
Träumen steht hier eindeutig für die Tätigkeit des Unbewußten über-
haupt, bei der der Mensch die rationale Kontrolle über seine inneren Vor-
gänge ganz verliert und nur noch ein Ort ist, an dem geträumt wird. Das
anonyme 'es' erfüllt ihn dann ganz und handelt in ihm: es träumt ihm.
Dabei bleibt es aber nicht, und von einem Untertauchen ins Unbewußte
mit völliger Preisgabe des hellen Denkens kann keine Rede sein. Das
Träumen geht mit einem Nicht-Träumen zusammen, d. h. mit einer be-
wußten Reflexion und einer gewollten Gedankenarbeit. Und diese Tätig-
keiten stehen nicht getrennt da, sondern gehen ineinander über. Der
Vorgang wurde oben dargelegt. Hier stellt sich eine andere Frage:
welche psychologische Kategorie ermöglicht das Verständnis einer solchen
zwiefachen und gleichzeitigen Tätigkeit, eines solchen aktiven Parallelis-
mus des Bewußten und des Unbewußten? Einer Tätigkeit also, in der das
Subjekt sich einem anonymen, irrationalen, unbewußten 'es' hingibt und
sich dabei trotzdem nicht im Dunkel des Objekts verliert, in der eine Er-
schlaffung der 'hellen' Vermögen und zugleich eine Zusammenraffung
derselben Vermögen, die das Dunkle des Unbewußten zum Gegenstand
ihrer bewußten Reflexion erheben, geschieht.
Die Antwort liegt eindeutig nahe: es kann sich nur um den Tag- oder
Wachtraum handeln. Nach den Untersuchungen Bachelards — vornehm-
lich in La poétique de la rêverie — unterliegt diese Antwort keinem
190
ROMANTIK UND ROMANTISCH
Zweifel mehr. Damit ist übrigens ein großer Fortschritt über die For-
schungen Albert Béguins in L'âme romantique et le rêve hinaus erzielt:
Béguins sonst ausgezeichnetes Buch macht keinen Unterschied zwischen
Nacht- und Tagtraum und schreibt die Eigenschaften des einen auch dem
anderen zu, was zu keiner Klärung der Begriffe führen kann.
Die Passivität des Nachttraums reicht nicht aus, den romantischen
Ansichten über die Funktion des Unbewußten gerecht zu werden. Es muß
die Aktivität des Ich zu der Tätigkeit des 'Es' hinzukommen. Das gibt der
Spannung der romantischen Poetik ihr eigentümliches Gepräge.
Es kann nicht meine Aufgabe sein, die Merkmale des Tagtraums
darzulegen. Jeder kann sie bei den Psychologen nachlesen. Es genügt,
wenn ich auf gewisse Wesenszüge hinweise, die ihre Spur in der Poetik
der Frühromantik hinterlassen haben. Der Tagtraum schafft eine eigen-
tümliche Stimmung, in der die räumlich-zeitlichen Kategorien und die
strengen begrifflichen Absonderungen zurückweichen und alles in einem
ewigen Lichte erscheint. Die Dinge und Erscheinungen werden durch-
sichtig und offenbaren dem Träumer ihre kosmische Verbundenheit. Der
Mensch erfährt eine Entgrenzung des Ich, die es ihm ermöglicht, das Uni-
versum gleichsam in sich aufzunehmen. Das Nicht-Ich verschwindet als
solches, und der Träumer befindet sich in einem Zustand der 'Partizipa-
tion'. Er erblickt in allem ein brüderliches Du.
Das sind einige auffallende Ubereinstimmungen zwischen dem Wach-
traum und der frühromantischen Poetik: sie ließen sich mehrenl Aus
diesen paar Beispielen erhellt aber vielleicht zur Genüge, weshalb die
Jenaer die Stimmung so hochgeschätzt und in ihr ein wichtiges Moment
der Kirnst gesehen haben — man erinnere sich an ihr 'Stimmungsvirtuo-
sentum'—, darüber hinaus aber auch, weshalb ihre ausdrückliche Poetik in
einem nicht übersehbaren Maße theoretische Reflexionen über Stimmun-
gen zur Grundlage hat. Die Stimmung des Tagtraums wurde für sie
fruchtbar, indem sie sich durch die Reflexion über sich selbst erhob und
sich in abstrakten Anschauungen niederschlug.
„Nach innen geht der geheimnisvolle Weg", „in uns ist die Ewig-
keit mit ihren Welten", „das Jenseits ist in uns": man stößt bei den
Jenaern auf unzählige Vorstellungen der Art, die auf das Gefühl der
Ewigkeitseroberung anspielen. Wenn es dem Menschen gelingt, sich und
die Welt durch den Sinn und nicht durch die äußere Beobachtung und
den Verstand zu begreifen, erlebt er die Ewigkeit in verklärten Augen-
blicken. Zu einem solchen Erlebnis verhilft zum Beispiel die intellektuelle
Anschauung: nach Schellings Worten hebt sie uns aus dem Wechsel der
Zeit heraus und versetzt uns in die Ewigkeit unseres Inneren. Als Uber-
brückung der Spaltung Subjekt—Objekt erscheint sie eindeutig als eine
191
ROMANTIK UND ROMANTISCH
Funktion des die Gegensätze aufhebenden Sinnes und erweist sich als
dem Wachtraum verwandt, zumal sie von den Frühromantikem nicht so
sehr als ein Selbstbewußtsein, sondern eher als ein Selbstgefühl aufgefaßt
wird. Nach diesem Beispiel der intellektuellen Anschauung als Kernopera-
tion des Idealismus gestalten sich alle entscheidenden Erlebnisse der
Frühromantik. Jedes durch Gefühl und Einbildungskraft erkannte Objekt
legt alle seine konkreten Bestimmungen ab und behält nur Ewiges bei.
Das bedeutet unter anderem die beliebte Vorsilbe 'ur\ Die Sympathie als
Urkraft des Universums ist an keine Zeit gebunden, das Urbild einer Er-
scheinung ist das Ewige an ihr. Die Ewigkeit läßt sich demnach in der
Zeit erleben und durch den Ausdruck dieses Erlebnisses poetisch dar-
stellen. Auch wenn der Romantiker die Geschichte betrachtet, erblickt er
in ihr das Ewige, d. h. die Gesetze ihrer Entwicklung, die Kräfte, die sich
in ihr manifestieren, nicht die Einzeltatsachen, die er dem von ihm ver-
achteten 'Chronisten' überläßt. In einer günstigen Wachtraumstimmung
kann unser Sinn jederzeit Ewigkeitsaugenblicke wahrnehmen. Ekstasen
heißen sie manchmal, weil wir in solchen Augenblicken aus unserem von
der Vernunft beherrschten Leben heraustreten und in die Sphäre des
Unbewußten, in den Bereich der Weltseele, an der wir durch die Wurzeln
unseres Seins teilhaben, geraten.
192
ROMANTIK UND ROMANTISCH
habe am Rhythmus der Welt teil, der orphische Gesang umgreift midi, ich
bin überall zu Hause, wirke mit der Natur, lebe mit dem Leben. Ich fühle
mich als Mikrokosmos, in dem alle Kräfte und Komponenten des Makro-
kosmos am Werke sind; oder ich empfinde mich nach Ennemosers Aus-
druck als Mikrotheos: ich bin ein Ort, an dem das Ganze sich selbst be-
gegnet und sich mit sidi selbst bespricht. Ich werde Gott.
Wenn ich aus dieser seligen Stimmung der kosmischen Einheit
erwache und sich die Wand zwischen Ich und Nicht-Ich wieder aufrichtet,
sehne ich mich nach den beglückenden Augenblicken zurück und suche in
der mir wieder fremd gewordenen Welt ihre Spuren. Indem ich über
diese meine Sehnsucht nachdenke und mich an den schönen Traum er-
innere, erahne ich die bald zwingend werdende Vorstellung von der
großen Analogie, eine 'Dichtung', die sich mir mit unausweichlicher
Notwendigkeit aufdrängt. Sie wird zum Gesetz, das mein Sehnen und
Trachten erleuchtet und hoch über alle banalen Kausalitätsgesetze der
Ratio erhebt. Mir prägt sich die aus der Ahnung entstehende Idee ein,
daß die äußere Welt meinem inneren Leben und die Schöpfungen meiner
Phantasie der wirklichen Natur entsprechen. Das Weltall wird eine große
Sphäre, in der alles, was oben ist, seine genaue Entsprechung in allem, was
unten ist, hat; und die Sphäre dreht sich, so daß das Untere oben und das
Obere unten zu stehen kommt. Unterschiede sind nur noch mit großer
Mühe festzustellen; alles ist in allem. Ein Sternbild wird zur Gemüts-
stimmung, eine Idee wird zur kosmischen Nacht. Es eröffnet sich meinem
sehenden Auge das Schauspiel einer universellen Sinnbildlichkeit, einer
weltweiten Symbolisierung des Ich durch das Universum und des Uni-
versums durch das Ich. Die Welt wird zum „Plan", zum „Index" meines
Geistes, und in meinem Geiste offenbaren sich die Gesetze der Physik. Die
Urbilder tauchen auf, der Sinn der alten Mythen erschließt sich, die
Märchen werden bedeutungsvoll. Die Poesie hat mich. Und ich neige
selbst dazu, neue Mythen und Märchen und Bilder zu erfinden. Ich deute
die Welt nach den Bedürfnissen meiner individuellen Seele um und sehe
sie in einem neuen, poetischen Lichte. Die Poesie ist mir „das echt absolut
Reelle". Die Welt ist romantisiert.
So ungefähr läßt sich anhand der frühromantischen Zeugnisse und
mit Hilfe der modernen Forschung die Genesis der romantischen „Poesie"
rekonstruieren. Belege gibt es in ausreichender Vielfalt und Ubereinstim-
mung, um der Interpretation sicher zu sein. Die Grenzen der letzteren
fallen mit denen der Fähigkeit des Interpreten, die geistige Situation der
Romantik nachzuerleben, zusammen. Bei der Entstehung der „Poesie"
geht, wie gesagt, die Lenkung des Gemüts vom begrifflich rationalen
Denken über zu den Intuitionen der anima, die nur lose vom Bewußtsein
193
13 Nivelle
ROMANTIK UND ROMANTISCH
194
ROMANTIK UND ROMANTISCH
der Romantik, der es ihr ermöglicht, eine sich in ihr Weltbild einfügende
Auffassung des Göttlichen zu verkünden. Denn das Wesen Gottes hegt
für sie darin, daß er das Unbewußte der Schöpfung ins Licht des Bewußt-
seins erhebt. Das gibt die Grundlage der Idee vom werdenden Gott und
von der werdenden Schöpfung ab und umreißt gleichzeitig die Aufgabe
des Menschen auf Erden: auch er soll an der Bewußtmachimg des Unbe-
wußten mitarbeiten und damit am Schöpfungsprozeß teilnehmen.
Daraus ergibt sich das Bild des höheren Menschen, des Genies: er ist
derjenige, der 'Tag' und 'Nacht' in sich vereinigt, der sich dem Unbe-
wußten öffnet und es im Lichte der Vernunft aufleuchten läßt, der auch
bei den Geschäften des Tages im Grunde doch in der Nacht lebt, weil er
die Aufgabe der Vernunft als Erhellerin des Unbewußten nicht aus den
Augen verliert.
Weil die halbbewußten Gemütszustände durch die Kräfte des Den-
kens fixiert und analysiert werden, kann der Mensch seinen Willen dazu
benutzen, solche Zustände willkürlich wieder hervorzurufen. Das nennen
die Romantiker den „produktiven Gebrauch unserer Organe". Der
Mensch wird „elastisch" genug, um sich mit vollem Bewußtsein im Reich
des Unbewußten zu bewegen. Dies ist wenigstens das — vielleicht uner-
reichbare und illusorische — Ziel der romantischen Sehnsucht.
Je nach unserem individuellen Temperament dürfen wir uns fragen,
ob der geschilderte Prozeß ein verhängnisvoller und unfruchtbarer Selbst-
betrug ist oder ob er einer eigentümlichen Funktion des menschlichen
Gemüts entspricht. Auf diese Frage gibt es wohl keine zwingende und
rational erweisbare Antwort, ebensowenig wie auf die andere Grund-
frage, ob das Unbewußte eine menschenunwürdige Herabsetzung und
Demütigung des Geistes mit sich bringt oder zur Einweihung ins Heilig-
tum der großen Offenbarungen verhilft. Weil diese Fragen nicht objektiv
und eindeutig beantwortet werden können, muß die Poetik der Früh-
romantik demjenigen, der den Mysterien der Seele abgeneigt ist und sich
energisch davon abkehrt, ewig dunkel, willkürlich, überspannt und künst-
lich bleiben. Andere ergreift sie als eine Initiation, wenn auch eine vor-
läufige und unvollkommene, in das Geheimnis des Göttlichen. Sich gegen-
seitig überzeugen und bekehren zu wollen, ist utopisch.
195
13'
ROMANTIK UND ROMANTISCH
einem ständigen Streben besteht, das Unbewußte ins Licht des Bewußt-
seins zu erheben, wenn die ganze Energie der Frühromantiker darauf
gerichtet ist, das intensiv erlebte Irrationale mit Hilfe der Reflexion zu
erhellen, dann drängt sich eine Interpretation der Figur Klingsohrs auf,
die von der Deutung Walzels und Markwardts beträchtlich abweicht.
Markwardt erblickt in Klingsohr einen entscheidenden und eindeu-
tigen Beleg für die romantische Poetik. Walzel schreibt, in den Klingsohr-
gesprächen „ersteige Hardenbergs Wesensbestimmung der Dichtkunst
ihre Höhe"105, und die Gestalt des ungarischen Zauberers sei „das letzte
und reifste Ergebnis jahrelangen Sinnens Hardenbergs" 106 . Mir scheinen
solche Ansichten auf recht wackligen Fundamenten zu stehen. Schon von
einem rein ästhetischen, ja romantechnischen Gesichtspunkt aus wäre es
ein schwer zu verstehender und zu verzeihender Fehlgriff von Novalis
gewesen, bereits vor dem Ende des ersten Teils eine Figur auftreten zu
lassen, die eine ideale Verkörperung der Poesie im romantischen Sinn dar-
gestellt hätte. Wozu hätte in dem Fall die ganze Fortsetzung des Romans
dienen sollen, da das Endziel dieses Werkes eingestandenermaßen in
einer Apotheose der Poesie hegt? Im Augenblick seiner Begegnung mit
Klingsohr ist Heinrich noch sehr weit von einem solchen Ziel und vom
Ende seiner Pilgerfahrt entfernt. Die Apotheose der Poesie steht noch lange
nicht bevor, und schon wäre sie in einer konkreten, lebensnahen Figur
verwirklicht? Ein solches Verfahren gehört unmöglich in die Ästhetik des
romantischen Romans. Vorwegnahmen sind darin freilich häufig anzu-
treffen, aber nicht in einer so ausgeführten und 'realistisch' angelegten
Episode, sondern höchstens in der Form von Ahnungen, Träumen,
Prophetien, Visionen und ähnlichen Erscheinungen. Übrigens wider-
spricht die ganze Anlage des Romans einer solchen Deutung. Jedes Er-
eignis stellt für Heinrich eine Bereicherung dar, jede Begegnung ist ihm
ein Markstein auf seinem Weg zur Poesie. Es gibt weder Negatives noch
Umwälzendes in der Bildung des Helden. Wenn ein Erlebnis etwas
Negatives an sich haben könnte, wird es gleich durch ein eindeutig posi-
tives aufgewogen. Kehrtwendungen und gebrochene Entwiddungslinien
sind unbekannt. Heinrich lernt jeweils hinzu, er lernt nie um. Wenn
Klingsohr das romantische Poesieideal bedeuten sollte, so müßte das je-
doch eine völlige Umkehr mit sich bringen, worauf der Leser wenig vor-
bereitet wäre. Dagegen erfüllt er eine normale Funktion im Roman, wenn
er als eine weitere Belehrung Heinrichs verstanden wird.
Ein anderer, ebenso wichtiger Grund für die Einreihung Klingsohrs
in den Werdegang des angehenden Dichters ohne einzigartige Sonderstel-
196
ROMANTIK UND ROMANTISCH
lung ist folgender: auch wenn Klingsohr kein peinlich genaues Porträt
Goethes darstellt, erkennt jeder Leser in ihm eine Verkörperung Goethes.
Das hat die Forschung mehrfach bestätigt, und die Ähnlichkeit mit Char-
pentier, die Heinz Ritter nachgewiesen hat, ändert wohl nichts Wesent-
liches an diesem — geistesgeschichtlich weit schwerwiegenderen — Ein-
druck. Nim weiß man, wie stark sich Novalis zur Zeit der Niederschrift des
Ofterdingen von Goethe abgesetzt hatte und daß sein Roman der Anlage
nach keine 'Nachahmung' des Wilhelm Meister anstrebte, sondern viel-
mehr einen richtigen Wettkampf mit Goethes Werk aufnehmen wollte.
Dem Wilhelm Meister warf ja Novalis u. a. Mangel an poetischem Geist
und Uberfluß an „ökonomischem" Können vor. Wie hätte er ein Bild
Goethes als Ideal der romantischen Poesie hinstellen können, wo man
doch weiß, daß er sich gerade damals mit Goethes Poesieanschauung ver-
feindet hatte?
Man könnte noch mehr äußere Gründe anführen, warum Klingsohr
in keiner Weise ein Ideal romantischer Dichtung sein kann, aber eine
kurze Analyse seiner Erscheinung im Roman selbst wird uns noch mehr
überzeugen.
Feststeht, daß Klingsohr die Begeisterung, der „reißende Strom"
der Gefühle und Leidenschaften, die „überschwengliche Herrlichkeit"
nicht fremd sind; es dürfte jedoch nichtsdestoweniger deutlich sein, daß
seine ganze Lehre darauf gerichtet ist, den künstlerischen Ausdruck dieser
Seelenstürme mit Hilfe des Verstandes, der Besonnenheit, der „kühlen
Wärme" in den Grenzen einer „strengen Kunst", die viel handwerks-
mäßiges Können erfordert, harmonisch zu gestalten. Es geht ihm haupt-
sächlich um die Dichte und den reizvollen Reichtum des Ausdrucks, um
die „geschickten Verhältnisse" und die Sorgfalt, die der Dichter darauf
verwenden soll, ein ihm angemessenes und nicht über seine Kräfte hin-
ausgehendes Thema zu wählen. Dieser Lehre hegt die Anschauung zu-
grunde, daß nicht der Stoff, sondern die Ausführung der Zweck der
Kunst sei, wie es denn auch wörtlich im achten Kapitel heißt.
Gewiß steht Heinrich solchen Ratschlägen und Belehrungen nicht
feindlich gegenüber — dies würde dem Geist des Romans widerspre-
chen — , er nimmt vielmehr alles als eine Erweiterung seines bisherigen
Gesichtskreises in sich auf. Er erfährt dankbar das Geheimnis der künst-
lerischen Gestaltung. Und doch vermag die schroffe Ablehnung „über-
schwenglicher" Gegenstände als Themen der Dichtung ihn nicht zu be-
friedigen. Ein unbefangener Leser war von vornherein darauf gefaßt! Es
wäre hier allzu leicht, an entscheidende Stellen des Romans zu erinnern,
an denen die Poesie gerade als das Höchste dargestellt wird, als "ein
wunderbares Widerlicht der höheren Welt", eine Vorstellung, die
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ROMANTIK UND ROMANTISCH
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142,154. nere F., 87, 115.
Dichtung, 15, 18 f., 21 f., 24, 28, 38, 58, Fortschreiten, Fortschreitung, 34, 47, 138,
86,111—145,152, 154,193,198. 147—149,151,157.
Diesseits — jenseits, irdisch — himm- Fragment(arisch), 6,179—182.
lisch, 46, 92, 166 f., 175, 191. Freiheit, 15 f., 30, 38, 47, 60 f., 64—67,
Diskursiv, 28, 30, 32, 80,194. 69 f., 100, 102, 104, 109, 113, 126,
Dogmatismus, 62. 140 f., 143, 147, 150, 154, 159, 161 f.,
Don Quijote, 149, 151 f., 163. 168,174,182 f., 186 f., 192.
Drama, 149—151, 157, 176. Fülle, 15, 47, 89, 91, 93,183.
Du, 29, 45 f., 49 f., 61, 109, 154—156,
191 f. Das Ganze: des Kunstwerks, 16, 68, 86 f.,
Dynamisch, 31, 3S—35,104 f., 134,157 f., 89, 94, 114, 119, 121, 130 f., 139, 143,
146, 150, 162 f., 179, 183; der Geschich-
194.
te, 72; des Menschen, 20, 54, 82, 91, 94,
Eigentümlich(keit), 34, 88, 114, 126, 128 109, 153, 187; der Natur, des Univer-
—131,151—153,159. sums, der Welt, 26, 45, 50 f., 74 f., 79,
Einbildung des Unendlichen ins End- 92 f., 95, 124 f., 136, 139, 168, 187 f.,
liche, Ineinsbildung, 18, 78, 83, 92, 119, 193.
169,189. Ganzheit, 138,164; s. Totalität.
Einbildungskraft, Imagination, 13, 29, Gefühl, fühlen, 43 f., 46 f., 50—52, 56, 58,
67, 69 f., 73 f., 78—80, 101—110, 113, 60, 64, 66 f., 69, 81 f., 90—92, 97, 104,
117, 119, 123, 127, 146, 161 f., 188, 120, 122, 130, 133, 141, 159, 167,
190, 192; s. Phantasie. 176 f., 183,186,188,190,192,194,197.
Einheit, 11, 16, 42, 46 f., 50, 53 f., 73 f., Geist, 20 f., 27, 29, 31—35, 37, 39 f., 45
80, 84, 87 f., 91—93, 96 f., 99, 105— —47, 53—55, 57—59, 61—66, 68 f.,
109, 118—120, 125, 130, 136, 138, 143, 73—76, 106, 167, 171, 190, 193; Gei-
146, 154, 158, 162 f., 169, 183 f., 188, ster, Geisterwelt, 55, 57—63, 74, 161;
190,192—194. G. u. Buchstabe, 115, 178 f., 194; G.
Eklektiker, Eklektizismus, 26,105. des Kunstwerks, 97, 114, 119, 183; G.
Ekstase, Ekstasis, 57,192. der Natur, 71, 88.
Elastisch, Elastizität, 58,195. Geistig — sinnlich, 16, 25, 32 f., 40, 43 f.,
Empirisch, Empirismus, 62, 117, 164, 46, 58, 66, 71, 73, 82—84, 89 f., 92,
169. 126, 129, 133, 163, 166—168, 176, 185,
Endlich — unendlich, 25—29, 43, 48, 192.
50 f., 57 f., 60, 71—74, 78 f., 82 f., 90, Gemüt, 33, 51, 75, 79, 81 f., 90 f., 96,102,
92, 105, 116, 118, 125 f., 129, 140 f., 111 f., 152, 162, 167, 190, 192; Gemüts-
163, 166—169, 180,183, 185, 189. erregung, 125 f.; Gemütwerdung, 129.
Enzyklopädie, 22, 48, 136 f., 153, 179, Genie, 10, 12 f., 47, 67, 69, 79, 98, 107—
186. 110, 115, 123, 139, 143, 153, 185, 195.
Epos, 146—151,156—158,160. Geschichte, 20 f., 26, 72 f., 101, 129, 153,
Erinnerung, 31, 47, 125, 167, 175. 158, 167, 192; des eigenen Geistes, 34,
Erkenntnis, 30—32, 34 f., 43, 46 f., 57, 73.
71, 75, 79, 82, 187—190; anschauende Geschmack, 12 f.
E., 28, 74, 80, 91, 97, 99; symbolische Geselligkeit, 5,154—156.
E., 94; s. Denken. Glaube, 43 f., 51, 95.
Emst, s. Spiel — Ernst. Gnosis, gnostisch, 53,188.
Ethik, s. Moral. Goldene Zeit, 108,118.
220
SACHREGISTER
221
SACHREGISTER
222
SACHREGISTER
Realisierung, realisieren, 31 f., 35, 4 5 , 1 0 0 , Selbstbewußtsein, 32, 36, 44, 57, 107, 123,
157,171. 192.
Realismus, 39, 41, 62, 67, 135; 99. Selbstbildung, 32 f., 36, 85, 159.
Reflexion, 22, 30—32, 36, 39, 48, 50 f., Selbstdurchdringung, 105.
60, 73, 80, 94, 98, 100 f., 105, 120, 122 Selbsterkenntnis, 35, 54, 63, 76, 95, 108.
—124, 141, 149, 160, 168, 177 f., 181, Selbstgefühl, 44, 192,194.
183, 186, 190, 196. Selbstgespräch, 61.
Religion, 16, 26, 42, 47—52, 72, 79, 83, Selbstoffenbarung, 59, 122.
1 0 7 , 1 2 9 , 1 3 4 , 1 3 7 f., 162, 187,194. Selbstpolemik, 140 f.
Retardierend, 151. Selbstschöpfung, 47, 140 f.
Revolution (französische), 37, 178. Selbstsetzung, 35, 71.
Rhetorik, 19, 163. Selbsttätigkeit, 59, 126.
Rhythmus, 131 f., 134,148, 193. Selbstumarmung, 61.
Rokoko, 141 f. Selbsttranszendierung, 30.
Roman, 21 f., 45, 68, 137, 146—164, Selbstverbindung, 107.
172 f., 180, 195—197. Selbstvemichtung, 47, 140 f.
Romanisch, 171 f., 174. Selbstverständnis, 76.
Romantik, 2—10, 165—198; französische Selbstüberwindung, 30.
R., 23; jüngere R., 7—9. Selbstzerstörung, 30, 141.
Romantisierung, romantisieren, 30, 87, Sentimental, 176—178.
110, 129, 170, 184 f., 193. Sichtbar — unsichtbar, 58, 81—84, 92,
Rosenkreuzer, 56. 112, 126, 129,135.
Ruhig, 147 f., 151. Signaturen, 76.
Rührung, Affektwixkung, 126 f., 129. Sinn: äußere Sinne, 56 f., 59 f., 66, 85,
104; innerer S., 51, 79, 82, 90, 95, 103,
Schematismus, 78, 84. 190—192, 194; poetischer S„ 93, 114,
Schicksal, 147, 183, 192.
128 f.; S. der Welt und des Lebens, 22,
Schönheit, 11—16, 18 f., 76, 85, 88, 117
26, 29, 31, 46, 50, 72, 74, 79, 92, 107,
— 1 2 0 , 1 2 3 , 130, 166 f., 182.
109, 113 f., 133, 158; S. der Kunst, 84,
Schöpferisch, 44, 4&--48, 62, 64 f., 68 f.,
87, 96 f., 101, 132, 143, 166.
73, 78 f., 85 f., 91, 94—96, 98 f., 1 0 1 —
Sinnenwelt, 58, 72.
104, 113, 115, 119, 125, 143, 150, 182,
Sinnlich, s. geistig — sinnlich.
188 f.
Spiel — Ernst, 137, 142—145,150, 152 f.,
Schöpfung, 35 f., 44, 46 f., 104, 114,
175 f.
118 f., 1 5 5 , 1 9 0 , 1 9 5 .
Schwärmerei, 62. Spontan(eität), 50, 62, 79, 99, 118.
Schweben, 30 f., 101 f., 1 0 5 , 1 0 9 , 1 2 0 , 1 5 7 , Sprache, 30, 76, 81—«3, 115—117, 131,
178, 180, 190. 136, 162, 180.
Stimmung, 51, 95, 105, 120, 125, 129,
Seele, 33, 43 f., 48, 50 f., 54 f., 60 f., 66 f.,
141, 160,168, 191,193.
73, 83, 90, 9 5 , 1 1 1 , 1 8 9 f., 193.
Seelenwanderung, 55 f. Stoff der Kunst, 18, 90, 120, 124, 1 3 2 —
Sehnsucht, 30 f., 43 f., 4 6 - ^ 8 , 50 f., 108, 1 3 4 , 1 4 2 , 1 5 0 , 1 5 7 f., 183.
137,167,193,195. Streben, Bestreben, 32—35, 43, 47, 51, 60,
Sein, 19 f., 25, 28, 30, 68, 71, 78, 84, 97, 97, 105, 108, 120 f., 140, 142, 163, 168,
126,181. 171, 178,186, 196.
Selbstbekenntnis, 153. Sturm und Drang, 11, 170, 186 f.
Selbstbeobachtung, 63, 108 f. Subjekt — Objekt, 28—30, 35, 50, 57,
Selbstberührung, 59. 60, 63, 71, 75, 84, 95 f., 168, 177, 181,
Selbstbesdiränkung, 47. 184,191 f.
Selbstbespiegelung, 122. Subjektiv(ität), 12, 41, 96, 149 f., 160,
Selbstbesprechung, 61. 168, 183.
Selbstbestimmimg, 65, 100. Substanz, 36, 40, 46, 50, 57, 71, 75 f., 106,
Selbstbetrachtung, 155. 190.
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SACHREGISTER
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ARMAND NIVELLE
GERD WOLANDT
Philosophie der Dichtung
Weltstellung und Gegenständlichkeit des poetischen Gedankens
Groß-Oktav. X, 210 Seiten. 1965. Ganzleinen DM 32,—
A L F R E D LIEDE
BRUNO MARKWARDT
Friedrich Hölderlin
Sein Bild in der Forschung
Unter freundlicher Mitwirkung des Verfassers
ins Deutsche übersetzt von Christoph Gaßner
ELMAR H E R T R I C H
GERHARD RUDOLPH
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K. H. VOLCKMANN-SCHLUCK
WILHELM DILTHEY
Leben Schleiermachers
2 Bände. Oktav. Ganzleinen
Aus dem N a c h l a ß herausgegeben v o n MARTIN REDEKER